Plenarprotokoll 16/76

Deutscher

Stenografischer Bericht

76. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista neten , (Bre- Sager, Hans-Josef Fell, , wei- men) und Johann-Henrich Krummacher . . 7545 A terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zu- Ausscheiden des Abgeordneten Henry kunftsfähige Forschung in Europa stär- Nitzsche aus der Fraktion der CDU/CSU . . . 7545 B ken

Benennung der Abgeordneten Ulla (Drucksachen 16/1547, 16/710, 16/2891) . . . 7546 C Burchardt als Mitglied in das Kuratorium „Wissenschaftszentrum für Sozial- forschung“ ...... 7545 B in Verbindung mit Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 7545 B

Absetzung der Tagesordnungspunkte 11, 23, Zusatztagesordnungspunkt 2: 24 und 28 d ...... 7546 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 7546 B schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- geordneten , , Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Voraussetzungen für Ent- Tagesordnungspunkt 4: wicklung, Bau und Betrieb einer Europäi- schen Spallations-Neutronenquelle in Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Deutschland schaffen – Deutsche Bewer- schusses für Bildung, Forschung und Tech- bung vorantreiben nikfolgenabschätzung (Drucksachen 16/386, 16/2738) ...... 7546 C Dr. , Bundesministerin – zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten BMBF ...... 7546 D Müller (Braunschweig), , , weiterer Abgeordne- Cornelia Pieper (FDP) ...... 7548 C ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, Jörg René Röspel (SPD) ...... 7550 B Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Innovatio- Dr. (DIE LINKE) ...... 7551 D nen für Deutschland durch das Siebte Forschungsrahmenprogramm der (BÜNDNIS 90/ Europäischen Union DIE GRÜNEN) ...... 7553 B II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Carsten Müller (Braunschweig) Tagesordnungspunkt 28: (CDU/CSU) ...... 7554 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Swen Schulz (Spandau) (SPD) ...... 7556 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Umsetzung der Richtlinie des Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Europäischen Parlaments und des Ra- DIE GRÜNEN) ...... 7557 B tes über die Umwelthaftung zur Ver- meidung und Sanierung von Umwelt- Ilse Aigner (CDU/CSU) ...... 7558 B schäden (Drucksache 16/3806) ...... Dieter Grasedieck (SPD) ...... 7559 A 7578 D

Jörg Tauss (SPD) ...... 7560 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Län- dern (Beamtenstatusgesetz – Beamt- StG) Tagesordnungspunkt 5: (Drucksachen 16/4027, 16/4038) ...... 7578 D a) Erste Beratung des von den Abgeordneten c) Erste Beratung des von der Bundesregie- , Dr. Heinrich L. Kolb, rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- , weiteren Abgeordneten zes zu der Vereinbarung vom 11. April und der Fraktion der FDP eingebrachten 2006 zwischen der Regierung der Bun- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung desrepublik Deutschland und der Re- des Gesetzes zum Schutz der arbeiten- gierung der Republik Polen über die den Jugend (Jugendarbeitsschutzgesetz – Durchführung des Übereinkommens JArbSchG) vom 25. Februar 1991 über die Umwelt- (Drucksache 16/2094) ...... 7562 A verträglichkeitsprüfung im grenzüber- schreitenden Rahmen (Vertragsgesetz b) Erste Beratung des von den Abgeordneten zur Deutsch-Polnischen UVP-Vereinba- , Hüseyin-Kenan Aydin, Karin rung) Binder, weiteren Abgeordneten und der (Drucksache 16/4011) ...... Fraktion der LINKEN eingebrachten Ent- 7579 A wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes (Drucksache 16/3016) ...... 7562 A

Ernst Burgbacher (FDP) ...... 7562 B Zusatztagesordnungspunkt 3:

Paul Lehrieder (CDU/CSU) ...... 7563 C Unterrichtung durch die deutsche Delegation des Deutschen Bundestages zur Euromediter- Diana Golze (DIE LINKE) ...... 7565 A ranen Parlamentarischen Versammlung: Gründungsversammlung der Euromediter- Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 7567 B ranen Parlamentarischen Versammlung am 22./23. März 2004 in Athen, Griechen- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ land DIE GRÜNEN) ...... 7568 C (Drucksache 15/3414) ...... 7579 A Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 7570 B

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 7570 D Tagesordnungspunkt 29: Annette Faße (SPD) ...... 7572 A Vierte Beschlussempfehlung des Wahlprü- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 7573 A fungsausschusses: zu 11 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag (SPD) ...... 7574 A eingegangenen Wahleinsprüchen (Drucksache 16/3900) ...... 7579 B (CDU/CSU) ...... 7575 C (Heilbronn) (SPD) ...... 7577 B (CDU/CSU) ...... 7579 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 III

Zusatztagesordnungspunkt 4: Uwe Barth (FDP) ...... 7598 C

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Jörg Tauss (SPD) ...... 7599 B des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Un- terschiedliche Auffassungen in der Bundes- Volker Schneider (Saarbrücken) regierung zu einer klimaverträglichen (DIE LINKE) ...... 7601 A Energieversorgung ohne Atomkraft ...... 7581 A Jörg Tauss (SPD) ...... 7601 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7581 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7602 C (Potsdam) (CDU/CSU) . . . 7582 B

Gudrun Kopp (FDP) ...... 7583 B

Michael Müller, Parl. Staatssekretär BMU ...... 7584 C Tagesordnungspunkt 7:

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 7586 A a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 7587 A wurfs eines Gesetzes zur Vereinheit- lichung von Vorschriften über be- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ stimmte elektronische Informations- DIE GRÜNEN) ...... 7588 A und Kommunikationsdienste (Elek- tronischer-Geschäftsverkehr-Verein- (SPD) ...... 7589 B heitlichungsgesetz – ElGVG) (Drucksachen 16/3078, 16/3135, Dr. (CDU/CSU) ...... 7590 B 16/4078) ...... 7604 A

Dr. (SPD) ...... 7591 C – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Bärbel Höhn, Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 7592 D (Köln), Grietje Bettin, weiteren Abgeordneten und der Frak- Christoph Pries (SPD) ...... 7593 C tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines (SPD) ...... 7594 D Zweiten Gesetzes zur Änderung des Teledienstegesetzes (Anti-Spam-Ge- setz) (Drucksachen 16/1436, 16/4078) . . . . 7604 A

Tagesordnungspunkt 6: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- a) Zweite und dritte Beratung des von der gie zu dem Antrag der Abgeordneten Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring, eines Gesetzes zur Änderung arbeits- weiterer Abgeordneter und der Fraktion rechtlicher Vorschriften in der Wissen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: schaft Verbraucher beim Telemediengesetz (Drucksachen 16/3438, 16/4043) ...... 7596 B nicht übergehen (Drucksachen 16/3499, 16/4078) ...... 7604 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin Technikfolgenabschätzung zu dem An- BMWi ...... 7604 C trag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (FDP) ...... 7605 D Wissenschaftssystem zukunftsfähig ge- stalten – wissenschaftsadäquate Ar- Martin Dörmann (SPD) ...... 7606 C beitsbedingungen schaffen (Drucksachen 16/3286, 16/4043) ...... 7596 B Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 7608 B

Carsten Müller (Braunschweig) Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 7596 C DIE GRÜNEN) ...... 7609 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Tagesordnungspunkt 8: Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7625 C a) Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weite- Frank Schwabe (SPD) ...... 7626 D rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Praktika gesetzlich regeln Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 7628 A (Drucksache 16/3349) ...... 7610 C b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜND- Tagesordnungspunkt 10: NISSES 90/DIE GRÜNEN: Perspektiven für die Generation Praktikum schaffen Antrag der Abgeordneten Josef Philip (Drucksache 16/3544) ...... 7610 C Winkler, , (Augsburg) und der Fraktion des BÜNDNIS- Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 7610 D SES 90/DIE GRÜNEN: Für eine Initiative der Bundesregierung mit dem Ziel einer Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 7612 A humanitären, kohärenten und nachhalti- Uwe Barth (FDP) ...... 7613 B gen Ausrichtung der europäischen Flücht- lingspolitik (SPD) ...... 7614 B (Drucksache 16/3541) ...... 7629 B

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7615 D DIE GRÜNEN) ...... 7629 B

Franz Romer (CDU/CSU) ...... 7617 A (CDU/CSU) ...... 7630 B Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 7632 B Swen Schulz (Spandau) (SPD) ...... 7618 B Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) ...... 7633 A (DIE LINKE) ...... 7634 C

Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. , Hartwig Fischer Tagesordnungspunkt 13: (Göttingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- Erste Beratung des von der Bundesregierung geordneten Gabriele Groneberg, Dr. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur , Dr. Axel Berg, weiterer Schaffung deutscher Immobilien-Aktienge- Abgeordneter und der Fraktion der SPD: sellschaften mit börsennotierten Anteilen Energie- und Entwicklungspolitik stär- (Drucksachen 16/4026, 16/4036) ...... 7635 C ker verzahnen – Synergieeffekte für die weltweite Energie- und Entwicklungs- förderung besser nutzen in Verbindung mit (Drucksache 16/4045) ...... 7619 D b) Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zusatztagesordnungspunkt 5: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Rohstoffeinnahmen für nachhaltige Antrag der Abgeordneten , Entwicklung nutzen Dr. Barbara Höll, Dr. , weiterer (Drucksache 16/4054) ...... 7620 A Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Neue Steuervergünstigungen und Gewinn- Gabriele Groneberg (SPD) ...... 7620 A verlagerungen in das Ausland verhindern – REITs in Deutschland nicht einführen Dr. (FDP) ...... 7621 D (Drucksache 16/4046) ...... 7635 C Dr. Barbara Hendricks, Parl. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 7623 A Staatssekretärin BMF ...... 7635 D Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 7624 C Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 7636 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 V

Leo Dautzenberg (CDU/CSU) ...... 7637 C (CDU/CSU) ...... 7650 C Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 7639 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 7652 A Dr. (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7640 A DIE GRÜNEN) ...... 7652 D (SPD) ...... 7641 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7641 D Zusatztagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung und Immunität zu einem An- trag: Genehmigung zur Durchführung ei- Tagesordnungspunkt 12: nes Strafverfahrens (Drucksache 16/4095) ...... 7653 D Antrag der Abgeordneten , Gudrun Kopp, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Keine Verlängerung des Briefmonopols – Wettbewerb auf dem deutschen und euro- päischen Postmarkt ermöglichen Tagesordnungspunkt 14: (Drucksache 16/3623) ...... 7642 C Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Ulla Lötzer, weiterer Abge- in Verbindung mit ordneter und der Fraktion der LINKEN: Den Reichtum umverteilen – für eine sozial ge- Zusatztagesordnungspunkt 6: rechte Reform der Erbschaftsbesteuerung (Drucksache 16/3348) ...... 7653 D Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der LINKEN: Vollständige Öffnung der Postmärkte stop- pen – Universaldienstverpflichtung absi- Tagesordnungspunkt 17: chern (Drucksache 16/4044) ...... 7642 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Geset- Martin Zeil (FDP) ...... 7642 D zes zur Änderung des Bundesvertriebenen- gesetzes (CDU/CSU) ...... 7643 D (Drucksache 16/4017) ...... 7654 A Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 7645 B (SPD) ...... 7646 B Gudrun Kopp (FDP) ...... 7647 C Tagesordnungspunkt 19: Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des von der Bundesregierung DIE GRÜNEN) ...... 7648 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente und der Durchfüh- rungsrichtlinie der Kommission (Finanz- markt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz) Tagesordnungspunkt 15: (Drucksachen 16/4028, 16/4037) ...... 7654 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- zes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteu- ergesetzes (Drucksache 16/4010) ...... 7649 B Tagesordnungspunkt 18: Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 7649 C Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer, , , weite- Dr. (FDP) ...... 7649 C rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Verbraucherfreundliche Kennzeichnung Anlage 4 strahlungsarmer Mobilfunkgeräte (Drucksache 16/3354) ...... 7654 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Än- derung des Bundesvertriebenengesetzes (Ta- gesordnungspunkt 17) Maik Reichel (SPD) ...... 7663 C Tagesordnungspunkt 20: Dr. (FDP) ...... 7665 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 7665 D und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ ordneten Heike Hänsel, Ulla Lötzer, Dr. DIE GRÜNEN) ...... 7666 B , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Für solidarische und Dr. , Parl. Staatssekretär entwicklungspolitisch kohärente Wirt- BMI ...... 7667 A schaftspartnerschaftsabkommen (Drucksachen 16/3193, 16/4056) ...... 7654 C

Nächste Sitzung ...... 7655 A Anlage 5 Berichtigung ...... 7655 A, C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstru- mente und der Durchführungsrichtlinie der Kommission (Finanzmarkt-Richtlinie-Umset- Anlage 1 zungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 19) Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7657 A (CDU/CSU) ...... 7668 B Nina Hauer (SPD) ...... 7669 A Frank Schäffler (FDP) ...... 7669 D

Anlage 2 Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 7670 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Ände- DIE GRÜNEN) ...... 7671 A rung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (Tages- ordnungspunkt 15) Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF ...... 7672 C Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 7657 C

Anlage 6 Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Verbraucherfreundliche Kenn- des Antrags: Den Reichtum umverteilen – für zeichnung strahlungsarmer Mobilfunkgeräte eine sozial gerechte Reform der Erbschaftsbe- (Tagesordnungspunkt 18) steuerung (Tagesordnungspunkt 14) (CDU/CSU) ...... 7673 A (CDU/CSU) ...... 7659 C Florian Pronold (SPD) ...... 7660 A Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) ...... 7674 B Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 7660 D Horst Meierhofer (FDP) ...... 7675 D Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 7661 D Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 7676 D Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7662 D DIE GRÜNEN) ...... 7677 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 VII

Anlage 7 Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 7679 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Hellmut Königshaus (FDP) ...... 7680 A des Antrags: Für solidarische und entwick- lungspolitisch kohärente Wirtschaftspartner- Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 7681 B schaftsabkommen (Tagesordnungspunkt 20) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 7678 B DIE GRÜNEN) ...... 7682 C

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(A) (C) Redetext

76. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- Die Sitzung ist eröffnet. schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle Cornelia Pieper, Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abgeord- herzlich und wünsche uns einen guten Tag und noch neter und der Fraktion der FDP möglichst viele gute Tage im gerade begonnenen neuen Voraussetzungen für Entwicklung, Bau und Betrieb einer Europäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutsch- Jahr. land schaffen – Deutsche Bewerbung vorantreiben Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich einige Mit- – Drucksachen 16/386, 16/2738 – teilungen zu machen. Die Kollegen Hans Eichel und Berichterstattung: Bernd Neumann feierten am 24. Dezember beziehungs- Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) weise am 6. Januar ihren 65. Geburtstag und der Kollege Jörg Tauss Cornelia Pieper Johann-Henrich Krummacher feierte am 27. Dezember Dr. Petra Sitte seinen 60. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich (B) Krista Sager (D) zu diesen runden Geburtstagen herzlich und wünsche al- ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren les Gute. (Ergänzung zu TOP 28) (Beifall) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation des Deutschen Bundestages zur Euromediterranen Parlamen- Ich gebe bekannt, dass der Kollege Henry Nitzsche tarischen Versammlung am 15. Dezember 2006 aus der Fraktion der CDU/CSU Gründungsversammlung der Euromediterranen Parla- ausgeschieden ist und dem Deutschen Bundestag künftig mentarischen Versammlung am 22./23. März 2004 in als fraktionsloser Abgeordneter angehören wird. Athen, Griechenland – Drucksache 15/3414 – Die Fraktion der SPD schlägt vor, die Kollegin Ulla Überweisungsvorschlag: Burchardt für eine weitere Amtszeit als Mitglied des Ausschuss für die Angelegenheiten der Kuratoriums des Wissenschaftszentrums Berlin für Europäischen Union (f) Sozialforschung zu benennen. Sind Sie damit einver- Auswärtiger Ausschuss standen? – Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ( [SPD]: Sehr gerne, Herr Präsi- Entwicklung dent!) ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Das sieht so aus. Der Tag beginnt mit einem bemerkens- Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zu werten Maß an Harmonie; mal sehen, wie lange das hält. einer klimaverträglichen Energieversorgung ohne Atom- Damit ist die Kollegin Ulla Burchardt für das Kurato- kraft rium des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialfor- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Bluhm, schung benannt. Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Neue Steuervergünstigungen und Gewinnverlagerungen Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- in das Ausland verhindern – REITs in Deutschland nicht führten Punkte zu erweitern: einführen ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU – Drucksache 16/4046 – und SPD: Überweisungsvorschlag: Bewertung der anhaltend dynamischen Investitionstätig- Finanzausschuss (f) keit deutscher Unternehmen und der kräftigen Belebung Rechtsausschuss der Binnennachfrage bei andauernd hohen Wachstums- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung raten im Außenhandel (siehe 75. Sitzung) Haushaltsausschuss 7546 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Sabine 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C) Zimmermann, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und richts des Ausschusses für Bildung, Forschung der Fraktion der LINKEN und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) Vollständige Öffnung der Postmärkte stoppen – Univer- saldienstverpflichtung absichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten – Drucksache 16/4044 – Müller (Braunschweig), Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Überweisungsvorschlag: Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss neten René Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Kressl, weiterer Abgeordneter und der Frak- Haushaltsausschuss tion der SPD ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, Innovationen für Deutschland durch das Dr. , Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der LINKEN Siebte Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union Keine Tornado-Aufklärungsflugzeuge in Afghanistan ein- setzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista – Drucksache 16/4047 – Sager, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) NISSES 90/DIE GRÜNEN Verteidigungsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Zukunftsfähige Forschung in Europa stär- Entwicklung ken Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- – Drucksachen 16/1547, 16/710, 16/2891 – weit erforderlich, abgewichen werden. Berichterstattung: Die Tagesordnungspunkte 11, 23, 24 und 28 d werden Abgeordnete Carsten Müller (Braunschweig) abgesetzt. In der Folge werden die Tagesordnungspunk- René Röspel te 12 und 13, 14 und 15, 16 und 17 sowie 18 und 19 je- Cornelia Pieper weils getauscht. Dr. Petra Sitte Krista Sager Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus- ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung merksam: (B) und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) (D) Der in der 73. Sitzung des Deutschen Bundestages zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Pieper, Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abge- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ordneter und der Fraktion der FDP (15. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Voraussetzungen für Entwicklung, Bau und Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Betrieb einer Europäischen Spallations-Neu- Christian Ahrendt, Michael Link (Heilbronn), tronenquelle in Deutschland schaffen – Deut- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sche Bewerbung vorantreiben Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsident- – Drucksachen 16/386, 16/2738 – schaft – eine EU der Erfolge für die Bürger Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) – Drucksache 16/3832 – Jörg Tauss Überweisungsvorschlag: Cornelia Pieper Ausschuss für die Angelegenheiten der Dr. Petra Sitte Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Krista Sager Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Verbraucherschutz schlossen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und nächst der Bundesministerin Dr. Annette Schavan. Entwicklung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- sen. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- dung und Forschung: Dann rufe ich nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den Zusatzpunkt 2 auf: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7547

