Plenarprotokoll 17/20

Deutscher

Stenografischer Bericht

20. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 18: Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 1754 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 1755 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Stabilisierung der Finanzlage (CDU/CSU) ...... 1755 B der Sozialversicherungssysteme und zur Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 1756 C Einführung eines Sonderprogramms mit Maßnahmen für Milchviehhalter sowie zur Änderung anderer Gesetze Tagesordnungspunkt 19: (Sozialversicherungs-Stabilisierungsge- setz – SozVersStabG) a) Antrag der Abgeordneten Nicolette (Drucksache 17/507) ...... 1737 A Kressl, Joachim Poß, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion b) Antrag der Fraktion DIE LINKE: Versi- der SPD: Maßnahmenbündel gegen Spe- cherte in der Krise schützen – Finanz- kulationen auf den Finanzmärkten und situation der gesetzlichen Krankenver- ungerechtfertigte Banker-Boni sicherung und der Bundesagentur für Arbeit entschärfen (Drucksache 17/526) ...... 1757 A (Drucksache 17/495) ...... 1737 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. Carsten Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär Sieling, Nicolette Kressl, Joachim Poß, BMF ...... 1737 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Lasten der Krise gerecht (SPD) ...... 1739 B verteilen, Spekulationen eindämmen – Dr. Claudia Winterstein (FDP) ...... 1741 D Internationale Finanztransaktion- steuer einführen Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) ...... 1743 C (Drucksache 17/527) ...... 1757 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ c) Antrag der Abgeordneten Dr. , DIE GRÜNEN) ...... 1744 C Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Georg Schirmbeck (CDU/CSU) ...... 1746 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Finanztransaktionsteuer (SPD) ...... 1747 B international vorantreiben und national

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) ...... 1748 C einführen (Drucksache 17/518) ...... 1757 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 1750 A Joachim Poß (SPD) ...... 1757 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1751 A (CDU/CSU) ...... 1759 B Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) ...... 1751 D Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 1761 D Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 1752 D Frank Schäffler (FDP) ...... 1764 A Georg Schirmbeck (CDU/CSU) ...... 1753 D Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 1765 C II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. , Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. (BÜNDNIS 90/ (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1766 A DIE GRÜNEN) ...... 1791 C Dr. (SPD) ...... 1767 D Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 1792 C Frank Schäffler (FDP) ...... 1768 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Dr. h. c. (CDU/CSU) . . . . . 1770 A DIE GRÜNEN) ...... 1794 A Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 1771 C (SPD) ...... 1795 A Joachim Poß (SPD) ...... 1773 B (FDP) ...... 1796 A Dr. Carsten Sieling (SPD) ...... 1774 A Christine Lambrecht (SPD) ...... 1797 A Leo Dautzenberg (CDU/CSU) ...... 1774 C Marco Buschmann (FDP) ...... 1797 B Björn Sänger (FDP) ...... 1778 B Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 1797 C Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 1778 D Dr. (CDU/CSU) ...... 1798 C Dr. (SPD) ...... 1780 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Björn Sänger (FDP) ...... 1780 C DIE GRÜNEN) ...... 1800 A (CDU/CSU) ...... 1780 D Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) ...... 1800 B

Tagesordnungspunkt 20: Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einstieg in Vermögensteuer als Millionärsteuer wieder die Kopfpauschale – Weniger Netto vom erheben Brutto für die Beitragszahler der gesetzli- (Drucksache 17/453) ...... 1783 B chen Krankenversicherung ...... 1800 D Harald Koch (DIE LINKE) ...... 1783 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1800 D Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . . 1784 B (CDU/CSU) ...... 1802 A Nicolette Kressl (SPD) ...... 1786 C Dr. (FDP) ...... 1788 A Dr. (SPD) ...... 1803 A (BÜNDNIS 90/ Ulrike Flach (FDP) ...... 1804 B DIE GRÜNEN) ...... 1789 D (DIE LINKE) ...... 1805 C (CDU/CSU) ...... 1806 D Tagesordnungspunkt 21: Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 1808 A a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), , Kai (FDP) ...... 1809 B Gehring, weiteren Abgeordneten und der Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN) ...... 1810 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Arti- (CDU/CSU) ...... 1811 B kel 3 Absatz 3 Satz 1) (Drucksache 17/88) ...... 1791 A Steffen-Claudio Lemme (SPD) ...... 1812 C b) Erste Beratung des von der Fraktion der (CDU/CSU) ...... 1814 A SPD eingebrachten Entwurfs eines … Ge- setzes zur Änderung des Grundgesetzes Nächste Sitzung ...... 1815 C (Artikel 3 Absatz 3 Satz 1) (Drucksache 17/254) ...... 1791 B c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anlage 1 Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeord- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1817 A neten und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Grundgesetzes (Artikel 3 Anlage 2 Absatz 3 Satz 1) (Drucksache 17/472) ...... 1791 B Amtliche Mitteilungen ...... 1818 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1737

(A) (C) Redetext

20. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. : Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die tarischen Staatssekretär Steffen Kampeter das Wort. Sitzung ist eröffnet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung neten der FDP) darauf verständigt, die Frist für die Einreichung von Fra- gen für die Fragestunde am Dienstag, dem 9. Februar Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun- 2010, auf Donnerstag, den 4. Februar 2010, 10 Uhr, vor- desminister der Finanzen: zuverlegen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damen und Herren! Die soziale Marktwirtschaft als die Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepu- blik ist keine Schönwetterveranstaltung. Sie hat sich in a) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge- ihrer mehr als 60-jährigen Geschichte vor allen Dingen (B) brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung bei großen Herausforderungen bewährt. Dabei kam es (D) der Finanzlage der Sozialversicherungssysteme uns allen zugute, dass unsere Wirtschafts- und Gesell- und zur Einführung eines Sonderprogramms mit schaftsordnung kein statisches System ist, sondern sich Maßnahmen für Milchviehhalter sowie zur Än- ständig fortentwickelt hat. derung anderer Gesetze (Sozialversicherungs- Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg Stabilisierungsgesetz – SozVersStabG) war die Geburtsstunde und zugleich die erste Bewäh- – Drucksache 17/507 – rungsprobe einer Ordnung, die Freiheit und Verantwor- Überweisungsvorschlag: tung miteinander verknüpft. Sie hat wesentlich dazu bei- Haushaltsausschuss (f) getragen, dass viele von dieser Phase als der Zeit des Finanzausschuss Wirtschaftswunders sprechen. Diese Ordnung hat Staat Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und und Markt so miteinander verknüpft, dass die Verhei- Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales ßung vom „Wohlstand für alle“ sich nicht lediglich für Ausschuss für Gesundheit wenige erfüllte. b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE Die Wiedervereinigung war eine große Bewährungs- probe, aber auch eine Bestätigung für das Konzept der Versicherte in der Krise schützen – Finanzsitua- sozialen Marktwirtschaft, in dem Maß und Mitte eine tion der gesetzlichen Krankenversicherung zentrale Rolle spielen. Mit der Wirtschafts-, Währungs- und der Bundesagentur für Arbeit entschärfen und Sozialunion wurde die soziale Marktwirtschaft als – Drucksache 17/495 – die Ordnung für das gesamte Deutschland fortentwi- ckelt. In einer beispiellosen Solidaritätsaktion wurden

Überweisungsvorschlag: die Folgekosten des Sozialismus übernommen und der Haushaltsausschuss (f) Finanzausschuss Grundstein für eine Erfolgsgeschichte der Ideen von Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ludwig Erhard, Wilhelm Röpke und Alfred Müller- Verbraucherschutz Armack gelegt. Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wie zu den Zeiten der beiden ersten großen Heraus- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich forderungen unserer Ordnung ist es wiederum eine höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- christlich-liberale Regierung, die die soziale Marktwirt- sen. schaft als Maßstab für ihre Handlungen in der Krise 1738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter (A) nimmt, dieses Mal für die Wiedererlangung von Wachs- gesetzliche Krankenversicherung zusammen, wird deut- (C) tum und Stabilität nach der weltweit größten Wirt- lich, dass jeder zehnte Euro dieses Bundeshaushalts für schafts- und Finanzkrise nach dem Zweiten Weltkrieg. Maßnahmen zur Stabilisierung der Beiträge in den sozia- Die Rezession ist vorbei; die Gefahr von Rückschlägen len Sicherungssystemen ausgegeben wird. Das zeigt, wo kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. In jedem derzeit der Schwerpunkt unserer Aktivitäten als Reak- Falle sind die Krisenfolgen allerorten noch deutlich tion auf die Finanzmarktkrise liegt. spürbar. Dies gilt nicht nur für die Finanzmärkte, die durch eine internationale Aktion stabilisiert wurden; dies (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gilt auch für die sozialen Sicherungssysteme, die krisen- neten der FDP) bedingt unter einem erheblichen Stress stehen. Zur Unterstützung der milcherzeugenden Land- Wir, die christlich-liberale Regierung, wollen die An- wirte schaffen wir einen Ausgleich der konjunkturell be- passungslasten in den sozialen Sicherungssystemen dingt schwierigen Einnahme- bzw. Liquiditätssituation nicht ausschließlich den Beitragszahlern aufbürden. In der deutschen Landwirte. Es geht auch darum, im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft, so wie wir sie verstehen, einer nachhaltigen Entwicklung leistungsfähige Betriebe gilt es jetzt, Beschäftigung und die sozialen Sicherungs- am Markt zu erhalten. Uns ist es besonders wichtig, die systeme in einer gleichwohl ungewöhnlichen Solidari- Milchproduktion an sogenannten Grünlandstandorten zu tätsaktion zu stabilisieren. Diesem Ziel, dieser Fortent- bewahren. Auf Grünland besteht häufig keine Alterna- wicklung der sozialen Marktwirtschaft, dient der heute tive zur Milchproduktion. Gleichzeitig ist Grünland aus eingebrachte Gesetzentwurf. ökologischen, aber auch aus landschaftskulturellen As- pekten ein Milcherzeugungsstandort, der in der gegen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wärtig schwierigen Situation auch unter konjunkturellen Wir wollen konjunktur- bzw. krisenbedingte Minder- Gesichtspunkten einer besonderen Beachtung bedarf. einnahmen in der Arbeitslosenversicherung und in der gesetzlichen Krankenversicherung mit Steuermitteln (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auffangen und damit sowohl die Lohnzusatzkosten als der FDP) auch die Nettoeinkünfte der sozialversicherungspflichtig Neben dem Grünlandmilchprogramm, dessen wesent- Beschäftigten stabilisieren. Das heißt, im Bereich der licher Bestandteil das Milchsonderprogramm ist und für Bundesagentur für Arbeit soll das nach bisheriger das der Bund im laufenden Jahr ungefähr 300 Millionen Rechtslage im Haushaltsjahr 2010 zu gewährende Darle- Euro aufbringt, wird der Bereich Landwirtschaft mit hen in einen Zuschuss an die Bundesagentur umgewan- weiteren Maßnahmen unterstützt. Wir stabilisieren durch delt werden. einen Zuschuss die landwirtschaftliche Unfallversi- (B) (D) Der Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2010 cherung. Zudem gibt es Liquiditätshilfen für Landwirte. sieht hierfür einen Betrag in Höhe von 16 Milliarden Im Jahr 2010 sind für die Landwirtschaft insgesamt Euro vor. Ausschlaggebend ist: Ohne diesen Zuschuss 425 Millionen Euro zusätzlich vorgesehen. Es bleibt bei des Bundes müsste der Beitragssatz zur Arbeitslosenver- unserer Festlegung, die wir im Koalitionsvertrag getrof- sicherung spürbar erhöht werden. Nur so würde die Bun- fen haben: Wir werden den Bereich der Landwirtschaft desagentur für Arbeit in die Lage versetzt werden, das in diesem und im kommenden Jahr auf Initiative der sonst notwendige Darlehen zeitnah zurückzuzahlen. Ich Bundeslandwirtschaftsministerin mit insge- bin sicher, dass Sie meine Meinung teilen: Eine signifi- samt 750 Millionen Euro zusätzlich unterstützen. kante Erhöhung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sicherung wäre in der gegenwärtigen arbeitsmarkt- und konjunkturpolitischen Lage gelinde gesagt mehr als kon- Neben diesen drei finanziellen Unterstützungsmaß- traproduktiv. Sie gilt es zu vermeiden. nahmen enthält der Entwurf dieses Gesetzes auch Ände- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik; denn soziale Joachim Poß [SPD]: Warten wir mal ab!) Marktwirtschaft bedeutet auch, in dieser Krisensituation die Lebensleistung der Menschen zu berücksichtigen. Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung Konkret: Wir verdreifachen das Schonvermögen für soll der Gesundheitsfonds im laufenden Jahr einen ein- Langzeitarbeitslose von 250 auf 750 Euro pro Lebens- maligen zusätzlichen Zuschuss in Höhe von 3,9 Milliar- jahr. den Euro erhalten. Ohne diesen einmaligen Zuschuss zur Kompensation krisenbedingter Einnahmeausfälle im Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) reich der gesetzlichen Krankenversicherung würde sich Die Menschen, die infolge der Finanz- und Wirtschafts- der Druck auf die gesetzlichen Krankenkassen – Stich- krise ihre Arbeit verlieren, sollen nicht gezwungen sein, wort Zusatzbeiträge – noch weiter erhöhen, als es zum ihre private Altersvorsorge aufzulösen, um damit ihren gegenwärtigen Zeitpunkt bedauerlicherweise der Fall ist. Lebensunterhalt zu finanzieren, und dies im schlimms- Unter Berücksichtigung dieses zusätzlichen Zuschus- ten Fall mit der möglichen Folge, dass sie im Alter un- ses erhält der Gesundheitsfonds im laufenden Jahr Zu- terstützungsbedürftig werden. Demgegenüber erfordert schüsse aus dem Bundeshaushalt in Höhe von fast die von uns vorgeschlagene gerechtere Vermögensan- 16 Milliarden Euro; das sind rund 5 Prozent der von der rechnung mehr Eigenverantwortung. Sie ist ein wichti- Regierung veranschlagten Ausgaben für das Jahr 2010. ger Beitrag zur Vermeidung von Altersarmut. Sie stärkt Nehmen wir die Bereiche Arbeitslosenversicherung und in allen Bevölkerungsgruppen die Anreize, für das Alter Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1739

Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter (A) vorzusorgen. Sie ist gelebte soziale Marktwirtschaft, so sehr dankbar dafür, dass Sie gerade darauf hingewiesen (C) wie sie die christlich-liberale Koalition versteht. haben, dass zwischen diesem Gesetzentwurf und dem Entwurf für den Bundeshaushalt 2010, über den wir hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vor einer Woche diskutiert haben, eine enge Verzahnung Bundesminister Schäuble hat bereits in der vergange- besteht. Allerdings meine ich das ganz anders, als Sie nen Haushaltswoche bekräftigt: Der Bundeshaushalt das gerade suggeriert haben. 2010 ist ein wichtiger und zentraler Meilenstein zur Über- Es ist nämlich so: Wenn man sich den Regierungsent- windung der Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir schreiben wurf für den Bundeshaushalt 2010 genau anschaut, dann die Konjunkturpakete I und II und das Bürgerentlas- könnte man zu der Erkenntnis kommen, dass sich in die- tungsgesetz fort, und wir entwickeln das Sofortpro- sem Gesetz ein Zuschuss der Steuerzahler an verschie- gramm der christlich-liberalen Koalition weiter. Aber erst dene Gruppen der Gesellschaft, vor allen Dingen aber an mit dem Inkrafttreten des heute vorgelegten Entwurfs des die BA und den Gesundheitsfonds von 20,6 Milliarden Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes können die Euro verbirgt. Das ist aber nicht so. Um das zu erkennen, Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden. Der Bundes- muss man das Kleingedruckte in diesem Gesetzentwurf haushalt auf der einen und dieses Gesetz auf der anderen lesen. In Wahrheit werden wir am Ende dieses Haushalts- Seite sind eng miteinander verzahnt. jahres gemeinsam feststellen, dass es ungefähr, wenn Beide tragen dazu bei, dass die Lasten bei der Bewäl- überhaupt, 14 Milliarden Euro sein werden. Die 6 Milli- tigung der großen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht arden Euro Differenz, die dazwischenliegen, werden nur einseitig und ungerecht verteilt werden. bei einem Träger eingespart, so werden Sie es jedenfalls nennen – Sie werden von „Einsparungen“ reden –, und Zulasten der öffentlichen Haushalte haben wir das das wird die Bundesagentur für Arbeit sein. Wenn ir- Überleben des Finanzsektors unseres Landes gesichert. gendeiner von den Kollegen hier das nicht so ganz nach- Jetzt wollen wir der Gesamtheit der Beitragszahler zu vollziehen kann, bin ich gerne bereit, ihm das auf Nach- den sozialen Sicherungssystemen in einer entsprechen- frage näher zu erläutern. den Weise Teile der Lasten abnehmen. Das ist die Ziel- setzung dieses Gesetzesvorhabens. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Machen Sie mal! – So richtig und wichtig es ist, in der gegenwärtigen Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Machen Sie Krise zu stabilisieren, so richtig und wichtig ist es auch, mal!) auf eine konsistente und geordnete Strategie für den Ausstieg aus den staatlichen Stabilisierungsmaßnahmen Wir reden heute über den Entwurf eines Gesetzes mit zu achten und diese – das haben wir angekündigt – ent- dem prägnanten, aber leicht irreführenden Titel „Sozial- (B) schieden durchzusetzen. Das heißt auch: Wir müssen uns versicherungs-Stabilisierungsgesetz“. Die Gesetzesbe- (D) jetzt mit Bedacht mit den Strukturen des Bundeshaushal- gründung gibt vor, die in der Wirtschaftskrise notleiden- tes und mit den Strukturen unserer sozialen Sicherungs- den sozialen Sicherungssysteme bei Arbeitslosigkeit und systeme beschäftigen. Wir müssen gerade im Hinblick Krankheit jeweils mit einem einmaligen Steuerzuschuss auf die neue Schuldenregel im Grundgesetz ganz genau absichern zu wollen – ich sprach schon davon: hinschauen: Wo gibt es Ineffizienzen? Was können wir 20 Milliarden Euro sollen es laut Haushaltsentwurf der besser machen? Wo besteht über dieses Gesetz hinaus Regierung sein –, um Beitragserhöhungen mitten in der ordnungspolitischer Handlungsbedarf? Krise zu vermeiden und die Lohnnebenkosten stabil zu Dabei ist für uns die soziale Marktwirtschaft im halten. Ein prinzipiell guter und richtiger Gedanke, dem 21. Jahrhundert Maßstab des Handelns zur Wiedererlan- sich auch die SPD prinzipiell sofort anschließen kann. gung von Wachstum und Stabilität. Aber Achtung: Nur weil jemand einen richtigen Ge- Das bedeutet für diese Bundesregierung: Wir lassen danken zu haben vorgibt oder ein richtiges Ziel wie eine die Menschen nicht im Stich. Konsolidierung und Ge- Monstranz vor sich herträgt, will er noch lange nicht die rechtigkeit sind kein Widerspruch, nein, sie bedingen richtigen Instrumente gesetzlich festlegen, um dieses einander. Auf unsere Wirtschaftsordnung, die sich in der Ziel auch tatsächlich zu erreichen. Krise so handlungs- und reaktionsfähig zeigt, sollten wir (Beifall bei der SPD) stolz sein. In diesem Sinne werbe ich um die Zustim- mung zu diesem Gesetz. Mit den Namen von Gesetzen ist es bei dieser schwarz-gelben Koalition ja so eine Sache, wie wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schon in den ersten Regierungsmonaten lernen mussten. Auf der Verpackung steht manchmal etwas ganz ande- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: res, als drin ist. Das Wort hat nun Bettina Hagedorn für die SPD- Fraktion. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Gemeinhin ist dieser Tatbestand als Etikettenschwindel bekannt. Das war schon beim Wachstumsbeschleuni- gungsgesetz so, Bettina Hagedorn (SPD): Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- ( [CDU/CSU]: Sehr gu- gen! Herr Kollege Kampeter, ich bin Ihnen eigentlich tes Gesetz!) 1740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Bettina Hagedorn (A) von dem alle Sachverständigen der Republik überein- ( [CDU/CSU]: Das kostet den (C) stimmend sagen, dass es weder zu wirtschaftlichem Steuerzahler Jahr für Jahr Millionen!) Wachstum führt noch dieses etwa beschleunigt. ist es tröstlich und gerecht, dass ihnen dieser stattliche (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Betrag zur zusätzlichen Altersvorsorge bleibt. von der FDP: Nach vier Wochen?) (Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck Schuldenbeschleunigungsgesetz oder Hotelierförderge- [CDU/CSU]: Wenn jemand recht hat, dann ist setz wären zutreffendere Namen. das der Koch!) (Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck Ferner sieht dieser Gesetzentwurf einen steuerfinan- [CDU/CSU]: Jetzt muss was zu der Spenden- zierten einmaligen Zuschuss an die gesetzliche Kran- praxis kommen! Das gehört zusammen!) kenversicherung von 3,9 Milliarden Euro vor. Auch das ist eine grundsätzlich positive und richtige Maßnahme. Wie dem auch sei, wer keinem Etikettenschwindel auf- Allerdings bleibt die Frage, warum in diesem Gesetzent- sitzen will, der ist gut beraten, sich den Inhalt kritisch wurf krisenbedingte Einnahmeausfälle im Bereich Ge- anzuschauen und auch das Kleingedruckte zu lesen. sundheit in Höhe von 3,9 Milliarden Euro genannt wer- den und bei der Bundesagentur für Arbeit der komplett Was also steckt im sogenannten Sozialversicherungs- gleiche Sachverhalt nicht mit einer klaren Zahl wie im Stabilisierungsgesetz? Es steckt ein ganzer Bauchladen Haushaltsentwurf, nämlich 16 Milliarden Euro, be- drin, ein Maßnahmebündel, das teilweise gut und richtig schrieben wird, sondern mit einer ausgesprochen kom- ist plizierten Formulierung. Dies wird automatisch dazu (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Immer- führen, dass die Bundesagentur für Arbeit bis Ende die- hin! Stimmt alles!) ses Jahres ihre momentane Rücklage von 3 Milliarden Euro komplett plündern muss. Denn uns wurden niedri- und teilweise in die falsche Richtung geht. Da ist zu- gere Arbeitslosenzahlen prognostiziert; dies wurde uns nächst das Sonderprogramm für Milchviehhalter in im Jahreswirtschaftsbericht diese Woche gezeigt. Höhe von knapp 200 Millionen Euro pro Jahr. Da sind die Gründland- und die Kuhprämie, für die im Gesetz- (Joachim Poß [SPD]: Hört! Hört! – Elke entwurf minutiös 54 Rinderarten aufgelistet sind. Das ist Ferner [SPD]: Nachhaltigkeit!) sicherlich weder ein Beitrag zum Bürokratieabbau à la Wenn man das zugrunde legt, dann kommen wir auf ei- FDP noch einer zur Stabilisierung der sozialen Siche- nen steuerfinanzierten Zuschuss an die BA nicht von rungssysteme. 16 Milliarden Euro, wie Sie uns glauben machen wollen, (B) sondern von ungefähr 10 Milliarden Euro. (D) (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Aber für gesunde Kühe!) (Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Das ist doch etwas Schönes! Oder wollen wir das bedau- Mein Kollege Wilhelm Priesmeier wird noch im Detail ern? darauf eingehen. Dass die Bundesagentur für Arbeit durch dieses Ge- Als weitere Maßnahme sieht der Gesetzentwurf die setz gezwungen wird, ihre Rücklagen auf null zu Verdreifachung des sogenannten Schonvermögens vor, schrauben, eröffnet ihr ganz schwierige Perspektiven für das Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen, zur die Jahre ab 2011. Es ist zu vermuten, dass diese Koali- Vorsorge für das Alter absichern soll. Dieser Maßnahme tion das so will. Wenn die Bundesagentur für Arbeit in stimmt die SPD mit ganzem Herzen zu. Schade ist nur, schwierige Zeiten kommt, lässt dies Übles befürchten liebe Kollegen der CDU/CSU, dass Sie solche vernünfti- hinsichtlich einer möglichen Anhebung des Arbeitslo- gen sozialen Maßnahmen, solange wir gemeinsam re- senversicherungsbeitrages ab 2011. In dieser Koalition giert haben, stets blockierten und erst jetzt auf solche wird die BA als Steinbruch benutzt. Dafür kommt nur vernünftigen Vorschläge kommen. ein Titel der Bundesagentur für Arbeit infrage: Das ist (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb der Eingliederungstitel. Beim Eingliederungstitel geht es [FDP]: Wer war das?) um nichts anderes als aktive Arbeitsmarktpolitik. Es ist in der Finanz- und Wirtschaftskrise und angesichts des Das könnte mit dem sozialeren Teil Ihrer Partei und mit drohenden Fachkräftemangels genau das falsche Signal, bevorstehenden Wahlen in NRW zu tun haben. Ein der BA die Möglichkeit zu nehmen, Instrumente einzu- Schelm, der Böses dabei denkt! Wie dem auch sei, mit setzen, um die Arbeitslosigkeit zu vermeiden. dieser Maßnahme helfen wir zu Recht einer Bevölke- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rungsgruppe. Leider ist dies nur eine sehr kleine; denn nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit aus dem drit- Den Arbeitslosenversicherungsbeitrag haben wir in ten Quartal 2009 können nur 0,2 Prozent der Antragstel- der Großen Koalition gemeinsam gesenkt. ler auf Arbeitslosengeld II von dieser Regelung profitie- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Gegen den ren. Immerhin, für diejenigen, die jahrzehntelang Widerstand der SPD!) gearbeitet, gespart oder geerbt haben und jetzt gerade in der Krise – entgegen der Unterstellung von Ministerprä- Es war durchaus das Ziel unserer gemeinsamen Bemü- sident Koch meist trotz großer Bemühungen um einen hungen, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 6,5 Pro- neuen Arbeitsplatz – ohne Chance auf einen Job bleiben, zent auf aktuell 2,8 Prozent zu senken. Dadurch sind Ar- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1741

Bettina Hagedorn (A) beitnehmer und Arbeitgeber in den letzten Jahren um (Beifall bei der SPD) (C) 70 Milliarden Euro entlastet worden. Ich komme zum Schluss. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das war richtig!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das wird Zeit!) Diese 70 Milliarden Euro haben dann aber logischer- weise der Bundesagentur für Arbeit gefehlt. Dieses Gesetz stabilisiert die sozialen Sicherungssys- teme leider nur für ein Jahr. Dieses Gesetz verhindert Wenn Sie nicht ab 2011 wieder einen angemessenen Beitragserhöhungen bei Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenversicherungsbeitrag erheben oder Steuer- Krankenversicherung leider nur für ein Jahr. zuschüsse über 2011 hinaus gewähren, werden Sie – das wollen Sie offensichtlich – die aktive Arbeitsmarktpoli- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eines nach dem tik der Bundesagentur für Arbeit an die Wand fahren. anderen!) (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ Dieses Gesetz ist eine unehrliche Antwort auf die Unter- CSU: Was schlagen Sie vor?) finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Diese Un- terfinanzierung wird zwar, wie wir alle wissen, durch Das Problem ist doch: Der Zuschuss, über den hier heute den demografischen Wandel verursacht; durch die mas- beraten wird, ist einmalig, das Defizit aber nicht. siven Steuersenkungen, die Sie vornehmen wollen, ver- Als Herr Weise im Dezember im Haushaltsausschuss schlimmern Sie diese Unterfinanzierung aber mutwillig. den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit für 2010 (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vorgestellt hat, hat er, auf Nachfrage, auch gesagt, dass die BA in Krisenzeiten wie den jetzigen, um auskömmli- Zu diesem Gesetzentwurf muss – da sind wir uns bei che Einnahmen zu haben, einen Arbeitslosenversiche- diesem Volumen und dieser Brisanz für unseren Staat rungsbeitrag von 4,5 Prozent bis 4,8 Prozent bräuchte. und für die sozialen Sicherungssysteme sicherlich einig – Bei dem Berichterstattergespräch, das vor ein paar Tagen eine Anhörung stattfinden. im Bundesministerium für Arbeit stattfand – auch Frau Ich sage abschließend: Mit diesem Gesetz spannen Winterstein und Herr Fischer waren dabei –, hat Herr Sie tatsächlich, wie Sie es dargestellt haben, einen Weise gesagt: Auch wenn wir keine Krise hätten, Schutzschirm auf – allerdings für die Kälte, die Sie bräuchte er, um auskömmlich wirtschaften zu können, selbst erzeugen. einen Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 3,25 Pro- zent. Da der Arbeitslosenversicherungsbeitrag aber bei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2,8 Prozent liegt und der von Ihnen vorgeschlagene Zu- (B) Das ist mitnichten eine Solidaritätsaktion, Kollege (D) schuss ein einmaliger Zuschuss sein soll, ist eines klar: Kampeter. In Wahrheit ist es so, als würden Sie einen Dieses Gesetz trägt die Beitragserhöhung ab 2011 schon Radiator gegen die Kälte anstellen und gleichzeitig den in sich. Strom abschalten. (Beifall bei der SPD) Ich danke Ihnen. Mehr netto vom Brutto entpuppt sich unter diesem (Beifall bei der SPD) Gesichtspunkt als reine Augenwischerei. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Koalition hat dieses Ziel insbesondere im Wahl- Das Wort hat nun Claudia Winterstein für die FDP- kampf wie eine Monstranz vor sich her getragen. In Fraktion. Wahrheit wird mit den Differenzen zwischen Haushalt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und Gesetz, die ich gerade zu erläutern versucht habe, der CDU/CSU) der Wählerbetrug offenbar. Was Sie ab 2011 machen, be- deutet doch nichts anderes, als dass – das ist hier ange- Dr. Claudia Winterstein (FDP): legt – der Arbeitslosenversicherungsbeitrag massiv stei- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gen muss. Sie wollen es nur noch nicht zugeben, vor Herren! Wir befassen uns hier mit dem zweiten Teil der allen Dingen nicht vor der Wahl in NRW. Sofortmaßnahmen der Koalition, nämlich – Frau Den Gesundheitsbereich stützen Sie einmalig mit Hagedorn hat es schon gesagt – dem Schutzschirm für 3,9 Milliarden Euro aus Steuermitteln. Ab 2011 wollen Arbeitnehmer. Nach der steuerlichen Entlastung zum Sie aber die Arbeitgeberbeiträge deckeln. Auch das Jahreswechsel durch das Wachstumsbeschleunigungs- geht zulasten der Arbeitnehmer; denn in dieser Maß- gesetz werden hiermit weitere Punkt aus der Koalitions- nahme ist versteckt, dass die Zusatzbeiträge – im Mo- vereinbarung umgesetzt. ment ist davon die Rede, dass ein Zusatzbeitrag von Frau Hagedorn, haben Sie eine Glaskugel, oder legen 8 Euro erhoben werden soll – massiv steigen müssen. Sie Karten? Hinzu kommt, dass Sie wollen, dass auch für die Pflege privat vorgesorgt wird. Rechnet man all das zusammen, (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sehr richtig! erkennt man, dass für die normale Familie, für den nor- Wo Frau Winterstein recht hat, da hat sie recht! – malen Arbeitnehmer in Deutschland spätestens ab 2011 Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich tippe bei Frau erheblich weniger netto vom Brutto übrig bleiben wird. Hagedorn auf eine Glaskugel!) 1742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. Claudia Winterstein (A) Ich frage mich, wie Sie zu Ihrem Urteil über das Wachs- letztendlich ein Zuschuss von nur 13 oder 14 Milliarden (C) tumsbeschleunigungsgesetz kommen, das gerade ein- Euro wird, weil sich die Konjunktur so positiv entwi- mal seit vier Wochen in Kraft ist. Warten Sie es doch ckelt hat. einfach ab! Sie werden ganz sicher positiv überrascht werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da muss man (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) doch nicht rumnörgeln, Frau Hagedorn!) Das geplante Darlehen an die Bundesagentur für Ar- Schon von der vorherigen Regierung war im ersten beit wird in einen Zuschuss umgewandelt. Der Gesund- Haushaltsentwurf für 2010 verankert worden, dass die heitsfonds erhält einen zusätzlichen Bundeszuschuss. Bundesagentur ein entsprechendes Darlehen bekommt. Das Gesetz beinhaltet eine besonders gute Nachricht für Insofern sind wir einen Schritt weitergegangen: Wir ha- die Menschen – das ist schon gesagt worden –, die der- ben gesagt, dass ein Darlehen zum jetzigen Zeitpunkt si- zeit vielleicht Sorge um ihren Arbeitsplatz haben oder cher ein Problem wäre, weil die Bundesagentur nicht in seit einiger Zeit arbeitslos sind und möglicherweise in der Lage wäre, dieses zurückzuzahlen, es sei denn – das die Lage kommen, Arbeitslosengeld II beziehen zu müs- wollen wir nicht –, die Beiträge würden erhöht. Daher sen: die Anhebung der Freibeträge für die Altersvor- haben wir uns entschlossen, hier einen Zuschuss zu ge- sorge. Diese Freibeträge werden – wie vor der Wahl ver- währen. Das ist zwar eine hohe Belastung für den Bun- sprochen und in der Koalitionsvereinbarung festgelegt – deshaushalt – das muss man ganz klar sehen –; aber ich von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr erhöht und denke, es ist die einzige praktikable Lösung, die es in damit verdreifacht. Hierzu wird mein Kollege Johannes diesem Jahr gibt. Vogel nachher Näheres berichten. Es ist aus meiner Sicht wichtig, hinzuzufügen, dass Das Gesetz beinhaltet außerdem zwei gute Nachrich- diese Entlastungsmaßnahmen natürlich für das Jahr 2010 ten für alle Beitragszahler in der Sozialversicherung: Die gelten und nicht auf Dauer angelegt sind. Ich habe auch konjunkturell bedingten Mindereinnahmen in der schon in der Beratung zum Einzelplan 11 deutlich ge- Krankenversicherung und der Arbeitslosenversicherung sagt: Wir wollen, dass die im Koalitionsvertrag verein- werden nicht in vollem Umfang den Beitragszahlern auf- barte Aufgabenkritik sehr bald zu konkreten Ergebnissen gebürdet, sondern mit einem Zuschuss vom Bund aufge- und damit eben auch zu Kostensenkungen bei der Bun- fangen. Beide Versicherungen müssen 2010 mit einem desagentur führt; denn wir wollen eine Erhöhung der erheblichen Defizit rechnen; das ist uns allen klar. Der Beitragssätze vermeiden. Bund deckt das erwartete Defizit bei der Krankenver- sicherung mit seinem Zuschuss zu mehr als der Hälfte ab Auch beim Gesundheitssystem strahlt die Krise ins (B) – Frau Hagedorn, das ist ein festgelegter Betrag in Höhe Jahr 2010 aus. Die Einnahmen aus den Versichertenbei- (D) von 3,9 Milliarden Euro –, bei der Arbeitslosenversiche- trägen werden nicht ausreichen, um alle Gesundheits- rung sogar in vollem Umfang. Insofern ist hier nicht von kosten abzudecken. Deswegen müssen wir nun zusätz- einer Kürzung die Rede. Es gibt diese unterschiedlichen lich und – ich betone – einmalig 3,9 Milliarden Euro aus Beträge, weil wir eben noch nicht genau wissen, wie dem Bundeshaushalt zur Verfügung stellen. Der Steuer- hoch das Defizit ausfallen wird. Die Höhe des Zuschus- zuschuss an den Gesundheitsfonds wächst damit im Jahr ses richtet sich nach der Größe des Defizits. 2010 auf 15,7 Milliarden Euro an. Bedenklich ist, dass damit das Geld für die Krankenkassen noch immer nicht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau! So ein- ausreicht. Millionen Versicherte werden Zusatzbeiträge fach ist das, Frau Hagedorn!) an ihre Kassen zahlen müssen. Wirtschaftskrisen wirken sich bei der Bundesagentur Das ist kein Betriebsunfall und schon gar nicht die für Arbeit immer besonders stark aus, weil sie sowohl bei Schuld des jetzigen Gesundheitsministers. den Einnahmen wie auch bei den Ausgaben betroffen ist: Die Einnahmen brechen weg, weil es weniger Beschäf- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wollte die tigte gibt und die Versicherung somit geringere Einzah- SPD so: Gesundheitsprämie als Wettbe- lungen erhält; die Ausgaben steigen, weil es mehr Ar- werbsinstrument! – Markus Kurth [BÜND- beitslose gibt, von denen Leistungen bezogen werden. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Schuld des Ko- Mit dem Defizit aus dem Jahr 2009 in Höhe von 13,9 Mil- alitionspartners!) liarden Euro ist die Bundesagentur ja noch selber zurecht- Der Zusatzbeitrag in Kombination mit dem Gesundheits- gekommen, weil sie Geld aus der Rücklage entnehmen fonds war der faule Kompromiss in der Gesundheitspoli- konnte. Im Jahr 2010 sieht das anders aus: Wir müssen tik der Großen Koalition, zwei völlig gegensätzliche von einem Defizit von bis zu 17,8 Milliarden Euro ausge- Konzepte zu vereinen. hen. Wir wissen aber noch nicht, ob das Defizit so hoch sein wird, und warten die weitere wirtschaftliche Ent- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das war eine wicklung ab. Dementsprechend wird der Zuschuss aus- schwierige Zeit! Da dürfen Sie uns nicht so fallen: kritisieren!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau so!) – Nein, nein. vielleicht 16 Milliarden, 14 Milliarden oder 17 Milliar- (Joachim Poß [SPD]: Das ist die „Erblast“ der den Euro. Wir wissen es noch nicht. Frau Hagedorn, ich Großen Koalition! Mit der wollen die Schwar- denke, als Haushälterin sollten Sie sich freuen, wenn es zen nichts mehr zu tun haben!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1743

Dr. Claudia Winterstein (A) Die Ausgabeseite wurde dabei von völ- Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): (C) lig vernachlässigt. Als Folge davon wurden die Ausga- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ver- ben der Kassen – das muss man sich einmal vorstellen – ehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Rösler, welch ein von 144 Milliarden Euro im Jahre 2005 auf über Glück für Sie: Sie haben Ihre medizinische Ausbildung 167 Milliarden Euro im Jahre 2009, also um 23 Milliar- bei der Bundeswehr erhalten. Dort haben Sie gelernt, den Euro, angehoben. Die Zeche zahlen jetzt die Versi- sich zu tarnen – eine Fähigkeit, die Ihnen heute sehr zu- cherten. gutekommt. Durch die jetzt entstandene Situation wird überdeut- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und lich gezeigt, dass wir die Gesundheitsfinanzierung der SPD sowie der Abg. Renate Künast dringend neu organisieren müssen. Die Regierungskom- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Georg mission wird hierzu ja auch Vorschläge unterbreiten. Schirmbeck [CDU/CSU]: Er war nicht im Ma- növer, sondern er war im Krankenhaus tätig! Es geht aber natürlich auch darum, Effizienzreserven Mein Gott!) im System ausfindig zu machen. Wir wollen die Ausga- ben durch mehr Wettbewerb dämpfen und müssen prü- Sie tarnen den radikalen Bruch in der gesetzlichen fen, ob wir durch bessere Organisationsstrukturen effek- Krankenversicherung als notwendige Reform. tiver mit den Beitragsgeldern umgehen können. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ullala Schmidt (Joachim Poß [SPD]: Ich dachte, dafür ist der wollte das so!) Gesundheitsminister und nicht die Regie- Damit wollen Sie Millionen von Krankenversicherten rungskommission zuständig! Das wird doch täuschen. Das ist unverantwortlich. wohl der Gesundheitsminister und nicht die Regierungskommission machen!) (Beifall bei der LINKEN) Auch die Kassen sind aufgefordert, ihre Ausgaben auf Zu diesem Vorgehen passt dann auch das Konzept Einsparpotenziale zu durchforsten. von Herrn Schäuble, das er zur Sicherung der Sozialsys- teme auf den Weg bringen will. Der von ihm geplante (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist es!) Schutz der Arbeitnehmer ist in Wirklichkeit ein Schirm zum Schutz der Arbeitgeber. Die Arbeitnehmerinnen Immer mehr Steuermittel in ein nicht funktionierendes und Arbeitnehmer lässt er in der Finanzkrise in unchrist- System zu leiten, ist keine Lösung. licher Art im Regen stehen. Das letzte Element dieses Gesetzentwurfs ist ein Son- (Beifall bei der LINKEN) (B) derprogramm mit Hilfen für Milcherzeuger, das soge- (D) nannte Grünlandmilchprogramm. In diesem Sonder- Das ist unredlich. Es ist unsozial und entspricht auch programm sind für die Jahre 2010 und 2011 besondere nicht dem Gedanken, dass starke Schultern mehr tragen Grünlandprämien vorgesehen, wodurch den Milchbau- sollten als schwache. ern geholfen wird, die existenziellen Auswirkungen der (Beifall bei der LINKEN) Wirtschaftskrise zu überwinden. Das ist typisch für diese Regierung. Herr Rösler, Sie Noch eine letzte Bemerkung. Alle Belastungen, die wollen in der gesetzlichen Krankenversicherung die dieser Gesetzentwurf für den Bundeshaushalt mit sich Ausfälle des Gesundheitsfonds mit 3,9 Milliarden Euro bringt, sind im Haushaltsentwurf 2010 bereits berück- aus Steuermitteln auffangen. sichtigt. Die Nettoneuverschuldung musste gegenüber dem ersten Haushaltsentwurf von Finanzminister (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja! Das Steinbrück nicht erhöht werden. Wir satteln also nicht machen wir!) drauf. Mir ist schleierhaft, wie Sie mit 3,9 Milliarden Euro ein (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Grund- voraussichtliches Finanzloch von sage und schreibe steuersenkung!) 7,9 Milliarden Euro stopfen wollen. Ich sage Ihnen jetzt schon voraus, dass diese Regierung den Rest den Versi- Dies ist aus Haushältersicht eine durchaus positive cherten aufs Auge drücken wird. Nachricht. Zur Wahrheit gehört auch, dass der Gesundheits- Vielen Dank. fonds nicht ausschließlich durch die Finanzkrise in die derzeitige schlechte Lage gebracht wurde. Der Gesund- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – heitsfonds war und ist von Anfang an – ich behaupte: be- Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist nicht das Er- wusst – mit unzureichenden finanziellen Mitteln ausge- gebnis Ihrer Sparerfolge, sondern das Ergebnis stattet worden. der besseren Konjunktur!) Im Übrigen handelt es sich hierbei um eine Hinterlas- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: senschaft der Großen Koalition, also auch der SPD. Das Wort hat nun Kollegin Kathrin Senger-Schäfer (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) für die Fraktion Die Linke. Von Anfang an war gewollt, dass einzelne Krankenkas- (Beifall bei der LINKEN) sen über die sprichwörtliche Klinge springen sollten, um 1744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Kathrin Senger-Schäfer (A) damit den Wettbewerb zu verschärfen. Diese Wettbe- die Abgeordnete genauso wie die Mitarbeiterin in der (C) werbsverschärfung führt aber weder zu einem fruchtba- Kantine, die einzig denkbare und wirksame Alternative. ren Wettstreit um die besten Leistungsangebote noch zu einer besseren Qualität der Versorgung. Weil die Kassen (Beifall bei der LINKEN) in diesem Fall das Sonderkündigungsrecht ihrer Versi- Denn für uns, die Partei Die Linke, ist der Mensch das cherten fürchten, sind sie sich mehrheitlich einig, Zu- Maß der Dinge. satzbeiträge zu erheben. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Mir kom- Wir erleben dazu nun einen großen Aufschrei, und men die Tränen!) selbst Frau Merkel verzieht dabei die Miene und ruft jetzt nach dem Kartellamt. Aber: Gesundheit ist keine Vielen Dank. Ware. Dabei bleibt die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Alle Menschen in unserem Land haben einen Anspruch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: auf eine gute, solide und gerechte Gesundheitsversor- Werte Kollegin, das war Ihre erste Rede im Deut- gung. Wettbewerb hat im Gesundheitswesen nichts ver- schen Bundestag. Gratulation und alle guten Wünsche loren. für Ihre weitere Arbeit in diesem Hause! (Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck (Beifall) [CDU/CSU]: Wo ist es eigentlich besser als in Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion Deutschland?) Bündnis 90/Die Grünen. Ich frage auch Sie: Wer muss Ihre grandiosen Wettbe- werbsideen bezahlen? Das sind die 70 Millionen Versi- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cherten der gesetzlichen Krankenversicherung und auch Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! die Arbeitslosengeld-II-Beziehenden, die ohnehin jeden Allein der Titel des Gesetzentwurfes, über den wir heute Cent zweimal umdrehen müssen. Das ist, mit Verlaub, in erster Lesung beraten, ist ein Täuschungsmanöver: zutiefst unsozial. Gesetz zur Stabilisierung der Finanzlage der Sozialver- (Beifall bei der LINKEN) sicherungssysteme. Das, was Sie von der Regierung als Stabilisierung bezeichnen, ist in Wahrheit nicht mehr als Zweifellos gibt es zusätzliche Leistungen der gesetz- das notdürftige Verpflastern von Wunden am Sozialstaat, lichen Krankenversicherung, die wir auch wollen. Dazu die größtenteils oder jedenfalls zu einem nicht geringen (B) gehört zum Beispiel die spezialisierte ambulante Pallia- Teil erst durch Sie und die Vorgängerregierung gerissen (D) tivversorgung, also die Betreuung und Versorgung von wurden. todkranken Menschen. Das ist aber nur dann möglich, wenn man sich vorher überlegt hat, wie man das bezah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len will. Der Gesundheitsfonds ist aber chronisch unter- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) finanziert. Genau dieses Dilemma ließe sich durch den Beginnen wir mit dem Zuschuss zur gesetzlichen Antrag meiner Fraktion Die Linke verhindern. Krankenversicherung. Sie von der Union haben doch (Beifall bei der LINKEN) die strukturelle Unterfinanzierung der gesetzlichen Krankenkassen in die Wege geleitet, indem Sie gemein- Zurzeit zahlt der Staat einen festgelegten Pauschal- sam mit der SPD den Gesundheitsfonds beschlossen und betrag von derzeit 126 Euro im Monat für alle Arbeits- die mutwillige Senkung der Beitragssätze in der GKV losengeld-II-Beziehenden als Beitrag zur Krankenversi- vorgenommen haben. cherung. Das reicht längst nicht, und das wissen Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Koalition. Wir haben vorgeschlagen – und dabei bleiben Frau Aigner, dass Sie jetzt über die Erhebung von Zu- wir auch –, diesen Betrag auf circa 260 Euro im Monat satzbeiträgen jammern, ist schon scheinheilig genug. und pro Mitglied zu erhöhen. Das brächte rund Aber dass Sie sich nun selbst für einen Steuerzuschuss 5 Milliarden Euro mehr für die gesetzliche Krankenver- loben, der zumindest in dieser Höhe gar nicht notwendig sicherung, was zweifelsohne die gesundheitliche Versor- gewesen wäre, wenn Sie nicht den Gesundheitsfonds mit gung verbessern würde. seinen Unterdeckungsregeln beschlossen hätten, ist (Beifall bei der LINKEN) dreist. Ein besonderes Licht auf Ihren Stil der Stabilisie- rung der Sozialversicherungssysteme wirft etwa die Ent- Das wäre jedenfalls ein sinnvolleres Sofortprogramm lassung von Herrn Sawicki, dem Leiter des Instituts für für die Krankenversicherung als die unsinnige Ein- Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. führung von kleinen oder großen Kopfpauschalen, ge- Anstatt die Voraussetzung für eine Dämpfung des Kos- tarnt als Zusatzbeitrag bzw. Gesundheitsprämie. Damit tenanstiegs etwa bei den Arzneimitteln zu schaffen, neh- erübrigte sich jede Diskussion um die Zusatzbeiträge men Sie das Geld der Steuerzahler. Die Steuerzahler sol- und auch darüber, ob die Arbeitslosengeld-II-Beziehen- len nach Ihrem Willen für die Interessen von den die Zusatzbeiträge selber zu tragen hätten. Für die Pharmaindustrie bis hin zu Apothekern aufkommen. Wir Linke bleibt aber im Grundsatz die solidarische Bürge- dürfen vielleicht schon auf die Spendenzahlungen des rinnen- und Bürgerversicherung, in die alle einzahlen, Jahres 2010 gespannt sein. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1745

