SPD – 03. WP Fraktionssitzung: 10. April. 1959

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10. April 1959: Fraktionssitzung

AdsD, SPD-BT-Fraktion 3. WP 88.1 Überschrift: »Kurzprotokoll der Fraktionssitzung der SPD am Donnerstag, den 10. 4. 1959«.

Tagesordnung: Reiseberichte 1. Besuch der Genossen Erler, Paul, Mattick und Metzger in Belgrad und Prag; Be- richterstatter: Erler und Paul 2. Reise der Genossen Deist und Kurlbaum nach Südostasien; Berichterstatter: 3. Reise der Genossen Blachstein, Birkelbach, Bleiß und Ludwig nach Algerien; Be- richterstatter: Paul Bleiß 4. Reise des Genossen Harri Bading nach dem Irak; Berichterstatter: Harri Bading Vorsitz: , anschließend Heinrich Deist Fritz Erler berichtet über die Reise nach Jugoslawien.2 Gespräche wurden geführt mit Kardelj, Vlachovicz, Popovicz, Bebler und Tito.3 Zum Thema Berlin vertraten die Gesprächspartner die Auffassung, daß eine Lösung in größeren Zusammenhängen (europäische Sicherheit, Disengagement) vorzuziehen sei, notfalls müsse aber eine isolierte Lösung, evtl. unter Einschaltung der UNO, ins Auge gefaßt werden. Eine andere Nuancierung war bei Tito selbst festzustellen, der eine isolierte Lösung weder für nützlich noch möglich hielt: sie würde nur Anlaß zu neuen Konflikten sein. Ein Disengagement wurde lebhaft begrüßt. Gesprochen wurde auch über eine evtl. Beteiligung Jugoslawiens an den Mächteverhandlungen, da es mindestens genauso be- troffen sei wie Polen und die ČSSR. Das Thema atomwaffenfreie Zone wurde von den Gesprächspartnern nicht von selbst aufgeworfen, man zeigte sich aber dieser Frage gegenüber sehr aufgeschlossen. Erler verglich im Gespräch in diesem Zusammenhang das Bedroht-Fühlen Jugoslawiens durch Albanien mit dem Bedroht-Fühlen Ulbrichts durch Westberlin. Tito warf u. a. bei Erörterung des Deutschlandplans die Frage auf, warum von uns freie Wahlen erst in der dritten Etappe verlangt würden. Für Ulbricht waren keine Sympa- thien festzustellen. Zum kommunistischen China wurde sehr vorsichtig Stellung ge- nommen. Man zeigte unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse in China Verständnis für die Kollektivierungsmaßnahmen, insbesondere in der Landwirtschaft (Durchdringung der Bevölkerung mit kommunistischer Idee). Die Angriffe der Chine-

1 Die masch. Erstfassung des Protokolls sowie ein zusätzlicher Durchschlag befinden sich bei den Akten des Arbeitskreises Sozialpolitik der Fraktion. 2 Die Reise dauerte vom 24. 3.-28. 3. 1959; vgl. hierzu allg.: PPP-Mitteilungen vom 24. 3. und 2. 4. 1959; AdsD, NL Erler 153. 3 Edvard Kardelj, einer der führenden Theoretiker der KPJ, war zu dieser Zeit Vizepräsident des jugoslawischen Bundesexekutivrats; Veljko Vlachovicz war Vorsitzender der Kommission für Aus- landsbeziehungen des Sozialistischen Bundes; Kocza Popovicz war 1953-1965 jugoslawischer Au- ßenminister; Aleš Bebler war Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses der Bundesvolksver- sammlung.

