SPD – 03. WP Fraktionssitzung: 10. April. 1959 44 10. April 1959: Fraktionssitzung AdsD, SPD-BT-Fraktion 3. WP 88.1 Überschrift: »Kurzprotokoll der Fraktionssitzung der SPD am Donnerstag, den 10. 4. 1959«. Tagesordnung: Reiseberichte 1. Besuch der Genossen Erler, Paul, Mattick und Metzger in Belgrad und Prag; Be- richterstatter: Erler und Paul 2. Reise der Genossen Deist und Kurlbaum nach Südostasien; Berichterstatter: Heinrich Deist 3. Reise der Genossen Blachstein, Birkelbach, Bleiß und Ludwig nach Algerien; Be- richterstatter: Paul Bleiß 4. Reise des Genossen Harri Bading nach dem Irak; Berichterstatter: Harri Bading Vorsitz: Fritz Erler, anschließend Heinrich Deist Fritz Erler berichtet über die Reise nach Jugoslawien.2 Gespräche wurden geführt mit Kardelj, Vlachovicz, Popovicz, Bebler und Tito.3 Zum Thema Berlin vertraten die Gesprächspartner die Auffassung, daß eine Lösung in größeren Zusammenhängen (europäische Sicherheit, Disengagement) vorzuziehen sei, notfalls müsse aber eine isolierte Lösung, evtl. unter Einschaltung der UNO, ins Auge gefaßt werden. Eine andere Nuancierung war bei Tito selbst festzustellen, der eine isolierte Lösung weder für nützlich noch möglich hielt: sie würde nur Anlaß zu neuen Konflikten sein. Ein Disengagement wurde lebhaft begrüßt. Gesprochen wurde auch über eine evtl. Beteiligung Jugoslawiens an den Mächteverhandlungen, da es mindestens genauso be- troffen sei wie Polen und die ČSSR. Das Thema atomwaffenfreie Zone wurde von den Gesprächspartnern nicht von selbst aufgeworfen, man zeigte sich aber dieser Frage gegenüber sehr aufgeschlossen. Erler verglich im Gespräch in diesem Zusammenhang das Bedroht-Fühlen Jugoslawiens durch Albanien mit dem Bedroht-Fühlen Ulbrichts durch Westberlin. Tito warf u. a. bei Erörterung des Deutschlandplans die Frage auf, warum von uns freie Wahlen erst in der dritten Etappe verlangt würden. Für Ulbricht waren keine Sympa- thien festzustellen. Zum kommunistischen China wurde sehr vorsichtig Stellung ge- nommen. Man zeigte unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse in China Verständnis für die Kollektivierungsmaßnahmen, insbesondere in der Landwirtschaft (Durchdringung der Bevölkerung mit kommunistischer Idee). Die Angriffe der Chine- 1 Die masch. Erstfassung des Protokolls sowie ein zusätzlicher Durchschlag befinden sich bei den Akten des Arbeitskreises Sozialpolitik der Fraktion. 2 Die Reise dauerte vom 24. 3.-28. 3. 1959; vgl. hierzu allg.: PPP-Mitteilungen vom 24. 3. und 2. 4. 1959; AdsD, NL Erler 153. 3 Edvard Kardelj, einer der führenden Theoretiker der KPJ, war zu dieser Zeit Vizepräsident des jugoslawischen Bundesexekutivrats; Veljko Vlachovicz war Vorsitzender der Kommission für Aus- landsbeziehungen des Sozialistischen Bundes; Kocza Popovicz war 1953-1965 jugoslawischer Au- ßenminister; Aleš Bebler war Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses der Bundesvolksver- sammlung. Copyright © 2017 KGParl 1 SPD – 03. WP Fraktionssitzung: 10. April. 1959 sen auf Jugoslawien seien eigentlich gegen die Russen gemünzt. Erler: Meinen auch die Russen, wenn sie Jugoslawien angreifen, eigentlich China? Antwort: Nein, die Polen. Das Gespräch zwischen Carlo Schmid und Erler mit Chruschtschow beurteilte Tito wie folgt: Man dürfe nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß die Russen auf allem behar- ren, was sie sagen. Durch Aufstellung maximaler Forderungen könnte eine Verstärkung der Verhandlungsposition beabsichtigt sein. Daher sei ein »Nein an der richtigen Stelle« angebracht. Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik4 wurde bedau- ert und in diesem Zusammenhang von einem Rückgang des Warenaustausches um 22% gesprochen. An der Wiedervereinigung Deutschlands zeigte man sich insbesondere deshalb interes- siert, weil man befürchtet, daß das gespaltete Deutschland ein Unruheherd und damit ein potentieller Brandherd sein könnte. Abschließend wies Erler darauf hin, daß der Lebensstandard der jugoslawischen Arbei- ter außerordentlich niedrig sei bei einem Durchschnittsverdienst zwischen DM 120,- und 140,-. Dennoch herrsche das Gefühl vor, daß sich die Lage allmählich verbessere. Ernst Paul berichtet über die Reise in die ČSSR.5 Das politische Klima in Prag war wesentlich härter als in Belgrad; Belgrad erschien im Vergleich geradezu liberal zu sein. Gespräche wurden u. a. geführt mit dem Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes, mit zuständigen Beamten des Außenministeriums, mit Abgeordneten des Auswärtigen Ausschusses und mit dem Außenminister David. Die zuständigen Beamten des Au- ßenministeriums hielten sich streng an die Richtlinien, die ihnen David gegeben hatte, ganz offensichtlich unter dem unmittelbaren Einfluß von Ulbricht, der kurz zuvor selbst mit David in Karlsbad gesprochen hatte.6 Tatsächlich habe man über David mit Ulbricht ein Gespräch geführt: Die Vorschläge der SPD zur Wiedervereinigung seien unannehmbar; Berlin sei ein Zentrum der Spionage; die aggressiven Pläne des Imperia- lismus richteten sich auch gegen die ČSSR; eine Einbeziehung Ungarns in das Disenga- gement sei nicht vertretbar. – Der Deutschlandplan habe ein »Verschlucken der DDR« zum Ziele, er »gefährde die sozialistischen Errungenschaften«. Die Wiedervereinigung sei eine Sache der Deutschen selbst. Warum würden nicht direkte Gespräche mit der SED geführt? Das Gespräch mit David habe nicht weniger als 5 Stunden gedauert, es sei erschöpfend, aber nicht positiv gewesen. Aus der Unzufriedenheit über das Gespräch habe man kein Hehl gemacht. Daraufhin habe sich erwiesen, daß auch die Kommunisten in der ČSSR keinen monolithischen Block darstellen. Etwa 2000 – 3000 junge Kommunisten, die sog. »Gottwald-Kinder«, die Gottwald einer sehr gründlichen, systematischen Schulung und Ausbildung unter- zogen habe, seien das tragende Element der Partei.7 Mit diesen jungen, nüchterner 4 Hierzu Nr. 2, TOP 2. 5 Die Reise in die ČSSR, an der Erler nicht teilnahm, fand Anfang April 1959 statt; vgl. hierzu den Artikel von Paul »Politische Gespräche in Prag« im SPD-Pressedienst, P/XIV/85 vom 15. 4. 1959 sowie dessen Erinnerungen, in: ABGEORDNETE II, S. 163-165. 6 Zum Besuch Ulbrichts in der Tschechoslowakei Mitte März vgl. »Neues Deutschland« vom 18. 3. 1959. 7 Klement Gottwald (1896-1953) führte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Ministerpräsident, später als Staatspräsident die gesellschaftliche und staatliche Umwandlung der Tschechoslowakei im kommunistische Sinne durch. Zur Bedeutung der Jugenderziehung in dieser Phase vgl.: Edward TABORSKY, Communism in Czechoslovakia 1948-1960, Princeton 1961, S. 506-594. Copyright © 2017 KGParl 2 SPD – 03. WP Fraktionssitzung: 10. April. 1959 denkenden Leuten könne man reden. Einigen von ihnen sei es zu verdanken, daß das abschließende Gespräch fruchtbarer verlief als die vorhergegangenen Verhandlungen. Dieses abschließende Gespräch wurde mit Hendrych, einem der acht Mitglieder des Politbüros, geführt.8 Es unterschied sich in Ton und Art sowie in der positiveren Ein- stellung zum Deutschlandplan. Dabei habe sich erwiesen, wie nützlich es gewesen sei, unsere Konzeption schriftlich niederzulegen. Hendrych bezeichnete den Deutschlandplan als einen im ganzen gesehen guten Beitrag, wenn auch im einzelnen Vorbehalte zu machen seien. »Faktisch« würde durch ihn die DDR anerkannt. Durch die Ausführungen klang immer wieder die Furcht vor dem »deutschen Militarismus« und dem »Revanchismus« durch. Unter Revanchismus ver- steht man die Organisationen der Vertriebenen. Von uns sei hervorgehoben worden, daß in einer Demokratie die Koalitionsfreiheit nicht schlechthin aufgehoben werden könne. Man könne weder von den Vertriebenen verlangen, daß sie »danke schön« sa- gen, noch könne eine deutsche Partei die 6 Millionen Wählerstimmen der Vertriebenen einfach ignorieren. Zur Frage der Wiedervereinigung wurde wieder darauf hingewiesen, daß das Sache der Deutschen sei. Erst müsse der Friedensvertrag kommen. Wirtschaftlichen Beziehungen mit der Bundesrepublik stehe man positiv gegenüber, man will davon profitieren. Eine anschließende Reise durch das Sudetengebiet habe vor Augen geführt, welch gro- ße Verheerungen durch die Vertreibung angerichtet worden sind. Fazit: Obwohl die Führung dieser Gespräche nicht einfach sei, erwiesen sie sich doch als nützlich. Man sollte sie auf der Basis der Gegenseitigkeit unter Beachtung des Son- derfalls des Ulbricht-Regimes in Zukunft fortsetzen. Der Gedankenaustausch trage zur Auflockerung des Blocks bei. Ludwig Metzger ergänzt einige, ihm wichtig erscheinende Einzelheiten. David habe als Punkte, mit denen er übereinstimme, u. a. genannt: Ein Abkommen über die europäi- sche Sicherheit, militärische Entspannung, den Rapacki-Plan, die atomwaffenfreie Zo- ne. Interessant sei, daß er kritisiert habe, daß wir verlangten »erst Wiedervereinigung, dann Friedensvertrag«. Dies beweise, daß David über den Deutschlandplan nicht rich- tig informiert worden ist. Ferner sei seine Zustimmung zur Konföderation nicht ver- bunden gewesen mit einer Anerkennung der Berechtigung der Wiedervereinigung. David habe hervorgehoben, daß sich im friedlichen Wettbewerb erweisen müsse, wel- ches System das bessere sei. Bedeutsam erscheine ferner eine Äußerung von Vlachovicz, der gesagt habe, daß man Gegenvorschläge machen müsse, sonst könne man die wirkliche Haltung der Sowjets nicht in Erfahrung bringen. Popovicz habe gemeint, daß die Äußerungen Chruschtschows hinsichtlich der Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO nicht zu ernst genommen werden sollten, während Kardelj in dieser Frage eine andere Auffassung vertrat. Kurt Mattick ergänzt die Berichte, denen er inhaltlich
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