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) sinnt sich auf seine Stärken in Wissenschaft und For- eine angemessene Berücksichtigung. Das passt sehr gut (C) schung. Dafür steht das 7. Forschungsrahmenprogramm, zusammen mit unserem Jahr der Geisteswissenschaften. das Kommissar Potocnik und ich in dieser Woche in Bonn vorgestellt haben. Es ist die zentrale Plattform für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie die wichtigsten Forschungsthemen. Es bündelt die euro- der Abg. Cornelia Pieper [FDP]) päischen Forschungsanstrengungen. Es ist gelungen, mit Umsetzung von Forschungsergebnissen in die An- einer Laufzeit von sieben Jahren und einem Gesamtbud- wendung ist nicht nur unser Thema, sondern auch ein get von rund 54 Milliarden Euro das weltweit größte europäisches Thema. Auch das Forschungsrahmenpro- Forschungsrahmenprogramm auf den Weg zu bringen. gramm enthält diesen Punkt. Die Fragen von Technolo- In Erinnerung zu rufen ist: Dieser Etat liegt 60 Prozent gietransfer und Ergebnisverwertung werden schon bei über dem des 6. Forschungsrahmenprogramms. der Projektauswahl eine wichtige Rolle spielen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Drittens die Grundlagenforschung. Sie ist ein wirk- Ich will in vier Punkten skizzieren, wie die Weichen lich neues Kapitel der europäischen Forschungsförde- für die europäische Forschung mit diesem Forschungs- rung. Der Europäische Forschungsrat, der in den nächs- rahmenprogramm neu gestellt wurden: ten Wochen seine Arbeit aufnehmen wird, gehört mit dazu. Es ist ein zweiter wichtiger Impuls. Europäischer Erstens deutlicher Bürokratieabbau. Die Förderver- Forschungsrat bedeutet nach dem Vorbild der Deutschen fahren sind vereinfacht. Das senkt den Verwaltungsauf- Forschungsgemeinschaft: unabhängige und souveräne wand für die Forschenden. Die förderrechtlichen Vorga- Wissenschaft in Europa, Stärkung einer europäischen ben sind nun transparent und eindeutig. Wir reduzieren Strategie der Grundlagenforschung. Jeder kennt die for- den administrativen Aufwand; das heißt weniger Formu- schungspolitische Philosophie: Starke Grundlagenfor- lare, weniger Bescheinigungen, weniger Bürgschaften. schung und langfristig angelegte Strategien in der Vor allem aber starten wir mit dem neuen Programm ein Grundlagenforschung sind die Voraussetzungen für an- einheitliches Kostenerstattungssystem. Alle Forschungs- gewandte Forschung, für die Umsetzung der For- einrichtungen können ihre kompletten Kosten auf der schungsergebnisse und für die Innovationskraft in Eu- Grundlage eines transparenten und national angepassten ropa. Kriterienkatalogs ansetzen. 60 Prozent der Kosten kön- Ich kann nur sagen: Wir können diese Veränderung nen pauschal erstattet werden. Das bedeutet über die ei- nicht hoch genug einschätzen. Das ist im Vergleich zur gentliche Projektförderung hinaus eine Stärkung der In- bisherigen Forschungspolitik eine wirklich neue Philo- stitute der Hochschulen. Es handelt sich um ein sophie. Deutschland war hier prägend tätig. Das wird zweistufiges Antragsverfahren, das günstigere Teilnah- (B) nicht zuletzt daran deutlich, dass der bisherige Präsident (D) mebedingungen für die Wirtschaft bewirkt. Denn es ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft der erste Gene- dringend notwendig – das habe ich schon am Montag ge- ralsekretär des Europäischen Forschungsrates ist. Hierin sagt –, dass die Unternehmen in Europa noch stärker in liegt eine große Chance. die Förderung von Forschung und Entwicklung einstei- gen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Zweitens thematische Kontinuität und Innovation. Wir haben beim Vorläuferprogramm gelernt, dass die Viertens Nachwuchsförderung. Wir haben es an ver- deutschen Unternehmen und die deutsche Wissenschaft schiedenen Stellen und in verschiedenen Debatten schon dann besonders erfolgreich sind, wenn nationale und eu- gesagt: Der weltweite Innovationswettbewerb wird als ropäische Forschungsförderstrukturen gemeinsam wir- Wettbewerb um Talente entschieden. Wir wissen, dass es ken. So soll es auch beim 7.Forschungsrahmenpro- in Europa einen enormen Nachholbedarf gibt. Nach gramm sein. Zentrale Themen sind Energie, Gesundheit, Analysen aus den vergangenen Jahren fehlen in Europa Umwelt und Klimawandel, Ernährung, Landwirtschaft zwischen 500 000 und 700 000 Forscherinnen und For- und Biotechnologie, Nanowissenschaft und Nanotech- scher. Das heißt, Ziel aller Instrumente, die wir im Be- nologie, Material- und Produktionstechnologien, Trans- reich der europäischen Forschungspolitik in Gang set- port, Sicherheit und Weltraum sowie, verbunden mit zen, muss immer die stärkere Einbeziehung der jungen einer starken Strategie, die Informations- und Kommuni- Forscherinnen und Forscher sein. Der wissenschaftliche kationstechnologien. Nachwuchs ist das Rückgrat der Forschung. Für die Entwicklung in den nächsten Jahren ist be- Auf meinen Vorschlag hin hat sich der Europäische deutsam, dass die thematischen Schwerpunkte im Forschungsrat dazu entschlossen, gerade in der ersten 7. Forschungsrahmenprogramm und in unserer High- Phase der Förderung exzellenter Teams von Nachwuchs- techstrategie übereinstimmen und miteinander korres- wissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern pondieren. Das ergibt für europäische Kooperationen eine hohe Priorität einzuräumen. Dafür stehen rund gute Möglichkeiten. 380 Millionen Euro zur Verfügung. Auch das ist ein ganz wichtiger Akzent im Hinblick auf eine weitsichtige Zu den Innovationen, die gefördert werden, zählt erst- europäische Forschungspolitik. mals die Sicherheitsforschung mit einem Fokus auf in- nere Sicherheit. Erstmals finden auch die Geistes-, So- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie zial- und Kulturwissenschaften als eigener Schwerpunkt bei Abgeordneten der FDP) 7548 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) Dass es mehr junge Leute gibt, die sich für Forschung Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) und Wissenschaft interessieren, setzt voraus, die Rah- Das Wort erhält nun die Kollegin Cornelia Pieper für menbedingungen für Forschungskarrieren in ganz Eu- die FDP-Fraktion. ropa attraktiv zu gestalten, damit wir im Wettlauf der Besten und um die Besten mithalten. Der Erfindungs- (Beifall bei der FDP) und Pioniergeist junger Forscherinnen und Forscher darf nicht durch überkommene Regularien erstickt werden. Cornelia Pieper (FDP): Junge Wissenschaftler brauchen Freiräume, in denen sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! ihre Talente selbstständig entfalten können. Das 7. For- Frau Ministerin, Deutschland hat die EU-Ratspräsident- schungsrahmenprogramm wird uns zum Beispiel mit schaft angetreten und wird – da bin ich mir sicher – ge- den Marie-Curie-Maßnahmen für junge Wissenschaftle- rade auf dem Gebiet der Forschung und Technologie rinnen und Wissenschaftler auf den richtigen Weg brin- deutliche Zeichen setzen müssen und wollen. Denn es gen. geht darum, den stotternden Motor des Lissabonprozes- ses endlich rundlaufen zu lassen. Wir wollen, dass sich Ich bin davon überzeugt: Das 7. Forschungsrahmen- Europa zum Zentrum eines auf Forschung, Entwicklung programm wird die nationalen Innovationsstrategien und Technologie basierenden Weltwirtschaftsraums ent- deutlich unterstützen. Deutschland wird davon profitie- wickelt. Dabei darf man, glaube ich, nicht außer Acht ren. Wir sind schon heute an 80 Prozent EU-geförderter lassen, dass Deutschland nach wie vor die treibende Forschungsvorhaben beteiligt. Die Zusammenarbeit Kraft bei der Entwicklung des Innovationsmotors im eu- zwischen Wissenschaft und Wirtschaft wird gefördert ropäischen Wirtschaftsraum bleiben wird. werden. Wir werden zu einer neuen Vernetzung der Spit- Es macht uns als Liberale auch stolz, dass wir nach zencluster in Europa kommen und damit das erreichen, dem Vorbild der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf was wir dringend erreichen müssen: die wissenschaftli- europäischer Ebene den Europäischen Forschungsrat chen Ressourcen in Europa besser zu nutzen, die europäi- gegründet haben, dem Professor Winnacker, der auch in sche Forschungsinfrastruktur weiter aus- und aufzu- der deutschen Forschungslandschaft große Leistungen bauen sowie die Kräfte der Europäischen Union im vollbracht hat, als Generalsekretär vorsteht. Wir setzen Bereich Forschung und Innovation zu stärken. auf seine wissenschaftliche Exzellenz und auf den Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass wissenschaftlichen Beitrag der Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard und des Physikchemikers das zwar wichtige Schritte sind, aber weitere folgen Hans-Joachim Freund, die auch in dem Rat mitarbeiten. müssen. Das Lissabonziel wird nicht automatisch er- Das ist ein gutes Zeichen, nicht nur für Deutschland und reicht; das muss in der Europäischen Union klar gesagt (B) Europa. (D) werden. Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn die Erhö- hung staatlicher Mittel mit erheblichen Steigerungen der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Finanzinvestitionen für Forschung und Entwicklung sei- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- tens der Unternehmen in den Mitgliedsländern der Euro- NISSES 90/DIE GRÜNEN) päischen Union verbunden ist. In der Tat ist das 7. EU-Forschungsrahmenprogramm (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mit seinen rund 54 Milliarden Euro bemerkenswert, wo- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- mit auch ein Beitrag geleistet werden soll, um die EU- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Forschungsausgaben von 2 Prozent auf 3 Prozent zu steigern. Wir müssen uns aber angesichts des globalen Schon am Montag habe ich gesagt: Im Hinblick auf In- Wettbewerbs fragen, ob wir nicht nur in Europa, sondern vestitionen der Unternehmen besteht zwischen den USA auch in Deutschland den Zug auf das richtige Gleis ge- und Europa eine Differenz von 480 Milliarden Euro. Es setzt haben und ein ausreichend schnelles Tempo fahren. muss in den nächsten Jahren aufseiten der Unternehmen Dass die Ausgaben für Forschung und Entwicklung so- einen deutlichen Schub geben, um die Ziele und die Vor- wie für Bildung in Europa allein 5 Prozent des Gesamt- lage, die wir in Form von staatlichen Investitionen ge- haushalts ausmachen und fast die Hälfte des EU-Haus- leistet haben, tatsächlich zum Erfolg zu führen. halts immer noch in die Landwirtschaft fließt, ist auch auf europäischer Ebene für uns Liberale immer noch Das 7. Forschungsrahmenprogramm für Europa – es nicht die richtige Prioritätensetzung. ist das weltweit größte – bildet die Grundlage für künfti- (Beifall bei der FDP) gen Wohlstand in Europa. Es ist ein Instrument der Zukunftssicherung. Es ist ein Instrument, das aufgrund Der Forschungskommissar Potocnik – Frau Schavan der erheblichen Möglichkeiten, die damit verbunden hat es bereits erwähnt – hatte für das 7. EU-Forschungs- sind, als Quelle für europäische Innovationskraft und rahmenprogramm mehr Forschungsinvestitionen gefor- Zukunftsfähigkeit und damit auch als ein, wie ich finde, dert. Das ist leider vereitelt worden. Die Prognosen sa- überzeugender Beitrag zur Generationengerechtigkeit in gen voraus, dass es angesichts des jetzt eingestellten Europa genutzt werden kann. Betrages in Höhe von 54 Milliarden Euro schwer sein wird, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen. Vielen Dank. Die Kritiker mahnen zu Recht, dass die Ausgaben für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Forschung nicht ausreichen werden, um zum einen den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7549