Markus Kurth (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – denn nur ein Bruchteil der Arbeitslosengeld-II-Bezie- (C) Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ist der von henden erhält aufgrund zu großer Vermögen keine Leis- den Linken oder von den Grünen?) tungen. Die meisten Langzeitarbeitslosen haben doch in ihrem Leben nie die Chance gehabt, ein Vermögen von Kommen wir zur Arbeitslosenversicherung. Auch rund 50 000 Euro für die Altersvorsorge anzusparen und bei der Arbeitslosenversicherung ist ein Großteil des bis- festzulegen. herigen Defizits der erheblichen Senkung des Beitrags- satzes auf bis zu 2,8 Prozent geschuldet, die ebenfalls (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann man so mit der SPD beschlossen wurde, zu einem Zeitpunkt, als nicht sagen! Das ist sehr differenziert!) die Krise bereits am Horizont erschien. Sei’s drum! In Der Masse der Langzeitarbeitslosen wäre sehr viel mehr der gegenwärtigen Situation gibt es natürlich keine Al- etwa durch eine Erhöhung des Regelsatzes geholfen, und ternative zum Defizitausgleich durch den Bund. Sie blei- diese Erhöhung hätte überdies auch noch positive kon- ben aber jegliche Aussage schuldig, wie es ab 2010 wei- junkturelle Effekte, weil sie unmittelbar der Steigerung tergehen soll. Wie soll denn die Bundesagentur für der Binnennachfrage zugute käme. Arbeit das für 2011 erwartete Defizit in Höhe von 11,3 Milliarden Euro decken? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Woher wis- sen Sie, dass das 11,3 sind?) Vollends absurd wird Ihre Behauptung einer Stabili- sierung des Systems der sozialen Sicherung, wenn man Wie soll denn das in der mittelfristigen Finanzplanung sich anschaut, was Sie sonst noch planen und bereits tun. der Bundesagentur für Arbeit vorgesehene Gesamtdefi- Sie deckeln etwa die Mittel für das Programm „Job- zit in Höhe von 25,4 Milliarden Euro gedeckt werden? Perspektive“ und verringern damit die beinahe einzige Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, dass die Bundes- Chance für Langzeitarbeitslose mit besonderen Vermitt- agentur dies als Darlehen schultert oder sogar zurück- lungshemmnissen, eine sozialversicherungspflichtige zahlt. Sie wissen genauso gut wie ich, dass man ein De- Beschäftigung zu bekommen. Die Arbeitsministerin be- fizit in diesem Umfang, selbst wenn man hart reitet die Zerschlagung der Jobcenter vor, die vor Ort einschneidet, nicht durch Einsparungen auffangen kann. wirklich niemand will, weil absehbar ist, dass sich die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Betreuung der Betroffenen vor Ort verschlechtern und DIE GRÜNEN) die Bürokratie sich verdoppeln wird. (Bettina Hagedorn [SPD]: Genauso ist es!) Was also mit Sicherheit kommen muss, ist eine Erhö- hung des Beitragssatzes. Nach unseren Berechnungen ist Meine Damen und Herren von der Regierung, was Sie (B) ein Anstieg auf 4,5 Prozent notwendig, um den Haushalt mit diesem Gesetz stabilisieren, sind Ihre Klientelinte- (D) der Bundesagentur für Arbeit dauerhaft zu stabilisieren. ressen. Aber dazu schweigen Sie natürlich. Es wäre ja auch zu peinlich, wenn Sie bereits wenige Wochen nach Ihrem (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- merkwürdigen Klientelbegünstigungsgesetz zugeben SES90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Bettina müssten, dass etwa die Kindergelderhöhung bei den Bei- Hagedorn [SPD]) tragszahlern gar nicht ankommt, weil Sie ihnen das Was Sie mit diesem Gesetz stabilisieren, ist ein berech- durch Beitragssatzsteigerungen wieder wegnehmen. tigtes Misstrauen mit Blick auf die Zukunft. Sie versu- Also wird munter mit Steuerzuschüssen weiter geflickt, chen, den Patienten Sozialstaat noch einmal mit Pflas- um über den Termin der Landtagswahl in Nordrhein- tern aufzuhübschen, aber Sie wissen schon genau, dass Westfalen hinwegzukommen. Sie ihn nach der NRW-Wahl amputieren wollen. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ach, da ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN was?) und bei der SPD) Damit Sie das Ganze als Wohltat verkaufen können, Wir vom Bündnis 90/Die Grünen werden dafür garnieren Sie Ihre Mogelpackung noch mit zwei Zücker- kämpfen, dass dieses Manöver nicht aufgeht; denn die chen: der Erhöhung des Schonvermögens für die Alters- Bürgerinnen und Bürger in diesem Land und besonders vorsorge im Rahmen des Arbeitslosengeldes II und ei- diejenigen in Nordrhein-Westfalen wollen mehr vom So- nem Sonderprogramm für Milchviehhalter. zialstaat als nur einen Torso. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ist das Vielen Dank. falsch?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zu Letzterem wird nachher mein Kollege Friedrich sowie bei Abgeordneten der SPD) Ostendorff etwas sagen. Deshalb kann ich mich jetzt auf die Erhöhung des Schonvermögens konzentrieren. So Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sinnvoll das im Grundsatz natürlich ist, so sehr geht es Das Wort hat nun Georg Schirmbeck für die CDU/ doch an den Sorgen und Nöten der Masse der Langzeit- CSU-Fraktion. arbeitslosen vorbei; (Beifall bei der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ [SPD]: Nicht wieder Pressemitteilungen falsch DIE GRÜNEN) zitieren!) 1746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Georg Schirmbeck (CDU/CSU): len. Wenn nämlich viele Arbeit haben, bekommen wir (C) Herr Abgeordneter Kelber, auf diesen Punkt kommen viele Beiträge für die verschiedenen Sozialversiche- wir noch bei der zweiten und dritten Beratung des Bun- rungssysteme. Dann brauchen wir uns auch nicht mehr deshaushaltes zurück. Dann werden Sie den Saal hier vorzuhalten, ob der Zuschuss des Staates an die Kassen unter Tränen verlassen; das verspreche ich Ihnen jetzt größer oder kleiner ist. Wir brauchen nicht mehr zu spe- schon. kulieren, was 2011 oder 2012 sein wird. Bei Ihren For- mulierungen, so wie Sie sie hier vortragen, habe ich (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und manchmal den Eindruck, dass Sie ganz erschüttert sind, der FDP – Heiterkeit bei der SPD) dass die Arbeitslosenzahlen nicht um 1 Million höher Das Pulver wird trocken gehalten. Sie können mich sind. Über die tatsächlichen Zahlen sollten wir uns doch heute nicht provozieren, das schon jetzt zu verschießen. freuen. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Wir können uns doch freuen, dass im vorigen Jahr das man sich die Debatte hier eine Zeit lang anhört, könnte Staatsdefizit um 15 Milliarden Euro geringer war, als es man depressiv werden, und man hat den Eindruck, wir noch vor Weihnachten prognostiziert wurde – das ist wären hier in einem Entwicklungsland, einem Land je- doch schon einmal ein Ergebnis –; denn Sie hätten sich denfalls, das mit Deutschland überhaupt nichts zu tun doch auch mit den negativen Zahlen auseinandersetzen hat. Können wir auf diesen Sozialstaat, so wie wir ihn müssen, wenn die Prognose eingetreten wäre. heute ganz konkret erleben, nicht stolz sein, darauf, dass wir es gemeinsam geschafft haben, dass wir fleißige Jetzt wollen wir für den ländlichen Raum etwas ma- Bürgerinnen und Bürger haben? chen, weil besonders die Grünlandbetriebe, also die Milchbauern, erhebliche Probleme haben. Daraufhin (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) überlegen wir uns: Wie kann man da helfen? Dabei müs- Wo ist die Krankenversicherung wesentlich besser als in sen wir uns eingestehen, dass in der Agrarpolitik ein sehr Deutschland? Wo ist die Unfallversicherung wesentlich ausgeprägtes Gemeinschaftsrecht gilt und dass wir des- besser als in Deutschland? Wo wird sich um Arbeitslose halb nicht einfach sagen können: Wir Deutschen haben wesentlich besser gekümmert als in Deutschland? Das eine Idee und setzen diese um. haben wir doch gemeinsam auf den Weg gebracht. Ha- Wir müssen uns nun fragen: Wie kann man beispiels- ben wir nicht wirklich Grund, darauf stolz zu sein? weise 100 Millionen Euro für eine Gründlandprämie Was wir als Große Koalition jetzt machen, ist Folgen- konkret zur Verfügung stellen? Da stellen wir fest, dass des: Wir helfen im ländlichen Raum den Bauern – – man erst 2 Millionen Euro EU-Zuschüsse aktivieren muss, um national überhaupt handeln zu können. Man (B) (Lachen bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Die kann jetzt an der einen oder anderen Stelle beklagen, (D) FDP wird ganz unruhig! Die FDP ist schon dass das alles sehr kompliziert ist. Aber dann muss man den Tränen nahe!) einen Weg finden, diese Schwierigkeiten zu überwinden, – Meine sehr geehrten Damen und Herren, man ist ja damit ganz konkret Geld zur Verfügung gestellt werden manchmal nicht so auf den neuesten Terminus einge- kann. stellt; das ändert sich auch manchmal. Die liberal-christ- Jetzt darf man aber nicht nur das sehen, was wir für liche Koalition, das kriegen wir ja auch gut hin. die Grünlandbetriebe tun. Wir haben auch im Hinblick Was wir konkret gemacht haben und was wir konkret auf die Gasölverbilligung etwas getan. Ich habe eben ge- tun, besteht darin, dass wir bei unseren Bauern die Bei- sagt, dass wir im Bereich der landwirtschaftlichen Un- träge für die landwirtschaftliche Unfallversicherung fallversicherung etwas getan haben. Wenn man dieses durchschnittlich um 45 Prozent senken. Das ist doch ein gesamte Maßnahmenpaket sieht, dann bedeutet das für Ergebnis für alle im ländlichen Raum. die landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland ein Plus von durchschnittlich 4 500 Euro. Nun kann man sa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gen: 4 500 Euro sind nicht die Welt. Andererseits ist das Bettina Hagedorn [SPD]: Das macht genau doch eine Menge Geld. Eine alte Frau muss schon sehr 23 Millionen Euro!) lange stricken, bis sie das verdient hat. – Frau Hagedorn, Sie haben ja schon nicht verstanden, (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) was Sie vorhin vorgetragen haben. Deshalb kann ich auch nicht erwarten, dass Sie das verstehen, was ich jetzt Ich sage noch einmal: Es geht gar nicht so sehr um vortrage. Das ist eben ein bisschen zu schwierig. den absoluten Betrag, der zur Verfügung gestellt wird. Viel entscheidender ist, dass die Betroffenen sehen, dass (Iris Gleicke [SPD]: Schnösel!) der Staat die Betriebe in dieser schwierigen Situation Ich sage Ihnen dazu eines. Es ist nach wie vor wahr: nicht alleine lässt, sondern dass er sich entschieden für Wenn die Bauern, auch wenn es wenige geworden sind, sie einsetzt. im ländlichen Raum gute Stimmung haben, wenn sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sich unternehmerisch etwas vornehmen, dann ist gute Stimmung im ganzen Dorf. Es führt dazu, dass in den Ich sage aber auch deutlich: Sosehr wir überzeugt Dörfern etwas unternommen wird, dass dort investiert sind, dass hier konkret gehandelt werden muss, so sehr wird, dass sich etwas bewegt, und dann haben viele im muss die liberal-christliche Koalition darauf hinweisen, ländlichen Raum Arbeit. Das ist es doch, was wir wol- dass diese Maßnahmen Strukturentscheidungen, die im Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1747

Georg Schirmbeck (A) landwirtschaftlichen Bereich getroffen und umgesetzt (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Sozial- (C) werden müssen, nicht ersetzen. Auf Dauer kann der ausgleich, Herr Kollege!) Staat unternehmerischen Erfolg und gute Preise in der Landwirtschaft durch Maßnahmen wie diese, die wir – Der Sozialausgleich – danke für diesen netten Zwi- hier beschließen wollen, nicht ersetzen. Dies ist eine schenruf – sieht so aus, dass der Ausgleich – so sagt der Übergangshilfe in einer schwierigen Zeit, die aber nicht Minister, und das nehme ich ihm ab – nicht mehr über die richtigen unternehmerischen Entscheidungen für die die Sozialbeiträge, sondern über Steuern erreicht werden Zukunft ersetzt. soll. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist viel Ich habe bei der ersten Lesung des Einzelplanes 10 in gerechter!) der vorherigen Woche schon gesagt: Ich bin nicht sicher, dass wir alle Ansätze so, wie wir sie in der Vergangen- – Hören Sie zu, dann lernen Sie noch etwas! heit gewohnt waren, zukünftig halten können. Ich sage das in der Öffentlichkeit, damit sich die Betroffenen da- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, Sie lernen rauf einstellen können. Das gehört mit zur Redlichkeit. noch etwas!) Herr Schäuble aber sagt: Dafür habe ich kein Geld, es sei Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen: Es denn, wir würden eine Sondersteuer zur Finanzierung kommt nicht darauf an, hohe Zuschüsse zu geben, son- des Gesundheitssystems einführen. Das ist die aktuelle dern es kommt darauf an, dass diese Zuschüsse zielge- Faktenlage. nau erfolgen, dass wir den Leuten Mut machen, dass wir einen Beitrag dazu leisten, dass Unternehmer etwas un- Hinzu kommt, dass ab Februar 2010 eine Kommis- ternehmen, damit die Leute in unserem Staat Arbeit be- sion zur Gesundheitsreform tagen wird. Die Arbeit die- kommen. Jeder kann hier an seinem Platz in den Aus- ser Kommission kann sich hinziehen. Das Ergebnis die- schüssen, aber auch in seinem Wahlkreis ganz gezielt ser Arbeit wird auf jeden Fall nicht dazu führen, dass wir Maßnahmen ergreifen, damit in den nächsten Jahren in den nächsten Monaten und Jahren eine größere Orien- nicht die Zahl der Arbeitslosen, sondern die Wirtschaft tierung bekommen. Bekanntlich braucht aber das Ge- wächst. Wenn nämlich unsere Wirtschaft wächst, dann sundheitssystem jetzt Orientierung. Von daher sehe ich werden damit auch die Probleme unserer Volkswirt- das ein bisschen anders. schaft gelöst. Der Herr Minister hat eine klare Botschaft verkündet. Das muss man mit einer gesunden Portion Optimis- Er will in eine neue Richtung marschieren, aber er weiß mus machen. Man darf nicht alles schlechtreden; denn noch nicht, wie das umgesetzt werden soll. Das schafft Optimismus, das Bauchgefühl, etwas für die Zukunft zu bei den Akteuren im Gesundheitswesen nicht mehr Ver- (D) (B) gestalten, macht mindestens 50 Prozent des Erfolges un- trauen, sondern Unsicherheit en masse. serer Volkswirtschaft aus. (Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank. Es geht um die 3,9 Milliarden Euro, die innerhalb der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 15,7 Milliarden Euro Gesamtzuschüsse an den Gesund- heitsfonds geleistet werden sollen. Dieser Betrag ergibt sich ja aus drei Komponenten: zum ersten die beitrags- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: freie Mitversicherung der Kinder und der Jugendlichen Das Wort hat nun Ewald Schurer für die SPD-Frak- in Ausbildung, zum zweiten die zum 1. Juli 2009 noch tion. von der Großen Koalition – Herr Kollege Schirmbeck, Sie sehnen sich danach zurück; ich kann es auch verste- (Beifall bei der SPD) hen – induzierte Beitragssatzsenkung von 15,5 Prozent auf 14,9 Prozent. Der dritte Bestandteil ist die krisenbe- Ewald Schurer (SPD): dingte Komponente in Höhe von 3,9 Milliarden Euro, Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kolle- die in der Änderung des Fünften Buches Sozialgesetz- gen! Meine Damen und Herren! Erst einmal möchte ich buch vorgesehen ist. Aber es geht um mehr. – das wird Sie wundern – den Herrn Minister Rösler vor Diese Woche ist von der Debatte über die Zusatzbei- den giftigen Pfeilen der Kollegin von der Linken in träge beherrscht, die allerorten für Aufmerksamkeit Schutz nehmen. sorgen. Der Presse habe ich entnommen, dass die Bun- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) deskanzlerin, Frau , mit einem großen Unwohlsein auf diese Zusatzbeiträge reagiert hat. Das Der Grund ist, dass das, was Sie gesagt haben, so nicht Ganze ist schon ein Riesenproblem. Dem werten Kolle- stimmt. Der Herr Minister Rösler ist bisher offen gewe- gen von den Grünen muss man es noch einmal erklären: sen und hat auch hier in diesem Hause klar gesagt: Er ist Wir als Sozialdemokraten wollten bekanntlich damals für einen Ausstieg aus einer einkommensabhängigen die Regelung nicht, nach der bis zu 8 Euro Zusatzbeitrag Finanzierung; er will für die Zukunft eine einkommens- in einem vereinfachten Verfahren erhoben werden kön- unabhängige Finanzierung. Er will mehr oder minder nen. Wir wollten den Zusatzbeitrag paritätisch finanziert aus dem Prinzip der Parität in der Krankenversicherung haben. Wir wollten, dass im Rahmen eines Prüfverfah- aussteigen und in das System der Kopfpauschale ein- rens nachgewiesen werden muss, dass die Kassen einen steigen. Das ist eine gravierende Veränderung. solchen Zusatzbeitrag unbedingt benötigen, weil sie 1748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Ewald Schurer (A) sonst mit ihrer Finanzierung nicht mehr zurechtkommen; gut entwickelt, dass in den nächsten Jahren nicht ein hö- (C) immerhin geht es um 71 Millionen Versicherte und Mit- herer, sondern ein geringerer Zuschussbedarf entsteht, versicherte der GKV in Deutschland. um die GKV im Sinne der Versicherten mit genügend finanziellen Mitteln auszustatten. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie wollten, aber Sie konnten nicht! Sie Herzlichen Dank. haben es nicht getan!) (Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck Es gab dann in der Großen Koalition, die der Herr [CDU/CSU]: Du bist einer der besseren Schirmbeck noch so emotional in sich trägt, einen sehr Sozialdemokraten!) schwierigen Kompromiss mit gewissen Hilfskrücken, den wir – Sie haben an der Stelle recht – mitgetragen ha- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ben. Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak- Herr Minister, Sie müssen in der Zukunft einen wirk- tion. lichen Dialog mit den Kassen führen. Sie müssen die (Beifall bei der FDP) Steuerungsfunktion der Krankenkassen ernsthaft einfor- dern. Es geht darum, ein Kostenmanagement in den Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Sektoren des Gesundheitswesens zu etablieren, in denen die Kosten seit Jahren und Jahrzehnten steigen, etwa in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Medizintechnik oder bei den verordneten Medika- Herr Schurer, ich fand es interessant, dass Sie gesagt ha- menten. ben: Wir müssen in der Gesundheitspolitik wieder Orientierung geben. – Ich glaube auch, dass wir das tun (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das hat Frau müssen. Schmidt doch die letzten Jahre gemacht, oder (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nach Ulla Schmidt nicht?) ist das dringend erforderlich!) Sie müssen versuchen, die Steuerungsfunktion der ge- Es muss nur eine andere Orientierung sein als die von setzlichen Krankenkassen, der Volkskassen, zu aktivie- der früheren Gesundheitsministerin Schmidt; denn die ren. Sie müssen mit den Krankenkassen auch darüber hat das System überhaupt erst an die Wand gefahren, diskutieren, welche Instrumente sie brauchen, um genü- und das hat zu den Problemen geführt, die wir heute lö- gend Substanz zu haben, um wirklich steuern zu können. sen müssen. Das sind die Fragen, die anstehen. Es geht nicht darum, darüber zu reden, wie wir künftig vielleicht mit irgend- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Georg (B) welchen Zusatzbeiträgen agieren, die letztendlich den Schirmbeck [CDU/CSU] – Dr. Heinrich L. (D) Leuten mit geringem Einkommen zum Nachteil gerei- Kolb [FDP]: Das gehört zur Wahrheit dazu!) chen, weil sie die Zusatzbeiträge nicht von der Steuerlast absetzen können und damit erneut eine soziale Benach- Schauen wir doch einmal, was die Regierung vorhat! teiligung erfahren. Natürlich geht es beim vorliegenden Gesetzentwurf auch darum, kurzfristig einen Zuschuss an den Gesundheits- Zum Schluss, meine werten Kolleginnen und Kolle- fonds zu geben, um die Einnahmeausfälle zu kompensie- gen, Folgendes: Es gilt, in der Gesundheitspolitik wieder ren. Aber es ist nicht so, dass wir darüber hinaus nichts Orientierung zu geben. Das vermag die derzeitige Regie- machen. Wir sind nämlich der Meinung, dass es keinen rung nicht zu leisten. Sinn macht, in ein Gefäß mit einem Leck Wasser nach- zuschütten, damit vorübergehend wieder Wasser drin ist. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hat Frau Ohne dass das Leck gestopft wird, werden die Probleme Schmidt das denn gemacht? Jetzt sagen Sie dieses Systems nicht gelöst. Wir führen eine grundle- mal was zu Frau Schmidt!) gende Reform durch, damit dieses System an sich wie- Wenn man ein bewährtes Finanzsystem an Haupt und der funktioniert. Gliedern reformieren will, dann muss man auch sagen, Liebe Frau Kollegin Senger-Schäfer, ich glaube, Sie wie das gehen soll. Ich sage Ihnen voraus, Herr Minister, machen einen Denkfehler: Sie sind davon überzeugt bei aller persönlichen Sympathie: Sie werden eine Kom- – das war auch bisher ihr Problem im Hinblick auf das missionsarbeitszeit von ein, zwei Jahren nicht durchhal- Gesundheitswesen –, dass Wettbewerb dort nichts ver- ten. Sie werden schon eher sagen müssen, wie Sie das loren hat. Ich sehe das anders. Wettbewerb ist genau das machen wollen. Sie werden eine riesige Hürde zu über- Instrument, das dieses System und damit die beste Ge- winden haben. Die Bundeshaushalte 2011 und 2012 mit sundheitsversorgung für alle langfristig finanzierbar hält. den strukturellen Defiziten werden Ihnen nicht mehr Deshalb ist mehr Wettbewerb zwischen den Kassen, also Spielräume geben, sondern weniger. Das heißt, das Um- das, was Gesundheitsminister Rösler vorhat, genau das switchen von der Beitragsfinanzierung auf eine Steuer- Richtige für das Gesundheitssystem. subvention wird so nicht funktionieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die 3,9 Milliarden Euro werden heute von Ihnen vor- der CDU/CSU) geschlagen. Sie sind – das gebe ich zu – eine Hilfsmaß- nahme. Sie werden aber große Mühe haben, uns davon Immer wieder wird kritisiert, das sei sozial ungerecht. zu überzeugen, wie es nach Ihrem Willen weitergehen Es ist sehr sozial, den Faktor Arbeit weniger als bisher soll. Ich hoffe jedenfalls, dass sich der Arbeitsmarkt so zu belasten; denn das schafft Arbeitsplätze. Außerdem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1749

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) wollen wir den Sozialausgleich über das Steuersystem in meinen Augen an Hohn. Wer dies sagt, vergisst, dass (C) organisieren. In das Steuersystem zahlen nämlich alle die private Vorsorge in Zukunft noch viel wichtiger wer- ein, auch diejenigen, die besonders viel verdienen, weil den wird, gerade zur Verhinderung von Altersarmut. Um es da keine Beitragsbemessungsgrenze gibt. Das kann Altersarmut entgegenzuwirken, müssen wir diese Maß- ich nur als gerecht empfinden. Das Gesundheitssystem, nahme durchführen. Sie übersehen auch, dass es schon wie es bisher besteht, ist ungerecht, weil der Solidaraus- heute viele Menschen gibt, die Hartz IV gar nicht erst gleich nicht vollständig funktioniert. Insofern würde die beantragen – neben einer Dunkelziffer gibt es dokumen- Umsetzung unserer Vorschläge das System gerechter tierte Fälle; das wissen Sie so gut wie ich –, weil sie machen. Angst haben, dass ihre Altersvorsorge angetastet wird. An dieser Stelle geht es ein Stück weit aber auch darum, (Beifall bei der FDP) welche Ethik in unserem System, in unserem Sozialstaat Ich möchte auf einen anderen Aspekt dieses Gesetzes herrscht. eingehen, nämlich auf den Zuschuss an die Bundesagen- tur für Arbeit. Frau Kollegin Hagedorn, ich habe mich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr richtig und sehr darüber gewundert, dass Sie die Regierung quasi wichtig!) dafür kritisiert haben, dass sie möchte, dass die Bundes- Kann es sein, dass jemand, der eigenverantwortlich für agentur für Arbeit erst einmal ihre Reserven auf- das Alter vorsorgt, dafür bestraft wird? braucht und dass erst dann über die Höhe des Zuschusses entschieden wird. Sie tun so, als ob das ein Problem (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das darf wäre. Wenn der Zuschuss niedriger ausfällt, als im Bun- nicht sein!) deshaushalt angesetzt – mit 16 Milliarden Euro –, dann heißt das doch nur eines: Die Konjunktur ist wieder an- Das ist doch eine völlig falsche Herangehensweise. gesprungen, und weniger Menschen als befürchtet sind (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten arbeitslos. Das kann ich nur als gute Nachricht empfin- der CDU/CSU) den. Wie Sie daraus Kritik ableiten, ist mir völlig schlei- erhaft. An so einer Stelle spürt eine Gesellschaft, welche Wertvorstellungen ihr zugrunde liegen. Diese Wertvor- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stellungen sind entscheidend dafür, ob etwas Akzeptanz der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Die Kri- findet und ob die Solidargemeinschaft funktioniert. Es tik bezieht sich ja auf den Ausweis der Mittel!) kann nicht sein, dass jemand, der bedauerlicherweise in – Herr Poß, lassen Sie mich doch ausreden. – Dass wir Hartz IV rutscht, also die Unterstützung der Solidarge- (B) diesen Zuschuss gewähren, ist Ausweis dessen, dass die meinschaft braucht, dazu gezwungen wird, Geld, das er (D) Kritik, diese Regierung entlaste die Bürger auf der einen für das Alter angespart hat – vielleicht hat er sich müh- Seite bei den Steuern und belaste sie auf der anderen sam eine kleine Rentenversicherung abgespart –, mögli- Seite bei den Abgaben – diese Kritik wird gelegentlich cherweise sogar mit Verlust antasten muss und später in vorgebracht –, nicht richtig ist. Die Sicherstellung dieses Altersarmut rutscht. Es ist nicht fair, Menschen dafür zu Zuschusses ist der Ausweis dafür, dass dieser Vorwurf bestrafen, dass sie für das Alter vorgesorgt haben. Wir absurd ist. Wir wollen die Bürger entlasten, statt sie zu müssen Eigenverantwortung belohnen. belasten. Selbst wenn die Erhöhung des Schonvermögens noch (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wenige Menschen betrifft – in Zukunft wird sich das än- NEN]: Daran erinnere ich Sie 2011!) dern –, ist sie genau das richtige Signal an die Gesell- schaft; denn dadurch machen wir das Grundsicherungs- – Ja, daran können sie mich gerne erinnern, Herr Kurth. – system, das Hartz-IV-System, fairer, und wir korrigieren Das zeigt sich in diesem Gesetz. so die Fehler, die die rot-grüne Bundesregierung in das (Beifall bei der FDP – Markus Kurth [BÜND- System eingeführt hat. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir ja mal sehen! Da kommt es noch zum Schwur!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Herr Kurth, es ist schön, dass Sie dazwischenrufen. Diese Maßnahme der Regierung ist insofern völlig rich- Ich will auf einen weiteren Aspekt dieses Gesetzent- tig. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihre Aussage, dass wurfs zu sprechen kommen, nämlich auf die Verdreifa- das grundsätzlich sinnvoll ist, aufrechterhielten. Viel- chung des Schonvermögens. Ich freue mich sehr, dass leicht trägt die Tatsache, dass auch Sie, Kolleginnen und Sie diesen Punkt gelobt haben. Sie haben ihn als grund- Kollegen von der SPD, das in Ihrem Wahlprogramm ste- sätzlich sinnvoll bezeichnet. Das hörte sich im letzten hen hatten, nur in den letzten Jahren, als Sie Regierungs- Herbst noch anders an. Man konnte damals der Presse verantwortung trugen, nicht die Kraft gehabt hatten, das entnehmen, dass Sie das als Symbolpolitik gegeißelt ha- auch durchzuführen, dazu bei, dass Sie dem Gesetzent- ben. Ich will Ihnen sagen, warum ich glaube, dass das wurf in dritter Lesung zustimmen. eine ganz entscheidende Maßnahme ist und keine Sym- bolpolitik. Vielen Dank. Es wird immer wieder das Argument geäußert, das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten betreffe so wenige Menschen. Dieses Argument grenzt der CDU/CSU) 1750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der Krise muss die Bezugsdauer für das Arbeitslosen- (C) Das Wort hat nun , Fraktion Die geld verlängert werden, und zwar auf zwei Jahre für alle. Linke. Das hilft den Beschäftigten, die jetzt entlassen werden, (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Arbeit brauchen die Leute!) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): zum Beispiel bei Siemens, wo jetzt, wie heute Morgen in Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten den Nachrichten zu hören war, 2 000 Stellen gestrichen Damen und Herren! Für dieses Jahr rechnet die Bundes- werden sollen. agentur für Arbeit mit einem Defizit in Höhe von gut 18 Milliarden Euro. Der Gesetzentwurf, den Sie nun vorlegen, ist reine Flickschusterei. Die Linke sagt: Die Bundesagentur (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wollen Sie denn muss grundsätzlich wieder solide finanziert werden. Wir die Kurzarbeit einschränken, Herr Birkwald, brauchen eine Staatsgarantie für die Sozialversicherun- oder was sonst?) gen, keinen einmaligen Zuschuss, sondern eine dauer- Das ist ein trauriger Nachkriegsrekord. Nur einen Bruch- hafte Defizithaftung. teil davon kann die Bundesagentur selbst aus ihren (Beifall bei der LINKEN) Rücklagen ausgleichen. Wie konnte es dazu kommen? Die Krise sei schuld gewesen, sagt die Bundesregierung. Heute Morgen konnte man einer Pressemitteilung der Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Die Politik der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel: „Koalitionshaus- ganz großen Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP hat hälter wollen Zuschüsse für Sozialkassen kürzen“ – sie es vermasselt. lief auch über den Ticker – entnehmen, dass Ihnen der Zuschuss von 16 Milliarden Euro zu hoch ist und auf (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Bitte?) 11 Milliarden Euro gesenkt werden soll und dass dafür Sehenden Auges hat diese ganz große Koalition die unter anderem Qualifizierungsprogramme der BA ge- Finanzen der Bundesagentur an die Wand gefahren. strafft werden sollen. Ich sage Ihnen: Es ist komplett der falsche Weg, auch noch bei den Qualifizierungsmaßnah- Meine Damen und Herren von der Union, Sie haben, men zu sparen. Auch hier wäre der umgekehrte Weg in wechselnder Besetzung, grob fahrlässig gehandelt, in- richtig; denn wir brauchen mehr Bildung und bessere dem Sie die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung Qualifikation. mehr als halbiert haben. Sie haben die Gewitterwolken (Beifall bei der LINKEN) (B) aufziehen sehen. Sie haben alle Unwetterwarnungen von (D) Experten in den Wind geschlagen. Jetzt stellen Sie sich Mit dem sogenannten Eingliederungsbeitrag werden hin, beklagen die Löcher im Dach der Bundesagentur letztendlich die Beitragszahler mit 5 Milliarden Euro da- und spannen Schutzschirme für die Banken. Gerecht für haftbar gemacht, dass es Langzeiterwerbslosigkeit geht anders! gibt. Das darf nicht sein; denn die Lösung gesamtgesell- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. schaftlicher Probleme muss auch von der gesamten Ge- Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sellschaft finanziert werden. NEN]) Das Schonvermögen für die Altersvorsorge von Die Bundesregierung will die Beiträge stabil halten. Das Hartz-IV-Betroffenen deutlich anzuheben, ist richtig. waren sie doch. 14 Jahre lang, bis Ende 2006, lagen sie bei 6,5 Prozent. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Na also! Geht ersten Anzeichen der Krise für jede und jeden sichtbar doch!) wurden, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wurde der Mit dieser Forderung ist die Linke bei der Wahl angetre- Beitragssatz auf unter 3 Prozent gesenkt. Das ist der ten. Bleiben Sie uns treu: Heben Sie die Vermögens- niedrigste Wert seit 1975. Doch wer hier Beiträge kürzt, freigrenzen an! Erhöhen Sie den Hartz-IV-Regelsatz auf hat Sozialabbau im Sinn. 500 Euro! Streichen Sie die unwürdigen Sanktionen und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Schikanen für Hartz-IV-Betroffene und führen Sie end- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – lich – das ist ganz dringend – eine eigenständige Min- Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Nein, das war destsicherung für Kinder ein! Im Übrigen bin ich der ein Wachstumsimpuls!) Meinung: Hartz IV muss überwunden werden. Beim Arbeitslosengeld war es zunächst anders- Vielen Dank. herum, aber nicht anders: Rot-Grün hat die Bezugsdauer (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. des Arbeitslosengeldes I massiv verkürzt und die Ar- Kolb [FDP]: Den Mindestlohn haben Sie ver- beitslosenhilfe gleich komplett gestrichen. Dann wurden gessen, Herr Birkwald!) die Beitragssätze gesenkt. Liebe Kolleginnen und Kolle- gen von Schwarz-Gelb: Wer heute auf Teufel komm raus niedrige Beiträge sät, wird morgen größere Defizite ern- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ten. Und was machen Sie dann? Das Arbeitslosengeld I Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Frak- kürzen? Wir Linken sagen: Das Gegenteil ist richtig. In tion Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1751

(A) Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Da hat doch (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- keiner was dagegen!) ren! Ministerin Aigner musste leider schon gehen. Das wie es das Bundeskartellamt empfiehlt. Die Bundes- vorliegende Artikelgesetz enthält als zweiten Teil das regierung ist hier gefordert, mit einer gezielten Sonderprogramm mit Maßnahmen für Milchviehhalter, bundesweiten Kampagne den Zusammenschluss der besser bekannt unter dem Namen „Kuhschwanzprämie“. Milcherzeuger unabhängig von Molkereien und Genos- Herr Schirmbeck, dieses Programm bringt einem durch- senschaften zu unterstützen. Als Beispiel kann hier die schnittlichen Milchviehbetrieb mit 30 Milchkühen, der bestehende bundesweite Milcherzeugergemeinschaft, in 2009 Milchgeld in Höhe von 13 Cent pro Liter bzw. das Milch Board, dienen. Das wäre ein marktorientierter insgesamt 20 000 Euro verloren hat, zwei Jahre lang und solidarischer Ansatz zugleich und würde den Steuer- jährlich 1 600 Euro bzw. 1 Cent pro Liter Milch mehr. zahler keine 750 Millionen Euro, sondern gerade mal Natürlich sagen die Bäuerinnen und Bauern, auch meine 1 Prozent davon kosten. Frau daheim, nicht Nein, wenn der Staat ihnen Geld schenken will, so wie auch der Autokäufer letztes Jahr (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Na ja!) nicht Nein gesagt hat, als er für das Auto, das er sowieso verschrotten wollte, noch 2 000 Euro geschenkt bekam. In Wahrheit wollen Sie der bäuerlichen Landwirtschaft Aber so wie die Abwrackprämie für Autos der Wirt- eben nicht helfen. In Wahrheit wollen Sie mit diesem schaft insgesamt geschadet hat, wird auch diese Ab- Mammutprogramm Ihre politische Haut retten; ansons- wrackprämie für Milchbauern dem Milchsektor mehr ten verfolgen Sie ganz andere Ziele. schaden als nützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Georg Schirmbeck [CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU]: Friedrich, das kannst du so nicht sagen! und bei der SPD) Ehrlich!) Dieses Grünlandprogramm zeigt erneut das vollkom- „Wir haben die Antworten für die Probleme der men widersprüchliche Vorgehen der Bundesregierung. Welt“, hat der selbsternannte CSU-Export-Staatssekretär Sie gerieren sich als Vertreter der reinen Marktlehre, Müller diese Woche im Agrarausschuss großspurig er- doch sieht ihre Realpolitik ganz anders aus. Dort zünden klärt. Sie erst einmal eine Subventionsrakete, wie ich sie in 40 Jahren Agrarpolitik selten erlebt habe – 750 Millio- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der leistet nen Euro extra, einfach so, ohne Qualifizierung, ohne gute Arbeit! Sehr gute Arbeit leistet der!) Fokussierung, ohne Lenkungswirkung. Das Problem ist Das klingt wie eine Drohung gegenüber den ärmsten (B) nicht, auf Marktkräfte zu bauen, und auch nicht, gesell- (D) schaftliche Solidarität in einer Notsituation zu leisten. Ländern der Welt und ist wohl auch als Drohung ge- Beides ist richtig und notwendig. Das Problem ist, wie meint, wie man annehmen muss, wenn man sich ansieht, Sie es machen. Ihre sogenannte Marktorientierung ba- wie Sie mit Ihrer Exportstrategie die Welt mit billigem siert auf einer vollkommen falschen Marktanalyse. Bei Fleisch und billiger Milch überschwemmen wollen. Ihrer Förderpolitik vergessen Sie das Wichtigste, näm- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hallo?) lich die Lenkungswirkung der Fördergelder zu beden- ken. Was Sie hier treiben, zerstört das, was der Weltagrar- bericht als das Zukunftsmodell zur Lösung der globalen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herausforderungen im ländlichen Raum bezeichnet: die und bei der SPD) bäuerliche Landwirtschaft, die nachhaltig Umwelt, Na- tur und Tiere schont und schützt. Wenn Sie sich den Milchmarkt einmal ansehen würden, so wie es das Bundeskartellamt gerade getan hat, so wür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Sie feststellen, dass dieser Markt total verzerrt ist und bei der SPD) (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Richtig!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und eine eklatante Benachteiligung der Milcherzeuger Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/ gegenüber den Molkereien besteht. Diesen Markt sich CSU-Fraktion. selbst zu überlassen, hieße nicht, die Marktkräfte zum Zuge kommen zu lassen, sondern hieße, allein die Mo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nopolisten zu stärken, meine Damen und Herren Markt- neten der FDP) experten von der FDP. Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf dieses Gesetzes führen wir Wir brauchen jetzt Maßnahmen, um diesen Markt erst Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanz- und Wirt- einmal wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wir müs- schaftskrise fort, mit denen wir in der Großen Koalition sen die Erzeugerseite stärken und in gesunde regionale begonnen haben. Gestern haben wir hier über den Jah- Marktstrukturen investieren. Das bedeutet: Wir brauchen reswirtschaftsbericht debattiert und zur Kenntnis genom- jetzt eine Bündelungsinitiative zur Förderung bäuerli- men, dass es erste Anzeichen einer langsamen Erholung cher Erzeugergemeinschaften, gibt. So erfreulich das Ende der Abwärtsdynamik auch 1752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Stefanie Vogelsang (A) ist: Die deutsche Wirtschaft befindet sich weiterhin in ei- sundheitsfonds zur Kompensation ebendieser krisenbe- (C) nem tiefen Tal. Die leicht positiven Signale für das lau- dingten Mindereinnahmen nicht benötigt wurde. Im fende Jahr geben keinen Anlass zu euphorischen Ein- Rahmen des zweiten Konjunkturpakets ist der Bundes- schätzungen. zuschuss 2010 zur Finanzierung der Beitragssatzsen- kung von 6,3 Milliarden Euro auf 11,8 Milliarden Euro Jetzt ist es von besonderer Bedeutung, die beginnende erhöht worden. Mit diesem Gesetz wollen wir die Erholung in ihren Kräften zu stützen und weitere Im- Grundlage für einen zusätzlichen Bundeszuschuss in pulse in Richtung Wachstum zu setzen. Höhe von 3,9 Milliarden Euro schaffen. Dies ist als ge- Richtig war es, dass wir in der Großen Koalition ge- samtgesellschaftliche, flankierende Maßnahme in die- meinsam den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung sem Jahr notwendig; sonst wird der Druck auf unsere ge- gesenkt haben. Richtig war es, dass wir den Beitragssatz setzliche Krankenversicherung noch größer, und das zur gesetzlichen Krankenversicherung festgeschrieben wollen wir verhindern. haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Aus dieser nicht in Deutschland verursachten interna- neten der FDP) tionalen Krise konnten wir etliche Erkenntnisse gewin- Wir haben schon in der ersten Lesung des Bundes- nen; internationale Handlungsnotwendigkeiten zur Ver- haushalts letzte Woche über die Etatisierung dieser Mit- hinderung einer erneuten Krise dieses Ausmaßes wurden tel geredet. Derzeit berät der Haushaltsausschuss über deutlich. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung den Etat. Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf ebenfalls der sozialen Marktwirtschaft hat sich als durchaus kri- an den Haushaltsausschuss überweisen. Meine Damen senfest erwiesen. Deutschland hat diese Krise deutlicher und Herren vor allen Dingen von der SPD, aber auch besser überstanden als viele andere Länder. von den Grünen, dieser Schutzschirm, den wir jetzt auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – spannen, ist, um im Farbenspiel zu bleiben, ein schwarz- Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist ein- gelber Schutzschirm. fach wahr! Das sollten die zur Kenntnis neh- men und sich darüber freuen!) (Bettina Hagedorn [SPD]: Aber nur ein Schutzschirm für 2010! Da brauchen wir kein Frau Kollegin Senger-Schäfer, wie sozial und wie ge- Prophet zu sein!) recht ein System ist, das ohne Wettbewerb funktioniert, mussten viele Menschen in unserem Land viele Jahr- – Frau Kollegin, er ist ein Schutzschirm für 2010. Wir zehnte ertragen. Ich glaube nicht, dass wir in diese Rich- warten ab und schauen, wie sich die Lage entwickelt. tung wollen. Wir alle können das nicht vorhersehen oder Prognosen (B) abgeben. – Ich glaube, dass es der Kontinuität Ihres Han- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) delns und der Verantwortung, die Sie in Ihren Wahlkrei- Eines ist ganz klar und deutlich geworden: Unsere so- sen Ihren Bürgerinnen und Bürgern gegenüber haben, zialen Sicherungssysteme sind in erheblichem Maße entsprechen würde, wenn Sie ganz gründlich darüber konjunkturabhängig. Dieser Gesetzentwurf enthält ne- nachdenken würden, ob ein solcher Schutzschirm nicht ben dem Sonderprogramm mit Maßnahmen für Milch- auch rote und grüne Farbpunkte tragen sollte. viehhalter, der Anhebung des Schonvermögens und dem Danke. Zuschuss für die Bundesagentur für Arbeit auch den Zu- schuss an die gesetzliche Krankenversicherung, auf den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich mich jetzt konzentrieren möchte. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Gerade wegen der hohen Konjunkturabhängigkeit ist Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier für die SPD- es richtig, die gesetzliche Krankenversicherung zu- Fraktion. nehmend von dem Faktor Arbeit zu entkoppeln. Dafür haben wir die Einrichtung einer Regierungskommission (Beifall bei der SPD) beschlossen, die uns den Weg für eine neue Basis für eine gerechte und solidarische Finanzierung unseres Ge- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): sundheitssystems erarbeiten wird. Herr Kollege Schurer, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Sie können ganz sicher sein, dass die christlich-liberale Kolleginnen und Kollegen! Wer bislang noch nicht ge- Koalition wusst hat, was ein Kuhschwanz wert ist, dem sei gesagt: (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Regierung hat Maßstäbe gesetzt, es sind 20 Euro, „Schwarz-Gelb“ heißt das! Wie die Gift- (Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff tonne!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) auf diesem Weg die Orientierung hat und die Richtung unabhängig davon, wie lang er ist, unabhängig davon, zu weiter vorgeben wird. welcher Kuh er gehört, unabhängig davon, ob die Kuh Noch in der Großen Koalition haben wir beschlossen, 3 000 Liter oder 10 000 Liter Milch gibt. All das wird den Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung über einen Kamm geschoren. Jede Kuh in Deutschland stabil zu halten. Wir alle waren erleichtert, dass im Jahr kann jetzt froh sein: Vor dem Gesetz sind sie alle 2009 das im zweiten Nachtragshaushalt beschlossene gleich. – Hervorragend! Kompliment, das habt ihr gut überjährige Liquiditätsdarlehen des Bundes an den Ge- gemacht! Ihr habt das Fass in Feierlaune aufgemacht. Da Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1753

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) wird Party gefeiert, Geld ausgeteilt, und keiner kümmert Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit der Milch- (C) sich um die Rechnung. Das ist die derzeitige Politik im erzeuger stärken. Wir müssen ihre Position auf dem Agrarbereich. Ihr verschenkt heute die finanziellen Markt stärken. Da können Sie ins Volle greifen. Nach Spielräume, die ihr in den nächsten Haushaltsjahren den Vorgaben der EU dürfen Sie jede Erzeugergemein- noch dringend brauchen werdet. schaft mit 500 000 Euro fördern. Legen Sie ein entspre- chendes Programm auf! Fördern Sie die Strukturen auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem Markt, fördern Sie die Wettbewerbsfähigkeit und DIE GRÜNEN) fördern Sie die Marktgerechtigkeit! Dieser Ansatz wird Es wurde angesprochen: Die Agrarhaushalte 2011, 2012 zukünftig im Bereich der Milchpolitik notwendig sein und 2013 werden von drastischen Einsparungen nicht und nicht die Größenordnung des Programms hier. verschont werden; das ist jedem klar. Das Programm an sich ist löchrig wie ein deutscher (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: 2010 hast du Käse. Die Verteilungsungerechtigkeit ist eklatant. Der vergessen!) bayerische Landwirtschaftsminister rühmt sich, dass über ein Viertel der Mittel des Gesamtprogramms nach Heute feiert ihr noch einmal kräftig, heute teilt ihr noch Bayern fließt. Das ist mehr, als den Bayern in der Rela- einmal Geschenke aus. tion zu der Milchmenge, die sie normalerweise produ- zieren, zusteht. Ich weiß nicht, ob dies bei den Betrieben Kollege Ostendorff hat gerade deutlich gemacht, wo in Schleswig-Holstein oder in den neuen Bundesländern die strukturellen Schwächen dieses Programms liegen. viel Zustimmung gefunden hat; denn da gibt es Kap- Das, was hier geplant ist, ist für die Agrarpolitik ord- pungsgrenzen aufgrund der De-minimis-Regelung; bei nungspolitisch ein Super-GAU sondergleichen. 187 Kühen ist Schluss. Aber auch das sind Betriebe, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Arbeitnehmer beschäftigen und Arbeit sichern. Sie ge- DIE GRÜNEN) hen bei diesem Programm, so wie es gestrickt ist, zwar nicht leer aus, werden aber erheblich benachteiligt. Die FDP sitzt daneben und hat die Prinzipien der Agrar- politik, die sie sonst vertreten hat, grundlegend verraten. Das ist nicht der richtige Ansatz. Die Politik, die hier offenkundig betrieben wird, ist ein Anachronismus. Dies (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist der Rückfall in die Agrarpolitik der 60er-Jahre, als es DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: eine Abschlachtprämie und andere Dinge gab. Das kann Das werden wir Ihnen alles erklären!) man nicht gutheißen. Geschuldet ist dies dem Kompromiss, den man eingehen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) musste, nachdem im Vorwahlkampf in Bayern schon des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (D) mal eine hauseigene Prämie gezahlt wurde. Das hat nicht Joachim Poß [SPD]: Mutig zurück in die 60er- viel genutzt; die Bauern sind trotzdem von der CSU Jahre!) weggelaufen. Jetzt will man nachlegen, die Dimension vergrößern, in der Hoffnung, man könne die Bauern kau- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fen. Das ist keine Strategie. Langfristig kann man die Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bauern nicht kaufen; auch die CSU in Bayern kann das Schirmbeck? nicht.

Frau Ministerin Aigner ist nicht mehr da. Sie kann Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): jetzt mit der Gießkanne durch Bayern fahren und jeden Ja. Hektar begießen. Die Frage ist, was dies nützt. Das hat nichts mit strukturierter Agrarpolitik zu tun. Wir brau- chen den Strukturwandel, wir müssen ihn begleiten; das Georg Schirmbeck (CDU/CSU): ist unabdingbar. Das Programm, das hier aufgelegt wor- Herr Kollege Priesmeier, Sie sind eigentlich ein sehr den ist, begleitet nichts, erzeugt nur Mitnahmeeffekte sachlicher Kollege und beschäftigen sich inhaltlich mit und hat unterm Strich keine strukturellen Folgewirkun- diesen Themen. Ich weiß nicht, welche Zahlen man Ih- gen. Der Strukturwandel wird aufgeschoben und behin- nen vorgelegt hat. Ich weiß aber, dass der zuständige Be- dert. amte im Landwirtschaftsministerium sehr solide rechnet. Sieht man sich die mir vorliegenden Zahlen vor dem (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wilhelm, was soll Hintergrund des Pakets an, das wir geschnürt haben, noch übrig bleiben in der Landwirtschaft?) wozu natürlich auch die Gasölverbilligung und die Zu- Dabei wäre es doch notwendig, dafür zu sorgen, das um- schüsse zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung ge- zusetzen, was im Vorbericht zur Sektoruntersuchung sei- hören, dann ergibt sich, dass Bayern einen Anteil von tens des Bundeskartellamts – Kollege Ostendorff hat es 25,63 Prozent an der Milchproduktion in Deutschland angesprochen – klar und deutlich gesagt worden ist, um und einen Anteil von 26,35 Prozent an den Mitteln hat, den Milchsektor zu stärken. die der Landwirtschaft jetzt zur Verfügung gestellt wer- den. Jetzt zu behaupten, das sei zugunsten eines Bundes- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn du landes, das geht an diesen Zahlen vorbei. Ich frage Sie, recht hättest, solltest du jetzt Vorschläge ma- ob Sie andere Zahlen haben und ob die Zahlen, die mir chen!) das Ministerium zur Verfügung gestellt hat, falsch sind. 1754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Herr Schirmbeck, fragen Sie einmal in Mecklenburg- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vorpommern nach, warum es im Bundesrat gegen das Gesetz gestimmt hat. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ich habe von Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- Bayern gesprochen!) gin Happach-Kasan.

