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Plenarprotokoll 16/148

Deutscher

Stenografischer Bericht

148. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Inhalt:

Nachruf auf die ehemalige Bundestagsprä- zes zur Öffnung des Messwesens bei sidentin Dr. h. c. Annemarie Renger ...... 15539 A Strom und Gas für Wettbewerb (Drucksache 16/8306) ...... 15542 A Nachruf auf den Abgeordneten Johann- Henrich Krummacher ...... 15539 C c) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, , Dr. , weite- Wahl des Abgeordneten so- rer Abgeordneter und der Fraktion der wie von Herrn Professor Richard Schröder FDP: Öffnung des Messwesens bei und Frau Ulrike Poppe in den Beirat nach Strom und Gas für Wettbewerb be- § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ...... 15540 A schleunigen Wahl der Abgeordneten als (Drucksache 16/7872) ...... 15542 A stellvertretendes Mitglied des Gemeinsamen , Bundesminister Ausschusses nach Art. 53 a des Grundge- BMWi ...... 15542 A setzes ...... 15540 A Gudrun Kopp (FDP) ...... 15544 B Wahl der Abgeordneten Elke Reinke als Schriftführerin ...... 15540 B Rolf Hempelmann (SPD) ...... 15546 A Absetzung des Tagesordnungspunktes 19 . . . 15540 B (DIE LINKE) ...... 15548 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ nung ...... 15540 B DIE GRÜNEN) ...... 15550 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 15540 D Dr. (DIE LINKE) . . 15551 A Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Undine Kurth (Quedlinburg) neten Gerd Höfer, Alfred Hartenbach, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . 15551 C Rainder Steenblock und Thomas (SPD) ...... 15553 B Kossendey ...... 15541 C Dr. (CDU/CSU) ...... 15554 C Begrüßung des Präsidenten der Abgeordne- tenkammer des Großherzogtums Luxemburg, (SPD) ...... 15555 D Herrn Lucian Weiler ...... 15541 D Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 15557 A (SPD) ...... 15557 D Tagesordnungspunkt 3: Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 15558 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Förderung der Kraft-Wärme- Tagesordnungspunkt 4: Kopplung (Drucksache 16/8305) ...... 15541 D a) Antrag der Abgeordneten , , Patrick Meinhardt, weiterer b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Wissenschaftsfreiheitsgesetz einführen – II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. , Donnerstag, den 6. März 2008

Mehr Freiheit und Verantwortung für c) Erste Beratung des von der Bundesregie- das deutsche Wissenschaftssystem rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 16/7858) ...... 15559 A zes zu dem Vertrag vom 8. September 2006 zwischen der Bundesrepublik b) Antrag der Abgeordneten Priska Hinz Deutschland und der Republik Trini- (Herborn), , Grietje Bettin, dad und Tobago über die Förderung weiterer Abgeordneter und der Fraktion und den gegenseitigen Schutz von Kapi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wissen- schaftssystem öffnen – Mehr Qualität talanlagen durch mehr verantwortliche Selbststeue- (Drucksache 16/8251) ...... 15580 A rung und Kooperation d) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/8221) ...... 15559 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- c) Beschlussempfehlung und Bericht des zes zu dem Vertrag vom 1. August 2006 Ausschusses für Bildung, Forschung und zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Technikfolgenabschätzung zu dem An- land und der Republik Madagaskar trag der Abgeordneten Dr. , über die gegenseitige Förderung und Cornelia Hirsch, Volker Schneider (Saar- den gegenseitigen Schutz von Kapital- brücken) und der Fraktion DIE LINKE: anlagen Die Zukunft der Lehre und Forschung (Drucksache 16/8252) ...... 15580 A an Hochschulen mit Hilfe der Junior- e) Erste Beratung des von der Bundesregie- professur stärken rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksachen 16/3192, 16/8369) ...... 15559 D zes zu dem Abkommen vom Cornelia Pieper (FDP) ...... 15560 A 8. November 2006 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Repu- Dr. , Bundesministerin blik Guinea über die gegenseitige För- BMBF ...... 15561 B derung und den gegenseitigen Schutz Volker Schneider (Saarbrücken) von Kapitalanlagen (DIE LINKE) ...... 15562 D (Drucksache 16/8253) ...... 15580 B René Röspel (SPD) ...... 15565 B f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 15567 A zes zu dem Vertrag vom 5. Februar Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ 2007 zwischen der Bundesrepublik DIE GRÜNEN) ...... 15567 C Deutschland und dem Königreich Bahrain über die Förderung und den (CDU/CSU) ...... 15569 D gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- gen Dr. , Minister (Drucksache 16/8254) ...... 15580 B (Nordrhein-Westfalen) ...... 15571 B g) Erste Beratung des von der Bundesregie- Swen Schulz (Spandau) (SPD) ...... 15573 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Marion Seib (CDU/CSU) ...... 15575 B zes zu dem Vertrag vom 30. Mai 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Jörg Tauss (SPD) ...... 15576 A land und dem Sultanat Oman über die Carsten Müller (Braunschweig) Förderung und den gegenseitigen (CDU/CSU) ...... 15578 C Schutz von Kapitalanlagen (Drucksache 16/8255) ...... 15580 B h) Antrag der Abgeordneten Rainer Tagesordnungspunkt 28: Brüderle, , Dr. Karl Addicks, a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- der FDP: Privatisierung öffentlicher derung des Haushaltsgrundsätzege- Aufgaben zur Stärkung der sozialen setzes (HGrGÄndG) Marktwirtschaft (Drucksache 16/7252) ...... 15579 D (Drucksache 16/7735) ...... 15580 C b) Erste Beratung des von der Bundesregie- i) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Terpe, , Elisabeth zes zur Änderung des Einheitengesetzes Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und und des Eichgesetzes, zur Aufhebung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des Zeitgesetzes, zur Änderung der Ein- NEN: Versorgungsqualität der Substi- heitenverordnung und zur Änderung tutionsbehandlung für Opiatabhängige der Sommerzeitverordnung verbessern (Drucksache 16/8308) ...... 15580 A (Drucksache 16/8212) ...... 15580 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 III j) Antrag der Abgeordneten Uwe b) Beschlussempfehlung und Bericht des Schummer, , Michael Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- Kretschmer, weiterer Abgeordneter und entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- neten Patrick Döring, Hans-Michael geordneten , Jörg Tauss, Ulla Goldmann, (Bayreuth), Burchardt, weitere Abgeordneter und der weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fraktion der SPD: Neuausrichtung der der FDP: Obligatorische Haftpflichtver- Europäischen Stiftung für Berufsausbil- sicherung für gewerbliche Binnen- dung schiffe beim Transport gefährlicher Gü- (Drucksache 16/8382) ...... 15580 D ter (Drucksachen 16/6640, 16/8030) ...... 15581 C k) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationale Strategie zur biologischen c) Beschlussempfehlung und Bericht des Vielfalt Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- (Drucksache 16/7082) ...... 15580 D gie – zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Einundachtzigste Verordnung Tagesordnungspunkt 16: zur Änderung der Außenwirt- Erste Beratung des von der Bundesregierung schaftsverordnung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu – zu der Verordnung der Bundesregie- dem Vertrag vom 22. November 2004 über rung: Zweiundachtzigste Verord- das Europäische Korps und die Rechtsstel- nung zur Änderung der Außenwirt- lung seines Hauptquartiers zwischen der schaftsverordnung Französischen Republik, der Bundesrepu- blik Deutschland, dem Königreich Belgien, – zu der Verordnung der Bundesregie- dem Königreich Spanien und dem Groß- rung: Einhundertfünfundfünfzigste herzogtum Luxemburg (Straßburger Ver- Verordnung zur Änderung der Ein- trag) fuhrliste – Anlage zum Außenwirt- (Drucksache 16/8250) ...... 15581 A schaftsgesetz – (Drucksachen 16/7795, 16/7796, 16/7797, 16/8261) ...... 15581 D Zusatztagesordnungspunkt 2: d)–m) a) Antrag der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, Sabine Leutheusser- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Schnarrenberger, Dr. Karl Addicks, weite- schusses: Sammelübersichten 363, 364, rer Abgeordneter und der Fraktion der 365, 366, 367, 368, 369, 370, 371 und 372 FDP: Vorschlag für eine Verordnung zu Petitionen des Rates über die Zuständigkeit und (Drucksachen 16/8201, 16/8202, 16/8203, das anwendbare Recht in Unterhalts- 16/8204, 16/8205, 16/8206, 16/8207, 16/8208, sachen, die Anerkennung und Voll- 16/8209, 16/8210) ...... 15582 B streckung von Unterhaltsentscheidun- gen und die Zusammenarbeit im Bereich der Unterhaltspflichten Zusatztagesordnungspunkt 3: (Drucksache 16/8377) ...... 15581 A Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion b) Antrag der Abgeordneten , BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unterschied- , Horst Meierhofer, liche Auffassungen in der Bundesregierung weiterer Abgeordneter und der Fraktion zu den Folgerungen aus der Online-Ent- der FDP: Freiwilligen projektbasierten scheidung des Bundesverfassungsgerichts Klimaschutz auf verbreiteter Grund- vom 27. Februar 2008 lage voranbringen (Drucksache 16/7174) ...... 15581 B Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15583 A (CDU/CSU) ...... 15584 B Tagesordnungspunkt 29: Gisela Piltz (FDP) ...... 15585 B a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP Fritz Rudolf Körper (SPD) ...... 15586 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (DIE LINKE) ...... 15587 B zur Änderung des Wahlprüfungsgeset- zes (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/7463, 16/8354) ...... 15581 B DIE GRÜNEN) ...... 15588 B IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Tagesordnungspunkt 5: KOM (2007) 551 endg.; Ratsdok. 13278/07 (Drucksachen 16/6865 Nr. 1.19, 16/8360) . . . 15599 C a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Sören Bartol (SPD) ...... 15599 D eines Gesetzes zur Förderung von Ju- Patrick Döring (FDP) ...... gendfreiwilligendiensten 15601 A (Drucksachen 16/6519, 16/6967, 16/8256) 15589 B Klaus Hofbauer (CDU/CSU) ...... 15602 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 15603 B Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15604 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Dr. Karl Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär Addicks, , weiterer BMVBS ...... 15605 C Abgeordneter und der Fraktion der Bernhard Kaster (CDU/CSU) ...... 15606 A FDP: Jugendfreiwilligendienste in einen gemeinsamen Gesetzesrahmen (SPD) ...... 15607 B zusammenfassen – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Tagesordnungspunkt 7: Gehring, Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und Große Anfrage der Abgeordneten Kersten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Naumann, , , weite- NEN: Jugendfreiwilligendienste aus- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE bauen und Gesamtkonzeption ent- LINKE: Förderung der demokratischen wickeln Teilhabe und Stärkung des Petitionsrechts (Drucksachen 16/2181, 16/6785) ...... 15608 A – zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Bericht der Bundes- Kersten Naumann (DIE LINKE) ...... 15608 B regierung zu Prüfaufträgen zur Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 15609 C Zukunft der Freiwilligendienste, Ausbau der Jugendfreiwilligen- Jens Ackermann (FDP) ...... 15611 B dienste und der generationsüber- Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 15612 C greifenden Freiwilligendienste als zivilgesellschaftlicher Generationen- (BÜNDNIS 90/ vertrag für Deutschland DIE GRÜNEN) ...... 15613 D (Drucksachen 16/6769, 16/6771, 16/6145, Carsten Müller (Braunschweig) 16/8256) ...... 15589 B (CDU/CSU) ...... 15615 B Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 15589 D Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 15616 A Sibylle Laurischk (FDP) ...... 15591 B Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 15616 D Sönke Rix (SPD) ...... 15592 B Elke Reinke (DIE LINKE) ...... 15593 B Tagesordnungspunkt 8: Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Bernd Siebert, DIE GRÜNEN) ...... 15594 B , Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär CSU sowie der Abgeordneten Rainer BMFSFJ ...... 15595 C Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, Sibylle Laurischk (FDP) ...... 15596 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Konzept der Inneren Führung Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 15597 A stärken und weiterentwickeln (Drucksache 16/8378) ...... Dieter Steinecke (SPD) ...... 15598 A 15618 A b) Antrag der Abgeordneten , , Marieluise Tagesordnungspunkt 6: Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- GRÜNEN: Bundeswehr – Innere Füh- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- rung konsequent umsetzen lung zu der Unterrichtung durch die Bundes- (Drucksache 16/8370) ...... 15618 A regierung: Grünbuch – Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt (inkl. 13278/07 ADD 1) in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 V

Zusatztagesordnungspunkt 4: Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP , Dr. Rainer Stinner, weiterer Abge- und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für freie ordneter und der Fraktion der FDP: Innere und demokratische Parlamentswahlen im Führung stärken und weiterentwickeln Iran (Drucksache 16/8376) ...... 15618 A (Drucksache 16/8379) ...... 15636 D Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 15636 D (CDU/CSU) ...... 15618 B Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 15637 C Birgit Homburger (FDP) ...... 15619 D Harald Leibrecht (FDP) ...... 15638 D Gerd Höfer (SPD) ...... 15620 D (CDU/CSU) ...... 15639 C Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 15622 C Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 15641 A Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15623 C DIE GRÜNEN) ...... 15641 D Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) ...... 15624 C Tagesordnungspunkt 11: Petra Heß (SPD) ...... 15625 C a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgit Homburger, Martin Zeil, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Tagesordnungspunkt 9: Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset- a) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, zes zur Einsetzung eines Nationalen Nicole Maisch, , weiterer Normenkontrollrates Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Drucksache 16/7855) ...... 15642 D NIS 90/DIE GRÜNEN: Aktionsplan Er- nährung vorlegen b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 16/8193) ...... 15626 D Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu dem Antrag der Abgeordneten b) Beschlussempfehlung und Bericht des Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter schaft und Verbraucherschutz zu dem An- und der Fraktion DIE LINKE: Bürokra- trag der Abgeordneten Ulrike Höfken, tieabbau in Europa – Kein Freibrief Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer zum Abbau von Arbeits- und Umwelt- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- schutz NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucher- (Drucksachen 16/4204, 16/5196) ...... 15643 A freundliche Lebensmittelkennzeich- Martin Zeil (FDP) ...... 15643 A nung einführen (Drucksachen 16/6788, 16/7726) ...... 15626 D Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 15644 B Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 15645 D DIE GRÜNEN) ...... 15627 A Hildegard Müller (CDU/CSU) ...... 15646 C Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär (SPD) ...... 15647 A BMELV ...... 15628 C Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . 15648 D Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 15630 B (CDU/CSU) ...... 15649 B Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15631 A DIE GRÜNEN) ...... 15649 C Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 15631 D

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 12: DIE GRÜNEN) ...... 15632 C a) Antrag der Abgeordneten Uwe Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 15633 A Schummer, Ilse Aigner, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 15633 D der CDU/CSU sowie der Abgeordneten (DIE LINKE) ...... 15634 D Dr. , , Willi Brase, weiterer Abgeord- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 15635 B neter und der Fraktion der SPD: Rahmen- VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

bedingungen für Lebenslanges Lernen Tagesordnungspunkt 13: verbessern – Weiterbildung und Quali- Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, fizierung ausbauen und stärken Dr. , , weiterer Ab- (Drucksache 16/8380) ...... 15650 D geordneter und der Fraktion DIE LINKE: b) Antrag der Abgeordneten Kornelia Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser be- Möller, Volker Schneider (Saarbrücken), enden Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter (Drucksache 16/8375) ...... 15659 A und der Fraktion DIE LINKE: Der beruf- Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 15659 A lichen Weiterbildung den notwendigen Stellenwert einräumen Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) ...... 15660 A (Drucksache 16/7527) ...... 15650 D (Münster) (FDP) ...... 15661 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Eike Hovermann (SPD) ...... 15663 A Technikfolgenabschätzung Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 15664 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Volker Schneider (Saarbrücken), DIE GRÜNEN) ...... 15665 C Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zukunftsaufgabe Weiterbil- Tagesordnungspunkt 14: dung Erste Beratung des von der Bundesregierung – zu dem Antrag der Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Patrick Meinhardt, Cornelia Pieper, Durchführung der Verordnung (EG) Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und Nr. 1907/2006 (REACH-Anpassungsgesetz) der Fraktion der FDP: Offensive Wei- (Drucksache 16/8307) ...... 15666 B terbildung – Weiterbildung als 4. Säule des Bildungswesens ernst nehmen Tagesordnungspunkt 15: – zu dem Antrag der Abgeordneten Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, (Augsburg), Winfried Nachtwei, Marieluise Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordne- Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: DIE GRÜNEN: Lebenslanges Ler- 20 Jahre nach Halabja – Unterstützung für nen fördern die Opfer der Giftgasangriffe (Drucksache 16/8197) ...... 15666 C (Drucksachen 16/785, 16/2702, 16/4748, 16/8352) ...... 15651 A (CDU/CSU) ...... 15651 B Tagesordnungspunkt 17: Patrick Meinhardt (FDP) ...... 15652 C Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Cornelia Hirsch, , weiterer Abge- Jörg Tauss (SPD) ...... 15653 B ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) ...... 15654 B eine erleichterte Anerkennung von im Aus- land erworbenen Schul-, Bildungs- und Be- Volker Schneider (Saarbrücken) rufsabschlüssen (DIE LINKE) ...... 15655 B (Drucksache 16/7109) ...... 15666 D Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15656 B Tagesordnungspunkt 18: Dieter Grasedieck (SPD) ...... 15657 B Antrag der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken) (Bremen), (Köln), Alexander (DIE LINKE) ...... 15657 D Bonde, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zusam- menarbeit der EU mit Russland stärken Zusatztagesordnungspunkt 7: (Drucksache 16/8420) ...... 15667 A Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- Tagesordnungspunkt 20: nung zu einem Antrag: Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens Antrag der Abgeordneten Monika Lazar, Ute (Drucksache 16/8433) ...... 15658 D Koczy, Britta Haßelmann, weiterer Abgeord- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 VII neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Harald Leibrecht (FDP) ...... 15677 B GRÜNEN: Verbot des Neonazi-Schulungs- Dr. (DIE LINKE) ...... zentrums und Vereins „Collegium Huma- 15678 A num“ prüfen Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/8214) ...... 15667 A DIE GRÜNEN) ...... 15678 C

Tagesordnungspunkt 21: Anlage 5 Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten des Antrags: Für eine erleichterte Anerken- Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), nung von im Ausland erworbenen Schul-, Bil- Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord- dungs- und Berufsabschlüssen (Tagesord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE nungspunkt 17) GRÜNEN: Für eine wirksamere Kontrolle der Geheimdienste Marcus Weinberg (CDU/CSU) ...... 15679 B (Drucksachen 16/843, 16/4720) ...... 15667 C Gesine Multhaupt (SPD) ...... 15682 B Patrick Meinhardt (FDP) ...... 15684 B Nächste Sitzung ...... 15667 D Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 15685 A Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ Anlage 1 DIE GRÜNEN) ...... 15685 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15669 A Anlage 6 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Erklärung des Abgeordneten Volker Beck des Antrags: Zusammenarbeit der EU mit (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Russland stärken (Tagesordnungspunkt 18) Abstimmung über die Beschlussempfehlung (CDU/CSU) ...... 15686 A des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 369 zu Petitionen (Tagesordnungspunkt 29 j) . . . . 15669 C (Wiesloch) (SPD) ...... 15687 B Harald Leibrecht (FDP) ...... 15688 A

Anlage 3 (DIE LINKE) ...... 15688 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines Gesetzes zur Durchfüh- DIE GRÜNEN) ...... 15689 C rung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH-Anpassungsgesetz) (Tagesordnungs- punkt 14) Anlage 7 (CDU/CSU) ...... 15669 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Verbot des Neonazi-Schulungs- Heinz Schmitt (Landau) (SPD) ...... 15671 D zentrums und Vereins „Collegium Humanum“ prüfen (Tagesordnungspunkt 20) Michael Kauch (FDP) ...... 15672 C Kristina Köhler (Wiesbaden) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 15673 B (CDU/CSU) ...... 15691 A Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Spanier (SPD) ...... 15691 D DIE GRÜNEN) ...... 15673 D (FDP) ...... Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin 15692 A BMU ...... 15674 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 15692 D Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... Anlage 4 15693 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: 20 Jahre nach Halabja – Unter- Anlage 8 stützung für die Opfer der Giftgasangriffe (Tagesordnungspunkt 15) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für eine wirksamere Kontrolle Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 15675 A der Geheimdienste (Tagesordnungspunkt 21) (SPD) ...... 15676 B Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) ...... 15694 C VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Michael Hartmann (Wackernheim) Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 15696 B (SPD) ...... 15695 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Dr. (FDP) ...... 15695 D DIE GRÜNEN) ...... 15697 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15539

(A) (C) Redetext

148. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Beginn: 9.02 Uhr

Präsident Dr. : Verstorbenen am kommenden Donnerstag hier im Deut- Die Sitzung ist eröffnet. schen Bundestag gedenken. Ich darf Sie bitten, für einen Augenblick stehen zu Schon Anfang der vergangenen Woche haben wir mit bleiben. Betroffenheit erfahren, dass unser Kollege Johann- Am Montag dieser Woche, am 3. März 2008, verstarb Henrich Krummacher am Montag, dem 25. Februar Annemarie Renger im Alter von 88 Jahren. Dr. h. c. 2008, im Alter von erst 61 Jahren nach kurzer und Annemarie Renger war von 1953 bis 1990 Mitglied des schwerer Krankheit verstorben ist. Deutschen Bundestages und von 1972 bis 1976 dessen Jo Krummacher wurde am 27. Dezember 1946 in erste Präsidentin und zugleich weltweit die erste Frau an Heidelberg geboren und studierte Evangelische Theolo- der Spitze eines frei gewählten Parlaments. gie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Hei- Am 7. Oktober 1919 in als Tochter eines füh- delberg und Tübingen. Nach zwei Jahrzehnten der Tätig- (B) renden Funktionärs der Arbeitersportbewegung geboren, keit im Pfarrdienst der Evangelischen Landeskirche (D) wuchs Annemarie Renger in einer Familie mit langer so- Baden-Württemberg sowie als Lehrer leitete er von 1996 zialdemokratischer Tradition auf. Nach dem Krieg bis 2005 als geschäftsführender Direktor die Evangeli- wurde Annemarie Renger, deren Mann in Frankreich ge- sche Akademie in Bad Boll. In seinen publizistischen fallen war, engste Mitarbeiterin und Vertraute Kurt Werken widmete er sich insbesondere Fragen aus dem Schumachers. Nach seinem Tod 1952 trat sie selbst in Bereich der Ethik, der Theologie, der Kunst und der Kul- die aktive Politik ein und wurde 1953 über die Landes- tur. Die beiden zuletzt genannten Themen förderte er ak- liste Schleswig-Holstein der SPD erstmals in den Bun- tiv als langjähriger Vorsitzender des Vereins für Kirche destag gewählt. Von 1969 bis 1972 war sie eine der vier und Kunst in der Evangelischen Landeskirche in Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Württemberg sowie als Gründer und Chefredakteur der Im Dezember 1972 wurde sie als Nachfolgerin von Kai- Kulturzeitschrift Das Plateau. Uwe von Hassel zur Bundestagspräsidentin gewählt. Nach Jahrzehnten beruflichen Engagements ent- Nur wer sich daran erinnert, welchen Bedenken die schloss sich Johann-Henrich Krummacher, als aktiver erste Bundestagspräsidentin sich innerhalb wie außer- Christ auch politisch tätig zu werden. Er trat 2001 in die halb des Parlamentes gegenübersah, kann die Genug- Christlich Demokratische Union Deutschlands ein und tuung ermessen, mit der sie vier Jahre später beim Wech- errang bereits bei den Bundestagswahlen 2005 im Wahl- sel in das Amt einer Vizepräsidentin feststellen konnte, kreis Stuttgart I ein Direktmandat. Als Mitglied dieses dass sie bewiesen habe, dass eine Frau das kann. Die Hauses engagierte er sich besonders in den Bereichen Würde ihres Auftretens, ihre Bestimmtheit und ihr ener- Bildung, Wissenschaft, Kultur und Medien. Trotz der gischer Durchsetzungswille wie ihre Fähigkeit zum Kürze seiner Zugehörigkeit zu unserem Parlament hat er Kompromiss haben dazu beigetragen. gerade im Bereich der Kulturpolitik, den er als Mitglied Annemarie Renger hat wichtige Parlamentsreformen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des auf den Weg gebracht und sich persönlich stark für die Ausschusses für Kultur und Medien sowie des Aus- Aussöhnung mit unseren östlichen Nachbarn engagiert. schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- So leitete sie die ersten Bundestagsdelegationen auf ih- schätzung bearbeitete, wichtige Akzente setzen und sich ren Reisen nach Polen, nach Rumänien und in die über die Fraktionsgrenzen hinweg persönlich hohen Res- Sowjetunion. Ein besonderes Herzensanliegen von pekt und Anerkennung erwerben können. Annemarie Renger waren die Beziehungen zu Israel. Der Deutsche Bundestag wird ihr Andenken in Ehren Wir alle werden ihn als einen besonders liebenswürdi- bewahren. Im Rahmen eines Staatsakts werden wir der gen Kollegen in Erinnerung behalten. Seiner Familie, 15540 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) seiner Frau und seinen sechs Kindern, sprechen wir un- Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen (C) sere Anteilnahme aus. und die Zusammenarbeit im Bereich der Unterhaltspflichten Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. – Drucksache 16/8377 – Überweisungsvorschlag: Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Beginn unserer Rechtsausschuss (f) heutigen Sitzung müssen wir einige Wahlen durchfüh- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ren. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass Professor Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer, Richard Schröder und der Kollege Markus Meckel für weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eine weitere Amtszeit Mitglieder des Beirats nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bleiben sollen. Von der Freiwilligen projektbasierten Klimaschutz auf verbreiteter Grundlage voranbringen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Ulrike Poppe zur Wiederwahl benannt worden. Sind Sie mit diesen Vor- – Drucksache 16/7174 – schlägen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Überweisungsvorschlag: Dann sind die Herren Schröder und Meckel sowie Frau Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Poppe erneut in den Beirat nach § 39 des Stasi-Unterla- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gen-Gesetzes gewählt. ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die SPD-Fraktion schlägt außerdem vor, anstelle der Kollegin Christel Humme die Kollegin Caren Marks Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes- zum stellvertretenden Mitglied im Gemeinsamen Aus- regierung zu den Folgerungen aus der schuss nach Art. 53 a des Grundgesetzes zu wählen. Onlineentscheidung des Bundesverfassungs- Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist offenkun- gerichts vom 27. Februar 2008 dig der Fall. Dann ist die Kollegin Marks zum stellver- ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit tretenden Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses nach Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weite- Art. 53 a des Grundgesetzes gewählt. rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Kollegin Diana Golze hat aufgrund ihrer Innere Führung stärken und weiterentwickeln Schwangerschaft das Amt als Schriftführerin vorüberge- – Drucksache 16/8376 – hend niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt die Fraktion (B) Überweisungsvorschlag: (D) Die Linke die Kollegin Elke Reinke vor. Sind Sie damit Verteidigungsausschuss einverstanden? – Auch das ist der Fall. Damit ist die Kollegin Reinke zur Schriftführerin gewählt. ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Familie, Senioren, (Beifall bei der LINKEN) Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An- trag der Abgeordneten Irmingard Schewe- Bei diesem hohen Maß an Einmütigkeit besteht gute Gerigk, Volker Beck (Köln), Britta Haßelmann, Aussicht, dass auch die vereinbarten Veränderungen der weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Tagesordnung auf Zustimmung stoßen. Interfraktionell NIS 90/DIE GRÜNEN ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 19 abzu- Gleichstellung von Frauen und Männern in setzen und die verbundene Tagesordnung um die in der den Gremien des Bundes tatsächlich durch- Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: setzen ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen – Drucksachen 16/7739, 16/8412 – der CDU/CSU und SPD: Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Eva Möllring Computermesse CeBIT – IT-Forschung als Renate Gradistanac Wachstumsimpuls für Deutschland Ina Lenke (siehe 147. Sitzung) Elke Reinke Irmingard Schewe-Gerigk ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen fahren DIE LINKE: (Ergänzung zu TOP 28) Massenentlassungen bei deutschen DAX-Kon- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten zernen trotz Gewinnexplosion Mechthild Dyckmans, Sabine Leutheusser- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Schnarrenberger, Dr. Karl Addicks, weiterer Ab- weit erforderlich, abgewichen werden. geordneter und der Fraktion der FDP Der bisher zur Aussprache vorgesehene Tagesord- Vorschlag für eine Verordnung des Rates über nungspunkt 16 – hier handelt es sich um die erste Bera- die Zuständigkeit und das anwendbare Recht tung des Gesetzentwurfs zum Straßburger Vertrag – kann in Unterhaltssachen, die Anerkennung und ohne Debatte an die Ausschüsse überwiesen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15541

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Schließlich mache ich auf mehrere nachträgliche Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst (C) Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt- Burgbacher, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann, liste aufmerksam: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages Potenziale der Tourismusbranche in der Ent- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- wicklungszusammenarbeit durch Aufgaben- lich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Aus- bündelung im Bundesministerium für Wirt- schuss) zur Mitberatung überwiesen werden. schaft und Technologie ausschöpfen Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 16/8176 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- überwiesen: rung des Lebensmittel- und Futtermittel- Ausschuss für Tourismus (f) gesetzbuches sowie anderer Vorschriften Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – Drucksache 16/8100 – Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – überwiesen: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Widerspruch ist nirgendwo zu erkennen. Dann haben wir Verbraucherschutz (f) auch das einvernehmlich so beschlossen. Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gratuliere Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ich zu einer Reihe von Geburtstagen: Der Kollege Gerd Ausschuss für Arbeit und Soziales Höfer feierte am 23. Februar seinen 65. Geburtstag, und Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages der Kollege Alfred Hartenbach ist gestern 65 Jahre alt überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- geworden. lich dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Beifall) und Entwicklung (19. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Die Kollegen Rainder Steenblock und Thomas Kossendey begingen ihre 60. Geburtstage am 29. Fe- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- bruar und am 4. März. Im Namen des ganzen Hauses gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- gratuliere ich allen Jubilaren nachträglich sehr herzlich regelung des Rechts der Erneuerbaren Ener- und wünsche alles Gute. gien im Strombereich und zur Änderung (Beifall) damit zusammenhängender Vorschriften Auf der Ehrentribüne hat der Parlamentspräsident un- – Drucksache 16/8148 – (B) seres Nachbarlandes Luxemburg, der Präsident der Ab- (D) überwiesen: geordnetenkammer des Großherzogtums, Herr Lucien Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Weiler, mit seiner Delegation Platz genommen. – Im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Namen des ganzen Hauses begrüße ich Sie sehr herzlich, Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und liebe Kolleginnen und Kollegen. Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Beifall) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ich hatte gestern Abend schon Gelegenheit, Sie nicht nur in aller gebotenen Freundlichkeit zu begrüßen, son- Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages dern auch unsere Freude darüber zum Ausdruck zu brin- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- gen, dass Sie mit Ihrem Besuch und der hochrangigen lich dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak- Besetzung Ihrer Delegation aus allen Fraktionen des lu- torsicherheit (16. Ausschuss) zur Mitberatung überwie- xemburgischen Parlaments das große Interesse an mög- sen werden. lichst engen und traditionell freundschaftlichen Bezie- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- hungen zwischen unseren beiden Ländern deutlich gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem machen. Wir beteiligen uns gern an Ihren Bemühungen, Internationalen Übereinkommen von 2001 die Beziehungen auch zwischen unseren Parlamenten, über die Beschränkung des Einsatzes schädli- soweit es überhaupt noch geht, zu vertiefen. Für Ihren cher Bewuchsschutzsysteme auf Schiffen Aufenthalt bei uns und für Ihr weiteres parlamentari- (AFS-Gesetz) sches Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche. – Drucksache 16/8154 – Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: überwiesen: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde- Verbraucherschutz rung der Kraft-Wärme-Kopplung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 16/8305 – Der in der 146. Sitzung des Deutschen Bundestages Überweisungsvorschlag: überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wicklung (19. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung werden. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 15542 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Künftig soll jeder Verbraucher selbst bestimmen können, (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Öff- wer bei ihm den Strom oder das Gas abliest. Mithilfe so- nung des Messwesens bei Strom und Gas für genannter intelligenter Zähler wollen wir den Strom- Wettbewerb und Gaskunden die Möglichkeit eröffnen, ihren Energie- verbrauch selbst bedarfsgerecht und kostenoptimal zu – Drucksache 16/8306 – steuern. Man kann dann gleich ablesen, wie viel Strom Überweisungsvorschlag: gerade gebraucht wird. Die Verbraucherinnen und Ver- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und braucher sollen bei der Nutzung der Geräte die günstigs- Verbraucherschutz ten Tarife wählen und damit leichter sparen können. Das Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit schont den Geldbeutel der Verbraucherinnen und Ver- braucher, und es stärkt die Position der Kunden gegen- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun über den großen Energieversorgern. Auch über die muss Kopp, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weite- ich noch ein paar Worte verlieren. rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wichtigstes Ziel meiner Politik als Bundesminister Öffnung des Messwesens bei Strom und Gas für Wirtschaft ist, die Verbraucher zu stärken. Ich meine, für Wettbewerb beschleunigen dass die Verbraucherinnen und Verbraucher im Mittel- – Drucksache 16/7872 – punkt unserer Betrachtungsweise stehen müssen. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und neten der SPD) Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dazu gehört, dass wir den Wettbewerb auf diesem Ge- biet mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die ich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für jetzt nicht alle aufzählen will, gestärkt haben. Ein Bei- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Auch spiel dafür ist die Tatsache, dass die Stromkunden ihre hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Anbieter jetzt sehr rasch wechseln können. Ich kann nur schlossen. empfehlen, davon Gebrauch zu machen – das geschieht Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst bereits sehr rege –, dann allerdings immer streng darauf der Bundesminister Michael Glos. zu achten, dass der neue Lieferant innerhalb eines Jahres seine Bedingungen nicht so ändert, dass man wieder mehr bezahlt. Wir brauchen einfach kostenbewusstere Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft und Verbraucherinnen und Verbraucher. (B) Technologie: (D) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Die Maßnahmen, die wir zur Stärkung des Wettbe- Herren! Wir beraten heute, wie wir gerade vom Präsi- werbs und gegen den Missbrauch von Marktmacht im denten gehört haben, den Entwurf eines Gesetzes zur vergangenen Jahr auf den Weg gebracht haben, beginnen Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung und den Entwurf zu wirken. Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt eines Gesetzes zur Öffnung des Messwesens bei Strom machen von ihren neuen Instrumenten rege Gebrauch. und Gas für Wettbewerb. Ich meine, das sind zwei wich- So hat das Bundeskartellamt in den letzten Tagen ein tige Bausteine unseres Energie- und Klimaschutz- Preismissbrauchsaufsichtsverfahren gegen 35 Gasver- pakets. Wir wissen ja: Klimaschutz wollen wir alle. sorger eingeleitet. Darüber sind wir uns einig. Ich finde, Klimaschutz muss zu bezahlbaren Preisen möglich sein. Wir meinen, mit (Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE den Maßnahmen zur Erreichung der Klimaschutzziele LINKE]) müssen wir einen Weg wählen, der Verbrauchern und – Vielen Dank für den Beifall von ganz links. Unternehmungen im Land die geringstmöglichen Lasten auferlegt. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Die haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aber dagegen gestimmt! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dagegen stimmen und dann klat- Durch zusätzliche Flexibilität bei den Förderbedin- schen! Eigentor!) gungen ist es möglich, mit dem gleichen Geld mehr In- vestitionen in Kraft-Wärme-Kopplung auszulösen. Der Ich möchte noch einmal betonen: Für die länderüber- Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeu- greifenden Gasversorger ist das Bundeskartellamt zu- gung soll bis zum Jahr 2020 auf etwa 25 Prozent, also ständig. Für diejenigen, die sich auf ein Bundesland be- etwa auf das Doppelte, ansteigen. schränken, sind es die Landeskartellbehörden. Ich fordere die Landeskartellbehörden noch einmal nach- Stärkung der Verbraucher, mehr Wettbewerb im Ener- drücklich auf, von ihren gewachsenen Vollmachten Ge- giemarkt und Klimaschutz müssen sich ergänzen. Dies brauch zu machen. wird gerade im Messwesen bei Strom und Gas deut- lich. Bislang gibt es ein Monopol des Netzbetreibers für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und den Einbau und das Ablesen des Zählers. Damit soll jetzt der SPD) Schluss sein, nach dem Motto: Es ist aus damit, dass der Ich meine, Gewinne, ja, das ist selbstverständlich; aber Gasmann zweimal klingeln muss. Übermaßgewinne, die manche auf diesem Gebiet zu ver- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) einnahmen gewohnt sind, sind total falsch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15543

Bundesminister Michael Glos (A) In diesen Tagen findet auch eine Diskussion statt, in Mein Haus arbeitet deshalb für den zweiten Teil des (C) der sich das Bundesumweltamt als Sachverständiger Energie- und Klimapaketes an einem Netzausbaugesetz. über eine mögliche Stromlücke im Land zu profilieren Ziel ist eine Beschleunigung des Netzausbaus, damit in versucht hat. Das ist etwas, worüber wir uns Gedanken die Netze rasch investiert wird. Wir wollen Planungs- machen müssen. Der Energieminister ist auch für die sicherheit für den Netzausbau. Die Vorstellungen der Sicherheit der Energieversorgung zuständig. Natür- EU-Kommission zu einer sogenannten eigentumsrecht- lich werden in Deutschland und Europa morgen nicht lichen Entflechtung lehnt die Bundesregierung deshalb plötzlich die Lichter ausgehen. Heute wird aber darüber ab. Wir wollen nicht, dass das verpflichtend wird. entschieden, wie sicher die Versorgung morgen und übermorgen ist, und vor allen Dingen darüber, wie viel (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dann für Strom oder für Gas bezahlt werden muss. Wir wollen uns auch nicht von der EU-Kommission vorschreiben lassen, dass wir enteignungsgleiche Ein- Was wir derzeit in der öffentlichen Debatte erleben, griffe in das Eigentum an Netzen, aber auch an Gaslei- ist für mich nicht nachvollziehbar. Mit Blick in die Zu- tungen vorzunehmen haben. Etwas anderes ist es, wenn kunft ist es eigentlich ein Stück weit verantwortungslos. ein Unternehmen sein Eigentum freiwillig verkauft, wie Neue Kohlekraftwerke finden dort, wo sie gebaut wer- das der Eon-Konzern jetzt offensichtlich vorhat. Ich den sollen, keine Akzeptanz, obwohl sie unter besseren weiß nicht, welche Motive dahinterstehen. Vor kurzem Bedingungen für die Umwelt produzieren als die jetzt hat dieser Konzern noch eine andere Haltung an den Tag vorhandenen. Die Verlängerung der Laufzeiten von gelegt. Man hört auch davon, dass irgendwelche Deals Kernkraftwerken ist gegenwärtig ein politisches Tabu, und der Erlass von Kartellstrafen ihn plötzlich in diese weil es nicht gelungen ist, sich in der Großen Koalition Richtung bewegt haben. zu Beginn entsprechend zu vereinbaren. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ( [SPD]: Wir haben uns ja ver- Also geht es doch, Herr Glos!) einbart!) Insofern ist das Handeln der EU-Kommission manchmal – Wir haben uns vereinbart, dass wir nicht einig sind, etwas mysteriös und nur schwer nachvollziehbar. Herr Kollege. Das war aber alles. Über mehr haben wir uns nicht vereinbart. Wenn jemand gegen Kartellrecht verstoßen hat, dann muss er dafür zahlen, finde ich; das darf nicht mit ande- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU ren Dingen abgefunden werden. und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) Selbst der Ausbau erneuerbarer Energien wie der neten der FDP) (D) Windenergie stößt zunehmend auf Widerstände. Der Die faulen Deals, die da offensichtlich gemacht worden Doppelausstieg aus Kohle und Kernenergie ist für mich sind, und zwar ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als der undenkbar. Die Folge wäre, dass die Energieversorgung Energierat über die verschiedenen Modelle beraten hat, in Deutschland dramatisch in Gefahr geriete. Die erneu- bedürfen meiner Ansicht nach einer intensiven Überprü- erbaren Energien könnten eine solche Lücke nicht rasch fung. genug schließen. Das kam überraschend. In der Sache bin ich natürlich Wir brauchen deshalb eine offene und sachliche Dis- für so viel Wettbewerb wie möglich. Wenn die Leitun- kussion über die energiepolitische Zukunft unseres Lan- gen und die Erzeugung nicht in einer Hand sind – wir des; dazu lade ich ein, Herr Kollege Kelber. Mehr Strom haben gesetzliche Einspeiseberechtigungen schon bevor- in den Netzen ist die Bedingung dafür, dass Verbrauche- zugt Nichtnetzbesitzern erteilt –, dann ist das im Prinzip rinnen und Verbraucher auf die Dauer niedrige Preise be- zu begrüßen. Aber es ist eine Reihe von Fragen zu beant- kommen. worten: Wer hält die Netze in Zukunft so intakt, wie das bis jetzt der Fall gewesen ist? Wer will sie überhaupt (Ulrich Kelber [SPD]: Wir freuen uns, dass kaufen? Die öffentliche Hand ist dafür am wenigsten ge- wir das Gesetz endlich vorgelegt bekommen eignet. Was wird aus den Arbeitnehmerinnen und Ar- haben!) beitnehmern, die dort beschäftigt sind? Dieser Bereich Unabhängig davon, wie der Energiemix zukünftig aus- ist ja der beschäftigungsintensivste Bereich der Strom- sieht, führt an einem Ausbau des Leitungsnetzes kein konzerne. Ich glaube, auf all diese Fragen müssen wir Weg vorbei. Antworten finden, und uns muss gerade die Sorge um die Beschäftigten umtreiben. Dazu möchte ich noch ein paar Worte sagen: Wenn (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- man zum Beispiel den Wind aus dem Norden in den Sü- neten der SPD) den bringen will, braucht man neue Leitungen. Der Bau neuer Leitungstrassen ist sehr unbeliebt. Ich kann das so- Ich warne deshalb vor Schnellschüssen. Gerade ange- gar nachvollziehen. Wenn wir jedoch alles für teures sichts der Tatsache, dass aus den vorhin genannten Geld unter die Erde legen wollen, dann sind die Hoch- Gründen so viel Geld in den Netzausbau investiert wer- spannungsleitungen unsicherer, und es kostet ein Vielfa- den muss, wäre es sehr problematisch, wenn Teile der ches. Dies müsste dann auf die Verbraucher umgelegt Netze – es handelt sich ja zunächst um einen Konzern, werden. der das vorhat, aber andere Konzerne signalisieren 15544 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Bundesminister Michael Glos (A) ähnliche Absichten – plötzlich den Eigentümer wech- wird. Wir haben hierzu einen entsprechenden Antrag (C) seln. Wir werden, wie gesagt, all das sehr sorgfältig be- eingebracht und darin festgehalten: Die eigentumsrecht- trachten. Es ist meiner Ansicht nach eine vordringliche liche Entflechtung stellt für uns die Ultima Ratio dar. Aufgabe, das sehr genau zu prüfen. Zugleich haben wir in einem weiteren Antrag die Schaf- fung einer Netz AG für Deutschland, in die alle Netze In dem Zusammenhang möchte ich noch sagen: Wir von Netzbetreibern eingebracht werden, vorgeschlagen. streben eine Ergänzung des Außenwirtschaftsgesetzes Eine solche Netz AG sollte unabhängig arbeiten und In- an, gemäß der eine Mitsprachemöglichkeit bzw. ein Ein- vestitionsentscheidungen treffen können, also alle Ver- spruchsrecht der Bundesregierung verankert wird, wenn antwortung für die Netze tragen, damit auf der einen Anlagen, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung be- Seite dem Durcheinander und auf der anderen Seite der treffen, den Besitzer wechseln oder mehr als 25 Prozent Marktkonzentration, die wir augenblicklich haben, ein der Stimmrechte von Betreibern solcher Anlagen erwor- Ende gemacht wird. Außerdem wollen wir eine Ent- ben werden. Ich appelliere an alle, die noch unentschlos- flechtungsnorm aufnehmen. Auch das ist eine wichtige sen sind, dieses Gesetz rasch auf den Weg zu bringen. Forderung. Das Kartellamt muss die Möglichkeit haben, Sonst sieht es hinterher möglicherweise so aus, als ob bestimmte Strukturen gerade im Erzeugungsbereich auf- sich die Gesetzesänderung gegen einen bestimmten Käu- zubrechen. Dazu braucht man mehr als nur einige fer richten würde. Ich fände es gut, wenn es dieses In- wenige Gesetzeskorrekturen, nämlich vielmehr ein strument gäbe; denn dann könnte man es, wenn man es Schwert, mit dessen Hilfe entsprechende Maßnahmen braucht, anwenden. tatsächlich durchgesetzt werden können. Ich hoffe, dass Unternehmen sich, falls sie einen Ver- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Oskar kauf vornehmen – so etwas können wir ja nicht verhin- Lafontaine [DIE LINKE]) dern –, sehr verantwortungsbewusst bei der Auswahl der Firma, die dann möglicherweise das Netz erwirbt, zeigen Was in die derzeitige politische Landschaft passt, das und sich nicht rein nach dem Verkaufserlös richten, son- ist die Frage, wer, wenn jemand die Netze verkauft, sie dern all die von mir angesprochenen Punkte mitberück- kaufen soll. Plötzlich kommt die Debatte auf, ob nicht sichtigen. der Staat der Eigentümer der Netze sein sollte. Diese Einstellung aufseiten der Linken wundert mich nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Aber in Richtung SPD und Grünen muss ich sagen: Wir neten der SPD) haben doch erlebt, dass der Staat eben nicht der bessere Ansonsten wünsche ich mir eine gute Gesetzesbera- Verwalter ist. Als Beispiel nenne ich die Bahn. Hier sind tung. Wir vom Bundeswirtschaftsministerium sind jeder- wir derzeit in schwierigsten Privatisierungsberatungen. zeit bereit, auftauchende Fragen zu klären. Dies zeigt, dass es nicht sinnvoll ist, den Staat zum Ver- (B) (D) walter zu machen. Die DDR haben wir mit all den wirt- Herzlichen Dank. schaftspolitischen Dissonanzen, die es dabei gegeben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hat, hinter uns gelassen. (Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Gudrun Kopp, FDP- Das kann es nicht sein. Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU) Ich hoffe, Herr Minister Glos, dass Sie die Kraft ha- Gudrun Kopp (FDP): ben, sich hier durchzusetzen, und dass Sie die Marktöff- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da- nung an dieser Stelle positiv begleiten und nicht durch men! Das EU-Kartellrechtsverfahren gegen Eon ist in mehr Staat intervenieren wollen. der Vergangenheit, Herr Minister Glos, in der Tat sehr Wir haben heute den Gesetzentwurf zur Förderung gespenstig gelaufen. Ich hätte mir gewünscht, dass kein der Kraft-Wärme-Kopplung vorliegen. Beim Kraft- Deal, so wie es geschehen ist, abgeschlossen worden Wärme-Kopplungsgesetz, das ja ein weiteres Mal verän- wäre, sondern dieses Kartellrechtsverfahren erst einmal dert werden soll, gibt es eine Besonderheit. Die Aus- ganz normal durchgeführt worden wäre. gangslage war, dass auf der Basis der Daten von 1998 im (Beifall bei der FDP) Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung von 2002 bis 2005 CO -Einsparungen im Umfang von 10 Millionen Tonnen Mich beunruhigt nicht, dass Eon sein Übertragungsnetz 2 und bis 2010 im Umfang von mindestens 20 Millionen verkaufen möchte. Dabei handelt es sich um eine freie Tonnen erfolgen sollen. In der Zwischenzeit hat die Bun- unternehmerische Entscheidung. Diesen Schritt würden desregierung einen Bericht, eine Art Zwischenbilanz, wir durchaus begrüßen. Es kann aber nicht sein, dass ein vorgelegt. Dieser Bericht gibt sehr klar und deutlich zu Deal geschlossen wird, wobei wir den „Preis“ dafür erkennen, dass diese Einsparungen nicht annähernd er- nicht erfahren. So etwas sollte es nicht geben. reicht wurden. Das heißt, das Instrument hat nicht ge- Gerade in der Energiewirtschaft brauchen wir struk- wirkt. Die Bundesregierung hat jetzt entschieden, einen turelle Reformen. Wir müssen hier Strukturen aufbre- Turnaround zu machen und zu sagen, wir wollen weiter chen. Dabei geht es darum, dass die Stromerzeugung fördern, weil das Ergebnis nicht gestimmt hat, und zwar von der Netzverantwortung in gewisser Weise getrennt so lange, bis ein Ergebnis herauskommt, das uns passt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15545

Gudrun Kopp (A) Dem Bericht ist auch zu entnehmen, dass durch das dern verfehlt worden sind und das zusätzliche Kosten (C) Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz bis 2010 mit Zusatzkos- verursacht, wird die Verbraucher unter dem Strich belas- ten, die die Verbraucher zu tragen haben, im Umfang ten, ohne dass es zu dem notwendigen Ergebnis und zur von 5,6 Milliarden Euro zu rechnen ist. Das bedeutet Einführung marktwirtschaftlicher Instrumente kommt. eine Steigerung der Kosten bis 2010 um 1,2 Milliarden Dies lehnen wir deutlich ab. Euro. Wer hat diese Zusatzkosten zu tragen? – Natürlich wieder einmal die Energiekunden. Das ist nicht akzepta- (Beifall bei der FDP) bel, ganz zu schweigen davon, dass auch diese Änderung Zu dieser Debatte passt eine Umfrage. An diese will des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes im Grunde ge- ich erinnern, weil natürlich immer wieder die Frage im nommen technologieselektiv ist. Hier will Politik eine Raum steht, wie nahe wir in der Energiepolitik an der ganz bestimmte Technologie umsetzen. Auch wenn die Realisierung unseres Zielkanons, bestehend aus Klima- Instrumente nicht greifen und das Ergebnis nicht zufrie- schutz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicher- denstellend ist, soll weitergemacht werden. Nun, so hat heit, sind. In einer aktuellen Umfrage des Mannheimer Minister Glos ausgeführt, sollen bis 2020 25 Prozent Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung wurden des gesamten Stroms in Deutschland durch Kraft- 200 Energieexperten aus Deutschland danach befragt, Wärme-Kopplung erzeugt und damit eine Verdoppelung was nach ihrer Beobachtung Priorität in der Energiepoli- vorgenommen werden. tik hat, die die Bundesregierung betreibt. Die Forscher Darüber hinaus ist zu bedenken, dass mit der Verlän- sagten: Höchste Priorität hat bei der Bundesregierung gerung der Laufzeit des Gesetzes auch eine Ausweitung mit 61 Prozent die Umweltverträglichkeit, nur noch mit des Geltungsbereichs einhergeht. Es sollen jetzt nicht 25 Prozent die Wirtschaftlichkeit und mit mageren nur kleinere Anlagen Fördermittel beantragen dürfen, 14 Prozent die Versorgungssicherheit. sondern auch größere Anlagen. Herr Minister Glos, das zeigt sehr deutlich: Sie haben (Dirk Becker [SPD]: Das ist doch gut so! Das bescheinigt bekommen, dass das, was Sie leisten, nicht ist der Erfolg dieses Gesetzes!) dazu beiträgt, dass der in der Energiepolitik bestehende Zielkanon, der gerade für die Wirtschaftspolitik, für Sie Das heißt, die Größengrenzen werden gestrichen und die als Ressortleiter von besonderer Bedeutung wäre, ausge- Wärmenetze sollen mit in die Förderung hinein. Die An- wogen realisiert wird. Sie müssten dafür sorgen, dass zahl der zu fördernden Anlagen und Netze wird also stei- Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit eine Ein- gen. Es wird ein Finanzvolumen von 750 Millionen Euro heit mit dem Klimaschutz bilden können. Das tun Sie pro Jahr aufgesetzt, und zwar gedeckelt. Darüber hinaus leider bis heute nicht. Deshalb mahnen wir Liberalen Sie soll für diejenigen, die solche Anlagen betreiben, die noch einmal: Tun Sie etwas, um diesen Zielkanon end- (B) Möglichkeit bestehen, bis Ende 2014 ihren Dauerbetrieb lich in ein Gleichgewicht zu bringen! Sorgen Sie für (D) anzumelden. Die Förderung würde dann bis 2020 laufen. mehr Wettbewerb und sorgen Sie auch dafür, dass die Das bedeutet im Umkehreffekt: Durch die Änderung Privatverbraucher genauso wie die Unternehmen in un- dieses Gesetzes werden – wiederum zulasten der Ver- serem Land nicht über Gebühr mit Kosten belastet wer- braucher – bis 2020 weitere 7,5 Milliarden Euro als den, wodurch sie weniger wettbewerbsfähig sind! Fördermittel gebunden. Dieses Kraft-Wärme-Kopp- lungsgesetz entwickelt sich zu einem Dauersubventions- (Beifall bei der FDP) instrument. Wir haben davon ja schon einige andere; das Die FDP-Bundestagsfraktion legt Ihnen heute einen kennen wir aus der Vergangenheit. Das können wir von Antrag vor, der sich mit mehr Wettbewerb im Messwe- der FDP-Bundestagsfraktion nicht akzeptieren. sen im Strom- und Gasbereich befasst. Gerade im Mess- (Beifall bei der FDP) bereich gibt es eine große Chance. In den Haushalten und Unternehmen gibt es 125 Millionen Messgeräte für Wir sagen: Die neuen Fördertatbestände bringen neue Wasser, Strom und Gas. Hier Wettbewerb zu schaffen Informationspflichten, also neue Bürokratie, mit sich. und mit intelligenten Zählern und Messmethoden den Pro Jahr fallen dadurch Verwaltungskosten von circa Verbrauchern zu verdeutlichen, wann sie wie viel Strom 430 000 Euro für die jeweiligen Einheiten an. Diese Be- verbrauchen und wie sie ihren Stromverbrauch regulie- lastungen entstehen Wirtschaft und Verwaltung in die- ren können, bietet eine hervorragende Chance, Gebühren sem Bereich zusätzlich. zu sparen. Diese Chance gibt es sowohl für die Wirt- Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, haben schon lange schaft als auch für die Privatverbraucher. gefordert, dass die Instrumente, die angewandt werden, Herr Minister Glos, zwei Dinge sind nach unserer An- um Klimaschutz zu realisieren, dringend durchforstet sicht nicht in Ordnung: Sie treten in Ihrem Gesetzent- werden müssen. Die Liberalen haben den Entwurf eines wurf für eine Öffnung des Messwesens innerhalb von Wärmegesetzes eingebracht. Dieses Wärmegesetz sechs Jahren ein. Sie möchten, dass zunächst das Ge- sollte in den Emissionshandel integriert werden. Dann werbe und die Industrie davon profitieren und erst dann, gäbe es an dieser Stelle Klimaschutz plus Kosteneffi- zeitversetzt, die Privatkunden, also die Haushalte. Zu zienz und somit eine ganz andere Bilanz. dieser Abstufung sagen wir: Sie sind nicht ehrgeizig ge- Das, was die Bundesregierung jetzt andenkt, also eine nug. Gehen Sie schneller voran. Sie brauchen keine Verlängerung der Geltungsdauer des Kraft-Wärme- sechs Jahre, um die Marktöffnung zustande zu bringen. Kopplungsgesetzes, mit dem die festgelegten Ziele – ich Sorgen Sie dafür, dass die Marktöffnung schnellstmög- sage es noch einmal sehr deutlich – nicht erreicht, son- lich erfolgt. 15546 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: munaler Unternehmen. Gleichzeitig hat die Zwischen- (C) Frau Kollegin, bitte. prüfung, also der Monitoringbericht, gezeigt, dass auf der Grundlage des bisherigen Gesetzes das CO2-Minde- Gudrun Kopp (FDP): rungsziel für das Jahr 2010 nicht erreicht werden kann. Legen Sie die notwendige Verordnung vor und sorgen Unter anderem deshalb haben wir frühzeitig zu dieser Sie dafür, dass die Privatkunden von der Öffnung ge- Novelle gedrängt. Nach dem Motto „Besser spät als nie“ nauso profitieren wie die Gewerbe- und Industriekun- freuen wir uns, dass der Entwurf heute vorliegt. den. Die KWK ist die effizienteste Technologie zur Aus- (Beifall bei der FDP) nutzung des Energiegehaltes eines Primärenergieträgers. Wir können mit ihr nach dem derzeitigen Stand der Das nützt den Verbrauchern und wäre eine konsequente, Technik Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent erreichen. marktorientierte Energiepolitik. Sie leistet damit nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Minderung des CO -Ausstoßes, sondern trägt auch zur Vielen Dank. 2 Ressourcenschonung bei. Aufgrund dieser Vorteile ist (Beifall bei der FDP) das 25-Prozent-Ziel für 2020 auch kein End-, sondern ein Zwischenziel. Wir können davon ausgehen – das Präsident Dr. Norbert Lammert: vom BMWi ausgegebene Gutachten macht das deutlich –, dass hier noch weitere Potenziale schlummern, die mit- Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann, telfristig gehoben werden sollten. SPD-Fraktion. Wir setzen nicht auf ein einzelnes Instrument zur För- Rolf Hempelmann (SPD): derung der Kraft-Wärme-Kopplung, sondern wir schaf- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! fen neben dem KWKG auch an anderen Stellen geeig- Auch wenn wir gerne über vieles andere reden, beschäf- nete Rahmenbedingungen für die KWK, unter anderem tigen wir uns heute vor allen Dingen mit der Novelle des im Erneuerbare-Energien-Gesetz. Denn – viele haben Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes, des KWKG. Für viele das beobachtet – gerade in Regionen, in denen es hohe von uns ist das ein vertrautes Thema. Spätestens seit den Anteile sowohl von erneuerbaren Energien als auch von Koalitionsverhandlungen fordern einige Fraktionen, un- Kraft-Wärme-Kopplung gibt, haben wir es durchaus mit ter anderem die SPD-Fraktion, die Vorlage eines Moni- einem Konkurrenzverhältnis zwischen beiden zu tun. toringberichts. Es war klar, dass in diesem Bereich Deswegen wird jetzt im KWKG eine Gleichbehandlung Handlungsbedarf besteht. Mit dem am 5. Dezember im von KWK und erneuerbaren Energien eingeführt. Zu- (B) Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf wurde eine trag- gleich streben wir in der Novelle des EEG eine verbes- (D) fähige Grundlage für die parlamentarischen Beratungen serte Netzintegration der erneuerbaren Energien an. Das geschaffen, die von allen an der Kraft-Wärme-Kopplung schafft mehr Planbarkeit in diesem Bereich und ent- Interessierten positiv aufgenommen wurde. Vielen Dank schärft die Binnenkonkurrenz zwischen KWK und er- dafür. neuerbaren Energien. Die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung ist neben Ein zweiter Bereich, in dem wir die Rahmenbedin- der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, des gungen für KWK setzen, ist der Emissionshandel. Hier EEG, und des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes ein haben wir eine Doppelbenchmark für den Nationalen Al- Schwerpunktthema des integrierten Energie- und Kli- lokationsplan bis zum Jahre 2012 durchgesetzt. Das mapakets der Bundesregierung. Zu der geplanten Re- heißt, es gibt eine Zuteilung sowohl für den Strom- wie duktion der CO2-Emissionen um 40 Prozent bis zum für den Wärmeanteil. Wir wollen diese Präferenz der Jahr 2020 soll dieses Paket mit einer Minderung des KWK auch weiterhin, also auch nach 2012, erhalten. CO2-Ausstoßes um 36 Prozent beitragen. Wir begrüßen deswegen den Kommissionsvorschlag, für die Wärmeproduktion im Bereich der KWK keine Ver- Der Ausbau der hocheffizienten KWK – im Jahr 2020 steigerung von Zertifikaten vorzusehen. sollen 25 Prozent des Stromverbrauchs durch KWK ge- deckt werden – ist ein unverzichtbarer Bestandteil dieser (Beifall bei der SPD) Strategie. Die Verdopplung des KWK-Anteils – heute Dennoch – auch wenn diese Instrumente wichtig sind – liegt er bei etwa 12 Prozent – wird zu einer jährlichen ist das KWKG das zentrale Instrument zur Förderung Reduktion der CO -Emissionen um knapp 15 Millionen 2 dieser Technologie. Deswegen wollen wir an dieser ent- Tonnen führen; der Minister hat das eben schon erwähnt. scheidenden Baustelle schnell vorankommen. Wir bauen Dieses Potenzial – ich denke, darüber sind wir uns in im Gesetzentwurf weiterhin auf eine umlagefinanzierte diesem Hause einig – darf nicht ungenutzt bleiben. Förderung der KWK – das ist richtig –, aber wir stehen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred dazu, dass wir auch neue Fördertatbestände schaffen. Es Grund [CDU/CSU]) ist klargeworden, dass wir allein mit den bisherigen Mit- teln die ambitionierten Ziele nicht erreichen werden. Spätestens seit Vorlage des Monitoringberichts zum derzeit geltenden KWKG wissen wir, dass auf diesem Wir setzen die Förderung modernisierter KWK-Anla- Sektor Handlungsbedarf besteht. Der KWK-Anteil gen fort. Hinzu kommt aber, dass wir neu errichtete konnte in den letzten Jahren gerade einmal stabilisiert KWK-Anlagen ohne Größenbeschränkungen fördern werden – insbesondere aufgrund von Investitionen kom- und die industrielle Eigenerzeugung einbeziehen wollen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15547

Rolf Hempelmann (A) All diese Schritte sind notwendig, um die vorgegebenen che Argumente, die dafür sprechen, die Kraft-Wärme- (C) Mengenziele erreichen zu können. Im Übrigen – das ist Kopplung weiterzuentwickeln. jedenfalls ein Petitum unserer Fraktion – sollten wir Auch wenn wir im Bereich der erneuerbaren Energien überprüfen, ob wir Eigenerzeugung nur in der Industrie bis zum Jahre 2020 sehr erfolgreich sind und es schaf- oder auch in anderen Branchen und Sektoren – im Han- fen, ihren Anteil an der Stromerzeugung auf 30 Prozent del, im Gewerbe, im Dienstleistungssektor – einbezie- zu erhöhen, ist für uns klar, dass wir in großem Umfang hen. Ich denke, die Trennung, wie wir sie bisher im Ent- auch fossile Energieträger verstromen müssen, hier in wurf haben, macht relativ wenig Sinn. Deutschland, vor allem aber im Ausland, insbesondere (Beifall bei der SPD) in Schwellenländern wie China und Indien. Wenn wir bei der KWK Fortschritte erzielen, dann können wir na- Wir haben einige andere Petita, die wir im Rahmen tional und international einen Beitrag zur klimaverträgli- der parlamentarischen Beratungen ansprechen werden. chen Nutzung fossiler Energieträger leisten. Das ist gut So ist durchaus darüber zu diskutieren, dass wir zur Ziel- für das Klima. Das ist aber auch gut für unseren Export. erreichung mindestens die zugesagten Mittel flexibler Deswegen glaube ich, dass wir auf dem richtigen Weg über die Jahre verwenden können. Möglicherweise muss sind. man auch über eine Mittelerhöhung nachdenken. Wir brauchen mit Sicherheit eine Verlängerung der Anmel- In den letzten Monaten haben wir erlebt, dass Neu- defristen über den 31. Dezember 2014 hinaus. Ich will investitionen in Kraftwerke, insbesondere in Kohle- nur einen Grund nennen, der für eine solche Fristverlän- kraftwerke, vor Ort auf Widerstände stoßen. Das ist in gerung spricht: Wir alle wissen, dass wir im Kraftwerks- gewissem Umfang nachvollziehbar, zum Beispiel dann, bereich – das gilt im Übrigen für Anlagen bei erneuerba- wenn es um große Kondensationskraftwerke geht. Ich ren Energien genauso wie in jedem anderen Bereich, persönlich glaube allerdings, dass wir auch in diesem also auch bei der Kraft-Wärme-Kopplung – einen stark Bereich nicht ganz ohne neue Kraftwerke auskommen überhitzten Kraftwerksbaumarkt haben. Das führt zu werden. Schließlich sollen sie alte, klimaschädliche An- Knappheiten und erhöhten Preisen. Dies lässt sich am lagen ersetzen. Jedenfalls ist klar: Wir alle müssen ein besten durch eine Streckung des Investitionszeitraums großes Interesse daran haben, dass neue Kraftwerke ent- ausgleichen. Insofern ist auch eine entsprechende Ver- stehen, die auf der Basis von Kraft-Wärme-Kopplung längerung der Anmeldefristen notwendig. betrieben werden. Es werden aber auch solche dabei sein, die mit Kohle befeuert werden. (Beifall bei der SPD) Ich denke, es ist auch die Aufgabe von Politik, hier Ein weiterer uns wichtiger Punkt betrifft die Förder- für Aufklärung und Akzeptanz zu sorgen. Wir brauchen abbrüche, die wir bei den kleinen KWK-Anlagen kom- (B) in Deutschland eine Art Arbeitsteilung. Wir müssen eine (D) men sehen. Hier gibt es eine sprunghafte Entwicklung. sichere Energieversorgung, die Schaffung der Rahmen- Die Förderung in bestimmtem Umfang bei kleinen und bedingungen für die Erhaltung von Industriearbeitsplät- in geringerem bei größeren KWK-Anlagen wollen wir zen in der energieverbrauchenden Industrie und unsere durch gleitendere Regelungen ersetzt sehen. Hier haben anspruchsvollen Klimaschutzziele miteinander verbin- wir also – Sie sehen das – noch eine ganze Menge Detail- den. Das wird nicht funktionieren, wenn man republik- arbeit vor uns. weit überall CO2-freie Zonen einrichtet. Auch die Regio- Wir begrüßen ausdrücklich, dass in dem vorliegenden nen müssen bereit sein, über neue KWK-betriebene Entwurf auch der Aus- und Neubau von Nah- und Fern- Kraftwerke hinaus einen Beitrag zu leisten. wärmenetzen vorgesehen ist. Hier sollen Investitionszu- (Beifall bei der SPD) schüsse gegeben werden. Ich glaube, das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für den Erfolg des Gesetzes Ansonsten würden wir von den Realitäten sehr schnell insgesamt. Schließlich ist die Erschließung von Wärme- überholt. senken notwendig, um die zusätzlichen Wärmepoten- Wir müssen an vielen Fronten gleichzeitig erfolgreich ziale, die wir durch die Erhöhung des Anteils der KWK sein. Wir brauchen den massiven Ausbau der erneuerba- schaffen wollen, auch vermarkten zu können. ren Energien; dazu haben wir in der letzten Sitzungs- Meine Damen und Herren, ich denke, dass viele Fra- woche die erste Lesung des Erneuerbare-Energien- gen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, Gesetzes und des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes durch den vorliegenden Gesetzentwurf schon beantwor- durchgeführt. Wir brauchen eine massive Steigerung der tet sind. Über einige andere Fragen, die ich gerade auf- Energieeffizienz auf der Angebots- und auf der Nachfra- gezählt habe, werden wir in der weiteren Debatte noch geseite; dazu werden wir entsprechende Maßnahmenpa- zu diskutieren haben. kete auf der Basis der Beschlüsse von Meseberg vorle- gen. Wir brauchen die Modernisierung des fossilen Klar ist: Die KWK trägt zur weiteren Dezentralisie- Kraftwerksparks, und zwar möglichst unter Einsatz der rung unserer Energieversorgungslandschaft bei. Sie umweltfreundlichen Kraft-Wärme-Kopplung. Wenn wir führt uns ein Stück weit weg von den großen Kondensa- diese drei Ansätze parallel verfolgen, dann ist das eine tionskraftwerken und hin zur Erhaltung lokaler Wert- gute Voraussetzung sowohl für Fortschritte im Bereich schöpfung und lokaler Arbeitsplätze. Sie stärkt die der Ökologie als auch im Bereich der Ökonomie. Stadtwerke, die ihren Strom bereits zu über 80 Prozent durch KWK erzeugen. Damit stärkt sie auch die Anbie- Ein weiterer wichtiger Punkt, der heute bereits ange- tervielfalt und den Wettbewerb. Das sind viele zusätzli- sprochen worden ist und den auch ich nicht unerwähnt 15548 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Rolf Hempelmann (A) lassen will, betrifft die Netze. Auch eine wettbewerbs- schamlos steigen. Das muss das Thema der heutigen De- (C) neutrale Organisation des Netzbetriebes muss in unser batte sein. aller Interesse liegen. Wir brauchen einen diskriminie- rungsfreien Zugang zu den Netzen, wir müssen mög- (Beifall bei der LINKEN) lichst vielen Anbietern eine faire Chance auf diesem Ich widme mich jetzt nicht den fallenden Löhnen, ich Markt geben, wenn wir den Wettbewerb vorantreiben widme mich den steigenden Preisen und sage, dass die wollen. Wir brauchen aber auch den Ausbau der Netze. bisherige Ordnungspolitik der Regierung schlicht und Denn es ist klar, dass unsere Netze, wenn unsere Ener- einfach nicht die gewünschten Erfolge hat oder, wenn gieversorgung durch KWK und durch erneuerbare Ener- man so will, dass in den letzten Jahren eine Ordnungs- gien dezentralisiert wird, immer leistungsfähiger werden politik gemacht worden ist, deren Ergebnisse im Gegen- müssen. Wir brauchen deswegen Rahmenbedingungen, satz zu den Zielen stehen, die immer wieder vorgetragen die auf ein angemessenes Netzentgelt abzielen. Es muss werden. Die Monopolunternehmen kassieren immer am Ende so sein, dass der Verbraucher keinen Euro mehr noch schamlos ab. Die Leidtragenden sind die Bürgerin- zahlt als notwendig, zugleich aber Renditen erzielt wer- nen und Bürger, die, ich sage es noch einmal, mit fallen- den können, die Investitionen in die Netze attraktiv hal- den Löhnen und fallenden Renten konfrontiert sind. Das ten. Das ist ein schwieriger Balanceakt, insbesondere für ist die Lage in Deutschland. die Bundesnetzagentur. Aber Enteignungsfantasien, Ent- flechtungsvorschläge, wie sie aus Brüssel kommen, ha- (Beifall bei der LINKEN) ben nicht den Nachweis gebracht, dass sie zu dem ge- Was kann man machen, um diese Entwicklung zu ver- wünschten Doppelziel – zu sinkenden Preisen und mehr hindern? Es gibt einen Ansatz, den die Linke schon Investitionen – führen; wer sich die Zahlen des United mehrfach vorgetragen hat und den auch andere Fraktio- Kingdom anschaut, wird zu diesem Ergebnis kommen. nen befürworten: Das ist eine Verschärfung der Kartell- Meine Redezeit ist abgelaufen, und ich möchte nicht gesetzgebung. Eine verschärfte Kartellgesetzgebung ist dem nächsten Redner unserer Fraktion Redezeit stehlen. in einer marktwirtschaftlichen Ordnung die einzige Möglichkeit, Monopole zu bekämpfen und dafür zu sor- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gen, dass der Wettbewerb seine soziale Funktion erfüllt: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu Preisen zu führen, die akzeptabel sind. Monopole ha- der CDU/CSU) ben die Folgen, die ich angesprochen habe. Die Linke ist für eine Verschärfung der Kartellgesetzgebung, weil es nicht darum geht – ich zitiere das sehr gerne –, wirt- Präsident Dr. Norbert Lammert: schaftliche Macht zu kontrollieren, sondern darum, wirt- Der nächste Redner – dem Sie die Redezeit nicht (B) schaftliche Macht überhaupt zu verhindern. (D) stehlen können – ist der Kollege Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Das ist ein Ansatz, für den ich mich immer wieder aus- gesprochen habe. Ich berufe mich hier nicht auf Karl Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Marx, sondern auf Walter Eucken – damit Sie wissen, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- woher dieser Ansatz kommt. ren! Ich verstehe ja, dass Sie mir gern die Redezeit steh- Es ist nicht gelungen, wirtschaftliche Macht zu kon- len würden; aber da steht die parlamentarische Ge- trollieren. Wir haben in Deutschland Monopolunterneh- schäftsordnung davor. Insofern müssen Sie jetzt zuhören. men, die die Energiepolitik in den letzten Jahren weitge- Es war heute Morgen schon von der sozialen Markt- hend bestimmt haben und die teilweise über Lobbyisten wirtschaft die Rede. Wir definieren soziale Marktwirt- die Gesetzgebung beeinflusst haben, was zu den negati- schaft als eine wirtschaftliche Ordnung, die Lohndum- ven Folgen geführt hat, mit denen wir heute konfrontiert ping und Monopolpreise verhindert. Wenn wir die sind. Situation in unserem Lande betrachten, müssen wir fest- (Beifall bei der LINKEN) stellen, dass wir nicht besonders erfolgreich gearbeitet haben: Wir haben derzeit fallende Löhne, also echtes Deshalb ist es zu begrüßen, dass die Kartellgesetzge- Lohndumping, während die Monopolpreise steigen. Das bung verschärft wurde und dass die Verfahren nicht län- ist das Gegenteil von dem, was das Ergebnis der Ord- ger auf die Stromerzeuger beschränkt bleiben, sondern nungs- und Wirtschaftspolitik einer sozialen Marktwirt- auch auf die Gasversorger ausgedehnt werden. Das war schaft sein müsste. notwendig. (Beifall bei der LINKEN) Ich stimme der Kritik durchaus zu: Es geht nicht an, dass sich die Monopolunternehmen mit einigen Gesten Es hat keinen Sinn, wenn wir hier – dieser Ansatz ist freikaufen können. Die Kartellverfahren sollten durch- ja unstreitig – über die energetischen Wirkungsgrade der gezogen werden, damit Vertrauen in solche Verfahren Kraft-Wärme-Kopplung dozieren. Die Frage ist viel- entsteht und nicht damit gerechnet werden muss, dass mehr, in welchem politischen Umfeld wir diskutieren: der Lobbyismus wieder zu einem Deal führt und die Viele Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland lei- Kartellverfahren zurückgezogen werden. den zurzeit darunter, dass sie fallende Löhne, fallende Renten zu verkraften haben, während die Monopolpreise (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15549

Oskar Lafontaine (A) Erstens ist also – darin besteht offensichtlich Überein- Vorschlag jetzt aus Ihren eigenen Reihen kommt. Das ist (C) stimmung – eine Verschärfung der Kartellgesetzgebung durchaus eine Veränderung. notwendig, wenn wir Monopolpreise verhindern wollen. Zur Kostensituation möchte ich Folgendes feststellen (Ulrich Kelber [SPD]: Wer hat denn gegen – leider ist der Kollege Struck nicht anwesend; vielleicht eine verschärfte Kartellgesetzgebung ge- kann man es ihm ausrichten –: Man muss die Prozent- stimmt? Unangenehmes wird ignoriert!) rechnung beherrschen. Die einzige geistige Aufgabe, die man leisten muss, besteht darin, 5 Prozent des Sozialpro- Zweitens stellt sich die Frage – darin gibt es unterschied- dukts zu errechnen. Wenn man das ausrechnet, dann er- liche Auffassungen –, wer für die Netze zuständig sein kennt man, dass die gesamte Argumentation gegen die soll. In der Fachdebatte ist es weitgehend unstreitig, dass Linke in sich zusammenfällt. man die Netze von den Stromerzeugern trennen sollte. Ich wundere mich, dass die Bundesregierung in dieser Ich wiederhole mein Angebot: Ich schenke demjeni- Frage den falschen ordnungspolitischen Ansatzpunkt gen eine goldene Uhr, der widerlegt, dass in Deutschland vertritt – damit ist sie innerhalb der Europäischen Union bei der durchschnittlichen Steuer- und Abgabenquote ziemlich isoliert –, Netzbetrieb und Stromerzeugung Europas in den letzten Jahren keine einzige soziale Kür- nicht zu trennen. Das passt ordnungspolitisch wie die zung notwendig gewesen wäre. All diese Kürzungen wa- Faust aufs Auge. Denn wenn man an dieser Position ren ein einziger Betrug, weil man nicht in der Lage war, festhält, dann wird es nicht gelingen, Monopolpreise zu in Deutschland eine durchschnittliche Steuer- und Abga- verhindern. benquote zu erheben, die dem europäischen Durch- schnitt entspricht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Daher treten wir für die Trennung der Netze von den Stromerzeugern ein. Ich fordere also alle neoliberalen Professoren, Journalis- ten und Abgeordneten auf, diesen Satz zu widerlegen. Daraus ergibt sich die Frage, wem die Netze übertra- Eine goldene Uhr müsste eigentlich ein Anreiz sein. gen werden sollen. Dabei kann ich mich mit einem ge- wissen Vergnügen auf berufen. Denn er Aber zurück zum Thema. Wir halten eine öffentliche hat sich als ein Energiepolitiker ausgewiesen, der tat- Netzstruktur für notwendig. Der dritte Vorschlag der sächlich die Verbraucher und den Umweltschutz im Linken, neben der Verschärfung des Kartellrechts und Blick hat. Er fordert eine öffentliche Netzbetriebsgesell- einer öffentlichen Netzstruktur, ist die Rekommunali- schaft unter gemeinsamer Trägerschaft des Bundes und sierung der Energieversorgung. Das wird auch durch der Länder, die Eigentümer aller Stromübertragungs- meinen Vorredner Herrn Hempelmann gestützt. Sie ha- (B) netze werden sollten. Stromnetze seien unverzichtbarer ben darauf hingewiesen, dass die Kraft-Wärme-Kopp- (D) Bestandteil der öffentlichen Infrastruktur und gehörten lung gerade im kommunalen Bereich finanziert worden zur Daseinsvorsorge ebenso wie Straßen und Schienen. ist. Das hat seine Gründe. Es hängt mit den Auseinander- Die Übernahme der Stromnetze durch die öffentliche setzungen zusammen, zu denen es häufig kommt, wenn Hand könnte Scheer zufolge über die Netznutzungsge- vor Ort größere Kraftwerksanlagen durchgeboxt werden bühren refinanziert werden. Eine öffentliche Netzgesell- sollen. schaft sei zudem neutral gegenüber allen Stromproduzen- ten und könne behördlich zum Netzerhalt und -ausbau Wir hatten eine ähnliche Situation in einer saarländi- verpflichtet werden. schen Gemeinde, in der RWE die Leistung eines Kraft- werksblocks von 400 Megawatt auf 1 600 Megawatt er- Damit trifft Hermann Scheer den Kern der Sache. höhen wollte. Hätte man dort beispielsweise eine Kraft- Wärme-Kopplungsanlage auf einer vernünftigen Mega- (Beifall bei der LINKEN) wattbasis angeboten, dann wäre das sicherlich bei den Die private Nutzung der Netze hat nur dazu geführt – das Bürgerinnen und Bürgern auf große Zustimmung gesto- hat das Beispiel Eon gezeigt –, dass man auf der einen ßen. Wenn man aber die bisherige falsche Politik fortsetzt, Seite überhöhte Preise fordert, aber auf der anderen Seite den Monopolisten große Kraftwerksanlagen zu genehmi- die notwendigen Netzinvestitionen unterlässt, und wenn gen, die keinen vernünftigen Effizienzgrad erreichen, man Schwierigkeiten mit der Kartellbehörde bekommt, dann ist es richtig, dass die Bürgerinnen und Bürger eine bietet man das mehr oder weniger marode Netz anderen solche verfehlte Politik ablehnen. Das ist der entschei- an. Dass man sich so der Verantwortung entziehen kann, dende Zusammenhang. ist die Folge einer falschen wirtschaftlichen Ordnung im Stromsektor. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Aus diesen Gründen ist die Linke für eine Rekommu- nalisierung der Energieversorgung. Dies ist nach unserer An dieser Stelle will ich mit besonderem Genuss da- Auffassung ein geeignetes Instrument, um dem jetzigen rauf hinweisen, dass die Kollegen der SPD-Fraktion ihre Trend steigender Monopolpreise entgegenzuwirken und Vorlagen überarbeiten müssen. Wenn Sie sich mit den dem Gedanken des Umweltschutzes Rechnung zu tra- vermeintlich völlig unhaltbaren Forderungen der Linken gen. Aufgrund von Naturgesetzen ist es unwiderlegbar, auseinandersetzen, gilt der Vorschlag, die Netze in öf- dass eine dezentrale Energieversorgung die umweltge- fentliche Hand zu übertragen, immer als sehr kosten- rechteste Energieversorgung ist. Wenn man eine dezen- trächtig. Wir begrüßen es außerordentlich, dass dieser trale Energieversorgung will, dann braucht man ein 15550 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Oskar Lafontaine (A) kartellrechtliches Vorgehen gegen die bisherigen Anbie- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) ter, die alles im Sinn haben, aber nicht eine dezentrale Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kleinräumige Energieversorgung. fand die Rede von Oskar Lafontaine schon spannend; denn eines hat er nicht gemacht: Er hat nicht zum Thema Eine dezentrale Energieversorgung ist aber nicht nur geredet. ökologisch, sondern auch beschäftigungspolitisch sinn- voll, wie alle Untersuchungen in den letzten Jahren ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeigt haben. Man kann hier tatsächlich vieles zusam- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und menbinden. Wenn man akzeptiert, dass man bei der SPD) Ökologie nicht nur an Umweltschutz denken darf, son- Er hat sich gedacht: KWK – das versteht sowieso kein dern diesen Gedanken mit der sozialen Frage verbinden Mensch; die Kraft-Wärme-Kopplung ist so abstrakt. Da muss, dann muss man alle ordnungspolitischen Wei- trage ich lieber meine bekannten Positionen wieder vor. chenstellungen so vornehmen, dass das Soziale mit dem Ökologischen verbunden wird; das heißt, man muss Mo- Ihre Art, Energiepolitik zu betreiben, Herr nopolpreise unterbinden. Das heißt für uns auch eine Ver- Lafontaine, ist sehr widersprüchlich. schärfung des Kartellrechts und – das wiederhole ich – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine öffentliche Netzstruktur, damit man wirklich Wett- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und bewerb organisieren kann. der SPD) Es bringt nichts – das ist ein großer Irrtum –, den ei- Sie haben eben wieder das Kraftwerk Ensdorf im Saar- nen privaten Eigentümer zu wechseln und ihn durch ei- land genannt; da kennen Sie sich ja gut aus. Die Leute nen anderen privaten Eigentümer zu ersetzen. Auch die- haben mir auf einer Veranstaltung in Ensdorf – auch ich ser wird im Sinne haben, hohe Erträge und Renditen zu bin dort gewesen – gesagt, dass Sie sich gegen das Kraft- erwirtschaften. Damit wird er genauso preistreibend wie werk aussprechen, weil dort keine heimische Kohle ver- die bisherigen Netzeigentümer wirken. Geben Sie diesen feuert wird. verfehlten ordnungspolitischen Ansatz endlich auf! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Hier gilt offensichtlich das Motto: Wenn saarländische Da Sie eben wieder von der DDR angefangen haben, Kohle verfeuert würde, dann würde es kein CO2-Pro- muss ich Ihnen sagen, dass das langsam ein bisschen bil- blem geben. – Diese Energiepolitik ist nicht konsistent, lig und nervend ist. Im Norden Europas befindet sich Herr Lafontaine. nicht die DDR. Wenn Sie beispielsweise in Dänemark (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) oder Schweden Verhältnisse wie in der DDR festgestellt sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (D) haben, dann haben Sie vielleicht eine falsche Sichtweise. SPD und der FDP) Ich möchte nur darauf hinweisen, dass man in diesen Staaten sehr gute Erfahrungen mit der öffentlichen Netz- Sie haben hier zu Recht gesagt: Kraft-Wärme-Kopp- struktur gemacht hat. Ich fahre gerne mit Ihnen dorthin lungsanlagen sind eine gute Sache. – Darum geht es hier und unterhalte mich vor Ort mit konservativen und auch ja eigentlich. Ich frage Sie nun aber: Warum verteidigen liberalen Politikerinnen und Politikern. Für die Linke re- Ihre Parteifreunde in den neuen Bundesländern jedes klamiere ich eine solche Struktur. Sie ist ein besseres In- Braunkohlekraftwerk, und zwar große Kohlekraftwerke, strument als die bisherige Netzstruktur und wird zu sin- die überhaupt keine Wärme auskoppeln können? kenden Preisen führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich fasse zusammen. Wir können die Energiedebatte Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist nicht nur auf der Grundlage technischer Daten führen. ja Quatsch!) Wir können die Energiedebatte nicht abgehoben von der Ihre Haltung ist, auf alle Fragen eine einzige Antwort zu gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Bundesrepublik geben, egal wie das Thema heißt, nämlich Verstaatli- führen. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass wir chung. Da muss ich in der Tat sagen: Das ist nicht die hier ordnungspolitisch versagt haben, weil wir eine we- richtige Logik, Herr Lafontaine. Verstaatlichung allein sentliche Zielsetzung der sozialen Marktwirtschaft grob ist kein Konzept. verfehlt haben. Deutschland hat die dritthöchsten Gas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN preise und mit die höchsten Strompreise in Europa. Sie sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – liegen um 50 Prozent – man höre! – über dem europäi- Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: So weit ist schen Durchschnitt. Wenn noch fallende Löhne hinzu- es gekommen, dass ich Frau Höhn applau- kommen, dann zeigt das, dass die bisherige Energiepoli- diere! – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sie tik zu korrigieren ist. Sie muss einer Energiepolitik verfehlen das Thema in großem Umfang!) weichen, die Umweltschutz und Soziales miteinander verbindet. Dazu haben wir Vorschläge gemacht. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN) Frau Kollegin Höhn, darf Ihnen die Kollegin Enkelmann eine Zwischenfrage stellen? Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Bärbel Höhn, Bünd- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nis 90/Die Grünen. Ja. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15551

(A) Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Frau Kollegin Höhn, Sie haben gerade behauptet, die Okay. Linke stimme für weitere Braunkohlekraftwerke. Ist Ih- nen bekannt, dass die Linke in Brandenburg eine Volks- Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE initiative gegen den Aufschluss weiterer Braunkohle- GRÜNEN): tagebaue und gegen den Bau weiterer Kraftwerke Ich möchte dafür sorgen, dass bei der Debatte hier im unterstützt? Dann können Sie hier nicht so etwas be- Hause kein einseitiges Bild entsteht, und daher meine haupten. Fraktionskollegin Bärbel Höhn fragen, ob ihr bekannt (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ist, dass im Burgenlandkreis – er liegt meines Wissens in den neuen Bundesländern – gerade von SPD, CDU, FDP und der Linken einträchtig ein Beschluss für den Bau ei- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nes Kraftwerks in Profen und für die Erschließung eines Das ist mir in der Tat bekannt. Auf der einen Seite neuen Braunkohletagebaus gefasst worden ist? nehmen Sie in Brandenburg diese Position ein, weil Sie versuchen, die Stimmung in der Bevölkerung zu nutzen; (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Was soll die- ser Unsinn?) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auf der anderen Seite stellen Sie sich in anderen Bundes- Ja. Ich bedanke mich bei der Kollegin Kurth, dass sie ländern hin und verteidigen die Braunkohlekraftwerke. darauf hingewiesen hat, damit die Widersprüche noch Frau Enkelmann, das ist doch widersprüchlich: einmal deutlich werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- Ich möchte zur Kraft-Wärme-Kopplung zurück- geordneten der FDP) kommen. Ich sagte bereits: Ich glaube, 50 Prozent der Bevölkerung wissen gar nicht, was das ist. Bei uns gibt Einmal so und einmal so, wie gerade der Volkswille ist. es große Kraftwerke, die Strom erzeugen. Die meisten Das geht nicht. Sie müssen schon eine konsistente Poli- dieser großen Kraftwerke können die Wärme, die dabei tik betreiben und ein klares Konzept haben; sonst funktio- produziert wird, überhaupt nicht nutzen. Eine Kraft- niert es nicht. Ich kenne mich in dieser Debatte, gerade Wärme-Kopplungsanlage – das ist entscheidend – kop- in Bezug auf die neuen Bundesländer, ganz gut aus. pelt Strom, also Kraft und Wärme. Die großen Anlagen, (B) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das die bei uns in Deutschland stehen und Strom erzeugen, (D) merkt man! Das muss Ihnen sehr wehtun! – können die abgegebene Wärme nicht nutzen und sind Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜND- deshalb absolut ineffizient. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihnen aber auch, Frau Woran liegt es, dass diese nichteffizienten Kraftwerke Enkelmann! Warum regen Sie sich so auf?) so stark verbreitet sind? Würden Sie hier in Berlin ein Ich habe mich gerade gemeinsam mit Ihren Kollegen großes Kraftwerk auf dem Alex bauen? Nein, denn die vor Ort gegen das Kraftwerk in Lubmin ausgesprochen; Leute würden dann natürlich sofort demonstrieren; das es gibt bei Ihnen ein paar Vernünftige. Es gibt aber auch würden sie sich nicht gefallen lassen. Also werden die die anderen, die eine vollkommen kontraproduktive Po- großen Kraftwerke draußen auf dem Land gebaut. Dort litik betreiben. Wie Sie handeln, hängt davon ab, wie die gibt es aber niemanden, der die Wärme abnehmen kann. Stimmung vor Ort ist. Das mache ich Ihnen zum Vor- Der Effizienzgrad der alten Kraftwerke liegt bei rund wurf; denn wer immer nur die Stimmung vor Ort auf- 30 Prozent; die neuen Kraftwerke haben einen Effizienz- greift, betreibt keine Politik, die durchgehend nachvoll- grad von 45 Prozent. Das heißt, dass mehr als die Hälfte ziehbar ist. der Energie ungenutzt bleibt und nicht von der Bevölke- rung genutzt werden kann. Diese Art von großen Kraft- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werken – die Wärme kann nicht genutzt werden, weil es sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und keinen gibt, der sie abnimmt – können wir uns unter Ge- der SPD) sichtspunkten des Klimaschutzes nicht mehr leisten. Wir debattieren hier über Kraft-Wärme-Kopplung; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich möchte darauf zurückkommen. Kraft-Wärme-Kopp- Die kleinen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen – sie lung hört sich irgendwie abstrakt an. Ich schätze einmal, sind teilweise so klein, dass man sie in ein Hotel oder in 50 Prozent der Bevölkerung wissen gar nicht, was Kraft- ein Familienhaus einbauen kann – haben einen Effizienz- Wärme-Kopplung ist. – Herr Präsident, Sie haben ein grad von über 90 Prozent. Das heißt, nur ein kleiner Teil Zeichen gegeben? der Energie geht verloren. Wir führen gerade die Diskus- sion: Können wir uns neue große Kraftwerke in Präsident Dr. Norbert Lammert: Deutschland noch leisten? Wir, die Grünen, sagen dazu: Ja, so ist es. Ich bin ganz gerührt; denn es kommt so Wir können uns in Deutschland keine großen Kohle- selten vor, dass Redner prompt auf solche Signale rea- kraftwerke, keine großen Braunkohlekraftwerke und gieren. – Auch die Kollegin Kurth wollte Ihnen eine keine großen Steinkohlekraftwerke, mehr leisten; das ist Zwischenfrage stellen. mit dem Klimaschutz nicht vereinbar. 15552 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Bärbel Höhn (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – vorgelegt wird, das eine Ausgabendeckelung bei (C) Gudrun Kopp [FDP]: Dann geht das Licht 750 Millionen Euro vorsieht. Das ist zu wenig Geld, ins- aus!) besondere wenn 20 Prozent der Mittel für den Netzauf- bau eingesetzt werden sollen. Wir brauchen mehr Geld Interessanterweise sagt das Bundesumweltministe- für die Kraft-Wärme-Kopplung; denn wir brauchen rium: Wir können noch sechs oder sieben davon bauen, mehr Kraft-Wärme-Kopplung in diesem Land. mehr aber nicht. Das finde ich schon spannend. De facto ist es aber so, dass momentan über 20 dieser großen (Gudrun Kopp [FDP]: Zu welchen Preisen?) Kraftwerke schon im Bau oder im Genehmigungsverfah- – Sehr schön, dass Sie mir dieses Stichwort geben, Frau ren, also kurz vor der Realisierung, sind. Kopp. Das Bundesumweltministerium hat nämlich aus- Ich will noch einmal an einen Satz von Angela gerechnet, dass Kraft-Wärme-Kopplung sich sehr wohl Merkel aus dem letzten Jahr erinnern. Sie hat gesagt, rechnet, und zwar in Höhe von 12,90 Euro je eingespar- dass jeder Mensch auf dieser Erde das Recht hat, die ter Tonne CO2. gleiche Menge CO2 auszustoßen. Wir wissen von den Schauen Sie sich nur einmal an, wie teuer das Experten, dass das nicht mehr als 2 Tonnen pro Person – durchaus notwendige – Gebäudesanierungsprogramm und Jahr sein dürfen, eher weniger. – Herr Göppel nickt. – ist, das dieselbe Bundesregierung aufgelegt hat, die die- Da wir in Deutschland 80 Millionen Menschen sind, ses Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz vorgelegt hat. Ver- dürfen wir im Jahr 2050, für das dieses Ziel angestrebt glichen mit den Kosten dafür, ist auch die Reduzierung wird, also einen CO2-Ausstoß von 160 Millionen Ton- des CO2-Ausstoßes durch Kraft-Wärme-Kopplung fi- nen haben. nanziell effizient. Genau das wollen wir, und deshalb Dieselbe , die diesen Satz zu Recht ge- müssen wir in diesem Bereich mehr tun. sagt hat, legt dann aber zusammen mit dem damaligen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) RWE-Chef Roels – jetzt heißt der Chef Großmann – den Grundstein für das Braunkohlekraftwerk in Neurath. Schauen wir doch einmal, was andere können. Däne- Und welchen Wirkungsgrad hat dieses Kraftwerk? mark liegt mittlerweile bei 53 Prozent Kraft-Wärme- 43 Prozent. Welchen CO2-Ausstoß hat es? 14 Millionen Kopplung. Die Niederlande liegen bei 38 Prozent. Sie Tonnen. Allein dieses eine Kraftwerk wird im Jahre haben in den 90er-Jahren in nur fünf Jahren eine Verdop- 2050 10 Prozent der CO2-Menge ausstoßen, die uns pelung hinbekommen. Es gibt eine Aussage vom Bremer dann noch erlaubt sein wird. Da sieht man, wie absurd es Energie-Institut, wonach in Deutschland 57 Prozent ist, eine solche Politik zu machen. Das geht so nicht! Kraft-Wärme-Kopplung wirtschaftlich möglich seien. Diese 57 Prozent sollten wir so schnell wie möglich an- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) streben. Das muss das Ziel sein. (D) Man darf nicht auf der einen Seite immer sagen, man sei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für den Klimaschutz, sich aber auf der anderen Seite zum Beispiel für das große Kraftwerk in Lubmin oder Ich möchte noch kurz auf die Stromnetze eingehen, das Kraftwerk in Neurath aussprechen. über die gerade diskutiert wurde, obwohl sie eigentlich nicht Thema der Debatte sind. Eon hat in der letzten Wo- Interessant ist auch die Position der SPD. Ich habe che in der Tat einen Coup gelandet, indem es seine Netze mir genau angeschaut, was die SPD auf ihrem Parteitag einfach zum Verkauf angeboten hat. Herr Glos, ich im letzten Jahr beschlossen hat. Man hat sich gegen möchte einmal wissen, wie Sie sich gefühlt haben, als große Kraftwerke ausgesprochen. Wenn es überhaupt Sie in Brüssel noch über einen dritten Weg verhandelt noch Steinkohlekraftwerke geben solle, dann nur als haben, als Sie als Lobbyist von RWE gekämpft haben kleine Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. und aus der Zeitung erfahren haben, dass Eon schon (Ulrich Kelber [SPD]: So war der Beschluss lange einen Deal mit der EU-Kommission gemacht hat. auch nicht ganz! Aber eine interessante Inter- Das war doch eine Blamage für die Bundesregierung! pretation!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist schon spannend, dass die SPD-Basis weiter ist als Es war auch deshalb eine Blamage, weil Ihr dritter Weg der Bundesumweltminister. Denn dieser verteidigt im- überhaupt nicht tragfähig ist. Das, was Sie wollten, ging mer noch die großen Kraftwerke. zurück auf die Lobbyarbeit der Energiekonzerne, aber noch nicht einmal aller. Eon hat dann gezeigt, dass es, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – um nicht in dem Kartellverfahren zu unterliegen und Ulrich Kelber [SPD]: Das war ein falsches Zi- hohe Strafen zahlen zu müssen, bereit ist, sich auf einen tat, und das wissen Sie!) Deal einzulassen. Ich gebe Ihnen recht, dass das nicht in Das Gesetz, über das wir momentan sprechen, ist ab- Ordnung ist. solut notwendig. Wenn wir unsere Klimaschutzziele er- Aus meiner Sicht ist die Infrastruktur, also die Ener- reichen wollen, müssen wir es besser machen als bisher. gienetze und das Schienennetz der Bahn, für die Wirt- Denn das alte KWK-Gesetz hat nicht das erfüllt, was alle schaft in diesem Land absolut wichtig und notwendig. sich davon erwartet hatten. Kraft-Wärme-Kopplung Deshalb muss der Staat die Kontrolle über die Infra- hat momentan einen Anteil von gerade einmal gut struktur haben. 11 Prozent. Wir bräuchten aber viel mehr. Deshalb ist es falsch, wenn jetzt ein Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15553

Bärbel Höhn (A) Ob das alles in staatlicher Hand sein muss, ist eine Ich finde es gut, dass Herr Lafontaine gesagt hat, wel- (C) zweitrangige Frage. Entscheidend ist doch, welche Kri- che Richtung er bei der Energiepolitik in Deutschland terien wir für die Netze festlegen. Wir müssen für einen einschlagen will. Erstens. Frau Höhn hat absolut recht: Ausbau sorgen, sodass der im Norden mit Windkraft er- Es wird in den nächsten Jahren um den Netzausbau ge- zeugte Strom in das Netz eingespeist werden kann. Es hen. Zweitens. Es ist eine zweitrangige Frage, wer der kann nicht sein, dass ein großer Teil dieses Stroms nicht Träger des Netzausbaus ist. Drittens. Es ist interessant, in das Netz eingespeist werden kann. Das müssen wir festzustellen, wie die Realitäten dort aussehen, wo sich ändern. Wir müssen des Weiteren die Netzengpässe be- die Netze in öffentlichem Eigentum befinden. Herr seitigen und die Kuppelstellen ausbauen. Wir müssen Lafontaine, Sie haben auf die skandinavischen Länder zudem neuen Stromproduzenten den Zugang zu den Net- verwiesen. Wenn man Dänemark dazuzählt, dann muss zen erleichtern. Das sind die entscheidenden Kriterien. man feststellen: Dort, wo sich die Netze in öffentlichem Eigentum befinden, gibt es die höchsten Nutzungsent- Ob das alles in staatlicher Hand sein muss oder ob das gelte. Herr Lafontaine, auch ich bin mit der Höhe der im Rahmen einer privaten Gesellschaft gemacht wird, ist Strompreise in Deutschland nicht zufrieden. Aber eines eine zweitrangige Frage. Zuerst geht es um das inhaltli- ist klar: Deutschland ist netto Stromexporteur. Sie sagen che Ziel, die Gestaltung der Netze. Liebe Kolleginnen immer, Sie hätten viel Ahnung von Wirtschafts- und Fi- und Kollegen von der Linken, es ist total einfach, perma- nanzpolitik sowie der Börse. Dann wissen Sie, dass die nent Verstaatlichung zu fordern. Aber das ist nicht im- Preise an den europäischen Strombörsen festgelegt wer- mer das beste Mittel. Gehen Sie ein bisschen differen- den. Es fließt nur deshalb Strom von Deutschland in an- zierter an die Sache heran! dere europäische Staaten, weil dort die Preise höher sind (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sind Sie für als in Deutschland. Das ist die Realität der Stromversor- oder gegen die Rekommunalisierung? Da kön- gung in Deutschland. nen Sie eine konkrete Sachfrage beantworten!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Lassen Sie uns schauen, was sinnvoll ist: Ist es besser, Wenn Sie der geschätzten Öffentlichkeit erklären, wir wenn es in staatlicher, oder ist es besser, wenn es in pri- sollten das alles verstaatlichen bzw. zurückkaufen, dann vater Hand bleibt? Ist zum Beispiel eine Netzgesell- sollten Sie wenigstens einen Satz dazu sagen, dass die schaft besser, die sowohl privat als auch staatlich sein Voraussetzung dafür ist, dass der Staat eine vernünftige kann? Das sehen wir in Dänemark und in der Schweiz. Wirtschafts- und Finanzpolitik betreibt und einen ausge- Das wäre ein viel besseres Vorgehen. Das sollten wir glichenen Haushalt hat. Sie können der Öffentlichkeit auch tun. Lassen Sie uns lieber inhaltlich diskutieren, an- nicht bei jeder Gelegenheit sagen, der Staat solle es be- statt plumpe ideologische Lösungen vorzuschlagen! Das zahlen, und dabei die Antwort auf die Frage schuldig (B) (D) brauchen wir nicht. bleiben, wie wir zu vernünftigen staatlichen Einnahmen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommen sollen. sowie des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Präsident Dr. Norbert Lammert: GRÜNEN) Das Wort erhält nun der Bundesumweltminister Gabriel. Was Sie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik wollen, führt dazu, dass das, was Sie hier öffentlich erklären, (Beifall bei der SPD) überhaupt nicht möglich ist. Mir geht es auch um die Konsequenzen Ihres Handelns. Sigmar Gabriel (SPD): Sie fordern die Rekommunalisierung. Sie wollen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe also den Netzausbau in Deutschland, die Milliardenin- mich nicht in meiner Eigenschaft als Minister, sondern vestitionen, die notwendig sind, den Kommunen aufbür- als Abgeordneter des Deutschen Bundestages gemeldet. den. Ich kann bei dem Vorschlag nur sagen: Gute Besse- Ich danke der SPD-Fraktion, dass sie mir Gelegenheit rung. – Das wird dazu führen, dass wir mit dem gibt, ihr sozusagen die Redezeit zu stehlen. Es war nicht Netzausbau nicht vorankommen. Das Ergebnis wird beabsichtigt, dass ich nach Herrn Lafontaine spreche. sein, dass die erneuerbaren Energien nicht marktfähig werden. Übrigens werden auch die Stadtwerke keine In- Präsident Dr. Norbert Lammert: vestitionen in Anlagen zur Kraft-Wärme-Kopplung täti- Herr Minister, ich mache Sie darauf aufmerksam, gen, wenn Sie ihnen den Netzausbau in Deutschland auf- dass Sie sich mit dieser Klarstellung dem starren Regime bürden. Was Sie machen, ist blanke Rabulistik und unseres Redezeitmanagements unterworfen haben. nichts anderes. Das hat mit Energiepolitik und Energie- versorgung in Deutschland überhaupt nichts zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sigmar Gabriel (SPD): Deutschland hat übrigens die größte Netzstabilität in Ich habe mir vorher sagen lassen, dass ich nur fünf ganz Europa; Deutschland hat die geringsten Ausfallzei- Minuten reden darf, und die schlimme Konsequenz er- ten in ganz Europa. Es ist nicht ganz ohne, daran weiter klären lassen, wenn nicht. zu arbeiten. Das erfordert Investitionen in das Netz. Die 15554 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Sigmar Gabriel (A) Voraussetzung dafür ist, dass der Netzeigentümer Ren- Vielen Dank. (C) dite erwirtschaftet. Tun Sie doch nicht so, als müsste ein (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Netzeigentümer in Zukunft keine ausreichenden Rendi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten mehr erwirtschaften! Bei dem, was Sie öffentlich er- zählen, kann man den Eindruck gewinnen, dass das ein Nullsummengeschäft ist. Ich sage Ihnen: Da werden Präsident Dr. Norbert Lammert: Milliardeninvestitionen fällig. Deswegen muss in die- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, sem Bereich auch Geld verdient werden können. CDU/CSU-Fraktion. Wir werden über die Eigentümerstruktur zu reden ha- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ben. Ich zum Beispiel will nicht, dass ausländische Staatsfonds zu neuen Oligopolisten werden und die alten Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Oligopolisten ablösen. Ich will nicht, dass Arbeitneh- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- merinteressen gefährdet werden. ren! Ich möchte zunächst Folgendes feststellen: Frau (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Höhn, wenn Sie mir vor einigen Monaten gesagt hätten, dass ich einmal Ihre Meinung teile und Ihnen voller Der Staat muss Rahmenbedingungen schaffen, aber wir Überzeugung hier in diesem Hause applaudiere, dann sind doch nicht selber Unternehmer in dem Bereich. hätte ich das in das Reich der Fabel verwiesen. Aber Wenn dem so wäre, dann hieße das, dass unsere Beam- heute war es so. tinnen und Beamten bessere Netzinvestoren wären als diejenigen, die damit Geld verdienen wollen. Ich will (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den wirtschaftlichen Anreiz, mit dem Netz Geld zu ver- NEN]: Dann freue ich mich, wenn es in fünf dienen, nutzen, damit mehr Anbieter in das Netz einspei- Jahren wieder so weit ist!) sen können und damit mehr Wettbewerb entsteht. Es soll Sie hatten im Wesentlichen mit dem, was Sie hier ausge- am Netz Geld verdient werden und nicht daran, dass führt haben, recht. man das Netz besitzt und andere, die einspeisen wollen, außen vor lässt. Darum geht es in der öffentlichen De- Auch ich möchte auf die Linken und Meister batte. Das wollen wir durchsetzen. Lafontaine eingehen; denn das ist in der Tat doppelzün- gig und scheinheilig. Es sind schon die richtigen Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten griffe genannt worden. Er stellt sich hier hin und sagt, der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN) dass die Preise steigen. In der Tat, die Preise steigen, – Doch, wir tun das in Deutschland über eine Regulie- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: (B) rungsbehörde. Wir haben nämlich inzwischen so nied- Eben!) (D) rige Netznutzungsentgelte, weil es eine Regulierungsbe- hörde gibt, die sich darum kümmert, aber sie steigen auch deshalb, weil 40 Prozent des Prei- ses von Haushaltsstrom staatlich induziert sind, aus (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE Steuern und Abgaben bestehen. Ihre Fraktion hat schon LINKE]) zig Anträge gestellt, aber schauen Sie einmal dorthin, wo Sie in Verantwortung sind wie hier in Berlin. Was pas- und nicht deshalb, weil wir Eigentümer sind. – Wir siert dort mit den Abgaben, mit der Konzessionsabgabe setzen auf die dezentrale Energieversorgung, Herr und anderen? Sie erhöhen sie. Das heißt, Sie sind der Lafontaine redet darüber. größte Preistreiber. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommarkt Sie haben sich als Retter bzw. Hüter des Kartellrechts beträgt inzwischen 14 Prozent. Das ist deutlich mehr, als hingestellt. Ich frage mich, wo Sie waren, als wir da- wir erwartet haben. Wir wollen den Anteil auf bis zu rüber im Wirtschaftsausschuss und hier im Plenum dis- 30 Prozent ausbauen. Es sind nicht nur die Kommunen kutiert haben. Sie haben gegen die Novelle des Kartell- alleine, sondern Hunderttausende von Menschen in rechts gestimmt, die wir im letzten Jahr eingebracht Deutschland, die ihr Geld in erneuerbare Energien inves- haben. tiert haben, in Windenergie, in Solarenergie, in Wärme- pumpen und in Holzpelletanlagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD) Das ist schon etwas doppelzüngig. Das ist dezentrale Energieversorgung. Wir setzen auf das Zum Thema staatliche Netze. Das Netz ist ein natür- Kartellrecht und verschärfen es. Herr Glos tut das. Wir liches Monopol. Ob das natürliche Monopol in staatli- brauchen Ihre Ratschläge nicht dazu. Wir brauchen chem oder privatem Eigentum ist – es bleibt ein natürli- auch, Herr Lafontaine, niemanden, der den Eindruck er- ches Monopol. Deshalb brauchen wir eine Regulierung, weckt, es gehe ihm hier im Bundestag um Klimaschutz; die diesem natürlichen Monopol entsprechende Rah- denn Mitglieder seiner eigenen Fraktion fordern dort, wo menbedingungen setzt und einen Als-ob-Wettbewerb sie betroffen sind, mehr Verschmutzungsrechte für darstellt. Hier haben wir vor fast drei Jahren gehandelt, Braunkohlewerke in Deutschland. Das ist die Doppel- und als Folge der seinerzeit eingeführten Regulierung züngigkeit in der Energiepolitik, die Sie und Ihre Frak- sinken die Netznutzungsentgelte. Noch im vorletzten tion permanent an den Tag legen. Jahr betrug der Anteil der Netznutzungsentgelte bei Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15555