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sen auf Jugoslawien seien eigentlich gegen die Russen gemünzt. Erler: Meinen auch die Russen, wenn sie Jugoslawien angreifen, eigentlich China? Antwort: Nein, die Polen. Das Gespräch zwischen Carlo Schmid und Erler mit Chruschtschow beurteilte Tito wie folgt: Man dürfe nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß die Russen auf allem behar- ren, was sie sagen. Durch Aufstellung maximaler Forderungen könnte eine Verstärkung der Verhandlungsposition beabsichtigt sein. Daher sei ein »Nein an der richtigen Stelle« angebracht. Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik4 wurde bedau- ert und in diesem Zusammenhang von einem Rückgang des Warenaustausches um 22% gesprochen. An der Wiedervereinigung Deutschlands zeigte man sich insbesondere deshalb interes- siert, weil man befürchtet, daß das gespaltete Deutschland ein Unruheherd und damit ein potentieller Brandherd sein könnte. Abschließend wies Erler darauf hin, daß der Lebensstandard der jugoslawischen Arbei- ter außerordentlich niedrig sei bei einem Durchschnittsverdienst zwischen DM 120,- und 140,-. Dennoch herrsche das Gefühl vor, daß sich die Lage allmählich verbessere. berichtet über die Reise in die ČSSR.5 Das politische Klima in Prag war wesentlich härter als in Belgrad; Belgrad erschien im Vergleich geradezu liberal zu sein. Gespräche wurden u. a. geführt mit dem Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes, mit zuständigen Beamten des Außenministeriums, mit Abgeordneten des Auswärtigen Ausschusses und mit dem Außenminister David. Die zuständigen Beamten des Au- ßenministeriums hielten sich streng an die Richtlinien, die ihnen David gegeben hatte, ganz offensichtlich unter dem unmittelbaren Einfluß von Ulbricht, der kurz zuvor selbst mit David in Karlsbad gesprochen hatte.6 Tatsächlich habe man über David mit Ulbricht ein Gespräch geführt: Die Vorschläge der SPD zur Wiedervereinigung seien unannehmbar; Berlin sei ein Zentrum der Spionage; die aggressiven Pläne des Imperia- lismus richteten sich auch gegen die ČSSR; eine Einbeziehung Ungarns in das Disenga- gement sei nicht vertretbar. – Der Deutschlandplan habe ein »Verschlucken der DDR« zum Ziele, er »gefährde die sozialistischen Errungenschaften«. Die Wiedervereinigung sei eine Sache der Deutschen selbst. Warum würden nicht direkte Gespräche mit der SED geführt? Das Gespräch mit David habe nicht weniger als 5 Stunden gedauert, es sei erschöpfend, aber nicht positiv gewesen. Aus der Unzufriedenheit über das Gespräch habe man kein Hehl gemacht. Daraufhin habe sich erwiesen, daß auch die Kommunisten in der ČSSR keinen monolithischen Block darstellen. Etwa 2000 – 3000 junge Kommunisten, die sog. »Gottwald-Kinder«, die Gottwald einer sehr gründlichen, systematischen Schulung und Ausbildung unter- zogen habe, seien das tragende Element der Partei.7 Mit diesen jungen, nüchterner

4 Hierzu Nr. 2, TOP 2. 5 Die Reise in die ČSSR, an der Erler nicht teilnahm, fand Anfang April 1959 statt; vgl. hierzu den Artikel von Paul »Politische Gespräche in Prag« im SPD-Pressedienst, P/XIV/85 vom 15. 4. 1959 sowie dessen Erinnerungen, in: ABGEORDNETE II, S. 163-165. 6 Zum Besuch Ulbrichts in der Tschechoslowakei Mitte März vgl. »Neues Deutschland« vom 18. 3. 1959. 7 Klement Gottwald (1896-1953) führte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Ministerpräsident, später als Staatspräsident die gesellschaftliche und staatliche Umwandlung der Tschechoslowakei im kommunistische Sinne durch. Zur Bedeutung der Jugenderziehung in dieser Phase vgl.: Edward TABORSKY, Communism in 1948-1960, Princeton 1961, S. 506-594.