Das Missverhältnis zwischen den süddeutschen Bundes- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): ländern wie Baden-Württemberg und Bayern und den Sowohl in der letzten Debatte als auch durch die Fra- norddeutschen ist belegbar. Sobald ich Zeit habe, suche gen und Antworten der Kollegen Schirmbeck und ich die Zahlen heraus. Dann können wir uns später gerne Priesmeier ist deutlich geworden, worum es in dieser darüber unterhalten. Die Beweisführung scheue ich Debatte geht. Es geht um das Sonderprogramm Land- nicht. Sie konstruieren hier Gesamteffekte aus dem Be- wirtschaft, das wir, die christlich-liberale Koalition, ge- reich Agrardiesel und anderen Einzelmaßnahmen im meinschaftlich im Koalitionsvertrag vereinbart haben, Rahmen der Unfallversicherung. Die Aussage, die ich getroffen habe, bezieht sich allein auf das Grünland- (Joachim Poß [SPD]: Schwarz-Gelb!) Milchprogramm, das Sie vorgelegt haben. weil wir der Auffassung sind, dass gerade Milchviehbe- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- triebe durch die Wirtschaftskrise, durch den absolut NEN]: Darum geht es ja auch nur!) niedrigen Milchpreis geschwächt worden sind und dass sie eine Unterstützung brauchen, damit sie durchhalten – Vielen Dank, Herr Kollege. Genau darum geht es. können, damit sie die Chance haben, zu überleben. (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Haben Sie eine Nachfrage? – Gestatten Sie das, Herr Unsere Maßnahmen umfassen drei Teile. Zum einen Kollege? gibt es das Grünlandprogramm. Ich finde es schon et- was seltsam, dass der grüne Abgeordnete sein umwelt- politisches Gewissen total aufgegeben und verloren hat. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Ja. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie nicht richtig zuge- Georg Schirmbeck (CDU/CSU): (B) hört! Lesen Sie noch mal nach, was ich gesagt (D) Herr Kollege Priesmeier, wenn wir fair miteinander habe!) umgehen wollen, dann müssen wir das Gesamtkonstrukt sehen, das wir für den ländlichen Raum vorgesehen ha- Sie alle wissen, dass Grünland gebraucht wird. Die Nut- ben. Meine Frage: Die Zahlen für die neuen Bundesländer zung von Grünland ist nur durch Milchviehhaltung, belegen, dass sie einen Milchanteil von 22,57 Prozent ha- durch Tierhaltung möglich. Deswegen ist es richtig, ben; ihre Zuschüsse belaufen sich auf 21,18 Prozent. Ich wenn wir ein Umbruchverbot für Grünland haben, dass weiß nicht, ob Sie sich einen Schlüssel vorstellen kön- wir die Betriebe stärken, die es nutzen. nen, der diese Mittel bei den zugegebenermaßen unter- (Beifall bei der FDP) schiedlichen Strukturen, die wir in Deutschland haben, noch gerechter aufteilt; es ist ohnehin schwierig, das mit Zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Wir einem einheitlichen Maßstab auf den Weg zu bringen. wissen, dass gerade tierhaltende Betriebe mehr Unfälle haben und dass sie gestützt werden, wenn wir die land- wirtschaftliche Unfallversicherung stärken. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Zugegebenermaßen ist es so, dass die Milchviehbe- Wir haben auch eine „Kuhschwanzprämie“ vorge- triebe in der Relation weniger Agrardiesel beziehen als sehen. die Ackerbaubetriebe. Allein daraus ergibt sich, dass (Heiterkeit) Ihre eben vorgetragene Annahme nicht ganz richtig sein kann. – Vielen Dank für die Heiterkeit im Plenum, aber für die Betriebe ist das eine ernste Angelegenheit. – Es ist in der (Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck [CDU/ gesamten Diskussion ein Wermutstropfen für uns Libe- CSU]: Aber die Zahlen sind richtig!) rale, dass sie auf 178 Kühe begrenzt wird. Wir kritisieren Ich kann nur an Sie appellieren: Streichen Sie die an dieser Kuhprämie, dass sie strukturkonservativ ist, 300 Millionen Euro für das Grünlandprogramm aus dem dass sie keine lenkende Aufgabe hat und letztendlich der Haushalt und kommen Sie Ihrer gesamtstaatlichen Ver- Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ antwortung nach! Diese 300 Millionen Euro sind schul- entgegenwirkt. Auf ihrer Grundlage wurden Programme denfinanziert. In der jetzigen desaströsen Haushaltslage entwickelt, die gewährleisten, dass gute Betriebe ge- ist es nicht angemessen, diese Form von Geschenken zu stärkt werden und schwache Betriebe eine Möglichkeit machen. zum Ausstieg bekommen, damit wir einen sozialverträg- lichen Strukturwandel haben. Das kritisieren wir. Hier Vielen Dank. sehen wir Verbesserungsbedarf im Bereich der Kuhprä- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1755

Dr. Christel Happach-Kasan (A) mie. Wir hoffen auf Unterstützung, insbesondere aus der – Dass die SPD einen bescheidenen Beitrag dazu geleis- (C) Opposition. tet hat, will ich nicht in Abrede stellen. Danke schön. Es wäre allerdings ein Fehler, sich jetzt auf den positi- ven Entwicklungen auszuruhen. Die Krise reißt spürbare (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Friedrich Lücken in die Finanzierung der sozialen Sicherungssys- Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: teme. Ihre Folgen für die Wirtschaft, besonders für den Das ist Sterbegeld! Nicht mehr!) Arbeitsmarkt, sind noch längst nicht überwunden. Mit dem Ziel, Beschäftigung möglichst zu sichern, hat die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bundesregierung durch ihre Sofortmaßnahmen zwar Herr Kollege Priesmeier. viele Härten abfedern können, es gibt aber immer noch Schieflagen, die wir beseitigen, und Entwicklungen, de- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): nen wir gegensteuern müssen. Verehrte Kollegin Happach-Kasan, vielen Punkten Ih- Viele Menschen, die für ihr Alter mit einer Lebensver- rer Analyse kann ich ohne Weiteres zustimmen. Das sicherung oder dem Bau eines Eigenheims vorgesorgt würde ich ohne Weiteres unterschreiben. Ich weiß, wie haben, sehen sich mit einer Situation konfrontiert, in der sich die Situation der FDP in den Koalitionsverhandlun- ihr sichergeglaubter Arbeitsplatz bedroht ist. Ihre Selbst- gen dargestellt hat. Es war sicherlich nicht einfach, diese vorsorge soll bei länger dauernder Arbeitslosigkeit nicht Kröte zu schlucken. Es war sicherlich nicht einfach, auf umsonst gewesen sein. Deshalb gliedern wir sie in den die Begehrlichkeiten der Bayern in dieser Weise einge- Schutzschirm für Arbeitnehmer ein, den wir mit dem So- hen zu müssen. Das entspricht an sich nicht der agrarpo- zialversicherungs-Stabilisierungsgesetz, über dessen Ent- litischen Tradition der FDP. wurf wir hier und heute debattieren, aufspannen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir bei dem Szenario, Wir erhöhen den Freibetrag beim Schonvermögen im das Sie aufgezeigt haben, wenn es um die Linie und die SGB II, der verbindlich der Altersvorsorge dient, deut- Strukturpolitik geht, durchaus kompromissfähig sein lich, von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr; einige können. Zu dem vorgelegten Programm, wie es sich jetzt der Vorredner haben bereits darauf hingewiesen. Bedin- darstellt, gibt es aber nur ein ganz klares Nein. Ich kann gung dafür ist, dass das Altersvorsorgevermögen erst Sie unterstützen: Hoffentlich setzen Sie sich mit Ihrer mit Eintritt in den Ruhestand verfügbar ist. Erwerbslose Position innerhalb der Koalition durch. Das wäre zum wären so seltener gezwungen, ihre Ersparnisse für das Vorteil für die deutsche Landwirtschaft. Da würde Ihnen Alter anzugreifen. Für einen 50-Jährigen läge der Frei- einiges an Ärger und Folgekosten erspart bleiben. betrag dann immerhin bei 37 500 Euro. Ansprüche aus (B) Vielen Dank. Rürup- und Riester-Renten werden nicht mit diesem (D) Freibetrag verrechnet. Sie bleiben generell verschont. (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mehr FDP, dann wird alles gut!) Sehr geehrter Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen, als die Sätze für das Schonvermögen 2004 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: festgeschrieben wurden, reichte es aus, dass jeder, der Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU- Arbeitslosengeld II beantragte, für sich und seinen Part- Fraktion. ner je 150 Euro pro Lebensjahr behalten durfte. Das SGB II ist aber ein lernendes System. Wir haben regis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) trieren müssen – dafür haben wir sogar Applaus von der Linkspartei bekommen –, dass die Vorsorge fürs Alter Paul Lehrieder (CDU/CSU): etwas stärker geschützt werden muss, um jungen Leuten, Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! die im Berufsleben stehen, die Motivation zu geben, Werte Kollegen! Bisher hat Deutschland die Wirtschafts- selbst Werte fürs Alter zu schaffen, sei es das Eigen- und Finanzkrise im Vergleich mit anderen von der Krise heim, sei es eine entsprechende Altersvorsorge. betroffenen Staaten verhältnismäßig gut überstanden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das entschlossene Handeln der Bundesregierung im letzten Jahr hat den Finanzmarkt stabilisiert und die Tal- Die Rahmenbedingungen sind heute jedoch schwieri- fahrt der Wirtschaft gestoppt. Offensichtlich greifen die ger als noch vor sechs Jahren. Viele Mittelständler, Maßnahmen zur Konjunkturbelebung. Kleinunternehmer und Selbstständige, sind widrigen wirtschaftlichen Umständen ausgesetzt und mitunter von Positiv hat sich in Deutschland vor allem die Auswei- längerer Arbeitslosigkeit bedroht. Diesen Menschen tung der Regelung für das Kurzarbeitergeld ausge- wollen wir helfen, damit sie nicht ihr Erspartes schon wirkt. Wir haben erst gestern Abend hier darüber disku- einsetzen müssen, bevor sie Arbeitslosengeld II bekom- tiert. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte so stark men. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, dass sie begrenzt werden wie in keinem anderen Industrieland nicht im Alter auf Sozialleistungen angewiesen sind, nur weltweit. Der zu Beginn der Wirtschaftskrise vorausge- weil der Freibetrag für die Altersvorsorge zu gering war. sagte Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 4 Millionen Im Übrigen – auch darauf muss einmal hingewiesen ist erfreulicherweise nicht eingetreten. werden – entlasten wir langfristig die öffentliche Hand, (Bettina Hagedorn [SPD]: Durch die kluge Ar- wenn wir das Schonvermögen erhöhen und durch den beitsmarktpolitik von !) Behalt des Eigenheims zukünftige Leistungen für Wohn- 1756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Paul Lehrieder (A) kosten im Zusammenhang mit der Alterssicherung nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) dem SGB XII bereits jetzt vermeiden. Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Aber nicht mit uns!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ein wichtiges Ziel unserer Arbeitsmarkt- und Sozial- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: politik war immer, die private Altersvorsorge zu för- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des dern, um einer möglichen Altersarmut von breiten Be- Kollegen Birkwald? völkerungsschichten rechtzeitig vorzubeugen. Auch aus diesem Grund wird innerhalb unserer Partei schon lange Paul Lehrieder (CDU/CSU): gefordert, das Schonvermögen zu erhöhen. So haben wir Ja, natürlich. Ich bitte darum. in der christlich-liberalen Koalition Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (Christian Lange [Backnang] [SPD]: „Christ- demokratisch“ heißt es!) Herr Kollege Lehrieder, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Wunsch der Linken ist, dass alle Er- – ich habe es bewusst gesagt, Herr Kollege, damit Sie werbslosen in der Krise 24 Monate Arbeitslosengeld er- Ihren Zuruf machen können – beschlossen, als eine der halten? Dafür braucht man Geld, und es ist sinnvoller, hö- ersten Maßnahmen den Freibetrag beim Schonvermögen here Beiträge zu zahlen, damit man dann, wenn man auf im SGB II deutlich anzuheben. Ich freue mich ganz be- das Pflaster geworfen wird, einen gewissen Schutz hat sonders, dass dieser Beschluss in den Koalitionsvertrag und erst später in das unsoziale Hartz-IV-System gelangt. zwischen Union und FDP Eingang gefunden hat. Ge- meinsam mit unserem Koalitionspartner haben wir uns Paul Lehrieder (CDU/CSU): darauf geeinigt, die Freibeträge für das Altersvorsorge- Herr Kollege Birkwald, sind Sie bereit, zur Kenntnis vermögen von 250 auf 750 Euro je vollendetem Lebens- zu nehmen, dass wir genau diesen Schutzschirm haben jahr zu verdreifachen. Kollege Vogel von der FDP hat in und dass wir in diesem Gesetzentwurf vorsehen, die Bei- seiner Rede darauf hingewiesen. träge zur Bundesagentur stabil zu halten und den Aus- gleich des Defizits aus steuerfinanzierten Mitteln zu Unsere Botschaft lautet: Wer für das Alter vorsorgt, übernehmen? Es ist ja auch ein Wunsch, den Sie als Um- hat auch für den Fall der Arbeitslosigkeit richtig gehan- verteilungspartei hier regelmäßig vortragen, dass wir delt. über steuerfinanzierte Leistungen die Arbeitnehmer, all diejenigen, die im Berufsleben stehen, ein Stück weit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- entlasten sollen. Da sind wir mit Sicherheit sozialer als neten der FDP) (B) die Linkspartei. (D) Ich weiß, auch vonseiten der Opposition gab und gibt es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Forderungen und Anträge in diese Richtung. Wir aber neten der FDP – Widerspruch bei der LIN- wollten einen vernünftigen und ordentlich ausgearbeite- KEN) ten Gesetzentwurf. Dieser liegt Ihnen jetzt vor. Damit haben wir unser Versprechen eingelöst. Dieser Fehlbestand soll nun nicht als zurückzuzahlen- des Darlehen, sondern als einmaliger Bundeszuschuss Noch einen weiteren Aspekt, der für die Arbeits- zur Verfügung gestellt werden. Wie wir auch im Koali- marktpolitik von Bedeutung ist, wird das Sozialversiche- tionsvertrag festgeschrieben haben, muss die Auszah- rungs-Stabilisierungsgesetz regeln. Durch die krisenbe- lung dieses Zuschusses selbstverständlich an strenge dingten Einnahmeausfälle und steigenden Ausgaben Kriterien gebunden werden. verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit für das ver- Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und gangene Jahr ein Defizit von 10,9 Milliarden Euro. Die Kollegen, mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf set- Rücklage der BA ist zum Jahresende 2009 auf rund zen wir einen weiteren Markstein auf dem Weg zur 1,9 Milliarden Euro gesunken. Für das Haushaltsjahr Überwindung der Krise und ihrer Folgen. Aus dem 2010 erwartet die BA bei einem unveränderten Beitrags- Wachstumsbeschleunigungsgesetz und dem Sozialversi- satz in Höhe von 2,8 Prozent ein Defizit in Höhe von cherungs-Stabilisierungsgesetz ergeben sich steuerliche rund 17,9 Milliarden Euro. Dies entspricht einem Fehl- Erleichterungen. Allein mit dem Wachstumsbeschleu- bestand von rund 16 Milliarden Euro am Jahresende. nigungsgesetz entlasten wir die Bürger und Unterneh- Wenn Herr Kollege Birkwald von der Linkspartei hier men um insgesamt rund 8,5 Milliarden Euro. Wir wollen ausführt, es sei ein Fehler gewesen, die Arbeitslosenver- die Sozialbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sicherungsbeiträge von damals 6,5 Prozent auf heute stabil halten – hier unterscheiden wir uns von den Lin- 2,8 Prozent zu reduzieren, so sei Ihnen, aber auch den Zu- ken – und die Lohnnebenkosten nicht zusätzlich belas- schauern auf den Tribünen und am Fernseher gesagt: ten. Es gilt, im Rahmen des haushaltspolitisch Verant- wortbaren zusätzliche Impulse zu geben. Nur so werden Wenn wir die Beitragssätze bei 6,5 Prozent belassen hät- wir das Vertrauen von Investoren und Konsumenten in ten, wäre die Konsequenz gewesen, dass jeder Arbeitneh- die Kontinuität der künftigen Steuer-, Finanz- und Haus- mer und natürlich jeder Arbeitgeber – das Ganze ist ja pa- haltspolitik stärken und damit langfristig die Weichen ritätisch finanziert – Monat für Monat 3,7 Prozentpunkte für mehr Wachstum und Beschäftigung stellen. mehr an Sozialabgaben hätte zahlen müssen. Wenn Sie den Wunsch erfüllen wollen, müssen Sie den Forderun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen der Linkspartei folgen. neten der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1757

Paul Lehrieder (A) Nur so wird es uns gelingen, dabei zu helfen, dass die c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel (C) Unternehmen die Krise meistern, Beschäftigungsver- Troost, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, hältnisse erhalten und mehr Arbeitsplätze schaffen. Wir weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE können es uns nicht leisten, in der konjunkturellen Tal- LINKE sohle zu verharren und sehenden Auges zuzulassen, dass die Unternehmen und damit die Arbeitsplätze immer Finanztransaktionsteuer international voran- stärker unter Druck geraten. treiben und national einführen Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen von der – Drucksache 17/518 – Opposition, dass Sie das eigentlich genauso sehen. Des- Überweisungsvorschlag:

halb möchte ich Sie einladen, uns auf unserem Weg zu Finanzausschuss (f) Haushaltsausschuss unterstützen und diesen Gesetzentwurf mitzutragen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Danke schön. die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. neten der FDP) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß für die SPD-Fraktion. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Joachim Poß (SPD): Drucksachen 17/507 und 17/495 an die in der Tagesord- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fi- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie nanzmarktkrise, in der wir seit gut zwei Jahren stecken, damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die ist für uns insgesamt eine große Zäsur, und zwar eine ge- Überweisungen so beschlossen. sellschaftliche Zäsur und nicht nur eine vordergründig politisch-ökonomische. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta- gesordnungspunkte 19 a bis 19 c auf: Wir mussten erfahren, dass unsere Abhängigkeit von Banken und Finanzindustrie größer und tiefer ist, als wir a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicolette bis dahin vielleicht gedacht hatten. Die Verantwortungs- Kressl, Joachim Poß, Ingrid Arndt-Brauer, weite- losigkeit und Gier, die Risikobereitschaft und manchmal rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sogar die Dummheit von Bankern, Finanzmanagern und auch von Verwaltungsräten öffentlicher Landesbanken (B) Maßnahmenbündel gegen Spekulationen auf (D) den Finanzmärkten und ungerechtfertigte sprengen das bisher Vorstellbare. Banker-Boni Hier setzt unsere gemeinsame Aufgabe ein, meine – Drucksache 17/526 – Damen und Herren, die Aufgabe der Politik: Wir müssen Überweisungsvorschlag: diese Leute aus der Parallelwelt holen, in der sie sich Finanzausschuss (f) – jede Äußerung dieser Tage macht das deutlich – noch Rechtsausschuss immer befinden. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Leo Verbraucherschutz Dautzenberg [CDU/CSU]: Einige Leute! – Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Keine Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Pauschalverurteilungen, Herr Poß!) Haushaltsausschuss – Ich rede von denen, die offenkundig auch im Namen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten anderer sprechen. Ich halte überhaupt nichts von Dr. Carsten Sieling, Nicolette Kressl, Joachim Ackermann-Bashing; aber Herr Ackermann ist nun ein- Poß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der mal ein Sprecher der ganzen Branche, SPD (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Also Die Lasten der Krise gerecht verteilen, Speku- doch!) lationen eindämmen – Internationale Finanz- und jede Äußerung von ihm belegt, dass wir die Branche transaktionsteuer einführen aus ihrer Parallelwelt holen müssen. – Drucksache 17/527 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Überweisungsvorschlag: der LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Finanzausschuss (f) Teile der Branche!) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nehmen wir als Beispiel nur die Diskussion über die Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Boni. Welche Rechtfertigung gibt es denn für ein solches Verbraucherschutz Bonisystem? Arbeiten die Arbeitnehmerinnen und Ar- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und beitnehmer, für die es kein solches System gibt, nicht Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union auch motiviert? Solche Fragen muss man stellen. Einige Haushaltsausschuss haben sich eingerichtet in diesem System und haben po- 1758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Joachim Poß (A) litische Unterstützer gefunden. Da müssen wir umkeh- Die FDP sagt wie üblich Nein, weil sie am engsten mit (C) ren. dem Finanzmarkt verflochten ist. Das Ganze offenbart ein erschreckendes Defizit im Hinblick auf ein ernsthaf- (Frank Schäffler [FDP]: Wer hat denn in den tes Politikverständnis. letzten Jahren regiert?) (Frank Schäffler [FDP]: Wer im Glashaus Nur dadurch, dass die Notenbanken und die Staaten sitzt!) bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und Mittel ge- gangen sind, konnte ein flächendeckender Kollaps der Was wurden hier, auch während der Zeit der Großen Finanzmärkte verhindert werden. Uns allen, meine Da- Koalition, für Reden gehalten, von Frau Merkel, philo- men und Herren, muss klar sein: Noch eine solche Krise, sophisch von Ihrem Herrn Röttgers – – wie wir sie in den letzten zwei Jahren erlebt haben, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Röttgen!) könnte auch Deutschland nicht mehr bewältigen. Daraus lässt sich nur eine Konsequenz ziehen: Die Strukturen – Röttgen. Röttgers ist die Mischung aus Rüttgers und in der Finanzindustrie, die Bankenwelt und die Finanz- Röttgen; denn die beiden tun sich da nicht viel: Große märkte insgesamt sind so zu verändern, dass sich eine Reden, nichts dahinter! solche Krise möglichst nicht mehr wiederholt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Rede von Herrn Röttgen war philosophisch ange- Wenn man die Berichte aus Davos verfolgt, bekommt legt, blieb aber ohne Konsequenzen. Wenn es um Kon- man mit, dass – polemisch gesprochen – beim Champa- kretes geht: Ende der Durchsage. Sie sind in diesem gner schon wieder gesagt wird: Das darf aber nicht zu Politikfeld blank, so wie in der Gesundheitspolitik und weit gehen. Nach der Obama-Rede haben Herr in anderen Politikfeldern. Sie haben für die Zukunft un- Ackermann und andere aus der Branche in die gleiche seres Landes konzeptionell nichts zu bieten. Das ist die Richtung argumentiert – Originalton –: Die Regierungen Realität; darüber wird hinweggetäuscht. werden jetzt doch nicht die falschen Schlussfolgerungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ziehen, weltweit und europäisch! Eine solche Haltung können wir uns nicht mehr leis- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir werden ten: Es werden immer nur Fensterreden von Frau Merkel schon das Richtige tun, Herr Kollege!) oder von Herrn Schäuble gehalten. Jetzt wird eine Finanzmarktkonferenz abgehalten, aber nicht erst im Angesichts dessen muss man sich fragen: In welcher Mai, sondern schon im April, Welt leben diese Menschen? Sie sollten Davos schnell (B) verlassen und sich einmal die soziale Realität, zum Bei- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie (D) spiel in der Bundesrepublik Deutschland, anschauen. haben gar keine abgehalten!) (Beifall bei der SPD – Frank Schäffler [FDP]: So, rechtzeitig vor einer wichtigen Landtagswahl, um zu sa- Sie sind in der Opposition angekommen!) gen: Irgendwann werden wir uns um die Probleme küm- mern. Was ist das für eine Regierung, die in dieser Situa- Das ist eine der zentralen Gestaltungsaufgaben dieses tion nicht die Ärmel aufkrempelt! Hauses: Wir müssen uns nicht den Kopf zerbrechen, ob und wie wir für diesen oder jenen noch mehr Steuern (Beifall bei der SPD) senken können; das aber machen Sie in dieser Koalition Man kann fast den Eindruck haben, dass in dieser hauptsächlich. Sie müssen endlich zu Potte kommen und Koalition nicht die schwäbische Hausfrau Merkel, son- eine Strategie entwickeln, wie wir mit nationalen, euro- dern die schwäbische Drossel Homburger das Sagen hat. päischen und internationalen Maßnahmen die Aufgabe, die ich beschrieben habe, endlich in den Griff bekom- (Heiterkeit bei der SPD) men. Da fragt man sich doch, welche speziellen Interessen (Frank Schäffler [FDP]: Was haben Sie denn sich hier durchsetzen. Wir werden einmal recherchieren, letztes Jahr gemacht?) welche Spenden da vielleicht unterwegs sind oder wa- ren. Da ist bei Ihnen Pause, Ende der Durchsage. Warum (Frank Schäffler [FDP]: Sprechen Sie einmal denn? Es ist doch ein Skandal, dass sich diese schwarz- zum Thema!) gelbe Koalition in einer der zentralen Fragen unserer Zeit nicht verständigen kann, Wir haben es doch nicht vergessen: Kurz vor der Wahl kamen einige ganz dicke Spenden aus der Finanzindus- (Beifall bei der SPD) trie bei den jetzigen Koalitionspartnern an. Da wird doch bei der Finanzmarkttransaktionsteuer unterschiedlicher wohl kein Zusammenhang zu dem konkreten Nichthan- Meinung ist. deln bestehen? Frau Merkel äußert Verständnis. Aus der CSU kom- Sie sind von der letzten Obama-Rede aufgeschreckt men sozialdemokratische Töne. worden. Erst muss der amerikanische Präsident kommen und etwas zur Begrenzung von Bankenmacht und hoch- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das besorgt riskanten Finanzgeschäften ausführen; dann kommt die Sie!) deutsche Regierung und sagt: Wir halten eine Konferenz Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1759

Joachim Poß (A) zu diesem Thema ab. Das ist in der Tat ein Armutszeug- im Hinblick auf das, was wir bereits in der Großen (C) nis. Es muss wirklich anders gehen. Wir brauchen drin- Koalition auf den Weg gebracht haben; denn das war gend so etwas wie einen deutschen Aktionsplan, ein stimmig. Die Argumente und Vorwürfe, die Sie heute konkretes Konzept, wie Deutschlands Beitrag zur nach- hier dargestellt haben, entbehren jeder Grundlage. In der haltigen und dauerhaften Stabilisierung der Finanz- neuen Koalition, in der christlich-liberalen Koalition, märkte und des Bankensektors aussehen soll. führen wir jetzt die Dinge zielgenau fort, mit denen wir bereits im Finanzmarktstabilisierungsgesetz und durch Viel Zeit wurde vertan. Wir haben diese Diskussion weitere Maßnahmen begonnen haben. schon in der Großen Koalition geführt, auch über eine Sonderabgabe des Bankenbereichs. Da haben Sie blo- (Joachim Poß [SPD]: Das Einzige, was Sie aus- ckiert. Ich habe mit Ihnen in einer Gruppe zur Begren- sprechen können, ist „christlich-liberal“!) zung von Managergehältern verhandelt. Ein Dreiviertel- Ich darf vielleicht daran erinnern, was wir beispiels- jahr lang mussten wir Ihnen Stück für Stück notwendige weise hinsichtlich der Vergütungsstrukturen schon auf gesetzliche Veränderungen regelrecht aus der Nase zie- den Weg gebracht haben, was wir gemeinsam beschlos- hen, je nachdem, wie hoch der Druck in der Finanz- sen haben. Wir waren eben nicht bereit – das ist nach wie marktkrise gerade war. Bei der Frage der Begrenzung vor richtig –, bei den Vergütungsstrukturen unter steuer- der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Gehältern und Ab- lichen Gesichtspunkten zwischen guten und schlechten findungen – dazu zählen Boni – haben Sie sich von Bezügen bzw. Einkünften und Ausgaben zu differenzie- vornherein verweigert. ren. Das ist der falsche Ansatz. Was ist denn das für eine Haltung! Auch da müssen Man setzt zu spät an, wenn man damit anfängt – das Sie sich bewegen. wurde auch in England teilweise vollzogen –, Boni zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) versteuern. Diese Boni dürfen den Bereich der Banken im Grunde gar nicht verlassen, sondern sie sollten dafür Sie müssen doch auf nationaler Ebene machen, was auf genutzt werden, die Eigenkapitaldecke der Banken zu nationaler Ebene möglich ist. Diese Chance nutzen Sie stärken. Das wäre der bessere Beitrag als der, hier zu ei- nicht. Sie machen unverbindliche Gedanken- und Mei- nem späteren Zeitpunkt eine Besteuerung herbeizufüh- nungsaustausche und gehen die Probleme nicht an. Wir ren, die über andere Vergütungssysteme teilweise wieder haben auch auf nationaler Ebene Regelungsbedarf. Sie so ausgeglichen wird, dass Sie das, was Sie damit eigent- sind nicht glaubwürdig. lich beeinflussen wollen, gar nicht erfassen. Auch Frau Merkel, die ein internationales Renommee (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wie erreichen Sie hat – wer wollte das denn bestreiten! –, kann mit ihrem das? Vorschläge!) (B) europäischen oder internationalen Renommee überhaupt (D) nichts anfangen, weil sie gar nicht weiß, wofür sie sich Deshalb geht es darum, systematisch die Dinge fort- bei den Gipfeltreffen in Europa oder den G-20-Treffen in zusetzen, mit denen wir bereits begonnen haben. Die der Welt nachhaltig einsetzen soll; denn sie hat kein ein- Verabschiedung des Finanzmarktstabilisierungsgeset- deutiges Mandat dieser Koalition. Dieser Zustand muss zes, dem bis auf die Linke alle Fraktionen in diesem sich ändern. Hause zugestimmt haben, war national der richtige Weg, um eine Stabilisierung zu erreichen. Das muss fortge- Um Ihnen da auf die Sprünge zu helfen, haben wir setzt werden. zwei Anträge formuliert, die heute im Einzelnen noch gut begründet werden. Wir werden dann ja sehen, wie Wenn wir uns anschauen, was auf europäischer Ebene Sie sich dazu verhalten. und international momentan diskutiert wird und was wir national in der Pipeline haben, dann sehen wir, dass dies Die Zeit des Stillstands auf einem zentralen Politik- von folgenden Zielen gekennzeichnet ist: feld in Deutschland muss vorbei sein. Ihre Zeit ist in die- sem Punkt jedenfalls abgelaufen. Bewegen Sie sich Wir stimmen Ihnen zu, dass sich die Krise, die sich bitte! jetzt mit all ihren Folgen ereignet hat, so nicht wiederho- len darf. Sie können nie ausschließen, dass es immer (Beifall bei der SPD – Dr. Gerhard Schick wieder Krisen geben wird, aber aufgrund der Erkennt- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten ja nisse, die man aus der aktuellen Krise gewonnen hat, vier Jahre lang Stillstand!) muss man jetzt die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit sich eine solche Krise mit den entsprechenden Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Folgen nicht wieder ereignet. Das Wort hat nun Leo Dautzenberg für die CDU/ Mit allen Anträgen, die hier von den Oppositionsfrak- CSU-Fraktion. tionen gestellt worden sind, greifen Sie im Grunde zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kurz, da Sie nur über Abgabesysteme und Belastungen reden. Es wird nicht gesagt, wie wir systematisch und zielgenau die Erkenntnisse aus der Krise ziehen, die er- Leo Dautzenberg (CDU/CSU): forderlich sind, um die entsprechenden Maßnahmen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe durchführen zu können. Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Poß, durch Ih- ren Beitrag haben Sie im Grunde wieder bekundet, dass Als weiteres Ziel gilt es deshalb in der Tat, bestimmte Sie sich hier unter Wert darstellen. Das gilt insbesondere Banken – die, die gerettet wurden; über die Rettung er- 1760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Leo Dautzenberg (A) folgte eine Stabilisierung und wurde ein Nutzen erzielt – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) an den Kosten zu beteiligen. Man muss nur fragen, mit statt über die Schaffung von Besteuerungsgrundlagen zu welchen Instrumenten dies geschehen soll. Dies muss diskutieren. Dabei sind wir auf einem guten Weg, der auch differenziert geschehen. zwischen den beteiligten Häusern abgestimmt wird. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wie lange fragen Wichtig ist für uns auch die Effizienzsteigerung der Sie denn? Wann antworten Sie?) Aufsicht. Dazu haben wir vorgeschlagen, dass die BaFin – Wie lange wir brauchen? Wir sind jetzt seit einem insgesamt mit ihren Strukturen bei der Bundesbank an- bzw. zwei Monaten dabei. Durch Schnellschüsse, wie docken kann. Sie sie fordern, wird uns hier nicht weitergeholfen, son- (Joachim Poß [SPD]: Darüber kann man sehr dern das muss durch eine nationale, europäische und in- streiten!) ternationale Vereinbarung im System verankert werden. – Richtig. – Der vom Bundesbankvorstand unterbreitete (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Vorschlag, nicht nur die Bankenaufsicht, sondern auch Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: die Solvenzaufsicht über die Versicherungen zu überneh- Steinbrück hat die Kavallerie in Marsch ge- men, war im Grunde zu kurz gesprungen, setzt! Mehr hat er nicht getan!) (Joachim Poß [SPD]: Damit wird sich doch Deshalb war es richtig, dass Herr Obama zumindest nicht der Kollege Thiele beschäftigen? Woher Vorschläge unterbreitet hat. Das ist die Grundlage dafür, kommen diese Vorschläge? – Weiterer Zuruf dass man annehmen kann, dass sich etwas bewegt. Bis- von der SPD: Und die Unabhängigkeit?) her war es das größte Problem bei der internationalen Abstimmung, dass man das Stichwort „Regulierung“ Zudem wurde in der Frage der Eingriffsverwaltung be- den Vertretern des angelsächsischen Raums gegenüber tont, dass in schwierigeren Fällen weiterhin das BMF für im Grunde gar nicht ansprechen konnte. Herr Steinbrück die Rechts- und Fachaufsicht zuständig sein soll. Das ist nicht zu akzeptieren. (Frank Schäffler [FDP]: Wer war das noch mal? – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ (Joachim Poß [SPD]: Und wann kommen Ihre CSU]: Das war der Mann mit der Kavallerie!) konkreten Vorschläge? – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Wie ist der Rechtsweg? Wo und Frau Merkel haben doch das Thema Regulierung kann geklagt werden?) mit Recht immer betont. In Heiligendamm ist vereinbart Wir können die Unabhängigkeit der Bundesbank si- worden, dass wir auch im angelsächsischen Bereich eine cherstellen, Kollege Poß. Es lässt sich organisatorisch (B) stärkere Regulierung erreichen müssen. (D) gestalten, indem einzelne Teile voneinander getrennt Wenn der Obama-Vorschlag etwas Gutes enthält, werden und dadurch die Aufsicht ausgeklammert wird. dann ist es die Öffnung für Maßnahmen. Dabei müssen Darin sind wir nicht weit auseinander. Das lässt sich ma- wir uns aber fragen, ob die vorgeschlagenen Maßnah- chen. men in unserer europäischen und nationalen Banken- Ferner muss die Aufsicht mit mehr präventiven Kom- struktur, Finanzmarktstruktur und auch Finanzmarktkul- petenzen ausgestattet werden. Im HRE-Untersuchungs- tur adaptierbar und umsetzbar sind. Müssen wir nicht ausschuss wurde immer wieder vorgetragen, dass die besser von der nationalen Ebene ausgehend bis hin zur Aufsicht auf das Geschäftsmodell keinen Einfluss neh- europäischen Ebene Maßnahmen in die Diskussion ein- men kann. Wenn aber Geschäftsmodelle in den Ruin bringen, die unserer Finanzmarkt- und Bankenstruktur führen, dann muss die Aufsicht die Möglichkeit haben, entsprechen? präventiv auf die Tätigkeit der Bank Einfluss zu neh- (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE men. GRÜNEN]: Welche sind das?) (Beifall bei der SPD – Dr. Barbara Hendricks Obamas Vorschlag bedeutet nämlich eine Rückkehr [SPD]: Fragen Sie mal die FDP!) zum Trennbankensystem. Dadurch werden die Invest- Das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind. Der re- mentbanken und damit die Banken begünstigt, die uns gulatorische Ansatz ist besser geeignet. teilweise mit in die Krise geführt haben. Universalban- ken aber dürfen keinen Eigenhandel mehr machen. Es (Joachim Poß [SPD]: Wann kommen Ihre Vor- geht doch nicht um die Frage, ob Eigenhandel zugelas- schläge? Im März, April oder im Mai?) sen wird, sondern darum, in welchem Umfang er zuläs- – Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Damit werden sig ist. Das muss aufsichtsrechtlich mit Eigenkapital- wir schon klarkommen. Ich wünsche mir nur, dass Sie anforderungen geregelt werden. mit Ihren Vorschlägen konsistent zu dem stehen, was wir (Joachim Poß [SPD]: Überzeugen Sie doch sinnvollerweise gemeinsam gemacht haben. Dann wären mal die FPD!) wir schon einen wesentlichen Schritt weiter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Je risikoreicher und systemisch relevanter, desto höher Joachim Poß [SPD]: Ich stehe dazu!) sollte die Eigenkapitalunterlegung sein, Herr Poß. Das ist die richtige Antwort, um Krisen und Blasenbildung in Nun kommen wir zu Obamas weiterem Vorschlag des diesem Bereich zu verhindern, Trennbankensystems. Wir haben ein Universalbanken- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1761

Leo Dautzenberg (A) system. Das ist unsere Kultur bis hin zu den kleinsten Aber dann braucht man neben einem Insolvenzrecht für (C) Einheiten der Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Finanzinstitute eine Einrichtung wie den SoFFin, der Wollen Sie die alle mit der von Ihnen gewünschten Zahlungsströme sicherstellen kann. Im Insolvenzrecht Finanztransaktionsteuer erfassen? Sie waren doch an den für Finanzinstitute ist die Möglichkeit, Sicherungen, Ab- Ursachen der Finanzkrise gar nicht beteiligt. wicklungen und Neustrukturierungen vorzunehmen, das Wichtigste. Die entsprechenden rechtlichen Grundlagen (Frank Schäffler [FDP]: So ist es!) kann man nicht innerhalb eines Monats legen. Das be- Lassen Sie uns doch die systemischen Banken heran- darf längerer Beratungen. Die Arbeiten werden bereits in ziehen, die entsprechend gesichert worden sind. Damit den Häusern geleistet. sind wir wieder bei der Frage der Eigenkapitalunterle- Wir sind auf gutem Weg, die internationale Diskus- gung. sion nicht nur mit Absichten, sondern mit konkreten Maßnahmen und Zielsetzungen zu begleiten. Gleichzeitig müssen wir in Basel dafür kämpfen, dass eine bestimmte Qualität des Eigenkapitals, was das (Joachim Poß [SPD]: Aber wohin führt Sie der Kernkapital anbelangt, erhalten bleibt. Wenn nämlich Weg?) Mezzanine-Kapital, also stille Beteiligungen, demnächst Kollege Poß, wir haben aus der Krise gelernt und nicht mehr zum Kernkapital gehören, ist das ein Schlag werden die richtigen Maßnahmen sowohl auf nationaler gegen unsere Finanzierungskultur bei den Banken so- als auch auf europäischer und internationaler Ebene er- wohl auf nationaler als auf europäischer Ebene. Hier greifen. Herr Zöllmer, mit Schnellschüssen ist uns nicht müssen wir dem angelsächsischen Raum etwas entge- gedient. Wir werden uns an unseren Leitgedanken orien- gensetzen, der hier zum Nachteil des deutschen und des tieren. europäischen Bankensystems interessengeleitet ist. Wenn Sie bereit sind, dabei mitzumachen, sind wir wie- (Zuruf von der SPD: Sagen Sie doch mal was derum einen Schritt weiter. Konkretes!) (Joachim Poß [SPD]: Das hängt aber nicht von – Ich war doch schon konkret genug. Sie haben offenbar uns ab!) nicht zugehört oder haben eine selektive Wahrnehmung, weil Sie vielleicht das, was ich vorgeschlagen habe, Herr Kollege Poß, mit der Reform der Finanzaufsicht nicht erwartet haben. muss ein Insolvenzrecht für Finanzinstitute einherge- hen. (Joachim Poß [SPD]: Wenn Sie gern Näheres wissen wollen, kommen Sie zu uns, wir helfen (B) (Joachim Poß [SPD]: Sie sind jetzt so hilflos!) Ihnen!) (D) – Nein, hier können wir auf das aufbauen, was schon Mit den drei Anträgen, die sich alle nur auf eine Maß- während unserer Zeit in den Häusern erarbeitet wurde. nahme konzentrieren, können Sie die vor uns liegenden Herausforderungen jedenfalls nicht bewältigen. Wir sind (Zuruf von der SPD: Genau, machen Sie das mit unseren Vorstellungen auf einem besseren Weg. mal!) Vielen Dank. Es dürfen hier keine Verzögerungen entstehen, nur weil man sich in den Ministerien nicht einig ist, wer hier die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Führung übernehmen soll. ruf von der SPD: Ein einziger Hilferuf war das!) (Zuruf von der SPD: Die CDU oder die FDP?) Vizepräsidentin : Wir werden parallel dazu im Parlament darüber befin- den, welcher Ausschuss dafür zuständig ist. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost für die Fraktion Die Linke. (Joachim Poß [SPD]: Warum einigen Sie sich (Beifall bei der LINKEN) denn nicht? Was ist das für eine Regierung?) Da wir im Insolvenzrecht für Finanzinstitute, im Grunde Dr. Axel Troost (DIE LINKE): abgehoben vom gewerblichen Teil des Insolvenzrechts, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im Wesentlichen Besonderheiten für Finanzinstitute Zur Diskussion stehen zwei Anträge zur Finanztrans- brauchen, werden sich die Änderungen überwiegend auf aktionsteuer. das KWG konzentrieren. Die entsprechenden Arbeiten laufen bereits. Aber der Gesetzentwurf muss seriös erar- (Zuruf von der FDP: Das hatten wir doch beitet sein. Nach wie vor muss nämlich die Leitmaxime schon in der letzten Sitzungswoche!) in der sozialen Marktwirtschaft gelten, dass auch Finanz- Das ist in der Tat nicht alles, worum es geht. Aber es institute scheitern können. Sie dürfen nicht immer auf- handelt sich zumindest um eine ganz konkrete Maß- grund von „too big to fail“ oder der Systematik vom nahme. Wer die zwei Anträge der SPD und der Linken Steuerzahler gerettet werden müssen. zu dieser Steuer genau liest, wird eine sehr große Über- einstimmung feststellen, und das ist auch gut so. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) 1762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. Axel Troost (A) Wir Linken begrüßen insbesondere die Analyse, die Maximum ist ein Steuersatz von 0,1 Prozent in der Dis- (C) sich die SPD in ihrem Antrag zu eigen gemacht hat. Ich kussion. möchte kurz zitieren: Das bedeutete, dass Sparerinnen und Sparer, die ein Die Ursachen der Krise liegen in weltweit liberali- Depot mit Aktien oder festverzinslichen Wertpapieren sierter Regulierung und Aufsicht als Ergebnis einer von zum Beispiel 10 000 Euro anlegen, einmalig mit ei- marktradikalen Ideologie, bei der es nur um die nem Euro bzw. im Höchstfall mit zehn Euro belastet Maximierung von Profit, Kapitalrenditen und würden. Bei 100 000 Euro wären es zehn Euro oder höchstmögliche Boni ging und die die ursprünglich 100 Euro. Wenn man das mit den Bankgebühren für sol- dienende Funktion von Finanzmärkten und deren che Depots vergleicht, die in der Größenordnung von Funktionen für das Gemeinwohl oft vollständig 1 000 bis 2 000 Euro bei 100 000 Euro liegen – – ignorierte. (Frank Schäffler [FDP]: Die Rechnung müssen (Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie jetzt Sie mir mal zeigen!) eine Vorlesung?) – Das ist doch ganz einfach. Das sind 1 bis 2 Prozent des Sehr wohl, das ist das, was die Linke hier in den letzten Volumens, und das ist das, was an Bankgebühr verlangt Jahren immer gesagt hat. wird. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Frank Schäffler [FDP]: Und wenn jemand Wir sind froh, dass sich bei der SPD diese Erkenntnis regelmäßig spart?) jetzt auch durchgesetzt hat, – Nein, das ist einmalig; beim Erwerb wird dies fällig, (Beifall bei der LINKEN – Dr. Barbara Höll und unabhängig davon, ob ich jeden Monat 100 Euro [DIE LINKE]: Wenn auch erst in der Opposi- spare oder einmal 10 000 Euro, ergibt die Summe ma- tion!) thematisch immer das Gleiche, Herr Kollege. und wir hoffen, dass die Politik jetzt auch entsprechend Zweitens wird immer wieder gesagt, das gehe nur ausfallen wird, wenn auch erst in der Opposition. global. Das war sicherlich früher ein weit verbreitetes Gegenargument. Heute ist es aus unserer Sicht nur noch In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung eine ignorante Schutzbehauptung, denn es gibt inzwi- zu Folgendem auf. Erstens: Die Bundesregierung soll schen viele Untersuchungen, die die Einführung auf EU- sich in internationalen Organisationen wie UNO und In- Ebene für machbar und für funktional halten. ternationalem Währungsfonds, in einzelnen Staatengrup- (B) pen wie G 20 und OECD und in der Europäischen Union (Beifall bei der LINKEN) (D) nachdrücklich für die Einführung der Finanztrans- Hinzu kommt, dass sich weltweit Regierungen positiv aktionsteuer einsetzen. zur Finanztransaktionsteuer äußern, gerade auch von (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In der UNO? – Ländern mit großen Finanzzentren, zum Beispiel Groß- Zuruf von der FDP: NATO!) britannien. Ich appelliere daher an alle in diesem Haus, insbesondere an diejenigen, die immer wieder sagen, wir Zweitens: Über den Fortgang dieser Verhandlungen brauchten eine weltweite Finanztransaktionsteuer – ich soll die Bundesregierung das Parlament und die Öffent- wende mich also insbesondere an die Kollegen in der lichkeit regelmäßig informieren. CDU –, die gegenwärtige Gunst der Stunde zu nutzen, Drittens: Während diese Verhandlungen laufen, soll dass der Premierminister Großbritanniens, Gordon die Bundesregierung parallel einen Gesetzentwurf zur Brown, sich im Augenblick so weit hervorgewagt hat. Einführung einer Finanztransaktionsteuer in Deutsch- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da möchte ich land vorlegen. gern einmal den Prüfbericht sehen!) (Frank Schäffler [FDP]: Eine Arbeitsplatz- Wir halten es für sinnvoll, auch ins deutsche Parla- vernichtungsteuer!) ment einen entsprechenden Vorratsbeschluss einzubrin- Wenn die Verhandlungen sich dann in die Länge ziehen, gen, wie ihn das belgische und das französische Parla- sollen wir gemeinsam, Bundesregierung und Bundestag, ment gefasst haben. Nur zur Information: Das belgische unsere Glaubwürdigkeit dadurch unter Beweis stellen, Parlament hat am 1. Juli 2004 ein Gesetz beschlossen, in dass die Finanztransaktionsteuer mit einem niedrigeren dem sich Belgien mit einem Vorratsbeschluss selbst ver- Steuersatz im Alleingang bereits eingeführt wird. pflichtet, eine Tobinsteuer einzuführen, sobald die EU einen entsprechenden Beschluss fasst. (Beifall bei der LINKEN) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eine Tobin- Wir wissen, es kommen immer wieder zahlreiche Ge- steuer, das ist wieder etwas anderes!) genargumente; auf zwei davon will ich eingehen: Ers- tens wird vorgebracht, eine solche Steuer treffe Unschul- Die französische Nationalversammlung hat das Glei- dige und die kleinen Leute. Wenn man sich das in che bereits im Herbst 2001 gemacht. Beide Staaten – das unserem Antrag genau ansieht, so ist zu erkennen, dass war die damalige Diskussion – haben jetzt schon entwe- wir davon ausgehen, dass bei einem nationalen Allein- der eine Besteuerung auch von Börsenumsätzen wie in gang ein Steuersatz von 0,01 Prozent umgesetzt wird. Im Belgien oder aber wie in Frankreich einen Präsidenten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1763

Dr. Axel Troost (A) Sarkozy, der sich ganz eindeutig für die Einführung der (Frank Schäffler [FDP]: Das sind Ihre Partei- (C) Finanztransaktionsteuer einsetzt. mitglieder!) (Frank Schäffler [FDP]: Klar, so pleite wie der dass viele gewerkschaftliche und kirchliche Organisatio- ist! – Heiterkeit bei der FDP) nen, Hilfswerke, Nichtregierungsorganisationen und auch Attac die Bundesregierung in einem offenen Brief Die G 20 haben in Pittsburgh den Internationalen aufgefordert haben, entsprechende Aktivitäten zu entwi- Währungsfonds beauftragt, nach Möglichkeiten zu su- ckeln. chen, wie der Finanzsektor stärker zur Finanzierung der Krisenkosten herangezogen werden kann. Das ist aus (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) unserer Sicht eine etwas salomonische Umschreibung Wenn man sich mit Vertretern der Finanzbranche ein der Tatsache, dass geprüft werden soll, ob eine Einfüh- bisschen unterhält, dann weiß man auch, dass diese mit rung einer solchen Finanztransaktionsteuer möglich ist der Einführung einer solchen Steuer durchaus rechnen. und wie sie entsprechend umgesetzt werden könnte. Wir Ich habe vor zwei Tagen ein Gespräch mit einer Vertrete- glauben, dass die gegenwärtige Situation dafür reif ist, rin der Deutschen Börse geführt, die schon davon aus- eine solche Steuer wirklich national und international geht, dass diese Diskussion ganz konkret auf sie zu- einzuführen. kommt. (Beifall bei der LINKEN) Viele von uns waren gestern beim parlamentarischen Bitte denken Sie daran: Es geht nicht darum, der SPD, Abend des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, der Linken oder den Grünen einen Gefallen zu tun. Es wo Herr Haasis genau diese Frage angesprochen und geht um sinnvolle Regulierung. Es geht um dringend be- deutlich gemacht hat: Wenn man Maßnahmen ergreift, um nötigte Staatseinnahmen. Es geht um nachholende Ge- die Finanzwirtschaft an diesen Kosten zu beteiligen – – rechtigkeit, nämlich die Beteiligung der bisherigen Pro- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Genaues Zi- fiteure des Finanzmarktkapitalismus an den Kosten der tat: Das wäre der geringste von den negativen größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1930. Punkten!) (Beifall bei der LINKEN) – Herr Dautzenberg, Sie sagen immer wieder, Sie wollen Wenn Sie sich für eine solche Finanztransaktionsteuer im Prinzip die Finanzindustrie an den Kosten beteiligen. entscheiden, tun Sie uns allen einen Gefallen, denn un- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) sere traurigen Staatsfinanzen können Einnahmen gut ge- brauchen. Wir gehen davon aus, dass selbst bei einem Wenn die Einführung dieser Steuer die geringste der (B) minimalen Steuersatz von 0,01 Prozent – ich sage es schlimmen Maßnahmen ist, dann lassen Sie uns diese (D) noch einmal – insgesamt jährliche Mehreinnahmen in doch ergreifen. der Größenordnung von 15 bis 18 Milliarden Euro ent- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- stehen. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Was ist mit GRÜNEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: der Lenkungswirkung?) Aber differenzierter!) Dabei ist zum Teil ein Rückgang bis zu 80 Prozent, zum Die Alternative ist, dass Sie gar nichts machen. Das ist Beispiel im Bereich der Derivate, unterstellt. Das ist doch der Punkt. auch gut so, denn es geht eben nicht nur um die Einnah- Deswegen der dringende Appell an die Kolleginnen men, sondern auch um eine Entschleunigung. und Kollegen von der CDU: Befreien Sie sich endlich (Beifall bei der LINKEN) von dem Blockadegriff der FDP, die jede Art von Maß- nahme auf diesem Gebiet verhindern will. Es kann auf Es darf bei diesen Einnahmen aus unserer Sicht nicht Dauer nicht sein, dass der Schwanz, in diesem Fall die nur um die Bedürfnisse des Inlandes gehen. Wir schla- FDP, mit dem Hund – das ist der Rest des Parlaments – gen deswegen vor, die Mehreinnahmen zur Hälfte für wackelt und sagt: Wir wollen die Einführung einer sol- den sozial-ökologischen Umbau zu verwenden und die chen Steuer nicht. Angesichts der letzten Umfrage andere Hälfte für Umwelt- und Klimaschutz sowie für würde ich sagen: Der Schwanz ist inzwischen ein kleiner die Finanzierung von Entwicklung und Armutsbekämp- Stummelschwanz geworden. fung in Ländern des Südens. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Deshalb unser dringender Appell: Werden Sie Ihrer neten der SPD) Verantwortung in dieser besonderen Konstellation ge- recht und nutzen Sie die Chance, einen internationalen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Prozess nicht nur anzustoßen, sondern ihn auch mitzuge- Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Frank stalten. Denken Sie bitte auch daran, dass sich über Schäffler das Wort. 65 000 Bürgerinnen und Bürger in einer Petition für die Einsetzung der Finanztransaktionsteuer ausgesprochen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben, der CDU/CSU) 1764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Frank Schäffler (FDP): Die Geldmenge in Amerika ist im gleichen Zeitraum um (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und 200 Prozent gestiegen. Das Kreditvolumen, das die Ban- Herren! Wenn man die Debatte verfolgt, die jetzt zum ken ausgereicht haben, ist in Amerika um 250 Prozent wiederholten Male hier im Parlament stattfindet – in der gewachsen. Im Euroraum sind die Zahlen, wie ich schon nächsten Sitzungswoche wird sie übrigens noch einmal gesagt habe, nahezu identisch. geführt –, Die heutige Weltfinanzkrise ist eine Überschuldungs- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja, nächste krise der Banken. Das Kernproblem besteht darin, dass Sitzungswoche wieder!) im heutigen Geldsystem Kredite geschaffen werden, die nicht durch Ersparnisse gedeckt sind. Diese Politik des dann erkennt man: Sie beschäftigen sich viel mit den billigen Geldes hat die Voraussetzung dafür geschaffen, Wirkungen der Finanzkrise, aber mit den Ursachen be- dass die Finanzwirtschaft sich von der Realwirtschaft schäftigen Sie sich, ehrlich gesagt, viel zu wenig. Wir abkoppeln konnte. tun das. (Björn Sänger [FDP]: Sehr richtig!) (Zuruf von der SPD: Da sind wir mal ge- Nowendig ist deshalb eine marktwirtschaftliche Geld- spannt!) ordnung, die gutes und werthaltiges Geld ermöglicht Die Justizministerin hat angekündigt, ein neues Insol- und Kredite, die nicht durch Ersparnisse gedeckt sind, venzrecht, insbesondere für den Bankenbereich, vorzule- also schlechtes Geld, verhindert. gen, um letztendlich dem Ordnungsrahmen in Europa ( [SPD]: Und was machen und vor allem in unserer sozialen Marktwirtschaft wie- Sie gerade dafür? Erzählen Sie, was Sie ma- der Geltung zu verschaffen. Das heißt, derjenige, der Ri- chen!) siken eingeht, hat nicht nur die Früchte zu ernten, son- dern, wenn es schiefgeht, im Zweifel auch zu haften. In der modernen Ökonomik greift zunehmend die Er- Das ist die andere Seite der sozialen Marktwirtschaft. kenntnis Platz, dass billiges Geld, das nicht aus Erspar- Wir werden dafür eintreten, dass das in Deutschland nissen besteht, zu Fehlinvestitionen führt, die Investi- wieder zusammengehört. tionsblasen entstehen lassen und am Ende Finanzkrisen verursachen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD: Seit wann wissen Sie denn das alles?) Es gibt noch einen Bereich, mit dem wir uns beschäf- tigen werden. Die Bankenbranche muss für das, was sie Es ist auch nicht so, dass dies von niemandem erkannt (B) bei HRE und WestLB verursacht hat wurde. (D) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Haben Sie die (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Von Ihnen ganz gewiss nicht, von Ihrer Fraktion auch Commerzbank vergessen?) nicht!) – die Commerzbank nehme ich gern hinzu –, wofür bis- Schon vor der Weltwirtschaftskrise 1929 haben Ökono- her der Steuerzahler eintritt, im Rahmen eines Versiche- men wie Ludwig von Mises und Friedrich August von rungssystems geradestehen und dafür entsprechende Hayek dieses Phänomen beschrieben. Gebühren und Beiträge entrichten, sodass am Ende die- jenigen, die von den Rettungsaktionen profitiert haben, (Björn Sänger [FDP]: Kluge Leute!) auch dafür bezahlen. Darüber müssen wir uns in den So war es auch in dieser Krise. Ökonomen haben vor der nächsten Wochen und Monaten unterhalten. Da ist ein Politik des billigen Geldes gewarnt. So schwer es ist, wir Schnellschuss nicht möglich. Vielmehr müssen wir uns müssen diese Politik des billigen Geldes beenden. darüber Gedanken machen, inwieweit wir den SoFFin dahin gehend weiterentwickeln können. (Beifall bei der FDP) Entscheidend ist, dass Sie viel über die Symptome Ihr Vorschlag ist ein Ablenkungsmanöver und letzt- und zu wenig über die Ursachen der Krise sprechen. endlich der falsche Weg, weil es damit nicht an die Ursa- Die Ursache der Krise ist eine Kredit- und Geldschöp- chen geht. fung aus dem Nichts. Um es einfacher zu sagen: Die Ur- (Thomas Oppermann [SPD]: Sie wollen doch sache der Krise ist das verstärkte Gelddrucken der No- nur Ihre Lobby davor schützen!) tenbanken und hier vorneweg der amerikanischen Fed. Wenn die von Ihnen gewünschte Steuer so richtig ist, (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist wie Sie es beschrieben haben, wirklich eine Frechheit! – Weitere Zurufe von der SPD) (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ich denke, die Bundesregierung will das!) – Ich will das auch mit Zahlen belegen. Zwischen 1998 und 2009 stieg das reale Bruttoinlandsprodukt in Ame- dann frage ich Sie: Wieso haben Sie die Finanztransak- rika – in Europa war es ähnlich – um rund 20 Prozent. tionsteuer in den letzten elf Jahren im Deutschen Bun- destag nicht durchgesetzt? Wenn es mit der Union nicht (Joachim Poß [SPD]: Die Ursache ist ein Welt- gegangen ist, hätten Sie es immerhin mit den Grünen schattenfinanzmarkt, den Sie immer wollten!) umsetzen können. Sie haben es nicht gemacht. Sie haben Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1765