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Haushaltsstrom 35 Prozent; im letzten Jahr sind die Ent- nicht nur mit einem Instrument erreicht werden können. (C) gelte um 1 Cent gesunken. Das heißt, die Regulierung Insgesamt wollen wir bis 2020 CO2 um eine Größenord- hatte eine preisdämpfende Wirkung; dies werden Sie nung von 220 Millionen Tonnen reduzieren. So, wie wir durch staatliche Reglementierung mit Sicherheit nicht das Gesetz jetzt angelegt haben, können wir mit einem erreichen. Insofern ist es unerträglich, wenn Sie hier den Beitrag von 15 Millionen Tonnen 7 Prozent davon errei- Robin Hood, den Rächer aller Enterbten, geben, in Wirk- chen. Wir machen das aber nicht nur deshalb, sondern lichkeit aber der Sheriff von Nottingham sind, der die auch, weil es effizient ist. Es ist eine Win-win-Situation, Leute mit Planwirtschaft und Sozialismus entmündigt die letztlich allen Beteiligten etwas Positives bringt. und auspresst. Das geht so wirklich nicht; das muss man Nun gehe ich auf den zweiten Punkt, die Liberalisie- einmal in aller Deutlichkeit sagen. rung des Mess- und Zählwesens, ein, der etwas tech- (Beifall bei der CDU/CSU) nisch daherkommt, aber in seiner Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen ist. Heute bekommt jeder Bürger Jetzt aber zum Thema des heutigen Tages, der KWK- einmal im Jahr seine Stromrechnung, und während des Förderung und der Liberalisierung des Zähl- und Mess- Jahres leistet er Abschlagszahlungen auf der Basis des wesens: Die Große Koalition ist keine innige Liebesbe- Vorjahresverbrauchs. Er weiß also gar nicht, was er mo- ziehung, wohl aber eine funktionierende Arbeitsbezie- natlich, geschweige denn täglich oder stündlich an hung. Dies zeigt sich auch bei den beiden Themen, die Strom verbraucht. Er kann zwar ab und zu einmal in den wir jetzt diskutieren. Es ist schon ein bisschen schwierig, Keller gehen und den alten analogen Zähler ablesen – da zu erklären, was KWK überhaupt bedeutet; Herr Kollege läuft so eine komische Drehscheibe –; aber letztlich hat Hempelmann und andere haben es versucht. Wenn man er keine direkte Beziehung zu dem von ihm verursachten sich mit Leuten, die nicht jeden Tag mit dem Energiebe- Stromverbrauch. Mit den neuen Techniken – ich bin reich zu tun haben, über Kraft-Wärme-Kopplung unter- überzeugt, dass sie eine Revolution auslösen werden – hält, dann gucken sie einen erst einmal etwas komisch erhält der Verbraucher die Hoheit über seinen Stromver- an. KWK ist in der Tat keine neue Kraftsportart und brauch; denn er kann sich jederzeit am Computer an- auch nichts Unanständiges; es soll niemand verkuppelt schauen, wie viel Strom er verbraucht, etwa wenn er werden. fernsieht, seine Geräte im Standby laufen lässt, sich ra- siert oder auch nicht rasiert, wie mancher hier im Haus; Bei KWK geht es schlicht um die Tatsache, dass bei Herr Thierse ist nicht da. Durch die neuen Techniken der Stromerzeugung auch Wärme entsteht und dass diese entstehen auch neue Geschäftsfelder; es werden neue Prozesswärme für Heiz- oder Kühlzwecke sehr effizient Produkte und Dienstleistungen angeboten werden. Es eingesetzt werden kann und muss. Eigentlich brauchte wird sogar so weit gehen – dazu gibt es schon erste KWK gar nicht gefördert zu werden, weil es jeder von Überlegungen –, dass man einen Kuchen zwei Stunden (B) sich aus machen müsste. Leider ist das aber nicht der später backt, weil nicht nur Großverbraucher, sondern (D) Fall. Da aus verschiedenen Gründen KWK nicht im not- auch Angehörige normaler Haushalte die jeweils aktuel- wendigen Umfang stattfindet, müssen wir das KWK-Ge- len Strompreise kennen. Das heißt, der vermeintlich setz erneut revidieren, Frau Kollegin Kopp. Es hat zwar kleine Schritt der Liberalisierung des Zähl- und Messwe- nicht nicht gewirkt, wie Sie gesagt haben, aber es hat sens wird zu großen Umwälzungen führen und Effi- nicht in dem Umfang gewirkt, wie wir es uns vorgestellt zienzvorteile für alle bringen: für den Verbraucher im haben. Deshalb justieren wir jetzt das KWK-Gesetz neu Haushalt sowie für die Industrie und das Gewerbe. Der und ergänzen es um die Wärmenetze. Es soll also auch Wettbewerb eröffnet neue Geschäftsfelder. Das ist die die Möglichkeit geben, über KWK Wärmenetze zu för- Energiepolitik, die wir betreiben wollen. Wir setzen auf dern. Ich habe es gerade zu beschreiben versucht: Wenn Wettbewerb und erreichen so das Beste für den Verbrau- jemand in einer Anlage durch Stromerzeugung auch cher und die Wirtschaft. Wärme erzeugt, dann braucht er einen Abnehmer – eine Senke –, der diese Wärme kontinuierlich über das ganze Vielen Dank. Jahr abnimmt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bei der Ausstattung mit Netzen gehen wir sehr diffe- neten der SPD) renziert vor und fordern keine Wärmenetze und auch keine Nahwärmepflicht. Bei Neubaugebieten brauchen Präsident Dr. Norbert Lammert: wir heute nämlich keine Wärmenetze und auch keine Das Wort hat nun der Kollege Dirk Becker, SPD- Kraft-Wärme-Kopplung im großen Stil mehr, weil wir Fraktion. mit dem Passivbaustandard oder gar mit dem Plus-Haus (Beifall bei der SPD) nicht mehr so viel Wärmebedarf – keine so große Wär- mesenke – in einem Neubaugebiet haben. Dort brauchen wir Klein-KWK, was wir mit diesem Gesetz jetzt auch Dirk Becker (SPD): fördern wollen. Wir wollen mit diesem KWK-Gesetz Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! neue, innovative Anlagentechniken einsetzen können, Nachdem wir Sozialdemokraten uns die Redezeit solida- die in Deutschland entwickelt wurden und jetzt zum Ex- risch geteilt haben, möchte ich mich auf einige Eck- portschlager werden. punkte zum Thema Kraft-Wärme-Kopplung beschrän- ken. Zu den allgemeinen energiepolitischen Themen ist Was wollen wir damit erreichen? Wir haben das Inte- genug gesagt worden. Die Aussagen zur Kraft-Wärme- grierte Klima- und Energieprogramm und CO2-Reduk- Kopplung waren übersichtlich. Ich möchte daher einige tionsziele, die wir alle unterstützen und die natürlich Punkte noch einmal betonen. 15556 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Dirk Becker (A) Frau Höhn und Herr Pfeiffer haben zu Recht von dem Ziel im IKEP verfehlt. Wenn wir mit dieser Technologie (C) Problem berichtet, Kraft-Wärme-Kopplung zu vermit- die 25 Prozent nicht erreichen, scheitert auch das Ziel teln. Das ist nicht sexy. Solarenergie, Geothermie, das der Bundeskanzlerin, bis 2020 die Energieeffizienz in sind spannende energiepolitische Themen. Kraft-Wärme- diesem Land zu verdoppeln. Ohne KWK gelingt es Kopplung ist eigentlich viel zu einfach: Es geht darum, nicht. Ohne KWK realisieren wir auch keine 40 Prozent einen normalen Verbrennungsprozess, egal mit welchem CO2-Minderung. Das heißt: KWK ist ein Schlüsselbau- Brennstoffträger, zu nutzen, um Wärme und Strom aus- stein in der gesamten Klimastrategie, und so sollten wir zukoppeln. Das ist eine ganz einfache Sache. Die höchste sie jetzt auch behandeln. Effizienz, die es auf dem Energiemarkt gibt, zu nutzen und somit einen nennenswerten Beitrag zum Klimaschutz Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Wirtschafts- zu leisten, ist der Kern der heutigen Diskussion. ministerium Eckpunkte, die unseren Forderungen ent- sprechen, gesetzt hat. Dazu gehören Neubau und Moder- Heute Morgen haben beide Energieminister gespro- nisierung ohne Größenbegrenzung. Frau Höhn, an dieser chen – ich sehe gerade keinen von beiden –; Stelle bin ich anderer Auffassung als Sie. Wir können nicht sagen, dass KWK toll und effizient ist, dies aber (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Doch! nur im kleinsten Bereich wollen. Sie sprachen von Ho- Der eine sitzt auf der Regierungsbank!) tels, Areal- und Objektversorgung. Wenn wir die Kapa- ich will auf den ersten kurz Bezug nehmen. Herr Glos zitäten in diesem Land insgesamt erneuern wollen, ge- hat natürlich – das ist in Energiedebatten üblich – einen hört es zur ehrlichen Diskussion, dass wir auch große Schwenk auf das Thema Atomenergie gemacht. Dass es Anlagen mit dem Brennstoff Kohle brauchen, die in der darüber in der Großen Koalition unterschiedliche Auf- Doppelung der Energieauskopplung für Wärme und fassungen gibt, wissen wir. Eines will ich deutlich sagen: Strom wesentlich effizienter sind als konventionelle Wenn wir die Energie, die wir verwenden, um das Kondensationskraftwerke. Das müssen wir den Men- Thema Atomenergie strittig zu diskutieren, nutzen wür- schen ehrlich sagen, um für Akzeptanz größer Kraft- den, um die KWK auszubauen, würde sich die Diskus- werke, unabhängig vom Brennstoff, zu werben. sion über die Atomenergie erledigen; denn die Poten- (Beifall bei der SPD) ziale der KWK sind entsprechend groß. Für uns Sozialdemokraten sind im Endeffekt drei wei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tere Punkte wichtig. Die industrielle KWK muss in Gänze der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ berücksichtigt werden, nicht nur das produzierende Ge- DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordne- werbe. Wir müssen den Anmeldezeitraum – Rolf ten der FDP) Hempelmann hat es gesagt – verlängern. Man müsste ei- (B) – Frau Kopp, Sie schütteln den Kopf: Das ist nicht gentlich sagen: bis die 25 Prozent erreicht sind. Das wird (D) Beckers Wunschkonzert. Sie sollten die Gutachten lesen. aber so nicht möglich sein. Wir werden uns über einen an- Sie sollten schauen, was eine Enquete-Kommission des deren Zeitraum verständigen müssen. Deutschen Bundestages ermittelt hat: Die Potenziale Wir müssen außerdem über die Frage der Finanzen sind riesig. – Dass Ihnen das nicht passt, ist klar. Ihre reden. Der Bundesrat hat einen Antrag gestellt, der ei- energiepolitische Linie führt in eine Einbahnstraße. gentlich schlüssig ist. Wir Sozialdemokraten hatten ur- KWK ist im Endeffekt ein wichtiger Baustein für den sprünglich 850 Millionen Euro gefordert. Das war die Energiemarkt der Zukunft. Höchstbelastung im Jahr 2006. Es würde also keine (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Oskar Mehrbelastung der Verbraucher geben, sondern der Lafontaine [DIE LINKE] und Bärbel Höhn Höchstbetrag von 2006 würde entsprechend beibehalten. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In jedem Fall muss es einen Ausgleich zwischen der För- derhöhe und der Höhe des Deckels geben sowie Flexibi- Die SPD-Fraktion hat schon 2005 begonnen, einen lisierung, was Netzausbau und Energieerzeugung an- Gesetzentwurf vorzubereiten. Wir haben ihn letztes Jahr geht. Ansonsten haben wir ein großes Problem, unser in die Diskussion eingebracht. Das war aufgrund der Ziel zu erreichen. Noch einmal: Für uns steht die Frage Haltung des zuständigen Ministeriums lange Zeit nicht der Zielerreichung im Mittelpunkt. Alle Instrumente einfach, weil es grundsätzlich andere Ausrichtungen be- müssen darauf ausgerichtet werden. züglich der Fragen „Ist KWK schon eigenwirtschaftlich darstellbar?“ und „Wie sieht es mit der Erreichung des Eines noch zur Frage der Zielerreichung. Die Große Ziels, den CO2-Ausstoß zu vermindern, aus?“ gab. Ich Koalition und die Bundesregierung haben sich ein hohes möchte mich beim Wirtschaftsministerium ausdrücklich Ziel gesetzt: 25 Prozent. Das ist ein Ziel, mit dem man bedanken – man braucht jetzt nicht zurückzublicken –, auch nach außen entsprechend auftreten sollte. Von da- dass dort mittlerweile die Einsicht eingetreten ist, dass es her ist es nach meiner Einschätzung eigentlich selbstver- weiterhin einer umfassenden Förderung der Kraft-Wärme- ständlich, dass dieses Ziel im Gesetz zu Beginn deutlich Kopplung bedarf, damit wir unser gemeinsam vereinbar- benannt wird. Man braucht es nicht ein bisschen ver- tes Ziel erreichen. Dieses Ziel heißt: Der Anteil des schämt in der Begründung zu verstecken; wir haben kei- KWK-Stroms soll bis 2020 auf 25 Prozent steigen. nen Grund dazu. Wir sollten dieses Ziel offensiv im Ge- setzestext nennen; das würde ich mir wünschen. Ich sage sehr deutlich: Für die SPD ist dieses Ziel das Kriterium, an dem wir unsere Maßnahmen ausrichten Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Weiter gute Be- wollen. Wenn wir dieses Ziel verfehlen, ist nicht nur ein ratungen! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15557

Dirk Becker (A) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oskar besseren Ausnutzung kommt. Ich könnte mir vorstellen, (C) Lafontaine [DIE LINKE]) dass immer dann, wenn eine größere Fabrik errichtet wird – in meinem Wahlkreis ist das gerade der Fall –, ne- Präsident Dr. Norbert Lammert: ben der Produktionsstätte auch eine Kraftwerksanlage Franz Obermeier ist der nächste Redner für die CDU/ gebaut wird, die Prozesswärme für diese Anlage und CSU-Fraktion. eventuell auch für weitere, in der Umgebung liegende Verbraucher erzeugt. Wenn unsere Gesetzgebung dafür (Beifall bei der CDU/CSU) sorgt, dass Betreiber solcher Anlagen einen Anreiz be- kommen, in Kraft-Wärme-Kopplung zu investieren, Franz Obermeier (CDU/CSU): dann haben wir ein gutes Gesetz auf den Weg gebracht. Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist In der vergangenen Woche, Herr Bundeswirtschafts- mehrfach gesagt worden: Bis 2020 25 Prozent KWK- minister, war Ihre Staatssekretärin Dagmar Wöhrl bei Strom, das ist die vorgegebene Zielsetzung. Wir Parla- der Inbetriebnahme einer Brennstoffzellenanlage in mentarier sollten alles daransetzen, dieses Ziel zu errei- meinem Wahlkreis dabei. Es handelt sich um eine An- chen. lage, die 200 Kilowatt elektrische Leistung und einen er- Ich halte das für extrem ambitioniert; denn die KWK- heblichen Anteil an Wärme erzeugt. Diese Wärme wird Realisierung war schon in der Vergangenheit – nicht dann in einer Kläranlage für die Trocknung von Klär- erst, seit es die Gesetze gibt – mit einem großen Problem schlamm genutzt. behaftet. Ich verweise auf die Kombination von Strom Ich meine, wir sind technologisch auf einem sehr gu- und Wärme bzw. Kälte an einer Lokalität – als jemand, ten Weg. Dieses Gesetz wird die Kraft-Wärme-Kopp- der früher Anlagen konzipiert und entwickelt hat, weiß lung weiter befördern. Wir müssen scharf beobachten, ich sehr genau, wovon ich rede –; genau dieser Umstand wie sich die Dinge weiterentwickeln. Wir müssen auch ist die Ursache dafür, dass die Regelung, die irgendje- dafür sorgen, dass wir technologisch weiterkommen und mand einmal Schläferprämie genannt hat, nicht den not- dass neben der Doppelnutzung von Primärenergie zu- wendigen Erfolg hatte. gleich auch die Energieeffizienz von Anlagen zunimmt. Wir laufen auch mit dem jetzt vorliegenden Gesetz- So könnten wir die Kraft-Wärme-Kopplung zu einem entwurf Gefahr, die Ziele noch nicht zu erreichen. Erfolgsmodell werden lassen und es schaffen, dass bis zum Jahr 2020 ihr Anteil 25 Prozent an der Stromerzeu- (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) gung beträgt. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das Prognos- Herzlichen Dank. (B) Gutachten. Es besagt, dass mit den Möglichkeiten, die (D) im Gesetz vorgesehen sind, 77 Terawattstunden Strom (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- durch Kraft-Wärme-Kopplung erzeugt werden kön- neten der SPD) nen. Das entspricht nicht 25 Prozent des Stromver- brauchs in Deutschland, sondern ist erheblich weniger. Präsident Dr. Norbert Lammert: Zugleich besagt das Prognos-Gutachten: Die Kosten für Klaus Barthel ist der nächste Redner für die SPD- die Vermeidung von CO2-Ausstoß über Kraft-Wärme- Fraktion. Kopplung liegen zwischen 33 und 49 Euro je Tonne CO2. – Das ist ein interessanter Wert und gibt mir die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Motivation, für die Kraft-Wärme-Kopplung zu kämpfen und alles für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung, Klaus Barthel (SPD): die anerkanntermaßen eine ganz hervorragende Art der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Energieerzeugung bzw. Energienutzung ist, zu tun. sind ja jetzt endlich wieder bei den Themen angekom- Wir haben nun die Förderung bei 750 Millionen Euro men, um die es heute eigentlich geht. Wir sollten dabei gedeckelt. Es ist schon von einer Kollegin bzw. einem die Schlagzeilen, die die Stromzähler derzeit machen, Kollegen gesagt worden, dass man diesen Betrag nicht für unsere Zwecke nutzen. Auf der diesjährigen CeBIT starr bezogen auf ein Jahr sehen sollte, sondern eine ge- konnte man sehen, dass die Stromzähler digital werden; wisse Flexibilisierung ermöglichen sollte, damit es zu manche Zeitungen schrieben von „Hightech-Stromzäh- keinem Abbruch bei der Förderung kommt. lern“. Es ist meines Erachtens gerechtfertigt, die Frage zu Für uns Verbraucher bedeutet dieser Fortschritt, dass stellen, wie der zukünftige Kraftwerkspark in Deutsch- wir dann zu Hause am Stromzähler oder am PC sehen land aussehen soll, ob wir die großen fossilen Kraft- können, wenn wir stromfressende Geräte betreiben, und werke in Deutschland überhaupt noch brauchen. Selbst unser Verhalten entsprechend verändern können. Im Kfz wenn wir es nämlich anlagen- und planungstechnisch ist es ja heute schon zur Normalität geworden, dass man darstellen können, dass die Wärme an mindestens nicht erst an der Tankstelle, sondern schon während des 300 Tagen im Jahr vernünftig genutzt wird, stellt sich Fahrens darauf aufmerksam gemacht wird, wenn man immer noch die Frage nach der Größenordnung, also wie zum Beispiel aufgrund des Fahrverhaltens zu viel Sprit viel Wärme tatsächlich sinnvoll genutzt werden kann. verbraucht. In Kombination mit den lastabhängigen Deswegen ist es natürlich wichtig, zu überlegen, ob man Stromtarifen kann intelligente Haustechnik Kosten spa- nicht mit der Schaffung kleinerer Kapazitäten zu einer ren. Zum Beispiel kann sich die Waschmaschine erst 15558 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Klaus Barthel (A) dann einschalten, wenn der Strom günstig ist, und eben vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur (C) nicht sofort. Öffnung des Messwesens bei Strom und Gas für Wettbe- werb ist ein nicht zu unterschätzendes Element dieser Der bisher durchaus schon vorhandene Wettbewerb Gesamtstrategie und deswegen hier nicht zu verachten. beim Einbau und Betrieb von Strom- und Gaszählern hat bisher weder dazu geführt, dass die Preise für die längst (Beifall bei der SPD) abgeschriebenen Zähler gesunken sind, noch dazu, dass innovative Zähler eingeführt wurden. Man muss sich ja Präsident Dr. Norbert Lammert: auch fragen, welches Interesse der bisherige Zählerbe- Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der treiber, nämlich die EVUs, haben sollte, moderne Zäh- Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU. lertechnik einzubauen; denn er lebt ja vom Verbrauch und nicht vom Sparen. Die Bundesregierung hat in ih- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rem Evaluierungsbericht aufgezeigt, dass die fehlende neten der SPD) Marktöffnung bei der Messung, also bei dem Ablesen der Messgeräte, ein wesentliches Wettbewerbshindernis Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): beim Betrieb dieser Messstellen ist. Dieses Hindernis wird mit Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Als der Bundesregierung beseitigt. Umweltpolitiker bin ich der festen Überzeugung, dass wir die Verdoppelung des Anteils von Strom aus Kraft- Auch wenn es in den Berichten wie Science Fiction Wärme-Kopplung an der Gesamtstromerzeugung bis klingt und die intelligente Waschmaschine noch nicht 2020 im Sinne von Ressourcenschonung und Klima- auf dem Markt ist, haben wir jetzt auf dem Strommarkt schutz brauchen. Deutschland als führende Wirtschafts- die Chance, intelligente Zähler im Wettbewerb zu eta- nation hat an dieser Stelle eine nicht zu unterschätzende blieren und den Verbraucherinnen und Verbrauchern da- Vorbildfunktion. Dass wir das im Rahmen der Umlage- mit eine deutlich erweiterte Kontrolle ihres Stromver- finanzierung tun, halte ich für nicht verkehrt. Die Umla- brauchs zu geben. Dahinter steckt die Zielvorstellung, gefinanzierung wird nämlich wie beim EEG in ganz be- innerhalb der nächsten sechs Jahre zu einem möglichst sonderer Weise der Verantwortung der Stromverbraucher flächendeckenden Einsatz von solchen Zählern und für eine ressourcen- und klimaschonende Stromversor- Steuerungen sowie zu lastvariablen Tarifen zu kommen. gung gerecht. Sie ist an dieser Stelle sehr viel zielorien- tierter und effizienter als beispielsweise die Ökosteuer, (Beifall bei der SPD) mit der wir den Stromverbrauch auch belasten. Nach der E-Energy-Studie, die im Auftrag des BMWi (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) erarbeitet worden ist, geht es hier um einen Markt von der SPD) (D) etwa 49 Millionen Zählstellen mit einem Gesamtvolu- men von etwa 5 Milliarden Euro. Das ist eine hohe In- Wenn man über das Thema Effizienz redet, dann vestition, aber auf die Dauer sicherlich lohnend für die muss man, wie hier schon mehrfach angeklungen, klipp Verbraucher, die Volkswirtschaft und das Klima. und klar sagen, dass man, um die Effizienz zu steigern, die bei der Stromproduktion entstehende Wärme nutzen Gerade im Zusammenhang mit den künftigen last- muss. Das geht nur durch Dezentralität. Dezentralität ist variablen Tarifen kann eine Stromkostenkontrolle zur unabdingbar. Aus Sicht eines Wirtschaftspolitikers sage Verschiebung der Nachfrage in Schwachlastzeiten ge- ich: Sie bietet natürlich auch Chancen; denn es geht bei nutzt werden. Das Wuppertal-Institut für Klima, Um- diesem Thema auch um den Mittelstand, sowohl was die welt, Energie geht von einer Einsparmöglichkeit von Produktion als auch den Verbrauch angeht. Für den Mit- 5 bis 10 Prozent des Gesamtstromverbrauchs der Haus- telstand steht die Union wie kaum eine andere Partei. halte aus. Das wären etwa 5 bis 10 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Das ist doch was! Wenn teure Spitzenlast- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg van Essen kraftwerke nicht mehr in gleichem Umfang benötigt [FDP]: Na ja, wir übertreffen Sie schon ganz werden wie bisher, dann führt das außerdem zu sinken- schön!) den Stromerzeugungskosten und zur Entlastung der Netze. Die Netze sind reguliert worden. Den Stadtwerken müssen wir zurufen, dass sie ihr Heil auch in der Strom- Es geht darum, den Wettbewerb so zu gestalten, dass produktion suchen müssen, weil dank des Bundeswirt- ein Anreiz für neue Anbieter und für die Nachfrage nach schaftsministers im Bereich der Netze keine Monopol- deren Angeboten entsteht. Dazu benötigen wir einfache, gewinne mehr möglich sind. Das ist auf der einen Seite schnelle und kostengünstige Geschäftsprozesse. Deswe- ein entscheidender Erfolg. Auf der anderen Seite müssen gen brauchen wir eine Standardisierung und Anwen- wir aber den Stadtwerken, denjenigen, die auch davon dungsmöglichkeit der Regulierungsinstrumente der Bun- betroffen sind – das sind ja nicht nur die großen Vier –, desnetzagentur auf die Beziehung zwischen den entsprechende Geschäftsmodelle aufzeigen. In diesem Netzbetreibern und den Messstellenbetreibern und hin- Sinne ist das Einspeiserecht, das wir im KWK-Gesetz sichtlich der Wechselmöglichkeit der Endverbraucher genauso verankert haben wie im EEG, ein wichtiges re- gegenüber den Messstellenbetreibern. Das mag sich al- gulatorisches Element, eine Voraussetzung dafür, dass les technokratisch anhören, aber bei der Lösung der auch kleine Unternehmen, Mittelständler Zugang zu den Energie- und Klimaschutzprobleme führt nur eine Ge- Netzen haben. Wir tun hier etwas ganz besonders Wich- samtstrategie mit vielen Elementen zum Erfolg. Der tiges und Richtiges. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15559

Dr. Georg Nüßlein (A) Angesichts dessen, was Oskar Lafontaine heute zum Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Besten gegeben hat, frage ich mich schon, warum er im- Ich schließe die Aussprache. mer dann, wenn unser Wirtschaftsminister handelt, nicht mit dabei ist, zum Beispiel dann, wenn es um eine Ver- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen schärfung des Kartellrechts geht. Warum stimmen Sie da auf den Drucksachen 16/8305, 16/8306 und 16/7872 an nicht zu? Als Vertreter der Union sage ich aber auch: die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Sehr viel Wert legen wir auf die Stimmen der Linken schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der nicht. Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: Die Effizienzförderung ist im Übrigen ein industrie- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia politischer Eingriff, um auch in diesem Bereich die Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Technik voranzubringen. Es besteht die Frage, wo in Zu- Abgeordneter und der Fraktion der FDP kunft Klimaschutz gemacht wird und wie über das Wissenschaftsfreiheitsgesetz einführen – Mehr Thema des Klimaschutzes entschieden wird. Nur dann, wenn es uns gelingt, technisch voranzukommen, werden Freiheit und Verantwortung für das deutsche wir nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit et- Wissenschaftssystem was verändern. – Drucksache 16/7858 – Nun ist heute mehrfach über den Strompreis diskutiert Überweisungsvorschlag: worden. Grundsätzlich bin ich der festen Überzeugung, Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) dass wir hier eine Deckelung brauchen, dass wir aber Auswärtiger Ausschuss nicht alles, was mit Klimaschutz zu tun hat, sofort Innenausschuss deckeln sollten. Das sage ich auch in Richtung der eige- Rechtsausschuss nen Reihen. Wir können letztendlich nicht unsere Kanz- Finanzausschuss lerin deckeln. Das sollten wir nicht tun; denn sie ist die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Galionsfigur beim Klimaschutz. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss CSU]) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Deshalb bitte ich, dies entsprechend zu berücksichtigen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wenn man eine solche Deckelung beschließt, wie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und man sie im Moment vorsieht – eine Deckelung der Entwicklung (B) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (D) KWK-Zuschlagssumme bei 750 Millionen Euro pro Jahr Haushaltsausschuss und eine Deckelung des Zuschlags für den Neu- und Ausbau von Wärmenetzen bei 150 Millionen Euro pro b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Jahr –, dann entsteht ein Problem, wenn der Kreis der Hinz (Herborn), Kai Gehring, Grietje Bettin, wei- zuschlagsberechtigten KWK-Anlagen- und Wärmenetz- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- betreiber sehr weit gefasst wird. Darüber sollten wir im NIS 90/DIE GRÜNEN Laufe der Debatte noch einmal nachdenken. Wissenschaftssystem öffnen – Mehr Qualität Wir brauchen aus meiner Sicht zum einen Eingren- durch mehr verantwortliche Selbststeuerung zungen, was das Thema Netze angeht. Da dürfen wir uns und Kooperation nicht zu stark auf die großen Netze, die Fernwärmenetze im großstädtischen Bereich, versteifen. Die Investitions- – Drucksache 16/8221 – volumina sind hier sehr groß; hier würden wir die Überweisungsvorschlag: Deckelung relativ schnell erreichen. Zum anderen müs- Ausschuss für Bildung, Forschung und sen wir beim Thema der Versorgung über die Frage Technikfolgenabschätzung (f) Auswärtiger Ausschuss nachdenken, ob industrielle Anlagen zur Eigenversor- Innenausschuss gung wirklich erkennbar förderbedürftig sind oder ob Rechtsausschuss man da nicht noch etwas nachjustiert, damit wir nicht zu Finanzausschuss schnell einen zu großen Druck auf diesen Deckel be- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie kommen, was dazu führen würde, dass wir ihn relativ Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz schnell anheben würden. Das bringt letztendlich nicht Ausschuss für Arbeit und Soziales das gewünschte Ergebnis. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir setzen uns für eine zielgerichtete Förderung ein, Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung für eine Förderung, die Investitionssicherheit schafft, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit insbesondere im Bereich der kleinen Anlagen unterhalb Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und einer Leistung von 10 Megawatt; denn hier geht es wirk- Entwicklung lich darum, einen Anstoß zu geben, dass dieses Thema Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union vorankommt. Haushaltsausschuss c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Vielen Dank. richts des Ausschusses für Bildung, Forschung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) 15560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Angst schafft keine Zukunft! Angst vor neuen For- (C) Cornelia Hirsch, Volker Schneider (Saarbrücken) schungsfeldern und Erfindungen würde Deutschland in und der Fraktion DIE LINKE der Technologieführerschaft um Jahrzehnte zurückwer- fen. Schauen wir uns die Politik der Bundesregierung an: Die Zukunft der Lehre und Forschung an Sie setzt in manchen Bereichen mehr auf Risiken denn Hochschulen mit Hilfe der Juniorprofessur auf Chancen. Schauen wir uns die grüne Biotechnologie stärken an. Schauen Sie sich die Haltung der Bundesregierung – Drucksachen 16/3192, 16/8369 – zur kerntechnischen Sicherheitsforschung an. Aber auch die aktuelle Debatte über Stammzellforschung ist nicht Berichterstattung: das, was der Spitzenstandort Deutschland braucht. Wir Abgeordnete Monika Grütters brauchen mehr Freiheit für die Forschung in diesem Dr. Ernst Dieter Rossmann Land. Uwe Barth Dr. Petra Sitte (Beifall bei der FDP) Kai Gehring Im Vergleich der größten Forschungsnationen liegt Interfraktionell sind für diese Aussprache anderthalb Deutschland hinter den USA und Japan auf Platz drei. Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Schwellenländer wie Indien, China und die Länder Süd- Dann ist das so beschlossen. amerikas holen aber in einem rasanten Tempo nach, was sie in den letzten Jahren bei Forschung und Entwicklung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst versäumt haben. China wird Deutschland nach Einschät- die Kollegin Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion. zung der Bundesagentur für Außenwirtschaft im kom- (Beifall bei der FDP) menden Jahr als Exportweltmeister ablösen. Was heißt das? Wir müssen auf Ideen, auf neue Forschung setzen. Cornelia Pieper (FDP): Wir müssen auf Innovationen setzen. Die CeBIT ist ein Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beispiel dafür, was wir damit weltweit bewirken kön- heutige Tag könnte zu einer Sternstunde des deutschen nen. Parlaments werden; denn wir beraten die Initiative der Deutschland braucht ein positives Forschungsklima – FDP-Bundestagsfraktion für ein Wissenschaftsfreiheits- frei von ideologischen Debatten. Die vorherrschende, oft gesetz. angstbesetzte Kultur des Risikos muss sich in eine zu- (Jörg Tauss [SPD]: Man muss ja nicht gleich kunftsorientierte Kultur der Chancen wandeln, in der die übertreiben!) Herausforderungen tatkräftig angegangen werden. (B) (D) Der Antrag liegt Ihnen, Herr Tauss, bereits seit Ende Ja- (Beifall bei der FDP) nuar vor. Deswegen setzt sich die FDP vehement dafür ein, Wollen wir den rasanten Herausforderungen im glo- dass der in Art. 5 des Grundgesetzes verankerten Wis- balen Wettbewerb standhalten, die Qualität unseres Wis- senschafts- und Forschungsfreiheit in einem umfas- senschaftssystems stetig steigern, vor allem aber interna- senden Sinne Geltung verschafft wird. Die freie Entfal- tionalen Entwicklungen immer einen Schritt voraus sein tung von Wissenschaft und Forschung muss ermöglicht und die besten Köpfe nach Deutschland holen, dann werden. Bürokratische Hürden und ideologisch determi- brauchen wir eine neue Kultur für Innovationen. Mit nierte Überregulierungen gehören abgebaut, Frau Minis- einem Wort: Wir müssen in der Wissenschaft mehr Frei- terin. heit wagen! Eine Hochschule oder eine Forschungseinrichtung (Beifall bei der FDP) muss zukünftig wie ein Unternehmen geführt werden können. Trotz vieler Reformen ist es im außer- und uni- Dazu bedarf es eines mutigen Schrittes hin zu einem versitären Forschungsbereich in den letzten 20 Jahren Wissenschaftsfreiheitsgesetz, das der Wissenschaft wie nicht gelungen, bestehende Hemmnisse im Haushalts- der Wirtschaft gleichermaßen die notwendige Luft zum recht, im Tarifrecht oder im Vergaberecht zu beseitigen. Atmen gibt, das Barrieren abbaut und Forschung und Das müssen wir jetzt anpacken. Es geht um ein leis- Lehre enger zusammenführt, das Eigenverantwortung tungsfähiges deutsches Wissenschaftssystem. Wir müs- stärkt und Bürokratie abbaut, das eine bessere Bezah- sen große Forschungsverbünde zwischen Wirtschaft, lung der in- und ausländischen Wissenschaftselite ohne außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Hoch- Fesselung innerhalb des Tarifvertrages des öffentlichen schulen ermöglichen. Präsente und hervorragende Bei- Dienstes ermöglicht und das Grenzen für Fachkräfte öff- spiele sind die RWTH Aachen, das Forschungszentrum net. Das ist die Wissenschaftspolitik, die wir von der Jülich oder auch das Karlsruhe Institute of Technology. Bundesregierung erwarten. Ausgerechnet dort, wo die FDP mitregiert, findet so et- (Beifall bei der FDP) was statt. Ein athenischer Staatsmann, Perikles, hat bereits ge- (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Aber sagt: Das Geheimnis der Freiheit ist Mut. das war nicht die Erfindung der FDP!) (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD Beteiligungen an Ausgründungen und Unternehmen und der CDU/CSU: Hui!) sind ein wichtiges strategisches Instrument. Globalhaus- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15561

Cornelia Pieper (A) halte müssen eingeführt und die kameralistische Haus- nalen Wettbewerb der Wissenschaftssysteme und der In- (C) haltsführung muss abgeschafft werden. Das ist die Vo- novationsstandorte. Das ist das Thema. raussetzung für die weitgehende Selbstverwaltung der Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland. Was in diesem Wettbewerb wird bedeutsam? Welche Faktoren spielen eine Rolle in diesem internationalen Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit Wettbewerb, der keineswegs nur die Hochschulen, son- den Ländern zu handeln. Wir wollen insbesondere, dass dern zum Beispiel auch ganz zentral die Möglichkeiten, der Wissenschaftstarifvertrag ein Thema für dieses die Spielräume für die Partnerschaft zwischen Wissen- Haus wird. Frau Ministerin, ich glaube, das ist eine schaft und Wirtschaft betrifft? Ich rufe in Erinnerung Kernaufgabe für die, die sich für die Freiheit für Wissen- – ich sage das auch, weil es in einem der vorliegenden schaft begeistern. Denn wir alle wissen: Der Tarifvertrag Anträge steht –: Das ist natürlich nicht der einzige not- des öffentlichen Dienstes ist der größte Hemmschuh für wendige Schritt. Wir reden über ein ganzes Paket unter- unser Wissenschaftssystem im internationalen Wettbe- schiedlicher Schritte. Viele wurden schon getan. Ich er- werb. Er muss abgeschafft werden. innere an die Exzellenzinitiative, die eine wichtige Ausdifferenzierung im Wissenschaftssystem mit einer (Beifall bei der FDP) deutlich höheren Sichtbarkeit von einzelnen Hochschul- Frau Ministerin, fassen Sie Mut, überzeugen Sie den standorten geschaffen hat, an die Hightechstrategie und Innenminister und sorgen Sie dafür, dass die Hochschu- an den Spitzenclusterwettbewerb, der ein Paradebeispiel len und Forschungseinrichtungen endlich einen eigenen für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wissenschaftstarifvertrag bekommen. Dann wären wir Wirtschaft darstellt. hinsichtlich der attraktiven Arbeitsbedingungen von Ich weise in diesem Zusammenhang auf die Interna- deutschen, aber auch ausländischen Wissenschaftlerin- tionalisierungsstrategie und auf strukturelle Weiterent- nen und Wissenschaftlern in diesem Land ein großes wicklungen – ich habe das KIT eben schon genannt – Stück weiter. hin. Übrigens ist das klare Bekenntnis der Bundes- Ich frage Sie: Wann haben wir Ihr Wissenschaftsfrei- regierung und der sie tragenden Regierungsfraktionen heitsgesetz zu erwarten? Für mich heißt der Schlüssel zum 3-Prozent-Ziel nicht zu vernachlässigen. zum Erfolg: Freiheit für die Wissenschaft. Handeln Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- endlich! neten der SPD) (Beifall bei der FDP) Auch das hat viel Dynamik ins System gebracht. Schließlich geht es um die Stärkung der Forschung an (B) Vizepräsident Dr. : Universitäten durch die Einführung der Programmkos- (D) Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Annette tenpauschale. In einem Satz: Die Große Koalition hat Schavan. bislang schon deutliche Bewegung in den Innovations- standort Deutschland gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Ulla Burchardt [SPD]: Die war schon vorher da! – Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch gar Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- nicht messbar! – Jörg Tauss [SPD]: Noch mehr dung und Forschung: Bewegung! Eine dauernde Bewegung sozusa- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen! – Gegenruf des Abg. Kai Gehring Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, wenn über [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor und zu- die Entscheidungen der Bundesregierung die sie tragen- rück! Zick und zack! Ja, ganz viel Bewegung!) den Fraktionen, Vertreter der Länder – Kollege Pinkwart, herzlich willkommen – und auch die Opposi- – Liebe Frau Burchardt, jetzt komme ich zum nächsten tion einer Meinung sind. Punkt, der in Meseberg beschlossen wurde. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Kurz gesagt geht es dabei um die Spielregeln des LINKE]: Eine Opposition!) Good Governance. Unsere Institute, das Fraunhofer- Institut, das Max-Planck-Institut, die Helmholtz-Ge- – Pardon, Teile der Opposition, die Linke also ausge- meinschaft und andere, die in vielen internationalen schlossen. Das hätte mich auch gewundert. Netzwerken sind und sich im Wettbewerb befinden, (Jörg Tauss [SPD]: Die Linke nicht, aber die müssen in diesem Wettbewerb in den nächsten Jahren da! Die Linken sind wir!) die gleiche Stärke behalten, die sie bislang hatten. Denn gerade unsere außeruniversitären Forschungseinrichtun- – Was haben Sie mit den Linken zu tun? Das verstehe gen sind im internationalen Wettbewerb stark. Klar ist ich jetzt überhaupt nicht, Herr Taus. aber: Das bisherige Regelwerk behindert die weitere Entfaltung und die weitere Internationalisierung. Des- Ich finde jedenfalls, dass es eine positive Entwicklung halb muss dieses Regelwerk weiterentwickelt, moderni- ist, wenn immer mehr Vertreter dieses Hohen Hauses die siert und flexibilisiert werden. Die Spielräume müssen Ideen für mehr Selbstständigkeit, mehr Spielräume und vergrößert werden. für eigene Verantwortung vor Ort mittragen. Wir reden damit letztlich über den nächsten wichtigen Schritt zur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Steigerung der Attraktivität Deutschlands im internatio- der SPD) 15562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) Wie ist im Moment der Stand der Dinge? Die The- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Ja! So ist (C) men, um die es geht, und die Teile des Regelwerkes, die es!) verändert werden sollen, sind identifiziert. Die Beratun- Wir werden die Bagatellgrenze bzw. den Höchstwert für gen auf Arbeitsebene haben begonnen. Erste Schritte, freihändige Vergaben im Wettbewerb von 8 000 Euro die das BMBF ohne die Einbeziehung anderer Ressorts auf 30 000 Euro anheben. unternehmen kann – sie betreffen verwaltungsinterne Er- lasse –, werden oder sind bereits auf den Weg gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Eckpunkte für entsprechende Neuregelungen wer- neten der SPD) den dem Kabinett im Sommer vorliegen. Das heißt, dass die Forschungseinrichtungen bei vielen (Uwe Barth [FDP]: Dieses Jahres?) Beschaffungen von der Verpflichtung zur öffentlichen Ausschreibung befreit sein werden. Ich nenne vier Beispiele für das, was geplant ist: (Cornelia Pieper [FDP]: Na ja! Schauen wir Erstens. Die haushaltsrechtliche Detailsteuerung im mal!) Hinblick auf die Forschungseinrichtungen muss zurück- gefahren werden. Mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz Wenn wir von mehr Selbstständigkeit und mehr Frei- müssen die haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen heit reden, geht es nicht um weniger Verantwortung und flexibilisiert werden: Globalhaushalte, Übertragung der weniger Rechenschaft. Wir – die Haushälter, die Finanz- Haushaltsmittel, Ausbau der vorhandenen Deckungsfä- politiker, die Innenpolitiker und diejenigen, die sich in higkeiten und Verzicht auf Stellenpläne. Wir brauchen spezieller Weise mit Innovationsfragen beschäftigen – eine aufgaben- und ergebnisbezogene Steuerung – keine sind dabei, die Weichen zu stellen und neue Schritte zu Abschaffung der Steuerung, aber eine Modernisierung tun, um die Innovationsbedingungen für die Organisatio- der Steuerung mit Blick auf Ergebnisse und Aufgaben. nen zu modernisieren, die in besonderer Weise die Ver- stetigung der Dynamik, die entstanden ist, leisten sollen. Zweitens. Forschungseinrichtungen müssen ohne um- Je größer der Konsens in diesem Hause, je größer der ständliche Genehmigungsverfahren Beteiligungen an Konsens zwischen Parlament und Regierung, zwischen Unternehmen im In- und Ausland eingehen können, um Ländern und Bund ist, desto umfassender kann das Paket sich national, aber auch international zu vernetzen. Da- werden. Ich wünsche mir ein Paket – so werden wir mit durch werden neue strategische Geschäftsfelder er- den Eckpunkten in die Ressortverhandlungen und ins schlossen und neue Kooperationspartner gefunden. Be- Kabinett gehen –, von dem ein klares Signal und ein teiligungen an Ausgründungen und die Gründung von Schub für die außeruniversitären Forschungseinrichtun- Joint Ventures mit der Industrie sind die Voraussetzun- gen ausgeht. (B) gen für die Verwertung von Spitzentechnologie. (D) Vielen Dank. Drittens. Bei Bau- und Vergabeverfahren müssen wir wissenschaftsfreundlicher werden. Aufwendige Verfah- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ren und administrative Hemmnisse schaden der Innova- tionskraft. Deshalb muss es auch hier größere Spiel- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: räume für globale Bewilligungen geben. Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Schneider von der Fraktion Die Linke. Viertens. Wir brauchen die Flexibilisierung des Ver- gaberahmens. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, bei dem (Beifall bei der LINKEN) vor allem die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern wichtig sein wird. Es gehört ja zu den Stär- Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): ken des deutschen Systems, dass Bund und Länder die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Forschungsorganisationen gemeinsam tragen. Wenn ich habe es durch einen Zwischenruf schon angedeutet: von einer Flexibilisierung des Vergaberahmens spreche, Ganz so breit ist die Übereinstimmung zwischen Oppo- dann meine ich nicht seine Abschaffung. Das dauert län- sition und Regierung nun doch nicht. ger. Ich vermute, dass das erst der übernächste Schritt sein wird. Der nächste Schritt muss sein, dass wir auch Worum geht es? Die Bundesregierung hat im im Hinblick auf die Globalhaushalte für eine Flexibili- August 2007 im Rahmen ihrer Meseberger Beschlüsse sierung sorgen, sodass es bei konkreten Verhandlungen erklärt, dass sie, um die Rahmenbedingungen für Exper- deutlich größere Spielräume gibt als jetzt. ten, Spezialisten und Nachwuchskräfte attraktiv zu ma- chen, mehr Flexibilität für Forschungseinrichtungen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hochschulen schaffen will. Weil diese Bundesregierung ähnlich wie ihre Vorgängerregierung gerne mit attrakti- Liebe Kolleginnen und Kollegen, manches ist auch ven Worthülsen arbeitet, hat sie sich nicht gescheut, eine ohne Wissenschaftsfreiheitsgesetz machbar. Mein Haus kleine Anleihe in Nordrhein-Westfalen zu nehmen und wird schon jetzt, also im Vorgriff, die bestehenden Mög- hat ihr Projekt mit dem Etikett „Wissenschaftsfreiheits- lichkeiten nutzen, um die Beschränkungen der Förde- gesetz“ versehen. „Wissenschaft“ ist gut, „Freiheit“ rung der Projekte von Forschungseinrichtungen, zu de- noch besser, ein „Wissenschaftsfreiheitsgesetz“ zu kre- nen es in der Vergangenheit gekommen ist, aufzuheben. ieren das Allerbeste. Das betrifft insbesondere die Bagatellgrenze für Zuwen- dungen; ein ganz konkretes Beispiel ist der berühmte (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN Dudenhausen-Erlass. und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15563

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie, liebe Kollegin- Linke sagen Ihnen dazu deutlich: Wer die Forschungs- (C) nen und Kollegen von der FDP, nicht gerade begeistert förderung nur noch auf verwertungsnahe Bereiche kon- darüber waren, wie kess die Große Koalition Ihr Anlie- zentrieren will, der schafft keine Wissenschaftsfreiheit, gen übernommen hat. sondern beerdigt sie. (Cornelia Pieper [FDP]: Es muss vorangehen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- in Deutschland!) neten der SPD) Nun ist die Bundesregierung in Bezug auf Ankündigun- Hochschulen und Forschungsinstitute haben die Auf- gen stets mit flotten Schritten unterwegs; bei der Umset- gabe, je nach Profil mehr oder weniger zweckfreie wis- zung präferiert sie bekanntermaßen Trippelschritte. Das senschaftliche Erkenntnisse auf allen gesellschaftlich wiederum gibt der FDP die Möglichkeit, ihrerseits mit relevanten Gebieten zu erarbeiten, kontrovers zu disku- einem Antrag für die Einführung eines Wissenschafts- tieren und der Gesellschaft und ihren Mitgliedern zu- freiheitsgesetzes vorzupreschen. Weil Sie von der FDP gänglich zu machen. Bereits heute ist der Einfluss wis- auf Bundesebene noch keine eigenen Vorschläge erar- senschaftsfremder Instanzen über private Drittmittel, beitet haben, schreiben Sie der Einfachheit halber nieder, Auftragsforschung, Stiftungsprofessuren etc. sehr hoch. was der Präsident der Deutschen Forschungsgemein- schaft, Herr Kleiner, und seine Generalsekretärin, Frau Autonomie wollen Sie stattdessen am liebsten dadurch Dzwonnek, im Bildungsausschuss vorgetragen haben. schaffen, dass Sie nicht unproblematische Forschungsbe- Das wiederum findet sich im sogenannten Barrierepapier reiche wie Kerntechnik, Sicherheits- und Endlagerfor- der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszen- schung, Biotechnologie und Stammzellforschung jegli- tren wieder. cher gesellschaftlichen Kontrolle entziehen wollen. Auch hier sagen wir als Linke deutlich: Die Freiheit der (Cornelia Pieper [FDP]: Freiheit für die Wissenschaft kann und darf nicht durch unkontrollierte Wissenschaft!) Eingriffe in Grund- und Menschenrechte durchgesetzt Sie haben diese Forderungen eins zu eins übernommen – werden. wahrlich keine große Leistung, eher ein Dokument über- (Beifall bei der LINKEN) zeugender Lobbyarbeit. Auch die Wissenschaft muss sich auf dem Boden der (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Menschenrechte und des Grundgesetzes bewegen. Das Cornelia Pieper [FDP]: Im Gegensatz zu Ihnen nicht im Blick zu behalten wäre nichts anderes als ein hören wir auf die Wissenschaft!) unverantwortlicher und ungezügelter Liberalismus. (B) Zu den Inhalten Ihres Antrags. Sie gehen in Ihrer (D) Analyse davon aus, dass die Trennung der Aufgaben der (Cornelia Pieper [FDP]: Wer sagt das denn?) Universitäten und der öffentlichen außeruniversitären – Lesen Sie die einleitende Analyse Ihres eigenen Antra- Forschungseinrichtungen nicht unproblematisch ist und ges! deshalb neue Wege zu einer engen Wissenschafts- und Forschungskooperation aller Akteure zu beschreiten Leider kann ich nur auf einige Aspekte Ihres Forde- sind. rungsteils eingehen. Wie Sie die Leistungsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems dadurch steigern wol- Aus Sicht der Linken ist dem insoweit zuzustimmen, len, dass Sie die Verwendung öffentlicher Gelder in die- als die Trennung von außeruniversitärer und universitä- sem Bereich einer öffentlichen Kontrolle entziehen wol- rer Forschung mittlerweile zu einem Missverhältnis in len, ist schon bemerkenswert. So viel Liberalität würden der Verteilung der Mittel geführt hat. Während die wir uns auch gegenüber den sozial Schwachen – bei- Hochschulen trotz steigender Studierendenzahl und stei- spielsweise ALG-II-Beziehern – wünschen. genden Qualifikationsanforderungen mit stagnierenden Mitteln zu kämpfen haben, werden die Mittel für die oh- Wir als Linke sagen an dieser Stelle ganz klar: Die nehin gut ausgestatteten außeruniversitären Forschungs- Einbringung solcher Ressourcen in gemeinsame Ko- einrichtungen durch den Pakt für Forschung und Innova- operationen mit anderen Einrichtungen oder gar tion jedes Jahr um 3 Prozent erhöht. Mittlerweile Wirtschaftsunternehmen bedarf selbstverständlich der erhalten die außeruniversitären Institute fast so viel an öffentlichen Kontrolle. Mitteln wie die Hochschulen für den Forschungsbereich. Die Linke hält dies nicht für sinnvoll. Im Hinblick auf Firmengründungen sollte Ihnen wenigs- tens bekannt sein, dass die Beteiligung von Wissenschaft- (Beifall bei der LINKEN) lerinnen und Wissenschaftlern an privatwirtschaftlichen Wir vertreten die Auffassung, dass neue Wege einer en- Firmen häufig zur Vernachlässigung ihrer Kernaufgaben geren Kooperation nur ein erster Schritt sein können. führt. Sollte nun in großem Maßstab die Unternehmens- Mittelfristig ist die historisch bedingte Versäulung je- beteiligung Aufgabe der gesamten Einrichtung werden, doch zu überwinden. entstünden öffentlich-private Partnerschaften mit den von uns immer wieder kritisierten Folgen wie Intranspa- Weiter gehen Sie in Ihrem Antrag – typisch liberal, renz, ungeklärte Fragen geistiger Eigentumsrechte und wie ich meine – davon aus, dass sich die Forschungs- daraus resultierend die Sozialisierung anfallender Kos- und Entwicklungspolitik auf Felder einer möglichen ten bei gleichzeitiger Privatisierung anfallender Ge- wirtschaftlichen Verwertung konzentrieren muss. Wir als winne. 15564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Ein besonderes Bonbon sind Ihre Ausführungen zu rung nur unter dem Blickwinkel von nationalstaatlichen (C) einem Wissenschaftstarifvertrag. Es dürfte Ihnen nicht und wirtschaftlichen Interessen beurteilt wird. Eine Ein- unbekannt sein, dass solche Tarifverträge im Rahmen wanderungspolitik, die Menschen auf Verwertungsgrö- der Tarifautonomie mit Gewerkschaften ausgehandelt ßen reduziert, lehnt die Linke ab. werden. (Beifall bei der LINKEN) (Cornelia Pieper [FDP]: Was ist damit?) Außerdem muss im Blickfeld bleiben, dass der Import Insoweit würde es nicht schaden, einen Blick darauf zu von Fachkräften keinesfalls zulasten der Herkunftslän- richten, was derzeit von den betroffenen Gewerkschaften der gehen darf. Vieles von dem, was sich zwischenzeit- Verdi und GEW gefordert wird, bevor Sie exorbitante lich global abspielt, kann nur noch als Bildungsimperia- Gehälter und zusätzliche Sozialleistungen für Spitzen- lismus bezeichnet werden. kräfte fordern. Mir scheint, dass Ihnen ein wenig der (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Oh Gott!) Blick für die Realitäten der Beschäftigten an Universitä- ten fehlt. Fazit: Ich sehe wenig Chancen, dass meine Fraktion die- sem FDP-Antrag im weiteren Verfahren wird zustimmen Werfen Sie einen Blick auf die Exzellenzhochburg können. Bayern! Die Pressestelle der Universität Bayreuth schreibt – ich zitiere –: (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: Das ist eine Über 60 Prozent der Forschung und Lehre an den Auszeichnung! – Jürgen Koppelin [FDP]: Das Universitäten werden von wissenschaftlichen Mit- adelt unseren Antrag!) arbeitern erbracht, viele von diesen befinden sich in der Qualifikationsphase für die Wissenschaftler- Ich komme zu dem Antrag der Grünen. Die Auffas- laufbahn. Ihre Entlohnung aber weist noch schwer- sung, dass Transparenz und Gemeinnutzen ebenso wie wiegendere Defizite als die der Professoren auf. die Gleichstellung wichtige Reformziele in der Wissen- Gegenwärtige Praxis schaftspolitik sind, teilen wir. Nur ein kleiner Hinweis zum letzten Punkt: Deutschland ist nicht mehr so neoli- – in Bayern – beral, dass man Gleichstellung nur unter dem Aspekt ist, dass Wissenschaftler mit erfolgreich abge- von Effizienz- und Innovationsgewinn betrachten darf. schlossenem Studium weit überwiegend auf halben Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, man Stellen promovieren – dabei jedoch mindestens darf wieder den Aspekt der Gerechtigkeit betonen, und 50 Arbeitsstunden pro Woche tätig sind. Sie erhal- man darf auch auf das Grundgesetz verweisen. ten in der Eingangsstufe E13/1 des neuen Tarifsys- (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) tems der Länder (TVL) brutto 1.450 Euro und somit umgerechnet weniger als der tariflich festge- Mit großem Interesse haben wir gelesen, dass die legte Mindeststundenlohn im westdeutschen Reini- Grünen die Autonomie der Hochschulen mit verstärkter gungsgewerbe. Mitbestimmung einrahmen wollen. Das sieht auch die Linke als sinnvoll an. Leider vermissen wir in Ihrem An- So weit die Universität Bayreuth. trag jedwede Konkretisierung zu diesem Punkt. Die wei- Angesichts solcher Verhältnisse ist es doch nicht teren Forderungen der Grünen sind im wahrsten Sinne mehr als verständlich, dass Gewerkschaften zunächst des Wortes durchaus diskussionswürdig, positiv wie ne- einmal Lösungen für die breite Masse der Arbeiteneh- gativ. Die Vorstellungen zur Gleichstellungspolitik er- mer anstreben, bevor sie auch nur bereit sind, über die scheinen uns noch unausgegoren. Wo gefordert wird, ge- Vergütung von Spitzenkräften zu reden, zumal ange- nuine Aufgaben unternehmerischer Forschung und sichts gedeckelter Haushalte höhere Verdienste in der Entwicklung staatlich direkt zu subventionieren, lehnen Spitze nur durch eine Ausdünnung in der Breite realisiert wir das als Linke entschieden ab. Den Forderungen zum werden könnten. Bei einem Verdienst von 1 450 Euro Urheberrecht dagegen können wir uneingeschränkt zu- sehe ich diesbezüglich keine Einsparmöglichkeiten. Be- stimmen. vor Sie also auch nur auf die Idee kommen könnten, Ihre Auch die Grünen fordern einen Wissenschaftstarif- Spitzenkräfte zu beglücken, müssen Sie deutlich mehr vertrag. Dabei begrüßen wir als Linke insbesondere, Geld in das System pumpen, um die Defizite in der dass die Grünen davon ausgehen, dass im Mittelpunkt Breite zu beseitigen. des Arbeitsrechts in der Wissenschaft das unbefristete (Beifall bei der LINKEN) Arbeitsverhältnis stehen muss. Ich möchte noch eine weitere Forderung aufgreifen, (Beifall bei der LINKEN) das Punktesystem für Einwanderer. Die Linke steht Vor- Aber Sie hätten etwas dazu sagen müssen, a) wie Sie das schlägen positiv gegenüber, mit denen eine geregelte finanzieren wollen und b) dass dann unbedingt das Wis- Zuwanderung ermöglicht werden kann. Ein System, senschaftszeitvertragsgesetz abgeschafft werden muss. wie es die CDU/CSU bevorzugt, das sich ausschließlich am Einkommen orientiert, lehnen wir ab. Insoweit sind (Uwe Barth [FDP]: Das ist ja etwas ganz die Vorschläge der FDP durchaus ein Fortschritt, weil Neues! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE hier weitere Kriterien berücksichtigt werden sollen. GRÜNEN]: Dass Sie sich plötzlich um die Dennoch können wir nicht zustimmen, dass Zuwande- Finanzierung kümmern, ist etwas ganz Neues!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15565

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) – Lieber Kollege Gehring, wir sagen an dieser Stelle, digen Anhörung um die Frage, inwieweit man in (C) dass man Geld in das System pumpen muss. Sie aber Deutschland mit embryonalen Stammzelllinien forschen verschweigen das. Daher frage ich mich, wie Sie das darf. Forschungsfreiheitsbeschränkungen gibt es aber umsetzen wollen. auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Diskus- sion um Tierversuche. Heute geht es also gar nicht um (Beifall bei der LINKEN – Kai Gehring Forschungsfreiheit im eigentlichen Sinne, sondern um [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ge- eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wis- genfinanziert!) senschaft. Ich wiederhole, dass ein Wissenschaftstarifvertrag Man kann die Forschungsfreiheit positiv – durch För- bzw. wissenschaftsspezifische Regelungen im TVöD aus derung – und negativ – durch Nichtförderung – beein- Sicht der Linken in erster Linie zur sozialen Absiche- flussen. Erlauben Sie mir, dass ich kurz auf die ständig rung der zunehmend prekär Beschäftigten, besonders der wiederkehrende Kritik am Atomausstieg in FDP-Anträ- Lehrbeauftragten, Postdoktoranden, studentischen Be- gen eingehe; vielleicht können Sie das bei den nächsten schäftigten, Promovierenden und des sonstigen Mittel- Anträgen endlich einmal aussparen. baus, führen müssen und nicht zur Zahlung exorbitanter Prämien an wenige. Dieser Wissenschaftstarifvertrag (Jörg Tauss [SPD]: Nein, nein, das ist ein Run- muss bundesweit einheitlich sein, damit die Zersplitte- ning Gag!) rung im Tarifrecht für die Wissenschaft überwunden werden kann und Mobilität möglich ist. Ich bin ausdrücklich der Auffassung, dass die Politik im Sinne der Verantwortung für die ganze Gesellschaft und Ein letzter Punkt. für künftige Generationen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein, Herr Kollege Schneider, Sie müssen jetzt zum die Möglichkeit haben muss, über die Forschungsförde- Schluss kommen. rung steuernd in die Forschung einzugreifen. Sie sollten es akzeptieren, dass eine durch Wahlen legitimierte Bun- destagsmehrheit von SPD und Grünen vor einigen Jah- Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): ren den Ausstieg aus der Kernenergie und den Einstieg Ein allerletzter Satz. in die alternativen Energien beschlossen hat. Sie irren, (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Herr Schneider, wenn Sie, liebe Kollegen von der FDP, in Ihrem Antrag das ist ja nicht mehr zu ertragen!) behaupten, der Einstieg in die alternativen Energien stelle ein Problem in Hinblick auf die wirtschaftliche Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, nur auf einer (B) Leistungsfähigkeit dar. Solar- und Windenergie sind (D) breiten Basis werden Sie Spitzenkräfte bekommen. mittlerweile Spitzentechnologien; wir sind in dem Be- Wenn schon die jungen Wissenschaftler abwandern, reich Weltmeister. dann haben Sie ein Problem. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Cornelia Pieper [FDP]: Fragen Sie mal, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE warum!) GRÜNEN) Danke schön. Sie wollen wieder in die Kernenergie – ein Auslauf- (Beifall bei der LINKEN – Cornelia Pieper modell – einsteigen. Die Uranvorräte sind aber begrenzt. [FDP]: Ein Glück, es ist vorbei!) Die radioaktiven Abfälle sind nicht beherrschbar. Uran 238 hat eine Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jah- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ren. Davon produzieren wir jeden Tag ungeahnte Men- Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPD- gen. Wenn Sie wieder in die Kernenergie einsteigen wol- Fraktion. len, dann suchen Sie sich endlich eine parlamentarische und gesellschaftliche Mehrheit dafür; Sie werden sie nicht finden. Akzeptieren Sie das! Schreiben Sie aber René Röspel (SPD): doch nicht in jeden Antrag, dass Sie den Ausstieg kriti- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sieren! Herren! Wir reden heute unter anderem über den FDP- Antrag, ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz einzuführen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Ministerin Schavan hat deutlich gemacht, dass die der LINKEN und des BÜNDNIS 90/DIE Forderung nach einem solchen Gesetz und die Vorberei- GRÜNEN) tung dazu auf die Initiative der Bundesregierung nach Wir wollen heute nicht über das Grundrecht der For- der Kabinettsklausur in Schloss Meseberg im Sommer schungsfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit reden, des letzten Jahres zurückgeht. sondern über die Rahmenbedingungen für Wissen- Erlauben Sie mir zu Beginn die grundsätzliche Be- schaft und Forschung in Deutschland. Im Groben gibt es merkung, dass Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in zweierlei Rahmenbedingungen: finanzielle und struktu- Deutschland ein sehr hohes Gut sind und durch Art. 5 relle. Über die finanziellen Rahmenbedingungen brau- Abs. 3 des Grundgesetzes geschützt sind. Wir haben chen wir nicht lange zu reden; die Vorgängerregierung über Forschungsfreiheit und ihre Grenzen sehr häufig und die jetzige Regierung haben eine Menge getan und diskutiert. Zuletzt ging es am Montag in einer fünfstün- erhebliche Mittel in die Forschungsförderung gesteckt. 15566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

René Röspel (A) Heute wollen wir über die strukturellen und organisatori- relle Rahmenbedingung, die in einigen Forschungsein- (C) schen Rahmenbedingungen reden. Es ist gut, wenn wir richtungen mittlerweile auch umgesetzt wird. die Wissenschaftsorganisation stärken. Ich finde den Ti- tel des Antrags der Grünen übrigens deutlich gelungener (Beifall bei der SPD) und abwägender als den Titel des FDP-Antrags. Wenn Flexibilität bei der Bezahlung auch zu einer Verbreiterung und Verbesserung der Basis des wissen- Wir haben nichts dagegen – das hat auch die Ministe- schaftlichen Personals führt, dann bin ich dabei. Übri- rin gesagt –, im Bereich der Forschungsförderung Vor- gens ist das, was ich gerade erläutert habe, nicht frei er- schriften zu entrümpeln, auf bürokratische Eingriffe zu funden, sondern beruht auf Erfahrungen. Im Dezember verzichten und mehr Flexibilität in den Bereichen Haus- waren wir mit dem Forschungsausschuss – die Kollegen haltsführung, Vergabe- und Baurecht für die Forschungs- Gehring und Schneider waren dabei – am weltweit einrichtungen zu schaffen. Der Teufel steckt aber im De- höchst renommierten Weizmann-Institut in Israel. Dort tail: Was heißt das konkret? gibt es hervorragende junge und ältere Wissenschaftler. Ich möchte nur ein Beispiel herausgreifen – Sie er- Ich habe Herrn Professor Zajfman, den Direktor des Ins- wähnen es in Ihrem Antrag –: die Forderung nach attrak- tituts, gefragt, wo er diese guten Leute herbekommt, ob tiveren Vergütungskonditionen für exzellente Wissen- er sie etwa mit viel Geld aus dem Ausland holt. Als ich schaftler. Auch in diesem Bereich hat die ihn gefragt habe, wie diese Leute bezahlt werden, hat er Vorgängerregierung schon eine Menge erreicht, etwa die geantwortet, die Bezahlung sei mit der in den USA nicht vergleichbar und „very far away from German scale“, leistungsorientierte W-Besoldung. Wir sind dort sicher- also weit unter den deutschen Maßstäben. Sie verdienen lich noch nicht am Ende der Möglichkeiten. Wir hören lange nicht so viel wie deutsche Wissenschaftler. Das alle naselang von Forschungsorganisationen: Wir kön- zeigt, dass es nicht allein um Geld, sondern auch um an- nen wieder einen Forscher nicht halten, weil ihm in an- dere Rahmenbedingungen geht. Wir haben sehr gut ler- deren Ländern ein höheres Gehalt geboten wird. Das ist nen können, wie wichtig es ist, vor Ort ein vernünftiges sicherlich so. Man muss sich überlegen, was die Forde- Angebot für die Ehepartner und Familien der Wissen- rung nach besserer Vergütung bedeutet – unabhängig da- schaftler zu schaffen und vor allen Dingen jungen Wis- von, dass in vielen Bereichen eine flexible Handhabung senschaftlern eine Perspektive aufzuzeigen, die darüber schon möglich ist –: Legen wir bei den exzellenten For- hinausgeht, für zwei oder fünf Jahre am Institut zu arbei- schern eine Schippe drauf, führt das möglicherweise zu ten, ohne zu wissen, wie es danach weitergeht. Disparitäten im Tarifvertragssystem. Bieten wir nur Wis- senschaftlern, die ins Ausland gehen wollen oder die wir (Beifall bei der SPD) aus dem Ausland holen wollen, eine höhere Vergütung? (B) Führt das möglicherweise zu einem Wettbewerb zwi- Am Weizmann-Institut kann jeder, der gut ist, entweder (D) schen den Forschungseinrichtungen, der nicht wün- wissenschaftlicher Mitarbeiter oder Professor auf Le- schenswert sein kann, weil die finanziell bessergestellte benszeit werden und erhält damit eine Perspektive, die Forschungseinrichtung aus der A-Stadt dann den Spit- man in Deutschland häufig nicht findet. zenwissenschaftler aus B-Dorf abwerben würde? Für das Zwei Stichworte will ich noch aufgreifen. Sie, die System ist damit überhaupt nichts gewonnen; es geht nur FDP, fordern in Ihrem Antrag, die Altersgrenze für her- Geld verloren. Möglicherweise würde man für einen ausragende Wissenschaftler aufzuheben. Wir als SPD Spitzenforscher so viel Geld verbrauchen, dass man da- halten die Überlegungen zu einer Seniorprofessur seit mit drei Nachwuchskräfte über längere Zeit fördern Längerem für richtig. Allerdings darf das nicht dazu füh- könnte. Erfordert die demografische Entwicklung nicht ren, dass Nachwuchskräfte verdrängt werden, sondern es eher – dazu haben wir vor kurzem etwas bei der Anhö- muss dafür eigene Stellen geben, möglichst auch eigen- rung zu den Zukunftsperspektiven von Frauen im ständig finanziert. Wissenschaftssystem gehört –, dass wir allen jungen ausgebildeten Wissenschaftlern den Zugang zum For- Außerdem schreiben Sie in Ihrem Antrag, dass Sie schungssystem ermöglichen und wir sie nicht heraus- ausländerrechtliche Hürden beseitigen wollen. Unser drängen? Wenn es eine freie Wissenschaftlerstelle gibt, Vorschlag dazu lautet: Starten Sie über Nordrhein-West- können wir es uns noch leisten, dass wir den Wettbewerb falen eine Bundesratsinitiative. so ausgestalten, dass nur der bessere von den zwei Be- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) werbern genommen wird und der etwas schlechtere als Taxifahrer durch Berlin fahren muss und der Wissen- Holen Sie sich Herrn Koch dazu, solange er noch Minis- schaft verlorengeht? terpräsident in Hessen ist. Dann kann er zeigen, dass er auch für eine andere Ausländerpolitik steht. Wir sind bei Wir können es uns auch nicht mehr leisten – auch das diesem Thema sicherlich diskussionsbereit. erfahre ich häufig –, dass bei einem jungen Wissen- schaftlerehepaar nur der Mann als Forscher angestellt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wird – so ist es üblich – und die hochqualifizierte Frau für die Kinderbetreuung nach Hause geschickt wird. Da Herr Kollege Röspel, erlauben Sie eine Zwischen- gibt es viele Beispiele, die man täglich erleben kann. frage der Kollegin Sitte? Besser ist es sicherlich, wenn beide am Institut arbeiten können und die Kinder im Institutskindergarten betreut René Röspel (SPD): werden; das ist sicherlich unstrittig. Das ist eine struktu- Gerne. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15567

(A) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): schaftler zu gewinnen, werden wir Sozialdemokraten (C) Herr Kollege, die SPD hat in der letzten Legislaturpe- nicht hinnehmen. Das halten wir für grundlegend falsch. riode das Juniorprofessurenprogramm aufgelegt. Wir ha- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Gehring ben heute auch unseren Antrag mit dem Titel „Die Zu- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) kunft der Lehre und Forschung an Hochschulen mit Hilfe der Juniorprofessur stärken“ zu diskutieren. Sie ha- Bei allen anderen Punkten, die zur Diskussion stehen, ben vorhin selber erwähnt, wie wichtig es ist, die Förde- sind wir gerne gesprächsbereit. rung von Spitzenkräften und die Förderung von Nach- Vielen Dank. wuchskräften in das richtige Verhältnis zu setzen. Ich möchte einfach die Gelegenheit nutzen, Ihre Position zur (Beifall bei der SPD) Fortsetzung des Programms zu Juniorprofessuren zu er- fragen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring von René Röspel (SPD): Bündnis 90/Die Grünen. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass Sie eine Initiative der SPD – nämlich die zur Juniorprofessur – Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): loben und für sinnvoll halten. Wir werden uns weiter da- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im für einsetzen, weil es eine gute Maßnahme ist. letzten Jahr hat die Bundesregierung in Meseberg ein (Beifall bei der SPD) Wissenschaftsfreiheitsgesetz versprochen. Bis jetzt ist es ein Yeti geblieben. Vielleicht gibt es irgendwann ein Das sollte in der Kürze der Zeit genügen. solches Gesetz. Aber gesehen hat es bisher noch nie- Ich würde gerne den Bogen zur Wissenschaftsfreiheit mand. Nach der Rede von Ministerin Schavan ist mir lei- schließen. An zwei Punkten habe ich große Sorge, was der unklar geblieben, was tatsächlich drinstehen soll. die Zukunft der Wissenschaftsfreiheit in unserem Lande Mal gucken, ob es irgendwann schriftlich vorliegt. anbelangt. Erstens ist mein Eindruck, dass es früher im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Interesse von Wissenschaftlern lag, ihre Ergebnisse und bei der FDP) möglichst schnell auf Konferenzen oder in Fachzeit- schriften zu veröffentlichen. Ich habe den Eindruck, dass Plötzlich, Monate später nach der Ankündigung der sich das Interesse jetzt dahin verschiebt, Patente zu erar- Bundesregierung, rufen auch Sie von der FDP nach ei- beiten und anzumelden. Das allerdings setzt voraus, dass nem Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Sie wollen Freiheit man möglichst lange geheim, nicht mehr transparent und per Gesetz, obwohl das im Grundgesetz klar verankert (B) kooperativ arbeitet. Deswegen appelliere ich an das Mi- ist. Das klingt so, als glaubten Sie wirklich, dass Sie mit (D) nisterium: Wir brauchen eine Neuheitsschonfrist, die es einem einzigen Bundesgesetz die Grundlagen für mehr ermöglicht, seine Ergebnisse zu veröffentlichen und der Selbstbestimmung in der Wissenschaft legen könnten Wissenschaft zur Diskussion zur Verfügung zu stellen, und dass es bei den notwendigen Verbesserungen im ohne sich der Möglichkeit zu berauben, ein Patent anzu- Wissenschaftssystem einzig und allein um mehr Freiheit melden. gehe. Dabei ist das überragende Ziel moderner For- schungspolitik vor allem mehr Qualität. Aber davon ha- Wir haben heute darüber geredet und wir werden si- ben Sie heute gar nicht gesprochen. cherlich noch länger darüber reden, dass Wissenschaftler frei arbeiten können müssen. Der zweite Punkt, um den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es mir geht, ist aber die Freiheit junger Menschen – es Wir dürfen dabei nicht eindimensional auf den Faktor sitzen heute viele unter den Zuschauern –, Wissenschaft- Freiheit schauen, sondern müssen an einer Reihe von ler werden zu können. Rädchen drehen. Dazu gehören eine gute Forschungsin- (Beifall bei der SPD) frastruktur, attraktivere Arbeitsbedingungen für Forsche- rinnen und Forscher, mehr Eigenverantwortung und Ich mache mir zunehmend Sorgen darüber, dass jungen Transparenz, mehr Kooperation und eine bessere Gleich- Menschen in gewissen Bundesländern – der entspre- stellungs- und Nachwuchsförderungspolitik. Darum geht chende NRW-Minister sitzt ja hier – durch die von der es, wenn wir die Forschung und Wissenschaft in FDP mitverantworteten Studiengebühren zunehmend Deutschland wirklich stärken wollen. die Möglichkeit genommen wird, ein Studium aufzuneh- men. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Uwe Barth [FDP]: Jetzt haben Sie nicht einmal (Beifall bei der SPD) „Qualität“ gesagt!) Das hat nicht intellektuelle, sondern rein finanzielle Natürlich geht es auch um mehr Freiheit, wenn wir Neu- Gründe; das ist eine Tatsache. Das betrifft die Fachkräfte gier und Verantwortung in Forschung und Wissenschaft und geht bis in die Mittelschicht. In der letzten Bürger- ermöglichen wollen. Aber Freiheit ist kein Selbstzweck sprechstunde habe ich erlebt, dass eine Lehrerin gesagt à la FDP. Was helfen der Wissenschaft zusätzliche Frei- hat: Mein zweiter Sohn will jetzt beginnen, zu studieren. räume, wenn ihr keine Mittel zur Verfügung gestellt wer- Das macht 2 000 Euro im Jahr. Ich komme langsam an den, diese auszufüllen? Ein Lehrstück – oder vielmehr meine finanziellen Grenzen. – Diese Einschränkung der ein Bad-Practice-Beispiel dafür – bietet das Land Nord- Wissenschaftsfreiheit und der Möglichkeit, Wissen- rhein-Westfalen mit seinem Hochschulfreiheitsgesetz, 15568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Kai Gehring (A) das Schwarz-Gelb auf den Weg gebracht hat. Die NRW- Regel für alle ist. Ihre Vorschläge für mehr Flexibilität (C) Landesregierung selbst räumt mittlerweile in Bezug auf bei der Bezahlung von exzellenten Wissenschaftlerinnen die internationale Zusammenarbeit ein, die Hochschulen und Wissenschaftlern, die Sie, Frau Ministerin, gemacht hätten nun mehr Freiheiten, nutzten diese aber gar nicht, haben, greifen hier eindeutig zu kurz. Was wir brauchen, und die Politik könne nun gar nichts mehr machen. Ist ist ein Wissenschaftstarifvertrag, der Wissenschaft in das die Politik, die Ihnen vorschwebt? Ich hoffe nicht. Deutschland international wettbewerbsfähiger macht. Das ist unser Ziel. Frau Ministerin Schavan, wenn Sie mit Ihrem Wis- senschaftsfreiheitsgesetz klammheimlich eine schwarz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gelbe Bildungskoalition schmieden wollen, um Herrn Cornelia Pieper [FDP]: Das steht auch in unse- Westerwelle wieder einmal zu beruhigen, dann überle- rem Antrag!) gen Sie sich das besser zweimal; denn das sogenannte Hochschulfreiheitsgesetz in NRW setzt den Wissen- – Dann haben wir ausnahmsweise einmal etwas gemein- schaftlern externe Hochschulräte quasi als Dienstvorge- sam, Frau Pieper. – setzte vor die Nase. Da wird demokratische Kontrolle (Cornelia Pieper [FDP]: Das wollte ich jetzt durch marktwirtschaftliche Gängelung ersetzt. Ist das hören!) die Freiheit, die Sie meinen? Ich hoffe, nicht. Der Wissenschaftstarifvertrag, zu dem wir schon Vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schläge gemacht haben, ist eine gute Sache. Aber an die- ser Stelle gibt die Große Koalition plötzlich ihren eige- Eine Hochschule ist nicht dasselbe wie ein Unterneh- nen Wahlspruch „Mehr Freiheit wagen“ offensichtlich men. So muss es auch bleiben. auf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Cornelia Pieper [FDP]: Das ist ein Spruch, bei der SPD und der LINKEN) den die Kanzlerin übernommen hat!) Natürlich wollen auch wir Grüne mehr Selbstbestim- Denn mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz haben mung in Wissenschaft und Forschung. Aber Autonomie Sie eine Tarifsperre eingeführt. Hier wird dirigistische bedeutet für uns nie die Abwesenheit von Spielregeln. Zentralsteuerung vor das freiheitliche Vertrauen auf die Das ist ein zentraler Unterschied zu Ihnen. Forschungsorganisation und die Tarifvertragsparteien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gestellt. Deshalb ist das der falsche Weg. Mehr Autonomie bedeutet auch mehr Eigenverantwor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tung. Hochschulen und Forschungseinrichtungen müs- Auch in der Doktorandenausbildung gilt zu wenig nor- (B) sen gewährleisten, dass sich die Forschung qualitativ (D) males Arbeitsrecht. Das deutsche Stipendiensystem verbessert. Es geht um Transparenz, demokratische reicht bei weitem nicht aus, um die Förderung von her- Rückbindung und Mitbestimmung. Finanzmittel müs- vorragenden Nachwuchswissenschaftlern zu gewährleis- sen effizienter eingesetzt werden, um genau dort anzu- ten. Wir brauchen deutlich mehr reguläre Stellen für kommen, wo sie gebraucht werden. Deshalb schafft die Doktorandinnen und Doktoranden. Gerade Nachwuchs- Einführung von Globalhaushalten eine gute Grundlage wissenschaftler müssen ihre Karriere planen können; die für die Selbststeuerung. Hochschulen und Wissenschafts- Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft muss end- einrichtungen müssen selbst darüber entscheiden kön- lich gewährleistet werden. nen, wie die vorgesehenen Mittel zwischen Sach- und Personalhaushalt aufgeteilt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [FDP]: Das ist richtig!) Aber Autonomie darf nicht dazu führen, dass zum Beispiel kleine Fächer aussortiert werden, weil sie nach Die von Rot-Grün eingeführte Juniorprofessur hat erste FDP-Logik womöglich zu wenig Leistung im Verhältnis wichtige Grundsteine für die Stärkung der wissenschaft- zu den Investitionen bringen. Hier gibt es weiterhin eine lichen Karriere junger Wissenschaftler gelegt. Mich wichtige Steuerungsaufgabe von Politik und hier wird würde schon interessieren, ob das künftig weitergeht, ob deutlich, dass ein simples Wissenschaftsfreiheitsgesetz man diese Stärkung im Rahmen des Hochschulpaktes als nicht alle Probleme der Wissenschaft löst, sondern sogar qualitatives Ziel vorgibt, also ob Bund und Länder die neue Probleme schaffen kann. Juniorprofessur ausbauen und dabei die Tenure-Track- Option stärken. Das wäre ein wichtiges Ziel, um jungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswis- sowie bei Abgeordneten der SPD) senschaftlern Zukunftsperspektiven zu geben. Das betrifft auch das Thema Wissenschaft als Beruf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Seitdem die Große Koalition das Wissenschaftszeitver- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten tragsgesetz eingeführt hat, gilt für viele Wissenschaftle- der SPD) rinnen und Wissenschaftler in Deutschland die unbefris- tete Befristung. Viele Nachwuchstalente gehen daher der Frauen sind immer noch weit von gleichen Karriere- Wissenschaft verloren oder wandern gleich ins Ausland perspektiven in der Wissenschaft entfernt. Das hat die ab, weil es dort verlässlichere Karrierewege gibt. Was von uns Grünen angeregte Anhörung zu Frauen in der wir brauchen, ist eine Angleichung an das normale Ar- Wissenschaft vor zwei Wochen im Forschungsausschuss beitsrecht, wo Befristung die Ausnahme und nicht die mehr als deutlich gezeigt. Das ist ein weiteres Beispiel Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15569

Kai Gehring (A) dafür, dass eine grenzenlose Autonomie à la FDP nicht Dem Prinzip des Open Access entsprechend sollten da- (C) weiterhilft. Ob wir Gleichstellung in der Wissenschaft her wissenschaftliche Erkenntnisse nach Ablauf einer erreichen, darf der Politik nicht egal sein. ganz bestimmten Frist frei verfügbar sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unsere Vorschläge sind im Übrigen von der maßgeb- sowie bei Abgeordneten der SPD) lichen EU-Richtlinie gedeckt und sollten umgehend in einem Dritten Korb zur Regelung des Urheberrechts in Die Wissenschaft braucht klare politische Zielvorgaben der Informationsgesellschaft umgesetzt werden. auf dem Weg zu Gleichstellung und Geschlechtergerech- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tigkeit. Ansonsten warten wir darauf noch 200 Jahre und bei der LINKEN) oder länger. So kann es nicht laufen. Es geht darum, den Anteil von Frauen auf allen Qualifikations- und Karrie- Dann könnten Sie gleich in einem Aufwasch die wissen- restufen in Forschung und Wissenschaft deutlich zu stei- schaftsfeindlichen Änderungen im Zweiten Korb rück- gern. Wie die Wissenschaft dieses Ziel erreicht, soll sie gängig machen; denn bei diesem Gesetz waren der Gro- autonom entscheiden. Ob sie es erreicht, muss jedoch ßen Koalition die Lobbyinteressen offensichtlich Konsequenzen bei der Mittelvergabe nach sich ziehen. wichtiger als die Freiheit der Wissenschaftlerinnen und Nur so schaffen wir eine Verbindlichkeit dafür, dass Wissenschaftler. Frauen endlich die gleichen Karriereperspektiven in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wissenschaft haben. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stärkere Selbstbestimmung der Wissenschaft heißt sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- für uns nicht zuletzt, dass die Versäulung der deutschen KEN) Forschungslandschaft zwischen universitären und au- ßeruniversitären Einrichtungen aufgebrochen wird. Eine Reform des deutschen Wissenschaftssystems Die gemeinsame Berufung von Professorinnen und Pro- muss auch den europäischen und globalen Forschungs- fessoren an Hochschulen und Forschungseinrichtungen raum einbeziehen. Wissenschaft lebt schließlich von In- ist ein wichtiger Anfang. Wir haben zudem vorgeschla- ternationalität, Mobilität, Kreativität und Austausch. Wir gen, einen Teil der Mittel des Paktes für Forschung und wollen, dass Wissenschaftler durch Auslandsaufenthalte Innovation für gemeinsame Projekte universitärer und ihre Forschungs- und Lehrkompetenzen erweitern und außeruniversitärer Einrichtungen zur Verfügung zu stel- stärken können. Genauso wollen wir aber auch ausländi- len. Auch das gäbe sicherlich einen ganz wichtigen Im- sche Wissenschaftler, die in Deutschland arbeiten wol- puls. Des Weiteren schlagen wir zur bundesweiten Koor- (B) len, willkommen heißen. Dazu müssen wir allerdings die dination ein Forum für Forschungsförderung vor, wie es (D) völlig bürokratischen Zuwanderungshürden dringend der Wissenschaftsrat schon 2003 gefordert hat. Dieses senken. Forum kann ebenso wie der gemeinsame Austausch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Versäulung verringern und die Kooperation der For- schungsakteure tatsächlich verbessern. Dazu gehört eine erleichterte Visumvergabe. Wir brau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen auch Dual-Career-Couple-Programme, die Ar- beitsangebote für Ehe- und Lebenspartner und Kita- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wenn Sie plätze für die Kinder. Schließlich brauchen wir Forschung und Lehre in Deutschland wirklich umfas- international konkurrenzfähige Gehälter; denn nur so send fördern wollen, ist es mit einem schlichten Ruf schaffen wir eine ständige Brain-Circulation, den bestän- nach einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz nicht getan. digen Austausch, den wir dringend brauchen. Stattdessen brauchen wir eine gemeinsame Kraftanstren- gung von Bund und Ländern, um die Qualität der Wis- (Zuruf von der CDU/CSU) senschaft und die Attraktivität des Wissenschaftsstand- ortes weiter zu stärken. Hier sollten wir endlich – Ja, es geht nicht nur um Braindrain, sondern auch da- anpacken. rum, dass man sich international austauscht. Weil uns dies in der globalen Wissensgesellschaft stärkt und be- Herzlichen Dank. reichert, ist das ein wichtiger Punkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Autonomie der Wissenschaft bedeutet auch, dass For- Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer von schungsergebnisse stärker zugänglich gemacht werden. der CDU/CSU-Fraktion. Es muss endlich ein wissenschaftsfreundliches Urhe- (Beifall bei der CDU/CSU) berrecht geben. Es kann nicht sein, dass öffentlich ge- förderte Forschungsprojekte ihre Ergebnisse der Öffent- lichkeit nicht kostenlos zur Verfügung stellen dürfen. Michael Kretschmer (CDU/CSU): Das kann doch nicht wahr sein. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das deut- sche Wissenschaftssystem befindet sich – dies wurde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits gesagt – in einem immer schärfer werdenden und bei der LINKEN) internationalen Wettbewerb um Forschungsmittel, um 15570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Michael Kretschmer (A) exzellente Projekte und natürlich um die besten Köpfe. und Aufenthaltsrecht sowie im Vergaberecht zu beseiti- (C) Unter der Regierung Merkel sind bereits große Erfolge gen. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesministe- in diesem Bereich erzielt worden. Mit dem Sechsmilliar- rin heute hier schon angekündigt hat, dass die Bagatell- denprogramm haben wir ganz klar gezeigt, wo wir grenze von 8 000 Euro auf 30 000 Euro angehoben wird. Schwerpunkte setzen. Keine Bundesregierung in der Ge- Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt. schichte der Bundesrepublik hat so viel Geld auf einmal in die Hand genommen und in Forschung und Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU) lung investiert. Das ist ein wirklich gutes Signal. Wir müssen eines sagen – in dieser Debatte ist es (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. deutlich geworden –: Das, was die Grünen und die PDS René Röspel [SPD]) hier vorgetragen haben, zeigt, dass sie keine Parteien sind, die mehr Freiheit und mehr Wettbewerb im Wis- Doch Geld und eine starke Fokussierung auf Exzel- senschaftssystem wollen. Das, was wir wollen, ist in der lenz allein reichen nicht aus, um Deutschland in diesem Tat eine Veränderung der Philosophie. Vieles geht dann Wettbewerb ganz vorn zu halten. Um dort zu bleiben, eben so nicht mehr. Es geht dann nicht mehr, dass Lan- bedarf es eines Abbaus bürokratischer Hemmnisse in der deswissenschaftsminister und -ministerien der Bürokra- deutschen Forschung. Es bedarf einer Flexibilisierung tie vorgeben, was passiert. Es bedeutet, dass es zu größe- des Gesamtsystems und einer Stärkung der Eigenverant- rer Ungleichheit kommen wird, dass diejenigen, die wortung der Wissenschaftseinrichtungen und der Wis- erfolgreich sind und für viel Qualität sorgen – wir brau- senschaftler. Wir können stolz auf das sein, was wir in chen sie; das Thema Qualität ist angesprochen worden –, den vergangenen Jahren in diesem Bereich erreicht ha- belohnt werden und dass diejenigen, die nicht so gut, ben. besser gesagt: schlecht sind, im Zweifel nicht mehr mit- Hervorgehoben werden sollte auch, dass Frau Bun- spielen können. Das ist die Voraussetzung für Exzellenz, desministerin Schavan die Strukturen in der deutschen die zumindest wir als Union wollen. Wissenschaft in einem enormen Umfang und in einer (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) wirklich beeindruckend geräuschlosen Weise verändert hat. Ich nenne nur beispielhaft das Karlsruher Institut für Ein Wissenschaftstarifvertrag ist ein ganz wichtiger Technologie und JARA, die Jülich-Aachen Research Al- Punkt. Die Forderung, einen solchen Vertrag einzufüh- liance. Es wären noch viele andere Bereiche zu nennen; ren, wird seit vielen Jahren erhoben. Wir sollten ehrlich gerade angesprochen wurde die Versäulung im deut- sein und versuchen, praktisch vorzugehen. Ich kann den schen Wissenschaftssystem. In den vergangenen Jahren Ländern nur dazu raten, den Hochschulen die Tariffähig- ist in diesem Bereich so viel verändert worden wie in keit zu geben. Die Hochschulen sollten beginnen, mit (B) vielen Jahrzehnten zuvor nicht. den Gewerkschaften einen Wissenschaftstarifvertrag, (D) einen Spartentarifvertrag, auszuhandeln. Dieser Tarif- (Beifall bei der CDU/CSU) vertrag sollte dann von anderen übernommen werden. Das ist ein Erfolg dieser Regierung, dieser Koalition und Der Bund kann mit der Helmholtz-Gemeinschaft ähnlich natürlich auch dieser Bundesministerin. Wir können ihr vorgehen. dafür dankbar sein, und wir können ihr auch dazu gratu- lieren, weil es für uns alle gut ist. Ich glaube, es bringt nichts, wenn die Bundesebene versucht, mit der Gewerkschaft übereinzukommen. Hier Wir wollen den Wettbewerb, und wir wollen ihn auch müssen Tatsachen geschaffen werden, und das nach gewinnen. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Einführung Möglichkeit schnell und von unten. Die Forderung, ei- der Overhead-Finanzierung bei der Deutschen For- nen Wissenschaftstarifvertrag zu schaffen, ist wichtig. schungsgemeinschaft. Ich denke, wir sind uns einig, dass Wenn wir tatsächlich wollen, dass es durch Wettbewerb es uns damit gelungen ist, die in der Wissenschaft Er- zu Exzellenz kommt, dann müssen wir erkennen, dass folgreichen zu belohnen und etwas zu beenden, was dort das nicht durch das öffentliche Dienstrecht erreicht wer- über Jahre behindert hat, nämlich dass diejenigen, die den kann. wirklich viele Drittmittel eingeworben haben, am Ende von ihren Kollegen behindert wurden, weil auch von ih- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nen Ressourcen abgegriffen worden sind. Jetzt kann man der FDP) sagen: Diejenigen, die Forschungsgeld einwerben und Wir müssen über weitere Punkte reden. Deutschland erfolgreich sind, nutzen auch der Gesamtinstitution, in ist ein Land, in dem in enormem Maße ausgebildet wird, der sie arbeiten. Die Overhead-Finanzierung ist eine und zwar im Bereich der wissenschaftlichen Exzellenz, ganz wichtige Maßnahme gewesen. sei es im Studium, sei es in der Doktorandenausbil- (Beifall bei der CDU/CSU) dung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Personen, die hier – auch mit deutschem Steuergeld – ausgebildet wer- Wir wollen die rechtlichen Rahmenbedingungen noch den, in diesem Land arbeiten können. Aus diesem Grund attraktiver, noch forschungsfreundlicher und internatio- müssen wir mit den Innenpolitikern jetzt diesen Streit nal noch konkurrenzfähiger machen. Aus diesem Grund ausfechten. Wir müssen das Ausländerrecht so ändern, begrüßt die CDU/CSU-Fraktion, dass die Bundesregie- dass diejenigen, die wir brauchen, in diesem Land arbei- rung sich aufgemacht hat, ein Wissenschaftsfreiheitsge- ten können und dass wir attraktiv für sie sind. setz zu erarbeiten, um die derzeit bestehenden Hemm- nisse im Haushaltsrecht, im Tarifrecht, im Ausländer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15571

Michael Kretschmer (A) Im Zusammenhang mit den Fragen der Finanzen, der Forschungseinrichtungen die gleichen Gestaltungsfrei- (C) Globalhaushalte, der Übertragbarkeit der Mittel und des heiten erlangen können, wie wir sie unseren Hochschu- Ausländerrechts gilt das, was die Ministerin schon ange- len in Nordrhein-Westfalen mit dem Hochschulfreiheits- sprochen hat: Die Forschungspolitiker im Deutschen gesetz bereits gegeben haben. Bundestag sind sich – bis auf diese beiden Ausnahmen – (Jörg Tauss [SPD]: Das wollen wir ihnen er- bezüglich der Zielrichtung im Wesentlichen einig. Die sparen, um Gottes willen! – Kai Gehring Konfliktlinien sind eher in anderen Bereichen zu suchen, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zugemutet nämlich zu den Innenpolitikern und den Finanzpoliti- haben! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist kern. Wir sollten hier gemeinsam vorgehen. Das ist auch wirklich ein Missbrauch des Freiheitsbegriffs!) eine Einladung an diejenigen in der Opposition, die tat- sächlich etwas erreichen wollen. Wenn wir Deutschland Sie alle haben sich sehr darüber gefreut, und der zweite in diesem Bereich attraktiv machen wollen, brauchen Durchlauf der Exzellenzinitiative Nordrhein-Westfalen wir Veränderung. Sie vonseiten der FDP können gerne hat gezeigt, dass es den Hochschulen offensichtlich gut daran mitwirken, bekommen ist, denn sie haben ihre Wettbewerbsposition in der Exzellenzinitiative deutlich steigern können. (Zuruf von der FDP: Haben wir schon!) (Beifall bei der FDP) da es im gesamtstaatlichen Interesse liegt. Einen besseren Beleg dafür, dass das Hochschulfrei- (Beifall bei der CDU/CSU) heitsgesetz in Nordrhein-Westfalen sehr gut ist, kann es Wir sind auf dem richtigen Weg. Es geht jetzt um die gar nicht geben. Ausgestaltung und um die Entwicklung von Ideen. Die (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bundesrepublik hat sich mit dem 6-Milliarden-Pro- Das ist lächerlich! – Ulla Burchardt [SPD]: gramm und der Hightech-Strategie im internationalen Das ist Realitätsverlust!) Wettbewerb zurückgemeldet. Wir sagen ganz klar: Ja, wir wollen den Wettbewerb! Wir wollen ihn gewinnen! – – Der Realitätsverlust spiegelt sich eher anderenorts wi- Mit der Diskussion über bessere Rahmenbedingungen, der. Offensichtlich – darauf möchte ich hinweisen – gibt die wir hier heute führen, untermauern wir diese Zielset- es gerade bei den Grünen Widersprüche zwischen Anträ- zung. gen und Wortbeiträgen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich habe Ihren Antrag, der unseren Gedanken des Hoch- schulfreiheitsgesetzes aufnimmt, (B) neten der SPD) (D) (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: eigentlich mit großer Freude gelesen. Ich habe mir ge- Das Wort hat jetzt der Minister für Innovation, Wis- sagt: Menschenskinder, das ist eine tolle Initiative. Viel- senschaft, Forschung und Technologie des Landes Nord- leicht gibt es tatsächlich eine breite parlamentarische rhein-Westfalen, Professor Andreas Pinkwart. Mehrheit für mehr Freiheit in Wissenschaft und For- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schung. der CDU/CSU) In dem Antrag der Grünen steht unter anderem – mit Genehmigung des Präsidenten darf ich zitieren –: Dr. Andreas Pinkwart, Minister (Nordrhein-West- falen): (Jörg Tauss [SPD]: Immer! – Weitere Zurufe von der SPD: Die braucht’s nicht! – Geht auch Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ohne!) Herren! Die Exzellenzinitiative und der Pakt für For- schung und Innovation haben Schwung in die deutsche Die Einführung von Globalhaushalten ist eine Wissenschafts- und Forschungslandschaft gebracht. Es Grundlage für die notwendige Selbststeuerung der gilt jetzt, diesen Schwung mutig zu verstärken und in Forschungseinrichtungen. den nächsten Jahren zu verstetigen. Dafür brauchen wir zweierlei: mehr Gestaltungsfreiheit und mehr Gestal- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tungskraft für unsere Hochschulen und Forschungsein- Das habe ich in meiner Rede doch genau so richtungen in Deutschland. gesagt! Haben Sie nicht zugehört?) – Ich zitiere nicht aus dem Antrag der FDP, sondern aus (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dem Antrag der Grünen. – Weiter heißt es da: der CDU/CSU) Um unternehmerisches Denken, Eigenverantwor- Zur Gestaltungsfreiheit: Hier muss es unser Ziel tung und Managementfähigkeiten zu stärken, muss sein, Wissenschaft und Hochschulen endlich von unnöti- die Entscheidungsgewalt darüber, wie die vorgese- gen Fesseln des Staates und der Bürokratie zu befreien. henen Mittel zwischen Sach- und Personalkosten Wir begrüßen daher die von der Bundesministerin aufgeteilt werden, in der Einrichtung selbst liegen. Annette Schavan angekündigte Wissenschaftsfreiheits- initiative nachdrücklich. Wir wollen, dass die von Bund „Prima!“, kann ich dazu nur sagen. Genau das wollen und Ländern gemeinsam getragenen außeruniversitären wir auch. 15572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Dr. Andreas Pinkwart, Minister (Nordrhein-Westfalen) (A) (Beifall bei der FDP) Wir müssen solchen Spitzenleuten unabhängig von Al- (C) tersgrenzen endlich die Anerkennung geben, die sie im Bekennen Sie sich doch bitte auch in Ihren Wortbeiträ- Ausland längst erhalten. Wir müssen verhindern, dass gen dazu! sie abwandern. Wir müssen dafür sorgen, dass sie hier (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bleiben und gezielt gefördert werden. Sie können ja meine Rede nachlesen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir brauchen endlich ein leistungsbezogenes Vergü- der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wer ist tungssystem und ein international konkurrenzfähiges denn für das öffentliche Dienstrecht zustän- Dienst-, Arbeits- und Zuwanderungsrecht, das dig?) Deutschland für die besten Köpfe attraktiv macht. Meine Damen und Herren – ich bekomme ja jetzt viel (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zustimmung von Ihnen –, wir brauchen neben Gestal- Wann kommt denn die Bundesratsinitiative tungsfreiheit auch Gestaltungskraft. Das heißt, wir aus NRW dazu?) müssen mehr für die Hochschulen und die Forschungs- einrichtungen tun. Deswegen möchte ich Ihnen zurufen Hierzu ist eine Überwindung der Hemmnisse durch das und hoffe auf tatkräftige Unterstützung durch die Mehr- Besserstellungsverbot und den Vergaberahmen notwen- heit des Hauses und insbesondere durch die Kolleginnen dig. Frau Bundesministerin Schavan hat das vorhin vor- und Kollegen, die zur Regierungskoalition gehören: Las- sichtig angedeutet. Es ist nicht einfach – das verstehe sen Sie uns zusehen, dass Bund und Länder sehr schnell ich –, aber wir sollten versuchen, das zu erreichen. zusammenkommen, um den Hochschulpakt fortzu- In der Debatte habe ich von Herrn Röspel gehört, dass schreiben. Wir erwarten im kommenden Jahrzehnt Gott man vielleicht lieber auf ein paar Spitzenleute verzichten sei Dank weiter steigende Studierendenzahlen. So geht sollte, um in der Breite wirksamer zu sein. Dazu muss es jetzt in diesem Jahr auch darum, dass Bund und Län- ich Ihnen sagen: Sie haben die Gesamtzusammenhänge der den Hochschulpakt I fortschreiben. Insgesamt gilt es, offensichtlich immer noch nicht richtig erkannt. Wer zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen, damit jeder, Spitze will, muss auch Breite fördern. der im kommenden Jahrzehnt studieren möchte, in Deutschland einen qualitätsvollen Studienplatz antrifft. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg (Beifall bei der FDP) Tauss [SPD]: Genau das ist euer Problem! Deswegen macht ihr Studiengebühren!) Außerdem muss die Exzellenzinitiative fortgeschrie- ben werden. Es ist ganz wichtig, dass Sie jetzt die Mittel (B) – Einen Moment! Deswegen versuchen wir in Nord- bereitstellen und das Programm verlängern, damit wir (D) rhein-Westfalen, wo Sie sehr lange Regierungsverant- auch über den Fünfjahreszeitraum hinaus im Rahmen wortung getragen haben, die Hochschulen finanziell der Exzellenzinitiative die dritte Ebene fördern können. endlich so auszustatten, dass sie in der Breite wie in der Wir sind dazu bereit. Spitze konkurrenzfähig werden können. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Da sagen unsere Hochschulen aber etwas an- Schließlich rufe ich Sie dazu auf, uns auch bei der deres als Ihr Ministerium!) Einführung eines leistungsfördernden Stipendiensys- tems in Deutschland zu helfen. Bisher erhalten nur Wir brauchen beides, und dafür brauchen wir auch die 2 Prozent der Studierenden in Deutschland ein Stipen- richtigen Rahmenbedingungen. dium. Andere Länder haben viel höhere Quoten. Wir ( [SPD]: Fangen Sie doch würden gerne mit den anderen Ländern und dem Bund endlich einmal an, in Nordrhein-Westfalen zu zusammen diese Quote in den nächsten Jahren auf regieren!) 10 Prozent erhöhen. Das wäre ein Beitrag dazu, neben der Verbesserung der Situation in der Breite auch Spit- Ich will Ihnen ein Beispiel geben zum Thema Flexi- zenleute in Deutschland zu halten. bilisierung der Altersgrenzen – das fiel auch in Ihre Verantwortung –: Als wir uns im vergangenen Jahr über (Beifall bei der FDP – Kai Gehring [BÜND- die Verleihung des Nobelpreises an Peter Grünberg freu- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie in NRW ten, wurde uns noch einmal vor Augen geführt, wie zu doch ein Landesstipendienprogramm!) Zeiten, als Sie Regierungsverantwortung im Bund wie im Land Nordrhein-Westfalen innehatten, mit Spit- Gestatten Sie mir einen letzten Gedanken zum Thema zenwissenschaftlern umgegangen worden ist. Peter Forschungsfreiheit. Das, was Herr Röspel zur Kern- Grünberg war ja immer schon ein ganz herausragender energieforschung gesagt hat, fand ich doch schon er- Wissenschaftler. Er erhielt den Zukunftspreis und andere staunlich. Wenn wir von der Freiheit der Forschung re- Preise. Als er mit 65 Jahren unter Ihrer Verantwortung den, müssen wir Freiheit auch da zulassen, wo sie uns zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde, hat man vielleicht aus allgemeinpolitischen Opportunitäten nicht ihm noch einen 400-Euro-Job angeboten. so passt. (René Röspel [SPD]: Aber als Herr Rüttgers Zu- (Jörg Tauss [SPD]: Zwei Zwangsprofessuren kunftsminister war, machte man es anders?) habt ihr geschaffen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15573

Dr. Andreas Pinkwart, Minister (Nordrhein-Westfalen) (A) Die Vorgängerregierungen, sowohl im Bund als auch im Freiheit vom Staat will natürlich niemand. Die Steuer- (C) Land Nordrhein-Westfalen, haben die Kernenergie- gelder sollen weiterhin fließen. Wenn jedoch öffentliche sicherheits- und -entsorgungsforschung in Nordrhein- Mittel verwendet werden, dann müssen diese auch im Westfalen, also in Jülich und Aachen, bewusst auslaufen öffentlichen Interesse eingesetzt und das muss entspre- lassen. Wir haben das wieder rückgängig gemacht: Aus chend nachgewiesen werden. einer moralischen Verpflichtung und unbeschadet der Frage, ob wir dauerhaft Kernenergie einsetzen, tragen (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie wir Verantwortung dafür, dass Spitzenforschung in bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Deutschland auf diesen Gebieten genauso wie bei der GRÜNEN) Erforschung einer vierten Generation von Reaktoren Darüber müssen wir in Parlament und Regierung wa- möglich ist. chen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unsere Aufgaben gehen aber noch über die Kontrolle Das glauben Sie doch selbst nicht!) der Verwendung von Steuergeldern hinaus. Die Wissen- Denn wenn wir die Herausforderungen durch den Kli- schaft in Deutschland – das ist Verfassungsrecht – ist mawandel wirklich ernst nehmen, müssen wir alle frei. Doch Freiheit hat immer auch Grenzen. Darum Optionen für die Zukunft, also auch dieses Gebiet, in den finde ich es kritisch, dass die FDP in ihrem Antrag For- Blick nehmen. schungsverbote und bürokratische Eingriffe geißelt und dafür die kerntechnische Forschung sowie die Stamm- (Jörg Tauss [SPD]: Alte Kamellen! – René zellforschung als Beispiele benennt. Es gibt so grund- Röspel [SPD]: Planen Sie jetzt Kernkraft- sätzliche Fragen der Ethik und der Sicherheit, da können werke in NRW? Das ist ja neu!) wir nicht einfach sagen, das geht uns nichts an. Herzlichen Dank für Ihre freundliche Aufmerksam- keit. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten GRÜNEN) der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Wo sol- len sie denn gebaut werden, Herr Pinkwart?) Das ist nicht nur eine Sache der Wissenschaftler, sondern Thema öffentlichen Interesses. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (René Röspel [SPD]: Göttinger Erklärung!) Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der SPD-Fraktion. Das muss immer im Einzelfall diskutiert und gegebenen- (B) falls kontrovers abgestimmt werden. Aber die Möglich- (D) Swen Schulz (Spandau) (SPD): keit des Einschreitens des Gesetzgebers dürfen wir uns nicht nehmen. Wir als Vertreterinnen und Vertreter des Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Wir haben nun in dieser Debatte schon einige Bei- Volkes sind in der Pflicht und dürfen uns darum nicht drücken. träge gehört. Ich habe meine Schwierigkeiten damit, mit welchem Pathos hier für ein Wissenschaftsfreiheitsge- (Beifall bei der SPD) setz eingetreten wird. Im Übrigen würden wir die Wissenschaft mit dieser Auf- (Zuruf von der SPD: Ideologische Versatz- gabe auch überfordern. stücke!) Wie die SPD insgesamt hänge ich nicht irgendwel- Unbestritten gibt es einige Stellen, an denen der Wissen- chen staatlichen Steuerungsfantasien nach. Vielmehr schaft mehr Eigenständigkeit eingeräumt werden sollte. weise ich auf das diffizile Verhältnis von Staat und Dazu ist ja heute einiges gesagt worden. Wissenschaft hin, bei dem wir es in die eine wie auch in Die Freiheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die andere Richtung übertreiben können. Der Staat soll aber nicht das einzige Kriterium für ein gutes Wissen- nicht Einzelheiten vorschreiben. Globalhaushalte und schaftssystem. Das haben dankenswerterweise auch die Zielvereinbarungen sind sinnvollere Instrumente als eine Grünen in der Einleitung Ihres Antrages festgestellt. Detailsteuerung. Es geht zum einen darum, staatliche Man erhält immer viel Applaus, wenn man mehr Freiheit Schwerpunktsetzungen zu ermöglichen, etwa durch die fordert. Doch zur Freiheit gehört auch die Verantwor- Auflage von thematischen Forschungsprogrammen, die tung. im öffentlichen Interesse sind, zum Beispiel zur Sicher- heit, Bildung oder Gesundheit. Zum anderen muss die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wissenschaft Freiräume haben, auf eigene Faust zu for- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schen, jenseits von öffentlichen Debatten. Die Politik ist Gerade in der für die Gesellschaft so wichtigen Wissen- eben nicht immer mit größerer Weisheit gesegnet als die schaft müssen wir eine klare Vorstellung davon haben, der Wissenschaft innewohnende Bewegung. Dafür gibt wer was tun darf und soll und wer welche Verantwortung es viele Beispiele. So hat sich bis PISA kaum jemand für übernehmen kann und muss. Wir könnten natürlich sa- die Bildungsforschung interessiert. Mit den Islamwis- gen: Bitte schön, die Wissenschaft ist vollkommen frei senschaften war es bis zu den Anschlägen vom und kann machen, was sie will. Dann muss sie aber sel- 11. September 2001 ganz ähnlich. Jetzt sind wir froh, ber zusehen, wie sie sich finanziert. Aber diese Art von dass wir die kompetenten Wissenschaftlerinnen und 15574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Swen Schulz (Spandau) (A) Wissenschaftler haben. Darum müssen wir auch die so- Zu den Studiengebühren hat bereits der Kollege (C) genannten kleinen oder Orchideenfächer schützen. Röspel das Notwendige gesagt. (Jörg Tauss [SPD]: Die unökonomischen! – Ein weiteres Problem der Lehre an Deutschlands Ulla Burchardt [SPD]: Die ökonomisch nutz- Hochschulen ist, dass sie nicht so recht belohnt wird. Sie losen!) wird als Last wahrgenommen. Der einzelne Wissen- schaftler und die Hochschule erhalten Geld und Renom- Wir haben in der Debatte über die Geistes- und So- mee über Forschung, aber nicht für die Lehre. Dazu zialwissenschaften darüber gesprochen. Auch das ist haben auch wir mit den Programmen der Forschungsför- eine Verantwortung von Wissenschaft und Politik. derung beigetragen. Es liegt auf der Hand, dass wir nun (Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜND- endlich auch einen Schwerpunkt auf die Unterstützung NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kommt denn und Prämierung von guter Lehre, und zwar für alle Stu- eine Initiative der Bundesregierung?) dierenden, legen müssen. Es wäre falsch, der Wissenschaft die Freiheit zu geben, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike sozusagen ganze Wissenschaftszweige absterben zu las- Flach [FDP]: Sie sind doch dran, Herr Schulz! sen. Aber die Wissenschaft muss so frei sein, auch gegen Warum machen Sie es denn nicht?) einen aktuellen politischen Trend die Orchideen pflegen Es gibt ein wunderbares Konzept für ein staatlich or- zu können. ganisiertes Anreizsystem, das der Wissenschaft viel Sie sehen also, es geht uns Sozialdemokraten um ein Freiheit lässt: das Prinzip „Geld folgt Studierenden“. vernünftiges Zusammenspiel von Wissenschaft und (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Politik, von Freiheit und Verantwortung. Danach erhalten die Hochschulen Geld, wenn sie Studie- (Beifall bei der SPD) rende anlocken. Das ist ein Verhältnis, das natürlich nicht immer span- (Ulrike Flach [FDP]: Alter FDP-Vorschlag!) nungsfrei ist, das jeweils ausdiskutiert werden muss, zu dem es aber keine gute Alternative gibt. Dadurch entsteht ein toller und konstruktiver Wettbe- werb um die beste Lehre, Frau Flach. Die Studierenden Ich weise auf einen weiteren Punkt hin: Für die So- sind dann nicht mehr eine Last, sondern werden zur Lust zialdemokratie hat der Freiheitsbegriff immer noch eine der Hochschulen. andere Dimension als für die Liberalen. Für uns geht es nicht nur um die Freiheit vom Staat. Wir verstehen Frei- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei (B) heit immer auch als die Ermöglichung, die Befähigung, Abgeordneten der LINKEN – Detlef Parr (D) sich zu entfalten. Der Staat muss dafür die Bedingungen [FDP]: Für wen denn?) schaffen. Bei aller Unterstützung, die ich einzelnen Aspekten (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Detlef Parr des vorgelegten FDP-Antrages gebe, ist mir der Antrag [FDP]: Aber nicht überreglementieren!) der Grünen von der ganzen Philosophie her sympathi- scher. Sonst setzen sich immer nur die Starken und die Reichen durch. (Zurufe von der FDP: Oh!) (Detlef Parr [FDP]: Völlig falscher Schluss! – Ich habe jetzt nicht die Zeit, das im Einzelnen auszufüh- Weiterer Zuruf von der FDP: Diese These hat ren; so einen Bart!) (Zuruf von der FDP: Schade!) Wir wollen die Freiheit der Wissenschaft, sich The- ich denke, das glauben Sie mir auch so. men annehmen zu können, die nicht privat finanziert werden. Das betrifft die bereits angesprochenen Orchi- Ich will nur noch die Gelegenheit nutzen, um kurz auf deenfächer, die Grundlagenforschung, auch gesell- das von den Grünen erwähnte und sehr wichtige Thema schaftskritische Wissenschaft. Föderalismusreform II einzugehen. Tatsächlich haben wir im Rahmen dieser Debatte die Chance, endlich den (Beifall bei der SPD und der LINKEN) verstaubten Investitionsbegriff der Nachkriegszeit weg- Eine Wissenschaft, die sich nur dem Geld verschreibt, zubekommen. macht die Gesellschaft arm, meine sehr verehrten Da- (Beifall bei der SPD) men und Herren. Er bevorzugt Ausgaben für Beton und benachteiligt In- (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Zuruf vestitionen in die Köpfe; das gehört endlich geändert. des Abg. Detlef Parr [FDP]) Wenn wir in diesem Zusammenhang aber über eine Wir müssen natürlich immer auch die Lehre mit be- neue Schuldenregel sprechen, dann dürfen wir eines denken, denn sie ist für die weitere Entwicklung der nicht zulassen, nämlich ein Schuldenverbot. Wissenschaft von elementarer Bedeutung und darüber hinaus ein ganz wichtiges Thema für die Chancengleich- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heit. Das will ja auch niemand!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15575

Swen Schulz (Spandau) (A) Bei aller Sympathie für das Ziel, Schulden zu reduzie- wortlichen, wenn sie versuchen, Kapazitäten aus dem (C) ren: Es muss auch in schwierigen Zeiten Spielraum für Ausland nach Deutschland zu holen, um in der Zusam- Investitionen geben; sonst besteht die große Gefahr, dass menarbeit von Forschung und Lehre den internationa- die Mittel für die Wissenschaft reduziert werden. len Standard zu halten oder zu fördern. Da merken sie dann, dass Deutschland nicht nur von fachlicher Kon- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kurrenz umzingelt ist. Sie merken auch, dass sie sich ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nem weiteren interessanten Wettbewerb zu stellen ha- Denn den Menschen liegt – das will ich ihnen gar nicht ben, nämlich dem weltweiten Wettbewerb der vorwerfen – die Finanzierung ihres aktuellen Lebens nä- Arbeitgeber um hochinteressante Leistungsträger. Die- her als die Ausgaben für die Zukunft. Zur Wissen- sen Wettbewerb können sie unter den zurzeit gegebenen schaftsfreiheit gehört aber auch eine verlässliche öffent- Umständen aber nur verlieren. Wenn Beamtenrecht und liche Finanzierung. Diese dürfen wir nicht aufs Spiel sonstige öffentliche Dienstvorschriften mit den Regel- setzen. Darum kommt ein Schuldenverbot überhaupt werken ausländischer Mitbewerber in Konkurrenz tre- nicht infrage. ten, sind die Verhandlungen gelaufen, ehe sie begonnen haben. Die Freiheit der Wissenschaft ist wichtig. Sie muss gestärkt werden. Gleichzeitig muss die öffentliche Ver- Was ist zu tun? Wir müssen die Situation der wissen- antwortung wahrgenommen werden. Das können letzt- schaftlichen Einrichtungen und Hochschulen als Arbeit- endlich nur wir Volksvertreter. Das ist unsere Pflicht. geber dringend verändern. „Verändern“ heißt in diesem Das dürfen wir nicht vernachlässigen. Fall nicht, verehrte Kollegen von der linken Seite, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir müssen der Rea- Herzlichen Dank. lität ins Auge schauen. International beobachtete For- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schungsfelder und veränderte Konkurrenzsituationen der LINKEN) müssen mit neuen Instrumenten ausgestattet werden. Hierunter fallen Globalhaushalte mit Direktverantwor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tung gegenüber den Rechnungshöfen. Vor allem aber Das Wort hat die Kollegin Marion Seib von der CDU/ brauchen wir ein neues, modernes Tarifrecht mit flexi- CSU-Fraktion. blen Elementen und Mut zur Lücke, insbesondere in den hohen Tarifstufen. (Beifall bei der CDU/CSU) Was aber am allerdringendsten gebraucht wird, ist das Vertrauen der Legislative und der Exekutive in die Red- Marion Seib (CDU/CSU): lichkeit und das Können der Verantwortlichen in den (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Hochschulen und den anderen wissenschaftlichen Ein- Meine gestrigen Einlassungen in diesem Hohen Hause richtungen. zur unkompliziert gewordenen Förderung der Forscher und Entwickler im IKT-Forschungsbereich sowie meine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Forderung nach mehr internationaler Vernetzung und in- ternationaler Kooperation kann ich heute wiederholen, Wir trauen den Verantwortlichen hinsichtlich ihrer intel- diesmal nicht nur für den IKT-Bereich, sondern für die lektuellen, fachlichen, wissenschaftlichen Arbeit sehr gesamte Wissenschaftsszene. viel zu. Wir hoffen, dass sie drängende Fragen der Ge- sellschaft und der einzelnen Menschen lösen, und erwar- In Gesprächen mit Wissenschaftlern, Forschern und ten ganz selbstverständlich, dass sie fachlich im interna- Entwicklern vor Ort erntet man bei einer Darstellung der tionalen Vergleich nicht zurückfallen. Dass sie innerhalb Notwendigkeiten nichts anderes als ungläubiges Kopf- der vorgegebenen Möglichkeiten den besten Weg zu ei- schütteln. Trotz der eben gehörten Meinung von Ihnen, ner verantwortlichen Verwendung der zur Verfügung ste- Herr Kollege Schulz, kann man eines feststellen: Die henden Mittel finden, das trauen wir ihnen aber nicht zu. Wissenschaftsszene braucht mehr Freiraum für fachli- che Exzellenz; das will ich gerne begründen. Der Weg (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ zu diesem Ziel ist aber mit unglaublich komplizierten CSU) und viel zu vielen Hürden verstellt. Der internationale Viele können sich ihrer fachlichen Arbeit nicht aus- Austausch im schriftlichen Verfahren ist ganz selbstver- reichend widmen, weil sie viel Zeit für die streng vorge- ständlich geworden. Wer etwas mitzuteilen hat, bedient schriebenen, detaillierten Einnahme-Ausgaben-Rech- sich weltweit der englischen Sprache. Damit steht dem nungen aufbringen müssen. Wir degradieren sie zu Wissensaustausch und der Verständigung im schriftli- überbezahlten Buchhaltern. Klar ist: Ich bin ein Fan ord- chen Verfahren nichts mehr im Wege. nungsgemäßer Buchhaltung und schätze das Können Wehe aber, wenn Wissenschaftler und Hochschulleh- und den Einsatz aller Verantwortlichen, vom Buchhalter rer versuchen, ihre Nachwuchswissenschaftler in den bis zum Buch-, Wirtschafts- und Steuerprüfer. Die Wis- Genuss der Mitarbeit bei hochanerkannten ausländi- senschaftler sind in der Regel aber nicht als Buchhalter schen Kapazitäten zu bringen, um ihnen eventuell Refe- angestellt. renzen für ihre künftige Tätigkeit zu verschaffen. Diese (Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!) Nachwuchswissenschaftler finden die Bedingungen im Ausland dann so prima, dass sie über Jahre für Deutsch- Sie wollen nach einhelligem Bekunden den Großteil ih- land verloren sind. Oder wehe den Wissenschaftsverant- rer Zeit ihren fachlichen Aufgaben widmen. Wenn wir 15576 Deutscher Bundestag – 16. 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Marion Seib (A) diese Erkenntnis zugrunde legen, kommen alle politisch gen, die verbessert werden müssen, und zwar vom öf- (C) Verantwortlichen, im Bund wie in den Ländern, sehr fentlichen Dienstrecht bis zu den vielen anderen schnell zu der Auffassung, dass wir rasch ein Wissen- Bereichen, die angesprochen worden sind. Ich glaube in schaftsfreiheitsgesetz brauchen, wie Frau Bundesminis- der Tat, wir sollten diese Debatte klar beginnen mit der terin Schavan eben gesagt hat. Aussage – sie ist an verschiedenen Stellen erfolgt –, dass wir in Deutschland selbstverständlich die Freiheit von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wissenschaft und Forschung grundgesetzlich ge- neten der SPD und der FDP) schützt und verankert haben Wenn alle an diesem Prozess Beteiligten ihre ganz per- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Das ist gut so!) sönliche „Exzellenz“ einbringen, gelingt uns sicher ein guter Wurf. und dass wir heute darüber reden und es unser Ziel ist, zu einer weiteren Stärkung der Wissenschaft zu kom- Vielen Dank. men. Ich glaube, das bringt es auf den Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der neten der SPD) CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich kann nicht nachvollziehen, was ich diese Woche Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Tauss von der im Spiegel gelesen habe. Man hat an der einen oder an- SPD-Fraktion. deren Stelle den Eindruck, dass dem Schreiber die Fan- tasie durchgegangen ist. Die Forschung in Deutschland muss nicht vor imperialistischer Politik geschützt wer- Jörg Tauss (SPD): den. Die Forschung in Deutschland ist nicht gefesselt Herr Pinkwart freut sich schon. und nicht bewegungsunfähig. Die anhaltenden und nach- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nicht nur er!) haltigen Erfolge unserer deutschen Wissenschaft in einer globalisierten Welt beweisen das ein aufs andere Jahr. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Von Gängelung durch die Politik kann keine Rede sein. Kollegen! – In der Tat, Herr Minister Pinkwart, mit Ih- Ich glaube, wir sollten mit Selbstbewusstsein sagen: Für nen möchte ich beginnen. Ihr Beispiel von dem Wissen- kaum eine Gemeinschaft in Deutschland hat es in den schaftler, der vorzeitig in Rente gehen musste, um dann vergangenen Jahren eine derartig gute Unterstützung einen 400-Euro-Job angeboten zu bekommen, hat mich durch die Politik im Bund und auch einigen Ländern zutiefst beeindruckt. Nachdem Sie sich auf dieses – bei euch mache ich ein paar Abstriche, lieber Herr Thema geschwungen haben wie ein blond gelockter Pinkwart; aber wir reden hier in erster Linie über den (B) (D) Jüngling aus der Antike auf sein Pferd, muss man glau- Bund – gegeben wie für Wissenschaft und Forschung. ben, dass Sie in NRW auf diesem Gebiet Vorbildliches Ich glaube, das sollten wir an dieser Stelle gegen alle geleistet haben. Aber was haben Sie gemacht? Sie haben möglichen Anwürfe von anderer Seite richtigstellen. ein Experimentchen gestartet, das am 31. Dezember die- ses Jahres ausläuft. So sieht mutige Politik nicht aus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dies ist natürlich nicht dem Zufall geschuldet, son- Lassen Sie die Älteren doch länger arbeiten; für das dern der Tatsache, dass wir bis hin zum Bundesfinanz- Dienstrecht seid ihr zuständig. Das darf aber nicht dazu minister der Auffassung sind – und dies nicht erst seit führen, dass die Stellen für Nachwuchswissenschaftler gestern, sondern kontinuierlich in den letzten Jahren –, nicht besetzt werden. Wir brauchen Doppelberufungen dass wir selbstverständlich nicht Forschungsnation sein und Ähnliches. So können wir miteinander etwas bewe- können, dass wir nicht Exportnation Nummer eins sein gen. können, wenn wir im Bereich Bildung, Wissenschaft (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Forschung Infrastrukturen vernachlässigen. Aus die- der LINKEN und des Abg. Kai Gehring sem Grunde, also auch im Interesse dieses ökonomi- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schen Ziels, sind hier verstärkte Anstrengungen notwen- dig. Kollege Schneider, Sie waren so unglaublich geset- zesbegeistert. Sie haben gesagt: Ein Gesetz ist immer (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der gut. Nun gut, das ist Ihre Position. Vielleicht können wir Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) uns darauf einigen: Wenn ein Gesetz nicht notwendig ist, Deswegen bin ich über den Jubel in den Ländern über dann ist es notwendig, dass das Gesetz nicht erlassen die PISA-Erfolge, dass wir von Platz was-weiß-ich auf wird. Platz 13 gerückt sind, nicht glücklich. Wir wären über (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Platz 13 bei den Exportnationen nicht glücklich. Wir CSU und der FDP) müssen im Bereich Bildung und Forschung anstreben, wie beim Export die Nation Nummer eins zu werden. Das ist nicht von mir, sondern von Montesquieu. Dem Das muss unsere Zielssetzung sein; wir sollten nicht können wir wohl parteiübergreifend zustimmen. über das eine oder andere hintere Plätzchen jubeln. Richtig ist: Wir reden hier nicht über überflüssige ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der setzliche Regelungen, sondern über Rahmenbedingun- Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15577