Cornelia Pieper (A) Rückstand zur US-amerikanischen Forschung aufzuho- Frau Ministerin, Sie haben gesagt, wir bräuchten (C) len und zum anderen auch den Wettlauf mit den an die mehr Investitionen in Bildung und Forschung durch die Spitze strebenden asiatischen Staaten zu gewinnen. Ja- Bundesländer und das Engagement der Wirtschaft. Aber pan gibt jetzt schon rund 3,2 Prozent des Bruttoinland- sieben Bundesländer werden trotz des Paktes für For- produkts für Forschung und Entwicklung aus, die USA schung ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung fast 3 Prozent. Das zeigt doch nur eines: Wir brauchen in diesem Jahr nicht steigern. Das ist im Hinblick auf das mehr Tempo. Erreichen des 3-Prozent-Ziels nicht hilfreich. Hinzu kommt, dass die Aufholjagd mancher Länder (Beifall bei der FDP – Jörg van Essen [FDP]: ungeheure Ausmaße angenommen hat. Denken Sie an Ein Skandal!) Indien und China! Indien gehört heute zu den Top Ten Frau Ministerin, Sie erheben den Anspruch, dass der Weltrangliste. China hat dem Rest der Welt mit ei- Deutschland der Innovationsmotor in Europa ist. Die nem großangelegten Technologieprogramm den Kampf Bundeskanzlerin fordert, mehr Freiheit zu wagen. Ob angesagt. Angesichts dieser Tatsache finde ich es eigen- wir diese Rolle in Europa spielen werden, hängt davon artig, dass die Bundesregierung China immer noch als ab, ob der Innovationsmotor in Deutschland wie ge- Entwicklungsland betrachtet und jährlich mit schmiert läuft. Wenn man aber genau hinschaut, dann 300 Millionen Euro Entwicklungshilfe fördert. stellt man fest, dass er stottert. (Beifall bei der FDP) Erstens. Es zeigt sich, dass sich die Große Koalition schwer damit tut, die bestehenden Konfliktpotenziale bei Deutschland muss sich zwar als Innovationsmotor für der Roten und der Grünen Biotechnologie sowie bei der die europäische Forschungsentwicklung mit Blick auf kerntechnischen Sicherheits- und Endlagerforschung die Zukunft orientieren, aber es hat sich noch nicht da- aufzuheben und einer Lösung zuzuführen. rauf eingestellt. Während sich Asien und Südamerika im Transrapid auf der Überholspur bewegen, sitzen wir in Zweitens. In den Haushaltsberatungen setzten sich die Deutschland immer noch im Schlafwagenabteil. Gegner der von Forschungsministerin Schavan angekün- digten Kernfusionsforschung durch und sperrten kurzer- (Beifall bei der FDP) hand wichtige Forschungsmittel. Allein dass die neue Spitzentechnologie des Transra- Drittens. In ihrer Regierungserklärung hob Frau Bun- pid zwar in Deutschland erfunden worden ist, er aber bis deskanzlerin Merkel auf die Freiheit der Entwicklungs- heute nicht hier gebaut wird, trägt eine gewisse Symbo- möglichkeiten bei der Nano-, der Bio- und der Informa- lik. Denn Forschungspolitik wird nicht dadurch glaub- tionstechnologie ab. Doch noch stehen die Signale des (B) würdiger, dass Erfindungen mit deutschen Steuergeldern Aufbruchs allein für die sogenannte Grüne Biotechnolo- (D) im Ausland gebaut werden und abwandern. Das kann gie auf Rot. Das ist an der ablehnenden Haltung gegen- nicht das Ziel sein. Die Bundesregierung hat die Auf- über Freisetzungsversuchen und der zögerlichen Haltung gabe, diesen Prozess zu stoppen. gegenüber der Novellierung des Gentechnikgesetzes zu erkennen. Forschung im Labor vorantreiben zu wollen, Überhaupt müssen wir lernen, vor unserer eigenen bedeutet aber, Freisetzungsversuche nicht abzulehnen. Haustür zu kehren und unsere Chancen besser zu nutzen. Das ist innovationshemmend. Das wollen wir Liberale Das fängt mit dem 3-Prozent-Ziel an. Es ist in der Tat nicht. mutig und richtig, dass die Bundesregierung bis 2010 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Forschung und (Beifall bei der FDP) Entwicklung ausgeben will und 6 Milliarden Euro zu- Viertens. Auf dem Gebiet der Roten Biotechnologie sätzlich in den Haushalt eingestellt hat. Doch die Au- wurde von der Bundeskanzlerin die Novellierung des toren des Berichts zur technologischen Leistungsfähig- Stammzellgesetzes angekündigt. Doch schon die zu- keit rechnen damit, dass allein die öffentliche Hand ihre ständige Forschungsministerin Schavan eröffnet das jährlichen Ausgaben bis zum Jahr 2010 um Sperrfeuer gegen die Aufhebung der Stichtagsregelung. 6 Milliarden Euro steigern müsste, um das 3-Prozent- Wir Liberale fordern seit langem eine solche Aufhebung. Ziel zu erreichen. Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Beenden Sie den jämmerlichen Zustand im deutschen Recht! Dass deut- (Beifall bei der FDP) sche Stammzellforscher, selbst wenn sie mit anderen eu- Aber allein die Tatsache, dass die Bundesregierung be- ropäischen Forscherteams zusammenarbeiten, straf- reits in diesem Haushaltsjahr wieder 260 Millionen Euro rechtlich verfolgt werden können, hat nichts mit mehr für die Steinkohlesubventionen ausgibt, zeigt, dass Forschungsfreiheit zu tun. sie die Prioritätensetzung zugunsten von Forschung und (Beifall bei der FDP) Entwicklung noch längst nicht begriffen hat. Es ist ebenfalls scheinheilig, dass mit deutschen Steuer- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten geldern und deutscher Zustimmung im 7. EU-For- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg schungsrahmenprogramm EU-Projekte zur Stammzell- van Essen [FDP]: Es wird die Vergangenheit forschung gefördert werden. Dazu wollen wir von der gefördert, nicht die Zukunft!) Bundesregierung eine klare Aussage. Wohin soll der Zug fahren? Wie soll der Innovationsmotor laufen? Somit wird die Vergangenheit subventioniert, aber nicht in die Zukunft investiert. (Beifall bei der FDP) 7550 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Cornelia Pieper (A) Deutschland braucht in Europa und im globalen Wett- Europa ist klüger, als viele Menschen denken. Das er- (C) bewerb um die besten Köpfe und um Spitzentechnologie lebt man in den täglichen Debatten. Aber Europa kann nicht nur eine Hightechstrategie bis 2009, sondern auch noch klüger werden. Vor allem muss Europa noch klüger eine zwischen Bund und Ländern abgestimmte nationale werden. Deshalb hat sich der Europäische Rat in Lissa- Forschungsstrategie. Vor allem müssen wir einen na- bon im März 2000 ein strategisches Ziel für dieses Jahr- tionalen Führungsanspruch erheben. Deutschland muss zehnt gesetzt. Er schreibt, Europa solle zum wettbe- als Hightechstandort seine Kräfte darauf konzentrieren, werbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten die energiewirtschaftliche Technologieführerschaft zu Wirtschaftsraum der Welt werden. Seit 17 Tagen ist die übernehmen und zu behaupten, insbesondere was die Europäische Union ein Stück weiter und auf einem guten Steigerung der Energieeffizienz, aber auch was die Tech- Weg; denn seit 17 Tagen ist das 7. Forschungsrahmen- nologien klimaneutraler Energiegewinnung durch Bio- programm in Kraft. Über 50 Milliarden Euro werden in masse und Geothermie sowie Windenergiegewinnung den Jahren 2007 bis 2013 zur Verfügung gestellt, um die auf See oder modernste Abscheide- und Einlagerungs- EU zum weltweit führenden Forschungsraum zu ma- technologien bei den Treibhausgasen anbelangt. Wir chen. Das Geld wird in viele sinnvolle Bereiche inves- müssen unsere Anstrengungen vergrößern. Wir dürfen tiert. – im Gegensatz zur Planung der Bundesregierung – un- seren technologischen Vorsprung bei der Sicherheit von Allein 6 Milliarden Euro gehen in ein Gesundheits- Kernkraftanlagen und der Entsorgung nicht einbüßen. forschungsprogramm, das dazu dienen soll, die Ge- (Beifall bei der FDP) sundheit der Bürger in unserem Europa zu verbessern. Klinische Forschungen über Krebs, Herz-Kreislauf-Er- Mit einem Wort: Deutschland braucht eine mutige In- krankungen, Infektionskrankheiten und auch über bisher novationspolitik, die zukunftsorientiert und ideologiefrei vernachlässigte Krankheiten, die häufig in der Dritten ist. Das können wir aber bei der Großen Koalition, ge- Welt eine Rolle spielen, sollen stärker unterstützt wer- nauso wenig wie zuvor bei Rot-Grün, nicht erkennen. den. Besonderes Augenmerk im Rahmen der Gesund- Deswegen fordere ich Sie auf, Frau Ministerin: Haben heitsforschung wird auf Kindergesundheit und auf Al- Sie mehr Mut und wagen Sie mehr Freiheit! Das ist gut tersforschung gelegt. für Deutschland und für Europa. Wir alle gewinnen da- bei. Auf diesem Weg werden wir Ihnen gerne helfen. 2,3 Milliarden Euro stehen für Energieforschung zur Verfügung. Da ist das Ziel nicht die Steigerung, sondern Vielen Dank. die Minderung des Energieverbrauchs, also mehr Ener- (Beifall bei der FDP) gie sparen. Darauf wird mein Kollege Dieter Grasedieck gleich sehr ausführlich eingehen. 1,8 Milliarden Euro (B) Präsident Dr. Norbert Lammert: werden in Umweltforschung investiert, zum Beispiel (D) Der Kollege René Röspel ist der nächste Redner für für Umwelt und Gesundheit, für die Erhaltung der biolo- die SPD-Fraktion. gischen Vielfalt, aber auch für Klimaforschung. Wie wichtig das ist, hat uns das Wetter in den letzten Wochen (Beifall bei der SPD) ahnen lassen, und das werden wir vielleicht auch im Laufe des heutigen Tages merken. René Röspel (SPD): (Beifall bei der SPD) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Pieper, Sie haben die Rede von vor fünf Sinnvoll ist deswegen auch, dass die Europäische Union Monaten noch einmal gehalten. mit diesem Rahmenprogramm 4,2 Milliarden Euro für (Cornelia Pieper [FDP]: Das kann ich Ihnen Verkehrsforschung investieren wird; denn 25 Prozent, nicht oft genug erzählen!) also ein Viertel aller Kohlendioxidemissionen, die für den Treibhauseffekt verantwortlich sind, kommen aus Deswegen will ich gar nicht weiter darauf eingehen, bis dem Verkehr. Da müssen wir in Europa sehr viel besser auf zwei Punkte vielleicht. Darüber, dass Sie bei der werden. Stammzellenforschung falsch liegen, werden wir mor- gen in aller Breite debattieren. Dann werden wir die Dis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kussion führen und die Argumente austauschen. Was die Entwicklungshilfe für China anbelangt, will ich nur eine 1,3 Milliarden Euro werden für ein Sicherheitsfor- Bemerkung machen: Aus meiner Sicht tobt der Kapita- schungsprogramm ausgegeben. Hier sollen neue Tech- lismus nirgends schlimmer als im kommunistischen niken entwickelt werden, um die EU und deren Bürger China. gegen Bedrohungen wie Terrorismus, Naturkatastrophen und Kriminalität zu schützen. Auch wenn – siehe ganz (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des aktuell Spanien und ETA – die Gefahr der terroristischen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bedrohung in Europa vorhanden ist und zweifelsohne Wenn es dort Menschen gibt, die in bitterer Armut leben nicht wegdiskutiert werden kann, so haben wir doch ei- und denen deutsche Entwicklungspolitik mit konkreten nige Probleme mit der Intention und mit der Ausführung Projekten helfen kann, dann sind die 300 Millionen Euro des Programms. Wenn man glaubt, Menschen fühlten gut angelegtes Geld, auch für die Beziehungen in der sich in erster Linie durch Terrorismus bedroht, dann Welt. greift das zu kurz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7551

René Röspel (A) Wenn man beispielsweise die Schüler der Geschwister- Ausbildung und Forschung sind nicht nur Aufgaben der (C) Scholl-Schule in Emsdetten fragen würde, wovon sie öffentlichen Hand, sie sind nicht nur im Interesse der sich aktuell bedroht fühlten, dann würde man sicherlich Wirtschaft, sondern eigentlich deren Handlungsbasis. eine andere Antwort erhalten als die, die der Hausbesit- zer in Königstein an der Elbe geben würde, dessen (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Haus 2002 beim Elbhochwasser zerstört worden ist. CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Hinsichtlich des Sicherheitsbedürfnisses – ich schaue die NEN) Kollegin Arndt-Brauer an – der Ochtruper im Münster- Zu Beginn meiner Rede habe ich das Lissabonziel zi- land sind sicherlich die Erinnerung an den letzten Winter tiert; danach soll Europa zum wettbewerbsfähigsten und die Erfahrung zu berücksichtigen, mehrere Tage Wirtschaftsraum der Welt gemacht werden. Mit diesem ohne Strom auskommen zu müssen, weil die Strommas- Programm geht es aber nicht nur darum, Platz eins in der ten der Schneelast nicht haben standhalten können. Auch Welt zu erobern, sondern auch darum, Europa nach in- das ist eine Frage von Sicherheit und Sicherheitsempfin- nen zu entwickeln und zu stabilisieren. Wenn wir es mit den. Deshalb ist es richtig, dass wir im Koalitionsantrag diesem Programm schaffen, den jungen Menschen, die Wert darauf legen, dass die Gefahren und Risiken unter- oben auf den Besuchertribünen sitzen, in einem zusam- sucht werden, denen die Menschen tatsächlich und in ih- menwachsenden und stabilen Europa eine Perspektive rem alltäglichen Umfeld ausgesetzt sind. zu geben, eine gute Ausbildung zu ermöglichen, bei ih- (Beifall bei der SPD) nen vielleicht das Interesse zu wecken, Ingenieur oder Forscher zu werden – Wissenschaft macht nämlich un- Sicherheitsforschung muss die Bedürfnisse der Men- geheuer Spaß –, und später eine gesunde Umwelt und schen berücksichtigen. ein stabiles Europa vorzufinden, dann haben wir ein Wir legen ausdrücklich auch Wert darauf, dass auf eu- wichtiges Ziel erreicht und dann wäre ich sogar zufrie- ropäischer Ebene und durch deutsche Programme keine den, wenn wir nur Platz zwei in der Welt erobern. Forschung unterstützt wird, die unmittelbar auf militäri- Vielen Dank. sche Zwecke ausgerichtet ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm wird – Frau Präsident Dr. Norbert Lammert: Ministerin hat das schon erwähnt – ein neuer Schritt ge- Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Sitte für die gangen: Der Europäische Forschungsrat wird einge- Fraktion Die Linke. richtet; Forscher aller Fachrichtungen können Projekt- (B) mittel beantragen; insgesamt 7,4 Milliarden Euro stehen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (D) zur Verfügung. Einziges Kriterium für die Vergabe der Mittel ist die Exzellenz der beantragten Arbeit. Wir wün- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): schen in diesem Sinne dem Gründungsgeneralsekretär Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden und ehemaligen Präsidenten der Deutschen Forschungs- über das neue EU-Forschungsrahmenprogramm ganz zu gemeinschaft, Professor Winnacker, viel Glück und Er- Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Ich bin folg. Das ist ein guter Schritt, den Europa damit tut. schon der Auffassung, dass man beides nicht voneinan- der trennen kann, dass man auch in diesem Kontext (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ EU-Forschungspolitik diskutieren muss. Deshalb muss CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ man eben auch etwas zu dieser Ratspräsidentschaft sa- DIE GRÜNEN) gen, die natürlich eine gewichtige Aufgabe ist – für jedes Europäischer Forschungsrat bedeutet: freie Fahrt für Land. exzellente Forschung, aber im Rahmen der Leitplanken, Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Ratspräsi- die von der Gesellschaft durch Werte und Gesetz vorge- dentschaft für Deutschland eine ganz besondere Heraus- geben werden! Von dieser Stelle darf ich an die EU ein- forderung ist, und zwar nicht, weil Deutschland vor kur- mal die dringende Aufforderung richten, etwas mehr zem die Ratspräsidentschaft übernommen hat, sondern Sensibilität bei gesellschaftlich umstrittenen Fragen, die weil die Europäische Gemeinschaft selbst in einer Krise in den Mitgliedstaaten sehr differenziert diskutiert wer- steckt. Das manifestiert sich nicht nur im Scheitern des den, an den Tag zu legen. Verfassungsvertrages. Seine Ablehnung durch Volksab- Von diesem 50-Milliarden-Euro-Programm werden stimmungen, die Unterbrechung des Ratifikationspro- nicht nur die Wirtschaft, die Forschung und die Lehre zesses in vielen Mitgliedstaaten erfordern zwangsläufig profitieren; es ist gleichzeitig ein gewaltiges Investi- einen Neuansatz und eine Diskussion über Ziele und In- tionsprogramm, von dem auch die Wirtschaft profitie- halte der europäischen Verfassung. Das hat auch mit eu- ren wird. Aber halt: Nur nehmen gilt auch nicht. Frau ropäischer Forschungspolitik zu tun. Ministerin Schavan hat in den letzten Tagen und auch in Ich befürchte allerdings, dass Krisenmanager es nicht der heutigen Debatte ausdrücklich und mit Recht darauf im Sinn haben, die Ablehnungsgründe stärker zu thema- hingewiesen, dass sie von den Unternehmen mehr und tisieren. Offensichtlich scheint auch die Bundesregie- stärkere Investitionen in Forschung und Entwicklung rung diesen Kurs zu tolerieren; denn, wie angekündigt, und in Ausbildung verlangen muss und kann. wird jetzt eine Diplomatie der kleinen Gesprächskreise (Beifall bei Abgeordneten der SPD) begonnen. Dabei werden – so ist zu befürchten – Kriti- 7552 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dr. Petra Sitte (A) ken weichgezeichnet, Abstraktionsebenen erhöht, um wandel ist in diesem Forschungsrahmenprogramm aber (C) letztlich vielleicht doch noch zu Kompromissen zu kom- nur in Versatzstücken fixiert. Vom Mittelzuwachs profi- men. Diese Verschleierung darf die Bundesregierung tieren vor allem Hochtechnologien und Verfahrensopti- während ihrer Ratspräsidentschaft eben nicht zulassen. mierungen. Informations-, Kommunikations-, Nano-, Sie muss dem aktiv begegnen. Das ist ihre Verantwor- Produktions- sowie Werkstofftechnologien und nicht zu- tung innerhalb dieses Prozesses. letzt die Weltraumforschung werden mit rund 15 Mil- liarden Euro bedacht. (Beifall bei der LINKEN) Sie werden der EU-Verfassung nur dann neue Im- Themen- und disziplinenübergreifende Forschungen, die Konzepte zur Bewältigung von sozialen, ökologi- pulse geben können, wenn Sie vertrauensbildende In- schen und ökonomischen Problemen erarbeiten könnten, halte vorschlagen. Wir haben in unserem Memorandum festgehalten: Die EU ist als politischer, ökonomischer, bleiben in diesem Programm im Verhältnis zu den ande- ren Forschungsbereichen krass unterfinanziert. Während sozialer und ökologischer Verbund zu konzipieren. Eu- im Hightechbereich Milliarden investiert werden, sind ropa darf sich nicht auf ökonomische Rivalität gegen an- dere Regionen und damit gegen Menschen in anderen für Geistes- und Sozialwissenschaften nur 610 Millio- nen Euro vorgesehen. Daher sollte die Bundesregierung Regionen reduzieren. ihre Ratspräsidentschaft nutzen, aus dem deutschen Jahr (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) der Geisteswissenschaften 2007 neue Impulse für die EU-Politik zu gewinnen. Wir gewinnen die Zukunft gemeinsam nur, wenn wir uns eben nicht abgrenzen, sondern auf eine faire und friedli- (Beifall bei der LINKEN) che Globalisierung setzen. Das ist aus unserer Sicht die Gestaltungsidee für Gesamteuropa. Ich sage ausdrücklich: Wir sollten endlich anfangen, das wissenschaftliche Potenzial der Geistes- und Sozialwis- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: senschaften für die Erarbeitung dringend benötigter glo- Ihr seid doch gegen die Globalisierung!) baler Gestaltungskonzepte zu nutzen. Das ist auch die Gestaltungsidee, die die Forschungspo- Ähnliche Defizite gibt es aber auch in anderen Berei- litik Europas durchziehen müsste. chen, etwa im Bereich der Energieforschung. So sind (Beifall bei der LINKEN) für erneuerbare Energien nur 400 Millionen Euro vorge- sehen. Dagegen werden in die Kern- und Fusionsenergie Was heißt das jetzt konkret? zweistellige Milliardenbeträge gesteckt. Was aber ist al- Erstens. Ungerechtigkeiten im Bildungssystem, ins- lenthalben unbestritten? Die Perspektiven erneuerbarer (B) besondere sozialbedingte, sind abzubauen. Energien sind vielversprechend. Das gilt nicht für die (D) Kernenergie. Die Perspektiven der Fusionsenergie sind Zweitens. Der europäische Forschungs- und Bil- völlig offen. Deshalb sagen wir: Hier müssen die Förder- dungsraum muss demokratische Mitwirkung ermögli- prioritäten umgekehrt werden. chen. (Beifall bei der LINKEN) Drittens. Die Themen sind an den zentralen Konflik- ten und Widersprüchen der Gesellschaft – an der Ar- Die Ökonomisierung der Forschung engt nicht nur die beitslosigkeit, der demografischen Entwicklung und der Forschung selbst ein. Nein, die Forschung liefert uns Armut – auszurichten. wissenschaftlich fundierte Alternativen für unsere politi- schen Entscheidungen, die wir hier zu fällen haben. In- Viertens. Der Wissenstransfer muss neue reale Be- folgedessen wird es, wenn dort keine Förderung erfolgt, schäftigungschancen bieten. wenn dort keine Konzepte entwickelt werden, unseren Jetzt schauen wir einmal, wie das neue EU-For- Debatten und den öffentlichen Debatten immer an Sub- schungsrahmenprogramm herangeht: Als Ziel wird be- stanz fehlen. Deshalb ist diese Entwicklung so drama- stimmt – es wurde eben schon erwähnt –, Europa als tisch; das darf die Forschungspolitik auf EU-Ebene nicht wissensbasierten, wettbewerbsfähigen Wirtschaftsraum ignorieren. zu gestalten. Ich sage: Die Forschungsinvestitionen der Deshalb wenden wir, Die Linke, uns auch so entschie- Mitgliedstaaten zu steigern bleibt fragwürdig, solange den gegen das neue Sicherheitsforschungsprogramm. ihr kleinster gemeinsamer Nenner vor allem in privat- wirtschaftlicher Verwertbarkeit besteht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Es steht exemplarisch für das, was wir kritisieren. Mittel dieses Programms werden in erster Linie nicht etwa zivil So verwundert es am Ende nicht, wenn es der For- für den Schutz vor Umwelt- und Naturkatastrophen, son- schungsförderung auf europäischer Ebene an Leitlinien dern einseitig für technologische Forschungen in den für einen europäischen und globalen Integrationsprozess Bereichen der Terrorismusbekämpfung und der äußeren fehlt. Soziale und ökologische Nachhaltigkeit bleiben Verteidigung eingesetzt. Die Ergebnisse dieser mit öf- nur unverbindliche Ziele der Forschungsförderung. fentlichen Mitteln, also mit Steuergeldern gewonnenen Frau Merkel hat unlängst gesagt, sie wolle das Thema Erkenntnisse werden dann privatwirtschaftlich angeeig- Klimawandel zum Schwerpunkt der EU-Präsidentschaft net und kommerzialisiert. Es ist völlig logisch, dass mit machen. Die Forschungsförderung im Bereich Klima- dieser Ausrichtung der Forschungspolitik am Ende nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7553