Frank Schäffler (A) kurz vor der Bundestagswahl die Kurve gekriegt und Dr. Barbara Hendricks (SPD): (C) sind jetzt in der Opposition angekommen. Herr Kollege Schäffler, Sie haben die Finanztransak- tionsteuer eben als Ablenkungsmanöver bezeichnet. Sie (Björn Sänger [FDP]: Zu Recht!) haben jetzt gerade mit Ihren Worten wiederum deutlich Herzlichen Glückwunsch! gemacht, dass Sie die Finanztransaktionsteuer ablehnen. Ich bemühe mich seit Dezember, die Position der Bun- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der LIN- desregierung zu diesem Vorhaben herauszufinden. Ich KEN: Das ist doch kein Argument gegen die habe mehrere schriftliche Anfragen zu diesem Thema Steuer!) gestellt. Ich habe hier in einer Debatte im Dezember dazu gesprochen. Vor kurzem habe ich wiederum Fragen Völlig absurd ist jedoch, dass Sie sich im Zweifel für an die Bundesregierung gerichtet – Bundesminister einen nationalen Alleingang aussprechen und als beson- Niebel war im Gespräch mit einem Vertreter der Welt- deres Beispiel England, also Großbritannien, anführen. bank nämlich auf einmal für eine solche Steuer, obwohl Wer sich mit der in Großbritannien eingeführten Stem- er vorher immer dagegen war –: Wie steht die Bundesre- pelsteuer beschäftigt hat, weiß, dass damit zig Ausnah- gierung zur Einführung der Finanztransaktionsteuer? men verbunden sind – nicht ohne Grund –: Haben es sich einzelne Mitglieder der Bundesregierung (Thomas Oppermann [SPD]: Aber Sie wollen zur Übung gemacht, immer die Meinung desjenigen zu das ja nicht mal mit Ausnahmen! – Dr. Frank- teilen, mit dem sie zuletzt gesprochen haben? Diesen Walter Steinmeier [SPD]: Sie wollen das ja Eindruck hatte ich jedenfalls bei Herrn Niebel. Eine Ant- nicht einmal nach der Finanzmarktkrise! Sie wort auf meine Fragen habe ich vom Kollegen Koschyk wollen gar nichts! Sie wollen die Lobby schüt- bekommen. Er hat mich auf seine Rede verwiesen, die er zen!) hier am 17. Dezember 2009 gehalten hat; Ausländische Wertpapiere werden nicht berücksichtigt; (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das war eine gute britische Staatsanleihen werden nicht berücksichtigt; Rede!) neue Wertpapiere werden nicht berücksichtigt; Derivate darin sei die Position der Bundesregierung dargestellt. werden nicht berücksichtigt. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig! Prüf- (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auftrag IWF!) NEN]: Was ist denn jetzt Ihr Vorschlag?) Jetzt frage ich Sie, Kollege Schäffler – Sie sind Schweden hat 1984 die Börsenumsatzsteuer einge- schließlich Mitglied dieser Koalition –: Wollen Sie der (B) führt. Eine Woche nach Einführung dieser Steuer ging Bundesregierung gerade hier ganz bewusst in den Rü- (D) der Handel mit Rentenpapieren um 85 Prozent zurück. cken fallen? (Thomas Oppermann [SPD]: Sie sind ein (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wieso das denn?) Finanzmaklerlobbyist!) Das Handelsvolumen von Futures und Optionen sank Frank Schäffler (FDP): um 98 Prozent. Das Handelsvolumen der wichtigsten Frau Kollegin Hendricks, Sie waren lange genug Mit- schwedischen Wertpapiere ging in der gleichen Zeit um glied der Bundesregierung 50 Prozent zurück und hat sich nach England verlagert. (Björn Sänger [FDP]: Zu lange!) (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wenn und wissen, dass es durchaus einen Unterschied zwi- Sie jetzt dazulernen, müssen Sie uns das nicht schen Bundesregierung und Parlament gibt. Ich bin Par- erzählen!) lamentsvertreter. Die Regierung sitzt dort auf der Bank. Dennoch wollen Sie eine solche Steuer bei uns einfüh- (Zurufe von der SPD und der LINKEN) ren. Wenn Sie die Arbeitsplätze von 75 000 Menschen, die in Frankfurt im Bankbereich arbeiten, vernichten Entscheidend ist in einer Koalition, was im Koali- wollen, dann müssen Sie diese Steuer einseitig einfüh- tionsvertrag steht. Für die christlich-liberale Koalition ren, so wie es in zweien Ihrer Anträge gefordert wird. gilt – so steht es im Koalitionsvertrag –: (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ich bin übri- (Beifall bei der FDP – Thomas Oppermann gens Christin! Das will ich nur sagen!) [SPD]: Sie sagen doch, es ist zu viel Geld im Umlauf! Was passiert, wenn Sie das Geld he- Was wir den Wählerinnen und Wählern vor der Bundes- rausnehmen?) tagswahl versprochen haben, gilt auch danach; Steuer- erhöhungen zur Krisenbewältigung kommen für uns Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nicht infrage. Herr Kollege, gestatten Sie am Ende Ihrer Redezeit (Beifall bei Abgeordneten der FDP) eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks? Deshalb bin ich ganz entspannt, was dieses Thema be- trifft. Wir wollen keine Steuererhöhungen. Wir sind viel- Frank Schäffler (FDP): mehr angetreten, um in Deutschland Steuern zu senken. Bitte schön. Wir wollen die Kleinsparer und die Kleinverdiener in 1766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Frank Schäffler (A) Deutschland nicht mit zusätzlichen Steuern belasten. Sie Bürgerinnen und Bürger gegen diese Branche und sehen (C) wollen mit einer Transaktionsteuer – die etwas verkürzte zu, dass sich wirklich etwas ändert. mathematische Betrachtung von Herrn Troost lasse ich einmal außen vor – Kleinsparer abzocken. Das wollen (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) wir nicht, und deshalb werden wir ein solches Ansinnen Was passiert aber in der Bundesregierung? Hektisch ablehnen. aufgeschreckt davon, dass jetzt in den USA etwas pas- Vielen Dank. siert, (Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Quatsch! Ge- LINKE]: Prozentrechnung ist relativ kompli- nau umgekehrt, Herr Kollege!) ziert! Das gebe ich ja zu!) kündigt der Bundesfinanzminister an, wir werden eine Konferenz veranstalten Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Im Mai! – Wei- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick tere Zurufe von der SPD und vom für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und daraufhin weitere Maßnahmen verkünden. Man ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nun ganz stolz darauf, dass es die Ankündigung gibt, Was wir heute seitens der Koalition erlebt haben, war dass ein Gesetzentwurf zum Thema „Insolvenzrecht für nichts als Herumgeeiere. Banken“ erarbeitet werden soll. Meines Wissens hatten wir im Sommer schon zwei entsprechende Entwürfe vor- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das liegen. Jetzt wird ein neuer angekündigt – ein großes Er- nehmen sie sofort zurück, Herr Schick!) eignis! Was ist die Position der Bundesregierung zur Finanzum- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN satzsteuer? Wir wissen es nach wie vor nicht. sowie bei Abgeordneten der SPD – Leo (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie haben Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, eben nicht! nicht zugehört!) Wir hatten noch keinen Entwurf der Bundesre- gierung vorliegen! – Frank Schäffler [FDP]: Wie sinnvolle internationale Verhandlungen möglich Warum die SPD klatscht, weiß ich nicht!) sein sollen, wenn die Bundesregierung keine Ahnung hat, was ihre Position ist, das müssen Sie uns erst einmal Man kann nun sagen: Wenigstens im nationalen Bereich (B) erläutern. wird Großartiges getan. – Ja, bevor noch irgendein kon- (D) kretes Ergebnis des ersten Kreditklemmegipfels vom (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, November letzten Jahres vorliegt, wird schon der zweite bei der SPD und der LINKEN – Thomas Kreditklemmegipfel für März angekündigt. Auch das ist Oppermann [SPD]: Die haben keinen Kom- irgendwie leer. Was tun Sie denn wirklich konkret? pass!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht hier um konkrete Maßnahmen. Der geschätzte sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von Kollege Schäffler hat über die Währungsordnung philo- der SPD: Überhaupt nichts!) sophiert. Wenn die FDP politisch relevant ist, dann müssten die Börsen jetzt verrücktspielen, weil Sie ge- Zur Bonusbesteuerung sagen Sie: Es sei nicht Ihr An- rade den Euro zur Disposition gestellt und ein wettbe- satz, so vorzugehen, wie wir es vorschlagen. Aber wie werbliches Währungssystem vorgeschlagen haben. Ich sieht denn Ihr Ansatz aus? Wir würden ihn gerne sehen. glaube allerdings, dass die Börsen davon unbeeindruckt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind, weil die FDP in dieser Frage zum Glück irrelevant sowie bei Abgeordneten der SPD – Leo ist. Dautzenberg [CDU/CSU]: Den Referentenent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wurf zur Nachhaltigkeit von Systemen müssen bei der SPD und der LINKEN) Sie doch kennen!) Aber es ist ja noch schlimmer. Sie sind völlig getrieben Es macht mir richtig Sorgen, Herr Dautzenberg, dass von den internationalen Entwicklungen. Was sind die ei- sich diese Regierung auf dem zentralen Politikfeld der genen Beiträge? Praktisch nichts. Erst musste der ameri- Finanzmarktpolitik treiben lässt und bisher nichts vorge- kanische Präsident Barack Obama auf die massiven Wi- legt hat. derstände der Bankenlobby reagieren und verkünden: Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN packe den Stier bei den Hörnern und will etwas tun. Ge- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- nau das passiert doch in den USA. Angesichts der Mil- KEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir lionenspenden der Banken, die dazu dienen, sinnvolle Fi- wollen nur keinen Aktionismus! Das ist der nanzregeln zu verhindern, Punkt!) (Joachim Poß [SPD]: Milliarden!) – Ja, Herr Dautzenberg, Sie wollen keinen Aktionismus. sagt die dortige Regierung: Wir werden uns nicht nieder- Außerdem haben Sie gesagt, die Opposition lege nur ringen lassen, sondern wir vertreten die Interessen der Vorschläge zu einzelnen Punkten vor. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1767

Dr. Gerhard Schick (A) (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Man sieht ja, Konkret zur Finanzumsatzsteuer, zu der ja zwei An- (C) dass die sich uneinig sind! Die bekommen träge vorliegen: Unsere Fraktion hat dazu ja schon in der nichts von der Karre!) letzten Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt. Entschuldigung, das Wesen eines parlamentarischen An- (Frank Schäffler [FDP]: Hat die SPD da ei- trages ist häufig, dass man eine Idee aus einem Gesamt- gentlich zugestimmt?) konzept, das man verfolgt, in den Vordergrund stellt. – Dass die damals nicht zustimmen konnte, hatte sicher- (Frank Schäffler [FDP]: Aber nicht jede Wo- lich etwas mit der CDU/CSU zu tun. Das will ich gar che!) nicht anprangern. Schauen wir doch einmal in den Koalitionsvertrag, in (Frank Schäffler [FDP]: Das stimmt!) dem Sie in einer umfassenden Sicht ganz systematisch zusammengeschrieben haben, was Sie vorhaben. Aber man kann Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, nicht durchgehen lassen, dass es dazu noch nicht (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das einmal ein Gutachten aus dem Hause Steinbrück gab. sage ich Ihnen gleich! – Leo Dautzenberg Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, warum es das [CDU/CSU]: Lesen Sie einmal vor!) nicht gab und man nicht einmal die entsprechende Idee vorangetrieben hat. Daran hätte Sie kein Koalitionspart- Da werden erst schöne Prinzipien genannt, und dann ner hindern können. kommt der entscheidende Satz: (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Darauf bekommen Dazu werden wir insbesondere folgende Maßnah- Sie gleich eine Antwort! – Frank Schäffler men ergreifen: … [FDP]: Sehr gut!) (Frank Schäffler [FDP]: Den wesentlichen – Die Kollegin Wieczorek-Zeul hat etwas gemacht, aber Satz habe ich vorgelesen!) nicht Herr Steinbrück. – Vielmehr hat Herr Steinbrück Dann schaut man, und dann schaut man, aber von Maß- als Erbe in dieser Frage nur eine leere Schublade hinter- nahmen ist nicht die Rede. lassen, und Sie müssen jetzt in der Opposition ziemlich bei Null anfangen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Lesen Sie ein- mal! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie können nicht lesen!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Da stehen dann Aussagen wie: (D) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: … die Kreditwirtschaft muss sich ihrer Verantwor- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen tung als Finanzierungsgeber der deutschen Wirt- Sieling? schaft bewusst sein. (Frank Schäffler [FDP]: Schön, die Opposition Eine sehr konkrete Maßnahme! bekämpft sich gegenseitig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Weiter steht da: Selbstverständlich. Wir wollen verhindern, dass Staaten in Zukunft von systemrelevanten Instituten zu Rettungsmaßnah- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: men gezwungen werden können. Herr Kollege, bitte. Aber wie wollen Sie es tun? Dr. Carsten Sieling (SPD): (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Haben Sie doch gehört! Habe ich doch ausgeführt!) Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Dass wir nichts ge- macht hätten, ist eines der Zerrbilder, die in diesen De- Deswegen würde ich sagen: Gehen Sie noch einmal batten gerne gebracht werden. Kollege Troost nimmt den auf „Start“! Legen Sie uns einmal vor, welches Bild Sie Steuervorschlag für die Linke in Anspruch. Darum will aus der Ursachenanalyse gewonnen haben und welche ich an dieser Stelle einmal sagen, dass auch das Argu- Richtung in Bezug auf die Finanzmärkte eingeschlagen ment des fehlenden Gutachtens nicht stimmt. Die SPD werden soll. Eines sage ich Ihnen für meine Partei ganz hat schon 1999 auf einem Bundesparteitag die Einfüh- deutlich: Nur ein paar Regeln für den Finanzmarkt von rung einer Finanztransaktionsteuer auf den internatio- gestern zu schrauben, damit es dann wieder wie vorher nalen Finanzmärkten gefordert und beschlossen. Eine weitergehen kann, das darf es nicht geben, und das wird solche Steuer ist schon damals geprüft worden. es mit uns nicht geben. (Frank Schäffler [FDP]: Elf Jahre haben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN regiert! Super! – Björn Sänger [FDP]: Und sowie bei Abgeordneten der SPD) nichts umgesetzt wie versprochen!) 1768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. Carsten Sieling (A) Die Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hat 2005 in umsatzsteuer geht. Sie sagen, diese treffe den Klein- (C) ihrem Ministerium ein Gutachten dazu erstellen lassen, anleger. um das zu prüfen. (Frank Schäffler [FDP]: Wohl wahr!) (Frank Schäffler [FDP]: Und was kommt raus? – Mit dieser Aussage schenken Sie den Leuten keinen rei- Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Frage!) nen Wein ein, sondern machen ihnen etwas vor. Bundeskanzler Schröder hat 2005 dafür geworben, zum Schauen Sie sich doch einmal die Statistiken an. Wie Beispiel in Davos. Die Problematik war, dass dafür sieht es bei der Altersvorsorge aus? Die Produkte, die keine Mehrheiten zu finden waren, bei den deutschen Lebensversicherern – im Wesentli- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Mit wem wa- chen die Kategorie, in denen ein Großteil der Altersvor- ren Sie denn damals zusammen?) sorge läuft; dazu gehören auch die Riester-Produkte – gewählt werden, bestehen zu unter 30 Prozent aus übrigens auch, als wir gemeinsam in einer Koalition wa- Pfandbriefen, zu etwa 18 Prozent aus Rentenfonds, aus ren. Deshalb frage ich Sie: Worauf beziehen Sie das? Ich ein paar Hypotheken, zu 10 Prozent aus Aktien und zu bitte Sie, diese Falschdarstellung zu beenden. 26 Prozent aus Darlehen. Das sind fast alles Produkte mit einer sehr geringen Umschlaghäufigkeit. Auch Ak- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tien können gerade in diesem Bereich sehr langfristig an- NEN): gelegt werden, sodass hier nur eine minimale Kostenbe- Herr Kollege Sieling, ich habe sehr bewusst for- lastung entsteht. muliert, wie Sie feststellen konnten, wenn Sie zugehört haben. Ja, die Entwicklungshilfeministerin Heidemarie (Frank Schäffler [FDP]: Wenn ich monatlich Wieczorek-Zeul hat damals ein Gutachten bei Herrn spare?) Spahn in Frankfurt in Auftrag gegeben, das den alten Die wirklichen Umsätze im Finanzmarkt liegen in ande- Gedanken der Tobinsteuer in einer bestimmten Weise ren Bereichen. Die Spot-Market-Umsätze im Bereich weiterentwickelt hat. Ihr heutiger Antrag hat allerdings Aktien und Bonds machen genau 2 Prozent der Ge- mit dem damaligen Gutachten relativ wenig zu tun. samtumsätze aus. Deswegen wird die Hauptbelastung (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Na und? – dort entstehen, wo Futures, Optionen und andere Deri- Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Es gibt auch vate zwischen institutionellen Anlegern hin und her ge- Fortentwicklungen in der Welt!) handelt werden. Das wird den Kleinanleger nur in einer so minimalen Größenordnung belasten, dass es den posi- Vielmehr ist es ein anderes Konzept. tiven Aspekt auf jeden Fall nicht überkompensieren kann. Sagen Sie da endlich einmal die Wahrheit, nämlich (D) (B) (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Weiterentwickelt!) dass Sie genau diese Elemente des Finanzmarktes nicht – Richtig. Aber genau diese Weiterentwicklung wurde zur Kasse bitten wollen, obwohl von ihnen große Insta- im Hause Steinbrück nicht vorangetrieben. Das ist das, bilitäten ausgehen! Das Argument, dass der Kleinanleger was ich kritisiert habe. Im Hause Steinbrück wurde – das zahlt, ist falsch. ist das schwere Erbe, das Sie zu tragen haben – noch bis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, weit in die Finanzkrise hinein das alte Paradigma der bei der SPD und der LINKEN) Deregulierung und der Finanzmarktförderung im Inte- resse der Finanzindustrie und nicht der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes vertreten. Das hat übrigens Herr Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Steinbrück mit einem Hauch von Selbstkritik im Unter- Herr Kollege, der Herr Kollege Schäffler würde gerne suchungsausschuss zur Hypo Real Estate auch einge- eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie diese? – Ja. – räumt. Bitte. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Er Frank Schäffler (FDP): meinte Sie aber nicht!) Herr Kollege Schick, die Rechnung, die Sie aufge- Es ist ja richtig, in der Opposition jetzt einen Neustart stellt haben, kann ich nicht nachvollziehen. zu machen. Aber Sie hätten wesentlich mehr tun können; dann hätten wir jetzt eine andere Grundlage. In Öster- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dieses Gefühl reich hat die Große Koalition ein entsprechendes Gut- hatten wir schon oft!) achten in Auftrag gegeben, auf das wir uns jetzt bezie- Lebensversicherungssparer, Fondssparer oder auch hen können und das der Debatte weiterhilft. Aus dem Riester-Sparer sparen nicht nur einmal und lassen dann Hause Steinbrück gab es so etwas nicht. das Geld liegen, sondern sie sparen jeden Monat bei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, spielsweise 50 oder 100 Euro. bei der FDP und der LINKEN – Ulrich Kelber (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Jeden Monat [SPD]: Frau Scheel hat das immer abgelehnt, 0,01 Prozent!) Ihre Sprecherin!) Dieses Geld wird immer wieder neu angelegt. Wenn Sie Ich will noch einmal zu dem zentralen Argument von diesem Geld jedes Mal 0,05 Prozent wegnehmen, kommen, das viele FDP-Vertreter und auch Teile der dann ergibt sich über den Zinseszinseffekt langfristig Union immer wieder vorbringen, wenn es um die Finanz- eine erheblich geringere Wertsteigerung. Das bayerische Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1769

Frank Schäffler (A) Finanzministerium hat zusammen mit dem damaligen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Generalsekretär der CDU ausgerechnet, und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das werden auch Wollen Sie Finanzprodukte in die Umsatz- welche sein, die nicht rechnen können!) steuer nehmen? Interessant! Umsatzsteuer für dass ein Riester-Sparer, der langfristig über 20 Jahre Finanzprodukte!) anspart, am Ende 5 000 Euro weniger in der Tasche hat. – Herr Dautzenberg, wenn Sie eine Frage haben, dann Nehmen Sie das zur Kenntnis? richten Sie sie direkt an mich. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Bei was für ei- nem Konzept? Wo? Dieses Gutachten möchte (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nein, ich bitte sehen!) so wichtig ist es nicht! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ich wollte nicht die Redezeit verlängern!) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich glaube, dass wir uns damit einmal intensiver aus- Ich will auf den Punkt zurückkommen, den Herr einandersetzen müssen, Dautzenberg zu Recht angesprochen hat. Wir brauchen ein Leitbild, wie die Finanzmärkte von morgen wirklich (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Diese Rech- aussehen sollen, und wir müssen die verschiedenen nung wollen wir einmal sehen!) Maßnahmen genau darauf abstimmen. da Sie die wesentlichen Grundzüge, wie am Finanzmarkt (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ma- angelegt wird, noch nicht zur Kenntnis genommen ha- chen wir doch!) ben. Ich höre aber von diesem Leitbild nichts. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Selbstver- Wenn ich im Rahmen eines Fondssparplans jeden Mo- ständlich! Haben Sie nicht zugehört?) nat etwas einzahle, dann heißt das nicht, dass jedes Mal Auch von der Regierung höre ich nur Diskussionen über alles umgeschlagen wird. Das entscheidende Problem, Instrumente. Wollen Sie wirklich einen Finanzmarkt, in über das sich auch viele Anleger kritisch mit ihren Fonds dem es weniger komplex zugeht? Wenn Sie das wollen, auseinandersetzen, ist, dass in manchen Fonds zulasten dann müssten Sie gerade einer Finanzumsatzsteuer zu- der Anleger eine viel zu hohe Turn-over-Ratio herrscht, stimmen. das heißt, dass viel zu häufig umgeschlagen wird. (B) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das kommt (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf die Regulierung an!) und bei der SPD) Wollen Sie einen Finanzmarkt, der weniger kurzfristig Gerade das wollen wir dadurch korrigieren, dass wir den orientiert ist und auf dem nachhaltiges, langfristiges Anlegerschutz verbessern. Damit bleibt folgender Ef- Handeln belohnt wird? Wenn Sie das wollen, dann müs- fekt: Über 90 Prozent der Einnahmen aus einer Finanz- sen Sie endlich etwas hinsichtlich der Boni tun. Dann transaktionsteuer werden aus den Bereichen der derivati- müssten Sie hier zustimmen. Wollen Sie wirklich, dass ven Geschäfte kommen, in Zukunft die Banken kleiner sind, damit das Haftungs- (Frank Schäffler [FDP]: Das hilft dem kleinen kriterium wieder funktionieren kann und damit der Steu- Anleger nicht!) erzahler nicht gezwungen ist, große Banken retten zu müssen? Wenn dem so ist, dann müssten Sie als CDU die für die langfristige Anlage eine vernachlässigbare sagen, dass wir das Instrument der Entflechtung brau- Rolle spielen. chen, um gegebenenfalls große Banken entflechten zu (Zuruf von der FDP: Also spielen sie doch können. Wenn Sie wirklich wollten, dass der Finanz- eine Rolle!) markt in Zukunft wieder Dienstleistungen für die reale Wirtschaft erbringt, dann müssten Sie schauen, dass er in Machen wir folgende Rechnung auf – auch Sie wissen, seiner Größe und Bedeutung ein wenig zurückgeht und dass man als Finanzwissenschaftler sauber rechnen wirklich wieder Investitionen in die Realwirtschaft im muss –: Vordergrund stehen und nicht das Hin- und Herschieben (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich weiß wie beispielsweise bei Carry Trades. Dann müssten Sie nicht, ob er das weiß!) der Finanzumsatzsteuer zustimmen. Sie verweigern sich dieser Leitbilddiskussion, indem Sie alle möglichen Dis- Wenn Sie die Einnahmen nicht über eine Finanzum- kussionen führen und über die verschiedensten Instru- satzsteuer erzielen, sondern über die allgemeine Um- mente bis hin zur Währungsordnung debattieren. satzsteuer – irgendwoher muss das Geld kommen, wenn wir Aufgaben finanzieren –, dann würden Sie den Nor- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie legen sich malbürger wesentlich mehr belasten. Unser Instrument auf nur ein Instrument fest! Das ist abwegig!) der Finanzumsatzsteuer ist wesentlich gerechter als das, Sagen Sie, was Ihr Leitbild ist. was Sie durch Kürzungen und Gebührenerhöhungen auslösen. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Die Fi- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie haben nanzumsatzsteuer wird die Gerechtigkeitsteuer sein. nicht zugehört!) 1770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. Gerhard Schick (A) Sie werden erkennen: Wenn Sie am Finanzmarkt wirk- Finanzaufsicht und damit ihre Durchschlagskraft we- (C) lich etwas ändern wollen, dann werden Sie genau die sentlich gestärkt. Ich denke an das Gesetz zur Angemes- Vorschläge, die wir vortragen, in Zukunft auch zu den senheit der Vorstandsvergütung, das auch im August in Ihren machen müssen, sonst geht alles so weiter wie bis- Kraft getreten ist. Hier haben wir die Vergütungsstruktur her – aber mit uns nicht. auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung ausge- richtet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Weil wir es der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das vorgeschlagen haben! Anderthalb Jahre haben ist eine Verkürzung auf ein einzelnes Instru- wir darüber verhandelt!) ment!) und beschlossen, dass variable Vergütungsbestandteile eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben sollen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach ( [Heidelberg] [SPD]: Ja, alles für die CDU/CSU-Fraktion. SPD-Vorschläge!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das haben Sie mit uns zusammen gemacht. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Es hat mehr als Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): ein Jahr Arbeit gekostet, bis wir Sie dafür hat- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist ten!) richtig: Der Finanzmarkt ist im Rahmen der Globalisie- rung außer Kontrolle geraten. Die globale Wirtschafts- Sie verstecken sich heute dahinter; das ist doch die Si- und Finanzkrise stellt Deutschland wie die internationale tuation. Staatengemeinschaft vor eine gewaltige Herausforde- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – rung. Die schwerste und gefährlichste Finanzkrise hat Joachim Poß [SPD]: Das war alles SPD! Sa- die Welt der Banken nachhaltig verändert. Sie hat Ver- gen Sie das doch!) trauen, Kapital und Arbeitsplätze in hoher Zahl zerstört und insbesondere das Ansehen der Marktwirtschaft in Denken Sie an das Bilanzmodernisierungsgesetz, das hohem Maße beschädigt. ein antizyklisches Sicherheitspolster vorsieht. Zweifellos zerstört es unsere Gesellschaftsordnung, (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Alles wenn Gewinne im Finanzsektor privatisiert, Verluste SPD! Sagen Sie es doch!) sozialisiert sowie Risiken und Haftung immer weiter (B) Im Rahmen des Bilanzmodernisierungsgesetzes haben (D) entkoppelt werden. Deshalb sollten wir uns darüber ei- wir als Gesetzgeber Lehren aus der Finanzkrise gezogen. nig sein, dass jetzt gezielte Maßnahmen mit fachlicher Das gilt für die Bewertung von Finanz- und Finanzie- Kompetenz und sachlicher Vernunft notwendig sind; rungsinstrumenten und für Konzernabschlüsse. Im An- denn die Exzesse, die wir auf den Finanzmärkten erlebt hang und im Lagebericht müssen jetzt genauere Anga- haben, dürfen sich nie mehr wiederholen. Der Schaden, ben zu entsprechenden Risiken gemacht werden. Das der zulasten des normalen Bürgers hervorgerufen wurde, war unser Weg. war zu groß. Natürlich muss dieser Weg weiterbeschritten werden. Was wir aber nicht brauchen – das sage ich hier deut- Natürlich ist die Krise noch nicht vorbei. Deshalb sind lich –, sind Einzelmaßnahmen, Placebos, nationale Al- die Vorlage eines Maßnahmenkatalogs und die Aufarbei- leingänge und unqualifizierte Schnellschüsse, wie dies tung der Krise in Form von weiteren Finanzmarktrefor- in den Anträgen der Opposition zum Ausdruck kommt. men nötig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist schon lange gelaufen! Das ist Wir hatten einen klaren Ansatz und haben konkrete kein Schnellschuss!) Maßnahmen ergriffen. Wir wollen keinen Aktionismus, sondern ein Gesamtkonzept. Herr Schick, Sie wollen Wir brauchen gezielte, nachhaltige und vor allem diffe- einfach nicht verstehen, dass Einzelmaßnahmen nicht renzierte Lösungen für die einzelnen Säulen im Finanz- ausreichend sind. markt. Sie können doch die Regionalbanken nicht in ei- nen Topf mit den Investmentbanken werfen. Hier (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – braucht es differenzierte Lösungen, die letzten Endes der Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sagt ja keiner! – Realwirtschaft helfen. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Aber anfan- gen mit einer Maßnahme!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich darf Ihnen sieben Punkte, die der CDU/CSU wichtig sind, verdeutlichen: Zunächst möchte ich in Erinnerung rufen, dass wir bereits einige wichtige Maßnahmen umgesetzt haben. Erstens die Umsetzung der geänderten Banken- und Ich denke dabei an das Gesetz zur Stärkung der Finanz- Kapitaladäquanzrichtlinie sowie weitere Reformen in markt- und Versicherungsaufsicht, das im August 2009 diesem Zusammenhang. Schwerpunkt wird hierbei die in Kraft getreten ist. Hier haben wir die Befugnisse der Verschärfung der Kapitalanforderungen für das Handels- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1771

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) buch und für Verbriefungen sein. Aber auch ein neues ter anderem eine Finanztransaktionsteuer. So etwas ist (C) Insolvenzrecht für Finanzinstitute gehört dazu, damit aber nach meiner Ansicht nur international denkbar. Die Banken geordnet in die Insolvenz gehen können, ohne Auswirkungen müssen intensiv geprüft werden. Es ist dass der gesamte Finanzmarkt wieder in Mitleidenschaft auch eine Tatsache, dass Deutschland der Motor in die- gezogen wird. ser Sache ist. Der IWF hat einen Prüfauftrag bekommen, der G 20 einen Bericht und eine Analyse der Auswirkun- (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ gen vorzulegen. CSU]) Zweitens. Die EU-Ratingverordnung mit Regulierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Beaufsichtigung der Ratingagenturen wird natio- Ich habe Ihnen die sieben Leitlinien genannt. Auf sie nal umgesetzt. können sich die Leute verlassen. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jetzt kann die Frau Kollegin Hendricks ihre Zwi- NEN]: Eine große innovative Leistung der schenfrage stellen. Bundesregierung, eine EU-Richtlinie umzuset- zen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Drittens. Die Finanzaufsichtsstruktur wird auf na- Frau Kollegin Hendricks, bitte sehr. tionaler und europäischer Ebene effektiver und weitrei- chender gestaltet. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Viertens. Die Regulierung und Beaufsichtigung der Herzlichen Dank, Herr Kollege Michelbach. – Ist Ih- Hedgefonds-Manager wird EU-weit ausgeweitet. nen klar, dass all die Punkte, die Sie genannt haben, sich Fünftens. Die Vergütungsstrukturen auf dem inter- entweder in der Planung bzw. in der Umsetzung befin- nationalen Finanzsektor sollen mithilfe der G-20-Staaten den oder schon längst umgesetzt sind? Alle Punkte beru- stärker auf längerfristigen Erfolg ausgerichtet werden. hen auf Vorschlägen des sozialdemokratisch geführten Es nutzt doch nichts, wenn wir auf nationaler Ebene et- Finanzministeriums was regeln und die Bankentochter im Ausland das Ge- (Joachim Poß [SPD]: Und der Fraktion! – genteil macht. Dr. [CDU/CSU]: Wo ist denn der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ehemalige Minister?) Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das sind alles und der Fraktion, insbesondere was die Managervergü- Vorschläge der SPD auf den Gipfel im Sep- tungen angeht. Unsere Fraktion hat ein Jahr lang mit Ih- (B) tember hin! Alles Vorarbeit von uns!) rer Fraktion verhandeln müssen, (D) Sechstens. Das grenzüberschreitende Krisenmanage- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Damit etwas ment im Bankensektor und die Konsultation zur Eigen- Vernünftiges dabei herauskommt!) kapitalreform im Baseler Ausschuss soll im Laufe des Jahres 2010 eine Festlegung erfahren. Die Verhandlun- um die Punkte durchsetzen zu können, die nach unserem gen sollen natürlich – darauf müssen wir Wert legen – Dafürhalten noch nicht ausreichend berücksichtigt wa- unter Parlamentsvorbehalt geführt werden. Bei Basel III ren. Es wurde dann im August verabschiedet. Das haben müssen wir uns ebenso einmischen wie bei Basel II. Sie richtig gesagt. Aber es hat uns ein Jahr gekostet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ist Ihnen bekannt, dass alle diese Vorschläge letztend- Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich auf den G-20-Gipfel im September des vergangenen NEN]: Aber vielleicht besser!) Jahres hin von Peer Steinbrück und seinen verantwortli- Das ist ein notwendiger Auftrag, damit keine Überforde- chen Mitarbeitern erarbeitet worden sind rung unserer Realwirtschaft stattfindet. Eigeninteressen, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Mit der insbesondere aus den USA, dürfen nicht zulasten unserer Kanzlerin!) Kreditwirtschaft gehen. Das ist ein wesentliches Krite- rium, auf das wir achten müssen. und die Kanzlerin sich dies zu eigen gemacht hat? Sind Sie sich mit mir einig, dass das Dilemma dieser Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung darin besteht, dass die FDP das alles noch nicht ak- zeptieren will und Sie als CDU/CSU das alleine nicht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: umsetzen können? Das ist doch das Dilemma, vor dem Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der wir stehen. Kollegin Hendricks? (Beifall bei der SPD) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Das wird auch auf internationaler Ebene offenbar, weil Ich möchte noch den siebten Punkt im Zusammen- diese Regierung nicht handelt. hang bringen, sonst behauptet Herr Schick wieder, es (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gebe kein Gesamtkonzept. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Leo Dautzenberg Siebtens die Beteiligung des Finanzsektors an den [CDU/CSU]: Sie müssen die Prüfaufträge ab- Kosten der Krisenbewältigung. Zur Diskussion steht un- warten!) 1772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) Frau Kollegin Hendricks, ich kann Ihnen nur sagen: der FDP) Das Schlimme an der ganzen Sache ist, dass Sie sich von Das passt mehr oder weniger zu dem Weg, den Herr den richtigen Ansätzen des Herrn Steinbrück verabschie- Steinbrück damals gegen die Schweiz gefahren ist: Er det haben und auf den Kurs der Linken einschwenken. wollte die Kavallerie dort hinschicken. Das ist genauso (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Unsinn gewesen, wie dies Unsinn ist. Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Aber nein! – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Damit der FDP) kommen Sie nicht durch, Herr Michelbach!) Auch die Begrenzung der Absetzbarkeit von Das ist die Situation. Lesen Sie Ihren Antrag. Gehältern ist Willkür. Was sind denn gute Einnahmen, (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Steinbrück und was sind schlechte Einnahmen des Staates? Wenn kommt nicht einmal zur Debatte, weil er sich wir im Steuerrecht so verfahren, entsteht im deutschen schämt!) Steuerrecht noch mehr Wald, als es ohnehin schon der Fall ist. In Ihrem Auftrag, Frau Kollegin Hendricks, heißt es zum Beispiel: Reiche lenken ihr Geld am Fiskus vorbei. Deswegen appelliere ich: Neben der Regulierung – sie ist wichtig; sie ist ein wesentlicher Teil der Problem- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ja! Dafür lösung – wollte Peer Steinbrück die Kavallerie losschi- cken! Ist das etwas Neues?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist doch eine unsägliche Pauschalverurteilung. Sie geht es auch um die Wirtschaftsethik, die wir hier an- können doch leistungsbereite Menschen nicht verurtei- mahnen müssen. Ohne Eigenverantwortung ist das frei- len, so wie die Linken das tun. heitliche System der sozialen Marktwirtschaft nicht vorstellbar. Wir müssen auch daran denken, dass es auch (Joachim Poß [SPD]: Herr Michelbach, Sie eine Verantwortung für unsere Eliten gibt. Auch diese sind nicht ausgenommen!) Eliten müssen sich den Regeln der sozialen Marktwirt- Das Problem ist doch, Frau Kollegin Hendricks, dass Sie schaft unterordnen. Das ist das, was wir im Bereich der letzten Endes mit uns die Herausforderung einer guten, Wirtschaftsethik anmahnen müssen. konsequenten und erfolgreichen Krisenbewältigung, vor (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der wir standen, gemeistert haben. Darauf können Sie der FDP) (B) – auch Sie als Staatssekretärin – mit Recht stolz sein. (D) Aber es geht doch nicht an, dass Sie sich in einem An- Zu dem Thema, das hier immer wieder besonders trag davon lückenlos verabschieden. reizt, zur Einführung einer neuen Steuer, zum Beispiel einer Finanztransaktionsteuer, muss ich Ihnen deutlich (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das tut doch sagen: keiner!) (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was sagen Sie Das ist das Problem, das Sie haben. Das ist die Wahr- denn zu Herrn Dobrindt? – Thomas Oppermann heit, meine Damen und Herren. [SPD]: Das ist Ihr Generalsekretär! – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das hat Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist ein Ihre Kanzlerin mit vertreten!) Prüfauftrag an den Währungsfonds! – Joachim Auch Herr Tobin hat letzten Endes nur grenzüberschrei- Poß [SPD]: So dumm ist er nicht!) tende Maßnahmen besteuern wollen. Wohlgemerkt, der Sie fordern eine 50-prozentige Besteuerung auf Boni Anhänger einer Besteuerung von Finanzdienstleistungen bei den Bankern. In Großbritannien, wo das eingeführt hat immer gesagt: Meine Steuer, mein System funktio- wurde, wird das natürlich von den Banken übernommen. niert nur grenzüberschreitend. Das heißt, für die handelnden Personen ergibt sich über- (Nicolette Kressl [SPD]: Was ist mit eurem haupt keine Veränderung. Solche Placebos bringen uns Generalsekretär?) doch nicht weiter. Wenn die 50-prozentige Besteuerung auf Boni – das ist Ihr Ziel – von den Banken übernom- Das heißt, das, was Sie auf nationaler Ebene fordern, men wird, dann ist das letzten Endes ein Nullsummen- kann gar nicht funktionieren. Deswegen stehe ich dieser spiel. Das schafft keine Veränderungen. nationalen Besteuerung sehr kritisch gegenüber. Finanz- marktakteure hätten es leicht, ihre Geschäfte in andere (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das! – Länder zu verlagern. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt ja nicht! Eine Nullsumme ist etwas anderes!) (Joachim Poß [SPD]: Aber da gibt es aus der CSU den Seehofer-Vorschlag! Wie stehen Sie Natürlich dürfen Sie nicht grundsätzlich gegen An- zu dem Seehofer-Vorschlag?) reizsysteme sein. Ihr Antrag erweckt aber den Eindruck, dass Sie grundsätzlich gegen Gewinne von Banken Nationale Alleingänge und neue Wettbewerbsverzerrun- sind. Das ist ein Anschlag auf die Ordnungspolitik der gen sind doch das Falscheste, was wir uns wünschen sozialen Marktwirtschaft. Das ist die Situation. können. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1773

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ Walter Steinmeier [SPD]: 10 Milliarden in den (C) CSU] – Joachim Poß [SPD]: Sprechen Sie Sand gesetzt!) jetzt für die CSU?) und deswegen haben wir natürlich auch hier eine einheit- Schlechte und gute Kapitalbewegungen müssten durch liche Meinung. Ich kann Ihnen sagen, dass unser Partei- bürokratische Regulierungen unterschieden werden. vorsitzender im Parteivorstand klargemacht hat, dass er sich diese Maßnahmen international vorstellen kann (Thomas Oppermann [SPD]: Das sieht Herr Seehofer aber ganz anders!) (Joachim Poß [SPD]: Die Steuer ist ja interna- tional! – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Deswegen dürfen wir immer wieder bemerken: Das Eine internationale Transaktionsteuer ist im- Ganze muss auf Wirksamkeit überprüft werden. Die mer international!) Auswirkungen auf die Realwirtschaft müssen über- prüft werden; denn zum Schluss dürfen nicht die Fal- und den Finanzplatz Deutschland durch einen nationalen schen die Zeche zahlen. In Europa haben sich einige we- Alleingang nicht schädigen oder gefährden möchte. nige Länder dazu bekannt. Die USA und Kanada (Thomas Oppermann [SPD]: Aber Sie haben dagegen haben derartige Pläne bisher abgelehnt. Es wird die Frage nicht beantwortet!) sehr spannend sein, zu beobachten, was geschieht, wenn der Bundesfinanzminister im April mit seinen Fachleu- Deswegen sage ich ganz klar: Internationale Maßnah- ten zusammenkommt und er auf dem G-20-Gipfel einen men sind hier angedacht und nicht nationale Allein- Lösungsvorschlag einbringt, gänge, wie Sie das in Ihrem Antrag leider fordern. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Wir haben eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Konferenz im Mai! Das passt ja!) der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Was machen Sie mit der BayernLB? – Joachim und zu sehen, welche Konsequenzen gezogen werden Poß [SPD]: Bei der CSU weiß die Linke nicht, können. Wichtig ist, dass wir die Attraktivität der Aktie was die Rechte tut!) und die steigende Volatilität an den Märkten ernst neh- men. Eines ist sicher: Die Einführung einer Finanztrans- aktionsteuer kann nur bei weltweiter Erhebung effektiv Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sein. Davon bin ich überzeugt. Gerade angesichts globa- Herr Kollege, der Kollege Poß würde gerne eine Zwi- ler Finanzmärkte würden die Marktteilnehmer ansons- schenfrage stellen. ten auf Finanzplätze ohne Finanztransaktionsteuer aus- weichen. Damit würde im Ergebnis eine Schwächung (B) unseres inländischen Finanzmarktes einhergehen. (D) Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Bitte sehr. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Frau Präsiden- tin, Sie können nichts dafür! – Joachim Poß [SPD]: Wir nehmen Sie ausdrücklich aus!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr. Abschließend möchte ich Ihnen anbieten, dass wir konkrete Ziele gemeinsam vorantreiben, um Exzesse in der Zukunft zu vermeiden. Ich warne noch einmal vor Joachim Poß (SPD): nationalen Alleingängen. Lieber Herr Kollege Michelbach, wie stehen Sie denn zu den Vorschlägen Ihres CSU-Vorsitzenden, des Minis- ( [SPD]: Vor Herrn Seehofer!) terpräsidenten Seehofer, der sich in den letzten Mona- Seien Sie bitte bereit, davon Abstand zu nehmen. Natio- ten mehrfach öffentlich dahin gehend eingelassen hat, nale Lösungen greifen zu kurz. Vielmehr müssen sie, um dass er sowohl den SPD-Vorschlag zur Begrenzung der erfolgreich zu sein, international abgestimmt werden. steuerlichen Abzugsfähigkeit von Gehältern und Abfin- Deutsche Alleingänge bringen nichts und wird es mit dungen begrüßt – allerdings ist dieser Aussage keine Ini- dieser Bundesregierung in dieser Form nicht geben. Es tiative im Bundesrat gefolgt – als auch die Finanztrans- geht nicht um die Frage des passenden Etiketts, sondern aktionsteuer für ein sinnvolles Instrument hält? Wenn darum, wie wir unsere Ziele gemeinsam erreichen kön- ich richtig informiert bin, sind Sie wirtschaftspolitischer nen. Sprecher der CSU. Wie stehen Sie zu den Vorschlägen Ihres CSU-Vorsitzenden? Wir müssen Maß und Mittel wahren; ansonsten gerät die Kreditversorgung unserer Realwirtschaft in Gefahr. Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Das Wesentliche ist, dass wir bei Basel III und letzten Herr Kollege Poß, die CSU hat eine hohe Wirtschafts- Endes bei allen Vorsorgemaßnahmen die Schraube nicht kompetenz, überdrehen. Denn auch bei den Banken gilt der kauf- männische Grundsatz: Eigenkapital kann man nur ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – mal ausgeben. Die Banken sollen insbesondere Eigenka- Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN- pital schaffen, um ihrem Ziel für die Realwirtschaft KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nachkommen zu können, eine klare, volkswirtschaftliche NEN – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/ und gute Kreditversorgung für die Zukunft zu schaffen, DIE GRÜNEN]: BayernLB! – Dr. Frank- damit Arbeitsplätze in unserem Land sicher bleiben. 1774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) Herzlichen Dank. Was ist das für eine Koalition, was ist das für ein viel- (C) stimmiger Chor, von dem Deutschland regiert werden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- will? neten der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Abg. Leo Absage an jede Regulierung? Oder wie?) Dautzenberg [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – Bitte. Nun hat für die SPD-Fraktion das Wort der Kollege Dr. Carsten Sieling. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der SPD) Herr Kollege Dautzenberg, bitte.