Jörg Tauss (A) Wir haben selbstverständlich schon versucht, einiges Die überwiegend steueralimentierten und abgesicher- (C) auf den Weg zu bringen. Ich erinnere an Debatten in frü- ten Einrichtungen sollten bedenken, dass es nicht schon heren Jahren, bei denen man gesagt hat: Stellenpläne ha- unternehmerisches Handeln ist, wenn man sich als Ma- ben Verfassungsrang, und Budgets dürfen um Gottes nager geriert. An diesem Punkt sollte semantisch abge- willen nicht übertragen werden. Hier hat es Fortschritte rüstet werden. Ich glaube, das ist notwendig. gegeben, und es gibt sicherlich weitere Möglichkeiten. Wir haben auf die programmorientierte Förderung um- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Notwendigkeit gestellt. Wir haben sie wettbewerblich ausgerichtet. Weg der Stärkung der Wissenschaft und der Sicherung von von der Detailsteuerung und hin zur Globalsteuerung – Attraktivität und Forschungsfreundlichkeit stellen wir in diesen Trend wollen und können wir mit Sicherheit in den unterschiedlichen Bereichen fest. Ich sage noch- den nächsten Jahren verfolgen. mals: Das, was im Spiegel zu lesen war – dass ahnungs- lose Beamte in den Ministerien sachkundige Vorschläge (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der von Forschern verwerfen und nach Gutsherrenart verfah- CDU/CSU) ren –, ist eine bösartige Unterstellung. Das sage ich auch Ich erinnere an den Pakt für Forschung und Inno- an die Adresse der Mitarbeiter des Bundesministeriums vation. Ich erinnere an die Exzellenzinitiative für Spit- für Bildung und Forschung, die gemeinsam mit den Pro- zenhochschulen und den Hochschulpakt, in dessen jektträgern eine hervorragende und qualifizierte Arbeit Rahmen wir über die DFG zusätzlich 700 Millionen im Sinne der Förderung von Wissenschaft und For- Euro an die Hochschulen geben. Auch davon profitieren schung leisten. die Universitäten und die Studierenden unmittelbar. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Sie sind nicht diejenigen, die die Forscher von morgens CDU/CSU) bis abends schikanieren. Alle diese von mir genannten – im Übrigen vollstän- Wir haben weitere Impulse gesetzt. Ich erinnere an dig wissenschaftsgesteuerten; auch dies sei noch einmal unseren Plan, ab Herbst 2008 hochdotierte Alexander- gesagt – Initiativen stehen zur Verlängerung an. Darüber von-Humboldt-Professuren zu schaffen. Damit werden werden wir reden. Ich glaube, auch hier werden wir Im- wir international renommierte Wissenschaftlerinnen und pulse setzen. Das heißt, es geht nicht um einen Teil- Wissenschaftler nach Deutschland locken. aspekt, sondern um das ganze Bündel an Maßnahmen. Es gibt verschiedene Maßnahmen, um junge Wissen- Auf gar keinen Fall wollen wir – lieber Herr Kollege schaftlerinnen und Wissenschaftler, die ins Ausland ge- Pinkwart, darüber müssen wir noch einmal reden, wenn gangen sind, zurückzuholen. Es ist überhaupt nichts da- (B) wir Koalitionsverhandlungen führen; gegen einzuwenden, wenn sie sich den Wind um die (D) (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Was? Wie?) Nase wehen lassen. Wir müssen uns allerdings darüber unterhalten, wie wir denjenigen, die zurückkommen da seid ihr noch nicht ganz auf dem richtigen Trip – die wollen, um ihre Arbeit in Deutschland fortzusetzen, at- Wissenschaftsfreiheit in Deutschland durch eine Fremd- traktive und lukrative Bedingungen bieten können. Hier- bestimmung durch Wirtschaftsvertreter in den Uni- für gibt es zwar gute Beispiele, aber wir können noch zu- versitäten ersetzen. Das kann weiß Gott nicht unser Ziel legen. Einige Stichpunkte zu diesem Thema sind heute sein. So verstehen wir den Freiheitsbegriff nicht. Da habt bereits gesagt worden. ihr in Nordrhein-Westfalen Korrekturbedarf. (René Röspel [SPD]: Die meisten sind unter Kohl (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der und Rüttgers ins Ausland gegangen!) LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Ja, die meisten sind unter Rüttgers ins Ausland gegan- gen. Das kann man nicht leugnen. Da unser lieber Koali- Eine zweite Legende betrifft das viel zitierte Wort tionspartner das anders sieht, will ich mich jetzt aber ein vom unternehmerischen Handeln im Forschungs- und bisschen zurückhalten. Diese Bemerkung ist allerdings Universitätsbereich. Selbstverständlich ist im Detail richtig. prinzipiell nichts dagegen einzuwenden, aber können Universitäten und Forschungseinrichtungen es tatsäch- Am KIT, dem Karlsruhe Institute of Technology, ma- lich wollen, in jedem Aspekt wie ein Unternehmen be- chen wir wichtige Erfahrungen. Das ist eine tolle Ge- handelt zu werden? Sollen das unternehmerische Risiko, schichte. Es zeigt sich natürlich auch, welche Probleme das Versagen am Markt und Insolvenzen wirklich All- es gibt. Hier können wir im Hinblick auf das Wissen- tagserfahrung im Forschungssystem werden? Diese Fra- schaftsfreiheitsgesetz noch etwas lernen. gen müssen von denen, die das fordern, beantwortet Ein Problem, mit dem das KIT zu kämpfen hat, ist: werden. Wie soll qua Definition hochriskante Grundla- Einerseits muss sich das KIT am teilweise inkompati- genforschung in ein solches Verständnis unternehmeri- blen und bürokratischen Rechtsrahmen des Landes Ba- schen Handelns eingefügt werden? Forschung birgt den-Württemberg orientieren; Stichwort: Universität. – wie auch das wirtschaftliche Leben – stets das Risiko Andererseits muss es sich nach dem Rechtsrahmen des des Scheiterns. Aber das Risiko des Scheiterns muss in Bundes richten, Stichwort: 90-prozentige Finanzierung einer Wirtschaftsordnung anders betrachtet werden als das Scheitern eines Forschungsprojektes. des Forschungszentrums Karlsruhe und wesentlich mehr Mitwirkung des wissenschaftlichen Personals. Das kann (Beifall bei der SPD) sich in der Folge, bei der Zusammenarbeit mit der 15578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Jörg Tauss (A) Universität, durchaus als Problem erweisen. Dieses Pro- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) blem müssen wir lösen. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion Einen Teil dessen, was am KIT getan wird, kann nur das Wort. auf der Basis rechtlicher Graubereiche geschehen. Daher müssen wir jetzt erst einmal eine öffentliche Körper- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schaft nach Landesrecht schaffen, um im Rahmen einer Umgehungskonstruktion die Kooperation zwischen For- Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): schungszentrum und Universität zu ermöglichen. Das ist Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kol- eine elegante Lösung. Sie zeigt aber auch, wie bürokra- lege Tauss von unserem geschätzten Koalitionspartner tisch manche Hemmnisse sind. hat vieles gesagt, was richtig ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem KIT haben (Jörg Tauss [SPD]: Alles!) wir einen Erfahrungsträger. Mit Blick auf die Koopera- – Vieles. Wir wollen es nicht übertreiben. tion der RWTH Aachen mit dem Forschungszentrum Jü- lich kann etwas Ähnliches geschehen. Dann könnten wir Ich will auf den Antrag der Grünen, der ebenfalls zur darüber reden, das Vorschriftendickicht von Bund und Diskussion steht, eingehen. Die Grünen haben in ihrem Ländern gemeinsam zu entrümpeln. Diese Gelegenheit Antrag geschrieben: wollen wir nutzen. Wenn zur Erreichung dieses Ziels ge- setzliche Maßnahmen notwendig sind, dann werden wir Das Wissenschaftssystem in Deutschland ist besser handeln. Ich bin der Ministerin dankbar, dass sie auch als sein Ruf, weist aber einige Schwächen auf … untergesetzliche Regelungen angesprochen hat, durch Diese Feststellung ist richtig. Diese Schwächen zu behe- die man in der einen oder anderen Frage viel schneller zu ben, ist Aufgabe der Großen Koalition. Wir freuen uns Lösungen kommen kann. natürlich über jeden, der daran mitarbeitet. Aus freundli- cher Rücksichtnahme auf die Kolleginnen und Kollegen Da auch das Thema Tarifverträge erwähnt worden von Bündnis 90/Die Grünen wegen der Gespräche in an- ist, möchte ich darauf hinweisen: Für Tarifverträge ist derer Sache und an anderer Stelle will ich auf diesen An- nicht die Politik zuständig; das muss klar sein. Tarifver- trag nicht näher eingehen. träge, auch im Bereich der Hochschulen, werden von den Ländern geschlossen. Die Länder haben die Tarif- ( [BÜNDNIS 90/DIE gemeinschaft auf den Hund kommen lassen, Herr GRÜNEN]: Sind Sie neidisch?) Pinkwart. Es wäre notwendig, dass Sie hier Impulse set- Ein weiterer Antrag liegt uns vor; er stammt von der zen. Der Bund ist bereit, hierzu seinen Beitrag zu leisten. (B) FDP. Er ist interessant zu lesen, und einige Aspekte sind (D) Die letzten Tarifverhandlungen für den öffentlichen durchaus zu berücksichtigen. Aber ich glaube, es ist dem Dienst waren, was die Stärkung der Wissenschaft und Ziel, das wir erreichen wollen, nicht dienlich, wenn das des Nachwuchspersonals angeht, nicht gerade ein Ruh- Wissenschaftsfreiheitsgesetz überfrachtet wird. mesblatt; das ist völlig klar. Deswegen unterstützen wir die Forderung der FDP nach einem Wissenschaftstarif- (Cornelia Pieper [FDP]: Wann legen Sie Ihren vertrag. An dieser Stelle können wir aber nicht handeln. Gesetzentwurf vor?) Handeln müssen andere. Ich darf auf das verweisen, was der Kollege Tauss eben (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zur Frage eines Wissenschaftstarifvertrages ausgeführt hat: Er hat zu Recht gesagt, dass wir eines nach dem an- Mit den Grünen sind wir uns einig, dass wir für Wis- deren tun sollten. senschaft und Forschung ein modernes Urheberrecht brauchen. Ganz so grässlich, wie Sie es dargestellt ha- Wir verfolgen mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz ben, ist das, was wir getan haben, aber nicht. Wir haben im Grundsatz zwei Ziele: Wir wollen weniger Bürokra- SUBITO gestärkt und im Rahmen des zweiten Korbes tie und mehr Eigenverantwortung für die universitären weitere Maßnahmen auf den Weg gebracht. Da ich ge- und die außeruniversitären Forschungseinrichtungen. rade sehe, dass der Kollege Manzewski hier ist, möchte Ich bin froh, dass Ministerin Annette Schavan diesem ich sagen: Wir haben in der Tat noch viel zu tun, um un- Anliegen Priorität gegeben hat. ser Urheberrecht wissenschaftsfreundlich zu gestalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wir haben gute Ideen, über die wir mit unseren Kolle- Cornelia Pieper [FDP]: Warum hat sie noch ginnen und Kollegen diskutieren werden. kein Gesetz vorgelegt?) Lieber Herr Präsident, ich will die Hoffnung zum Wir wollen praktikable, flexible Rahmenbedingungen, Ausdruck bringen, dass ein Gewinner dieser Debatte um die Hochschulen und Forschungseinrichtungen im schon feststeht: die Forschung in Deutschland. Wir wer- Wettbewerb um die besten Köpfe, um finanzielle Mittel den sie weiterhin stärken. Dafür ist der heutige Tag ein und um Innovationen und Technologien zu unterstützen. gutes Zeichen. Wir freuen uns natürlich darüber, dass Sie mitarbeiten wollen, Frau Pieper. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: „Mitarbeiten“? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir treiben! Ohne uns gäbe es diese Debatte der CDU/CSU) gar nicht! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15579

Carsten Müller (Braunschweig) (A) [SPD]: Die FDP will doch gar nicht regieren! – Diejenigen, die nicht so leistungsfähig sind, bekommen (C) Weiterer Gegenruf des Abg. Kai Gehring etwas weniger. Im Bereich der Haushaltssystematik wol- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Hessen len wir die Gesichtspunkte der Überjährigkeit, der Über- will die FDP nicht regieren!) tragbarkeit und der Deckungsfähigkeit von Mitteln ver- folgen. – Um zu treiben, hätten Sie ein halbes Jahr früher kom- men müssen. Aber, wie gesagt: Wir freuen uns über je- Es geht uns auch um Kooperation und Vernetzung, den, der uns auf diesem Weg begleitet. um Beteiligungen und Ausgründungen. Wir wollen diese erleichtern. Das heißt – ich sage das ausdrücklich –: Das Vorfeld ist geschaffen; die Exzellenzinitiative ist mehr Chancen, aber auch mehr Risiko. Dessen müssen ein Stichwort. Wir wollen, um Arbeitsplätze und Wirt- wir uns bewusst sein, und das müssen wir in Kauf neh- schaftskraft in Deutschland zu akkumulieren, mit diesem men. Gesetz auf die großen Herausforderungen reagieren, die sich schnell wie folgt zusammenfassen lassen: erhöhte (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Wir brauchen unter- Mobilität, Bekämpfung des Braindrain. Wir brauchen ei- nehmerisches Handeln!) nen Braingain; Herr Kollege Gehring hat das ebenfalls Ich glaube aber, dass die Rechnung unterm Strich aufge- aufgegriffen. Wir stehen in einem globalen Wettbewerb. hen wird. Es gibt einen immer schneller werdenden Wettlauf um verwertbare Produkte. Der eine oder andere Redebeitrag heute hat mich nicht überzeugt. So erinnere ich mich nur sehr ungern an Die nötige Flexibilität bei den Rahmenbedingungen den Beitrag der Linksfraktion. Bei FDP und Grünen sehe ist genannt. Wissenschaft braucht Freiheit. Wir wollen ich Nachholbedarf, aber wenigstens stimmt die grobe dazu beitragen, dass Deutschland zu einem Magneten Richtung. für Wissenschaftler und Forscher aus der ganzen Welt Ich freue mich, diese Debatte mit der folgenden Fest- wird. Es gibt eine Menge zu tun. Wir haben in der ver- stellung beenden zu können: Mit Ministerin Annette gangenen Woche lesen können, dass weniger als Schavan und den Fraktionen der Großen Koalition wer- 500 Wissenschaftler aus Nicht-EU-Ländern zu uns ge- den wir im Bereich der Wissenschaftsfreiheit die wichti- kommen sind. Das heißt, wir müssen zusehen, dass wir gen Ziele schnell erreichen. kurzfristig – ich bin optimistisch, dass uns das gelingt – mit den Freunden der Innenpolitik sinnvolle Lösungen Ich danke Ihnen. finden. Wir können es nicht hinnehmen, wenn es hier (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine Blockade gibt. neten der SPD – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: (Beifall bei der CDU/CSU) Die Frage ist nur, wann!) (B) (D) In vielen Reden sind gute Lösungen angeklungen. Ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: will den Bereich des Urheberrechtes herausgreifen. Ich Ich schließe die Aussprache. freue mich, dass sich der Kollege Manzewski von unse- rem Koalitionspartner die Gelegenheit nicht entgehen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf lässt, davon überzeugt zu werden, dass wir beim dritten den Drucksachen 16/7858 und 16/8221 an die in der Ta- Korb kurzfristig Veränderungen vornehmen müssen. Wir gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. rechnen fest mit Ihrer Unterstützung, meine Damen und Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Herren. ist das so beschlossen. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- Wir wollen, dass die Entscheidungswege in den For- trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Die Zukunft schungseinrichtungen schnell und unbürokratisch wer- der Lehre und Forschung an Hochschulen mit Hilfe der den. Sie alle wissen, wie viel Zeit zum Beispiel das Aus- Juniorprofessur stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- füllen von Reisekostenanträgen einnimmt. Diese Zeit ist ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8369, den in Forschung und Entwicklung besser investiert. Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3192 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Wir wollen in unserer Arbeit drei Schwerpunkte set- schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen zen: Wir wollen im Bereich Personal flexible und attrak- aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die tive Vergütungskonditionen, Linke. (Cornelia Pieper [FDP]: Das ist dringend not- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 k und 16 wendig!) sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: übrigens nicht nur für die, die absolute Spitzenleistungen 28 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten erbringen, sondern durchweg. Das ist geboten. Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes (HGrGÄndG) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: Das wollen wir auch!) – Drucksache 16/7252 – Überweisungsvorschlag: Wir wollen Anreizsysteme schaffen. Das begünstigt na- Haushaltsausschuss (f) türlich diejenigen, die besonders leistungsfähig sind. Rechtsausschuss 15580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- trag vom 30. Mai 2007 zwischen der Bundes- (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- republik Deutschland und dem Sultanat rung des Einheitengesetzes und des Eichgeset- Oman über die Förderung und den gegenseiti- zes, zur Aufhebung des Zeitgesetzes, zur gen Schutz von Kapitalanlagen Änderung der Einheitenverordnung und zur – Drucksache 16/8255 – Änderung der Sommerzeitverordnung Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/8308 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Brüderle, Martin Zeil, Dr. Karl Addicks, weiterer c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Abgeordneter und der Fraktion der FDP gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Privatisierung öffentlicher Aufgaben zur Stär- trag vom 8. September 2006 zwischen der Bun- kung der sozialen Marktwirtschaft desrepublik Deutschland und der Republik Trinidad und Tobago über die Förderung und – Drucksache 16/7735 – den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) – Drucksache 16/8251 – Innenausschuss Finanzausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Verbraucherschutz Auswärtiger Ausschuss Haushaltsausschuss Rechtsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der trag vom 1. August 2006 zwischen der Bundes- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN republik Deutschland und der Republik Madagaskar über die gegenseitige Förderung Versorgungsqualität der Substitutionsbehand- und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- lung für Opiatabhängige verbessern gen – Drucksache 16/8212 – – Drucksache 16/8252 – Überweisungsvorschlag: (B) Ausschuss für Gesundheit (f) (D) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase, kommen vom 8. November 2006 zwischen der Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weitere Abgeordneter Bundesrepublik Deutschland und der Repu- und der Fraktion der SPD blik Guinea über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- Neuausrichtung der Europäischen Stiftung für gen Berufsausbildung – Drucksache 16/8253 – – Drucksache 16/8382 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Auswärtiger Ausschuss Technikfolgenabschätzung (f) Rechtsausschuss Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union trag vom 5. Februar 2007 zwischen der Bun- Haushaltsausschuss desrepublik Deutschland und dem Königreich Bahrain über die Förderung und den gegensei- k) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- tigen Schutz von Kapitalanlagen gierung – Drucksache 16/8254 – Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/7082 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Ausschuss für Tourismus Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15581

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) 16 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- trag vom 22. November 2004 über das Europäi- ordnung (1. Ausschuss) sche Korps und die Rechtsstellung seines – Drucksache 16/8354 – Hauptquartiers zwischen der Französischen Re- publik, der Bundesrepublik Deutschland, dem Berichterstattung: Königreich Belgien, dem Königreich Spanien Abgeordnete Bernhard Kaster und dem Großherzogtum Luxemburg (Straßbur- Dr. Carl-Christian Dressel ger Vertrag) Jörg van Essen – Drucksache 16/8250 – Dr. Dagmar Enkelmann Volker Beck (Köln) Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Auswärtiger Ausschuss schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union lung auf Drucksache 16/8354, den Gesetzentwurf anzu- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstim- Mechthild Dyckmans, Sabine Leutheusser- men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Schnarrenberger, Dr. Karl Addicks, weiterer Ab- Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions- geordneter und der Fraktion der FDP fraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Vorschlag für eine Verordnung des Rates über Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. die Zuständigkeit und das anwendbare Recht in Unterhaltssachen, die Anerkennung und Dritte Beratung Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und die Zusammenarbeit im Bereich der Un- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – terhaltspflichten Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf – Drucksache 16/8377 – ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen angenommen. Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 29 b: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag (B) Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer, der Abgeordneten Patrick Döring, Hans-Michael (D) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Goldmann, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Freiwilligen projektbasierten Klimaschutz auf verbreiteter Grundlage voranbringen Obligatorische Haftpflichtversicherung für ge- werbliche Binnenschiffe beim Transport ge- – Drucksache 16/7174 – fährlicher Güter Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) – Drucksachen 16/6640, 16/8030 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Berichterstattung: Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Abgeordnete Annette Faße ten Verfahren ohne Debatte.1) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an lung auf Drucksache 16/8030, den Antrag der Fraktion die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu der FDP auf Drucksache 16/6640 abzulehnen. Wer überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/8250 zu stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Tagesordnungspunkt 16 soll abweichend von der Tages- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- ordnung federführend im Verteidigungsausschuss bera- men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge- ten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der genstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Wir kommen nun zu den Beschlussfassungen zu nen. Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 29 c: Tagesordnungspunkt 29 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten nologie (9. Ausschuss) Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wahlprüfungsgesetzes – zu der Verordnung der Bundesregierung – Drucksache 16/7463 – Einundachtzigste Verordnung zur Ände- rung der Außenwirtschaftsverordnung 1) Anlage 2 – zu der Verordnung der Bundesregierung 15582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Zweiundachtzigste Verordnung zur Ände- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (C) rung der Außenwirtschaftsverordnung gen? – Sammelübersicht 366 ist bei Gegenstimmen der – zu der Verordnung der Bundesregierung Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak- tionen angenommen. Einhundertfünfundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste Tagesordnungspunkt 29 h: – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksachen 16/7795, 16/7796, 16/7797, ausschusses (2. Ausschuss) 16/8261 – Sammelübersicht 367 zu Petitionen Berichterstattung: – Drucksache 16/8205 – Abgeordneter Erich G. Fritz Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Der Ausschuss empfiehlt unter den Buchstaben gen? – Sammelübersicht 367 ist bei Gegenstimmen der a bis c seiner Beschlussempfehlung, die Aufhebung der FDP-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen Verordnungen der Bundesregierung auf Drucksachen angenommen. 16/7795, 16/7796 und 16/7797 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- Tagesordnungspunkt 29 i: men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungen sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei ausschusses (2. Ausschuss) Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Sammelübersicht 368 zu Petitionen Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- – Drucksache 16/8206 – titionsausschusses. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Tagesordnungspunkt 29 d: tungen? – Sammelübersicht 368 ist mit den Stimmen der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen- ausschusses (2. Ausschuss) stimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Sammelübersicht 363 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 29 j: – Drucksache 16/8201 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- ausschusses (2. Ausschuss) (B) gen? – Sammelübersicht 363 ist einstimmig angenom- (D) men. Sammelübersicht 369 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 29 e: – Drucksache 16/8207 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- ausschusses (2. Ausschuss) gen? – Sammelübersicht 369 ist wiederum mit den Stim- Sammelübersicht 364 zu Petitionen men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung – Drucksache 16/8202 – der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Tagesordnungspunkt 29 k: gen? – Sammelübersicht 364 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- stimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der ausschusses (2. Ausschuss) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Sammelübersicht 370 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 29 f: – Drucksache 16/8208 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 370 ist mit den Stimmen der Sammelübersicht 365 zu Petitionen Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die – Drucksache 16/8203 – Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der FDP-Fraktion angenommen. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 365 ist einstimmig angenom- Tagesordnungspunkt 29 l: men. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 29 g: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 371 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/8209 – Sammelübersicht 366 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – Drucksache 16/8204 – gen? – Sammelübersicht 371 ist mit den Stimmen der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15583

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei schauer: Da kann etwas nicht stimmen. Deswegen (C) Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion möchte ich zwei Sieger der besonderen Art etwas würdi- Bündnis 90/Die Grünen angenommen. gen. Tagesordnungspunkt 29 m: Dazu gehört zunächst – sorry – die FDP; sie hat sich selbst besiegt: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sammelübersicht 372 zu Petitionen In liberaler Wendigkeit hat sie sowohl die Position des Klägers als auch die des Beklagten eingenommen. Sie – Drucksache 16/8210 – glaubte offenbar, dadurch so etwas wie doppelte Ge- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- winnchancen zu haben. gen? – Sammelübersicht 372 ist mit den Stimmen der (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- wie bei Abgeordneten der CDU/CSU) tionsfraktionen angenommen. War Ihnen Herr Wolf etwa peinlich? Nein, Ihnen scheint Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: wenig peinlich zu sein. Aktuelle Stunde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auch Sie erklärten sich zu strahlenden Siegern. Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes- Die Reaktion des Herrn Bundesinnenministers war regierung zu den Folgerungen aus der Online- deutlich problematischer. Jeder weiß, dass er die Ent- entscheidung des Bundesverfassungsgerichts scheidung gar nicht abwarten wollte. Wir erinnern uns vom 27. Februar 2008 an eine Koalitionskrise nach der anderen seit vergange- nem Sommer, Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen, für (Rüdiger Veit [SPD]: So schlimm war es den Antragsteller das Wort. nicht!) die er dadurch ausgelöst hat, weil er immer wieder be- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tonte, er wolle, dass sein Entwurf eines BKA-Gesetzes Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mitt- sofort umgesetzt wird. Er hat nicht einmal die mündliche Urteilsbegründung des Präsidenten des Bundesverfas- (B) woch vergangener Woche war – das darf man mit Fug (D) und Recht sagen – ein historischer Tag. Das Bundesver- sungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, abgewartet. Noch fassungsgericht hat nicht nur ein Urteil zur Onlinedurch- während sie verkündet wurde, veröffentlichte er eine suchung gefällt, sondern auch ein neues Grundrecht kre- schriftliche Pressemitteilung mit dem Tenor, Online- iert: das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit durchsuchungen seien grundsätzlich zulässig, jetzt und Integrität informationstechnischer Systeme. könne das BKA-Gesetz zügig umgesetzt werden und er sehe sich allen Ernstes bestätigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Stimmt ja KEN) auch!) So wie die Schaffung des Grundrechts auf informatio- Verehrter Herr Staatssekretär, ich hoffe, inzwischen nelle Selbstbestimmung mit dem Volkszählungsurteil die haben Sie das Urteil in Ihrem Haus einmal gelesen. rechtliche Antwort auf die automatisierte Datenverarbei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tung war, ist dieses neue Grundrecht die Antwort auf die sowie bei Abgeordneten der FDP) technischen Möglichkeiten des Informationszeitalters. Dann wissen Sie nämlich: Die Onlinedurchsuchung ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) grundsätzlich zulässig; das Gericht hat sie aber nur unter In Zukunft wird sich jede staatliche Gewalt daran mes- ganz engen Voraussetzungen für den Ausnahmefall zu- sen lassen müssen. Deshalb war dieser 27. Februar ein gelassen. Der Entwurf eines BKA-Gesetzes, den Sie vor- stolzer Tag für die Bürgerrechte. gelegt haben, sieht vor, dass allein die Gefahr des grenz- überschreitenden internationalen Terrorismus – diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gefahr besteht leider täglich; sie wird auch in den nächs- und bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: ten zehn Jahre bestehen – als Begründung für eine Sehr richtig!) Onlinedurchsuchung ausreichen soll. Genau das geht nicht. Ich höre „Sehr richtig!“ von der FDP. Deswegen sei es mir erlaubt, auf den Umstand hinzuweisen, dass die- In Zukunft muss eine auf Tatsachen gestützte, kon- ser Tag nur Sieger kannte. Alle wollten etwas von dem krete Gefahr für Leib und Leben, für die Freiheit oder Glanz abbekommen, von Wolfgang Schäuble über für den Bestand des Staates gegeben sein; nur dann kann und Christian Ströbele bis Dieter im Ausnahmefall von diesem Mittel Gebrauch gemacht Wiefelspütz und Wolfgang Nešković. Wenn so etwas an werden. Im Übrigen verlangt das Gericht einen wasser- einem Wahlabend geschieht, dann weiß der Fernsehzu- dichten Schutz des Kernbereichs der privaten Lebens- 15584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Wolfgang Wieland (A) gestaltung. Auch davon steht in Ihrem Gesetzentwurf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) kein Wort. Deswegen hat das Gericht nicht nur das Ver- neten der SPD – Widerspruch beim BÜND- fassungsschutzgesetz von NRW zerpflückt, sondern im- NIS 90/DIE GRÜNEN) plizit auch Ihren Entwurf zerrissen. Denn über unterschiedliche Auffassungen haben Sie gar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht referiert. Ich habe allerdings Verständnis dafür, dass Sie nicht über unterschiedliche Auffassungen – also Wir, die Grünen, hätten uns eine Entscheidung ge- über Ihren eigenen Antrag – referiert haben, weil Sie wünscht, nach der die Onlinedurchsuchung grundsätz- dazu nämlich gar nichts referieren können. lich nicht zulässig ist. Wir akzeptieren, wie das Bundes- verfassungsgericht geurteilt hat, sagen aber: Das ist kein Die Lage ist an Schlichtheit kaum zu überbieten: Prinzip „Blankoscheck“. Wir stellen die Frage: Was ge- schieht nun eigentlich mit denjenigen, die bei uns bereits Erstens. Der internationale Terrorismus ist nicht nur Onlinedurchsuchungen ohne gesetzliche Grundlage hoch kommunikativ, sondern er arbeitet auch hoch kon- durchgeführt haben? Ich denke, das ist möglicherweise spirativ. Wer die Umstände der Beobachtung und Fest- strafbar. Es kann doch nicht der Running Gag sein, dass nahme der Terroristen aus dem Sauerland kennt, weiß, sich der Staatssekretär weigert, in den Innenausschuss zu dass die Überwachung der Kommunikation von überra- kommen, wie das beim damals zuständigen Staatssekre- gender Bedeutung für deren Überführung war. tär der Fall war. Wir wollen endlich rechtsstaatliche Auf- Zweitens. Deswegen können wir auf das Fahndungs- klärung darüber, was geschehen ist; schließlich leben wir mittel der Onlinedurchsuchung nicht generell verzich- nicht in einer Bananenrepublik. ten. Es geht um die Sicherung flüchtiger Beweise. Wür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den wir sagen, dass wir keine Onlinedurchsuchungen und bei der FDP) durchführen, würden wir den Terroristen einen staats- freien Raum zur Kommunikation garantieren. Wir wür- Entscheidend ist auch Folgendes: Jetzt muss der ge- den Ihnen signalisieren: Wenn ihr auf diese Weise welt- samte Entwurf eines BKA-Gesetzes auf den Prüfstand. weit kommuniziert, seid ihr vor dem Staat sicher. Genau Der Entwurf enthält ein Best-of aus dem Katalog des das darf nicht geschehen. Überwachungsstaates: Schleierfahndung, Rasterfahn- dung, IMSI-Catcher, großer Lauschangriff, kleiner (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Lauschangriff, Spähangriff per Video, Einsatz von ver- Fritz Rudolf Körper [SPD]) deckten Ermittlern und von V-Leuten usw. Das ganze Drittens. Wir haben immer gesagt, dass die Online- Alphabet hat man gebraucht, um diese Befugnisse zu ka- durchsuchung ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeits- (B) talogisieren. Das alles geschieht ohne die Kontrolle des rechte der Betroffenen ist, der nur unter ganz engen Vo- (D) Generalbundesanwaltes und ohne eine parlamentarische raussetzungen und unter Einhaltung hoher rechtlicher Kontrolle, die diesen Namen verdient. Hürden stattfinden darf. Sie glauben doch wohl nicht, dass wir eine Art FBI Viertens. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt prä- mit vollen geheimdienstlichen Befugnissen brauchen zise definiert, wie diese rechtlichen Voraussetzungen oder gar wollen. Die Diskussion über das BKA-Gesetz auszusehen haben. Der Referentenentwurf zum BKA- beginnt erst jetzt, und für uns ist die Richtung dabei völ- Gesetz – es gab übrigens noch gar keinen Gesetzentwurf lig klar: Wir brauchen keinen Generalverdacht gegen im engeren Sinne; es hat noch keinen Kabinettsbeschluss alle Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen keine omniprä- gegeben – muss entsprechend präzisiert werden. sente staatliche Kontrolle. Auch deswegen sagen wir an dieser Stelle noch einmal: Vielen Dank, Bundesverfas- (Zuruf des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) sungsgericht! Fünftens. Wir werden anhand der Entscheidungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gründe des Bundesverfassungsgerichtes sehr sorgfältig sowie bei Abgeordneten der FDP) prüfen müssen – das kann man nicht aus der Hüfte ma- chen –, welche Schlussfolgerungen sich beispielsweise Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für die Strafverfolgung im Rahmen der Strafprozessord- Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach nung und für die Gesetze der Dienste ergeben. Darüber von der CDU/CSU-Fraktion. herrscht in der Bundesregierung und zwischen den Ko- alitionsparteien vollkommene Übereinstimmung. Des- (Beifall bei der CDU/CSU) wegen muss man in den nächsten 50 Minuten auch nicht dasselbe mit immer neuen Worten wiederholen. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen haben eine Aktuelle Stunde unter der Über- Dessen ungeachtet bin ich Ihnen, Herr Kollege schrift „Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesre- Wieland, für Ihren Beitrag dankbar, weil Sie damit auf gierung zu den Folgerungen aus der Onlineentscheidung zwei Dinge aufmerksam gemacht haben: Erstens war der des Bundesverfassungsgerichts vom 27.02.2008“ bean- Streitgegenstand in Karlsruhe nicht irgendein Gesetz der tragt. Ich habe vor der Rede des Kollegen Wieland nicht Bundesregierung, sondern das nordrhein-westfälische verstanden, warum sie die Aktuelle Stunde beantragt ha- Gesetz über den Landesverfassungsschutz NRW, verab- ben, und nach der Rede erst recht nicht. schiedet unter dem liberalen Innenminister Ingo Wolf. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15585

Wolfgang Bosbach (A) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schäuble und die Große Koalition ungehindert fortge- (C) NEN]: Der Rüttgers hat das auch mitgetragen! – setzt. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und dem Minis- terpräsidenten Rüttgers!) ( [CDU/CSU]: Wo ist denn Herr Wolf?) Ich kritisiere das gar nicht, sondern stelle es lediglich Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Gro- fest. ßen Koalition, sagen, dass Sie das gar nicht gemacht hät- Besonders beeindruckend war allerdings der Hinweis ten, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie alle dem darauf, dass eine Bundesregierung schon einmal eine Bundeshaushalt 2007 zugestimmt haben, der heimliche Onlinedurchsuchung veranlasst hat, allerdings ohne ge- Onlinedurchsuchungen vorsieht. Die Warnungen, die setzliche Grundlage. Soweit erinnerlich, war das die wir von der FDP und andere Oppositionsfraktionen in Bundesregierung, an der die Bündnisgrünen beteiligt diesem Zusammenhang geäußert haben mit der Bitte, waren. das zu überdenken, sind von Ihnen rüde beiseite ge- wischt worden. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Deswegen wollen wir es ja aufgeklärt (Beifall bei der FDP) haben!) Der Bundesinnenminister hat sogar gesagt: Frau Piltz, Es gehört schon eine ganze Menge Chuzpe dazu, nach ich brauche keine Rechtsgrundlage. Die innenpoliti- dem Ausscheiden aus der Bundesregierung Aufklärung schen Sprecher von SPD und CDU/CSU haben dem zu verlangen, obwohl man an dieser Bundesregierung nicht widersprochen. selber beteiligt war. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Vielen Dank. Ganz im Gegenteil: Sie wollten Onlinedurchsuchungen (Beifall bei der CDU/CSU) ohne ein konkretes Gesetz. Das ist also genauso Ihre Niederlage wie die meines Innenministers in Nordrhein- Westfalen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDP- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang Fraktion. Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der FDP) Ich sage Ihnen nur eines dazu: Ingo Wolf hat sicherlich verloren. Aber er hat ein Gesetz gemacht und als einzi- (B) ger Innenminister in diesem Land versucht, eine Rechts- (D) Gisela Piltz (FDP): grundlage zu schaffen. Damit ist er jetzt gescheitert. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie sehen, habe ich etwas mitgebracht, das jeder von Ihnen im Büro (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) haben und in das jeder ab und zu hineinschauen sollte: Aber Sie haben es erst gar nicht versucht. Im Übrigen ist das Grundgesetz. Ich habe es mitgebracht, weil ich den er nicht nur mein Minister, sondern auch der Minister Eindruck habe, dass die meisten meiner Kolleginnen und der CDU. Sie sind in Nordrhein-Westfalen genauso ba- Kollegen jedenfalls in den Koalitionsfraktionen seit lan- den gegangen wie wir. Schieben Sie das nicht uns in die gem nicht mehr hineingeschaut haben. Ich möchte Sie Schuhe! Das ist eine Unverschämtheit. auf Art. 20 Abs. 3 hinweisen: (Beifall bei der FDP) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Recht- Der Erfolg hat immer viele Väter. Dass Sie sich alle sprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. freuen, ist aus meiner Sicht angesichts dessen verwun- derlich, was uns Karlsruhe auf den Weg gegeben hat. Es Leider haben wir in den vergangenen Jahren immer wie- wurde schon gesagt: Ein neues Grundrecht ist geboren der erleben müssen, dass sich die Mehrheit dieses Parla- worden. Ich nenne es kurz IT-Grundrecht, sodass es ments über diesen Artikel hinweggesetzt hat. Das ist leichter zu handhaben ist. Es ist ein weiterer Baustein beim Luftsicherheitsgesetz, beim Verbraucherinforma- zum Schutz der Freiheit der Bürger. Aber was ist nach tionsgesetz und bei vielen anderen Gesetzen so gewesen. einer kurzen Selbstfeierstunde der Großen Koalition pas- An dieser Stelle möchte ich zwei Herren auf der Zu- siert, die aus meiner Sicht eher hätte Buße tun müssen? schauertribüne begrüßen – das können Sie mir nicht übel Das BKA-Gesetz solle nun schnell kommen, sagt der nehmen –, die dafür gesorgt haben, dass das Bundesver- Kollege Uhl. Damit könne man in einigen Wochen fertig fassungsgericht Geschichte geschrieben hat: unseren sein, wenn Frau Zypries – so gesehen haben die Grünen ehemaligen Kollegen und unseren ehe- recht, auch wenn es nicht meine Sache ist, sie zu vertei- maligen Bundesinnenminister . digen – nicht durch juristische Rechthaberei stören (Beifall bei der FDP und der SPD) werde. Das muss man sich auf der Zunge zergehen las- sen: juristische Rechthaberei nach einem Urteil des Bun- Wir befassen uns heute zum wiederholten Mal mit ei- desverfassungsgerichts! Der Kollege Wiefelspütz findet ner weiteren Niederlage der Mehrheit dieses Parlaments. es nicht schwierig – er ist offenbar vorsichtshalber nicht Das, was Herr Schily begonnen hat – darauf hat mein anwesend –, das Urteil im BKA-Gesetz umzusetzen. Sie Kollege Bosbach zu Recht hingewiesen –, haben Herr versuchen nicht einmal mehr, den Schein zu wahren. 15586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Gisela Piltz (A) Das ist kein respektvoller Umgang mit dem Bundesver- Fritz Rudolf Körper (SPD): (C) fassungsgericht und dem Grundgesetz. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich muss noch einmal den Titel dieser Aktuellen Stunde Ich kann nach Ihren Äußerungen nur eines vermuten: zitieren: „Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes- Sie haben das Urteil gar nicht zu Ende gelesen. regierung zu den Folgerungen aus der Onlineentschei- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sie waren dung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar doch gar nicht in Karlsruhe! Dorthin hätten Sie 2008“. Abgesehen davon, dass das Bundesverfassungs- kommen sollen!) gericht nicht online entscheidet, gibt es auch keine unter- schiedlichen Auffassungen über die Folgerungen und Sie haben dort aufgehört zu lesen, wo es darum geht, Konsequenzen der Entscheidung des Bundesverfas- dass das neue IT-Grundrecht nicht schrankenlos ist. Aber sungsgerichts zur Problematik der Onlinedurchsuchung. die Schranken haben es in sich, nicht nur in prozessualer (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hinsicht, sondern auch in materieller. Wir sind sehr ge- Das sind Schalmeien von Ihnen!) spannt darauf, wie Sie das in ein paar Wochen umsetzen wollen. Ich kann mir das nur schwer vorstellen. Es ist Die Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die nicht juristische Rechthaberei, sondern der Respekt vor Grünen reden nach meinem Dafürhalten über ein Phäno- unserer Verfassung, der es gebietet, mit diesem Urteil men, das es nicht gibt. Deswegen wäre diese Aktuelle anders umzugehen. Stunde nicht notwendig gewesen. (Beifall bei der FDP) (Gisela Piltz [FDP]: Warum reden Sie denn?) Im Unterschied zu Ihnen sehen wir, die Liberalen, zu- – Warum ich rede? Weil beispielsweise Ihr Redebeitrag erst das Grundrecht und dann die Einschränkung. Sie se- von Unrichtigkeiten geprägt war. Wenn Sie, Frau Piltz, hen zuerst die Schranken und, wenn überhaupt, dann das sagen, es seien Mittel bereitgestellt worden, um Online- Grundrecht. Das ist wirklich sehr bedauerlich. durchsuchungen durchzuführen, so ist das schlichtweg falsch, weil es um Mittel ging, um die Möglichkeit von (Beifall bei der FDP) Onlinedurchsuchung zu erforschen, und das war richtig und gut so. Diese Forschung braucht man, wenn man So verwundert es mich nicht, dass ich von Herrn über dieses Instrument redet. Schäuble nur gehört habe, es sei gut, dass es Schranken der Freiheit gebe. Frau Zypries hat immerhin angedeutet, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dass Freiheitsrechte erweitert worden sind. Da ist der CDU/CSU) Unterschied in dieser Großen Koalition. Bundesjustizministerium und Bundesinnenministe- (B) (D) Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einen Satz zum rium müssen sich mit dem Urteil beschäftigen. Es ist et- Nachdenken mitgeben, den Sie sich bei all Ihren Geset- was über das Thema Strafverfolgung gesagt worden; das zesvorhaben immer vergegenwärtigen sollten. Das Bun- bedarf einer sorgfältigen Prüfung. Diese Prüfung betrifft die Umsetzung des Urteils. Was das Bundeskriminalamt desverfassungsgericht hat gesagt: anbelangt, so werden wir zügig entscheiden. Ich finde, Eine Erhebung solcher Daten beeinträchtigt mittel- es ist wichtig, dass wir diese Entscheidung des Bundes- bar die Freiheit der Bürger, weil die Furcht vor verfassungsgerichts abgewartet haben. Ich will hier be- Überwachung, auch wenn diese erst nachträglich kennen, dass wir auf unser Betreiben hin abgewartet ha- einsetzt, eine unbefangene Individualkommunika- ben. Es ist schon gesagt worden, dass es im Grunde tion verhindern kann. genommen nicht nur um das Verfassungsschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen ging. Ich bin überrascht, dass Das gilt nicht nur in Bezug auf Eingriffe in Rechte ge- es offensichtlich nur Gewinner und Sieger gibt und dass mäß Art. 10 Grundgesetz. das Urteil von Karlsruhe allseits freundlich aufgenom- men wurde. Richtig ist, dass das Grundrecht auf Ge- währleistung der Vertraulichkeit und Integrität informa- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tionstechnischer Systeme durch die Entscheidung Frau Kollegin. geschaffen wurde, und das ist gut so. Das ist auch der Maßstab für die weitere Vorgehensweise. Gisela Piltz (FDP): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich komme sofort zum Schluss. – Wenn Freiheit im- mer mehr als Hindernis wahrgenommen wird, wenn sich Ich denke, wir sind da auf einem guten Wege. Dieses derjenige, der sich auf seine verfassungsrechtlich ver- Urteil schützt die Grundrechte der Bürgerinnen und Bür- bürgten Freiheitsrechte beruft, rechtfertigen muss, ver- ger, und es ist ausgesprochen praxisorientiert. Es schützt lieren die Grundrechte an Substanz. Das ist mit der FDP auf der einen Seite die Bürger vor unverhältnismäßigen nicht zu machen. Eingriffen des Staates in die Freiheitsrechte, und es er- möglicht auf der anderen Seite, dass der Staat seinerseits (Beifall bei der FDP) die Bürgerinnen und Bürger vor verbrecherischen An- griffen schützen kann, worauf die Bürger ebenfalls einen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Anspruch haben, was ich unterstreichen möchte. Nächster Redner ist der Kollege Fritz Rudolf Körper, Ich finde auch, dass wir ein Bundeskriminalamt brau- SPD-Fraktion. chen, das dem entspricht, was wir mit dem BKA-Gesetz Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15587

Fritz Rudolf Körper (A) konzipieren; denn der terroristischen Herausforderung Bürgerrechtsorganisationen und vielen anderen zu dis- (C) muss durch eine schlagkräftige Einrichtung wie das kutieren und zu evaluieren. Bundeskriminalamt, das in Gesamtdeutschland tätig ist, begegnet werden. Es ist längst erforderlich, dass wir ein (Beifall bei der LINKEN) solches Bundeskriminalamt mit diesen Kompetenzen be- Natürlich ist es eine politische Auseinandersetzung, kommen. die wir hier führen müssen. Die Linke sagt mit Blick auf das Urteil ganz klar: Nicht alles, was technisch und übri- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gens auch rechtlich möglich ist, muss gemacht werden. Deswegen werden wir die anstehenden Entscheidun- Das muss es mitnichten, wir müssen hier eine politische gen entlang der Maßgabeentscheidung von Karlsruhe Entscheidung treffen. treffen. Onlinedurchsuchungen sind nur bei tatsächli- (Beifall bei der LINKEN) chen Anhaltspunkten für eine konkrete Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut möglich. Ihre Anord- Die politische Entscheidung liegt darin, ob wir im Sinne nung unterliegt grundsätzlich dem Richtervorbehalt. Der von Wolfgang Schäuble und der Union den Weg in den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist präventiven Überwachungsstaat weitergehen wollen, der zu gewährleisten. Das sind ganz wichtige Vorgaben die- immer auch mit viel Angst in der Gesellschaft verbun- ser Karlsruher Entscheidung, die – dessen bin ich mir si- den ist und die Gesellschaft lähmt und verunsichert, oder cher – ihren Niederschlag finden werden. Auch halte ich ob wir weiter auf einen offenen, freiheitlichen, selbstbe- es für wichtig, dass die Karlsruher Entscheidung ein so- wussten und aufmüpfigen sozialen Rechtsstaat setzen genanntes zweistufiges Schutzkonzept vorsieht, was die wollen. Diese Frage muss hier politisch entschieden Datenerhebung und -weitergabe anbelangt. Es war gut, werden. Ich kann der SPD nur raten, sich eher uns anzu- dass wir diese Entscheidung abgewartet haben. Dies schließen. In Hessen haben Sie gezeigt, dass Sie zu Um- wird uns die Gesetzesberatung erleichtern. Ich bin si- kehr und Einsicht fähig sind. Das sollten Sie bei dieser cher, dass wir diese Baustelle BKA-Gesetz in relativer praktisch-inhaltlichen Frage endlich einmal nachvollzie- Zügigkeit zu Ende bringen. hen. Herzlichen Dank. Drittens. Ich komme noch einmal zum Kern dessen, worum es bei der Onlinedurchsuchung geht. Darüber ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nun viel geschrieben worden, und man muss sich überle- gen, was das bedeutet. Über jeden Menschen, der einen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Laptop oder einen privaten PC hat, kann man bei einer Onlinedurchsuchung wirklich fast alles erfahren: von (B) Ich gebe das Wort dem Kollegen Jan Korte, Fraktion (D) Die Linke. Liebesbriefen über Fotos bis hin zu Steuererklärungen usw. Weil man alles erfährt, ist der Eingriff in dieses (Beifall bei der LINKEN) Grundrecht der digitalen Intimsphäre so schlimm. Nun kommt das Entscheidende, weshalb wir sagen, Jan Korte (DIE LINKE): dass wir die Onlinedurchsuchung überhaupt nicht brau- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und chen. Als Linke haben wir eine sehr kluge Kleine An- Kollegen! Zumindest nach dieser Aktuellen Stunde ist frage an die Bundesregierung gestellt, die überraschen- eines geklärt – deswegen hat sie sich auch gelohnt –: Die derweise auch sehr klug geantwortet hat. Wir wollten SPD ist in der Frage der Onlinedurchsuchung umgefal- von der Bundesregierung wissen, Herr Staatssekretär, ob len. Das ist nach Ihren Ausführungen jetzt klar; Sie wer- es zu Onlinedurchsuchungen keine Alternative gibt, ob den diesen weiteren Grundrechtseingriff mittragen. man sie also unbedingt braucht, um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu gewinnen. Ich zitiere Nun zu dem Urteil: Erstens. Das Bundesverfassungs- jetzt aus der Antwort – ich finde sie sehr richtig; wir un- gericht hat wieder einmal einer schrankenlosen Law- terstützen sie ausdrücklich –: and-Order-Politik Einhalt geboten. Beim letzten Mal – das muss man der Fairness halber auch sagen – war es Im Zuge von Online-Durchsuchungen können re- das rot-grüne Luftsicherheitsgesetz, das die Grünen mit- gelmäßig dieselben Erkenntnisse gewonnen werden getragen haben. Das darf man auch nicht ganz außen vor wie durch „offene“ Durchsuchungen und die Aus- lassen. wertung sichergestellter Computerdateien. Zweitens. Wir begrüßen, dass ein Grundrecht – ich (Beifall bei der LINKEN) übersetze es – auf digitale Intimsphäre geschaffen Das sagen Sie. Es ist ganz einfach: Wir müssen darauf wurde, das es künftig zu beachten gilt. Dies unterstützen verzichten. wir Linken ausdrücklich. Dieses Urteil zeigt – das ist das Entscheidende, und deshalb müssen wir hier auch da- Wir sollten das zum Anlass nehmen, einen grundsätz- rüber diskutieren –, dass es jetzt an der Zeit ist, in sich zu lichen Richtungswechsel in der Innenpolitik vorzuneh- gehen. Mehr noch, nach diesem Urteil wäre es eigentlich men. Ich glaube, das ist auch politisch geboten. Kollege sinnvoll, ein Moratorium zu beschließen und sämtliche Wieland hat Richtiges zum Referentenentwurf des Schäuble’schen Sicherheitsvorstellungen, die hier auf BKA-Gesetzes gesagt: Wir brauchen mitnichten ein dem Tisch liegen und in jeder Woche neu ins Parlament deutsches FBI; wir sollten weiter auf eine föderale gebracht werden, erst einmal auf Eis zu legen und mit Struktur setzen – das ist eine wichtige Erfahrung aus der 15588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Jan Korte (A) Geschichte –, um keine Zentralisierung von Geheim- spitzlippig. Manche waren schlicht verlogen. Wir Grü- (C) dienst- und Polizeikompetenzen zuzulassen. nen sagen an dieser Stelle aus vollem Herzen und innerer Überzeugung Dank nach Karlsruhe für diese Entschei- (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Sie haben keine dung und für dieses neue Grundrecht. Ahnung!) Ich will die entscheidenden Sätze in Erinnerung ru- Die föderale Struktur sollten wir nicht aufgeben. fen: Die moderne Informationstechnik und die weltweite (Beifall bei der LINKEN) Vernetzung von auf dieser Technik aufbauenden Infor- mationssystemen begründen für den Einzelnen neue Angesichts der Debatten in der Bevölkerung ist es Persönlichkeitsgefährdungen. Jeder Mensch ist darauf wichtig, auch einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass of- angewiesen, dass der Staat seine ungehinderte Persön- fensichtlich nicht nur die Linke und das Bundesverfas- lichkeitsentfaltung gewährleistet, hier die Vertraulichkeit sungsgericht, sondern in zunehmendem Maße auch die und Integrität der zur Persönlichkeitsentfaltung genutz- Bevölkerung einfach keinen Bock mehr haben auf die ten informationstechnischen Systeme. ständigen Überwachungsmaßnahmen, die uns hier jede Woche vorgelegt werden. Diese Maßnahmen bringen Sowohl der Schutz des Telekommunikationsgeheim- weniger Sicherheit. Wir brauchen sie nicht, wie die Bun- nisses als auch der Schutz der Wohnung, des informatio- desregierung selber sagt. Deswegen ist es jetzt wirklich nellen Selbstbestimmungsrechts und des allgemeinen an der Zeit, hier eine Umkehr vorzunehmen, einfach ein- Persönlichkeitsrechts hinterlassen auf diesem Gebiet mal in sich zu gehen und in diesem Falle vielleicht wirk- Schutzlücken, und diese Schutzlücken werden durch das lich mehr und nicht weniger Freiheit zu wagen. Das hat neue Grundrecht nunmehr geschlossen. immerhin die Bundeskanzlerin hier großspurig angekün- digt und das könnte man wirklich einmal umsetzen. Das Grundrecht gilt nicht schrankenlos. Für den Prä- ventivbereich hat das Bundesverfassungsgericht höchste Schönen Dank für die unfreundliche Aufmerksam- Grenzen festgelegt. Zum Repressivbereich hat sich das keit. Bundesverfassungsgericht nicht geäußert. Die Grenzen dürften wegen der bereits realisierten Gefahr aber sicher- (Beifall bei der LINKEN) lich noch höher zu ziehen sein. Ein effektiver absoluter Kernbereichsschutz und ein umfassender Richtervorbe- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: halt sind für das Bundesverfassungsgericht die Mindest- Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol- voraussetzungen, die einzuhalten sind. lege Jerzy Montag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht fest- gestellt, dass die Fragen, ob Onlinedurchsuchung und (B) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) Onlineüberwachung geeignete und erforderliche Mittel Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber sind, vom Gesetzgeber zu beurteilen und zu entscheiden Kollege Bosbach, lieber Kollege Körper, Ihr Versuch, sind. Damit ist der Bundestag am Zug. hier in Ihren beiden Beiträgen Einigkeit vorzugaukeln, ist unwahr, durchsichtig und lächerlich. Wir Grüne sagen zu dieser Frage ganz deutlich: Bis- her ist von den Sicherheitsbehörden nichts Konkretes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgetragen worden, das den Einsatz über den Bereich und bei der FDP) der Internettelefonie hinaus als unabweisbar notwendig Jeder in der Republik weiß von den tiefen Zerwürfnissen erscheinen lassen würde. In der Abwägung zwischen un- zwischen dem Justizministerium und dem Innenministe- konkreten, zum Teil herbeifabulierten möglichen abzu- rium in dieser Frage. wehrenden Gefahren oder Fahndungserfolgen und dem essenziellen erheblichen Grundrechteschaden nicht nur (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nur wir für einzelne Betroffene, sondern potenziell für alle Nut- nicht!) zer des neuen informationstechnischen Systems ent- Sie haben es tatsächlich geschafft, dies hier unter dem scheiden wir uns heute gegen den Einsatz von Trojanern, Deckel zu halten, indem Sie Ihren Kolleginnen und Kol- Schadsoftware und Firewall-Überwindungsprogram- legen den Mund verboten haben. men in der Hand des Staates. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) Es ist ein einmaliger und parlamentarisch erbärmlicher Vorgang, dass Sie auf Ihre Redebeiträge verzichten und Meine Damen und Herrn, wie wird es weitergehen? aus einer Aktuellen Stunde eine halbe machen. In der taz lesen wir: Schäuble hat das bekommen, was er wollte. Er muss seinen Gesetzentwurf nicht umschrei- Das Bundesverfassungsgericht hat am 27. Februar ben. – Prantl schreibt in der Süddeutschen: Schäuble 2008 den Bürgern ein großes Geschenk gemacht. Wir wird sein geplantes Onlinedurchsuchungsrecht ganz neu alle haben ein neues Grundrecht erhalten. Das letzte Mal fassen müssen. – Die bedächtigen und richtigen Worte geschah dies vor 25 Jahren. Dieses Grundrecht lautet: der Justizministerin Zypries in allen Ehren – nach den Die Vertraulichkeit und Integrität des informationstech- Erklärungen von Bosbach, Uhl und anderen erwarten nischen Systems jedes Menschen wird gewährleistet. wir von der Union einen brutalstmöglichen Angriff auf Nach der Urteilsverkündung hörten wir manche Bei- das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und auf das fallsbekundungen. Manche klangen arg gekünstelt und neue Grundrecht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15589

Jerzy Montag (A) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Mäßigung!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, (C) Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Ab- Für die CSU meldet sich schon Frau Merk aus Bayern geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE und will die Onlinedurchsuchung zur Verfolgung der GRÜNEN Kinderpornografie einsetzen. Das wird zu einer Aufblä- hung wie im Fall des § 100 a StPO führen. Jugendfreiwilligendienste ausbauen und Ge- samtkonzeption entwickeln Es stimmt uns sehr nachdenklich, dass BKA-Chef Ziercke erklärt, die öffentliche Debatte über die Online- – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- durchsuchung müsse jetzt ein Ende haben. Dies kommt rung für uns Grüne überhaupt nicht infrage. Bericht der Bundesregierung zu Prüfaufträ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen zur Zukunft der Freiwilligendienste, Ausbau der Jugendfreiwilligendienste und Wir wollen die Onlinedurchsuchung nicht. Wir werden der generationsübergreifenden Freiwilligen- darüber reden, besonders in diesem Parlament. dienste als zivilgesellschaftlicher Generatio- nenvertrag für Deutschland Die Debatte ist jetzt eröffnet. – Drucksachen 16/6769, 16/6771, 16/6145, ( [CDU/CSU]: Beendet!) 16/8256 – Wir warten auf Ihren Gesetzentwurf. Wir versprechen Berichterstattung: Ihnen: Wir werden Sie an dem Urteil des Bundesverfas- Abgeordnete Markus Grübel sungsgerichts zu messen wissen. Sönke Rix Sibylle Laurischk Danke. Elke Reinke (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kai Gehring und bei der FDP – Rüdiger Veit [SPD]: Nichts Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Förde- dagegen!) rung von Jugendfreiwilligendiensten liegt je ein Ent- schließungsantrag der Fraktion der FDP und der Frak- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tion Die Linke vor. Die Aktuelle Stunde ist beendet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich (B) GRÜNEN]: Eine halbe Stunde war das!) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (D) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU-Fraktion. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Beifall bei der CDU/CSU) zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten Markus Grübel (CDU/CSU): – Drucksachen 16/6519, 16/6967 – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Wir haben in der letzten Zeit viel über junge Menschen ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Deutschland gesprochen, die uns Sorgen machen. Ich (13. Ausschuss) denke zum Beispiel an die unsäglichen Vorfälle in der Münchner U-Bahn. – Drucksache 16/8256 – Heute haben wir andere junge Menschen im Blick: Berichterstattung: junge Menschen, die zupacken anstatt zuzuschlagen, Abgeordnete Markus Grübel junge Idealisten, junge Frauen und junge Männer, die Sönke Rix ihre Zeit für andere Menschen und für das Gemeinwohl Sibylle Laurischk einsetzen. Dies tun sie im Freiwilligen Sozialen Jahr, im Elke Reinke Freiwilligen Ökologischen Jahr und in den verschiedens- Kai Gehring ten Freiwilligendiensten im Ausland. Die Koalition aus CDU/CSU und SPD hat sich auf die Fahnen geschrie- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ben, das bürgerschaftliche Engagement in Deutschland richts des Ausschusses für Familie, Senioren, und dessen Rahmenbedingungen zu verbessern. Jugend- Frauen und Jugend (13. Ausschuss) freiwilligendienste sind eine ganz besondere Form von – zu dem Antrag der Abgeordneten Hellmut bürgerschaftlichem Engagement. Königshaus, Dr. Karl Addicks, Sibylle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Laurischk, weiterer Abgeordneter und der neten der FDP) Fraktion der FDP Jedes Jahr leisten fast 30 000 junge Menschen einen Jugendfreiwilligendienste in einen gemeinsa- Freiwilligendienst. Freiwilligendienste in der Jugend er- men Gesetzesrahmen zusammenfassen möglichen neue Lernerfahrungen, geben Orientierung 15590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Markus Grübel (A) bei der persönlichen Berufswahl und vermitteln wichtige zestext waren noch die Begriffe „freiwilliger sozialer (C) fachliche, soziale und interkulturelle Fähigkeiten. Sie Dienst“ und „freiwilliger ökologischer Dienst“ vorgese- stärken die Selbstständigkeit, das Selbstbewusstsein und hen. Die eingeführten Namen bleiben nun erhalten. auch das Verantwortungsbewusstsein von jungen Men- Beide Begriffe sind in der Gesellschaft, insbesondere bei schen. Durch die Verknüpfung von Bildung und Über- jungen Leuten, sehr positiv belegt und haben einen ho- nahme konkreter Verantwortung sind sie seit vielen Jahr- hen Wiedererkennungswert. Wir hätten auch nicht die zehnten ein wichtiges Bindeglied zwischen Schule und Werbemittel wie zum Beispiel Eon, um einen neuen Na- Beruf sowie Schule und Studium. men bekannt zu machen. Selbst wenn wir sie hätten, würden wir sie sinnvoller einsetzen. Die in der breiten ( [CDU/CSU]: Sehr Öffentlichkeit bekannten Abkürzungen FSJler oder FÖJ- richtig!) ler bleiben also erhalten; sie haben sich, wie gesagt, be- Aus diesem Grund werden das Freiwillige Soziale währt. „Ich bin FSJler“, ist kurz und prägnant. Demge- Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr vom Staat ge- genüber klingt der Satz: „Ich leiste einen freiwilligen fördert. Wir haben seit 2006 die Haushaltsmittel für die sozialen Dienst, der ein Jahr dauert“, doch etwas um- Freiwilligendienste erhöht: von rund 16,2 Millionen ständlich und kommt der Jugend nicht so leicht über die Euro auf 20,2 Millionen Euro. Lippen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Weiterhin möchte ich darauf hinweisen, dass der Dienst zeitlich flexibilisiert wird. Der Regeldienst be- Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden die trägt, wie schon die Namen Freiwilliges Soziales Jahr Rahmenbedingungen für Jugendfreiwilligendienste wei- bzw. Freiwilliges Ökologisches Jahr sagen, zwölf Mo- ter verbessert. Der Gesetzentwurf greift damit auch eine nate. Er kann um bis zu sechs Monate auf achtzehn Mo- zentrale Forderung des vom 15. Deutschen Bundestag nate verlängert werden. Er kann auch kürzer sein, die fraktionsübergreifend beschlossenen Antrages „Zukunft Minimaldauer beträgt sechs Monate. Er kann dabei in der Freiwilligendienste“ auf. Drei-Monats-Abschnitten aufgeteilt und mit Abständen Der vorliegende Gesetzentwurf fasst die zwei beste- geleistet werden. Wenn ein besonderes pädagogisches henden Gesetze über das Freiwillige Soziale Jahr sowie Konzept vorliegt, kann der Dienst auf maximal über das Freiwillige Ökologische Jahr zusammen, behält 24 Monate verlängert werden. Allerdings wird im Ge- aber die guten Grundsätze der seitherigen Gesetze. Es setzentwurf klargestellt, dass der Träger darüber ent- gilt also: Aus zwei mach eins. scheidet, ob er solche Möglichkeiten anbietet, da nicht bei jedem Freiwilligendienst ein kurzer sechsmonatiger Außerdem hebt der Gesetzentwurf hervor, dass Dienst sinnvoll ist. (B) Jugendfreiwilligendienste an Lernzielen orientierte (D) Dienste sind und streicht damit den Bildungscharakter Das Gesetz soll nun zum 1. Juni 2008 in Kraft treten. der Dienste stärker als bisher heraus. Wir haben aber entsprechend sichergestellt, dass Altver- träge nicht nachträglich die Rechtsgrundlage verlieren. Weiterhin wird die Möglichkeit eröffnet, einen kom- So ist die Berücksichtigung des Kindergeldanspruchs in- binierten Jugendfreiwilligendienst im In- und Ausland nerhalb des Programms „weltwärts“ ab dem 1. Januar abzuleisten. Gerade an einem kombinierten Jugendfrei- 2008 gewährleistet. willigendienst im In- und Ausland sind junge Menschen ganz besonders interessiert. Ich nehme an, dass sich auch Vor dem Hintergrund unseres Nationalen Integra- die Trägerlandschaft auf diese neue Möglichkeit einstel- tionsplans wollen wir, dass mehr Jugendliche mit Migra- len wird. So erhalten junge Menschen, die zum Beispiel tionshintergrund und mehr benachteiligte Jugendliche im Inland mit betreuungsbedürftigen Menschen bzw. mit einen Jugendfreiwilligendienst leisten. Ich möchte aber pflegebedürftigen älteren Menschen arbeiten, die bei den Begrifflichkeiten zur Vorsicht mahnen: Nicht je- Chance, eine ähnliche Arbeit im Ausland unter ganz an- der Jugendliche mit Migrationshintergrund ist ein be- deren Bedingungen zu verrichten und gleichzeitig ihre nachteiligter Jugendlicher. Wir definieren ja häufig auch Sprachkenntnisse zu verbessern und eine andere Kultur Hauptschüler als benachteiligte Jugendliche, aber nicht kennenzulernen. So kann man am Ende auch gute Ver- jeder Hauptschüler ist ein benachteiligter Jugendlicher. gleiche zwischen dem, wie etwas in Deutschland ge- Hier wäre es schwer, andere Begrifflichkeiten zu finden. macht wird, und dem, wie etwas im Ausland gemacht Unser Ziel ist nun, dass diese Gruppe, die unterdurch- wird, ziehen. schnittlich bei Jugendfreiwilligendiensten vertreten ist, stärker dafür gewonnen wird und sich mehr daran betei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ligt. Wir müssen allerdings sehen, dass hier der Zahl neten der SPD) Grenzen gesetzt sind, weil problematische Jugendliche Schließlich eröffnet das Gesetz einen gangbaren Weg, häufig auch einen erhöhten Betreuungsbedarf für Träger um die Umsatzbesteuerung von Jugendfreiwilligen- und Einsatzstelle nach sich ziehen. Hier stößt man diensten zu vermeiden. schnell an Grenzen. Deshalb muss das Verhältnis stim- men. Im Rahmen der Beratungen hier im Bundestag wur- den am Gesetzentwurf noch Änderungen vorgenommen. Wir wollen auch, dass sich Migrantenorganisationen Exemplarisch möchte ich auf die Markennamen FSJ und stärker als Träger oder als Einsatzstellen am Jugendfrei- FÖJ, also Freiwilliges Soziales Jahr und Freiwilliges willigendienst beteiligen. Dazu bringen wir einen Ent- Ökologisches Jahr, eingehen. Im ursprünglichen Geset- schließungsantrag ein. Ich hoffe, dass dieser Entschlie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15591

Markus Grübel (A) ßungsantrag mit den Stimmen aller Fraktionen des anderen Ministerien. Daher ist festzustellen: Mit dem (C) Deutschen Bundestages beschlossen wird. vorgelegten Gesetzentwurf wird die Anzahl der Plätze bei den Jugendfreiwilligendiensten FSJ und FÖJ nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- erhöht. Durch die Reduzierung des Gesetzes auf Re- neten der SPD) gelungen im Bereich FSJ und FÖJ werden die sozial- Fragen zur Umsatzsteuer waren ein Auslöser für die- und sozialversicherungsrechtlichen Widersprüchlichkei- ses Gesetz. Seit mehreren Jahren drohen den Trägern ten bei den Jugendfreiwilligendiensten sogar noch ver- Umsatzsteuernachforderungen. Für kleine Träger könn- schärft. Von einer Umsetzung des gemeinsamen früheren ten diese Forderungen für zurückliegende Zeiten erhebli- Antrages kann also keine Rede sein. che Probleme bedeuten und existenzbedrohend sein. Seit mehreren Jahren vertreten das Bundesfinanzministerium (Zuruf von der FDP: So ist es!) und die Länderfinanzverwaltungen die Auffassung, dass Sie wissen, dass es die FDP jugendpolitisch für nicht zwischen Träger und Einsatzstelle ein umsatzsteuer- hinnehmbar hält, dass es einen Rentenversicherungs- rechtliches Leistungsaustauschverhältnis begründet wird anspruch für Teilnehmer des FSJ gibt, aber nicht für mit der Konsequenz, dass eine Umsatzsteuer in Höhe „weltwärts“-Teilnehmer. „Weltwärts“ ist der vom Ent- von 19 Prozent anfällt. Ausgangspunkt der Debatte war wicklungshilfeministerium quasi aus dem Zylinder ge- Baden-Württemberg. Dort hatte das Deutsche Rote zauberte neue internationale Freiwilligendienst. Die Kreuz eine Umsatzsteuerprüfung gehabt. Die Finanzver- SPD-Ministerin Wieczorek-Zeul und ihre Parlamentari- waltung war der Meinung, dass umsatzsteuerpflichtige sche Staatssekretärin, Frau Karin Kortmann, stemmen Vorgänge vorliegen. Im Prinzip kann man diese Thema- sich mit allen Mitteln dagegen, den „weltwärts“-Teilneh- tik mit der Überlassung von Arbeitskräften durch Zeitar- mern die gleichen Rechte wie den FSJ-Teilnehmern zu beitsfirmen vergleichen. Wir waren uns aber hier im gewähren. Das ist eine etwas eigenartige Auffassung Bundestag fraktionsübergreifend einig, dass die Jugend- von Gerechtigkeit, die ich mir eigentlich nur mit den freiwilligendienste grundsätzlich nicht umsatzsteuer- derzeitigen Diskussionen in Hessen erklären kann. pflichtig sein sollen. Im Gesetz haben wir einen Weg ge- funden, der das Problem weitgehend beseitigt. „Weltwärts“ ist ein Novum, da die Teilnahme bis zu zwei Jahren dauern kann und dies sozialversicherungs- Abschließend danke ich allen jungen Menschen, die rechtlich eine massive Schlechterstellung gegenüber an- freiwillig für andere einen Dienst tun. Junge Menschen deren Freiwilligendiensten bedeutet. Man bedenke, dass leisten dadurch einen wichtigen Beitrag für unsere Ge- die Bundesregierung das Renteneintrittsalter gerade um sellschaft und profitieren auch selbst davon. zwei Jahre mit der Begründung angehoben hat, dass die Herzlichen Dank. bisherige Einzahlungsdauer in die Rentenversicherung (B) nicht mehr ausreiche, und nun jungen Menschen bei (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) „weltwärts“ Beitragszahlungen verweigert. Weiterhin re- gelt das Gesetz zwar den Kindergeldanspruch für den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Teilnehmerkreis des „weltwärts“-Programms, aber nicht Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk, für den sogenannten Anderen Dienst im Ausland. Das ist FDP-Fraktion. deshalb besonders unverständlich, da das „weltwärts“- Programm auf den Bestimmungen des Anderen Dienstes (Beifall bei der FDP) im Ausland aufbaut.

Sibylle Laurischk (FDP): (Zuruf von der FDP: Genau!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Beides sind sogenannte ungeregelte Dienste. Der ADiA, Herren! Dem Dank an die Jugendlichen, die einen Frei- der Andere Dienst im Ausland, fällt direkt in den Rege- willigendienst leisten, können wir uns uneingeschränkt lungsbereich des Familienministeriums. anschließen. Bereits in der vergangenen Legislatur- periode haben wir ja einen fraktionsübergreifenden An- Folgendes ist daher eine Fußnote zum anstehenden trag vorgelegt und darin unsere besondere Wertschät- Weltfrauentag: Das Bundesamt für Finanzen hat als vor- zung für die Jugendfreiwilligendienste zum Ausdruck gesetzte Dienststelle im November 2006 eine Weisung gebracht. zu § 34 Einkommensteuergesetz erlassen, wonach kein Kindergeld mehr an Eltern von jungen Frauen gezahlt (Beifall bei der FDP) wird, die den Anderen Dienst im Ausland ausüben, wäh- Die Koalition behauptet, in dem vorgelegten Gesetz- rend Eltern von jungen Männern, die diesen Dienst nach entwurf den gesamten Antrag aus der letzten Legislatur- einer anerkannten Kriegsdienstverweigerung gemäß periode umzusetzen. Das stimmt leider nicht, da frak- § 14 b ZDG ausüben, weiterhin Kindergeld bekommen. tionsübergreifend das Hauptanliegen des damaligen (Dr. [FDP]: Das kann ja wohl Antrags der quantitative Ausbau der Jugendfreiwilligen- nicht wahr sein!) dienste war. Damit war der Ausbau der bestehenden Dienste gemeint. Nun erleben wir beim Ausbau von FSJ Die Konsequenz bei den betroffenen Eltern ist nicht nur und FÖJ eine Stagnation, obwohl noch immer wesent- der Wegfall des Kindergeldes, sondern der Wegfall aller lich mehr Jugendliche dieses Angebot nachfragen, als Leistungen, die direkt an den Kindergeldbezug anknüp- Plätze vorhanden sind. Gleichzeitig erfolgt die explo- fen. Beispielsweise bekommen Beschäftigte des öffentli- sionsartige Bereitstellung von Freiwilligendiensten in chen Dienstes keine Erhöhung des Ortszuschlags mehr. 15592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Sibylle Laurischk (A) Eltern, die das sogenannte Baukindergeld beziehen, wird stellen können, nämlich dass es – ich sage es etwas naiv – (C) dies mit dem Wegfall des Kindergelds unter Umständen einen Ausnahmetatbestand gibt. Das geht aber wohl aus gestrichen. finanzrechtlichen Gründen nicht. Von daher bin ich froh, von den Trägerinnen und Trägern die Rückmeldung be- Nach dem neuen Gesetz ist es nun so: Eltern von kommen zu haben: Schön ist das nicht; wir tragen diese „weltwärts“-Teilnehmern und anerkannten Wehrdienst- Situation aber, so wie sie ist, mit, weil uns nichts anderes verweigerern, die an einem Anderen Dienst im Ausland übrig bleibt; denn wir wollen die Erhebung der Umsatz- teilnehmen, bekommen Kindergeld. Eltern junger steuer bei den Freiwilligendiensten vermeiden. Frauen, die an einem Anderen Dienst im Ausland teil- nehmen, und Eltern allgemeiner Zivildienstverweigerer (Sibylle Laurischk [FDP]: Das Problem ist bekommen kein Kindergeld. nicht gelöst!) Ich finde, das ist eine Gesetzgebung, die inhaltlich Ich gehe davon aus, dass sich die Länder an diese Ab- nicht mehr nachvollziehbar ist. Sie können sehen, dass sprachen halten werden und nicht hinterher die Umsatz- die Zusammenlegung des FSJ- und des FÖJ-Förderungs- steuer einfordern werden. gesetzes Stückwerk bleibt, da alle anderen Jugendfreiwil- ligendienste nicht mit in die Gesetzesvorlage einbezogen Aber was wir in diesem Gesetz besonders geregelt ha- werden. Es ist sehr fragwürdig, dass das Programm ben, ist die Flexibilisierung der Dienste insgesamt. Wir „weltwärts“, das mit 70 Millionen Euro subventioniert sind von Folgendem ausgegangen: Die Situation der jun- wird, damit weiterhin keine Gesetzesgrundlage hat, ob- gen Menschen hat sich verändert. Sie hat sich insofern wohl das vorliegende Gesetz die Möglichkeit bot, alle verändert, als es klassischerweise nicht mehr so ist: Jugendfreiwilligendienste in einem gemeinsamen Rah- Nach der Schulzeit habe ich ein komplettes Jahr zur Ver- men zu vereinheitlichen. fügung, um vielleicht ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges Ökologisches Jahr zu absolvieren. Nein, Zum Stichwort „Umsatzsteuer“ kann ich nur sagen: es ist so, dass die jungen Menschen durchaus andere Der Bundesrat hat in seinem Beschluss vom 12. Oktober Zeitperspektiven haben. Von daher begrüße ich es aus- 2007 die Bundesregierung aufgefordert – er hat das be- drücklich, dass wir zeitliche Flexibilisierungen in diesen stehende Problem, das sich aus den bekannten Fristgrün- Gesetzentwurf mit aufgenommen haben. Aber wir haben den ergibt, sehr zutreffend erkannt –, den vorliegenden für die Trägerinnen und Träger zur besseren Planung Gesetzentwurf zurückzuziehen und zeitnah einen neuen auch klargestellt, dass es hierbei gewisse Regeln gibt Gesetzentwurf vorzulegen, der sich auf die Lösung der und damit diese zeitliche Flexibilisierung nur in Ausnah- Umsatzsteuerproblematik beschränkt. mefällen möglich ist. Wie aus dem Entschließungsantrag der FDP-Fraktion (B) (D) ersichtlich, wünscht sich die FDP-Fraktion eine Rah- Was sind das für Ausnahmefälle? Schauen wir uns mengesetzgebung, die die gesamten Bedingungen der einmal an, wer klassischerweise ein Freiwilliges So- Jugendfreiwilligendienste unabhängig vom sich jeweils ziales Jahr macht. Ich will niemandem zu nahe treten, für zuständig erklärenden Ministerium regelt. Mit dem aber häufig sind es junge Mädchen, die gerade ihr Abitur hier vorgelegten Gesetzentwurf können wir unter diesen gemacht haben, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absol- Voraussetzungen nicht einverstanden sein. Wir werden vieren. Wir wollen aber auch andere ansprechen, näm- es ablehnen und uns bei der Abstimmung über die vom lich die jungen Männer und Frauen, die keinen hohen, Ausschuss empfohlene Entschließung der Koalition ent- vielleicht sogar gar keinen Schulabschluss haben und halten. Probleme haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Um diese Jugendlichen besser ansprechen zu können, ist die (Beifall bei der FDP) zeitliche Flexibilisierung erforderlich. Deshalb begrüße ich sie außerordentlich. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist zu betonen, dass wir uns nach der Anhörung Nächster Redner ist der Kollege Sönke Rix, SPD- schnell darauf geeinigt haben – Herr Grübel hat das be- Fraktion. reits angesprochen –, die klassischen Markennahmen (Beifall bei der SPD) „Freiwilliges Soziales Jahr“ und „Freiwilliges Ökologi- sches Jahr“ beizubehalten. Warum soll man gute Namen Sönke Rix (SPD): für gute Modelle beiseiteschieben? Wir wollen sie beibe- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! halten, nicht nur, weil sie gut klingen – „Ich bin FSJ- Nun kann man nach dem Beitrag der FDP annehmen, ler!“ oder „Ich bin FÖJ-ler!“ –, sondern auch, weil man der vorliegende Gesetzentwurf sei das Schlechteste vom Erfolgsnamen – das weiß man aus der Werbung und aus Schlechtesten. anderen Bereichen – nicht ändern sollte. Wir lassen diese Erfolgsnamen natürlich bestehen. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So kann man es sagen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Aber dem ist nicht so. Wir haben in dieser Vorlage meh- rere Punkte aus den Debatten der vergangenen Zeit auf- Wir haben auch die Struktur verändert. Die Kombina- gegriffen, aber auch etwas ganz Konkretes – Sie haben tion von In- und Auslandsdiensten und die Kombination es zum Schluss Ihrer Rede angesprochen –, die Umsatz- verschiedener Einsatzstellen sind jetzt möglich. So kann steuerregelung. Auch ich hätte mir etwas anderes vor- man ein paar Monate lang etwas für seinen Bildungsab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15593

Sönke Rix (A) schluss tun und dann wieder ein paar Monate bei dem hat ein Nachwuchsproblem. Die Linke befürchtet, dass (C) Träger arbeiten. Auch diese Flexibilisierung war nötig. diese Lücke nun mit jungen Freiwilligen gefüllt wird. So wollen wir Freiwilligendienste nicht verstanden wissen. Die Kritik der FDP, dass das Gesetz nicht alle Dienste Jugendliche brauchen neben dem Ehrenamt betriebliche einbindet, teile ich nicht. Wir haben ein Freiwilligen- Ausbildungsplätze und gebührenfreie Studienplätze. dienstgesetz. Das ist das Fundament. Auf dieser Basis können sämtliche Freiwilligendienste einbezogen wer- (Beifall bei der LINKEN) den. Für uns ist wichtig, dass die Regeldauer zwölf Mo- (Sibylle Laurischk [FDP]: Es hätte mehr sein nate beträgt und nur unter ganz bestimmten Vorausset- können!) zungen verkürzt oder verlängert werden kann. Dass eine Sehen wir darin doch eine Chance. Wir haben endlich Dauer von 24 Monaten möglich sein soll, halte ich für die Möglichkeit, FSJ, FÖJ und andere Programme ge- keine gute Idee. Bei solch langen Dienstzeiten wächst setzlich klar zu regeln. Ich hoffe, dass wir das auch für die Gefahr, dass Freiwillige als billige Arbeitskräfte zum die anderen Dienste regeln können. Einsatz kommen. Es ist unsere Aufgabe, das bürgerschaftliche Engage- Völlig überflüssig finde ich, dass in Art. 1 eingefügt ment insgesamt zu stärken, vor allem aber das Engage- wird: Freiwilligendienste fördern die Bildungsfähigkeit ment von jungen Leuten. Wir wissen, dass das nicht im- der Jugendlichen. Waren die Absolventinnen und Absol- mer ganz einfach ist. venten von Freiwilligendiensten bisher etwa bildungs- unfähig? Die Jugendfreiwilligendienste sollen bilden, Sie haben behauptet, dass ein Ausbau nicht mehr nicht nur bildungsfähig machen. Selbst wenn der vorlie- stattfinde. Das ist nicht richtig. Wir haben die Haushalts- gende Gesetzentwurf nur ein Rahmengesetz sein soll, mittel für diese Programme im letzten Jahr und in den vermissen wir deutliche qualitative Verbesserungen. Jahren zuvor erhöht. Die Initiative ging von der SPD- Fraktion aus. Ich bin mir sicher, dass die Haushaltsmittel Aus diesem Grund hat meine Fraktion einen Ent- für diese Programme auch in den nächsten Jahren erhöht schließungsantrag vorgelegt, der die zentralen Forderun- werden, sodass auch weiterhin ein quantitativer Ausbau gen der Linken zusammenfasst. Ich möchte auf drei Be- stattfindet, was unser aller Anliegen ist. Sie können si- reiche eingehen. cher sein, dass wir im Rahmen der Haushaltsberatungen ein entsprechendes Zeichen setzen werden. Zunächst zur sozialen Absicherung der Jugendlichen: Wir wollen, dass alle Jugendlichen, die sich für einen Ju- Herzlichen Dank. gendfreiwilligendienst interessieren, diese Möglichkeit (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nutzen können. Aber dazu ist das durchschnittliche Ta- (D) der CDU/CSU) schengeld einfach nicht ausreichend. Es ist sehr zu be- dauern, dass Sie die Kritik der ehemaligen Freiwilligen nicht berücksichtigen, die in der Studie zum FSJ und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: FÖJ veröffentlicht wurde. Nach fast 20 Jahren deutscher Ich gebe das Wort der Kollegin Elke Reinke, Fraktion Einheit ist es ebenso unverständlich, dass die maximale Die Linke. Taschengeldhöhe im Osten niedriger ist als im Westen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Elke Reinke (DIE LINKE): Erklären Sie doch einmal einem Jugendlichen aus Mag- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! deburg, warum er als Taschengeld nur 270 Euro bekom- Werte Gäste! Wir beraten heute abschließend das Gesetz men kann, aber ein junger Mensch aus Fulda 318 Euro. zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten. Wir alle Hier hätten Sie wieder einmal eine Gelegenheit gehabt, wissen, wie wichtig diese Dienste für junge Menschen eine Ost-West-Angleichung herzustellen. Herr Dr. Kues, sind. Sie haben aber die Chance vertan, diese Dienste so- Sie hatten ausgeführt, es sei eine gefühlte Differenz. zial gerechter auszugestalten. Aber 48 Euro sind sehr real. Weiterhin fehlt eine umfas- sende Sozialversicherungspflicht für alle Jugendfreiwil- Selbst für die Regelung der Umsatzsteuer, die wesent- ligendienste. licher Anlass für den Gesetzentwurf war, bieten Sie keine klare Lösung an. Erfreulich ist, dass wenigstens Ein weiterer Bereich ist die Mitbestimmung. Hier hät- ein paar Anregungen aus der Anhörung Eingang in den ten wir erwartet, dass gerade die Sozialdemokraten auf Gesetzentwurf gefunden haben. So war es richtig, die diesen Punkt besonderen Wert legen. In der Begründung bewährten Bezeichnungen „Freiwilliges Soziales Jahr“ zu § 10 des Gesetzentwurfes wird von keinem Arbeits- und „Freiwilliges Ökologisches Jahr“ beizubehalten und verhältnis im engeren Sinne ausgegangen. Es bleibt also beide Dienste in einem Gesetz zu verankern. Zweckmä- unklar, um welche Art von Arbeitsverhältnis es sich han- ßig wäre es aber, auch kommende Freiwilligendienste delt und welche Rechte die jungen Menschen haben. besser zu koordinieren und in einem einheitlichen Regel- werk zusammenzufassen. (Sönke Rix [SPD]: Freiwilligendienste!) Ich komme kurz auf das im Rahmen des Freiwilligen Diese Klausel ist ein Einfallstor und bedeutet übersetzt: Sozialen Jahres geplante Einsatzfeld „Zivil- und Kata- Es gelten keine Mitbestimmungsrechte nach dem Be- strophenschutz“ zu sprechen: Das Technische Hilfswerk triebsverfassungsgesetz. Die Linke fordert genau diese 15594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Elke Reinke (A) Mitbestimmungsrechte für die Jugendlichen. Uns ist das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) wichtig. Das großkoalitionäre Gesetz muss sich daran messen (Beifall bei der LINKEN) lassen, ob für diese Jugendlichen bessere Bedingungen geschaffen werden und ob der fraktionsübergreifende Diesen Punkt vergessen auch die Grünen in ihrem An- Beschluss aus der letzten Legislaturperiode umgesetzt trag. Bei der FDP muss man erst gar nicht danach su- wird. Hierbei enttäuscht die Große Koalition gleich dop- chen. pelt. Sie hätten im Übrigen mit unserer Unterstützung ei- (Sibylle Laurischk [FDP]: Wir halten das auch nen großen Wurf für die Weiterentwicklung aller Frei- für falsch!) willigendienste schaffen können, haben diese Chance aber leider vertan. Der dritte Aspekt ist die Verdrängung regulärer Be- schäftigung. Jugendfreiwilligendienste dürfen nicht als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Warteschleife für fehlende betriebliche Ausbildungs- der Abg. Sibylle Laurischk [FDP]) plätze missbraucht werden. Sie dürfen weder reguläre Anstatt die Einzelinitiativen verschiedener Ministe- Arbeitsplätze ersetzen noch zur Ausdehnung des Niedrig- rien fachlich zu bündeln und auf eine pädagogisch sinn- lohnsektors führen. Freiwilliges Engagement darf nicht volle Grundlage zu stellen, sollen in dem Gesetzentwurf mehr und mehr zum Notnagel beim Abbau des Sozial- nur zwei Dienste geregelt werden. Deshalb ist es unzu- staates werden. Schauen Sie doch in den Pflegebereich. reichend. Dass Herr Grübel es geradezu feiert, dass die Dort ist es schon Normalität. Freiwilligendienste und bestehenden Namen FÖJ und FSJ erhalten bleiben, ist bürgerschaftliches Engagement dürfen nicht all das ein Beispiel dafür, wie unzureichend das Gesetz selbst übernehmen, was die öffentliche Hand nicht finanzieren ist. kann oder will. Deshalb ist die Bundesregierung aufge- fordert, in Richtung öffentlich finanzierter Beschäfti- In unserem grünen Antrag fordern wir die Bundesre- gung aktiv zu werden. gierung auf, endlich ein Gesamtkonzept für einen deutli- chen Ausbau der Freiwilligendienste vorzulegen, das ihr Bei der Ausgestaltung der Jugendfreiwilligendienste jugend- und bildungspolitisches Profil schärft. müssen bildungspolitische und sozialpolitische Ziele gleichermaßen berücksichtigt werden. Leider wird der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorliegende Gesetzentwurf dieser Forderung nicht ge- recht. Das ist schade für die vielen jungen engagierten Wir fordern einen Freiwilligendienstplan, in dem die fi- Menschen. Sie hätten spürbare Verbesserungen verdient. nanziellen Mittel für alle Freiwilligendienste analog zum Kinder- und Jugendplan gebündelt werden. Unser Ziel (B) Vielen Dank. ist, zusätzlich zum neuen entwicklungspolitischen Frei- (D) willigendienst die Zahl aller Freiwilligendienstplätze bis (Beifall bei der LINKEN) 2015 auf 37 000 zu verdoppeln. Eine Verdoppelung kann man gegenfinanzieren und schaffen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Kai Gehring, Bünd- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nis 90/Die Grünen. Wesentlich ist für uns die Sicherung der Qualität aller Freiwilligendienste. Als Lernphase müssen sie noch Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stärker auf Orientierung, Bildung und Qualifizierung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ausgerichtet sein. Eine gute pädagogische Begleitung Wir reden hier heute über eine Gruppe, die sich durch muss Jugendliche bei der Gewinnung neuer Erfahrungen die höchste Engagementbereitschaft und das stärkste unterstützen. Benachteiligte Jugendliche – oft aus bil- freiwillige Engagement aller Altersgruppen auszeich- dungsfernen und armen Elternhäusern und viel zu oft net, nämlich die Jugendlichen. Dies muss an dieser auch mit Migrationshintergrund – müssen besonders er- Stelle einmal klar gesagt werden, weil es zeigt: Jugendli- muntert und unterstützt werden. Im Entschließungs- che sind viel besser als ihr Ruf. Deshalb nervt es, wenn antrag der Koalitionsfraktionen wird zwar eine der be- Medien vor allem dann über die Jugend berichten, wenn troffenen Gruppen erwähnt. Aber ich frage mich: Wieso etwas schiefläuft. haben Sie dazu nicht in Ihrem Gesetzentwurf sinnvolle Regelungen getroffen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – geordneten der FDP und der LINKEN) Markus Grübel [CDU/CSU]: Weil es nicht nö- tig ist!) Jugendliche sind bereit – das ist überdeutlich –, sich zu engagieren und durch ökologisches, soziales und kul- Absolutes Negativbeispiel für Ihr planloses Handeln turelles Engagement im In- und Ausland Verantwortung ist das „Freiwillige Technische Jahr“ des Bildungsminis- zu übernehmen. Zurzeit kommen vier Bewerbungen auf teriums, einen Freiwilligendienstplatz. Dieses hohe Engagement- (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- potenzial von Jugendlichen ist ein hohes Gut und muss NIS 90/DIE GRÜNEN]) genutzt werden. Deshalb brauchen wir dringend eine deutliche Aufstockung und Ausweitung bei den Freiwil- das nichts anderes als ein unbezahltes Langzeitprakti- ligendienstplätzen. kum ist, für das man sich aber diesen gut klingenden Be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15595

Kai Gehring (A) griff ausleiht. Auch das Innenministerium plant bereits Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) ein „Freiwilliges Katastrophenschutzjahr“. Eine Koordi- Herr Kollege. nation dieser zweifelhaften Initiativen wird von der Bun- desregierung offensichtlich überhaupt nicht betrieben. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Er bietet keine ausreichende Grundlage für einen be- darfsorientierten und qualitätsvollen Ausbau sowie für Dadurch wird die Bedeutung der erfolgreiche Marke die sozialversicherungsrechtliche Gleichbehandlung der „Freiwilliges Jahr“ verwässert statt gestärkt. Dies ist üb- einzelnen Dienste. rigens ein Symptom der gesamten Jugendpolitik der Bundesregierung und der Bundesjugendministerin. Sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: handeln getreu dem Motto: lieblos, planlos, ziellos. Das Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten. ist nämlich leider bei allen jugendpolitischen Themen der Fall. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Noch eine letzte Bemerkung. – Gerade weil uns das sowie der Abg. Elke Reinke [DIE LINKE] – Engagement von Jugendlichen sehr wichtig ist und wir Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das es nachhaltig fördern wollen, lehnen wir den vorliegen- stimmt doch nicht!) den Gesetzentwurf ab. Man merkt Ihrem Gesetzentwurf an, dass Ihr Ziel in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erster Linie die Umsatzsteuerbefreiung war. Die inhaltli- che Konzeption und Weiterentwicklung der Freiwilli- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gendienste wird darin leider vernachlässigt. Die Mög- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär lichkeit der Stückelung und Verlängerung der Dr. Hermann Kues. Dienstdauer, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen, kann dazu führen, dass ein Freiwilliger künftig bis zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vier Sechsmonatsdienste bei verschiedenen Trägern leis- neten der SPD) tet. Die zeitliche Ausweitung auf zwei Jahre birgt auch die Gefahr, neue Warteschleifen für Jugendliche zu Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der schaffen, anstatt ihr Engagement zu fördern. Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gend: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Bei dem Gesetz, über das wir heute reden, gibt der Staat (D) Leider völlig ignoriert wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht Milliardenbeträge für eine Leistung aus; dennoch der besondere Regelungsbedarf im Hinblick auf jugend- wird mit diesem Gesetz eine wichtige Weichenstellung liche Freiwillige im Ausland. Der Freiwilligendienst für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft vorge- „weltwärts“ kann allerdings ein guter Beitrag zum glo- nommen. balen Lernen sein, den wir begrüßen Es geht nicht darum, das zu tun, worauf die Anträge (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Na der Oppositionsfraktionen hinauslaufen, nämlich mehr also!) Geld auszugeben. Es geht vielmehr darum – der Kollege Gehring hat es angesprochen –, das vorhandene Poten- und konstruktiv begleiten. zial der Bürgerinnen und Bürger, der Jugendlichen, sich (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr freiwillig einzubringen, auszuschöpfen. richtig!) Mindestens so wichtig ist, dass wir eine Antwort auf Enttäuschend ist aber, dass er in Ihrem Gesetzentwurf die Überforderung des Staates finden. Der Staat ist, nicht verankert ist. Wer Jugendliche im Rahmen eines wenn er all das, was an Aufgaben anfällt, allein schultern 70-Millionen-Euro-Programms ins Ausland schickt, darf will, finanziell und strukturell überfordert. Es geht also keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, dass die pä- auch darum, sich von der Illusion zu trennen, Vater Staat dagogischen und fachlichen Qualitäten des Freiwilligen- mache das schon. Wir wollen eine Gesellschaft, in der dienstes im Partnerland vor Ort einwandfrei sind. Ich der Staat den Rahmen setzt und in der sich die Bürgerin- gehe davon aus, dass die Bundesregierung sich hier stär- nen und Bürger aufgefordert fühlen, mit anzupacken, wo ker anstrengt. es nur geht. Das ist die Philosophie der Freiwilligen- dienste. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir müssen auf jeden Fall genau überprüfen, ob die ge- neten der SPD) weckten Erwartungen und die gesetzten Qualitätsstan- dards auch erfüllt werden. Den Rahmen dafür müssen Bund, Länder und Ge- meinden bieten. Wer es am Taschengeld festmacht, will All diese Punkte zeigen: Ihr Gesetzentwurf ist kon- Stimmung machen. Denn das Taschengeld wird frei ver- zeptionell dürftig und enttäuschend. Er wird den An- einbart zwischen den Trägern und den Jugendlichen, die sprüchen des interfraktionellen Beschlusses aus der letz- den Dienst leisten wollen. Wollen Sie den Trägern, die ten Legislaturperiode leider in keiner Weise gerecht. solche Stellen anbieten, vorschreiben, wie viel sie zu 15596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues (A) zahlen haben? Das sind freiwillige Vereinbarungen, da- Angesichts dieser Unterschiede ist es klar, dass es An- (C) für ist der Bund nicht zuständig. Ich denke, es ist gut, passungsnotwendigkeiten gibt; das habe ich im Aus- wenn man sich innerhalb der Gesellschaft darauf ver- schuss mehrfach gesagt. Wir müssen uns das genau an- ständigt, wie das ausgestaltet werden soll. schauen und einen Weg finden, damit das Angebot in sich schlüssig ist, auch was den Bezug von Kindergeld (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- angeht. Das wissen wir. Sie wissen aber auch, Frau neten der SPD) Laurischk, dass wir nicht zuletzt vor dem Hintergrund Ich bin fest davon überzeugt: Wer einmal einen Teil der Frage der Umsatzsteuer Regelungen finden mussten. seiner Zeit für eine wichtige Aufgabe einsetzt – sich bei- Das stand lange im Raum. Es musste ein Weg gefunden spielsweise um Behinderte kümmert oder etwas für alte werden, damit Einsatzstellen bzw. Träger nicht mit Um- Menschen tut –, der gewinnt ein Gespür dafür, was tat- satzsteuernachzahlungen rechnen müssen. Das Thema sächlich notwendig ist. Deswegen ist es eine schöne Ent- ist mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs nicht ab- wicklung, dass das Interesse an den Freiwilligendiensten geschlossen. Wir gehen aber damit einen entscheidenden in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. 2002 Schritt in die richtige Richtung und schaffen damit auch wurden 15 000 Plätze aus Bundesmitteln gefördert; mehr Transparenz. fairerweise muss man sagen, dass entsprechende Lan- desmittel hinzukommen und dass sich auch die Träger Damit sind zwar noch nicht alle Aufgaben bewältigt, entsprechend engagieren müssen. Heute sind es 24 000 aber wir arbeiten weiter daran. Insofern sind wir auf ei- Plätze im FSJ und im FÖJ einschließlich der Dienste nem sehr guten Weg. nach § 14 c Zivildienstgesetz. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wenn es Unterschiede gibt, hat das etwas damit zu Ich will noch einmal die zentralen Aspekte des neuen tun, dass die Freiwilligendienste nach dem Zivildienst- Gesetzes nennen. Erstens werden FÖJ und FSJ zusam- gesetz analog zum Bundeswehrdienst organisiert sein mengefasst. Damit schaffen wir mehr Transparenz und müssen; man muss sich das genau anschauen. Rechtsklarheit. Wir wollen aber die bewährten Marken Ich finde es im Übrigen positiv, dass sich, etwa bei FÖJ und FSJ erhalten – auch das war Gegenstand der „weltwärts“, auch andere Ressorts engagieren. Wichtig Diskussion –, weil diejenigen, die sich über Jahre in die- ist, dass wir möglichst viel vom Potenzial der Gesell- sem Bereich eingesetzt haben, wie ich finde, zu Recht schaft mobilisieren. Dafür wollen wir den Rahmen darauf hingewiesen haben, dass mit der neuen Gesetzge- schaffen. bung etwas verloren ginge, das in der Bevölkerung be- kannt ist. Insofern schafft der Gesetzentwurf Klarheit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) neten der SPD) Zweitens. Dass man die Jugendfreiwilligendienste (D) jetzt auch zeitlich flexibler gestalten kann, trägt der Tat- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sache Rechnung, dass diese Dienste Bildungsdienste sind. Sie haben eine sehr wichtige Orientierungsfunk- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der tion. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Jugendlicher Kollegin Laurischk? – beispielsweise nach einer Ausbildungsphase – einen solchen Dienst antritt oder jemand aus der älteren Gene- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der ration, der bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- ist. Wir hatten zeitweise in Erwägung gezogen, die gend: Dienste zusammenzufassen. Die Motive zur Teilnahme Selbstverständlich. unterscheiden sich aber sehr. Für junge Menschen haben die Dienste eine sehr wichtige Orientierungsfunktion. Sibylle Laurischk (FDP): Wir wissen aus Diskussionen in anderen Bereichen, Herr Staatssekretär, Sie haben davon gesprochen, dass, wenn man junge Männer für eine spätere berufli- dass Sie den Rahmen schaffen wollen. Warum schaffen che Tätigkeit etwa im Pflegedienst gewinnen will, von Sie nicht auch einen Rahmen für einen so groß angeleg- großer Bedeutung ist, ob sie vorher in diesem Bereich tä- ten Freiwilligendienst wie „weltwärts“, gerade in sozial- tig sein konnten. In dem Fall sind sie eher motiviert, sol- versicherungsrechtlicher Hinsicht? Das ist genau der che Aufgaben zu übernehmen. Insofern ist das von gro- Punkt, den wir kritisieren: Hierfür ist eben kein Rahmen ßer Bedeutung im Hinblick auf die Gewinnung gerade geschaffen worden. In dieser Hinsicht sind Ihre Ausfüh- junger Männer als Fachkräfte im Bereich der Pflege. rungen missverständlich. Drittens wird – das wurde bereits angesprochen – die Zeitstruktur flexibilisiert. Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Viertens flexibilisieren wir die Träger- und Einsatz- gend: stellenstruktur. Damit können die vertraglichen Rechte Ich glaube nicht, dass meine Äußerungen missver- und Pflichten freier vereinbart werden. ständlich sind. Die Freiwilligendienste sind recht unter- Fünftens und letztens behalten wir die Sozialversiche- schiedlich geregelt. Das gilt für die Dienste, die im Zivil- rungspflicht für In- und Auslandsdienste bei. dienstgesetz geregelt sind, das gilt für den Dienst „weltwärts“, und das gilt auch für die Überlegungen im Dieses Thema ist uns deswegen so wichtig – das Bildungsbereich, eine Art Praktikum zu ermöglichen. betone ich ausdrücklich –, weil es Jugendliche in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15597

Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues (A) Deutschland in das richtige Licht rückt, die sich schon (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) seit Jahren freiwillig zum Dienst in der Altenarbeit, Be- der CDU/CSU) hindertenarbeit und im Umweltschutz verpflichten. Das Sie haben die Regelungen für junge Frauen besonders ist die Jugend, auf die unser Staat auch künftig bauen kritisiert, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. kann. (Sibylle Laurischk [FDP]: Ungleich- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. behandlung!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Was haben bisher die jungen Frauen gemacht, die ein neten der SPD) freiwilliges Jahr im Ausland ableisten wollten? Die Zahl derjenigen, die über § 14 c Zivildienstgesetz reisen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: konnten – das betrifft logischerweise Frauen nicht –, be- trug 1 100 im Jahr. Die Zahl der anderen, die von sich Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Bärbel Kofler, aus fahren und die Kosten selbst tragen müssen, beläuft SPD-Fraktion. sich auf knapp 400 im Jahr. Was ist nun eine adäquate Förderung der Frauen? Dr. Bärbel Kofler (SPD): Mit dem Programm „weltwärts“ wird insbesondere Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- jungen Frauen die Möglichkeit gegeben, im Rahmen gen! Es freut mich sehr, dass ich als Entwicklungspoliti- entwicklungspolitischer Themenstellungen im Ausland kerin zum Thema Jugendfreiwilligendienste sprechen tätig zu sein. Die Trägerorganisationen erhalten kann. Es war viel von dem neuen Programm „weltwärts“ 580 Euro. Die jungen Menschen sind versichert – das der Freiwilligendienste die Rede, das es seit September habe ich schon angesprochen –, bekommen Unterkunft 2007 gibt. Es ist viel gesagt worden, aber leider wenig und Verpflegung und erhalten ein Taschengeld. Was ich Richtiges. Ich denke dabei insbesondere an die FDP. begrüße und für besonders wichtig und notwendig halte, ist die pädagogische Anleitung der jungen Menschen. In Ich glaube, es ist gut, dass ich als Entwicklungspoliti- vielen Ländern der Dritten Welt, den Entwicklungslän- kerin zu diesem Thema sprechen und vielleicht den ei- dern, ist das ein ganz wichtiger Punkt. Genau das pas- nen oder anderen Punkt klarstellen kann, was dieses Pro- siert. gramm anbelangt. Sie haben kritisiert, das BMZ habe ein Programm aus dem Hut gezaubert; es fehle an Regelun- Die Zahlen zeigen, dass sich seit September 2007 für gen für die jungen Menschen; man wisse nicht, welche dieses Programm 5 000 junge Menschen interessiert ha- sozialversicherungsrechtlichen Standards gelten sollen ben, 70 Prozent davon Frauen. In diesem Jahr werden (B) usw. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass bei der wir 3 000 Plätze schaffen. Insgesamt ist die Schaffung (D) FDP Krokodilstränen vergossen werden. Wenn Ihnen von 10 000 Plätzen vorgesehen. Sie können das doch nicht mit einer Zahl im dreistelligen Bereich verglei- das Wohl unserer Sozialkassen und die Sozialversiche- chen. Das aber ist die Größenordnung, in der Frauen im rungsbiografien der Menschen so am Herzen liegen, Ausland ihren Freiwilligendienst leisten können. Hier dann wäre ich sehr froh, wenn Sie uns in der Frage des wird Engagement für Frauen möglich gemacht. Mindestlohns genauso unterstützen würden, wie Sie sich in diesem Bereich der Rentenversicherung annehmen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sibylle Jungen Menschen wird ein Engagement jenseits des Laurischk [FDP]: Lenken Sie doch nicht ab! Einkommens und der Berufsbildung ermöglicht. Bisher Das ist billig!) wurde es jungen Menschen ohne Studium oder Abitur sehr schwer gemacht, einen solchen Dienst wahrzuneh- – Das ist nicht billig, sondern es ist die Replik, die Ihr men. Junge Menschen mit Haupt- oder Realschulab- Ansinnen verdient. schluss oder mit einer Berufsausbildung werden ebenso wie Menschen mit geringeren Einkommensmöglichkei- Junge Menschen im Programm „weltwärts“ sind so- ten angesprochen. zial gut abgesichert und abgefedert. Sie genießen Aus- landskrankenschutz, Unfall- und Invaliditätsschutz und Ich glaube, das ist ein rundum gelungenes Programm. haben eine Rückholversicherung. Sie werden in der Pfle- Ich bedanke mich beim BMZ für dieses Programm. Die geversicherung im Inland weiter versichert. Zudem ha- Abstimmung mit dem Familienministerium verlief her- ben sie die Möglichkeit, sich in der Rentenversicherung vorragend. Ich hoffe, wir können dieses Programm ge- nachzuversichern. Ich glaube, dass das Programm „welt- meinsam gut weiterentwickeln. wärts“ viele wesentliche Punkte berücksichtigt. Es Danke. nimmt im Übrigen mit seiner Finanzierungsstruktur ganz wesentliche Punkte auf, sodass auch Menschen mit nied- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rigem Einkommen und geringen Verdienstchancen die der CDU/CSU) Möglichkeit bekommen, ins Ausland zu reisen, Lebens- erfahrung zu sammeln, Kompetenz in interkultureller Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Kommunikation zu erwerben sowie Toleranz zu erlernen Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege und Verständnis zu bekommen. Diese Dinge sollen die Dieter Steinecke, SPD-Fraktion. Jugendfreiwilligendienste fördern; diese Qualitäten be- nötigen wir auch in unserem Land dringend. (Beifall bei der SPD) 15598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Dieter Steinecke (SPD): gebote der Jugendfreiwilligendienste in erster Linie von (C) Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Realschulabsolventen und Abiturienten wahrgenommen. Junge Menschen mit niedrigerem oder gar ohne Bil- Die Demokratie lebt durch das Engagement der dungsabschluss bleiben in der Regel unerreicht. Dabei Bürgerinnen und Bürger. Darum wollen wir eine könnten gerade sie ganz konkret von den Bildungs- und starke, lebendige Bürgergesellschaft … Dienstangeboten profitieren. Daher sollten wir gezielt versuchen, den Anteil benachteiligter Jugendlicher an Diese Feststellung ist nicht neu, sie ist auch nicht von den Dienstleistenden zu erhöhen; dies ist im Rahmen des mir. Ich habe sie vielmehr dem Hamburger Programm Gesetzes möglich. Dabei sollten nicht nur Werbungs- meiner Partei entnommen. Als sie das formulierte und maßnahmen ergriffen werden; die Träger müssen sich beschloss, war die zugrunde liegende Erkenntnis nicht offen für die potenziellen Dienstleistenden zeigen und in mehr ganz taufrisch. Schon vor fast 2 000 Jahren stellte den Stand versetzt werden, die nicht immer unproblema- der römische Schriftsteller Seneca fest – ich zitiere –: tischen jungen Menschen zu schulen und pädagogisch zu Die menschliche Gesellschaft gleicht einem Ge- begleiten. wölbe, das zusammenstürzen müsste, wenn sich Besondere Bedeutung kommt den Migrantenselbst- nicht die einzelnen Steine gegenseitig stützen wür- hilfeorganisationen zu. Die Bundesregierung sollte sie den. durch gezielte Ansprache und Unterstützungsmaßnah- Unser Leitbild ist eine moderne – nicht 2 000 Jahre alte –, men ermuntern, als Träger, als Einsatzstellen oder als funktionierende Bürgergesellschaft. Dies ist keineswegs Partner bereits aktiver traditioneller Träger im System nur eine Forderung oder gar eine Utopie. Tagtäglich der Freiwilligendienste mitzuwirken. Hierdurch würden wird dieses Leitbild auf die verschiedensten Weisen diese Dienste für junge Menschen mit Migrationshinter- praktiziert und mit Leben erfüllt. grund attraktiver. Bürgerschaftliches Engagement – das betone ich – ist (Beifall bei der SPD) nicht nur ein reines Geben an die Gesellschaft. Es ist Die positiven Folgen für die Dienstleistenden und die mehr als ein Opfer an Zeit und manchmal auch an Geld. Gesellschaft liegen auf der Hand. Wer sich bürgerschaftlich engagiert, bekommt auch et- was zurück. Er kommt mit anderen Menschen zusam- Die Öffnung der Freiwilligendienste für weitere men, kann Bestätigung erfahren und seinen persönlichen Kreise der Jugend in unserem Land kann es nicht um- Horizont erweitern. Bürgerschaftliches Engagement be- sonst geben. Die Verbreiterung der Trägerbasis und die deutet Mitwirkung und Teilhabe an unserem gelebten erforderliche zielgruppenspezifische Anpassung und (B) demokratischen Gemeinwesen. Verbesserung der pädagogischen Betreuung kosten viel (D) Geld. Ich finde, man sollte immer fragen – das tun nicht Heute sprechen wir über zwei besonders erfolgreiche alle in diesem Hause –: Woher soll das Geld kommen? Formen des bürgerschaftlichen Engagements: das Frei- Ich möchte dazu einen Vorschlag machen. Zurzeit kur- willige Soziale und das Freiwillige Ökologische Jahr. sieren Eckpunkte für das Vorhaben, eine freiwillige oder Seit den 50er- respektive seit den 90er-Jahren des ver- auch pseudofreiwillige Verlängerung des Zivildienstes gangenen Jahrhunderts haben sich diese Dienste zu einer – eines Zwangsdienstes nur für junge Männer – zu er- Orientierungs- und Lernzeit für junge Menschen ent- möglichen. wickelt und sich in hervorragender Weise bewährt. (Ina Lenke [FDP]: Das wäre falsch!) Im vorliegenden Entwurf wird gerade der Bildungs- charakter betont. Eindeutig wird hervorgehoben, dass Das ist in meinen Augen sachlich unnötig und würde den sich der Jugendfreiwilligendienst an klaren fachlichen Haushalt des BMFSFJ mit ansehnlichen Beträgen belas- Lernzielen und am Erwerb sozialer und kultureller Kom- ten. petenzen orientieren muss und angemessen pädagogisch begleitet werden muss. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Ina Lenke [FDP] und des Abg. Kai Ich fasse kurz zusammen: Das Freiwillige Soziale Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und das Freiwillige Ökologische Jahr stellen Dienste an der Allgemeinheit dar, von denen der Dienstleistende Dieses Geld könnte weitaus sinnvoller für eine Verbrei- durch Erweiterung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten terung und Stärkung der Jugendfreiwilligendienste ein- profitiert und durch die er gesellschaftliche Teilhabe un- gesetzt werden. Dies läge in meinen Augen weit mehr mittelbar erfährt und praktiziert. im Interesse benachteiligter junger Menschen und unse- rer gesamten Gesellschaft. Nach bisheriger und künftiger Rechtslage steht diese wertvolle Bildungs- und Erfahrungschance allen jungen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Menschen zwischen dem Ende ihrer Schulpflicht und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der dem 27. Lebensjahr offen. In der Realität sieht die Sache CDU/CSU und der Abg. Ina Lenke [FDP]) jedoch anders aus – meine Vorredner haben das zum Teil schon erwähnt –: Zwar ist der Anteil junger Männer durch die Einführung von § 14 c in das Zivildienstgesetz Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: deutlich angestiegen, doch nach wie vor werden die An- Ich schließe die Aussprache. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15599