Dr. Petra Sitte (A) viel von den Ankündigungen übrig bleibt, sich auf Prä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) vention und Ursachenbekämpfung zu konzentrieren. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich will darauf verweisen, dass der Weg, den die Bundesregierung bei der Umverteilung und Strukturver- Ich finde, dass das Europäische Parlament bei seinen änderung von Instituten jetzt geht, außerordentlich Nachbesserungen eine überwiegend gute Rolle gespielt problematisch ist. Da finden sich Institute aus dem hat. Dass vom Parlament zum Beispiel die Forschungs- Sicherheitsbereich nämlich plötzlich in zivilen For- mittel für erneuerbare Energien und Energieeffizienz er- schungseinrichtungen wieder. Damit verwischen sich höht worden sind, hat zwar nicht zu einem Ergebnis ge- letztlich auch die Grenzen zwischen Wehr-, Verteidi- führt, mit dem wir als Grüne zufrieden sind, aber es hat gungs- und ziviler Sicherheitsforschung. Das wider- doch gezeigt, dass das Parlament das Signal setzen spricht der Beschlusslage des Bundestages. wollte: Wir müssen uns im Angesicht des Klimawandels (Beifall bei der LINKEN) an dieser Stelle viel mehr anstrengen. – Auch das ist ein gutes Zeichen gewesen. Ich bin sehr gespannt auf die Kabinettsvorlage, die Ende Januar zum nationalen Sicherheitsprogramm der Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desrepublik Deutschland eingebracht werden wird. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich will dabei auch auf die Situation der Beschäftigten verweisen. Nachdem sie über Jahre im zivilen For- Ein besonderes Augenmerk richtet sich natürlich auf schungsbereich gearbeitet haben, finden sie sich jetzt un- die neuen Instrumente. Einen Europäischen For- ter Umständen in Themen integriert, die eine militärische schungsrat, der die Exzellenz in der Grundlagenfor- Ausrichtung haben. Das widerspricht der EU-Charta für schung stärken soll, halten auch wir für einen sehr viel Forscherinnen und Forscher. versprechenden Ansatz. Dass dieser Forschungsrat als Ich glaube, dass die Bundesregierung sich in diesem Allererstes die Unabhängigkeit besonders guter Nach- Bereich der EU-Position gebeugt hat und dass an dieser wuchswissenschaftler stärken und fördern will, ist erfri- Stelle die eigentlich vorhanden gewesenen Widerstände schend und steht im Gegensatz zu der Kleinmütigkeit, aufgegeben worden sind. Wir können das nicht akzeptie- mit der hier in Deutschland die Juniorprofessur gefördert ren. Diese Art von Heimatschutz in Deutschland bzw. worden ist. Dabei waren wir viel zu lange viel zu zöger- Europa lehnt die Linke ab. lich. Es ist gut, dass die europäische Ebene uns zeigt: Da müssen wir in Zukunft einen Schwerpunkt setzen. Abschließend sei mit Blick auf die – natürlich auch mediale – Selbstdarstellung zu den Chancen Deutsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) lands in der Ratspräsidentschaft doch noch einmal an Wie gut dieser Forschungsrat sein wird, wird in erster Folgendes erinnert: Es handelt sich um ein turnusmäßi- Linie davon abhängen, ob er tatsächlich von nationalen ges Ereignis. Jedes Mitgliedsland ereilt das früher oder und wissenschaftlichen Lobbyistengruppen unabhängig später, gewollt oder ungewollt. Aus der Diskussion der ist. Das muss er unter Beweis stellen. Da wird es nicht letzten Wochen konnte man aber den Eindruck gewin- reichen, wenn er sagt, seine Entscheidungen seien wis- nen, als habe Deutschland die Ratspräsidentschaft er- senschaftsgeleitet. Dabei sind wirklich Evaluation und obert und sei jetzt in der Lage, für das nächste halbe Jahr Transparenz gefragt. Daran wird am Ende seine Glaub- das Europawetter vorauszusagen. würdigkeit hängen. (Beifall bei der LINKEN) Ausgesprochen kritisch sehen wir die Diskussion um An 181 Tagen wird die Bundesregierung allein das sogenannte Europäische Technologieinstitut. Es ist 107 Konferenzen abhalten. Nun hoffe ich sehr, dass erst einmal gut, dass eine europäische Sondergründung diese Ratspräsidentschaft sich am Ende der Zeit nicht auf der grünen Wiese abgewehrt worden ist. Das aber ist auf eine Ratskonferenzschaft reduziert haben wird. nur ein schwacher Trost, erkennt man jetzt doch: Mit Danke schön. diesem Namen soll um jeden Preis etwas umgesetzt wer- den, ohne dass ein glaubwürdiges Konzept erkennbar ist. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich stehe einem Top-down-Ansatz, dass also auf eu- Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager, ropäischer Ebene entschieden wird, wo in Europa die Bündnis 90/Die Grünen. besten Ressourcen hinsichtlich Ausbildung und For- schung auf einem Gebiet zusammengezogen werden sol- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len, sehr skeptisch gegenüber. Ich sehe darin eher einen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass es Gegensatz zum Europäischen Forschungsrat und zu den im 7. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Instrumenten des 7. Forschungsrahmenprogrammes. Für Union zwar nicht so viel Geld gibt, wie viele erhofft ha- mich entsteht hier ein großes Tummelfeld für nationale ben, aber deutlich mehr als im 6. Forschungsrahmenpro- und industrielle Lobbyistengruppen. Auch die deutschen gramm, ist zumindest ein Zeichen dafür, dass in Europa Hochschulen finden es ausgesprochen dubios, dass diese das Einvernehmen darüber, wo in Zukunft die Prioritäten Einrichtungen nicht nur die Forschung fördern, sondern liegen müssen, wächst, und das ist ein gutes Signal. auch Abschlüsse erteilen sollen. 7554 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Krista Sager (A) Wir müssen uns auch einmal fragen, wie sich Gebiet viel mehr tun müssen. Leider hat sich die Bun- (C) Deutschland im europäischen Rahmen selbst aufgestellt desregierung selbst die Hände gebunden, hier etwas vo- hat. Wir haben gerade entschieden, dass die Bundesre- ranzubringen, um die Chancen von Frauen in der Wis- gierung hinsichtlich Lehre und Studium weder auf der senschaft zu verbessern. Auf diesem Gebiet müssen wir nationalen noch auf der europäischen Ebene ein Wort dringend etwas tun. mitreden soll. Auf der europäischen Ebene gibt es dem- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gegenüber eine Tendenz in Richtung Top-down-Ent- scheidungen. Europäische Einrichtungen, die Forschung und Lehre betreffen, sollen jetzt platziert werden. Da Präsident Dr. Norbert Lammert: gibt es eindeutig eine Schieflage. Wir müssen im zwei- Das Wort erhält nun der Kollege Carsten Müller für ten Teil der Föderalismusreform zusehen, dass dieses die CDU/CSU-Fraktion. Land auf den Gebieten Bildung und Wissenschaft wie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der an Boden gewinnt. der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Über die embryonale Stammzellforschung haben Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): wir in letzter Zeit durchaus widersprüchliche Meldungen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben vernommen. Im zweiten Erfahrungsbericht zum Stamm- von den Rednern der Oppositionsfraktionen eben aller- zellgesetz hat die Bundesregierung eindeutig gesagt, hand forschungspolitische Einsprengsel gehört. Das dass sich das Stammzellgesetz in Deutschland bewährt Kernthema, um das wir uns heute bemühen sollten, hat. Andererseits heißt es, man könne sich Veränderun- wurde allerdings nur am Rande gestreift. Es geht hier um gen dieses bewährten Gesetzes durchaus vorstellen, und das 7. Forschungsrahmenprogramm. Man kann sich das die Bundesministerin sagt, dass wir eigentlich von der mit der Formel „drei mal sieben“ – Arend Oetker hat es vor wenigen Tagen in Bonn so formuliert – sehr einfach embryonalen Stammzellforschung wegmüssen. merken: Im Jahr 2007 startet mit einer Laufzeit von sie- In den letzten Monaten ist immer wieder gesagt wor- ben Jahren das 7. Forschungsrahmenprogramm. Dann den – ich finde diesen Versuch bemerkenswert –: Wenn gelingt es einem auch, das Thema konsequenter anzuge- das 7. Forschungsrahmenprogramm startet, verändern hen. sich die Regelungen; dann müssen wir in Deutschland 54 Milliarden Euro werden in den nächsten sieben mit einer Veränderung unseres Stammzellgesetzes nach- Jahren für Forschung und Entwicklung durch die EU ziehen. Jetzt können wir feststellen: Die Regelungen für verausgabt. Das sind rund 60 Prozent mehr, als der Mit- das 7. Forschungsrahmenprogramm sind die gleichen telansatz im Vorgängerprogramm betrug. Wir haben es (B) wie die, die für das 6. Forschungsrahmenprogramm gal- zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft mit einem (D) ten. Es wird sogar gesagt, die Kommissionserklärung sei regelrechten Stakkato von forschungspolitischen Rich- eine Verschärfung. Frau Schavan, wir erwarten, dass Sie tungsentscheidungen zu tun. Das 7. Forschungsrahmen- dem Druck und den falschen Behauptungen weiterhin programm startet im Januar, und der Europäische For- Widerstand entgegensetzen. schungsrat nimmt seine Tätigkeit im Februar auf. Darauf Frau Pieper, ich glaube nicht, dass wir einen Markt freuen wir uns. Das zeigt, dass die Europäische Union für den Handel mit weiblichen Eizellen brauchen. So das richtige Ziel ins Visier genommen hat. eine Art von Marktwirtschaft wünsche ich mir nicht. Es geht im Kern um die Erreichung der Lissabon- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ziele, also darum, gemessen am Bruttoinlandsprodukt 3 Prozent für Forschung und Entwicklung aufzuwenden. DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Das Das Ganze ist kein Selbstzweck, so wie es beispiels- ist doch etwas, was gar nicht gefordert wurde! – weise die Kollegin Sitte glauben machen wollte, sondern Cornelia Pieper [FDP]: Haben Sie sich einmal es geht im Kern um nichts anderes als um die Schaffung mit dem wissenschaftlichen Ansatz auseinan- von Wirtschaftskraft, die in die Schaffung von Arbeits- dergesetzt? Fragen Sie die DFG! – Ulrike und Ausbildungsplätzen in der Europäischen Union Flach [FDP]: Zuhören, Frau Sager!) münden soll. Eine solche Entscheidung darf sich die Gesellschaft auch Deutschland hat heute einen F-u-E-Anteil von rund nicht mit dem Verweis auf die Forschungsfreiheit abneh- 2,5 Prozent. Damit liegen wir im europäischen Vergleich men lassen. relativ gut. Der europäische Durchschnitt beträgt 1,8 Pro- Schlechte Karrierechancen von Frauen haben uns zentpunkte. Wenn wir allerdings das Ziel vor Augen ha- schlechte Kritiken eingebracht, nicht nur von internatio- ben – wir wollen 3 Prozent erreichen –, wissen wir alle, nalen Gutachtern. Wir geraten auch auf europäischer dass wir noch eine Menge zu tun haben. Weltweit liegt Ebene ins Hintertreffen. Wir sehen, dass wissenschaftli- Deutschland bedauerlicherweise derzeit nur auf Platz che Kommissionen und Entscheidungspanels streng ge- neun – hinter den USA, hinter Japan. schlechtergerecht zusammengesetzt werden. Wenn es für Wir müssen, um dieses Ziel zu erreichen, eines unbe- deutsche Wissenschaftlerinnen so schwierig ist, sich zu dingt sicherstellen, nämlich private Forschungs- und positionieren, dann haben wir auf europäischer Ebene Entwicklungsinvestitionen anreizen. das Nachsehen gegenüber den Skandinaviern und den Niederländern. Ich finde es gut, dass uns die europäische (Cornelia Pieper [FDP]: Was macht denn die Ebene widerspiegelt, dass wir in Deutschland auf diesem Forschungsprämie?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7555