Dr. Carsten Sieling (SPD): Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herr Kollege Sieling, teilen Sie meine Auffassung, Herren! Wir befinden uns mitten in der größten Finanz- dass wir eine Parlamentsdebatte haben, dass wir uns auf- und Wirtschaftskrise. Wir diskutieren am heutigen Frei- grund Ihrer Anträge verständigt haben, diese Debatte tagmorgen über das zentrale Problem dieser Finanz- und hier im Parlament zu führen? Wirtschaftskrise. Wir haben in Deutschland, so sagt man Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie, dass die zumindest, eine neue Regierung, die sich viel vorge- CDU/CSU-Fraktion viele Vorschläge gemacht hat. nommen hat. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ich habe sehr gut (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eben!) zugehört!) – Ja, Herr Dautzenberg, wenn ich das einmal gehört Ich betone nochmals: Wenn Sie das nur an den Anträgen hätte. festmachen, die Sie hier vorlegen, ist das zu eng. Wir haben hier eine Debatte geführt, in der sich die (Joachim Poß [SPD]: Das ist doch nicht alles!) Koalitionsvertreter als Parlamentsvertreter von ihrer ei- genen Regierung distanziert haben. – Herr Kollege Poß, das, was Sie hier fordern, muss aber Teil eines stimmigen Gesamtkonzepts sein. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht zugehört!) (Joachim Poß [SPD]: Sie können uns nicht vorschreiben, was wir vorlegen!) (B) Sie haben philosophiert und allgemeine Grundprinzipien (D) dargelegt, Das halten Sie der Regierung doch immer vor. Deshalb lassen wir uns von Ihnen nicht vorhalten, was wir zu dis- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Teilen Sie kutieren haben. denn unsere Vorstellungen?) (Joachim Poß [SPD]: Lächerlich! Sie sind aber keinen konkreten Vorschlag gemacht, wo es hin- nicht handlungsfähig; das ist der Punkt! Frau geht. So eine Regierung brauchen wir in dieser Zeit Merkel macht Sprüche, mehr nicht! – Gegen- nicht. ruf des Abg. Frank Schäffler [FDP]: Das sagt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Richtige!) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Vieles von dem, was die Prüfaufträge angeht, ist – das GRÜNEN – Frank Schäffler [FDP]: Ich habe ist betont worden – auf Herrn Steinbrück zurückzufüh- den Koalitionsvertrag zitiert! – Joachim Poß ren. Herr Kollege Sieling, wäre diese Regierung und wä- [SPD]: Koalition in der Auflösung! Die errei- ren wir als Fraktionen nicht gut beraten, chen nicht den nächsten Wahltermin!) (Joachim Poß [SPD]: Wir haben ein Papier Ich darf vielleicht einmal darauf hinweisen, dass es Steinmeier/Steinbrück von Januar 2009, da hier um eine wichtige Frage geht. Herr Schäffler und steht alles drin!) Herr Dautzenberg, wir sind uns doch einig, dass dies eine zentrale Frage ist. Erklären Sie mir bitte, wie sich im Hinblick auf die Finanztransaktionsteuer einen Prüf- die Bundesregierung bei der Debatte über diese Frage so auftrag an den IWF zu geben mit der Bitte, die welt- präsentieren kann, wie sie sich hier präsentiert. Sie zeigt weiten Auswirkungen dieser Maßnahme zu untersuchen kaum Präsenz; hier ist niemand. und Vorschläge zu unterbreiten? (Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach (Joachim Poß [SPD]: Das wissen wir doch al- [CDU/CSU]: Der wichtigste Staatssekretär ist les! Das spricht doch nicht gegen unsere Vor- da!) schläge! – Gegenruf des Abg. Frank Schäffler [FDP]: Doch! Mal durchlesen!) Das geht so nicht. Ich befürchte, Herr Schäffler, die Ver- treter der Bundesregierung sind nicht zur Debatte ge- – Auch wenn Sie das schon alles wissen, Herr Kollege kommen, weil sie sich nicht anhören wollen, wie Sie hier Poß, auch wenn Sie schon wissen, wie sich eine solche sagen, Sie seien Parlamentsvertreter, und das, was die Steuer auswirkt, ist es doch sinnvoll, zuerst abzuwarten, Regierung macht, sei nicht Ihr Thema. bis das Ergebnis vorliegt, ehe man die Bewertung über- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1775

Leo Dautzenberg (A) nimmt, dass eine solche Steuer ein Instrument, eine Op- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha! War das (C) tion für ein mögliches Vorgehen darstellt. die Antwort auf meine Frage? Kann ich mich setzen?) (Joachim Poß [SPD]: Das ersetzt doch nicht natio- nales Handeln! Das ist kein Gegensatz!) – Da meine ganze Rede eine Antwort auf Sie ist, dürfen Sie sich gerne setzen, Herr Dautzenberg. Sie hätten zuhören sollen, was wir als Fraktion – da- mit bin ich wieder im parlamentarischen Bereich – vor- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Danke! Dann geschlagen haben, nämlich ein Gesamtpaket: Finanz- ist das erträglicher!) institute, Insolvenzrecht für Finanzinstitute und dessen Aber ich kann das nicht entscheiden. Absicherung, Verbesserungen in der Aufsicht, das alles sind Punkte, wo wir national etwas umsetzen wollen und Ich will auch sehr deutlich sagen, dass Bundesfinanz- wo Vorarbeiten gemacht worden sind. Zu Regelungen minister Peer Steinbrück derjenige war, der im letzten für die Begrenzung von Vergütungen liegt ein Referen- Jahr die Vorschläge für entsprechende Maßnahmen ge- tenentwurf vor, den Sie schon zur Kenntnis genommen macht hat. haben müssten. Alles das, was wir national beeinflussen (Frank Schäffler [FDP]: Wo ist er denn heute?) können, ist also schon auf den Weg gebracht. Das ist die Grundlage, auf der wir jetzt aufbauen können. (Joachim Poß [SPD]: Nein, eben nicht! Da ha- Sie werden bei den Sozialdemokraten in diesem Hause ben wir Vorschläge gemacht!) keinen finden, der zu dem, was Peer Steinbrück letztes Jahr angeschoben hat, nicht steht. Das will ich ein für al- Was international gemacht wird, Herr Kollege Sieling, lemal festhalten. muss von dem Ergebnis bestimmter Prüfaufträge abhän- gig gemacht werden. Wenn Sie ohne die Grundlage von (Beifall bei der SPD – Frank Schäffler [FDP]: Analysen Entscheidungen treffen wollen, werden Sie da- Wo ist denn Herr Steinbrück?) mit fehlgehen. Der zweite Vorwurf, der ausgeräumt werden muss – hier werden immer wieder Missverständnisse aufgebaut –: (Frank Schäffler [FDP]: Der Koalitionsvertrag Natürlich schlagen wir ein Gesamtkonzept vor. Wir wis- spricht eine klare Sprache!) sen – Kollege Poß hat das bereits gesagt –, dass es ein Bündel von Maßnahmen geben muss: Natürlich müssen Dr. Carsten Sieling (SPD): Bonizahlungen durch eine strengere Besteuerung ange- Herr Kollege, das war ein bisschen der Versuch, Ihre gangen werden. Und natürlich müssen wir im Zusammen- Rede zu wiederholen und diese Punkte anzubringen. hang mit Basel III die Eigenkapitalproblematik hart ange- (B) hen. Da sind wir uns einig. (D) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ich habe die (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Okay!) Frage gestellt, ob Sie das zur Kenntnis genom- men haben!) Das gehört dazu. Es gehört auch dazu, die Finanzauf- sicht mit mehr Schlagkraft zu versehen. Das ist gar keine – Sie haben mehrere Fragen gestellt. Ich will sie gerne Frage; da sind wir nah beieinander. Das allein reicht aber nacheinander aufrufen. nicht. Sie müssen auch den Mut haben, zum Beispiel das (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es wäre besser, Thema Steueroasen Sie beantworten sie, statt sie aufzurufen!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Einverstan- den!) Die erste, wichtige Frage betrifft Ihren Hinweis, dass dies eine Parlamentsdebatte sei. Ich habe bisher nicht und viele andere Dinge anzugehen. Es reicht überhaupt gewusst, dass es üblich ist, dass in einer Parlamentsde- nicht aus, hier Präsident Obama für sein mutiges Vorge- batte die Bundesregierung nicht dabei sein muss. hen zu loben und dann seine Vorschläge Strich für Strich und Punkt für Punkt zu zerreden. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie ist doch vertreten!) (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]: Wollen Sie die hier übernehmen?) – Natürlich ist die Bundesregierung vertreten – gar keine Das geht nicht; das offenbart Ihre fehlende Ernsthaftig- Frage –; aber normalerweise erwartet man bei wichtigen keit an dieser Stelle. Sie beziehen sich nur auf zwei Vor- Fragen die entsprechenden Repräsentantinnen und Re- schläge: zur Finanzaufsicht und zum Eigenkapital. So präsentanten und eine Vertretung in größerer Breite. Das wird man diese Finanzkrise nicht in den Griff kriegen; ist doch ein relevanter Punkt, Herr Dautzenberg. Des- das wird nicht ausreichen, um die Probleme zu lösen. halb würden wir uns wünschen, dass die Ministerinnen und Minister, die Kabinettsmitglieder der Debatte bei- Deshalb schlagen wir heute in unserem Antrag eine wohnen. Das ist jedenfalls meine Auffassung. ganze Reihe von Maßnahmen vor, legen den Fokus da- bei aber auf die Einführung einer Finanztransak- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tionsteuer. Ich will an dieser Stelle sagen: Was ich hier gehört habe, sind verzweifelte Versuche, von Aussagen Ich will ganz klar sagen, dass wir Sozialdemokraten wegzurudern, die aus der eigenen Koalition stammen. natürlich der Auffassung sind, dass wir ein breites Bün- del an Maßnahmen brauchen. (Beifall bei der SPD) 1776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. Carsten Sieling (A) Das ist nichts anderes als der verzweifelte Versuch, an Zweitens. Die Finanztransaktionsteuer – das ist mehr- (C) dieser Stelle abzulenken. fach diskutiert worden – greift erheblich weiter als die bisher diskutierten Instrumente wie die Tobin-Tax und Viele Kolleginnen und Kollegen im Hause haben ges- die Börsenumsatzsteuer. tern erlebt, wie der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Herr Haasis, die verschiedenen (Frank Schäffler [FDP]: Das ist ja das Punkte aus seiner Sicht diskutiert hat. Er ist zu dem Schlimme daran!) Schluss gekommen, dass es sich bei der internationalen Sie umfasst alle Finanztransaktionen. Deshalb ist sie das Finanztransaktionsteuer natürlich nicht um ein unkom- richtige Mittel, insgesamt Wirkung zu entfalten und pliziertes Instrument handelt – wer will das behaupten! –, keine Schlupflöcher offenzulassen. dies aber der Weg ist, der beschritten werden müsse. (Frank Schäffler [FDP]: Und die Welt ist eine (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Er hat Scheibe!) gesagt: Von allen schlechten Instrumenten ist das noch das harmloseste!) Drittens: die Höhe der Steuer. Es wird über einen Steuersatz zwischen 0,01 und 0,05 Prozent diskutiert. Wir fordern Sie dazu auf: Hören Sie auf die Stimmen aus Das heißt, bei einer Transaktion in Höhe von 100 000 der Finanzwirtschaft! Folgen Sie den Vorschlägen, die Euro – ich nenne eine Summe, die man mit normalem breite Unterstützung finden! Menschenverstand überschauen kann – geht es um eine (Beifall bei der SPD und der LINKEN) steuerliche Belastung von 50 Euro. Herr Dautzenberg, ich sage noch einmal: Sie retten (Frank Schäffler [FDP]: Der Kleinsparer!) sich nicht damit, dass Sie immer wieder dieselben zwei So viel kostet eine Taxifahrt aus dem Obertaunus bis Vorschläge machen und den Kernpunkten ausweichen. nach Frankfurt; diese Belastung wird man bei schädli- Sie können das hier nicht wegfilibustern. chen Investitionen hinnehmen können. Man muss sich vor Augen führen – das ist in diesem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zusammenhang noch nicht ausreichend geschehen –, wo- der LINKEN) rum es dabei geht: Erstens. Die Finanztransaktionsteuer ist ein Instrument, das nicht nachsorgend reagiert, son- Auch deshalb ist die Steuer vertretbar und richtig. dern die Bedingungen dafür schaffen würde, dass be- Es gibt das Argument – das muss ich noch einmal stimmte Spekulationsentwicklungen nicht wieder erfol- aufgreifen –, dass insbesondere die Kleinanleger betrof- gen könnten. fen sein werden. (B) (D) (Frank Schäffler [FDP]: So ein Quatsch!) (Frank Schäffler [FDP]: Ja, das tut Ihnen Sie ist eine Steuer, die dem Wort „Steuer“ wirklich ge- weh!) recht wird: Sie ist zum Steuern da; sie greift in die wirt- Herr Schäffler, Sie haben sich hier noch einmal auf die schaftlichen Abläufe ein und nimmt schädlichen Speku- Aussagen von Herrn Pofalla und – ich glaube – Herrn lationen den Schwung. Das führt dazu, dass wir einen Staatsminister Fahrenschon bezogen. Ich würde wirklich volkswirtschaftlichen Nutzen auch im Bereich der Fi- gerne einmal wissen, was genau dahintersteckt. nanzindustrie erzielen. Darum ist der Vorschlag richtig, darum wird er weitreichend unterstützt. (Frank Schäffler [FDP]: Das kann ich Ihnen sagen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Erstens. Bei 80 Prozent aller Riester-Verträge sind die Gelder überhaupt nicht fondsbezogen angelegt. Dafür Sie können rufen und schreien, wie Sie wollen: Wir spielt das also überhaupt keine Rolle. müssen ein Problem lösen. Heute läuft dasselbe Wertpa- pier 100-mal um den Globus, ohne einen Deut zur Wert- Zweitens. Sie haben das Beispiel genannt, dass die re- schöpfung beizutragen. levante Summe bei einem Riester-Sparer ein Betrag von circa 30 000 Euro sei. Aufgrund Ihrer Tätigkeit – Sie ha- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Derivate! Das ben wahrscheinlich schon viele Verträge persönlich ver- ist richtig!) mittelt; hoffentlich nicht im gefährlich-spekulativen Be- Wer kann denn sagen, dass das sinnvoll ist? Lassen Sie reich – werden Sie wissen, dass der Sparer bei den in uns zusammen vorangehen und uns sagen: Deutschland Ihrem Beispiel gewählten 30 000 Euro im Monat einen schließt sich als große Industrienation dem Vorschlag an; Sparbeitrag in Höhe von 87 Euro hat. Bei unserer niedrig wir wollen das einschränken. angesetzten Finanztransaktionsteuer wäre das innerhalb von 20 Jahren eine Belastung von 10 bis 20 Euro. (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg (Lachen des Abg. Frank Schäffler [FDP]) [CDU/CSU]: Das kann ich doch auch über Re- gulierung erreichen!) – Natürlich. Wenn Sie den Dreisatz beherrschen, dann werden Sie das sehen. – Das können Sie vielleicht auch über Regulierung er- reichen; aber diese Krise ist so komplex, dass man ein (Frank Schäffler [FDP]: Ja, im Gegensatz zu Bündel, einen Komplex von Maßnahmen braucht. Des- Ihnen kann ich den Dreisatz! Ich kann sogar halb dürfen Sie den einzelnen Punkten nicht ausweichen. die Zinseszinsrechnung!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1777

Dr. Carsten Sieling (A) Sie reden hier von 4 700 Euro. Wissen Sie, wann Sie – Ich glaube, wenn wir die Politik in Deutschland so an- (C) die Zahl erreichen? In 9 000 Jahren! Sie machen hier legen, dass wir ständig nur Prüfungen durchführen und eine Milchmädchenrechnung. Fragen Sie in der Branche auf das Ergebnis dieser Prüfungen warten, nach! Keiner wird Ihnen diese Rechnung bestätigen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, nein, (Frank Schäffler [FDP]: Haben Sie schon ein- nein! – Abg. Joachim Poß [SPD], an den Abg. mal etwas von Zinseszinsen gehört?) Leo Dautzenberg [CDU/CSU] gewandt: Frag doch mal den Horst Köhler!) Ich sage Ihnen hier: Sie verschrecken die Leute und ma- chen ihnen Angst, dann kommt die nächste Finanzkrise schneller, als wir gucken können. Herr Kollege Dautzenberg, wir haben (Frank Schäffler [FDP]: Mit Recht!) gar keine Zeit mehr, zu prüfen. Wir müssen handeln. und das nur, damit dieses richtige Instrument, die Fi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nanztransaktionsteuer, verhindert wird. Das können wir DIE GRÜNEN) nicht akzeptieren. Es muss ein Konzept auf dem Tisch liegen, damit die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten G 20 dieses umsetzen kann. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist der Kern unseres Antrags. Deshalb will ich das einmal herunterdeklinieren: Ich will an dieser Stelle sagen, dass in der Tat ein wei- teres sozusagen nichtfachliches Element nötig ist, wenn Die internationale Finanztransaktionsteuer: Rela- man eine Steuer neu einführen will. Das Argument spielt tiv wenige hier – Herr Schäffler tut das immer, aber für bei vielen Menschen eine große Rolle. Natürlich muss andere gilt das weniger – haben dagegen geredet. Diese man weitere Steuerbelastungen und neue Steuern gut be- Maßnahme auf internationaler Ebene wird breit gestützt. gründen. Es geht darum, dass man für einen solchen Vor- Herr Michelbach hat sich als Einziger aus der Koalition schlag nicht nur gute Argumente, sondern auch Unter- positiver dazu geäußert, weil er wahrscheinlich auch das stützung braucht. Interview mit Herrn Dobrindt, Ihrem Generalsekretär, gelesen hat, der sehr, sehr deutlich gesagt hat, dass wir Ich will an dieser Stelle einmal sagen, dass ich hier eine internationale Finanztransaktionsteuer brauchen. auch deshalb argumentiere und wir als SPD-Fraktion auch deshalb einen Antrag in dieser Richtung vorgelegt (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das haben, weil es in Deutschland eine Petition mit brauche ich nicht zu lesen! Ich habe eine ei- 60 000 Unterschriften gibt, in der das gefordert wird, gene Meinung!) (B) (D) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist aber Schließen Sie sich diesem Punkt in unserem Antrag des- wenig!) halb doch bitte an. und es sind noch viel mehr Menschen, die das fordern. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das ist keine isolierte Sache, sondern das wird gesell- Herr Kollege, ich darf Sie auf die Redezeit hinweisen. schaftlich breit getragen. Das geht weit in die Gesell- schaft hinein – auch in Ihr Spektrum, also auch in den Dr. Carsten Sieling (SPD): Bereich der CDU und der CSU. Ob jemand von der FDP Ich komme zum Ende. dabei ist, weiß ich nicht. (Frank Schäffler [FDP]: Gott sei Dank!) Sie wissen auch, dass weite Teile der Wissenschaft das mittragen. Amerikanische Ökonomen, Nobelpreis- Wenn man auf der internationalen Ebene nicht zu einer träger: Alle stehen dahinter. Einigung kommt, dann – das sagte Bundesfinanzminister Schäuble in einem weiteren Interview in den letzten Ta- Der Bundespräsident gen – einigen wir uns eben auf europäischer Ebene. (Joachim Poß [SPD]: Horst Köhler!) (Joachim Poß [SPD]: Ja!) – Horst Köhler, CDU – hat uns aufgefordert, eine inter- Das ist der zweite Punkt, den wir Ihnen vorschlagen. nationale Finanztransaktionsteuer einzuführen. Warum schließen Sie sich auch dem nicht an, (Joachim Poß [SPD]: Hat er keine Wirtschafts- (Joachim Poß [SPD]: Ja!) kompetenz, Herr Michelbach?) damit wir in Deutschland einmal wissen, wo es hingeht? Darum frage ich mich, warum Sie hier so lange reden und darum herumgehen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dafür brau- chen wir doch Ihren Antrag nicht! – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) was machen Sie bei Punkt drei?) Wir schlagen hier einen Dreistufenplan vor. Wenn die einzige Kontroverse darüber besteht, dass (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir schließen wir Sozialdemokraten meinen, dass man im Notfall auch das doch nicht aus, Herr Kollege! Wir warten national handeln muss, dann bitte ich Sie und fordere Sie aber mal die Prüfung ab!) auf, Herr Dautzenberg – ich bin gespannt, ob Herr 1778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. Carsten Sieling (A) Schäffler auch dabei ist –: Lassen Sie uns aus dem Vor- – Ich bin seit 19 Jahren in der Freien Demokratischen (C) schlag einen Gruppenantrag machen. Lassen Sie uns in Partei, und ich muss ehrlich sagen, dass ich sehr stolz diesem Parlament etwas Gemeinsames auf den Weg darauf bin. bringen, damit wir die Finanztransaktionsteuer hinbe- kommen, (Beifall bei der FDP) Dass der Markt falsch reguliert worden ist, ist richtig. (Frank Schäffler [FDP]: Ich kann Ihnen schon Aber wer hat denn den Markt falsch reguliert? Das wa- sagen, dass wir nicht dabei sind!) ren doch Sie. statt die ganze Zeit nur drumherum zu reden und zu phi- (Zuruf von der FDP: Elf Jahre lang!) losophieren. Nur Argumente dafür zu suchen, dass Sie nicht handeln wollen, sondern immer nur prüfen, ist In Person war es der Kollege Eichel als Bundesfinanzmi- keine Politik. Die Finanzkrise braucht mehr. Auch nister, der, im Übrigen mithilfe der tatkräftigen Unter- Deutschland braucht mehr. stützung von Lobbyisten, die die Gesetzentwürfe ge- schrieben haben, Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Joachim Poß [SPD]: Das ist ja abenteuerlich!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Frank die Märkte nicht richtig reguliert hat. Schäffler [FDP]: Sie sind in der Opposition (Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: angekommen!) Unverschämtheit! Als Entschuldigung kann man nur mangelnde Kompetenz anführen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Zum Thema Gier möchte ich noch anmerken, dass es Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Björn derselbe ist, der als Ministerpräsident und Sänger das Wort. ehemaliger Bundesminister derzeit eine Rente von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 7 151,05 Euro pro Monat bezieht und noch einen zusätz- der CDU/CSU) lichen Rentenanspruch von 5 900 Euro aus seiner Zeit als Oberbürgermeister der Stadt Kassel einklagen möchte.

Björn Sänger (FDP): (Zuruf von der SPD: Ach so, jetzt kommt das Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und wieder! – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Zur Sa- Herren! Sehr geehrter Herr Poß, Sie haben von einer che, Herr Kollege!) (B) Parallelwelt gesprochen, in der der eine oder andere aus (D) der Finanzbranche lebt. Darauf, dass es im Internet eine Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gruppe gibt, die in ihrer eigenen Welt lebt, habe ich an Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der dieser Stelle schon einmal hingewiesen. Kollegin Hendricks? Ich gebe Ihnen sogar recht darin, dass der eine oder andere in einer Parallelwelt lebt. Ich habe aber den Ein- Björn Sänger (FDP): druck, dass auch die SPD zumindest seit der Bundes- Wenn es der Wahrheitsfindung dient. tagswahl in einer Parallelwelt lebt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Nicht erst seitdem!) Bitte sehr.

Ich weiß nicht, was Sie zu sich nehmen, um Ihre Wahler- Dr. Barbara Hendricks (SPD): gebnisse zu verarbeiten, aber Sie sollten besser damit Herr Kollege, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, aufhören. Denn es scheint Ihr Erinnerungsvermögen ins- dass es in diesem Hause Mindestanforderungen an das besondere bezogen auf die letzten elf Jahre erheblich zu Niveau gibt? Das gilt übrigens auch für Ihren Kollegen beeinträchtigen. aus Berlin, der gestern gesprochen hat. (Joachim Poß [SPD]: Gucken Sie sich mal (Frank Schäffler [FDP]: Lindner heißt er! Das mein Wahlergebnis an! Ich kann nicht me- ist ein guter Mann!) ckern! – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist die Ausnahme!) Auch er hat die Mindestanforderungen an das Niveau dieses Hauses nicht eingehalten. Ich möchte Ihnen deshalb ein bisschen auf die Sprünge helfen. Wollen Sie bitte auch zur Kenntnis nehmen, dass es Ihnen höchstwahrscheinlich auch mit Unterstützung er- Sie schreiben sehr zu Recht, dass eine Fehlregulie- fahrener Kollegen aus Ihrer Fraktion nicht gelingt, nach- rung des Finanzmarktes gepaart mit Gier krisenursäch- zuweisen, dass die FDP in den vergangenen elf Jahren lich ist. irgendwann einen Antrag zur schärferen Regulierung der Finanzmärkte eingebracht hat? (Joachim Poß [SPD]: In welcher Partei sind Sie?) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1779

(A) Björn Sänger (FDP): Wir haben im Koalitionsvertrag den Aufbau einer (C) Frau Kollegin Hendricks, herzlichen Dank für die wirksamen Aufsicht vereinbart. Obwohl die christ- Fragen. Wenn ich die Debatten verfolge, brauche ich lich-liberale Regierung noch nicht einmal 100 Tage im mir, glaube ich, von der linken Seite des Parlaments Amt ist und Sie elf Jahre alle Gelegenheiten haben ver- nichts über das Niveau erzählen zu lassen. streichen lassen, entsprechende Regelungen zu treffen, sollen wir schon gehandelt haben. Ich denke, hier muss (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten man ein bisschen auf die Relationen achten. der CDU/CSU) Ein weiteres Thema ist – das greifen Sie richtiger- Wir sind bei der Frage, wie wir die Krise in den Griff weise auf – die Bekämpfung von Steueroasen. Auch bekommen wollen. Wir alle haben das Ziel, Vorsorge zu hierzu werden wir Vorschläge machen. Durch ein einfa- treffen, dass sich ein derartiges Desaster nicht wieder- ches und gerechtes Steuersystem mit niedrigen Sätzen holt. Sie aber servieren uns jetzt, 14 Tage vor Karneval, wird es überhaupt nicht mehr attraktiv sein, Geld am eine ziemlich angegammelte Kamelle, nämlich die deutschen Fiskus vorbei in irgendwelche Steueroasen zu Finanztransaktionsteuer. Das ist ein gänzlich untaugli- verschieben. ches Mittel zur Bewältigung dieser Krise. Denn die Krise ist nicht durch Spekulationen vorangetrieben wor- (Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE den, sondern durch Wertpapiere, die nicht nachhaltig LINKE]: Steuersätze wie in Liechtenstein, waren, und von Ratingagenturen, die Fehler gemacht ha- oder wie?) ben. Lassen Sie mich nun zu den Bankerboni kommen. (Beifall bei der FDP) Der eine oder andere in der Branche hat den Schuss nicht gehört. Das muss zwar angegangen werden, aber das erreicht man nicht mit einer Finanztransaktionsteuer. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Sie auch nicht!) Mit der Finanztransaktionsteuer treffen Sie auch die Kleinsparer, Herr Kollege Schick. Das ist wieder ty- Dabei sind Boni, also Leistungsanreize in der Vergütung pisch: Es wird über Menschen geredet, die in der Lage auf breiter Ebene, nicht das schlechteste Instrument, sind, 30 000 oder 100 000 Euro anzulegen. Die stört das wenn man Leistung fördern will. nicht. Darin gebe ich Ihnen völlig recht. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die muss (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Wir haben über auch nachhaltig sein!) Leute gesprochen, die 100 Euro im Monat an- Aber das muss mit einer entsprechenden Verantwortung (B) legen! Genau das haben wir Ihnen vorgerech- hinterlegt sein. Freiheit und Verantwortung sind zwei (D) net!) Seiten derselben Medaille; sie gehören zusammen. Es Aber die Mitte der Gesellschaft, die Leistungsträger, die wird gesagt, es helfe nichts, wenn ein Bankmanager mit Riester-Verträge abschließen, werden über Gebühr be- seiner Villa im Tessin genauso wie der Bäckermeister lastet. oder der Elektromeister vor Ort mit ihren Häuschen haf- ten müssen. Aber die Aussicht, dass das Häuschen oder – beim Bankmanager – die Villa im Tessin weg sein Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: könnte, wird den einen oder anderen sicherlich dazu be- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wegen, Entscheidungen, bevor er sie trifft, gründlicher Kollegen Raabe? zu überdenken und das eine oder andere Papier etwas ge- nauer zu lesen. Hier muss ein Zusammenhang zwischen Björn Sänger (FDP): Boni auf der einen Seite und Verantwortung und Haftung Nein. Das bringt nichts. auf der anderen Seite geschaffen werden. Das werden (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Dafür wir leisten müssen; denn nur so können wir die dienende haben wir Verständnis!) Funktion der Finanzdienstleistungsbranche aufrechter- halten. Folglich müssen wir darüber nachdenken, welches In- strument besser als eine Finanztransaktionsteuer in der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Lage ist, steuernd einzugreifen. Ich greife das auf, was der CDU/CSU) der Kollege Schäffler richtigerweise gesagt hat. Ein Ver- Der Bundesbankpräsident Weber hat vollkommen sicherungssystem ist deutlich besser; recht: Es ist außerordentlich ratsam für die Finanzbran- che, die Gewinne, die momentan wieder erzielt werden, (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist das Beste, in das Eigenkapital anstatt in Boni zu stecken; denn die was ich seit langem gehört habe! – Eigenkapitalanforderungen werden sicherlich nicht ge- Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ringer werden. In eine Kreditklemme wollen wir nicht NEN]: Das schließt sich nicht aus!) hineinlaufen. Es gibt schon entsprechende Hinweise aus denn dann sind die Einlagen der Sparerinnen und Sparer dem Markt, aus der Realwirtschaft. Die Bosch GmbH abgesichert und ist das System stabilisiert. Notwendig ist beendet – ich unterstütze das ausdrücklich – Geschäfts- zudem, ein Insolvenzrecht für Banken einzuführen, da- beziehungen mit Banken, die Boni zahlen. Das ist ein mit ein Institut aus dem Markt geordnet ausscheiden sehr gutes marktwirtschaftliches Instrument, um zu einer kann. Verhaltensänderung zu kommen. 1780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Björn Sänger (A) (Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) Herr Kollege Sänger, bitte. Ich komme zum Schluss. Die Linken in Nord- rhein-Westfalen verkaufen T-Shirts, auf denen steht: Wir wollen linke Spinner sein. – Vorher hatte ich noch Hoff- Björn Sänger (FDP): nung, aber nach der heutigen Diskussion kann ich nur Sehr geehrter Herr Kollege, ich fange mit der Petition empfehlen: Kaufen Sie sich diese T-Shirts und ziehen an. Mittlerweile mehr als 65 000 Petenten nehmen wir Sie sie an! Mit Ihren Anträgen haben Sie das eindrucks- natürlich sehr ernst. Uns geht es ja auch darum, die voll unter Beweis gestellt. Branche entsprechend an der Bewältigung der Krise zu beteiligen. Herzlichen Dank. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: An den Kos- (Beifall bei der FDP) ten!) Was Sie wollen, ist das, was der Erfinder dieser Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Steuer, James Tobin, selbst als einen Fehler erkannt hat, nämlich zusätzliche Einnahmen generieren. Sie möch- Nun hat das Wort zu einer Kurzintervention der Kol- ten hierbei nicht steuernd eingreifen, denn dann müssten lege Dr. Raabe. Sie über andere Maßnahmen nachdenken.

Dr. Sascha Raabe (SPD): (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Doch! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Beides!) Sehr geehrter Herr Kollege, ich will zwei Feststellun- gen treffen. Die erste ist: Sie haben gesagt, dass die Idee Das wollen wir an dieser Stelle nicht, sondern wir wol- einer Finanztransaktionsteuer eine olle Karnevals- len, dass die Branche an den Kosten dieser Krise adäquat kamelle sei. Da die Bundeskanzlerin diese Idee aber beteiligt wird. Wir sind der Auffassung, dass diese unterstützt, frage ich mich, ob sie in Ihren Augen eine Steuer nicht das richtige Mittel ist. So steht es auch im Fastnachtsnärrin ist. Es ist erstaunlich, dass die Bundes- Koalitionsvertrag – der Kollege Schäffler hat darauf hin- kanzlerin immer bekundet, für die Einführung einer sol- gewiesen –, und danach handelt die Bundesregierung. chen Steuer zu sein, dies aber von Ihrer Seite dermaßen Herzlichen Dank. ins Lächerliche gezogen wird. Das liegt auf der Linie Ih- res Entwicklungsministers Niebel, der im Entwicklungs- (Beifall bei der FDP – Dr. Carsten Sieling ausschuss wörtlich gesagt hat: Was interessiert mich, [SPD]: Wo steht das im Koalitionsvertrag? – was die Kanzlerin sagt? Ich habe eine andere Meinung. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) (D) NEN]: Kein Wort zur Kanzlerin! – Dr. Axel Ich komme zu meiner zweiten Feststellung. Mein Troost [DIE LINKE]: Kein Wort im Koali- Kollege Sieling hat zu Recht auf die Petition verwiesen, tionsvertrag!) in der 60 000 Menschen die Einführung einer Finanz- transaktionsteuer fordern. Sie fordern sie deshalb, weil Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sie sagen: Wir brauchen Geld für die Entwicklungszu- Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort sammenarbeit, um die Folgen der Wirtschafts- und der Kollege Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Frak- Finanzkrise gerade für die ärmsten Menschen abmildern tion. zu können. Deswegen ist das selbstverständlich ein ganz wichtiger Schritt, der auch dazu dient, die vereinbarten (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara Stufensteigerungen des sogenannten ODA-Plans reali- Hendricks [SPD]: Nehmen Sie jetzt die Kanz- sieren zu können, also den Anteil der Mittel für die öf- lerin in Schutz, oder was tun Sie?) fentliche Entwicklungszusammenarbeit am Bruttonatio- naleinkommen, der eigentlich in diesem Jahr 0,51 Prozent Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): betragen müsste, bis zum Jahr 2015 auf 0,7 Prozent zu Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe steigern, wozu wir uns verpflichtet haben. eben einmal zur Tribüne hochgeblickt – da waren noch Ich frage mich, wie Sie das erreichen wollen, wenn Ihre Vorgänger –, und da war Kopfschütteln. Ich glaube, Sie eine solche Finanztransaktionsteuer ablehnen. Sie das Bild, das wir als Parlament hier heute abgeben, brechen ja bereits mit diesem Haushalt Ihr Versprechen, rechtfertigt dieses Kopfschütteln: Wir debattieren hier die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit zu steigern. sicherlich die dringendste, die wichtigste Aufgabe, die Es ist doch völlig unglaubwürdig, ohne eine solche wir neben denjenigen hinsichtlich des Klimawandels in Steuer eine Quote von 0,7 Prozent im Jahr 2015 errei- dieser Legislaturperiode zu erfüllen haben, und streiten chen zu wollen. Das spricht für die fehlende Glaubwür- uns darüber, wer wann was gesagt hat, in welchem Pa- digkeit dieser Regierung und dafür, dass Sie auf dem Rü- pier was stand, darüber, wer welche T-Shirts anziehen cken der ärmsten Menschen dieser Erde eine Politik soll. zugunsten der Multimillionäre betreiben. Das wird mit (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Nein, wer was uns nicht zu machen sein. tut!) (Beifall bei der SPD – Dr. Ich halte das für nicht angemessen; denn die Menschen [CDU/CSU]: Alter Quatschkopf!) sind zu Recht ziemlich sauer, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1781

Ralph Brinkhaus (A) (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Auf Ihre Herren, hege ich tiefes Misstrauen gegenüber denjeni- (C) Koalition natürlich!) gen, die jetzt ganz genau wissen, was zu tun ist, und ich habe großes Verständnis dafür. Es ist ein Skan- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) dal, dass wir als Staat letztlich mit dem Volumen von gegenüber denjenigen, die jetzt sagen, die Steuer A, die zwei Bundeshaushalten in die Haftung für das Banken- Abgabe B oder die Regulierung C ist es, die das Finanz- system gehen müssen. Als Mitglied des Gremiums ge- system sicher macht. Meine Damen und Herren, es gibt mäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes sehe nicht das Instrument, das absolute Sicherheit verschafft. ich das jeden Freitagmorgen. Es ist ganz gut, dass man es jeden Freitagmorgen sieht, Herr Kollege Sieling, um (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ sich das ganze Ausmaß des Skandals noch einmal vor CSU]) Augen zu führen. Es gibt auch keine Garantie dafür – auch das gehört mit (Beifall bei der CDU/CSU) zur Ehrlichkeit –, dass der Staat das Bankensystem nie mehr mit Steuergeldern stabilisieren muss. Es ist auch völlig unverständlich, dass wichtige Teile der internationalen Finanzwirtschaft den Eindruck erwe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) cken, dass es so weitergehen kann wie bisher. Wir sehen Das ist ernüchternd. Trotzdem glaube ich aber, dass es es an der Art der Geschäfte und auch an den Vergütungs- uns gelingen kann, ein besseres Finanzsystem zu organi- modellen. sieren, als wir es in der Vergangenheit gehabt haben. Nur Es ist beschämend – das muss auch einmal gesagt darum geht es. werden –, dass es der gesamten Branche scheinbar an Insofern ist es wichtig, ein Maßnahmenpaket zu dem Willen oder der Kraft fehlt, aus sich selbst heraus schnüren; der Kollege Michelbach hat es eben schon ge- umfassende Reformen zur Eigenregulierung und zur sagt. Dieses Maßnahmenpaket ist auf den Weg gebracht Systemstabilität zu organisieren. worden, und zwar mit einer gewissen Systematik, Herr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kollege Schick. Es geht darum, eine konsequente Inter- nationalisierung der Problemlösungsstrategien vo- Die Maßstäbe, die wir an einen Hartz IV-Empfänger an- ranzutreiben. Die G 20, nicht allein die nationalen Parla- legen, müssen wir auch an die Bankenwelt anlegen. mente, sind der richtige Platz. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der LINKEN) Ich sage aber auch an die Adresse der Bundesregierung, (B) an Herrn Koschyk: Wir haben hohe Erwartungen an den (D) Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass wir alle – viel- nächsten G-20-Gipfel in Kanada. Dabei muss etwas he- leicht mit wenigen Ausnahmen – selbst an den Ursa- rauskommen. Es reicht nicht, wenn wir weiter im Unver- chen dieser Krise in irgendeiner Art und Weise beteiligt bindlichen bleiben. waren, denn weder die Politik noch die Verwaltung, we- der die Wissenschaft noch die Medien haben die Risiken (Beifall bei der CDU/CSU) in dieser Form richtig eingeschätzt und entsprechend ge- Es ist auch wichtig, dass wir ein Frühwarnsystem handelt. Wir alle haben als Konsumenten von den guten einrichten. Wir sehen eine ganz zentrale Rolle beim Zinsen profitiert. Ich frage einmal hier in den Saal hi- Europäischen Ausschuss für Systemrisiken. Dieser muss nein, wer 2007 nicht zu seinem Bankberater gegangen in enger Zusammenarbeit mit der EZB frühzeitig Pro- ist und gesagt hat: Zwei Prozent mehr, oder ich bin weg. bleme identifizieren und Handlungsempfehlungen aus- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Also, ich nicht! – geben, und zwar möglichst schnell. Wir müssen auch die Nicolette Kressl [SPD]: Die, die kein Geld ha- aktuellen Risikofelder, über die momentan wieder ben!) niemand redet, im Auge behalten. Dazu gehören die Inflation, die Überhitzung der Rohstoffmärkte, die spe- Wir alle haben als Kreditnehmer davon profitiert – sei es kulativen Geldmengen, die in die Entwicklungs- und im privaten Bereich zum Beispiel für Eigenheime oder Schwellenländer fließen, und auch der Zustand von in der Industrie –, dass wir unsere Investitionen günstig Volkswirtschaften hier in der EU. Im Auge behalten al- finanzieren konnten. Wir haben als Staat gern die hohen lein reicht jedoch nicht. Wir müssen aus der Identifika- Steuereinnahmen mitgenommen. Allein die Deutsche tion der Risiken Handlungen erwachsen lassen; denn das Bank hat 2007 ein Steueraufkommen von mehr als sehe ich momentan leider zu wenig. 3,5 Milliarden Euro gehabt. Es ist also nicht so einfach, Wir brauchen einen starken Ordnungsrahmen. Dazu wie man vielleicht meint. gehört die Beseitigung von regulierungsfreien Bereichen Abseits jeder Moral, des Bedürfnisses nach Rechen- des Kapitalmarktes. schaft für die Verantwortlichen oder der Strafe für dieje- (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ nigen, die scheinbar nichts gelernt haben, bleibt doch CSU]) eine Erkenntnis: Es gibt keine absolute Sicherheit im Fi- nanzsystem. Niemand hat den Masterplan. Unwahr- Insofern ist es zu begrüßen, dass die Europäische Kom- scheinliche Ereignisse, die nicht denkbar waren, treten mission das Projekt Gewährleistung sicherer Derivate- ein. Weil die Welt so komplex ist, meine Damen und märkte auf den Weg gebracht hat. Ich wünsche mir, dass 1782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Ralph Brinkhaus (A) wir darüber mehr sprechen. Es ist gut, dass wir mit der diese Dinge sind jetzt schon auf den Weg gebracht wor- (C) Regulierung von Hedgefonds durch die AIFM-Richtlinie den. Frau Hendricks, bei allem Lob für den Kollegen angefangen haben. Es ist auch richtig, dass die EU- Steinbrück, es ist völlig egal, wer für diese Maßnahmen Richtlinie zur Regulierung von Ratingagenturen schnell verantwortlich ist; denn es geht um die Lösung. Diese in deutsches Recht umgesetzt wird. Lösung müssen wir hier gemeinsam entwickeln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube, dass die Bundesregierung an all diesen Ein Ordnungsrahmen muss aber auch stringent über- Projekten mit Hochdruck arbeitet. Eine Menge Men- wacht werden. Dazu ist im August 2009 das Gesetz zur schen auf der Welt versuchen, dieses Finanzsystem auf Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht in eine bessere Basis zu stellen. Dabei sollten wir mitma- Kraft getreten. Es ist darüber hinaus nachhaltig zu be- chen. Es ist manchmal auch so, dass die Bundesregie- grüßen, dass Ecofin das neue Konzept zur europäischen rung in der Rolle des Kritikers ist. Auch das ist gut. Finanzaufsicht, über das wir noch zu diskutieren haben, Nicht alles ist richtig, was hier und heute vorgeschlagen in diesem Jahr auf den Weg gebracht hat. worden ist. Wir brauchen aber auch – das ist der Kern – ein gan- Offen sind noch die Fragen nach einer Beteiligung an zes Paket von Eigenkapitalmaßnahmen. Dazu gehört den Kosten der Finanzkrise. Auch hier müssen wir nicht nur die Umsetzung der geänderten Banken- und über Ansätze diskutieren, wobei mittlerweile Konsens Kapitaladäquanzrichtlinie. Dazu gehören auch die durch besteht, dass eine Beteiligung zumindest der großen sys- die G 20 angestoßenen Aktivitäten des Baseler Aus- temrelevanten Institute und eben nicht der Sparkassen schusses zur stärkeren Unterlegung von Eigenkapital; und Volksbanken an den noch entstehenden Kosten er- denn die Verknüpfung von Eigenkapitel und Risiko ist folgen muss. sicherlich einer der entscheidendsten Faktoren zur Si- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) cherung der Finanzmärkte. Es geht um die noch entstehenden Kosten. Was wir bis- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerhard her bezahlt haben, ist angesichts des Risikos sehr wenig. Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das widerspricht aber dem, was die FDP gesagt Aus den USA kommen Vorschläge zur Regulierung, hat!) zum Eigenhandel und zur Aufspaltung von Banken. Wir müssen die Angemessenheit der Vergütungs- Diese Impulse müssen aufgenommen werden. Ich sage strukturen sicherstellen. Hierzu ist im August 2009 das aber auch ganz offen: Die USA wären mit ihren Vor- Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung in schlägen glaubwürdiger, wenn sie Basel II umgesetzt (B) Kraft getreten. Wichtig war auch die Einigung auf Ver- hätten. Insofern muss man alles im Zusammenhang be- (D) gütungstandards auf dem G-20-Gipfel in Pittsburgh, trachten. durch das BaFin-Rundschreiben vom Dezember 2009 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) umgesetzt und auch für deutsche Unternehmen verbind- lich. Sie haben heute Ihren Beitrag als Opposition geleis- tet. Darüber müssen wir diskutieren. Wir wissen, dass Wir müssen uns aber auch vor Augen halten, dass es wir mit Ihnen nicht immer einer Meinung sind. Für die immer wieder zur Krise kommen kann. Deswegen brau- CDU kann ich sagen: Mit einer nationalen Trans- chen wir ein Instrumentarium zum Krisenmanagement. aktionsteuer haben wir mächtige Probleme. Sie wissen, Hier hat die EU-Kommission die Initiative zur Schaf- warum. Aber wir müssen eines schaffen, von der einen fung eines grenzüberschreitenden Krisenmanagements bis zur anderen Seite dieses Hauses, weil das die Erwar- auf dem Bankensektor ergriffen. Das ist gut und richtig. tungshaltung der Bevölkerung ist und weil das unsere Was aber dringend notwendig ist – das ist eine unserer Aufgabe in diesem Parlament ist: Wir müssen gemein- vordinglichen Aufgaben in dieser Legislaturperiode –, sam ein Maßnahmenpaket organisieren, das die Finanz- ist die Schaffung eines nicht nur finanzmarktspezifi- märkte stabilisiert. schen Insolvenz-, sondern auch Abwicklungsrechtes; denn es muss möglich sein, dass eine Bank oder ein (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Schlagen Sie Finanzdienstleister geordnet abgewickelt oder in eine doch mal was vor!) geordnete Insolvenz überführt wird. Wir müssen dieses Paket auch im Konsens organisieren; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn die Bundesregierung, auch wenn es jetzt eine Weiterhin werden wir auch über grenzüberschreitende CDU/CSU-FDP-Regierung ist, braucht ein starkes Man- Sicherungsfonds diskutieren müssen. Ich möchte dieses dat in den internationalen Verhandlungen. Wenn wir die- Thema aber nicht überschätzen. Die Krise hatte diesmal ses Paket nicht gemeinsam organisieren, eine Dimension, die kein Sicherungsfonds hätte auffan- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Dann machen gen können. Sie es doch!) Ich fasse zusammen: internationale Lösungen, werden wir uns als Parlamentarier sagen lassen müssen, Frühwarnsystem, starker Ordnungsrahmen, stringente dass wir die wichtigste Frage, die sich in dieser Legisla- Überwachung dieses Rahmens, ein Bündel von Eigenka- turperiode stellt, nicht beantwortet haben. pitalmaßnahmen, angemessene Vergütungsstrukturen, effektive Maßnahmen zum Krisenmanagement. All (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1783

Ralph Brinkhaus (A) Es wäre wirklich gut, meine Damen und Herren, wenn Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver- (C) wir es schaffen würden, diese Aufgabe gemeinsam zu fahren. bewältigen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der Ich möchte zum Schluss noch einen Aspekt ergänzen. Debatte hat der Kollege Harald Koch für die Fraktion Ich habe am Anfang meiner Ausführungen Kritik an Die Linke das Wort. den Banken geübt. Bei aller Kritik an den Banken: Wir stehen zu unseren Banken in Deutschland, zu den klei- (Beifall bei der LINKEN) nen, die in der Fläche tätig sind, aber auch zu den Groß- banken. Die deutsche Exportwirtschaft braucht große Harald Koch (DIE LINKE): Banken, die sie international begleiten. Wir sollten das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nicht Banken aus anderen Ländern überlassen. Eines ist nen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Ich habe es bei mei- aber auch klar: Wir als Politik stoßen mit unseren Auf- ner Arbeit als stellvertretender Landrat viele Jahre haut- sichts- und Regulierungsmaßnahmen, mit unseren Sys- nah erlebt: Nicht nur den Kommunen steht das Wasser temvorschlägen an Grenzen, wenn sie nicht mit einer finanziell immer öfter bis zum Hals; auch viele Men- neuen Kultur der Verantwortung im Bankenbereich ein- schen können sich, wenn überhaupt, gerade mal das Al- hergehen. lernötigste zum Leben leisten, während andere in Luxus schwelgen. 10 Prozent der Bevölkerung besitzen hierzu- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem lande 61 Prozent des Vermögens. 70 Prozent der Bevöl- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kerung teilen sich nur 9 Prozent des Vermögens. Diese, meine Damen und Herren, ist bisher leider viel zu wenig ersichtlich. Vielleicht wäre ein Vorschlag, dass Konkret spüren das immer mehr Menschen. Die Bankvorstände mit ihrem persönlichen Vermögen für ihr Schere zwischen Arm und Reich geht drastisch weiter Tun haften, so wie es bei Freiberuflern üblich ist. auseinander. Dass Kinder heute von der Schule in Hartz- IV-Lebensläufe gehen, ist ein Skandal. (Beifall des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Eines ist wichtig: Die deutsche Kreditwirtschaft ist aufgefordert, mehr zu tun, national, aber auch in interna- Die ungerechte Einkommens- und Vermögensvertei- tionalen Gremien, um das Vertrauen der Menschen zu- lung in vielen Ländern ist eine zentrale Ursache der ak- rückzugewinnen, um eine Wiederholung der Krise aus tuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Diejenigen, die dem Herbst 2008 wirklich zu einem sehr unwahrschein- über große Vermögen verfügen, geben es ja nicht aus. (B) lichen Ereignis werden zu lassen. Die Zeit dafür drängt. Die Binnennachfrage wird durch sie kaum gestärkt. (D) Ganz ehrlich: Wir können uns nicht leisten, dass noch Stattdessen fördert die Vermögenskonzentration Speku- einmal das passiert, was damals passiert ist, denn dann lationen und eine übertriebene Renditeerwartung. sind wir alle weg. Um die aktuelle Krise zu bewältigen und die in Mit- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem leidenschaft gezogenen öffentlichen Haushalte sowie die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Nachfrage zu stärken, fordert die Linke, genau diejeni- geordneten der FDP) gen an der Deckung der Krisenkosten zu beteiligen, die von der Zockerei auf den Finanzmärkten am meisten profitiert haben und noch profitieren. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf GRÜNEN) den Drucksachen 17/526, 17/527 und 17/518 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Ein deshalb überfälliger Schritt ist aus Sicht der Lin- gen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe: Das ist ken, die Vermögensteuer als eine Millionärsteuer wieder der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. einzuführen. Zum Vermögen zählen wir in unserem An- trag die Gesamtheit privater Geldvermögen und der Ver- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20: kehrswerte der privaten Immobilien- und Sachvermö- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara gen. Private Kredite werden abgezogen. Nur das Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer oberhalb von 1 Million Euro liegende Nettovermögen Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE einer Person soll mit 5 Prozent versteuert werden. Ange- sichts dessen, dass 1 Million Euro steuerfrei bleiben soll, Vermögensteuer als Millionärsteuer wieder kann nun wahrlich niemand behaupten, die Linke wolle erheben Vermögende armmachen. – Drucksache 17/453 – Die Vermögensteuer übt eine Finanzierungs- und Überweisungsvorschlag: Umverteilungsfunktion aus, weil nach der wirtschaftli- Finanzausschuss (f) chen Leistungsfähigkeit besteuert wird, die sich durch Haushaltsausschuss Vermögen nun einmal erhöht. Wer die derzeitige Krise Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die und die wachsende Armut bekämpfen will, muss eben Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe: Reichtum begrenzen. 1784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Harald Koch (A) (Beifall bei der LINKEN) 5 Prozent, was fast einer Enteignung gleicht. Sie wollen (C) uns mit Ihrem dreiseitigen Antrag weismachen, dass so Die Länder und Kommunen pfeifen finanziell auf alle Haushaltsprobleme gelöst werden können. dem letzten Loch. Das sollten auch die Vertreter der Ko- alition einmal zur Kenntnis nehmen. In dieser Situation Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die CDU/CSU- wollen Sie, die Mitglieder der Koalition, die mit der Ein- Bundestagsfraktion hält es für selbstverständlich, dass führung einer Vermögensteuer verbundenen Möglichkei- starke Schultern generell mehr als schwache Schultern ten nicht nutzen? Wir, die Linke, gehen davon aus, dass tragen. durch die Erhebung einer Vermögensteuer langfristig pro (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das tun sie Jahr bis zu 80 Milliarden Euro zusätzliche Steuereinnah- auch schon!) men zur Verfügung stehen. Diese Auffassung hat sie übrigens nicht nur mit Beginn (Beifall bei der LINKEN) der Krise vertreten, sondern auch schon vorher. Der Nehmen Sie doch dieses Geld. Das ist besser, als es sozialpolitischen Verantwortung wird man in Deutsch- nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen noch stärker als land durch die Progression der Einkommensteuer ge- bisher Normal- und Geringverdienenden, Rentnerinnen recht. 10 Prozent der großen Vermögen tragen heute und Rentnern sowie sozial Benachteiligten aus der Ta- rund 54 Prozent der gesamten Einkommensteuerlast. Die sche zu ziehen, was wir alle erwarten. oberen 50 Prozent der Einkommen tragen insgesamt über 94 Prozent der kompletten Einkommensteuerlast. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Ich erwarte das nicht!) Wenn die Linke angesichts dessen von einer sozialpo- litischen Schieflage spricht, dann muss man festhalten, – Glauben Sie mir ruhig. dass sie die Realität in Deutschland nicht erkannt hat. Wir brauchen eine deutliche Umverteilung von oben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nach unten. Reiche und Superreiche müssen aus guten Widerspruch bei der LINKEN – Dr. Barbara Gründen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens Höll [DIE LINKE]: Mit Hungerlöhnen kann herangezogen und an ihre soziale Verantwortung erin- man nicht einmal Steuern zahlen!) nert werden. In Art. 14 Abs. 2 unser aller Grundgesetzes heißt es: Sie, meine Damen und Herren von der Linken, wollen die Bundesländer durch die Einführung dieser Steuer Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. verpflichten, zusätzlich 80 Milliarden Euro – wohlge- merkt: jährlich und nicht einmalig – einzuziehen, ob- (Beifall bei der LINKEN) wohl die Länder im letzten Jahr insgesamt nur Steuern in (B) (D) Höhe von 16 Milliarden Euro eingezogen haben. Mit Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, dem Antrag, den Sie hier einbringen, würde also eine halten Sie sich doch ganz einfach ans Grundgesetz. Verfünffachung des Betrages einhergehen, den die Län- Vielen Dank. der bisher selber an Steuern einziehen. In den 16 Milliar- den Euro eingeschlossen sind übrigens schon die um- (Beifall bei der LINKEN) strittenen Erbschaftsteuern, die Lotteriesteuern und auch die Grunderwerbsteuern. Sie wollen also die Steuern, die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die Länder einziehen, auf insgesamt 86 Milliarden Euro Herr Kollege Koch, das war Ihre erste Rede in diesem erhöhen. Ich frage mich schon, in welchem Land Sie le- Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu, verbunden ben. Sie betreiben – das zeigen Sie wieder einmal sehr mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit. deutlich – eine Politik des Neides, des Klassenkampfes (Beifall) und jetzt auch noch der Enteignung. Nun hat das Wort der Kollege (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – für die CDU/CSU-Fraktion. Widerspruch bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sie haben den Bezug zur Realität völlig verloren. der FDP) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein, Sie!) Schauen wir uns einmal den Inhalt Ihres Antrags an. Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Vom Vorredner haben wir dazu ja nicht allzu viel gehört. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie fordern, dass auf das private Geldvermögen, die Ver- Bitte, nehmen Sie bequem Platz und streichen Sie sich kehrswerte aller privaten Immobilien- und Sachvermö- diesen Tag dick in Ihrem Kalender an; denn heute will gen nach Abzug eines Freibetrages jährlich ein Steuer- uns die Linke in einer eigentlich völlig überflüssigen De- satz in Höhe von 5 Prozent erhoben wird. Diese batte mit einem dreiseitigen Antrag erklären, wie sie die Maßnahme ist konjunkturpolitisch völlig falsch und för- Haushaltsprobleme aller 16 Bundesländer lösen will. Ich dert sicherlich nicht private Investitionen, sondern sorgt gehe davon aus, dass die Vermögensteuer als Länder- für das Gegenteil. steuer wieder eingeführt werden soll. Die Linke geht von zusätzlichen Steuereinnahmen in Höhe von 80 Milliar- Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995, den Euro aus – dieses Geld soll zusätzlich von den Län- mit dem die damalige Besteuerung von Vermögens- und dern kassiert werden –, und das bei einem Steuersatz von Betriebswerten für verfassungswidrig erklärt wurde, ist Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1785