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den (C) desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen Förderung von Jugendfreiwilligendiensten, Drucksachen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP und bei Enthal- 16/6519 und 16/6967. Der Ausschuss für Familie, Senio- tung der Fraktion Die Linke angenommen. ren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/8256, den Ge- Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- setzentwurf der Bundesregierung in Kenntnis des sache 16/8256 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie- Berichts der Bundesregierung zu Prüfaufträgen zur ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Zukunft der Freiwilligendienste, Ausbau der Jugendfrei- fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die willigendienste und der generationsübergreifenden Frei- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion willigendienste als zivilgesellschaftlicher Generationen- Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Enthaltung von Bünd- vertrag für Deutschland auf Drucksache 16/6145 in der nis 90/Die Grünen und FDP angenommen. Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstim- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter- men der Opposition angenommen. richtung durch die Bundesregierung Wir kommen zur Grünbuch Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der dritten Beratung Stadt (inkl. 13278/07 ADD 1) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem KOM (2007) 551 endg.; Ratsdok. 13278/07 Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf – Drucksachen 16/6865 Nr. 1.19, 16/8360 – ist damit mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstim- Berichterstattung: men der Opposition angenommen. Abgeordneter Klaus Hofbauer Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionel- der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8414? – Wer len Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertel- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. (B) antrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung Dann ist das so beschlossen. (D) von Bündnis 90/Die Grünen und bei Gegenstimmen der FDP abgelehnt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Sören Bartol, SPD-Fraktion. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion Die Linke auf Drucksache 16/8413? – Wer stimmt (Beifall bei der SPD) dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Sören Bartol (SPD): CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Linke abgelehnt. Kollegen! Die Europäische Kommission hat im Septem- ber 2007 ein Grünbuch mit dem Titel „Hin zu einer Tagesordnungspunkt 5 b. Wir setzen die Abstimmung neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“ vorgelegt, das über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Fami- Grundlage für einen europäischen Aktionsplan sein soll. lie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/8256 Wir als SPD-Fraktion begrüßen ausdrücklich diese Ini- fort. tiative der EU-Kommission, mit der der Stadtverkehr Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss- flüssiger, intelligenter, zugänglicher und sicherer werden empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der soll und die Städte grüner werden sollen. FDP auf Drucksache 16/6769 mit dem Titel „Jugendfrei- Wir haben zusammen mit unserem Koalitionspartner willigendienste in einen gemeinsamen Gesetzesrahmen einen Antrag eingebracht, in dem wir Handlungsoptio- zusammenfassen“. Wer stimmt für die Beschlussemp- nen der EU für eine sozial- und umweltverträgliche Mo- fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die bilität in Städten aufzeigen. Wir wollen, dass sich der Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition Bundestag mit dieser Stellungnahme aktiv und konstruk- bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion tiv an der laufenden zweiten Konsultationsphase zur Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP an- Vorbereitung des Aktionsplans beteiligt. genommen. (Beifall bei der SPD) Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Wenn es um die Zukunft unserer Städte geht, dürfen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Jugend- nicht formalrechtliche Kompetenzstreitigkeiten im Vor- freiwilligendienste ausbauen und Gesamtkonzeptionen dergrund stehen. Reflexartige Ablehnung ist unange- entwickeln“ auf Drucksache 16/6771. Wer stimmt für bracht angesichts der Aufgabe, städtische Mobilität so die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – zu gestalten, dass sie die Qualität der Städte als 15600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Sören Bartol (A) Wirtschafts- und Wohnstandorte nicht einschränkt. Die Kommission erkennt ganz richtig, dass sich städ- (C) Diese Aufgabe erfordert die gemeinsame Suche nach tische Verkehrsprobleme nur durch eine integrierte Poli- Lösungen auf örtlicher, regionaler, nationaler und euro- tik lösen lassen. Darin hat sie unsere volle Unterstützung. päischer Ebene. Wir begrüßen, dass sich die Kommis- Einerseits müssen wir die technologischen Potenziale zur sion dieser Aufgabe stellt. Verbesserung der Fahrzeugtechnik ausschöpfen und die Leistungsfähigkeit einzelner Verkehrsmittel optimieren. (Beifall des Abg. Dr. [SPD]) Andererseits müssen wir den Fußgänger-, Rad- und öf- fentlichen Personennahverkehr attraktiv, sicher und bar- Wir sollten das Grünbuch aber nicht mit Erwartungen rierefrei gestalten. Mehr noch: Wir müssen die Innen- überfrachten, wie es die Grünen in ihrem Entschlie- stadtentwicklung von Städten stärken sowie Siedlungs-, ßungsantrag tun. Das Grünbuch kann nicht das Vehikel Wirtschafts- und Infrastrukturentwicklung in regionaler sein, ein generelles Tempolimit einzuführen. Eine Ein- Kooperation betreiben. Mit der Baugesetzbuchnovelle führung durch die Hintertür Europa befördert nicht ge- haben wir hier in Deutschland einen wichtigen Schritt rade die Akzeptanz der EU bei den Bürgern. Tempolimit getan, der zu einer Revitalisierung der Innenstädte beitra- – ja oder nein, das müssen wir in Deutschland unter uns gen wird. klären. (Beifall bei der SPD) (Beifall des Abg. Dr. [CDU/ CSU]) Eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Stadt mit einer funktionalen Mischung aus Wohnen, Arbeiten, Einkau- Auch einheitliche Vorgaben zu Citymautsystemen ma- fen und Freizeit bietet ein gesundes und sicheres Le- chen wenig Sinn; denn von einer flächendeckenden Ein- bensumfeld gerade für Kinder und ältere Menschen. Sie führung sind wir weit entfernt. Es ist sicherlich sinnvoll, bewegen sich überwiegend im Nahbereich. sich die Beispiele wie London und Stockholm anzusehen und Erfolgsbedingungen für eine Citymaut zu identifi- (Beifall des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD]) zieren. Bei der Übertragbarkeit auf deutsche Städte bin Auch für Menschen mit geringem Einkommen, die oft ich allerdings skeptisch. an besonders belasteten Hauptverkehrsstraßen wohnen, ist ein stadtverträglicher Verkehr ein großer Gewinn. (Beifall des Abg. Dr. Andreas Scheuer [CDU/ CSU] und des Abg. Patrick Döring [FDP]) Wir können es uns nicht leisten, wie Abu Dhabi Sir Norman Foster für den Neubau einer CO2-neutralen Die Vielfalt europäischer Städte verbietet einheitliche Ökostadt zu engagieren. Dafür fehlen uns die Öldollar. Lösungen, und die will auch keiner. Die lokalen Akteure Wir in Europa haben über Jahrhunderte gewachsene (B) sind diejenigen, die sich vor Ort am besten auskennen. Städte. Diese Städte mit all ihren Problemen, aber auch (D) Sie sind diejenigen, die lokal angepasste Strategien ent- mit ihren baulichen, sozialen und kulturellen Qualitäten wickeln können. Sie sind vor allem diejenigen, die bei ökologisch nachhaltig und lebenswert zu gestalten, das den Betroffenen Akzeptanz schaffen können. Das weiß ist die eigentliche Herausforderung. Die während der auch die Kommission. Wir nehmen sie beim Wort, wenn deutschen EU-Ratspräsidentschaft beschlossene Leip- es um die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und die zig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt betont Beachtung der kommunalen Planungshoheit geht. die Bedeutung der Städte für die gesellschaftliche und die wirtschaftliche Entwicklung. Der weiterwachsende Vieles von dem, was im Grünbuch vorgeschlagen Verkehr droht allerdings zum Wachstumshemmnis zu wird, ist in Deutschland schon lange Praxis. Deutsche werden, wenn es uns nicht gelingt, Wirtschafts- und Ver- Städte haben einen reichen Erfahrungsschatz erfolgrei- kehrswachstum voneinander zu entkoppeln. Dieses Ziel, cher Stadtverkehrskonzepte, von Tempo-30- und Fuß- das die Kommission im Verkehrsweißbuch von 2001 gängerzonen über Parkraumbewirtschaftung, Busspuren, formuliert hat, muss weiter im Blick bleiben. Ampelvorrangschaltungen und Radwegenetze bis hin zum Verkehrsmanagement. Wir haben anderen Städten in Die Städte stehen vor der Herausforderung, Mobilität Europa viel Beispielhaftes zu bieten. Es gibt aber auch von Menschen, Gütern und Dienstleistungen zu ermögli- einiges, was wir im Austausch mit anderen dazulernen chen, gleichzeitig aber die Belastungen für Mensch und können. Wir sehen den europäischen Mehrwert eines Ak- Umwelt zu senken. Dabei können sie tatkräftige Unter- tionsplans zur städtischen Mobilität durchaus. Die EU stützung gebrauchen, sowohl von uns im Deutschen kann eine wesentliche Rolle spielen, wenn es um den Bundestag als auch – das ist meine Meinung – vonseiten Austausch von Daten und Erfahrungen geht. Sie kann der EU. geltende Rechtsakte und Förderinstrumente evaluieren, Vielen Dank und gute Beratung. vereinfachen und zu einem integrierten Ansatz bündeln. Auch bei der Harmonisierung technischer Leitlinien ist (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem die EU gefordert. Ich denke hier zum Beispiel an die Pla- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ketten für Umweltzonen, die bisher überall in Europa an- ders aussehen, und an einheitliche Standards bei Telema- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tikanwendungen im öffentlichen Personennahverkehr, Nächster Redner ist der Kollege Patrick Döring, FDP- die grenzüberschreitend Fahrplanauskünfte und E-Ticke- Fraktion. ting erlauben. Technische Insellösungen mögen innova- tiv sein, wirtschaftlich sind sie auf Dauer nicht. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15601

(A) Patrick Döring (FDP): zen wir den Antrag der Koalition ausdrücklich. Es finden (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sich aber auch noch, wie ich finde, einige zu positive Be- „Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“ wertungen in dem Entschließungsantrag. Die Befürch- heißt das Grünbuch der Europäischen Union. Zuallererst tung der FDP-Fraktion ist, dass dann, wenn man mit fragt man sich doch: Was hat eigentlich Brüssel damit zu Standardisierung und Harmonisierung anfängt – Herr tun? Wer jemals in Brüssel war, der kann erkennen, dass Kollege Bartol, das beginnt bei der europaweit harmoni- man vielleicht national oder lokal schon allein in dieser sierten Umweltplakette –, Rechte abgeleitet werden, wei- Stadt das eine oder andere verbessern könnte. Vielleicht tere Regelungen, die tief in die kommunale Selbstver- sollten sich die Bediensteten der Kommission nicht mit waltung eingreifen, zu treffen. allgemeinen philosophischen Grundsätzen befassen, sondern lokale Politik beobachten; denn die ist zustän- (Beifall bei der FDP – Horst Friedrich [Bay- dig. reuth] [FDP]: Das ist genau die Praxis! – Sören Bartol [SPD]: Es geht um die Frage, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten welche Farbe sie hat!) der CDU/CSU) Es ist in diesem Hause noch nie darüber diskutiert wor- Deshalb sage ich für die FDP-Fraktion: Ja, vieles, was in den – jedenfalls habe ich davon noch nichts gehört –, ob dem Grünbuch steht, ist in deutschen Städten gelebte wir europaweit einheitliche Nummernschilder oder euro- Praxis. paweit einheitliche Fahrzeugscheine brauchen. Aber jetzt (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: soll das Harmonisierungsziel in der Einführung europa- Ach nein, das kann doch nicht wahr sein!) weit einheitlicher Umweltplaketten bestehen. Da kann ich nur sagen: Lasst viele Blumen blühen. – Ja, vieles, was darin steht, ist in deutschen Städten ge- lebte Praxis. – Und weil der Zwischenruf vom Kollegen (Beifall bei der FDP) Hettlich gekommen ist: Ich kann verstehen, dass man- cher dieses Grünbuch mit den vielen dirigistischen Vor- Man kann darüber streiten, ob Umweltzonen über- schlägen zu Citymaut, Parkraumbewirtschaftung usw. haupt sinnvoll sind. zum Vehikel nehmen will, um seine ideologische Ver- ( (CDU/CSU): Sehr richtig!) kehrspolitik in Deutschland durchzusetzen. (Beifall bei der FDP) Vielleicht sollten wir darüber einmal sprechen. Nach der Anhörung von gestern über die Wirksamkeit von Ruß- Aber mehr als 80 Prozent der Hamburger haben gerade partikelfiltern können wir darüber streiten, ob der ganze nicht Grün und damit nicht die Citymaut gewählt, lieber (B) Vorgang irgendeine Auswirkung hat. Ich komme immer (D) Herr Kollege. Ich bin sehr gespannt, ob die schwarz- mehr zu der Überzeugung, dass das höchste Feinstaub- grüne Koalition eine Citymaut einführt und wie sich die aufkommen in meiner Heimatstadt Hannover am letzten Union dann dazu verhält. All das beobachte ich mit gro- Jahr am Ostermontag zu verzeichnen war. Das lag nicht ßem Interesse. an dem vielen Verkehr, sondern an den Osterfeuern rund (Martin Burkert [SPD]: Hauptsache, ihr seid um die Stadt. Das ist doch der Punkt. Das hat nichts mit nicht dabei!) dem Feinstaub zu tun, der vom Autoverkehr hervorgeru- fen wird. Aber für diese Maßnahme gibt es keine Unterstützung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP) Allerletzte Bemerkung zum städtischen Verkehr ins- Es ist richtig, das in den Städten zu diskutieren. Wir wer- gesamt. Wie anfällig städtischer Verkehr ist, wie aus- den sehen, dass es dafür weitestgehend keine Mehrhei- ten gibt. tariert dieses System ist, erkennen wir dieser Tage durch den Streik von Verdi. Heute Morgen ist den meisten von Was die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und uns aufgefallen, dass viel mehr Pkws auf den Straßen Verkehrswachstum betrifft, so kann man zurzeit das Ge- sind, weil die BVG nicht fährt. Das macht doch genteil von dem beobachten, was der Kollege Bartol ge- deutlich, dass diese Systeme in jeder Stadt individuell sagt hat. Das Verkehrswachstum ist stärker als das eingespielt und ausbalanciert sind. Wir müssen uns aber Wirtschaftswachstum, weil in Deutschland der Durch- auch überlegen, wie man bei der aktuellen Situation in gangsverkehr insgesamt eine große Rolle spielt. Wir ha- Deutschlands Städten, mit Streik im Nahverkehr und ben in den Städten wachsende Verkehre, weil es eine vielleicht einem Streik bei der DB AG – das würde ab Rückbesinnung auf die Innenstädte gibt und die leerste- Montag die S-Bahnen betreffen –, mit dem zusätzlichen henden Ladenlokale in den Fußgängerzonen wieder ver- Verkehrsaufkommen überhaupt umgeht und wie die mietet werden. Man kommt wieder weg von der grünen Kommune oder auch der betroffene Bürger darauf rea- Wiese, was wir alle wollten. gieren kann. Ich bin schon etwas irritiert, dass die Bus- spuren mancher deutscher Städte, auf denen zurzeit we- (Beifall bei der FDP) gen des Streiks keine Busse fahren, nicht für den Man kann dieses Grünbuch lesen und dann wie die zusätzlichen Autoverkehr während der Streiktage geöff- Koalition die Fahne der Subsidiarität hochhalten, damit net werden. Auch bin ich ratlos, wie man mit den par- bloß keiner auf die Idee kommt, mit gesetzgeberischen kenden Fahrzeugen – ich denke allein an die zu parken- Maßnahmen in Deutschland einzugreifen. Da unterstüt- den Fahrzeuge unserer Mitarbeiter, die nicht mit dem 15602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Patrick Döring (A) Nahverkehr in die Stadt gekommen sind – umgehen will, Gerade uns Verkehrspolitikern ist bewusst – wir ha- (C) wenn der Streik anhält. ben diese Beschlussempfehlung auch mit den Europapo- litikern abgestimmt, und ich bedanke mich ausdrücklich, Diese Beispiele machen deutlich, dass solche Fragen dass wir zu einer gemeinsamen Initiative gekommen vor Ort zu lösen sind. Dafür braucht man weder Grünbü- sind –, dass wir es mit einer dramatischen Zunahme des cher noch Legislativen aus Brüssel. Ich bin dafür, dass Verkehrs zu tun haben. Die Folgen sind Staus, Verspä- wir sehr intensiv darüber streiten, wie man städtische tungen, Luft- und Lärmemissionen und vor allem er- Mobilität organisiert, aber nicht auf europäischer Ebene, höhte Verkehrsunfallzahlen bei Fußgängern und Radfah- sondern mit Ratsfrauen und Ratsherren in den Kommu- rern. Deshalb gehe ich auf die fünf wesentlichen Punkte nen vor Ort. des Grünbuchs ein, die wir als wichtige Anregungen auf- Herzlichen Dank. fassen, die – darauf werden wir achten – auch vor Ort diskutiert werden müssen. Außerdem werden wir prüfen, (Beifall bei der FDP) was auf unserer Ebene verändert werden muss. Vor allen Dingen muss dies aber in den Kommunen diskutiert wer- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den. Wir wollen nicht, dass hier den Kommunen etwas Das Wort hat der Kollege Klaus Hofbauer, CDU/ vorgeschrieben wird; aber wir wollen, dass dies in geeig- CSU-Fraktion. neter Weise umgesetzt wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Es geht erstens darum, mehr für einen flüssigen Ver- kehr in der Stadt zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass Klaus Hofbauer (CDU/CSU): jede Kommune prüfen kann, ob sie dazu in ausreichen- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen dem Maße beiträgt. und Kollegen! Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung: Zweitens sollten wir die Luftverschmutzung in den Wir haben uns schon oft darüber beklagt, dass wir im Städten betrachten. Sie lässt sich zum Beispiel durch al- Deutschen Bundestag über europäische Richtlinien und ternative Kraftstoffe – Stichwort: Einführung von Was- Entscheidungen zu spät oder gar nicht informiert wur- serstoff – reduzieren. Das sind die Herausforderungen, den, sodass wir nicht mitentscheiden konnten. Deshalb die wir zu bewältigen haben. begrüßen wir es außerordentlich, dass wir noch vor Ver- abschiedung des Aktionsplans zur städtischen Mobilität Ich nenne einen dritten und vierten Punkt: hin zu in- die Möglichkeit haben, zu dieser umfangreichen Vorlage telligenterem Nahverkehr, hin zu zugänglicherem Nah- Stellung zu nehmen und so den Prozess entscheidend verkehr. Wir müssen insbesondere die Mobilität von Be- mitzugestalten. hinderten, von älteren Menschen und von Familien mit (B) Kindern stärken. Wenn man Opa ist und mit einem (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Kleinkind unterwegs ist, erlebt man, wie es ist, wenn Sören Bartol [SPD]) man sich in den Zentren mit einem Kinderwagen be- Lieber Herr Kollege Döring, wir sind nicht weit aus- wegt. Ich muss feststellen: Es ist noch einiges zu verbes- einander. Das hätten Sie gemerkt, wenn Sie unsere Be- sern. Das sollte man hier entsprechend darstellen und schlussempfehlung gelesen hätten. umzusetzen versuchen. (Patrick Döring [FDP]: Ich habe sie gelesen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie des Abg. Sören Bartol [SPD]) Ich zitiere aus einem Spiegelstrich: Ich möchte das, was der Herr Kollege Bartol gesagt Der Bundestag fordert: hat, voll und ganz unterstreichen. Wir, Deutschland, soll- – das Subsidiaritätsprinzip bei der Erarbeitung des ten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. In Aktionsplans zur städtischen Mobilität strikt zu Deutschland ist bereits viel passiert; wir sind auf einem beachten. guten Weg. Ich möchte insbesondere unseren Kommu- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist nen ein Wort des Dankes sagen. Die Kommunalpolitik aber kraftvoll! Donnerwetter!) steht oben auf unserer Agenda. Was wir erreicht haben, sollten wir positiv darstellen. Wir brauchen uns nicht zu Das ist eine ganz klare Aussage. Wir werden darauf ach- verstecken. Wir können selbstbewusst auf unsere Er- ten, dass dies auch eingehalten wird. – Ich zitiere auch folge in diesem Bereich in den letzten Jahren verweisen. noch den zweiten Satz: Der Herr Kollege Bartol hat diese Punkte bereits ange- sprochen. Die kommunale Planungshoheit muss nach Auffas- sung des Deutschen Bundestages uneingeschränkt Erlauben Sie mir, auf noch einen wichtigen Punkt gewahrt bleiben. hinzuweisen. Ich glaube, für die Lösung der Probleme Meine sehr geehrten Damen und Herren, konkreter und des städtischen Verkehrs ist insbesondere ein enges Zu- deutlicher können wir unsere Forderungen in dieser Stel- sammenwirken der Zentren und der umliegenden Regio- lungnahme nicht formulieren. Wir haben damit einen nen notwendig. Der größte Teil der Arbeitsplätze befin- Beitrag dazu geleistet, gute Anregungen zu geben. det sich nach wie vor in den Zentren. Der meiste Verkehr entsteht in der Früh, wenn die Pendler in die Zentren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fahren, und am Abend, wenn sie zurückfahren. Deswe- neten der SPD) gen betrifft dieses Thema nicht allein die Städte; viel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15603

Klaus Hofbauer (A) mehr muss das Umland einbezogen werden. Je attrakti- schließlich klagt Porsche in Großbritannien gegen die (C) ver wir den Nahverkehr gestalten, desto besser ist der Citymaut. Individualverkehr in den Zentren. Parkraumbewirtschaftung, Tempo 30, Radfahrrouten, Dazu haben wir, der Bund, einen ganz entscheidenden Ampelvorrangschaltung und Verkehrsmanagement sind Beitrag geleistet, als wir bei der Bahnreform Mitte der für die Städte unerlässlich. Doch weiß jeder hier im 90er-Jahre dafür gesorgt haben, dass Regionalisierungs- Haus, dass es gegensätzliche Interessen gibt und dass es mittel eingesetzt wurden. Wir sollten hier einmal deut- schwierig ist, diese vor Ort konkret unter einen Hut zu lich sagen, dass die Verwendung von Regionalisierungs- bringen. Ein generelles Umdenken kann aber nicht allein mitteln zur Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs, wie von der Verkehrspolitik ausgehen. Ein generelles Um- es bei uns praktiziert wird, beispielgebend ist. denken – ich nenne das Stichwort „Klimaschutz“ – ist al- lerdings dringend notwendig. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch eines er- wähnen: Die Vorschläge des Bundesrats werden in den Zurück zum Grünbuch und zu dem, was darin steht. Entscheidungsprozess über den Aktionsplan einbezogen Mir fehlen Finanzierungsmodelle, zum Beispiel eine werden. Auf vielen Seiten werden viele Anregungen ge- Abgabe für den ÖPNV. Mir fehlen an dieser Stelle An- macht, hinter denen wir stehen und die wir unterstützen. sätze, wie wir sie zum Beispiel aus amerikanischen oder französischen Städten kennen. Dort haben solche Erlauben Sie mir, zum Abschluss Folgendes zusam- ÖPNV-Abgaben komplette Straßenbahnsysteme finan- menfassend zu sagen: Wir sollen nicht in die Kompetenz ziert. Wohl jeder wird den grundsätzlichen Zielen zu- der Kommunen eingreifen. Wir sollen Anregungen und stimmen, die im Grünbuch formuliert sind. Der Verkehr Impulse geben. Das Grünbuch enthält dazu einiges. Ich in der Stadt soll flüssiger, die Städte sollen sauberer und habe hier großes Vertrauen in die Kommunalpolitiker, der Nahverkehr soll intelligenter, zugänglicher und si- weil hier wirklich Vorbildliches geleistet wird. Wir müs- cherer werden. sen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass das Subsi- diaritätsprinzip auch bei dieser Regelung eingehalten Zum letzten Punkt, welcher in den letzten Tagen er- und festgeschrieben wird. Wenn das geschieht, können schreckend aktuell ist: Immer häufiger kommt es zu wir dieses Grünbuch unter den genannten Gesichtspunk- schwerwiegenden Überfällen auf Fahrpersonal oder ten unter dem Strich positiv – als etwas, das Anregungen auch auf Gäste. Der Aggressionspegel in unserer Gesell- und Vorschläge enthält – bewerten. schaft steigt; das ist eine traurige Tatsache. Ich brauche keine großen soziologischen Untersuchungen, um zu- Herzlichen Dank fürs Zuhören. mindest einige der Ursachen zu finden, die sich in Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. kehrsmitteln Bahn brechen – aber natürlich längst nicht (B) Sören Bartol [SPD]) nur dort. Es sind zunehmende soziale Polarisierung, Ver- (D) armung, Chancenlosigkeit und auch Ausgrenzung, die sich in Gewalt entladen. Doch gerade in den Bereichen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: in denen wir Sicherheit schaffen könnten, sind in den Ich gebe das Wort der Kollegin Dorothée Menzner, letzten Jahren rigoros Stellen abgebaut worden. Personal Fraktion Die Linke. wurde durch Videoüberwachung ersetzt, die zwar viel- (Beifall bei der LINKEN) leicht dazu beitragen kann, die Täter zu überführen, aber einem Opfer in unmittelbarer Not nicht unbedingt hilft. Dorothée Menzner (DIE LINKE): Zu einem attraktiven Nahverkehrskonzept gehört des- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! halb nach unserer Meinung Präsenz von Personal, und Im Grünbuch der Europäischen Kommission nimmt die zwar in den Fahrzeugen, auf den Bahnhöfen und an den Organisation des städtischen Verkehrs mit öffentlichen Haltestellen. Verkehrsmitteln großen Raum ein. Das ist ohne Zweifel (Beifall bei der LINKEN) eine richtige Orientierung. Sie entspricht den Grundsät- zen, die die Linke vertritt. Doch den Verkehr zu optimie- In dem Zusammenhang kann der Vorschlag des Berliner ren, ohne gleichzeitig stadtplanerische, ökologische, so- Senats, 1-Euro-Jobber einzusetzen, nur als makabrer ziale Bedingungen und deren Veränderung in den Blick Scherz gewertet werden. zu nehmen, greift nach unserer Überzeugung zu kurz. (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Pfui! – Uwe Wenn Städte lebenswerter werden sollen, dann müs- Beckmeyer [SPD]: Wollen wir nicht über das sen wir den Autoverkehr deutlich mindern. Das wissen Grünbuch reden, Frau Kollegin? – Zurufe von wir alle; ich glaube, dass an dieser Stelle kein großer der CDU/CSU) Dissens besteht. Auch die Stellungnahme des Deutschen – Das war Senator Sarrazin. Städtetages weist in diese Richtung. Doch wo gibt es hierzulande so etwas wie eine Citymaut oder überhaupt (Zurufe von der CDU/CSU: Ach so! – Wie es solche Ansätze? Eine solche Maut könnte den Autover- gerade passt, oder?) kehr wirklich einschränken, was sich am Beispiel Lon- don zeigt. Aber wir wissen auch, dass es massive Wider- Leider weist das Grünbuch mitunter in eine falsche stände, nicht zuletzt der Autolobby, gibt; Richtung. In Ihren Vorlagen tappen Sie auch in die Falle naiver Technikbegeisterung – als wären die Probleme (Zuruf von der CDU/CSU: Und der Bürger!) mit technischem Schnickschnack zu lösen. Handys 15604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Dorothée Menzner (A) tauchen in den Vorlagen doch nur deshalb auf, weil das natürlich, welche Schlüsse ich aus deinen Bemerkungen (C) Wort „E-Ticketing“ im Grünbuch steht. Abgesehen da- zu ziehen habe. Willst du, dass wir die Straßennetze der von, dass es bisher gar kein funktionierendes Modell für Städte darauf ausrichten, dass sie, wenn der öffentliche E-Ticketing gibt: Wer würde zu den Nutzern eines sol- Verkehr aufgrund von Streiks ausfällt, den gesamten pri- chen Modells gehören? Viele Menschen haben schlicht vaten Individualverkehr aufnehmen können? Oder willst und ergreifend kein Konto, von dem abgebucht werden du, dass wir in Zukunft Streiks verbieten, damit der öf- könnte. Das trifft wieder Schüler und Empfänger von fentliche Verkehr garantiert werden kann? Ich glaube, Transferleistungen. Sie wären von einem solchen Modell die Situation in Berlin zeigt ganz deutlich, wie wichtig ausgeschlossen; ihnen brächte das überhaupt nichts. E-Ti- öffentlicher Verkehr gerade in dieser Stadt ist. Aber auch cketing würde also nur einen erlauchten Kreis von Fahr- in anderen Städten merken wir dann, wenn er nicht mehr gästen erreichen. Das könnte allenfalls ein ergänzendes funktioniert, wie wichtig er ist. Die Stärkung des öffent- Angebot sein. Konventionelle Fahrscheine könnten da- lichen Verkehrs – diesen Punkt finden wir ja auch im durch niemals ersetzt werden. – Nur am Rande möchte Grünbuch wieder – ist eine ganz zentrale grüne Forde- ich anmerken: Außerdem könnte E-Ticketing auch ge- rung. In dieser Frage bleiben wir hart. Davon werden wir nutzt werden, um Bewegungsprofile zu erstellen. nicht abgehen. Viele Menschen fühlen sich schon heute durch gän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gige Fahrscheinautomaten überfordert. Das ist häufig sowie des Abg. Sören Bartol [SPD]) eine Zugangsbarriere bei öffentlichen Verkehrsmitteln. Da würde E-Ticketing noch eins draufsetzen. Wir müs- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Aus- sen intelligenten Nahverkehr schaffen. Das heißt: verein- schuss schon über das Grünbuch diskutiert. Es ist ein fachen, Zugänglichkeit verbessern, Tarife vereinfachen, viel besseres Papier, als es von vielen hier dargestellt es nicht immer noch komplizierter machen. wird. Ich warne auch davor, hier immer wieder reflex- artig zu sagen, die Subsidiarität dürfe nicht angetastet Ich fasse zusammen: Wenn es darum geht, die Ziele, werden. Ich sage noch einmal: Sie stellt auch für uns ein die im Grünbuch formuliert sind, zu erreichen, wird reine sehr hohes Gut dar, aber sie entbindet uns nicht von der Verkehrspolitik immer Flickschusterei bleiben. Attraktive Pflicht, hinzuschauen, was funktioniert und was nicht Stadtverkehrskonzepte müssen zunächst einmal sozia- funktioniert. Getreu dem Motto „Die Gedanken sind len Grundsätzen folgen und alle Menschen einschließen. frei“ lasse ich mir als Bundespolitiker nicht verbieten Wir befürworten ein ganzheitliches Konzept. Aus die- und möchte ich auch Europapolitikern nicht verbieten, sem Grund erhält der vorliegende Entschließungsantrag über die Frage der Mobilität in der Stadt zu diskutieren nicht unsere Zustimmung. und entsprechende Vorschläge zu machen. (B) Danke. (Renate Blank [CDU/CSU]: Es nützt nur (D) nichts, weil darüber die Kommunen entschei- (Beifall bei der LINKEN – den!) [SPD]: Lafontaine ins Europaparlament!) Angesichts der Situation in unseren Städten kann ich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: deinen Ausführungen, lieber Patrick Döring, nicht zu- Ich gebe das Wort dem Kollegen Peter Hettlich, stimmen. Ich weiß nicht, wie du dazu kommst, ein derar- Bündnis 90/Die Grünen. tiges Idealbild von den deutschen Städten zu entwerfen. (Patrick Döring [FDP]: Im Vergleich zu ande- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ren europäischen Städten!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Schauen wir uns einmal die Fakten an: In den Städten Kollegen! Lieber Patrick Döring, du hattest das Ver- entstehen 70 Prozent der Luftschadstoffe und 40 Prozent kehrskonzept der Hamburger FDP für städtische Mobili- des verkehrsbedingten CO , und ein Drittel der tödlichen tät hervorgehoben. Wenn das wirklich so gut ist, frage 2 Unfälle findet dort statt. Davon sind vor allen Dingen ich mich natürlich, warum die FDP dort nur 4,8 Prozent Fußgänger und Radfahrer betroffen. Angesichts dessen bei der letzten Wahl bekommen hat. muss man sich fragen, ob die Situation wirklich so toll (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ist, dass wir uns zurücklehnen können und nichts mehr SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Patrick machen müssen. Nein, all dies gibt Anlass, uns stärker Döring [FDP]: Daran wird es gelegen haben!) mit den Vorschlägen des EU-Grünbuchs auseinanderzu- setzen. Was aus der Forderung nach Einführung einer Citymaut in wird, werden wir ja sehen. Ich habe übri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gens nicht auf meinem Schirm gehabt, dass Hamburg Patrick Döring [FDP]: Aber die Situation ist von unserer Seite aus prioritär für solch ein Vorhaben ins besser als in allen anderen europäischen Städ- Spiel gebracht worden wäre. Aber auf den Punkt ten!) Citymaut werde ich gleich noch einmal gesondert einge- hen. Wir leben in Deutschland allerdings auch ein bisschen in einer paradoxen Welt. Die Menschen wollen auf der Dann bist du auf das Thema „Mobilität in der Stadt“ einen Seite in einer europäischen Stadt leben, aber auf anhand der aktuellen Situation in Berlin eingegangen. der anderen Seite wünschen sie sich als Autofahrer am Das ist in der Tat ein delikates Thema. Ich frage mich liebsten automobilzentrierte Zustände wie in amerikani- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15605

Peter Hettlich (A) schen Städten. Deshalb sagen viele Leute auch ganz rea- Bundespolitiker, sondern auch der Kommunalpolitiker. (C) listisch: In diesen europäischen Städten, in denen bevor- Insofern gibt es keinen Grund, an dieser Stelle über das zugt Mobilität stattfindet, für die diese Städte eigentlich Grünbuch zu jammern. Wir sollten vielmehr versuchen, nicht gedacht sind, wollen wir nicht leben. Wenn es an- die Dinge in aktuelle Politik umzusetzen. ders wäre, gäbe es ja keine Suburbanisierung. Wenn man die Leute fragt, warum sie aus der Stadt wegziehen – ich Danke schön. empfehle hierzu die neue Studie des BBR, in der es da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rum geht, unter welchen Umständen Leute eventuell in die Stadt zurückziehen würden –, erhält man sehr er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schreckende Antworten: Nur 15 Prozent der Deutschen wollen in Großstädten leben, und nur 35 Prozent der Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Großstädter wollen in Zukunft noch in Großstädten le- Ulrich Kasparick. ben. Wenn das kein Grund ist, um tätig zu werden, dann brauchen wir eigentlich gar keine Diskussion mehr zu Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- führen. minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu- Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Kernstädte nächst gilt mein Dank den Koalitionsfraktionen für den aufgrund des demografischen Wandels entwickeln: Die Entschließungsantrag. Die Bundesregierung hat auf das Kernstädte werden in Zukunft ebenso wie übrigens die Angebot der Europäischen Kommission reagiert, sich an peripheren Räume Bevölkerung verlieren; Zuwachs wird einem europäischen Diskussionsprozess, „Grünbuch“ es nur in den Räumen geben, die wir als Speckgürtel be- genannt, zu beteiligen, der auf folgende Problemlage zeichnen. Dabei wissen wir ganz genau, dass solche eine Antwort finden muss: 60 Prozent der EU-Bürger Speckgürtel sehr problematisch sind. Der Kollege leben in Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern, in Hofbauer sagt daher zu Recht: Wir müssen uns gerade denen 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU pro- bei der Frage der Mobilität über Möglichkeiten zur inter- duziert werden. Mittlerweile haben wir einen volkswirt- kommunalen Zusammenarbeit verständigen. schaftlichen Schaden durch Staus, Lärm und Verspätun- (Patrick Döring [FDP]: Ja, einverstanden!) gen von 100 Milliarden Euro pro Jahr. Diesen volkswirtschaftlichen Schaden können wir nicht einfach Hier gibt es erheblichen Handlungsbedarf. Klaus hinnehmen. Peter Hettlich hat es bereits gesagt: EU-weit Hofbauer hat recht, wenn er sagt: In den Städten arbeiten 40 Prozent der CO2-Emissionen im Nahverkehr und und auf dem Lande wohnen, das funktioniert nicht. Das 70 Prozent der sonstigen Schadstoffe entstehen in Städ- geht immer zulasten anderer. Über diesen Punkt müssen ten. Ein Drittel der tödlichen Unfälle ereignet sich in (B) wir also auf jeden Fall diskutieren; hier müssen wir tätig Stadtgebieten. Das ist die Herausforderung, vor der wir (D) werden. stehen. Wir diskutieren bei fast jeder Sitzung hier im Bundes- Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Die Kommis- tag über die Frage des Klimaschutzes. Insofern besteht sion hat einen breiten europäischen Konsultationspro- doch gar kein Grund, sich über die Forderungen, die wir zess angeregt, den wir ausdrücklich begrüßen. Wir brau- aufgestellt haben, aufzuregen. Eine Forderung lautet: chen diesen Konsultationsprozess, weil uns der Befund Reduktion der CO2-Emissionen in den Städten um sagt, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Wir 20 Prozent bis 2020 und um 80 Prozent bis 2050. Was ist müssen uns um einen integrierten Politikansatz in den denn daran schlimm? Auch an der Forderung, die Zahl Städten bemühen. der Verkehrstoten zu halbieren – das steht ja auch in der Europäischen Charta für Straßenverkehrssicherheit –, Mich freut, dass Deutschland gegenüber Brüssel mit kann ich nichts Schlimmes finden. Welche dieser Forde- einer Stimme spricht. Wir – Bundesrat, Koalitionsfrak- rungen könnte man den Leuten nicht ins Stammbuch tionen und Bundesregierung – sind uns einig, was die schreiben? Beachtung des Subsidiaritätsprinzips betrifft. Mich freut insbesondere, dass die Kommission zugesagt hat, dies zu Zur Citymaut sage ich ganz klar: Ich halte dies nicht beachten. für die Paradelösung für alle Städte. Man muss genau hinschauen. Ich weiß nicht, ob die Citymaut beispiels- Warum brauchen wir eine Diskussion auf breiter weise in Hamburg oder Stuttgart funktioniert; das sollen Ebene? Es gibt gute Beispiele, die wir aus Deutschland die Kommunen selber entscheiden. Aber lassen Sie uns beisteuern können; aber auch in Deutschland besteht darüber diskutieren, ob dies tatsächlich ein interessantes Handlungsbedarf. So sehen wir, dass in den Stadtpla- Lenkungsinstrument ist. Ich finde, dass wir uns an dieser nungsämtern noch zu wenig integrierte Ansätze verfolgt Stelle unnötigerweise beschränken. werden. Beispielsweise machen wir die Erfahrung, dass es noch nicht überall selbstverständlich ist, in Stadtent- In unserem Entschließungsantrag steht auch, dass wir wicklungskonzepten verstärkt über nicht motorisierten In- die Städte unterstützen müssen. Es nützt nichts, die dividualverkehr zu sprechen. Dabei kann uns ein europäi- Kommunalpolitiker alleine zu lassen; wir müssen sie un- scher Diskussionsprozess sehr unterstützen. Wir erwarten terstützen. Das können wir auch finanziell machen. Hier mit großer Spannung, was im Herbst als konkreter Maß- gibt es eine Menge Möglichkeiten. nahmenvorschlag aus Brüssel an die Nationalstaaten ge- Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Die Zukunft der Städte leitet werden wird. Wir werden diese konkreten Vor- liegt in unseren Händen, in den Händen nicht nur der schläge auf ihre Umsetzbarkeit hin überprüfen. Dabei 15606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick (A) wird zu prüfen sein, was der Bund, die Länder und die Vorgaben im Bereich der Citylogistik im Güterverkehr. (C) Kommunen direkt tun können. Insgesamt ist der Konsul- Dazu sage ich ausdrücklich: In den Städten ist in all die- tationsprozess, den die Kommission angestoßen hat, aus sen Teilbereichen schon vieles mit großer Kreativität auf deutscher Sicht begrüßenswert. den Weg gebracht worden. Ich lade Sie ein, sich über den heutigen Beschluss hi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) naus zusammen mit dem zuständigen Fachressort an die- Es liegen auch schon viele Erfahrungen sowohl in positi- ser Diskussion zu beteiligen, damit wir ein großes Pro- ver als auch in kritischer Form vor; dazu gehört auch das blem unserer Volkswirtschaft besser lösen als in der Thema Citymaut. Vergangenheit; denn einen volkswirtschaftlichen Scha- den in Höhe von 100 Milliarden Euro, der durch Staus Wenn wir uns über die Sinnhaftigkeit all dieser Vor- und Lärmemissionen verursacht wird, können wir nicht schläge unterhalten, müssen immer drei Gesichtspunkte akzeptieren. Ich freue mich sehr auf die praktischen Vor- im Vordergrund stehen: erstens das Subsidiaritätsprinzip schläge, die wir im Konsultationsprozess miteinander er- und zweitens die Verhältnismäßigkeit. Drittens ist zu arbeiten können. Best practice haben wir als Kommuni- prüfen, ob dadurch ein europäischer Mehrwert gegeben kationsmechanismus verabredet. Deutsche Städte können ist. Dazu heißt es im Grünbuch: eine Menge dazu beitragen. Europas Städte unterscheiden sich alle voneinander. Herzlichen Dank für Ihre politische Unterstützung. – Wie wahr! – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Aber sie stehen vor ähnlichen Herausforderun- gen … Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Bernhard Kaster, Das klingt gut, das klingt schön, und das ist sogar rich- CDU/CSU-Fraktion. tig. Aber was folgert die Kommission daraus? Die Kom- mission folgert daraus: Wir brauchen gemeinsame Lö- (Beifall bei der CDU/CSU) sungen, wir brauchen europäische Vorgaben, wir brauchen europäisches Recht. – Genau das ist falsch. Bernhard Kaster (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das von der Europäischen Kommission Die kommunale Selbstverwaltung und die Planungs- vorgelegte Grünbuch umfasst 25 Textseiten mit 25 klug hoheit unserer Städte sind Garanten dafür, dass im Wett- formulierten Fragen, die jetzt im Rahmen einer Anhö- bewerb der Städte und Metropolen die lokal bestmögli- (B) rung an die Öffentlichkeit und an uns, das nationale Par- chen Lösungen von den lokalen Akteuren, das heißt von (D) lament, gerichtet werden. Die entscheidende Frage wird den Kommunalpolitikern, den Bürgern und der Wirt- aber nicht gestellt: Brauchen wir überhaupt dieses Grün- schaft in den Städten, gesucht werden. buch? (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU – Patrick Döring Die kommunale Selbstverwaltung ist für uns ein wirk- [FDP]: Genau!) lich hohes Gut. Wir müssen aufpassen, dass sie nicht Man kann auch die Frage stellen: Hat ein Grünbuch durch eine europäische Überregulierung ausgehöhlt überhaupt eine Bedeutung? Dass es Bedeutung hat, kann wird. allerdings mit einem klaren Ja beantwortet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das heute zur Debatte stehende Grünbuch gibt die Selbstverständlich brauchen wir einen europäischen Antwort darauf selbst. In diesem Grünbuch wird ein Ak- Erfahrungsaustausch. Die hierzu im Grünbuch gemach- tionsplan angekündigt. Es werden für ganz Europa Re- ten Vorschläge weisen in die richtige Richtung. Erfah- gulierung, Rechtsetzung und einheitliche Richtlinien auf rungsaustausch und Datenerhebungen sind Dinge, die zu dem Gebiet der städtischen Verkehrspolitik angekündigt. begrüßen sind. Aber eines brauchen wir beispielsweise Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hinwei- überhaupt nicht – es ist inzwischen das liebste Kind der sen: Man muss bei Stellungnahmen zu Grünbüchern auf- Kommission geworden –: eine Agentur. Diese bürokrati- passen. Das kann sich nämlich später in der Begründung schen Monster überziehen inzwischen ganz Europa. Es von europäischem Recht niederschlagen. Das können sind inzwischen 37. Im Grünbuch hat man nur eine Na- Sie in manchem Urteil des Europäischen Gerichtshofes mensumbenennung vorgenommen. Es heißt nicht mehr nachlesen; denn dort hat das schon Eingang gefunden. „Agentur“; es heißt jetzt „Beobachtungsstelle für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mobilität in der Stadt“. neten der FDP) (Renate Blank [CDU/CSU]: Es ist aber das So werden konkrete Legislativ- und Harmonisierungs- Gleiche!) vorschläge angedacht, etwa für das Citymautsystem – das – Ganz genau; es ist das Gleiche. ist schon gesagt worden –, zur Parkraumbewirtschaftung, für standardisierte Telematikanwendungen im öffentli- Der geltende EG-Vertrag wie auch der künftige Ver- chen Personennahverkehr, für Definitionen von Schnitt- trag von Lissabon beinhalten da, wo es vernünftig ist, stellen beim Fahrgeldmanagement oder für einheitliche wichtige Zuständigkeiten für die europäische Verkehrs- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15607

Bernhard Kaster (A) politik. Ich will ein paar Beispiele nennen: gemeinsame Rede ist, welche die Mobilität der Menschen verschlech- (C) Regeln für Verkehrsunternehmen, ein gemeinsames Ver- tern und verteuern wolle. kehrszulassungsrecht, gemeinsame Sicherheitsbestim- (Renate Blank [CDU/CSU]: Selbstverwaltung mungen oder den großen Komplex der transeuropäi- der Kommunen!) schen Netze. Da ist das vernünftig. Diese Rhetorik, sehr geehrter Herr Döring, ist völlig (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) überzogen. Europa ist keine Einbahnstraße. Das zeigt im Zugleich verpflichten die bereits geltenden europäi- Übrigen wieder einmal, was die FDP von umweltpoliti- schen Verträge und erst recht der noch zu ratifizierende scher Verantwortung hält. Vertrag von Lissabon die Gemeinschaftsorgane zur Ein- (Patrick Döring [FDP]: Mit den Menschen vor haltung des Subsidiaritätsprinzips. Nicht nur die Kommu- Ort!) nalpolitiker in unseren Städten, nein, alle Bürger werden dankbar dafür sein, wenn wir dieses Subsidiaritätsprinzip Die Kommission verfolgt mit ihrem Grünbuch drei ernst nehmen – auch und gerade für weniger Bürokratie in Zielrichtungen: Erstens. Der Verkehr in den Städten soll Europa. flüssiger werden. Zweitens. Die Städte sollen sauberer werden. Drittens. Der Nahverkehr soll attraktiver wer- Jeder, der sich einmal speziell durch den Brüsseler den. Diese Ziele sind doch wohl absolut zu begrüßen. Stadtverkehr gekämpft hat, hat ein gewisses Verständnis dafür, dass sich gerade die Europäische Kommission in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Brüssel so umfangreich Gedanken über flüssigeren Ver- Anstatt sofort zu blockieren, ergreifen wir die kehr, über intelligentere Nahverkehrslösungen macht. Chance, die uns das Grünbuch liefert. Wir nehmen die (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sehr gut! – Handreichung der Kommission ernst und wollen, dass Patrick Döring [FDP]: Genau!) sich der Bundestag am Konsultationsverfahren beteiligt. Im Zuge dieser Beteiligung wollen wir die positiven An- Aber als Antwort darauf einen Aktions- und Bürokratie- sätze für den Umweltschutz in den Städten unterstützen. plan für ganz Europa vorzusehen, ist der falsche Weg. Als positive Ansätze bewerten wir zum Beispiel den eu- Vielen Dank. ropaweiten Erfahrungsaustausch, die Anregungen zur Optimierung des motorisierten Stadtverkehrs und zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Förderung intelligenter Verkehrssysteme. bei Abgeordneten der SPD) (Renate Blank [CDU/CSU]: Das sieht der Ober- bürgermeister von Nürnberg anders!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich habe mich in meiner Heimatstadt Nürnberg erkun- (B) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege (D) Martin Burkert, SPD-Fraktion. digt. Dort wurde mir bestätigt, dass man neue Rechtsakte der EU durchaus kritisch sehen würde. In diesem Sinn (Beifall bei der SPD) hat sich auch der Deutsche Städtetag gegen Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung ausgesprochen. Martin Burkert (SPD): (Renate Blank [CDU/CSU]: Zu Recht!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tri- Diese Bedenken der Kommunen berücksichtigen wir in büne! Herr Kaster, damit kein falscher Eindruck ent- unserem Antrag. steht, möchte ich zu Beginn meiner Rede klarstellen, (Renate Blank [CDU/CSU]: Aber der Staats- dass wir in einer Koalition sind und den Antrag gemein- sekretär hat anders geredet!) sam erarbeitet haben. Weil wir aber auch um die Chancen und Potenziale eines (Beifall bei der SPD) gemeinsamen Vorgehens wissen, wollen wir die Tür nicht zuschlagen. Stattdessen agieren wir umweltpoli- Herr Kaster, ich will daran erinnern, dass in Brüssel jetzt tisch vernünftig. Wir fordern die Kommission auf, sich ein kompetenter Bayer sitzt; Sie können ja mal überlegen, an die Kompetenzverteilung zu halten, und plädieren wen ich meine. Deswegen sehen wir keine Gefahr – da gleichzeitig dafür, auf europäischer Ebene nach Wegen können Sie sicher sein –, wenn es in Brüssel um Dinge zu suchen, wie die Städte bei der Umsetzung eines nach- wie Bürokratie geht. haltigen Stadtverkehrs wirksam unterstützt werden kön- Als im Jahr 1971 das erste bundesweite Umweltpro- nen. gramm vorgelegt wurde, hatte die Europäische Gemein- Im Unterschied zur FDP haben wir einen ausgewoge- schaft schon zwei Umweltrichtlinien verabschiedet. nen Antrag vorgelegt, mit dem die positiven Aspekte un- Noch heute gilt: Viele Standards, die wir beim Umwelt- terstützt werden, und gleichzeitig den Appell formuliert, schutz erreicht haben, gehen auf europäische Initiativen die Kompetenzverteilung zu beachten. Er verdient die zurück. Wir von der SPD wissen daher um die Bedeu- Unterstützung des Hohen Hauses. Ich bitte Sie, sich auf tung des europäischen Einflusses auf den Umweltschutz. die Beschlussempfehlung des Ausschusses einzulassen Wenn sich die EU nun den Problemen des Stadtverkehrs und entsprechend abzustimmen. zuwendet, werden wir daher nicht gleich auf eine kate- gorische Blockade einschwenken. Danke. Die FDP hatte dem Ausschuss einen Antrag vorge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten legt, in dem von Angriffen der europäischen Ebene die der CDU/CSU) 15608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Vizepräsident Dr. h. c. : Die Berücksichtigung von Erkenntnissen, die aus (C) Ich schließe die Aussprache. Bitten und Beschwerden der Bürgerinnen und Bür- ger gewonnen werden, ist für den gesamten Bereich Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- der Gesetzgebungsarbeit und Verwaltungstätigkeit schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf des Bundes selbstverständlich. Die Zusammenar- Drucksache 16/8360 zu der Unterrichtung durch die beit der Bundesministerien mit den Bundesbeauf- Bundesregierung mit dem Titel „Grünbuch – Hin zu ei- tragten und den Beauftragten der Bundesregierung ner neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“. Der Aus- … spielt hierbei eine wichtige Rolle. schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- Nicht die Zusammenarbeit mit dem Petitionsaus- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- schuss spielt eine wichtige Rolle, sondern die mit den hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Bundesbeauftragten und den Beauftragten der Bundesre- men von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der gierung. Da stellt sich doch die Frage: Wie ernst nimmt Fraktion Die Linke und der Grünen bei Stimmenthaltung die Bundesregierung eigentlich den Petitionsausschuss der FDP angenommen. und dessen Beschlüsse? Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- (Beifall bei der LINKEN) ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Die Frage beantwortet sich anhand folgender Zahlen Drucksache 16/8415. Wer stimmt für diesen Entschlie- aus den letzten zwei Jahren von selbst. Von den im Peti- ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – tionsausschuss meist einstimmig gefassten 165 Erwä- Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hau- gungs-, Berücksichtigungs- und Materialüberweisungen ses gegen die Stimmen der Fraktion die Grünen abge- an die Bundesregierung wurden – bei 114 abgeschlosse- lehnt. nen – lediglich 38 positiv, aber 76 negativ beschieden. Das sind 66 Prozent Negativbescheide. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Ich nenne hier nur ein Beispiel für die Ignoranz der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Bundesregierung gegenüber Beschlüssen des Petitions- Kersten Naumann, Heidrun Bluhm, Petra Pau, ausschusses: Mehrere Bürgerinnen und Bürger wandten weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE sich mit einer Petition gegen die Kürzung der Regelleis- LINKE tung im Falle eines Krankenhausaufenthaltes. Da dieser Förderung der demokratischen Teilhabe und Vorgang dem Willen des Gesetzgebers widersprach, Stärkung des Petitionsrechts überwies der Petitionsausschuss die Petition der Bundes- regierung zur Erwägung, weil die Eingabe Anlass zu ei- (B) – Drucksachen 16/2181, 16/6785 – nem Ersuchen an die Bundesregierung gab, das Anlie- (D) gen noch einmal zu prüfen und nach Möglichkeiten der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Abhilfe zu suchen. Was machte die Bundesregierung? Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Sie schaffte keine Abhilfe, sondern binnen sechs Wo- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. chen beschloss sie, Unrecht zu Recht zu machen, und Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin entsprach so in keiner Weise dem einstimmigen Votum Kersten Naumann, Fraktion Die Linke, das Wort. des Petitionsausschusses. (Beifall bei der LINKEN) Da verwundert es nicht, wenn die Bundesregierung auf die Frage nach der Bedeutung von Überweisungsbe- schlüssen durch den Petitionsausschuss an sie lediglich Kersten Naumann (DIE LINKE): antwortet – ich zitiere –: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen. – Die Bundesregierung verfährt mit den an sie gerich- Diese Haltung vieler Menschen bestätigte kürzlich der teten Überweisungsbeschlüssen des Petitionsaus- Thüringen-Monitor. Als „Achillesferse“ der Demokratie schusses nach Maßgabe ihrer Prüf- und Berichts- bezeichneten die Jenaer Wissenschaftler die „als unzu- pflichten. reichend wahrgenommene Bereitschaft der politischen Das spricht doch Bände. Man nimmt diese Beschlüsse Eliten, Anliegen der Bürger … ernst zu nehmen.“ nicht auf, um die Politik auf den Prüfstand zu stellen, 80 Prozent der Befragten meinen, dass die Parteien nur sondern man kommt lediglich den Berichtspflichten auf Stimmenfang aus sind. Zwei Drittel glauben, keinen nach. Einfluss darauf zu haben, was die Regierung tut – so die Autoren der Untersuchung. Staatliche Sozialsysteme erfuhren in den letzten Jah- ren massive Einschränkungen und wurden abgebaut. Die Deutlicher Beweis dieser Stimmung sind die zahlrei- Berichte über Kinderarmut, über die Situation von Rent- chen Beschwerden an die Bundesregierung und an den nern, kranken und behinderten Menschen sowie Migran- Bundestag, insbesondere gegen die sozialen Ungerech- ten belegen diese Entwicklung in erschreckender Weise. tigkeiten, die Gesundheits- und die Rentenreform, Die Sozialgerichte registrieren einen drastischen Anstieg Hartz IV und die Praxisgebühr, um nur einige zu nennen. der Zahl der Klagen und der eingereichten Widersprü- In der Antwort auf unsere Frage, welche Rolle Petitio- che. Diese Klageflut hat ihre Ursachen. Die Menschen nen im Gesetzgebungsverfahren spielen, lesen wir – ich fühlen sich in ihren individuellen Rechten massiv be- zitiere –: schnitten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15609

Kersten Naumann (A) (Beifall bei der LINKEN) Günter Baumann (CDU/CSU): (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Mit keinem Wort wurde in der Antwort auf unsere Herren! Große Anfrage auf direktdemokratische Mittel wie Volksinitiativen eingegangen. Die Bürger wollen aller- Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Ge- dings mehr mitreden. Aber auf Bundesebene gibt es das meinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Mittel der Volksinitiative nicht. Es können nur Massen- Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die petitionen eingereicht werden. Die Linke ist der Auffas- Volksvertretung zu wenden. sung, dass sie in den Stand von Volksinitiativen gehoben So unser Grundgesetz. Der Petitionsausschuss, meine werden sollten. Damen und Herren von den Linken, ist ein hohes Gut (Beifall bei der LINKEN) unserer Demokratie. Ich möchte eindeutig sagen: Dieses hohe Gut der Demokratie hat sich bisher bewährt. Viele von ihnen sind von größter öffentlicher Brisanz und von größtem Interesse. Sie betreffen zum Beispiel (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie das NPD-Verbot, den Afghanistan-Einsatz, die Pendler- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- pauschale, die Praxisgebühr und die Rentenungerechtig- NISSES 90/DIE GRÜNEN) keit, um nur einige zu nennen. Doch auch hier entschei- Wir Abgeordneten bemühen uns unter sehr großem den zwei Drittel des Bundestages gegen zwei Drittel der Arbeitsaufwand, jede einzelne Petition sach- und fach- Bevölkerung. Ist es dann noch verwunderlich, dass im- gerecht zu bearbeiten. mer mehr Bürgerinnen und Bürger, wie eingangs zitiert, sagen: „Die da oben machen doch sowieso, was sie wol- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: So ist es!) len“? Wir haben einen Ausschussdienst, der mit Fachexperten Politikverdrossenheit verbreitet sich immer mehr. Die besetzt ist, die uns hervorragend zuarbeiten, schleichend zunehmende Wahlabstinenz ist dafür ein (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ja! Trotz dieser starkes Indiz. Hinter der Sorge, das Volk entscheide Vorsitzenden!) spontan und sei für komplexe Entscheidungen nicht reif, verbirgt sich ein eigenartiges Demokratieverständnis. damit es uns leichter fällt, Entscheidungen zu treffen. Allen Unkenrufen zum Trotz hat ein Bürgerentscheid (Elke Reinke [DIE LINKE]: Das ist nicht das das demokratische Modell noch nie ins Wanken ge- Problem!) bracht, nicht einmal beim schwer überschaubaren Bür- gerhaushalt, der in Köln und in Berlin-Lichtenberg prak- Frau Naumann sagte: Die Politikverdrossenheit nimmt (B) tiziert wird. zu, die da oben reagieren nicht, und es funktioniert ein- (D) fach nicht mehr. – Ich möchte Ihnen einige wenige Zahlen Bürgerbeteiligung ist sinnvoll, weil für eine Konso- nennen, die eine vollkommen andere Sprache sprechen. lidierung des Haushalts die Zustimmung der Men- Im letzten Jahr wurden beim Bundestag rund 17 000 Peti- schen notwendig ist. tionen eingereicht. Zur Verdeutlichung: Das entspricht ungefähr 65 Petitionen pro Tag. Dieses Zitat stammt nicht von einem Linken, sondern von einem Finanzpolitiker der CDU-Fraktion in Ham- (Elke Reinke [DIE LINKE]: Was passiert denn burg. Wenn er im Bundestag säße, müsste er sich wahr- damit?) scheinlich von seiner eigenen Fraktion eines Besseren belehren lassen. – Ich werde Ihnen gleich erklären, was damit passiert. Außerdem gibt es eine ganze Reihe von Massen- und Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich Sammelpetitionen. Dazu will ich Ihnen noch eine Zahl sagen: Die Politik reagiert nicht mehr auf die gemein- nennen: Jedes Jahr beteiligen sich daran etwa schaftlichen Bedürfnisse der Bürger. Die Fraktion Die 500 000 Bürger. Dieses System wird also umfassend ge- Linke will das ändern. Wir fordern deshalb eine umfas- nutzt. Das Beispiel, das Sie vorhin angeführt haben, war sende Demokratisierung aller Bereiche: hin zu einer bür- eine Verzerrung der Wirklichkeit. Denn von allen Peti- gernahen Verwaltung, zu Bürgerbeteiligungsverfahren tionen, die bei uns eingereicht werden, werden etwa und zu transparenten Strukturen. 35 Prozent für die Bürger positiv beschieden, Ich danke Ihnen. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Genau!) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der in welcher Form auch immer. Sie sollten also nicht den CDU/CSU: Das war aber eine flammende Eindruck erwecken, dass „dort oben“ nichts passiert. Rede!) Das ist eine falsche Darstellung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist nicht so Das Wort hat nun Kollege Günter Baumann, CDU/ wie in der DDR!) CSU-Fraktion. Ich verstehe nicht, wie Sie im Deutschen Bundestag (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. ernsthaft behaupten können, die Rechte der Bürger wür- Michael Bürsch [SPD]) den beschnitten; 15610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Günter Baumann (A) ( [CDU/CSU]: Das war in der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) SED so!) der SPD – Elke Reinke [DIE LINKE]: Und Sie wollen ein anderes Volk!) denn gerade das Petitionsrecht wird von den Bürgern ausgiebig genutzt. Das Petitionsverfahrensrecht, eine Angelegenheit des Deutschen Bundestages und ein Instrument der parla- Selbstverständlich kann das Petitionsrecht noch ver- mentarischen Kontrolle, ist nicht zu verwechseln mit bessert werden. Insbesondere in den letzten Jahren sind Eingaben an die Regierung. Exekutive und Legislative einige Neuregelungen getroffen worden. Wir haben die sind zwei ganz verschiedene Dinge. Möglichkeit geschaffen, Petitionen per E-Mail einzurei- chen. Diese Möglichkeit wird von den Bürgern genutzt. (Elke Reinke [DIE LINKE]: Das haben wir Ungefähr 10 Prozent der Petitionen werden per E-Mail durchaus erkannt! – Gegenruf des Abg. Paul eingereicht. Man kann also nicht sagen, die Bürger wür- Lehrieder [CDU/CSU]: Das weiß die Linke den das nicht akzeptieren. immer noch nicht!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE – Das haben Sie inzwischen gelernt? Das freut mich. GRÜNEN]: Sehr richtig!) Doch Sie haben, wie aus Ihren Fragen und Unterstellun- gen hervorgeht, nach wie vor ein einseitiges Verständnis Darüber hinaus gibt es die Form der öffentlichen Peti- des Funktionierens von Legislative und Exekutive. tion; im letzten Jahr wurden etwa 600 von ihnen einge- reicht. Bei öffentlichen Petitionen hat man die Möglich- Neben dem Forum des Petitionsausschusses gibt es keit, im Internet mit zu unterzeichnen und einen die Regierungsbeauftragten. Gewiss kann man die Mei- Kommentar abzugeben. nung vertreten, wir hätten zu viele davon; diese Meinung habe auch ich schon vertreten. Aber es bleibt festzuhal- (Elke Reinke [DIE LINKE]: Die Bürgerinnen ten: Die Regierung ist von uns unabhängig, die Arbeit und Bürger müssen dazu erst einmal einen In- des Petitionsausschusses wird in keiner Form untergra- ternetzugang haben!) ben. Im Petitionsausschuss geht es um ganz spezielle Fachgebiete und Sachgebiete. Ein Monopol für die Bear- Auch dazu eine Zahl: Im letzten Jahr wurden von den beitung von Bürgerproblemen gibt es nicht. Es gibt meh- Bürgerinnen und Bürgern knapp 900 000 Einträge vor- rere Stellen, die dafür zuständig sind. Insgesamt funktio- genommen. Man kann also nicht sagen, sie würden diese niert das im Bundestag und bei der Regierung gut. Möglichkeit nicht akzeptieren und sich nicht beteiligen. Ferner gibt es die Ombudsleute der Länder; auch sie sind Das ist eine falsche Darstellung. eine Bereicherung. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Eine Instrumentalisierung des Petitionsrechts, liebe (D) bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Kolleginnen und Kollegen von der Linken, werden wir NISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht mitmachen. In dieser Wahlperiode haben wir bereits sechs öffent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- liche Sitzungen zu Petitionen aus den Bereichen Be- neten der SPD und des Abg. Jens Ackermann rufspraktika, Nichtraucherschutz, nichteheliche Le- [FDP]) bensgemeinschaften, Wahlrecht, Steuer und Verkehr durchgeführt. Die Beteiligung der Bürger war hoch. Das Ich will auf einige Punkte Ihrer Anfragen eingehen. zeigt, dass man nicht pauschal von Politikverdrossenheit Beim Thema Asyl fordern Sie, dass ein laufendes Peti- sprechen kann. tionsverfahren aufschiebende Wirkung hat. Sie wollen, dass für die Dauer des Petitionsverfahrens eine Duldung Wir gehen auch auf Messen. Am Wochenende sind eingeführt wird. Das ist das Gegenteil von dem, was in wir auf der Thüringen-Ausstellung in Erfurt. unseren Gesetzen steht. Eine Härtefallkommission auf (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Bundesebene wird es nicht geben. Wir haben Regelun- gen in den Ländern, die hervorragend funktionieren. Ich habe gerade auf Messen immer wieder erlebt, dass die Bürger dankbar sind, mit uns ins Gespräch kommen (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Hervorragend zu können. Man kann also nicht sagen: Die da oben sind nicht, aber sie funktionieren!) weit weg. – Sie funktionieren hervorragend. Die Arbeit des Petitionsausschusses wird von den (Zuruf von der SPD: Mal so, mal so!) Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land angenom- men. Unsere Bilanz kann sich sehen lassen. Insofern – Sie können sich vor Ort informieren. stellt sich die Frage: Was will die Linke mit ihrer Großen Der Petitionsausschuss ist kein Fachausschuss, der Anfrage? Wir haben Ihnen bereits im Juni letzten Jahres Gesetze in den Bundestag einbringen könnte, Frau eine klare Antwort gegeben. Sie wollen ein anderes Peti- Naumann. tionsrecht, Sie wollen einen anderen Staat, Sie wollen ein anderes Land. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) (Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt!) Das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, Probleme, Bitten, Anregungen der Bürger zu bearbeiten. Wir werden das nicht mitmachen. Davon haben wir, lieber Josef Winkler, jede Woche meh- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15611

Günter Baumann (A) rere auf unserem Schreibtisch. Wir machen hier eine her- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es ist auch eine (C) vorragende Arbeit. Große Anfrage!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das war notwendig, weil der größte Teil der Fragen nichts mit dem Petitionsrecht zu tun hat. Ich möchte im Zusammenhang mit den Anfragen noch ansprechen, dass wir es nicht zulassen werden, dass (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem die Linksfraktion das Petitionsrecht missbraucht, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dennoch sind die Antworten präzise und angemessen. wie es in der letzten Zeit mehrmals passiert ist. Wir wer- Dafür danke ich den unbekannten Verfassern. den nicht zulassen, dass die Linkspartei auf Bögen, auf deren Kopf „Die Linke“ steht, Unterschriften sammelt (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ und mit ihren Parteifotografen aus der öffentlichen An- CSU und der SPD) nahme der Petition eine Show macht. Die Große Anfrage der Linken gleicht einem Sto- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der chern im Nebel. Sie vermischen Fragen und Forderun- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gen. Was Sie herausfinden möchten, wird nicht recht NEN – Lachen bei Abgeordneten der LIN- klar. KEN) (Elke Reinke [DIE LINKE]: Ihnen!) Dann findet eben keine öffentliche Annahme von Peti- tionen mehr statt, zum Nachteil der Petenten. So haben Was möchten Sie? Möchten Sie mehr Bürgernähe? Im wir leider reagieren müssen. Petitionswesen haben wir Gott sei Dank viel Bürger- nähe. Wir besuchen Messen und sind vor Ort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Möchten Sie mehr Transparenz? Auch das haben wir Eines zum Schluss – meine Redezeit geht zu Ende –: im Petitionswesen bereits. Wir tagen öffentlich. Unsere Ich finde es als Bürger der neuen Bundesländer unerträg- Sitzungen sind im Internet nachzuvollziehen. lich, wenn sich ausgerechnet diejenigen, die an men- schenverachtenden Aktionen mit schuld sind, im Peti- Möchten Sie mehr Kontrolle? Auch das haben wir im tionsausschuss mit höchsten Voten für Opfer des SED- Petitionswesen. Wir – der Deutsche Bundestag – sind Regimes einsetzen. das Kontrollorgan. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem (B) der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (D) heuchlerisch! – Widerspruch bei der LINKEN) geordneten der SPD) Die Linkspartei verhöhnt die Opfer. Das ist unerträglich. Frau Naumann, Sie haben ausgeführt, dass Bedeu- tung, Ausübung und Effektivität des Petitionsrechts von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Regierung, Parlament und Medien unterschätzt werden. neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Das mag zwar sein, aber auf sie kommt es nicht an. Es SES 90/DIE GRÜNEN – Elke Reinke [DIE geht um die Bürgerinnen und Bürger. Sie sind wichtig. LINKE]: Ihre Ausführungen sind unerträg- Die Menschen machen regen Gebrauch von ihrem Peti- lich!) tionsrecht. Ich komme zum Schluss. Das Petitionsrecht ist ein Die FDP steht für eine Stärkung der Bürgergesell- hohes Gut in unserer lebendigen Demokratie, und – das schaft, für mehr Eigenverantwortung und mehr Bürger- sage ich deutlich – es funktioniert auch. Die Bürger neh- beteiligung. men es an. Wir haben keine Veranlassung, es aus partei- politischen Gründen – weil die Linken dies wollen – zu (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wir auch!) verändern. Wir haben am Anfang dieser Legislaturperiode einen Vielen Dank. Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, der die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem und Volksentscheiden in das Grundgesetz fordert. Es ist BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in der Tat notwendig, dass sich die Bürgerinnen und Bür- ger stärker an den politischen Prozessen beteiligen. Die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: FDP möchte mehr Bürgerbeteiligung. Das Petitionswe- Das Wort hat nun Jens Ackermann, FDP-Fraktion. sen leistet einen Beitrag dazu. Es ist ein hohes Gut in un- serem Land. (Beifall bei der FDP) Oft ist eine Petition der letzte Strohhalm der Bürge- rinnen und Bürger, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Jens Ackermann (FDP): Alle Fraktionen im Hause sind verpflichtet, sich der Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Nöte und Sorgen der Petenten anzunehmen. Kollegen! Wir beraten heute die Große Anfrage der Lin- ken zum Petitionsrecht. Die Antwort der Bundesregie- (Günter Baumann [CDU/CSU]: Alle Fraktio- rung hat einige Zeit auf sich warten lassen. nen sollten verpflichtet sein!) 15612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Jens Ackermann (A) Ein klug genutztes Petitionsrecht kann Schritt für Demokratie zu leben. Das ist das Ziel der FDP-Bundes- (C) Schritt für mehr Bürgernähe und mehr Transparenz sor- tagsfraktion. gen. Um dieses kostbare Gut zu bewahren, müssen wir alle darauf achten, wie wir als Abgeordnete damit umge- (Beifall bei der FDP) hen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat nun Michael Bürsch für die SPD-Frak- der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- tion. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Zwei Punkte sollten vermieden werden. Erstens darf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Petitionsausschuss nicht dazu missbraucht werden, politische Schlachten auszutragen. Das können wir in jedem anderen Ausschuss tun und unsere unterschied- Dr. Michael Bürsch (SPD): lichen Ansätze zum Tragen bringen – sei es in der Steu- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die erpolitik, in der Bildungspolitik oder in der Gesundheits- Große Anfrage der Linken behandelt zwei Themen: För- politik –, aber nicht im Petitionsausschuss. Im derung der demokratischen Teilhabe und Stärkung des Petitionsausschuss müssen wir das Anliegen des einzel- Petitionsrechts. Zum zweiten Teil wird meine Kollegin nen Bürgers betrachten. Darum muss es gehen. Die poli- Lösekrug-Möller das Passende sagen. tischen Schlachten müssen außen vor bleiben. Gerade bei Themen wie der Förderung der demokrati- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen Teilhabe ist man auf der Suche nach Gemeinsam- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE keiten. Ich kann eine Gemeinsamkeit nennen, die uns GRÜNEN – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Aber wahrscheinlich zur großen Überraschung der Fraktionen nicht wertneutral!) alle eint. Es ist der erste Satz der Großen Anfrage: Zweitens müssen Petitionen auch dann zügig bearbei- Demokratie lebt von dem Engagement und der tat- tet werden, wenn sie innerhalb der Koalitionsfraktionen sächlichen Beteiligung der Bürgerinnen und Bür- strittig sind. Eine Verschleppung aus parteitaktischen Er- ger. wägungen haben die Petentinnen und Petenten nicht ver- Genau richtig! Wie wahrscheinlich alle hier kann ich dient. dem zustimmen. Ansonsten schließe ich mich der Beur- Den politischen Missbrauch spreche ich aus einem teilung des Kollegen Ackermann an. Auch ich weiß nicht so recht, worauf das Ganze hinauslaufen soll. Ich (B) konkreten Anlass an. Die Obleute wurden im letzten (D) Jahr eingeladen, eine Petition mit vielen Unterschriften will in meinem Teil, Formen der Beteiligung, ein biss- gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan entgegen- chen Licht ins Dunkel bringen und eine gewisse Syste- zunehmen. Dieses Anliegen wurde ebenso ernst genom- matik vorschlagen. men wie jede andere Petition. Im Nachhinein hat sich Zunächst einmal möchte ich zwei Feststellungen zu herausgestellt, dass dies eine Parteiaktion der Linken diesem Thema treffen, die nicht ganz zueinander passen. war. Sie tun damit dem Petitionswesen keinen Gefallen. Auf der einen Seite gibt es in Deutschland ein beträchtli- Im Gegenteil: Damit gefährden Sie das Petitionswesen. ches Engagement. 23 Millionen Menschen in Deutsch- land sind engagiert; das ist die Feststellung des Freiwilli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gensurvey. Aus diesem Freiwilligensurvey wissen wir der SPD) auch, dass mehr als zwei Drittel der Menschen durch En- Der Gedanke an Parteitaktik drängt sich auch an an- gagement die Gesellschaft zumindest im Kleinen mitge- derer Stelle auf. Auf Initiative der FDP-Fraktion haben stalten wollen. Wir wissen aus anderen Umfragen, dass wir den Ausschussdienst gebeten, eine Liste zu erstellen, über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung starkes oder wie viele Petitionen noch in der Warteschleife sind. Oft mittleres politisches Interesse haben. Es ist also nicht so, gibt es Beratungsbedarf, man muss sich noch einmal ab- dass die Deutschen kein Interesse an Politik haben. stimmen, und eine Petition wird zurückgestellt. Dagegen Auf der anderen Seite wissen wir alle, dass sich das habe ich nichts einzuwenden. Aber in einigen Fällen nicht mit dem verträgt, was wir zum Beispiel in Sachen muss man schon erkennen, dass eine Petition dann, wenn Wahlbeteiligung erleben. Ich nenne hier als Stichwort man sich nicht einigen kann, wieder und wieder vertagt nur die Beteiligung von 64 Prozent bei der Wahl in wird. Damit ist dem Petenten nicht geholfen. Er hat es Hamburg. Wir erleben eine weiter sinkende Zahl an Par- auch nicht verdient, dass es zu keinem Votum kommt, teimitgliedern. Auch bei der Bürgerbeteiligung sind die bloß weil sich die Koalition nicht einigen kann. Zahlen und Fakten leider nicht sehr erfreulich. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das kann Ich nenne zwei Beispiele. Erstes Beispiel: Immer wie- nicht sein! – Klaus Uwe Benneter [SPD]: der – auch in Ihrer Anfrage – wird das Bürgerbegehren Was? Ross und Reiter nennen!) genannt. Zwischen 1956 und 2005 sind in den rund Das darf meines Erachtens nicht sein. 14 000 deutschen Kommunen weniger als 3 000 Bürger- begehren durchgeführt worden. Wenn man das auf die Insgesamt ist unser Petitionswesen gut und notwen- 50 Jahre umrechnet, dann sind das nach Adam Riese pro dig. Es funktioniert. Das Petitionsrecht zu fördern, heißt, Jahr durchschnittlich 60 Bürgerbegehren, verteilt auf Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15613

Dr. Michael Bürsch (A) alle 14 000 Kommunen. Das ist wirklich nicht beträcht- Eine zweite Form ist in den letzten zwei Jahren mo- (C) lich. dellhaft erprobt worden: das Bürgerpanel. Die Idee stammt aus England. Es ist eine viel weniger aufwendige Das zweite Beispiel ist die Bürgerkommune. Dieses Form, Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen, indem man Modell, das Ende der 90er-Jahre mit einem wunderbaren sie regelmäßig befragt; in der Stadt Nürtingen wird das Konzept für Bürgerbeteiligung gestartet ist, ist nicht die hervorragend umgesetzt. Es geht dabei um Fragen, die große Erfolgsgeschichte geworden. Die Kommunale Ge- die Kommune und damit die Bürgerinnen und Bürger es- meinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement hat selber senziell betreffen. das Resümee gezogen: Bislang unterstützen die wenigs- Ein Modellversuch, der von der Verwaltungshoch- ten Kommunen bürgerschaftliches Engagement aus dem schule Speyer betreut wird, hat zu sehr erfreulichen Er- Blickwinkel der Schaffung einer bürgerorientierten gebnissen geführt: Ein Bürgerpanel erzeugt einen gerin- Kommune. Ich könnte die Beispiele noch erweitern. Fa- gen Aufwand sowie geringe Kosten und führt zu einer zit ist: Auf der einen Seite gibt es ein beträchtliches großen Beteiligung sowie zu einem deutlichen Interesse Engagement und ein großes politisches Interesse, aber der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, das Projekt auf der anderen Seite ein deutliches Defizit. fortzusetzen. Daraus entwickelt sich eine immer intensi- vere Form des Engagements und der Beteiligung an Bür- Was ist zu tun? Ich kann mit Fug und Recht auf die gerangelegenheiten. Das Bürgerpanel scheint eine sehr Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ver- sinnvolle Form der Beteiligung zu sein, die wir weiter- weisen, der ich einmal vorgestanden habe. Sie hat das entwickeln sollten. Leitbild der Bürgergesellschaft vertreten. Das ist für uns vielleicht eine Orientierung. Dort heißt es: Die demokra- Letztlich läuft alles auf das hinaus, was Max Frisch tischen und sozialen Strukturen unseres Landes sollen gesagt hat – damit kommen wir zum Thema der Debatte durch die aktiv handelnden, an den gemeinschaftlichen zurück –: Aufgaben teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger mit Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegen- Leben erfüllt, verändert und auf zukünftige gesellschaft- heiten einzumischen. liche Bedürfnisse zugeschnitten werden. Wenn wir das ernst meinen und die Demokratie inso- Was kann das nur bedeuten? Offensichtlich entspre- fern wirklich wiederbeleben wollen, müssen wir – das ist chen die Formen und Möglichkeiten der Bürgerbeteili- ein entscheidender Punkt – ernsthafte Möglichkeiten der gung, die wir anbieten, nicht den Erwartungen der Bür- Beteiligung und der Mitbestimmung bieten. Am Ende zählt, was sich wie ein roter Faden durch die Arbeit der gerinnen und Bürger. Das Wichtigste ist vermutlich nicht Enquete-Kommission gezogen hat: Wir müssen eine An- die Wahlbeteiligung; obwohl es seine Berechtigung hat, (B) erkennungskultur schaffen, sodass die Bürgerinnen und (D) die Wahlbeteiligung zu beobachten, sollten wir nicht nur Bürger, die sich die Mühe machen, sich zu beteiligen, auf sie schauen. Es ist auch berechtigt – ich bin dafür –, dafür entsprechende Wertschätzung und Würdigung er- über Formen der direkten Demokratie nachzudenken. fahren. Vermutlich ist viel wichtiger, echte Beteiligung anzubie- ten, das heißt, den Menschen eine Möglichkeit zu bieten, Ich habe viel dadurch gelernt, dass ich viel gelesen die sie in Wahlen nicht mehr unbedingt sehen, nämlich habe. Deswegen habe ich der Linken eine wunderbare wirklich etwas mitzugestalten. Veröffentlichung mitgebracht: Beteiligungsverfahren und Beteiligungserfahrungen. Dort können Sie auf Man kann zum Beispiel den Bürgerinnen und Bür- 80 Seiten wunderbar nachlesen, was ich eben in sieben gern in Kommunen oder Bezirken die Möglichkeit er- Minuten gesagt habe. Ich wünsche eine angenehme Lek- öffnen – in Berlin wird das zum Teil getan –, über den türe. Bürgerhaushalt ein wirkliches Mitspracherecht zu erhal- (Beifall bei der SPD – Abg. Dr. Michael ten. Der Bürgerhaushalt ist schon vor 15 Jahren in Brasi- Bürsch [SPD] übergibt Abg. Elke Reinke [DIE lien entwickelt worden. Jetzt gibt es hier in Berlin und LINKE] ein Schriftstück) überall in Deutschland erfolgversprechende, erfreuliche Modelle, die nichts an der repräsentativen Demokratie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ändern; denn weiterhin entscheiden die gewählten Re- Ich erteile das Wort Monika Lazar, Fraktion Bünd- präsentantinnen und Repräsentanten am Ende über den nis 90/Die Grünen. Haushalt. Die Bürgerinnen und Bürger werden über wirkliche Mitsprachemöglichkeiten ernsthaft an der Ent- Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stehung und Entwicklung des Haushalts beteiligt. Sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können darüber mitbestimmen, welche Prioritäten in ei- sind im Petitionsausschuss viel Kummer gewöhnt; aber nem Haushalt gesetzt werden. die Auseinandersetzung mit dieser Großen Anfrage und Wir müssen uns fragen: Welche Formen der Mitbe- die Antwort der Bundesregierung waren nicht so er- stimmung und der Beteiligung gibt es, damit Bürgerin- quicklich. Wir haben wahrlich keinen Grund, die Bun- nen und Bürger das Gefühl haben: Es geht nicht um eine desregierung in Schutz zu nehmen; aber die Linke hat mit der hier vorgelegten Anfrage wenig getan, um die Alibi- oder Schaufensterveranstaltung, sondern es ist Bundesregierung um den Schlaf zu bringen – eher im wirklich ernst gemeint, es wird so praktiziert, wir neh- Gegenteil. men daran teil? Der Bürgerhaushalt ist eine Form, die ich empfehlen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 15614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Monika Lazar (A) Sie hat der Bundesregierung ein Tableau zur Verfügung (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (C) gestellt, sich besonders bürgerfreundlich darzustellen. DIE GRÜNEN]: Offensichtlich! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Die waren da gerade (Zuruf von der CDU/CSU: Ist sie ja auch!) nicht da! – Josef Philip Winkler [BÜND- Wir können die Selbstgefälligkeit in der Bundesregie- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Realitätsver- rung, die aus dieser Antwort spricht, allerdings nicht weigerung!) durchgehen lassen; dasselbe gilt für das vordemokrati- Der Modellversuch wird jetzt in den Regelbetrieb über- sche Petitionsverständnis der Linksfraktion. führt. Er hat auch gezeigt, wo wir es noch besser machen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können. Darum suchen wir nach Mitteln und Wegen, aufgetretene Schwächen zu beseitigen und neue Er- Was ist unsere Aufgabe im Petitionsausschuss? Un- kenntnisse aufzunehmen. sere tägliche Erfahrung ist doch, dass sich die Menschen massenhaft darüber beschweren, dass sie auf Ämtern (Günter Baumann [CDU/CSU]: Sie finden häufig herablassend behandelt werden, dass sie keine aber keine Schwächen!) Antworten oder in unverständlichem Bürokratendeutsch – Na ja, niemand ist vollkommen, auch nicht der Peti- verfasste Antworten erhalten oder dass sie gar falsch be- tionsausschuss. raten worden sind. Manchmal gab es sogar gänzlich feh- lerhafte amtliche Bescheide, die wir kritisiert haben. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Aber fast!) Die Bundesregierung weist in Ihrer Antwort auf die Darüber hinaus arbeiten wir im Ausschuss sehr aktiv Große Anfrage darauf hin, dass der Bundestag kein Mo- an der bürgerfreundlichen Ausgestaltung öffentlicher nopol auf die Behandlung von Bürgerbeschwerden hat. Ausschusssitzungen. Das sind die Punkte, nach denen Das stimmt. Aber dann kann man nicht den lapidaren Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, fra- Hinweis geben, der Bürger könne sich ja entscheiden, ob gen sollten, und zwar im Ausschuss, wo wir alle mitein- er sich an die Beauftragten der Bundesregierung oder an ander beraten. Aber wo sind Ihre Vorschläge? Das Peti- den Petitionsausschuss wende. Entscheiden kann sich tionsrecht, die Verfahrensgrundsätze, liegen in unserer die Bürgerin oder der Bürger tatsächlich. Wenn er etwas Verantwortung. Diesbezüglich kann man etwas verän- erreichen will, sollte er sich aber an uns, an den Peti- dern. Machen Sie im Ausschuss Vorschläge, dann kön- tionsausschuss, wenden. Jeder Bürger und jede Bürgerin nen wir darüber beraten. hat das Recht auf eine Prüfung seiner oder ihrer Eingabe (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE durch den Petitionsausschuss. GRÜNEN]: Das haben wir vor einem halben Der Petitionsausschuss hat Verfassungsrang; die Vor- Jahr schon einmal gesagt, und es kamen keine (B) (D) rednerinnen und Vorredner haben darauf schon hinge- Vorschläge!) wiesen. Darauf muss man die Bundesregierung, gleich Aber sich nur darüber zu beklagen, dass die Bundesre- welcher Zusammensetzung, immer wieder mit Nach- gierung das nicht tut, macht überhaupt keinen Sinn. druck hinweisen. Wir drehen im Petitionsausschuss gewiss nicht am Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak- großen Rad der Weltgeschichte. Aber wir verbessern die tion, Sie könnten wissen, dass wir im Petitionsausschuss Welt jeden Tag ein kleines Stück. zurzeit sehr intensiv an der Fortentwicklung von öffent- lichen Petitionen und der bürgerschaftlichen Teilhabe ar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei beiten. Wir befinden uns in einer bedeutsamen Phase der der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Fortentwicklung des Petitionsrechts. Das Büro für Tech- Dabei geht es um das sprichwörtliche Bohren dicker nikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag hat Bretter. Dafür bedarf es solider Handwerkerinnen und uns einen außerordentlichen Erfolg bei der Einführung Handwerker. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der öffentlicher Petitionen bescheinigt. Linksfraktion, arbeiten Sie dabei mit. Im Petitionsaus- (Jörg Tauss [SPD]: Aber das müsste die schuss hat wirklich niemand Berührungsängste im Hin- Vorsitzende doch wissen!) blick auf Ihre Fraktion. Ich zitiere: (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wir stellen sie nur zurück!) Mit der Etablierung des Modellversuchs „öffentli- che Petition“ im September 2005 hat der Deutsche Sie sind herzlich eingeladen, Ihre Vorschläge zu präsen- Bundestag, insbesondere sein Petitionsausschuss, tieren. Wenn sie vernünftig sind, haben Sie uns auf Ihrer einen Beitrag dazu geleistet, das im Grundgesetz Seite. verankerte Petitionsrecht weiter zu stärken und aus- (Zuruf von der LINKEN: Das ist eine zubauen … Es wurde größere Transparenz und Öf- Drohung!) fentlichkeit für das Petitionsverfahren geschaffen und Raum für den möglichst rationalen Austausch – Da mache ich Ihnen schon einmal ein Angebot, und von Argumenten in Petitionsangelegenheiten be- dann kommt so etwas. reitgestellt. Wir wollen das Petitionsrecht zu einem politischen Das scheinen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Mitwirkungsrecht machen. Sie wollen das Petitionsrecht der Linksfraktion, nicht mitbekommen zu haben. zu einem politischen Kampfinstrument machen. Das ha- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15615

Monika Lazar (A) ben wir bei den öffentlichen Petitionsübergaben mitbe- Als Erstes fällt auf: Hier wird die Regierung zu einer ori- (C) kommen; das ist schon von einigen angesprochen wor- ginären Aufgabe des Parlaments befragt. Schon das mu- den. Ich war ebenfalls dabei und empfand das als sehr tet merkwürdig an. unangenehm. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Vor- (Jens Ackermann [FDP]: Das war nicht demokratisch!) öffentlich!) Trotz der zahlreichen Fragen hat mir die Frage 109 an Vor allen Dingen haben Sie nichts damit erreicht. Was ist die Bundesregierung gefehlt, wann sie gedenkt, einen dabei herausgekommen? – Zurzeit gibt es keine öffentli- Bundespetitionsminister zu ernennen. Das hätte zu Qua- chen Petitionsübergaben. lität und Anzahl gepasst. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Zum Nachteil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Betroffenen!) neten der SPD) Das ist für uns alle sehr betrüblich, und wir müssen uns Wir von der Union teilen diese – es wurde gesagt: vorde- überlegen, wie wir aus dieser Sache wieder herauskom- mokratische – Auffassung von Staatsorganisation nicht. men. Schauen wir uns die Fragen im Einzelnen an. Sie stel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei len bisweilen Fragen, die Sie mit einer einfachen Inter- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) netrecherche selbst hätten beantworten können; ich will Ihre Leistungsfähigkeit nicht herabwürdigen. Wir haben Wir sollten die Debatte über diese Große Anfrage allerdings den Eindruck, dass Sie den Petitionsausschuss schnell hinter uns bringen und uns wieder mit aller Kraft und einzelne Petitionen, zum Teil von Ihnen selbst auf den eigentlichen Aufgaben des Petitionsausschusses zu- den Weg gebracht, populistisch ausschlachten wollen. wenden. Ich erinnere nur an die letzte Sitzung des Petitionsaus- schusses, als Sie eine Petition mit einem hohen Votum Vielen Dank. versehen wollten, die die Anhebung des Kindergeldes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei um einen abenteuerlich hohen Betrag vorsah. Das fan- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) den Sie erwägenswert. Sie sind aber eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wie Sie die daraus resultie- renden Mehrausgaben in Höhe von 24,2 Milliarden Euro Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gegenfinanzieren wollen. (B) Das Wort hat nun Carsten Müller, CDU/CSU-Frak- (D) tion. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Dafür sind die nicht zuständig! Sie sind nur für Polemik zu- (Beifall bei der CDU/CSU) ständig!) Das sind so eben 10 Prozent des Bundeshaushaltes, und Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Sie leiten das weiter und tun so, als ob es Sie interes- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich sierte. In Wahrheit verklapsen Sie den Petenten, weil Sie mich den Kollegen der Linksfraktion zuwende, möchte ihm nicht die Wahrheit sagen. ich ein Wort an den Kollegen Ackermann richten. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) will einen möglicherweise bestehenden falschen Ein- druck widerlegen. Sie haben gesagt, es bestehe zu häufig Sie fordern einen Volksentscheid auf Bundesebene. Uneinigkeit zwischen den Fraktionen der Großen Koali- Es steht in diesem Hause jedermann gut an, wenn er erst tion, es würden Petitionen vertagt werden. Die Zahlen einmal vor seiner eigenen Tür kehrt, und zwar in jeder sprechen aber eine andere Sprache. 112 Petitionen wur- Hinsicht. Ich rate Ihnen dringend, sich mit Ihren Partei- den vertagt, davon 31 auf Wunsch der CDU/CSU-Frak- genossen in Berlin auseinanderzusetzen. Ich erinnere da- tion, 19 wegen einer zusätzlichen Berichterstattung – also ran, dass wir es im Augenblick in Berlin mit der enga- wegen einer besonders intensiven Nacharbeit und eines giert diskutierten Frage nach der Zukunft des Flughafens besonderen Engagements für das vorgebrachte Anliegen – Tempelhof zu tun haben. Viele Berliner Bürgerinnen und und 12 wegen Beratungsbedarfs. Da bleibt noch viel Bürger sprechen sich für den Erhalt dieses Flughafens Platz für das Vertagen durch andere Fraktionen. Wenn aus. Es soll nun am 27. April – dafür gibt es nennens- Sie die Zahlen genau überprüfen, dann kommen Sie werten Zuspruch – einen Volksentscheid geben. Die rot- dazu, dass die FDP nicht selten vertagt hat. rote Koalition in Berlin möchte den Flughafen Tempel- hof schließen, weiß aber ganz genau, dass sie bei diesem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Volksentscheid außergewöhnlich schwach dastünde. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was passiert? Es ist angedacht – und zwar unter Beteili- Zur Großen Anfrage der Linksfraktion. Man muss gung der Linkspartei –, vorab den Flughafen womöglich ehrlicherweise sagen: zur sogenannten Großen Anfrage; an Immobilienspekulanten zu verscherbeln, damit Ihre denn die Anfrage ist nur dem Umfang nach groß. Der In- Parteigenossen dem Bürgerwillen nicht nachgeben müs- halt bleibt dahinter doch signifikant zurück. sen. Sie haben in Wahrheit gar kein echtes Interesse an demokratischen Prozessen. Sie ignorieren den Bürger- (Günter Baumann [CDU/CSU]: Sehr dünn!) willen konsequent. 15616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Carsten Müller (Braunschweig) (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip mert und dass man die Grundlagen für bürgerschaftli- (C) Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ches Engagement ausbaut und verbessert, anstatt hier ei- war aber investigativ! – Dr. Michael Bürsch nen Klamauk zu veranstalten. [SPD]: Sie waren so friedlich bis eben!) (Beifall des Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD]) – Herr Bürsch, das müssen Sie aushalten. Ich will Sie Die Große Koalition hat das Gesetz zur weiteren Stär- gern überzeugen, sich für die Interessen der Bürgerinnen kung des bürgerschaftlichen Engagements auf den Weg und Bürger in Berlin einzusetzen. gebracht und am 6. Juli 2007 beschlossen. Damit wurde (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Jetzt bringen Sie ein stabiles Fundament gelegt und es wurden nicht zu- richtig Schärfe rein!) letzt die steuerlichen Rahmenbedingungen erheblich verbessert. Wir sehen die Erfolge schon heute. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Aber die Arbeit Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der ist noch nicht zu Ende!) Kollegin Petra Sitte? Deswegen will ich den Ratschlag meiner Vorrednerin Monika Lazar gerne beherzigen: Wir wollen diese Bera- Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): tung relativ schnell hinter uns bringen, weil sie zum Teil Mit außerordentlichem Vergnügen. unerfreulich ist. Diese Anfrage ist nichts anderes als (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Bloß keine Koali- Klamauk. Meine Damen und Herren Kollegen von der tionskrise! Vorsicht!) Linksfraktion, Ihnen sollte zu denken geben, dass diese Bewertung praktisch einhellig von allen anderen Frak- tionen hier im Hause vorgenommen wird, die im Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Übrigen bei allen Unterschieden in der Sache im Peti- Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, zu welchem Zeit- tionsausschuss und darüber hinaus außerordentlich kon- punkt der Beschluss gefasst wurde, den Flughafen Tem- struktiv zusammenarbeiten. pelhof zu schließen, und von wem? Wenn Sie die Ant- wort nicht sofort parat haben sollten: erstens in der Vielen Dank. Regierungszeit von Herrn Kohl und zweitens in der Re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gierungszeit von Herrn Diepgen. Wenn ich recht infor- Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE miert bin, sind sie Ihre Parteigenossen. Ist das so? GRÜNEN])

Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) Die erste Frage kann ich mit Ja beantworten. Ich freue Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kol- mich darüber, in derselben Partei zu sein wie Eberhard legin Gabriele Lösekrug-Möller, SPD-Fraktion, das Diepgen und . Das ist ein weiterer guter Wort. Grund für eine Mitgliedschaft in der CDU. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Im Übrigen unterlassen Sie und Ihre Parteigenossen es in Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Berlin aktiv, einen sinnvollen Beschluss herbeizuführen Meine Damen und Herren! Wir könnten das Ganze mit und den Bürgerwillen zu respektieren. den Worten zusammenfassen: Schade eigentlich. Schade eigentlich, dass wir hier über ein gutes Recht reden, das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durch unsere Verfassung gewährleistet, aber durch die Anfrage infrage gestellt wird. Schade eigentlich, dass Wir haben – das hat der Kollege Baumann richtiger- 108 Fragen an die Regierung gestellt worden sind und weise ausgeführt – eine außerordentlich hohe Zahl von die Antworten heute im Plenum behandelt werden. Die Petitionen, die dieses Haus jährlich erreichen. Die Grö- Fragen sind dadurch nicht besser geworden. Was zeigen ßenordnung beträgt 17 000 bis 20 000 Petitionen pro sie uns? Sie zeigen uns, dass die Fraktion Die Linke ei- Jahr. Diesen Petitionen wird ernsthaft nachgegangen, nen gewissen Orientierungsmangel hat und nicht weiß, und sie werden mit großem Engagement bearbeitet. Wir worum es eigentlich geht, wenn sich Bürger und Bürge- haben die Möglichkeiten des Zugangs zum Parlament rinnen, das Petitionsrecht nutzend, an den Bundestag und dessen Erreichbarkeit sowie die Möglichkeit, ein- wenden. zelne Petitionen zu diskutieren, erheblich ausgeweitet und vereinfacht, und zwar durch die Zulassung von elek- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie tronischen Petitionen, von Massenpetitionen, von öffent- des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ lichen Petitionen und durch öffentliche Ausschussbera- DIE GRÜNEN] – Carsten Müller [Braun- tungen. Der Petitionsausschuss lässt es sich nicht schweig] [CDU/CSU]: Das ist eine freundli- nehmen, sich auch vor Ort über Sachverhalte zu infor- che Umschreibung!) mieren. Darin kommt die ernsthafte Arbeit des Petitions- Meines Erachtens haben wir optimale Rahmenbedingun- ausschusses zum Ausdruck. gen, die wir nicht durch ein eigenes Petitionsgesetz ver- Der Kollege Bürsch hat in seinem Redebeitrag an- bessern müssen. Das ist eine alte Kritik, die wir kennen. klingen lassen, dass den Bürgerinnen und Bürgern eher In der vorvergangenen Legislaturperiode waren es Ihre damit geholfen ist, dass man sich um ihre Anliegen küm- Vorgänger, die ein solches Gesetz haben wollten. Die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15617

Gabriele Lösekrug-Möller (A) Kritik ist damals falsch gewesen, der Vorschlag war Sie sagen dann, hier müsse man schärfer herangehen und (C) nicht richtig. Das Ergebnis, nämlich die Ablehnung ei- auf jeden Fall mehr geben. Mein Tipp wäre gewesen, nes solchen Gesetzes durch dieses Haus, war damals dass Sie die Menschen rechtzeitig an dem Vermögen hät- richtig und ist es heute noch. Klar ist, dass der gesetzli- ten teilhaben lassen, das Sie als Partei in ihre eigene Ta- che Rahmen, den wir haben, durch dieses Parlament gut sche umgelenkt haben. ausgefüllt werden kann. Wir tun das durch die Praxis im Ausschuss. Wir erfüllen unsere Aufgabe mit Leben. Die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Vielzahl der Petitionen zeigt nicht nur, dass wir genug zu und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tun haben, sondern sie ist auch Ausdruck des Vertrauens Mein Tipp: Es wäre auch heute noch möglich, aus die- von Petenten und Petentinnen darauf, dass sie sich nicht sem nicht unerheblichen Vermögen für jene zu sorgen, umsonst an uns wenden und wir sehr ehrlich und sach- die Opfer des Systems waren. Vielleicht wäre dies ja lich mit ihren Bitten und Beschwerden umgehen. Ich glaubwürdiger. glaube, sie wollen eines nicht: Sie wollen nicht, dass ihre Petitionen von einer Fraktion dieses Hauses missbraucht (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das können sie werden, die meint, sie könne damit populistisch Politik doch aus Liechtenstein zurückholen! Die machen. Deshalb wäre es gut gewesen, Sie hätten vorher Liechtensteiner Konten auflösen!) einmal überlegt, ob das parlamentarische Instrument der Großen Anfrage überhaupt richtig für Ihr Anliegen ist. Ich nenne ein zweites Beispiel: Am Mittwoch dieser Woche wollten Sie innerhalb weniger Minuten Milliar- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie denbeträge ausgegeben, die wir nicht haben. Das heißt, des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ Sie erliegen unentwegt der Verlockung des Populismus. DIE GRÜNEN]) So etwas darf man bei der Bearbeitung von Petitionen nicht machen. Es könnte nur dann sinnvoll sein, wenn Sie daraus einen Erkenntnisgewinn hätten. Viele der 108 Fragen legen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nahe, dass es durchaus einen Informationsbedarf in Ihren des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ Reihen gab. Deshalb können wir zufrieden sein, dass DIE GRÜNEN]) nun die Antworten vorliegen. Die Antworten zum Thema Petitionen bringen Sie allerdings politisch nicht Wir arbeiten im Ausschuss gut. Wir brauchen keine voran, weil festgestellt wurde, dass das Recht gut ausge- weiteren Gesetze. Wenn aber die Vorsitzende des Aus- staltet ist und wir es in diesem Parlament auf eine sehr schusses meint, feststellen zu müssen, es gebe eine Igno- seriöse Art und Weise mit Leben ausfüllen. ranz der Bundesregierung gegenüber dem Petitionsaus- (B) schuss, dann bitte ich darum, dass dies im Ausschuss (D) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem ausführlich erläutert wird. Ich kann nur sagen: Die Bun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) desregierung ist nicht immer unserer Meinung, wenn wir sie kritisieren; das kann ich sogar nachvollziehen. Aller- Dazu passt auch, dass wir auf der Höhe der Zeit Mo- dings lassen wir als jene Vertreter, die die Mehrheit stel- dernisierungen vorgenommen haben, die dazu geführt len, uns auch nicht das Recht nehmen, unsere Regierung haben, dass mehr Menschen teilhaben und dieses Be- zu kritisieren. In vielen Fällen wird unsere Kritik aufge- schwerde- und Bittenrecht nutzen können. Hier sind wir nommen, und es gibt Verbesserungen. gut beraten, die Ergebnisse der Begleitforschung abzu- warten und aus diesen Erkenntnissen heraus dort zu mo- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Unsere dernisieren, wo es nottut. Eine erste Tendenz ist erkenn- konstruktive Kritik!) bar – für Sie scheint dies aber nicht von Bedeutung zu sein –: Wir haben gelernt, dass wir Menschen, die bil- Aber von Ignoranz zu sprechen, bedarf einer seriösen dungsfernen Schichten angehören, zu schlecht erreichen Begründung. Diese haben Sie heute nicht geliefert. Ich und dass wir bei jungen Leuten noch nachlegen können. bin schon gespannt, ob wir überhaupt eine bekommen. Das ist die Herausforderung. Dazu hören wir von Ihnen Ich freue mich auf die zukünftige Arbeit im Aus- gar nichts, was mich persönlich allerdings nicht über- schuss und bin sicher, dass wir aufgrund der Ergebnisse rascht. der Begleitforschung noch besser werden, was Bürger- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem nähe anbelangt. Das muss unser ständiges Streben sein. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sehe dafür ein breites Bündnis im Ausschuss. Des- halb bin ich zuversichtlich, dass wir ohne jedwede ge- Es ist allerdings auch leicht, wenn man Petitionen setzliche Änderung mit dem Petitionsrecht gut weiter- missbrauchen will, sie als Stichwortgeber für eigene po- arbeiten können. litische Vorhaben zu nutzen. Wir erleben dies im Peti- tionsausschuss immer wieder. Als erstes Beispiel nenne Vielen Dank. ich die SED-Opfer-Regelung. Wir müssen uns einmal (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem vor Augen halten, wie Sie sich dazu verhalten haben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben es in der Großen Koalition geschafft, mit gro- ßer Zustimmung eine Lösung auf den Weg zu bringen. Wenn nun in einer Petition kritisiert wird, dies sei nicht Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: genug, dann stimmt ausgerechnet Ihre Fraktion dem zu. Ich schließe die Aussprache. 15618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b so- 16. Februar 1993 die sicherheitspolitische Situation in (C) wie Zusatzpunkt 4 auf: Deutschland, Europa und der Welt allgemein und die Lage der Bundeswehr sowie die innere Struktur der 8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd Truppe stark verändert haben. Siebert, Ulrich Adam, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- Uns allen ist sehr bewusst, dass die Bundeswehr, dass wie der Abgeordneten , Dr. Hans- unsere Soldatinnen und Soldaten heute vor grundsätzlich Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter anderen Herausforderungen stehen als vor unserer Zeit. und der Fraktion der SPD Aus einer Armee für den Einsatz ist eine Armee im Ein- Konzept der Inneren Führung stärken und satz geworden. Vor allem die Zahl der Auslandseinsätze weiterentwickeln ist enorm gestiegen. Heute stehen über 6 000 deutsche Soldaten an militärischen Brennpunkten der Welt. Die – Drucksache 16/8378 – Umbruchsituation 1990/91 hat eine Transformation der Überweisungsvorschlag: Bundeswehr mit grundlegenden strukturellen und perso- Verteidigungsausschuss (f) nellen Veränderungen notwendig gemacht. Auch die b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Öffnung nahezu aller Verwendungsbereiche für Frauen Nachtwei, Alexander Bonde, Marieluise Beck hat unsere Bundeswehr neu geprägt. (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- Diese Veränderungen waren es, die zur Geburtsstunde tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Unterausschusses geführt haben. Unsere Aufgabe Bundeswehr – Innere Führung konsequent war es, den neuen Anforderungen gerecht zu werden, ih- umsetzen nen Rechnung zu tragen und entsprechende Schlussfol- gerungen zu ziehen. – Drucksache 16/8370 – Überweisungsvorschlag: Zu diesen gehört, erstens, die Feststellung, dass die Verteidigungsausschuss (f) tragenden und unverrückbaren Prinzipien der Inneren Auswärtiger Ausschuss Führung, die mit der Aufstellung der Bundeswehr 1955 Rechtsausschuss durch Wolf Graf von Baudissin und Ulrich de Maizière Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe entwickelt wurden, bis heute Bestand haben: Primat der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Politik, unbedingte Beachtung der Menschenwürde in den Streitkräften, das Leitbild des Staatsbürgers in Uni- ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit form und die Bindung der Streitkräfte an Recht und Ge- Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weite- setz. Dies prägt und bestimmt damals wie heute das (B) rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten. (D) Innere Führung stärken und weiterentwickeln Zu unseren Schlussfolgerungen gehören, zweitens, – Drucksache 16/8376 – ganz konkrete Bereiche, die heute ein untrennbarer Be- Überweisungsvorschlag: standteil des Konzepts Innere Führung sind: Verteidigungsausschuss Erstens. Durch militärische und ethische Erziehung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Soldatinnen und Soldaten wirkt die Innere Führung Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich darauf hin, dass ein sicheres, auf Recht und Gesetz aus- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. gerichtetes Handeln sowohl im Inland als auch im Aus- land umgesetzt wird. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen , CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Zweitens. Unseren Soldatinnen und Soldaten wird vermittelt, welchen Sinn die Einsätze der Bundeswehr in (Beifall bei der CDU/CSU) teils fernen Regionen der Welt haben und welche Ziele erreicht werden sollen. Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Drittens. Neben den klassischen militärischen Fähig- ist mir eine Freude, dass wir heute erstmals hier im Ple- keiten gehört zur Handlungskompetenz unserer Sol- num des Deutschen Bundestages und damit in aller datinnen und Soldaten auch immer, wie es der Bundes- Öffentlichkeit die Ergebnisse der Arbeit des Unteraus- minister stets betont, Helfen, Schützen, Retten und schusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ vor- Vermitteln. stellen und beraten. In den letzten viereinhalb Jahren Viertens. Die interkulturelle Kompetenz als Zeichen haben wir uns in 32 Sitzungen als Rat- und Ideengeber von Respekt vor fremden Kulturen gewinnt gerade bei betätigt und unsere Arbeit im Herbst 2007 mit einem Be- steigender Zahl von Auslandseinsätzen zunehmend an richt abgeschlossen – Ausgangspunkt für unsere heutige Bedeutung. Debatte. Fünftens. Die politische Bildung – ein wesentlicher Der Verteidigungsausschuss hat diesen Unteraus- Baustein der Konzeption Innere Führung – muss weiter schuss, dem vorzustehen ich seit Mai 2003 die Ehre ausgebaut und gestärkt werden. hatte, in der vergangenen 15. Wahlperiode eingesetzt. Dies geschah, weil sich seit dem Erlass der bisher gülti- Sechstens. Die Integration von Frauen in die Streit- gen Fassung der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 vom kräfte muss gefördert und gestärkt werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15619