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denkenden Leuten könne man reden. Einigen von ihnen sei es zu verdanken, daß das abschließende Gespräch fruchtbarer verlief als die vorhergegangenen Verhandlungen. Dieses abschließende Gespräch wurde mit Hendrych, einem der acht Mitglieder des Politbüros, geführt.8 Es unterschied sich in Ton und Art sowie in der positiveren Ein- stellung zum Deutschlandplan. Dabei habe sich erwiesen, wie nützlich es gewesen sei, unsere Konzeption schriftlich niederzulegen. Hendrych bezeichnete den Deutschlandplan als einen im ganzen gesehen guten Beitrag, wenn auch im einzelnen Vorbehalte zu machen seien. »Faktisch« würde durch ihn die DDR anerkannt. Durch die Ausführungen klang immer wieder die Furcht vor dem »deutschen Militarismus« und dem »Revanchismus« durch. Unter Revanchismus ver- steht man die Organisationen der Vertriebenen. Von uns sei hervorgehoben worden, daß in einer Demokratie die Koalitionsfreiheit nicht schlechthin aufgehoben werden könne. Man könne weder von den Vertriebenen verlangen, daß sie »danke schön« sa- gen, noch könne eine deutsche Partei die 6 Millionen Wählerstimmen der Vertriebenen einfach ignorieren. Zur Frage der Wiedervereinigung wurde wieder darauf hingewiesen, daß das Sache der Deutschen sei. Erst müsse der Friedensvertrag kommen. Wirtschaftlichen Beziehungen mit der Bundesrepublik stehe man positiv gegenüber, man will davon profitieren. Eine anschließende Reise durch das Sudetengebiet habe vor Augen geführt, welch gro- ße Verheerungen durch die Vertreibung angerichtet worden sind. Fazit: Obwohl die Führung dieser Gespräche nicht einfach sei, erwiesen sie sich doch als nützlich. Man sollte sie auf der Basis der Gegenseitigkeit unter Beachtung des Son- derfalls des Ulbricht-Regimes in Zukunft fortsetzen. Der Gedankenaustausch trage zur Auflockerung des Blocks bei. Ludwig Metzger ergänzt einige, ihm wichtig erscheinende Einzelheiten. David habe als Punkte, mit denen er übereinstimme, u. a. genannt: Ein Abkommen über die europäi- sche Sicherheit, militärische Entspannung, den Rapacki-Plan, die atomwaffenfreie Zo- ne. Interessant sei, daß er kritisiert habe, daß wir verlangten »erst Wiedervereinigung, dann Friedensvertrag«. Dies beweise, daß David über den Deutschlandplan nicht rich- tig informiert worden ist. Ferner sei seine Zustimmung zur Konföderation nicht ver- bunden gewesen mit einer Anerkennung der Berechtigung der Wiedervereinigung. David habe hervorgehoben, daß sich im friedlichen Wettbewerb erweisen müsse, wel- ches System das bessere sei. Bedeutsam erscheine ferner eine Äußerung von Vlachovicz, der gesagt habe, daß man Gegenvorschläge machen müsse, sonst könne man die wirkliche Haltung der Sowjets nicht in Erfahrung bringen. Popovicz habe gemeint, daß die Äußerungen Chruschtschows hinsichtlich der Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO nicht zu ernst genommen werden sollten, während Kardelj in dieser Frage eine andere Auffassung vertrat. Kurt Mattick ergänzt die Berichte, denen er inhaltlich zustimmt, durch folgenden Nachtrag: Während der Kontakt Jugoslawiens mit dem Westen erhalten geblieben sei, wohl nicht zuletzt infolge des Umstands, daß Jugoslawien ein westeuropäisches Reise- land ist, habe sich gezeigt, daß in der ČSSR das Deutschlandbild allein durch die Presse und die Verlautbarungen der Ulbricht-Leute geprägt ist. Es sei falsch, diese Staaten mit Ulbricht unter sich zu lassen. Der Reiseverkehr erweise sich als sehr wichtig. Man müs-