Christian Freiherr von Stetten (A) angesprochen worden. Deshalb wird seit 1997 keine (Zuruf von der FDP: Das wollen die doch!) (C) Vermögensteuer mehr erhoben. Damit stehen wir auch nicht allein da. Zahlreiche andere europäische Länder Nehmen wir als Beispiel einmal einen sehr vermögenden haben zu dieser Zeit auch die Vermögensteuer abge- Immobilienbesitzer, der eine Rendite auf den Verkehrs- schafft, und das aus gutem Grund. Die Vermögensteuer wert seines Besitzes von 3 bis 4,5 Prozent erzielt. Zu- ist nämlich eine reine Substanzsteuer. Sie fällt auch an, sätzlich zu allen Ertragsteuern muss er jetzt noch 5 Pro- wenn der Betroffene in einem Jahr überhaupt kein Ein- zent Steuern auf das Vermögen zahlen. Bei einer Rendite kommen hat. Sie fällt sogar an, wenn der Betroffene in von 4 Prozent eine Substanzsteuer von 5 Prozent! Das einem Jahr die Hälfte seines Vermögens verliert. Selbst kann nur ein vorgezogener Faschingsscherz sein, meine Damen und Herren. dann schnappt die Steuerfalle zu. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das (Zurufe von der LINKEN) ist Enteignung!) Substanzsteuern sind Gift für unser Land und auch für Das ist völlig unglaubwürdig. die Betroffenen. Deshalb haben auch viele unserer Nach- barländer aus gutem Grund keine Vermögensteuer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Nicolette Kressl [SPD]: Wohl den OECD- Wenn man es nun ernst nimmt, dass den Immobilien- Bericht nicht gelesen!) besitzern durch diese Steuer jährlich gleichsam 5 Pro- zent ihres Vermögens weggenommen werden sollen, Das, was Sie heute in den Bundestag einbringen, ist dann ist doch völlig klar, dass diese versuchen werden, nicht nur ideologisch falsch, sondern stellt auch eine ihre Immobilien sobald wie möglich zu verkaufen. Ob er volkswirtschaftliche Geisterfahrt dar. Sie würden doch einen Käufer finden wird, ist zweifelhaft. Wer kauft nicht die Vermögenden treffen, wie Sie in Ihrem Antrag schon ein Renditeobjekt mit 4 Prozent Rendite, wenn er schreiben, sondern Sie würden vielfach gerade Mieter 5 Prozent Steuern zahlen muss? Ob er Einnahmen hat treffen. oder nicht, ist dabei völlig egal. Wenn er niemanden fin- (Zuruf von der LINKEN: Was?) det, der die Immobilie kauft, wird er dafür sorgen, dass die Belastung auf die Mieter abgewälzt wird, – Wir können uns gerne den Antrag näher anschauen (Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau so ist das!) und auf den Punkt kommen. die dann mit hohen Mieterhöhungen rechnen können. Schauen wir uns einmal an, was noch im Antrag steht. Damit wir wissen, wovon wir reden: Bei einer Refinan- Sie wollen die privaten Geldvermögen und die Verkehrs- zierung der Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent be- (B) werte der privaten Immobilienvermögen und der priva- deutet das eine glatte Verdoppelung der heutigen Mieten. (D) ten Sachvermögen mit 5 Prozent besteuern. Zu Betriebs- vermögen und zu land- und forstwirtschaftlichem Besitz Das ist nicht die Sozialpolitik, die die CDU/CSU- habe ich übrigens nichts gelesen. Offenbar lassen Sie Fraktion sich vorstellt. Sie sollten sich schämen, hier sol- beides außen vor. Dass das mit dem Spruch des Verfas- che Anträge einzubringen, sungsgerichts zur Erbschaftsteuer vereinbar wäre, kann (Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau! Schämt ich mir nicht vorstellen. Noch vor zwei Monaten haben euch!) Sie uns übrigens von dieser Stelle hier angegangen, weil wir bei der Erbschaftsteuer für bestimmte Betriebsver- durch die die Mieter nur belastet würden. Wir wollen, mögen Freibeträge eingeführt haben, hier also auch nicht dass auch in Zukunft billiger Wohnraum in Deutschland alles der Steuerpflicht unterworfen haben. Damals haben zur Verfügung gestellt wird. Sie versucht, uns klarzumachen, dass eine ganzheitliche Besteuerung gesichert sein muss. Jetzt erwähnen Sie in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihrem Antrag weder Betriebsvermögen noch land- und Zusätzlich würde es auch ein bürokratisches Monster. forstwirtschaftlichen Besitz. Ich glaube, das Bundesver- Wir können uns vorstellen, was bei einer Bewertung he- fassungsgericht würde da nicht mitmachen. rauskäme. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Kos- ten für die Erhebung der Vermögensteuer ein Drittel des Die Steuer soll stichtagsbezogen eingeführt werden. Aufkommens – das ist ausreichend untersucht worden – Nachdem Sie bestimmte Vermögensformen außen vor verschlungen haben. lassen und nicht besteuern, können Sie doch nicht im Ernst glauben, dass bei einer Substanzbesteuerung der (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht mehr anderen Vermögen in Höhe von 5 Prozent auch nur ein wahr! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das einziger der Betroffenen nicht reagiert und vor dem war vor der Neuregelung der Erbschaftsteuer! Stichtag sein belastetes Vermögen nicht in unbelastetes Jetzt haben wir eine Neubewertung!) Vermögen umschichtet. Es ist weltfremd, zu glauben, dass hier nicht reagiert wird. Jetzt haben wir ein neues Bewertungsgesetz und klare Regeln des Bundesverfassungsgerichts. Sie glauben Jetzt kommen wir zu der Frage, wie sich Ihr Vorhaben doch nicht, dass es damit günstiger wird. Das Gegenteil auf den deutschen Wohnungsmarkt auswirken würde. wird der Fall sein. Bei der Erbschaftsteuer ist es viel- Ich behaupte, dass Sie mit einer jährlich fälligen Vermö- leicht gerade noch zumutbar, dass alle 30 Jahre ein um- gensteuer in Höhe von 5 Prozent den Wohnungsmarkt in ständliches und teures Bewertungsverfahren durchge- Deutschland zerstören würden. führt wird. Bei der Vermögensteuer wollen Sie es aber 1786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Christian Freiherr von Stetten (A) jährlich stichtagsbezogen, zum 31. Dezember, durchfüh- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) ren. Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion. Nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts müs- sen Sie die Vermögen erst einmal alle erfassen. Dann (Beifall bei der SPD) können Sie entscheiden, welche Bereiche Sie aus der Vermögensteuer herausnehmen oder welche Freibeträge Nicolette Kressl (SPD): Sie festlegen. Wenn Sie alle privaten Vermögen in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland jährlich erfassen und dann Freibeträge fest- Herr von Stetten, ich finde, ein bisschen weniger Ideolo- legen wollen, wünsche ich Ihnen viel Erfolg. gie und Panikmache hätte der ernsthaften Auseinander- setzung mit der Sache gutgetan. Ich fand es nicht ganz (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ging angemessen, was Sie heute hier gemacht haben. doch bis 1996!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Dann kommen Sie weit über die Kosten in Höhe von ei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian nem Drittel. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Bei 80 Mil- liarden muss man aufpassen!) Auf jeden Fall wird dieser Vorschlag nicht dazu bei- tragen, dass weiterhin in Deutschland investiert wird. Im Es war vor allem deshalb nicht angemessen, weil die Gegenteil: Es wird eine Flucht ins steuerbefreite Aus- Menschen zu Recht von uns verlangen, dass wir uns mit land stattfinden. Die Folgen der Erbschaftsteuer und der Fragen bezüglich der Steuersysteme in aller Ruhe und Vermögensteuer sind die gleichen, mit fatalen Auswir- fachlich auseinandersetzen. Steuersysteme werden – das kungen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für müssen wir uns immer wieder klarmachen – von Men- die vielen Arbeitnehmer, die in den Familienbetrieben schen nur dann akzeptiert, wenn sie das Gefühl haben, arbeiten. Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. dass es gerecht zugeht und dass Lasten fair verteilt wer- den. Nur dann wird das Zahlen von Steuern, die wir (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das Einzige, was brauchen, um zum Beispiel die Bildungschancen zu er- hilft, ist Mauern bauen! Damit kennen sie sich höhen, akzeptiert. Ich bin davon überzeugt, dass die aus!) Auseinandersetzung über die Frage, ob Lasten fair ver- teilt werden, auch über das Steuersystem, gerade jetzt, in Dieser von den Kommunisten in den Bundestag ein- den Zeiten der Finanzmarktkrise, wichtiger denn je ist. gebrachte Antrag ist verfassungswidrig. (Beifall bei der SPD) (B) (Widerspruch bei der LINKEN) (D) Übrigens sind die Überlegungen hinsichtlich fairer – Da brauchen Sie sich nicht aufzuregen; das Wort Lastenverteilung, Privilegien und Beteiligung an der Fi- „Kommunisten“ darf in diesem Zusammenhang durch- nanzierung des Allgemeinwohls nicht neu. Die Behaup- aus gebraucht werden. Ich sehe , die tung im Antrag der Linken, dass diese Fragen in den den Antrag mit unterschrieben hat. Auf ihrer Homepage letzten Jahren nicht berücksichtigt worden seien, ist wird darauf hingewiesen, dass sie die Sprecherin der wirklich hanebüchen. Sowohl in den Zeiten der Regie- Kommunistischen Plattform ist. Wenn Sie sich jetzt von rung von Gerhard Schröder zusammen mit den Grünen dem Gedankengut der Kommunistischen Plattform dis- als auch in Zeiten der Großen Koalition gab es immer tanzieren, dann nehme ich alles zurück. Aber wer dieses wieder Abwägungen und wurden immer wieder Entlas- Gedankengut vertritt, darf sicher Kommunist genannt tungen auf der einen Seite mit Verschärfungen und Be- werden. Ich bin gerne bereit, Ihre Belehrungen entge- lastungen auf der anderen Seite verbunden. Ich will Ih- genzunehmen. nen dazu drei Beispiele nennen: Wenn Sie in Ihrem Antrag auf die Senkung des Spitzensteuersatzes hinwei- (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE sen, dann sollten Sie wirklich nicht verschweigen, dass LINKE]) es die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung war, die zusammen mit den beiden Fraktionen dafür ge- Ich kann Sie, und Ihre Fraktion, nur bit- sorgt hat, dass der Eingangssteuersatz so deutlich ge- ten, diesen Antrag zur Einführung einer Vermögensteuer senkt worden ist wie nie zuvor in den letzten Jahren. in Höhe von 5 Prozent zurückzuziehen. Er ist volkswirt- schaftlicher Irrsinn. Ansonsten sagen Sie den Bürgern, (Beifall bei der SPD) was Teile Ihrer Fraktion wirklich wollen. Wenn Sie wol- Es war die gemeinsame Regierung der Grünen und der len, dass erfolgreiche Bürger in unserem Land enteignet SPD, die dafür gesorgt hat, dass es eine Mindestbesteue- werden, dann können Sie das offen aussprechen. Allein rung gab und ein Herunterrechnen auf null nicht mehr aufgrund der von Ihnen geschätzten 80 Milliarden Euro möglich war. Einnahmen ist das mit uns auf keinen Fall zu machen. Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen: Ziehen Sie (Beifall bei der SPD) diesen Antrag zurück! Auch das kommt in Ihrer Analyse nicht vor. Das halte Herzlichen Dank. ich für einen sträflichen Fehler. Es war die Große Koali- tion, die bei der letzten Unternehmensteuerreform dafür (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gesorgt hat, dass die Entlastung bei den Steuersätzen mit Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1787

Nicolette Kressl (A) deutlichen Einschränkungen bei den Gestaltungsmög- Es geht nicht darum, Vermögen wegzunehmen, sondern (C) lichkeiten verbunden war. Wir haben sehr viele Schlupf- es geht um einen fairen Beitrag der Vermögenden bei der löcher geschlossen. Wir haben immer auf Ausgewogen- Verteilung von Steuerlasten. Das kann man nicht mit heit in diesem Bereich geachtet. ideologischen Argumenten zurückweisen, wie Sie, Herr von Stetten, es getan haben, sondern damit muss man (Beifall bei der SPD) sich ernsthaft auseinandersetzen. Wir erleben jetzt allerdings, dass auf Ausgewogenheit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keinen Wert mehr gelegt wird und dass Schlupflöcher DIE GRÜNEN) verschämt wieder geöffnet werden. Um ein Bild zu ge- brauchen: Dieser Pullover wird Stück für Stück von der Wir müssen im Übrigen auch wahrnehmen, dass sich schwarz-gelben Regierung und der Koalition wieder auf- die Rahmenbedingungen verändert haben. Erstens. Der geribbelt. Von Ausgewogenheit kann jetzt natürlich Halbteilungsgrundsatz, der sehr lange gegolten hat, gilt keine Rede mehr sein. aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsge- richts so nicht mehr. Das heißt, diese Rahmenbedingung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat sich deutlich verändert. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich empfehle Ihnen dringend, Ihre Wünsche nicht in Umdrucken zu Gesetzentwürfen zu verstecken, sondern Zweitens. Auch die Reform der Erbschaftsteuer hat die einen Gesetzentwurf vorzulegen, den Sie Entwurf eines Rahmenbedingungen verändert. Diese Belastungen, die Wunscherfüllungsgesetzes nennen. Das ist nämlich die früher im Rahmen einer Panikmache als Verwaltungs- Wahrheit. kosten bezeichnet wurden, werden so nicht mehr anfal- len, weil wir aufgrund entsprechender Bewertungsge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ setze jetzt andere Ausgangsmöglichkeiten haben. Das DIE GRÜNEN) sollte man nicht wegdrücken. Wenn sich Rahmenbedin- gungen verändern, dann sollte man über die eigene Posi- Ich komme zur Lastenverteilung zurück. Herr von tion ruhig einmal nachdenken. Ich finde, zu einer verant- Stetten, Sie sollten einen kurzen Blick auf die Fakten, wortungsbewussten Politik gehört, nicht immer wieder die uns die OECD liefert, werfen. Die Vergleiche, die die alten Geschichten zu erzählen, die schon lange nicht Sie bei der Belastung durch die Einkommensteuer ange- mehr wahr sind. stellt haben, können überhaupt nicht gezogen werden. Sie sprechen die Substanzbesteuerung überhaupt nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ an. Ich weiß auch, warum; denn wenn wir uns die Daten DIE GRÜNEN) (B) anschauen, die im November 2009 von der OECD ge- (D) Ich will darauf hinweisen, dass sich natürlich auch die kommen sind, dann sehen wir, dass Deutschland deut- gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert ha- lich weniger durch die Substanzbesteuerung einnimmt ben. Wir wissen mehr denn je, wie wichtig Bildung nicht als fast alle anderen Staaten. Es handelt sich nämlich um nur für unsere Kinder und die Schaffung von sozialer nur 0,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während der Gerechtigkeit, sondern auch für unseren wirtschaftspoli- OECD-Durchschnitt bei 1,9 Prozent liegt. Verstecken tischen Erfolg ist. Das Aufkommen aus einer Vermögen- Sie sich also nicht hinter irgendwelchen Einkommen- steuer könnte dazu beitragen, dass die Länder Bildung steuerstatistiken. Das ist eine ganz andere Art von Be- besser finanzieren können. Die Zeit der Bildungsgipfel steuerung. haben wir erlebt. Da wurde nur zu Papier gebracht, was (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten man eigentlich tun müsste, und über Finanzierungsin- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) strumente wurde nicht ernsthaft geredet. Ich finde, es ist die Zeit der Bildungsgipfel und die Zeit, konsequent Ich möchte den OECD-Bericht zitieren: „Nur Mexiko, über Finanzierungsmöglichkeiten zu sprechen und in der Tschechien, Ungarn und die Slowakei … sowie Öster- Gesetzgebung entsprechende Konsequenzen zu ziehen. reich erzielen weniger Einnahmen aus dieser Steuerart.“ Dass das unsere Benchmark in dem Bereich sein soll, (Beifall bei der SPD) glauben wir nicht wirklich. Ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt, im Rah- (Beifall bei der SPD) men eines Gesamtkonzepts über eine sinnvolle Besteue- rung von sehr hohen Vermögen nachzudenken und die Das bedeutet für uns Sozialdemokraten, dass eine Vermögensteuer als ein mögliches Instrument auf den Vermögensteuer sehr wohl ein Instrument zur fairen Be- Weg zu bringen. steuerung sein kann. Ich will betonen: ein Instrument. Die im Antrag der Linken genannten 5 Prozent jährlich Ich sage es noch einmal – ich habe es vorhin schon er- und der Versuch, alle Finanzierungsprobleme damit zu wähnt –: Im vorliegenden Antrag wurde alles richtig hin- lösen, halte ich für absurd. Wir müssen bestimmte Rah- geschnuddelt; ich muss es so sagen. Mit einem Steuer- menbedingungen beachten. Wir dürfen keine Substanz- satz von 5 Prozent will man weit in die Substanz besteuerung vornehmen, die zu einer Verminderung von hineingehen. Auch andere Dinge wurden hingeschnud- Vermögen führt. delt. Das kann keine Grundlage für eine seriöse Ausei- nandersetzung mit dieser Frage sein. Für uns Sozialde- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: mokraten ist klar, dass, wenn jemand sein Vermögen für Da sind wir uns einig!) die Schaffung von Arbeitsplätzen einsetzt, dies selbst- 1788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Nicolette Kressl (A) verständlich berücksichtigt werden muss. Es geht nicht Das ist unsere Auffassung. Wie kommt man zu höheren (C) um Neid, sondern um eine faire Verteilung von Lasten Erträgen? Man erzielt höhere Erträge, indem man eine und Chancen in unserer Gesellschaft. wachstumsorientierte Politik macht, damit die Unterneh- men auf der Grundlage ihrer Vermögenswerte etwas er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirtschaften können, Arbeitsplätze entstehen können DIE GRÜNEN) und der Staat die Gewinne angemessen und gerecht be- Wir werden diese Punkte im Rahmen eines steuerli- steuern kann. chen Gesamtkonzepts – dahin gehört es nämlich – auf- Wieso fordern Sie jetzt etwas völlig anderes, als Sie greifen und die Einführung einer Vermögensteuer einfü- in der Regierungsverantwortung gemacht haben? Ich er- gen. Ich hoffe, dass wir dann zu einer seriöseren kläre mir das so: Sie haben es in diesen elf Jahren nicht Diskussion kommen, als wir sie gerade erlebt haben. geschafft, eine wachstumsorientierte Politik umzuset- Vielen Dank. zen. (Beifall bei der SPD) (Ute Kumpf [SPD]: Au, das tut aber sehr, sehr weh, Herr Wissing, was Sie da gerade erzäh- Vizepräsident Dr. : len! So viel Verblendetes! – Joachim Poß [SPD]: Alles Erblast!) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion. Jetzt glauben Sie, Wachstum sei nicht mehr möglich und man könne den Staat nur noch über eine Substanzbesteue- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rung finanzieren. Ich sage Ihnen: Man kann eine wachs- der CDU/CSU) tumsorientierte Politik machen. Die christlich-liberale Koalition wird dies tun. Wir bleiben bei der Ertragsbe- Dr. Volker Wissing (FDP): steuerung, weil wir an die Kraft dieses Landes glauben. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sie haben dieses Land offensichtlich aufgegeben. linke Seite dieses Hauses ist sich offensichtlich sehr ei- nig. Sie will jetzt ganz schnell eine Vermögensteuer in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deutschland einführen. Die Linkspartei hat uns einen der CDU/CSU) Antrag vorgelegt, der, wie ich finde, nur als Faschings- Die Linksfraktion fordert eine Besteuerung der Sub- scherz zu bezeichnen ist; Frau Kollegin Kressl hat das stanz mit einem Steuersatz von 5 Prozent. Sie sagt, das ein bisschen untermauert. Was Sie da vorhaben, können sei ganz einfach. Aber Sie legen keine konkreten Vor- Sie nicht ernst meinen. Das kann man nur fordern, wenn (B) schläge vor, die man tatsächlich umsetzen könnte. (D) man sicher ist, dass man nie die Verantwortung dafür be- kommt, so einen Unsinn umsetzen zu müssen. Es ist Sie werfen mehr Fragen auf, als Sie beantworten. schlicht und einfach nicht machbar, was Sie da fordern. Welches Vermögen wollen Sie konkret besteuern? Nur (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Geldwerte oder auch Sachwerte? Ist Opel für Sie eben- falls ein Millionär? Soll auch dieses Vermögen besteuert Die SPD ist eine große Anhängerin der Vermögen- werden? Wollen Sie die Industrie ausnehmen und nur die steuer, und zwar immer dann, wenn sie die Regierungs- kleinen, mittelständischen Betriebe besteuern? Was ge- verantwortung verloren hat. nau haben Sie vor? Ist auch eine landwirtschaftliche Flä- che ein Sachwert? Wollen Sie die ebenfalls besteuern? (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) Wollen Sie den Bauern in Deutschland jedes Jahr Ihre Partei hat elf Jahre lang den Bundesminister der Fi- 5 Prozent des Verkehrswertes ihres landwirtschaftlichen nanzen gestellt. Zu uns hat gerade die ehemalige Staats- Vermögens abnehmen? Haben Sie das vor? Dann sagen sekretärin aus dem Bundesministerium der Finanzen ge- Sie das konkret. Dann reden wir darüber. Dann reden wir sprochen und uns, nachdem all das nach elf Jahren auch über die Auswirkungen einer solchen Politik für Verantwortung der Sozialdemokraten nicht gemacht unser Land. Aber einfach einen Antrag vorzulegen, in worden ist, erklärt, dass das für Deutschland dringend dem gefordert wird, dass 5 Prozent der Vermögenssub- notwendig sei. Wie kann man sich das erklären? stanz von Millionären besteuert werden sollen, damit seien die Probleme unseres Landes gelöst, das ist, ich (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei glaube, eine Ebene, auf der wir nicht wirklich sachlich Abgeordneten der CDU/CSU – Nicolette diskutieren können. Kressl [SPD]: Weil sich die Rahmenbedingun- gen verändert haben! Sie haben nicht zuge- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: hört!) 1 Prozent Ertrag und 5 Prozent Steuern! – Joachim Poß [SPD]: Das ist ja ähnlich wie bei Wir sind der Meinung, dass in Deutschland Erträge der FDP, die will ja auch mit drei Steuern alle gerecht besteuert werden sollen. Wer höhere Erträge hat, Probleme des Landes lösen!) der soll auch einen höheren Anteil finanzieren und hö- here Steuern zahlen. Die Probleme des Landes sind viel zu groß, um eine der- artig alberne Finanzpolitik machen zu können. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist ja schon so!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1789

Dr. Volker Wissing (A) Ludwig Erhard hat einmal gesagt: Wir brauchen Dass die Nettoeinkommen in den nächsten Jahren stei- (C) Wohlstand für alle. gen werden, werden die Früchte der christlich-liberalen Finanzpolitik sein. (Joachim Poß [SPD]: Die FDP ist genauso ein- fältig, nur von der anderen Seite!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja, der Besserverdiener!) Das war die Leitlinie erfolgreicher Wirtschafts- und Fi- nanzpolitik. Sie glauben, wenn man einigen eine Misere Sie können das Mantra der Vermögensteuer ruhig beschert, dann wäre dem Land insgesamt gedient. weiterhin singen. Sie können in Ihrem Stadium kreativer Neidpolitik verharren. In der Zwischenzeit hat Deutsch- (Joachim Poß [SPD]: Das ist ja eine pure land eine Regierung, die dafür sorgt, dass die Menschen Neiddebatte, Herr Wissing! Das ist aber mehr netto vom Brutto haben, flach!) (Lachen bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Es gibt niemanden in Deutschland, der nicht dafür Was?) kämpft, dass es Ärmeren besser geht. Aber wenn Sie glauben, es ist jemandem geholfen, wenn Sie Leistungs- dass Leistungsanreize in Deutschland gesetzt werden, träger, die Erfolgreichen in diesem Land schwächen, dass die Wachstumskräfte unseres Landes entfesselt dann sind Sie auf dem falschen Weg. werden, dass die Erträge, die die Unternehmen in Deutschland erwirtschaften, steigen werden, (Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie wollen die Reichen stärken! Das sind dann er- (Joachim Poß [SPD]: Die Rechnung werden folgreiche Schwächlinge oder was?) wir ja bald sehen!) Es gibt eine Alternative zu Ihrer Neidpolitik. Die ma- dass das Steueraufkommen, das wir auf diese Erträge er- chen Sie immer, wenn Sie in der Opposition sind. Wenn heben, steigen wird – und das bei einer Entlastung der Sie regieren, wollen Sie davon nichts mehr wissen: unteren und mittleren Einkommen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir brauchen diese nicht ganz (Joachim Poß [SPD]: Das ist so auch nicht ernstzunehmenden Anträge nicht. richtig!) Herzlichen Dank. Die Vermögensteuer sei nie angegangen worden und nie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aufgegriffen worden.

(Nicolette Kressl [SPD]: Das Bewertungsge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: setz gibt es noch nicht lange!) Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt (B) (D) Kaum sind Sie in der Opposition, sagen Sie: Das wollen hat jetzt das Wort die Kollegin Lisa Paus von Bündnis 90/ wir. Die Grünen.

Dass es eine Alternative zu dieser Politik gibt, zeigt Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die christlich-liberale Koalition. Wir haben nämlich – im Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Steuer- Gegensatz zu Ihnen – in dieser Legislaturperiode vor, et- politik ist nicht der Umgang mit Zahlen, sondern Steuer- was für die unteren und mittleren Einkommen zu tun. politik ist Gesellschaftspolitik.“ – (Joachim Poß [SPD]: Ach! Sie sind ja ein rich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tiger Witzbold! Was haben wir denn gemacht und bei der SPD) beim Eingangssteuersatz?) So die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regierungserklä- Wir wollen die kalte Progression abmildern. Wir wollen rung nach der Wiederwahl. steuerliche Entlastungen. Bereits jetzt haben die Deut- schen ein höheres Nettoeinkommen. Während Sie eine (Dr. Daniel Volk [FDP]: Gute Frau, die Bun- Reichensteuer beschlossen und die kalte Progression deskanzlerin!) beibehalten haben, kümmern wir uns jetzt um die Ver- Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen. Ein Zehn- säumnisse und arbeiten sie in dieser Legislaturperiode tel unserer Bevölkerung besitzt über 60 Prozent des Ver- Schritt für Schritt ab. mögens, während ein Viertel unserer Bevölkerung über (Beifall bei der FDP) nichts bzw. über weniger als nichts, nämlich über Schul- den verfügt. Sie waren es doch, die nicht davor zurückgeschreckt sind, die Pendlerpauschale auf verfassungswidrige Weise (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ein Zehntel zu kürzen. erwirtschaftet 70 Prozent der Einkommen- steuer!) (Joachim Poß [SPD]: Sie sind doch nur für Stundenhotels zuständig!) Die OECD attestiert uns: Nirgendwo in der industriali- sierten Welt haben sich in den letzten Jahren die Einkom- Dass die Menschen in den letzten Jahren immer weniger mensunterschiede schneller verschärft als in Deutsch- von ihrem Einkommen übrig hatten, war das Ergebnis land. Ihrer Politik. (Zuruf von der FDP: Das haben wir nicht ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) macht! Das haben die Grünen gemacht!) 1790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Lisa Paus (A) Noch eine Zahl: Mehr als 75 Prozent der Deutschen sind Wir Grüne haben uns in der aktuellen Situation dafür (C) nach einer GfK-Umfrage der Meinung, es gehe in die- ausgesprochen, eine zweckgebundene Vermögensabgabe, sem Land nicht gerecht zu. die als Beitrag zur Bewältigung der Krise die hohen Ver- mögen in einem vertretbaren Maß belastet, einzuführen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Seit wann?) Im Übrigen wäre das nicht das erste Mal. In der Tat, nicht Das sind nur Zahlen, aber sie machen deutlich: In dieser die FDP, auch nicht die SPD hat das schon einmal ge- Republik läuft gesellschaftspolitisch etwas verdammt macht, aber die Regierung Adenauer hat mit dem Lasten- schief. ausgleichsgesetz eine Vermögensabgabe eingeführt. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN]: Mit Ludwig Erhard!) und bei der LINKEN) Das war Gesellschaftspolitik in Steuern gegossen. Und was ist die Antwort von CDU/CSU und FDP? Statt einer gerechten Steuer von Mövenpick et al. ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kaufte Steuergesetze, statt Gesellschaftspolitik politische Die Zahlen von damals sprechen eine deutliche Sprache: Landschaftspflege. Das ist nur als armselig zu bezeich- Ohne den Lastenausgleich hätte es das deutsche Wirt- nen. schaftswunder damals niemals gegeben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten bei der SPD und der LINKEN) der SPD) Eine Vermögensabgabe, wie wir sie uns vorstellen, Die Finanzkrise hat an der Vermögensverteilung in schließt die Gerechtigkeitslücke, die wir in der Vermö- Deutschland nichts geändert; so das DIW. Die Reichen gensverteilung in Deutschland haben. Sie bürdet die sind dank öffentlicher Rettungsschirme unverändert Lasten der Krise denen auf, die sie tragen können. Des- reich. Die Finanzkrise hat aber eine neue Zahl hervorge- wegen ist die Erhebung einer Vermögensabgabe keine bracht: Die Staatsverschuldung war noch nie so hoch populistische Enteignung der sogenannten Leistungsträ- wie heute; 1 Billion Euro – das sind 1 000 Milliar- ger unserer Gesellschaft, die deswegen angeblich scha- den Euro – Schulden hat jetzt allein der Bund. Wenn wir renweise ins Ausland flüchten würden. unser Steuer- und Abgabensystem nicht ändern, wenn wir nicht damit aufhören, nur die Niedrigverdiener und (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christian die arbeitende Mittelschicht zu belasten und die Reichen Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Jetzt wird es nicht zu belasten, dann führt unser ungerechtes System aber immer hübscher hier!) (B) (D) dazu, dass die Schere zwischen Arm und Reich noch Es ist einfach so: Wer von unregulierten Finanzmärkten schneller auseinanderdriftet. profitiert hat, der steht in besonderer Verantwortung, die Kosten ihres Zusammenbruchs zu schultern. Wie erklä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren Sie sich, dass es in diesem Land inzwischen Millio- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) näre gibt, die öffentlich darum bitten, zur Verantwortung Deswegen sagen wir: Außergewöhnliche Krisen er- gezogen zu werden, weil sie wissen, dass sie Verantwor- fordern außergewöhnliche Maßnahmen. Deshalb ist die tung übernehmen müssen und übernehmen können? Idee, dass diejenigen, die an den entfesselten Finanz- Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis! märkten große Gewinne gemacht haben, auch in beson- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, derem Maß die Kosten der Krise tragen sollen, richtig. bei der SPD und der LINKEN – Christian (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das dürfen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sie doch! Jeden Tag spenden!) der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Seid Da Sie immer noch von einer Neiddebatte sprechen, ihr jetzt dafür?) will ich dazu noch eines sagen: Milliardäre und Millio- näre scheinen Ihnen von Schwarz-Gelb ähnliche Sorgen Deshalb begrüßen wir es, dass der Antrag der Linken zur zu bereiten wie die Geldbeutel armer Hotelbarone. Aber Wiedereinführung der Vermögensteuer das Thema auf das ist auch in diesem Fall überhaupt nicht nötig. Die die Tagesordnung bringt. vermögensbezogenen Steuern in Deutschland sind nied- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ riger als in den USA, niedriger als in Luxemburg und DIE GRÜNEN und der LINKEN) niedriger als in der Schweiz. Auch das sollten Sie end- lich einmal zur Kenntnis nehmen. Deswegen ist diese Der vorliegende Antrag hat aus unserer Sicht aber wenig Vermögensabgabe keine Zumutung, sondern ein wichti- belastbare Substanz. Das können wir jedoch im Rahmen ger Baustein, um mehr als ein paar Zahlen wieder ins der parlamentarischen Beratungen weiter erörtern. Herr Gleichgewicht zu bringen, zum Beispiel das Verhältnis Dautzenberg, die Stoßrichtung „mehr Besteuerung von zwischen öffentlichen Schulden und privater Vermö- Vermögen“ ist richtig. gensverteilung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Daher werden wir Grünen an diesem Thema weiterar- und bei der LINKEN sowie des Abg. beiten und einen entsprechenden Antrag in dieses Haus Dr. Carsten Sieling [SPD]) einbringen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1791

Lisa Paus (A) Herzlichen Dank. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wol- bei der SPD und der LINKEN) len, dass es im Grundgesetz in Art. 3 Abs. 3 künftig heißt:

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Frau Kollegin Paus, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers- sexuellen Identität, seiner Abstammung, seiner ten Rede im Deutschen Bundestag. Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen (Beifall) Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt wer- Ich schließe die Aussprache. den. Niemand darf wegen seiner Behinderung be- nachteiligt werden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/453 an die in der Tagesordnung aufge- Es geht darum, die Schwulen, Lesben und Transgen- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- der in unserer Verfassung endlich vor Benachteiligungen verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung zu schützen. so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf: sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Jerzy Montag, , weite- Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz war so etwas wie die Nega- ren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ tion der nationalsozialistischen Selektions- und Verfol- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- gungspolitik. So haben ihn die Väter und Mütter des setzes zur Änderung des Grundgesetzes (Arti- Grundgesetzes konzipiert. Aber auch sie waren nicht frei kel 3 Absatz 3 Satz 1) von Moralanschauungen und Vorurteilen und haben des- halb zwei Gruppen, die Opfer des Nationalsozialismus – Drucksache 17/88 – waren, vergessen: die Behinderten und die Homosexuel- Überweisungsvorschlag: len. Die Behinderten haben wir in der Verfassungsreform Rechtsausschuss (f) 1994 endlich in den Diskriminierungsschutz der Verfas-

Innenausschuss sung aufgenommen. Für die Aufnahme von Schwulen, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Lesben und Transgendern gab es damals keine Zweidrit- telmehrheit, sondern nur eine einfache Mehrheit. Deshalb (B) b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- wurde dieses Ziel verfehlt. (D) gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3 Ab- Die Geschichte der Schwulen und Lesben im Zusam- satz 3 Satz 1) menhang mit der Verfassung in diesem Land ist sehr wi- dersprüchlich. 1957 hat das Bundesverfassungsgericht – Drucksache 17/254 – die menschenrechtswidrige strafrechtliche Verfolgung Überweisungsvorschlag: durch § 175 des Strafgesetzbuchs in nationalsozialis- Rechtsausschuss (f) tischer Fassung für vereinbar mit dem Grundgesetz

Innenausschuss erklärt. Es dauerte viele Jahrzehnte, bis das Bundesver- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe fassungsgericht im Jahre 2009 erstmals in einer Ent- scheidung die Rechte von Lesben und Schwulen auf- c) Erste Beratung des von den Abgeordneten grund der Verfassung ausgeweitet hat. Ich denke, es ist Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W. wichtig, dass wir in unserer Verfassung jetzt endlich ein Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Frak- für alle Mal zum Ausdruck bringen, dass Lesben, tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Schwule und Transgender Bürgerinnen und Bürger wie Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes alle im Lande sind, mit gleichen Rechten, mit gleichen (Artikel 3 Absatz 3 Satz 1) Pflichten und ohne jeglichen Abstand. – Drucksache 17/472 – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Überweisungsvorschlag: bei der SPD und der LINKEN) Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Das gebieten Respekt und Würde, wie es unsere Verfas- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sung vorsieht. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die In Europa haben wir seit dem Amsterdamer Vertrag Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- eine Klausel, die Maßnahmen der Kommission gegen derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung er- so beschlossen. laubt. Seit 2009 steht in der EU-Grundrechtecharta der Diskriminierungsschutz für Lesben, Schwule und Trans- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- gender. In den Landesverfassungen von Berlin, Branden- ner das Wort dem Kollegen Volker Beck von burg, Thüringen und findet sich eine solche Bündnis 90/Die Grünen. Klausel. Im Saarland wurde vereinbart, die saarländische 1792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Volker Beck (Köln) (A) Verfassung in dieser Legislatur entsprechend zu erwei- Grundgesetz nachlesen können und nicht im 123. Band (C) tern. der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN LINKEN) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Es ist an der Zeit, dass wir als Bundestag auf Bundes- LINKEN) ebene diese Entscheidungen nachvollziehen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es gab im letzten Jahr eine Bundesratsinitiative von den Ländern Bremen, Hamburg und Berlin, die im Bun- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak desrat leider keine Mehrheit gefunden hat. Welche Argu- von der CDU/CSU-Fraktion. mente wurden von der Gegenseite vorgetragen? Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zitiere den Justizminister aus Hessen von der FDP: der FDP) Im Interesse einer möglichst schlanken und über- sichtlichen Verfassung sollen nur zwingend erfor- Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): derliche Änderungen des Textes vorgenommen wer- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich den. So werden eine Verwässerung und ein damit weiß nicht, wie gut Sie sich in Berlin auskennen. Ich sel- einhergehender Bedeutungsverlust durch Überregu- ber habe meinen Wahlkreis in Berlin-Tempelhof/Schö- lierung und die Aufnahme immer neuer Schutzas- neberg. Der Stadtteil Schöneberg ist bekannt dafür, dass pekte vermieden. er, vielleicht mit Ausnahme von Köln, die höchste Kon- Etwas hineinzuschreiben, was letztlich schon europäi- zentration von Schwulen und Lesben in ganz Deutsch- scher Konsens ist, drei weitere Wörter in der Verfassung, land hat. Ich weiß daher um die Probleme, denen das kann mit solchen Argumenten nicht pariert werden, Schwule und Lesben in der gesellschaftlichen Realität begegnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ja, es gibt Diskriminierung, und es gibt Anfeindungen LINKEN) und Übergriffe gegen Homosexuelle, und das nehme ich sehr ernst. Lassen Sie mich deswegen gleich zu Anfang und schon gar nicht von einer Koalition, die verabredet meiner Rede klar und unmissverständlich formulieren: hat, sie wolle die Selbstverständlichkeit, dass man in Das Ziel, das Anliegen, das mit dem vorgelegten Antrag Deutschland Deutsch spricht, ins Grundgesetz schreiben. verfolgt wird, teile ich uneingeschränkt. (B) Wer sich anschickt, solche Dinge auf den Weg zu brin- (D) gen, kann beim Schutz vor Diskriminierung wohl nicht ( [SPD]: Dann unterstützen ernsthaft gegen eine Klärung der Sache argumentieren. Sie diesen Antrag!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland ist ein modernes und weltoffenes Land. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Eine Diskriminierung von Anderslebenden oder Anders- KEN) liebenden ist nicht akzeptabel, und wir nehmen sie nicht hin. Minister Busemann aus Niedersachsen sagte in der Bundestagsdebatte: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vielmehr bedarf es noch verstärkter praktischer ge- der FDP) sellschaftlicher Aufklärung, sei es durch die Me- Die Frage ist allerdings: Was können wir dagegen tun? dien oder durch öffentliche Einrichtungen wie Brauchen wir, wie die Opposition es vorschlägt, eine Schulen, um langfristig jeder Form von Diskrimi- Verfassungsänderung, um Diskriminierung wirksam be- nierung entgegenzuwirken. gegnen zu können? Eine Verfassungsänderung lehnt er ab. (Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Wenn in DIE GRÜNEN: Ja!) Zukunft im Sozialkundeunterricht oder im Politikkurs Meine Damen und Herren, wenn Sie eine ehrliche Be- über die Grundrechte und das Grundgesetz aufgeklärt standsaufnahme machen, werden Sie feststellen: Es gibt wird, dann soll man auch darüber aufklären, dass eine bereits einen umfassenden Schutz. Das Grundgesetz Diskriminierung von Lesben und Schwulen verboten ist. selbst gewährleistet die sexuelle Selbstbestimmung, und das nicht nur durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es ist vor allen Dingen der allgemeine Gleichheitsgrund- Herr Kollege Beck! satz des Art. 3 Abs. 1, der vor Diskriminierung schützt. (Burkhard Lischka [SPD]: Lesen Sie sich doch Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mal durch, was das Verfassungsgericht dazu Wenn wir Ausländerinnen und Ausländern in Integra- sagt!) tionskursen die Werte unserer Verfassung vermitteln, dann soll man sagen, dass Lesben und Schwule hier Er besagt bekanntlich, dass vor dem Gesetz alle Men- nicht diskriminiert werden dürfen. Das soll man aber im schen gleich sind. Es ist schlicht unrichtig, wenn Sie in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1793

Dr. Jan-Marco Luczak (A) Ihrem Antrag behaupten, dass dieser Artikel keinen aus- stimmt also den Schutzinhalt von Art. 3 Abs. 1 genau so, (C) reichenden Schutz gewährt. als ob das Merkmal der sexuellen Identität in Art. 3 Abs. 3 ausdrücklich genannt wäre. Insofern ist das, was (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Sie hier mit Ihrem Antrag erreichen wollen, nämlich GRÜNEN]: Dieser Artikel hat von 1957 bis dass der einfachrechtliche Gesetzgeber durch das Grund- 2009 nicht geholfen!) gesetz eine klare und verbindliche Vorgabe erhält, be- Ihr Versuch – auch der Herr Kollege Beck hat das gerade reits immanenter Bestandteil der Verfassung. wieder angeführt –, diese Behauptung durch Verweis auf (Beifall bei der CDU/CSU – Christine ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre Lambrecht [SPD]: Nein!) 1957 zu belegen, geht an der Sache vorbei. Das spiegelt sich auch in den umfangreichen einfach- (Burkhard Lischka [SPD]: Es gibt auch neuere Ent- rechtlichen Vorschriften wider, die eine Diskriminierung scheidungen, die sich damit beschäftigen!) aus Gründen der sexuellen Identität ausdrücklich verbie- Damals hat das Bundesverfassungsgericht – das ist rich- ten: im Beamtenrecht, im Arbeitsrecht oder nach dem tig – die Strafbarkeit der sexuellen Unzucht zwischen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Man sieht: Es Männern nach § 175 StGB noch als verfassungsgemäß kommt nicht allein auf den Text der Verfassung an, son- eingestuft. dern auf die gelebte Verfassungswirklichkeit. Ich glaube nicht, dass der Deutsche Bundestag, also wir alle mitei- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nander, Nachhilfe in Sachen Diskriminierungsschutz be- NEN]: Unglaublich!) nötigt. Zum Grundsatz der Gleichberechtigung der Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schlechter hat es seinerzeit ausgeführt: Im Übrigen lohnt es sich – das hat Kollege Beck auch Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsor- schon angeführt –, einen Blick nach Europa zu werfen. gane weist für den Mann auf eine mehr drängende Nicht nur nach der Rechtsprechung des Europäischen und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinneh- Gerichtshofes für Menschenrechte wird ein entsprechen- mende und zur Hinnahme bereite Funktion hin. der Schutz gewährt; auch die Verträge sowie Art. 21 der Anders als der Mann würde Grundrechtecharta zählen die sexuelle Ausrichtung ausdrücklich zu den Merkmalen, bei denen das Diskri- die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper minierungsverbot gilt. All diese Regelungen sind in daran erinnert, daß das Sexualleben mit Lasten ver- Deutschland unmittelbar geltendes Recht, nach der bunden Rechtsprechung des EuGH sogar mit Anwendungsvor- (B) (D) sei. Damit möge es zusammenhängen, rang gegenüber unserer Verfassung. Wieso also eine Verfassungsänderung, wenn die sexu- daß bei der Frau die körperliche Begierde (Sexual- elle Ausrichtung gemäß europäischer Vorgaben aus- trieb) und zärtliche Empfindungsfähigkeit (Erotik) drücklich als ein Merkmal benannt wird, bei dem das fast immer miteinander verschmolzen sind, wäh- Diskriminierungsverbot gilt? – Sie schweigen, weil Sie rend beim Manne, und zwar gerade beim Homo- wissen, dass es tatsächlich keine Notwendigkeit und sexuellen, beide Komponenten vielfach getrennt keine Rechtfertigung für eine Änderung der Verfassung bleiben. gibt. Meine Damen und Herren, Sie wollen doch nicht (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- ernsthaft behaupten, dass das Bundesverfassungsgericht NIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Wieland auch heute noch in einer solchen Art und Weise argu- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Schwei- mentieren würde! gen gegen uns ausgelegt wird, dann reden wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und jetzt!) der FDP – Christine Lambrecht [SPD], zur – Sie können sich hier jetzt aufregen. Ich weiß natürlich, CDU/CSU gewandt: Bei solchen Äußerungen dass Sie diesen Antrag auch nutzen wollen, um vor allen klatscht ihr?) Dingen uns von der Union in eine bestimmte Ecke zu Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Das belegt die drängen: in die Ecke einer Partei mit antiquierten, ver- jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts staubten und überkommenen Wertvorstellungen. – der Kollege Beck hat es angesprochen –, in der das (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundesverfassungsgericht die Reichweite des allgemei- NEN]: Ja, da stehen Sie! Da müssen Sie nur nen Gleichheitsgrundsatzes noch einmal verdeutlicht Herrn Geis zuhören!) hat. Danach ist bei der Prüfung von Ungleichbehandlun- gen ein strenger Kontrollmaßstab anzulegen, wenn die Ungleichbehandlung an Persönlichkeitsmerkmale an- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: knüpft, die denen von Art. 3 Abs. 3 vergleichbar sind. Herr Kollege Luczak, erlauben Sie eine Zwischen- Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die frage des Kollegen Beck? Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebens- partnerschaft bei der Hinterbliebenenversorgung mit Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Art. 3 Abs. 1 nicht in Einklang steht. Das Gericht be- Bitte schön. 1794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sätze. Wir müssen gesellschaftliche Akzeptanz schaffen. (C) Bitte, Herr Beck. Wir brauchen Aufklärungsarbeit in den Schulen und müssen diejenigen stärken, die Zivilcourage zeigen, wenn sie sich für Menschen erheben, die wegen ihrer Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sexuellen Identität angefeindet werden. Das alles be- Vielen Dank. Ich finde es sehr gut, dass Sie eine Zwi- wirkt weit mehr, als eine Änderung der Verfassung, schenfrage zulassen, obwohl dies Ihre erste Rede ist. – wenn wir sie hier beschließen würden, bewirken könnte. Wenn das alles so selbstverständlich ist, wie Sie sagen, wie kommt es dann, dass wir zum Beispiel beim Lebens- Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Unsere Verfas- partnerschaftsgesetz, im Steuerrecht, bei der Frage der sung hat sich in den letzten 60 Jahren bewährt. Wir soll- Beamtenversorgung immer noch ungleiches Recht ha- ten sie achten. Ich sage ganz bewusst: Wir sollten sie ben? mehr achten. Das Grundgesetz ist seit seinem Inkrafttre- ten im Jahre 1949 nicht weniger als 57-mal geändert (Burkhard Lischka [SPD]: Beihilfe!) worden. Das hat die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Wie kommt es, dass die Koalition im Dezember im Zu- Verfassung nicht eben verbessert. Sehen Sie sich nur ein- sammenhang mit dem Wachstumsbeschleunigungsge- mal die Regelungen zur Schuldenbremse an. Egal wie setz den Antrag ablehnen konnte, beim Erbschaftsteuer- richtig sie in der Sache sind, verständlich sind sie in vie- recht endlich die gleichen Tarife für homosexuelle len Bereichen nicht. Ich erinnere auch an die Diskussion Lebenspartnerschaften einzuführen, wie sie bei Ehegat- um die Reform der Jobcenter. ten gelten? Wenn das alles so selbstverständlich wäre, wie Sie behaupten, hätte es für Sie selbstverständlich Ich bin froh, dass wir nun nicht den Weg gehen wol- sein müssen, im Dezember unserem Änderungsantrag len, die Verfassung an die Politik anzupassen; denn Poli- zuzustimmen. tik hat sich nach den Vorgaben der Verfassung zu rich- ten, nicht umgekehrt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Beck, vielen Dank für die Zwischen- Jetzt kommen Sie aber bitte zum Schluss. frage. Wenn Sie mir noch einige Sekunden zugehört hät- ten, hätte ich dazu etwas gesagt. – Wenn Sie einen Blick Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): in unseren Koalitionsvertrag werfen, (B) Ich komme zum Schluss. – Ich kann also festhalten: (D) (Christine Lambrecht [SPD]: Der Koalitions- Durch unsere Verfassung wird bereits ein umfangreicher vertrag hat aber keinen Verfassungsrang! – Schutz gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Gegenruf des Abg. Burkhard Lischka [SPD]: Identität gewährleistet. Es gibt eine Fülle von ein- Zum Glück!) fachrechtlichen Vorschriften, mit denen solchen Diskri- minierungen wirksam begegnet wird. Auch durch das dann werden Sie feststellen, dass dort ausdrücklich steht: Unionsrecht werden Ungleichbehandlungen verbindlich Die christlich-liberale Koalition will „gleichheitswidrige verboten. Benachteiligungen im Steuerrecht abbauen“ und die be- stehenden Schutzlücken, zum Beispiel im Bereich des Lassen Sie mich deshalb mit den Worten des Präsi- öffentlichen Dienstes, schließen. Das werden wir umset- denten des Bundesverfassungsgerichts, Professor Papier, zen. schließen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass … Christine Lambrecht [SPD]: Ja, dann machen das Grundgesetz … die beste Verfassung ist, die Sie es doch!) Deutschland je hatte. Ich möchte an dieser Stelle eines betonen: Es bleibt Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Die Union will, beim Grundsatz des Art. 3 Abs. 1: Gleiches wird gleich dass dies auch so bleibt. behandelt. Soweit Sachverhalte aber ungleich sind, er- laubt unsere Verfassung Differenzierungen. Auch daran (Burkhard Lischka [SPD]: Daran werden wir hält die Union fest. uns erinnern! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Aha, jetzt sind Sie mal zum Punkt ge- Wir wollen deshalb keine Verunklarung des Verfas- kommen!) sungstextes durch neue Inhalte, durch die kein Mehr an Schutz geboten wird und die daher nicht erforderlich So berechtigt das Anliegen in dieser Sache auch ist: sind. Deswegen spricht sich die Union auch gegen die Das, was die Opposition mit diesem Antrag macht, ist beantragte Änderung des Grundgesetzes aus. nichts weiter als Schaufensterpolitik. Sie wissen sehr ge- nau, dass mit einer solchen Änderung der Verfassung un- Danke schön. mittelbar gar nichts bewirkt würde. Wir brauchen also keine theoretischen Debatten, sondern praktische An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1795