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) Siebtens. Die politisch gewollte Vereinbarkeit von Fa- überarbeitete Zentrale Dienstvorschrift herausgegeben, (C) milie und Dienst in den Streitkräften wird durch zeitge- in der wesentliche Ergebnisse unserer Arbeit Berück- mäße Konzepte weiterentwickelt. Dazu gehört auch das sichtigung finden. Das ist wirklich gut. Respekt dafür! Angebot an Teilzeitarbeit. Wir alle wissen, dass jede Konzeption auch Men- Achtens. Die von der Bundeswehr geschaffenen Fa- schen braucht, die sie umsetzen und mit Leben erfüllen. milienbetreuungszentren sowie gleichgerichtete Initiati- Deshalb geht mein Dank an dieser Stelle vor allem an ven müssen vernetzt werden. die Menschen, die dieser Konzeption und ihren tragen- Innere Führung, das ist eine Erfolgsgeschichte und den Prinzipien in der Bundeswehr seit mehr als einem gilt heute als Markenzeichen der Bundeswehr. Sie gehört halben Jahrhundert zum Erfolg verhelfen. Mein Dank zu ihrem Selbstverständnis. Sie ist einzigartig in der gan- gilt den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Sie zen Welt. Innere Führung lebt und wird von unseren Sol- dienen unserem Land vorbildlich. datinnen und Soldaten gelebt. Sie ist erlernbar. Sie ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- praktisches Handwerk und keine Ideologie. neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Heute können wir feststellen, dass die Grundsätze und SES 90/DIE GRÜNEN) Anwendungsbereiche der Inneren Führung von der ganz Der berühmte preußische Armeereformer General überwältigenden Mehrheit unserer Soldatinnen und Sol- Scharnhorst hat einmal gesagt: Tradition der Armee daten bereits verinnerlicht sind und gelebt werden. An- muss es sein, an der Spitze des Fortschritts zu marschie- gesichts einer Zahl von über 250 000 Soldaten ist das bei ren. – Heute, fast 200 Jahre danach, ist die Innere Füh- weitem nicht selbstverständlich. rung das Instrument, mit dem es uns gelingt, diesem An- Die Mitglieder des Unterausschusses haben dem Ver- spruch gerecht zu werden. Innere Führung – diese teidigungsausschuss ihren Schlussbericht vorgelegt. Wir Konzeption verdient es, auch weiterhin gestärkt zu wer- sind uns einig, dass das Konzept „Innere Führung“ be- den. reits in der Vergangenheit erfolgreich war, und wir sind Ich danke Ihnen. überzeugt, dass es dynamisch genug ist, um in der Zu- kunft als ethischer Kompass und modernes Führungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) instrument zu dienen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: neten der SPD) Das Wort hat nun Kollegin Birgit Homburger, FDP- Fraktion. Fazit: Innere Führung ist ein dynamischer Prozess, (B) (D) der sich immer wieder auf aktuelle und absehbare Ent- (Beifall bei der FDP) wicklungen ausrichten muss. Wir sind gehalten, uns stets mit neuen gesellschaftlichen, politischen, militärischen Birgit Homburger (FDP): und technologischen Entwicklungen auseinanderzuset- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zen. Wir sind aufgerufen, stets aufs Neue für eine zeitge- Prinzipien der Inneren Führung und das Leitbild des mäße Form der Konzeption „Innere Führung“ zu sorgen, Staatsbürgers in Uniform haben sich bewährt, auch wenn denn genau davon lebt sie. Sir Winston Churchill hat sie zum Zeitpunkt der Einführung sehr umstritten waren. einmal gesagt: Konsequent ist, wer sich selber mit den Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Innere Umständen wandelt. – Ich fordere uns auf, in diesem Führung ein Markenzeichen der Bundeswehr ist. Sinne konsequent zu sein und zu bleiben. Ein solches – erfolgreiches – Markenzeichen bedarf Am Schluss meiner Ausführungen darf ich allen Kol- der Pflege, wenn es zeitgemäß bleiben soll. Es ist festzu- leginnen und Kollegen im Unterausschuss „Weiterent- stellen, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedin- wicklung der Inneren Führung“, insbesondere meinen gungen und Wertvorstellungen verändert haben. Die Stellvertretern Ulrike Merten – Stellvertreterin in der Bundeswehr unterliegt seit ihrer Aufstellung einem per- ersten Zeit, heute Vorsitzende des Verteidigungsaus- manenten Wandel. Sie befindet sich weiterhin in einem schusses – sowie Gerd Höfer, für die geleistete großar- Transformationsprozess hin zu einer Armee im Einsatz tige Arbeit danken, für vertrauensvolles Zusammenwir- mit erweitertem Aufgabenspektrum. Damit sind enorme ken über Fraktionsgrenzen hinweg und für Effizienz, Herausforderungen für die Soldatinnen und Soldaten, gerade in frühen Morgenstunden, in denen wir gearbeitet ihre Familien, aber auch für den Dienstherrn verbunden. haben. Derart tiefgreifende Veränderungen gehen natürlich (Beifall des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/ nicht spurlos an der Bundeswehr und der Inneren Füh- CSU] – Ute Kumpf [SPD]: Was? Wo waren rung vorbei. Deshalb war es folgerichtig, dass der Vertei- Sie denn da? – Winfried Nachtwei [BÜND- digungsausschuss einen Unterausschuss eingerichtet hat, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das weniger! Wir der sich mit der Weiterentwicklung der Inneren Führung danken dem Vorsitzenden auch!) beschäftigt hat. Ich möchte mich den Dankesworten un- Mein Dank gilt der Bundesregierung, Ihnen, Herr seres Vorsitzenden anschließen und in den Dank auch Bundesminister Jung, Ihren Staatssekretären, dem Gene- die Kolleginnen und Kollegen aus der FDP-Bundestags- ralinspekteur und den Angehörigen der Führungsstäbe. fraktion einbeziehen, die in der letzten Legislaturperiode Sie, Herr Minister, haben vor wenigen Tagen eine neue, in diesem Unterausschuss mitgearbeitet haben. Es waren 15620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Birgit Homburger (A) dies die Kollegin Helga Daub und der Kollege Günther aber zur Zufriedenheit mit dem Dienst in den Streitkräf- (C) Nolting. ten bei. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU und der SPD) Ein drängendes Problem ist die geringe Einstiegsbe- In der Arbeit dieses Unterausschusses wurde über die soldung, insbesondere für Mannschaften und Unteroffi- Bestandsaufnahme und Sachstandsanalyse hinaus ver- ziere; sie muss angehoben werden. Wir brauchen auch sucht, konkrete Verbesserungsmöglichkeiten in den ein eigenes Besoldungsrecht für Soldatinnen und Solda- Bereichen aufzuzeigen, die für eine erfolgreiche Bewäl- ten. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne kurz tigung der menschlichen Seite des Transformationspro- auf das Dienstrechtsneuordnungsgesetz hinweisen, das zesses entscheidend sind. Wenn der Transformationspro- im Moment zu Recht für massiven Unmut in der Truppe zess erfolgreich sein soll, müssen die Menschen im sorgt. Im Referentenentwurf war ja sogar geplant, die im Mittelpunkt stehen. Vergleich zur Polizei und zur Bundespolizei niedrige Eingangsbesoldung für Soldaten noch weiter zu senken. Die Bundeswehr braucht zur Erfüllung ihres Auftra- Dieses Vorhaben ist Gott sei Dank zwischenzeitlich vom ges weiterhin hoch motivierte, gut ausgebildete, ethisch- Tisch. Aber nach dem Willen der Bundesregierung sol- moralisch gefestigte, aber auch berufszufriedene Streit- len Soldaten nun länger auf Beförderungen warten als kräfteangehörige. Es wurde im Unterausschuss sehr andere Besoldungsempfänger, und Soldaten auf Zeit sol- deutlich, dass in den Bereichen Ausbildung und Versor- len Nachteile in der gesetzlichen Rentenversicherung gung, aber auch bei den Rahmenbedingungen des Solda- hinnehmen müssen, ohne die Möglichkeit zu haben, tenberufs erheblicher Verbesserungsbedarf besteht. diese auszugleichen. Hier appellieren wir an die Bundes- regierung und auch an die Koalitionsfraktionen, den Ge- Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels setzentwurf an dieser Stelle noch einmal abzuändern und zeichnet sich ab, dass die Bundeswehr bei der Nach- diese geplanten Änderungen zurückzunehmen. wuchsgewinnung immer stärker einem verschärften Wettbewerb um die besten Köpfe mit anderen Arbeitge- (Beifall bei der FDP) bern ausgesetzt ist. Deshalb ist es wichtig, die Attraktivi- Wir haben in dem Abschlussbericht des Unteraus- tät des Dienstes zu steigern. Das hängt nicht nur mit der schusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“, den Höhe der Vergütung zusammen, sondern eben auch mit wir gemeinsam gefertigt haben, festgehalten, dass eine Weiterbildungsmöglichkeiten, der Versetzungshäufig- Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr dringend keit, der Beförderungssituation und den Möglichkeiten geboten ist. Die FDP-Bundestagsfraktion erwartet, dass zur Vereinbarkeit von Dienst und Familie. Die Bundes- diesen richtigen Worten jetzt auch richtige Taten folgen. (B) wehr muss daher zügig ein Attraktivitätsprogramm auf- (D) legen, damit sie als Arbeitgeber konkurrenzfähig wird. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) (Beifall bei der FDP) Deswegen würde ich angesichts der Anträge, die zur heutigen Debatte hier vorliegen, vorschlagen, bis zur Dabei gibt es einige Punkte, die aus unserer Sicht ei- Endabstimmung noch einmal den Versuch zu unterneh- ner besonderen Beachtung bedürfen. Dazu gehört bei- men, einen gemeinsamen Antrag zu basteln, um auf spielsweise eine echte auftragsgerechte Personalstruk- diese Art und Weise dem Abschlussbericht, den wir ge- turreform. Sie ist ebenso dringend nötig wie ein neues meinsam gefertigt haben und der in weiten Teilen Über- Laufbahnrecht, um den Beförderungsstau in den Streit- einstimmung enthält, Nachdruck zu verleihen, und so die kräften abzubauen. Wir brauchen bessere Teilzeitarbeits- Bundesregierung aufzufordern, die Anregungen des Par- möglichkeiten. Die Wahrnehmung von Teilzeit sollte al- laments umzusetzen. len Soldatinnen und Soldaten ermöglicht werden, die dies wünschen, sofern der Dienstbetrieb das erlaubt. Wir Vielen Dank. brauchen aber auch – auch daran sieht man, dass sich die (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jürgen Streitkräfte gewandelt haben – Angebote zur Kinderbe- Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) treuung, um den Dienst in der Bundeswehr familien- freundlicher zu gestalten, als er bisher ist. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Immer häufiger wird auch die Versetzungshäufigkeit Das Wort hat Kollege Gerd Höfer, SPD-Fraktion. thematisiert; auch darüber haben wir im Unterausschuss gesprochen. Sie muss auf das dienstlich absolut notwen- (Beifall bei der SPD) dige Maß reduziert werden. Auch ich bin der Überzeu- gung, dass es nicht angehen kann, dass ein Soldat von ei- Gerd Höfer (SPD): ner Versetzung erst wenige Tage zuvor erfährt, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und insbesondere dann, wenn es sich um einen Auslandsein- Herren! Ich darf in aller Bescheidenheit daran erinnern: satz handelt. Über solche Dinge wurde immer und im- Ehe die deutsche Wiederbewaffnung in die Tat umge- mer wieder berichtet. Wir sind gemeinsam zu der Auf- setzt und die Bundeswehr geschaffen worden ist, hat es fassung gelangt, dass Soldatinnen und Soldaten vor allen sehr dezidierte und heftige Auseinandersetzungen da- Dingen Planungssicherheit für sich und ihre Angehöri- rüber gegeben, ob dieser Weg der Wiederbewaffnung gen brauchen. Es kostet keinen einzigen Cent, Herr richtig ist. Nicht um irgendwelche Vorwürfe an irgend- Minister, diese Planungssicherheit zu erhöhen; es trägt welche Parteien zu richten, erwähne ich, dass es den be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15621

Gerd Höfer (A) rühmten Satz gegeben hat: „Ehe ein deutscher Soldat men für die Kodizes des Deutschen Bundestages und der (C) wieder ein Gewehr in die Hand nimmt, möge mir der Abgeordneten bilden. Allerdings kann natürlich eine Arm verdorren.“ zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr, Herr Bundes- minister und Herr Präsident, nicht geschäftsleitend für Ich weiß, dass damals die SPD sehr heftig dagegen den Deutschen Bundestag sein. Das ist völlig klar. Wenn gestritten und polemisiert hat. Erst das Prinzip der Inne- aber der Deutsche Bundestag und nachgeordnet die ren Führung, das heißt ein Neubesinnen auf die Stellung Streitkräfte den Staatsbürger in Uniform postulieren und der – so muss man inzwischen sagen – Soldatinnen und gesagt wird, das Prinzip der Inneren Führung sei ein Soldaten in der Gesellschaft, hat die SPD dazu gebracht, Leitprinzip, einzigartig in der Welt, das sich bewährt hat, zuzustimmen. dann kann man daraus zumindest aber die Fürsorge- Das Konzept der Inneren Führung ist schlagwortartig pflicht des Parlamentes für die Bundeswehr ableiten. Die mit dem Begriff des Staatsbürgers in Uniform verbun- Fürsorgepflicht des Parlamentes für die Bundeswehr hat den. Der Staat sagt nämlich, dass ein Soldat auch bei ja ihre letzte Ausformung immer dann, wenn wir über Hinnahme bestimmter Einschränkungen der Grund- Einsätze der Bundeswehr entscheiden müssen. In diese rechte, was seinen dienstlichen Auftrag anbelangt, Fürsorgepflicht kann nicht nur eingebunden werden, Staatsbürger ist und bleibt. Wenn man „Staatsbürger in dass alles rechtsfähig und ordnungsgemäß abgewickelt Uniform“ ernst nimmt, dann ist im Grunde genommen wird, wenn Soldaten ins Ausland geschickt werden, son- schon damals und nicht erst heute die Parlamentsarmee dern davon kann und soll man auch ableiten – das ist ja begründet worden, weil die unveräußerlichen Grund- schon von meinen beiden Vorrednern gesagt worden –, rechte, für den Soldaten auch geltend, praktisch schon dass diese Fürsorgepflicht beinhaltet, dass man mit dem immer der parlamentarischen Überwachung unterlegen Soldaten vernünftig umgeht. Das heißt, ihm muss nicht haben, sei es auf der Seite der Regierungsparteien, sei es nur die richtige Ausstattung für die Einsätze etwa im auf der Seite der Opposition. Von daher war das Prinzip Ausland gegeben werden, sondern er muss auch seine der Inneren Führung, des Staatsbürgers in Uniform – ich staatsbürgerlichen Rechte übertragen bekommen, sodass habe es selber erlebt, weil ich noch Ausbilder hatte, die er teilhat an dem, was der Staat zu bieten hat. aus dem Zweiten Weltkrieg stammten – immer in der Ein Beispiel ist genannt worden: Die Bundeswehr Diskussion. Ich halte es auch für gut, dass dieses Prinzip steht demnächst, bedingt durch den demografischen in der Diskussion ist und bleibt. Der Unterausschuss Wandel, in Konkurrenz zu anderen sicherheitsrelevanten – von Karl Lamers erwähnt – hat sich dieser Dinge ange- Berufen. Wenn dann die Eingangsbesoldung immer noch nommen und gesagt, bestimmte Vorstellungen müssen bei A 3 liegt, während bei der Polizei in den Ländern die weiterentwickelt werden. Eingangsbesoldung zwischen A 5 und A 7 schwankt, (B) Ich habe die ZDv 10/1 noch nicht in der offiziellen dann ist keine Teilhabe an dem, was der Staat anderen (D) Form, wie die Bundeswehr gewohnt ist, mit diesen Din- Bürgerinnen und Bürgern bietet, möglich. Das heißt, all gen umzugehen, vor mir. Es wird wahrscheinlich ein das, was über das Prinzip der Inneren Führung, über das grauer Schnellhefter sein. Prinzip des Staatsbürgers in Uniform geleistet werden soll, muss und soll den ganzen Bundestag ebenso be- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE schäftigen, wie es den Bundestag beschäftigt, über den GRÜNEN]: Nein, im Netz, inzwischen ganz Einsatz von Soldatinnen und Soldaten im Ausland zu bunt!) entscheiden. – Ich habe zwar schon einmal einen Vorentwurf gesehen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aber die endgültige Ausfertigung habe ich noch nicht be- der CDU/CSU) kommen. Wer sich diese ZDv 10/1 ansieht, der stellt fest, dass sie sehr anspruchsvoll und bei weitem kein Das ist meine Bitte an alle Damen und Herren dieses Handlungskatalog ist, den man im Prinzip, quasi einen Hauses, nicht nur an diejenigen, die hier sitzen. Es steht Katechismus auswendig lernend, umsetzen kann. Der mir nicht zu, diejenigen zu kritisieren, die nicht da sind. entscheidende Satz steht in Kapitel 1 „Selbstverständnis Ich weiß ja selber, wie das ist. Auch ich bin oft nicht im und Anspruch“ Nummer 106: Parlament. Aber ich hoffe, dass diejenigen, die mich hö- ren, diesen Appell aufnehmen und sagen: Nicht nur der Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr er- Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen bietet eine füllen ihren Auftrag, wenn sie aus innerer Überzeu- Möglichkeit, sich mit der Bundeswehr zu beschäftigen. gung für Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Ge- Vielmehr muss und soll auch im Rahmen der Inneren rechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie Führung mehr für die Bundeswehr getan werden; Petra als den leitenden Werten unseres Staates aktiv ein- Heß wird darauf noch im Einzelnen eingehen. treten. Das ist ein hoher Anspruch, der den Hinweis auf die Ich freue mich, dass sowohl die FDP als auch die Bundeswehr als Parlamentsarmee wiedergibt. Daraus Grünen eigene Anträge vorgelegt haben. kann man auch andere Dinge herleiten, die meine Kolle- ist mein Zeuge: Bevor Sie, Frau Homburger, von einem gin Petra Heß nachher noch etwas deutlicher darstellen gemeinsamen Antrag gesprochen haben, stand dies wird. schon auf meinem Blatt und bei Petra Heß mit einem Fragezeichen. Warum ist das so? Weil viele Dinge, die Theoretisch – ich betone: theoretisch – kann man sa- Sie beide, die Grünen wie die FDP, in Ihren Anträgen gen: Diese ZDv 10/1 könnte auch einen Handlungsrah- ausgeführt haben, deckungsgleich mit dem sind, was in 15622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Gerd Höfer (A) dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und SPD mengearbeitet haben, im Verteidigungsausschuss weiter- (C) steht. entwickeln, sehe ich dafür eine gute Chance. Ich möchte damit natürlich eine Bitte verknüpfen, Herzlichen Dank. nämlich dass wir im Verteidigungsausschuss noch ein- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mal genauer darüber sprechen. Über manches, was die Grünen ausgeführt haben, kann ich locker hinweggehen; Begründungen werden nicht beschlossen. Dass die Grü- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nen natürlich die Gelegenheit genutzt haben, sich dezi- Das Wort hat nun Paul Schäfer, Fraktion Die Linke. diert zur Wehrpflicht zu äußern, nehme ich ihnen nicht (Beifall bei der LINKEN) übel. Bei Ihnen von der FDP habe ich das im Prinzip vermisst. Das ist nun einmal Alltag bei uns. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): (Birgit Homburger [FDP]: Wir haben einen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ab- eigenen Antrag dazu!) sicht der antragstellenden Fraktionen, die Ergebnisse des Unterausschusses hier einzubringen, sie öffentlich zu – Ich habe ihn vor mir liegen. machen, über sie zu diskutieren und mit den Weihen des Die Grünen möchte ich bitten, mir im Verteidigungs- Hohen Hauses zu versehen, ist löblich. Nur, wäre es ausschuss den vorletzten Punkt der Forderungen in ih- nicht besser gewesen, diese gemeinsamen Positionen mit rem Antrag genauer zu erklären; denn da wird so etwas einem fraktionsübergreifenden Antrag einzubringen? Ich Ähnliches wie eine Gruppenquotierung nach bestimmten finde, das wäre ein starkes Signal gewesen. Das hätte Kriterien gefordert. In dem Antrag steht nämlich: Symbolkraft gehabt, weil man dadurch deutlich gemacht hätte, dass man die zentrale Bedeutung der Inneren Füh- … dafür zu sorgen, dass Struktur und Umfang der rung für die Verfasstheit der Bundeswehr anerkennt. Bundeswehr an den Erfordernissen der neuen Auf- gaben ausgerichtet und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – jetzt kommt es – Aber vielleicht sind ja noch nicht alle Messen gesungen. durch Rekrutierung und Personalauswahl der ge- Jetzt liegen uns drei verschiedene Anträge mit frag- sellschaftliche Pluralismus in der Zusammenset- würdiger Substanz vor. Warum bin ich dieser Meinung? zung der Streitkräfte in höherem Maße als bisher Zu viele Allgemeinplätze: Innere Führung als ethisches abgebildet wird … Fundament, politische Bildung ist notwendig, interkultu- relle Kompetenz. Die Anträge enthalten Vorschläge, die (B) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE nach meiner Ansicht mit der Inneren Führung nur sehr (D) GRÜNEN]: Das steht sogar im Nationalen In- entfernt zu tun haben: Vereinbarkeit von Familie und tegrationsplan!) Dienst, Teilzeitarbeit und Nachwuchswerbung. Die FDP Es wäre schön, wenn wir im Verteidigungsausschuss will sogar ein spezielles Besoldungsrecht schaffen. An eine Erläuterung bekommen würden. anderen Stellen habe ich den Eindruck, dass man das Konzept der Inneren Führung als Instrument missver- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- steht, um Soldaten für den Dienst – sprich: für die Aus- NEN]: Das erklärt Ihnen Frau Böhmer!) landseinsätze – besser und effektiver zu konditionieren Dann halten wir ein soziologisches Seminar ab und kom- und zu optimieren, zum Beispiel, indem man sagt, man men zu dem Ergebnis: Die Bundesrepublik Deutschland müsse den Auftrag besser vermitteln. setzt sich aus diesen und jenen Gruppen zusammen, und Ich glaube, mit diesen Anträgen kommen wir nicht von jeder Gruppe muss mindestens ein Repräsentant in wirklich weiter. Ich möchte einen bedeutungsschwange- der Bundeswehr sein. ren Satz aus dem Antrag der Grünen zitieren: Die Regie- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung muss dafür sorgen, „dass Struktur und Umfang der NEN]: Das wäre ja nicht schlecht!) Bundeswehr an den Erfordernissen der neuen Aufgaben ausgerichtet“ werden. Das wird den Minister aber sehr Wie das gehen soll, weiß ich nicht so genau. Trotzdem beeindrucken. haben wir im Verteidigungsausschuss die Chance, einen (Zuruf des Abg. Winfried Nachtwei [BÜND- gemeinsamen Antrag zu entwickeln. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Dass die FDP – wir haben es gerade gehört – in ihrem Dass Auslandseinsätze umstandslos mit Friedenseinsät- Antrag die Ausarbeitung eines besonderen Personalent- zen gleichgesetzt werden, lieber Herr Kollege Nachtwei, wicklungskonzeptes fordert und das mit weiteren Forde- zeugt nicht gerade von Kritikfähigkeit. Aber das sei nur rungen in Ziffer 6 unterlegt, ist bis auf die Frage, ob es am Rande bemerkt; ich komme gleich darauf zurück. ein eigenständiges Besoldungsrecht für die Soldaten ge- ben soll, mit all den Dingen, die auch in unserem Antrag Ich finde, wir müssen das Ganze stärker auf den Kern enthalten sind und mit denen wir uns im Unterausschuss bringen. Der Kern ist: Streitkräfte in der Demokratie. beschäftigt haben, ziemlich deckungsgleich, sodass die (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Frage, ob es zu einem gemeinsamen Antrag kommen GRÜNEN]: Richtig!) wird, sehr positiv zu beurteilen ist. Denn wenn wir das in der Art und Weise, wie wir im Unterausschuss zusam- Deswegen sind meine Vorschläge: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15623

Paul Schäfer (Köln) (A) Erstens. Es wäre besser, sehr bald über den neuen Jah- Thema, ob man die Erfordernisse eines militärischen (C) resbericht des Wehrbeauftragten zu diskutieren, der auf Bündnisses über Erwägungen zur Rechtswahrung stellen zwei Seiten eine sehr genaue Beschreibung der Defizite kann. Wir werden es auch mit dem Fall Coesfeld zu tun der Inneren Führung enthält. haben, bei dem es ebenfalls um Grenzüberschreitungen geht. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen müs- Zweitens sollten wir den Abschlussbericht in seiner sen, ob es auch bei Führungskräften der Truppe ein aus- gesamten Substanz wahrnehmen und uns an die Empfeh- reichendes Unrechtsbewusstsein gibt. Das zeigt sich lung dieses Berichts und die Einzelvoten der Fraktionen nämlich bei der Frage, wie man mit solchen Fällen um- halten: Wir sollten nach einiger Zeit überprüfen, was aus geht. diesen Vorschlägen geworden ist. Es ist nämlich wirk- lich verdienstvolle Arbeit geleistet worden. Das sollten Ich finde, an diesen kritischen Punkten wird es ernst. Da wir mitnehmen und nicht das, was Sie hier als Konden- geht es darum, wie es um die Innere Führung bestellt ist. sat präsentieren; denn das ist nicht einmal eine Fünf- Hier sind vor allem wir als Parlament gefragt und müs- Minuten-Terrine. sen wachsam und aktiv bleiben. Das sollten wir nach Möglichkeit gemeinsam tun. Drittens. Ich finde den Hinweis auf die zentralen Dienstvorschriften „Innere Führung“ und „Politische Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für Bildung“ wichtig; denn sie sind mir, wenn ich das als Ihre Aufmerksamkeit. Linker sagen darf, zehnmal wichtiger als die Anträge, (Beifall bei der LINKEN) die uns vorliegen. Sie sind nämlich sehr viel umfassen- der und konkreter. Das Parlament muss überprüfen, wie diese Vorschriften in der Praxis umgesetzt werden. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Winfried Nachtwei, Fraktion Bünd- Noch einmal zum Kern der Sache: Innere Führung ist nis 90/Die Grünen. das notwendige Gegengift gegen die Gefahr, dass die hochorganisierte Vereinigung von Gewaltexperten, von Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Soldaten, für ungesetzliche bzw. schändliche Zwecke Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im missbraucht wird. Das ist die Lehre aus der Geschichte November letzten Jahres wurde der Abschlussbericht der deutschen Wehrmacht. Traditionelle und notwendige des Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren militärische Prinzipien wie „Befehl und Gehorsam“ wer- Führung“ im Verteidigungsausschuss vorgelegt. Dieser den so unter das Primat der Menschenwürde und die Bericht ist eine wahre Fundgrube an Informationen und Völkerrechtsnormen gestellt. Das ist der Kern. Anregungen. Dem Vorsitzenden Karl Lamers ist für die (B) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gute Leitung dieses Unterausschusses ausdrücklich zu (D) NEN]: Das hat nicht die Linke erfunden!) danken. Wie es darum in den Streitkräften bestellt ist, wird an (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- bestimmten Auseinandersetzungen deutlich. Dürfen Sol- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und daten zum Beispiel Befehle verweigern, wenn sie be- der SPD) stimmte Einsätze für völkerrechts- und grundgesetzwid- Umso bedauerlicher ist allerdings, dass dieser Bericht rig halten? bisher nicht das Licht der Öffentlichkeit erreicht hat. Das (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist deshalb schade, weil sich die Öffentlichkeit im NEN]: Wenn sie es auch sind!) Grunde erst dann für Innere Führung interessiert, wenn ein Mängelbericht vorgelegt wird, das heißt, wenn gegen Das ist der Punkt. Es gab den Fall „Major Pfaff“, der Grundregeln der Inneren Führung verstoßen wird. Man sich gegen eine Verstrickung deutscher Soldaten in den sollte den Bericht bitte schleunigst als Drucksache öf- Angriffskrieg gegen den Irak gewandt hat. Das Bundes- fentlich machen. Der Bericht liegt nicht einmal im Inter- verwaltungsgericht hat sich sehr bemerkenswert dazu net vor. Das ist ein Hohn. eingelassen, was ein Staatsbürger in Uniform in einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN solchen Situation machen darf und auch machen sollte. sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE Es war interessant, zu sehen, dass die Bundeswehr die- LINKE]) sen Fall eher als lästigen Störfall betrachtet hat und ver- sucht hat, ihn klammheimlich zu entsorgen, statt das Innere Führung ist nicht weniger als der Versuch, ele- Problem in die politische Bildung einzubeziehen. Das mentare Lehren aus der Terrorgeschichte der Wehrmacht wäre mutig und konsequent gewesen. zu ziehen, als deutsche Soldaten im Rahmen eines gi- gantischen Menschheitsverbrechens mit höchstem Ein- (Beifall bei der LINKEN) satz funktionierten. Innere Führung ist schlichtweg der Im Untersuchungsausschuss haben wir es jetzt mit Versuch, dieses zweifache Nein in die Kultur der neuen dem Kommando Spezialkräfte zu tun. Mit diesem deutschen Streitkräfte umzusetzen. Dies bedeutet eine Thema werden wir uns sicherlich auch noch im Plenum klare Bindung an den Friedensauftrag des Grundgeset- zes, an die Menschwürde und an die Menschenrechte. befassen. Auch dabei geht es um eine ähnliche Frage: Dürfen deutsche Soldaten Gefangene bewachen, die Die große und einhellige Zustimmung, die wir heut- nicht einem Richter gegenübergestellt, sondern nach Gu- zutage im Bundestag zur Inneren Führung haben, ist antánamo verschleppt werden? Es geht also um das ausgesprochen erfreulich. Das war längst nicht immer 15624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Winfried Nachtwei (A) so. Ausdrücklich bewährt hat sich die Innere Führung ja Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) auch bei Stabilisierungseinsätzen, wo es – das haben wir Das Wort hat nun Anita Schäfer, CDU/CSU-Fraktion. in den letzten Jahren gelernt – entscheidend auf die Legi- timität, die Glaubwürdigkeit und die Vertrauenswürdig- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) keit der eingesetzten Soldaten ankommt. Aber wo so viel Konsens besteht, ist das Risiko von gemeinsamen abge- Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): hobenen Sonntagsreden sehr nah. Das müssen wir zu- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- gleich feststellen. ren! In über 50 Jahren hat sich das Konzept der Inneren Führung in der Bundeswehr bewährt. Der Soldat als Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt jedes Jahr: mündiger Bürger in der demokratischen Gesellschaft Innere Führung ist in keiner Weise ein Selbstläufer. Es bleibt für die Streitkräfte das bestimmende Leitbild. Die- geht um die gesellschaftliche Integration von Streitkräf- ses Bild muss aber immer wieder an aktuelle gesell- ten, heutzutage unter den Bedingungen, dass sich die Er- schaftliche Entwicklungen angepasst werden. Im Antrag fahrungswelten von vielen Soldaten, ihren Angehörigen der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Konzept der In- und der normalen Zivilgesellschaft immer weiter ausein- neren Führung stärken und weiterentwickeln“ wird da- anderentwickeln. Es geht um ein extrem breites Anfor- derungsprofil an Soldaten im Einsatz, auch jüngere Sol- rauf hingewiesen, dass mittlerweile neue Aspekte an Be- daten, die verhandeln können müssen, die interkulturelle deutung gewonnen haben. Ich möchte auf zwei dieser Kompetenz haben müssen, aber gegebenenfalls auch Aspekte näher eingehen, nämlich auf die Integration von sehr schnell kämpfen können müssen. Es geht um eine Frauen in die Bundeswehr und auf die Vereinbarkeit von Auftragstaktik und um eigenständiges Handeln, wo man Familie und Dienst. bei Fehlverhalten schnell an den medialen Pranger ge- Mittlerweile sind mehr als 7 Prozent der Zeit- und Be- stellt wird. Bei so viel Gegenwind kann Innere Führung rufssoldaten weiblichen Geschlechts, im Sanitätsdienst nur realisiert werden, wenn sie wirklich aktiv betrieben sogar über 36 Prozent. Sie tragen zur Auftragserfüllung wird. der Bundeswehr genauso wie ihre männlichen Kamera- Innere Führung ist keine Privatangelegenheit der den bei. Die Frauen selbst wollen keine Sonderrolle, Bundeswehr und der Soldaten und der Soldatinnen. In- sondern eine konsequente Gleichbehandlung. Wenn die nere Führung verlangt Handeln aus Einsicht. Soldati- Frauen, die sich heute bei der Bundeswehr bewerben sches Handeln soll sich im Rahmen des Völkerrechts und angenommen werden, das Beförderungssystem erst und der Menschenrechte bewegen. Aber – das müssen einmal durchlaufen haben, wird jeder sechste Zeit- oder wir ganz deutlich sagen – hier ist auch die Politik in der Berufssoldat weiblich sein. Dafür muss allerdings ge- Bringschuld. Aufträge müssen völkerrechtlich einwand- währleistet sein, dass die Bundeswehr für Frauen attrak- (B) frei und durch den Friedensauftrag des Grundgesetzes tiv bleibt. (D) gedeckt sein. Sie müssen aussichtsreich, verantwortbar Dazu gehört, dass sie in der Truppe genauso aner- und überzeugend sein. Die Einsatzregeln müssen klar kannt und behandelt werden wie ihre männlichen Kame- sein. raden; auch das ist eine Aufgabe der Inneren Führung. Dabei geht es um die Fragen – jetzt greife ich die Hin- Dazu gehört aber auch die Vereinbarkeit von Familie weise meines Vorredners auf –: Wie ist es mit der Über- und Dienst. Dies wiederum betrifft nicht nur die Solda- gabe von Gefangenen, wenn ihre rechtmäßige Behand- tinnen, sondern auch die Soldaten. lung nicht gewährleistet ist? Wie ist die Situation, wenn Meine Damen und Herren, in unserem Antrag fordern man im Rahmen bzw. im Umfeld des sogenannten „war wir, zeitgemäße Konzepte zu entwickeln, damit sich sol- against terrorism“ agiert? Hier, so meine ich, hat die datischer Dienst und Familie nicht gegenseitig ausschlie- Bundesregierung ihre Hausaufgaben im Hinblick auf die ßen. Die Bundeswehr kann es sich nicht leisten, in dieser Innere Führung noch keineswegs erledigt. Als Stichwort Hinsicht hinter den Angeboten anderer Arbeitgeber zu- nenne ich nur die weitere Teilnahme an der Operation rückzubleiben, wenn sie auch künftig qualifizierte und Enduring Freedom. einsatzbereite Männer und Frauen gewinnen will. Dabei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind wir uns vollkommen bewusst, dass der Soldatenbe- ruf kein Job wie jeder andere ist. Im jüngsten Jahresbericht des Wehrbeauftragten wurde erneut thematisiert, dass es in der Bundeswehr er- Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Gerade hebliche Führungsmängel gibt; das war übrigens auch Auslandseinsätze erfordern immer eine längere Tren- schon im letzten Jahr der Fall. Bei der Kommandeur- nung der Soldaten von ihren Familien. Aber bei Routine- tagung am kommenden Montag soll das Thema Füh- aufgaben am Heimatstandort gibt es die Möglichkeit zur rungskultur im Mittelpunkt stehen. Wenn die Bundes- Anwendung von Modellen, die in anderen Bereichen er- kanzlerin und der Bundesverteidigungsminister dort probt wurden und sich bewährt haben, zum Beispiel sprechen, dann sollten sie das Problem der Führungskul- Teilzeit, Gleitzeit, Elternzeit und Telearbeit. Diese Maß- tur nicht nur als ein Problem der Uniformträger behan- nahmen sind bereits im Soldatinnen- und Soldaten- deln. gleichstellungsgesetz geregelt. Danke schön. Dadurch werden den Disziplinarvorgesetzten und der Personalführung die notwendigen Instrumente an die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Hand gegeben, um den Dienst mit Rücksicht auf die fa- bei Abgeordneten der SPD) miliären Belange der Soldatinnen und Soldaten zu ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15625

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) stalten. Allerdings darf die Inanspruchnahme von Eltern- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) zeit nicht dazu führen, dass die Kameraden zum Beispiel Das Wort hat nun Petra Heß für die SPD-Fraktion. zusätzliche Arbeiten übernehmen müssen und dadurch selbst Probleme im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Petra Heß (SPD): Dienst und Familie bekommen. Ein zeitgemäßes Kon- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zept muss an dieser Stelle Personalersatz vorsehen. Der Sehr geehrte Damen und Herren! Die Öffnung der Streit- Vorgesetzte ist konkret gefordert, die verfügbaren Mittel kräfte und das Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstel- im Einzelfall umzusetzen, mit dem Wissen um die Situa- lung von Soldatinnen und Soldaten sind, so titelte un- tion der Menschen unter seinem Kommando und vor al- längst die Bundeswehrzeitschrift aktuell, ein Gewinn für lem mit Einfallsreichtum – das waren schon immer Mar- die Truppe. kenzeichen der Inneren Führung. Das stimmt. Trotz mancher Vorbehalte und nach an- Besondere Aufmerksamkeit erfordert zudem die fänglicher Verunsicherung über die neue Situation hat Frage der Kinderbetreuung. Mittlerweile gibt es Fami- die Integration der Frauen in den Streitkräften rasch gute lien, in denen beide Elternteile in der Bundeswehr die- Fortschritte gemacht. Die Zahlen sprechen für sich: Ak- nen, und es gibt alleinerziehende Soldatinnen und Solda- tuell dienen 13 000 Soldatinnen in den Streitkräften, da- ten. Die Schwierigkeiten für diese Familien liegen auf von 8 000 als Unteroffizier und 1 300 als Offizier. Der der Hand. Einige Bundeswehreinrichtungen haben be- Anteil der Frauen liegt bei den Berufs- und Zeitsoldaten reits in Eigeninitiative Möglichkeiten zur Kinderbetreu- mittlerweile bei knapp 7 Prozent, Tendenz weiter stei- ung realisiert. Hier müssen wir zu einem flächendecken- gend. Von der Zielgröße, die wir uns gesetzt haben, sind den Angebot kommen. Die Kindertagesstätte in der wir allerdings noch weit entfernt. Kaserne oder am Standort darf kein Wunschtraum blei- Kommen wir also zu der Frage, wie sich die Öffnung ben. der Laufbahnen für Frauen auf die Innere Führung und In der neuen Zentralen Dienstvorschrift Innere Füh- auf die damit im Zusammenhang stehenden Themen rung wird auf die Angebote der Familienbetreuung hin- ausgewirkt hat und was wir noch verbessern können, um gewiesen. Wo die Erfordernisse des Dienstes der Rück- den Soldatenberuf für Frauen noch attraktiver zu ma- sicht auf familiäre Belange Grenzen setzen, besonders chen. Ein wesentlicher Aspekt der Inneren Führung ist im Einsatz, kann sie Unterstützung bei der Bewältigung und bleibt die Vorbildfunktion. Der Vorgesetzte muss von Problemen bieten. durch sein Vorbild wirken. Denn wie schon Dostojewski sagte: Ich verweise in diesem Zusammenhang mit großer Bevor ihr den Menschen predigt, wie sie sein sol- (B) Dankbarkeit auf die Arbeit der Familienbetreuungszen- len, zeigt es ihnen an euch selbst. (D) tren der Bundeswehr. Daneben gibt es eine zunehmende Zahl privater und ehrenamtlicher Initiativen, die den Fa- Was aber, wenn eine Frau als Vorgesetzte von ihren milien der Soldaten – im Einsatz, im Alltag, ohne den Soldaten eine bestimmte körperliche Leistungsfähigkeit Vater, ohne die Mutter – helfen. Oft haben sich die be- fordert, zu der sie aufgrund ihres Körperbaus selbst nicht troffenen Familien selbst organisiert. Diese beiden An- in der Lage ist? Gibt es hier womöglich Akzeptanzpro- sätze stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sie bilden bleme? Ich glaube, das ist ein eher theoretischer Fall. eine sinnvolle Ergänzung füreinander. Wir fordern daher Die vom Unterausschuss eingeladenen Soldatinnen ha- in unserem Antrag, die Arbeit der Betreuungszentren ben durchweg bestätigt, dass die Integration gelungen und der ehrenamtlichen Projekte stärker zu vernetzen, ist; dass sie von den Kameraden gut aufgenommen wor- um Synergieeffekte zu nutzen. Ressourcen intelligent zu den sind; dass die Zusammenarbeit mit den Kameraden nutzen und gesellschaftliche Entwicklungen einzubezie- gut ist; dass der Umgang mit Vorgesetzten und Unterge- hen, auch das ist Teil der Inneren Führung. benen unproblematisch ist. Die Frauen selber – das hat bereits der frühere Wehr- Die Innere Führung ist ein lebendiges Konzept. Sie beauftragte Dr. Penner festgestellt – wünschen, in erster muss sich immer wieder an gesellschaftliche Verände- Linie als Soldat gesehen zu werden, lehnen jegliche Son- rungen anpassen. Dazu gehört, dass sie in verständlicher derrolle ab, fordern eine konsequente Gleichbehandlung Form und Sprache vermittelt wird. Das beginnt bei der und empfehlen grundsätzlich einen offenen und ehrli- Zentralen Dienstvorschrift und endet bei den Erläuterun- chen Umgang mit Problemen. Die Soldatinnen wider- gen des Vorgesetzten gegenüber seinen Untergebenen. sprechen damit entschieden dem landläufigen Klischee, Nur so kann die Innere Führung die akzeptierte Richt- gleichberechtigt zu sein, aber nicht die gleichen Pflich- schnur für unsere Soldaten bleiben. Nur so können wir ten zu haben. Mit ihrem Anspruch liegen unsere Frauen sicher sein, dass die Innere Führung auch in Zukunft die in Uniform auch richtig. Denn nur auf der Basis der glei- Grundlage für ethisches und verantwortungsbewusstes chen Verpflichtungen ist auch eine Gleichstellung mög- Handeln sowohl innerhalb der Truppe als auch im Ein- lich. satz bildet. Allein im Bereich ihrer persönlichen Ausrüstung gibt Herzlichen Dank. es weiterhin kleinere Mängel. Problematisch erscheint dabei für manche Frauen die Bekleidungssituation. Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- sonders kleine Frauen finden häufig immer noch keine wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ passende Arbeits- und vor allem Schutzkleidung. Die DIE GRÜNEN) vorhandenen Splitterschutzwesten sind, was Größe und 15626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Petra Heß (A) Gewicht angeht, für viele Frauen ungeeignet. Insofern Soldatinnen und Soldaten im Grundbetrieb zur Seite. (C) müssen nachhaltige Lösungen gefunden werden, damit Die Betreuungszentren sollen dabei ein Netzwerk der die Kleidung nicht zu einem Einsatzhemmnis für Frauen Hilfe darstellen. wird. Besonders die Feststellung, dass letztlich die Einsatz- Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Bundeswehr aufträge und die Fähigkeit zur Auftragserfüllung Priori- die Integration von Frauen rasch und sehr gut bewältigt tät haben, ist im Zusammenhang mit der Bundeswehr hat. Auch in unseren Reihen sitzen einige Reserveoffi- ebenso selbstverständlich wie irreführend. Keiner be- zierinnen. Die Frauen selbst haben wesentlich zu ihrer zweifelt mehr, dass Väter und Mütter ihren Dienst ge- Integration beigetragen. Viele befürchten, dass es in Zu- nauso erfüllen müssen und dies auch wollen wie die kunft zu Akzeptanzproblemen kommen könnte, wenn Männer und Frauen ohne Familie. Aber der Verweis auf Frauen als Konkurrentinnen um Aufstiegs- bzw. Füh- die Auftragspriorität darf nicht zu einer Ausrede ver- rungspositionen wahrgenommen werden. kommen. Auch unbequeme Verbesserungsvorschläge Diesen Scheinproblemen sehe ich persönlich aber ge- dürfen nicht mit dem Hinweis auf die Anforderung des lassen entgegen. Denn auch hier – davon bin ich über- Dienstes im Keim erstickt werden. Es gilt vielmehr, die zeugt – werden die Frauen ihren Mann stehen. Schon Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und heute – nur sechs Jahre nach der Öffnung der Streitkräfte Beruf unter umgekehrten Vorzeichen und ohne Ansetzen für Frauen – gehören sie ganz selbstverständlich zum der Kostenschere zu betrachten. Denn wie schon der Bild der Bundeswehr und sind ein Gewinn für die Schweizer Theologe Alexandre Vinet formuliert hat: Truppe. „Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Fami- lie ab.“ Wie stellt sich die Betreuung der Soldatinnen und Soldaten dar, und wie sieht es mit der Vereinbarkeit von Abschließend sei auch mir gestattet, noch einmal al- Familie und Beruf aus? Schwierig – wie auch im zivilen len ganz herzlich Dank zu sagen, die im Unterausschuss Leben – ist die Situation, wenn ein Elternteil alleinerzie- mitgearbeitet haben, auch den Mitarbeiterinnen und Mit- hend ist. Regelungen wie im zivilen Berufsleben stehen arbeitern und den Vertretern des Ministeriums. Die hier noch aus. Häufig bieten auch die Kommunen keine Arbeit im Unterausschuss war stets kollegial und kon- bedarfsgerechte Kinderbetreuung für Kinder von Solda- struktiv. Sie war einfach gut. Deshalb bin ich auch opti- tinnen und Soldaten an. In einem solchen Fall muss die mistisch, dass wir einen guten Antrag gemeinsam hinbe- Bundeswehr verstärkt mit eigenen Einrichtungen in die kommen. Nochmals vielen Dank an alle. Bresche springen, um wenigstens an den großen Stand- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) orten eine bedarfsgerechte Betreuung anbieten zu kön- (B) nen. Bestehende Kindertagesstätten der Bundeswehr wie (D) die der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: haben sich bestens bewährt. Ich schließe die Aussprache. Ein weiteres Problem stellen die zahlreichen zum Teil Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf kurzfristigen Versetzungen der Soldatinnen und Soldaten den Drucksachen 16/8378, 16/8370 und 16/8376 an die dar. Familien werden aus ihrem gewohnten Umfeld ge- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- rissen. Die Kinder leiden unter dem häufigen Schul- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der wechsel und dem Verlust der Freunde. Dem Ehepartner Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. droht der Verlust der Arbeitsstelle. Aber die Zeiten, in denen die Soldatenfrauen in der Regel zu Hause blieben, Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sind vorbei. Die Bundeswehr muss die Zeichen der Zeit auf: erkennen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Die zunehmend selbstverständliche volle Berufstätig- Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer keit von Frauen, aber auch der zunehmende Wunsch vie- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ler Männer nach einer aktiven Vaterschaft müssen zu- DIE GRÜNEN künftig bei der Personalgewinnung berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund des demografischen Wan- Aktionsplan Ernährung vorlegen dels wird es nämlich schon sehr bald zu einem verschärf- – Drucksache 16/8193 – ten Wettbewerb mit der freien Wirtschaft um die besten Köpfe – ich betone: beider Geschlechter – kommen. Da- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- bei werden künftig Faktoren wie bessere Kinderbetreu- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- ung, Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Fami- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu lie und Beruf unter Umständen den Ausschlag geben. In dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, diesem Zusammenhang gilt es, mit der Zentralen Dienst- Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer Abge- vorschrift erste anspruchsvolle neue Ansätze zu finden. ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Das hat die Bundeswehr bereits getan. GRÜNEN Was unternimmt die Bundeswehr, um die Vereinbar- Verbraucherfreundliche Lebensmittelkenn- keit von Dienst und Familie zu verbessern? Sie unter- zeichnung einführen stützt in den sogenannten Familienbetreuungszentren die Familien bei Auslandseinsätzen. Sie steht aber auch den – Drucksachen 16/6788, 16/7726 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15627

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Berichterstattung: (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Frau Künast hat (C) Abgeordnete Julia Klöckner das Ruder herumgerissen! Das haben wir ja gesehen!) Hans-Michael Goldmann Eine wichtige grüne Forderung ist die Einführung der Karin Binder Ampel – ich habe sie gerade gezeigt – als verbindliches, Nicole Maisch leicht verständliches, einfaches Lebensmittelkennzeich- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nungssystem, das natürlich keine Allheillösung für alle Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Probleme der Welt ist, sondern in der jetzigen Situation Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten – das hat die Verzehrstudie gezeigt; die Leute wissen zu soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- wenig über Ernährung – für eine einfache Orientierung sorgt. schlossen. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Aktionismus! Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Alibipolitik!) Ulrike Höfken, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Man erhält nämlich einen besseren Überblick darüber, wie viel Salz, Fett und Zucker im Einkaufskorb landen. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber der Bundesverband der Lebensmittelindustrie scheut die Ampel wie der Teufel das Weihwasser. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht jetzt um die Ampelkennzeichnung bei (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Auch Ernäh- Lebensmitteln. Sie sehen hier beispielsweise die Kenn- rungswissenschaftler!) zeichnung für eine Pizza nach dem britischen Ampelsys- Dabei ist sie in Großbritannien bereits erprobt und wird tem. Hier sehen Sie eine Kennzeichnung auf den Pom- von den Supermarktketten Sainsbury’s, Waitrose oder mes frites. Es sieht keinesfalls so aus, dass man sagen Marks & Spencer erfolgreich eingesetzt. müsste: Dies ist des Teufels. Vielmehr handelt es sich um ein System, für das wir jetzt einmal ordentlich Wer- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Tesco hat es bung machen wollen. zurückgenommen!) Es geht hierbei allerdings nicht – das muss man sagen – Erst ging es Minister Seehofer und der Wirtschaft da- um einen Schönheitswettbewerb, weder was die Men- rum, generell die Kennzeichnung der Nährwerte zu ver- schen noch was die Verpackungen angeht; vielmehr geht hindern. Das duldet Gott sei Dank die EU nicht; Brüssel ist da also treibende Kraft. Aber eine mächtige Allianz es beim Thema Ernährung um Leben oder Tod. Diabe- von 21 Großkonzernen und Produzenten wie Kellogg’s, (B) tes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Darm- (D) Nestlé und Tesco boykottiert die Ampel und entwickelt krebs, Arthrose, Sterilität, Fehlgeburten – Adipositas nun – auch mithilfe von Minister Seehofer und der verkürzt das Leben und führt zu vorzeitigem Tod. So schwarz-roten Regierung – ihr Gegensystem. Dieses sagt der Präsident der Deutschen Adipositas-Gesell- vorgelegte Industriemodell hat seine Tücken. Es sieht schaft. eine portionsbezogene Angabe des Anteils von Zucker, Niemand darf die 37 Millionen übergewichtigen Er- Fett und Salz vor. Dadurch wird die Angabe sehr kom- wachsenen oder die 2 Millionen übergewichtigen Kinder pliziert. Durch die Zugrundelegung von Miniportionen und Jugendlichen stigmatisieren oder gar in ihrer Person und die Annahme eines zu hohen Tagesbedarfs wird der lächerlich machen. Aber 16 Millionen Menschen sind an reale Wert schlichtweg verniedlicht. Auch die Interpreta- tion ist schwierig. dieser schweren Form der Übergewichtigkeit, an der Adipositas, schwer erkrankt. 70 Milliarden Euro pro Jahr Heute hat die Hamburger Verbraucherzentrale – das geben wir für die ernährungsbedingten Folgekosten der passt zu unserem Thema – eine Untersuchung zu diesem Krankheiten aus, Tendenz steigend. Es geht also nicht Modell veröffentlicht. Das Ergebnis ist: Mit ihrem um ein Problem einzelner Menschen und auch nicht um Kennzeichnungsmodell schummelt die Wirtschaft die die Schuld einzelner Menschen. Vielmehr wird den Be- Lebensmittel schlichtweg gesund. troffenen das Leben im wahrsten Sinne des Wortes Ein Beispiel: Wer im Supermarkt auf der Suche nach schwer gemacht. einem gesunden Kinderfrühstück vor den überfüllten Angesichts einer solchen Epidemie, wie die Weltge- Regalen steht, kommt an den Frühstücksflocken von sundheitsorganisation die dramatische Zunahme der Kellogg’s nicht vorbei. In Großbritannien würde man Schwergewichtigkeit definiert, ist heute die Notwendig- aufgrund des hohen Zuckergehalts dieser Produkte viele rote Punkte auf der Packung finden. Allein der Zucker- keit politischen Handlungsbedarfs offenkundig. Die gehalt einer normalen Portion beträgt 11 Gramm; das ist Bundesregierung muss dringend – wie wir schon seit ei- fast ein Drittel der maximalen Zuckerzufuhr, die von der niger Zeit fordern – den angekündigten Aktionsplan Er- Deutschen Gesellschaft für Ernährung für ein vier- bis nährung vorlegen. siebenjähriges Mädchen für akzeptabel gehalten wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Verbietet doch das Essen!) Doch politische Lösungen werden vom ehemaligen Ge- sundheitsminister Seehofer mit aller Kraft verhindert, Fazit: Das freiwillige Seehofer’sche System bzw. das und Ernährung wird zur Privatsache deklariert. Industriesystem ist ein gezieltes Verwirrungssystem. Um 15628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Ulrike Höfken (A) es beim Einkaufen entziffern zu können, braucht man Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) eine Lupe, ein Ernährungslexikon und einen Taschen- Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär rechner. Gerd Müller. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Es hilft den bildungsfernen und etwas sozialschwäche- ren Schichten bestimmt nicht, sich besser zurechtzufin- Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes- den und beim Einkauf auf eine sinnvolle Ernährung zu minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- achten. cherschutz: (Kurt Segner [CDU/CSU]: Sie wollen eine Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Verbotsrepublik! – [CDU/CSU]: ren! Keine Angst: Auch in Zukunft können Sie essen Alles, was gut ist, wollen Sie verbieten!) und trinken, was Sie wollen; Sie entscheiden. Wir geben dem britischen Gesundheitsminister recht, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der zu seinem Kennzeichnungssystem gesagt hat: Ge- Wenn es nach der Kollegin von den Grünen geht – das genwärtig basiert das von uns bevorzugte, von der briti- wollen wir auf keinen Fall –, käme es zu weiteren Verbo- schen Lebensmittelbehörde entwickelte Modell auf dem ten. Ja, wo kämen wir da hin? Ich glaube, dass die Ampelsystem, das die Verbraucher laut unabhängigen Eigenverantwortung im Vordergrund stehen sollte. Forschungsergebnissen leicht verständlich finden und das dazu beiträgt, Verhaltensänderungen zu bewirken. Was geht es den Staat eigentlich an, was ich esse und trinke? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Kurt Segner [CDU/CSU]: Genau!) Dem wollen wir uns anschließen. Wir verlangen von der Bundesregierung – wir nehmen da insbesondere die Diese Frage kann man bewusst stellen. Viele antworten Kollegen von der SPD in die Pflicht, die öffentlich ge- darauf: Mein Körper gehört mir; ich persönlich ent- sagt haben, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen scheide. möchten –, dafür zu sorgen, dass das Ampelsystem ein- geführt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] – Zuruf von (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Was bringt die der SPD: Das ist ein alter Spruch!) Ampel?) Lieber Kollege Bleser und all die anderen Kollegen, die (B) Wenn Sie nichts tun und die Leute im Werbedschungel, jetzt Beifall geklatscht haben, es wird selbstverständlich (D) der mit Milliardenbeträgen gefördert wird, allein lassen, dabei bleiben. ist das – ich zitiere den Geschäftsführer einer großen Adipositasklinik – „Körperverletzung“. Wir haben aber ein großes Problem: 66 Prozent der Männer und 51 Prozent der Frauen sind übergewichtig. Minister Seehofer sagt, die Ampelkennzeichnung sei Wenn ich mir die Kolleginnen und Kollegen anschaue, ein schlechter Ernährungsberater; die Ampelfarben wür- komme ich zu dem Ergebnis, dass der Anteil der überge- den dem Verbraucher die eigene Einschätzung nehmen. wichtigen Kollegen eher über dem Durchschnitt liegt. Dazu sagen wir: Seehofer verweigert mit der Einführung Ich würde sagen, gefühlte 80 Prozent der Kollegen sind des von ihm vorgesehenen Systems den Menschen die übergewichtig. Orientierung und die Möglichkeit, mündig zu werden, sich in Wahlfreiheit zu entscheiden und entscheidungs- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Wider- kompetent zu werden. Das wollen wir nicht. spruch des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: – Das hängt damit zusammen, Herr Goldmann, dass Frau Kollegin, Ihre Ampel steht auf Rot; viele der Kollegen Schwergewichte sind – politisch und körperlich. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Ihre Redezeit ist zu Ende. Aber Spaß beiseite. Ich war heute Morgen bei Mise- reor. Der eine Teil der Welt – das sind 800 Millionen Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Menschen – hungert. Der andere Teil der Welt – das sind Deswegen fordern wir die unverzügliche Einführung die westlichen Wohlstandsstaaten mit 1 Milliarde Men- des Ampelsystems und den Start eines Bundespro- schen – hat ein Problem mit dem Übergewicht. In gramms, das mit entsprechender Öffentlichkeitsarbeit Deutschland ist das auch ein wichtiges Thema. eingeführt wird. Wir fordern auch, Werbung für Kinder- Was geht das aber den Staat an? Natürlich hat Über- lebensmittel und den Verkauf von Süßigkeiten an Schu- gewicht Auswirkungen auf die Gesundheit des Einzel- len zu verbieten. nen, und es hat gesellschaftliche Folgen. Danke schön. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Zum Beispiel!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15629

Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller (A) Wir gehen davon aus, dass 30 Prozent der Gesundheits- sen. Ein fächerübergreifendes Prinzip allein genügt (C) kosten Folgekosten von ernährungsbedingten Krankhei- nicht. ten sind; das summiert sich immerhin auf 80 Milliarden (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) Euro im Jahr. Deshalb sind wir sehr besorgt und küm- mern uns um dieses Thema. Wir werden außerdem einen neuen gesamtgesell- schaftlichen Konsens, dass nämlich Esskultur Lebens- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sinn bedeutet, finden müssen. NEN]: Dann aber richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nicht eingeschlossen – das würde eine eigene Debatte rechtfertigen – ist der Bereich der Alkoholsucht. Wir brauchen eine neue Ethik im Hinblick auf das Essen und auf die Lebensmittel. Wir müssen uns auch fragen, Gesunde Ernährung und Bewegung sind der Schlüs- wie wir zu den Bauern, den Produzenten der Nahrungs- sel zu Lebensqualität, Gesundheit und Fitness; beides mittel, stehen. Wir brauchen mehr Wertschätzung gegen- gehört dazu. Deshalb hat Bundesminister Seehofer Eck- über hochwertigen Produkten, und wir müssen uns über- punkte für den Nationalen Aktionsplan Ernährung vor- legen, wie wir Lebensmittel überhaupt bewerten. In gelegt. Wir haben bereits erste Einzelaktionen dazu vor- Bezug auf all das brauchen wir gesamtgesellschaftlich gestellt. Das Gesundheitsministerium arbeitet mit den einen vollkommen neuen Ansatz. Ländern und den Kommunen zusammen. Wir laden alle, die sich des Themas der Ernährung annehmen wollen, (Beifall bei der CDU/CSU) ein, in den nächsten Wochen und Monaten ihre Gedan- Die richtige Wahl der Lebensmittel – das ist ein Kern- ken dazu einzubringen. Ernährung ist das wichtigste punkt des Aktionsplanes, Frau Höfken – Thema, wenn es um das Leben und die Gesundheit jedes Einzelnen geht. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den gibt es doch noch gar nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hängt mit Ernährungswissen, aber natürlich auch ein ist jetzt mit der Ampel?) Stück weit – da haben Sie recht – mit besseren Produkt- informationen zusammen. Schauen Sie sich aber die Durchschnittlich nimmt jeder Mensch in seinem Le- Produkte genau an! Die allermeisten Kennzeichnungen ben 80 000 bis 100 000 Mahlzeiten ein. Das ist jedes sind für den Verbraucher absolut nicht nachvollziehbar, Mal eine bewusste Entscheidung darüber, was man isst unverständlich. Deshalb haben wir einen Vorschlag erar- und was nicht. beitet, der den Menschen einen Weg durch den Dschun- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gel von 250 000 angebotenen Produkten aufzeigt, wie (B) (D) NEN]: Das wäre schön!) man sich besser informieren kann. Wir wollen eine ver- besserte, verbraucherorientierte Kennzeichnung. – Frau Häufig wäre ein einfaches Nein die richtige Antwort. Kollegin Höfken, Sie halten einen Chip hoch. Aber wir Diese 100 000 Mahlzeiten beruhen auf 100 000 indivi- sind längst über das hinaus, was Sie nach dem Vorbild duellen Entscheidungen, Großbritannien bei uns einführen wollen. Die rot-gelb- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- grüne Ampel in Großbritannien hat bei der Kennzeich- NEN]: Das ist reine Verweigerungshaltung, nung von Lebensmitteln nicht funktioniert. was Sie da machen!) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und diese Entscheidungen sind heutzutage nicht einfach. NEN]: Das stimmt überhaupt nicht!) Bei einem Angebot von rund 250 000 Artikeln im Le- Deshalb haben wir ein Kennzeichnungssystem entwi- bensmittelgeschäft entscheidet der Einzelne, wo er zu- ckelt, das meilenweit über Ihre veralteten Erfahrungen greift, wo er nein sagt, und mit Produkten welcher Güte hinausgeht. und Menge er sich ernährt. Das sind bewusste Einzelent- scheidungen. Deshalb stellen wir die Stärkung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ernährungsbildung ganz weit in den Vordergrund. Bei Wir haben zusammen mit der Nahrungsmittelindustrie Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fehlt es an ein System – in der ersten Stufe auf der Basis der Frei- grundlegendem Ernährungswissen. Deshalb ist Ernäh- willigkeit – entwickelt, das Auskunft gibt, wie viele Ka- rungsbildung der zentrale Ansatz. lorien, wie viel Zucker, wie viel Fett, wie viele gesättigte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fettsäuren und wie viel Kochsalz der Verbraucher pro neten der FDP) Portion, bezogen auf den Tagesbedarf, mit einem be- stimmten Produkt zu sich nimmt. Wir müssen den Menschen entsprechendes Wissen vermitteln, weil das in den Familien heutzutage leider ( [SPD]: Was ist eine nicht mehr geschieht. Portion?) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind konkrete Informationen, mit denen der Ver- Aber nicht im Kleingedruckten!) braucher etwas anfangen kann. Deshalb sind wir der Meinung, dass wir mit den Bundes- Zu Ihrer Überraschung werden wir – dazu haben wir ländern über die Einführung eines Pflichtschulfaches gestern eine Umfrage gestartet – eine Kennzeichnung „Ernährungs- und Verbraucherbildung“ diskutieren müs- testen, in der Rot, Gelb und Grün eine Rolle spielen. 15630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller (A) Aber das ist etwas komplett anderes als die englische Frau Höfken, Sie sind bei diesem Thema unbelehrbar. (C) Ampel. Wir geben dem Verbraucher konkrete Informa- Das habe ich oft genug im Ausschuss erlebt. Die Ampel tionen zur täglichen Nahrungsmittelaufnahme, mit de- in England ist schon 2004 kläglich gescheitert. Sie mei- nen er etwas anfangen kann und die ihm helfen. nen trotzdem, dass das die Heilsbotschaft ist. Sie lesen offenbar keine Fachberichte, die eindeutig belegen: Am- (Beifall bei der CDU/CSU) pel, nein danke, das klappt nicht. Weil mir wenig Zeit zur Verfügung steht, nur noch ein (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:Das ist paar Stichworte. Wir werden darüber hinaus die Ernäh- eine dreiste Verdrehung!) rungsforschung verstärken. Bundesminister Seehofer hat den großen und schwierigen Bereich der Allergiefor- – Nicht so laut, Herr Kelber, verausgaben Sie sich nicht! schung in den Mittelpunkt gestellt. Wir wollen und müs- Ich bringe noch andere Belege. Sie sollten nicht immer sen uns mit durch Lebensmittel ausgelösten Allergien so laut dazwischen schreien. Das ist ein bisschen unan- befassen. Wir haben bereits Qualitätsstandards für genehm. – Jetzt will ich das an einem Beispiel deutlich Schulverpflegung, Betriebskantinen und öffentliche Ein- machen, das nicht von mir, sondern von der Verbrau- richtungen entwickelt. Hier muss die öffentliche Hand cherzentrale kommt. Der glauben Sie doch ein Stück ein Stück weit Vorbild sein. Wir müssen des Weiteren weit. Es gibt zum Beispiel Chipsletten Paprika. Was das Thema „Kinder und Schule“ aufgreifen. Jedes dritte würden Sie vermuten, wie viel rote und wie viel grüne Kind geht heute ohne Frühstück in die Schule. Das muss Punkte die Chipsletten bekommen? und kann nicht die Zukunft sein. Die Bundesländer sind aufgefordert, dieses Problem zu lösen. Kinder brauchen ( [FDP]: Nur gelbe!) Frühstück und Mittagsverpflegung in der Schule. Die bekommen einen roten Punkt, weil relativ viel Fett (Beifall bei Abgeordneten der FDP) darin ist, aber sie bekommen auch drei grüne Punkte. Was macht nun der Verbraucher? Er schaut darauf und Wir haben zudem viele Maßnahmen in der Plattform fragt sich: Was ist denn das? Ist das rot oder grün? Drei- Ernährung und Bewegung, peb, gebündelt. Hier arbeiten mal grün, das scheint etwas Gutes zu sein. – Nehmen wir Vertreter des Sports, Eltern und Wissenschaftler zusam- zum Beispiel Pfirsichringe. Die sind in Ihren Augen et- men. Es geht darum, wissenschaftliche Erkenntnisse in was ganz Schlimmes: Schaumzucker, Gummibonbons. die Praxis umzusetzen. 5 000 Schritte am Tag garantie- Da wird es noch schlimmer. Dafür gibt es drei grüne ren ein Minimum an Bewegung. Lassen Sie uns das an- Punkte und noch einen gelben Punkt. Das ist also auch packen! Mehr Bewegung und gesunde Ernährung brin- etwas ganz Tolles. Die Beispiele zeigen eindeutig: Die gen uns auf dem Weg zu einem gesunden Leben weiter. Regelung mit den Punkten haut nicht hin. Das muss man (B) schlicht und ergreifend zur Kenntnis nehmen. (D) Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der CDU) Wir müssen, auch wenn es mühsam ist, den Verbrau- cher im Rahmen des Möglichen informieren und ihn bil- Vizepräsidentin Petra Pau: den. In dieser Beziehung bin ich mit Ihnen, Herr Müller, Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann völlig einer Meinung. Verbraucherbildung und Verbrau- für die FDP-Fraktion. cherinformation sind sehr wichtig. Ich hätte mir aber (Beifall bei der FDP) gewünscht, dass Sie dem Antrag, den die FDP im Aus- schuss gestellt hat, nämlich mehr Geld für die Verbrau- cherbildung auszugeben, zugestimmt hätten. Dass Sie Hans-Michael Goldmann (FDP): das nicht gemacht haben, ist ein bisschen widersprüch- Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- lich. legen! Ich sage vorweg: Ich bin eigentlich auf einem an- deren Trip gewesen. Herr Müller, Sie wollten uns über- (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: raschen. Das ist Ihnen voll geglückt. Ich weiß überhaupt Das stand nicht in Ihrem „Sparbuch“!) nicht mehr, was Sie wollen. Nun wollen Sie auf einmal – Herr Kelber, wenn Sie so laut schreien, dann können doch eine Ampel; denn nichts anderes bedeuten Rot, Sie gar nicht zuhören. Dann sind Sie hinterher genauso Gelb und Grün. Wenn Sie glauben, dass der Verbraucher ungebildet wie vorher. Das ist ein Problem. Sie sollten in anhand dieser Farben die Informationen besser versteht, diesem Fall die Politikerbildung nutzen und mir zuhö- dann sind Sie auf dem Holzweg. Sie waren an sich auf ren. Auch das ist ein Bestandteil der fachlichen Diskus- einem ganz vernünftigen Weg. Ihr Minister wollte auf sion. Freiwilligkeit setzen – dafür bin auch ich – und hat an die Betriebe appelliert: Bringt eure Produkte mit guten (Beifall bei der FDP) Inhalten auf den Markt, wenn ihr das für richtig haltet und ein entsprechendes Verbraucherverhalten auslösen Nachher werden Sie, Herr Kelber, gefragt, wie Sie es wollt. Aber das, was Sie jetzt machen, ist im Grunde ge- mit Olivenöl halten. Olivenöl erhält jede Menge rote nommen nichts anderes als das, was die „schlimmen“ Punkte. Das kann doch wohl nicht sein. Sogar Herr Bode Grünen wollen. sagt, dass es bei Olivenöl ein Problem gibt. Wie halten Sie es denn mit Joghurtprodukten, die mit Sahne ange- (Beifall bei der FDP) reichert sind? Die bekommen einen roten Punkt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15631

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der FDP – Ulrike Höfken [BÜND- (C) Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Goldmann, der Kollegin Höfken? trotzdem wäre es unmöglich – –) – Frau Höfken, jetzt haben Sie leider keine weitere Frage Hans-Michael Goldmann (FDP): mehr. Die macht mir eine Freude. In Ihrem ganzen Szenario wird dieser Unterschied (Dirk Niebel [FDP]: Die kriegt drei schwarze deutlich: Der eine von Ihnen will Plastiktüten verbieten, Punkte!) der andere will im Grunde genommen Genuss verbieten, der Nächste will Fernsehwerbung verbieten. Wissen Sie, – Sie bekommt jetzt erst einmal einen grünen Punkt, es erschüttert mich wirklich, dass Grüne ein solches Ver- weil sie eine Frage stellt. ständnis haben. Das ist das genaue Gegenteil vom Bild (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wenn sie sich eines mündigen und informierten Verbrauchers. setzt, bekommt sie einen roten Punkt!) (Beifall bei der FDP) – Ich hoffe, dass ich ihr einen roten verpassen kann. Dass auch einige andere wie Frau Drobinski-Weiß in diese Richtung gehen und Ampelbefürworter sind, ist Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ebenfalls erschütternd und ein echtes Problem dieser Großen Koalition. Wie die Debatte zeigt, funktioniert die Vergabe der Punkte ganz ausgezeichnet. Ihre Beispiele von Produk- In dieser Frage sind wir – besser gesagt: wir waren es ten zeigen doch, dass es nicht um böse oder gute Lebens- bis vor kurzem – hundertprozentig auf der Seite von Mi- mittel geht – das ist immer Ihre Befürchtung –, sondern nister Seehofer. darum, deutlich zu machen, was in einem Warenkorb an (Dirk Niebel [FDP]: Aber nur in dieser Frage!) unterschiedlichen Nährwerten enthalten ist. Ich frage Sie, wo doch im Bereich des Umweltschutzes zum Bei- – Nur in dieser Frage sind wir hundertprozentig auf der spiel bei Lüftungssystemen und anderen Systemen die Seite von Minister Seehofer. Ampel gut funktioniert, warum Sie die Ampel bei Nah- (Dirk Niebel [FDP]: Es ist gut, dass du das rungsmitteln ablehnen, obwohl Sie gerade gezeigt ha- klargestellt hast!) ben, dass sie funktioniert. Minister Seehofer ist nach Brüssel gefahren und hat Hans-Michael Goldmann (FDP): sich dort für eine freiwillige, informative Kennzeich- (B) nung ausgesprochen. Es ist völlig falsch, wenn Sie, Frau (D) Jetzt habe ich ein Problem. Entweder haben Sie mich Höfken, sagen, dass dies von der Lebensmittelwirtschaft nicht verstanden, oder ich habe Sie nicht verstanden. Es bekämpft werde. Gerade kleine und mittelständische Be- war doch eigentlich relativ simpel. Sie kennzeichnen ein triebe, aber auch die großen Betriebe machen sich auf Produkt nicht mit Informationen, sondern mit Punkten, den Weg, eine planvolle und kluge Information auf ihren die eine Signalwirkung haben. Es gibt ein Symbol in un- Produkten an die Verbraucher heranzubringen. Dieser serer Gesellschaft, das etwas ganz Furchtbares signali- Weg ist viel erfolgversprechender als die Ernährungsdik- siert, nämlich die Farbe Rot. Die sehen Sie auf dem tatur, die Sie vorschreiben wollen. Schild, das die Durchfahrt einer Einbahnstraße in einer bestimmten Richtung verbietet. Ich habe anhand der Nun will ich noch etwas sagen, was mir wehtut. Der Beispiele deutlich gemacht, dass Sie auf ein und demsel- Grund für das Dickerwerden in Deutschland – das wis- ben Produkt einen roten Punkt, aber gleichzeitig auch sen Sie ganz genau, und ich finde es unehrlich, was Sie drei grüne Punkte haben. Der Verbraucher muss doch die hier transportieren – ist nicht die Ernährung, sondern der Inhaltsstoffe kennen und diese einer bestimmten Menge Bewegungsmangel. Das weiß jeder, der bereit ist, sich zuordnen können. Sonst verhält er sich verkehrt. Oli- damit einmal ernsthaft zu beschäftigen. Deswegen soll- venöl würde jede Menge rote Punkte bekommen. Das ist ten Sie Ihre Fehlinformationen zurücknehmen. aber verkehrt. Olivenöl in einer vernünftigen Dosierung (Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Ulrike ist sehr gesund. Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deswegen ist Ihr Informationsweg falsch. Unser In- formationsweg besagt, dass selbstverständlich eine Vizepräsidentin Petra Pau: Kennzeichnung erforderlich ist, dass man dann aber Das Wort hat die Kollegin Marlies Volkmer für die auch wirklich darauf schreibt, was drin ist, und es nicht SPD-Fraktion. mit einem im Grunde genommen blinden Signalwert un- terlegt, der aus meiner Sicht inhaltlich nichts bedeutet. (Beifall bei der SPD) Diese Erfahrungen sind doch in England gesammelt worden. Frau Höfken, Ihr Problem ist, dass Sie ein völlig Dr. Marlies Volkmer (SPD): anderes Verbraucherleitbild als Liberale haben. Sie wol- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der len verbieten und vorschreiben; wir wollen, dass der Analyse sind wir uns einig: Die Deutschen sind zu dick. Bürger informiert ist und die Möglichkeit hat, sich Din- Es ist auch schon gesagt worden, dass 66 Prozent der gen mit Genuss zuzuwenden und sich vernünftig zu er- Männer und mehr als 50 Prozent der Frauen Überge- nähren. wicht haben. Dies hat die zweite Verzehrstudie mit aller 15632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Dr. Marlies Volkmer (A) Deutlichkeit gezeigt. Beunruhigend ist, dass immer mehr welches Produkt im Regal nach seiner Kennzeichnung (C) Kinder übergewichtig und adipös sind. Jedes zweite adi- den günstigsten Nährwert hat. pöse Kind leidet bereits an Erkrankungen, die eigentlich Erkrankungen von älteren Menschen sind: Bluthoch- Vizepräsidentin Petra Pau: druck, dem sogenannten Altersdiabetes Typ 2 oder Ge- lenkerkrankungen, die diese Kinder schon zum Orthopä- Kollegin Volkmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage den führen. Wir sind uns auch einig, dass wir etwas tun der Kollegin Höfken? müssen und es nicht so laufen lassen können. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Aber was tun? Eine gesunde Lebensweise mit ausge- wogener Ernährung und genügend Bewegung kann dazu Ja, bitte. beitragen, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Die Bundesregierung hat schon einiges getan; ich nenne Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Plattform Ernährung und Bewegung, die Kampagne Ich versuche mein Glück noch einmal bei Ihnen, weil „Fünf am Tag“ – gemeint ist fünfmal Obst und Gemüse sich Herr Goldmann um die Beantwortung der Frage am Tag – und die Aktionstage „Gesunde Ernährung und fröhlich herumgemogelt hat. Es geht um das Olivenöl. Bewegung“ an Schulen. All diesen Kampagnen und Pro- Könnten Sie erläutern, worum es dabei geht, damit es jekten ist gemeinsam, das Wissen zu fördern und, wenn auch die Kolleginnen und Kollegen verstehen? Könnten möglich, eine Umstellung der Lebensgewohnheiten zu Sie deutlich machen, dass es nicht möglich ist, dass das bewirken. Olivenöl drei rote Punkte bekommt? Nun ist es aber notwendig, dass wir über einen Ak- tionsplan dahin kommen, dass das, was punktuell im Dr. Marlies Volkmer (SPD): Lande an Projekten läuft, flächendeckend gemacht wird. Frau Höfken, ich war noch nicht so weit. Ich wollte Nur dann, wenn wir das flächendeckend im Lande tun, erst einmal erläutern, welche Anforderungen wir eigent- werden wir auch die gewünschten Verhaltensänderungen lich an eine Nährwertkennzeichnung stellen. Wir brau- erreichen. chen Wahlfreiheit durch Transparenz. Anders als von der Lebensmittelindustrie und auch hier seitens des Minis- Ein wichtiger Aspekt ausgewogener Ernährung ist die teriums und der FDP behauptet wird, wollen wir nicht Auswahl beim Einkauf. Viele Konsumentinnen und die Bevormundung der Verbraucher, sondern – ich wie- Konsumenten wollen ihren Einkauf an einer gesunden, derhole – Transparenz. ausgewogenen Ernährung ausrichten. Die derzeitige Kennzeichnung der Lebensmittel ist dafür nicht ausrei- (B) (Beifall der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD]) (D) chend. Nährwertangaben sind in der Regel freiwillig. Wenn sie dennoch gemacht werden, sind sie oft schwer Aus diesem Grunde fordern wir eine Nährwertkenn- zu finden. Sie sind klein gedruckt. Man braucht wirklich zeichnung für alle zusammengesetzten Produkte. Zu- eine Lupe, um sie zu lesen. Sie sind schwer zu verstehen sammengesetzte Produkte sind eben nicht einzelne Pro- oder auch irreführend. dukte wie Öl oder Butter. Diese Produkte braucht man nicht zu kennzeichnen; denn jeder weiß, dass sie zu fast Wenn vorne auf einer Gummibärchenpackung „fett- 100 Prozent aus Fett bestehen. Die Kennzeichnung die- frei“ steht, hinten auf dieser Packung aber noch nicht ser Produkte wird überhaupt nicht bezweckt. Es geht um einmal der hohe Zuckeranteil vermerkt ist, dann ist das die Kennzeichnung aller zusammengesetzten Produkte, eine Irreführung. damit es echte Vergleichsmöglichkeiten gibt. (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: DIE GRÜNEN]) Danke!) Wenn auf der Packung einer Tiefkühlpizza, die zwei Auch aus diesem Grunde sagen wir: Wir brauchen Portionen enthält, nur der Nährwert für eine Portion an- eine schnelle, übersichtliche Kennzeichnung, weil der gegeben wird, dann ist das ebenfalls irreführend. Ein durchschnittliche Einkauf von Lebensmitteln – das hat echter Missbrauch freiwilliger Kennzeichnung liegt vor, die Verbraucherzentrale ermittelt – sieben Minuten dau- wenn sich die Nährwertangabe auf einer Verpackung ert. In dieser Zeit ist keiner in der Lage, umfangreiche von Chicken Nuggets auf 15 Gramm, also lediglich auf Tabellen zu lesen. Die Angaben müssen ohne Umrech- einen Nugget, bezieht. Solche Schönrechnerei müssen nungsschritte unmittelbar vergleichbar sein; denn nie- wir unterbinden. mand – ich habe das vorhin schon einmal gesagt – will mit einem Taschenrechner einkaufen gehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was ist denn ein zusammengesetztes Produkt? Das verstehe Wir Verbraucherinnen und Verbraucher benötigen In- ich nicht!) formationen, die bei der Kaufentscheidung schnell, ein- fach und klar verständlich sind. Man muss in der Lage Die Angaben müssen auf anerkannten wissenschaftli- sein, in einer Produktgruppe die gesündere Alternative chen Ernährungsempfehlungen beruhen, und sie müssen zu finden. Wenn mir der Sinn also zum Beispiel nach vergleichbar sein. Sie müssen sich also auf 100 Gramm Chipsletten steht, dann möchte ich feststellen können, oder auf 100 Milliliter beziehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15633

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Frau Kollegin Volkmer, gestatten Sie eine weitere Kollegin Volkmer, Sie sind heute sehr gefragt. Die Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Klöckner? Kollegin Happach-Kasan hätte auch noch eine Frage.

Dr. Marlies Volkmer (SPD): Dr. Marlies Volkmer (SPD): Gern. Gern. Ich möchte nur noch den Gedanken zu Ende bringen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Koalitionskrise!) Alle bisherigen Untersuchungen in England zeigen, dass die Menschen das Wesen der Ampelkennzeichnung Julia Klöckner (CDU/CSU): verstanden haben, Nein, Herr Goldmann. Das geht schon in Ordnung. – (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie ist doch Liebe Frau Kollegin, sind auch Sie der Meinung, dass abgeschafft worden!) die Motivation aufrechterhalten bleiben muss, für Ver- besserungen in den einzelnen Produktsparten zu sorgen? ganz im Gegensatz zu Ihnen, Herr Goldmann. Sie haben Zum Beispiel soll im Bereich der Streichfette – man es noch nicht verstanden. kann natürlich sagen, am besten sei es, es ganz wegzu- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist sie weg lassen; aber viele wollen es nicht weglassen – ein opti- oder nicht?) miertes Produkt möglich sein. Allerdings erhielte selbst ein Streichfett mit einem Fettanteil von nicht 8 Prozent, Wenn wir alle uns ein bisschen näher damit befassen, sondern 2 Prozent einen roten Punkt, wenn die entspre- dann verstehen Sie es auch; da bin ich mir total sicher. chende Nährwertkennzeichnung eingeführt würde. Das Eines möchte ich gerne noch sagen: Es geht eben wäre keine Produktinnovationsmotivation. nicht um die Unterteilung in gute und schlechte Lebens- mittel. Dr. Marlies Volkmer (SPD): (Hans-Michael Goldmann [FDP]: In rot und Liebe Frau Klöckner, ich glaube, Sie haben das Mo- grün!) dell der Ampel noch nicht verstanden. Diese Unterscheidung gibt es nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Folgt man den wissenschaftlichen Empfehlungen, ist, bezogen auf 100 Gramm oder 100 Milliliter, der Anteil Die Dosis ist ganz entscheidend, denn die Dosis macht (B) an Fett, Zucker, gesättigten Fettsäuren und Salz zu kenn- das Gift. Das hat schon Paracelsus gesagt. (D) zeichnen. Es obliegt dann natürlich dem Verbraucher, darauf zu achten. Wenn ich zum Beispiel einen Brotauf- Bitte. strich haben will, dann schaue ich selbstverständlich, mit welchen Punkten er versehen ist. Dann wähle ich eben Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): einen Brotaufstrich, der mehr grüne Punkte hat als rote. Liebe Kollegin Volkmer, ich glaube, dass mein Kol- Das ist eigentlich genau das, was Sie wollen, Frau lege Goldmann dieses Konzept sehr gut verstanden hat. Klöckner. (Ute Kumpf [SPD]: Am besten nimmt man Dr. Marlies Volkmer (SPD): Butter, da weiß man, woran man ist! – Hans- Nein. Michael Goldmann [FDP]: Und dann laufe ich hin und her, das Ganze unter Zeitdruck! Und Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): dann habe ich hinterher Leberwurst, obwohl Doch! Das ist in seinem Beitrag und in verschiedenen ich Rotwurst haben will!) Ausschusssitzungen meines Erachtens sehr deutlich ge- Aus dem Grunde müssten Sie eigentlich unsere Kenn- worden. zeichnung unterstützen, weil sie tatsächlich zu einer Op- Bitte erklären Sie uns doch einmal, warum Sie unbe- timierung der Produkte führt. dingt für ein Konzept eintreten, das in Großbritannien (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Hat mich nicht gescheitert ist und deswegen abgeschafft wurde! überzeugt!) (Ulrich Kelber [SPD]: Sie müssen wenigstens – Das ist aber schade. mal zuhören!) Ich möchte auf die Ampelkennzeichnung zurückkom- Können Sie mir also sagen, warum Sie für dieses Kon- men. Es ist so, dass die Anforderungen, nämlich Trans- zept eintreten, obwohl Sie wissen, dass es in einem ande- parenz, schnelle Durchschaubarkeit und Wissenschaft- ren Land in Mitteleuropa eindeutig gescheitert ist? lichkeit, von der englischen Ampelkennzeichnung im Wesentlichen erfüllt werden. Grün heißt „unbedenk- Dr. Marlies Volkmer (SPD): lich“, gelb bedeutet „nicht so häufig“ und rot „nur sel- Ich kann das sehr kurz machen, indem ich sage: Auch ten“. So wird der Gehalt an Fett, Fettsäuren, Zucker und durch wiederholtes Behaupten wird das nicht richtiger. Salz gekennzeichnet. Die Ampel ist in England nicht gescheitert. 15634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Dr. Marlies Volkmer (A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: 2004 abge- lässlich. Wichtig ist es eben auch, um gleich auf diesen (C) schafft!) Punkt einzugehen, darauf hinzuweisen, dass es sich im- mer nur um die Kennzeichnung eines Lebensmittels han- Die Ampel hat sich sehr wohl bewährt. delt. Das bringt es mit sich, dass sich der Verbraucher in- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ formieren muss. Wenn er viele Produkte mit grünen DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder Punkten gekauft hat, kann er am Abend des Tages durch- [DIE LINKE]) aus ein Produkt mit rotem Punkt zu sich nehmen. Ganz wichtig ist auch, immer die Ernährungspyramide im Schauen wir doch einmal, welche Kennzeichnung zur- Blick zu haben, auf die von der Deutschen Gesellschaft zeit favorisiert wird! Das ist die von der Industrie angebo- für Ernährung immer wieder hingewiesen wird. Nur eine tene freiwillige GDA-Kennzeichnung. Sie gewährleistet Kombination verschiedener Informationen bringt einen genau das nicht, was wir wollen: schnelle Orientierung, weiter; ein ganz wichtiger Punkt dabei ist eine transpa- Transparenz, Vergleichbarkeit, Wissenschaftlichkeit. Diese rente Kennzeichnung. Kennzeichnung, die auch vonseiten des Ministeriums favo- risiert wird, ist kompliziert. Es gibt viele Informationen, so- Ein Wort noch zu dem von den Grünen im Rahmen gar zu viele Informationen. Ihre Bedeutung erschließt sich des Aktionsplans geforderten Werbeverbot für soge- dem Konsumenten nicht, wenn er das denn überhaupt liest. nannte Dickmacher. Hier schießen Sie, wie ich denke, über das Ziel hinaus; denn beinahe jedes Lebensmittel Die Angabe des prozentualen Tagesbedarfs bezieht kann, in großen Mengen genossen, zum Dickmacher sich auf 2 000 Kilokalorien. Sie ist gänzlich ungeeignet, werden. weil der Bedarf an Kilokalorien natürlich vom Lebensal- ter, vom Geschlecht und von der Art der Tätigkeit ab- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hängt. NEN]: Um rechtliche Rahmenbedingungen geht es hier!) Außerdem fehlt es an einer wissenschaftlichen Grundlage. Da darf ich Ihnen zur Weiterbildung die Lek- Ich denke nicht, dass Sie jegliche Werbung für Schoko- türe der sehr deutlichen Stellungnahme der Deutschen lade oder Pudding verbieten wollen. Das hielten wir Gesellschaft für Ernährung hierzu empfehlen. nicht für sinnvoll. Der englischen Ampelkennzeichnung fehlt aus unse- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rer Sicht die Angabe der Kalorien und der Ballaststoffe. Nein, das steht auch nicht da!) Ernährungswissenschaftler fordern ihre Nennung, da sie wichtige Informationen für eine ausgewogene Ernäh- Wir werden den Antrag zum Aktionsplan Ernährung rung darstellen. Das gilt auch für Proteine. Wir fordern noch ausführlich im Ausschuss diskutieren. Ich freue (B) (D) ihre Nennung im Rahmen der Big Eight auf der Pa- mich schon auf die Diskussion. ckungsrückseite. (Beifall bei der SPD) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das verstehe ich nicht! Man kann doch Deutsch reden!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Karin Es genügt uns also nicht, diese Ampel auch für Deutsch- Binder das Wort. land zu fordern, wie das im Antrag der Grünen ge- schieht. Wir brauchen mehr. (Beifall bei der LINKEN) Um Ihnen gleich zu sagen, warum wir Ihren Antrag ablehnen: Ihrem Antrag fehlt noch die europäische Per- Karin Binder (DIE LINKE): spektive. In der Europäischen Union ist die Reform der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lebensmittelkennzeichnung in vollem Gange, und wir Meine Damen und Herren! freuen uns, dass die Kommission eine verpflichtende (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Kennzeichnung vorgeschlagen hat, wenn wir auch die Warum haben Sie denn die Flasche mitge- Bezugnahme auf eine durchschnittliche Tageszufuhr ab- bracht?) lehnen. Hier erwarten wir, dass sich die Bundesregie- rung dafür einsetzt, eine andere vernünftige Bezugs- Ich habe hier ein Beispiel dafür, wie derzeit die freiwil- größe zu finden. lige Kennzeichnung von Produkten der Lebensmittelin- dustrie aussieht. Ich lese einmal kurz vor, was hier steht, Vizepräsidentin Petra Pau: auch wenn ich nur eine kurze Redezeit habe, aber das Kollegin Volkmer, gestatten Sie eine weitere Zwi- müssen Sie sich einfach einmal vergegenwärtigen: schenfrage der Kollegin Höfken? (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Woher kommt denn das Produkt?) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Nährwertkennzeichnung je 100 Milliliter: Brennwert Nein, ich möchte jetzt gern zum Ende kommen. 102 Kilojoule oder 24,0 Kilokalorien, Eiweiß 0,1 Gramm, Keine denkbare Nährwertkennzeichnung ist für sich Kohlehydrate 5,8 Gramm, davon Zucker 5,6 Gramm, Fett genommen geeignet, eine ausgewogene Ernährung si- unter 0,1 Gramm, davon gesättigte Fettsäuren unter cherzustellen. Deswegen ist eine Informationskampa- 0,1 Gramm, Ballaststoffe 0,1 Gramm, Natrium unter gne bei Einführung einer neuen Kennzeichnung uner- 0,02 Gramm. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15635

Karin Binder (A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo kann ich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: 5,6 Gramm (C) das Produkt kaufen?) haben Sie gesagt!) Es geht mir jetzt einfach darum, dass Sie verstehen, – 5,6 Gramm auf 100 Milliliter. Es handelt sich um Ap- dass ich beim Einkaufen überfordert bin, wenn ich solch felschorle. Ich trinke sie sehr gerne und werde sie auch einen Waschzettel lesen muss. künftig trinken. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Dafür können wir (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ich doch nichts! – Hans-Michael Goldmann trinke nur Weinschorle!) [FDP]: Was wollen Sie draufmachen?) In dieser Flasche steckt praktisch mein Tagesbedarf an – Die Ampel, Herr Kollege. Zucker, denn die WHO empfiehlt für eine Frau 60 Gramm Zucker am Tag. Mit einer Flasche Apfel- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann erfassen schorle, die 56 Gramm Zucker enthält, habe ich also Sie von den zehn Punkten vier! Welche?) meinen Tagesbedarf an Zucker gedeckt. Dann wäre für Ich weiß nicht, was Sie von der FDP sich vorstellen, den Zuckergehalt ein roter Punkt zu setzen. Das bedeu- aber das Prinzip der Ampel ist in England sehr wohl von tet, ich passe auf, ich trinke keinen Liter Apfelschorle den Verbraucherinnen und Verbrauchern verstanden am Tag, sondern vielleicht ein oder zwei Gläser. Das worden. Wer in unserem Land trinkt bitte literweise Oli- darf ich. Dann habe ich noch ein Restkontingent an Zu- venöl? cker, den ich durch Süßigkeiten und Ähnlichem zu mir nehmen darf. Der rote Punkt würde also darauf hinwei- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und sen: Liebe Leute, seid vorsichtig, auch in Apfelschorle des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans- ist Zucker, auch wenn es ansonsten ein gutes Getränk ist. Michael Goldmann [FDP]: Keiner!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Olivenöl wird löffelweise als Dressing zum Salat gege- sowie bei Abgeordneten und der SPD) ben, den dann oftmals mehrere Menschen gemeinsam als Familienmahlzeit zu sich nehmen. Die anderen Inhaltsstoffe werden durch einen grünen Punkt gekennzeichnet, da in dem Getränk kein Salz und (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: kein Fett enthalten ist. Das kann nur jemand sagen, der den teuersten Koch im Saarland beschäftigt hat!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wenn ich erschöpft bin, dann ist es doch eigentlich nicht Also nehme ich nur winzige Mengen Olivenöl zu mir; verkehrt, wenn ich das trinke!) (B) und das ist dann gesund und nicht schädlich. (D) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und Vizepräsidentin Petra Pau: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie eine zweite Zwischenfrage zu, Frau Herr Staatssekretär Müller, Sie haben gefragt, was es Binder? den Staat angeht, was jemand isst und trinkt. Sie haben Gott sei Dank selber auch eine Antwort gegeben. Karin Binder (DIE LINKE): Ja. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Binder, gestatten Sie eine Zwischenfrage Hans-Michael Goldmann (FDP): des Kollegen Goldmann? Liebe Kollegin, wenn ich erschöpft bin und meine Kohlehydrate verbraucht habe – Kohlehydrate sind ja Karin Binder (DIE LINKE): nicht schlecht; manchmal werde ich dadurch leistungsfä- Aber gerne. hig –, dann müsste ich ja davon etwas trinken. Dann trinke ich sozusagen „Rotes“ in mich hinein. Das, finde ich, ist nicht sehr verbraucherinformativ. Hans-Michael Goldmann (FDP): Frau Kollegin Binder, wenn ich es richtig in Erinne- (Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen: Aber für rung habe – auch ich lese ja manchmal solche Etiketten einen Liberalen ganz hilfreich!) und habe früher beruflich mit Ernährung zu tun gehabt –, Der rote Punkt signalisiert eigentlich, das Produkt ist haben Sie eben zehn Inhaltsstoffe genannt, vielleicht nicht sehr geeignet. Aber in diesem Fall ist das Produkt auch zwölf. Wie viele Punkte wollen Sie denn nun auf besonders gut geeignet. Stimmen Sie hier mit mir über- solch eine Flasche kleben, und mit welcher Punktfarbe ein? wollen Sie die verschiedenen Inhaltsstoffe bewerten?

(Zuruf von der CDU/CSU: Das würde mich Karin Binder (DIE LINKE): auch einmal interessieren!) Nein. Ich stimme mit Ihnen überein, dass das Produkt sehr geeignet ist, jemandem einen kleinen Energieschub Karin Binder (DIE LINKE): zu verpassen. Wir wissen ja, dass Zucker für Energie Herr Kollege Goldmann, in dieser Flasche sind circa sorgt. Das ist okay. Deshalb dürfen Sie ja Zucker zu sich 56 Gramm Zucker. nehmen. 15636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Karin Binder (A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann darf er rem auch Werbeverbote für Süßwaren und Ähnlichem in (C) nicht rot sein!) Kindersendungen. Die Frage ist nur, wie viel. Zwischen ein oder zwei Glä- (Zuruf von der CDU/CSU: Die Kinder sind sern Apfelschorle und einer Flasche Apfelschorle ist ein immer dicker geworden!) großer Unterschied. Darum geht es. Der rote Punkt sagt Leider ist meine Redezeit nun zu Ende. Ihnen: nicht so viel und nicht so oft davon trinken. Dann ist alles im Lot. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie sind schon zehn Minuten am Reden!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich schließe mich der Forderung der Verbraucherzentrale Ich komme gerne zur FDP und gebe Nachhilfe in Ver- an: Vorfahrt für die Ampel. Herrn Minister Seehofer braucherbildung, wenn es sein muss. empfehle ich: Schalten Sie auf Grün, biegen Sie links ab und starten Sie dann durch! Ich hatte vorhin Herrn Staatssekretär Müller ange- sprochen, der gefragt hat, was es den Staat angeht, was Ich danke für die Aufmerksamkeit. man isst und trinkt. Sie haben es selber beantwortet: Es (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- geht um gesunde Lebensmittel. Viele Menschen können NIS 90/DIE GRÜNEN) nicht das einkaufen, was gut und gesund ist, sondern müssen das einkaufen, was sie sich leisten können. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Ich schließe die Aussprache. NIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Michael Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Goldmann [FDP]: Endlich!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8193 Es ist leider so, dass viele Produkte, die billig angebo- mit dem Titel „Aktionsplan Ernährung vorlegen“. Wer ten werden, einen hohen Fett- und Zuckergehalt haben, stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer damit sie nach etwas schmecken. In Großbritannien ist enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Ko- es aufgrund der Einführung der Ampelkennzeichnung alitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der tatsächlich gelungen, antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: 2004 abgeschafft!) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh- rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An- (B) die Firmen dazu zu bringen, solch ungesunde Bestand- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel (D) teile in diesen Lebensmitteln zu reduzieren. Im Gegen- „Verbraucherfreundliche Lebensmittelkennzeichnung ein- satz zu der vielfach geäußerten Behauptung, in Großbri- führen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- tannien habe sich das System nicht etabliert, stellten empfehlung auf Drucksache 16/7726, den Antrag der Familienminister und Gesundheitsminister gemeinsam Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6788 im Januar den Bericht der Regierung „Gesundes Ge- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- wicht, gesundes Leben“ vor. Sie stellen sich ganz be- lung? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – wusst hinter die Ampelkennzeichnung und erklären: Ge- Das ist nicht der Fall. Dann ist die Beschlussempfehlung genwärtig basiert unser bevorzugtes, von der britischen mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion Lebensmittelbehörde FSA entwickeltes Modell auf ei- und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion nem Ampelsystem, das Verbraucherinnen und Verbrau- Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an- cher laut unabhängigen Forschungsergebnissen leicht genommen. verständlich finden und das dazu beiträgt, Verhaltensän- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: derungen zu bewirken. Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, (Beifall bei der LINKEN) SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Ampelkennzeichnung zeigt je nach der Zusam- Für freie und demokratische Parlamentswah- mensetzung der Produkte grünes, gelbes oder rotes Licht len im Iran für die vier Kategorien Fett – gesättigte Fettsäuren –, Zu- cker und Salz. – Damit haben Sie eine Kennzeichnung – Drucksache 16/8379 – für alle wichtigen Dickmacher. Die Leute können sich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die schnell orientieren und haben beim Einkaufen in der kur- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre zen zur Verfügung stehenden Zeit alles Notwendige auf dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. einen Blick. Damit können sie sich gesund ernähren. Die Firmen reagieren darauf, nehmen diese ungesunden Ar- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege tikel aus den Regalen heraus und bringen gesündere, mit Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion. weniger Dickmachern belastete Lebensmittel in die Re- gale. Das ist in England nachgewiesen. Ich finde, dass Dr. Rolf Mützenich (SPD): die Regierung durchaus einmal den Blick nach England Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! richten könnte, wenn es um das mit dem Bericht vorge- Wir knüpfen mit dem heute vorliegenden Antrag und stellte Maßnahmenpaket geht. Dort gibt es unter ande- dieser Debatte an einen Antrag an, den wir bereits in der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15637

Dr. Rolf Mützenich (A) letzten Legislaturperiode anlässlich von Wahlen im Iran 1 000 wieder zugelassen worden. Das zeugt zwar von (C) vorgelegt hatten. Am 12. Februar 2004 diskutierten wir Bewegung, aber das reicht nicht. an gleicher Stelle über einen ähnlichen Anlass, nämlich darüber, dass nicht alle Kandidatinnen und Kandidaten, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die sich bei der Wahl im Iran aufstellen lassen wollten, DIE GRÜNEN) zugelassen wurden. Ich glaube, es ist gut, dass wir heute Wenn der Iran tatsächlich so stark ist, wie er immer be- wieder einen Antrag zu diesem Thema vorlegen. Ich hauptet, muss er in seinem Land Vielfalt, Partizipation würde mich freuen, wenn alle im Deutschen Bundestag und Offenheit bei der Wahl zulassen. Das sollte die Bot- diesem Antrag zustimmen würden. schaft Teherans sein. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (Beifall bei der SPD) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit unserer Initiative wollen wir keine Haltungsnoten Vizepräsidentin Petra Pau: verteilen oder besserwisserisch sein. Es gibt aus meiner Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Zwischenfrage Sicht leider zu häufig Anlass, Wahlen kritisch unter die des Kollegen Goldmann? Lupe zu nehmen – manchmal auch bei uns im Westen. Deshalb stellt dies keine Einmischung dar, sondern ver- Dr. Rolf Mützenich (SPD): deutlicht das Interesse des Parlaments an Partizipation Bitte schön. und Offenheit politischer Systeme überall in der Welt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Vizepräsidentin Petra Pau: bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Bitte. GRÜNEN) Unsere Initiative nimmt etwas auf – deswegen ist sie Hans-Michael Goldmann (FDP): keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Respektierter Kollege, ich hatte am Montag Gelegen- Iran –, worüber in dem Lande selbst in den letzten Wo- heit, mit den Vertretern der jüdischen Gemeinden in chen immer wieder heftig diskutiert worden ist. Das Deutschland zu sprechen. Ich würde denen gerne heute zeigt, dass der Iran im Gegensatz zu manch anderen Abend mitteilen, welcher iranische Spitzenpolitiker der Ländern in dieser Region pluralistischer und kritischer Feststellung, dass der Iran Israel im Grunde genommen ist, als es der eine oder andere bei uns manchmal dar- plattmachen will, widersprochen hat. Welcher iranische stellt. Ahmadinedschad prägt eben nicht allein das Bild Politiker hat erklärt, dass es ein Existenzrecht Israels (B) des Iran, sondern es prägen viele andere kluge Men- gibt? Welcher iranische Politiker oder welche iranische (D) schen, Politikerin – das wäre noch schöner – hat erklärt, dass die Raketenangriffe gegen Israel zu verurteilen sind? (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Dr. Rolf Mützenich (SPD): die versuchen, die Gesellschaft aufzubauen und die Poli- Herr Kollege Goldmann, wenn Sie mit mir im Iran tik zu gestalten. gewesen wären, als dort die Holocaustkonferenz, die Kommunalwahlen und die Nachwahlen zum iranischen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber Israel Nationalparlament stattgefunden haben, hätten Sie erle- wollen sie plattmachen!) ben können, dass viele wichtige Akteure, gerade aus – Herr Kollege, der Zuruf disqualifiziert Sie; denn Sie dem klerikalen Bereich, die Leugnung des Holocaust wissen, dass dieses Parlament insgesamt die Vorwürfe durch Präsident Ahmadinedschad abgelehnt haben. Sie und das Leugnen des Holocaust durch Ahmadinedschad müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass viele Men- kritisiert und zurückgewiesen hat. schen in diesem Land versuchen, mit den Mitteln, die zugelassen sind, gegen Ahmadinedschad zu protestieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Währenddessen können wir ruhig in unseren Sesseln sit- der CDU/CSU) zen und protestieren. Wir sollten hier nicht wohlfeil sa- Deswegen fällt diese Bemerkung auf Sie zurück. gen: Dieses Land ist nur Ahmadinedschad. Es ist vielfäl- tiger und bunter, als Sie es hier beschrieben haben. Ich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber wer glaube, dass das auch diejenigen wissen, die Sie eben an- will denn etwas anderes im Iran?) gesprochen haben; denn auch in Israel wird sehr offen und kritisch darüber debattiert, wie mit dem Iran umzu- – Sie können sich gerne zu einer Zwischenfrage melden, gehen ist. Auch das sollten wir zur Kenntnis nehmen. sollten aber nicht ständig Zurufe machen. In der Debatte zuvor haben Sie sich mehrmals darüber beschwert, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ständig dazwischengerufen worden ist. Also halten Sie DIE GRÜNEN) sich bitte an Ihre eigenen Maßstäbe! Interessant ist insbesondere, dass versucht wird, das Seit gestern ist in die Debatte im Iran etwas Bewe- politische System des Iran neu aufzustellen. Nach mei- gung gekommen: Von den 3 000 Kandidatinnen und nem Dafürhalten werden drei politische Gruppen zu den Kandidaten, die in der ersten Runde vom Innenministe- Wahlen antreten: Das ist zum einen der unverbesserliche rium abgelehnt worden sind, sind gestern immerhin Flügel um Ahmadinedschad, den Sie eben angesprochen 15638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Dr. Rolf Mützenich (A) haben. Zum anderen sind es die sogenannten Reformer Der andere Punkt ist – ich glaube, das ist richtig –, die (C) um Chatami, hinter die allerdings immer mal wieder das Angebote und Gegenleistungen, die wir vorgeschlagen eine oder andere Fragezeichen gesetzt werden muss. Da- haben, aufrechtzuerhalten, also genau das Gegenteil zu neben sind es die konservativen Kreise um den ehemali- dem zu verfolgen, was Ahmadinedschad jetzt erklärt hat, gen Atomunterhändler Laridschani und den Teheraner nämlich nicht mehr mit der Europäischen Union verhan- Bürgermeister Ghalibaf. Die entscheidende Frage wird deln zu wollen. Wir sollten die Tür offen lassen, insbe- sein, ob das Parlament nach dem 14. März rational und sondere für die Kräfte im am 14. März neu gewählten unabhängig handeln wird und will. Wir sollten es unter- Parlament, die möglicherweise zu diesem Dialog bereit stützen, indem wir genau das fordern. Wir sollten das sind. Zumindest sollten wir an dieser Stelle die Chance Parlament aber auch mit den Mitteln, die wir haben, un- nutzen und die Hoffnung nicht aufgeben. terstützen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass der Iran eben FDP) doch etwas komplizierter, aber auch offener ist, als wir Ich gebe zu: Der Iran hat es uns in den letzten Wochen manchmal glauben. Wir müssen den Dualismus im Iran nicht leicht gemacht. zur Kenntnis nehmen. Es ist nicht immer leicht, klar zwi- schen gut und böse zu unterscheiden. Es gibt den Dualis- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: mus von Islam und Republik, der nur schwer aufzulösen Katastrophe!) sein wird. An diesen Widersprüchen leidet die islami- Insbesondere der neue Bericht der Internationalen Atom- sche Republik. Es gibt verschiedene Machtzentren, die energiebehörde gibt Anlass zu großen Bedenken. Es gibt versuchen, politische Initiativen auszuhandeln. Selbst neue Erkenntnisse, und insbesondere die Tatsache, dass wenn sie sich verständigt haben, ist es schwer, auf die dort ein Raketenprogramm entwickelt wird, das nicht einzelnen Machtzentren einzuwirken. Das erleben wir nur für Israel, sondern auch für Europa eine besondere gerade bei der militärischen Nutzung des Atomener- Herausforderung darstellt, provoziert natürlich zu den gieprogramms. Dem Westen fällt es schwer, in der Poli- Gegenmaßnahmen, über die wir so kritisch diskutieren. tik mit Klerikern umzugehen. Es ist aber genauso Auch darüber sollten wir mit dem neu gewählten Parla- schwer, mit Menschen umzugehen, die in dem achtjähri- ment sprechen. gen, verheerenden Krieg zwischen dem Irak und dem Iran, der mehr als 1 Millionen Menschenleben gekostet Ich muss sagen: Der einzige Hoffnungsschimmer, den hat, sozialisiert wurden. Auch das wirkt sich letztlich auf ich habe, dass sich Vernunft in der Region wieder breit- die Politik aus. Wir tun gut daran, diese unterschiedli- macht, ist das, was im Golfkooperationsrat vor kurzem chen Facetten wahrzunehmen. Wir sollten aber auch die angeboten worden ist, nämlich eine nuklearwaffenfreie (B) Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass Wahlen zur Legiti- Zone in der Region einzuführen. Herr Goldmann, Ihr La- (D) mation genutzt werden, was in einer islamischen Repu- chen und Ihre Zwischenrufe regen mich langsam auf. blik, wie sie sich selbst tituliert, keine Selbstverständ- Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis, dass dort Men- lichkeit ist. schen sind, die versuchen, rational auf die Probleme ein- zugehen und den nuklearwaffenfreien Status in der Re- Ich glaube, wir sollten uns als Parlamentarier insbe- gion zu sichern. sondere der Zivilgesellschaft zuwenden. Sie versucht (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich finde es nämlich, gegen Unterdrückung vorzugehen bzw. die Ni- unfair, was Sie gerade machen!) schen zu finden, die Christiane Hoffmann in ihrem Buch „Hinter den Schleiern Irans“ dargestellt hat. Sie hat ge- Denn es geht um ihr Leben. Das sollten wir unterstützen, zeigt, wie schwierig es für die einzelnen Menschen ist. insbesondere vonseiten des Deutschen Bundestags. Man sollte hier eben nicht so wohlfeil über ein ganzes Land urteilen. Das am 14. März dieses Jahres gewählte Vielen Dank. Parlament wird die soziale Frage aufnehmen müssen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Dieses Parlament wird die innere Zerrissenheit und die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Probleme des Landes widerspiegeln. geordneten der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich habe nicht gelacht! Das Ich bin froh, dass es zu einer dritten Resolution im Si- ist eine Unverschämtheit, was Sie da gemacht cherheitsrat gekommen ist und man nicht auf die Strate- haben!) gie von Ahmadinedschad und anderen eingegangen ist, die versucht haben, den Sicherheitsrat zu spalten. Nur ein Land hat sich der Stimme enthalten: Indonesien. Li- Vizepräsidentin Petra Pau: byen zum Beispiel, das seine eigenen Erfahrungen hat, Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Harald hat zugestimmt. Im Zusammenhang mit der Bewertung Leibrecht das Wort. der Atompolitik des Iran ist vordringlich, dass die Staaten- gemeinschaft zusammenbleibt. Ich glaube, dass die Bun- Harald Leibrecht (FDP): desregierung viel dafür getan hat, insbesondere mit ihrer Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! EU-Initiative. Wir sollten – auch innerhalb der IAEO – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich durfte in diesem immer versuchen, diese Staatengemeinschaft zusammen- Haus schon öfter Debatten über den Iran verfolgen. Lei- zuhalten und an der einen oder anderen Stelle nicht zu der beschäftigen wir uns jedes Mal – zu Recht – mit dem überfordern. Problem des dortigen Atomprogramms und natürlich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15639

Harald Leibrecht (A) auch mit den Sanktionen gegen den Iran. Es ist gerade er hat sich durch seine inakzeptablen Reden und wieder- (C) drei Tage her, dass der UN-Sicherheitsrat seine dritte holten Hasstiraden nicht nur auf der internationalen poli- Sanktionsresolution zum iranischen Atomprogramm tischen Bühne völlig blamiert, sondern er bekommt auch verabschiedet hat. im eigenen Land zunehmend Gegenwind, selbst aus den eigenen Reihen, nicht zuletzt deshalb, weil er bisher In wenigen Tagen sind wieder Wahlen im Iran. Daher keine seiner hochtrabenden Wahlversprechungen einge- ist es zu begrüßen, dass wir uns heute hier im Haus mit löst hat. Bis heute lässt der „Retter der verarmten Mas- diesem interfraktionellen Antrag beschäftigten und dass sen“, wie er sich selbst nennt, auf sich warten. wir, auch wenn wir mit der iranischen Regierung nicht einverstanden sind und schon gar nicht mit den Verbal- Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die Parla- attacken gegen Israel, an einem Dialog mit dem Iran und mentswahlen im Iran ist einzig und allein entscheidend, an echten demokratischen Wahlen dort interessiert sind. ob die Stimme des iranischen Volkes durch freie und faire Trotz der vielen Probleme, die es mit dem Iran gibt, sei Wahlen zum Ausdruck kommt. Ayatollah Chamenei und es das Atomwaffenprogramm, seien es die undurchsich- der iranische Parlamentspräsident haben einen sauberen tigen Verhältnisse des Irans zu international agierenden Wahlkampf und demokratische Wahlen angemahnt. Wir demokratiefeindlichen Gruppen, seien es die Hasstira- sollten sie beim Wort nehmen und daran messen. den gegen Israel und den Westen allgemein, müssen wir Ich danke Ihnen. versuchen, die diplomatischen Türen irgendwie offen zu halten. Denn dies ist für uns die einzige Möglichkeit, den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten politischen Reformkräften im Iran ein Signal zu geben, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- eine Botschaft, die klar ausdrückt: Wir lassen die Men- SES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. schen im Iran nicht allein, weder mit ihrem unberechen- Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) baren Präsidenten noch mit der gesamten demokratie- feindlichen politischen Führung. Vizepräsidentin Petra Pau: Meine Damen und Herren, wenn man die Atompro- Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Ruprecht blematik einmal für einen Moment in den Hintergrund Polenz das Wort. stellt, dann erkennt man die wichtige, auch die geostrate- gisch wichtige Lage dieses Landes mit seinen immensen Ruprecht Polenz (CDU/CSU): natürlichen Ressourcen und seiner jungen, durchaus Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! westlich orientierten und gut ausgebildeten Bevölke- Wir beschäftigen uns mit den Parlamentswahlen im Iran, rung. Ich glaube, uns allen ist bewusst, dass der Iran das weil der Iran ein großes, ein wichtiges Land ist und weil (B) Potenzial hat, zu einer starken Regionalmacht zu wer- er reich an Bodenschätzen ist. Er hat eine gebildete, gut (D) den, und dass er dies auch selbst erkennt. Leider wählt ausgebildete Bevölkerung und eine reiche Kultur. Der die iranische Führung die falschen Mittel, um dieses Ziel Iran kann auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück- zu erreichen. Denken Sie nur an das iranische Raketen- blicken. Er könnte auch ein blühendes Land sein. Aber programm. er wird weit unter Wert regiert. Hätten die Menschen dort eine echte Chance, ihr Dass wir unsere Auseinandersetzung mit dem Iran auf Glück selbst in die Hand zu nehmen, würde sich das sein Nuklearprogramm fokussieren, führt dazu, dass wir Land sehr schnell sehr positiv entwickeln; davon bin ich uns zu wenig mit den inneren Entwicklungen im Iran be- absolut überzeugt. Die Menschen im Iran streben nach schäftigen und ihnen zu wenig Aufmerksamkeit wid- Freiheit. Diese wird ihnen von den Ayatollahs jedoch men. Die heutige Debatte sollte auch dazu dienen, das zu weiterhin verwehrt. ändern. Mit unserem gemeinsamen Antrag setzen wir uns da- Weil die Regierung im Iran unter normalen demokra- für ein, mit den politischen Parteien, die im iranischen tischen Bedingungen ihre Abwahl fürchten müsste, setzt Parlament vertreten sind, aber auch mit den Parteien, die sie im Vorfeld der Parlamentswahl in zunehmendem nicht im Parlament vertreten sind, einen intensiveren Maße Repressionen und massive Manipulationen ein. Dialog zu führen. Auch der FDP ist daran gelegen, dass Das hat übrigens auch im Iran selbst scharfe Kritik zur der Deutsche Bundestag die politischen und die religiö- Folge. Beispielsweise kritisierten der frühere Präsident sen Führer im Iran auffordert, dort endlich freie und faire Chatami und der frühere Vorsitzende des Auswärtigen Wahlen zu ermöglichen. Ausschusses des iranischen Parlaments, Rohani, diese Entwicklung sehr scharf. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich will an ein paar Beispielen aufzeigen, wie schlecht und wie weit unter Wert der Iran regiert wird. Dass die reformorientierten Kandidaten im Iran wie- Fangen wir mit der Wirtschaft an: Der Iran ist reich an der einmal von der Wahl ausgeschlossen werden, erfüllt Öl und Gas. Der Erdölpreis ist seit dem Amtsantritt von uns mit großer Sorge. Die Menschen im Iran müssen ein Ahmadinedschad 2005 von etwa 62 US-Dollar pro Fass Recht darauf haben, ihrem Präsidenten und seinem im- auf über 100 US-Dollar pro Fass gestiegen. Die Erlöse, mer stärker militärisch geprägten Staatsapparat ein Ar- die der Iran als großer Ölexporteur erzielt, haben sich beitszeugnis auszustellen. In freien und fairen Wahlen von 34 Milliarden US-Dollar auf 41,7 Milliarden US- würde der iranische Präsident von seinen Bürgern be- Dollar gesteigert. Allerdings – das ist der erste Kritik- stimmt ein Armutszeugnis ausgestellt bekommen. Denn punkt, und das wird auch im Iran so gesehen – liegt die 15640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Ruprecht Polenz (A) Förderung mit 4,2 Millionen Fass am Tag auch fast haben, wegen „Handlungen gegen die nationale Sicher- (C) 30 Jahre nach der Islamischen Revolution bei nur zwei heit mittels Propaganda gegen das Regime“ zu sechs Dritteln dessen, was der Iran früher hat fördern können. Monaten Haft – zurzeit zur Bewährung ausgesetzt – ver- Man bleibt also weit unter seinen Möglichkeiten. So gibt urteilt worden. es trotz steigender Öl- und Gaspreise eine wachsende Auch in dieser Parlamentsdebatte muss an das Armut im Land, gerade bei den kleinen Leuten. Schicksal der Bahai erinnert werden. Gerade ist im irani- Das liegt auch daran, dass das Geld, das eingenom- schen Parlament ein Gesetzentwurf zur Novellierung des men wird, in Subventionsprogrammen verpulvert wird. Strafrechts vorgelegt worden, mit dem die Apostasie, der Ich will von den vielen sinnlosen Subventionen nur eine Abfall vom „richtigen“ Glauben, in den Katalog der so- erwähnen: Für Strom zahlen die Verbraucher im Iran nur genannten Hadd-Strafen aufgenommen werden soll. Das 40 Prozent des Gestehungspreises. Das führt zu Energie- bedeutet die Todesstrafe für Konvertiten, und zwar verschwendung, mit der Folge, dass Investitionen erfor- zwingend, ohne irgendeine Möglichkeit der Revision. derlich sind, die man vermeiden könnte. Dieses Geld Wer weiß, dass die Bahai aus iranischer Sicht als fehlt an anderer Stelle. Apostaten angesehen werden, kann sich vorstellen, wel- Diese Politik führt zu einer galoppierenden Inflation: cher Druck auf diese Religionsgemeinschaft ausgeübt Sie betrug im Jahre 2005 12,1 Prozent. Heute liegt sie wird. Vor kurzem sind 53 junge Bahai festgenommen bei 19 Prozent. Gerade die explodierenden Mieten tref- worden – sie sind zum Teil immer noch in Haft –, weil fen die einfachen Leute im Iran. Was macht der Präsi- sie ein soziales Projekt zur Bildungsförderung ehrenamt- dent? Er ordnet an, dass die Bankzinsen von 17 auf lich betreut haben. Wenn das neue Gesetz in Kraft treten 12 Prozent zu senken sind. Das festigt die Überzeugung sollte, müssten sie das Schlimmste befürchten. der Leute, dass allein Immobilien eine sichere Geldan- Zu dem Bild einer Verschärfung der religiös begrün- lage sind. Das heizt die Inflation zusätzlich an. deten Strafen bis hin zur Todesstrafe passt auch, dass Last, but not least steigt die schon jetzt außerordent- rund um Teheran zunehmend Koranschulen entstehen, lich hohe Arbeitslosigkeit im Iran. Die offizielle Arbeits- die es, anders als in Pakistan, im Iran bisher nicht gab. losenquote – diese Zahl ist sicherlich weit zu niedrig Alles zusammengenommen ist die Sorge, die auch im angesetzt – liegt bei 11 Prozent. Für die Jugendarbeits- Iran geäußert wird, dass aus der Islamischen Republik losigkeit werden 23 Prozent angegeben. Auch diese Iran ein islamisches Kalifat Iran werden soll, nur allzu Zahl dürfte wesentlich höher liegen. Das heißt, dass im begründet. Auch das muss hier festgestellt werden. Iran eine Million junge Menschen, die ihre Ausbildungs- stätten verlassen, in die Arbeitslosigkeit gehen. Wenn es um den Iran geht, haben wir uns in der Regel (B) mit der Außenpolitik dieses Landes beschäftigt. Ich will (D) Auch die immer wieder angemahnte Privatisierung heute ausdrücklich darauf verzichten und nur darauf hin- der Wirtschaft kommt nicht voran. Man muss wissen, weisen, dass der außenpolitische Konfrontationskurs, dass im Iran 65 bis 80 Prozent der Wirtschaft – das ist den das Land verfolgt, vom innenpolitischen Versagen vielleicht ein Hinweis an die Linkspartei – von den ver- ablenken soll. Er soll die Verschärfung der Repressionen schiedenen Armen des Staates kontrolliert werden, mit rechtfertigen. Damit will man den Druck erhöhen, sich dem bekannten Misserfolg. Vielleicht, Herr Gehrcke, hinter der Regierung gegen das Ausland zusammenzu- können Sie sich ähnliche Überlegungen für Deutschland scharen, das man nur konfrontativ wahrnehmen will. sparen. Der Protest und der Reformbedarf werden bei Wahlen Natürlich gibt es angesichts dieser Entwicklung Pro- unterdrückt. Ich kann den Optimismus meiner Vorredner test in der Bevölkerung, zum Beispiel von den Gewerk- in diesem Punkt nicht ganz teilen; denn durch die Kandi- schaften. So gab es einen Busfahrerstreik in Teheran. datenauswahl ist das Ergebnis vorprogrammiert. Man Der Staat hat sehr hart reagiert. Mansour Ossanlu, der darf nicht nur die absoluten Zahlen – von 5 538 Kandi- Vorsitzende der Gewerkschaft, ist seitdem mehrfach in- daten wurden 2 059 zur Wahl zugelassen – sehen. Selbst haftiert worden und sitzt seit 2007 erneut im Evin-Ge- wenn alle Reformkandidaten gewählt würden, könnten fängnis. Man verweigert ihm die medizinische Betreu- sie maximal 60 der 270 Sitze gewinnen. Denn in Wahl- ung. Ich finde, wir müssen in unserer Debatte auf solche kreisen, in denen man nur einen Kandidaten wählen Schicksale hinweisen. Gewerkschaftsfreiheiten sind kann, werden viele Reformer als Kandidat zugelassen; in Freiheiten, die wir ernst nehmen. Wahlkreisen dagegen, in denen man mehr Sitze errei- (Beifall im ganzen Hause) chen kann, wird oft kein einziger zugelassen. Damit kann man den Ausgang der Parlamentswahl vorpro- Es gibt Frauenrechtlerinnen, die für die rechtliche grammieren, was auch geschehen ist. Das zeigt, dass es Gleichstellung der Frau im Iran 1 Million Unterschriften in der Frage, wer kandidieren darf, eine zentrale Planung sammeln wollen. Sie haben sich eine ähnliche Bewe- gab und dass gegen die eigene Verfassung verstoßen gung in Marokko zum Vorbild genommen, wo es den wurde. Frauen gelungen ist, den marokkanischen König, Hassan II., durch eine solche Unterschriftenaktion zu Wir werden sicherlich auch die Kontakte zu dem überzeugen. Im Iran läuft das anders: Mehrere hundert neuen iranischen Parlament weiter pflegen; dabei müs- Frauen sind ins Gefängnis gesteckt worden. Nasim sen wir aber noch stärker als bisher berücksichtigen, Sarabandi und Fatemeh Dehdashti sind, weil sie sich für dass es für das Land nicht repräsentativ ist. Das ist nicht die rechtliche Gleichstellung der Frau im Iran eingesetzt mehr möglich. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15641