8 Jiří Hendrych war u. a. Leiter des Bereichs Außenpolitik im Politbüro der KPČ.

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se versuchen klarzustellen, daß es dem nationalen Interesse der ČSSR entspricht, eine Friedenspolitik im Sinne der Wiederherstellung des wiedervereinigten Deutschland zu betreiben. Als gefährlich erweisen sich die unvorstellbar nette freundliche Betreuung, die fairen menschlichen Bemühungen um den Gast. Es ist daher in diesen Gesprächen wichtig, die genaue Grenze zwischen menschlichen und politischen Kontakten zu be- achten, man dürfe dabei nicht schwach werden. stellt drei Fragen. Erstens, wirkt die Erinnerung an München, das heißt, das Gefühl des Verratenseins der tschechischen Außenpolitik noch nach? Zweitens, spielt der Panslawismus in der tschechischen Politik eine Rolle? Drittens, ist im Ver- hältnis zu Österreich die geschichtliche Verbundenheit noch spürbar? Ernst Paul bejaht die ersten beiden Fragen. Eine Verbundenheit mit Österreich lasse sich jedoch nicht beobachten. Friedrich Schäfer: Kann man westliche Zeitungen an den Kiosken in den beiden Län- dern kaufen? Kann man sich in diesen beiden Ländern frei bewegen? Die Fragen werden wie folgt beantwortet: Während in Jugoslawien westliche Zeitungen frei erhältlich sind, kann man in der ČSSR offenbar nur ausgewählte Zeitungen erhal- ten, während die Führerschicht alles bekommen kann. Hinsichtlich der Bewegungsfrei- heit in der ČSSR bestehen Meinungsverschiedenheiten. Heinrich Deist berichtet über seine Südostasienreise.9 Er hebt dabei vor allem die un- terschiedlichen Verhältnisse in den vier Ländern, die er besucht hat, hervor. Pakistan ist wirtschaftlich wenig entwickelt und sozial erheblich rückständig, 60 – 70% des Bodens sind in der Hand von Großgrundbesitzern. Eine erhebliche Rolle spielt das Flücht- lingselend. 10 Millionen von den 85 Millionen Einwohnern sind Flüchtlinge. Die bei- den Hauptprobleme sind daher: Landreform und Flüchtlingsproblem. Ceylon macht demgegenüber den Eindruck eines reichen Landes, geradezu eines Paradieses. Die so- zialen Probleme sind nicht so ernst gestellt. Ähnliches gilt von Burma, wenn auch nicht in diesem Maße. Indien ist zwar reich an Rohstoffen aller Art, aber wenig erschlossen. Die Landwirtschaft ist wenig rentabel. Der industrielle Aufbau befindet sich noch am Anfang. Der jährliche Bevölkerungszuwachs von 1 1/2 bis 2%, das sind 7 bis 8 Millio- nen Menschen pro Jahr, verschlingt einen erheblichen Teil des jährlichen Zuwachses, des Sozialprodukts. Ähnlich wie in Pakistan sind 85% der Bevölkerung Analphabeten. In den vier Ländern spielt die Religion eine erhebliche Rolle. Pakistan ist islamisch, Burma und Ceylon buddhistisch, Indien vorwiegend hinduistisch. Der Hinduismus erweise sich als ein großes Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung. Anschließend berichtet H. Deist über die politische Lage in den vier Ländern. Indien und Pakistan haben erst 1947 ihre Unabhängigkeit erhalten. Dabei habe sich die Teilung zwischen Indien und Pakistan als ein politisches Unglück erwiesen (Kaschmirkonflikt). Beide Länder sind daher mit hohen Militärausgaben belastet, und es besteht eine Tendenz zur wirtschaftlichen Autarkie und Abschließung gegeneinander. In Pakistan herrscht seit 1958 eine Militärdiktatur, aber eine recht friedliche. Die politischen Verhältnisse in Ceylon sind recht unübersichtlich. Zur Zeit besteht eine Volksfrontkoalition mit einem Großgrundbesitzer als Ministerpräsidenten.10 Die einflußreichste politische Partei nennt sich trotzkistisch, bejaht aber die Demokratie und hat mit dem westlichen Sozia- lismus mehr gemeinsam als mit dem Kommunismus. Ihr Führer, Dr. Perera, ist ein

9 Die Reise dauerte von Ende Januar bis Anfang März 1959; vgl. allg.: PPP-Mitteilungen vom 27. 1. und 18. 3. 1959. 10 Ministerpräsident Ceylons war zu diesem Zeitpunkt Solomon W.R.D. Bandaranaike, der am 26. 9. 1959 an den Folgen eines Attentats starb.