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (C) Herr Kollege Luczak, auch Ihnen gratuliere ich im BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich mache Sie aber gleich darauf aufmerk- 1994 gab es dafür bereits eine Mehrheit, aber leider sam, dass Sie bei Ihrer nächsten Rede nicht einen so gro- keine Zweidrittelmehrheit, sonst wäre das Merkmal ßen Zeitzuschlag erhalten. heute schon längst aufgenommen. Wir haben jetzt die Möglichkeit – es gibt ja auch entsprechende Länderini- (Heiterkeit und Beifall – Dr. Jan-Marco tiativen; das ist kein rot-rot-grüner Gedanke, sondern das Luczak [CDU/CSU]: Danke schön!) kommt ja auch aus Ländern, in denen die CDU an der Regierung beteiligt ist –, dieser Verantwortung, der wir Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht von uns stellen wollen, auch dadurch gerecht zu werden, dass der SPD-Fraktion. wir drei Worte in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz aufnehmen, (Beifall bei der SPD) nämlich: die sexuelle Identität. Herr Luczak, wenn das stimmt, was Sie sagen, dass Christine Lambrecht (SPD): wir nämlich Art. 3 Abs. 3 eigentlich gar nicht brauchen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dann könnten wir ihn ja streichen. Es gäbe dann dieser Woche, am Mittwoch, haben wir hier im Plenar- Art. 3 Abs. 1, und damit wäre die Sache erledigt. So ein- saal der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, und wir fach ist es aber nicht, und das wissen Sie auch. Sie weh- sind von den Rednern gemahnt worden, Verantwortung ren sich lediglich noch aus ideologischen Gründen gegen zu übernehmen: Verantwortung nicht für das Gesche- eine solche Aufnahme. Das finde ich wirklich unerträg- hene, sondern Verantwortung dafür, dass solche Verbre- lich. chen, wie sie unter der Naziherrschaft geschehen sind, in unserem Land nicht wieder vorkommen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Genau dieser Verantwortung stellen wir uns mit die- sem Antrag. Deswegen geht es nicht darum, die Verfas- Ich finde es unerträglich, in Feierstunden zu nicken, sung aufzublähen und das Grundgesetz unübersichtlich wenn wir gemahnt werden, Verantwortung zu überneh- zu machen, sondern darum, Verantwortung zu überneh- men, und später mit fadenscheinigen Gründen ein einzi- men. ges Merkmal nicht ins Grundgesetz aufzunehmen, wenn man dies tun könnte. Ich finde, so etwas kann man auch (Zuruf von der FDP: Unpassender Vergleich!) bei einer ersten Rede nicht durchgehen lassen. (B) – Ich werde Ihnen gleich erklären, was für ein passender (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (D) Vergleich das ist. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben genau Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Lassen Sie aus dieser Verantwortung heraus in Art. 3 Abs. 3 Grund- uns in den anstehenden Ausschussberatungen darüber gesetz genau die Merkmale aufgezählt, die Ursache bzw. reden, wie wichtig es wäre, wenn unser Staat ein ent- Grund für die Verfolgung der Menschen waren. Alle sprechendes Signal geben würde. Merkmale, die damals dazu geführt haben, dass Men- schen zu Opfern wurden, sind aufgeführt worden, bis auf Ich setze große Hoffnung in die FDP. Die Justizminis- zwei – das ist schon angeführt worden –: die Behinde- terin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, hat dieses Jahr rung und die sexuelle Identität. Genau diese beiden die Schirmherrschaft für den Christopher Street Day Merkmale, die viele Menschen zu Opfern des National- übernommen und hat damit auch eine gewisse Verant- sozialismus werden ließen, werden in Art. 3 nicht aufge- wortung diesem Thema gegenüber. Ich kann sie nur auf- zählt. fordern: Nehmen Sie diese Verantwortung entsprechend wahr! Lassen Sie es nicht durchgehen, dass die Möglich- Eines dieser Merkmale ist 1994 im Zuge der Wieder- keit vertan wird, ein solch wichtiges Signal auch in die vereinigung ergänzt worden. Damals wurde das Merk- ganze Welt zu senden, dass wir uns der Verantwortung mal Behinderung mit aufgenommen, weil es die ganz aus der Vergangenheit stellen. Lassen Sie uns sachlich klare Ansage gab: Wir wollen in Zukunft nicht mehr miteinander diskutieren und diesen Schritt gehen! Ich dafür stehen, dass eine Diskriminierung Behinderter glaube, das würde dem Ansehen Deutschlands guttun. möglich ist. Wir wollen von staatlicher Seite ein entspre- chendes Signal geben. – Es war richtig so, dass das Vielen Dank. Grundgesetz damals entsprechend ergänzt wurde. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aus genau dem gleichen Grund wäre es mehr als an- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gebracht – die Mahnung der Opfer vom Mittwoch muss Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Buschmann von Ihnen doch noch präsent sein –, dass wir uns auch jetzt der FDP-Fraktion. der Verantwortung stellen und das letzte noch fehlende Merkmal von Opfern des Nationalsozialismus, nämlich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die sexuelle Identität, aufnehmen. der CDU/CSU) 1796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Marco Buschmann (FDP): Kurzum: Auf die FDP ist Verlass, egal wann, egal wo (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und egal mit wem. Wir sorgen für Fortschritt in der Sa- und Kollegen! Wir debattieren heute über eine mögliche che für die Menschen. Änderung des Grundrechtekatalogs des Grundgesetzes. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dieser Grundrechtekatalog ist für uns Liberale das Herz Christine Lambrecht [SPD]: Sie haben doch unserer Verfassung. Deshalb haben Anliegen mit dem vor dem Verfassungsgericht dagegen geklagt!) Ziel, daran Änderungen vorzunehmen, für uns, wenn Sie den Vergleich erlauben, immer etwas von einer Opera- Daran können Sie von der SPD sich ein Beispiel neh- tion am offenen Herzen. men. „Kannste was lernen“, um mit den Worten Bertolt Brechts zu sprechen. All die bleiernen Jahre in der Gro- Solche Eingriffe darf man nicht leichtfertig vorneh- ßen Koalition, in der auch Sie in Regierungsverantwor- men. Für uns als Liberale – das ist meine feste Überzeu- tung standen und etwas hätten tun können, haben Sie im- gung – ist es nur dann angemessen, einzugreifen, wenn mer gesagt: Wir würden ja gerne, aber die böse Union es grundrechtliche Schutzlücken gibt, die wir schließen lässt uns nicht. müssen. Wir haben es zusammen mit der Union geschafft. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Christine Lambrecht [SPD]: Das Bundesver- fassungsgericht, aber nicht Sie!) Bei Ihrem politischen Anliegen, das Sie mit Ihrem Antrag verfolgen, ist Ihnen bewusst, dass Sie bei uns als Das ist also möglich. Wir halten Wort. Nehmen Sie sich FDP-Fraktion immer dann große Sympathie erfahren, daran bitte ein Beispiel! wenn es darum geht, einen wirksamen Beitrag dazu zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten leisten, dass Menschen ihre sexuelle Identität in der CDU/CSU) Deutschland frei leben dürfen. Das wissen Sie auch des- halb, weil keine andere politische Kraft in der Ge- Bei aller Sympathie für das Anliegen: Auch für die im schichte unseres Landes so viel für dieses Anliegen ge- Antrag geforderte Grundgesetzänderung gilt der Prü- tan hat wie die FDP-Fraktion. fungsmaßstab, den ich eingangs erwähnt habe: Es ist nämlich die Frage zu stellen, ob es eine Schutzlücke (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: gibt, die wir schließen müssen. Diese Frage ist zu vernei- Was?) nen. Denn in Deutschland fehlt es nicht am verfassungs- Wir haben 1973 mit Ihnen zusammen den Anwen- rechtlichen Schutz der sexuellen Identität. dungsbereich des § 175 StGB minimiert und diesen dann Sie alle kennen die Entscheidung des Bundesverfas- (B) (D) 1994 mit der Union abgeschafft. Wir haben in den Koali- sungsgerichts vom 7. Juli letzten Jahres. Darin hat das tionsvertrag mit der Union aufgenommen, dass die Dis- Bundesverfassungsgericht ausdrücklich aus Art. 3 kriminierung im Steuerrecht für gleichgeschlechtliche Abs. 1 Grundgesetz einen entsprechenden grundrechtli- Lebenspartnerschaften beseitigt wird. chen Schutz abgeleitet, und zwar auf demselben Schutz- (Widerspruch bei der SPD) niveau wie bei Art. 3 Abs. 3. Das ist kein Zufall. Wir haben in den Koalitionsvertrag aufgenommen und Wenn hier so getan wird, als ob das eine volatile werden es auch in Kürze umsetzen, dass die ehe- und fa- Rechtsprechung sei, die jederzeit umkippen könnte, milienrechtlichen Regelungen im Beamtenrecht auf die dann machen Sie den Betroffenen nur Angst. Denn Sie gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften übertra- alle wissen, dass das Bundesverfassungsgericht nie wie- gen werden. der zu einer Entscheidung wie zu der von 1957 käme. Das wissen auch Sie, Herr Beck – Sie schreiben es sogar (Christine Lambrecht [SPD]: Wer hat denn beim auf Ihrer Internetseite –, weil es Ihnen ja in Ihrem eige- Bundesverfassungsgericht dagegen geklagt? nen Seminar zu diesem Thema erklärt worden ist. Wer war denn gegen die gleichgeschlechtli- chen Lebensgemeinschaften? Das waren doch (Heiterkeit bei der FDP – Volker Beck [Köln] Sie!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich denn etwas anderes behauptet?) Wir werden die Magnus-Hirschfeld-Stiftung einrichten, die sich gegen Diskriminierung wendet, und wir werden Wir haben auch neue Erkenntnisquellen. Das Bundes- das Transsexuellengesetz auf die Höhe der Zeit bringen. verfassungsgericht lehnt sich zum Beispiel an Art. 21 Abs. 1 der Grundrechte-Charta an. Das Bundesverfas- (Beifall bei der FDP) sungsgericht zieht die Rechtsprechung des EGMR he- ran. Eine solche Entscheidung wie die von 1957 ist heute Selbst die CSU bzw. die bayerische Staatsregierung undenkbar und kann nie wieder passieren. Wer etwas an- haben wir davon überzeugt, dass Homosexuelle fürsorg- deres behauptet, macht den Menschen Angst, um politi- liche Stiefeltern sein können. Deshalb hat die bayerische sches Kapital daraus zu ziehen. Staatsregierung ihre Klage gegen das Lebenspartner- schaftsergänzungsgesetz vor dem Bundesverfassungsge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) richt zurückgezogen. Kurzum: Es wäre lediglich von symbolischer Wir- (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der kung, die vorgeschlagene Ergänzung vorzunehmen. SPD) Aber eine bloß symbolische Wirkung reicht uns nicht für Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1797

Marco Buschmann (A) eine Operation am offenen Herzen, nicht für einen Ein- sen, dass es der sozialdemokratische Bundeskanzler (C) griff in den Grundrechtekatalog unseres Grundgesetzes. Helmut Schmidt ist, dem ein Diktum nachgesagt wird, Zugleich reichen wir Ihnen aber die Hand, um die ei- das an diskriminierendem Inhalt nicht zu überbieten ist. gentliche Baustelle abzuarbeiten. Die eigentliche Bau- stelle ist, auf der einfachrechtlichen Ebene mögliche (Christine Lambrecht [SPD]: Reden wir hier über Unterschiede zu identifizieren und zu beseitigen. Hier Gerüchte, oder über was reden wir hier?) haben wir die Möglichkeit, unser Land toleranter, offe- Sie alle wissen, was ihm nachgesagt wird. Ich erlaube ner und liberaler zu gestalten. Ich würde mich freuen, mir, dieses Zitat nicht zu wiederholen. Die SPD hat sich wenn Sie sich konstruktiv einbringen würden. an ganz vielen Stellen verweigert. Die FDP war stets die Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. treibende Kraft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lächerlich! – Christine Lambrecht [SPD]: Realitätsverlust Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ersten Grades!) Herr Kollege Buschmann, ich gratuliere im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke. Ich bitte Sie aber, jetzt noch ein bisschen aufmerksam zu bleiben, weil sich die Frau Kollegin Lambrecht zu ei- (Beifall bei der LINKEN) ner Kurzintervention gemeldet hat, auf die Sie erwidern dürfen. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Bitte schön, Frau Kollegin Lambrecht. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Buschmann, so mancher überhebliche Reiter ist Christine Lambrecht (SPD): schon vom Pferd gefallen. Nur zu Ihrer Information: Im Bei allem Respekt, dass das Ihre erste Rede ist, Herr September 1991 hat die damalige Gruppe der PDS/Linke Buschmann: Ich glaube, was Recht ist, muss auch Recht Liste als Erste die Diskussion über die ersatzlose Strei- bleiben. Es war keineswegs die FDP, die in diesem chung des § 175 StGB angestoßen. Dass wir heute in Hause für die gleichgeschlechtlichen Lebensgemein- erster Beratung über drei gleichlautende Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen sprechen, ist natürlich auch (B) schaften gekämpft hat. Es war Rot-Grün. Die FDP ist (D) zum damaligen Zeitpunkt – da Sie neu dabei sind, kön- Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses. Das muss nen Sie das vielleicht nicht wissen; aber offensichtlich man zur Kenntnis nehmen. haben Sie sich auch nicht die Mühe der Recherche ge- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem macht – sogar vor das Bundesverfassungsgericht gezo- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen, weil sie die Verfassungswidrigkeit der Regelung festgestellt haben wollte. Es geht nicht darum, wer sich welche Orden an die Brust heften kann. Darüber hinaus bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht die FDP war, die die Union zu der Einsicht Es geht um den Schutz, den Respekt und die Akzep- gebracht hat, dass man eine Gleichstellung von gleichge- tanz von Lesben, Schwulen, Transsexuellen, Trans- schlechtlichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe in be- gendern, Bisexuellen, Intersexuellen und natürlich von stimmten Teilbereichen akzeptieren muss, sondern es heterosexuellen Frauen und Männern. Es geht um den war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Daher Schutz der sexuellen Identität. Engagierte Lesben und bitte ich Sie, diese Tatsachen auch bei Ihrer ersten Rede Schwule haben es erneut auf die politische Agenda ge- zur Kenntnis zu nehmen und das, was Sie behauptet ha- setzt. Sie sind dabei von Politikerinnen und Politikern al- ben, nicht einfach so stehen zu lassen. ler Parteien unterstützt worden. Ole von Beust hat im Oktober im Bundesrat darüber gesprochen. Vom Müns- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem teraner CDU-Oberbürgermeister, Berthold Tillmann, bis BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zum Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes, Theo Zwanziger, reicht die Unterstützung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das ist bemerkenswert. Er hat sein Engagement in Herr Kollege Buschmann zur Erwiderung, bitte. den letzten Tagen wiederholt, er als Chef des Deutschen Fußball-Bundes, der letzten „Bastion des heterosexuel- Marco Buschmann (FDP): len Mannes“; denn hier weiß Mann, was Diskriminie- Ich mache es ganz kurz. rung bedeutet. (Christine Lambrecht [SPD]: Geben Sie zu, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- dass Sie schlecht recherchiert haben!) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Selbstverständlich hat die FDP immer die Vorreiterrolle übernommen. Ich möchte Sie nicht daran erinnern müs- Ich erlaube, Theo Zwanziger zu zitieren: 1798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. Barbara Höll (A) Ich habe in letzter Zeit mit einigen Leuten geredet, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) die in dieser Situation sind, und sie haben mir ver- neten der SPD) mittelt, weshalb sie sich nicht outen wollen. Es hängt damit zusammen, dass für einen Homose- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: xuellen im Fußball die persönlichen Bindungen, die Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stephan Harbarth Freude am Sport und auch das Geldverdienen ver- von der CDU/CSU-Fraktion. loren gehen können, wenn er sich outet. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist immer noch gesellschaftliche Realität in der Bun- desrepublik Deutschland. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): (Zuruf von der CDU/CSU: Dagegen hilft aber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die keine Grundgesetzänderung!) heutige Debatte ist unnötig. Die von der Opposition vor- geschlagene Verfassungsänderung ist überflüssig. Der Schwule Fußballprofis heiraten dann eben mal zum Bundesrat hat sie deshalb bereits völlig zu Recht abge- Schein und versuchen alles Mögliche. Es nutzt eben lehnt, nichts, dass es inzwischen lesbische Politikerinnen und schwule Politiker, homosexuelle Fernsehjournalistinnen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE und -journalisten oder vielleicht Künstler gibt. In der ge- GRÜNEN]: Das war übrigens eine Initiative sellschaftlichen Realität gibt es immer noch keine voll- von Herrn von Beust!) ständige Gleichstellung. und CDU/CSU werden sie auch im Deutschen Bundes- Auch wenn der Deutsche Bundestag mit dem Allge- tag aus diesem Grunde völlig zu Recht ablehnen. meinen Gleichbehandlungsgesetz einen umfassenden (Beifall bei der CDU/CSU) Diskriminierungsschutz beschlossen hat und auch wenn im vergangenen Jahr das bekannte Urteil ergangen ist, Über Fraktionsgrenzen hinweg eint uns das Ziel, ge- nutzt dies nichts. Wir sind dennoch in der Verantwor- sellschaftliche Minderheiten zu schützen. Über Frak- tung, hier Art. 3 des Grundgesetzes zu ändern. Dies hätte tionsgrenzen hinweg werben wir gemeinsam für Tole- verschiedene Wirkungen. Die rückholende Wirkung ranz und wenden wir uns gemeinsam gegen die nach hinten, die den § 175 betrifft, wurde schon genannt. Diskriminierung von Teilen unserer Gesellschaft. Über Es geht aber auch um die Frage einer Normsetzung nach Fraktionsgrenzen hinweg verurteilen wir gemeinsam die vorn, sowohl für den rechtlichen Bereich – dies hätte un- Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen mittelbare Wirkungen; das wissen Sie – als auch für den Identität. (D) (B) außerrechtlichen Bereich. Wir halten es für notwendig, hier tatsächlich eine Norm zu setzen. Die christlich-liberale Koalition hat dies in ihrer Ko- alitionsvereinbarung sehr deutlich herausgestellt. Die In der Debatte hier spielte es mehrmals eine Rolle, Koalitionsvereinbarung sieht vor, dass die Ausgewogen- dass kaum noch offene Diskriminierungen vorkommen. heit von Rechten und Pflichten eingetragener Lebens- Im Bundesrat gibt es jetzt die Initiative dreier Länder; partnerschaften verbessert wird. Sie sieht vor, dass die Brandenburg hat sich angeschlossen. In einigen Bundes- familien- und ehebezogenen Regelungen über Besol- ländern steht der Schutz schon in der Landesverfassung. dung, Versorgung und Beihilfe auf Lebenspartnerschaf- Aber schauen Sie sich die Realität an! ten erstreckt werden. Sie sieht vor, dass gleichheitswid- rige Benachteiligungen im Steuerrecht abgebaut werden. In Thüringen steht es in der Landesverfassung. Aber wenn sich dort ein schwules oder lesbisches Paar, viel- Das sind die Themen, an denen wir arbeiten müssen, leicht im schönsten Weiß, eintragen lassen will, muss es nicht an Schaufensterprojekten, wie Sie sie heute präsen- zum Ordnungsamt gehen und steht dann mit Leuten in tieren, meine Damen und Herren. einer Reihe, die vielleicht Geld bezahlen müssen, weil sie falsch geparkt haben. Ist das würdevoll? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Das Antidiskriminierungsgebot steht dort in der Ver- Seit wann ist die Verfassung denn ein Schau- fassung; es wird aber nicht umgesetzt. Jetzt hat die Frak- fenster? Was ist denn das für ein Verständnis?) tion Die Linke im Landtag in Thüringen eine Möglich- keit, dagegen zu klagen; wir tun es und hoffen, dass dann Heute geht es nicht um die Frage: Wer ist gegen Dis- die Diskriminierung beseitigt wird. kriminierung? Heute geht es vielmehr um die Frage: Brauchen wir eine Änderung des Grundgesetzes? Unser (Beifall bei der LINKEN) Grundgesetz ist das Fundament unserer staatlichen Ord- nung. Die Grundgesetzänderung, die wir verlangen und für die die einfache Mehrheit schon vorhanden war, ist jetzt (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- notwendig. Für sie ist es Zeit, und sie steht uns allen ein- NEN]: Ja, deshalb!) fach gut zu Gesicht, über alle politischen Parteien hin- weg. Deshalb sollten wir das schnell und sachlich erledi- Deshalb sollten wir nicht leichtfertig nach Änderungen gen. des Grundgesetzes rufen. Wir sollten nur dort Hand ans Grundgesetz anlegen, wo dies inhaltlich notwendig ist. Ich danke Ihnen. Dies ist hier eindeutig nicht der Fall. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1799

Dr. Stephan Harbarth (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundesverfassungsgericht hat ihm gerade nicht gesagt: (C) neten der FDP) Es tut uns leid, aber Art. 3 des Grundgesetzes hilft hier nicht weiter. – Vielmehr hat es dem Beschwerdeführer Wer unsere Verfassung als Ort für Symbolpolitik an- recht gegeben, und zwar ohne dass es dazu die von Ihnen sieht, wer unsere Verfassung als Versandhauskatalog zur vorgeschlagene Verfassungsänderung benötigt hätte. Der Erfüllung politischer Wünsche betrachtet, der entwertet allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes „Alle unsere Verfassung. Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ war als Grund- (Christine Lambrecht [SPD]: Beschämend!) lage völlig ausreichend. Damit ist klipp und klar: Kein einziges der Argumente, die heute vorgetragen wurden, Genau das wollen wir nicht. rechtfertigt eine Verfassungsänderung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie berufen sich zur Begründung Ihres Gesetzent- Schon heute ist klar: Wer andere diskriminiert, wer wurfs auf das Unrecht, das Menschen in der Zeit des Na- andere wegen ihrer sexuellen Identität in die gesell- tionalsozialismus aufgrund ihrer sexuellen Identität schaftliche Ecke drängt, wer andere wegen ihrer sexuel- widerfahren ist. Gewiss, das erlittene Unrecht ist Ver- len Identität beleidigt, der verstößt schon heute gegen pflichtung zu wirksamem verfassungsrechtlichen Schutz geltendes Recht. Diese Entscheidung unserer Rechtsord- vor einer Wiederholung solchen Unrechts. Aber genau nung ist richtig. Unsere Verfassung enthält schon heute dies leistet das Grundgesetz schon heute. Genau dies klare Vorgaben gegen Diskriminierung. Das im Grund- leistet auch unsere Verfassungswirklichkeit schon heute, gesetz verbürgte allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die persönliche Lebenssphäre. Es schützt damit auch die belegt. sexuelle Identität und die sexuelle Orientierung eines (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Menschen. In Art. 3 des Grundgesetzes ist es in Stein ge- neten der FDP) meißelt: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Sie berufen sich weiterhin auf die bewusstseinsprä- gende Wirkung einer Grundgesetzänderung. Aber Be- Dieser Maßstab bindet die öffentliche Gewalt und wirkt wusstseinsprägung – lassen Sie sich das gesagt sein – ist weit darüber hinaus in wichtige Teile unserer Privat- nicht die wesentliche Aufgabe einer Verfassung. Das ist rechtsordnung hinein. vielmehr Aufgabe aller, die sich im Sinne gesellschaftli- cher Ziele einsetzen, also Aufgabe von uns allen. Des- Vor Diskriminierung schützt aber nicht nur das halb sollten wir engagiert für unsere gesellschaftlichen Grundgesetz. Vor Diskriminierung schützt zugleich un- Werte eintreten. Aber wir sollten am Grundgesetz nicht ser einfaches Gesetzesrecht: im Arbeitsrecht, im Beam- (B) leichtfertig herumbasteln. Das sind wir unserer so er- (D) tenrecht, im Sozialrecht und ebenso in weiteren Rechts- folgreichen Verfassung schuldig. gebieten. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz wird sogar als Gesetzesziel ausdrücklich genannt, Be- Dass Sie vonseiten der Opposition wieder einmal nachteiligungen wegen der sexuellen Identität zu verhin- nach einer Verfassungsänderung rufen, entspricht Ihrem dern und zu beseitigen. Der Befund ist also eindeutig: Politikansatz: Sie entdecken ein Übel und wollen es ver- Unser Grundgesetz und unsere einfachen Gesetze schüt- bieten. Das ist bequem und lässt sich in Presseerklärun- zen klar und wirksam vor Diskriminierung. gen gut verkaufen. Die Philosophie „Ich mache ein Ge- Sollten Gesetze den Vorgaben unserer Verfassung ein- setz, und die Welt wird ein besserer Ort“ ist aber zu mal nicht entsprechen, dann ist die Rechtsprechung ge- dünn. fordert. Wir sehen: Die Rechtsprechung erfüllt ihre Auf- (Christine Lambrecht [SPD]: Ihre Rede ist gabe zuverlässig und gewissenhaft. Dies belegt das dünn!) jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli vergangen Jahres zur betrieblichen Hinterbliebenen- Deshalb machen Sie es sich mit Ihrem Gesetzentwurf zu rente. einfach. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: neten der FDP) Herr Kollege Harbarth, obwohl das Ihre erste Rede ist, möchte Ihnen Herr Beck gerne eine Zwischenfrage Das klare öffentliche Wort und die Zivilcourage eines stellen. jeden Einzelnen sind gefragt, nicht die Änderung des Grundgesetzes. Deshalb werden wir Ihren Gesetzent- wurf ablehnen. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Herr Kollege Beck hatte heute schon genug Gelegen- Herzlichen Dank. heit, sich zu produzieren. Ich möchte gerne in meiner Rede fortfahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der Beschwerdeführer hatte die Ungleichbehandlung Herr Kollege Harbarth, auch Ihnen gratuliere ich im von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Be- Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen reich der betrieblichen Hinterbliebenenrente gerügt. Das Bundestag. 1800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Für Sie gilt ebenfalls, dass Sie weiterhin aufmerksam Veranstaltungen von Schwulen und Lesben übernommen (C) sein sollten; denn der Kollege Beck hat eine Kurzinter- haben. vention beantragt. Er erhält jetzt die Gelegenheit dazu. Bitte schön, Herr Beck. (Christine Lambrecht [SPD]: Da seid ihr groß!)

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Herr Beck, das ist möglicherweise bei Ihnen noch Herr Kollege Harbarth, bislang beschränkte sich die nicht angekommen. Das passt nicht in das Bild, das Sie Zivilcourage der Unionsfraktion eigentlich darauf, alle von der Union zeichnen wollen. Wir sind wesentlich Anträge und Vorstöße zur Gleichstellung von Lesben weiter, als Sie denken. und Schwulen im Bundestag abzulehnen. Das haben wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – in den letzten Jahrzehnten immer wieder erfahren. Christine Lambrecht [SPD]: Im Übernehmen Sie haben hier wortreich erklärt, wie man Verfas- von Schirmherrschaften seid ihr groß!) sungsrechtsänderungen diskutieren sollte: Es soll keine Herr Beck, Sie können über Deutsch in der Verfas- Klarstellungen im Text geben, und es soll auch keine sung lange fabulieren, es ändert nichts daran, dass in symbolische Bedeutung haben. – Ich habe gehört, dass dem Punkt, den wir heute im Plenum diskutieren, der Sie in der Koalition vereinbart haben, „Deutsch“ ins Schutz, den die Verfassung etabliert, völlig ausreichend Grundgesetz zu schreiben. Dazu gibt es eine Beschluss- ist. Daran ändern Ihre Ausführungen nichts! Deshalb lage der CDU Deutschlands – auf Antrag des Landesver- lassen wir das Grundgesetz so, wie es ist. Es ist die beste bands Saar –, die folgenden Wortlaut hat: Verfassung, und so soll es bleiben. Die CDU Deutschlands setzt sich für die Veranke- Herzlichen Dank. rung der deutschen Sprache im Grundgesetz ein. Dies soll durch einen Zusatz in Artikel 22 des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Grundgesetzes erfolgen, mit dem Wortlaut: Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Also kein Deutsch in das Grundge- – man beachte das, weil der Satz zahlreiche neue Er- setz!) kenntnisse enthält – „Die Sprache der Bundesrepublik ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. – raten Sie! – Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- Deutsch“. (B) würfe auf den Drucksachen 17/88, 17/254 und 17/472 an (D) Wie wird das vom Landesverband der CDU begrün- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- det? Es heißt da: schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Durch die Erhebung der deutschen Sprache in den schlossen. Verfassungsrang machen wir deutlich, welche Be- deutung und Wertschätzung wir unserer Sprache Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 2 auf: einräumen. Aktuelle Stunde Durch die Erhebung des Diskriminierungsschutzes auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE für Lesben und Schwule in den Verfassungsrang wollen GRÜNEN wir deutlich machen, dass der Respekt vor der Würde al- ler Menschen, auch der von Lesben und Schwulen, bei Einstieg in die Kopfpauschale – Weniger Netto uns eben Verfassungsrang hat. Wir wollen das entspre- vom Brutto für die Beitragszahler der gesetz- chend hervorheben. lichen Krankenversicherung Wenn Sie die Worte, die Sie hier geäußert haben, (Unruhe) ernst meinen, müssten Sie sagen: Die Union lässt die – Ich bitte die Kollegen, die dieser Debatte nicht folgen Forderung, die ich gerade zitiert habe, fallen, weil das wollen, den Saal zu verlassen, damit die anderen ihre nicht in ihr verfassungsrechtliches Konzept passt. Aufmerksamkeit dem Redner widmen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- bei der SPD und der LINKEN) ner dem Kollegen Fritz Kuhn von Bündnis 90/Die Grü- nen das Wort. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Kollege Harbarth, zur Erwiderung. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Kollegen! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, Sehr geehrter Herr Kollege Beck, ich komme aus ei- weil eine Reihe von gesetzlichen Krankenkassen Zusatz- nem Bundesland, aus Baden-Württemberg, in dem füh- beiträge erheben werden. Ihre Wirtschaftspolitik folgt rende Repräsentanten der CDU und Repräsentanten der der Melodie „mehr netto vom Brutto“. Viele Menschen Landesregierung beispielsweise Schirmherrschaften für haben demnächst allerdings weniger netto vom Brutto; Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1801

Fritz Kuhn (A) denn das, was die Leute als Zusatzbeiträge zu zahlen ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) ben, fehlt ihnen im Geldbeutel. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben ge- rade die Unwahrheit gesagt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir finden, dass diese Zusatzbeiträge als Teilelement des Gesundheitsfonds nichts anderes sind als der Ein- Ich persönlich finde, dass ein gehörig Maß an Heu- stieg in eine Kopfpauschale. Wenn man beim Gesund- chelei in der Debatte ist. heitsfonds die 1-Prozent-Grenze und die 95-Prozent- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Mit Grenze abschafft, kann man schrittweise zu einer Kopf- Heuchelei kennen Sie sich ja aus!) pauschale übergehen. Wir halten eine Kopfpauschale für grundfalsch, weil sie eine Entsolidarisierung der gesetz- Die Zusatzbeiträge, die jetzt erhoben werden, sind näm- lichen Krankenversicherung bedeutet. Vor allem wird lich ein konstitutiver Teil des Gesundheitsfonds, den die durch sie das Prinzip geschwächt, dass diejenigen, die Große Koalition vor einigen Jahren beschlossen hat. Sie breitere Schultern haben, mehr einzahlen – bis zur Bei- haben einen strukturell unterfinanzierten Gesundheits- tragsbemessungsgrenze –, damit alle Menschen in die- fonds beschlossen – so lautete unsere damalige Kritik – sem Land vor den Kosten von Krankheit geschützt sind. und das Erheben von Zusatzbeiträgen einkalkuliert. Man darf sich deswegen jetzt nicht wundern und sagen: Huch, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Zusatzbeiträge kommen auch noch. bei der SPD und der LINKEN) Ich muss die Abgeordneten der Union fragen, ob sie Gesundheitsminister Rösler hat erklärt, er wolle mit bei der Inkraftsetzung des Meisterwerks Gesundheits- den Zusatzbeiträgen nichts zu tun haben; dafür macht er fonds von Frau Merkel eigentlich dabei waren. freundlich die CDU verantwortlich. Er hat gesagt, diese Beiträge seien nicht sozial. Das ist richtig. Was die Kopf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pauschale angeht, setzt er auf eine Regelung über einen Die Überraschung, die Frau Merkel jetzt an den Tag legt, Steuerausgleich. Er möchte, dass Solidarität über das ist doch nur geheuchelt. Diejenigen von der Union oder Steuersystem praktiziert wird. Wir halten das für falsch. von der SPD, die sich an diesen Zusatzbeiträgen jetzt Wenn Solidarität über das Steuersystem praktiziert wird, stören, müssen einmal deutlich sagen, dass es ein Fehler ist der Bezug viel indirekter als in der gesetzlichen Kran- war, diesen Gesundheitsfonds einzurichten; schließlich kenversicherung. Herr Rösler, darüber müssen wir uns ist das Erheben von Zusatzbeiträgen ein konstitutives einmal unterhalten. Bis zur Beitragsbemessungsgrenze in Element dieses Fonds, durch das einer so einseitigen die gesetzliche Krankenversicherung und damit in ein Verteuerung – nicht zulasten der Arbeitgeber, sondern und denselben Topf einzuzahlen, ist doch etwas anderes, (B) ausschließlich zulasten der Arbeitnehmer und der Ar- als abstrakt etwas mehr Steuern zu zahlen. (D) beitslosen – Tür und Tor geöffnet wird. Das haben Sie (Heinz Lanfermann [FDP]: Steuern sind nie ab- verursacht; also müssen Sie jetzt auch dazu stehen. strakt! Steuern sind wirklich, Herr Kuhn!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unser Hauptkritikpunkt an Ihrem System ist, dass Sie Es bedarf keines Verweises auf das Kartellamt oder et- die damit verbundenen Kosten von maximal 35 Milliar- was anderes; denn Sie haben den Gesundheitsfonds be- den Euro nicht decken können und dennoch so tun, als schlossen. Das, was Sie beschlossen haben, können Sie könnten Sie diese Politik betreiben. ändern, wenn Sie es wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für uns ist klar: Diese Zusatzbeiträge bedeuten eine sowie bei Abgeordneten der SPD) weitere Entsolidarisierung des Gesundheitssystems. Sie Wir wollen nicht vergessen, was Sie in der Steuerpolitik führen dazu, dass die Parität weiter verschlechtert wird, vorhaben: Sie wollen die Progression aushebeln, einen und sie führen auch zu sozialen Schieflagen. Personen in Stufentarif schaffen, einen Spitzensteuersatz von 35 Pro- Arbeitslosengeld-II-Haushalten müssen diese 8 Euro be- zent beschließen und somit für die Spitzenverdiener eine zahlen; Gutverdiener können sie sogar von der Steuer Art steuerliche Flatrate herbeiführen. Wer wie die FDP absetzen. Das heißt, es entsteht eine zusätzliche Schief- so etwas befürwortet, der kann mir nicht erzählen, dass lage. Wir müssen mit diesem Unsinn Schluss machen. die Bestverdienenden nach Umsetzung dieser Pläne ei- Sorgen Sie dafür, dass Zusatzbeiträge nicht mehr erho- nen größeren Solidaritätsbeitrag leisten, als es gegen- ben werden können! wärtig der Fall ist. Wenn Sie, Herr Rösler, Probleme mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Solidarität haben, dann sollten Sie darüber nachden- ken, ob die Beibehaltung der Beitragsbemessungsgrenze Es gibt eine besondere Perfidie. Die SPD hat in die- richtig ist, aber nicht solch einen Unsinn in diesem kom- sem falschen System Gott sei Dank immerhin die 1-Pro- plexen System machen. zent-Grenze durchgesetzt. Die CDU hat durchgesetzt, dass die 1-Prozent-Grenze als Belastungsobergrenze erst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ab einem Zusatzbeitrag von 8 Euro gilt. Weil die Große sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Koalition diese Untergrenze eingezogen hat, verlangen KEN) einige gesetzliche Krankenkassen jetzt 8 Euro. Ohne diese Untergrenze wäre die Entwicklung ganz anders; Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: das muss man der Wahrheit halber schon sagen. Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kuhn. 1802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 3,9 Milliarden Euro mehr aus Steuermitteln zur Verfü- (C) Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Aber selbst gung. dann, wenn man das ablehnt, was Sie vorhaben, haben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wir immer noch eine Zweiklassenmedizin und ein fal- Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist sches Gesundheitssystem. Dagegen müssen wir sowohl Solidarität!) auf der Ausgaben- wie auf der Einnahmeseite etwas tun. Wir haben ein vernünftiges Konzept. Wir schlagen eine Damit werden 2010 rund 9 Prozent der Ausgaben der ge- Bürgerversicherung vor, die die Solidaritätsbasis verbrei- setzlichen Krankenversicherung aus Steuermitteln finan- tert und damit Solidarität erneuert und nicht abschafft, ziert. Dies ist gegenüber 2008 viereinhalbmal mehr und wie von der FDP vorgesehen. ein deutlicher Beleg für Solidarität; denn Gutverdiener tragen den Löwenanteil des Steueraufkommens. Danke. Dennoch wissen wir alle, dass so das erwartete Defizit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in der Krankenversicherung nicht vollständig aufgefan- bei der SPD und der LINKEN) gen werden kann; denn wir haben natürlich auch Ausga- bensteigerungen zu erwarten. Ich darf daran erinnern, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass in der letzten Legislaturperiode Verbesserungen bei Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Stracke von der ambulanten Versorgung und im Krankenhausbereich der CDU/CSU-Fraktion. und damit einhergehende Ausgabensteigerungen poli- tisch und gesellschaftlich gewünscht waren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jawohl!) Stephan Stracke (CDU/CSU): Es bestand auch in diesem Hohen Hause ein ganz breiter Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten gesellschaftlicher Konsens, im Zuge der Einführung des Damen und Herren! Im Gegensatz zu dem, was Herr Gesundheitsfonds auch Leistungen auszuweiten. Denje- Kuhn gesagt hat, ist festzuhalten: Die christlich-liberale nigen, die an all das nicht mehr erinnert werden wollen, Koalition steht für mehr netto vom Brutto. sei gesagt: Ihr Platz ist zu Recht in der Opposition. Nut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- zen Sie diesen zur politischen Reha! Sie haben es nötig. rufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN) Fünf gesetzliche Krankenkassen haben nun angekün- Wir sind es, die mit dem Wachstumsbeschleunigungsge- digt, Zusatzbeiträge einzuführen. Damit müssen von 70 Mil- (B) setz jährlich für Entlastungen von Bürgern und Unter- lionen Versicherten laut Medienberichten rund 7 Millio- (D) nehmen in Höhe von 8,5 Milliarden Euro sorgen. Wir nen zahlende Mitglieder mit einem Zusatzbeitrag von sind es, die einen Schutzschirm für Arbeitnehmerinnen 8 Euro rechnen. Die Barmer GEK, die größte deutsche und Arbeitnehmer spannen und die konjunkturbedingten Krankenversicherung mit 8,5 Millionen Versicherten, Mindereinnahmen in der Arbeitslosenversicherung und macht dies beispielsweise nicht. Dies bestätigt: Die Erhe- der Krankenversicherung mit Steuermitteln auffangen. bung von Zusatzbeiträgen kann durch wirtschaftliches Agieren vermieden werden. Die Erhebung von Zusatz- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr beiträgen in dieser Situation ist kein Naturgesetz. richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Von diesen Maßnahmen profitieren vor allem Familien und Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen, Der kassenindividuelle Zusatzbeitrag stellt für die und mit diesen Maßnahmen, Herr Kuhn, helfen wir, die Krankenkassen ein zusätzliches Wettbewerbsinstrument Lohnnebenkosten stabil zu halten. Dies tun wir, um in dar. Jetzt ist es an den von der Erhebung von Zusatzbei- der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Beste- trägen betroffenen Versicherten, zu entscheiden, ob sie hen der Bundesrepublik Deutschland Arbeitsplätze zu si- nach Abwägung aller Vor- und Nachteile in ihrer Kasse chern. bleiben oder in eine andere Kasse wechseln. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) werden im Jahr 2010 die Einnahmen voraussichtlich um rund 7 Milliarden Euro übersteigen. Ursache dieses De- Diese Entscheidung zu fällen, kann man wirklich jedem fizits ist im Wesentlichen nicht eine Ausgabenexplosion, in dieser Bundesrepublik zumuten. Das ist Ausdruck ei- sondern die Einnahmeschwäche der gesetzlichen Kran- nes mündigen, eigenverantwortlichen Patienten und Ver- kenversicherung infolge der Finanz- und Wirtschafts- sicherten. krise. Die Opposition – auch der Teil, der das GKV-WSG (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und verfasst hat – ist selbstverständlich schnell mit abstrak- der FDP) ten Hinweisen auf Einsparmöglichkeiten auf dem Markt, bezeichnenderweise auch die Krankenkassen selbst. Es Es ist die christlich-liberale Koalition – das ist entgegen wird Aufgabe der Bundesregierung in dieser Legislatur- dem, was Sie hier ständig behaupten, festzuhalten –, die periode sein, konkrete Einsparpotenziale zu heben. Da- in dieser Situation die Krankenversicherten nicht allein- bei ist auch das Instrument des Vertrages, des Gebens lässt. Deshalb stellen wir der Krankenversicherung und Nehmens, sicherlich sinnvoll. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1803

Stephan Stracke (A) Ich plädiere dafür, die möglichen Einsparpotenziale muss ermöglicht werden, dass die Arzneimittel in (C) durch Effizienzsteigerungen gründlich zu erarbeiten und Deutschland billiger auf den Markt kommen. Unsere nicht auf die Schnelle etwas auf den Weg zu bringen. Arzneimittel werden nicht innovativer, nur weil sie zu Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. In diesem Sinne höheren Preisen auf den Markt kommen. wünsche ich dem Bundesgesundheitsminister und der Koalition bei ihren Bemühungen alles Gute. (Beifall der Abg. [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Man braucht politisches Kapital, um sie umzusetzen. Wir benötigen nicht die Erlaubnis der Pharmaindustrie, in der Politik Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: solche Vorschläge zu machen. Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Lauterbach von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD – Stefan Müller [Erlan- gen] [CDU/CSU]: Uns bleibt auch nichts er- Bisher hören wir bei den Empfängen von den Apothe- spart heute!) kern, den Fachärzten und der Industrie, dass ein neuer Politikstil zu erwarten ist, auf den man sich freue. Der Dr. Karl Lauterbach (SPD): Bürger dagegen soll schrittweise an ein neues System Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Kopfpauschalen gewöhnt werden. Er soll sozusagen den Medien ist in diesen Tagen zu lesen, dass Gesund- über kleine Kopfpauschalen auf die großen Kopfpau- heitsminister Rösler jetzt den Kampf gegen die Kosten- schalen vorbereitet werden. Aber wie logisch ist das explosion im Gesundheitswesen aufnehmen möchte. Prinzip, die kleine Kopfpauschale als ungerechten Murks abzutun, aber gleichzeitig für die große Kopfpau- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Kampf ha- schale zu werben, für die man keinen sozialen Ausgleich ben Sie ja schon lange verloren!) konkret benennen und die man nicht bezahlen kann? Gleichzeitig ist zu hören, dass er sofort zur schärfsten Wie soll das funktionieren? Glaubt denn die Koalition Waffe des neuen Politikstils greift: Man will sich mit den tatsächlich, der Bürger wäre so dumm, zu glauben, dass Lobbyisten der Pharmaindustrie am runden Tisch tref- die kleine Kopfpauschale ungerecht ist, die große Kopf- fen. pauschale sei es aber nicht? Für wie dumm hält man den Bürger? Vielleicht ist die Industrie tatsächlich bereit, eine Spende an den Bürger zu entrichten, nachdem der wich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tigste Pharmakritiker, Professor Sawicki, geopfert wurde. DIE GRÜNEN) (B) (D) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Der Bürger wird genau sehen – Frau Merkel hat das der FDP) längst bemerkt –, dass dafür weder Geld im Haushalt vorhanden ist noch die Unterstützung der Bevölkerung Aber wie viel wahrscheinlicher ist es, dass dabei nichts gegeben ist. Wer in der Bevölkerung verlangt denn der- herauskommt als heiße Luft und ein paar salbungsvolle zeit eine einkommensunabhängige Kopfpauschale, bei Absichtserklärungen? Nicht ein einziger Euro in diesem der die Putzfrau so viel bezahlt wie der Bankkaufmann System wird durch Kuschelrunden mit den Lobbyisten oder der Manager? Wer braucht das heutzutage? Worauf aus der Pharmaindustrie gespart werden können. würden denn diese Vorschläge hinauslaufen? Die Vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz schläge liefen doch nur darauf hinaus, dass die Arbeitge- Lanfermann [FDP]: Er weiß wieder alles vor- ber und die Gutverdiener mit einer Steuersubvention ent- her!) lastet würden. Das wären die Einzigen, die davon profitieren würden. Weshalb brauchen wir in der Zeit Herr Kollege Rösler, wenn Sie sich mit der Pharmain- von Minilöhnen, in der die Leute von ihrem Nettolohn dustrie an einen Tisch setzen und um Sparvorschläge bit- kaum leben können, eine Belastung der Nettolöhne ten, dann ist das so ähnlich, als wenn Sie die Frösche bit- durch neue Pauschalen und eine zusätzliche Belastung ten würden, Vorschläge zur Trockenlegung der Sümpfe der Steuerzahler, nur damit Arbeitgeber und Gutverdie- vorzutragen. ner weiter entlastet werden? Das will doch niemand in (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Deutschland. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist wie Kraut Ist ein ehemaliger Wirtschaftsminister wirklich so naiv, und Rüben, was Sie da erzählen!) zu glauben, die Industrie würde Vorschläge zur Be- Die Wähler werden bei der Landtagswahl in Nordrhein- schränkung der eigenen Gewinne vortragen? Westfalen der FDP für diese Vorschläge, die als Bedro- Wir brauchen keine Kuschelrunden mit den Lobbyis- hung empfunden werden, die Quittung geben. ten, sondern wir brauchen ganz konkrete Vorschläge, wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Gesundheitssystem gespart werden kann. Dazu gehört DIE GRÜNEN) zum Beispiel – statt der jetzt vorgesehenen Einschrän- kung der ohnedies nicht weitgehenden Vorschläge – die Was wir derzeit brauchen, sind Vorschläge für echten Erweiterung der Möglichkeiten der Kassen, Rabattver- Wettbewerb. Die FDP posiert gerne als Partei des Wett- träge mit den Arzneimittelfirmen einzugehen. Zudem bewerbs. In Wahrheit aber sind die FDP und die Links- 1804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dr. Karl Lauterbach (A) partei beim Wettbewerb Brüder im Geiste. Das sind die oder die CDU daran schuld sei, dass so etwas passiert. (C) beiden Parteien, die den Wettbewerb im Gesundheitssys- Über unseren Koalitionspartner will ich jetzt gar nicht tem am vehementesten ablehnen. reden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das sollten Sie bei der FDP – Heinz Lanfermann [FDP]: aber!) Abenteuerlich!) Aber über die FDP kann ich sehr gut reden; denn wir Niemand hat mehr Angst vor dem Wettbewerb im Ge- sind überhaupt keine Verfechter dieses Systems. Es ist sundheitssystem als die Linkspartei und die FDP, wenn unsozial, weil dieser Zusatzbeitrag jeden trifft. Genau auch aus unterschiedlichen Gründen; das ist ganz klar. das, was Sie uns vorwerfen, tun Sie doch mit Ihrem Sys- tem. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was sagt denn die Linkspartei dazu?) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau!) Aber Apotheker, Pharmaindustrie und Fachärzte haben Der Zusatzbeitrag wirkt natürlich bei jemandem, der we- hohe Erwartungen. nig verdient, in einem ganz anderen Ausmaß als bei je- mandem, der viel verdient. Mein letzter Rat, da meine Zeit abgelaufen ist: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr! – (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der FDP) Schaffen Sie das doch ab!) Die FDP tut den Staat als teuren Schwächling ab. Beide zahlen gleich viel. Wo ist denn da die Gerechtig- Gleichzeitig soll dieser teure Schwächling den Sozial- keit, die Sie einfordern? ausgleich für die Entlastung der Gutverdienenden lie- (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: fern. Nicht, dass zum Schluss die ersten Repräsentanten Schämen Sie sich, Herr Lauterbach!) des Staates als die wirklichen Schwächlinge im Umgang mit den Lobbygruppen dastehen! Der Einzige, der etwas für die Menschen in diesem Land getan und dafür gesorgt hat, dass sie auf die Partei Vielen Dank. vertrauen können, die sie gewählt haben, weil sie dafür (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ steht, dass mehr netto vom Brutto bleibt, ist doch Philipp DIE GRÜNEN) Rösler. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND- (D) Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Flach von der NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber doch FDP-Fraktion. nicht gekommen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wer hat denn dafür gesorgt, dass der Zuschuss kam? Das der CDU/CSU) war doch nach der Wahl, nicht vor der Wahl. Sie haben uns ein System überlassen, in dem genau diese 3,9 Milliarden Euro fehlen. Ulrike Flach (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Lauterbach, ich muss mich erst einmal im Namen NEN]: Sie wollen ja noch mehr von diesem der FDP-Fraktion für die ordnungsgemäße Übergabe des System!) maroden Gesundheitssystems bedanken, das Sie uns im Natürlich kann man in jeder Fernsehsendung neu erzäh- November hinterlassen haben. len, die anderen seien schuld (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist doch die der CDU/CSU) Wahrheit!) Haben Sie eigentlich eine Erinnerung daran, was Sie uns und man hätte schon über Weihnachten Ausgabenstopp- hinterlassen haben? Wer hat denn dafür gesorgt, dass programme produzieren müssen. Aber, lieber Herr jetzt Zusatzbeiträge erhoben werden? Lauterbach, wo waren denn Ihre Ausgabenstopppro- (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb gramme? [FDP]: Sie, Herr Lauterbach!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Fehlan- Wer hat denn dieses Gesetzesvorhaben auf den Weg ge- zeige!) bracht? Wer hat denn für die Unterfinanzierung im Sys- Sie haben doch vor der Wahl jede Menge Mehrkosten tem gesorgt? Das war doch von vornherein so gewollt. auf den Weg gebracht. Sie wollten doch, dass Zusatzbeiträge erhoben werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Jetzt erzählen Sie den Leuten, dass die FDP der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Es gab keine Zusatzbeiträge bei uns!) (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Nicht die FDP, die CDU!) Wer war das denn? Das war nicht Herr Rösler. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1805