Ruprecht Polenz (A) wir bei den offiziellen Besuchsprogrammen breite Kon- Iran-Politik eine andere Grundlinie braucht. Nach mei- (C) takte zur iranischen Zivilgesellschaft außerhalb des Par- ner Analyse haben Sanktionen und Kriegsdrohungen laments bekommen. Der Iran könnte in der Tat ein blü- – die sind ja auch in der Welt – den Flügel der Hardliner hendes Land sein, wenn er seiner Bevölkerung mehr im Iran eigentlich nur stärker gemacht und gefestigt. Ich Freiheit geben, die Frauen rechtlich gleichstellen und in komme immer mehr zu der Auffassung, dass man Luft der Außenpolitik seine Stärke aus der Zusammenarbeit an die Mumien lassen muss. Dann zerfallen sie nämlich. gewinnen würde, statt durch Isolierung und Konfronta- Wenn man sich abgrenzt und sie isoliert, dann macht tion geschwächt zu werden. man sie stark. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ach, halt doch die Klappe. (Unruhe bei der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke für – Entschuldigung, das ist mir so herausgerutscht; das die Fraktion Die Linke. nehme ich zurück. (Beifall bei der LINKEN) Deswegen würde ich darum bitten, dass man über politische Veränderungen und auch darüber nachdenkt, ob man mit einer anderen Iran-Politik mehr erreichen Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): kann. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke wird dem von den vier anderen Sehen Sie, wir haben in diesen Tagen den fünften Jah- Fraktionen vorgelegten Antrag zustimmen, weil wir den- restag des Irak-Krieges. Für mich sind einzelne Dinge, ken, dass die Menschen im Iran wissen müssen, dass sie die ich höre, ein furchtbares Déjà-vu-Erlebnis: Massen- ein Recht auf freie, gleiche und geheime Wahlen haben, vernichtungswaffen, Terrorregime. Das waren die glei- chen Argumente. Ich denke darüber nach, ob nicht auch (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- dieses Parlament der USA-Politik – diese ist schon im NIS 90/DIE GRÜNEN) Irak gescheitert und hat dort Zehntausende von Opfern und weil sie wissen müssen, dass es Menschen gibt, die zu verantworten –, auch gegenüber dem Iran auf mit ihnen solidarisch sind, wenn sie unter viel größeren Regime-Change zu setzen, widersprechen muss. Auf Opfern und unter Androhung von Gewalt für Demokra- Regimewechsel als Ziel einer staatlichen Politik zu set- zen – und dies nicht in der Solidarität mit den Menschen (B) tie kämpfen. Das sagt sich hier leichter, als man es im (D) Iran machen kann. Das sollten sie wissen. zu tun –, macht gerade diese Regime stark. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Gleichzeitig möchte ich keinen Hehl daraus machen, Ich würde gerne eine Politik des offenen Dialogs da- dass ich mich über die Kleinkariertheit gallig ärgere, gegensetzen, bei der man immer sehr hart die eigene dass vier Fraktionen nicht bereit sind, eine fünfte Frak- Position abgrenzen muss. Ich denke, dass man darüber tion – die Linke –, die inhaltlich mit diesem Antrag über- nachdenken muss, dem Iran Sicherheitsgarantien zu ge- einstimmt, an einer gemeinsamen Arbeit zu beteiligen. ben. Wenn man sich ansieht, wie er auch von Stützpunk- ten der USA umkreist ist, dann wird klar, dass das zu (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- solchem Fehlverhalten führt. Ich denke auch, dass dieses NIS 90/DIE GRÜNEN) Parlament den Gedanken eines entmilitarisierten Nahen und Mittleren Ostens sehr viel stärker einbringen muss, Das ist unglaublich kleinkariert und passt nicht mehr in die Welt. Man sollte das zum Anlass nehmen, sich zu (Beifall bei der LINKEN) fragen, ob man wirklich an solchen antikommunisti- schen Ausgrenzungsritualen festhalten will, wenn man um Aufweichungen, auch was Demokratiedebatten im im Parlament über Demokratie redet. Iran angeht, zu erreichen. Schönen Dank. – Ich bitte nochmals um Entschuldi- Ich gebe zu, dass ich schon aus Ärger darüber fünf gung dafür, dass ich so reagiert habe. Das wollte ich ei- Minuten lang versucht war zu sagen: Wir stimmen des- gentlich nicht; es passiert manchmal. Herzlichen Dank. wegen nicht zu. – Es wäre aber genauso kleinkariert, ei- nem Antrag, bei dem man in der Sache zustimmt, nur (Beifall bei der LINKEN) deshalb nicht zuzustimmen, weil andere sich so blöd verhalten. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN) Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Kerstin Müller das Wort. Wir haben gelassen gesagt: Das machen wir nicht. Wir urteilen und entscheiden nach Inhalten. Deswegen Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden wir zustimmen. – Ich habe das kurz begründet. NEN): Ich möchte aber auch, dass wir darüber nachdenken, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege ob man nicht auch in Deutschland und in Europa in der Gehrcke, ich will gleich zu Anfang sagen: Ich teile zwar 15642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Kerstin Müller (Köln) (A) vieles von dem, was Sie vertreten, nicht, vor allem in der terstützung Chameneis für Präsident Ahmadinedschad (C) Außenpolitik. Aber auch ich finde es falsch, wenn man letztlich ist. in Situationen, in denen sich die fünf Parteien einig sind, Ich halte es für sehr wichtig, dass wir mit dem vorlie- aus Prinzip mit Ihnen keine Anträge macht. Meine Frak- genden Antrag gemeinsam – ich finde es gut, dass Sie tion unterstützt diese Vorgehensweise ausdrücklich von der Linken zustimmen wollen – ein klares Zeichen nicht. Ich bin der Meinung, dass wir zu einer normalen setzen, dass die Einschränkungen bei den Wahlen abso- parlamentarischen Tagesordnung übergehen und anhand lut inakzeptabel sind. Das ist ein deutliches Signal an die der Inhalte entscheiden sollten, ob wir hier gemeinsame Hardliner. Wir senden damit aber auch ein Signal der Anträge machen oder nicht. Unterstützung an all jene in der politischen Opposition, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die ihr Recht auf ein aktives und passives Wahlrecht ein- und bei der LINKEN) fordern. Ich möchte klar sagen – Herr Polenz, ich teile Ihre Herr Polenz, in der Tat ist es sehr gut, dass wir uns Auffassung –: Wir müssen immer wieder die schwierige heute einmal mit der inneren Lage des Iran befassen und Menschenrechtslage im Iran kritisieren, auch das, was nicht immer nur über das bedrohliche Nuklearprogramm im Vorfeld der Wahlen passiert. Wir müssen aber auch sprechen. Es ist in der Tat außerordentlich besorgniserre- den Dialog mit der Zivilgesellschaft, mit den Menschen gend, was dort im Vorfeld der Parlamentswahlen ge- im Land auf jeden Fall aufrechterhalten. schieht. Es muss ganz klar auch in den Kontext der Men- schenrechtslage insgesamt gestellt werden, die sich unter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Regierung Ahmadinedschad dramatisch verschlech- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) tert hat. Todesurteile und öffentliche Hinrichtungen – nach Und zum Schluss möchte ich das berühmte Kulturfes- Angaben von Amnesty waren es allein im Januar 27; im tival erwähnen, das in Teheran stattgefunden hat. Das letzten Jahr waren es fast 300 Hinrichtungen, die meis- Berliner Ensemble hat dort Mutter Courage aufgeführt; ten davon öffentlich –, vor allem gegen Homosexuelle, die Vorstellung war völlig ausverkauft, also ein riesiger gegen Angehörige ethnischer Minderheiten – Sie haben Erfolg. Kulturelle Begegnungen sind oft die letzte Brü- Beispiele genannt – und Andersgläubige, haben massen- cke, das letzte Fenster zur Welt für die iranischen Men- haft zugenommen. Im Vorfeld der Parlamentswahlen ist schen. Hier in Deutschland hat es Demonstrationen ge- der Druck auf Kritiker der Regierung, auf Journalistin- gen die Aufführung gegeben. Das halte ich für völlig nen und Journalisten, auf Aktivistinnen für Menschen- falsch. Ich möchte klar sagen: Es ist kontraproduktiv, an rechte und aus der Frauenbewegung noch einmal enorm dieser Stelle eine Politik der Ausgrenzung und der Isola- erhöht worden. Sie erhalten Ausreiseverbote; viele sit- tion zu verfolgen; wir müssen diese Brücken bauen, um (B) zen im Evin-Gefängnis. (D) der Zivilgesellschaft, den Menschen im Iran, die Demo- Die Kampagne für Gleichberechtigung wurde schon kratie wollen, eine Chance zu geben. erwähnt. Seit einer Demonstration im Jahre 2006 sitzen Vielen Dank. viele Aktivistinnen im Gefängnis. Heute sollte eine Mit- begründerin dieser Initiative, die iranische Feministin (Beifall im ganzen Hause) Parvin Ardalan, in Schweden den Olof-Palme-Preis er- halten. Ihr wurde am Flughafen der Pass abgenommen. Vizepräsidentin Petra Pau: Damit wurde sie an der Ausreise gehindert; sie kann den Ich schließe die Aussprache. Preis heute nicht entgegennehmen. All das ist verhee- rend. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Ich möchte der iranischen Regierung klar sagen: Las- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8379 sen Sie Frau Ardalan ausreisen! Der Einsatz für Bürger- mit dem Titel „Für freie und demokratische Parlaments- rechte, für gleiche Rechte für Frauen und die freie Mei- wahlen im Iran“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer nungsäußerung dürfen nicht mit Gefängnis und auch stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht nicht mit einem Ausreiseverbot bestraft werden. der Fall. Damit ist der Antrag einstimmig angenommen. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: Einschränkungen der Wahlfreiheit sind in der Islami- schen Republik gang und gäbe; sie haben einen bisher a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgit ungekannten Höhepunkt erreicht: Über 2 000 Kandida- Homburger, Martin Zeil, Rainer Brüderle, weite- tinnen und Kandidaten – vor allem aus dem Reform- ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP ein- spektrum, aber nicht nur aus diesem – wurden nicht zur gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Wahl zugelassen. Auch Kandidaten aus dem konser- rung des Gesetzes zur Einsetzung eines vativen Spektrum waren betroffen, etwa der Enkel Nationalen Normenkontrollrates Khomeinis. Auch sie sprechen von katastrophalen Ver- – Drucksache 16/7855 – hältnissen, etwa Ahmad Tavakoli, ein profilierter Kon- servativer. Möglicherweise stellen diese Verbote einen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Versuch dar, den Kurs des Präsidenten zu retten und Kri- Innenausschuss tiker auszuschalten. Dabei bleibt unklar, wie groß die Un- Rechtsausschuss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15643

Vizepräsidentin Petra Pau (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dazu gehören auch die von uns vorgeschlagenen Zwi- (C) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- schenziele. Dies erhöht die Transparenz und erleichtert nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- die Steuerung des Gesamtprozesses. ordneten Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Ich nehme an, dass die Kollegen von der SPD viel- Fraktion DIE LINKE leicht noch ein paar Worte zu dem Antrag ihres künfti- gen Koalitionspartners in Hessen sagen werden. Aus Bürokratieabbau in Europa – Kein Freibrief meiner Sicht atmet der Antrag der Linken, zum Abbau von Arbeits- und Umweltschutz (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: – Drucksachen 16/4204, 16/5196 – Sagen Sie mal: Lesen Sie keine Zeitung?) Berichterstattung: der heute auch zur Debatte steht, zu sehr den Geist des Abgeordnete Kerstin Andreae demokratischen Sozialismus und ist meilenweit von den Grundgedanken der sozialen Marktwirtschaft entfernt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre Die schwarz-rote Koalition hat im Hinblick auf den dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bürokratieabbau beim Mittelstand und bei den Bürgern Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Martin Zeil Erwartungen geweckt, die sie nicht einmal im Ansatz er- hat für die FDP-Fraktion das Wort. füllt hat. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das stimmt Martin Zeil (FDP): nicht!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Statt ein großes, gesamtwirtschaftlich angelegtes Büro- Der Nationale Normenkontrollrat hat im Herbst 2006 kratieabbauprogramm zu starten, kommen Sie mit vielen seine Arbeit aufgenommen und er hat trotz der Man- kleinen – durchaus gut gemeinten, Herr Kollege schetten, die man ihm gegen unseren Rat angelegt hat, Koschyk – Gesetzen, die aber keine spürbare Entlas- bisher gute Arbeit geleistet. Aber der Normenkontrollrat tungswirkung haben. ist gezwungenermaßen auf einem Auge blind. Den Frak- tionen dieses Hauses steht ein gesetzliches Anrufungs- (Beifall bei der FDP – Andreas G. Lämmel recht nicht zur Verfügung. Damit werden aber gerade die [CDU/CSU]: Auch das stimmt nicht!) Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Deutschen Bundes- Im Gegenzug schaffen Sie weitere, neue Bürokratie, an- (B) tags in der Regel nicht geprüft, obwohl nach Ihrem Ko- gefangen beim AGG bis hin zur Erbschaftsteuerreform. (D) alitionsvertrag zumindest die Initiativen der Koalitions- fraktionen überprüft werden sollten. (Beifall bei der FDP) Wir legen Ihnen deshalb heute einen Gesetzentwurf Die Erbschaftsteuerreform sollte ursprünglich auf lei- vor, der den bestehenden Defiziten Rechnung trägt und sen Sohlen am Normenkontrollrat vorbei über die Regie- ein Anrufungsrecht aller Fraktionen in Bezug auf Ge- rungsfraktionen in den Bundestag eingebracht werden. setzentwürfe aus der Mitte des Parlaments begründet. Im Nach der begrüßenswerten Weigerung der Fraktionen Übrigen gibt es keine generelle Prüfungspflicht. So wird hat der Normenkontrollrat nun doch Stellung genom- gewährleistet, dass die Bewertung effizient erfolgt und men. Die Bundesregierung muss geahnt haben, dass es dass gleichzeitig Gesetze hinsichtlich ihrer Effekte durch besser sein könnte, diesen Weg zu umgehen. Denn das den Gesetzgeber besser beurteilt werden können. Urteil der Prüfer des Normenkontrollrats war eindeutig. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass das federführende (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr klug!) Bundesfinanzministerium den bürokratischen Aufwand Ein zweiter Punkt unserer Initiative betrifft die ver- für vererbte Unternehmen mit nur knapp 5 Millionen bindliche Festlegung von Nettozielen. Vor einem Jahr Euro jährlich um das Vier- bis Sechsfache zu niedrig an- hat das Kabinett zwar eine Reduktion der Bürokratie um gesetzt hat. 25 Prozent beschlossen. Leider haben Sie aber darauf Der Kollege Michelbach von der CSU nennt diese verzichtet, das 25-Prozent-Abbauziel eindeutig als Net- Stellungnahme zu Recht eine Ohrfeige für die Bundes- toziel zu definieren. Aufgrund dieses Verzichts mangelt regierung und warnt vor einem neuen Bürokratiemons- es der Aussage, die Bürokratie um 25 Prozent abbauen ter. Um das zu verhindern, sollten Sie, meine Damen und zu wollen, an Verbindlichkeit, Aussagekraft und letztlich Herren von der Koalition, sich ein Beispiel an der rot- an Glaubwürdigkeit. schwarzen Koalition in Österreich nehmen und die Re- gelungen zur Erbschaftsteuer einfach auslaufen lassen. Ohne verbindliches Nettoziel besteht die Gefahr, dass wir aus dem Teufelskreis ständig wachsender Bürokra- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: tielasten nie herauskommen. Auch der Normenkontroll- Ja, das glückliche Österreich!) rat empfiehlt in seinem Jahresbericht, das 25-Prozent- Abbauziel als Nettoziel zu definieren. Wir reden immer nur über einen kleinen Teil der Bü- rokratiekosten. Aber Bürokratie, so wie sie von den Be- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem troffenen erfahren und empfunden wird, geht deutlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) darüber hinaus. Bürokratiekosten resultieren eben nicht 15644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Martin Zeil (A) nur aus Informationspflichten. Das hat uns soeben der Die Initiative der Europäischen Kommission zur bes- (C) oberste Entbürokratisierer der EU, der beste Mann, den seren Rechtsetzung, wonach die Zahl der EU-Vorschrif- wir aus Bayern dorthin geschickt haben, der ehemalige ten um 25 Prozent gesenkt werden soll, ist aus meiner Ministerpräsident, bestätigt. Sicht eine der wichtigsten Initiativen der letzten Jahre überhaupt. Es wird höchste Zeit, dass das neue Denken Ich möchte aus Ihrem Koalitionsvertrag zitieren, in in Brüssel einzieht. Der Nationale Normenkontrollrat dem Sie richtig erkannt haben: schätzt, dass über 40 bis 50 Prozent der nationalen Infor- Die Entlastung von Bürgern, Wirtschaft und Behör- mationspflichten unmittelbar oder mittelbar auf Rege- den von einem Übermaß an Vorschriften und der lungen der Europäischen Union zurückgehen und dass damit einhergehenden Belastung durch bürokrati- dies ein Belastungsvolumen von bis zu 600 Milliarden sche Pflichten und Kosten ist ein wichtiges Anlie- Euro für die Wirtschaft und die Bürger bedeutet. Das gen der Koalition. während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlos- Aber wo sind denn Ihre Vorschläge und vor allem Ihre sene Abbauziel für die Europäische Union ist ein riesiger nachweisbaren Erfolge auf diesem Gebiet? Die Bürger Erfolg. spüren davon viel zu wenig. Die Betroffenen haben durch den Hauptgeschäftsführer des DIHK an die Staats- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) ministerin und den Wirtschaftsminister schreiben lassen: Einen solch großen Schritt hat es jahrzehntelang nicht „Von einem nachhaltigen Rückgang der Bürokratie ist gegeben. bislang kaum etwas zu spüren.“ (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Die Stigmatisierung des Bürokratieabbaus, die Sie be- Wir können mit unserem heute vorgelegten Gesetz- treiben – Frau Zimmermann wird gleich versuchen, das entwurf wenigstens den Normenkontrollrat institutionell darzulegen –, ist daher völlig fehl am Platz. Ich will Ih- stärken und im parlamentarischen Prozess besser veran- nen an einem Beispiel die Regelungswut Brüssels aufzei- kern. Ich lade alle Fraktionen ein, hier mitzumachen. gen. Ein so bergiges Land wie Mecklenburg-Vorpommern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – die Helpter Berge mit 179 Meter über Normalnull sind die höchsten Berge – musste nach allen Regeln der par- Wenn Deutschland beim Bürokratieabbau auf europäi- lamentarischen Kunst ein Seilbahngesetz verabschieden, scher Ebene vom Zuschauer zum respektierten Mitspie- weil sonst eine Vertragsstrafe aus Brüssel in Höhe von ler werden soll, müssen wir die Kompetenzen des Natio- 800 000 Euro gedroht hätte. Das versteht doch kein nor- nalen Normenkontrollrats erweitern und endlich ein maler Mensch mehr. (B) verbindliches Nettoabbauziel vorgeben. (D) Gestatten Sie mir noch einen Vergleich. Von Herrn (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Alwin Münchmeyer, Kaufmann seines Zeichens, stammt DIE GRÜNEN) folgender Spruch: Das Vaterunser hat 56 Wörter, die Es wäre schön, wenn es hier zu einer interfraktionellen Zehn Gebote haben 297 Wörter, und eine Verordnung Initiative käme. der Europäischen Kommission über den Import von Ka- ramellen und Karamellprodukten zieht sich immerhin Ich danke Ihnen. über 26 911 Wörter hin. – Man sieht, was sich da mitt- (Beifall bei der FDP – Hartmut Koschyk lerweile aufgebaut hat. [CDU/CSU]: Gute Rede!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Antrag der Linken entspricht in keiner Weise un- Vizepräsidentin Petra Pau: serer Wirklichkeit; denn es geht doch beim Bürokratie- Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Andreas abbau um Vereinfachung und eine bessere Verständlich- Lämmel das Wort. keit des europäischen Rechts. Wir sind dringend auf diese Anstrengungen angewiesen und wir setzen auf die Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Zähigkeit des ehemaligen bayerischen Ministerpräsiden- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ten und seiner Kommission, in Brüssel die Dinge voran- Damen und Herren! Ich beginne – das tue ich sicherlich zubringen. nicht oft – mit einem Zitat eines angestaubten Vorden- (Beifall bei der CDU/CSU) kers der Linken, nämlich von Marx. Er sagte einmal: „Die Bürokratie gilt sich selbst als der letzte Endzweck Aus diesem Grunde haben alle Fraktionen Ihren Antrag, des Staates.“ Schon damals war Marx mit seinen Gedan- Frau Zimmermann, am 28. März letzten Jahres abge- ken zum Bürokratieabbau weiter, als Sie es heute sind, lehnt. Wir haben unsere Meinung darüber nicht geän- meine Damen und Herren von der Linken. dert. (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der [CDU/CSU]: Sehr richtig!) LINKEN: Oh!) Sie vermuten hinter jedem Vorschlag zum Bürokratie- Wir beraten heute zusätzlich einen Gesetzentwurf der abbau den Abbau von sozialen und ökologischen Stan- FDP-Fraktion zur Erweiterung der Kompetenzen des dards. Normenkontrollrates. Zunächst einmal möchte ich sa- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15645

Andreas G. Lämmel (A) gen, dass wir die Arbeit des Nationalen Normenkontroll- Normenkontrollrat schickt, dann wird für alle transpa- (C) rates ausdrücklich begrüßen; denn er ist zu einem echten rent, wie die Linken die Wirtschaft und die Bürger belas- Bürokratie-TÜV in Deutschland geworden. Allein im ten wollen. Dann wird transparent, welchen „Bürokratie- vergangenen Jahr hat der Rat 420 Regelungsvorhaben abbau“ sie planen. Insofern ist das ein wirksames der Bundesministerien geprüft und seine Empfehlungen Instrument. ausgesprochen. Damit konnten die Unternehmen um Wir werden den Gesetzentwurf in den Ausschüssen netto 777 Millionen Euro entlastet werden. Das ist nun diskutieren. Wir werden mit unserem Koalitionspartner kein Pappenstiel. Sie, Herr Zeil, sagen immer, dass das über die vorgelegten Vorschläge sprechen. Ich habe im zu schleppend oder zu langsam geht. Januar diesen Jahres eine Pressemitteilung unseres Kol- (Martin Zeil [FDP]: Das tut es auch!) legen Herrn Dr. Wend gelesen, in der er seine Zustim- mung zu den Forderungen signalisierte. Insofern bin ich Sie müssen aber sehen, dass es den NKR erst etwas län- hoffnungsvoll, dass das auch für das Nettoabbauziel gilt. ger als ein Jahr gibt. In dieser Zeit hat er 420 Rege- lungsvorhaben geprüft. Das ist ein ehrenamtliches Gre- In rein formaler Hinsicht, Herr Zeil, muss man sagen, mium. In Holland hat man sieben Jahre gebraucht, in dass Ihr Antrag noch optimierungsfähig ist. In ihm sind Großbritannien drei Jahre, und wir in Deutschland haben ein paar Verwechslungen und Fehler, die man aber noch ein Jahr gebraucht, bis der Normenkontrollrat voll wirk- korrigieren kann. Sie sind nicht kriegsentscheidend; wir sam gearbeitet hat. wollen Sie hier gerne unterstützen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir müssen mit dem Büro- kratieabbau weiter vorankommen. Unser Versprechen an Das ist eine hervorragende Leistung für ein solches Gre- die Bürger und an die Wirtschaft, alles dafür zu tun, gilt mium. Unser Dank geht an die Herren dieses Gremiums. weiterhin. Die Kugel ist ins Rollen gekommen und nicht (Beifall bei der CDU/CSU) mehr aufzuhalten. Jetzt müssen wir nur sehen, dass wir mit dieser Kugel auch alle Neune erwischen. Dafür soll- Mittlerweile wurde die Bestandsmessung des gelten- ten wir gemeinsam streiten. den Bundesrechts vorgenommen. Das Ergebnis ist: Die Verwaltungskosten, die der deutschen Wirtschaft durch Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gesetzliche Regelungen in Deutschland entstehen – es (Beifall bei der CDU/CSU) handelt sich um 2 100 Informationspflichten –, betragen insgesamt 27 Milliarden Euro im Jahr. Es muss uns doch Vizepräsidentin Petra Pau: der Mühe wert sein, dafür zu kämpfen, diesen Betrag zu senken. Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin (B) Sabine Zimmermann das Wort. (D) (Martin Zeil [FDP]: Also los!) (Beifall bei der LINKEN) Der Regierungsbeschluss vom Februar 2007, bis zum Jahr 2011 die Bürokratie um ein Viertel zu reduzieren, Sabine Zimmermann (DIE LINKE): ist ganz gut, aber wir sind der Meinung, dass die Bun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! desregierung die Schlagzahl durchaus erhöhen könnte. Lieber Herr Zeil, ich schätze Sie wirklich sehr, aber ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Martin muss Ihnen eines sagen: Sie haben erklärt, Sie hätten den Zeil [FDP]: Auf mehreren Feldern!) besten Mann aus Bayern nach Europa geschickt. Andere sprechen davon, dass sie ihn zum Glück los seien. Mög- Auch sind wir auf das erste Paket von konkreten Abbau- licherweise sind wir hier sehr unterschiedlicher Mei- maßnahmen, das in diesem Frühjahr von der Regierung nung. verabschiedet werden soll, sehr gespannt. Wir unterstüt- zen Sie dabei. Man hört immer wieder aus verschiede- Vor etwa anderthalb Jahren hat die Bundesregierung nen Ressorts, dass etwas gebremst wird. Wir können Sie den Normenkontrollrat ins Leben gerufen. Als eine Art nur deutlich ermuntern, Nägel mit Köpfen zu machen. Bürokratie-TÜV soll er der Bundesregierung zur Seite Wir teilen daher die Meinung der FDP-Fraktion, dass stehen und ihr helfen, überflüssige Bürokratie abzu- dieses Abbauziel natürlich netto gelten muss. bauen. Die Linke hat immer davor gewarnt: Diese Initia- tive ist einseitig an den Interessen der Wirtschaft ausge- (Martin Zeil [FDP]: Dann sollte man es auch richtet und geht auf Kosten der Allgemeinheit. Das hat sagen!) sich leider bewahrheitet. Das ist sonst völlig witzlos. Auch die Einführung eines (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Können Rechts der Fraktionen, bei Gesetzentwürfen den Nor- Sie dafür mal ein Beispiel bringen?) menkontrollrat anzurufen, halten wir für sinnvoll. Ich möchte aber hinzufügen, dass das keine Idee der FDP ist, – Sie bekommen noch die Beispiele. sondern die vorderste Forderung der Union zum Büro- Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, kratieabbau überhaupt war. an dieser Stelle wäre es eigentlich angebracht gewesen, (Beifall bei der CDU/CSU) Bilanz darüber zu ziehen, was die bisherige Politik ge- bracht hat. Der Normenkontrollrat hat einen Zwischen- Herr Zeil, das ist auch aus folgendem Grund interessant: bericht vorgelegt; der Bericht der Bundesregierung steht Wenn die Linke ihre Gesetzentwürfe zur Prüfung an den leider noch aus. Bisher hat sie sich geweigert, die Frage 15646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Sabine Zimmermann (A) zu beantworten, welchen konkreten Nutzen der bisherige Hildegard Müller (CDU/CSU): (C) Bürokratieabbau überhaupt gebracht hat. Ich fürchte, Frau Kollegin, ist Ihnen die Drucksache 16/6428 des heute werden wir wieder vergeblich auf eine Antwort Deutschen Bundestages bekannt? Sie scheinen sie nicht warten. zu kennen; anderenfalls hätten Sie Ihre Rede so nicht halten können. Sie enthält einen Bericht der Bundes- Antworten erhalten wir auch nicht von der FDP, die regierung zum Bürokratieabbau, der genau die Frage be- fordert, die Befugnisse des Normenkontrollrats auszu- antwortet, die Sie hier stellen. Sind Sie bereit, zur Kennt- weiten. Lieber Herr Zeil, ich muss Sie noch einmal an- nis zu nehmen, dass das Mittelstandsentlastungsgesetz sprechen: Aus Ihrem Antrag schaut wieder der neolibe- für die Unternehmen eine enorme Freiheit gebracht hat, rale Geist heraus. was zu Mehreinstellungen geführt hat? (Jörg van Essen [FDP]: Das ist das Beste, was (Beifall bei der CDU/CSU) es überhaupt gibt in diesem Lande!) Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Liebe Kollegen der SPD, Sie haben bei der Gründung Sie reden immer von Freiheit für die Unternehmen. des Normenkontrollrats zugesichert, der Bürokratieab- Aber Sie müssten auch darüber reden, dass dadurch Ar- bau der Großen Koalition werde kein Abbau gesell- beitnehmerrechte sowie Rechte in den Bereichen Natur- schaftlich sinnvoller und notwendiger Regelungen sein. schutz und Umweltschutz abgebaut werden. Sind Sie ehrlich, müssen Sie einräumen, dass dieses Ver- sprechen nicht gehalten worden ist. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was Konkretes!) (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sie haben Darauf sollten Sie achten. doch vorhin von Beispielen gesprochen!) Ich habe das Beispiel Ostwestfalen-Lippe angeführt. Mit dem ersten Bürokratieabbaugesetz hat die Bun- Dort sind solche Rechte abgebaut worden. Das nehmen desregierung die amtliche Statistik ausgedünnt. Unter- wir zur Kenntnis. Ich denke, Sie müssen hier umdenken. nehmen mit weniger als 50 Mitarbeitern fallen nun aus der monatlichen Statistik zu Umsatz und Beschäftigung (Zurufe von der CDU/CSU: Welche Beispiele heraus. Folgerichtig beklagen heute Wissenschaftler, denn? – Völlig lebensfremd! – Dann geben Sie dass Unternehmen im Zuge des Bürokratieabbaus weni- mal Butter bei die Fische!) ger Daten an das Statistische Bundesamt lieferten und die vorhandenen Statistiken nicht mehr ausreichten, um Vizepräsidentin Petra Pau: (B) verlässliche ökonomische Analysen und Prognosen zu Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage der Kollegin (D) erstellen. Müller?

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sie wollen Sabine Zimmermann (DIE LINKE): also mehr Bürokratie!) Ja, bitte. Des Weiteren hat die Bundesregierung für Kleinbetriebe den betrieblichen Datenschutzbeauftragten einfach abge- Hildegard Müller (CDU/CSU): schafft. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz äu- Frau Kollegin, ich darf Sie noch einmal fragen, ob Ih- ßerte, damit werde der Datenschutz eingeschränkt, dies nen diese Bundestagsdrucksache bekannt ist. Sie haben verstoße gegen europäisches Recht. gesagt, die Bundesregierung habe keinen Bericht vorge- legt. Ich verweise Sie auf die Bundestagsdrucksache, die Meine Damen und Herren, ist Ihnen auch bekannt, genau den Bericht enthält, den Sie hier nicht zur Kennt- dass die Regierung über sogenannte Modellregionen nis nehmen wollen. – Sie wollen ja immer Beispiele haben – den Bürokratie- abbau in den Bundesländern unterstützt und dass in einer Sabine Zimmermann (DIE LINKE): dieser Modellregionen, in Ostwestfalen-Lippe, Umwelt- Wir haben im Wirtschaftsausschuss zur Kenntnis ge- verbände und Gewerkschaften aus diesem Projekt ausge- nommen – ich weiß jetzt nicht, ob Sie Mitglied des Wirt- stiegen sind? Ihr Vorwurf lautet: Unter dem Deckmantel schaftsausschusses sind –, dass der Normenkontrollrat des Bürokratieabbaus wird der Naturschutz demontiert seinen Bericht dort abgegeben hat. Natürlich ist mir und einseitig Politik für die Wirtschaft gemacht, nämlich diese Bundestagsdrucksache bekannt. auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Rechte. (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Also nein! Also ist Ihnen der Bericht nicht bekannt!)

Vizepräsidentin Petra Pau: – Natürlich. Der Normenkontrollrat war bei uns im Aus- schuss. Da müssten Sie sich vielleicht einmal sachkun- Frau Zimmermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage dig machen. von Frau Müller? Ich möchte nun zum Schluss kommen. In der Praxis ist das Vorhaben der Bundesregierung, angeblich über- Sabine Zimmermann (DIE LINKE): flüssige Informationspflichten der Wirtschaft abzu- Ja, gerne. bauen, zu einem Abbau von gesellschaftlich wichtigen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15647

Sabine Zimmermann (A) Standards geworden. Das müssen Sie einfach zur Kennt- des Normenkontrollrates geprüft, um so zu einer Entlas- (C) nis nehmen, auch die Kollegen der CDU/CSU. Dafür tung der Unternehmen von Bürokratiekosten zu kommen. gibt es genug Beispiele. Insgesamt haben wir bisher einen Abbau von bürokrati- schen Belastungen in Höhe von immerhin 2,6 Milliarden (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Welche Euro erreicht. Ich finde, dass man sich dahinter nicht Beispiele hatten Sie noch mal?) verstecken muss. Die Verbände in Ostwestfalen-Lippe und anderswo sind nicht umsonst ausgestiegen. Angeblich ist die Wirtschaft (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der durch die Arbeit des Kontrollrates um 790 Millionen CDU/CSU) Euro entlastet worden. Das sind zumindest die offiziel- Gleichwohl ist das nur der Anfang. Wir haben ein Etap- len Zahlen. Bezogen auf etwa 3,4 Millionen Unterneh- penziel erreicht und müssen auf diesem Weg weiterge- men, sind das 230 Euro im Jahr. hen. (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das verkennt Wir werden genau überprüfen – da schließen wir uns doch die Faktenlage!) einer Empfehlung des Normenkontrollrates ausdrücklich Das bedeutet im Monat 19 Euro. Ich bitte Sie, klarzustel- an –, welche Gruppen von Unternehmen und welche len, inwiefern Bürokratieabbau da eine Entlastung be- Gruppen bei den Bürgerinnen und Bürgern durch welche deutet? Vorschriften belastet sind, und wir werden versuchen, passgenaue Ansätze zu entwickeln. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN – Rita Pawelski Ich glaube, dass es unheimlich wichtig ist – das hat [CDU/CSU]: Kein einziges Beispiel!) auch das Gespräch mit Herrn Ludewig im Ausschuss ge- zeigt –, uns nicht allein auf das zu beschränken, was der Normenkontrollrat machen kann. Wir müssen nach un- Vizepräsidentin Petra Pau: seren Möglichkeiten dafür sorgen, dass ähnliche Initiati- Das Wort hat der Kollege Garrelt Duin für die SPD- ven und die Arbeit am Thema Bürokratieaufbau auch auf Fraktion. anderen Ebenen stattfinden, dass wir in den Bundeslän- dern entsprechende Initiativen starten und dass wir die Garrelt Duin (SPD): Kommunen einbeziehen. Bürokratie entsteht nicht nur Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- durch Gesetze, die der Deutsche Bundestag verabschie- legen! Über viele Jahrzehnte war Bürokratieabbau ein det. Thema in vielen Reden – Herr Zeil, insbesondere in den (B) Zeiten, in denen die FDP in noch regiert hat –; (Jörg Tauss [SPD]: Die wenigsten! Es sind (D) auch die Länder!) (Jörg Tauss [SPD]: Und Bürokratie geschaffen hat! – Martin Zeil [FDP]: Da ging es dem Volk Bürokratie entsteht in gleicher Weise durch Verwal- noch gut!) tung und auch auf anderen Ebenen. Deswegen müssen wir das in Übereinstimmung mit dem, was Herr aber passiert ist nicht viel. Es wurde darüber nur gestrit- Ludewig im Ausschuss gesagt hat, in Angriff nehmen. ten und debattiert. Die Große Koalition hat dieses Thema in dieser Legislaturperiode zum ersten Mal kon- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kret angepackt. der CDU/CSU) Herr Zeil, wir konzentrieren uns auf das, was wirklich Natürlich darf man Europa nicht außer Acht lassen. Bürokratie ist. Ihr Verständnis von Bürokratieabbau, das Das ist in den Vorreden schon angeklungen. Wir setzen gern Arbeitnehmerrechte und andere Dinge einbezieht, uns auch auf europäischer Ebene dafür ein, dass die In- teilen wir ausdrücklich nicht. Wir konzentrieren uns hier formationspflichten minimiert und dass neue Informa- mit der Arbeit des Normenkontrollrates auf das, was Bü- tionspflichten – wenn möglich – gar nicht erst geschaf- rokratie im engeren Sinne ist. Darum muss es uns gehen. fen werden, sollten sie nicht zwingend erforderlich sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir schauen auch auf andere europäische Länder wie die CDU/CSU) Niederlande, Großbritannien, Dänemark und Öster- reich, um zu erfahren, wie dort mit dem Standardkosten- Ohne den Versuch, das Rad jedes Mal neu zu erfin- modell umgegangen wird, und um die positiven Erfah- den, machen wir durch die Arbeit des Normenkontroll- rungen aus diesen Ländern in unsere Entscheidungen rats und durch andere Maßnahmen Schritte; die Bundes- einzubeziehen. kanzlerin würde von einer Politik der kleinen Schritte sprechen. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Es nützt Jetzt haben wir die Debatte darüber, inwieweit man nämlich nichts, mit der Axt durch den Wald zu gehen, die bisherigen gesetzlichen Regelungen erweitern kann. sondern man muss sich sehr genau anschauen, was man Die FDP stellt den Antrag mit Blick auf das Anrufungs- vor sich hat und wo man etwas beschneiden muss. recht der Fraktionen. Das Copyright liegt nicht allein bei Ihnen; auch der Normenkontrollrat hat das gesagt. Wir haben im Jahre 2006 mit dem Gesetz zur Einset- zung eines Nationalen Kontrollrates einen wichtigen (Jörg van Essen [FDP]: Das zeigt, wie gut der Schritt getan. Es wurden in den letzten Jahren über Antrag ist! – Martin Zeil [FDP]: Wir haben das 10 000 Informations- und Statistikpflichten im Auftrag schon vor zwei Jahren beantragt!) 15648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Garrelt Duin (A) Er hat gesagt: Wir wollen in diese Richtung gehen. – wirklich sehr erfolgreich war und inzwischen mehrere (C) Wir als SPD-Fraktion schließen uns dem grundsätzlich Tausend Beschäftigte hat, hat auf die Frage, ob der Büro- an. kratieabbau dort angekommen sei, geantwortet, dass man das spürt, und zwar dadurch, dass bestimmte Pro- (Jörg van Essen [FDP]: Erfreulich!) bleme schnell elektronisch gelöst werden können Wir sollten das erfolgreiche Instrument, das wir in der (Martin Zeil [FDP]: Das war aber ein Hand haben – nämlich die Prüfung durch den Normen- Parteifreund!) kontrollrat –, erweitern, auch auf die Gesetzgebung aus der Mitte des Parlaments. – nein, das ist er ganz sicher nicht; davon können Sie fest ausgehen; das würde Ihnen jeder in der Region bestäti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gen –, und dadurch, dass Dinge eingescannt werden kön- bei Abgeordneten der SPD und der Abg. nen, um sie elektronisch zu versenden. Es hieß, dadurch Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sei die tägliche Arbeit bei bestimmten Dingen in der NEN]) letzten Zeit schon erheblich erleichtert worden. Wir wur- Ich glaube, dass das dritte Mittelstandsentlastungsgesetz den von ihm darin bestärkt, diesen Weg weiterzugehen. geeignet sein wird, die Arbeit des Normenkontrollrats Die Prozesse sind jetzt – so lautete die Aussage – sehr auf weitere Felder der Gesetzgebung auszudehnen. Wir viel stringenter und effizienter geworden. werden das prüfen und diskutieren; aber es soll schon Auch die Testregion Ostwestfalen-Lippe ist hier klar sein, in welche Richtung wir da gehen wollen. schon das eine oder andere Mal angesprochen worden. Ein Anrufungsrecht der Fraktionen würde sicherstel- Ich teile nicht Ihre Klage, Frau Zimmermann, dass man len, dass die Überprüfung zum Regelfall wird. Wir erle- in Ostwestfalen-Lippe Arbeitnehmerrechte oder Um- ben schon bei dem, was auf den Weg gebracht worden weltschutzvorschriften abgebaut hätte. Im Gegenteil, ich ist, dass eine Selbstdisziplinierung stattfindet, dass man glaube, dass man in dieser Testregion sehen kann, wie bei dem, was beschlossen wird, vorsichtig ist und auf die vieles gemacht werden könnte. Jürgen Heinrich, der Pro- entstehenden Bürokratiekosten achtet. Weitere Bürokra- jektleiter, hat das folgende Bild gebracht – das will ich tiekosteneinsparungen für kleinere und mittlere Unter- zum Abschluss zitieren –, nämlich nehmen würden damit gewährleistet. Deswegen wollen … dass Bürokratieabbau weniger der Arbeit des wir so verfahren. Architekten gleicht, der ein Gebäude errichtet, und Vor kurzem stand in der Zeit: Wer in Nordrhein-West- das steht dann für die nächsten 30 Jahre da und falen aus einer Produktionshalle ein Lager machen will, funktioniert, sondern eher mit der Arbeit eines Gärtners zu vergleichen ist, der alltäglich in seinen (B) braucht dafür keine Genehmigung mehr. Wer im Saar- (D) land ein Haus baut, muss das nicht mehr beantragen. Garten hinausgeht, dort etwas jätet und etwas zu- Wer in Baden-Württemberg Taxi fährt, kann sich die rückschneidet, regelmäßig den Rasen kürzt und ge- Farbe seines Autos aussuchen. – Es war eine ganze legentlich auch zum Spaten greift, um kräftig um- Reihe von Beispielen. Jedes Beispiel ist für sich genom- zugraben und Brachland zu schaffen, auf dem dann men lächerlich – die Wahlmöglichkeit bei der Farbe von Neues sprießt und gedeiht. Taxis ist natürlich nicht das Symbol für Bürokratieab- Ich glaube, dass Herr Heinrich mit diesem wunderbaren bau –, aber in der Summe ist das wirklich nicht zu ver- Bild recht hat. achten. Da sind wir mit den kleinen Schritten auf dem richtigen Weg. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht irgendeine Kollege Duin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Milliardensumme festschreiben sollten, so wie Sie das Kollegin Zimmermann? verlangen, Herr Zeil. (Martin Zeil [FDP]: Ich habe „Prozentsatz“ Garrelt Duin (SPD): gesagt!) Da ich eh nur noch elf Sekunden gehabt hätte, können Sie meine Redezeit gerne verlängern, Frau – Oder einen Prozentsatz. – Zimmermann. (Martin Zeil [FDP]: Das hat Ihre eigene Regierung beschlossen!) Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Wir müssen vielmehr darauf achten, ob die Reduktion Danke schön. – Sind Sie mit mir der Meinung, dass wirklich bei denjenigen ankommt, bei denen die Büro- die Gewerkschaften und die Umweltschutzverbände aus kratie am meisten zugeschlagen hat. Ich glaube nicht, dem Testlauf in Ostwestfalen-Lippe ausgestiegen sind, dass man das am Ende an formalen Kriterien wird fest- und zwar mit der offiziellen Begründung, dass dort machen können. Rechte angetastet worden sind? Oder kennen Sie eine andere Begründung dafür, warum sie ausgestiegen sind? Ich habe heute einfach einmal bei der einen oder an- Ich will Ihnen dazu sagen, dass ich in engem Kontakt deren Firma in meinem Wahlkreis angerufen. Weil bei mit dem dortigen DGB-Regionsvorsitzenden stehe und der Vorrednerin immer nach Beispielen verlangt wurde, deshalb den entsprechenden Schriftverkehr kenne. Ich will ich ein Beispiel nennen. Ein großer Windenergie- frage Sie also: Warum sind Ihrer Meinung nach die ge- anlagenhersteller, der in den letzten Jahren am Markt nannten Verbände ausgestiegen? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15649

(A) Garrelt Duin (SPD): wie ich finde, in wegweisender Art und Weise. Insofern (C) Ich kann die Frage im Detail so nicht beantworten, da gebe ich Ihnen vollkommen recht: Es gibt hier einen Un- ich persönlich mit den dortigen Funktionären im Ge- terschied in der Wahrnehmung zwischen uns und den werkschaftsbund nicht bekannt bin. Ich glaube aber Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei. grundsätzlich – das Projekt in Ostwestfalen-Lippe kenne (Beifall bei der CDU/CSU) ich gut genug, um das sagen zu können –, dass nicht jede Meinung eines Verbandsvertreters – sei es auch die eines Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Gewerkschaftschefs – für das tatsächliche Empfinden (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer relevant ist. Meines Erachtens gibt es keine Belege dafür, dass in die- sem Projekt in Ostwestfalen-Lippe Arbeitnehmerrechte Vizepräsidentin Petra Pau: wirklich nachhaltig infrage gestellt worden sind. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Kerstin Andreae das Wort. Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen deutlich gemacht, dass wir gerade darauf setzen, dass es nur um Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bürokratieabbau gehen darf und nicht um das Beschnei- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und den der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Herren! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt mern bzw. von Umweltschutzstandards. Das ist mit uns den Antrag der FDP. nicht zu machen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD) Ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie, Frau Ich kann Ihnen nicht im Detail beantworten, welche Zimmermann, sagen, der Antrag sei neoliberal. Bei An- persönlichen Verwerfungen es zwischen den in Ostwest- trägen von der FDP muss ich auch immer aufpassen, ob falen-Lippe Agierenden gibt, sodass es zu diesem Aus- diese aus unserer Sicht nicht über das Ziel hinausschie- stieg gekommen ist. Glauben Sie mir aber, dass ein viel ßen. Hier geschieht Folgendes: Sie sagen, der Normen- größerer Aufschrei durch das Land gegangen wäre, kontrollrat sei ein gutes Gremium. Aber wir haben ein wenn ausgerechnet in einer Region wie Ostwestfalen- Manko: Wir müssen die Befugnisse des Normenkon- Lippe Arbeitnehmerrechte anders behandelt würden als trollrats ausweiten. – Was für ein Parlament sind wir im Rest der Republik. denn, wenn wir nicht in der Lage sind, unsere eigenen Gesetze durch den Normenkontrollrat prüfen zu lassen? Vizepräsidentin Petra Pau: Natürlich müssen die Befugnisse des Normenkontroll- rats ausgeweitet werden. Kollege Duin, auch der Kollege Dobrindt möchte Ih- (B) nen Gelegenheit geben, noch länger zu sprechen; das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) heißt, er möchte Ihnen eine Frage stellen. Lassen Sie und bei der FDP) diese auch noch zu? Bezüglich des Nettoreduktionsziels kommt der Nor- menkontrollrat zum gleichen Ergebnis. Wir haben 500 Garrelt Duin (SPD): neue Informationspflichten geschaffen, und Sie haben Auch die Zwischenfrage des Kollegen Dobrindt lasse 136 Informationspflichten abgeschafft. Sie feiern die ich gerne zu. Abschaffung dieser Informationspflichten. Aber netto haben wir doch eine Ausweitung der Bürokratie. Alexander Dobrindt (CDU/CSU): (Zuruf von der FDP: So ist es!) Herr Kollege Duin, sind Sie mit mir der Meinung, dass die Linke hier zwei Dinge unrechtmäßigerweise Wenn man sich das Ziel setzt, Bürokratie abzubauen, vermischt, dann muss man ehrlicherweise den Saldo betrachten. Wir müssen uns genau angucken, wo wir Informations- (Zuruf von der SPD: Ja!) pflichten geschaffen und wo wir diese abgebaut haben, und prüfen, ob es sich am Ende tatsächlich um einen Ab- nämlich die Arbeit des Normenkontrollrates und den bau oder um einen Aufbau von Bürokratie handelt. Von Testlauf in der Modellregion Ostwestfalen-Lippe? Der daher ist es richtig, ein Nettoreduktionsziel festzulegen. Normenkontrollrat, der hier von der Linken kritisiert wird, soll nämlich auf oberster Ebene kontrollieren, ob (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetze mehr Bürokratie nach sich ziehen. In der Mo- und bei der FDP) dellregion Ostwestfalen-Lippe soll auf unterster Ebene Ich möchte nun den Antrag der Linken kommentie- getestet werden, wie viel Bürokratieabbau in einem ren. Ich sehe durchaus, dass es schwierig ist, die Balance Landkreis direkt vor Ort bei den Bürgern möglich ist. zu halten. Arbeitsschutz- und Umweltschutzauflagen sind absolut notwendig, manchmal muss man der Wirt- Garrelt Duin (SPD): schaft sagen, dass es nicht immer nach ihrer Pfeife läuft. Herr Kollege Dobrindt, ich bin absolut Ihrer Mei- Wir müssen natürlich Umweltschutzrichtlinien festset- nung. Der Normenkontrollrat ist – das ist immer wieder zen, auch wenn diese Bürokratie bedeuten. betont und auch von den Beteiligten, zum Beispiel von Im ersten Punkt Ihres Antrags schreiben Sie: Herrn Ludewig, bestätigt worden – keine Kontroll- instanz für die Gesetzgebung dieses Hauses, sondern er Die Europäische Union erleben derzeit viele Men- kümmert sich um die Bürokratiekosten. Das macht er, schen als bürgerfern. 15650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Kerstin Andreae (A) D’accord! Das ist tatsächlich ein Problem, das über alle schen Wirkungen, die eine Änderung nach sich ziehen (C) Ebenen hinweg gelöst werden muss. Im zweiten Punkt würde, hinweisen zu können. Die Entscheidung ist im- gehen Sie jedoch ausgerechnet auf die EU-Arbeits- mer noch Sache des Parlaments. schutzrichtlinie zur optischen Strahlung ein. Was war das denn für eine Arbeitsschutzrichtlinie? – Sie schrei- Das Parlament ist Gesetzgeber und sollte das für diese ben selber: Entscheidung notwendige Selbstbewusstsein haben. Wir unterstützen den Antrag der FDP. Diese sollte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter anderem vor Sonneneinstrahlung und damit Vielen Dank. möglichen Hautkrebserkrankungen schützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bin ja dafür, dass man die Leute in irgendeiner Form auf den Zusammenhang zwischen Sonneneinstrahlung Vizepräsidentin Petra Pau: und Hautkrebsrisiko hinweist. Aber dafür brauchen wir Ich schließe die Aussprache. keine bürokratische EU-Richtlinie. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wurfs auf Drucksache 16/7855 an die in der Tagesord- der FDP) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Dieses Problem betrifft doch die Menschen in den Bier- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. gärten genauso wie die Bademeister in den Freibädern Dann ist die Überweisung so beschlossen. und das Baugewerbe. Natürlich ist es richtig, auf Haut- Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des krebsrisiken aufmerksam zu machen. Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An- (Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Ja!) trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bürokratieab- bau in Europa – Kein Freibrief zum Abbau von Arbeits- Aber dafür braucht man keine Richtlinie. und Umweltschutz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Ihr Vorschlag basiert ja auf der Überlegung, dies als Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5196, den An- Arbeitsschutzmaßnahme zu proklamieren, um dann zu trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4204 ab- argumentieren, durch den Bürokratieabbau sei dieser Ar- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – beitsschutz nicht gewährleistet. Das entspricht nicht der Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Position der Grünen. Wir sagen: Ja, wir brauchen so- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak- wohl, was den Umweltschutz angeht, als auch, was den tion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Frak- Arbeitsschutz angeht, Richtlinien und Regelungen. tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der (B) Diese können manchmal auch Bürokratie bedeuten. Das Fraktion Die Linke angenommen. (D) darf aber nicht so ausufern, wie es bei dieser Richtlinie Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf: der Fall gewesen wäre. Schon alleine deswegen können wir dem Antrag der Linken nicht zustimmen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Marcus Weinberg, weite- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und sowie der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter der FDP) Rossmann, Ulla Burchardt, Willi Brase, weiterer Ich möchte mich jetzt noch an die Koalitionsfraktio- Abgeordneter und der Fraktion der SPD nen richten, da beide angedeutet haben – so habe ich zu- Rahmenbedingungen für Lebenslanges Ler- mindest Sie, Herr Duin, und Sie, Herr Lämmel, verstan- nen verbessern – Weiterbildung und Qualifi- den –, wir könnten über eine Ausweitung der Befugnisse zierung ausbauen und stärken des Normenkontrollrates reden; das finde ich gut. Ich möchte einen Kronzeugen zitieren. Die Bertelsmann- – Drucksache 16/8380 – Stiftung schreibt nämlich: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Obwohl es positiv zu bewerten ist, dass der NKR Technikfolgenabschätzung (f) im Gesetzgebungsprozess verankert ist, bleibt die Finanzausschuss Frage, warum er nur Hilfestellung leisten darf, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wenn die Gesetzesinitiative von der Bundesregie- Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend rung ausgeht und warum er nicht bis zum Schluss Ausschuss für Tourismus des Legislativverfahrens eingebunden ist. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Wir wissen doch alle, wo das Problem liegt: Das Gesetz wird eingebracht, und dann kommen die Änderungsvor- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia schläge der Koalitionsfraktionen und der Opposition. Möller, Volker Schneider (Saarbrücken), Von jeder Seite werden Änderungsvorschläge vorgelegt, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der die die Gesetze komplizierter und bürokratischer ma- Fraktion DIE LINKE chen. Ich finde, es hat etwas mit unserem Selbstver- Der beruflichen Weiterbildung den notwendi- ständnis als Parlament zu tun, wenn wir sagen: Der Nor- gen Stellenwert einräumen menkontrollrat ist in alle Initiativen während des gesamten Prozesses eingebunden, um auf die bürokrati- – Drucksache 16/7527 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15651

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Überweisungsvorschlag: voll ausschöpfen. Wir hingegen haben 1,3 Millionen (C) Ausschuss für Bildung, Forschung und junge Menschen – Schulabgänger bis 29 Jahre – ohne Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie berufliche Qualifizierung. Diese Situation ist nicht vom Ausschuss für Arbeit und Soziales Himmel gefallen. Sie hat sich im Verlauf von mehr als einer Dekade, über 15 Jahre hinweg entwickelt. Das c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- lässt keinen Platz für Selbstgerechtigkeit, egal auf wel- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung cher Seite. und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) Wir korrigieren das, was in den letzten 15 Jahren – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker falschgelaufen ist. Die Große Koalition hat gehandelt, Schneider (Saarbrücken), Cornelia Hirsch, zum Beispiel mit dem Beschluss „Neue Dynamik für Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der den Ausbildungspakt“. Entscheidend für Weiterbildung Fraktion DIE LINKE ist die Weiterbildungsfähigkeit. Wir müssen Aus- und Zukunftsaufgabe Weiterbildung Weiterbildung miteinander vernetzen. Es ist gut, dass es konkrete Vereinbarungen zwischen Politik und Wirt- – zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick schaft gibt, eine bessere Berufsorientierung stattfindet Meinhardt, Cornelia Pieper, Uwe Barth, weite- und mit dem EQJ-Programm, den Einstiegspraktika, rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eine Brücke zur dualen Ausbildung gebaut wurde. Die Weitervermittlungsquote bei diesem Programm beträgt Offensive Weiterbildung – Weiterbildung als immerhin 75 Prozent. Mit 630 000 betrieblichen Ausbil- 4. Säule des Bildungswesens ernst nehmen dungsplätzen haben wir den Höchststand seit 1992 in – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz Deutschland erreicht. Die Erosion der dualen Bildung, (Herborn), Kai Gehring, Brigitte Pothmer, wei- die über ein Jahrzehnt hinweg anhielt, ist endlich ge- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- stoppt. NIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Lebenslanges Lernen fördern Zum Thema „Motivation zur Weiterbildung“ gehört – Drucksachen 16/785, 16/2702, 16/4748, 16/8352 – auch die grenzüberschreitende Anerkennung und Ver- wertbarkeit der dualen Ausbildung im europäischen Bil- Berichterstattung: dungsraum. Unser Antrag, der auf einen europäischen Abgeordnete Uwe Schummer Qualifizierungsrahmen abzielt, ist von großer Bedeu- Dr. Ernst Dieter Rossmann tung, damit die duale Ausbildung bei den Bewertungs- Patrick Meinhardt kriterien eins bis acht hoch angesiedelt wird. Ein erster (B) Volker Schneider (Saarbrücken) Erfolg ist, dass der Meisterbrief europaweit einem Hoch- (D) Priska Hinz (Herborn) schulabschluss gleichgestellt worden ist. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Das dritte parlamentarische Werkstück: die Vermitt- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre lung der Altbewerber in eine berufliche Qualifizierung. dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Diesem Thema hat sich der Antrag „Junge Menschen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege fördern – Ausbildung schaffen und Qualifizierung si- Uwe Schummer für die Unionsfraktion. chern“ gewidmet. Neu ist der Ausbildungsbonus. Er wird dafür sorgen, dass nicht irgendwann, sondern zeit- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nah, jeder, der will und kann, eine Berufsausbildung fin- neten der SPD) det. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Uwe Schummer (CDU/CSU): der SPD) Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Bildung schafft Beteiligungschancen, nutzt Potenziale Es ist besser, betriebliche Strukturen für die Ausbildung für unser Land. Wir haben in Deutschland die meisten zu nutzen als teure Parallelstrukturen aufzubauen oder Patentanmeldungen weltweit. Die meisten Patente wer- zu warten, bis die Konjunktur das Thema von selber löst. den von den Beschäftigten der Unternehmen angemel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) det. Nun kommt der vierte Baustein: die Förderung des Die Wirtschaft selbst errechnet einen jährlichen Ver- lebenslangen Lernens. Eine der Grundlagen ist der lust von 18,5 Milliarden Euro, der sich daraus ergibt, Unionsantrag „Rahmenbedingungen für Lebenslanges dass Aufträge nicht angenommen werden können, weil Lernen verbessern – Weiterbildung und Qualifizierung Stellen nicht mit qualifizierten Mitarbeitern besetzt wer- ausbauen und stärken“ aus der letzten Legislaturperiode. den können. 3,5 Millionen Arbeitslose kosten insgesamt Aufgrund des vorzeitigen Abtretens der rot-grünen Bun- 75 Milliarden Euro. Diese Summe ergibt sich aus nicht- desregierung – Sie hatten sich gegenseitig das Miss- gezahlten Steuern und Sozialbeiträgen sowie den Leis- trauen erklärt – konnte dieser Unionsantrag nicht zu tungsausgaben. Ende beraten werden. Das haben wir nun mit dem Koali- tionsantrag nachgeholt. Wir haben die zweite Chance ge- Es ist undenkbar, dass die arabischen Länder ihre nutzt, und nun ist die Zeit der Entscheidung. Erdölvorräte im Wüstensand versickern lassen oder die Südafrikaner die Goldnuggets in den Flussläufen nicht (Beifall bei der CDU/CSU) 15652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Uwe Schummer (A) Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Wirt- werden sollten. Heute geht es darum, dass im globalen (C) schaft: Schluss mit der Dequalifizierung durch Frühver- Wettbewerb der Wissensgesellschaften 40 Millionen Er- rentungen, Entlassungen und Billigstlöhnen. werbstätige permanent – durch Training on the Job – qualifziert werden müssen. Dies geht nicht mehr über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Arbeitslosenversicherung. Da müssen wir die Selbst- Arbeitnehmer sind nicht nur Kosten, sie sind Aktivpos- finanzierungsanreize stärken und insgesamt versuchen, ten. Eine bundesweite Onlinebefragung der IHK-Organi- diesen Finanzierungsmix auszubauen. sationen zeigt, dass neun von zehn Unternehmen in die Mit dem Antrag erfüllen wir jetzt nicht alle Wünsche Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren wollen. Un- und Hoffnungen in der Weiterbildung. Aber er öffnet ser im Antrag vorgegebenes Ziel ist, bis 2015 bei der Türen in neue Räume, die wir politisch weiter ausgestal- formalisierten Weiterbildung der Erwerbstätigen eine ten werden. Ich zitiere jetzt: Weiterbildungsquote von mindestens 50 Prozent und beim informellen Lernen von mindestens 80 Prozent zu Notwendig ist ein aufeinander abgestimmtes Sys- erreichen. tem von gründlicher Elementarbildung, berufsbezo- gener Grundschulung und berufsbegleitender Wei- Der Antrag zum lebenslangen Lernen will einen terbildung. Nicht Privilegien, sondern persönliche Finanzierungsmix und eine Bildungsprämie als Direkt- Leistungen legitimieren den beruflichen Aufstieg in zuschuss in Höhe von 154 Euro für Arbeitnehmer mit der Sozialen Marktwirtschaft. geringem Einkommen. Höhere Einkommen können Weiterbildungskosten über den Pauschbetrag im Steuer- So in seinem Manifest 1972 und so auch recht bis 920 Euro absetzen. Vorbild ist auch ein Bil- die Leitlinien unserer Politik. dungsscheck in Nordrhein-Westfalen aus der Werkstatt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von Karl-Josef Laumann. In zwei Jahren wurde er neten der SPD) 200 000 Mal abgerufen; 150 000 Arbeitnehmer haben ihn eingelöst. Ziel sind Unternehmen mit bis zu 250 Be- schäftigten. Auch hier werden 50 Prozent der Kursge- Vizepräsidentin : bühren übernommen. Kammern und Volkshochschulen Nächster Redner ist der Kollege Patrick Meinhardt beraten über die richtige Qualifizierung. In einer Weiter- für die FDP-Fraktion. bildungsallianz sollten Programme von Bund, Ländern (Beifall bei Abgeordneten der FDP) und Sozialpartnern aufeinander abgestimmt und weiter- entwickelt werden. Patrick Meinhardt (FDP): Die größte Hebelwirkung hat die Erweiterung des (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (D) Vermögensbildungsgesetzes durch Prämie, Zinsen, Ei- Kollegen! Über Weiterbildung und lebenslanges Lernen genanteil und Arbeitgeberanteil. Derzeit werden wird in der Politik momentan wirklich viel gesprochen. 6,7 Millionen Arbeitnehmer durch die Sparzulage geför- In aller Bescheidenheit darf ich darauf hinweisen, dass dert. Sie sollen Guthaben vorzeitig für Bildungsmaßnah- auch der Antrag der FDP mit dem Titel „Offensive Wei- men abrufen können. Die Kombination von Bausparen terbildung“ einen Impuls für eine umfassende Weiterbil- und Bildungssparen, aber auch mit dem Produktivsparen dungsdebatte gesetzt hat. Spätestens seit es die soge- kann dazu führen, dass wir insgesamt 12 Millionen Ar- nannte Qualifizierungsinitiative gibt, ist dieses Thema in beitnehmer, die die Möglichkeit dazu haben, erreichen. aller Munde. Dafür ist es allerdings auch höchste Zeit. Weiterbildungsdarlehen und Zeitkonten, die zeitverzinst für Familienphasen, aber auch für Qualifizierungszeiten (Beifall bei der FDP) genutzt werden, sind weitere Elemente unseres Antrages Leider muss bilanziert werden: Im Großen und Gan- zum lebenslangen Lernen. zen bleibt es bei Lippenbekenntnissen und Absichtser- Wir ermuntern die Tarif- und Betriebsparteien nach- klärungen, die Substanz fehlt, und ein roter Faden ist drücklich, diesen Weg zu gehen. Ein offenes Thema, überhaupt nicht erkennbar. Das können wir uns bei die- sem Thema beim besten Willen nicht mehr leisten. über das wir auch politisch mit den Sozialpartnern spre- chen müssen, ist der Insolvenzschutz. Ein unbürokrati- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ scher Weg wäre eine Regelung analog der Pensions- DIE GRÜNEN) sicherung, die der Pensionssicherungsverein seit über 30 Jahren organisiert. Auch dies ist meines Erachtens ein Für die FDP-Fraktion ist in dieser Debatte, die eigent- Thema für eine Weiterbildungsallianz, die wir mit der lich eine Weiterbildungsdebatte ist, wichtig, darauf hin- Bundesregierung, den Sozialpartnern und den Ländern zuweisen, dass schnellstmöglich ein in sich stimmiges schmieden wollen. Konzept erarbeitet werden muss, das auf vier Grundla- gen fußt: auf dem Bildungssparen, auf Lernzeitkonten, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auf attraktiven Bildungsdarlehen und auf Bildungsgut- der SPD) scheinen auch für die Weiterbildung. Die Basis des Gan- zen muss aber sein, dass wir ein breites gesellschaftli- Arbeitsförderung und Berufsbildungsgesetz sind Kin- ches Bewusstsein für das lebenslange Lernen schaffen der der Großen Koalition von 1967/68. Hans Katzer, der müssen. damalige Arbeitsminister, hat sie federführend entwi- ckelt. Damals ging es darum, dass 120 000 Arbeitslose Wichtig ist, dass wir mit den Zielgruppen richtig um- durch Qualifizierung in eine Beschäftigung gebracht gehen, vor allem mit den jungen Erwachsenen. In einem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15653

Patrick Meinhardt (A) ersten Schritt müssen wir insbesondere bei den Kollege Meinhardt, ich war von Ihrer Begeisterung (C) 1,3 Millionen Menschen in Deutschland ansetzen, die für Kindergärten usw., die ich übrigens uneingeschränkt jünger als 30 Jahre sind und keinen Schulabschluss ha- teile, wirklich ergriffen, ben. Das ist auch eine große integrationspolitische He- rausforderung. (Ulrike Flach [FDP]: Frage!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir uns und das unabhängig davon, dass Sie im Gegensatz zu einmal an, was die Bundesregierung unter anderem vor- mir ein regelrechter Extremföderalist sind. schlägt: die Einführung eines Freiwilligen Technischen Ich möchte Sie fragen: Haben Sie zur Kenntnis ge- Jahres. „Freiwillig“ und „Technisch“ – das hört sich erst nommen, dass durch unsere Initiativen in genau diesem einmal gut an. Bereich etwas geschehen ist? Ich möchte Sie in diesem (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zusammenhang nur auf das entsprechende Projekt der Unbezahltes Langzeitpraktikum!) Helmholtz-Gemeinschaft hinweisen und das Stichwort „Kleine Forscherinnen und Forscher“ nennen. Das, was Aber was steckt dahinter? Dieses Freiwillige Technische der Bund in diesem Bereich zu leisten hatte, hat er getan. Jahr soll junge Menschen, die in der Schule keinen Zu- Haben Sie diese Initiativen zur Kenntnis genommen, gang zu Mathematik und Naturwissenschaften gefunden und wollen Sie sie nicht genauso positiv würdigen, wie haben, nun plötzlich für die Naturwissenschaften begeis- ich es gerade getan habe? tern. Meine Damen und Herren, Sie können sich be- stimmt vorstellen, mit welcher Begeisterung sich Ex- (Heiterkeit) schüler in die Warteschleife auf dem Weg in Ausbildung oder Studium begeben werden! Begeisterung und Lei- Patrick Meinhardt (FDP): denschaft für Mathematik, Naturwissenschaften und Herr Kollege Tauss, ich sage Ihnen ganz offen und Technik muss von Kindesbeinen an in der Schule ver- ehrlich: Wenn es um Weiterbildung geht, ist für mich mittelt und dann am Leben gehalten werden. Deswegen entscheidend, was man unter dem Strich für die Men- brauchen wir konkrete Vorschläge, wie bei den jungen schen erreicht. Menschen schon im Kindergarten die Begeisterung für Naturwissenschaften und Mathematik entfacht werden (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) kann. Deswegen würdige auch ich die Initiativen, die gemein- (Beifall bei der FDP) sam mit der Helmholtz-Gemeinschaft und mit der Deut- Wenn es um das Thema Weiterbildung geht, muss schen Forschungsgemeinschaft durchgeführt werden. man auch die älteren Arbeitnehmer in den Blick neh- (Jörg Tauss [SPD]: Die es früher nicht gab!) (B) men. Den älteren Arbeitnehmern hat die Bundesregie- (D) rung bedauerlicherweise ebenfalls nur wenig zu bieten. Aber Sie sollten auch eingestehen, dass es eine ganze 55 Prozent aller über 55-Jährigen arbeiten nicht mehr. Reihe von Initiativen gibt, die während der Regierungs- Gleichzeitig haben wir in Deutschland einen massiven zeit der FDP-CDU/CSU-Koalition auf den Weg gebracht Fachkräftemangel zu beklagen. Wir müssen den Men- wurden, von Ihnen fortgesetzt oder ergänzt wurden und schen durch attraktive Weiterbildungskredite die Mög- dann ihre sinnvollen Wirkungen entfalten konnten, weil lichkeit geben, länger im Arbeitsprozess zu bleiben. die Kindergärten in diese Arbeit von Anfang an inte- Denn ältere Arbeitnehmer haben wichtige Kenntnisse griert worden sind. Nur, mein grundsätzlicher Vorwurf und verfügen über das Wissen, das im Arbeitsprozess wird dadurch nicht ausgehebelt. gebraucht wird. Eine Weiterbildungsinitiative, die an den älteren Menschen vorbeigeht, ist und bleibt Stück- (Jörg Tauss [SPD]: Doch!) werk. – Nein, wird er nicht, Herr Kollege Tauss. Ein stimmiges (Beifall bei der FDP) Weiterbildungskonzept braucht einen roten Faden. Einen solchen kann ich in dem vorgelegten Weiterbildungs- konzept beim besten Willen nicht erkennen. Es ist gut, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wenn Einzelmaßnahmen, die in der Vergangenheit ge- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wirkt haben, fortgesetzt werden. Zu einer neuen Weiter- Kollegen Tauss? bildungsinitiative gehören jedoch neue Impulse. Die Weiterbildungsbeteiligung liegt im OECD-Durchschnitt Patrick Meinhardt (FDP): bei 18 Prozent. Bei uns liegt sie bei gerade einmal Es hätte mich auch gewundert, Herr Kollege Tauss, 12 Prozent. Wir brauchen eine Weiterbildungsinitiative, wenn Sie keine Zwischenfrage hätten stellen wollen. die in sich stimmig ist. Es fehlt dieser Weiterbildungsini- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ tiative darüber hinaus an Dynamik. CSU]: Hat er wieder keine Redezeit bekom- (Beifall bei der FDP) men?) Der Kollege Schummer hat auf die Weiterbildungs- prämie, auf den staatlichen Zuschuss von 154 Euro, ver- Jörg Tauss (SPD): wiesen. Wenn das im Zentrum Ihrer Weiterbildungsini- Lieber Kollege Fischer, es freut mich, dass Sie wieder tiative stehen soll, muss ich Ihnen sagen: Das geht an einmal hier sind. Herzlich willkommen! dem, was wir in der Bundesrepublik Deutschland an (Heiterkeit) Weiterbildung brauchen, vorbei. Was kann man sich für 15654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Patrick Meinhardt (A) 154 Euro – bzw. 308 Euro; es wird ja komplementär fi- In dieser Kontinuität steht das neue Programm. Unter- (C) nanziert – an beruflicher Weiterbildung schon leisten? stützt wird es durch den Antrag mit dem Ziel eines Bil- Mehr als ein Wochenendkurs in buddhistischer Schwan- dungsgipfels, um nachhaltig die Unterstützung von Wei- gerschaftsgymnastik, in ostsibirischer Glasbläserei oder terbildung zu verabreden. Wir treten damit in eine neue in maoistischem Makramee mit dem AStA der lokalen Phase ein. Dabei werden auch Elemente, wie sie der Uni wird da nicht drin sein. Schlicht und ergreifend: Mit Kollege Schummer genannt hat, aufgenommen. Die Be- 154 Euro schafft man keine Weiterbildungsoffensive. nachteiligtenförderung wird durch die Bündelung der Elemente nochmals verstärkt. Verstärkt wird auch die Der Kollege Schummer hat die Weiterbildungs- Frühförderung, die Beratung und die Vorbereitung von schecks angesprochen, die Nordrhein-Westfalen einge- Weiterbildung. Damit sind natürlich neue Rechtstatbe- führt hat – ein tolles Projekt der FDP/CDU-Regierung in stände verbunden. Denn Weiterbildung – das zeigte sich Nordrhein-Westfalen. Warum wird ein solcher Weiterbil- jedes Mal – wurde immer dann am effektivsten wahrge- dungsscheck nicht zum Kern dieser Weiterbildungsini- nommen, wenn es eine gute finanzielle Ausstattung, gute tiative gemacht? In Nordrhein-Westfalen sind Weiter- Qualität und klare Rechte gegeben hat, und dieses klare bildungsschecks für die Mitarbeiter von kleinen und Recht ist in der Großen Koalition vereinbart worden. mittleren Unternehmen eingeführt worden. Das ist die Zielrichtung, die wir brauchen. Denn so hat man es ge- Hinzugekommen ist die Bildungsprämie. Dazu muss schafft, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die ich eine sachliche Anmerkung an Ihre Adresse richten. Mitarbeiter erneuern ihr Können und Wissen und sichern Wenn 80 Prozent der beruflichen Weiterbildungsmaß- sich so die aktive Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt, die nahmen durch die Prämienförderung abgedeckt werden, Unternehmen profitieren davon, weil sie sich so Innova- dann ist das wirklich eine substanzielle Leistung. tion und Wettbewerbsfähigkeit sichern. Ein Weiterbil- dungsscheck wäre der Einstieg in eine Weiterbildungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der offensive, die diesen Namen verdient. CDU/CSU) Das Rad der Weiterbildung muss nicht neu erfunden Man kann zwar über die übrigen 20 Prozent streiten – wir werden. Ideen und gute Lösungsansätze wie den Weiter- haben dabei den roten Faden durchaus im Blick –, aber bildungsscheck in Nordrhein-Westfalen gibt es genug. wir sollten nicht die 80 Prozent der Maßnahmen ver- Diese Koalition muss das Rad der Weiterbildung ledig- schweigen, die wir mit der Prämie fördern. lich drehen. Wir fragen uns mit Sorge – man kann ruhig offenle- Vielen Dank. gen, dass wir in der Großen Koalition gerne weiterge- gangen wären –, ob ein Rechtsanspruch auf die Prämie (B) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) vorgesehen ist oder ob sie sich nach dem jeweiligen Fi- (D) nanzvolumen richten soll, das über den Europäischen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sozialfonds zur Verfügung gestellt wird. Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ernst Dieter Insofern werden wir diesen Schritt gerne mitgehen, Rossmann für die SPD-Fraktion. aber die Sozialdemokratie streitet dafür, dass ein Rechts- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) anspruch auf die Bildungsprämie mit in ein Erwachse- nenbildungsförderungsgesetz aufgenommen wird, weil das eine positive Wirkung hat. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In einer großen Koalition ist es so, dass man über die Wir begrüßen auch, dass ein Aufstiegsstipendium Parteigrenzen hinaus in der Bewertung der Bedeutung vorgesehen ist, mit dem Menschen mit beruflicher Qua- von Weiterbildung viel Übereinstimmung hat, weshalb lifikation eine Hochschule besuchen können. Wir möch- ich der Analyse der Kollegen Schummer und Meinhardt ten aber einen Rechtsanspruch auf diese Förderung für nichts hinzufügen möchte. diejenigen schaffen, die sich auf den beschwerlichen Ich will darauf hinweisen, dass jede Zeit die Förde- Weg machen, an ihre berufliche Qualifikation noch eine rung der Weiterbildung um neue Elemente ergänzt hat. akademische Ausbildung anzuschließen. Ich füge hinzu, Unter der ersten Großen Koalition war das der gesetzli- dass auch die sogenannte Zweite Chance zu einem che Anspruch im Sozialgesetzbuch. Dann kam das Rechtsanspruch werden muss. Aber auch in diesem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz. Unter Rot-Grün Punkt ist es nicht ganz richtig, Herr Meinhardt, der Gro- ist das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz mit Sub- ßen Koalition bzw. dem Arbeitsministerium zu unterstel- stanz versehen worden. 70 000 Beschäftigte zusätzlich len, keine besonderen Fördersachverhalte zuzulassen. haben davon Gebrauch machen können. Es gab den An- Denn es gibt das Programm „WeGebAU“, das exzellent satz der lernenden Region, um die Akteure vor Ort zu- ist in Bezug auf die Förderung von älteren Menschen in sammenzubringen. Dies wird jetzt weitergeführt. Die Beschäftigung oder von Arbeitslosen in Qualifizierung. Benachteiligtenförderung wird jetzt in Richtung Alpha- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) betisierung ausgebaut. Um auf Ihre Kritik zurückzukom- men: Es gibt sehr wohl einen roten Faden. Vielleicht ist Wir beobachten aber, dass eine gewisse Zeit und auch es, damit man das nicht einer Partei zuschreibt, besser, Werbung notwendig sind, um das Programm in Gang zu von einem starken Faden zu sprechen. bringen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15655

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Insofern bitte ich Sie, auf manche verbale Akrobatik Sie sind vor zweieinhalb Jahren als Große Koalition (C) zu verzichten. Auch ein FDP-Rhetorikkurs wie der, mit mit folgendem Anspruch angetreten – ich zitiere aus dem Sie sozusagen eine Makramee-Diffamierung ver- dem Koalitionsvertrag –: sucht haben, würde nicht durch die Prämie gefördert werden. Er war im Übrigen auch keine Prämie wert. Wir wollen mittelfristig die Weiterbildung zur vier- ten Säule des Bildungssystems machen und mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen eine Wir müssen weiter an dem Aufstiegsfortbildungsför- Weiterbildung mit System etablieren. derungsgesetz, dem Meister-BAföG, arbeiten. Dabei be- Was ist in der Zwischenzeit passiert? Es hat eine obachten wir, dass unser Koalitionspartner in diesem ganze Reihe von Anträgen von der FDP, von den Grünen Punkt durchaus zur Einsicht kommt. Ich darf für die So- und von der Linken gegeben. Nur von der Bundesregie- zialdemokratie feststellen, dass wir dieses Gesetz als rung bzw. von der Großen Koalition haben wir außer eine sehr wichtige Komponente ausbauen wollen, damit Ankündigungen bis jetzt wenig gesehen und gehört. Es es nicht bei den 70 000 Menschen bleibt, die wir schon gab einmal einen Innovationskreis Weiterbildung, der durch die damalige rot-grüne Reform gewonnen haben, zwischenzeitlich auch einen Bericht vorgelegt hat. Der sondern dass sich noch andere auf den Weg machen, her- ist eigentlich nicht so schlecht. Aber es steht nichts we- vorragende Fachwirte, Techniker und Meister zu wer- sentlich Neues darin, jedenfalls nichts, was die Opposi- den. tionsfraktionen nicht vorher auch schon vorgelegt hät- Insofern lässt sich folgendes Resümee ziehen: Der ten. rote Faden besteht darin, dass alle Lust auf Weiterbil- Jetzt legen Sie endlich einen eigenen Antrag vor. Er- dung haben sollen und indirekt in der Pflicht stehen, für staunlicherweise ringen Sie sich im Feststellungsteil im- sich selbst und für die Allgemeinheit etwas aus sich zu merhin dazu durch, einige kritische Aspekte zur Situa- machen. Das können sie aber am besten dann tun, wenn tion in der Weiterbildung aufzugreifen und die sie ein Recht auf ein angemessenes Auskommen, Unter- Notwendigkeit von weitreichenden Veränderungen zur stützung, Qualität, Gleichwertigkeit und gleiche Chan- Stärkung der Teilnahme an Weiterbildung gerade für Äl- cen im Recht auf Weiterbildung haben. Dafür steht die tere und Geringqualifizierte zu betonen. Aber auch darin SPD. Wir sind sicher – ganz im Sinne von Hans Katzer –, steht bis auf eine für mich bemerkenswerte Sache nichts dass wir das auch als gemeinsame Leistung schaffen: so- Neues. Das Bemerkenswerte ist für mich als rentenpoli- zialdemokratisch begonnen, mit konservativer Unter- tischer Sprecher, dass Sie jetzt sogar die Weiterbildung stützung fortgesetzt zur breiten Förderung aller Men- zum Instrument der Alterssicherung machen wollen. Ich schen in Deutschland, die sich weiterbilden wollen. will nicht näher darauf eingehen. Aber es ist schon ein (B) (D) Danke schön. bemerkenswerter Hinweis darauf, in welch bedauerns- wertem Zustand sich offensichtlich Ihre private Alters- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorsorge befindet, dass Sie jetzt die Weiterbildung er- der CDU/CSU) gänzend in diesem Bereich heranziehen müssen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Das müssen Sie jetzt einmal erklären! Keine Volker Schneider das Wort. Weiterbildung für Ältere? Unglaublich!) (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie das schon machen, dann wäre es ganz gut, Sie würden sich ein bisschen informieren. Es gibt näm- Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): lich ganz aktuell eine Untersuchung der Universität Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Essen, der Freien Universität Berlin und der Business Bei so viel schwungvoll vorgetragener Begeisterung School in Kiel. Diese besagt, man könne im Bereich der Riesterrente keinen einzigen Euro an zusätzlicher Spar- (Jörg Tauss [SPD]: Wollen Sie nicht beiseite leistung mobilisieren, sondern die Leute schichteten nur stehen!) auf die geförderten Sparmaßnahmen um. Genau das- frage ich mich, ob wir über dasselbe Weiterbildungssys- selbe wird Ihnen in der Weiterbildung auch passieren. tem diskutieren. Geht es hier um das Weiterbildungssys- Genau aus diesem Grund hat das Weiterbildungssparen tem, das nach Daten der OECD international eindeutig bei weitem nicht den Effekt, den Sie sich davon verspre- hinterherhinkt? Reden wir über das Weiterbildungssys- chen. tem, bei dem die soziale Herkunft in hohem Maße für (Beifall bei der LINKEN) die Inanspruchnahme von Weiterbildungsmaßnahmen und den Umfang, in dem die Teilnehmer von dieser Wei- In sechs Punkten erfahren wir, was die Große Koali- terbildung profitieren können, entscheidend ist? Reden tion begrüßt. Die Große Koalition begrüßt zum Beispiel wir über das Weiterbildungssystem, das ausweislich des die Vorlage der Empfehlung des Innovationskreises Wei- Bildungsberichtes mit sinkenden Teilnahmequoten rech- terbildung – fantastisch. Ich könnte noch eine Reihe von nen muss und bei dem der Durchschnittswert der aufge- Punkten anführen, was man noch so alles begrüßen wendeten Zeit für die berufliche Weiterbildung deutlich kann. Dass die KMK die Initiative der Bundesministerin sinkt? Wir reden anscheinend über zwei unterschiedliche zur Halbierung der Anzahl von Schulabgängern ohne Systeme. Schulabschluss aufgreift, ist auch sehr begrüßenswert. 15656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Nett wäre es, wenn es mit ein paar Maßnahmen unterfüt- Schließlich ist mehr als die Hälfte der Regierungszeit (C) tert wäre. Davon steht nichts in diesem Antrag. vorbei. Eines aber muss ich doch lobend hervorheben – da (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind wir Linken mit Ihnen einer Meinung –: Sie schrei- und bei der FDP) ben unter Punkt 6, dass die Bundesagentur für Arbeit die Effektivität ihrer Maßnahmen zur beruflichen Weiterbil- Hätten Sie doch wenigstens aus Ihrem eigenen Koali- dung verbessert hat, indem die Vorgabe einer Verbleibs- tionsvertrag abgeschrieben! Aber nein, Sie gehen noch prognose von 70 Prozent als Voraussetzung für die Aus- weit dahinter zurück. gabe von Bildungsgutscheinen für die BA seit 2005 Erstes Beispiel. Im Koalitionsvertrag haben Union nicht mehr besteht und dass vor allen Dingen bei der und SPD auf Seite 43 noch bundeseinheitliche Rahmen- Vergabepraxis der BA die Qualität wieder eine größere bedingungen für die Weiterbildung vereinbart. Jetzt Rolle spielt. Wir sind mit Ihnen einer Meinung, dass das heißt es in Ihrem Antrag, es solle erst einmal geprüft ein wichtiger und dringend notwendiger Schritt war. werden, ob die Weiterbildung „mit bundeseinheitlichen (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann Rahmenbedingungen systematischer gefördert werden [SPD]: Dafür haben wir gekämpft!) kann.“ Dann kommt allerdings ein Teil mit 20 Forderungen Zweites Beispiel. Sie verlangen im Koalitionsvertrag an die Bundesregierung, die ich wirklich nur als einen auf Seite 44 eine „Insolvenzsicherung“ von Lernzeitkon- Kessel Buntes bezeichnen kann. In dem Potpourri steht, ten durch den Staat. Nun heißt es im Antrag lapidar, dass man soll die Weiterbildung als tragenden Teil des Bil- „dem Insolvenzschutz dieser Lernzeitkonten Rechnung dungssystems etablieren und prüfen. Entschuldigung, getragen werden“ solle. liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koali- Wird Ihnen bei so vielen Rückwärtsrollen nicht lang- tion, dafür haben Sie zweieinhalb Jahre Zeit gehabt. Jetzt sam schwindelig? Ich finde, das Ganze ist eindeutig zu ist es wirklich höchste Zeit, dass Sie einmal etwas Or- wenig. Das gilt auch für die Bildungsprämie. Sie tun ge- dentliches tun. Es geht nicht nur um Prüfen, um Pro- rade so, als sei alles schon beschlossene Sache. Dabei jekte, Forschungsvorhaben, Initiativen und Aktionspro- haben wir fast zwei Jahre auf einen Vorschlag gewartet; gramme. Das ist wahrhaftig zu wenig. Entweder Sie die Prämie steht aber immer noch nicht im Gesetzblatt. wollen nicht oder Sie können nicht. Das ist auf jeden Fall nicht das, was die Weiterbildung braucht, um (Ulrike Flach [FDP]: Wie wahr!) Deutschland nach vorne zu bringen. Doch anstatt der Regierung hier einmal Dampf zu ma- (B) Danke schön. chen und sie aufzufordern, endlich die letzten Details zu (D) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter klären, liest man in Ihrem Antrag nur, dass Sie den Prä- Rossmann [SPD]: Wo bleibt das Konstruk- mienvorschlag begrüßen. tive?) (Jörg Tauss [SPD]: Nur heiße Luft!) – Ja. – Trotz der Anhörung, die der Bildungsausschuss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zum Bericht der Kommission „Finanzierung Lebenslan- Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring für die gen Lernens“ veranstaltet hat, ist Ihr Antrag leider küm- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. merlich.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn ich mir die schönen Beschlüsse der SPD-Bun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! destagsfraktion zur Weiterbildung anschaue, finde ich es Auch wir haben uns verdutzt gefragt, warum die Koali- schade, dass Sie davon so wenig in Koalitionsanträgen tionsfraktionen überhaupt solch einen Antrag zur Wei- durchsetzen können. Ich hoffe, dass Sie da künftig mehr terbildung einbringen. Erfolg haben. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Weil uns (Beifall des Abg. Siegmund Ehrmann [SPD]) das Thema wichtig ist, Herr Kollege!) Was Sie von der Großen Koalition in dieser Legisla- Es wäre doch für Union und SPD angenehmer gewesen, turperiode in puncto Weiterbildung abliefern, gleicht ei- zu den Anträgen der Opposition zu sprechen, als dieses nem Armutszeugnis. Sie können sich gar nicht um die inhaltliche Armutszeugnis vorzulegen. Umsetzung einer Weiterbildungsstrategie bemühen, weil Sie schlichtweg keine haben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben in Ihrem Weichspülerantrag nichts Konkre- tes zu bieten, nicht einen Vorschlag, der dieses Jahr noch Gestern hat der Innovationskreis Weiterbildung seine umgesetzt werden könnte. Da kann ich nur an den Kolle- Ergebnisse vorgelegt. Es sind durchaus ein paar gute gen Schneider anschließen: Sie ermuntern, Sie wirken Vorschläge dabei, die jetzt umgesetzt werden müssen. Es darauf hin, Sie begrüßen, Sie prüfen. Das ist ein Doku- bringt nichts, nur etwas auf Papier zu schreiben. Die ment der Unverbindlichkeit. Wie lange wollen Sie noch Bundesregierung muss sich jetzt um die Umsetzung so vorgehen? Schließlich sind Sie an der Regierung. Ma- kümmern; denn sonst werden ihre eigenen Ziele hin- chen Sie zur Abwechslung endlich einmal etwas! sichtlich der Teilnahmequoten eindeutig verfehlt. Sie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15657

Kai Gehring (A) müssen das beim Bildungsgipfel im Herbst hinbekom- Das betraf sowohl die Förderung von Facharbeitern als (C) men; sonst wird das nichts. auch von Akademikern. Das ist sicher ein entscheiden- der Punkt gewesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Das heißt auch, dass man in diesem Bereich Vereinba- CDU/CSU) rungen mit der Kultusministerkonferenz treffen muss. Das scheint mir – ich denke an die Sitzung des Bildungs- Außerdem will ich die geplante Förderung der Weiterbil- ausschusses – nötiger denn je zu sein. Laut KMK ran- dung von Erzieherinnen nennen. Auch das ist ein wichti- giert das Thema Weiterbildung unter „ferner liefen“. ger Punkt, der noch in diesem Jahr umgesetzt werden wird. Nehmen Sie sich ruhig noch einmal unseren Antrag vom Januar 2007 vor. Er beinhaltet etliche gute Projekte, Die Weiterbildungsquote steigt. die Sie direkt in Angriff nehmen könnten. Ich möchte (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nur ein paar Beispiele nennen: Machen Sie einen Pilot- CDU/CSU) versuch für Bildungsberatung an Verbraucherzentralen; die Bereitschaft dazu ist, wie wir aus Gesprächen wis- Wir haben die Herausforderung in zwei Bereichen – dem sen, vorhanden. Erweitern Sie das Meister-BAföG. Sie der Ausbildung und dem des lebenslangen Lernens – an- müssen ja nicht gleich, wie wir das fordern, ein Erwach- genommen. Im Hinblick darauf haben wir Qualifizie- senen-BAföG durchsetzen, wenn die Union zuviel Angst rungsmaßnahmen vorangetrieben. Weiterbildung ist davor hat, könnten aber einen ersten Schritt in diese wichtig, weil es viele Patente, so viel neue Technik in Richtung unternehmen. den Werkstätten, aber auch so viele Veränderungen in den Büros gibt. Schauen Sie sich in einer Werkstatt doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nur einmal eine CNC-Maschine von heute im Vergleich Sorgen Sie dafür, dass Geringqualifizierte besser von zu einer von vor zehn Jahren an. Dann sehen Sie, dass der Bundesagentur für Arbeit gefördert werden! Reser- wir da Weiterbildung benötigen, und genau dafür setzt vieren Sie für diese Gruppe über eine Quote die Hälfte die Bundesregierung sich ein. der Angebote für berufliche Weiterbildung. Starten Sie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ein Pilotprojekt, insbesondere für die kleinen und mitt- leren Betriebe, um Weiterbildungsstrategien zu erarbei- Ich will Ihnen einmal ein paar Zahlen nennen. Das Ar- ten! Hier könnte der britische Small Firm Development beitsministerium hat Integrationsarbeit im Bereich der Account Vorbild sein. Nehmen Sie sich das doch einmal Weiterbildung geleistet. Im Jahre 2005 wurden insge- vor! samt 130 000 Bürgerinnen und Bürger weitergebildet. (B) Im Jahre 2007 waren es fast dreimal so viele; (D) Ich wollte nur ein paar Beispiele für konkrete grüne Vorschläge für eine systematische Weiterbildungsstrate- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gie nennen. Werden Sie endlich Ihren hehren Worten insgesamt sind 340 000 Bürgerinnen und Bürger weiter- vom lebenslangen Lernen gerecht! Legen Sie parlamen- gebildet worden. Es sind Schulabschlüsse und Berufsab- tarische Initiativen vor, die diesen Namen wirklich ver- schlüsse nachgeholt worden. Das war eine wichtige Inte- dient haben! grationsarbeit, die wir in den kommenden Jahren Vielen Dank. weiterhin leisten wollen. Das haben wir innerhalb des Arbeitsministeriums festgeschrieben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrike Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Flach [FDP]: Sie hätten das auch ein paar Herr Kollege, darf ich Ihren Redefluss unterbrechen? Jahre lang tun können! Ein paar Jahre waren Es gibt eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Sie dran!) Schneider. Gestatten Sie diese?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dieter Grasedieck (SPD): Letzter Redner in dieser Debatte ist nun für die SPD- Bitte schön, Herr Schneider. Fraktion der Kollege Dieter Grasedieck. (Beifall bei der SPD) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Danke, Herr Kollege Grasedieck – Sie haben eben die Dieter Grasedieck (SPD): Zahl der Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen der Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Bundesagentur für Arbeit angesprochen. Aus meiner Herren! Meine Damen und Herren von der Opposition, Sicht sind Sie logischerweise auf gerade diesen von Ih- es wird nicht nur geprüft und ermuntert. Wir haben in nen gewählten Zeitraum eingegangen. Würden Sie zu- den unterschiedlichsten Bereichen konkrete Maßnahmen stimmen, dass die Teilnehmerzahlen von 2001 bis 2003 ergriffen. Ich möchte nur einige Beispiele aus der letzten von 350 000 auf die von Ihnen angesprochenen Zeit aufführen. Wir haben zum Beispiel das E-Learning- 130 000 abgesunken sind und dass Sie mit den von Ih- Verfahren mit 1,2 Milliarden unterstützt. nen erwähnten – wie ich eben schon einmal betont habe – durchaus erfreulichen Entwicklungen bis heute nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wieder das Niveau von 2001 erreicht haben, sodass man 15658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) das, was Sie eben gesagt haben, auch ein bisschen kriti- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) scher sehen kann? Ich schließe die Aussprache. (Jörg Tauss [SPD]: Wir sind auch kritisch!) Bei den Tagesordnungspunkten 12 a und 12 b wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Dieter Grasedieck (SPD): Drucksachen 16/8380 und 16/7527 an die in der Tages- Ich bin natürlich auch der Meinung, dass man be- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die stimmte Maßnahmen kritisch hinterfragen muss. Vorlage auf Drucksache 16/7527 zu Tagesordnungs- punkt 12 b soll federführend beim Ausschuss für Bil- (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung beraten [SPD]) werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist Das ist unter anderem durch bestimmte Maßnahmen aus der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. unterschiedlichen Ländern ergänzt worden. In der dama- Tagesordnungspunkt 12 c: Wir kommen zur Abstim- ligen Phase war das wichtig. Da haben wir uns auch um mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses andere Weiterbildungsmaßnahmen bemüht. für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Aber es ist doch erfreulich, dass Sie erkennen, dass auf Drucksache 16/8352. Der Ausschuss empfiehlt unter der erwähnte Anstieg vorhanden ist, dass wir eine Ver- Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des dreifachung der Teilnehmerzahlen haben und dass es Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/785 eine Verbesserung der Weiterbildung für Facharbeiter mit dem Titel „Zukunftsaufgabe Weiterbildung“. Wer gibt. Es ist wichtig, dass wir das in der nächsten Zeit stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage- fortsetzen, und das wollen wir in der Großen Koalition gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei auch fortsetzen. Aber, Herr Schneider, wir sagen auch, Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen dass wir diesbezüglich nicht nur vonseiten des Staates aller übrigen Fraktionen angenommen. eingreifen müssen. Wir müssen auch der Industrie sagen, Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung dass sie bei der Förderung der Weiterbildungsmaßnah- des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/ men mithelfen muss. Es ist entscheidend, dass wir in den 2702 mit dem Titel „Offensive Weiterbildung – Weiter- nächsten Jahren eine Kombination der Anstrengungen bildung als 4. Säule des Bildungswesens ernst nehmen“. von Staat und Industrie haben. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP mit den (B) Darum haben wir uns seit etlichen Jahren bemüht, und Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. (D) auch dabei waren wir erfolgreich, Herr Schneider. Das war eine wichtige Zielsetzung im Hinblick auf die Fach- Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- arbeiter. che 16/8352 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sache 16/4748 mit dem Titel „Lebenslanges Lernen för- CDU/CSU) dern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das ist ein wichtiger Sektor gewesen. Wir meinen Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- aber auch, dass wir das lebenslange Lernen im Rahmen fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen der Akademikerausbildung fördern und unterstützen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion müssen. Man muss sich nur einmal die Zahlen an- Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die schauen: Zum Beispiel werden auf der einen Seite Linke angenommen. 50 000 Ingenieure gesucht und auf der anderen Seite gibt Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- es 20 000 arbeitslose Ingenieure. Daran sehen Sie, dass nung um die Beratung der Beschlussempfehlung des wir lebenslanges Lernen brauchen. Wir müssen das un- Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- terstützen. Das tun wir mit unserem Antrag. Es gibt dort schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Bewegung, vor allem weil die Große Koalition erkannt Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und hat, dass 330 000 Akademiker bis 2013 in den Ruhe- diese jetzt sofort als Zusatzpunkt 7 ohne Aussprache stand entlassen werden, darunter 85 000 Ingenieure. Die aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, Hochschulen, die Universitäten und die Forschungsinsti- das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. tute sind gefordert, hier eine Verbesserung zu erreichen. Ich rufe daher den Zusatzpunkt 7 auf: Wir sprechen das in unserem Antrag an und werden es demnächst konkretisieren. Nur durch Maßnahmen, Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- die dazu dienen, auf der einen Seite die Facharbeiter schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- weiterzubilden und auf der anderen Seite das lebens- schäftsordnung (1. Ausschuss) zu einem Antrag lange Lernen der Akademiker zu unterstützen, können auf wir die Ideenschmiede Nummer eins in Europa bleiben. Genau das werden wir versuchen mit unserem Antrag zu Genehmigung zur Durchführung eines Straf- erreichen. verfahrens (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – Drucksache 16/8433 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15659

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für schaut. Ich bin beispielsweise in Erlangen gewesen und (C) Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt habe dort die Situation mit den Beschäftigten, Vertretern in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8433, der Gewerkschaft Verdi und des Personalrats diskutiert. die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfah- Die Kolleginnen und Kollegen haben mir eindrucksvoll rens zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- geschildert, dass in dem dortigen Universitätsklinikum lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- insgesamt 4 500 Menschen beschäftigt sind, aber von die- schlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen. sen 4 500 Beschäftigten mittlerweile 2 000 in einem be- fristeten Beschäftigungsverhältnis sind. Ich frage mich, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: wie so etwas möglich und ob das vertretbar ist. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer (Beifall bei der LINKEN) Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Der Personalrat hat die Beschäftigten dieses Krankenhau- Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser be- ses zu ihrer Situation befragt. 75 Prozent der Beschäftig- enden ten haben darauf hingewiesen, dass sie mittlerweile an ge- sundheitlichen Beschwerden leiden. 48 Prozent haben – Drucksache 16/8375 – Rückenbeschwerden, 31 Prozent der Beschäftigten leiden Überweisungsvorschlag: an Schlafstörungen und 26 Prozent an schweren Erschöp- Ausschuss für Gesundheit fungszuständen. Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die in der Universitätsklinik Essen Schwestern und Pfleger Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die entlassen wurden, um dann von einer Zeitarbeitsfirma, die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich von der Klinik gegründet wurde, wieder für denselben Ar- höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver- beitsplatz eingestellt zu werden, wobei sie allerdings nur fahren. 60 Prozent des Tariflohnes erhielten. Auch das ist mittler- weile zu einem riesengroßen Problem in den Krankenhäu- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- sern geworden. ner für die Fraktion Die Linke dem Kollegen Frank Spieth das Wort. Die Folge ist, dass der Druck, der auf die Beschäftig- (Beifall bei der LINKEN) ten ausgeübt wird, auch bei den Patienten ankommt. Der Pflegerat und andere, die sich mit der Patientensicherheit beschäftigen, stellen fest, dass dieser Druck mehr und Frank Spieth (DIE LINKE): mehr in eine rationalisierte Versorgung, quasi in eine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Fließbandversorgung in Krankenhausfabriken mündet. (B) (D) Kolleginnen und Kollegen! Es geht um akute Finanzpro- Diese Art der Versorgung wird von den Pflegekräften bleme der Krankenhäuser. Wir alle werden seit Wochen nicht gewollt, aber sie müssen die schnellstmögliche und Monaten von den unterschiedlichsten Verbänden, Versorgung der Patienten gewährleisten, ungeachtet der von Betriebs- und Personalräten und von den Gewerk- massiven Pflegeprobleme, die damit verbunden sind. schaften mit der Tatsache konfrontiert, dass in den Kran- kenhäusern infolge der finanziellen Situation erhebliche (Beifall bei der LINKEN) Probleme entstanden sind. Ich muss sagen: Für einen großen Teil dieser Probleme tragen auch wir durch die Patienten schildern dies als riesiges Problem und fühlen Gesetzgebung der zurückliegenden Jahre die Verantwor- sich außerordentlich unwohl. Der Druck, der dort auch tung. Ich will mich dabei nicht ausschließen. Als Mit- aufgrund der neuen Finanzierungsgrundsätze herrscht, glied der Selbstverwaltung einer gesetzlichen Kranken- führt am Ende dazu, dass sich die Krankenhäuser gegen- kasse habe ich in den zurückliegenden Jahren sehr wohl seitig massiven Konkurrenzdruck schaffen, der in der die Auffassung vertreten – ich finde, die konnte man letzten Konsequenz dann wiederum die Beschäftigten vertreten –, dass in den Krankhäusern Wirtschaftlich- trifft. keitsreserven gehoben werden und wir alles unterneh- men müssen, um die Mittel im Interesse der Patienten, Die Beschäftigten im Gesundheitswesen fordern der- aber auch im Interesse der Beitragszahler so effizient zeit über Verdi eine Tariferhöhung von 8 Prozent, die mit wie möglich einzusetzen. Ich bin allerdings der Auffas- den jetzigen gesetzlichen Gegebenheiten nicht zu finan- sung, dass wir im letzten Jahr mit dem GKV-Wettbe- zieren ist. Deshalb sagen wir wie die bei Verdi organi- werbsstärkungsgesetz ein ganzes Stück über das Ziel hi- sierten Beschäftigten: Der Deckel muss weg, zumindest nausgeschossen sind. Deshalb ist der Antrag, den wir als bei der Personalkostenentwicklung. Linke stellen, die richtige Antwort auf die Probleme. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Nach meiner Auffassung ist es an der Zeit, den Beschäf- Wir müssen nach unserer Auffassung in der Tat die tigten in diesem Jahr einen Schluck aus der Pulle zuzu- Fesseln der Krankenhäuser lösen, wenn wir nicht wesent- gestehen, nachdem sie jahrelang über Lohnverzicht und liche Teile des Gesundheitswesens, die stationäre Versor- Notlagentarifverträge ihren Beitrag zur Sanierung der gung, insbesondere in den strukturschwachen Räumen ge- Krankenhäuser geleistet haben. Dies geht aber nur, wenn fährden wollen. Ich habe mir in den letzten Wochen, wir hier im Haus dazu beitragen und die Deckelung, die ähnlich wie Sie das getan haben, die Verhältnisse in Kran- insbesondere im personellen Sektor vorgesehen ist, zu- kenhäusern und Universitätskliniken sehr genau ange- rücknehmen. 15660 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den Euro und die Anhebung der aktuellen Grundlohn- (C) Herr Kollege, ich muss Sie auf die Redezeit hinwei- summenrate 0,4 Milliarden Euro. Zusammen macht das sen. 2,4 Milliarden Euro. Dies allein würde den durchschnitt- lichen Beitrag der gesetzlichen Krankenversicherung auf Frank Spieth (DIE LINKE): über 15 Prozent anheben. Zu finanzieren wäre dies, ohne Ich komme zum Ende. – Ich bitte Sie daher, unserem dass damit eine einzige Leistungsverbesserung für Pa- Antrag zuzustimmen. tienten verbunden wäre, von den Mitgliedern der gesetz- lichen Krankenversicherung und den Arbeitgebern. Danke. Eine weitere Forderung betrifft die Behebung des In- (Beifall bei der LINKEN) vestitionsstaus in den Krankenhäusern. Hierdurch kä- men weitere 3 bis 5 Milliarden Euro an Beitrags- oder Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Steuermitteln im Jahr hinzu, wenn man dies auf zehn Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Georg Jahre ausdehnte. Dies sind also die Größenordnungen, Faust für die CDU/CSU-Fraktion. über die wir bei Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von den Linken, reden müssen. Sie bestellen kranken- Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): hauspolitische Traumreisen und wissen genau, dass Sie sie nicht bezahlen können. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Fraktion Die Linke und insbesondere mein Kol- (Beifall bei der CDU/CSU – lege Frank Spieth nicht so hektisch auf das im Februar er- [CDU/CSU]: Wie immer!) schienene Gutachten des Rheinisch-Westfälischen Insti- tuts für Wirtschaftsforschung reagiert und sich für die Was die in der Begründung aufgeführten Mehrbelastun- Recherche und die Formulierung des Antrags, der heute gen für die Krankenhäuser betrifft, muss sehr genau hin- zur Debatte steht, mehr Zeit genommen hätten, wäre et- geschaut werden. Die Zahlen der DKG allein geben ein was Positives herausgekommen. Aber so stehen Dichtung unscharfes Bild. Stichwort „Arbeitszeitgesetz“: § 4 Abs. 13 und Wahrheit eng nebeneinander. Dennoch lohnt es sich, Krankenhausentgeltgesetz regelt, dass von 2003 bis auf die Aussagen, Argumente und Lösungsansätze des 2009 ein jährlich um 100 Millionen Euro ansteigender Antrags einzugehen. Betrag zur Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes zur Ver- fügung steht. Dieser Betrag wurde bisher nicht voll ab- In der Begründung wird ein Bild von einem Drama in gerufen. Stichwort „Arzt im Praktikum“: § 4 Abs. 14 den Krankenhäusern mit wenig Zuwendung für Patien- Krankenhausentgeltgesetz regelt die Gegenfinanzierung ten, schnellen Entlassungen ohne gute nachstationäre durch Zuschläge und Zusatzentgelte. Stichwort „Mehr- (B) Versorgung, besorgniserregenden baulichen Zuständen wertsteuererhöhung“: Das ist ein Kostenfaktor des Ge- (D) und steigenden Infektionsraten gezeichnet. Das, was setzgebers – in Ordnung. Aber dann gebietet es die Herr Spieth eben dargelegt hat, ging in die gleiche Rich- Ehrlichkeit, die Reduzierung des Arbeitslosenversiche- tung. rungsbeitrags in vergleichbaren Millionengrößen gegen- Am letzten Dienstag und am letzten Donnerstag habe zurechnen. Das wurde schlichtweg vergessen oder unter- ich wieder einmal in meinem alten Krankenhaus als An- lassen. ästhesist im Operationssaal gearbeitet. Ich weiß, wie sich (Beifall bei der CDU/CSU – Annette die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern verän- Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das will man dert haben: leider nicht immer zum Besten. Es ist auch nicht wahrhaben!) wahr, dass manche Probleme und Defizite durch die auf- opferungsvolle Arbeit der Schwestern und Pfleger, der Mit meinen Anmerkungen will ich die Situation der Ärztinnen und Ärzte sowie des sonstigen Personals kom- Krankenhäuser wirklich nicht schönreden. Natürlich ist pensiert werden. Ich halte es aber für unverantwortlich, es so, dass sich der finanzielle Druck erhöht hat. Die ein Horrorszenario über die Zustände in deutschen Kran- Krankenhauslandschaften verändern sich. Wir müssen kenhäusern zu beschwören. Es wäre aber ebenso unver- aufpassen, dass in einzelnen Bereichen Deutschlands antwortlich, zu verschweigen, dass es infolge von Kon- keine dürren Krankenhaussteppen oder gar krankenhau- vergenzphase, Bettenabbau und steigenden Fallzahlen sentleerte Wüsten entstehen. Aber es ist eben nicht so, zur Arbeitsverdichtung gekommen ist. Der bauliche Zu- wie es in der Begründung des Antrags heißt, dass die stand vieler Krankenhäuser – interessanterweise jetzt be- Bundesregierung es dem Wettbewerb, also dem freien sonders in den alten Bundesländern – lässt zu wünschen Spiel der Kräfte überlässt, wer am Markt weiter existie- übrig, und langsam zeichnet sich eine Entwicklung ab, ren kann. Hier sind die Länder mit ihrer Krankenhaus- die wir in Bund und Ländern korrigieren müssen. planung mit Blick auf die Daseinsvorsorge gefragt. Es müssen Kriterien für eine sich an den Bedürfnissen der Zurück zum Antrag: Es wäre kein Antrag der Linken, Patienten orientierende Planung erarbeitet werden, die wenn er nicht finanzielle Forderungen enthielte, für die Erreichbarkeit, Zugang zu Leistungen und die Art des keine Deckungsvorschläge gemacht werden. Die Aufhe- Angebots umfassen. bung des Sanierungsbeitrags macht 0,3 Milliarden Euro aus, wobei dem Antrag nicht zu entnehmen ist, ob auch Dann müssen natürlich, wie es in § 5 Abs. 2 Kranken- die Halbierung des Mindererlösausgleichs eingerechnet hausentgeltgesetz geregelt ist, für die Vorhaltung von wurde, die Gegenfinanzierung der Lohn- und Gehaltsab- Leistungen, die aufgrund des geringen Versorgungsbe- schlüsse 2008 je nach Tarifabschluss um die 1,7 Milliar- darfs nicht kostendeckend finanzierbar und zur Sicher- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15661

Dr. Hans Georg Faust (A) stellung der Versorgung der Bevölkerung notwendig Hier werden sich der Bund und die Länder an den Ent- (C) sind, Sicherstellungszuschläge vereinbart werden. Si- scheidungen zum ordnungspolitischen Rahmen 2009 cherstellungszuschläge können ein Weg sein, der Gefahr messen lassen müssen. Dauerhafte Verbesserungen sind von Unterversorgung zu begegnen. allemal besser als eine Notreparatur am laufenden Kran- kenhausmotor, auch wenn ein Stottern droht. Der kurzatmige Antrag wird zu einer Zeit gestellt, in der wir uns Gedanken um den ordnungspolitischen Rah- (Beifall bei der CDU/CSU) men für die Krankenhäuser ab 2009 machen. Da werden Ihre Sorge um die Krankenhäuser in allen Ehren, Herr uns zwei Fragen wieder begegnen, die auch in diesem Spieth: Die Lösungsansätze scheitern kurzfristig am Geld. Antrag eine Rolle spielen. Frage eins: Ist die Anbindung Ihnen fehlt die langfristige Perspektive, und Ihre Argu- an die Grundlohnsumme die richtige Größe zur Entwick- mente in der Begründung helfen da auch nicht weiter. lung der Krankenhausfinanzen? Wir werden also leider Ihren Antrag folgerichtig ableh- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: nen müssen. Sicher nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frage zwei: Wie ist die Investitionsfinanzierung in den neten der FDP – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: deutschen Krankenhäusern dauerhaft zu sichern? Ich glaube, der Kollege Spieth zieht den An- trag zurück!) Was die Anbindung an die Grundlohnsummenent- wicklung betrifft, haben wir diese in einem vergleichba- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ren Bereich, dem Bereich der niedergelassenen Ärzte, Nächster Redner ist der Kollege Daniel Bahr für mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz gelöst. Jetzt FDP-Fraktion. werden andere Parameter wie Morbiditätsveränderungen oder die Entwicklung der für Arztpraxen relevanten In- (Beifall bei der FDP) vestitions- und Betriebskosten als Steigerungsfaktoren berücksichtigt. Damit haben wir uns im Bereich der nie- Daniel Bahr (Münster) (FDP): dergelassenen Ärzte von der bisherigen Budgetierung Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- verabschiedet. legen! Herr Spieth hat davon gesprochen, dass er, bevor (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Gott er dem Deutschen Bundestag angehörte, die Auffassung sei Dank!) vertrat, man könne Wirtschaftlichkeitsreserven in den Krankenhäusern noch heben und Einsparungen vorneh- Gleiches erscheint mir aus Gründen eines fairen Wett- men, man sei aber mit dem GKV-WSG über das Ziel hi- (B) bewerbs zwischen ambulant und stationär auch für den nausgeschossen. (D) Krankenhaussektor nötig. Auf die Frage, wie man mit Tarifsteigerungen in diesem Sektor umgeht, die im Das Problem ist, Herr Kollege Spieth, dass wir den Krankenhaus eher als im niedergelassenen Bereich zu- Krankenhäusern gerade keinen wettbewerblichen Rah- lasten Dritter von den Tarifpartnern vereinbart werden men bzw. keinen Ordnungsrahmen geben, in dem Wirt- können, kann man intelligente Antworten finden. schaftlichkeitsreserven gehoben werden können. Wir bie- ten den Krankenhäusern nicht den notwendigen Rahmen, Zur Beantwortung der Frage zwei brauchen wir die damit sie im gegenseitigen Wettbewerb um bessere Ver- Länder. Bei Zugrundelegung einer für den Krankenhaus- sorgung, um innovative Konzepte und um Einsparungen bereich angemessenen Investitionsquote von 9 Prozent dafür sorgen können, dass diese Wirtschaftlichkeitsreser- – sie ist ebenfalls nicht luxuriös – zeigt die tatsächliche ven gehoben werden. Wir geben den Krankenhäusern ei- Investitionsquote von 5,3 Prozent auf, wie groß das Pro- nen starren, reglementierten Rahmen von Budgets, Ein- blem ist. Dafür sind jährlich 5 Milliarden Euro notwen- heitspreisen und immer mehr Vorgaben. Wir ermöglichen dig, den Abbau des Investitionsstaus nicht eingerechnet. ihnen letztlich nicht, Kostensteigerungen an diejenigen Das erfordert dann noch zusätzliche Mittel. Hier haben weiterzuleiten, die all das finanzieren. Deswegen können die Antragsteller recht: Die Lösung des Problems ist nur wir in diesem Rahmen keine Wirtschaftlichkeitsreserven mit den Ländern gemeinsam zu finden. Eine reine Um- heben. stellung der dualen Finanzierung auf ein monistisches System ohne zusätzliche Finanzmittel kann das Problem Dazu hat die schwarz-rote Koalition meines Erach- nicht lösen. tens erheblich beitragen. Im Jahre 2007 – die Zahlen lie- gen jetzt vor – sind die Budgets statistisch um 0,56 Pro- Sie sehen also: Auch eine technisch schwierige Rück- zent gestiegen. Netto war das eine Steigerung um zahlung des – auch aus meiner Sicht unglücklichen – Sa- 0,28 Prozent. Gleichzeitig haben wir aber Kostensteige- nierungsbeitrags an die einzelnen Krankenhäuser ist rungen um 4 Prozent, die dem gegenüberstehen. Man nicht zielführend; denn die Krankenhäuser brauchen am braucht kein großer Mathematiker zu sein, um zu sehen, Ende der Konvergenzphase mittel- und langfristige Per- dass diese Defizite, die die Krankenhäuser auszuglei- spektiven, die sich auf Sicherung der Betriebskosten, chen haben, insgesamt 1,3 Milliarden Euro betragen. planbare Mittelzuflüsse bei den Investitionen und Stand- ortsicherheit erstrecken. Rationalisierungsreserven bei den Krankenhäusern sind nur insofern vorhanden, als Personal abgebaut werden (Frank Spieth [DIE LINKE]: Also stimmen kann oder sonst beim Personal eingespart werden kann; Sie unserem Antrag zu!) denn bei den Krankenhäusern sind 60 bis 70 Prozent der 15662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Daniel Bahr (Münster) (A) Kosten Personalkosten. Das heißt, die Rationalisierung, schiert werden. Sie brauchten Geld, um die Leistungsver- (C) die die Krankenhäuser im Moment durchführen, geht zu- besserungen, die Sie versprochen haben, zu ermöglichen lasten der Versorgung, zulasten der Patienten. und um das schlechte Finanztableau nach einer verkorks- ten Gesundheitsreform einigermaßen zu kaschieren. ( [FDP]: Leider wahr!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Die Zu erwähnen ist eine weitere Entscheidung, die die Ausgaben der Krankenhäuser steigen doch! schwarz-rote Koalition zu verantworten hat. Dabei geht Über 5 Prozent im letzten Jahr!) es um die Kostensteigerungen, die die Krankenhäuser zu schultern haben. Bei den Krankenhäusern höre ich, dass Der Sanierungsbeitrag ist von Ihnen inhaltlich überhaupt die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen vor Ort viel nicht begründet worden. Das wird auch noch Gerichte Verständnis für ihre Sorgen haben, hier im Bundestag beschäftigen. Zu Recht klagen einige und wollen vor aber keine Konsequenzen daraus ziehen. Gericht begründet sehen, warum dieser Sanierungsbei- trag erhoben wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Heinz Lanfermann [FDP]: Das soll die Koali- tion sanieren!) Auch Herr Kollege Faust hat gesagt, er sehe die Pro- bleme der Krankenhäuser durchaus. Mein Hauptkritikpunkt ist: Der Sanierungsbeitrag ist nicht begründet und trifft in der schwierigen Situation Ich will noch einmal aufzählen, was die Krankenhäu- der Krankenhäuser pauschal alle Krankenhäuser. ser erlebt haben: Sie haben eine Mehrwertsteuererhö- hung erlebt; 500 Millionen Euro Kostensteigerung. Sie Ich bin dafür, dass wir über wettbewerbliche Modelle haben Tarifsteigerungen erlebt; 1,5 Milliarden Euro Kos- Wirtschaftlichkeitsreserven heben. Wir wollen einen tensteigerung. Sie haben Energiekostensteigerungen er- wirklichen Wettbewerb der Krankenhäuser untereinan- lebt. Sie haben ein Arbeitszeitgesetz umzusetzen – auch der. das verlangt die Koalition ihnen ab –, was bedeutet, dass sie mehr Personal einstellen müssen, weil Bereitschafts- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) zeit auch Arbeitszeit wird; ebenfalls eine Kostensteige- Es gibt gut geführte Krankenhäuser. Es gibt Kranken- rung. Den Krankenhäusern werden unter dem Stichwort häuser, die noch Potenzial haben, Einsparungen vorzu- „integrierte Versorgung“ 500 Millionen Euro von den nehmen. Aber das Wichtige dabei ist, dass wir Verläss- Rechnungen abgezogen. Die ersten Erkenntnisse zeigen, lichkeit haben. dass die Krankenhäuser nicht die Möglichkeit haben, dieses Geld, das ihnen von den Rechnungen abgezogen Herr Faust, Sie haben die Anpassung an die Entwick- (B) wird, über Verträge zur integrierten Versorgung wieder lung der Grundlohnsumme angesprochen. Dazu möchte (D) hereinzuholen. ich Ihnen sagen: Sie haben diese Anpassung immer so vorgenommen, wie es gerade passte, und dabei die Be- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das messungsgrundlage so gewählt – mal je Mitglied, mal je stimmt so nicht!) Versicherten –, dass am Ende dabei immer die geringere Es war übrigens auch Ihre Entscheidung, den Kranken- Anpassung für die Krankenhäuser herauskam. häusern für die vergangenen Jahre die Möglichkeit zu (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ nehmen, wieder an das Geld zu kommen. Sie haben die CSU) Naturalrabatte für die Krankenhäuser gestrichen. Ich sage: Man kann harte Einschnitte vornehmen. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Aber Man kann ein wettbewerbliches System in Form von Rabattverträge eingeführt!) DRGs einführen, das Krankenhäuser vor Herausforde- Auch das ist eine Kostensteigerung. rungen stellt. Aber dabei ist ein ganz wichtiger Punkt zu beachten: Es muss Verlässlichkeit gegeben sein, damit Vor diesem Hintergrund kommt die schwarz-rote sich die Krankenhäuser über einen Zeitraum von mehre- Koalition nicht etwa auf den Gedanken, zu fragen: Wie ren Jahren darauf einstellen können. Es geht nicht an, unterstützen wir die Krankenhäuser dabei, mit diesen dass jedes Jahr etwas Neues gemacht wird. Der Sanie- Kostensteigerungen umzugehen? Nein, sie streicht den rungsbeitrag ist hierfür ein ganz schlechtes Beispiel; Krankenhäusern auch noch 0,5 Prozent von jeder Rech- denn Sie nehmen, um einen kurzfristigen Effekt zu er- nung. Das macht Summa summarum 300 Millionen zielen, den Krankenhäusern pauschal Geld weg. Euro. Das ist der sogenannte Sanierungsbeitrag. (Beifall bei der FDP) Ich war gespannt, Herr Kollege Faust, was Sie zum Sanierungsbeitrag sagen würden. Es ist Ihnen bis heute Das werden die Patienten und Versicherten bei der Ver- nicht gelungen, zu begründen, warum eigentlich ein sol- sorgung vor Ort spüren. cher Sanierungsbeitrag von den Krankenhäusern getra- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gen werden muss. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Mit dem Sanierungsbeitrag – 300 Millionen Euro – soll Nächster Redner ist der Kollege Eike Hovermann für doch nur eine schlecht gemachte Gesundheitsreform ka- die SPD-Fraktion. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15663

(A) Eike Hovermann (SPD): batte. Ich will das nur in Erinnerung rufen, weil man (C) Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! auch nicht immer das jeweilige – – Als Mitglied einer der Koalitionsfraktionen trage ich na- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wenn das der türlich das eine oder andere gerne mit, was Herr einzige Punkt ist, den Sie an meiner Rede kriti- Dr. Faust in seinem Redebeitrag ausgeführt hat. Ich will sieren, kann ich damit leben!) nur an einem Punkt Kritik äußern: Er sagte, man müsse den vorliegenden Antrag leider ablehnen. Wir dagegen – Frau Präsidentin, der verwirrt mich. Ich kann nicht sagen: Wir lehnen ihn in vollem Bewusstsein ab. Es gibt weitersprechen. eine ganze Reihe von Argumenten, über die noch gar nicht diskutiert worden ist. Ich will auf das eine oder an- (Lachen bei der FDP) dere dieser Argumente eingehen, aber auch auf das, was Ich möchte nur darauf hinweisen, dass man Argu- Herr Bahr gesagt hat. mente nicht je nach Sachlage austauschen darf. Umge- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist nur kehrt haben Sie uns ja diesen Vorwurf gemacht, als Sie gut!) davon sprachen, wir würden bei der Anbindung an die Grundlohnsumme je nach Sachlage mal so oder so ver- Natürlich haben wir viel Verständnis für die Kranken- fahren, gerade so, wie es uns gerade gefiele. Eine inte- häuser vor Ort, die sich in einer Notsituation befinden. grierte Versorgung, also gleich lange Spieße und gute Aber wir sollten uns der intellektuellen Redlichkeit hal- Medikamentierung durch den gesamten Behandlungs- ber sehr darum bemühen, nicht von „den Krankenhäu- pfad, ist nicht möglich, wenn Naturalrabatte gewährt sern“ zu sprechen. Vielmehr sollten wir uns der Frage werden. Insofern ist Ihre Kritik daran ein schlechtes Ar- zuwenden, wie viele Krankenhäuser wir in der Bundes- gument. republik Deutschland eigentlich noch benötigen. Eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist sehr schmerzhaft. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber wir müssen sie gemeinsam angehen und uns auch Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des darüber verständigen, in welchen Entfernungsabständen Kollegen Spieth? wir Krankenhäuser benötigen.