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Mein Vorredner René Röspel hat dies betont und insbe- Das erste ist das Thema Sicherheitsforschung. Hier (C) sondere die Ministerin hat es sehr präzise herausgearbei- haben wir eine durchaus andere Auffassung als die SPD- tet: Es geht darum, dass nicht nur öffentliche Mittel für Fraktion. Wir sind der festen Überzeugung, dass Sicher- Forschung und Entwicklung verausgabt werden, sondern heitsforschung ein Kernbedürfnis der Bevölkerung in wir erwarten ein erhebliches Engagement der Privat- Deutschland und in Europa ist. wirtschaft. Von dieser Stelle soll eine Aufforderung an die Privatwirtschaft ausgehen, diese Mittel tatsächlich zu (Beifall bei der CDU/CSU) investieren. Sie werden sehen, dass es zu einer enormen Man geht, wie ich glaube, durchaus fehl, wenn man das wirtschaftlichen Entwicklung kommen wird. nur auf terroristische Bedrohungen reduziert. Eine Viel- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie zahl von Themen wird unter dieser Überschrift bearbei- bei Abgeordneten der FDP) tet. Es geht zum Beispiel auch um den Umgang mit Na- turkatastrophen und innere Sicherheit im Allgemeinen. Wir haben mit der positiven Begleitung des 7. For- Das zweite wichtige Thema, das ich herausheben schungsrahmenprogrammes durch die Große Koalition möchte, ist die Energieforschung. Hier ist ein durchaus ein weiteres Mal untermauert, dass Forschung und Ent- ausgewogener Mix der verschiedenen Forschungsberei- wicklung im Fokus der Großen Koalition stehen. Am che vorhanden. Die Forschung an erneuerbaren Energien Montag dieser Woche fand in Bonn die Auftaktkonfe- wird mit genauso großem Aufwand unterstützt wie zum renz zum 7. Forschungsrahmenprogramm statt. Diese Beispiel die Fusionsforschung – auch das ist ein wichti- war weltweit beachtet, und sie wurde europaweit beson- ger Punkt – und kerntechnische Sicherheitsforschung. ders gut aufgenommen. Eine Vielzahl von europäischen Teilnehmern hat dieses Rahmenprogramm auf den Weg (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gebracht. Forschungskommissar Potočnik hat dort in Be- neten der FDP) zug auf den weltweiten Forschungswettbewerb zur Rolle Deutschlands – darum geht es heute hier – gesagt, unser Ich habe mich schon ein wenig darüber gewundert, dass Land sei der Schlüsselpartner im „Team Europe“. Das die Kollegin Dr. Sitte, als sie in ihren Ausführungen auf können wir vonseiten der Union nur unterstützen. Ich den letzten Punkt abhob, die Notwendigkeit der kerntech- will das Bild wie folgt ausmalen: Das 7. Forschungsrah- nischen Sicherheitsforschung etwas in Abrede stellte. menprogramm ist sozusagen die Spielaufstellung, und Wir können die Wichtigkeit dieser Forschung allein Deutschland sollte nach unserem Dafürhalten Spielfüh- schon daran erkennen, wenn wir uns vor Augen führen, rer im Team Europe sein, wenn es um das Voranbringen welche atomaren Hinterlassenschaften eine SED-ge- von Forschung und Entwicklung in Europa geht. führte DDR hinterlassen hat. Wir haben mit diesen Lasten heute noch zu kämpfen. (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) neten der SPD) (Jörg van Essen [FDP]: Sehr guter Hinweis!) Das hat seine tatsächliche Berechtigung. Denn schon Ich glaube, das Geld ist in atomare Sicherheitsforschung im Vorgängerprogramm waren an mehr als 80 Prozent gut investiert, zum einen für den Umgang mit den Hin- aller Programme deutsche Forscherinnen und Forscher terlassenschaften, zum anderen auch zur Eröffnung mög- beteiligt. Wichtige Bausteine für den Erfolg des 7. For- licher neuer Perspektiven. schungsrahmenprogrammes sind Kontinuität und Bere- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chenbarkeit, beispielsweise gewährleistet durch die lange Laufzeit, aber auch die Vereinfachung beim Zu- Meine Damen und Herren, die ersten Ausschreibun- gang zu den Verfahren. Wir wollen wenig Bürokratie, gen sind gelaufen. Die ersten Informationsveranstaltun- wir wollen einfache, schnell durchschaubare Verfahren, gen waren gut besucht. Ich habe mich davon selber über- um zu erreichen, dass sich insbesondere kleine und mit- zeugt. Bei der Auseinandersetzung mit der Struktur des telständische Unternehmen künftig viel stärker als bis- Programms werden Sie festgestellt haben, dass im Jahre lang am europäischen Forschungsrahmenprogramm be- 2009 keine zusätzlichen Ausschreibungen laufen. Die teiligen. Unionsfraktion hält es für angezeigt, diese Zwischen- etappe dafür zu nutzen, um zu evaluieren und zu erkun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den, ob es uns gelungen ist, kleine und mittelständische Denn gerade dort, so haben wir festgestellt, sind Arbeits- Unternehmen stärker für Forschung und Entwicklung zu und Ausbildungsplätze am ehesten zu schaffen. begeistern. Begeisterung ist nämlich genau das, was wir im Wesentlichen mit dem 7. Forschungsrahmenpro- Die vier wesentlichen Hauptüberschriften – neben gramm und auch den flankierenden Maßnahmen der dem Euratomprogramm – sind bereits genannt worden. Bundesregierung – 6-Milliarden-Programm, Hightech- Es geht hier – ich fasse es kurz zusammen – um das Pro- strategie – erreichen wollen. Wir wollen junge Men- gramm Zusammenarbeit, um das Programm Ideen, um schen dafür begeistern, sich für entsprechende Berufe in das Programm Menschen und schließlich um das Pro- Forschung und Entwicklung und damit für naturwissen- gramm Kapazitäten. schaftlich-technische Ausbildungen zu interessieren. Nur dann gelingt es uns, unseren Spitzenplatz in der Aus der thematischen Schwerpunktsetzung will ich, Welt zu verteidigen und auszubauen. um einige Anmerkungen des Kollegen Röspel aus einer anderen Sichtweise zu beleuchten, zwei Themen auf- Schließen möchte ich mit einem Zitat des EU-For- greifen: schungskommissars, der am Montag davon sprach, fol- 7556 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Carsten Müller (Braunschweig) (A) gendes Schlagwort den jungen Menschen zu Gehör zu Wir brauchen eine Einschätzung von gesellschaftlichem (C) bringen: „Science can be cool“ – Forschung kann cool Bedarf an Technologie, eine verantwortungsbewusste sein. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nicht Wissenschaft; ein Verständnis der Kulturen ist nötig so- kleinkariert sein, sondern am besten in Zusammenarbeit wie Konzepte zur Vorbeugung und zur Beilegung von aller Fraktionen dazu beitragen. Hierzu fordere ich Sie Konflikten. Ich möchte auch betonen: Die Geistes- und auf. Sie können einen ersten Schritt tun, indem Sie dem Sozialwissenschaften tragen erheblich zum Wirtschafts- Unionsantrag zum 7. Forschungsrahmenprogramm zu- wachstum und zum Arbeitsmarkt bei. Deshalb ist es stimmen. richtig, dass in der EU die Geistes- und Sozialwissen- schaften gestärkt werden. Ich danke der Bundesregie- Vielen Dank. rung, ich danke der Ministerin dafür, dass sie darauf be- sonderen Wert legt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Präsident Dr. Norbert Lammert: CDU/CSU) Ich erteile das Wort dem Kollegen Swen Schulz, Gerade Deutschland hat als zentral gelegenes Land SPD-Fraktion. mit vielen Nachbarn und als Exportnation ein vitales In- teresse an europäischer Zusammenarbeit. Das gilt auch (Beifall bei der SPD) für die Wissenschaft. Darum wollen wir auch, dass in den neuen Mitgliedstaaten Strukturen und Kompeten- Swen Schulz (Spandau) (SPD): zen aufgebaut werden. Gleichzeitig ist wichtig, dass die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Forschungsmittel ausschließlich nach Exzellenz und Herren! Es handelt sich um einen Koalitionsantrag, lie- nicht nach regionalem Proporz vergeben werden. ber Kollege Müller, um das noch einmal klarzustellen. Die Frage, die sich dann stellt, ist: Wie erhalten die (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig! Habe ich ärmeren Mitgliedstaaten in dem Wettbewerb überhaupt auch gerade festgestellt! – Jörg van Essen eine Chance? So, wie wir in Deutschland einen fairen [FDP]: Was er gesagt hat, war sehr vernünf- Wettbewerb zwischen den Bundesländern organisieren tig!) müssen, ist das auch in Europa nötig. Um das zu errei- chen, müssen die Mittel, die für die Regionalförderung Die aktuelle europapolitische Diskussion macht deut- vorgesehen sind, in erheblichem Maße in den Aufbau lich, dass wir für die europäische Integration neue Im- der Bildungs- und Forschungslandschaft der neuen Mit- pulse benötigen. Viele Menschen haben verinnerlicht, gliedstaaten gesteckt werden, damit sie möglichst schnell aufschließen und die europäische Wissenschaft (B) dass Europa ein historisches Projekt ist vor dem Hinter- (D) grund der Geschichte von Krieg, Leid und Tod. Doch stärken. Auf lange Sicht wird es uns runterziehen, wenn Frieden und gefallene Grenzbäume sind für viele selbst- Europa geteilt bleibt und die eine Hälfte lediglich Bitt- verständlich geworden. Die Leute fragen heute genauer steller ist. Ich freue mich sehr, dass die Bundesregierung nach dem Nutzen und sind besorgt über mögliche Nach- das erkannt hat und eine entsprechende Politik voran- teile der Europäischen Union. treibt. Sie hat da unsere volle Unterstützung. Es geht nun um andere Fragen; das sehe ich ganz ähn- (Beifall bei der SPD) lich wie die Kollegin Sitte. Wir brauchen neue Ideen für Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können Europa. Was eignet sich dafür besser als gemeinsame uns alle schönen Überlegungen, Investitionen in For- Bildung und Forschung? Gemeinsam können wir erfolg- schung sowie die verschiedenen Programme und Pro- reicher sein bei Innovationen. Gemeinsam können wir jekte sparen, wenn wir eines vernachlässigen, nämlich die Wirtschaft stärker ankurbeln und Arbeitsplätze die Menschen zu fördern. Auch das ist gerade mit Blick schaffen. Das ist aber, lieber Kollege Müller, nicht alles. auf die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissen- Mit gemeinsamer Forschung können wir die Dinge schaftler im 7. Forschungsrahmenprogramm aufgenom- leichter verändern und das Leben der Menschen verbes- men durch die Marie-Curie-Maßnahmen, durch die sern, indem wir zum Beispiel die Energieversorgung Stipendien, die Mobilitätsförderung, durch den Europäi- vernünftig organisieren, die Umwelt schützen und kran- schen Forschungsrat und anderes mehr. ken Menschen helfen. Das 7. Forschungsrahmenpro- gramm trägt dem Rechnung. Wir wollen und wir werden Doch bevor das jetzt ausschließlich eine reine Lo- unseren Teil dazu beitragen, dass europäische Forschung beshymne auf die EU wird, möchte ich zwei Dinge kri- die Gesellschaft voranbringt. tisch ansprechen. Erstens. Trotz der enormen Budgetsteigerung für die (Beifall bei der SPD) Forschung gibt die EU immer noch zu viel für die fal- Darum ist es auch wichtig, dass wir nicht wahllos in schen Prioritäten aus. Technologie investieren. Das muss vielmehr mit Sinn (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der und Verstand passieren. Dafür benötigen wir die Geistes- Abg. Cornelia Pieper [FDP]) und Sozialwissenschaften. Ich nenne aus Zeitgründen nur die Stichworte „Land- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirtschaft“ und „Atomenergie“. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7557

Swen Schulz (Spandau) (A) Zweitens: das EIT, das Europäische Technologieinsti- war beim wichtigen Ziel der Forschung eine Fehlleis- (C) tut; das wurde schon angesprochen. Ehrlich gesagt, er- tung und ein Fehlstart der Bundesregierung. schließt sich mir das Konzept nicht so recht. Die Bun- desregierung hat dankenswerterweise schon dazu (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ beigetragen, das Schlimmste zu verhindern, dass näm- DIE GRÜNEN) lich das Institut quasi auf die grüne Wiese gestellt wird. Doch es ist nicht nur mehr Geld für die Forschung Aber ich frage mich auch: Was soll das neue Konzept wichtig – es ist gut, dass mehr Geld zur Verfügung ge- des Netzwerkes bringen? Woher sollen die Milliarden stellt wurde –, sondern es ist auch wichtig, wofür das dafür kommen? Ich habe die herzliche Bitte an die Bun- Geld ausgegeben wird. Es sind durchaus gute und wich- desregierung für die Ratspräsidentschaft, aber auch da- tige Maßnahmen vorgesehen, beispielsweise in den Be- rüber hinaus: Passen Sie ganz besonders auf dieses reichen Gesundheit, Nanotechnologie, Geistes- und Thema auf, passen Sie auf, dass da kein Unfug ge- Sozialwissenschaften, Informationstechnologie und Um- schieht. weltforschung. Die Gesamtbilanz der EU-Forschungspolitik ist aber Aber ich stimme meinem Kollegen Swen Schulz zu: positiv. Die Bundesregierung hat wesentlich dazu beige- Es gibt auch deutliche Defizite und Fehlinvestitionen. tragen. Der Koalitionsantrag macht das im Einzelnen Wenn wir uns beispielsweise die Arbeitsplatzsituation deutlich und setzt die richtigen Akzente für die künftigen anschauen – die Schaffung von Arbeitsplätzen ist Herausforderungen. schließlich ein wichtiges Ziel, das mit der Forschung verfolgt werden soll –, stellen wir fest: Die Stütze für die Lassen Sie mich zum Schluss sagen: So wichtig und Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa ist der Mittel- hilfreich Europa ist, wer glaubt, dass die nationalen An- stand. Im 7. Forschungsrahmenprogramm ist bei der strengungen vernachlässigt werden können, begeht ei- Mittelstandsunterstützung allerdings kein Schwerpunkt nen schweren Fehler. Unsere Hausaufgaben müssen wir gesetzt worden. Beispiel: Maschinenbau. Wo wird diese schon in Deutschland machen. Branche erwähnt? Sie ist eine große Stütze der europäi- (Beifall bei der SPD) schen Wirtschaft. Im 7. Forschungsrahmenprogramm: Fehlanzeige. An dieser Stelle wird es seinen Aufgaben Die Regierungskoalition zeigt mit der Hightechstrategie, nicht gerecht. dem 6-Milliarden-Programm und vielen anderen Initiativen, wie das geht. Beispiel: Ernährung. Wir alle wissen, wie wichtig die Ernährungssicherung ist, und wie wichtig es ist, eine Vielen Dank. sinnvolle Ernährungspolitik anzustreben. Aber worauf wird im 7. Forschungsrahmenprogramm gesetzt? Hier (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben sich die Interessen der Agro-Gentechnik durchge- (D) der CDU/CSU) setzt und nicht diejenigen der biologischen Landwirt- schaft und des Verbraucherschutzes. Allerdings sind Präsident Dr. Norbert Lammert: alle diese Interessen wichtig. Statt neue Arbeitplätze zu Hans-Josef Fell ist der nächste Redner für die Frak- schaffen – bisher ist die Agro-Gentechnik sehr erfolglos –, tion des Bündnisses 90/Die Grünen. hat Ihr Vorgehen in diesem Bereich zur Inakzeptanz der Bevölkerung geführt. Obwohl die biologischen Lebens- mittel boomen, finden sie im 7. Forschungsrahmenpro- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gramm keine Unterstützung. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Forschung und Wissenschaft sollen und können (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ entscheidende Beiträge zur Lösung aktueller Probleme DIE GRÜNEN) liefern. Zu Recht wurden sie deshalb in den Mittelpunkt Klima- und Energieversorgungsprobleme sind in aller der Lissabonstrategie gestellt, mit dem Ziel, Ausgaben in Munde. Hier versagt das 7. Forschungsrahmenpro- Höhe von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die gramm fast völlig. Insgesamt werden zusammen mit den Forschung anzustreben. Euratommitteln, die gleichzeitig verabschiedet werden, Die Aufgaben liegen klar auf der Hand und sind in 4 Milliarden Euro für die völlig erfolglosen Kernspal- der Lissabonstrategie aufgezeigt worden: Beschäftigung, tungen und Kernfusionen bereitgestellt. Im Vergleich Wettbewerb, Umweltschutz, Klimaschutz und einiges dazu – Frau Sitte hat das schon gesagt – werden für mehr. erneuerbaren Energien und Energieeffizienz nicht einmal 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Das ist Eine Erhöhung der Forschungsmittel ist mit dem eine grandiose Differenz. 7. Forschungsrahmenprogramm durchaus gelungen. Doch zur Erreichung des 3-Prozent-Ziels wäre mehr not- Betrachten wir einmal die Vergangenheit: In der wendig und auch mehr möglich gewesen. OECD wurden die Mittel für die öffentliche Energiefor- schung 50 Jahre lang zu 80 Prozent für Kernspaltung (Beifall der Abg. Cornelia Pieper [FDP]) und Kernfusion eingesetzt. Das Ergebnis ist beschä- mend: 2,5 Prozent der Weltenergienachfrage werden Wer hat das verhindert? Auf dem Finanzgipfel war es durch diese Technologien abgedeckt, durch Kernfusion eine der ersten Handlungen von Kanzlerin Merkel, einen gar nichts. Finanzplan vorzulegen, um diese Finanzmittel im Hin- blick auf den Vorschlag von Potočnik zu verringern. Das (Ulrike Flach [FDP]: Doch! Oh doch!) 7558 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Hans-Josef Fell (A) Das wird auch in den nächsten 50 Jahren so bleiben. mer. Heute gibt es in Europa mehr wissenschaftliche (C) Dennoch wurden die Schwerpunkte erneut an dieser Institute, Hochschulen und Laboratorien als Burgen, Stelle gesetzt. Das ist eine grandiose Fehlleistung. Schlösser und Museen. Auch die Wissenschaft prägt die kulturelle Landschaft unseres Kontinents. Europa ist die Als es um diesen Vorschlag von Potočnik ging, gab es Wiege der modernen Wissenschaft. Sie ist eine zutiefst vonseiten der Bundesregierung keinen Widerspruch. europäische Errungenschaft, von den Anfängen griechi- Auch die beiden großen Fraktionen haben sich nicht für scher Philosophie über die Aufklärung bis in die heutige eine Erhöhung der Mittel für die erneuerbaren Energien Zeit. und für die Energieeffizienz eingesetzt. Lediglich das EU-Parlament – meine Kollegin Krista Sager hat das Forschung und Wissenschaft haben wir eindeutig auf schon erwähnt – hat sich hier wenigstens ein Stück weit der positiven Seite zu verzeichnen. Über Kriege und Kri- in diese Richtung bewegt und Verbesserungen vorge- sen hinweg haben Kooperationen in Wissenschaft und schlagen. Auch Umweltminister Gabriel hat sich nicht Forschung Europa immer wieder zusammengeführt. Der dafür eingesetzt. gemeinsame Forschungs- und Hochschulraum war frü- her eine Selbstverständlichkeit. Es gibt kaum eine große (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das stimmt Forscherpersönlichkeit – stellvertretend seien Alexander doch alles gar nicht!) von Humboldt und Justus von Liebig genannt –, die Seine Rhetorik für erneuerbare Energien war eine reine nicht in Europa zu Hause gewesen wäre. Dieses Erbe Fehlanzeige. Es gab keine Investitionen und keine Maß- müssen wir wieder neu gewinnen und erarbeiten. Unsere nahmen auf EU-Ebene, diese Fehlallokation im 7. For- reiche wissenschaftliche Vergangenheit ist kein Grab der schungsrahmenprogramm zu korrigieren. Geschichte, sondern eine Schatzkammer, aus der wir schöpfen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ich hoffe, das wird sich in Zukunft ändern. Wir brau- bei Abgeordneten der FDP) chen eine Erhöhung der Mittel für Forschung und Ent- wicklung, für die erneuerbaren Energien, für die biologi- Europa ist mehr als eine Subventions-/Umvertei- sche Landwirtschaft und für den Mittelstand. Es liegen lungsgemeinschaft. Wir brauchen eine Leitvorstellung noch viele Aufgaben vor uns, die noch nicht erfüllt sind, von der Zukunft Europas, seinem Platz und seinem Bei- die aber einer Erfüllung harren. trag für die Fortentwicklung der Menschheit. Leistungen in Forschung und Wissenschaft sowie Innovationen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hören unverzichtbar dazu. Die europäische Forschungs- politik hat seit der Gründung der Gemeinschaft immer (B) Präsident Dr. Norbert Lammert: mehr an Bedeutung gewonnen. Bereits im Vertrag der (D) Ich erteile das Wort der Kollegin Ilse Aigner, CDU/ Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist sie CSU-Fraktion. erwähnt, und im Euratomvertrag spielte sie von Anfang (Beifall bei der CDU/CSU) an eine große Rolle. Das erste Forschungsrahmenprogramm startete 1984. Ilse Aigner (CDU/CSU): Seit der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 ist Eu- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- ropa auch vertraglich eine Forschungs- und Technolo- nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Am giegemeinschaft. Dieser Vertrag verpflichtet die Union, 1. Januar dieses Jahres ist das 7. Forschungsrahmenpro- die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen gramm in Kraft getreten, das Herzstück europäischer der Wirtschaft zu stärken und dadurch ein hohes Maß an Forschungspolitik. Wir haben heute schon viel über die internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Mit der Strukturen und die Neuerungen gehört. Ich möchte des- im Jahr 2000 verabschiedeten Lissabonstrategie kommt halb etwas Grundsätzliches zur europäischen For- der Forschung die zentrale Rolle in Europa zu. schungspolitik sagen. Das 7. Forschungsrahmenprogramm ist ein riesengro- Das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft lau- ßer Schritt nach vorne. Der European Research Council tet: „Europa gelingt gemeinsam“. Die Herausforderung ist für die europäische Forschungsförderung eine Revo- ist groß. Am 1. Januar dieses Jahres ist die EU auf lution. Wir sind stolz, dass er nach dem Modell der DFG 27 Mitgliedstaaten angewachsen, ist noch unterschiedli- konzipiert ist. Ich darf anmerken, dass unser Professor cher, noch vielstimmiger geworden. Ist die Forschungs- Winnacker, als langjähriger Präsident der DFG ein erfah- politik nun genau das Feld, dem wir uns zuvorderst wid- rener Mann, als Erster an der Spitze des ERC steht. men sollten? Ich sage: Ja. Erfolg oder Scheitern Europas (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie werden von keinem Bereich so abhängen wie von Bil- bei Abgeordneten der FDP) dung, Wissenschaft und Innovationen. Wir wollen aber keine zentralistische europäische (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Forschungspolitik; das ist trotz der Stärkung des Ge- SPD und der FDP) meinschaftsprogramms nicht unser Ziel. Wir setzen auch Forschung und Wissenschaft halten Europa zusam- in der Forschungspolitik auf das Subsidiaritätsprinzip. men, sie sind Teil seiner Identität und seiner Zukunft. Die Aufgabe der EU-Forschungspolitik ist es, aus dem Wissenschaftler und Ingenieure bauen ebenso an dem vielfältigen Mosaik der nationalen Forschungspolitiken gemeinsamen Haus Europa wie Politiker und Unterneh- ein stimmiges Bild zu machen, sie muss Synergien frei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7559