Ulrike Flach (A) Herr Rösler muss in dieser Legislaturperiode ein Sys- chen noch ein paar Fernsehsendungen zusammen, lieber (C) tem schaffen, das für die Menschen in Zukunft etwas Po- Herr Lauterbach; dann kann ich Sie vielleicht überzeu- sitives darstellt. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. gen. Wir sagen: Jeder soll eine einkommensunabhängige Prä- Ansonsten wünsche ich dem Minister alles Gute für mie zahlen, und derjenige, der dies nicht kann, bekommt die nächsten Monate. Es wird eine schwere Aufgabe. einen Sozialausgleich. Aber wir sind an Ihrer Seite. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aus Steuern!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Genau das fehlt in Ihrem System. Dieses Element wird Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der es in dem Konzept geben, das wir auf den Tisch legen Fraktion Die Linke. werden. (Beifall bei der LINKEN – Johannes Sie sagen, Herr Rösler habe zu lange gewartet, bis er Singhammer [CDU/CSU]: Was sagen Sie zu reagiert hat. Wir werden in diesen Tagen die Arbeit der Herrn Lauterbach?) Kommission in Angriff nehmen. Die Kommission wird uns bis Mitte des Sommers Vorschläge unterbreiten. Sie hat an erster Stelle den Auftrag, einen Sozialausgleich Kathrin Vogler (DIE LINKE): herbeizuführen, lieber Herr Lauterbach. Nicht den Rei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe chen soll mehr gegeben werden, sondern es soll dafür Kolleginnen und Kollegen! Wie wir gerade gehört ha- gesorgt werden, dass es in Zukunft einen entsprechenden ben, werden in Kürze einige gesetzliche Krankenkassen Sozialausgleich im Gesundheitssystem gibt. einen Zusatzbeitrag von 8 Euro pro Versicherten einfüh- ren. Millionen Versicherte werden mit dem gleichen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Eurobetrag zur Kasse gebeten, unabhängig von ihrem Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist im Inte- Einkommen. Diese kleine Kopfpauschale bereitet den resse der Menschen mit kleinem Einkommen!) Weg in die schwarz-gelbe Kopfpauschale, die dann dazu Wir wollen das nicht auf die bürokratische Art und führt, dass die Rentnerin mit einer Rente von 600 Euro Weise machen – das posaunen Sie ja immer so wunder- ebenso viel für die Krankenversicherung zahlen soll wie schön in der Welt herum –, wie der Gesundheitsfonds etwa ein Angestellter mit einem Einkommen von jetzt agiert. 3 500 Euro; das haben wir schon gehört. (Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜND- (Heinz Lanfermann [FDP]: Mein Gott, Sie ha- (B) (D) NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer ben es immer noch nicht verstanden!) Zwischenfrage) – Ja, ich habe es nicht verstanden. Vielleicht erklären Sie – In einer Aktuellen Stunde kann man leider keine Zwi- mir das noch einmal in Ruhe. schenfrage stellen. – Das jetzige System ist von Büro- (Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann kratie geprägt. Der Gesundheitsminister hat allen ein un- [FDP]: Offensichtlich haben Sie es nicht ver- bürokratisches System versprochen. Der Sozialausgleich standen! Sie müssen einmal darüber nachden- wird so einfach wie möglich gefasst. Das ist die Aufgabe ken, was Sozialausgleich heißt!) der Kommission. Mit dieser Perspektive werden wir in die nächsten Monate gehen. – Herr Lanfermann, ich muss jetzt Herrn Lauterbach et- was sagen. Lieber Herr Lauterbach, zum Thema, wie wir mit Ausgabensteigerungen umgehen. Nicht nur, dass wir erst (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau, einmal damit umgehen müssen, was wir von Ihnen über- sagen Sie mal etwas zu ihm!) lassen bekommen haben! Herr Rösler hat vor wenigen Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Tagen gesagt, dass jetzt Teilgebiet für Teilgebiet seziert bei Ihnen läuft es ja immer so: Sie wollten eigentlich wird. Es wird nachgedacht, und dann wird gehandelt, schon immer eine solidarische Bürgerversicherung. Aber und zwar in überlegten Schritten, in den sieben Jahren Rot-Grün haben Sie das nicht hin- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Die Zeit läuft!) bekommen. Danach wollten Sie mit der dritten Partei, die das auch so sieht, nicht zusammenarbeiten. nicht in hastigen Kostendämpfungsschritten, wie es un- sere Freundin Ulla Schmidt über viele Jahre praktiziert (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat. Alles, was schnell und mit heißer Nadel gestrickt NEN]: Sie haben noch nicht einmal einen Vor- wurde, haben wir wieder auf dem Tisch. Dies alles hat stand! Wie soll man da zusammenarbeiten?) sich nicht bewährt, sondern zu einem System geführt, Weil Sie dann mit der Union regiert haben, mussten Sie mit dem wir alle nicht zufrieden sind. Wir wissen, dass leider etwas machen, was Sie gar nicht wollten, in die- wir mit den Mitteln, die im Augenblick im Etat vorgese- sem Fall einen Gesundheitsfonds einführen, der so un- hen sind, nicht auskommen. terfinanziert ist, dass die gesetzlichen Krankenkassen in Da ich auch als Haushälterin spreche, hoffe ich sehr, Schwierigkeiten kommen müssen. Weil Sie aber die Bei- dass Sie vielleicht doch zu der Erkenntnis kommen, dass träge für die Arbeitgeber absolut nicht erhöhen wollten, Sie den Vorschlägen der FDP folgen könnten. Wir ma- müssen die Versicherten das Defizit alleine ausgleichen. 1806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Kathrin Vogler (A) Dafür bauen die Krankenkassen schon einmal einen aufenthalten oder in der Apotheke beschlossen hat? Da (C) Apparat auf, mit dem sie diesen Zusatzbeitrag direkt von waren Sie doch dabei. den Mitgliedern kassieren können, inklusive Buchfüh- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rung, Rechnungsstellung, Mahnverfahren und Inkasso. Wir erinnern uns!) Damit liefern Sie die Steilvorlage für Herrn Dr. Rösler Damit haben Sie die Gesunden entlastet und die Kranken und seine FDP. Er braucht nur noch ein paar gesetzgebe- zur Kasse gebeten. Auch dass die Versicherten inzwi- rische Schräubchen zu drehen und schon hat er seine schen 0,9 Prozentpunkte mehr zahlen müssen als die Ar- große Kopfpauschale: eine Krankenversicherung, in der beitgeber, geht zur Hälfte auf Ihr Konto. die Armen künftig mehr und die Reicheren weniger an Beitrag zahlen. Herr Kuhn, Herr Lauterbach, das haben Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD Sie eindrucksvoll geschildert. So funktioniert das: Die und Grünen, mit uns gegen die Kopfpauschale kämpfen SPD will das Soziale, aber leider kommt dann doch wie- wollen, dann ist das gut. Aber wenn Sie es ehrlich mei- der das FDP-Modell heraus. Das ist – wir haben es von nen, dann unterstützen Sie uns auch in unserem seit Jah- den Grünen und von der SPD gehört – ausgesprochen un- ren andauernden Kampf gegen Praxisgebühr, Zuzahlun- sozial. gen und Leistungsausschlüssen. Ich lade Sie ein: Streiten Sie mit uns für eine solidarische, paritätisch finanzierte (Beifall bei der LINKEN) Bürger- und Bürgerinnenversicherung, in die alle den Auch in der Union wird momentan kräftig nach links gleichen Prozentsatz einzahlen, von der Friseurin bis geblickt, um dann umso steiler nach rechts abzubiegen. zum Manager. Wenn Sie, lieber Herr Kollege Spahn, im Gesundheits- Vielen Dank. ausschuss unseren Antrag gegen die Kopfpauschale zur Abstimmung zugelassen hätten, dann hätte man gese- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der hen: Sie sind gar nicht gegen die Kopfpauschale, auch FDP: Wie in der DDR!) wenn Herr Söder und die CSU immer mal wieder so tun als ob. Schließlich haben Sie schon alles dafür vorberei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tet. In Ihrem Wahlprogramm heißt es – ich zitiere –: Das Wort hat jetzt der Kollege Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion. Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik von CDU und CSU stehen die Patienten und Versicherten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gerade im Umgang mit Kranken, Älteren und Schwachen zeigt die Gesellschaft ihr soziales Ge- Jens Spahn (CDU/CSU): (B) sicht und ihr Wertefundament. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, (D) (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Genau so ist Herr Kuhn, Sie haben recht: Die Zusatzbeiträge waren es!) politisch gewollt. Wir als Union stehen auch zu dem, was wir beschlossen haben und machen uns nicht wie Ihrem Wertefundament entspricht es also, dass Schwa- Sie politisch vom Acker. che ebenso viel schultern sollen wie Starke; denn darauf läuft das Ganze wohl hinaus. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wenn zum Beispiel Herr Dr. Rösler von Frau Herr Lauterbach, es ist schlicht und ergreifend schlechter Dr. Merkel offenbar die klare Ansage bekommt, dass politischer Stil, erst in der Großen Koalition etwas zu be- sein geplanter Sozialausgleich auf keinen Fall Kosten schließen und sich dann so zu äußern, wie Sie es in den verursachen darf, dann bedeutet das Folgendes: Die FDP letzten Tagen getan haben. will die Kopfpauschale. Die Union will keine zusätzli- chen Staatsausgaben. Das heißt, beide wollen die Kopf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) pauschale und keinen Sozialausgleich. Man muss nicht mit allem inhaltlich übereinstimmen, (Beifall bei der LINKEN) was Frau Schmidt getan hat. Aber an einem sollten Sie sich ein Beispiel nehmen: Sie hat zwar vieles beschlos- Das sagen Sie aber noch nicht, weil Sie im Mai in NRW sen, was wir nicht wollten, aber sie hat immer zu dem noch gewählt werden wollen. gestanden, was sie beschlossen hat. Das ist Ihnen leider (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: offensichtlich in Ihrem Oppositionschaos abhandenge- Das ist schon gelaufen!) kommen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen las- sen, Herr Kollege Lauterbach. So viel zum Wertefundament der Union. Wir dagegen sagen: Kopfpauschalen, ob klein oder groß, sind unso- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zial, und deswegen lehnt die Linke sie ab. Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ich bestreite ja nicht, was wir beschlossen haben!) (Beifall bei der LINKEN) Im Übrigen zeigen Sie in einem weiteren Bereich po- Noch ein Wort zu Herrn Kuhn. Auch die Grünen tei- litische Demenz. Sie sagen immer, wir sollten sparen, len unsere Ablehnung von Zusatzbeiträgen und Kopf- weil die Ausgaben stiegen. In den beiden großen Berei- pauschalen. Aber erinnert sich noch jemand, wer damals chen, in denen die Ausgaben steigen – bei den niederge- die Praxisgebühr und die Zuzahlung bei Krankenhaus- lassenen Ärzten und in den Krankenhäusern –, haben wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1807

Jens Spahn (A) gemeinsam in der Großen Koalition beschlossen, dass es sprechen bei 1 000 Euro Einkommen einem Unterschied (C) zu Ausgabensteigerungen kommen soll, weil wir insbe- von 13,8 Prozent zu 14,6 Prozent Beitragssatz zu frühe- sondere für die hausärztliche Versorgung etwa in Ost- rer Zeit. Das waren Unterschiede, die als ganz normal deutschland sowie für die Pflegesituation in Kranken- hingenommen wurden. Man sollte jetzt nicht so tun, als häusern, wo es zu Missständen gekommen ist, das nötige sei ein Beitragssatzunterschied der Untergang des Geld zur Verfügung stellen wollten. Abendlandes. Vor zwei oder drei Jahren haben Sie sol- che Unterschiede zwischen den Kassen nicht so kriti- (Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/ siert, wie Sie es hier gerade getan haben. CSU]) Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und sagen, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sparen sollen, dann sagen Sie auch, wo zum Beispiel bei Das Problem liegt darin – dieses Problems sollten wir der hausärztlichen Versorgung oder beim Krankenhaus- uns in dieser Koalition annehmen –, dass der Beitrag bei personal gespart werden soll. Überschriften alleine las- der 1-Prozent-Überforderungsklausel einfach nur ge- sen wir Ihnen nicht durchgehen. kappt wird, das Geld, das dadurch nicht fließt, den Kas- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl sen aber tatsächlich fehlt. Deswegen wollen wir die Zu- Lauterbach [SPD]: Apotheker!) satzbeiträge so weiterentwickeln, Wir haben die lohnunabhängige Finanzierung einge- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Also mehr Zu- führt, weil wir die Arbeitskosten entlasten wollten. satzbeiträge!) (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Bei Schlecker!) dass es zu einem Sozialausgleich aus Steuermitteln kommt. Dann sind tatsächlich alle an der Finanzierung Herr Kuhn, im Übrigen war das einmal die Argumenta- beteiligt. Vor allem aber – das ist wichtig – kommt so bei tionslinie von Rot-Grün. Als Sie die Erhöhung um den Kassen das entsprechende Geld an. 0,9 Prozentpunkte den Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmern allein aufgebürdet haben, war die Argumenta- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich tionslogik von SPD und Grünen – als Opposition haben glaube ja nicht, dass Sie das realisieren!) wir damals mitgemacht –: Wir wollen die Arbeitskosten in Deutschland entlasten, um im Wettbewerb mit ande- Wenn Sie wie vorhin die Dinge aufzählen, müssen Sie ren Ländern Arbeitsplätze dauerhaft in diesem Land zu auch darauf hinweisen, dass bis jetzt erst wenige von den sichern. Auch an diesem Punkt machen Sie sich langsam etwa 170 Kassen insgesamt einen Zusatzbeitrag nehmen. aber sicher vom Acker, Herr Lauterbach. 50 Kassen in Deutschland – darunter auch sehr große (B) Kassen – haben schon angekündigt, in nächster Zukunft, (D) (Heinz Lanfermann [FDP]: Der macht sich lä- in diesem Jahr, keinen Zusatzbeitrag nehmen zu müssen. cherlich!) Vier Kassen haben sogar schon angekündigt, in diesem Sie sollten Ihre Argumentationslogik auch vor dem Hin- Jahr Prämien an ihre Versicherten ausschütten zu wollen. tergrund des Themas „Arbeitsplätze in Deutschland“ Wir haben für Transparenz im Versicherungsmarkt ge- noch einmal überdenken. sorgt. Die Zusatzbeiträge in Euro machen jetzt jedem den Unterschied deutlich, und jeder kann selbst entschei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den, ob ihm das Preis-Leistungs-Verhältnis der jeweili- Natürlich enthält der Zusatzbeitrag, so, wie er heute gen Kasse gefällt oder nicht. Wenn nicht, dann kann man angelegt ist, bereits Elemente des sozialen Ausgleichs. wechseln. Genau das wollen wir im Wettbewerb der Es gibt eine 1-Prozent-Überforderungsklausel Kassen untereinander möglich machen. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Die Sie nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wollten!) Lieber Herr Kollege Lauterbach, machen Sie sich – insofern passt die Brutto-Netto-Debatte nicht so rich- keine Sorgen über unsere Ergebnisse bei den Wahlen in tig –, bei der das Gesamteinkommen und nicht nur das Nordrhein-Westfalen oder woanders. Im Unterschied zu lohnabhängige Einkommen berücksichtigt wird. Ihnen haben wir im vergangenen Jahr vor der Bundes- tagswahl gesagt, was wir anschließend tun wollen. Wun- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau! dern Sie sich nicht, wenn wir das jetzt tun, und wundern Das ist richtig!) Sie sich vor allem nicht, wenn wir es in dieser christlich- Das ist das Entscheidende. Es gibt viele Menschen mit liberalen Koalition frohen Mutes tun. kleinem Einkommen, die abhängig beschäftigt sind, die Danke schön. aber aus anderen Bereichen zusätzliche Einnahmen er- zielen, die bis jetzt gar nicht berücksichtigt werden. Bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieser Überforderungsklausel werden sie aber berück- sichtigt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie haben die 8 Euro angesprochen. Früher gab es Das Wort hat die Kollegin Dr. Carola Reimann von Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen. der SPD-Fraktion. Der Beitragssatz betrug bei der einen Kasse 13 Prozent und zum Beispiel hier in Berlin 16,7 Prozent. 8 Euro ent- (Beifall bei der SPD) 1808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Dr. Carola Reimann (SPD): setzlich Versicherten unerfreulich ist: Schwarz-Gelb hat (C) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- die Verantwortung in der Gesundheitspolitik. Die Wäh- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koali- ler haben Sie in die Verantwortung gewählt. Sie können tionsfraktionen, ich verstehe ja, dass Sie sich in einer un- sich jetzt nicht davonstehlen. angenehmen Situation befinden. (Ulrike Flach [FDP]: Das tun wir auch nicht! – (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Wir doch Heinz Lanfermann [FDP]: Wir sind doch alle nicht! – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie können da!) doch nicht gleich mit so einer Unterstellung Wenn Sie jetzt andere für Ihre eigenen Versäumnisse beginnen, Frau Kollegin!) verantwortlich machen, machen Sie es sich zu leicht. Sie In nur wenigen Wochen haben Sie sich mit einer bislang tun in den letzten Tagen gerade so, als sei der Zusatzbei- beispiellosen Klientelpolitik dermaßen in eine Sackgasse trag von der SPD erfunden worden. manövriert, dass Sie es inzwischen mit einer ganz brei- (Zurufe von der FDP: Ja!) ten Front der Kritik, nicht nur hier im Haus, zu tun ha- ben. Selbst diejenigen, die wohlwollend gestimmt wa- Das ist grober Unfug, und das wissen Sie alle. ren, können nur noch mit dem Kopf schütteln: erst die Klientelgeschenke für die Ärzte, für die private Kran- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike kenversicherung, für die Pharmalobby im Koalitionsver- Flach [FDP]: Was war denn mit Ulla trag – die kann man sich übrigens sparen, Herr Spahn –, Schmidt? – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie dann die Berufung eines hochrangigen PKV-Vertreters kennen Ihr eigenes Gesetz nicht mehr!) an die Ministeriumsspitze und zuletzt die unrühmliche Dies war die Bedingung für die Zustimmung der Union Rolle bei der Absetzung des pharmakritischen IQWiG- zum verbesserten Risikostrukturausgleich, krankheits- Chefs Sawicki. orientiert, und zu weiteren wichtigen Strukturreformen. Jetzt holt Sie auch noch die gesundheitspolitische Außerdem war es die SPD – das ist auch schon ange- Realität ein. klungen –, die darauf bestanden hat, dass es eine Über- forderungsklausel gibt, dass bei 1 Prozent des Einkom- (Ulrike Flach [FDP]: Also, das ist politische mens Schluss ist. Wäre es allein nach der CDU/CSU Demenz!) gegangen – Kollege Spahn hat es angekündigt –, hätten wir schon jetzt Zusatzbeiträge in ganz anderen Dimen- Am Montag dieser Woche haben die ersten Kassen sionen. Für uns Sozialdemokraten war immer klar, dass Zusatzbeiträge angekündigt. es Aufgabe der Regierung ist, alle gesetzgeberischen (B) (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Mittel zu nutzen, um die Erhebung von Zusatzbeiträgen (D) Haben Sie eben nicht zugehört?) zu vermeiden, beispielsweise auch durch Einsparungen im Pharmabereich. Was machen Sie? Sie zeigen mit den Fingern auf die an- deren: auf die Kassen und noch lieber auf die SPD. (Ulrike Flach [FDP]: Das haben Sie nicht ge- tan!) (Ulrike Flach [FDP]: Das ist auch richtig!) Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Wäre die SPD Um es gleich vorwegzunehmen: Die SPD stiehlt sich noch an der Regierung, hätte sie dieser Entwicklung nicht aus der Verantwortung. nicht tatenlos zugesehen, sondern Maßnahmen ergriffen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike die die Zusatzbeiträge auf breiter Front verhindern. Flach [FDP]: Haben Sie das Herrn Lauterbach (Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Das ha- auch schon gesagt?) ben Sie bisher aber gut verborgen!) Wir waren es, die die Gesundheitspolitik der letzten Genau das hat Minister Rösler versäumt. Das haben Sie Jahre gestaltet haben, und natürlich haben wir nicht im- sich selbst zuzuschreiben und niemand anderem, Herr mer alles richtig gemacht. Darunter war vieles, das Minister. Dass Sie sich jetzt aber auch noch hinstellen Kompromissen mit der Union geschuldet war. Nichts und scheinheilig die kleine Kopfpauschale beklagen, ob- von dem, was beschlossen wurde, ist in Stein gemeißelt. wohl Sie selbst eine große einführen wollen, das schlägt Es ist doch selbstverständlich, dass sich eine Partei, die dem Fass den Boden aus. vom Wähler in die Opposition geschickt wurde, pro- grammatisch weiterentwickelt und an manchen Stellen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Korrekturen vornimmt. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Ulrike Flach [FDP]: So nennt man das heute?) Ihr Ziel ist es doch, dass die Wohlsituierten künftig ge- nauso viel zahlen wie all diejenigen, die den Euro zwei- Wir nehmen die Botschaften, die uns unsere Wählerin- mal umdrehen müssen. Das ist ungerecht und unsozial. nen und Wähler im letzten Jahr mitgegeben haben, ernst. Es wäre gut, wenn auch Sie das täten; dann sähe Ihre Po- (Ulrike Flach [FDP]: Aber das haben Sie doch litik anders aus. erfunden!) Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und Der Sozialausgleich, den Sie angeblich einführen wol- der FDP, auch wenn es für uns und die 70 Millionen ge- len, wird das Problem nicht beheben. In Wahrheit ist er Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1809

Dr. Carola Reimann (A) nichts anderes als ein sozialpolitisches Feigenblatt, das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) Ihre Pläne zur Umverteilung von unten nach oben ka- der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: schieren soll. Von der CDU!) (Ulrike Flach [FDP]: Oh Gott!) Die christlich-liberale Koalition hat sich zum Ziel ge- setzt, unser Gesundheitswesen zukunftsfest zu machen. Denn Sie wissen genauso gut wie ich – Sie sind Haus- Denn was mussten wir in der Vergangenheit nach jeder hälterin –, dass Ihnen dafür schlicht das Geld fehlt. Wahl erleben? Nach jeder Wahl kam ein Kostendämp- (Ulrike Flach [FDP]: Im Gegensatz zu Ihnen fungsgesetz und dann, zur Mitte des Legislaturperiode, weiß ich, was kommt!) eine große Reform, eine Jahrhundertreform des Gesund- heitswesens. Das hat alles komplizierter gemacht und Sie müssen allein 60 Milliarden Euro einsparen, um die bürokratischer; besser – für die Versicherten – ist es aber Schuldenbremse einzuhalten. Woher sollen dann 25 bis nicht geworden. 35 Milliarden Euro für einen Sozialausgleich kommen? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Heinz Lanfermann [FDP]: Das sind doch der CDU/CSU) Fantasiezahlen von Herrn Lauterbach! Die ha- Wir wollen eine grundlegende Reform. Wir wollen ei- ben keinerlei Bestand! – Widerspruch des nen Krankenversicherungsschutz mit sozialem Aus- Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) gleich. Durch die Einführung des Gesundheitsfonds Das passt vorne und hinten nicht zusammen: „Das ist wurden die Probleme nicht gelöst, sondern versteckt. blanke Illusion.“ Das sind nicht meine Worte, sondern Um Beitragsgerechtigkeit zu gewährleisten, brauchen die Worte Ihres Regierungspartners , der wir eine klare Trennung von Versicherungsleistung und das Ganze heute Morgen so bezeichnet hat. Umverteilung. Die Absicherung für den Krankheitsfall soll über leistungsgerechte Prämien erfolgen. Im Ge- (Beifall bei der SPD) sundheitssystem unterstützt der gesunde Mensch den kranken Menschen, im Steuersystem unterstützt der rei- Kolleginnen und Kollegen, fast 100 Tage ist Minister che Mensch den armen Menschen; das ist echte Solidari- Rösler nun im Amt. Wir alle kennen das ungeschriebene tät. Gesetz, dass demjenigen, der ein Amt übernimmt, eine Schonfrist zusteht. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Jens Ackermann [FDP]: Das wäre schön ge- Die Bundesregierung, speziell der Finanzminister und wesen!) unser Gesundheitsminister, hat schnell gehandelt: Zu (B) dem Bundeszuschuss für die Krankenkassen, der schon (D) Schonfrist bedeutet aber nicht Schlummerphase. Es bei 11,8 Milliarden Euro liegt, kommen 3,9 Milliarden reicht nicht, ein paar schön vorgetragene, aber im Kern Euro hinzu. Werte Kollegin Reimann, da kann ich nicht substanzlose Reden zu halten und ansonsten alles andere verstehen, wenn Sie Gesundheitsminister Rösler Untä- laufen zu lassen, alle Weckrufe und Alarme zu ignorie- tigkeit vorwerfen. Wir konnten Anfang dieser Woche in ren. Ich sage nur: Ergebnisse des Schätzerkreises. der Berliner Zeitung lesen, dass Sie Philipp Rösler als Das Gesundheitssystem wartet nicht, bis die Bundes- Lurch im Winterschlaf bezeichnet haben. Ich möchte Sie regierung beschließt, mit dem Regieren zu beginnen. Die bitten, persönliche Attacken zu unterlassen. Zusatzbeiträge sind der beste Beweis: 100 Tage Rösler (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heißt für Millionen von gesetzlich Versicherten fast NEN]: Ein Lurch ist ein possierliches Tier- 100 Euro mehr im Jahr für ihre Krankenversicherung. chen! Was ist dagegen zu sagen? – Fritz Kuhn Ein guter Start sieht anders aus. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Lob!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wir können in der Sache hart miteinander streiten; aber Ulrike Flach [FDP]: 100 Tage nach Ulla wir sollten menschlich fair miteinander umgehen. Schmidt!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜND- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Wort „Übel- Das Wort hat der Kollege Jens Ackermann von der krähe“ war viel schlimmer!) FDP-Fraktion. Ich habe selbst auf einer Krankenstation gearbeitet. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir 6 Pflegekräfte waren für circa 30 Patienten verant- der CDU/CSU) wortlich. Eine von den 6 Pflegekräften war nur damit be- schäftigt, sich um den Papierkram zu kümmern, die Bü- Jens Ackermann (FDP): rokratie zu bewältigen. Das, was sie gelernt hat – Dienst am Menschen –, war nicht mehr möglich umzusetzen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- nen und Kollegen! Der Zusatzbeitrag von 8 Euro ist Die christlich-liberale Koalition setzt sich dafür ein, keine Erfindung der FDP, sondern eine Erblast von Ulla den Menschen – den Ärzten, den Pflegerinnen – etwas Schmidt. mehr Vertrauen zu schenken, statt sie mit einer Kontrol- 1810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Jens Ackermann (A) litis und einem überbordenden Bürokratiesystem zu gän- bis 700 Millionen Euro. Das ist eine große Zahl; es (C) geln und zu bevormunden. wurde von Ihnen verursacht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie sind offensichtlich nicht bereit, offen zu Ihren ei- der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Wovon re- genen politischen Entscheidungen zu stehen. den Sie eigentlich, Herr Kollege?) (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Na klar!) Meine Damen und Herren von der Opposition, haben Sie Man kann also sagen: kein Schneid. Die Glaubwürdig- auch etwas mehr Vertrauen in unsere Bevölkerung! Die keit der Politik kann dadurch nur Schaden nehmen. Menschen wollen keine Zwangsbeglückung, sie wollen sich frei entscheiden – sie können es nämlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dr. [DIE LINKE]: Aber sie wollen auch keine Kopfpauschale! 80 Prozent Die von Ihnen ermöglichten Zusatzbeiträge werden sind dagegen!) Bürgerinnen und Bürger mit geringen Einkommen be- sonders stark belasten. Ich will Ihnen ein paar Beispiele Ich will aber auch klar sagen: Unterstützung und Hilfe nennen. Der geringverdienende Wachmann in Schwerin sind notwendig bei den Menschen, die dies nicht selbst mit einem Verdienst von weniger als 800 Euro muss können. mehr als 1 Prozent seines Einkommens für den Zusatz- Wettbewerb und Transparenz im Gesundheitswesen beitrag aufwenden. sind kein Teufelszeug, sondern die Voraussetzung für (Zuruf von der CDU/CSU: Der kann sich mehr Effizienz. Planwirtschaft und Einheitskasse – das sofort ummelden!) hat die Geschichte gezeigt – führen in die falsche Rich- tung. Das ist nicht unser Ansatz in der Gesundheitspoli- Die Überforderungsklausel funktioniert also ausgerech- tik. net bei den Menschen nicht, die besonders darauf ange- wiesen sind. Glauben Sie mir: Geringverdiener gibt es Herzlichen Dank. nicht nur in Schwerin. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wer allerdings über ein ausreichend hohes Einkom- der CDU/CSU) men verfügt, kann neben dem Krankenversicherungsbei- trag auch den Zusatzbeitrag von der Steuer absetzen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hier geht es um eine wirklich wichtige steuerpolitische Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe von der Frage, mit der sich auch die FDP beschäftigen muss. So Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. muss der verheiratete Ingenieur aus Sindelfingen mit ei- (B) nem jährlichen Bruttoeinkommen von beispielsweise (D) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 60 000 Euro letztlich einen Zusatzbeitrag von monatlich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir nur 5,50 Euro bezahlen. Die verheiratete Kassiererin in reden heute über die Zusatzbeiträge. Einige Krankenkas- einem Supermarkt in Duisburg bezahlt den vollen Zu- sen haben in dieser Woche angekündigt, sie notgedrun- satzbeitrag von 8 Euro. Damit wird doch das Solidar- gen zu erheben. Jetzt schallt es plötzlich aus Regierungs- prinzip auf den Kopf gestellt. kreisen und aus dem Kanzleramt: Abzocke! Haltet den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dieb! und bei der SPD) Es ist doch so: Die Zusatzbeiträge waren politisch ge- Der arbeitslose Werftarbeiter aus Rostock zum Bei- wollt und stehen deshalb im Gesetz. Im Übrigen sind spiel soll den Zusatzbeitrag von 8 Euro aus eigener Ta- diese Zusatzbeiträge auch von der Kanzlerin und von sche bezahlen; Hilfe von der Arbeitsagentur ist nicht in Frau Ministerin Aigner beschlossen worden. Ich sage: Aussicht. Der Versuch, anderen die Schuld zuzuschieben, ist schä- big und scheinheilig. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Er kann dann ja die Kasse wechseln!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) – Ich komme darauf zu sprechen: Die Bundesregierung schlägt nun den Langzeitarbeitslosen vor, sie könnten zu Die Union hat die Tatsache, dass Zusatzbeiträge vorge- einer Krankenkasse ohne Zusatzbeitrag wechseln. Ich sehen wurden, schließlich als Einstieg in die Kopfpau- halte das für zynisch; denn es ist nach Insidermeinung schale gefeiert. Jetzt schieben Sie den Krankenkassen schon heute absehbar, dass spätestens im nächsten Jahr den Schwarzen Peter zu. viel mehr Kassen von der Erhebung eines Zusatzbeitrags Gebrauch machen werden. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Haben Sie zuge- hört?) Noch ein Wort zur FDP. Die Krokodilstränen, die die FDP und der Gesundheitsminister angesichts des Zusatz- Sie sind doch für die Unterdeckung des Fonds mitver- beitrages vergießen, sind für meine Begriffe der Gipfel antwortlich. Mit dem Haushalt für dieses Jahr bürden Sie der Heuchelei; denn die Zusatzbeiträge sind doch nur der den Kassen sogar weitere Defizite auf; denn die von Ih- Einstieg, nen kalkulierten krisenbedingten Einnahmeausfälle wer- den nur zu etwa 80 Prozent mit Steuermitteln ausgegli- (Ulrike Flach [FDP]: Das glauben Sie, weil Sie chen. Das heißt, es entsteht ein weiteres Defizit von 600 sich mit dem System nicht auseinandersetzen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1811

Dr. Harald Terpe (A) ein Vorgeschmack auf die Kopfpauschale und andere ge- bessere medizinische Leistungen vermehrt in Anspruch (C) sundheitspolitische Pläne, die besonders die Menschen nehmen, ohne dass die Kosten steigen. mit geringem Einkommen treffen werden. Da nützt es nichts, immer wieder zu sagen: Wir organisieren im Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) reich der niedrigen Einkommen einen Sozialausgleich. Ich darf den Hintergrund der heutigen Debatte noch einmal in Erinnerung rufen: Nach Medienberichten wird (Ulrike Flach [FDP]: Genau das bringt es! – geschätzt, dass auf 7 Millionen der 70 Millionen gesetz- Heinz Lanfermann [FDP]: Genau das zieht ja lich Versicherten, also auf 10 Prozent, ein Zusatzbeitrag in den Fällen! Milliardenausgleich heißt sozia- zukommt. Andere Krankenkassen teilen dagegen mit, ler Ausgleich! – Gegenruf der Abg. Renate dass sie keine Zusatzbeiträge erheben wollen. Vier Kas- Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steu- sen wollen sogar Prämien zurückerstatten. erlüge! Einen Ausgleich wird es doch gar nicht geben!) Wir konnten in den letzten Tagen dauernd hören, dass die SPD Zusatzbeiträge jetzt prinzipiell und kategorisch – Ja, ja. Ich sage Ihnen: In der Summe werden viele Bür- ablehnt. Die Gesundheitsministerin, unter der diese Re- gerinnen und Bürger deutlich mehr für Gesundheit zah- gelung in der letzten Legislaturperiode beschlossen len müssen. wurde, heißt bekanntlich Ulla Schmidt. Ich habe hier ein (Zuruf von der CDU/CSU: Die können die Schreiben von Frau Schmidt aus der letzten Legislatur- Kasse wechseln! Begreifen Sie es doch ein- periode, das an die Mitglieder der Fraktionen der CDU/ mal!) CSU und der SPD im Deutschen Bundestag gerichtet war. Einigen Kolleginnen und Kollegen der SPD könnte Anders als vor der Wahl von Union und FDP vollmundig es ja noch bekannt sein. angekündigt, werden die Menschen – vielleicht abgese- hen von Hotelbesitzern, Steuerberatern und anderen Gut- Unter der Überschrift „Mehr Wettbewerb durch Effi- betuchten – netto weniger haben als bisher. zienz und Transparenz“ beschrieb Frau Schmidt darin die Vorzüge der Konzeption, die heute Gegenstand die- Ihre mit Glanz in den Augen beschworene christlich- ser Debatte ist. Ich zitiere: liberale Koalition läuft Gefahr, die elementarsten christ- lichen Werte auf den Kopf zu stellen, nach dem Motto: Jeder Versicherte kann künftig besser erkennen, ob Nehmet den Armen und gebet den Reichen! seine Krankenkasse wirtschaftlich arbeitet oder nicht. Kommt eine Krankenkasse mit den ihr zuge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wiesenen Mitteln nicht aus, muss sie Effizienzreser- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ven erschließen; reicht auch dies nicht aus, kann sie direkt von ihren Mitgliedern einen Zusatzbeitrag er- (B) LINKEN) (D) heben. Ich sage: Nicht mit uns Bündnisgrünen! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hören Sie genau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hin, Herr Lauterbach!) und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch ein Quatsch, was Sie da sagen!) Frau Schmidt schrieb weiter: Gut wirtschaftende Krankenkassen können an ihre Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mitglieder Prämien auszahlen. Dies setzt ein trans- Das Wort hat der Kollege Dietrich Monstadt von der parenteres und wirksameres Preissignal als die ge- CDU/CSU-Fraktion. genwärtigen, nur in Prozentpunkten benennbaren Unterschiede zwischen den verschiedenen Bei- (Beifall bei der CDU/CSU) tragssätzen der Krankenkassen, die vielfach bei den Versicherten unbekannt sind. Dietrich Monstadt (CDU/CSU): (Jens Spahn [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Ulrike Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Flach [FDP]: Das hat Frau Reimann auch nicht gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Uns allen dürfte gelesen!) klar sein, dass unsere demografisch alternde Gesell- Dem ist nichts hinzuzufügen. schaft einen wachsenden Bedarf an Gesundheitsleistun- gen haben wird. Gleichzeitig gibt es einen medizinisch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) technischen Fortschritt, den wir begrüßen und für alle Herr Kollege Dr. Lauterbach, um Ihren entscheiden- wollen. den Diskussionsbeitrag in der Talkshow am Mittwoch- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. abend anzusprechen: Damit, dass wir Ihnen das vorhal- Hellmut Königshaus [FDP]) ten, verstecken wir uns nicht hinter Frau Schmidt. Um- gekehrt wird vielmehr ein Schuh daraus: Sie versuchen, Beides führt zu wachsenden Kosten. zu verstecken, dass vor drei Jahren 187 SPD-Abgeord- Zur Bewältigung dieser Herausforderung haben wir nete in namentlicher Abstimmung genau dieser Rege- lung mit Ja zugestimmt haben. nur wenige Optionen. Wenn wir die Leistungen nicht kürzen oder gar streichen wollen, müssen wir die Ein- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: nahmesituation der gesetzlichen Krankenkassen verbes- Aha! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lesen Sie sern. Niemand sollte die Illusion schüren, wir könnten das einmal nach!) 1812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

Dietrich Monstadt (A) Das sind im Übrigen 41 Abgeordnete mehr, als Ihre heu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) tige Fraktion stark ist, wenn ich mir die Bemerkung er- Herr Kollege Monstadt, ich gratuliere Ihnen im Na- lauben darf. men des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut- schen Bundestag. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heinz Lanfermann [FDP]: Deshalb sind es (Beifall) auch weniger geworden! – Gegenruf des Abg. Das Wort hat der Kollege Steffen-Claudio Lemme Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir kommen zu- von der SPD-Fraktion. rück!) (Beifall bei der SPD) Vielleicht sollten Sie auch Ihre stellvertretende SPD- Vorsitzende hiervon in Kenntnis setzen, damit Frau Schwesig die jetzige Bundesregierung nicht länger ver- Steffen-Claudio Lemme (SPD): antwortlich macht. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bun- desminister Dr. Rösler! Sehr geehrte Frau Staatssekretä- Herr Dr. Lauterbach, in der letzten gesundheitspoliti- rin Widmann-Mauz! Meine lieben Kolleginnen und Kol- schen Debatte am 17. Dezember 2009 haben Sie kon- legen! Im aktuellen Spiegel ist zu lesen, dass Herr krete Vorschläge der SPD angekündigt. Frau Bender, Dr. Rösler die Gesundheitsreform plant. Ich meine, das die, so glaube ich, heute nicht hier ist, hat damals mit ist eine Operation am offenen Herzen. Er sagt von sich Zwischenrufen dazu aufgefordert, dass Sie diese SPD- selbst – das hat ihm wohl sein letzter Chef attestiert –, er Vorschläge in Form eines Antrages vorlegen. sei nie ein guter Chirurg gewesen, aber er sei immer der Fröhlichste. Insofern scheint das Motto dieser Gesund- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Nächste Woche! – heitsreform zu lauten: „Lachen macht gesund“. Aber das Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) reicht bei weitem nicht. – Warten wir einmal ab, ob sie nächste Woche vorliegen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Kollege. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie sind in den Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gremien!) NEN]: Das sagt Eckart von Hirschhausen auch! – Zuruf von der FDP: Wir nähern uns Herr Kollege, gestatten Sie mir gleichwohl die An- dem Karneval!) merkung: Wenn die Bürgerinnen und Bürger so großes Die neue Bundesregierung ist fast auf den Tag genau Vertrauen in die konkreten Vorstellungen der SPD hät- (B) drei Monate im Amt. Angetreten mit markigen Wahlver- (D) ten, dann hätten sie die SPD mit einer größeren Zahl an sprechen, sind die schwarz-gelben Eheleute allerspätes- Mandaten in diesen Bundestag geschickt. – So viel dazu. tens diese Woche auf dem harten Boden der Realität ge- Meine Damen und Herren, von anderer Qualität als landet. Die öffentliche Schelte für ihre Politik reißt die angekündigten Vorschläge der SPD sind die von den jedenfalls nicht ab. Grünen im Dezember vorgelegten Eckpunkte, wenn ich Mit der Berufung von Christian Weber vom PKV- auch die meisten nicht teile. Erstens sind sie konkret, Verband und der Demontage von Peter Sawicki ist diese zweitens wollen die Grünen ausdrücklich am morbidi- Regierung im Begriff, die gesundheitliche Absicherung tätsorientierten Risikostrukturausgleich festhalten, den von 70 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der privaten die CDU-geführte Koalition eingeführt hat, und drittens Versicherungswirtschaft zu überantworten. wollen die Grünen alle Einkommensarten unter Berück- sichtigung von Freigrenzen und des Ehegattensplittings (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in den Solidarausgleich einbeziehen. Übersetzt bedeutet des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrike dies: Gleichsetzung mit der Einkommensermittlung durch Flach [FDP]: Irgendwann glauben Sie das die Finanzverwaltung. selbst!) (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) Gleichzeitig signalisiert sie den Kostentreibern im Sys- tem, insbesondere der Pharmaindustrie, dass sie zumin- Ich sage: Dann doch bitte gleich ein Sozialausgleich dest in dieser Legislaturperiode vonseiten der Regierung über Steuermittel! keine Gefährdung ihrer Profite zu erwarten hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Im Koalitionsvertrag haben wir die Richtung festge- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie lesen wohl legt: Es soll langfristig eine Entkopplung der Gesund- nie Zeitungen!) heitskosten von den Arbeitskosten geben. Die einzelnen Schritte wird die Regierungskommission erarbeiten. So – Doch, doch. lange sollten wir den Arbeitsergebnissen der Regie- Nahezu anderthalb Monate ist es nun her, dass der rungskommission nicht vorgreifen. Schätzerkreis beim Bundesversicherungsamt Berech- Herzlichen Dank. nungen vorgelegt hat, wonach im Gesundheitsfonds mit einem 4-Milliarden-Euro-Loch zu rechnen ist. Das sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sechs Wochen, in denen von Bundesminister Rösler und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1813

Steffen-Claudio Lemme (A) seinem Stab rein gar nichts unternommen wurde, um das Sicher, Herr Rösler ist jung, folgt wie auch immer gear- (C) drohende Defizit abzuwenden. teten Idealen und ist voller Tatendrang. Aber sollten die- sen stets so eloquent auftretenden Minister die zahlrei- (Ulrike Flach [FDP]: Bei Ihnen sind es elf chen Stimmen aus der Gesellschaft nicht wenigstens ein Jahre!) bisschen beeindruckt haben, – Bei mir nicht. (Zuruf von der FDP: Viel Feind, viel Ehr’!) In der Konsequenz führen dieses wochenlange Still- etwa die Kritik der Sozial- und Wohlfahrtsverbände, je- halten und Ignorieren der Realitäten des Bundesminis- ner Organisationen, die diejenigen Menschen bei der Be- ters nun zu Zusatzbeiträgen. Ich behaupte schlicht, Herr wältigung ihres Alltags unterstützen, die von den finan- Dr. Rösler fährt hier eine Art Tabula-rasa-Strategie. ziellen Auswirkungen Ihrer Politik betroffen wären? (Ulrike Flach [FDP]: Sie glauben es nicht (Zuruf von der FDP: Wissen Sie, was die über selbst!) Ihre Politik gesagt haben?) Er denkt wohl, er hält sich so lange Augen und Ohren Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike zu, bis er die solidarische Krankenversicherung gegen Mascher, hat die Pläne gegenüber der Frankfurter Rund- die Wand gefahren hat. schau als unsozial bezeichnet. Der Bundesgeschäftsfüh- rer der Volkssolidarität, Bernd Niederland, hat erklärt: (Hellmut Königshaus [FDP]: Kommen denn Zusatzbeiträge sind Ausdruck einer verfehlten Politik, noch Inhalte?) die die Gesundheitskosten einseitig auf die Versicherten Im Nachgang muss er dann nur noch mit der Abrissbirne verlagert. ran und gibt dem Solidarsystem den Rest. Die Sache ist (Ulrike Flach [FDP]: Das ist ja der Punkt! klar: Sein Vorgehen hat Methode. Deshalb sind Sie abgewählt worden!) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das umlagefinanzierte Gesundheitssystem mit der Kommen Sie bitte zum Schluss. Solidarität der Versicherten untereinander sowie der pa- ritätischen Beitragsaufbringung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist eine historische Errungenschaft und Steffen-Claudio Lemme (SPD): Tradition, um die uns andere Länder beneiden. Hinzu kommen die Gewerkschaften. Der DGB-Vor- sitzende, Michael Sommer, hat zu Recht an die Auswir- (B) (Heinz Lanfermann [FDP]: Die paritätische kungen für Menschen mit kleinen Einkommen oder Ren- (D) Beitragsbemessung hatten Sie selbst schon ten erinnert, für die 8 Euro schlicht das Budget eines aufgegeben! Immer schön bei der Wahrheit Lebensmitteleinkaufes darstellen. bleiben!) (Heinz Lanfermann [FDP]: Schreibt doch lie- Lassen Sie uns dieses System zu einer solidarischen Bür- ber einen Brief an Ulla Schmidt!) gerversicherung weiterentwickeln. Schüren Sie mit der Kopfpauschale nicht die gesellschaftliche Spaltung! Christine Clauß, die sächsische Sozialministerin, hat, wie Sie wissen, von einer unsäglichen Reform gespro- Ich fordere insbesondere die Kolleginnen und Kolle- chen. Ich erinnere außerdem daran, dass Herr Minister- gen der Unionsfraktion auf, sich ihrer Verantwortung für präsident Seehofer davor gewarnt hat. Der bayerische die Bürgerinnen und Bürger als konservative Volkspartei Gesundheitsminister tut es ihm gleich. Ich glaube, die zu erinnern. Ich sehe mich gezwungen, Ihnen die gemein- CSU wird in diesem Haus sicherlich noch die zweite samen Werte der sozialen – ich betone: der sozialen – Runde einläuten und den zweiten Gong schlagen, damit Marktwirtschaft erneut ins Gedächtnis zu rufen, wonach Sie wieder zur Vernunft zurückkehren und auf diese un- auch nach § 1 SGB V die Krankenversicherung eine So- solidarische Kopfpauschale verzichten. lidargemeinschaft ist. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Bei der sozialen Marktwirtschaft brauchen wir (Beifall bei der SPD) Ihre Nachhilfe bestimmt nicht!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Erinnern Sie sich bitte schnell, bevor Sie und Ihr Ko- Herr Kollege Lemme, ich gratuliere Ihnen im Namen alitionspartner einen schweren Fehler begehen! Zeigen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundes- Sie Vernunft und Einsicht! tag. Was ich mich seit Tagen bezüglich der Kritik an der (Beifall) Bundesregierung frage, ist Folgendes: Wenn man so sehr und aus allen Richtungen unter Feuer genommen wird, Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat nun gibt einem das nicht zu denken? das Wort der Kollege Rudolf Henke von der CDU/CSU- Fraktion. (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, dann muss man den Brandstifter suchen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Rudolf Henke (CDU/CSU): Daher meine ich, man muss Sie jetzt doch noch ein- (C) Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! mal mit der tatsächlich geführten öffentlichen Diskus- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir schon sion konfrontieren. Ich habe unter der Überschrift „Ge- immer gewünscht, am Ende einer Plenarwoche im Deut- rechte Kopfpauschale“ einen Artikel aus der schen Bundestag das letzte Wort in einer Debatte zu ha- Süddeutschen Zeitung von Claus Hulverscheidt aus die- ben; das ist sehr erfreulich. Das stimmt einen natürlich ser Woche, und ich erlaube mir, daraus zu zitieren: auch ein bisschen milde. Lieber Herr Lemme, ich finde … die Behauptung, Ihre Aussage, es gebe eine Verletzung der Parität, durch- aus diskussionswürdig. Aber ich verstehe nicht, warum – es sind nicht meine Worte, sondern die von Herrn Sie von einem hohen moralischen Ross herab die Verlet- Hulverscheidt – zung der Parität kritisieren; denn es war doch die rot-grüne Regierung Schröder, die im Jahr 2003 die Ein- die Putzfrau müsse beim Prämienmodell den glei- führung des heutigen 0,9-prozentigen Sonderbeitrags im chen Kassenbeitrag zahlen wie der Fabrikdirektor, GKV-Modernisierungsgesetz beschlossen hat, und zwar löst in den Parteizentralen regelmäßig Panik- mit den Stimmen von SPD und Grünen. attacken aus – dabei ist der Vorwurf hanebüchener Unsinn: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Es war die rot-grüne Regierung Schröder, die die Ein- der FDP) führung der Kassengebühr beim Praxisbesuch beschlos- sen hat. Es war die rot-grüne Regierung Schröder, die Zwar ist die Gesundheitsprämie zunächst tatsäch- die Erhöhung von Zuzahlungen unter anderem bei Arz- lich für alle Versicherten gleich hoch, schließlich neimitteln beschlossen hat. kostet die Kasse das Herausnehmen eines Direkto- ren-Blinddarms ja nicht mehr als die gleiche Opera- (Beifall bei der FDP) tion bei der Putzfrau. Aber: Im Gegensatz zu ihrem Chef muss die Reinigungskraft die Prämie nicht al- Warum setzen Sie sich also auf dieses hohe moralische leine zahlen, sondern erhält einen Teil aus Steuer- Ross und sagen, die Verletzung der Parität fange mit mitteln erstattet. 8 Euro Unterschied an, verlieren aber kein Wort darüber, dass SPD und Grüne den Einstieg in die Veränderung der (Zuruf von der FDP: Richtig!) Parität selber herbeigeführt haben? Dazu sagen Sie jetzt, das werde vielleicht nicht gehen. Herr Terpe, ich danke Ihnen zwar für die wichtige Er- Aber ist es denn nicht des Schweißes der Edlen wert, das (B) innerung an elementarste christliche Regeln. Aber zu zu versuchen? (D) diesen Regeln gehört auch ernst gemeinte Wahrhaftig- keit. Sie können doch angesichts der Tatsache, dass fünf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Krankenkassen einen Zusatzbeitrag akzeptiert haben, Die Koalitionsvereinbarung ist klar und eindeutig: nicht so tun, als gäbe es keinen Ausweg. Natürlich gibt einkommensunabhängige Beiträge, die sozial ausgegli- es einen Ausweg; denn man kann entscheiden, ob man chen werden. Wir werden uns doch wohl an Worten die- diesen Zusatzbeitrag zahlen will. 50 Krankenkassen ha- ses Bundesgesundheitsministers messen lassen, der die ben erklärt, 2010 keinen Zusatzbeitrag zu erheben. Es Identität der Beitragsbelastung bei 8 Euro als unsozial gibt vier Krankenkassen, die sogar Geld an ihre Versi- kritisiert. Dann werden wir doch keine einkommens- cherten ausschütten. Bitte machen Sie es nicht zur Kern- unabhängige Prämie aufbauen, die dann nicht sozial aus- frage der Glaubwürdigkeit christlich-liberaler Politik geglichen wird, denn das wäre ja total widersprüchlich. und religiöser Orientierung, dass in fünf Krankenkassen Deswegen machen Sie sich da einmal keine zu großen 8 Euro mehr gezahlt werden müssen. Sorgen. Ich fühle mich da an der falschen Stelle kritisiert, und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ich sage dann auch: Zur Wahrhaftigkeit gehört es der FDP) ebenso, ein Problem nicht größer, bedrohlicher und schlimmer darzustellen, als es wirklich ist. Im Übrigen, auch , die bis 2001 die erste grüne Bundesministerin für Gesundheit dieser Re- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) publik war, hat sich im vergangenen Jahr zu dem Thema Ich komme gern auf Ihren ursprünglichen Debatten- Prämie in einem Interview mit dem Tagesspiegel bemer- ansatz zu sprechen, Herr Kuhn. Er lautet: Wir setzen uns kenswert geäußert. Ich zitiere: jetzt mit dem Zusatzbeitrag gar nicht deswegen ausei- Es ist im Prinzip kein falscher Gedanke, mit einer nander, weil die 8 Euro so schlimm sind. Da hatten Sie solchen Prämie für jeden Menschen festzulegen, selber in Ihrer eigenen Regierungszeit unter Andrea welchen Preis er für seine Gesundheit in einem soli- Fischer ganz andere Beitragsentwicklungen zu verant- darischen System aufbringen muss. Die Umvertei- worten. Die 8 Euro sind nicht das Problem; Sie sagen lung ist eine sozialpolitische Aufgabe danach – und vielmehr, das Kernproblem sei, dass diese 8 Euro der getrennt von der Gesundheitspolitik. Einstieg sind und wir dann bei der Schaffung einkom- mensunabhängiger Beiträge eine größere soziale Unge- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Eine Einzel- rechtigkeit bekommen. meinung!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1815

Rudolf Henke (A) Mit diesem für alle gleichen Beitrag sollte niemand chen. Sonst werden CDU und CSU dem nicht zustim- (C) überfordert werden, nicht die Einkommensarmen, men. Das ist eine Aussage, auf die Sie sich verlassen nicht die Menschen mit Familie. Das Steuersystem können. Hören Sie auf damit, Panik zu verbreiten. ist der Ort, an dem die gesamte finanzielle Situation eines Menschen erfasst und wo er entsprechend sei- Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksam- ner Leistungsfähigkeit zu Abgaben verpflichtet keit. wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ulrike Flach [FDP]: Gute Vorgabe!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Eigentlich Herr Kollege Henke, auch Ihnen gratuliere ich im Na- – so Andrea Fischer – men des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bun- destag. also genau das richtige System, um Solidarität kon- (Beifall) kret werden zu lassen. Sie haben damit, wie Sie schon angekündigt haben, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Debatte für heute abgeschlossen. Die Aktuelle Stunde ist der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE beendet. GRÜNEN]: Das sehen wir anders!) Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einzige Bitte, nung. die ich habe, ist, dass Sie nicht so tun, als hätten Sie ein Monopol auf die Definition von Solidarität und als wä- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- ren wir davon ausgeschlossen, mitzudiskutieren, wenn destages auf Dienstag, den 9. Februar 2010, 15 Uhr, ein. es darum geht, was Solidarität tatsächlich ist. Verlassen Die Sitzung ist geschlossen. Sie sich darauf: Wenn es einkommensunabhängige Prä- mien gibt, dann werden diese Prämien sozial ausgegli- (Schluss: 15.09 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010 1817

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 Kossendey, Thomas CDU/CSU 29.01.2010 DIE GRÜNEN Lafontaine, Oskar DIE LINKE 29.01.2010 Bätzing, Sabine SPD 29.01.2010 Lazar, Monika BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 Barnett, Doris SPD 29.01.2010* DIE GRÜNEN Bögel, Claudia FDP 29.01.2010 Lenkert, Ralph DIE LINKE 29.01.2010 Brüderle, Rainer FDP 29.01.2010 Dr. von der Leyen, CDU/CSU 29.01.2010 Ursula Buchholz, Christine DIE LINKE 29.01.2010 Lindemann, Lars FDP 29.01.2010 Ernst, Klaus DIE LINKE 29.01.2010 Dr. Lotter, Erwin FDP 29.01.2010 Ernstberger, Petra SPD 29.01.2010 Dr. de Maizière, CDU/CSU 29.01.2010 Fischer (Göttingen), CDU/CSU 29.01.2010 Thomas Hartwig Malczak, Agnes BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 29.01.2010* DIE GRÜNEN Land), Axel E. Nešković, Wolfgang DIE LINKE 29.01.2010 (B) Fritz, Erich G. CDU/CSU 29.01.2010* (D) Noll, Michaela CDU/CSU 29.01.2010 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 29.01.2010 Pflug, Johannes SPD 29.01.2010 Gerster, Martin SPD 29.01.2010 Schäfer (Bochum), SPD 29.01.2010 Glos, Michael CDU/CSU 29.01.2010 Axel Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Dr. Freiherr zu CDU/CSU 29.01.2010 Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 29.01.2010 Guttenberg, Karl-Theodor Schuster, Marina FDP 29.01.2010* Hartmann SPD 29.01.2010 Dr. Schwanholz, Martin SPD 29.01.2010 (Wackernheim), Michael Ströbele, Hans-Christian BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 DIE GRÜNEN Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 DIE GRÜNEN Tempel, Frank DIE LINKE 29.01.2010

Hübinger, Anette CDU/CSU 29.01.2010* Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 DIE GRÜNEN Hunko, Andrej DIE LINKE 29.01.2010* Konstantin Werner, Katrin DIE LINKE 29.01.2010 Klöckner, Julia CDU/CSU 29.01.2010 Dr. Westerwelle, Guido FDP 29.01.2010 Koenigs, Thomas BÜNDNIS 90/ 29.01.2010 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 29.01.2010 DIE GRÜNEN * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Kopp, Gudrun FDP 29.01.2010 sammlung des Europarates 1818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 20. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Januar 2010

(A) Anlage 2 Ausgabe bei Kapitel 12 25 Titel 632 01 – Wohngeld nach (C) dem Wohngeldgesetz – bis zur Höhe von 12,61 Millio- Amtliche Mitteilungen nen Euro Die Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat mitge- – Drucksachen 17/416, 17/503 Nr. 1.4 – teilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der – Unterrichtung durch die Bundesregierung Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Haushaltsführung 2009 nachstehenden Vorlagen absieht: Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts- ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 632 07 – Ausgaben nach Haushaltsführung 2009 § 8 Absatz 2 des Unterhaltsvorschussgesetzes – bis zur Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts- Höhe von 17 Millionen Euro ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige – Drucksachen 17/417, 17/503 Nr. 1.5 –

(B) (D)

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