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fähiger und nüchterner Politiker.11 Im Gegensatz zu Indien hat Burma seine Freiheit durch gewaltsame Auseinandersetzungen aus einem Kampf der Untergrundbewegung heraus errungen. Das wirkt sich heute noch aus. Es herrscht dort zur Zeit eine Militär- regierung, gestützt von der Mehrheit der sozialistischen Partei. Bezeichnend ist eine Äußerung des Vorsitzenden der Jungsozialisten in Burma. »Wer kein Soldat war, ist kein perfekter Mann.« Im nördlichen Teil Burmas macht eine Rebellenbewegung nach wie vor die Wege unsicher. Die Aufständischen erhalten Unterstützung aus China, doch scheint die Regierung allmählich die Oberhand zu gewinnen. In Indien ist Nehru die überragende Persönlichkeit, aber er kann sich auf eine Führungsschicht stützen, die energiegeladen und von ihrer Aufgabe durchdrungen ist. Auch die Industriellen erken- nen die sozialistische Politik der Regierung als einzig mögliche Politik an. Die soziali- stischen Züge dieser Politik kommen in folgendem zum Ausdruck, in der Überzeu- gung, daß eine Hebung des Lebensstandards nur durch eine entscheidende Verände- rung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse möglich ist und daß es Aufgabe des Staates ist, diese Aufgabe durchzuführen. Die Industrie ist staatlich gelenkt und auf dem Lande soll nach einer Landreform die genossenschaftliche Kooperation vorherrschen. Der Kommunismus findet in der indischen Intelligenz eine erhebliche Resonanz und hat großen Einfluß. Alle Gesprächspartner lehnten jedoch den Kommu- nismus entschieden ab. Deist erläuterte dann im einzelnen die Aufgaben, vor denen die indische Politik steht. Da von dem jährlichen Zuwachs des Sozialprodukts in Höhe von 4 bis 4 1/2% der größte Teil aufgefressen wird durch den Bevölkerungszuwachs und durch Investitio- nen, bleibt für eine Hebung des Lebensstandards praktisch kein Raum. Die Fraktion hat eine Arbeitsgruppe gebildet, die ein Programm für die Entwicklungsländer ausar- beiten soll.12 Diese Arbeitsgruppe wird die Ergebnisse der Reise auswerten. Dabei wird unter anderem von drei Thesen auszugehen sein: 1. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Entwicklungsländer ist in Europa noch nicht genügend erkannt worden. 2. Indien hat es sich zum Ziel gesetzt, in 2 bis 3 Jahrzehnten das zu erreichen, was in Europa 200 bis 300 Jahre in Anspruch genommen hat. Es handelt sich hier um einen gewaltigen Entwicklungsprozeß, der als ein gefährliches Abenteuer bezeichnet werden kann. 3. Der Aufbauprozeß geschieht in allen diesen Ländern Südostasiens unter sozia- listischem Vorzeichen. Es gibt gegenüber dem Kommunismus in den Entwicklungslän- dern keine andere Alternative als den demokratischen Sozialismus. Deist schließt seine Ausführungen mit folgender Schlußbemerkung: Mit der Entwicklung dieser Länder ergibt sich eine Veränderung der Weltwirtschaftsstruktur. Dies wirkt sich auf unsere Wirtschaft aus. Wir müssen den Entwicklungsländern die Gelegenheit geben, dort zu exportieren, wo sie stark sind, um Importe bezahlen zu können. Der niedrige Lebens- standard in diesen Ländern stellt kein Lohndumping dar. Wir müssen uns damit abfin- den, daß in Europa bestimmte Produktionsbereiche nicht dieselbe Existenzberechti- gung haben wie bisher. Es handelt sich hier nicht nur um eine theoretische Frage. Unser außenpolitischer Apparat ist in keiner Weise in diesen Ländern ausreichend besetzt. Dies mag mit dem mangelnden Verständnis für sozialistische Ideen zusammenhängen.

11 Zu N. M. Perera und seiner »Lanka Sama Samaja Party« vgl.: Robert N. KEARNY, The Politics of Ceylon (Sri Lanka), Ithaca/London 1973, S. 91, 119-123. 12 Zur Konstituierung der Arbeitsgruppe Entwicklungsländer vgl.: Schreiben von Deist an Bading vom 25. 3. 1959, in: AdsD, NL Bading 12. Allg. zur Arbeit der Fraktion auf diesem Gebiet: AdsD, SPD- BT-Fraktion 3. WP 47-49.