Ilse Aigner (A) setzen und einen Mehrwert erzeugen. Wenn wir mit un- Aachen und Belgien sowie den Niederlanden. Dabei ha- (C) serem Modell der EU-Forschungspolitik Erfolg haben ben nicht allein die Hochschulen zusammengearbeitet. wollen, kommt es entscheidend auf zwei Dinge an: Der Mittelstand war daran natürlich auch beteiligt. Das soll innerhalb dieses Forschungsrahmenprogramms auch Erstens. Es kommt auf die Qualität an. Die EU-For- herausgearbeitet werden. Die eigentliche Zielsetzung ist, schungspolitik muss spitze sein. Das Forschungsrah- dass sich das genau so entwickeln wird. menprogramm ist ein Exzellenzinstrument, keine Gieß- kanne und kein Mittel zur Regionalentwicklung. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europa und Deutschland waren dabei erfolgreich. Dies gilt trotz aller Turbulenzen aufgrund von Airbus in Exzellenz ist existenziell für unseren Erfolg. der letzten Zeit auch für den Bereich der Luft- und Zweitens. Es kommt auf die Mitgliedstaaten an. Sie Raumfahrt. Wir haben hier viel erreicht. Hier entstehen müssen mitziehen und auch national deutlich mehr in- viele neue Arbeitsplätze, die für die Zukunft natürlich vestieren. Deutschland ist mit der Hightechstrategie Vor- abzusichern sind. Nach Aussage der Wissenschaftler reiter in Europa. Sie ist genau abgepasst und komple- wird es bis 2020 zu einer Verdopplung des Luftverkehrs mentär zu den europäischen Aktivitäten. Wir werden kommen. Wenn das wirklich so kommt, dann werden der unsere EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um unsere Part- Mittelstand und auch die Kleinbetriebe natürlich davon ner in Europa für die Hightechstrategie zu gewinnen und profitieren. Die Spitzentechnologien müssen sich weiter- sie mitzureißen. Wir wollen zahlreiche Nachahmer fin- entwickeln. den, um die Zukunft Europas mit zündenden Ideen zu In diesem Zusammenhang kann man auch noch Ariane gestalten. nennen. Mehrere Satelliten mit einem Gesamtgewicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von 8,3 Tonnen sind im vergangenen Jahr mit ihr in den Weltraum gebracht worden. Das ist ein europäisches Produkt. Deutschland hat davon natürlich profitiert. Präsident Dr. Norbert Lammert: Auch die Satellitenforschung, die ich am Rande mit auf- Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Grasedieck, führe, war ein Erfolgsmodell hier in Deutschland, bei SPD-Fraktion. dem der Maschinenbau genauso wie die Elektrotechnik (Beifall bei der SPD) mit im Boot waren. Das werden wir durch dieses EU- Forschungsrahmenprogramm auch weiterhin betreiben. Dieter Grasedieck (SPD): Dies ist eine wichtige Zielsetzung. Wir haben hier noch viel zu tun. Ich nenne zum Beispiel die Navigation für Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (B) Blinde, die in der kommenden Zeit weiterentwickelt (D) Herren! Unser Präsident sprach zu Beginn von Harmo- werden soll. nie. Wir sehen, dass Harmonien im Parlament eigentlich nur Schlaglichter sind. Ich dachte, dass die Opposition Im EU-Forschungsrahmenprogramm wird ein weite- zu diesem Antrag grundsätzlich sagen würde: Das ist rer Schwerpunkt bei der Energietechnologie gesetzt. gut, wir hätten es nicht besser machen können. – Danach Hier kann man die Energieeffizienz herausstellen. Wir hätte man ja die Gründe nennen können. Das wäre gut sparen nicht nur Strom bzw. Energie, wir reduzieren na- gewesen. Aber: Absolute Fehlanzeige! türlich auch den CO2-Ausstoß. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt für die Zukunft, der von vielen bereits (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten genannt worden ist. Durch die Energieeffizienz und die der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Forschung in diesem Bereich schaffen wir natürlich Man darf die Opposition nicht überschätzen!) viele Arbeitsplätze. Die eigentliche Botschaft dieses Programms – das hat Wir können einen Exportschlager daraus machen. Das unter anderem auch Carsten Müller angesprochen – lau- entwickelt sich ja auch schon entsprechend. China und tet: Team Europe. Mit einer gemeinsamen EU-For- Russland brauchen hier Unterstützung. Die russischen schung gewinnen wir unsere Zukunft. Hier müssen wir Wissenschaftler sagen, dass man in Russland 40 Prozent einen Schwerpunkt setzen. Visionen und neue kreative der Energie einsparen kann. Unsere Industrie arbeitet auf Ideen entstehen durch Gespräche, Austausch und Zu- diesem Gebiet natürlich schon intensiv. sammenarbeit. Dadurch können sehr viele neue Pro- dukte entwickelt werden. Das ist das Ziel. Auf der einen Auch die erneuerbaren Energien sind ein Exportschla- Seite brauchen wir eine innovative Forschung, und auf ger in Deutschland. Wir müssen die Kraftwerkstechnolo- der anderen Seite brauchen wir natürlich auch innovative gie in der kommenden Zeit weiterentwickeln. In Bezug Produktionen. Die Zeit zwischen diesen zwei Polen auf CO2-freie Kraftwerke gibt es drei Modelle. Das muss muss verkürzt werden. Das ist auch ein wichtiges Ziel, verstärkt werden. Da müssen wir zusammenarbeiten, das mit diesem EU-Forschungsrahmenprogramm ver- auch mit den anderen Ländern in Europa. folgt wird. Es muss hier in Europa in der Zukunft zügi- ger laufen. Dadurch werden natürlich Arbeitsplätze ab- Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist aber gesichert. An den verschiedensten Stellen waren wir auch schon angesprochen worden, dass nicht nur die dabei ganz sicher bereits erfolgreich. Technik unterstützt wird. Auch die Pädagogik, die Erzie- hungswissenschaften werden einbezogen. Zum Beispiel Schauen Sie sich einmal die Regionen und die Zu- soll das E-Learning in der Bildung, in der Lehre als ad- sammenarbeit dort an, zum Beispiel die Verbindung von ditives Element eingebaut werden. E-Learning-Elemente 7560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dieter Grasedieck (A) sollen den Präsenzunterricht in Form der Vorlesung an eine Leistung erbracht, natürlich mit Unterstützung der (C) der Hochschule oder in der Schule ergänzen. Auch hier nationalen Regierungen und einem wesentlichen Beitrag muss die Frage gestellt werden: Können wir – das ist ja der Bundesrepublik Deutschland, für den ich dankbar ein wichtiges Ziel – die Qualität der Bildung durch solche bin und der die Handschrift dieses Programms ein Stück Maßnahmen steigern? Auch da wird das EU-Forschungs- weit ausmacht. Das heißt, die Schwerpunkte, die wir ha- rahmenprogramm helfen und unterstützen. 80 Prozent ben, sind in Europa anerkannt. Ohne unseren Beitrag aller Projekte werden im Übrigen von unseren Wissen- wären diese Schwerpunkte, Kollege Fell, in Europa nicht schaftlern begleitet. Auch dadurch schaffen wir Arbeits- übernommen worden. Wir sollten hier nicht so tun, als plätze. ob es da in diesem Programm irgendwelche Defizite gäbe und als ob wir unsere Hausaufgaben nicht erledigt Zusammenfassend kann man sagen: Das EU-For- hätten. schungsrahmenprogramm schafft Arbeitsplätze in Deutsch- land; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Nur gemeinsam Die KMU-Förderung ist ein klassisches Beispiel. mit Europa werden wir die Zukunft gewinnen. Für mich, Kollege Fell, ist die KMU-Förderung nicht zu- Glück auf! vörderst Aufgabe des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU. Selbstverständlich sollen vor allem kleine und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mittlere technologiegetriebene Unternehmen Zugang zu diesem Programm haben. Aber KMU-Förderung ist zu- Präsident Dr. Norbert Lammert: nächst einmal eine Hausaufgabe, die wir im eigenen Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Land erledigen müssen und erledigen wollen, was wir Kollege Jörg Tauss, ebenfalls für die SPD-Fraktion. auch tun werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der CDU/CSU) CDU/CSU) Wir haben in diesem Bereich einige Schwerpunkte Jörg Tauss (SPD): gesetzt. Wir diskutieren im Moment noch mit dem Wirt- Trotz „Glück auf“ kommt nicht der Steiger. – Liebe schaftsministerium. Die Frage der Forschungsprämie be- Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Pieper, ich trifft zwar nicht die KMU-Förderung; aber sie ist ein denke, wir sollten eines hier im Hause nicht tun. Es gibt ganz wesentlicher Beitrag dazu, dass kleine und mittlere zwei Themen, von denen wir wissen, dass sie an Stamm- Unternehmen, die bisher noch keinen Zugang zu Tech- tischen, in der Öffentlichkeit und auch in Teilen der nologie haben, diesen bekommen. In diesem Bereich, Presse häufig sehr reißerisch dargestellt werden, nämlich Kollege Fell, haben wir also ebenfalls keine Defizite. (B) Europa und Entwicklungshilfe. Wir sollten nicht der (D) Versuchung erliegen, uns an einer solchen reißerischen Aber nun zum Forschungsrahmenprogramm selbst. Darstellung zu beteiligen. Deswegen fand ich Ihren Bei- Es hat vier Schwerpunkte; sie sind in Teilen beschrieben trag zur Entwicklungshilfe bezogen auf China nicht worden. Ich will noch einmal auf die 54 Milliarden Euro sehr glücklich. Weil das nicht zum ersten Mal der Fall zu sprechen kommen, damit alle sehen können, wo das war, will ich mir jetzt doch einmal erlauben, an dieser Geld bis zum Jahr 2013 hinfließt. Stelle einen Satz dazu zu sagen. Der erste Schwerpunkt in diesem Bereich ist die Ko- Deutschland leistet in China Entwicklungshilfe – das operation, ausgestattet mit einem Finanzvolumen von ist richtig –, aber ausschließlich im Rahmen der Millen- 32 Milliarden Euro. Kollege Fell, hier liegen die niumsziele. Wir fördern Umweltschutz und regenerative Schwerpunkte selbstverständlich in den Bereichen Ener- Energien. Wir fördern Aidsprävention im bevölkerungs- gie, Umwelt und Klimawandel. Was wäre das für ein reichsten Land der Welt, meine sehr verehrten Damen Forschungsprogramm, wenn der Klimawandel, eine der und Herren. Wir fördern den Rechtsstaatsdialog und die zentralen Herausforderungen der Zukunft und der Armutsbekämpfung. Ich glaube, die Zusammenarbeit Menschheit, kein Thema wäre. Dieser Punkt ist im ers- mit China und die Entwicklung in China liegen in unse- ten Teil dieses Programms enthalten. rem elementaren Interesse, wenn China in Zukunft die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bedeutung haben wird, die diesem Land zugeschrieben wird. Es sind auch andere Teile enthalten: Gesundheit, Le- bensmittel, Landwirtschaft und selbstverständlich auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Biotechnologie. Wir wollen schauen, wo da die Chancen DIE GRÜNEN) liegen. Deswegen verniedlicht doch niemand die Risi- Deswegen sollten wir hier nicht einfach sagen, wir wür- ken. Selbstverständlich spielen auch die Sozial- und den mal eben 300 Millionen Euro nach China geben. Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle in diesem Zu- sammenhang. Europa ist oft genug in der Diskussion. Ich bin der Letzte, der hier sagen würde, er habe keine Kritik an Das zweite Programm „Ideen“ wird mit 7,5 Mil- dem einen oder anderen Punkt in Bezug auf Bürokratie liarden Euro ausgestattet. Die Förderung von Ideen halte und in anderen Bereichen gehabt – selbstverständlich. ich für hochinteressant. Dazu soll auch der European Wer hat keine Kritik? Auch im eigenen Land haben wir Research Council gehören unter Leitung – das wurde Hausaufgaben zu erledigen. Aber mit dem 7. For- schon mehrfach angesprochen – des Generalsekretärs schungsrahmenprogramm der EU hat Europa tatsächlich Winnacker. Ich glaube, es eröffnet hervorragende Mög- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7561

Jörg Tauss (A) lichkeiten, wenn wir über dieses Programm die kreativs- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) ten Forscherinnen und Forscher in Europa fördern wol- Wenn ich Ihren Redefluss jetzt nicht sanft und freund- len. Das ist Aufgabe dieses Bereichs. schaftlich beende, dann führt es zu einem unüberschau- baren, weil nicht absehbaren Finale. Mit dem dritten Programm „Menschen“ sollen die so- genannten Marie-Curie-Maßnahmen verstärkt werden. (Heiterkeit und Beifall) Das ist von der Ministerin schon angesprochen worden. Ich weise Sie also auf Ihre längst überschrittene Redezeit Hier wollen wir für den Forscherberuf werben. Wir hin. wollen dafür werben, dass mehr junge Menschen in den Bereich Wissenschaft gehen und dass – das ist ein deut- sches Problem und kein europäisches Problem – mehr Jörg Tauss (SPD): junge Frauen in die Wissenschaft gehen. Herr Präsident, gestatten Sie mir dennoch eine Schlussbemerkung. Auch für Sie dürfte sie interessant (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ sein. CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Bei der Berichterstattung über die Exzellenzinitiative NEN) wurde so getan, als ob es um eine Art Bundesliga für Es ist eine Schande für Deutschland, dass es uns nicht Universitäten ginge. Wir haben aber auch hervorragende wie anderen europäischen Staaten und anderen Staaten Universitäten, die nicht ausgezeichnet wurden und die in der Welt gelingt, junge Frauen für den Bereich Wis- für die Regionen, Stichwort „Lehrerausbildung“, wichtig senschaft zu gewinnen. Das wäre aber aufgrund unseres sind. Herr Präsident, ich bin dankbar, dass Sie mir ge- Bedarfs notwendig und würde dem Begabungspotenzial statten, darauf hinzuweisen: Exzellenz ist wichtig, aber der Frauen entsprechen. Das heißt also, auch hier liegen in Deutschland können wir auf die Breite unserer Hoch- Chancen des Programms. Ich hoffe, dass das auch für schulen stolz sein. Diese müssen wir fördern und stär- uns zutrifft. ken. Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit. Der vierte Programmteil trägt die Überschrift „Kapa- zitäten“. Es geht darin um Forschung und Innovation. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dazu zählen die Forschungsinfrastruktur und die KMU- Förderung, aber nicht mit der Gießkanne. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Pieper, Sie haben wieder den ganzen Katalog al- Herr Kollege Tauss, ich bestätige gerne, dass insbe- ter Technologien aufgeführt. Über die Kernkraft könnten sondere Ihre Schlussbemerkung meinen Informations- (B) wir jetzt tagelang streiten. Ich halte es in Europa für ei- stand wesentlich befördert hat. (D) nen gesellschaftspolitischen Skandal – darüber müssen (Heiterkeit) wir diskutieren, wenn es um Europa geht –, dass der Be- reich von Euratom der einzige Bereich ist, in den Mil- Das wäre allerdings auch dann der Fall gewesen, wenn liardenbeträge fließen und bei dem die Parlamente kei- Sie sie gleich zu Beginn vorgetragen und pünktlich ge- nen Zugriff haben und nicht mitreden dürfen. schlossen hätten. (Heiterkeit und Beifall) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich schließe die Aussprache. Das zu ändern, muss einer der zentralen Punkte in der Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- europäischen Verfassung sein. Deswegen bin ich für die ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- europäische Verfassung. Es darf nicht sein, dass nicht- zung auf Drucksache 16/2891. Der Ausschuss empfiehlt demokratisch legitimierte Strukturen ungeheure Beträge unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme in eine Technologie stecken, über die man streiten kann. des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/1547 mit dem Titel „Innovationen für Frau Pieper, in den letzten Wochen gab es in diesem Deutschland durch das Siebte Forschungsrahmenpro- Lande doch wirklich eine Aufbruchstimmung an den gramm der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese Universitäten. Die Exzellenzinitiative, die wir gestartet Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer hatten, wurde in der letzten Zeit diskutiert, auch wenn es enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist eine verzerrende Berichterstattung der Medien bis hin mit breiter Mehrheit angenommen. zur Tagesschau gegeben hat. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Präsident Dr. Norbert Lammert: des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/710 Herr Tauss, ich ahne, dass Sie sich jetzt in die Ihnen mit dem Titel „Zukunftsfähige Forschung in Europa typische Betriebstemperatur geredet haben. stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – (Heiterkeit) Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit ange- nommen. Jörg Tauss (SPD): Zum Zusatzpunkt 2 gibt es die Beschlussempfehlung Ja, Sie haben völlig recht. des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technik- 7562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) folgenabschätzung auf Drucksache 16/2738 zu dem An- Allein 2005 wurden 43 000 Ausbildungsverträge neu ge- (C) trag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Voraussetzun- schlossen. Ich glaube, es ist durchaus an der Zeit, all den gen für Entwicklung, Bau und Betrieb einer Unternehmerinnen und Unternehmern, die ihre Verant- Europäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutsch- wortung wahrnehmen, ein ganz herzliches Dankeschön land schaffen – Deutsche Bewerbung vorantreiben“. Der zu sagen. Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/386 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der der CDU/CSU) Stimme? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Andererseits sagt uns die Bundesagentur für Arbeit, Mehrheit angenommen. es gebe in diesem Bereich mehr offene Ausbildungsstel- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: len als unvermittelte Bewerber. Im Herbst 2006 habe es über 22 000 offene Stellen für Köche und Serviceperso- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst nal im Gastgewerbe gegeben. Burgbacher, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Ich will diesen Zahlen einen ganz konkreten Fall ge- Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines genüberstellen, der mir letzte Woche berichtet wurde. Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Florian, ein Hauptschüler, hat das große Berufsziel, Schutz der arbeitenden Jugend (Jugendar- Koch zu werden. Er macht in den Weihnachtsferien eine beitsschutzgesetz – JArbSchG) Schnupperlehre in der Küche eines großen Restaurants. Er ist hellauf begeistert, das Personal auch von ihm. Am – Drucksache 16/2094 – Ende dieser Lehre wird ihm gesagt: Wir nehmen dich, Überweisungsvorschlag: aber erst in zwei Jahren. Versuche, diese zwei Jahre zu Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) überbrücken! Mache irgendetwas! Wenn du 18 bist, Rechtsausschuss dann kannst du wiederkommen. – Es ist für mich uner- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend träglich, dass wir nach wie vor diesen Zustand haben. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (Beifall bei der FDP – Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ausschuss für Tourismus Es ist unerträglich, dass es so läuft!) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus Dass heute Jugendliche im Alter zwischen 16 und Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, , wei- 18 Jahren nur bis 22 Uhr und vor Berufsschultagen nur teren Abgeordneten und der Fraktion der LIN- bis 20 Uhr arbeiten dürfen, führt zu einer groben (B) KEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Benachteiligung von Haupt- und Realschülern gegen- (D) Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes über Gymnasiasten. Dies führt dazu, dass Ausbildungs- – Drucksache 16/3016 – plätze, die existieren könnten, nicht existieren. Es gäbe jährlich gut 2 000 mehr. Es ist unverantwortlich, diesen Überweisungsvorschlag: Zustand so beizubehalten. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss (Beifall bei der FDP) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Wir wollen nichts Revolutionäres. Wir wollen den Technikfolgenabschätzung täglichen Arbeitszeitrahmen um eine Stunde erhöhen, Ausschuss für Tourismus und zwar von 22 auf 23 Uhr und vor Berufsschultagen von 20 auf 21 Uhr. Auch die Jugendlichen selbst wollen Auch hier sind nach einer interfraktionellen Vereinba- das; das hören wir in vielen Gesprächen. Wer eine Lehre rung für die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Dazu in diesem Bereich beginnt, weiß, dass er abends und am höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Wochenende arbeiten muss. sen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Jetzt gibt es eine Bund-Länder-Gruppe, die darüber der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion. diskutiert. Es ist genug diskutiert worden. Wir müssen endlich handeln. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP) Ernst Burgbacher (FDP): Ich bin froh, dass sich eine Bundesratsinitiative aus Ba- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den-Württemberg zu diesem Thema abzeichnet. Ich dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um Arbeits- werde sie unterstützen. plätze im Hotel- und Gastronomiegewerbe. Gestatten Sie mir, einige Zahlen zu nennen: Einerseits steigt seit Worum geht es denn? Die Regelungen des Jugendar- Jahren die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Be- beitschutzgesetzes stammen von 1976. Seither hat sich reich. Es gibt dort heute mehr als 100 000 Ausbildungs- einiges verändert. Das Ausgehverhalten zum Beispiel verhältnisse. hat sich völlig verändert; die Ausgehzeiten haben sich nach hinten verlagert. Heute sind die Gaststätten um (Unruhe – Dr. [FDP]: Ich 18 oder 19 Uhr häufig noch leer; um 22 Uhr brummt kann der Debatte nicht folgen!) dann der Bär. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7563