(Dr. [FDP]: Zentralistische Eike Hovermann (SPD): Entscheidung!) Herr Spieth, lassen Sie mich erst auf Ihre vier Punkte – Herr Dr. Schily, jetzt einmal ganz langsam. Es gibt ja eingehen. Dann können Sie in cumulo Ihre Fragen stel- nicht „die Krankenhäuser“. – Auch Herr Bahr hat sich len, und ich kann sie in cumulo beantworten oder auch nicht der Frage zugewandt, wie viele Betten leistungsfä- nicht. Dass nicht alles gut ist, Herr Spieth, das wissen (B) (D) hige Krankenhäuser haben sollten. Es gibt also einen wir ja. ganzen Strauß an Überlegungen, mit dem wir uns in Zu- Ich darf noch einmal mit aller Zurückhaltung daran kunft intensiver und straffer beschäftigen müssen. Das erinnern, dass sich in den Töpfen der GKV insgesamt tun wir aber nicht, weil wir Angst davor haben, in den 145 Milliarden Euro befinden und wir jährlich 50 Mil- jeweiligen Wahlkreisen die Schließung von „Bürger- liarden Euro für die stationäre Versorgung ausgeben – meisterkrankenhäusern“ oder „Landratskrankenhäusern“ mit steigender Tendenz. In fast keinem Land der Welt zu befördern, die, gemessen an den Qualitätskriterien, steht dafür so viel Geld zur Verfügung. Die Engländer, die wir selbst aufgestellt haben, nicht leistungsfähig Italiener und Amerikaner würden sich freuen, wenn sie sind. den Qualitätsstandard und Versorgungsstandard hätten, Sie merken vielleicht, dass ich im Moment noch nicht den wir haben. Damit sagen wir nicht, dass dies nicht auf den Antrag der Linken eingehe; aber ich bin sehr ge- verbessert werden kann. Aber Ihre vier Punkte – jetzt spannt, ob die FDP dem Antrag zustimmen wird. Wir kann ich mich fast nur dem anschließen, was Herr müssen einmal schauen, was daraus wird. Dr. Faust gesagt hat – versprechen Wohltaten, ein Wohl- gefühl, und Sie werden auf Zustimmung stoßen. Aber Herr Bahr, Sie haben dann von den Belastungen ge- bezüglich eines Punktes haben Sie nichts geliefert: Wie sprochen, mit denen die Krankenhäuser zu kämpfen ha- soll das Ganze finanziert werden? Ich habe eben gehört, ben, und sind auf das Arbeitszeitgesetz eingegangen, das das sei ein langweiliges Argument. noch umgesetzt werden muss. Sie haben die von Montgomery bzw. seinem Nachfolger Henke und von (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ist nicht meines!) Verdi geforderten Tarife angesprochen. Richtig, auch das Dann will ich eben weiterhin langweilig sein. In keinem bringt Belastungen mit sich. Sie haben weiterhin die der vier Punkte haben Sie auch nur ansatzweise einen steigenden Energiepreise erwähnt. nachhaltigen Finanzierungsvorschlag gemacht. Es verwundert mich allerdings, dass Sie ausgerechnet (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das ist bei die Belastung durch den Wegfall der Naturalrabatte an- Anträgen nicht üblich! Das haben wir schon sprechen. Im Zusammenhang mit der integrierten Ver- im Haushalt gemacht!) sorgung haben Sie selbst noch davon gesprochen, dass die Spieße gleich lang sein müssten und die sektorale – Darauf hätte man in einigen Wendungen eingehen kön- Versorgung im Grunde verhindert hat, einen finanziellen nen. – Der Titel des Antrages ist irreführend. Denn so zu Ausgleich zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang tun, als könne man mit den dort aufgeführten vier Punk- sprachen Sie auch von der Abschaffung der Naturalra- ten die aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden, 15664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Eike Hovermann (A) ist unseriös. Wenn Sie nicht die gesamten Versorgungs- Ich möchte nun auf einen konkreten Punkt eingehen. (C) segmente in Ihre finanziellen Überlegungen mit einbe- Die Bundesregierung hat bei der Festlegung der Steige- ziehen, dann können isolierte Maßnahmen, wie Sie sie in rungsrate der Grundlohnsumme, also der Einkommens- diesen vier Punkten vorschlagen, nur in die Irre führen. entwicklung der Krankenversicherten, einen Betrag von 0,64 Prozent festgelegt. Dies beruht auf der Grundlage (Frank Spieth [DIE LINKE]: Darf ich jetzt?) einer Schätzung im zweiten Quartal 2006 und ersten – Ich bin doch noch gar nicht bei dem vierten Punkt. Quartal 2007. Was bleibt Ihnen, Herr Spieth, übrig, wenn Sie so weitermachen? Sie werden dann zu den Hausärzten ge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: hen und sagen: Sie haben noch zu wenig in ihrem Topf. Herr Kollege, bitte konzentrieren Sie sich auf Ihre Sie werden zu den Fachärzten gehen und sagen: Sie ha- Frage. ben noch zu wenig in ihrem Topf. Das alles summiert sich zu den Beitragsanhebungen, von denen Herr Faust Frank Spieth (DIE LINKE): eben gesprochen hat. Ich komme sofort zu meiner Frage. Ohne Vorbemer- Zur dualen Finanzierung ist bereits das Notwendige kungen wird sie nicht verständlich. Entschuldigung! gesagt worden. Ich darf aber daran erinnern, dass die Das heißt also, diese 0,64 Prozent sind der Betrag, um duale Finanzierung auch in den Ländern, in denen Sie den die Krankenhausbudgets steigen dürfen. Tatsächlich Regierungsverantwortung mitgetragen haben und noch hat der Schätzerkreis – da ist das Bundesgesundheits- mittragen, nicht infrage gestellt wird. Diese Länder sa- ministerium genauso beteiligt – festgestellt, dass die gen vielmehr: Unsere Aufgabe der Sicherstellung – das Grundlohnsumme im Jahre 2008 um 1,4 Prozent steigen war ehemals Mecklenburg-Vorpommern, jetzt ist es Ber- wird. Das heißt, wir haben, wenn dieser Betrag angesetzt lin – wollen wir wahrnehmen. Ohne uns gibt es keine Si- würde, mehr als 600 Millionen Euro zusätzlich zur Ver- cherstellung. fügung. Ist das ein Deckungsvorschlag oder nicht? Das Problem, Herr Spieth, ist nur, dass kein Geld vor- (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Stehen bleiben! – handen ist. Daher rührt der Investitionsstau von 15 bis Gegenruf des Abg. Frank Spieth [DIE 20 Milliarden Euro in den Krankenhäusern, je nachdem, LINKE]: Entschuldigung! Das mache ich wie man rechnet. Für all dies liefern Sie nicht einmal an- gerne, wenn es hilft!) satzweise einen seriösen und nachhaltigen Finanzie- rungsvorschlag. Deshalb lehnen wir von der SPD, Herr Dr. Faust, diesen Antrag nicht leider ab, sondern ener- Eike Hovermann (SPD): (B) gisch und grundsätzlich. Herr Spieth, ich möchte auf die Grundlohnsumme (D) und die Schere, die aufgrund der ursprünglich angenom- Herzlichen Dank fürs Zuhören. Die restlichen Argu- menen 0,64 Prozent, der durch den Schätzerkreis ermit- mente hat Herr Dr. Faust schon genannt. telten 1,4 Prozent und der realen Zuwächse bei den Aus- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist jetzt gabevolumina in Höhe von 3 Prozent entstanden ist, gemein!) eingehen. Sie vertrauen auf den Schätzerkreis, der zu- künftige Belastungen gar nicht eingerechnet hat und – Herr Spieth, ich bitte um Entschuldigung, dass ich sagt: Eine Steigerung der Krankenhausbudgets um schon weglaufen wollte. Ich habe richtig Angst. 1,4 Prozent reicht. – Ich sage: Dies reicht hinten und vorne nicht. Das ist ein halbgares Angebot. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Zuruf von der FDP) Sie gestatten die Zwischenfrage des Kollegen Spieth? Eigentlich hätten Sie, wie dies im ambulanten Sektor Eike Hovermann (SPD): der Fall ist, die Loslösung der Budgetsteigerungen von Aber gerne. Ich hoffe, ich kann die Frage beantwor- der Grundlohnsummenentwicklung – Herr Dr. Faust ist ten. bereits darauf eingegangen – fordern müssen. Nur, dann fehlt – alter Hase hin, alter Hase her – zumindest ansatz- weise der Hinweis, wie Sie diesen Aufwuchs überhaupt Frank Spieth (DIE LINKE): berechnen wollen. Das ist auch im Zusammenhang mit Im Hinblick auf Anträge an die Bundesregierung gibt den Haushaltsberatungen nicht gesagt worden. es die Systematik, dass man formuliert, was man will, und dass man dann beauftragt wird, einen entsprechen- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wenn mir die den Gesetzentwurf vorzulegen. Präsidentin die Möglichkeit bietet, mache ich das!) (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das machen Sie sehr gerne! – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Frau Präsidentin, was machen wir denn jetzt? An die Bundesregierung stellen wir keine An- träge!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dann wird auch konkretisiert, was das kostet und wie Wenn Sie dem Kollegen Spieth noch einmal die Gele- man das finanziert. Das ist so. Das müssten Sie als alter genheit zu einer Zwischenfrage geben möchten, dann Hase eigentlich sehr genau wissen. können Sie das gerne tun. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15665

(A) Eike Hovermann (SPD): Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Ja, natürlich. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der auf den letzten Drücker vorgelegte Antrag der Linken ist si- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: cherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Das werden Ich bitte aber, zu berücksichtigen, dass wir den Dialog inzwischen wohl auch die Kolleginnen und Kollegen der nicht ins Unendliche führen können. – Bitte. Linken ahnen. Die Situation ist aber in vielen Krankenhäusern in der Frank Spieth (DIE LINKE): Tat schwierig; das haben meine Vorrednerinnen und Vor- Herr Hovermann, der entscheidende Punkt ist, dass redner ja auch nicht bestritten. Das Krankenhaus droht hier eine Differenz besteht, da von der Bundesregierung zum kranken Mann des Gesundheitswesens zu werden: eine Grundlohnsummensteigerung von 0,64 Prozent an- Pflegepersonal wird abgebaut. Der Betreuungsschlüssel genommen wurde, sie laut Schätzerkreis im Jahr 2008 wird verringert. Medizinisches und nichtmedizinisches aber 1,4 Prozent betragen wird. Das sind reale Mehrein- Personal wird oftmals volkswirtschaftlich unsinnig aus- nahmen für die gesetzliche Krankenversicherung und gegliedert und anschließend deutlich schlechter bezahlt. entspricht rund 600 Millionen Euro. Daneben ist in der Die Ärzteschaft hat oftmals keine Zeit für ihre Patientin- gesetzlichen Krankenversicherung ein Mitgliederzu- nen und Patienten, weil sie mit bürokratischen Dingen wachs zu verzeichnen, was auch berücksichtigt werden belastet wird, oder verliert den Kontakt zu den Patienten muss. Wenn ich das hinzurechne, ist der Betrag, den wir im Schichtdienstgewirr. fordern, schon fast zur Hälfte finanziert. An dieser Situation hat die Koalition einen erhebli- Ich bin der Auffassung, dass die Versichertengemein- chen Anteil. Unserer Meinung nach hat sie mit ihren schaft bereit wäre, eine qualifizierte, flächendeckende politischen Entscheidungen die Rahmenbedingungen für Versorgung im Krankenhaussektor über eine Beitragser- die Krankenhäuser verschlechtert. Eine Reihe von Bei- höhung von 0,1 Prozent zu finanzieren. Darüber könnte spielen ist genannt worden: Mehrwertsteuererhöhung, die restliche 1 Milliarde Euro finanziert werden, die wir Sanierungsbeitrag, die Umsetzung der Arbeitszeitrichtli- bräuchten. So könnte im Übrigen das Personal in den nien. Diese Liste ließe sich fortführen. Über den Ge- Krankenhäusern zu humanen Bedingungen beschäftigt sundheitsfonds und dessen fatale Auswirkungen brauche und vernünftig bezahlt werden. ich eigentlich gar nicht mehr zu reden. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber das haben Sie (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das macht die hier nicht beantragt, Herr Spieth!) Koalition schon selbst!) (B) (D) Dazu hat der Kollege Lauterbach von der SPD in den Eike Hovermann (SPD): vergangenen Tagen alles Nötige gesagt. Die Antwort hat Herr Bahr gegeben: Das haben Sie (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Und Herr Huber nicht beantragt. und Herr Beckstein und Frau Schmidt!) Ich bleibe dabei: Der Aufwuchs, der sich durch die Alles in allem ist das ein politisch organisiertes Finan- Steigerung der Grundlohnsumme um 1,4 Prozent ergibt, zierungsdefizit in Milliardenhöhe. ist nicht einmal die Hälfte dessen, was benötigt wird. Sie dürfen nicht nur die Veröffentlichungen des RWI lesen, Ich will an dieser Stelle aber auch auf die aktuellen sondern sollten auch die Zahlen des Verbandes der Kran- Vorschläge aus dem Bundesgesundheitsministerium zum kenhausdirektoren oder die Ausführungen der DKG zur künftigen ordnungspolitischen Rahmen im Kranken- Kenntnis nehmen. Sie hätten fordern müssen – das hätte hausbereich eingehen. Da findet man zum Beispiel die in Ihrem Antrag stehen müssen –: Aufhebung der Anbin- bei einer großen Krankenkasse geborgte Idee, Rabattver- dung an die Grundlohnsummenentwicklung wie im am- träge zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen für bulanten Bereich. Das steht aber mit keinem Wort in die- bestimmte, angeblich planbare Leistungen – das sind die sem Antrag, und mit nur einem Halbsatz erklären Sie, sogenannten Selektivleistungen – zu ermöglichen. Die wie Sie das machen wollen. Folge dieser Regelung wäre keineswegs ein Wettbewerb um die beste Qualität, sondern ein zerstörerischer Preis- Ich bleibe bei meiner aus Ihrer Sicht falschen Mei- wettbewerb, der zulasten der Versorgungsqualität gehen nung: Wir lehnen den Antrag energisch ab. und den Erhalt der flächendeckenden Notversorgung in- frage stellen würde. Es ist erstaunlich, dass mit Ulla (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Otto Schmidt ausgerechnet eine Sozialdemokratin die Tür für Fricke [FDP]: Haben die euch im Ausschuss eine weitere Kommerzialisierung des Gesundheits- nicht reden lassen, oder was?) wesens öffnen möchte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und bei der LINKEN) Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Harald Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Zu den Problemen, die es bei der Investitionsfinanzie- rung gibt: Aus dem Gesundheitsministerium ist kein (Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt lassen Sie bitte Vorschlag zu vernehmen, wie die Kassen und die Länder keine Zwischenfragen zu, Herr Kollege!) gleichermaßen in die Verantwortung genommen werden 15666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

Dr. Harald Terpe (A) können und so zumindest ein Hauch einer Realisierungs- Kauch, Eva Bulling-Schröter, Sylvia Kotting-Uhl und (C) chance gegeben wäre. Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug.1) Noch ein paar Worte zu den Vorschlägen der Links- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- fraktion. Niemand kann die Rückkehr zur bedingungslo- wurfs auf Drucksache 16/8307 an die in der Tagesord- sen Selbstkostendeckung ernsthaft wollen. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Auch das ist der Fall. Dann ist (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das steht auch die Überweisung so beschlossen. nicht drin!) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 auf: Wir wissen aber auch, dass die Anbindung der Budget- veränderungen an die Grundlohnrate weder die allge- Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia meine wirtschaftliche Entwicklung noch die Entwick- Roth (Augsburg), Winfried Nachtwei, Marieluise lung der Kosten für Personal, Energie und Sachmittel im Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Krankenhaus ausreichend berücksichtigt. Wir müssen Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns deshalb die Frage stellen, ob es nicht bessere Instru- 20 Jahre nach Halabja – Unterstützung für die mente zur Kostensteuerung im Krankenhausbereich gibt, Opfer der Giftgasangriffe die die gestiegenen Preise stärker berücksichtigen, das Morbiditätsrisiko nicht allein den Krankenhäusern auf- – Drucksache 16/8197 – bürden und keine Anreize zur Mengenausweitung bie- Überweisungsvorschlag: ten. Ich würde mir wünschen, dass wir das in den anste- Auswärtiger Ausschuss (f) henden Beratungen betrachten und zu pragmatischen Verteidigungsausschuss Lösungen kommen. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Lassen Sie mich am Schluss noch etwas Grundsätzli- Entwicklung ches sagen. Man kann natürlich nicht bestreiten, dass es Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle- in manchen Krankenhäusern Wirtschaftlichkeitsreserven ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: gibt. Privatisierungen sind aber kein Allheilmittel, insbe- Holger Haibach, Uta Zapf, Harald Leibrecht, sondere dann nicht, wenn sie aus der Finanznot öffentli- Dr. Norman Paech und Claudia Roth (Augsburg).2) cher Träger resultieren, zumal dann in der Bilanz immer Geld zulasten der öffentlichen Hand verloren geht. Wir Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf dürfen nicht vergessen, dass Krankenhäuser keine Ge- Drucksache 16/8197 an die in der Tagesordnung aufge- sundheitsfabriken sind, dass es also nicht nur um Wirt- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Auch das ist der Fall. Dann ist die Über- (B) schaftlichkeit, sondern vor allem um Qualität und Hu- (D) manität der Behandlung geht. weisung so beschlossen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Guten Abend! Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dağdelen, Cornelia Hirsch, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für eine erleichterte Anerkennung von im Ich schließe nun die Aussprache. Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8375 an den Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 16/7109 – vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich Überweisungsvorschlag: sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- Ausschuss für Bildung, Forschung und schlossen. Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Es wurde vereinbart, dass die Reden der folgenden gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: führung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 Marcus Weinberg, Gesine Multhaupt, Patrick Meinhardt, (REACH-Anpassungsgesetz) Cornelia Hirsch und Priska Hinz.3) – Drucksache 16/8307 – Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Überweisungsvorschlag: Drucksache 16/7109 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es sonstige Vor- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei- Verbraucherschutz sung so beschlossen. Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Es wurde vereinbart, dass die Reden der folgenden 1) Anlage 3 Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: 2) Anlage 4 Ingbert Liebing, Heinz Schmitt (Landau), Michael 3) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15667

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18: Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21: (C) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der dem Antrag der Abgeordneten Hans-Christian Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ströbele, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck Zusammenarbeit der EU mit Russland stär- (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- ken tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/8420 – Für eine wirksamere Kontrolle der Geheim- Überweisungsvorschlag: dienste Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss – Drucksachen 16/843, 16/4720 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Berichterstattung: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Abgeordnete Clemens Binninger Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Michael Hartmann (Wackernheim) Reden zu Protokoll gegeben: Manfred Grund, Gert Dr. Max Stadler Weisskirchen (Wiesloch), Harald Leibrecht, Alexander Jan Korte Ulrich und Marieluise Beck (Bremen).1) Wolfgang Wieland Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Drucksache 16/8420 an die in der Tagesordnung aufge- Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Norbert Röttgen, führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe dazu Michael Hartmann (Wackernheim), Dr. Max Stadler, keine andere Meinung. Dann ist die Überweisung so be- Wolfgang Nešković und Hans-Christian Ströbele.3) schlossen. Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des In- Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: nenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Die Grünen mit dem Titel „Für eine wirksamere Kon- Lazar, Ute Koczy, Britta Haßelmann, weiterer trolle der Geheimdienste“. Der Ausschuss empfiehlt in Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4720, DIE GRÜNEN den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/843 abzulehnen. Wer stimmt für diese (B) Verbot des Neonazi-Schulungszentrums und Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- (D) Vereins „Collegium Humanum“ prüfen gen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stim- – Drucksache 16/8214 – men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke angenom- Rechtsausschuss men. Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am Reden zu Protokoll gegeben: Kristina Köhler (Wiesba- Schluss der heutigen Tagesordnung. den), Wolfgang Spanier, Christian Ahrendt, Ulla Jelpke und Monika Lazar.2) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 7. März 2008, 9 Uhr, Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf ein. Drucksache 16/8214 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen noch ei- verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die nen angenehmen Abend. Überweisung so beschlossen. (Schluss: 20.21 Uhr) 1) Anlage 6 2) Anlage 7 3) Anlage 8

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15669

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Berg, Axel SPD 06.03.2008 Dr. Scheer, Hermann SPD 06.03.2008

Blumentritt, Volker SPD 06.03.2008 Schuster, Marina FDP 06.03.2008

Bollen, Clemens SPD 06.03.2008 Dr. Schwanholz, Martin SPD 06.03.2008

Bülow, Marco SPD 06.03.2008 Steinbach, Erika CDU/CSU 06.03.2008

Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 06.03.2008 Strothmann, Lena CDU/CSU 06.03.2008

Freitag, Dagmar SPD 06.03.2008 Dr. Tabillion, Rainer SPD 06.03.2008

Gleicke, Iris SPD 06.03.2008 Wächter, Gerhard CDU/CSU 06.03.2008

Golze, Diana DIE LINKE 06.03.2008 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 06.03.2008

Großmann, Achim SPD 06.03.2008

Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/ 06.03.2008 Anlage 2 DIE GRÜNEN Erklärung Heil, Hubertus SPD 06.03.2008 (B) des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND- (D) Herrmann, Jürgen CDU/CSU 06.03.2008 NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- Hill, Hans-Kurt DIE LINKE 06.03.2008 ses Sammelübersicht 369 zu Petitionen (Tages- ordnungspunkt 29 j, Drucksache 16/8207) Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/ 06.03.2008 Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- DIE GRÜNEN nen, dass unser Votum „Nein“ lautet. Humme, Christel SPD 06.03.2008

Kumpf, Ute SPD 06.03.2008 Anlage 3 Meckel, Markus SPD 06.03.2008 Zu Protokoll gegebene Reden

Müntefering, Franz SPD 06.03.2008 zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1907/ Nitzsche, Henry fraktionslos 06.03.2008 2006 (REACH-Anpassungsgesetz) (Tagesord- nungspunkt 14) Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 06.03.2008 DIE GRÜNEN Ingbert Liebing (CDU/CSU): Im Jahr 2001 nahm die EU-Chemikalienverordnung REACH, eines der bis- Paula, Heinz SPD 06.03.2008 her größten und umfassendsten Gesetzesvorhaben der Europäischen Union, ihren Anfang. Raab, Daniela CDU/CSU 06.03.2008 In den darauf folgenden Jahren waren die Europäi- Raidel, Hans CDU/CSU 06.03.2008 sche Kommission, das Europäische Parlament, die EU- Mitgliedstaaten mit all ihren Gremien und nicht zuletzt Roth (Heringen), SPD 06.03.2008 Hunderte nationaler und internationaler Interessengrup- Michael pen mit den Verhandlungen, der Ausarbeitung, den Neu- verhandlungen und nicht enden wollender Kompromiss- Sager, Krista BÜNDNIS 90/ 06.03.2008 findung beschäftigt. Lange Zeit schien für das Geflecht DIE GRÜNEN unterschiedlicher Interessen keine Lösung in Sicht, die 15670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) gegensätzlichen Umwelt-, Gesundheits- und Wirt- allem auf eine Verringerung des bürokratischen Auf- (C) schaftsaspekte waren einfach nicht auf einen Nenner zu wands und der damit verbundenen Reduktion der Kosten bringen. für Unternehmen abgezielt. So wurde zum Beispiel von einer Befristung der Zulassung ohne triftigen Grund, wie Doch die EU hat die Frage, ob sie sich mit diesem ursprünglich vorgesehen und vom Europäischen Parla- Jahrhundertgesetzeswerk nicht schlicht und ergreifend ment vehement gefordert, abgesehen. Die Substitutions- übernommen hat, klar und eindeutig für sich beantwor- pflicht wurde realistisch handhabbar gemacht und der tet: Die REACH-Verordnung wurde nach jahrelangen, Schutz des geistigen Eigentums sogar auf ein Niveau he- intensiv geführten Diskussionen und Verhandlungen am raufgesetzt, das das des Gemeinsamen Standpunkts 18. Dezember 2006 vom Europäischen Parlament und überschreitet. Die globale Wettbewerbssituation der EU vom Ministerrat verabschiedet und trat am 1. Juni 2007 wurde berücksichtigt und Abwanderungstendenzen von in Kraft. Unternehmen bzw. der Abbau von Arbeitsplätzen ver- Mit der Verordnung wurde das europäische Chemika- hindert werden. lienrecht in Europa grundlegend neu geschrieben und Gleichzeitig wurden aber auch zentrale Aspekte des vereinheitlicht. Zuvor waren die circa 100 000 bereits Gesundheits- und Umweltschutzes berücksichtigt. Auf auf dem Markt befindlichen Chemikalien trotz des Ver- diese Weise wurde ein großer Fortschritt im sicheren suchs, sie über eine eigenständige Verordnung von 1993 Umgang mit gefährlichen Chemikalien erzielt. zu erfassen, weitgehend ungeprüft geblieben. Das neue System basiert auf folgenden Eckpfeilern: Mit REACH Zusammenfassend möchte ich sagen: Die REACH- wird erstmals für 30 000 Chemikalien eine systema- Verordnung, wie sie im Juni in Kraft getreten ist, ist ein tische Prüfung auf ihre Umwelt- und Gesundheitswir- vernünftiger Kompromiss, der deutlich die Handschrift kungen vorgeschrieben. Hersteller und Importeure regis- deutscher Interessen trägt und deshalb von der CDU/ trieren die Stoffe, die sie in Mengen ab 1 Tonne pro Jahr CSU-Fraktion begrüßt wurde. Wir haben uns erfolgreich herstellen. Die Industrie übernimmt Verantwortung für dafür stark gemacht, den ursprünglich vorgelegten die sichere Verwendung ihrer Stoffe entlang der Liefer- REACH-Entwurf von völlig unpraktikablen Forderun- kette und empfiehlt Risikomanagementmaßnahmen. Der gen an die europäischen Unternehmen zu befreien und Einsatz besonders besorgniserregender Stoffe kann von den Aufwand verhältnismäßig zu gestalten. Schließlich einer Zulassung durch die EU-Kommission abhängig ge- wollen wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unterneh- macht werden. men nicht gefährden. In der Praxis bedeuten diese Regelungen im Kern: Bei aller Erleichterung, die wir im Gesetzgebungspro- Zukünftig dürfen Stoffe als solche, wie auch in Zuberei- zess erreicht haben, wird allerdings mit Blick auf die Um- (B) tungen oder in Erzeugnissen, nur dann in der EU herge- setzungspraxis eines ganz deutlich: Der Umfang und die (D) stellt oder in Verkehr gebracht werden, wenn sie nach Komplexität des neuen Chemikalienrechts stellt beson- den Bestimmungen der Verordnung registriert worden ders für kleine und mittlere Unternehmen, KMU, in der sind. Im Rahmen der Registrierung ist ein Stoffdossier Praxis eine hohe Hürde dar. Diese Entwicklung wider- mit bestimmten Informationen für den Verbraucher ein- spricht unseren Bestrebungen nach Bürokratieabbau und zureichen. Der Umfang der einzureichenden Informa- wird von mir mit Sorge betrachtet. Es kann nicht sein, tionen richtet sich nach der Menge, in welcher der Stoff dass es zu einem deutlichen Mehraufwand auf nationaler pro Jahr produziert oder importiert wird. Verwendungen Ebene kommt, wobei die Gründung der Euro-päischen von Stoffen mit bestimmten gefährlichen Eigenschaften Chemikalienagentur, ECHA, gerade mit der Aussicht auf können einem Zulassungsverfahren unterworfen wer- eine Entlastung der nationalen Ebene beschlossen wurde. den, das heißt, herstellende oder den Stoff verwendende Darüber hinaus scheint es – entgegen ursprünglicher Pla- Unternehmen können einen Zulassungsantrag stellen. nungen – so zu sein, dass der Personalbedarf der ECHA Über diesen wird dann die neue Chemikalienagentur mit deutlich höher zu veranschlagen ist. Sitz in Helsinki und die Europäische Kommission ent- Vor diesem Hintergrund halte ich es für unerlässlich, scheiden. Zulassungspflichtige Stoffe dürfen dann nur dass wir in engem Kontakt mit den betroffenen Unter- noch für die in einem solchen Zulassungsverfahren posi- nehmen bleiben, problematische Regelungen überprüfen tiv beschiedenen Verwendungen eingesetzt werden. Durch und Vorschläge zugunsten einer zumutbaren Voll- die neu gewonnene Informationslage wird der Schutz zugsaufwands zu unterbreiten. von Bevölkerung und Umwelt – wie Abfall, Boden- schutz, Immissionsschutz – deutlich verbessert. Nachdem die großen Streitfragen auf europäischer Ebene gelöst werden konnten, ist es das Ziel des nun Bei der Ausarbeitung dieser Regelungen ist es zu un- vorliegenden Gesetzentwurfes, die zwingend erforderli- serer großen Erleichterung gelungen, die richtige Ba- che Anpassung des deutschen Chemikalienrechts an die lance zwischen Interessen der Wirtschaft und der Ver- Vorgaben der REACH-Verordnung 1907/2006/EG vor- braucher zu finden. Dieser Umstand ist auf die zunehmen. Zwar bedarf REACH aufgrund des Verord- tatkräftige Mitwirkung der neuen deutschen Bundesre- nungscharakters keiner Umsetzung in nationales, deut- gierung zurückzuführen, die unermüdlich dazu beigetra- sches Recht. Jedoch müssen die erforderlichen gen hat, einen ausgewogenen, sehr tragfähigen Kompro- bürokratischen Voraussetzungen für einen effektiven miss zu REACH auszuhandeln. Vollzug der REACH-Verordnung in Deutschland ge- Die Änderungen gegenüber dem 2003 von der Euro- schaffen werden. Dazu gehört, überflüssig gewordene päischen Kommission vorgelegten Entwurf haben vor Vorschriften des deutschen Chemikalienrechts – wie in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15671

(A) der Chemikalien-Prüfnachweisverordnung – aufzuheben pragmatischen und kooperativen Umsetzung Berück- (C) und durch die europäische Verordnung abzulösen. sichtigung finden. Ferner werden Änderungen im Chemikaliengesetz und der Chemikalien-Kostenverordnung vorgenommen. Da- Bei den Sanktionsregelungen geht es vor allem um bei geht es im Wesentlichen um die Schaffung von Re- folgende Neuregelungen: Verstöße gegen REACH, be- gelungen, die bestimmen, welche Behörden in unserem sonders § 27 b, werden mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Land für welche nach der REACH-Verordnung zugewie- Jahren bei Vorsatz und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr senen Aufgaben zuständig sein sollen, welche Straf- und bzw. Geldbußen bis zu 100 000 Euro bei Fahrlässigkeit Bußgeldbewehrungen im Falle von Verstößen gegen geahndet. Im Gegensatz zu ursprünglichen Planungen REACH fällig werden sollen und wie der Informations- begrüße ich es, dass in der überarbeiteten Fassung einige austausch zwischen den Behörden geregelt werden soll. Straftatbestände durch Bußgelder ersetzt wurden. Vor dem Hintergrund der Komplexität der REACH-Verord- Nach den großen Debatten auf EU-Ebene ist es nun nung und der großen Herausforderung, die diese für un- also unsere Aufgabe, die Umsetzung von REACH im sere Unternehmen – vor allem zu Beginn der Umsetzung – Alltag so effizient und effektiv wie möglich sicherzustel- darstellt, halte ich dies für gerechtfertigt. Grundsätzlich len. Zu dieser sachlichen Abarbeitung noch offener ist in diesem Zusammenhang sicherzustellen, dass eine Punkte anlässlich der Umsetzung soll das REACH-An- Benachteiligung deutscher Unternehmen durch unter- passungsgesetz, welches wir heute in Erster Lesung de- schiedliche Sanktionen in anderen EU-Mitgliedstaaten battieren, beitragen. Oberstes Ziel muss dabei sein, ausgeschlossen ist. REACH so praktikabel wie möglich für die Betriebe um- Bei den Vollzugsregelungen halte ich folgende As- zusetzen und den reinen Verwaltungsvollzug mit mög- pekte für wichtig: Bisherige Regelungen bleiben weitge- lichst wenig Aufwand zu betreiben. Ich bin der Ansicht, hend unverändert, aber die Mitwirkung von Zollbehör- dass dies der Bundesregierung mit dem vorliegenden den wird mit dem Ziel festgeschrieben, die Weitergabe Gesetzentwurf gelungen ist. von Informationen an Landesbehörden zu erleichtern. Dies möchte ich unter Bezugnahme auf die Inhalte Dass der vorliegende Entwurf der Bundesregierung des Entwurfes und bisherige Stellungnahmen beteiligter eine gute Grundlage darstellt, zeigt auch die Stellung- Akteure verdeutlichen: Aufgrund des unterschiedlichen nahme des Bundesrates und die Tatsache, dass die Bun- Inkrafttretens einzelner REACH-Teile befasst sich das desregierung den Änderungsvorschlägen des Bundesra- REACH-Anpassungsgesetz nur mit den Vorschriften, die tes größtenteils zustimmt. Das Einverständnis wird nur am 1. Juni 2008 wirksam werden. Diese stellen den in einem Punkt gestört, hier geht es eine gesonderte Auf- Großteil der Vorschriften dar und betreffen vor allem die führung einer Informationspflicht, die aus Sicht der Bun- (B) Registrierung, Bewertung – Stoffsicherheitsberichte – und desregierung nicht notwendig ist und ausreichend aus (D) Zulassung von Stoffen. der Neufassung des § 22 Abs. 1 hervorgeht. Hinsichtlich des Vollzugsaufwands und sonstiger Über alle diese Detailaspekte werden wir in den jetzt Kosten haben beteiligte Bundesbehörden und Bundes- beginnenden parlamentarischen Beratungen noch einmal länder aufgrund eines Zuwachses an Überwachungsauf- sprechen können. Wichtig und entscheidend ist, dass wir gaben einen erhöhten Personalbedarf bekundet. Durch eine aufwendige und die betroffene Wirtschaft schon die Streichung nationaler Vorschriften werden zwar kos- jetzt stark forderne EU-Verordnung in unserem eigenen tenträchtige Pflichten für die Wirtschaft abgeschafft. Der Verantwortungsbereich so schlank und effizient wie Abbau geht allerdings mit der Einführung von Informa- möglich umsetzen. Daran sollten wir uns beim weiteren tionspflichten und Registrierungsverfahren auf der EU- Beratungsverfahren halten. Ebene einher. Die wesentlichen Änderungen betreffen Regelungen Heinz Schmidt (Landau) (SPD): Vor 15 Monaten bei den Zuständigkeiten, den Sanktionen und dem Voll- hat die Europäische Union eine umfangreiche Neuord- zug. Im Bereich der Zuständigkeitsregeln werden Bun- nung des Chemikalienrechts auf den Weg gebracht. desaufgaben in Zusammenhang mit der REACH-Verord- REACH heißt die Verordnung, die im Juni 2007 in nung der „Bundesstelle für Chemikalien“ in ihrer neuen Kraft getreten ist und nun für alle Mitgliedsländer der Funktion als „Nationale Auskunftsstelle“ zugeordnet. EU gilt und nun Zug um Zug umzusetzen ist. Das Kür- Die übrigen Behörden – wie das Umweltbundesamt, zel steht für Registrierung, Bewertung und Zulassung UBA, das Bundesinistut für Risikobewertung, BfR, und von Chemikalien. Die Anforderungen an chemische die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Stoffe, die in Europa auf den Markt kommen, werden BAuA, fungieren als Bewertungsstellen und unterstüt- umso größer, je höher das Produktionsvolumen der je- zen sich und die Bundesstelle in fachlicher Hinsicht. Die weiligen Stoffe ist. Je höher das Risiko, das bei einem Aufgabenzuweisung zwischen Bund und Ländern orien- Stoff erwartet wird, umso größer der Aufwand für tiert sich an der bisherigen Systematik. Tests, Bewertung und gegebenenfalls für die Zulas- sung. Mit diesem neuen Ansatz wird der Umgang mit In Zusammenhang mit den Zuständigkeitsregelung Chemikalien sicherer. Denn insgesamt erhalten wir halte ich es für angebracht, dass nicht nur zwischen Bun- mehr Klarheit über die Risiken, die von den einzelnen desbehörden und Ländern eine enge Abstimmung er- Chemikalien ausgehen können. Auch in Deutschland folgt, sondern auch die Erfahrungen und die Kenntnisse, wird der Schutz umfassender, da künftig nicht nur neu die die Industrie in der Praxis macht, zugunsten einer entwickelte Chemikalien unter die Verordnung fallen. 15672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Auch sogenannte Altstoffe, die bereits seit Jahren am von mehr als 30 000 Chemikalien. In wenigen Jahren ha- (C) Markt gehandelt werden, werden von den neuen Rege- ben wir bedeutend mehr Informationen über die Eigen- lungen erfasst – ein wichtiger Unterschied zur heute schaften und Risiken der chemischen Stoffe, die bei uns geltenden Praxis. Denn gegenwärtig werden nur neue gehandelt und verwendet werden. Der 1. Juni 2008 ist Stoffe einer vergleichbar strengen Überprüfung unter- daher ein guter Tag für den Gesundheitsschutz, für den zogen. Der Schutz der menschlichen Gesundheit und Verbraucherschutz und für den Schutz der Umwelt in der Umwelt werden dadurch deutlich verbessert. Europa. Ein guter Tag für uns alle! Der 1. Juni 2008 ist ein wichtiger Stichtag bei der Um- setzung der neuen Verordnung. An diesem Tag startet der Michael Kauch (FDP): Mit dem REACH-Anpas- zentrale Mechanismus von REACH. Ab dann beginnt die sungsgesetz wird die deutsche Rechtslage mit der euro- Registrierung, Bewertung und Zulassung in der Praxis. päischen Verordung synchronisiert. Die FDP hat immer Die Unternehmen müssen nach einem vorgegebenen Zeit- die Zielsetzung von REACH unterstützt – eine neue eu- plan alle Chemikalien anmelden, die in den Geltungsbe- ropäische Chemikalienpolitik, die Umwelt und Gesund- reich von REACH fallen. In den Monaten seit Inkrafttre- heit effektiv schützt. Für uns Liberalen stand dabei aber ten der Verordnung gab es noch viel Aufklärungsbedarf auch im Mittelpunkt, dass die neuen europäischen Vor- für einzelne Branchen und für einzelne Unternehmen. In schriften unbürokratisch und mittelstandsfreundlich sein diesem Implementierungsprozess konnten viele Fragen müssen. Diese Voraussetzungen erfüllt die 2006 be- geklärt und auch Befürchtungen ausgeräumt werden. Mit schlossene REACH-Verordnung leider nicht in dem Blick auf einige beteiligte Unternehmen und deren im Maße, wie wir uns das auch im Sinne der deutschen Un- Vorfeld geäußerte Horrorszenarien kann man sogar sagen: ternehmen gewünscht hätten. Aus Konfrontation ist Kooperation geworden. Ein wichtiger Kernpunkt der REACH-Verordnung ist Ich möchte an dieser Stelle einmal die überaus enga- die Registrierung. Zukünftig dürfen Stoffe als solche, gierte Unterstützung durch die zuständigen Abteilungen, wie auch in Zubereitungen oder in Erzeugnissen, nur Referate und Stellen im Bundesumweltministerium und dann in der EU hergestellt oder in Verkehr gebracht wer- den zuständigen Bundesbehörden hervorheben. Hier ha- den, wenn sie nach den Bestimmungen der Verordnung ben sich die zuständigen Fachleute vorbildlich und nach- registriert worden sind. Zu begrüßen ist, dass im Verlauf haltig für ein Gelingen von REACH eingesetzt. Unter- nehmen, die sich mit ihren spezifischen Problemen an des europäischen Gesetzgebungsverfahrens einige für das Ministerium gewandt haben, haben dort geduldige die Praxis wichtige Verbesserungen gegenüber ursprüng- und konstruktive Unterstützung erfahren. Dies hat dazu lichen Plänen erreicht werden konnten. Doch es bleibt beigetragen, auch bei den eher skeptisch eingestellten festzuhalten, REACH ist eine enorme Herausforderung (B) (D) kleinen und mittleren Unternehmen die Akzeptanz für für die chemische Industrie. Zahlreiche zusätzliche REACH zu verbessern. Grund genug, dafür auch einmal Tests, die Erstellung von nach Expertenauffassungen Dank zu sagen. über 80 000 Registrierdossiers und einem geschätzten Aufwand von mehr als 2 Milliarden Euro sind zu erwar- All das ist der Hintergrund für das REACH-Anpas- ten. Wir bleiben dabei, dieser Umfang wäre in diesem sungsgesetz, das wir heute diskutieren. REACH ist zwar Ausmaß nicht notwendig gewesen wären. unmittelbar geltendes europäisches Recht. Trotzdem muss auch Deutschland sein bisheriges Chemikalien- Es ist zu befürchten, dass manche Stoffe und Pro- recht an die neuen Bestimmungen anpassen. So müssen dukte schlichtweg vom Markt verschwinden werden, zum Beispiel im Chemikaliengesetz etliche Vorschriften ohne dass dies aus Gründen des Umwelt- oder Gesund- gestrichen werden, die durch REACH überholt sind. Au- heitsschutzes erforderlich wäre. Sie rechnen sich dann ßerdem muss geregelt werden, welche Stellen die neuen einfach wegen geringer Gewinnmargen nicht mehr. Aufgaben und Anforderungen nach der REACH-Verord- Nach Branchenangaben ist davon auszugehen, dass 5 bis nung übernehmen. Mit dem Umweltbundesamt, dem 10 Prozent der Stoffe künftig nicht mehr in Europa pro- Bundesinstitut für Risikobewertung und mit der Bundes- duziert und vermarktet werden können. Eine Folgekon- anstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin werden die sequenz: Für die Zubereiter und Weiterverarbeiter, meist gleichen deutschen Stellen mit der Chemikaliensicher- mittelständische Unternehmen, bedeutet das einen er- heit betraut sein, die das auch heute schon sind. Hinzu heblichen Anpassungsbedarf von Rezepturen mit zusätz- kommt künftig eine Bundesstelle für Chemikalien, die lichen Kosten. Auskunftsstelle für das Thema sein wird. All diese Stel- len werden der Europäischen Chemikalienagentur in Ob die Bestimmungen von REACH durch die Unter- Helsinki zuarbeiten, die einen europaweit einheitlichen nehmen in der Praxis so umgesetzt werden können, wird Umgang mit Chemikalien sicherstellen wird. Schließlich sich erst noch zeigen. Die Vorgaben zur Registrierung, wird auch dafür gesorgt, dass die neue Verordnung auch Risikobewertung und Kommunikation in der Produkt- eingehalten wird Abweichungen von den neuen Rechts- kette sind komplex. 100 Seiten Verordnung und über normen werden mit Strafen und Bußgeldern belegt. Es 3 000 Seiten Leitlinien – „REACH Implementation Pro- können drastische Bußgelder verhängt werden. Und wer jects“, sogenannte RIPs – machen REACH schwer hand- wegen eines Verstoßes gegen REACH das Leben oder habbar. Die FDP ist in Sorge um insbesondere kleinere die Gesundheit eines anderen gefährdet, muss mit einer und mittlere Unternehmen der Branche. Umso wichtiger Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen. In weni- ist, dass nationale Vorschriften die Betroffenen nicht gen Wochen beginnt also die systematische Erfassung noch weiter belasten, sondern möglichst sogar entlasten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15673

(A) Der vorliegende Entwurf zum Anpassungsgesetz Interessen der Verbraucher und Verbraucherinnen und (C) steht nach unserer Ansicht grundsätzlich im Einklang der Umwelt. Aus einem vormals weitgehend fortschritt- mit den Vorgaben von REACH. Das Anpassungsgesetz lichen Verordnungsentwurf der Europäischen Kommis- ist auch notwendig, um die deutsche Rechtslage in die- sion wurde im Gesetzgebungsverfahren in Brüssel ein sem Bereich anzupassen. Allerdings gibt es Stimmen, im Wesentlichen an den Interessen der Chemieindustrie die kritisieren, dass im Gesetzentwurf nicht immer deut- ausgerichtetes Gesetz. Insbesondere die Bundesrepublik lich werde, ob Änderungen im Chemikaliengesetz auch hat an der Verwässerung mitgewirkt. Vertreter der Bun- durch die REACH-Verordnung bedingt sind. Bei einigen desregierung und EU-Spitzenbeamte aus Deutschland Vorschriften bestehen Zweifel. Es gibt noch Klärungsbe- traten im Rat und in der EU-Kommission als Repräsen- darf. Eine 1:1-Umsetzung muss garantiert sein. Darüber tanten der heimischen chemischen Industrie auf. Ähnlich sollten wir in der Ausschussberatung des Gesetzentwur- verhielten sich die Abgeordneten von Union, SPD und fes reden. FDP im EU-Parlament. Es besteht aus unserer Sicht zudem noch Diskussions- Mit einem Vorstoß des Umweltausschusses des Euro- bedarf bei der Ausgestaltung der nationalen Auskunfts- paparlaments im Vorfeld der zweiten Lesung versuchten stelle. Nach dem Gesetzentwurf soll diese Aufgabe von verbraucherfreundliche Abgeordnete das Ruder in letzter der Bundesstelle für Chemikalien übernommen werden. Minute herum zu reißen, leider weitgehend erfolglos. Die nationale Auskunftsstelle soll nach Vorgabe der Auch die Änderungsanträge der Fraktion der Linken im REACH-Verordnung Hersteller, Importeure und nachge- Europaparlament, GUE/NGL, sowie der Grünen in der schaltete Anwender beraten. Das Pilotprojekt des Lan- zweiten Lesung wurden abgelehnt. des Nordrhein-Westfalen hat Wege aufgezeigt, wie die Kompetenzen und Erfahrungen von Unternehmen und Aus Verbrauchersicht wird sich nun nur leider wenig Behörden bei der Ausgestaltung der Auskunftsstelle an der bestehenden Gesetzeslage ändern. Wichtigstes gleichermaßen aufgenommen werden können. Schließ- Minus: Die Industrie wird nicht, wie ursprünglich vorge- lich soll sie Unternehmen bei der Umsetzung von sehen, verpflichtet, alle gefährlichen Stoffe zu ersetzen. REACH helfen. Das kann sie aber nur, wenn sie selbst Auch wenn Alternativen vorhanden sind, können über ausreichenden Hintergrund aus der Praxis verfügt. krebserregende, fortpflanzungsschädigende und andere gefährliche Chemikalien weiter vermarktet und in All- Insgesamt bewerten wir den Gesetzentwurf als not- tagsprodukten verwendet werden. Lediglich langlebige, wendig und grundsätzlich positiv. Allerdings gibt es sich in der Natur anreichernde Chemikalien sollen aus- noch offene Fragen, die wir im Ausschuss klären müs- getauscht werden, sofern es für sie Alternativen gibt. sen. Die FDP schließt sich darüber hinaus aber dem Zudem wird der Industrie auch künftig erlaubt, entschei- (B) Appell der Branche an, auch andere durch REACH be- dende Sicherheitsdaten zu ihren Chemikalien zurückzu- (D) troffene Vorschriften zu bereinigen und rechtliche halten. Schnittstellen beispielsweise zu Regelungen des Arbeits- schutzes zu klären. Bislang wurden nur etwa 4 000 Stoffe darauf geprüft, ob sie Gesundheit oder Ökosysteme schädigen. Auf dem EU-Markt befinden sich jedoch etwa 100 000 soge- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das REACH- nannte Altstoffe, die vor 1981 auf den Markt kamen. Anpassungsgesetz hat im Wesentlichen die Aufgabe, alle Etwa 30 000 davon werden gegenwärtig mit mehr als ei- deutschen Doppelregelungen, die sich durch die Verab- ner Tonne Jahresproduktion eingesetzt. Mit ihnen läuft schiedung der EU-Chemikalienverordnung REACH er- faktisch ein Großversuch an Mensch und Umwelt. Mit geben haben, zu streichen. Daneben werden die Informa- der neuen Chemikalienverordnung müssen lediglich tionswege bezüglich REACH zwischen Bund und 12 000 gründlich überprüft werden. Die europäischen Ländern festgelegt. Das ist der erste Schritt zur Umset- Chemiekonzerne haben nichts unversucht gelassen, um zung der Verordnung. Weitere REACH-Anpassungsge- beim langwierigen Gesetzesverfahren die wirtschaftli- setze werden sicher folgen, beispielsweise nach der Ver- chen Interessen der Chemiekonzerne durchzusetzen. abschiedung der EU-Verordnung, die die Etablierung Leider waren sie erfolgreich. Darum werden wir uns des vorgesehenen weltweiten einheitlichen Einstufungs- beim ersten Anpassungsgesetz und auch bei den weite- und Kennzeichnungssystems für alle chemischen Stoffe ren enthalten. und Gemische in Europa zum Inhalt hat. Wir wissen, dass dieses REACH-Anpassungsgesetz Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): in enger Abstimmung zwischen dem BMU und den Län- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun das deut- dern in der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Chemika- sche Chemikalienrecht an die Vorgaben der europäi- liensicherheit, BLAC, entwickelt worden ist. Und wir schen Chemikalienverordnung REACH angepasst wer- wissen auch, dass der Rahmen für die Anpassungen klar den, die am 18. Dezember 2006 nach langem Ringen durch REACH vorgegeben wurde. Dementsprechend endgültig verabschiedet wurde. Mit der Verabschiedung könnte man dem Gesetzentwurf zustimmen, wenn man im Dezember 2006 ging ein jahrelang dauernder zäher formal an die Sache herangehen würde. Prozess vorläufig zu Ende, der bereits 1999 mit einer entsprechenden Initiative der deutschen Ratspräsident- Das tun wir aber nicht. Denn auch die beste Umset- schaft seinen Anfang genommen hatte. zung bleibt schlecht, wenn die Vorgabe mies ist. Und das ist eben bei der REACH der Fall. Die Chemikalienver- Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an die Aus- ordnung REACH ist letztlich ein harter Schlag gegen die gangssituation erinnern: Ausgangspunkt der Reformini- 15674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) tiative war das Fehlen von Daten für circa 100 000 Alt- Verbesserung zur derzeitigen Rechtslage erwarten lässt. (C) stoffe – Stoffe, die vor 1981 angemeldet wurden –, die Damit wurde einerseits die große Chance vertan, den aber zur Beurteilung der Auswirkungen auf die mensch- Schutz von Umwelt und Gesundheit deutlich zu verbes- liche Gesundheit und die Umwelt unerlässlich sind. sern und andererseits der europäischen Chemieindustrie Diese Altstoffe stellen etwa 97 Prozent aller derzeit ver- mit Anreizen zur Produktion von ungefährlichen Stoffen markteten Stoffe dar und mussten bis 1993 weder ge- im internationalen Wettbewerb einen Vorteil zu ver- prüft noch bewertet werden. schaffen. Mit der 1993 in Kraft getretenen Altstoffverordnung hatte die EU zwar den Versuch unternommen, dieses De- Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- fizit zu beheben, die Regelung erwies sich aber als aus- minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- gesprochen langwierig und ineffizient. In etwas mehr als heit: Das REACH-Anpassungsgesetz, das wir heute in 10 Jahren konnten nur circa 30 Stoffe abschließend be- erster Lesung behandeln, dient der Durchführung der wertet werden. Die europäische Rechtslage war außer- Ende 2006 in Brüssel verabschiedeten EG-REACH-Ver- dem nicht nur durch Unübersichtlichkeit und eine feh- ordnung, die allen ein Begriff sein wird. lende Systematik gekennzeichnet – mehr als 40 Rechts- vorschriften konkurrierten miteinander –, sondern auch Die REACH-Verordnung stellt das Chemikalienrecht durch fehlende Innovations- und Substitutionsanreize. in der Europäischen Union auf eine völlig neue rechtli- Für neu zugelassene Stoffe – circa 3 700 seit 1981 – und che Grundlage und bedeutet zugleich eine inhaltliche Altstoffe existieren verschiedene, unterschiedlich an- Weiterentwicklung, deren Bedeutung kaum zu über- spruchsvolle Regelungen. schätzen ist. Die Wissenslücken insbesondere bezüglich der Langzeitwirkungen von Chemikalien werden syste- Mit REACH sollte nun all dies besser werden. Nach matisch geschlossen. Eine geordnete Information über ersten ambitionierten Entwürfen wurde der Verord- Stoffrisiken innerhalb der Lieferkette ermöglicht auf al- nungsentwurf aber nach und nach zugunsten kurzfristi- len Ebenen der Wirtschaft einen besseren, verantwortli- ger wirtschaftlicher Ziele abgeschwächt, sodass im Er- cheren Umgang mit Stoffen. Das neu gewonnene Wissen gebnis das, was wir heute anpassen, nicht das ist, was wird zur Entwicklung fortschrittlicher Produkte beitra- wir eigentlich notwendigerweise anpassen müssten. Mit gen. Zugleich setzt REACH starke Anreize, besonders REACH ist letztlich nicht viel mehr herausgekommen gefährliche Stoffe von vornherein zu vermeiden. Es geht als ein kleiner bescheidener Schritt in die richtige Rich- um die für moderne Umweltpolitik prägende Symbiose tung. Es wird eine gewisse rechtliche Vereinheitlichung von Umwelt- und Wettbewerbsaspekten: Bessere Pro- erreicht, die Hersteller grundsätzlich verpflichtet, Daten dukte dienen dem Schutz von Umwelt, Verbrauchern zu liefern, und sicherlich werden auch für die eine oder (B) und Arbeitnehmern und eröffnen zugleich Wettbewerbs- (D) andere Chemikalie zusätzliche notwendige Daten gene- chancen zuhause und weltweit. riert. Die Durchführung von REACH bedeutet für alle Be- Aber: Gemessen an dem, was eigentlich notwendig teiligten – Unternehmen wie Behörden – eine große He- wäre, ist das Ergebnis enttäuschend. Es wird dem Ziel rausforderung. Dies gilt gerade in der derzeitigen An- eines echten Paradigmenwechsels in der Chemikaliensi- fangsphase, in der noch viele Details unklar sind. Eine cherheit nicht gerecht. Ich will an dieser Stelle nur einige wichtige Hilfe, die wir in dieser Phase leisten können, ist Beispiele nennen. So wird der eigentliche Ansatz von deshalb die rechtzeitige Klärung der Spielregeln und REACH – wonach nur solche Chemikalien auf dem Rahmenbedingungen für die Durchführung der Verord- Markt vertrieben werden dürfen, zu denen ausreichende nung in Deutschland. Es war der Bundesregierung vor Daten zu Verfügung stehen – für den Großteil der Alt- diesem Hintergrund ein großes Anliegen, diesen Gesetz- stoffe nach wie vor nicht erreicht. Auch dürfen unter entwurf so vorzulegen, dass er noch vor dem Wirksam- REACH weiterhin Krebs erregende, Fruchtbarkeit schä- werden der Kernbereiche der REACH-Verordnung – Re- digende und hormonell wirksame Chemikalien verwen- gistrierung, Bewertung, Zulassung – am 1. Juni 2008 det werden, obwohl sichere Alternativen existieren. Vo- verabschiedet werden kann. Damit verbunden ist die rrausetzung für eine weitere Verwendung ist lediglich, Entscheidung, sich abzeichnende weitere Regelungsan- dass die Produzenten erklären, dass sie diese „angemes- liegen – Anpassung an kommende EG-Regelungen zur sen kontrollieren“ können. Kennzeichnung und zu Bioziden, Einstellung des Stoff- Aber nicht nur die Regelung für die existierenden Alt- rechts in das UGB – zunächst unberücksichtigt zu las- stoffe ist unbefriedigend. Quasi im Gegenzug zur vorge- sen. Dies ist während der Bundesratsberatungen teil- sehenen besseren Erfassung von Altstoffen wurde bei weise kritisch kommentiert worden. Letztlich hat der Zulassung von Neustoffen erheblich dereguliert mit Bundesrat aber seine Hinweise zu weiter gehendem heute noch nicht absehbaren Auswirkungen. Vor allem Überarbeitungsbedarf auf die auch von der Bundesregie- dem unrühmlichen Engagement des Bundeskanzleram- rung beabsichtigten weiteren Rechtsetzungsverfahren tes auf europäischer Ebene ist es zu verdanken, dass For- bezogen. Das ist sachgerecht, und entsprechend hat die derungen der deutschen chemischen Industrie nach Ab- Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung Stellung ge- schwächung der Verordnung sprichwörtlich noch in nommen. letzter Minute Berücksichtigung fanden. Bei den Behördenzuständigkeiten knüpft der Entwurf In der Summe ist aus REACH ein mit Kompromissen eng an das bestehende System an: Die Überwachung überfrachtetes Regelwerk geworden, das keine echte liegt bei den Ländern. Für die Informationskontakte zur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15675

(A) EG, für die zahlreichen Mitwirkungsakte auf Gemein- auch außer Frage, dass unser Mitgefühl und auch unsere (C) schaftsebene und für die wichtige Aufgabe der nationa- Anteilnahme den Opfern jenes Angriffs gilt wie all den- len Auskunftsstelle, die die Unternehmen hinsichtlich jenigen, die unter dem diktatorischen Herrschaftsregime ihrer Pflichten beraten soll, sind dagegen die Chemika- Saddam Husseins zu leiden hatten. lienbehörden des Bundes zuständig. Der Bund über- nimmt damit einen großen Teil der Verantwortung für Selbstverständlich stellt sich auch die Frage, ob alles die effektive und gleichmäßige Umsetzung der REACH- getan worden ist, um denen, die unter Saddam Hussein Verordnung in Deutschland und Europa. Mit dieser Ver- zu Opfern geworden sind, zu helfen oder zumindest ihre antwortung verbunden ist auch das Erfordernis einer Not zu lindern. Ich bin weit davon entfernt, alte Debatten Aufstockung des eingesetzten Personals, deren Einzel- in Deutschland wieder aufleben zu lassen. Aber mit heiten sich aus den Kostenaussagen des Gesetzentwurfs Krieg und Frieden innenpolitisch Kapital zu schlagen, ergibt. Dieser Verantwortung müssen wir uns jedoch wie es 2002 geschehen ist, wohl wissend, was im Irak stellen, daran führt kein Weg vorbei. passiert, hinterlässt gerade angesichts des heutigen An- trags, doch einen schalen Beigeschmack. REACH ist eines der ehrgeizigsten und zugleich chancenreichsten umweltpolitischen Gesetzeswerke in Ein Weiteres will ich hier betonen. Es steht außer der Geschichte der EU. Es ist nun die Aufgabe der Un- Frage, dass deutsche Firmen durch ihre Lieferungen ternehmen, der neuen Europäischen Chemikalienagentur dazu beigetragen haben, dass Saddam Hussein erst dazu in Helsinki und der Mitgliedstaaten, REACH mit Leben in die Lage versetzt wurde, solche Giftgasangriffe wie zu erfüllen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wich- den auf Halabdscha zu verüben. Das ist schlimm und es tiger Schritt dazu, dass dies in Deutschland gelingt. ist zu verurteilen und es hat ja auch in Deutschland zu den entsprechenden Prozessen geführt. Insofern ist der Begriff des Bedauerns, den die Antragssteller verwen- den, ein adäquater. Sofern allerdings hieraus eine Mit- Anlage 4 verantwortung der deutschen Bundesregierung abgelei- Zu Protokoll gegebene Reden tet werden soll, würde ich für meine Fraktion widersprechen wollen. Dies widerspräche auch der bis- zur Beratung des Antrags: 20 Jahre nach Ha- herigen Haltung von Bündnis 90/Die Grünen, zumindest labdscha – Unterstützung für die Opfer der ihres ehemaligen Außenministers . Der Giftgasangriffe (Tagesordnungspunkt 15) hatte nämlich auf eine Anfrage der Linken, damals noch PDS, aus dem Jahr 2001 die Bundesregierung antworten Holger Haibach (CDU/CSU): Die oftmals innenpo- lassen, ich zitiere – Drucksache 14/5720 –: „Die aus- litisch motivierten Auseinandersetzungen um den Krieg schließliche Verantwortung für die Vorfälle von Halab- (B) (D) der Amerikaner und ihrer Verbündeten im Irak haben be- dscha liegt bei der irakischen Regierung. Eine wie auch sonders in Deutschland völlig in Vergessenheit geraten immer geartete Mitverantwortung der Bundesregierung lassen, welche Situation vor diesem Krieg im Irak ge- besteht nicht.“ – Soweit Joschka Fischer im Jahre 2001. herrscht hat. Mit Saddam Hussein war dort ein Diktator an der Macht, der sein Land mit unvorstellbarer Grau- Ein weiterer Punkt, der in der Begründung des An- samkeit und Härte geführt hat, der nicht vor Repressio- trags angesprochen wird, ist die Frage der Hilfe für die nen, vor Folter und Unterdrückung, ja nicht einmal vor Opfer vor Ort. Zitat: „Die Opfer erhielten keinerlei Zu- Mord und Massenmord zurückgeschreckt ist; der seinen wendungen.“ Soweit dies die Bundesregierung betrifft, Nachbarn nicht nur mit Krieg gedroht, sondern sogar, ist diese Feststellung nicht richtig. Folgt man der oben wie im Falle Kuwaits, tatsächlich mit Krieg überzogen bereits erwähnten Antwort auf die Kleine Anfrage und hat. Dass Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem Antrag erkundigt man sich nach der aktuellen Situation, so er- heute auf eines der schwersten Verbrechen dieses Re- gibt sich folgendes Bild: Im Jahre 1991 und in den dar- gimes gegen Menschen und die Menschlichkeit auf- auffolgenden Jahren war die Bundesrepublik größter Ge- merksam machen, ist beachtlich. ber humanitärer Hilfe in dieser Region. So wurden zum Beispiel im Frühjahr 1991 im Rahmen der umfang- Zur Erinnerung: Bei einem Giftgasangriff auf die reichsten deutschen Hilfsaktion, die jemals von der Bun- hauptsächlich von Kurden bewohnte Stadt Halabdscha desregierung außerhalb der deutschen Grenzen durchge- im Jahre 1988 haben nach unterschiedlichen Schätzun- führt wurde, für Maßnahmen zur Verbesserung der gen etwa 5 000 Menschen den Tod gefunden, viele von humanitären Lage der von der irakischen Armee verfolg- ihnen Frauen, Kinder und ältere Menschen. Weitere ten Kurden aus dem Bundeshaushalt 415 Millionen DM 10 000 Menschen starben an den Folgeschäden oder tru- zur Verfügung gestellt. Über zwei Luftbrücken wurden gen lebenslange Gesundheitsschäden davon, darunter durch die Bundeswehr und zahlreiche deutsche Nichtre- Nervenlähmungen, Tumorbildungen, Lungen- und Seh- gierungsorganisationen Hilfsgüter in den Nordirak trans- schäden. Als ob dies nicht schon schlimm genug gewe- portiert und verteilt. Außerdem begann eine umfangrei- sen wäre, hätte die Weltöffentlichkeit beinahe nichts von che medizinische Betreuung und die Versorgung mit diesem grausamen Massaker erfahren. Nur durch Zufall Trinkwasser. Weitere Hilfsmaßnahmen umfassten die kamen westliche Journalisten und Wissenschaftler kurz Rückführung der kurdischen Flüchtlinge in ihre Heimat, nach dem Angriff in die Region und konnten dessen Fol- der Wiederaufbau zerstörter Dörfer und die Einrichtung gen dokumentieren. Dass dieses Verbrechen von allen von Basisgesundheitsdiensten. Im Rahmen der Hilfe Fraktionen dieses Hauses auf das Schärfste verurteilt wurden von 1993 bis 1997 aus dem Haushalt des Auswär- wird, steht, so meine ich, völlig außer Frage. Es steht tigen Amtes Mittel in Höhe von über 13 Millionen DM 15676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) zur Verfügung gestellt. Im Jahre 1998 wurden Aktivitä- verschwanden und kamen bei Angriffen der Armee ums (C) ten von Nichtregierungsorganisationen im Zentralirak Leben. Hunderte von kurdischen Dörfern wurden durch und dem kurdisch besiedelten Nordirak mit einem Be- Armeepanzer niedergewalzt und ebenfalls mit chemi- trag von 1,845 Mio DM gefördert. schen Waffen angegriffen. Im Jahre 1988 gab es einen systematischen Genozid gegen Kurden. Ein Rachefeld- Auch gegenwärtig steht die Bundesregierung zu ihrer zug sondergleichen gegen die Kurden brach nach dem damals übernommenen Aufgabe. So sind bereits in den Waffenstillstand zwischen Iran und Irak los. Die Kurden vergangenen Jahren – seit dem Sturz des alten Regimes hatten sich auf die Seite Irans gestellt. Die sogenannte vom Auswärtigen Amt verschiedene Maßnahmen zur Anfal-Kampagne begann. Mehr als 180 000 Menschen konstruktiven Vergangenheitsbewältigung für Irakerin- fielen ihr zum Opfer. Männer und männliche Jugendli- nen und Iraker und zum Umgang mit dem Erbe der Dik- che wurden ermordet, Frauen und Kinder aus den Dör- tatur Saddam Husseins finanziert worden. Beides ist aus fern vertrieben und unter unmenschlichen Bedingungen meiner Sicht ein wichtiger Bestandteil der deutschen in Ghettos gehalten. Wiederaufbauhilfe für den Irak, der insbesondere kurdi- schen Irakerinnen und Iraker zugute gekommen ist. Ich selber habe bei meinem Besuch im Nordirak 1993 die Massengräber gesehen und mit den Anfal-Witwen Insofern bin ich der Meinung, dass die Bundesregie- gesprochen. Im Jahr 1988 diskutierte der Deutsche Bun- rung auch ohne eine Verantwortung für die schreckli- destag mehrfach über diese Verbrechen. Am chen Ereignisse vor 20 Jahren einen entscheidenden Bei- 21. September 1988 gab es im Bundestag eine Aktuelle trag zur Linderung der Folgen – und um mehr kann es Stunde zu diesem Thema. Viele der Redner und Redne- kaum gehen – geleistet hat. Die Herausforderung, vor rinnen kennzeichneten diese Verbrechen eindeutig als der wir alle im Irak stehen, ist es, stabile Verhältnisse zu Völkermord. ermöglichen in einem Staat, der selbst in der Lage ist, seinen Aufgaben in einem demokratischen Rahmen Gleichzeitig war eine durchgängige Forderung, das in nachzukommen und seine Bürgerinnen und Bürger da- Genf verhandelte Chemiewaffenübereinkommen endlich vor zu schützen, dass ein Verbrechen wie das in Halab- zum Abschluss zu bringen. Es dauerte noch bis 1993, bis dscha nie wieder verübt werden kann. Denn zu gesell- dieses Abkommen gezeichnet wurde – von 130 Staaten schaftlichem Frieden im Irak gehören zweifelsohne auch zugleich. Heute fehlen noch 12 Staaten weltweit, zum die Aufarbeitung der eigenen Geschichte und die Aner- Beispiel Syrien, Ägypten, Libanon und Nord-Korea; kennung vergangenen Unrechts. Irak hat angekündigt, dem CWÜ beizutreten. Deutschland hat sich der Aufgabe gestellt, hieran teil- Damals, 1988, galt die Genfer Konvention von 1925 zuhaben, durch finanzielle, logistische, aber auch imma- gegen den Einsatz von Chemiewaffen. Damals bezeich- (B) terielle Unterstützung. Für meine Fraktion kann ich sa- nete aber auch der UNO-Botschafter der Arabischen (D) gen, dass dies auch weiterhin unsere Unterstützung Liga, Clovis Mahsud, den Kampf der irakischen Streit- findet. Daher sehe ich der Beratung dieses wichtigen kräfte gegen Kurden als interne Angelegenheit und be- Antrags in den Ausschüssen mit großem Interesse entge- hauptete, die Genfer Konvention verbiete den Einsatz gen. chemischer Waffen nur gegen einen äußeren Feind, nicht aber im Inneren. Uta Zapf (SPD): Der 16. März ist ein Tag der Erinne- Was die Ächtung von Chemiewaffen betrifft, ist fast rung an das grausame Schicksal der Kurden im Irak, an die ganze Welt inzwischen einig. Mit der Chemiewaffen- unendliches Leiden durch Verfolgung, Vertreibung, an konvention haben wir das internationale Völkerrecht ab- Massenmord und an den Giftgaseinsatz von Saddam gesichert. Hussein gegen sein eigenes Staatsvolk, die Kurden. Die- ser Tag erinnert uns an einen Genozid ungeheuren Aus- In der Frage des Völkermordes tut sich die Internatio- maßes. Am 16. März befehligte der Cousin des Dikta- nale Staatengemeinschaft immer noch unendlich schwer. tors, Ali Hassan Al-Madschid, den Giftgasangriff auf die Weder gibt es eine Einigung auf die Definition von Völ- kurdische Stadt Halabdscha im Irak, ebenso auf zwei kermord, noch befestigt das Völkerrecht das Recht auf weitere Dörfer. Nerven- und Senfgasbomben töteten Intervention – humanitäre Intervention mit militärischen 8 000 Menschen. Ali Hassan Al-Madschid mit dem Bei- Mitteln – im Fall von Vertreibung und Völkermord. Ru- namen „Chemie-Ali“ wurde im Juni 2007 vom Sonder- anda, Kosovo und Darfur mögen als Stichworte gelten. tribunal für die Verbrechen Saddam Husseins zum Tode Die UNO hat die „Responsibility to Protect“, die Ver- verurteilt. pflichtung zu schützen, in einem umfangreichen Exper- tenbericht diskutiert. Dieser Bericht sieht eine Verpflich- Tausende Menschen leiden noch heute unter diesem tung zum handeln, um einen Diktator, ein inhumanes Trauma und unter den gesundheitlichen Folgen. Haut- Regime daran zu hindern, Menschen seines Machtbe- krebs, Leiden der Atemwege, Augenleiden, Unfrucht- reichs umzubringen oder sie Bedingungen auszusetzen, barkeit, Missbildungen an Neugeborenen, Krebs und in denen sie umkommen müssen, wenn ihnen andere Leukämie sind die Spätfolgen. 100 000 Kurden flohen Staaten nicht zur Hilfe kommen. damals in die Türkei und in den Iran. Halabdscha ist das dramatischste Ereignis in einer Jahrzehnte andauernden „Die Souveränität eines Staates umfasst nicht die Verfolgung, die die irakischen Kurden zu erleiden hat- Souveränität von Massenmördern, ihre eigenen Leute ten. Zwangsvertreibungen, Massenverhaftungen und umzubringen.“ Dies ist ein Zitat meines ehemaligen Hinrichtungen waren an der Tagesordnung. Tausende Kollegen aus einer Debatte des Bundesta- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15677

(A) ges vom 17. April 1991. Auch damals ging es um die zum Jahrestag ihr Mitgefühl aus. Bis zu 5 000 Menschen (C) irakischen Kurden. In der Folge des Golfkrieges waren wurden allein in Halabdscha auf qualvolle Weise ermor- 2 Millionen in die Berge an der Grenze zur Türkei geflo- det, den gesamten „Anfal-Operationen“ fielen nach hen. In der Folge der UN-Resolution 688 wurde eine da- internationalen Schätzungen insgesamt zwischen 50 000 mals auch von der SPD geforderte Sicherheitszone im und 100 000 Kurden zum Opfer. Es war eine der Nordirak eingerichtet, in der die kurdische Bevölkerung schrecklichsten Stationen jenes Krieges gegen die eigene einigermaßen Schutz fand. Bevölkerung, die eine Gruppe wahnsinniger Machthaber im Irak über sehr lange Zeit geführt hat. Noch heute Bis heute hat die Internationale Staatengemeinschaft macht das Schicksal aller Opfer von Halabdscha und ih- das unerträgliche Spannungsverhältnis zwischen dem rer Angehörigen tief betroffen, und wir nehmen Anteil Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegen- heiten eines Staates, der Respektierung der staatlichen an dem großen Leid, das sie in dieser langen Zeit ertra- Souveränität und dem unabdingbarnotwendigen Gebot, gen mussten. Auch heute noch sind die Folgen dieser Massenvertreibungen und Völkermord zu verhindern, Barbarei überall zu spüren. Haut-, Atemwegs- und nicht lösen können. Krebserkrankungen sowie Missbildungen sind die im- mer noch erschreckend realen und massiven Langzeit- Heinrich Böll hat das 20. Jahrhundert das Jahrhundert folgen der Angriffe. der Flüchtlinge genannt. Heute wissen wir, dass das 21. Jahrhundert in noch höherem Maße diese Bezeich- Viele Schicksale von Ermordeten und Vermissten nung zu verdienen droht. Wir haben immer noch nicht blieben unaufgeklärt und lassen die Angehörigen bis entschieden, welche Konsequenzen wir aus den Kata- heute nicht zur Ruhe kommen. Es liegt deshalb nun auch strophen des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts an uns, den diesjährigen 20. Jahrestag als Anlass für ein im Völkerrecht ziehen werden. Ethnische Konflikte, aktives Gedenken und als Mahnmal gegen das Vergessen neue Nationalismen, ungelöste Minderheitenkonflikte, zu begreifen. Man kann die Ereignisse von Halabdscha Religionskriege und Konflikte um knappe Ressourcen nicht rückgängig machen. Aber man kann die richtigen wie Wasser und Nahrung spielen sich unter unseren Au- Schlüsse daraus ziehen: Das Gedenken an Halabdscha gen ab und werden immer wieder zu Massenmord und sollte uns dazu veranlassen, uns endlich wieder vermehrt Vertreibung führen. um eine weltweite Abrüstung und eine größere Effizienz der Kontrolle von Massenvernichtungswaffen zu küm- „Responsibility to Protect“ – die Verpflichtung, Men- mern. schen vor Gewalt zu schützen – muss in den Mittelpunkt völkerrechtlicher Erwägungen zur Fortentwicklung des Was den von den Kollegen der Grünen eingebrachten Völkerrechts rücken. Antrag zur Bereitstellung von Mitteln zur medizinischen (B) (D) Wir fühlen mit den Opfern und Angehörigen des Gift- und psychologischen Nachsorge der Opfer und ihrer An- gasangriffs auf Halabdscha. Die Bundesrepublik gehörigen angeht, so halten wir dies für ein ehrbares und Deutschland hat den irakischen Kurden mit humanitärer sinnvolles Anliegen. Man muss es nur auf der richtigen Hilfe seit 1991 geholfen. Zwischen 1993 und 1997 wur- Ebene ansiedeln. Es ist nicht zu entschuldigen, dass den 13 Millionen DM an Hilfe zur Verfügung gestellt. deutsche Firmen durch die Lieferung von technischem Für 2008 plant das Auswärtige Amt in den kurdischen Know-how und sogenannten Dual-Use-Gütern einen Städten Arbil und Sulaymania jeweils ein Zentrum für Aufbau von Saddam Husseins C-Waffenarsenal mit er- die Behandlung von Traumapatienten einzurichten. möglicht haben. Dieser Verantwortung muss man sich Diese Einrichtungen kommen auch Opfern der Anfal- stellen. Kampagne zugute. In Dohuk wird ein Anfal-Zentrum Richtig ist, dass deutsche Firmen eine Mitverantwor- gefördert werden, das der öffentlichen Darstellung der tung an der Tragödie von Halabdscha tragen. Einige von Giftgasangriffe in Kurdistan dient – 20 Jahre nach den diesen Firmen wurden in Deutschland deshalb auch Verbrechen. schon gerichtlich belangt. Dies gleichzusetzen mit einer Ich wünsche mir, dass die Internationale Staatenge- staatlichen Verantwortung sehe ich offen gestanden al- meinschaft in Zukunft solche Katastrophen und Verbre- lerdings skeptisch. Wir alle kennen doch genug promi- chen verhindern kann. nente Beispiele für Fondsgründungen deutscher Firmen, die sich in der Vergangenheit an schweren Menschen- Harald Leibrecht (FDP): Der schreckliche Giftgas- rechtsverletzungen mitschuldig gemacht haben. Wenn angriff auf die Stadt Halabdscha im kurdischen Nordirak ein Weg der Nachsorge für die Opfer von Halabdscha am 16. März 1988 hat auch heute, 20 Jahre später, nichts sinnvoll ist, dann muss sich der Blick zunächst wieder an von seinem Grauen verloren. Die Bilder von den ent- jene deutschen und nicht irakischen Firmen wenden, die stellten Gesichtern vergaster Kinder, von verbrannten die Aufrüstung Saddam Husseins mit C-Waffen erst er- Körpern und verzweifelten Menschen auf der Flucht möglicht haben. sind nicht vergessen. Ich denke, wir sollten auf dieser Basis den Antrag der Die gesamte FDP-Fraktion verurteilt diesen men- Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Ausschuss schenverachtenden Angriff sowie die weiteren Angriffe ganz sorgfältig prüfen und die Möglichkeiten des Aus- auf kurdische Dörfer und Siedlungen im Rahmen der schusses auch einmal nutzen, einen Antrag so zu verän- „Anfal-Operationen“ durch das Regime von Saddam dern, dass am Ende eine gemeinsame Beschlussfassung Hussein und drückt allen Opfern und ihren Angehörigen stehen kann. 15678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Dr. Norman Paech (DIE LINKE): 20 Jahre nach der Verantwortung, weil deutsche Unternehmen nach- (C) dem Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabdscha weislich am Aufbau der irakischen Giftgasindustrie be- beschäftigt sich der Deutsche Bundestag heute zum teiligt waren. Deshalb dürfen wir es nicht nur bei Reden zweiten Mal mit diesem furchtbaren Verbrechen von im Parlament belassen. Es ist notwendig, dass wir ver- Saddam Hussein. Er wurde hingerichtet, bevor er in ei- antwortlich Hilfe leisten, und zwar nicht nur symbolisch. nem Prozess zur Verantwortung gezogen werden konnte. Wir müssen substanzielle Hilfe leisten, die die Leiden Dennoch sind die Fakten klar und unbestritten: Saddam der Überlebenden wirksam und nachhaltig lindert. Des- Hussein und sein Cousin Ali Hassan Al-Majid sind ver- halb unterstützt die Linke den vorliegenden Antrag der antwortlich für die mehr als 5 000 Todesopfer und wei- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. tere schätzungsweise 7 000 bis 10 000 lebensgefährlich Verletzte. Zahlreiche internationale Firmen – davon min- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- destens 60 deutsche – haben sich durch die Beteiligung NEN): Als ich im letzten Sommer mit Winfried am Aufbau der irakischen Giftgasindustrie und mit der Nachtwei Halabdscha besuchte und das Meer von Grab- Lieferung der notwendigen Chemikalien mitschuldig an steinen sah, unter denen die Getöteten des Massakers diesem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemacht. vom 6. März 1988 begraben sind, waren die Bilder Presseberichten zufolge stammten etwa 70 Prozent der schlagartig wieder da: Bilder von entsetzlichen Verbre- damaligen Giftgasanlagen aus der Bundesrepublik. chen, die an diesem Ort verübt wurden, von getöteten Auch heute noch ist Halabdscha gezeichnet. Der An- Menschen, von vielen Frauen, Kindern, Alten und von griff auf die Stadt war nur ein Teil des als „Anfal“-Of- Verletzten und Fliehenden. Es war ein Moment der tie- fensive in die Geschichtsbücher eingegangenen Vernich- fen Trauer um die Getöteten, ein Moment des Mitemp- tungsfeldzuges gegen die Kurden. Insgesamt kostete er findens mit ihren Angehörigen und den überlebenden wohl mehr als 100 000 Menschen das Leben, es wurden Opfern, die heute noch unter den Folgen leiden – phy- 2 000 Dörfer zerstört und zahllose Menschen vertrieben. sisch und psychisch. Human Righls Watch bezeichnete dieses Massenverbre- Der Moment der Trauer war für uns als Abgeordnete chen als Völkermord. des Deutschen Bundestags aber auch ein Moment der Noch im Dezember 2005 verurteilte ein Gericht in Beklemmung und der Scham: Scham darüber, dass der Den Haag einen niederländischen Geschäftsmann für die Anschlag mit Waffen verübt wurde, die das Saddam- Lieferung von Chemikalien an den Irak zu 15 Jahren Regime mit Unterstützung auch aus Deutschland entwi- Haft wegen Beteiligung an dem Giftgasangriff, der laut ckelt hatte, Scham über Firmen, die illegal Material ge- Gerichtsurteil die Merkmale eines Völkermordes erfülle. liefert haben, Scham über verantwortungslose Manager, die bedenkenlos Profiten nachjagten, und Scham auch (B) Dennoch sah sich der Bundestag im Jahr 2002 nicht in (D) der Lage, ebenfalls von Völkermord zu sprechen. In der über Exportgesetze, die das mit ermöglicht haben. Bundesrepublik wurden seinerzeit lediglich gegen sie- Umringt von vielen Menschen wurde uns klar, dass ben Mitarbeiter deutscher Firmen gerichtliche Verfahren der Besuch einer deutschen Delegation 19 Jahre nach eröffnet, die Mitte der 90er-Jahre mit geringen Bewäh- dem Anschlag viel zu spät kam – zumal keine Unterstüt- rungsstrafen, Einstellung des Verfahrens oder Freispruch zung für den Ort geleistet wird. Umso wichtiger ist es, endeten – kein Ruhmesblatt der deutschen Justiz. dass des Massakers von Halabdscha heute, am 20. Jah- restag, im Bundestag gedacht wird. Über 5 000 Men- Unabhängig von der juristischen Einordnung dieses schen starben bei den Giftgasangriffen der irakischen Giftgasanschlages ist es jedoch erschreckend, dass bis Armee auf Halabdscha. Angriffsziel waren neben den heute keine ausreichende Entschädigung geleistet wor- Kurden auch die während des Iran-Irak-Krieges in der den ist, um den Opfern eine angemessene medizinische Stadt stationierten iranischen Soldaten. Getroffen wurde und ökonomische Hilfe zu gewährleisten. Die Bundes- vor allem die Zivilbevölkerung. Tausende Verletzte flo- regierung hat zwar für die notleidende kurdische Bevöl- hen über die Landesgrenze und wurden zum Teil im Iran kerung im Nordirak von 1990 bis 1997 rund 430 Millio- behandelt. Einige von ihnen konnten später im Ausland nen DM für humanitäre Hilfe bereitgestellt und den behandelt werden. internationalen Hilfsorganisationen UNHCR, IKRK und UNICEF zukommen lassen. Dennoch gehört Halab- Halabdscha reiht sich ein in eine lange Liste von Ver- dscha heute noch zu den ärmsten Gebieten des Iraks, wie brechen der Saddam-Diktatur, unter der gerade die Kur- auch in einem Reisebericht der Kolleginnen Claudia den immer wieder zu leiden hatten. Einsätze der iraki- Roth und Winfried Nachtwei zu lesen ist. In Halabdscha schen Armee richteten sich gezielt gegen ganze müssen die Menschen noch immer ohne eine umfas- kurdische Dörfer, wobei ebenfalls Giftgas zum Einsatz sende und ausreichende medizinische Versorgung leben. kam. Im Rahmen der sogenannten Anfal-Kampagnen Die typischen Folgeerkrankungen eines solchen Giftgas- kamen zwischen 1986 und 1989 nach kurdischen Schät- anschlages, die wir vor allem seit dem Vietnam-Krieg zungen bis zu 182 000 Menschen ums Leben. kennen, wie Lungen- und Hautkrebs, Leukämie, Fehlge- burten und Missbildungen, posttraumatische Probleme, Der verantwortliche ehemalige irakische Verteidi- quälen die Bevölkerung immer noch. gungsminister Ali Hassan Al-Madschid wurde im Juni 2007 im Zusammenhang mit den sogenannten Anfal- Das Verbrechen an den Menschen in Halabdscha Angriffen auf kurdische Dörfer von einem irakischen wirkt nach 20 Jahren immer noch fort, und wir dürfen Sondergericht zum Tode verurteilt. Letzten Freitag uns seinen Folgen nicht entziehen. Deutschland steht in wurde entschieden, das Urteil innerhalb eines Monats zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15679

(A) vollstrecken. Das irakische Gericht stufte die Anfal- Diesen historischen Erfahrungsschatz werden wir sehr (C) Angriffe, die den Höhepunkt der systematischen Unter- viel stärker als bisher für die wirtschaftlichen und gesell- drückungs- und Mordpolitik gegen die irakischen Kur- schaftlichen Interessen Deutschlands, auch angesichts den darstellte, als Genozid ein. des demografischen Wandels und des weltweiten Wett- bewerbs um die besten Köpfe, für einen positiven und Dass die Verbrechen jetzt von der Justiz aufgearbeitet pragmatischen Umgang mit Zuwanderung und Integra- und die Täter bestraft werden, ist gut und richtig. Die tion nutzen. Dafür ist eine nachhaltige Integrationspoli- heutigen Probleme der Menschen in der Region werden tik dringend erforderlich. dadurch aber längst nicht gelöst. Das wird einem vor Ort schlagartig klar. Wer Halabdscha heute besucht, könnte Integration kann nicht verordnet werden. Sie erfordert fast meinen, der Angriff habe nicht vor 20 Jahren, son- Anstrengungen von allen, vom Staat und der Gesell- dern erst kürzlich stattgefunden. schaft, die aus Menschen mit und ohne Migrationshin- tergrund besteht. Maßgebend ist zudem die Bereitschaft Viele Bewohner leiden noch heute unter den gesund- der Zuwandernden, sich auf ein Leben in unserer Gesell- heitlichen Folgen der Giftgase. Viele von ihnen leben schaft einzulassen. Im Zuge der wachsenden Internatio- unter skandalösen Bedingungen. Schutt und Staub, be- nalisierung von Arbeits- und Absatzmärkten sind es ins- schädigte Gebäude und eine unzureichende Infrastruktur besondere international tätige Großunternehmen, die in sind eine völlig unhaltbare Umgebung für die zahlrei- betriebswirtschaftlichem Interesse Zielsetzung und Leit- chen Opfer der Angriffe, darunter viele Lungenkranke. linien des Diversity-Managements adaptieren und damit Entschädigungen und Hilfe erhielten die Bedürftigen nur gleichzeitig auch eine Vorreiterrolle bei der Herstellung in geringem Maße von der kurdischen Regierung. Die innerbetrieblicher Chancengleichheit einnehmen. medizinische Versorgung ist absolut unzureichend und unangemessen für die Schwere der erlittenen Verletzun- Einige dieser Unternehmen haben Ende 2006 die Ini- gen. tiative „Charta der Vielfalt“ ins Leben gerufen, die von der Bundesregierung unterstützt wird. Auch auf EU- Als deutsche Parlamentarier wurden wir in Halab- Ebene wird Diversity-Strategien sowohl im Zusammen- dscha auch gefragt, warum nie Hilfe aus Deutschland hang der Sozial- und Beschäftigungspolitik als auch im kam. Die Menschen dort wissen sehr wohl um die Rolle Kontext der Chancengleichheitspolitik ein wichtiger deutscher Firmen beim Aufbau des C-Waffen-Arsenals Stellenwert beigemessen. Vor diesem Hintergrund und von Saddam Hussein. Niemand hat uns angeklagt; aber anknüpfend an die „Charta der Vielfalt“ führt die Beauf- wir wurden gefragt: Warum gibt es keine Hilfe aus tragte 2007/2008 mit Mitteln des Europäischen Sozial- Deutschland, nicht ein einziges kleines Projekt? Und ich fonds eine Kampagne „Vielfalt als Chance“ durch, die muss Ihnen sagen: Wir hatten keine Antwort auf die auf die bessere Berücksichtigung von Menschen mit Mi- (B) (D) Frage, warum nichts für die Entwicklung der Stadt, für grationshintergrund in der betrieblichen und öffentlichen die Gesundheitsversorgung der Menschen getan wurde. Einstellungs- und Personalpolitik zielt. Schon mit begrenzten Mitteln könnte man hier ein menschliches und wichtiges Zeichen setzen. Im Zusammenhang von Globalisierung und gesell- schaftlicher Pluralisierung ist nicht nur die Wirtschaft Wenn wir hier im Bundestag der Folgen der schreckli- immer stärker auf differenzierte sprachliche und inter- chen Angriffe auf Halabdscha gedenken, dann sollten wir kulturelle Kenntnisse von Beschäftigten angewiesen, auch gemeinsam über ein solches Zeichen nachdenken sondern auch der Öffentliche Dienst, der mit seinen An- und uns Gedanken machen über deutsche Unterstützung geboten einer zunehmend differenzierten Nachfrage für Hilfe vor Ort. Ich erwarte von der Bundesrepublik nach öffentlichen Dienstleistungen Rechnung zu tragen endlich Initiativen der Unterstützung für die Betroffenen. hat. Vor diesem Hintergrund haben sich die Bundesre- Die völlige Abwesenheit Deutschlands in der Region ist gierung und die Länder im Integrationsplan verpflichtet, mir absolut unverständlich und durch nichts zu rechtfer- ihre Einstellungspraxis zu überprüfen und eine gezieltere tigen. Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam dazu beitragen Personalrekrutierung zu betreiben. können, den Menschen im Nordirak und all jenen, die un- ter den Verbrechen Saddam Husseins gelitten haben und Die Arbeitslosenquote von Migrantinnen und Migran- noch heute leiden, besser helfen zu können, und dass ten ist im Zuge der aktuellen Konjunktur dann zwar ge- diese Debatte ein Anstoß dafür ist. sunken, aber laut Mikrozensus liegt die durchschnittliche Erwerbsbeteiligung von Personen mit Zuwanderungshin- tergrund mit rund 68 Prozent, Migrantinnen 58 Prozent, Anlage 5 deutlich unter der von Personen ohne Migrationshinter- grund (75 Prozent). Fehlende oder unzureichende Sprach- Zu Protokoll gegebene Reden kenntnisse, berufliche Abschlüsse und Qualifikationen zur Beratung des Antrags: Für eine erleichterte tragen in hohem Maße dazu bei. Anerkennung von im Ausland erworbenen Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräfte- Schul-, Bildungs- und Berufsabschlüssen (Ta- mangels hat sich die Arbeitsgruppe „Wissenschaft – gesordnungspunkt 17) weltoffen“ des Nationalen Integrationsplans unter ande- rem mit dem Potenzial der qualifizierten Migrantinnen Marcus Weinberg (CDU/CSU): Unser Land blickt und Migranten befasst, die bereits in Deutschland leben, auf eine lange und prägende Migrationstradition mit aber bisher keinen qualifizierten Arbeitsmarktzugang zahlreichen Beispielen erfolgreicher Integration zurück. haben. Thematisiert wurden insbesondere auch die weit- 15680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) gehenden Probleme bei der Anerkennung und Bewer- Zu den wesentlichen Aufgaben der Zentralstelle zählt, (C) tung von im Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen dass sie auf Anfrage der zuständigen Stellen die auslän- und -nachweisen. dischen Bildungsnachweise individueller Antragsteller bewertet, dass sie allgemeine Äquivalenzgrundlagen und Angaben zum Qualifikationsniveau von Zuwandern- Einstufungsempfehlungen für ausländische Bildungs- den bei der Einreise nach Deutschland lassen sich nicht nachweise erstellt. Diese Empfehlungen können gele- machen, da berufliche und schulische Qualifikationen gentlich den Charakter verbindlicher Regelungen erhal- bei der Ankunft nicht erhoben werden. Die Daten des ten, wenn sie durch eine gemeinsame Entschließung der Mikrozensus 2005 geben zwar Auskunft über die Quali- Kultusministerkonferenz, KMK, gebilligt werden. Wei- fikationsstruktur der Bevölkerung mit Migrationshinter- tere Obliegenheiten der Zentralstelle für ausländisches grund, differenzieren aber nicht nach im Ausland oder Bildungswesen sind zum einen die Unterstützung der zu- Inland erworbenen Abschlüssen. Auch in der Datenauf- ständigen Stellen bei der Vorbereitung bilateraler Ab- nahme der Bundesagentur für Arbeit zu den formalen kommen mit den Regierungen ausländischer Staaten Qualifikationen sind nur deutsche bzw. in Deutschland über die gegenseitige Anerkennung von Bildungsnach- anerkannte Berufsabschlüsse vorgesehen; selbst auslän- weisen und zudem eine allgemeine Informations- und dische Hochschulabschlüsse gehen bei fehlender Aner- Dokumentationstätigkeit im Hinblick auf ausländische kennung nicht in die formalen Qualifikationsprofile der Bildungssysteme. Der Betrieb einer Datenbank zur An- Arbeitslosen ein. erkennung ausländischer Bildungsnachweise ist im Auf- bau. Nach Schätzungen der Universität Oldenburg leben in Deutschland zurzeit allein rund 500 000 zugewanderte Die mit der Zentralstelle zusammenarbeitenden Insti- Akademiker und Akademikerinnen, deren Abschluss tutionen und Behörden sind: die Kultus- und Wissen- nicht anerkannt wurde und die deshalb unqualifizierten schaftsministerien der Länder in der Bundesrepublik oder nicht ausbildungsadäquaten Tätigkeiten nachgehen. Deutschland. Diese sind unter anderem zuständig für all- Diese Nichtanerkennung beruflicher Qualifikationen er- gemeine Angelegenheiten des Hochschulzugangs, für schwert bzw. verhindert nicht nur individuell die Auf- die Bewertung von Studienabschlüssen von Lehrern und nahme einer dem Bildungsstand entsprechenden Er- die Erteilung der Genehmigung zur Führung ausländi- werbstätigkeit, sondern bedeutet in volkswirtschaftlicher scher akademischer Grade, für besondere Gremien der Perspektive, dass erhebliche Qualifikationsressourcen Kultusministerkonferenz, die sich mit internationalen im Erwerbssystem brachliegen. Angelegenheiten des Bildungswesens befassen, für Uni- versitäten und andere Einrichtungen des Schul- und Das Anerkennungswesen für im Ausland erworbene (B) Hochschulbereichs, die in Einzelfällen der Hochschulzu- (D) Berufs- und Hochschulabschlüsse in Deutschland ist lassung und der Einstufung ausländischer Antragsteller noch unübersichtlich. Auf EU-Ebene wird im Rahmen um Rat fragen, zudem für andere Ministerien und nach- des Bologna-Prozesses die Vergleichbarkeit von Hoch- geordnete Behörden, die für die berufliche Anerkennung schulabschlüssen vorangetrieben, auch für den Bereich von Bildungsabschlüssen zuständig sind, zum Beispiel der beruflichen Abschlüsse. Auf einer Tagung des Euro- die für das Gesundheitswesen zuständigen Ministerien päischen Rates in Barcelona im Jahr 2002 hat der Euro- der Länder, für Stipendien vergebende Stellen, ausländi- päische Rat sowohl eine engere Zusammenarbeit im sche Institutionen, die Auskünfte über das deutsche Bil- Universitätsbereich als auch die Verbesserung der Trans- dungswesen und über die Anerkennung von Studienleis- parenz und Methoden zur gegenseitigen Anerkennung tungen und Hochschulabschlüssen für ausländische von Berufsbildungssystemen gefordert. Mit der Einfüh- Studierende in der Bundesrepublik Deutschland erbitten rung eines Europäischen Qualifikationsrahmens, EQR, und Organisationen für den Studentenaustausch. sollen unter anderem die Vergleichbarkeit und ein Rah- men für die Anerkennung von Qualifikationen im Be- Um ihre verschiedenartigen Funktionen sachgerecht reich der allgemeinen und beruflichen Bildung erstellt erfüllen zu können, ist die Zentralstelle verpflichtet, eine und umgesetzt werden, siehe auch die Lissabonkonven- solide Basis verlässlicher und aktueller Informationen tion, ein am 11. April 1997 von der Bundesrepublik bereitzuhalten. Zu diesem Zweck führt sie eine Refe- Deutschland unterzeichnetes Übereinkommen über die renzbibliothek, die wesentliche Aspekte des ausländi- Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich schen Bildungswesens im internationalen Maßstab ab- in der europäischen Region; veröffentlicht im Bundesge- deckt. Die Zentralstelle führt ein Archiv des deutschen setzblatt Jahrgang 2007 Teil II Nr. 15. Die Zentralstelle Bildungswesens mit Schwerpunkt in der Sammlung der für ausländisches Bildungswesen, ZAB, im Sekretariat verschiedensten Studien- und Prüfungsordnungen sowie der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder weiterer Ausbildungsregelungen; eine Sammlung aller in der Bundesrepublik Deutschland ist die zuständige verfügbaren Literatur – Zeitschriften, Bücher, Kataloge Stelle für Angelegenheiten der Bewertung und Einstu- usw. –, die sich mit ausländischen Bildungssystemen fung ausländischer Bildungsnachweise. Sie erbringt be- oder Gesellschaft, Kultur und Berufsleben betreffenden ratende und informatorische Dienstleistungen für die mit Angelegenheiten befassen, und außerdem hat die Zen- der Anerkennung ausländischer Bildungsnachweise be- tralstelle ein Informationsnetzwerk aufgebaut, welches fassten Stellen in der Bundesrepublik Deutschland, zum auch die deutschen und ausländischen Botschaften ein- Beispiel Ministerien, Behörden, Hochschulen, Gerichte; bezieht. Die Zentralstelle arbeitet unter anderem auf die- sie hat selbst keine Entscheidungsbefugnisse. sen Gebieten auch eng mit den nationalen Äquivalenz- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15681