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Mit Rücksicht auf die vorgeschrittene Zeit verzichtet Ernst Meyer auf eine Ergänzung des Berichts Deists. Paul Bleiß berichtet über die Algerienreise.13 Einleitend kritisiert er den von Adolf Ludwig am gleichen Tage im SPD-Pressedienst erschienen Bericht.14 Er ist der Auf- fassung, daß Frankreich mit den bisherigen Methoden nicht in der Lage sein wird, das Algerienproblem zu lösen. Von den 10 Millionen Einwohnern Algeriens sind 9 Millio- nen Moslems. Einen entscheidenden Einfluß auf die französische Politik haben die 20 000 Plantagenbesitzer und rund 80 000 Franzosen, die in der Verwaltung tätig sind. Die Zahl der Aufständischen wird auf 100 000 bis 120 000 geschätzt. Ihr Einfluß ist um so größer, je weiter die Entfernung von der Stadt ist. Es werden 500 000 französische Sol- daten in Algerien eingesetzt. Die jährlichen Kosten belaufen sich auf vermutlich 7 bis 9 Milliarden DM. Man hat den Eindruck, daß sich das ganze Land im Kriegs- oder Bela- gerungszustand befindet. Auch in den Großstädten herrscht abends ein totales Ausgeh- verbot. Praktisch an jeder Ecke steht Militär oder Polizei. Bleiß hebt die wachsende Grausamkeit der Kriegführung hervor. Verdächtige Ortschaften werden »regroupé«, d. h. evakuiert, und 130 000 Menschen sind auf diese Weise regruppiert worden. Die Un- ruhen haben letzten Endes ihre Ursachen in wirtschaftlichen und sozialen Faktoren und in der Beschränkung der demokratischen Rechte der Moslems. Man beginne jetzt, dieses zu erkennen. Nach dem Constantineplan15 sollen in fünf Jahren 500 Milliarden Franc in Algerien investiert werden, vor allem in Straßen- und Kasernenbau, im Schul- und Wohnungsbau. Der Plan dürfte aber kaum geeignet sein, eine wesentliche wirt- schaftliche und soziale Besserung herbeizuführen. Die Investitionen sind vor allem auf den öffentlichen Bereich beschränkt. Wenig ist für die Intensivierung der Landwirt- schaft geplant und keine Mittel sind für die Sicherung eines sozialen Existenzminimums vorgesehen. Dabei beträgt das Durchschnittseinkommen der Algerier nur rund 22,50 DM im Monat, bei Preisen, die unserem Niveau entsprechen. Die Mittel für die Ar- beitsplatzbeschaffung reichen gerade aus, um den Zuwachs an Arbeitskräften aufzufan- gen, ohne eine Verminderung der laufenden Arbeitslosigkeit. Voraussetzung für die wirtschaftliche Erschließung der Sahara ist der Bau von Straßen und Pipelines, was ohne eine militärische Befriedung kaum möglich ist. Die Amerikaner sind zu Investi- tionen zur Zeit daher auch nicht bereit. Bilanz: Algerien ist ein Land mit einer wirtschaftlichen Zukunft. Die Wirtschaft muß aber organisch von unten herauf aufgebaut werden, hierzu gehören verkehrswirtschaft- liche Erschließung, verbesserte Bodenkultur, Seßhaftmachung der Nomaden, verstärk- ter Wohnungsbau, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Aufhebung der Handelsbe- schränkungen mit den Nachbarländern. Ohne eine Beteiligung der Bevölkerung ist ein Aufbau des Landes nicht möglich. Eine Befriedung nach französischem Muster er- scheint nicht durchführbar. Hans-Jürgen Wischnewski: Entspricht eine in der französischen Presse zitierte Äuße- rung eines SPD-Abgeordneten den Tatsachen, wonach die Unabhängigkeit Algeriens unmöglich sei?

13 Die vier SPD-Abgeordneten gehörten einer 12-köpfigen Bundestagsdelegation an, die Mitte März auf Einladung der französischen Regierung Algerien besuchte; vgl. den Bericht im »Spiegel«, Nr. 10 vom 4. 3. 1959, S. 24. 14 Vgl. den Artikel Ludwigs »Eindrücke von einer Reise durch Algerien« im SPD-Pressedienst, P/XIV/80 vom 9. 4. 1959. 15 Bei einem Aufenthalt in Algerien verkündete de Gaulle am 3. 10 1958 in Constantine einen Fünf- Jahres-Plan zur sozialen und wirtschaftlichen Gesundung des Landes; vgl. AdG 28, 1958, S. 7324 f.

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Paul Bleiß: Weder er noch Blachstein noch Ludwig haben eine derartige Äußerung getan. Birkelbach habe erklärt, daß er lediglich gesagt habe, daß sich die Autonomie Algeriens nicht von heute auf morgen verwirklichen lasse, sondern nur stufenweise. Harri Bading verzichtet auf eine mündliche Darstellung seines Berichtes. Er hat seinen Bericht schriftlich eingereicht.16 Heinrich Deist schließt die Sitzung gegen 13.00 Uhr. Bonn, den 14. April 1959 AK/IV/Schr./Ge. Für das Protokoll: Konrad Schayer

16 Eine Bundestagsdelegation, der Bading angehörte, bereiste im Januar 1959 den Irak, Libanon und Jordanien; vgl. den »Bericht über eine Informationsreise nach dem Vorderen Orient« vom 18. 2. 1959 (vervielf. Expl.), in: AdsD, NL Bading 12.

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