Ernst Burgbacher (A) Das Ausgehverhalten Jugendlicher hat sich verändert. gendliche anscheinend schützen. In der Realität nehmen (C) Als ich 17 war, musste ich um 22 Uhr zu Hause sein. Sie ihnen aber die Chancen auf einen Ausbildungsplatz und damit auch auf einen Arbeitsplatz. Sie haben aber (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Viel zu spät!) gegenüber diesen Jugendlichen eine konkrete Verant- Als meine Kinder 17 waren, haben sie sich um 22 Uhr wortung. Ich mahne an: Nehmen Sie diese Verantwor- darauf vorbereitet, wegzugehen. Das ist die Entwick- tung wahr und kommen Sie endlich in der Realität an! lung, vor der wir nicht die Augen verschließen sollten. (Lebhafter Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Willi Brase [SPD]: Was ist das denn? Jetzt hören Sie aber auf!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der DGB hat in einem Brief geschrieben: „Auszubil- Nächster Redner ist der Kollege , dende sollen etwas lernen und nicht als billige Arbeits- CDU/CSU-Fraktion. kräfte missbraucht werden.“ (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Grotthaus [SPD]: Genau!) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich kann dazu nur feststellen: Der DGB hat nichts ver- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten standen. Damen und Herren! Liebe Kollegen von der FDP, insbe- sondere geschätzter Kollege Burgbacher, Ihr Anliegen, (Widerspruch bei der SPD) den Jugendarbeitsschutz punktuell flexibilisieren zu wollen, mag ehrenwert sein. Das duale System, um das uns ganz Europa beneidet, ba- siert darauf, dass in der Berufsschule das theoretische ( [FDP]: Das ist es sogar!) Wissen und ein Teil der Praxis gelernt wird. Entschei- dend ist aber, dass man mitbekommt, wie die Praxis aus- Sie haben ausgeführt, dass es im Gastgewerbe sieht. Das ist aber nicht möglich, wenn ein Laden still- 22 000 offene Stellen gibt, und Sie haben diesmal statt steht, sondern nur dann, wenn er läuft. Das ist das der Tante Käthe den Florian zitiert, der nur dann die Problem. Zur Qualität der Ausbildung gehört, dass die Chance hätte, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, Jugendlichen nicht dann arbeiten, wenn das Lokal leer wenn er schon 18 Jahre alt wäre. ist, sondern dann, wenn die Gäste da sind. Ich glaube kaum, dass sehr viele kleine und mittel- (Beifall bei der FDP) ständische Unternehmen die Einstellung eines 16- bis 18-jährigen Jugendlichen davon abhängig machen, ob er (B) Die Bundeskanzlerin hat in Ihrer Regierungserklä- über 22 Uhr hinaus arbeiten kann. Im Übrigen kann man (D) rung gesagt: die Gäste, die nach 22 Uhr noch ein Essen bestellen, an einer Hand abzählen. Im Barbetrieb werden die Jugend- Wir müssen immer wieder schauen: Wo sind Hür- lichen in aller Regel ohnehin nicht eingesetzt. den, die Menschen den Weg in die Arbeitswelt ver- sperren? Wir müssen lernen, dies möglichst vorur- (Beifall bei der SPD) teilsfrei zu betrachten. Der Ausbildungszweck – das kann man objektiv festhal- Hier gibt es eine Hürde, die wir ganz einfach wegräumen ten – wird zwischen 22 und 23 Uhr nicht in nennenswer- könnten. Deswegen appelliere ich insbesondere an die tem Umfang gefördert. Union – Sie haben uns bisher immer zugestimmt –: Set- zen Sie sich durch! Ich würde gern an einem Beispiel er- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Haarscharf da- kennen, dass auch Sie Mitglied der Koalition sind und neben!) sich auch einmal gegen die SPD durchsetzen können. Das Jugendarbeitsschutzgesetz steht als Ganzes auf (Beifall bei der FDP) dem Prüfstand. Kollege Burgbacher hat gezeigt, dass er das sehr wohl weiß. Manche Kolleginnen und Kollegen auf der linken Seite des Hauses tragen rote Buttons. Sie bedeuten of- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Was sagt denn fenbar „Wir bremsen Jugendliche in ihren Chancen aus“. Herr Hinsken dazu? – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Ich rede noch!) (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist billige Pole- mik!) Das Jugendarbeitsschutzgesetz, das seit 1976 in Kraft ist und seitdem nur partiell überarbeitet wurde, ist einer Ich appelliere an Sie: Kommen Sie endlich in der Reali- Gesamtrevision zu unterziehen. Wir ziehen einen ganz- tät an! Erkennen Sie endlich, dass Ihre Schutzvorschrif- heitlichen Ansatz der Überprüfung von Gesetzentwürfen ten junge Menschen in Wahrheit nicht schützen, sondern der Regelung von Einzelaspekten vor, die sich zudem sie ihrer Chancen berauben! Das ist doch eine Tatsache. noch widersprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Linkspartei jubelt, wenn sie sich die liberale Forde- (Beifall bei der FDP) rung nach Verlängerung der Arbeitszeit bis 23 Uhr bzw. Mit dem Antidiskriminierungsgesetz haben Sie bis 21 Uhr auf der Zunge zergehen lässt. Umgekehrt auch Schutzvorschriften eingeführt. Heute erkennen wir, glaube ich nicht, dass die Linken bei der FDP auf viel dass diejenigen, die Sie schützen wollen, weniger Chan- Gegenliebe stoßen, wenn sie junge Auszubildende bis cen haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Sie wollen Ju- 21 Jahre in das Jugendarbeitsschutzgesetz einbeziehen 7564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Paul Lehrieder (A) wollen. Ein 16-jähriger Jugendlicher dürfte statt bislang ist die Bedienungshäufigkeit nach 22 Uhr oft so (C) zwei Jahre bis zum 18. Lebensjahr dann bis zum schlecht, dass für viele Jugendliche nicht sichergestellt 21. Lebensjahr, also noch einmal drei Jahre länger, mit- ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln heimzukommen. hin fünf Jahre nicht mehr als acht Stunden täglich und Das sollten wir nicht ganz außen vor lassen. nur an fünf Tagen in der Woche arbeiten. Drei Jahre län- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ger dürfte er in den meisten Branchen weder in der Nachtzeit zwischen 20 und 6 Uhr morgens noch am Wo- Die FDP fordert generell, die Arbeitszeit im Rahmen chenende arbeiten. Drei Jahre länger müssten Haupt- des Jugendarbeitsschutzes weiter in den Abend zu ver- und Realschüler warten, bis sie sozusagen als fertige Be- schieben. Begründung: Das Freizeitverhalten der Ju- rufstätige gelten. Inwieweit das potenzielle Ausbil- gendlichen habe sich verändert. Herr Burgbacher, Sie dungsbetriebe und Arbeitgeber zu mehr Angeboten ani- selbst haben gesagt, dass Ihre Kinder oft fortgehen, miert und ob das wirklich im Interesse der Jugendlichen wenn Sie um 22 Uhr nach Hause kommen. Wir dürfen ist, kann sich jeder selbst ausrechnen. Gerade Haupt- aber das selbstgewählte und von den Eltern tolerierte und Realschüler hätten dann gegenüber Abiturienten Freizeitverhalten nicht mit beruflichen Anforderungen kaum noch eine ernst zu nehmende Chance. vergleichen. Sonst vergleichen wir Äpfel mit Birnen. Wenn die Jugendlichen am Freitag und am Samstag bis Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Natürlich beein- in die Puppen in der Disko sind und am nächsten Tag flusst das Jugendarbeitsschutzgesetz den Ausbildungs- ausschlafen können, dann darf man das nicht mit der Ar- markt. Es verfolgt von der Intention des Gesetzgebers beitszeit vergleichen; das funktioniert nicht. Das allein her ein anderes Ziel. Es soll Jugendliche vor Überforde- ist kein hinreichender Anlass, das Gesetz zu ändern. rung, Überbeanspruchung und den Gefahren am Mögliche Freizeitaktivitäten üben weder auf die beson- Arbeitsplatz entsprechend ihrem Entwicklungsstand dere Schutzbedürftigkeit Jugendlicher im Erwerbsleben schützen. Dabei ist es egal, ob sie noch ausgebildet wer- noch auf den Schutzzweck des Gesetzes einen nachhalti- den oder schon Arbeitnehmer sind. Die Entwicklung ei- gen Einfluss aus. nes Jugendlichen kann mit 18 Jahren gemeinhin als ab- geschlossen gelten. Die Volljährigkeit mit 18 ist sonst Zudem besteht ein Unterschied darin, dass Jugendli- unstrittig, meine Freunde von der Linkspartei. Irgendwo che die Dauer ihrer Freizeitaktivitäten selbst bestimmen muss schließlich eine klare Grenze verlaufen. Für junge können. Sie können in der Freizeit heimgehen, wenn sie Erwachsene ist dann das Berufsbildungsgesetz mit be- wollen. Das können sie im Betrieb üblicherweise nicht. sonderen Regelungen zum Schutz von Auszubildenden Sie sind in ihrer Freizeit selbst verantwortlich, während maßgeblich. Junge Erwachsene in den Geltungsbereich sie sich einer täglichen Arbeitszeit bis 23 Uhr bzw. des Jugendarbeitsschutzgesetzes einzubeziehen, ist des- 21 Uhr nicht entziehen können. Das Jugendarbeits- (B) halb absolut nicht sinnvoll. schutzgesetz soll – wie gerade erwähnt – gewährleisten, (D) dass die Jugendlichen nach Feierabend über genügend Für die FDP dagegen ist der Reifeprozess laut Gesetz- Erholungszeit verfügen und sich gerade in der Klausu- entwurf schon viel früher abgeschlossen. Die Kollegen renphase auf die Berufsschule vorbereiten können. von der Linkspartei möchten ihn allerdings fast bis zur ewigen Jugend ausdehnen. Vielleicht sollten Sie sich als Warten wir die Ergebnisse der Bund-Länder-Ar- vereinte Opposition in der Mitte treffen. Dann wären wir beitsgruppe ab. Sie ist dabei, das gesamte Jugendar- wieder am Status quo, bei 18 Jahren. beitsschutzgesetz im Hinblick auf mögliche Ausbil- dungshemmnisse zu durchleuchten, immer unter der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine ganz kluge, Voraussetzung, dass dabei die Sicherheit und der Ge- vereinte Oppositionsarithmetik! – Dr. Guido sundheitsschutz der Jugendlichen gewährleistet bleiben. Westerwelle [FDP]: Die Einheitsregierung!) Dabei wird auch die gesundheitliche Betreuung unter die – Es war nur ein gutgemeinter Vorschlag. Stellen Sie Lupe genommen. Ich gehe davon aus, dass im Ergebnis eine Zwischenfrage, Herr Westerwelle. Dann verlängert ein 18-jähriger, was das betrifft, nicht schlechter gestellt sich meine Redezeit. sein wird als ein 16-jähriger Auszubildender. Dieses Vorhaben geht Hand in Hand mit den Plänen der Bun- Ein besonders hohes Gut im Jugendarbeitsschutzge- desregierung, die berufliche Bildung zu modernisieren setz stellt die Nachtruhe dar. Gerade deshalb sollen die und zu flexibilisieren. Das neue Berufsbildungsgesetz sich noch in der Entwicklung befindenden Jugendlichen bietet dafür eine Reihe von Ansatzpunkten. So müssen grundsätzlich weder vor 6 Uhr noch nach 20 Uhr im die Ausbildungsberufe zügig entsprechend dem techni- Ausbildungsbetrieb Dienst tun. Aufgrund der dort herr- schen Fortschritt erneuert werden. Bereits zum schenden Besonderheiten können Jugendliche ab Herbst 2006 sind zum Beispiel 17 Ausbildungsord- 16 Jahre bereits jetzt im Hotel- und Gaststättengewerbe nungen modernisiert worden. Es sind vier neue Berufe bis 22 Uhr und bei Schichtdienst sogar bis 23 Uhr be- geschaffen worden. schäftigt werden. Die Nachtruhe vor Berufsschultagen soll sicherstellen, dass Jugendliche am Folgetag ausge- Sie sehen, das Jugendarbeitsschutzgesetz hängt mit ruht und aufnahmefähig am Berufsschulunterricht teil- den Arbeitsmarktreformen dieser Großen Koalition eng nehmen können. Ein weiterer Aspekt, den wir nicht ig- zusammen, die sich diese Regierung vorgenommen hat. norieren sollten, ist die ÖPNV-Anbindung. Nur wenige Es beeinflusst den Ausbildungsmarkt mit und ist oben- Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren sind selbst drein geprägt von unserer Verantwortung für Sicherheit motorisiert. Viele sind auf öffentliche Verkehrsmittel wie und Wohlbefinden unserer Auszubildenden. Deshalb Busse angewiesen. Mit Ausnahme von Ballungsgebieten müssen wir es, wenn wir es tun, umfassend und umsich- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7565