(A) zentren der Mitglieder des Europarats und der EU passungsqualifizierungen ist vieles zu verbessern. Die (C) zusammen. Anerkennungsverfahren sollen auf der Grundlage ver- gleichbarer und für alle Betroffenen nachvollziehbarer Sie gibt für den Dienstgebrauch der zuständigen Stel- Standards transparenter gestaltet, die Lesbarkeit der An- len in der Bundesrepublik Deutschland Veröffentlichun- erkennung von Studienabschlüssen und anderen Qualifi- gen zum ausländischen Bildungswesen heraus: Auslän- kationsnachweisen verbessert, die Standardisierung von dische Bildungsnachweise und ihre Bewertung in der Prüfungsanforderungen und der Aufbau von Anerken- Bundesrepublik Deutschland, „Bewertungsvorschläge“: nungsinformationssystemen vorangetrieben werden. Diese mehrbändige Loseblattsammlung dient als Ar- beitsgrundlage für den Hochschulzugang ausländischer Das bestehende Angebot zur Nach- und Anpassungs- Studienbewerber; sie wird ein- bis zweimal jährlich ak- qualifizierung ist weiter auszubauen, zu differenzieren tualisiert und enthält neben den jeweiligen Bewertungs- und für weitere Zielgruppen zu öffnen. Dies gilt auch für empfehlungen Übersichten über das Notensystem sowie das Akademikerprogramm und die Maßnahmen des Hinweisen zur Berechnung von Gesamtnoten, eine aus- „Garantiefonds Hochschulbereich“, mit denen der Bund führliche Auflistung der ausländischen, für den Hoch- seit mehr als zwanzig Jahren zugewanderte Akademiker schulzugang berechtigenden Zeugnisse sowie für eine und Akademikerinnen in den ersten Jahren nach der Ein- Reihe von Ländern eine knappe Darstellung des Schul- reise nach Deutschland bei der beruflichen Integration systems. Seit Frühjahr 2003 sind die „Bewertungsvor- unterstützt bzw. auf ein Hochschulstudium vorbereitet. schläge“ in der Datenbank ANABIN unter „Hochschul- Ergänzend ist für gezielte Qualifizierungsmaßnahmen zu zugang“ verfügbar. plädieren; für zugewanderte Akademiker und Akademi- Gesetzliche Vorgaben zu den Anerkennungsverfahren kerinnen ohne Aussicht auf eine ausbildungsadäquate (Beruf) gibt es nur für Spätaussiedler und Spätaussiedle- berufliche Position, um ihnen zumindest einen Berufs- rinnen, die einen Rechtsanspruch auf Anerkennungsver- einstieg auf mittlerer Ebene zu ermöglichen. fahren in allen Berufen haben, sowie hinsichtlich Bund, Länder und die Wirtschaft haben sich im Natio- bestimmter Berufe auch für Unionsbürger und Unions- nalen Integrationsplan verpflichtet, Anerkennungsver- bürgerinnen. In weiten Teilen sind Zuwandernde für die fahren und Maßnahmen zu optimieren. Die Länder beto- Anerkennung ihrer Qualifikationen auf den freien Markt nen, dass im Ausland erworbene „Schul-, Bildungs- und und damit auf die Bereitschaft und Fähigkeit individuel- Berufsabschlüsse volkswirtschaftlich besser genutzt ler Arbeitgeber verwiesen, fremdsprachige Zeugnisse zu werden“ müssen und in diesem Zusammenhang auch akzeptieren und ausländische Ausbildungen zu bewer- Teilanerkennungen und gezielte Nachqualifizierungen ten. Problematisch ist dies – angesichts Hunderter von sinnvoll wären. Ausbildungsberufen im dualen System – insbesondere (B) (D) bei Berufsausbildungen und Meisterabschlüssen. Der Bund verpflichtet sich, seine Maßnahmen zur An- passungs- und Nachqualifizierung zuwandernder Akade- Die formale Vergleichbarkeit von Berufsausbildungen miker und Akademikerinnen zielgruppenspezifisch wei- und die gegenseitige Anerkennung beruflicher Zeug- terzuentwickeln, und das BAMF legt ein Konzept zur nisse ist bilateral nur mit Österreich, Frankreich und der beruflichen Integration zugewanderter Akademikerinnen Schweiz – nur Handwerk – geregelt. Die Kammern bie- und Akademiker vor, das sich insbesondere auf die Opti- ten hier allerdings in vielen Fällen informelle Hilfestel- mierung der Anerkennungsverfahren von Bildungs- und lungen und Anerkennungsmöglichkeiten an. Hier wird Berufsabschlüssen, unter anderem in Zusammenarbeit nachgebessert, mit Hilfe der Einführung des Europäi- mit der Kultusministerkonferenz, sowie auf Angebote der schen Qualifikationsrahmens EQR. fachlichen und sprachlichen Nachqualifizierung bezieht. Auch für Akademiker und Akademikerinnen mit aus- Die Industrie- und Handelskammern erklären sich bereit, ländischem Abschluss, die unmittelbar einen Arbeits- ihre Leistungen zur Anerkennung von im Ausland erwor- marktzugang suchen, fehlt ein einheitliches Anerken- benen Qualifikationen vor allem im Bereich der gutach- nungsverfahren; die Zuständigkeiten der Zentralstelle terlichen Stellungnahmen zu ausländischen Zeugnissen für ausländisches Bildungswesen und der Hochschulen weiter zu verbessern. für die sogenannte akademische Anerkennung, das heißt Abschließend sei hier noch auf das im Oktober 2006 die Anerkennung von Studienzeiten, Studienleistungen, angelaufene Modellprojekt des Bundes „AQUA – (zuge- akademischen Abschlüssen und Graden, liegen in der wanderte) Akademikerinnen und Akademiker qualifizie- Beratung und Bewertung, nicht in der Anerkennung. ren sich für den Arbeitsmarkt“ hingewiesen. Es steht für Im Bereich der reglementierten Berufe, in denen der die Ablösung der am Rechtsstatus von Migrantinnen und Berufszugang entweder durch Bundesgesetz, unter ande- Migranten orientierten Förderstrategien der Vergangen- rem Rechts- oder Gesundheitsberufe, oder durch Länder- heit. AQUA bereitet zugewanderte und deutsche Ar- recht, unter anderem Erziehungsberufe und Ingenieure beitslose mit akademischer Vorqualifikation mittels ge- bzw. Architekten, geregelt ist, scheitern Drittstaatsange- meinsamer Maßnahmen in verschiedenen Berufsfeldern hörige regelmäßig daran, dass ihnen – anders, zum Bei- auf Arbeitsplätze mit gehobenen Anforderungen vor. spiel als Unionsbürgerinnen und -bürgern – bestimmte Anknüpfungspunkt für das Modell ist der Erfolg des Anerkennungsinstrumente, wie individuelle Eignungsprü- Akademikerprogramms, das mit relativ kurzen Förde- fungen nicht zur Verfügung stehen. Sowohl im Bereich rungen – 12 bis 15 Monate – eine hohe Überleitungs- der Anerkennung von Bildungsnachweisen und ausländi- quote, rund 70 Prozent, aus der Förderung in den ersten schen Abschlüssen als auch bei den erforderlichen An- Arbeitsmarkt erreicht, als Zielgruppenprogramm aber 15682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) für deutsche Arbeitslose nicht zugänglich ist. Neben der darin eine große Chance und wollen ihre Fähigkeiten (C) Vermittlung fachbezogener Kenntnisse und Kompeten- und Fertigkeiten gern annehmen. zen zielt AQUA darauf, den Deutschspracherwerb der Wir wissen alle, dass wir aus demografischen Grün- Zugewanderten zu intensivieren und die interkulturellen den Zuwanderung brauchen und auch wollen. Da genügt Kompetenzen beider Gruppen zu verbessern. Erprobt es nicht, Menschen aus allen Teilen der Welt nach wurde das Modell bisher in vier Berufsfeldern, seit Ok- Deutschland einzuladen, sie müssen hier auch eine neue tober 2007 ist AQUA deutlich ausgeweitet worden und Heimat finden. Das heißt unter anderem, dass die Inte- umfasst nun 13 Berufsfelder. gration in den Arbeitsmarkt unmittelbar mit der Qualifi- Erwähnt werden soll hier zudem der 2006 mit Unter- kation, die diese Menschen bereits erworben haben, ver- stützung des Europäischen Flüchtlingsfonds initiierte knüpft ist. Integration erfordert daher eine sachgerechte Studiengang „Interkulturelle Bildung“ an der Universität Anerkennung der bereits erworbenen Qualifikationen und Oldenburg, der Zugewanderten, deren akademischer Ab- Fähigkeiten. schluss in Deutschland nicht anerkannt wurde, einen Differenzierte bzw. genauere Angaben zum Qualifi- deutschen Bachelor-Abschluss ermöglicht. Dieses Ange- kationsniveau von Zuwanderern bei der Einreise liegen bot, das bisher Anpassungsqualifikationen in Pädagogik, uns nicht vor, da diese Daten bei der Einreise nicht erho- Sozialpädagogik und Sozialwissenschaften umfasst, wird ben werden. perspektivisch auf andere Studiengänge – Informatik, Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften – aus- Wie auch im Antrag erwähnt, leben nach Schätzun- geweitet. gen der Universität Oldenburg 500 000 zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland, de- Eine deutliche Verbesserung der Arbeitsmarktintegra- ren Abschluss nicht anerkannt wurde und die deshalb tion von Menschen mit Migrationshintergrund ist so- unqualifizierten oder nicht ausbildungsadäquaten Tätig- wohl aus sozial- und gesellschaftspolitischen als auch keiten nachgehen. aus volkswirtschaftlichen Gründen geboten. Auch ange- Die Anerkennung von Abschlüssen ist ein sehr weit sichts der demografischen Entwicklung und des Rück- reichendes Thema: Auf der europäischen Ebene ist die gangs des Arbeitskräfteangebots in Deutschland ist es Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes und Ar- Anliegen von Politik und Wirtschaft, die Erwerbsbeteili- beitsmarktes ein wichtiges Ziel. Die Gemeinschaft hat gung der Migrantenbevölkerung gezielt zu erhöhen und immer wieder mit neuen Initiativen Verfahren und Richt- insbesondere zur Verbesserung der Qualifikationsstruk- linien zur Anerkennung von Qualifikationen entwickelt, tur des Erwerbspersonenpotenzials mit Migrationshin- um Mobilitätshindernisse zu beseitigen. tergrund beizutragen. (B) Gestatten Sie mir, die einzelnen Anerkennungsverfah- (D) Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung be- ren kurz zu skizzieren: Die Anerkennung schulischer schlossen, im Rahmen der europäischen Beschäftigungs- Leistungen, die im Ausland erbracht wurden, beschränkt strategie bei der Umsetzung des Bundesprogramms zum sich lediglich auf die Anerkennung von Schulabschlüs- Europäischen Sozialfonds für die Förderperiode 2007 sen. Bei Leistungen innerhalb einer noch fortzusetzen- bis 2013 „ein besonderes Augenmerk auf migrationspo- den Schullaufbahn findet kein formelles behördliches litische Aspekte“ zu richten und den Nationalen Integra- Anerkennungsverfahren statt. Über die Einstufung in die tionsplan durch eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen be- an einer deutschen Schule fortzusetzende Schullaufbahn sonders zu unterstützen. entscheidet vielmehr die jeweilige Schulleitung in Ab- sprache mit der örtlichen Schulbehörde, den Schülern Gesine Multhaupt (SPD): „Putzfrauen mit Doktorti- und ihren Eltern in der Regel im Anschluss an einen Pro- tel“ so überschrieb ein bekanntes Wochenmagazin im beunterricht. Herbst letzten Jahres einen Artikel, in dem die Anerken- Für die Gleichstellung mit dem deutschen Haupt- nung ausländischer Diplome in Deutschland thematisiert schulabschluss ist der Nachweis des Besuches von min- wurde. destens neun aufsteigenden Klassen an allgemeinbilden- den Schulen mit hinreichendem Unterricht zumindest in In der Tat, wir brauchen in Deutschland nicht nur der Muttersprache, in Mathematik, einem naturwissen- dringend ein verbessertes Bildungswesen, insbesondere schaftlichen und einem sozialkundlichen Fach erforder- müssen wir außerdem die Chancen der hier geborenen lich. Migrantinnen und Migranten erweitern, und: Wir müs- sen uns auch um die große Zahl von Migrantinnen und Um eine Gleichstellung mit dem deutschen mittleren Migranten kümmern, die im Erwachsenenalter einge- Bildungsabschluss zu erreichen, ist der erfolgreiche Be- wandert sind und hier – wenn überhaupt – nicht in ihrem such von mindestens zehn aufsteigenden Klassen an all- erlernten Beruf, sondern in einem anderen, schlechter gemeinbildenden Schulen sowie hinreichender Unter- qualifizierten Berufsfeld, tätig sind. richt in der Muttersprache, einer Fremdsprache, in Mathematik, einer Naturwissenschaft sowie in einem so- Die Anerkennung von im Ausland erworbenen Ab- zialkundlichen Fach erforderlich. Abweichende Rege- schlüssen steht unmittelbar im Zusammenhang mit der lungen für Aussiedler gibt es nicht. Bei ausländischen Integration von Fachkräften aus dem Ausland. Grund- Sekundarschulabschlüssen wird geprüft, ob der Ab- sätzlich begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion die Zu- schluss im Herkunftsland ein Hochschulstudium ermög- wanderung von ausländischen Fachkräften. Wir sehen licht. Prinzipiell eröffnen solche Abschlüsse dann auch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15683

(A) den Hochschulzugang in Deutschland, wenn auch auf sind die Regelungen unübersichtlich und verwirrend. In (C) unterschiedliche Weise wie bei Abschlüssen nach zwölf- nicht reglementierten Berufen kommt erschwerend jähriger allgemeiner Schulform, bei Abschlüssen poly- hinzu, dass fremdsprachige Zeugnisse von Arbeitgebern technischer Schulen usw. mit Skepsis beurteilt werden, weil sie das Bildungssys- tem des Herkunftslandes nicht kennen. Nicht alle ausländischen Bildungssysteme sind mit dem deutschen so weit kompatibel, dass sie einen direk- Im Hochschulbereich haben wir auf der EU-Ebene im ten Hochschulzugang in Deutschland eröffnen. Ab- Rahmen des Bologna-Prozesses die Vergleichbarkeit schlüsse aus außereuropäischen Ländern erfordern häu- von Abschlüssen stetig vorangetrieben. Mit Bachelor fig den Besuch eines Universitätsvorbereitungskurses an und Master werden international anerkannte Abschlüsse einem deutschen Studienkolleg. Dort wird dann mit der erlangt. Umgekehrt ermöglicht diese Harmonisierung abschließenden Feststellungsprüfung eine – fachgebun- auch die Anerkennung ausländischer Hochschulab- dene – Hochschulreife erworben. Ein begonnenes Stu- schlüsse. Zumal diese Entwicklung dazu führen wird, dium befreit in der Regel von der Feststellungsprüfung dass die Abschlussarten nicht mehr als fremd empfunden und es besteht die direkte fachgebundene Hochschulzu- werden. gangsqualifikation. Personen, die bereits ein Hochschul- studium abgeschlossen haben, stehen alle Studiengänge Aber auch hier haben wir noch das Problem, dass an den Hochschulen in Deutschland offen. Akademikern und Akademikerinnen mit ausländischem Abschluss ein einheitliches Anerkennungsverfahren Problematisch wird es in der Tat bei Ausbildungsbe- fehlt. Die konkrete Einstufung der jeweils vorgelegten rufen im dualen System und Meisterabschlüssen. Die Zeugnisse erfolgt durch die zuständigen Landesbehör- formale Vergleichbarkeit von Berufsausbildungen und den. die gegenseitige Anerkennung beruflicher Zeugnisse Diese konkreten Beispiele zeigen deutlich, dass für sind nur selten – wie beispielsweise mit Österreich, die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüs- Frankreich und der Schweiz – geregelt. Bei der Aner- sen eine Vielzahl an Verbesserungen notwendig ist. Eine kennung ausländischer Berufsqualifikationen wird zwi- Bündelung der Informationen über im Ausland erwor- schen reglementierten und nicht reglementierten Berufen bene Schulabschlüsse erfolgt über die Zentralstelle für unterschieden. Das hat zur Folge, dass der Zugang zu ei- ausländisches Bildungswesen im Sekretariat der Kultus- nem reglementierten Beruf, die Möglichkeit seiner Aus- ministerkonferenz. übung und die Führung einer entsprechenden Berufsbe- zeichnung – zum Beispiel Arzt, Ingenieur, Friseurmeister – Trotzdem stecken wir bei den angesprochenen The- ausschließlich von der behördlichen Anerkennung der men in einem Dilemma: Auf der einen Seite wollen wir (B) beruflichen Qualifikation, die im Ausland erworben Zuwanderung von qualifizierten Kräften, die hier auch (D) wurde, abhängt. Die Anerkennung von reglementierten in den Arbeitsmarkt adäquat integriert werden. Auf der Berufen muss bei der zuständigen Stelle des Bundeslan- anderen Seite können wir in einer Arbeitswelt, in der im- des, in dem man wohnt, beantragt werden. mer höhere Qualifikationsanforderungen gestellt wer- den, unsere Standards nicht aufweichen. Vorteile aus der Anerkennung einer beruflichen Qua- lifikation ergeben sich darin, dass damit die gesetzlichen Hierzu haben wir bereits einiges unternommen. Bund, Voraussetzungen erfüllt werden können, die es einem er- Länder, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände haben möglichen, in diesem Beruf als Angestellter oder An- sich im Nationalen Integrationsplan verpflichtet, Aner- gestellte oder selbstständig arbeiten zu können. Eine kennungsverfahren und Maßnahmen zu verbessern. Tei- Anerkennung bietet zudem die Möglichkeit, Weiterbil- lanerkennungen und gezielte Nachqualifizierungen sind dungsangebote und Umschulungsmaßnahmen in An- geplant. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt dieses spruch nehmen zu können. Vorhaben. Wir unterstützen die Arbeitsgruppe „Wissen- schaft – weltoffen“ des Nationalen Integrationsplans in Ich halte die Transparenz von Informationen insbe- ihren Bemühungen, die Anerkennungsverfahren auf sondere für Drittstaatenangehörige für problematisch, so Grundlage vergleichbarer und für alle Betroffenen nach- wie es auch im 7. Bericht der Beauftragten der Bundes- vollziehbarer Standards transparenter zu gestalten. Das regierung für Migration, Flüchtlinge und Integration gilt für die Anerkennung von Studienabschlüssen und über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in anderen Qualifikationsnachweisen sowie für Prüfungs- Deutschland zum Ausdruck gebracht wird. Dort heißt es anforderungen und den Aufbau von Informationssyste- weiter, dass „in weiten Teilen Zuwandernde für die An- men. erkennung ihrer Qualifikationen auf den freien Markt und damit auf die Bereitschaft und Fähigkeit individuel- Wir werden uns dafür einsetzen, dass die bestehenden ler Arbeitgeber verwiesen werden“. Bei den reglemen- Angebote zur Nach- und Anpassungsqualifizierung aus- tierten Berufen, in denen der Berufszugang entweder gebaut werden. Um die Potenziale der Zuwanderer zu durch Bundesgesetz, wie beispielsweise bei Gesundheits- nutzen, werden wir gezielte Qualifizierungsmaßnahmen berufen oder durch Ländergesetze geregelt ist, wie bei- für zugewanderte Akademiker ohne Aussicht auf eine spielweise bei Erziehungsberufen oder Ingenieuren, ausbildungsadäquate berufliche Position verbessern. Da- scheitern Drittstaatenangehörige daran, dass ihnen be- mit erreichen wir für die Betroffenen einen Berufsein- stimmte Anerkennungsinstrumente, wie individuelle Eig- stieg auf der mittleren Ebene und verhindern, wie ein- nungsprüfungen nicht zur Verfügung stehen. Für poten- gangs erwähnt, dass promovierte Zuwanderer hier als zielle Arbeitgeber und für die betroffenen Zuwanderer Putzfrauen arbeiten müssen. 15684 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Ich habe vorhin bereits die Universität Oldenburg in wicklung eines sogenannten Europäischen Qualifika- (C) meinem Wahlkreis erwähnt. An dieser Stelle möchte ich tionsrahmens gearbeitet. Wir müssen uns nur immer auch insbesondere den 2006 mit Unterstützung des Euro- wieder klarmachen, worum es dabei geht: Abschlüsse päischen Flüchtlingsfonds initiierten Studiengang „Inter- vergleichbar machen und die Freizügigkeit fördern, um kulturelle Bildung“ nennen. Hier haben Zugewanderte, so Mobilität zu fördern, jungen Menschen eine Bil- deren akademischer Abschluss in Deutschland nicht an- dungs- und Ausbildungsperspektive zu geben – in erkannt wurde, die Möglichkeit, einen deutschen Bache- Deutschland und in Europa. Wenn beispielsweise Erzie- lor zu erhalten. Ein einmaliges Angebot, das bisher An- herinnen und Erzieher ihren Beruf in Deutschland über passungsqualifikationen in Pädagogik, Sozialpädagogik eine berufliche Ausbildung erlernen und in den meisten und Sozialwissenschaften umfasst und perspektivisch anderen europäischen Ländern nicht, ist es sinnvoll, dass auf andere Studiengänge wie Informatik, Naturwissen- es einen Rahmen geben wird, in dem die Gleichwertig- schaften und Ingenieurwissenschaften ausgeweitet wer- keit der Ausbildung festgestellt wird. Die Ausbildung den soll. darf nicht europäisch zementiert werden, sondern es muss gelten: Vielfalt der Wege zum gleichen Ziel – Durch die gesetzlichen Vorgaben sowie beispiels- keine Gleichmacherei! Wir wollen keine Europäisierung weise durch die Einführung des Europasses ist das Infor- der Ausbildung, wir wollen die europäische Anerken- mationsangebot innerhalb der EU für bestimmte Berufe nung vergleichbarer Bildungs- und Ausbildungswege. und für Spätaussiedler relativ verbessert worden. Problematischer gestaltet sich leider sichtlich die An- Die Rechtsgrundlagen werden bei der Bewertung der erkennung der Abschlüsse von Zuwanderern aus Län- unterschiedlichen ausländischen Hochschulzugangsqua- dern außerhalb der EU. Hier ist ein klarer Handlungsbe- lifikationen durch die Zentralstelle für ausländisches Bil- darf zu sehen. In der Tat muss der Zugang zum dungswesen in Form genereller Empfehlungen berück- Arbeitsmarkt für diese Menschen sachgerecht eingestuft sichtigt. Diese Empfehlungen werden seit Mitte 2003 werden, und zwar zügig. Insofern ist auch dieses Ansin- nebst weiteren Dokumenten in einer Datenbank verfüg- nen der Linken grundsätzlich richtig. Klassisch ist nur bar gemacht. Über ausländische Schul- und Notensys- wiederum, wie die Linke auf diese Herausforderung re- teme kann man sich dort auf den öffentlich zugänglichen agiert: Mit Rechtsansprüchen für alle und ausschließlich Seiten der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen staatlichen und bürokratischen Maßnahmen. Wann ver- informieren. In den jeweiligen Bewertungsvorschlägen stehen Sie endlich? Nicht mehr Bildungsdiktate, sondern eines Landes sind in den Rubriken „Zeugnisbewertung“ mehr Bildungsfreiheit und Vielfalt der Wege eröffnen und „Abschlüsse“ wesentliche Hinweise zur Einordnung neue Chancen. Ja, wir müssen dafür sorgen, dass Zu- ausländischer Schulzeugnisse sowie zum Hochschulbe- wanderer leichter in den deutschen Arbeitsmarkt inte- (B) reich vermerkt. griert werden können. Ja, das hat nicht nur etwas mit ih- (D) Mit der Lissabonner Anerkennungskonvention ist ren Sprachkenntnissen zu tun. Ja, es muss auch geprüft nicht nur die akademische Anerkennung verbessert wor- werden, wie ihre in ihren Heimatländern erworbenen den, sondern auch im Bereich der akademischen Ab- Berufsbilder hier anerkannt werden können. Es muss da- schlüsse zu beruflichen Zwecken. Zumindest innerhalb bei aber vor allem auch darauf geachtet werden, dass die der EU werden durch den Europäischen Qualifikations- Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsab- rahmen innerhalb der Union die Kenntnisse, Fertigkeiten schlüssen nicht zulasten von Qualität und Sicherheit der und Kompetenzen der Menschen zuverlässiger ver- beruflichen Standards hier in Deutschland führt. gleichbar sein. Der Antrag der Linken benachteiligt all diejenigen, die einen anspruchsvollen Bildungsgang in Deutschland Die Debatte zeigt, dass die Anerkennung von im Aus- absolviert haben. Die Notwendigkeit einer Anerkennung land erworbenen Abschlüssen umfangreicher ist als im der ausländischen Studiengänge bzw. deren Abschlüsse Antrag dargestellt. Gemeinsam können wir sicher schon wird von den Linken höher eingestuft als die Absiche- heute feststellen, dass das Problem richtig analysiert ist, rung der Standards in Deutschland. Das ist der falsche besteht und in gemeinsamen Anstrengungen gelöst wer- Weg. So wird die berufliche Perspektive aller Migranten den muss. Nur in Zusammenarbeit mit verschiedenen zunichtegemacht. Denn wer will sich denn dann noch Ministerien auf Bundesebene, mit den Ländern, der von einem Mediziner mit nichtdeutschem Abschluss Wirtschaft und weiteren Akteuren werden wir Stück für operieren lassen, wer über eine Brücke fahren, deren Stück die Stolpersteine im Berufsleben von Migranten strukturelle Integrität von einem Statiker mit ausländi- und Migrantinnen abbauen. schem Diplom berechnet wurde? Es zeigt sich eben mal wieder: Eine gute Idee wird unter dem falschen Geist Patrick Meinhardt (FDP): Je globalisierter die Welt zum Bumerang und so zu einem Irrweg: Nicht mit uns! wird, desto wichtiger ist es, Bildungshürden abzubauen. Deswegen sind die Fragen der gegenseitigen Anerken- Genauso würde es sich mit der beruflichen Bildung nung bildungspolitisch enorm wichtig. verhalten. Das System der dualen Berufsausbildung ist ein deutscher Exportschlager. Wenn die Vorstellung der Was die Europäische Union angeht, ist diese Diskus- Linken umgesetzt werden würde, würde dieses Erfolgs- sion schon weit fortgeschritten. Wir müssen hier unsere modell komplett ausgehöhlt werden. Und genau für das Vorstellungen aktiv einbringen, statt auf das zu reagie- Gegenteil kämpfen wir! Im Sinne einer guten Bildung ren, was uns von Europa vorgegeben wird. Bereits seit und Ausbildung der jungen Menschen in diesem Land einiger Zeit wird in der Europäischen Union an der Ent- können wir es uns nicht leisten, dass Bildungsabschlüsse Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15685

(A) aufgeweicht werden und das Niveau abgesenkt wird. rufsverbänden, Gewerkschaften usw. ein Konzept entwi- (C) Deshalb lehnt die FDP-Fraktion diesen Antrag im Sinne ckelt, mit dem die Anerkennung im Ausland erworbener der Bildungsgerechtigkeit ab. Qualifikationen bzw. von Schul-, Bildungs- und Berufs- abschlüssen sowie Hochschulzugangsberechtigungen bundesweit vereinheitlicht, vereinfacht, erleichtert und Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Im Dezember 2007 beschleunigt wird. stellte die Beauftragte der Bundesregierung für Migra- tion, Flüchtlinge und Integration, Frau Böhmer fest, dass Andere Länder gehen mit guten Beispielen voran. Dä- vor allem Migrantinnen und Migranten in dieser Gesell- nemark hat beispielsweise ein Kompetenzzentrum für schaft abgehängt sind. Nach wie vor entscheiden in die- Zuwandernde eingerichtet, das berufliche Qualifikatio- sem Land Geldbeutel und Herkunft über die Bildungs- nen bewertet und auch praktisch testet. Schweden testet karriere und den weiteren Lebensweg. Mit unserem berufliche Qualifikationen in Betrieben und zertifiziert Antrag wollen wir ein Ende der Sonntagsreden. Den vie- sie anschließend. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. len Worten sollen endlich auch Taten folgen! In der öf- Wir schlagen vor, ein ähnliches System hierzulande ein- fentlichen Debatte wird Migrantinnen und Migranten zuführen. So soll eine vereinfachte Anerkennung im immer wieder vorgeworfen, sich nicht integrieren zu Rahmen von speziellen Lehrgängen möglich sein, die wollen. Es würde ein Rückzug in Parallelgesellschaften dann durch die im Rahmen des Lehrgangs erworbenen vollzogen. Ein wesentliches Problem bei der Beschäfti- Zusatzqualifikationen „endgültig“ wird. Außerdem soll gung und beim Arbeitsmarktzugang für Migrantinnen Migrantinnen und Migranten mit ausländischen Bil- und Migranten ist aber, dass ihre im Ausland erworbe- dungsabschlüssen die Möglichkeit eröffnet werden, von nen Qualifikationen und Schul-, Bildungs- und Berufs- gegebenenfalls vereinfachten Abschlussprüfungen im je- abschlüsse nicht oder nur teilweise und häufig nur unter weiligen Fachbereich ohne vorherige Ausbildung bzw. erschwerten Bedingungen anerkannt werden. vorheriges Studium Gebrauch machen zu können. Nach Schätzungen der Uni Oldenburg leben in Wir schlagen in unserem Antrag außerdem vor, dass Deutschland allein etwa 500 000 zugewanderte Akade- auch Ergänzungsqualifizierungen möglich sein müssen, mikerinnen und Akademiker, deren Abschluss hierzu- die beispielsweise durch die Bundesagentur für Arbeit lande nicht anerkannt wird und die auch aufgrund dessen finanziell gefördert werden müssen. Die unübersichtli- häufig unqualifizierten Tätigkeiten nachgehen müssen. che Struktur in Deutschland verhindert allzu oft, dass Von gut ausgebildeten Fachkräften ganz zu schweigen. Migrantinnen und Migranten sich über ihre rechtlichen So ist die Arbeitslosenquote von Migrantinnen und Mi- und beruflichen Möglichkeiten informieren können. granten hierzulande doppelt so hoch wie die der Gesamt- Dem muss durch eine gezielte Berufsberatung für Mi- (B) bevölkerung. Migrantinnen und Migranten befinden sich grantinnen und Migranten Abhilfe geschaffen werden. (D) vorwiegend in sogenannten prekären Arbeitsverhältnis- Die Berufsberatung muss auch Vermittlungsversuche in sen, zumeist im Niedriglohnbereich. 38 Prozent der Berufe entsprechend der im Ausland erworbenen Quali- Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger haben in die- fikation beinhalten. sem Land einen Migrationshintergrund. Jede fünfte Per- son mit Migrationshintergrund muss Grundsicherungs- Bis ein bundesweit einheitliches, vereinfachtes Sys- leistungen in Anspruch nehmen. Bei Personen ohne tem der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qua- Migrationshintergrund ist es nur jede 14. Während die lifikationen erreicht wird, halten wir es für notwendig, Armutsrisikoquote in der Bevölkerung ohne Migrations- ein Berichtssystem zu etablieren. Nur indem die Bundes- hintergrund bei fast 12 Prozent liegt, liegt sie bei Mi- regierung jährlich ihre Fortschritte darstellen muss, grantinnen und Migranten bei 28 Prozent. Dies bestärkt kommt es aus unserer Sicht zu schnellen Verbesserungen die verdrehte Sichtweise von Armut als ursächlich der Situation von Migrantinnen und Migranten. Wir for- (auch) „ethnisches“ Problem, wodurch allgemeine Vor- dern sie auf, endlich aktiv zu werden. Beenden sie den urteile verstärkt werden. Diese schlagen wiederum Mi- unhaltbaren Zustand, dass Akademikerinnen und Akade- grantinnen und Migranten als Diskriminierungen insbe- miker und ausgebildete Fachkräfte wegen der Nichtaner- sondere auch bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzver- kennung ihres Abschlusses in der Bundesrepublik als gabe entgegen. ungelernte Arbeitskräfte gelten und ins soziale Abseits abgeschoben werden. Meine Fraktion nimmt nicht einfach hin, dass Mi- grantinnen und Migranten ihre Potenziale und Fähigkei- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten in diese Gesellschaft nicht gleichermaßen einbringen Bei der Anerkennung von Schul-, Bildungs- und Berufsab- können. Mit unserem Antrag schlagen wir eine Vielzahl schlüssen, die im Ausland erworben wurden, bestehen in von Lösungsmöglichkeiten vor. Die spezielle Situation der Tat in Deutschland Schwierigkeiten. Zu oft ist der Aner- der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse kennungsprozess zu mühsam und erweist sich damit als muss auch im Rahmen der Diskussionen um einen Na- echte Integrationshürde. tionalen Qualifikationsrahmen spezifisch aufgegriffen werden. Wir schlagen vor, dass das Bundesinstitut für Es ist daher richtig und wichtig, dass die Fraktion Die Berufsbildung (BIBB), in enger Zusammenarbeit mit der Linke dieses Thema mit einem Antrag hier im Bundes- Kultusministerkonferenz (KMK), regierungsunabhängi- tag aufgreift. Ich freue mich auf eine differenzierte Bera- gen Sachverständigen und allen maßgeblichen Akteuren tung darüber im Ausschuss für Bildung, Forschung und wie Migrantinnen- und Migrantenorganisationen, Be- Technikfolgenabschätzung. 15686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Anlage 6 Modernisierung wird Russland Investitionen brauchen, (C) die ohne eine Liberalisierung und ohne eine Stärkung der Zu Protokoll gegebene Reden rechtsstaatlichen Garantien nicht zu erlangen sind. zur Beratung des Antrags: Zusammenarbeit Heute füllen Öl- und Gaseinnahmen die Kassen des der EU mit Russland stärken (Tagesordnungs- russischen Staates; und sie vermindern den Reform- punkt 18) druck, der auf ihm lastet. Ein starkes und modernes Russland wird sich jedoch auf Dauer nicht vorrangig auf Manfred Grund (CDU/CSU): Die russische Präsi- Nuklearwaffen und Rohstoffe stützen können. dentschaftswahl bietet uns gleich in mehrfacher Hinsicht Anlass, uns mit den Beziehungen zu Russland zu be- Auf lange Sicht steht Russland vor gewaltigen geopo- schäftigen. Sie bietet nicht nur einen Anlass, um die litischen und demografischen Herausforderungen. Um künftige Entwicklung Russlands zu hinterfragen. Sie sie bewältigen zu können, wird Russland einen hand- bietet uns auch einen Anlass, um über unsere eigene Po- lungsfähigen Staat brauchen. Aber es wird auch die Sta- litik nachzudenken. bilität brauchen, die nur eine funktionierende Zivilge- sellschaft und eine starke Wirtschaft gewährleisten Über die Wahl und ihre Umstände ist schon viel ge- können. Und Russland wird eine langfristige Perspektive sagt und geschrieben worden. Ich war selbst schon oft der Partnerschaft und der Integration in den Westen als Wahlbeobachter der OSZE im Einsatz, auch schon in brauchen. Russland. Ich bedauere sehr, dass die Voraussetzungen Es ist nicht die Stärke Russlands, die uns Sorgen be- dafür diesmal nicht gegeben waren. reiten müsste, sondern seine Schwächen. Auch deshalb Der künftige Präsident Medwedew ist ein Mann des bedarf es vonseiten Europas verstärkter Integrationsan- Kremls. Er ist der Wunschnachfolger Putins. Insofern gebote. In dieser Zielsetzung ist dem Antrag voll und steht er in der Kontinuität der bisherigen Politik. Zugleich ganz zuzustimmen. hat er auch Reformbereitschaft signalisiert. Deshalb soll- Wir müssen aber auch die Perspektive Russlands im ten wir in der Wahl Medwedews vor allem eine Chance Blick haben. Dabei haben wir zu berücksichtigen, dass sehen. Kontinuität und Reform sind nicht notwendiger- Russland oft einem anderen Verständnis von Sicherheit weise Widersprüche. Die Probleme, die Medwedew an- folgt als seine Partner in der EU. Sicherheit durch Inte- gesprochen hat, treffen den Kern russischer Eigeninteres- gration: Das ist das Konzept von NATO und EU. Aber sen. So, wie sie auch der Kreml selbst immer betont hat. zur Einbindung Russlands haben wir noch keinen hinrei- Ein starkes Russland braucht nicht nur einen starken chenden Ansatz gefunden. Staat. Ohne größere Entfaltungsspielräume für die wirt- (B) schaftliche und gesellschaftliche Dynamik kann die Mo- Auch deshalb definiert Russland seine Sicherheit (D) dernisierung Russlands nicht wirklich gelingen. noch vorrangig militärisch und seine Interessen macht- politisch. Aus diesem Grund begreift Moskau auch die Frei und fair waren die Wahlen nicht. Trotzdem gibt Osterweiterungen nicht nur der NATO, sondern auch der es in der Bevölkerung viel Unterstützung für Putin und EU oft genug als gegen sich gerichtet. Medwedew. Das ist auch nachvollziehbar. Putins Herr- schaft steht für einen Zurückgewinn an Stabilität, für Russland sieht seine Einflusssphären erodieren. Mos- wirtschaftlichen Aufschwung. Und für ein neues Selbst- kau versucht, diesen Prozess nicht zuletzt mit machtpoli- bewusstsein. tischen Instrumenten aufzuhalten. Damit mag der Kreml oft nur einem defensiven Impuls folgen. Doch er ver- Aber es ist auch wahr, dass mancher Fortschritt nur stärkt so auf längere Sicht nur sein strategisches Di- vordergründiger Natur ist. Nach den Krisen der neunzi- lemma. Denn er stärkt damit letztlich nur die zentrifuga- ger Jahre war es das erklärte Ziel Präsident Putins, dem len Kräfte an seiner Peripherie Staat neue Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Doch eine gestärkte Vertikale der Macht bedeutete nicht weniger Je mehr aber Russland seine Interessen bedroht sieht, Korruption, sondern oft nur weniger Kritik. Machtstruk- desto notwendiger wird auch eine starke und dann eben turen mögen geschaffen werden, um reale Probleme zu auch eher autoritäre Staatsführung erscheinen. Auf diese lösen. Aber Machtstrukturen schaffen auch Interessen. Weise hängen die außen- und innenpolitische Entwick- Daher war nicht nur die Zentralisierung der politischen lung Russlands zusammen. Abkommen wie der AKSE- Macht problematisch, sondern auch ihre Verflechtung Vertrag mögen für den Augenblick durchaus dem russi- mit den großen Staatsunternehmen. Das zeigt sich nir- schen Sicherheitsbedürfnis entgegenkommen. Im Prin- gendwo deutlicher als in der Öl- und Gasindustrie. Heute zip folgen sie allerdings einem bereits anachronistischen hat Russland an der politischen Kontrolle über Trans- Konzept von Sicherheit. Die sicherheitspolitischen He- portwege und Vorkommen offenbar ein größeres Inte- rausforderungen haben sich längst gewandelt. Wir brau- resse als an deren Erschließung oder der Erneuerung ei- chen Sicherheit miteinander und nicht voreinander. ner oft maroden Infrastruktur. Noch aber bestimmen unterschiedliche Sichtweisen Russland steht vor einem Scheideweg. Seine künftige und Wahrnehmungen die Beziehungen wesentlich mit. Führung wird vor der Entscheidung stehen, welchem Ziel Moskaus Außenpolitik konzentriert sich auf zwischen- sie Vorrang einräumt: der Wahrung staatlicher Kontroll- staatliche Interessen. Wir thematisieren in sehr viel stär- möglichkeiten oder der wirtschaftlichen und gesellschaft- kerem Maße innerstaatliche Missstände. Aber damit ist lichen Modernisierung; denn für seine wirtschaftliche auch das Risiko von Missverständnissen verbunden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15687

(A) Denn es gibt die Gefahr, dass Kritik als subtile, wenn sich auch die Falle, in der sich die russische politische (C) nicht subversive Form einer Politik erscheint, mit der Elite befindet. Bis auf längere Sicht hat Russland die letztlich eigene Interessen verfolgt werden. Natürlich ist Wahl, die eigene Zukunft auf ein Modell zu verengen – Kritik an den inneren Verhältnissen Russlands oft be- Petro-Staat zu werden. Sollte die Elite ausschließlich rechtigt. Nur müssen wir dabei auch eine Sprache fin- dieses Ziel verfolgen, würde sie die wirklichen Heraus- den, die beide Seiten verstehen. forderungen verfehlen. Wer sich die Effizienzprobleme allein bei der Förderung von Rohstoffen oder bei ihrem Zu einer kohärenten Strategie gegenüber Russland Transport anschaut, dem wird klar, dass Russland vor müssen wir auch in der EU vielfach erst noch finden. gewaltigen Anstrengungen steht. Russland muss endlich Was wir brauchen, ist vor allem ein realistisches Ver- sich auf einen für seine Verhältnisse angemessenen Mo- ständnis der gegenseitigen Interessen. Dazu gehört die dernisierungspfad begeben und das Tempo der Verände- Feststellung, dass es für den Augenblick auch Interes- rung beschleunigen. sengegensätze gibt. Ich nenne nur die Entwicklung des Eine Zeit der tiefgreifenden Reformen steht Russland Kosovo, Transnistrien, eingefrorene Konflikte im Kau- bevor: Die Bildungslandschaft muss sich ändern, die kasus oder auch die Differenzen um die Raketenabwehr. Verkehrsinfrastruktur, das Gesundheitswesen, die öffent- Wir sollten dazu bereit sein, diese Auseinandersetzungen lichen Institutionen und die politischen Systeme. Die respektvoll, selbstbewusst und offen auszutragen. Rationalisierungspotenziale müssen voll ausgeschöpft Wenn ich hier von Interessen spreche, meine ich werden und die Industriezweige erneuert. Wer aber wird nicht, dass wir zwischen Werten und Interessen in unse- die Region sein, mit der diese Aufgaben in enger Zusam- rer Außenpolitik abwägen müssen. Vielmehr sollten wir menarbeit am besten bewältigt werden können? Aus rus- bei unserer Zusammenarbeit auf diejenigen russischen sischer Sicht kommen nur zwei angrenzende Partner in- Eigeninteressen bauen, die sich von unseren Werten gar frage, China und die Europäische Union. Moskau hat die nicht trennen lassen. Denn ohne Liberalisierung wird Wahl. eben auch die Modernisierung Russlands ins Stocken ge- Die eigenen Interessen werden Russland dazu drän- raten. gen, die Partnerschaft mit der EU zu verstärken. Das chi- Wir brauchen ein Höchstmaß an Engagement mit nesische Entwicklungsmodell mag auf den ersten Blick Russland – in wirtschaftlicher Hinsicht und zwischen ökonomisch attraktiv erscheinen. Mit dem zweiten, dem den Zivilgesellschaften. Davon werden mehr Impulse rationalen Blick wird deutlich, warum das europäische für den inneren Wandel Russlands ausgehen als von al- Entwicklungsmodell den russischen Interessen stärker lem Reformdruck, der von außen kommt. entgegenkommt. Zum einen verbindet Europa den öko- nomischen Fortschritt mit der Idee der sozialen Gerech- (B) (D) Die Interessen Russlands, der EU und auch Deutsch- tigkeit und zum anderen mit der ökologischen Reform. lands sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Schließlich ist der gesamte Modernisierungsprozess im Die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten ist dafür nur europäischen Selbstverständnis nur denkbar mit dem das offensichtlichste Beispiel. Dabei stellt sich nicht nur ständig erweiterungsbereiten Konzept der politischen die Frage, ob diese Abhängigkeit für politische Interes- Partizipation. Modernisierung ist in Europa ohne Demo- sen ausgenutzt werden könnte. Weit wichtiger ist die kratisierung nicht zu haben. Frage, wie diese Interessen definiert werden. Die Europäische Union wird am 10. März ihr Ange- Wir können diese Abhängigkeiten nicht beseitigen. Und bot zum Partnerschafts- und Kooperationsabkommen er- wir sollten das auch gar nicht wollen. Aber wir können das neuern. Das ist ein gutes Zeichen. Engagement mit Russland so vertiefen, dass unsere Bezie- Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt hungen von einem starken Fundament gemeinsamer Inte- einige Hinweise dafür, wie die Zusammenarbeit der EU ressen getragen werden. Interessenverflechtung muss das mit Russland gestärkt werden könnte. Unter dem Ab- Leitbild unserer Strategie gegenüber Russland sein. schnitt II wird in acht Punkten konkretisiert, was Bünd- nis 90/Die Grünen von der Bundesregierung fordert, da- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Nach den mit sie „sich bilateral und im Rahmen der Europäischen beiden Wahlen in Russland erwarten Deutschland und Union einzusetzen“ habe, um die Beziehungen zur Rus- die Europäische Union mit großer Spannung, wie der sischen Föderation zu verbessern. Für die SPD-Bundes- neue Präsident Dmitrij Medwedew und die Staats-Duma tagsfraktion stelle ich fest: Die Bundesregierung geht in nach den Wahlen ihr Verhältnis zur Außenwelt definie- ihrem Handeln weit über diese Forderungen hinaus. ren. Sie werden dabei die zentrale Frage beantworten: War das manchmal ruppige Verhalten gegenüber einigen Im Abschnitt III erhebt die Fraktion Bündnis 90/Die Nachbarn dem Wahlkampf geschuldet oder setzt sich ein Grünen weitere Forderungen an die Bundesregierung, neues Rollenspiel fest, ein Muster, das die Anrainer auch „im Rahmen von Europäischer Union und NATO“ zu- auf längere Sicht erschreckt? Entscheidend wird sein, sätzliche politische Schritte zu unternehmen. Auch hier wie die politische Elite sich den großen Aufgaben stellt, gilt: Energisch handelt die Bundesregierung seit langem, die Russland lösen muss. nicht allein die hier beschriebenen Forderungen zu erfül- len. Mehr noch: Die Bundesregierung geht über diese Immerhin: Russland könnte versucht sein, sich diesen Forderungen hinaus und engagiert sich dafür, im Rah- Aufgaben zu entziehen. Die Rohstoffpreise könnten men der Europäischen Union eine neue Ostpolitik zu Schmiermittel dieser Versuchung sein. Gerade hier zeigt entwerfen, damit eine gesamteuropäische Ordnung ent- 15688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) steht, in der Freiheit und Gerechtigkeit, Fortschritt und auf eine entspanntere Politik mit den USA als auch mit (C) Frieden, Wirklichkeit werden. der Europäischen Union hoffen. Wenn ich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion den Herr Medwedew hat ja bereits seinen Willen signali- Antrag kritisch werte, so freue ich mich doch darauf, siert, enger mit der der EU zusammenarbeiten zu wollen. dass der Auswärtige Ausschuss sich mit diesem Antrag Dabei kann nur von Vorteil sein, dass er kein Kind des noch einmal im Detail befassen wird. Wir bitten deshalb russischen Geheimdienstes ist und er somit nicht in je- darum, den Antrag an die Ausschüsse zur weiteren Bera- dem Fremden einen Feind sieht. Einen positiven Anfang tung zu überweisen. für eine zukünftige konstruktive Zusammenarbeit zwi- schen der EU und Russland sehe ich in dem Angebot Russlands, dringend benötigte Hubschrauber für die EU- Harald Leibrecht (FDP): Nicht nur die amerika- Schutztruppe im Tschad bereitzustellen. Aber auch die nischen Vorwahlen werden derzeit von den beiden Europäische Union ist aufgerufen, ihren Umgang mit Schlagworten „Hoffnung“ und „Wandel“ dominiert. Nein, Russland neu auszurichten. Auch wenn es innerhalb der dieselben Worte hört man gegenwärtig auch in Bezug auf EU-Mitglieder immer wieder verschiedene Interessen in Russland und den neuen Präsidenten Dmitrij Medwedew. Bezug auf Russland geben wird, so darf sich die EU hier Aber ist diese Hoffnung auf einen Wandel wirklich ge- nicht spalten lassen. Nicht in der Gemeinschaft abge- rechtfertigt in Bezug auf Russland? stimmte nationale Alleingänge darf es in Zukunft nicht Nun, die Worte, die man vor und während der Wahl mehr geben. von Herrn Medwedew hören konnte, weisen durchaus in Wenn die Europäische Union in Russland einen be- diese Richtung. Erstaunlich offen und selbstkritisch hat rechenbaren und verlässlichen Partner haben will, muss er vor seiner Wahl auf Missstände und Probleme in sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Transparenz Russland hingewiesen und versichert, alles Notwendige und Konsens sind das Erfolgsrezept der EU. Warum zu tun, um diese zu beseitigen. Aber wird der neue Präsi- sollte das, was zu Sicherheit und Wohlstand in ganz Eu- dent seinen Worten auch Taten folgen lassen? Kann er es ropa geführt hat, nicht auch für Russland funktionieren? überhaupt? Nun, an seinem Willen, Russland positiv zu Deutschland kann und muss hierbei eine wichtige – eine verändern, zweifle ich gar nicht – eher an seinen Mög- vermittelnde – Rolle einnehmen. lichkeiten. Wir begrüßen es daher, dass Bundeskanzlerin Merkel Es gibt zwei wesentliche Faktoren, an denen Herr am Samstag der Einladung der russischen Regierung Medwedew scheitern könnte: erstens an Wladimir Putin Folge leistet und nach Moskau reist, um das neue Füh- und zweitens am sogenannten russischen System. Hinzu rungsduo Medwedew-Putin zu treffen. Bedauerlich ist (B) kommt: Die so häufig gepriesene Stabilität allein reicht nur, dass offenbar keine Zeit bleibt, um sich auch mit an- (D) nicht, um Russland nach dem Willen Putins bis zum deren Persönlichkeiten, zum Beispiel aus den Reihen der Jahre 2020 zu „einem der globalen Spitzenreiter“ zu ma- oppositionellen Kräfte, zu treffen. So positiv und hoff- chen. nungsvoll die derzeitigen Zeichen auch sind, so sollten Damit diese Stabilität nicht vollkommen in Stillstand wir doch nicht vergessen, dass es in Russland weiterhin mündet, müssen Probleme wie Rechtsnihilismus und große demokratische Defizite gibt und dass die Wahl Korruption in Russland schnellstens angegangen wer- Medwedews weder frei noch fair war. den. Greifen werden Veränderungen dort aber nur dann, wenn sie nicht wie bisher nur von oben angeordnet, son- Alexander Ulrich (DIE LINKE): „Eine gerechte, ge- dern auch von den Menschen im Land mitgetragen wer- samteuropäische Friedensordnung vom Atlantik bis nach den. Wladiwostok, jetzt sollte es endlich Wirklichkeit wer- den!“ Dieser kluge Satz stammt nicht von , Damit die angekündigten Reformen nicht im Sumpf er ist auch nicht eine Losung der Friedensbewegung, die- der russischen Bürokratie untergehen, ist es wichtig, ser Satz stammt von Bundesaußenminister Steinmeier. dass das russische Volk nicht länger von Staatsseite Sollte die deutsche Außenpolitik sich auf den Weg zu ei- drangsaliert und absolut kontrolliert wird. Echte und ner europäischen Ostpolitik begeben, würde Die Linke nachhaltige Veränderungen sind nur mit einer Zivilge- sich in Zukunft auf Herrn Steinmeier beziehen, so wie sellschaft möglich, die frei denken und politisch mitge- sich die Linke auf Willy Brandt bezieht. stalten kann. Mein Kollege Wolfgang Gehrcke hat im Namen mei- Ich möchte an dieser Stelle aber nicht nur die innen- ner Fraktion bereits eine Neuauflage der Konferenz über politische Lage Russlands ansprechen. Die nächsten Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Rahmen Monate und Jahre werden zeigen, was in Medwedew der OSZE gefordert. Wir müssen endlich wieder über wirklich steckt und ob Russland fähig und bereit ist, ein Abrüstung auf unserem Kontinent reden. moderner, globaler Spitzenreiter zu werden. Stattdessen möchte ich jetzt noch etwas zur Zusammenarbeit zwi- Ich habe die Rede des Außenministers vor der Willy- schen der EU und Russland sagen; denn das ist ein Be- Brandt-Stiftung aufmerksam gelesen. Leider habe ich reich, in dem der Amtsantritt Medwedews wirklich eine eine bedeutende Aussage des großen Sozialdemokraten Neuerung bringen könnte. Denn wie der designierte rus- Brandt vermisst: „Von deutschem Boden darf nie wieder sische Präsident bereits angekündigt hat, wird er sich Krieg ausgehen“. Warum zitiert er diesen Satz nicht? verstärkt der Außenpolitik widmen. Dies lässt sowohl Der Außenminister bezieht sich auf die KSZE und die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15689

(A) Charta von Paris. Der KSZE-Vertrag duldet Grenzverän- langt. Wir verurteilen die Einschränkung der Pressefrei- (C) derungen in Europa nur im gegenseitigen Einverneh- heit, ob durch staatliche Organe, wie in Russland, oder men. Warum verletzt die Bundesregierung mit der Aner- wirtschaftliche Macht, wie in den USA oder Europa. De- kennung des Kosovo diesen Vertrag so eklatant? mokratien sind immer absolut, oder sie sind nicht. Un- sere Stimme hätte daher größeres Gewicht in Russland, Wer diese Fragen nicht beantworten möchte, der wird wenn wir nicht nur die Worte Willy Brandts, sondern die Russland nicht verstehen. Ich meine, das Verständnis des Bundespräsidenten beherzigen Russlands ist im Interesse Europas, so wie ein guter würden: Wer immer nur mit dem Finger auf andere Schachspieler sein Gegenüber verstehen muss, um sei- zeigt, auf den zeigen drei Finger zurück. nen nächsten Zug zu planen. Der Antrag der Grünen ge- nügt weder diesem noch Steinmeiers Anspruch: An kei- ner Stelle gestehen sie Russland berechtigte Sorgen über Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- seine Sicherheitsinteressen zu. Die Ausdehnung der NEN): Dass die Bundeskanzlerin schon am Sonn- NATO an Russlands Grenzen im Westen und zuneh- abend, also weniger als eine Woche nach der Bestäti- mend im Süden wird nicht erwähnt. Die NATO-Avancen gung Dimitrij Medwedews als Nachfolger Putins, nach der USA gegenüber Georgien, Aserbaidschan und Ar- Moskau reist, ist richtig. Russland ist und bleibt einer menien werden ignoriert. Sie ignorieren damit aber nicht der wichtigsten Partner- und Nachbarstaaten der Europäi- nur Russland, sondern gefährden eine gesamteuropäi- schen Union; es hat gebührende Aufmerksamkeit ver- sche Friedensordnung. dient. Eine Bewertung des Vorgangs am 2. März als de- mokratische Wahl ist mit diesem Besuch hoffentlich Serbien verfügt über eine demokratische Regierung nicht gemeint, sondern einfach die Anerkennung der und war bereit, dem Kosovo Autonomie zu geben. Russ- Tatsachen. Noch besser wäre es allerdings, wenn Frau land musste bereits einmal gegen Ende des Jugoslawien- Merkel nicht allein reiste, sondern zusammen mit Nicolas Krieges den Abwasch für die NATO erledigen. Die Bun- Sarkozy und Gordon Brown. Dieser Wunsch ist natürlich desregierung aber wollte die große jugoslawische Tragö- nicht wörtlich gemeint, sondern er soll ausdrücken, dass die mit der einseitigen Anerkennung fortsetzen. Der spa- die wichtigste Forderung an die EU ist, ihr größtes Defi- nische Außenminister verglich dies mit dem Irakkrieg. zit im Verhältnis zu Russland zu beheben, nämlich man- In der Tat, ohne das Kosovo hätte es den Irakkrieg so gelnde Geschlossenheit. nicht gegeben. Russland hat in beiden Konflikten eine vorbildliche Rolle eingenommen, weil es seit dem Ende Warum wurde die staatliche Unterstützung für die des Kalten Krieges gelernt hat, dass sich Hochmut ge- Ostseepipeline ohne ausreichende Konsultation mit den genüber dem Völkerrecht eines Tages rächen wird. Anrainerstaaten zwischen Russland und Deutschland ausgehandelt und verkündet? Die Berechtigung dieses (B) (D) Der Versuch der USA, Europa über das Raketenab- Vorwurfs, der sich ja durchaus auch an die rot-grüne, wehrsystem zu spalten. Ich habe ihn in Ihrem Antrag also unsere damalige eigene Regierung richtet, hat sich nicht gefunden. Die Kritik an der NATO, dass der KSE- in den letzten zweieinhalb Jahren mehrfach bestätigt. Vertrag bislang nicht ratifiziert wurde. Ich habe erfolglos Jüngste Folge ist das drohende Scheitern des bisherigen gesucht. Finanzierungsmodells, weil sich die EU wegen der poli- Lassen sie mich auch noch ein paar Worte zur Ener- tischen Ablehnung des Projekts durch einige ihrer Mit- gieaußenpolitik verlieren: Meine Fraktion steht für die gliedstaaten nicht auf einen zinsverbilligten Kredit der Energiewende statt heißer Kriege. Wir müssen gewaltige Europäischen Investitionsbank einigen kann. Warum Investitionen in neue Energien mobilisieren. Es gibt aber musste Polen nach dem offensichtlich politisch motivier- eine große Verwirrung: Europa ist darauf angewiesen, ten russischen Importstopp für polnische Fleischerzeug- dass Russland in seine Energieinfrastruktur investiert. nisse erst ein Veto gegen die Neuverhandlung des Part- Sie wünschen sich eine engere Zusammenarbeit bei der nerschafts- und Kooperationsabkommens einlegen? Eine Energiepolitik. Für beides brauchen Sie einen staatlichen derart demonstrative Uneinigkeit der EU zu provozieren, Ansprechpartner. Gleichzeitig fordern Sie unablässig die ist nicht nur der seinerzeitigen – zugegeben – wenig di- Privatisierung des Zugangs zum Energiesektor. Wie plomatischen Kaczynski-Regierung anzulasten, sondern möchten Sie denn Russland zur Kooperation bewegen, auch Ergebnis mangelnder Solidarität innerhalb der EU. wenn Ihr Ansprechpartner nicht mehr Medwedew son- Bilaterale Abkommen von EU-Staaten mit Russland dern Roman Abramowitsch heißt? Sie sehen doch, wo- unterlaufen immer wieder geltende EU-Absprachen hin private Energiekartelle in Europa führen. Wir brau- oder -Interessen. Genannt seien nur beispielhaft die grie- chen stattdessen einen multilateralen Energiedialog. chische Weigerung, einem EU-Vorschlag für Verbin- dungsoffiziere an den Grenzen der separatistischen Ge- Die Russen haben Dimitrij Medwedew zum Präsiden- biete in Georgien zuzustimmen, um Russland nicht zu ten bestimmt. Der politische Wettbewerb in Russland verärgern, oder die Unterzeichnung eines Abkommens war eingeschränkt. Wir alle wünschen uns, dass dies in von Gazprom mit Bulgarien zur Trassierung der Kon- Zukunft anders wird. Es gibt trotz unserer Sorge an der kurrenz-Pipeline zu Nabucco – dies unter aktiver Beteili- Fairness der russischen Wahlen aber keinen Zweifel, gung des italienischen Energiekonzerns ENI. dass die große Mehrheit der Russen Kontinuität wünscht. Ohne eine geschlossene Haltung der EU kann das po- litisch wie wirtschaftlich zentralistisch organisierte Wir stellen große Erwartungen an den Präsidenten, Russland die einzelnen EU-Staaten immer wieder ge- insbesondere was die Unabhängigkeit der Justiz anbe- geneinander ausspielen. Denn natürlich werden partiku- 15690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) lare Interessen bedient, wenn ein gemeinsames Vorgehen kulativ. Medwedew hat kein ausformuliertes Programm. (C) zum Nutzen aller nicht in Sicht ist. Diese Erkenntnis ist Seine kritischen Aussagen zur Korruption und zur Justiz so banal wie bisher folgenlos, die EU droht ein Papierti- unterscheiden sich nicht von denen Putins vor acht Jah- ger zu werden. Es ist kein Wunder, wenn russische Poli- ren. Der Umstand, dass er selbst nicht aus dem Geheim- tiker sie nicht ernst nehmen. Aber es ist ein Problem – dienst kommt, heißt wenig. Denn seine bisherige Karri- nicht nur für die EU und ihre unmittelbaren Interessen, ere ist durch absolute Loyalität zu Putin gekennzeichnet. sondern auch für die Partner in Russland selbst, die an Er ist Aufsichtsratsvorsitzender von Gazprom, eines einer Annäherung an die EU und an ihren Standards in- Konzerns, der nicht zuletzt den Reichtum und die Inter- teressiert sind. essen des Kremls auch im Ausland wahren soll. Medwe- dews liberales Image ist vor allem ein Produkt der PR- Die sogenannten Wahlen verliefen nach quasi-sowje- Strategie des Kremls. Aber selbst wenn es, was keiner tischem Muster: Zur Kandidatur wurde nur zugelassen, weiß, berechtigt sein sollte: Er hat die Hypothek einer wen der Kreml tolerierte. Die überregionalen elektroni- auf tönernen Füßen stehenden Stabilität zu tragen, die schen Medien, vollständig staatlich kontrolliert, warben Putin hinterlässt. ausschließlich für den von Präsident Putin ernannten Nachfolger Dimitrij Medwedew und räumten anderen Neben der grassierenden Korruption, der Rechtsunsi- Kandidaten kaum Platz ein. Die Nichtregierungsorgani- cherheit und dem wachsenden bürokratischen Wasser- sation „Golos“ dokumentierte versuchten Stimmenkauf, kopf liegen die zukünftigen Aufgaben vor allem im Be- vor Wahlbeginn bereits mit Stimmzetteln gefüllte Wahl- reich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die einseitige urnen und den Ausschluss von Wahlbeobachtern anderer Branchenstruktur der russischen Wirtschaft macht sie Parteien. Vor allem in der Provinz und in der Armee von der Rohstoffwirtschaft abhängig. Die Inflation wurde offenbar Druck ausgeübt, Medwedew zu wählen. steigt, und die dem Wahlkampf geschuldete Subventio- In Anbetracht des weit verbreiteten Desinteresses an ei- nierung der Lebensmittelpreise muss in wenigen Mona- ner Wahl, die bereits entschieden war, scheint auch die ten wieder aufgehoben werden. Auch die Energiepreise Wahlbeteiligung von fast 70 Prozent mehr als unwahr- werden noch immer massiv subventioniert, was die un- scheinlich. Oppositionelle gehen davon aus, dass die geheure Energieverschwendung fördert. Die Investitio- Wahlergebnisse wie auch bei den Dumawahlen vom nen in die Rohstoffförderung sind unzureichend. Der Kreml vorgegeben werden. Das bedeutet: Trotz absehba- Energieverbrauch ist extrem hoch, die Energieeffizienz ren eindeutigen Siegs für Mewedew wurden die Wahlen extrem niedrig. Bildungs- und Gesundheitswesen sind dennoch manipuliert. All dies erinnert an die Inszenie- unterversorgt. Vor allem die staatlich kontrollierten Be- rungen aus sowjetischen Zeiten – etwas moderner ge- triebe sind chronisch ineffizient. Zwar ist der Wohlstand stylt, etwas subtiler und damit auch von außen schwerer der Bevölkerung in den letzten Jahren insgesamt gestie- (B) als die Farce erkennbar, die es dennoch ist. gen, aber die soziale Schere hat sich immer weiter geöff- (D) net. Es war deshalb richtig, dass ODIHR und diesmal auch die Parlamentarische Versammlung der OSZE sich Viele Beobachterinnen und Beobachter, vor allem im nach massiver Behinderung der geplanten Langzeitbeob- westlichen Ausland, leiten aus Medwedews bisherigen achtung durch die russischen Behörden entschieden ha- Äußerungen, wie der Kritik am „Rechtsnihilismus“ in ben, auf eine Wahlbeobachtung zu verzichten. Die Regu- Russland und seinem Plädoyer für die Entwicklung der larien der OSZE sind verbindlich, und sie sind ein Zivilgesellschaft, Hoffnungen auf Veränderungen ab. schützenswertes Gut. Dem offensichtlichen Versuch des Aber nur wenn Medwedew Worte in Taten umsetzt, Kremls, sie zu unterlaufen und zu schwächen, darf nicht Rechtssicherheit und das Rechtsverständnis in Russland nachgegeben werden. Der kooperative Anspruch der stärkt und der Zivilgesellschaft tatsächlich wieder mehr OSZE, entstanden im Kalten Krieg, ist kein Freibrief für Raum gibt, kann er das politische System Russlands öff- Beliebigkeit. Dies gilt umso mehr für den Europarat als nen, dadurch stärken und auf eine solidere Basis stellen. einer Organisation, die ausdrücklich auf dem Konsens demokratischer und menschenrechtlicher Werte beruht. Das von Putin installierte System zur Stabilisierung Die Parlamentarische Versammlung des Europarates ent- des Staates hat grundsätzliche Schwächen. Die starke sandte eine Delegation zur Beobachtung des Wahlver- Zentralisierung führt zu einem aus sowjetischen Zeiten laufs. Ihre Bewertung war: Die Wahlergebnisse entspre- bekannten Mangel an Feedbackmechanismen. Und die chen dem Willen der Wählerschaft, aber das – Zitat – Zuspitzung auf eine Person macht das ganze System äu- „demokratische Potenzial der Wählerschaft wurde nicht ßerst anfällig. Vielleicht ist diese Erkenntnis ein Grund ausgeschöpft“. Mit dieser sehr diplomatischen Formulie- für Putins Versuch, ein zweigeteiltes Modell einzufüh- rung bestätigte sie zwar indirekt die Bewertung der Wah- ren. Der Präsident hat weitreichende Kompetenzen, auch len als Farce. Aber klare Worte wären angebrachter ge- wenn er weniger durchsetzungsfähig als Putin sein mag. wesen. Demgegenüber ist der Ministerpräsident sehr einge- schränkt und diente bisher als eine Art Punchingball für Dass aller Wahrscheinlichkeit nach eine Mehrheit für Fehler und Missstände. Diese Funktion will Putin sicher Medwedew auch unter normalen Bedingungen zustande nicht besetzen. Schon musste der gegenwärtige und noch gekommen wäre, ist keine Entschuldigung für man- bis Mai amtierende Ministerpräsident dem Vernehmen gelnde Fairness und verbreitete Manipulationen. Wahlen nach seine Büros räumen, um der Renovierung einer sind Wahlen und keine bloßen Stimmungsbilder. Prog- ganzen Etage nach Wünschen des neuen Herrn Platz zu nosen über die zukünftige Politik sind weitgehend spe- machen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15691

(A) Solange wir weitgehend auf Geschichten dieser Art erkannt wird. Ich verstehe Ihren Punkt. Auch die CDU/ (C) angewiesen sind, um feststellen zu können, wer in Russ- CSU-Bundestagsfraktion plädiert ohne Wenn und Aber land etwas zu sagen hat, ist eines klar: Begriffe wie Be- dafür, dass extremistische Vereine nicht gemeinnützig rechenbarkeit, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und De- sein können. An dieser Stelle muss ich aber auch eine mokratie, und damit auch ein Begriff wie „strategische Lanze für unsere Finanzministerien brechen. Man tut Partnerschaft“ bekommen, angewandt auf das heutige sich von Berlin aus leicht, sich über die Gemeinnützig- Russland, eine ganz neue Bedeutung. keit zu erregen. Und wir erregen uns ja auch mit Fug und Recht, weil eigentlich nicht nachzuvollziehen ist, wie extremistische Vereine den Stempel der Gemeinnützig- Anlage 7 keit bekommen können, wo sie doch tatsächlich gemein- schädlich sind. Aber wir sind auch ein Rechtsstaat. Und Zu Protokoll gegebene Reden auch die Frage nach der Gemeinnützigkeit muss sich letztlich in einem rechtsstaatlichen Verfahren bewähren. zur Beratung des Antrags: Verbot des Neonazi- Es ist im Einzelfall oft äußerst schwer, den Verdacht auf Schulungszentrums und Vereins „Collegium extremistische Umtriebe einer Organisation mit Bewei- Humanum“ prüfen (Tagesordnungspunkt 20) sen zu untermauern, die gerichtsfest sind. So muss die Finanzbehörde in jedem Einzelfall ganz konkret nach- Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Es gibt weisen, dass zum Beispiel Volksverhetzungen der Ver- für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion keinen Zweifel, einsvertreter dem Verein als eigene Handlungen zuzu- dass Vereine, die sich zum Sammelbecken organisierter rechnen sind. Unseres Erachtens kann dieser Nachweis Holocaustleugner entwickelt haben oder von Anfang an im Falle des Collegium Humanum gelingen. Jedoch darauf ausgerichtet waren, keinen Platz in unserer frei- müssen wir den zuständigen Ministerien auch zugeste- heitlich-demokratischen Gesellschaft beanspruchen kön- hen, dass sie diese Prüfungen sauber und konsequent nen. Insofern begrüßen wir das Anliegen des vorliegen- durchziehen. Und das dauert manchmal eben leider seine den Antrages ausdrücklich. Denn mit wem haben wir es Zeit. Das ist aber immer noch besser, als mit Schnell- hier zu tun? schüssen zu riskieren, dass extremistische Organisatio- nen vor Gericht obsiegen. Denn das wäre Wasser auf die Das Collegium Humanum ist nach Ansicht aller Ex- Mühlen der Extremisten. Dies bitte ich nur stets zu be- perten nichts anderes als ein Sammelbecken organisier- denken. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der fes- ter Holocaustleugner. Seine Vereinsliegenschaften die- ten Überzeugung, dass wir keine Vereine in Deutschland nen Revisionisten und Neonazis als Anlaufpunkt. Die dulden können, die unsere verfassungsmäßige Ordnung aggressive Propagierung der Holocaustleugnung erfolgt zu unterminieren versuchen. Gerade deshalb bitten aber (B) in Seminaren, sonstigen Veranstaltungen und Publikatio- (D) alle demokratischen Fraktionen in diesem Hohen Haus nen nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in auch darum, die Extremismusbekämpfung mit offenen anderen Bundesländern. Vertreter des Collegiums reisten Augen zu betreiben. auf die sogenannte Holocaust-Konferenz im Iran und sprechen in einer ihrer Publikationen allen Ernstes von der „Lösung der Judenfrage“. Das ist nicht nur wider- Wolfgang Spanier (SPD): Seit Jahren ist das Colle- lich, sondern ohne jeden Zweifel weit jenseits dessen, gium Humanum in Vlotho, im ostwestfälischen Kreis was unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft er- Herford, ein Zentrum alter und junger Nazis. Mit dem tragen kann und ertragen muss. Das Collegium Huma- Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des num ist jedoch nicht alleine. Es ist eng verflochten mit Holocaust Verfolgten wurde im Collegium Humanum dem „Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens eine internationale Sammlungsbewegung der Holocaust- des Holocaust Verfolgten“. Dieser Verein dient, und das leugner gegründet. Ein ständiger Referent in den letzten sagt schon sein Name, keinem anderen Zweck als der Jahren im Collegium Humanum ist Horst Mahler, be- Verwirklichung des Straftatbestandes der Volksverhet- kannt für seine antisemitischen Hetzreden und Weltver- zung. Wenn ich sage, dass wir das Anliegen der Grünen schwörungstheorien. Das Collegium Humanum wird teilen, dann heißt das leider auch, dass der Antrag unse- bundesweit von NPD-Anhängern, militanten Neonazis, res Erachtens trotz alledem zu kurz greift, und zwar an Auschwitzleugnern und Nationalrevolutionären benutzt. zwei zentralen Stellen. Erstens fordern die Grünen zwar Auch die ostwestfälische Neonaziszene nutzt das Colle- die Prüfung eines Verbotes des Vereins Collegium Hu- gium Humanum für Veranstaltungen und für Schulungs- manum, vergessen aber zugleich, die Prüfung eines Ver- seminare. botes des „Vereins zur Rehabilitierung der wegen Be- streitens des Holocaust Verfolgten“ zu fordern. Für Seit langem wird aus der Bürgerschaft heraus das Ver- diesen Verein gilt jedoch das Gleiche wie für das Colle- bot und die Aberkennung der Gemeinnützigkeit des Col- gium. Ein eventuelles Verbot des Collegiums macht nur legium Humanum gefordert. Unsere Demokratie muss Sinn, wenn beide Vereine zugleich ihre Umtriebe ein- wehrhaft sein gegen ihre rechtsextremen Feinde. Ein stellen müssen. Es ist sogar darüber hinaus zu fragen, ob Verbot des Collegium Humanum wäre ein wichtiges und es nicht noch weitere Vereine im Dunstkreis des Colle- richtiges politisches Signal. Es ist aber nicht nur staatli- giums gibt, die eines kritischen Blickes bedürfen. Zwei- ches Handeln gefordert. Notwendig ist ein Engagement tens. Sie fordern, im Benehmen mit den zuständigen gegen Rechtsextreme auf allen politischen Ebenen, von- Ministerien darauf hinzuwirken, dass dem Collegium seiten aller demokratischen Parteien und aller Bürgerin- Humanum die steuerrechtliche Gemeinnützigkeit ab- nen und Bürger. Das Vlothoer Bündnis gegen das Colle- 15692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) gium Humanum ist ein ermutigendes Beispiel. Die internationale Sammlungsbewegung von Holocaustleug- (C) Bürgerinnen und Bürger in Vlotho – an der Spitze der nern angestrebt wird. Schließlich gibt es den aktuellen Bürgermeister dieser Stadt, Bernd Stute – wenden sich Presseberichten zur Folge die Bauernhilfe e. V., an die entschieden gegen dieses Nazi-Zentrum. Neben der das Vermögen des Collegium Humanum für den Fall ei- Stadt Vlotho und dem Bürgermeister haben sich alle nes Verbots überschrieben würde. Laut Satzung fördert Ratsfraktionen, alle Kirchengemeinden, der DGB, die sie zwar den ökologischen Landbau, hat jedoch perso- weiterführenden Schulen, die Vlothoer Weiterbildungs- nelle Verknüpfungen mit dem Collegium Humanum. einrichtungen sowie zahlreiche Vereine und Gruppen zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Man sieht also, wie perfide die rechtsextremistischen Vereine agieren. Unbegreiflich ist daher, warum solchen Als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Vereinen die Gemeinnützigkeit nicht aberkannt wird. Kreises Herford habe ich das demokratische Engage- Das Zentrum erfüllt regional und bundesweit eine wich- ment dieses Bündnisses immer unterstützt. Ich unter- tige Funktion für die rechte Szene. Es ist umso skandalö- stütze selbstverständlich die Initiative des Bundestages, ser, dass dieser Umstand zu der vermeintlichen Hürde in der noch einmal bekräftigt wird, das Verbot des Colle- führt, dass sich für die staatliche Förderung niemand gium Humanum zu prüfen und durchzusetzen. Ich unter- verantwortlich fühlt. Obgleich seit Jahrzehnten neona- stütze dieses Anliegen nicht nur persönlich, sondern ich zistische und antisemitische Aktivitäten des Vereins be- spreche hier auch für die gesamte SPD-Bundestagsfrak- kannt sind, sind die Behörden untätig geblieben. tion und selbstverständlich auch für die Sozialdemokra- tinnen und Sozialdemokraten in Vlotho und im Kreis Das muss man sich erst auf der Zunge zergehen las- Herford. sen: Während der Verfassungsschutz die Akademie als rechtsextrem einstuft, weil Hitler als Friedenspolitiker angepriesen und der Holocaust geleugnet wird, wird Christian Ahrendt (FDP): Die Forderung nach ei- zeitgleich das Collegium Humanum vom Finanzamt ge- nem Verbot des Schulungszentrums und seinem Träger- fördert, indem es dem Verein den Siegel der Gemeinnüt- verein Collegium Humanum, die die Fraktion Bündnis 90/ zigkeit verleiht. Das bedeutet, dass der braune Klub von Die Grünen mit dem heute zur Debatte stehenden Antrag der Steuerpflicht befreit ist und seinen Spendern Quit- stellt, zeigt deutlich das Bedürfnis und die Notwendig- tungen fürs Finanzamt ausstellen darf. Für den Status der keit, Rechtsextremismus intensiv bekämpfen zu wollen. Gemeinnützigkeit muss die Körperschaft nach dem Ge- Diese Forderung begrüßen wir. setz einen anerkannten gemeinnützigen Zweck fördern. Der Verein wird jedoch bereits vom Verfassungs- Im Fall des Collegium Humanum hat das zuständige Fi- schutz beobachtet. Ein Verbotsverfahren wird vorberei- nanzamt Herford die Förderung der Erziehung, Volks- (B) tet. Man muss sich daher die Frage stellen, wie man am und Berufsbildung sowie Studentenhilfe bescheinigt. Ein (D) erfolgversprechendsten gegen einen rechtsextremisti- Überbieten dieser grotesken und absurden Situation ist schen Verein vorgehen kann. Überreaktionen und über- kaum denkbar. stürztes Handeln bringen uns da nicht weiter. Eine parla- Mit der Aberkennung der Gemeinnützigkeit geht mentarische Initiative gibt den Extremisten eine neue auch die Forderung einher, strengere Voraussetzungen Plattform in der Öffentlichkeit und einen Nährboden für an den Titel der Gemeinnützigkeit und deren bessere propagandistische Aktivitäten. Damit könnte der Verein Kontrolle zu schaffen. mittelbar gestärkt werden. Zudem könnte sich der Verein in der Zeit gesetztreu verhalten oder die Zeit dazu nut- Die Bundesregierung muss der Verherrlichung des Na- zen, Vereinsvermögen auf andere Träger zu verteilten. tionalsozialismus konsequent entgegentreten und voll- umfänglich Maßnahmen zur Prävention und Strafverfol- Unstrittig gehören verfassungsfeindliche Körperschaf- gung ausschöpfen. ten verboten. Die Politik muss jedoch auch mit vollstem Engagement an der Bekämpfung der Ursachen von Rechtsradikalismus arbeiten. Ein wichtiges Ziel soll da- Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wer die Presse zum Col- her auch sein, über Rechtsextremismus nicht mit erhobe- legium Humanum verfolgt, könnte denken, dieses Zen- nem Zeigefinger zu informieren, sondern auf Aufklä- trum der Volksverhetzer und Antisemiten sei erst kürz- rung und nachhaltige Prävention zu setzen. Daneben lich eröffnet worden. Denn jahrelang störte sich fast müssen alle den Verein fördernden Mittel und Möglich- niemand an den regelmäßigen Treffen von Alt- und Neo- keiten abgeschnitten werden. Strafbare Handlungen faschisten in Vlotho. müssen unnachgiebig verfolgt und geahndet werden. Holocaustleugnungen und schamlose Verherrlichung des Tatsächlich handelt es sich beim Collegium Huma- Nationalsozialismus, die die politischen Aussagen des num um eines der ältesten, seit den 60er-Jahren genutz- Collegium Humanum prägen, dürfen nicht tatenlos ge- ten Tagungshäuser der extremen Rechten. Faschisten duldet werden. von der NPD über die sogenannten Freien Kamerad- schaften bis zu esoterisch ausgerichteten Nazikreisen Zu betonen ist, dass das Collegium Humanum keine tummeln sich dort im Wochentakt. Mit dem ausgerech- reine Schulungsstätte ist. Es wird eine Politik betrieben, net zum Jahrestag der Reichspogromnacht 2003 ins Le- die sich im Wirken mehrerer Vereine manifestiert. Ne- ben gerufenen „Verein zur Rehabilitierung der wegen ben dem Trägerverein gibt es noch den Verein Gedächt- Bestreitens des Holocaust Verfolgten“ wurde das Colle- nisstätte und den Verein zur Rehabilitierung der wegen gium Humanum zum regelrechten Zentrum der Holo- des Bestreitens des Holocaust Verfolgten, von dem eine caustleugner aus aller Welt. Eine Vielzahl Mitarbeiter Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15693

(A) und Referenten des Collegium Humanum sind bereits Laut Presseberichten will Bundesinnenminister (C) wegen Volksverhetzung und ähnlicher einschlägiger De- Wolfgang Schäuble „in Kürze“ das Collegium Huma- likte vorbestraft. num und den „Verein zur Rehabilitierung der wegen Be- streitens des Holocaust Verfolgten“ verbieten. Das wäre Das Collegium Humanum und der Verein der Holo- zu begrüßen, ein solches Verbot ist längst überfällig. caustleugner sind also nicht erst seit gestern ein Pro- blem. Ich frage mich daher, warum die vorangegangene Da diese Verbotsabsichten vom Bundesinnenministe- sozialdemokratische Landesregierung von Nordrhein- rium noch nicht offiziell bestätigt wurden, schließt sich Westfalen hier nicht gehandelt hat. Oder warum die Grü- Die Linke dem hier vorliegenden Antrag von Bündnis 90/ nen nicht bereits während ihrer Zeit in der Bundesregie- Die Grünen an. rung einen entsprechenden Antrag zum Verbot des Col- legium Humanum eingebracht haben. Aber ich fordere Rechenschaft von der Bundesregie- rung, warum bislang die immer wieder versprochenen Insbesondere kritisiere ich die Informationspolitik der Maßnahmen gegen Vereine wie das Collegium Huma- Bundesregierung und der nordrhein-westfälischen Lan- num keine Anwendung fanden. Die Fraktion Die Linke desregierung. Die Fraktion Die Linke im Bundestag und hat es satt, sich von der Bundesregierung im Kampf ge- auch die Grünen im Landtag von NRW haben wiederholt gen Rechtsextremismus mit Floskeln und Textbaustei- Anfragen zum Collegium Humanum gestellt. nen abspeisen zu lassen. Wir wollen endlich Taten sehen. Der Innenminister von NRW, Ingo Wolf, bestreitet schlicht die Zuständigkeit seines Ministeriums, da das Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Re- Collegium Humanum durch eine Publikation bundesweit pression macht aus Nazis keine Demokraten. Verbote tätig sei. Vor einem Jahr fragten wir daher, ob die Bun- sollten stets das letzte Mittel der Auseinandersetzung mit desregierung die Ansicht des nordrhein-westfälischen Rechtsextremismus sein; denn Meinungsfreiheit ist ein Innenministeriums teilt, dass ein Verbot des Collegium hohes Gut in unserem Rechtsstaat. Bündnis 90/Die Grü- Humanum im Zuständigkeitsbereich des Bundesinnen- nen gehen deshalb mit Verbotsforderungen sehr zurück- ministeriums liegt. Aus sogenannten operativen Grün- haltend um; sie bleiben für uns die Ausnahme. Wir sagen den wollte die Bundesregierung schon diese Frage nach aber auch ganz klar: Meinungsfreiheit muss dort enden, der Zuständigkeit nicht beantworten. Natürlich gab es wo Verfassungsfeinde die demokratische Gesellschaft auch keine Antwort auf unsere Frage, welche Verbots- zerschlagen wollen und vor Straftaten wie Volksverhet- möglichkeiten es denn gäbe. zung nicht zurückschrecken. Das nordrhein-westfälische Finanzministerium wies Das Collegium Humanum e. V. ist ein rechtsextremes eine Anfrage nach der Gemeinnützigkeit des Collegium Schulungszentrum mit Sitz in Vlotho. Der Verein be- (B) (D) Humanum mit dem Hinweis auf das Steuergeheimnis ab. treibt offensiv rechtsextreme Propaganda und ist ein zen- Recherchen der Tagesschau brachten diese Gemeinnüt- traler Sammelpunkt der Holocaustleugner. Diese Tatsa- zigkeit ans Licht. Volksverhetzung, Holocaustleugnung che bestätigte auch die Bundesregierung in ihrer Antwort und Antisemitismus sind also steuerlich absetzbar. auf eine Kleine Anfrage der grünen Bundestagsfraktion. Dort heißt es: Die Bundesregierung hatte in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Linksfraktion zum Thema Rechtsex- Für die revisionistische Szene bietet das Collegium tremismus im Frühjahr 2007 erklärt: „Die Vermeidung Humanum organisatorische und ideologische Un- der steuerrechtlichen Anerkennung der Gemeinnützig- terstützung. Einzelne deutsche Teilnehmer an der keit von verfassungswidrigen Körperschaften ist Teil der Holocaust-Konferenz sind als Verfasser von Beiträ- ganzheitlichen Strategie der Bundesregierung“ gegen gen in der Publikation des CH, Lebensschutz-Infor- Rechtsextremismus. Im Falle des Collegium Humanum mationen – LSI – Stimme des Gewissens (LSI) auf- hat diese ganzheitliche Strategie offenbar bislang nicht gefallen. gegriffen. Die Leiterin des Collegium Humanum, Ursula Im Dezember letzten Jahren verkündete die Innenmi- Haverbeck-Wetzel, wurde mehrfach wegen Volksverhet- nisterkonferenz dann vollmundig, rechtsextremen Verei- zung strafrechtlich belangt. Ungeniert bezweifelt sie den nen die Gemeinnützigkeit entziehen zu wollen. Was hier Holocaust, zum Beispiel in der Rheinischen Post im Ja- als neue Maßnahmen gegen Rechtsextremismus ange- nuar 2008 mit den Worten: „Ich weiß nicht, ob der Völ- priesen wurde, war allerdings schon seit Jahren gültiger kermord an den Juden tatsächlich stattgefunden hat.“ Beschluss des Bundestages. Es wurde schlicht Wähler- Angesichts solcher Statements wundert es nicht, dass täuschung betrieben, bisherige Versäumnisse sollten auch der Antisemit und Holocaustleugner Horst Mahler durch vorgetäuschten Aktionismus offenbar unter den immer wieder ein gern gesehener Referent im Vlothoer Tisch gekehrt werden. Nazi-Zentrum ist. Das Bundesinnenministerium ist daher aufgefordert, Als Veranstaltungsort spielt das Collegium Humanum Stellung zu beziehen, warum solche seit langem existie- für die ultrarechte Szene eine wichtige Rolle. Dort fin- renden Beschlüsse zur Aberkennung der Gemeinnützig- den Seminare, Tagungen, Konzerte und Schulungen keit und sonstiger staatlicher Förderung rechtsextremer statt. Das Zentrum wird zum Beispiel von der NPD-na- Vereinigungen auf das Collegium Humanum bislang hen Deutschen Akademie genutzt, von der rechtsextre- noch keine Anwendung fanden. Wir haben dazu jetzt er- men Gesellschaft für Publizistik, den Machern des Blat- neut eine Kleine Anfrage gestellt. tes „wir selbst – Zeitschrift für nationale Identität“ oder 15694 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) freien Neonazi-Kameradschaften. Das Zusammentreffen muss. Das Collegium Humanum ist eine solche Aus- (C) vieler Nazi-Akteure dort fördert die Vernetzung der nahme. Die Ziele dieses Vereins sind mit unseren Grund- Szene, bundesweit und auch international. gesetzwerten nicht vereinbar. Aktivitäten deutscher Holocaustleugner tragen nicht nur gefährliche Fehlinfor- Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung mationen und -haltungen in die Gesellschaft; sie schaden auf, die Voraussetzungen für ein Verbotsverfahren zu auch dem Ansehen unseres Landes in der Welt. prüfen. Bei einem positiven Prüfergebnis – von dem wir ausgehen – erwarten wir das zügige Einleiten eines Ver- Im Fall des Collegium Humanum ist ein Verbot nicht fahrens. nur gerechtfertigt, sondern auch geboten. Die Demokra- tie muss seinem Treiben einen Riegel vorschieben, um Mir wurde mehrfach die Frage gestellt, warum sich langfristig unsere Gesellschaft in ihrer Meinungsfreiheit der Bund um einen Verein in Vlotho kümmern sollte. und Vielfalt zu erhalten. Das sei doch Ländersache. Schön wäre es, wenn sich die Aktivitäten des Collegium Humanum nur auf Vlotho be- grenzen würden! Doch leider haben wir es mit einer überregionalen Präsenz zu tun. Veranstaltungen des Anlage 8 Nazi-Zentrums finden zumindest in Nordrhein-Westfa- Zu Protokoll gegebene Reden len und Thüringen statt, wie die Bundesregierung bestä- tigte. Außerdem trägt das Collegium Humanum stark zur zur Beratung des Antrags: Für eine wirksamere politischen Zusammenarbeit der rechtsextremen Szene Kontrolle der Geheimdienste (Tagesordnungs- bei. Dort sind derzeit vier Vereine angesiedelt. Einer da- punkt 21) von nennt sich Verein zur Rehabilitierung der wegen des Bestreitens des Holocaust Verfolgten. Der Name ist Pro- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wenn wir über gramm. Gegründet wurde dieser Verein zum Jahrestag Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle der Nach- der Reichsprogromnacht am 9. November 2003. Die richtendienste debattieren, sollten wir uns zunächst kurz Liste der Vereinsgründer liest sich wie das „Who’s who“ vor Augen führen, worüber wir eigentlich sprechen. internationaler Geschichtsverfälscher. Weiterhin ist zum Beispiel auch der Verein Gedächtnisstätte e. V. im säch- Die Nachrichtendienste leisten einen wichtigen Bei- sischen Borna angegliedert. Sein Ziel ist die Umkehr der trag zur Verteidigung unserer freiheitlich demokra- Schuldfrage am Zweiten Weltkrieg. Die Gefallenen der tischen Grundordnung. Wir müssen unsere Freiheit Deutschen Wehrmacht sollen einen Gedenkort erhalten. schützen und brauchen die wehrhafte Demokratie. Nur Auf der Internetseite liest man dazu: „Helfen Sie mit, wer die Gefahren für unsere Freiheit kennt, kann sie be- dass diese Schande des Verdrängens endlich ein Ende kämpfen. Und nur wer ein verlässliches Bild von der Ge- (B) (D) findet und die Opfer eine würdige Gedächtnisstätte be- fährdungslage im In- und Ausland hat, kann die notwen- kommen“. Von der Schande, welches Grauen und Ver- digen Schritte zum Schutz unserer Freiheit einleiten. derben von Hitlerdeutschland ausging, ist dabei nicht die Unser Land, unsere Freiheit und damit wir alle sind auf Rede. besondere nachrichtendienstliche Erkenntnisquellen an- gewiesen. Wir als demokratischer Staat brauchen Nach- Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen unakzepta- richtendienste. bel, dass das Collegium Humanum jahrelang den Status eines gemeinnützigen Vereins hatte und vielleicht sogar Ich denke, in diesem Punkt besteht zwischen allen de- noch immer hat. Solche Nazi-Aktivitäten dürfen nicht mokratischen Parteien ein breiter, grundlegender Kon- hingenommen und sogar steuerlich gefördert werden. sens. Bezeichnenderweise kommen die Vorschläge zur Alle zuständigen Behörden müssen künftig mehr Wach- Abschaffung demokratisch kontrollierter Nachrichten- samkeit für solche Vereine entfalten. dienste von der Linken. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass Verbote Genauso richtig ist aber auch, dass sich die Nachrich- nicht das Hauptproblem aus der Welt schaffen können. tendienste nicht in einem rechtsfreien Raum bewegen. Das Hauptproblem ist das rassistische, antisemitische, Sie sind Teil der Exekutive und als solche an Recht und intolerante Denken in weiten Teilen der Bevölkerung. Gesetz gebunden. Auch für die Nachrichtendienste gilt Ohne diese Einstellungen hätten Parteien wie die NPD der Grundsatz: Nichts geht ohne und nichts geht gegen oder Vereine wie das Collegium Humanum nicht einen das Gesetz. solchen Zulauf. Prävention muss also unser erstes Ziel Wie alle staatliche Macht muss sich auch die Tätigkeit sein. Wir brauchen mehr attraktive, demokratische Ange- der Nachrichtendienste demokratisch legitimieren. Dies bote, die den Menschen Alternativen zur rechtsextremen ist Ausdruck des Demokratieprinzips gemäß Art. 20 Ideologie aufzeigen. Es gibt viele engagierte Initiativen, Grundgesetz: Alle Macht geht vom Volke aus. Wir – das die in ihrer Umgebung etwas gegen die Vorherrschaft Parlament – sind Sachwalter des Volkes. Es geht also um von Nazi-Gruppen tun. Sie brauchen mehr Hilfe, Zu- die legitimatorische Verknüpfung zwischen Exekutive spruch und Geld. Deshalb treten Bündnis 90/Die Grünen und Parlament. Es geht um die Schaffung von Vertrauen konsequent für eine dauerhafte politische und finanzielle in die Nachrichtendienste. Diesen Aspekt müssen wir im- Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements ge- mer im Auge behalten. Parlamentarische Kontrolle richtet gen Rechtsextremismus ein. sich nicht gegen die Nachrichtendienste. Sie ist nicht Aus- Dennoch gibt es Ausnahmen, in denen Prävention zu druck von Misstrauen, sondern Voraussetzung für Ver- spät kommt und staatliche Repression ausgeübt werden trauen. Sie ist Voraussetzung für Vertrauen in die Dienste Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15695

(A) und gleichermaßen Vorraussetzung für Vertrauen in un- Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Liebe (C) sere demokratischen Institutionen – in unser Parlament. Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, es stellt sich die Frage, warum Sie einen solchen In diesen beiden Punkten – der Notwendigkeit von Antrag jetzt, zu diesem Zeitpunkt, vorlegen. Warten wir Nachrichtendiensten einerseits und der Erforderlichkeit doch erst einmal die Ergebnisse des – im Übrigen von von parlamentarischer Kontrolle andererseits – besteht Ihnen initiierten – BND-Untersuchungsausschusses ab. sicherlich ein weitgehender Konsens. Dabei wird deut- Dort wollen wir doch feststellen, ob und inwieweit im lich, dass das Transparenzprinzip des Parlaments und Bereich des BND aus parlamentarischer Sicht Reformen das Geheimhaltungsbedürfnis der Nachrichtendienste in notwendig sind. Im Übrigen hat der BND selbst gerade ein Spannungsverhältnis treten. Es gilt, dieses Span- durch die jüngsten Organisationsentscheidungen bewie- nungsverhältnis vernünftig auszutarieren, ohne dass das sen, dass man dort bereit und offen für Veränderungen eine Interesse zugunsten des anderen geopfert werden ist. muss. Hier setzt meine Kritik am vorliegenden Antrag Klar ist für mich aber eines: Was geheim ist, muss an. Ihr Antrag ist in der Sache unausgewogen und fach- auch geheim bleiben. Um die Mitarbeiterinnen und Mit- lich unausgereift. Er ist sachlich schlecht, weil er den be- arbeiter nicht an Leib und Leben zu gefährden und die sonderen Bedürfnissen der nachrichtendienstlichen Ar- für unsere innere Sicherheit existenziell wichtigen Er- beit nach Geheimhaltung und Geheimschutz nicht kenntnisse befreundeter Dienste weiter zu erhalten, muss gerecht wird. Sie gefährden mit Ihren Vorschlägen die Geheimes geheim bleiben. Es liegt in der Natur der Sa- Funktions- und Kooperationsfähigkeit der Dienste. Es che, dass nachrichtendienstliche Vorgänge nicht öffent- liegt in der Natur der Sache, dass es nachrichtendienstli- lich behandelt werden können. Das PKGr als geheim ta- che Vorgänge gibt, die nicht öffentlich behandelt werden gendes Gremium wird also benötigt. können. Es ist staatspolitisch unverantwortlich, sensible Vorgänge, die die Sicherheit unseres Landes betreffen, Ich bestreite nicht, dass die parlamentarische Kon- auf dem offenen Markt auszutragen. Wenn man prinzi- trolle der Nachrichtendienste hier und da verbesserungs- piell von der Geheimhaltung abgeht, sind auch Gefähr- bedürftig ist. Wo es sinnvoll und notwendig ist, wollen dungen für individuelle Rechtsgüter nicht mehr auszu- wir die Ausweitung der Kontrollrechte des in der westli- schließen. Eine Kontrolle, die auf dem offenen Markt chen Welt einmaligen Parlamentarischen Kontrollgremi- stattfindet, würde die Arbeit der Dienste konterkarieren ums weiter diskutieren. Frühere Information und mehr und letztlich vollends lahmlegen. Wenn Sie das wollen, Öffentlichkeit sind vorstellbar. Nachjustierungen müssen sollten sie das auch offen sagen. aber auf den Ergebnissen des BND-Untersuchungsaus- schusses basieren und dürfen diesen nicht vorgreifen. (B) Nein, in meinen Augen ist es gut, dass die Kontrolle Für solch eine kritische Überprüfung des Status quo ist (D) einem besonderen Gremium, dem Parlamentarischen dieser Ausschuss im Übrigen da. Es ist gerade seine Kontrollgremium, das einer strengen Geheimhaltung un- Aufgabe, bestehende Defizite in der parlamentarischen terliegt, vorbehalten ist. Parlamentarische Kontrolle Kontrolle der Nachrichtendienste aufzuzeigen und gege- muss die besonderen Bedürfnisse nachrichtendienstli- benenfalls Änderungsvorschläge zu unterbreiten. Lassen cher Arbeit nachzeichnen. Ich denke daher, dass wir am Sie uns den Abschlussbericht des BND-Untersuchungs- Grundsatz der Geheimhaltung festhalten müssen, wenn ausschusses abwarten und seine Ergebnisse dann ge- wir die Funktionsfähigkeit der Dienste nicht aufs Spiel meinsam und konstruktiv abarbeiten. setzen wollen. Wenn wir die Kontrolle wirklich verbes- sern wollen, so müssen wir das unter den Bedingungen Dr. Max Stadler (FDP): Seit Tagen wird landauf, der Geheimhaltung schaffen. landab intensiv darüber diskutiert, dass im großen Um- fang die Möglichkeiten des Bankensystems in Liechten- Schließlich ist Ihr Beschlussantrag fachlich unausge- stein auch von Deutschen dazu genutzt wurden, Steuern reift. Was Sie hier betreiben, ist reine Schaufensterpoli- in erheblicher Höhe zu hinterziehen. Die FDP ist selbst- tik. Sie liefern eine beliebige Absichtserklärung, die wir- verständlich der Auffassung, dass solche Delikte wie kungslos in der Luft verpufft. Es muss die Frage erlaubt alle anderen Straftaten auch verfolgt und bestraft werden sein, was wir denn erreichen würden mit Ihrem Antrag. müssen. Ebenso wie bei allen anderen Straftaten sind da- Wenn man wirklich etwas verbessern will, dann muss bei die rechtsstaatlichen Regeln strikt einzuhalten. man sich die Arbeit machen und einen Gesetzesentwurf Ob dies der Fall war, erscheint allerdings sehr zwei- vorlegen. Dieser Antrag ist wirkungslos und deshalb felhaft. Die für Steuerdelikte richtigerweise zuständige kein ernsthafter Beitrag. Steuerfahndung hat ihre Ermittlungen gemeinschaftlich Deshalb sagen wir als Union: Ja, wir wollen eine Ver- mit dem Bundesnachrichtendienst durchgeführt. Letzte- besserung des bestehenden Kontrollsystems. Wir sehen rer ist unstrittig für die Aufklärung von Steuerhinterzie- in der Tat konkreten Veränderungsbedarf, der unter- hung nicht zuständig. schiedliche Bereiche erfasst. Von der Gewährleistung Die Einhaltung der jeweiligen Kompetenzen ist der Rechtzeitigkeit der Information des Gremiums bis durchaus sehr wichtig: Die Steuerfahndung ist bei ihren hin zu Einzelfragen der Befugnisse setzen wir uns für strafrechtlichen Ermittlungen an die Vorschriften der Verbesserungen der Kontrolle ein. Wir werden dazu in Strafprozessordnung gebunden. Dies darf nicht dadurch nächster Zeit konkrete gesetzgeberische Vorschläge ma- umgangen werden, dass in Strafverfahren plötzlich ge- chen. heimdienstliche Ermittlungsmethoden einfließen, indem 15696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) der Bundesnachrichtendienst über den Umweg der In der Begründung hierzu heißt es, es liege in der Natur (C) „Amtshilfe“ beigezogen wird. Genau dies ist aber im der Sache, nachrichtendienstliche Vorgänge nicht öffent- Fall Liechtenstein geschehen. Es handelt sich also um ei- lich zu behandeln. Wer wollte schon einem solchen Ar- nen in jeder Hinsicht bedeutsamen Vorgang aus der Tä- gument widersprechen? Das Wort von der Natur der Sa- tigkeit des Bundesnachrichtendienstes. Deshalb bestand che dient bekanntlich dazu, den Diskurs zur Sache zu für die Bundesregierung die gesetzliche Verpflichtung, ersetzen. Der Diskurs ergäbe schnell, dass zumindest das Parlamentarische Kontrollgremium hierüber zu un- staatliche Rechtsbrüche unter keinen Umständen ge- terrichten. Dies ist nicht rechtzeitig geschehen. heimhaltungsbedürftig sein dürfen. Dieser aktuelle Vorgang zeigt, dass die Arbeit des Aber was ist das für eine Sache, um deren Natur es Parlamentarischen Kontrollgremiums dringend reform- hier wirklich geht? Die Sache – das ist das Grundgesetz. bedürftig ist. Die deutschen Nachrichtendienste haben Dessen Natur ist der demokratische Verfassungsstaat. Im zur Erfüllung ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit in demokratischen Verfassungsstaat sind einzige Ursache den letzten Jahren immer mehr Befugnisse bekommen. und Ursprung aller staatlichen Macht der Wille des Vol- Demgemäß muss auch die parlamentarische Kontrolle kes. Im demokratischen Verfassungsstaat darf es daher effektiver werden. Hierfür hat die FDP-Bundestagsfrak- keine Nischen oder dunklen Ecken für irgendeine staatli- tion am 5. April 2006 einen eigenen Gesetzentwurf zur che Macht geben, die ohne Legitimierung oder Kontrolle Änderung des Kontrollgremiumgesetzes eingebracht. existiert. Eine solche Macht wäre undemokratisch und deswegen verfassungsfeindlich. Das ist die Natur der Sa- Es ist ein nahezu skandalöses Versäumnis der Großen che. Der Diskurs endet also nicht mit der Natur der Sa- Koalition, dass dieser konkrete Reformvorschlag der che, sondern beginnt mit ihr. Diesen Diskurs benötigen FDP bisher keine Zustimmung bei der SPD und der wir dringend. Hierfür kann der Antrag der Grünen allen- CDU/CSU gefunden hat. Während bei einzelnen Unions- falls einen Anfangsimpuls darstellen. abgeordneten durchaus Gesprächsbereitschaft bestand, wollte die SPD mit dem fadenscheinigen Argument, Um das Ausmaß der notwendigen Veränderungen be- man müsse erst die Beendigung des BND-Untersu- urteilen zu können, müssen Sie einfach nur die Wirklich- chungsausschusses abwarten, das Thema auf die lange keit zur Kenntnis nehmen. Schätzungsweise 10 000 Mit- Bank schieben. Das geht jetzt nicht mehr, weil die Bun- arbeiter der drei deutschen Geheimdienste sollen wir als desregierung das Kontrollgremium in der Liechtenstein- Parlamentarisches Kontrollgremium kontrollieren. Le- Affäre zum wiederholten Male missachtet hat und nun- diglich neun Mitglieder, die nur alle drei Wochen für we- mehr endlich auch die Sozialdemokraten einsehen, dass nige Stunden zusammenkommen, sollen das ohne eigene das Parlament sich eine faktische Schwächung der Kon- Mitarbeiter bewerkstelligen. Es liegt auf der Hand, dass (B) trollrechte nicht mehr länger bieten lassen kann. eine Kontrolltätigkeit unter diesen Bedingungen zu kei- (D) nem nennenswerten Erkenntnisgewinn führen kann. Ich Deswegen ist es erfreulich, dass endlich fraktions- erinnere noch einmal an Isaak Newton: „Was wir wissen, übergreifende Gespräche vereinbart werden konnten. ist ein Tropfen; was wir nicht wissen, ein Ozean.“ Die FDP wird auf der Basis des eigenen Gesetzentwur- fes dazu beitragen, dass am Ende eine gemeinsame Lö- In der Natur der Sache liegt dabei auch, dass dem sung stehen könnte, mit der das Parlament seine Kon- Kontrolleifer aufseiten der Vertreter der Regierungspar- trollbefugnis gegenüber der Bundesregierung und den teien natürliche Grenzen gesetzt sind. Das ist schlecht, Nachrichtendiensten besser erfüllen kann. weil es an starken Minderheitenbefugnissen im Gre- mium fehlt. Wenn also die Regierungsfraktionen – ihrer Auch aus dem heute zu beratenden Antrag der Grü- natürlichen Neigung folgend – die Regierung nicht kon- nen „Für eine wirksamere Kontrolle der Geheimdienste“ trollieren wollen, findet überhaupt keine Kontrolle statt, können dabei einige Gedanken in die im April beginnen- weil dann auch die Oppositionsfraktionen ihrer Kontroll- den fraktionsübergreifenden Gespräche eingeführt wer- möglichkeiten beraubt werden. Bei diesen Kontrollbe- den. Somit ist festzustellen, dass die FDP das Grundan- dingungen, besteht die Kontrolle darin, zu hoffen, dass liegen des Antrags der Grünen teilt, jedoch nicht bei die Regierung ihrer gesetzlichen Bringschuld nach- allen Einzelfragen den Lösungsvorschlägen der Grünen kommt und von sich aus berichtet, was objektiv bedeut- zustimmt. Dies heute im Detail zu erörtern, erübrigt sich, sam ist. Das heißt: Allein der zu Kontrollierende be- da ja – wie schon dargestellt – schon in der übernächsten stimmt den Kontrollgegenstand. Sitzungswoche die Berichterstattergespräche zu der überfälligen Reform beginnen. Stellen Sie sich einen Strafprozess vor, in dem allein der Verteidiger über Art und Umfang der Beweiserhe- Die FDP enthält sich daher der Stimme hinsichtlich bung bestimmt. Der Freispruch für den Angeklagten des Antrages der Grünen. Das Reformvorhaben als sol- wäre stets garantiert. Genauso verhält es sich im Kon- ches werden wir aber mit aller Kraft vorantreiben. trollgremium: Der Freispruch für die Regierung ist stets gesichert. Wenn dann aber – entgegen aller Erwartung – Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Angesichts der das Gremium dennoch von Rechtsbrüchen erfährt, hilft riesigen Defizite, die wir bei der demokratischen Kon- dies für die politische Kontrolle herzlich wenig. Denn es trolle der Geheimdienste haben, ist der Antrag der Grü- fehlt dem Gremium an den nötigen Sanktionsmitteln, um nen kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen die festgestellten Rechtsbrüche zu ahnden. Daran hindert Stein. Zu diesem schmalen Antrag gibt es aber eine noch es die Schweigepflicht. Die Mitglieder des Gremiums schmalere Beschlussempfehlung des Innenausschusses. müssen also ihr Wissen behalten. Sie dürfen es mit ins Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008 15697

(A) Grab nehmen. Da ruht es dann sanft und nützt nieman- serungen der Arbeitsmöglichkeiten des Gremiums gefor- (C) dem. dert und angekündigt. In der Natur der Sache liegt es deswegen, diesen Zu- Vor einem Jahr waren die Vertreter aller Fraktionen stand, der einer Demokratie gänzlich unwürdig ist, end- auf einem Podium der Konrad-Adenauer-Stiftung ver- lich zu beenden. Nicht zaghaftes Herumwerkeln an den sammelt und haben unisono Veränderungen angekün- bestehenden gesetzlichen Regelungen ist notwendig, digt. Das Ob war unstreitig, nur zum Wie gab es unter- sondern eine grundlegende und umfassende Reform der schiedliche Auffassungen. Geschehen ist aber nichts. Geheimdienstkontrolle. Wir werden Ihnen dazu dem- Und ich fürchte, in dieser Legislaturperiode wird auch nächst ein Ablösegesetz im Entwurf vorlegen, das den nichts mehr geschehen. Alle warten und vertrösten auf Titel „Kontrollgesetz“ zu Recht trägt. die Zeit nach dem Ende der Arbeit des Untersuchungs- ausschusses. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zudem wird, wie es derzeit aussieht, die Arbeit dieses NEN): Es ist jetzt drei Wochen her, da durfte ich aus dem Ausschusses noch lange dauern. Dann bliebe kaum noch Fernsehen erfahren, dass dem Bundesnachrichtendienst Zeit für die Erarbeitung der notwendigen Gesetzesände- ein Superdeal von einmaliger Dimension gelungen war. rungen. Und es wird Wahlkampf sein. Keine besonders Er soll für 5 Millionen Euro Liechtensteiner Bankdaten gute Zeit für die Formulierung der notwendigen Gesetze. gekauft und über tausend deutsche Steuersünder entlarvt Deshalb lassen Sie uns jetzt handeln. Der Worte sind ge- haben. Gezeigt wurde die morgendliche Hausdurchsu- nug gewechselt; jetzt müssen den Ankündigungen und chung bei Herrn Zumwinkel. Gegen weitere bedeutende Versprechungen Taten folgen. Die Grünen haben dazu Personen und gar Banken sollen sich die Ermittlungen Vorschläge vorgelegt, die wir heute beraten: Im PKG- richten. Schlagzeilen und Titelgeschichten in Magazinen Gesetz muss festgeschrieben werden, was ein „Vorgang folgten mit immer neuen Einzelheiten der jahrelangen von besonderer Bedeutung“ ist. Kriterien müssen ins Operation des Bundesnachrichtendienstes. Der Bundes- Gesetz, die verhindern, dass die Bundesregierung sich tag beschäftigte sich mit der Affäre in einer Aktuellen „rauszieht“. Stunde. Sie löste heiße Diskussionen nicht nur im Ham- burger Wahlkampf aus. Bald wurde auch über die Frage So ist ein „Vorgang von besonderer Bedeutung“ im- diskutiert: Durfte der BND das überhaupt? Hat er in den mer dann anzunehmen, wenn das Kanzleramt informiert Grenzen seiner gesetzlichen Aufgaben und Befugnisse und eingebunden wurde. Diese Voraussetzung lag vor in gehandelt? all den Affären, die der Untersuchungsausschuss unter- Als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgre- sucht, und auch im Fall des Kaufs der Bankdaten aus (B) (D) miums war ich auf die Informationen aus den Medien Liechtenstein. Außerdem müssen Sanktionen her für den angewiesen. Vor der Fernsehsendung gab es nicht den Fall, dass die Bundesregierung nicht oder falsch oder un- geringsten Hinweis der Bundesregierung an das Parla- vollständig unterrichtet. Wir schlagen vor, dass das Gre- ment. Wieder einmal musste die rechtzeitige parlamenta- mium dann seine entsprechende Feststellung mit einer rische Kontrolle der Tätigkeit des BND schon deshalb Wertung öffentlich macht und Konsequenzen für die scheitern, weil die Bundesregierung nicht unterrichtet Verantwortlichen vorschlägt. hatte, obwohl es sich doch ganz offensichtlich um einen Aber die rechtzeitige, vollständige und wahre Infor- Vorgang von besonderer Bedeutung handelte. Die zwei- mation durch die Bundesregierung ist nur eine Voraus- jährige Operation des BND war verschwiegen worden, setzung für die Kontrolltätigkeit des Gremiums. Weitere obwohl die Bundesregierung verpflichtet ist, dem PKG Verbesserungen sind notwendig. So geht es um mehr genau über solche Vorgänge von besonderer Bedeutung Transparenz der Arbeit dieses Gremiums. Es kann zum bei den Diensten zeitnah zu berichten. Genau diese For- Beispiel nicht angehen, dass die PKG-Mitglieder immer mulierung steht in § 2 PKG-Gesetz. noch nicht ihren eigenen Fraktionsvorsitzenden berich- So kann die parlamentarische Kontrolle der Dienste ten dürfen, etwa über besonders problematische Vor- durch das PKG nicht funktionieren. Viele Affären des gänge. Die Mitglieder des Gremiums müssen auch die BND in den letzten Jahren zeigen dies. Deshalb muss Möglichkeit haben, mit einzelnen Wertungen und Kritik sich der Bundestag immer wieder mit diesen befassen. an die Öffentlichkeit zu gehen. Ein Untersuchungsausschuss bemüht sich seit nunmehr zwei Jahren um Aufklärung, Klarheit und Wahrheit. Es Bedeutsame Fälle wie der Vorgang BND/Liechten- geht um nichts weniger als um die Bespitzelung von stein darf nicht einfach in der PKG „versacken“, sodass Journalisten und deren Anwerbung durch den BND in die Öffentlichkeit sich fragen muss: Was war denn da Deutschland, um deutsche BND-Spione in Bagdad wäh- nun eigentlich dran? Wir Grüne halten es vielmehr für rend des Irakkrieges und um die Verstrickungen der erforderlich, dass die PKG-Mitglieder solche Vorgänge deutschen Geheimdienste in Machenschaften der US- nicht nur öffentlich bewerten dürfen, sondern auch über Dienste. den Sachverhalt – selbstverständlich unter Wahrung der notwendigen Geheimhaltung für Einzelheiten – als sol- Die Kontrolltätigkeit des PKG muss effektiver und chen sprechen dürfen. Sonst wird die Kontrolle auch besser werden. Darüber sind sich die Mitglieder aller durch die Öffentlichkeit zu Recht als unbefriedigend und Fraktionen einig. Gerade in den letzten Tagen haben sie fragwürdig – im wahrsten Sinn des Wortes – wahrge- wieder und wieder in Interviews Reformen und Verbes- nommen. 15698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 148. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. März 2008

(A) Die Öffentlichkeit und die Bevölkerung haben einen hin heftig um Ihre Zustimmung. Ich bin irritiert darüber, (C) Anspruch darauf, zu erfahren, was die Volksvertreter in dass dieser Antrag in den Fachausschüssen erst sehr solchen Fällen denn nun herausbekommen und festge- lange schmorte und dann durch Union und SPD einfach stellt haben. Diese Information kann auch dazu beitra- nur abgelehnt wurde bei bloßer Enthaltung von FDP und gen, die Gemüter zu beruhigen, wenn sich einiges auf- Linken. klärt, was vielleicht ganz anders in der Zeitung stand. Gerade in diesen Tagen wird einmal wieder intensiv Die Arbeitsmöglichkeiten der Abgeordneten im Kon- trollgremium müssen entscheidend verbessert werden. über Glaubwürdigkeit diskutiert. Es muss nicht nur hier im Haus Befremden auslösen, sondern mehr noch Es ist gar nicht einzusehen, warum die Abgeordneten ge- Glaubwürdigkeitszweifel bei der Bevölkerung, wenn rade bei dieser wichtigen Kontrolltätigkeit nicht Mitar- seit Jahren nicht nur irgendwelche Fachpolitiker, son- beiter zur Unterstützung hinzuziehen dürfen. dern auch Fraktionsspitzen und Minister völlig einhellig Die Unzufriedenheit über die Mängel bei der Kon- bessere Kontrollmöglichkeiten über die Dienste fordern, trolltätigkeit dieses parlamentarischen Gremiums ist all- jedoch zurückzucken und eben dies ablehnen, sobald es gemein und bestand auch bei ehemaligen Mitgliedern konkret zu werden droht. Dies wäre – über diesen Anlass wie etwa den Kollegen Struck, Zeitlmann und Neumann, hinaus – insgesamt ein sehr schlechtes Signal der Politik wie man aus deren öffentlichen Äußerungen entnehmen und insbesondere der Regierungskoalition, sozusagen konnte. Wir Grüne haben vor fast genau 2 Jahren als nur den Mund zu spitzen, aber dann nicht zum Pfeifen erste Fraktion in dieser Legislaturperiode erneut die Ini- bereit zu sein. Heute können Sie pfeifen, indem Sie un- tiative ergriffen und einen Antrag eingebracht mit einem serem Antrag zustimmen. Danach könnten wir uns über Bündel von Maßnahmen, um die Kontrolle der Geheim- alle Einzelheiten der Ausgestaltung im Rahmen der Be- dienste wirksamer zu gestalten. Dafür werbe ich weiter- ratung eines konkreten Änderungsgesetzes verständigen.

(B) (D)

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