Paul Lehrieder (A) tig überarbeiten. Der Weg dahin ist beschritten. Lassen ebenso infrage gestellt wie die Existenz der Ausschüsse (C) Sie uns deshalb gemeinsam die Ergebnisse der Bund- für Jugendarbeitsschutz. Für uns sind die Schutzrechte Länder-Kommission abwarten und diskutieren. Die Op- von Jugendlichen aber keine Manövriermasse im Koali- position von links und von rechts tionspoker, sondern politischer Kerninhalt. Deshalb sa- gen wir heute mit roten Buttons „Stopp!“ und erklären (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sind Mitte!) uns mit den Protesten der Gewerkschaftsjugend solida- ist natürlich herzlich eingeladen, fundierte Beiträge zur risch. Debatte beizusteuern. Ich freue mich auf die Diskussion (Beifall bei der LINKEN) des Gesamtgesetzes. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Eine Novellierung, eine Reform des Jugendarbeits- schutzes heißt für uns nicht weniger, sondern mehr und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bessere Schutzrechte für Jugendliche. Deshalb wird hier und heute dem Bundestag das erste Mal seit Jahren eine Präsident Dr. Norbert Lammert: Initiative zur weitreichenden Verbesserung des gesetzli- Das Wort erhält nun die Kollegin Diana Golze, Frak- chen Jugendarbeitsschutzes vorgelegt – von der Links- tion Die Linke. fraktion. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Das Parlament und seine Gäste müssen sich heute aber Diana Golze (DIE LINKE): auch einmal mehr mit den neoliberalen Evergreens der Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- FDP befassen. Ihr Refrain lautet, dass die Schutzrechte nen und Kollegen! Ich begrüße auch die auf der Tribüne von Jugendlichen nur Ausbildungshemmnisse seien. anwesenden Aktivistinnen und Aktivisten der Gewerk- Wie unsinnig solche Behauptungen sind, zeigt schon die schaftsjugend Tatsache, dass seit 1976 mehrere Male am Jugendar- (Beifall bei der LINKEN) beitsschutz gesägt wurde. Im Jahr 2006 waren aber die Chancen von Jugendlichen auf einen betrieblichen Aus- und sage ihnen, dass die Fraktion Die Linke geschlossen bildungsplatz schlechter denn je. Weniger Jugendarbeits- hinter ihrer Forderung nach einem Erhalt des gesetzli- schutz schafft keinen einzigen neuen Ausbildungsplatz. chen Jugendarbeitsschutzes steht. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wir nicht, da- mit das auch klar ist! – Gegenruf von der LIN- Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ein kleiner (B) KEN: Hört! Hört!) Rat am Rande: Sie legen heute zum dritten Mal seit 2003 (D) dieselbe Initiative vor. – Wen ich begrüße, darf ich ja wohl sagen. (Jörg van Essen [FDP]: Weil sie immer noch Ich freue mich darüber, dass auch einige Abgeordnete richtig ist!) aus anderen Fraktionen heute ein Zeichen gegen die Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzes setzen. Sie sollten das Copy-and-Paste-Prinzip aber nicht ganz so unbesehen anwenden. Sie wollen nämlich in Ihrem (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Demnächst Gesetzentwurf noch am Jugendarbeitsschutzgesetz in kommt ihr noch mit Uniform!) der Fassung vom 21. Dezember 2000 herumdoktern. Ich hoffe aber auch – das sage ich an die Adresse der Das stimmte, wenigstens formal, noch, als Sie diesen SPD –, dass Sie hier heute Gesetzentwurf 2004 das letzte Mal eingebracht haben. Mittlerweile haben wir das Jahr 2007, und Sie müssten (Dirk Niebel [FDP]: Wo ist das Halstuch und sich korrekterweise auf die zuletzt am 21. Januar 2005 das gelbe Käppi, das ihr immer aufhattet?) geänderte Fassung beziehen. nicht nur wohlfeile Lippenbekenntnisse abgeben. Sie (Lachen und Beifall bei der LINKEN – schwören öffentlich Eide auf den Erhalt des gesetzlichen Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das werden wir Jugendarbeitsschutzes, sofort ändern!) (Ernst Burgbacher [FDP]: Sie sind auch Akti- Ein kleiner Fehler, der viel über die Entstehungsweise vistin!) Ihres Gesetzentwurfs besagt. während im sozialdemokratisch geführten Arbeitsminis- (Dr. [DIE LINKE]: Alte terium munter die Fundamente des Gesetzes untergraben Kamellen!) werden. Bestellen Sie doch wenigstens Ihren Sekundanten aus (Beifall bei der LINKEN) dem Arbeitgeberlager, dass sie Ihnen formal korrekte In den Anhörungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Zuarbeiten machen. seit September 2006 tagt, wird deutlich, dass es bei der (Beifall bei der LINKEN) geplanten Novellierung buchstäblich um den Kern des gesetzlichen Jugendarbeitsschutzes geht. Die Wochen- Ich komme aus dem Land Brandenburg, wo die Situ- end- und Nachtarbeitsverbote werden durch die Beamten ation am Ausbildungsmarkt noch dramatischer ist als an- aus den Ländern und aus dem Müntefering-Ministerium derswo. Wer die Realität in den Betrieben kennt, muss zu 7566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Diana Golze (A) der Schlussfolgerung kommen, dass nicht ein Abbau, Haupt- oder Realschüler als Auszubildende einzustellen, (C) sondern ein Ausbau des Jugendarbeitsschutzes auf die sondern Abiturienten, weil für die das Jugendarbeits- Tagesordnung gehört. Vor einer Woche hat die Gewerk- schutzgesetz nicht mehr gilt. schaftsjugend den „Berlin-Brandenburger Ausbildungs- report 2006“ veröffentlicht, der bestätigt, was viele (Andrea Nahles [SPD]: Das ist der größte Un- Gespräche vermuten lassen: Jeder fünfte Azubi in der Re- sinn des Jahres! Das ist eine Argumentation gion macht regelmäßig Überstunden, und nur jeder wie bei der FDP!) zweite von ihnen erhält dafür einen Ausgleich. Nehmen Ein Gesetz, durch das so falsche Anreize gesetzt werden, wir doch zum Beispiel einmal das bei der FDP so beliebte muss – ich wiederhole es – reformiert werden. Hotel- und Gaststättengewerbe. Jeder fünfte Azubi unter 18 muss in Brandenburg regelmäßig mehr als 40 Stunden Nicht zuletzt Ihre Politik, meine Damen und Herren pro Woche arbeiten, was – nebenbei bemerkt – illegal ist. von der Koalition, ist eine Aufforderung zur Ausweitung Jeder fünfte Azubi lernt so am Beginn seines Arbeitsle- des Jugendarbeitsschutzes. Wer künftig bis zum 67. Le- bens erst einmal, dass seine Schutzrechte mit Füßen ge- bensjahr arbeiten soll, sollte doch wenigstens am Anfang treten werden. Einer solchen Branche wollen Sie mit Ih- so geschützt werden, dass er oder sie überhaupt so lange rem Gesetzentwurf auch noch entgegenkommen? In arbeiten kann. meinen Augen ist das ein Hohn. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken Der Jugendarbeitsschutz von heute ist die soziale Sicher- [CDU/CSU]: Gehen Sie selbst einmal in die heit von morgen. Gaststätte?) Nun sind die Einwände schon gekommen: Sie sagen, Immer mehr Arbeitgeber beuten Auszubildende als mehr Jugendarbeitsschutz schade den Chancen von Ju- billige Arbeitskräfte schamlos aus. Wenn das ein Ende gendlichen, einen Ausbildungsplatz zu finden. haben soll, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Jugendarbeitsschutz. Vor allem müssen wir dafür sorgen, (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So ist es!) dass das Gesetz diejenigen erfasst, die es am Beginn Ich sage Ihnen, dass das allein deshalb nicht stimmt, weil ihres Arbeitslebens am nötigsten brauchen: die 1,6 Mil- die Arbeitgeber immer Ausreden finden werden, um ihre lionen Auszubildenden. Das ist der Kern unserer Initia- Ausbildungsverweigerung zu bemänteln. tive. Wir wollen den Geltungsbereich des Jugendarbeits- schutzgesetzes auf alle Beschäftigten ausweiten, die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) noch nicht 21 Jahre alt sind. Kein Schutzrecht in diesem Land wäre eingeführt wor- (B) Lassen Sie mich erklären, was für diese Änderung den, wenn wir vorher die Wirtschaft oder ihre Verbände (D) spricht, bevor ich die Gegenargumente entkräfte. Der ge- um Einverständnis gefragt hätten. setzliche Jugendarbeitsschutz in Deutschland ist ungenü- (Beifall bei der LINKEN) gend. Jeder fünfte Arbeitsunfall betrifft die 15- bis 24-Jährigen. Ganz real heißt das: Alle drei Minuten von Ein weiterer Einwand, der schon gemacht wurde, lau- Montag bis Sonntag von 0 bis 24 Uhr – dreimal während tet, dass der Jugendarbeitsschutz den Einsatz von Auszu- meiner Redezeit – verunglückt ein junger Mensch am Ar- bildenden so sehr behindere, dass die Ausbildungsziele beitsplatz; insgesamt verunglücken pro Jahr 165 000 nicht erreicht werden könnten. Das ist, gelinde gesagt, junge Menschen. Europaweit liegt die Wahrscheinlich- Unsinn, weil das Gesetz selbst unzählige Abweichungs- keit, dass 18- bis 24-Jährige am Arbeitsplatz verletzt wer- möglichkeiten enthält, durch die das verhindert werden den, um 50 Prozent über der anderer Altersgruppen. Der kann. Gefahrenschwerpunkt liegt in der Frühphase von Ausbil- dung und Erwerbstätigkeit. Dann ist die Motivation hoch, Schließlich kam auch schon der Einwand, dass die während ein spezifisches Gefahrenbewusstsein erst he- Ausweitung des Jugendarbeitsschutzes auf alle Jugendli- rausgebildet wird. Ein wirksamer Jugendarbeitsschutz chen unter 21 Jahren den flexiblen Einsatz von jungen muss deshalb auch und vor allem Auszubildende erfas- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die keine Aus- sen. zubildenden sind, verhindere. Auch dieser Einwand hält einer Prüfung nicht stand. Schließlich können zentrale Für unseren Vorschlag spricht die Tatsache, dass Abweichungstatbestände über Tarifverträge mit den Ge- gegenwärtig drei von vier Auszubildenden vom gesetzli- werkschaften geregelt werden. Dann müssten sich Ver- chen Arbeitsschutz gar nicht erfasst werden, ganz ein- bände wie der DEHOGA auf ihre eigentlichen Aufgaben fach, weil sie über 18 Jahre alt sind. Das durchschnittli- zurückziehen. Sie müssten dann nicht mehr ihre Energie che Alter für den Einstieg in eine betriebliche und die Beiträge ihrer Mitglieder für die Initiierung sol- Ausbildung beträgt heute 18,8 Jahre. Ein Schutzgesetz, cher Gesetzesinitiativen verschwenden, sondern kon- das diejenigen, die es am dringendsten brauchen, nicht struktive Tarifverträge aushandeln. mehr erfasst, ist wirkungslos und muss reformiert wer- den. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Dann müsste der DEHOGA nicht länger mit der Pein- lichkeit leben, dass – wie im November 2006 während Solange die Schutzgrenze bei 18 Jahren liegt, erhal- des Verbandstages – draußen die Arbeitnehmer gegen ten Unternehmen auch noch einen Anreiz, nicht mehr Armutslöhne protestieren und drinnen die Bosse mit den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7567

Diana Golze (A) Herren Westerwelle, Glos, Kuhn und Müntefering bei Es ist schon ein ziemlich starkes Stück, das Zustande- (C) Schnittchen und Sekt schwatzen. kommen eines Lehrvertrages davon abhängig zu ma- chen, ob jemand eine Stunde am Tag später arbeiten (Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido kann, auch wenn er das nicht muss. Westerwelle [FDP]: Ich trinke tagsüber keinen Alkohol! Das ist Verleumdung! – Willi Brase (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist aber [SPD]: War Lafontaine auch dabei?) die Realität!) Zu guter Letzt werden wir sicher auch noch mit der Dabei wird die Arbeitszeit des Einzelnen nicht erweitert, neuen Einsicht beglückt, die Jugendlichen wollten ja ei- sondern nur die Zeit, in der er arbeiten könnte. gentlich länger arbeiten, wenn sie das Gesetz nur ließe. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben es Das ist von allen Argumentationen die zynischste; dabei verstanden, Herr Grotthaus!) missbraucht man die Ängste der Jugendlichen um ihren Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, um den Abbau ihrer Ich sage Ihnen: Die Beschränkungen des Jugendar- wichtigsten Schutzrechte zu ermöglichen. beitsschutzes haben nichts damit zu tun, dass Lehrver- träge nicht abgeschlossen werden. Hier sollen junge (Beifall bei der LINKEN) Menschen in die Haft genommen werden, um politische Ich fasse zusammen: Die Gesetzesinitiative der FDP Zielsetzungen zu erreichen. lehnen wir als inhumanen Angriff auf die Schutzrechte (Beifall bei der SPD) von Jugendlichen ab. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Ganz viele Un- (Dirk Niebel [FDP]: Warum sagen Sie nicht ternehmerinnen und Unternehmer in diesem Gewerbe gleich: völkerrechtswidrig?) stellen unabhängig von den Zeiten im Jugendarbeits- schutzgesetz junge Menschen ein. Sie sollten vielleicht Den Plänen der Länder und des Bundes zur weiteren auf den Unternehmer, der den Florian nicht eingestellt Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzes werden wir unse- hat, einwirken und ihn animieren, einmal darüber nach- ren entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Nach zudenken. unserer Überzeugung gehört eine Ausweitung des ge- setzlichen Jugendarbeitsschutzes auf die politische Ta- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto gesordnung. Die heute von uns vorgeschlagene Auswei- Solms) tung des Schutzbereichs auf das 21. Lebensjahr kann hier nur der Anfang sein. Sie begründen die Tatsache, dass weniger junge Men- schen aus dem Haupt- und Realschulbereich eingestellt (B) (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Bis 35! – werden, mit den Beschränkungen des Jugendarbeits- (D) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bis 65!) schutzgesetzes. Sie sagen, hier setze ein Verdrängungs- prozess ein, Abiturienten verdrängten Haupt- und Real- Unsere Fraktion wird noch 2007 einen umfassenden schüler; deswegen müsse die zulässige Arbeitszeit im Vorschlag für die Reform des Jugendarbeitsschutzgeset- Rahmen des Jugendarbeitsschutzgesetzes geändert wer- zes vorlegen. Wir werden vorher mit den Betroffenen den. Die Zielrichtung Ihres Antrages ist aber: Verzichtet – mit Jugendvertretern, Gewerkschaften und Jugendver- auf Arbeitnehmerrechte, hier insbesondere auf den Ge- bänden – darüber diskutieren; deren Stimme ist uns näm- sundheitsschutz! Dann erfolgen mehr Einstellungen von lich wichtig, anscheinend wichtiger als manch anderem Haupt- und Realschülern. in diesem Hause. Man muss sich jetzt die Fragen stellen: Kann das rich- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Da ist absolut tig sein? Wie sieht die Realität aus? Dazu einige Anmer- etwas dran!) kungen: Das Gastgewerbe hat in den vergangenen Jah- Vielen Dank. ren seine Ausbildungszahlen deutlich gesteigert. Dazu haben Sie etwas gesagt; Sie haben Zahlen genannt und (Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido ein Dankeschön an die Unternehmerinnen und Unter- Westerwelle [FDP]: Arbeiten ab 40 und Rente nehmer gerichtet. Den Dank möchte ich wiederholen. mit 50!) (Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Grotthaus, Ich komme gleich aber zu einer anderen Schlussfolge- SPD-Fraktion. rung als Sie. Herr Burgbacher, die reguläre Beschäftigung ist in den vergangenen Jahren zugleich überdurchschnitt- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Der kann da lich abgebaut worden. Die Zahl der neu abgeschlossenen gleich weitermachen!) Ausbildungsverträge mit Jugendlichen unter 18 Jahren ist zwischen 1996 und 2005 um 25 Prozent gestiegen, und Wolfgang Grotthaus (SPD): zwar unabhängig von den Arbeitszeiten in diesem Ge- Danke schön für Ihr Vertrauen, Herr Westerwelle. Ich werbe. Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Nicht ein- komme gleich zu Ihnen bzw. zu Herrn Burgbacher. mal jeder dritte Auszubildende wird nach der Ausbildung in ein Beschäftigungsverhältnis übernommen. In keiner (Dr. [CDU/CSU]: Sag doch anderen Branche ist die Übernahmequote geringer. Ein erst einmal: Herr Präsident!) Schelm, wer dabei auf die Idee kommt, dass hier junge 7568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Wolfgang Grotthaus (A) Menschen in der Ausbildungszeit als billige Arbeitskräfte einen Punkt gehen kann. Wir sollten ähnlich wie bei der (C) genutzt werden. Ich appelliere an die Unternehmerinnen Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes in der und Unternehmer insbesondere in diesem Gewerbe, den letzten Wahlperiode – damit sage ich denjenigen, die die jungen Menschen auch nach ihrer Ausbildung eine Diskussion mitbekommen haben, schon genug – über- Chance zu geben und sie in feste Beschäftigungsverhält- prüfen, ob ein 1976 beschlossenes Gesetz den heutigen nisse – das ist für uns der entscheidende Punkt – und nicht Erfordernissen noch entspricht. Veränderungen im Be- nur in befristete oder in 400-Euro-Jobs einzustellen. trieb, aber auch in der Gesellschaft können Veränderun- gen bei den Gesetzen notwendig machen. Deshalb ist es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gut, dass es zu dieser Thematik einen Arbeitskreis auf der CDU/CSU und der LINKEN) Bund-Länder-Ebene gibt. Wir werden die Ergebnisse ab- Nun sagen die von mir genannten Zahlen letztlich warten. aber noch nichts darüber aus, wie sich in den letzten Jah- Wir werden sehr differenziert diskutieren – davon ren das Verhältnis der Zahl der Abiturenten zu der Zahl gehe ich aus – und danach die Frage der Notwendigkeit der Haupt- und Realschüler verändert hat. Wenn es denn etwaiger gesetzlicher Änderungen bewerten. Dabei – das so sein sollte, dass Abiturienten immer mehr Haupt- und sage ich schon hier und heute ganz klar – wird das be- Realschüler verdrängen, dann hängt dies bestimmt nicht triebliche Interesse nicht vor den gesundheitlichen mit dem Jugendarbeitsschutzgesetz zusammen, sondern Schutz von jungen Menschen gestellt, frei nach dem mit dem insgesamt mäßigen Angebot an Ausbildungs- Motto: Du kannst froh sein, dass du einen Arbeitsplatz stellen am Markt. Hier setzt ein Verdrängungsprozess hast, auch wenn der krank macht und du keine Mitbe- ein, der nicht durch den Abbau von Schutzrechten, son- stimmungsrechte hast. dern nur durch ein Mehrangebot an Ausbildungsplätzen seitens der Unternehmerinnen und Unternehmer aufzu- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. halten ist. Wenn diese Forderung im Antrag der FDP (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auftauchen würde, Kolleginnen und Kollegen der FDP, der CDU/CSU) wäre das ehrlicher und diente der Sache aus unserer Sicht mehr. Dr. (FDP): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin der LINKEN) Brigitte Pothmer vom Bündnis 90/Die Grünen. Also, die Realität sieht anders aus. Deswegen kann Ihr Antrag nur so bewertet werden, dass es Ihnen um Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) eine bestimmte Klientel oder – das scheint mir eher der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ju- (D) Fall zu sein – um einen weiteren Abbau von Schutzmaß- gendarbeitsschutz als Sündenbock für die Ausbildungs- nahmen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. platzmisere – mein Gott, welch eine schlichte Logik Der Antrag der Fraktion Die Linke beinhaltet das Ge- doch bei der FDP vorherrscht! genteil des FDP-Antrags. Der Kollege der CDU/CSU (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat schon einen Vorschlag dazu gemacht, wie man sich und bei der SPD – Dr. Thea Dückert [BÜND- da arithmetisch einigen kann. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Überhaupt keine Lo- (Dirk Niebel [FDP]: Wie bei der Mehrwert- gik! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wir sind steuer!) so schlicht, Frau Kollegin! – Willi Brase [SPD]: Ganz schlicht im Denken, das stimmt!) – Genau! – Hier ist der typische Reflex der Linken fest- zustellen: Es wird ein Antrag ins Plenum eingebracht, – Herr Westerwelle, ich finde, darauf sollten Sie wenigs- der eine Verschlechterung in einem bestimmten Bereich tens nicht auch noch stolz sein. vorsieht. Die Linke sagt dann: Wir müssen den Stand (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht nur halten, wir müssen noch etwas draufsatteln. Sie sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Guido haben gesagt, das sei noch nicht das Ende. Da fällt mir Westerwelle [FDP]: Doch, doch! Es hat bis die Jugendorganisation unserer Partei ein, die Jusos. Da zum Realschulabschluss gereicht!) liegt die Altersgrenze bei 35 Jahren. Vielleicht sollte – den Vorschlag will ich Ihnen von den Linken machen – Abiturienten, so meinen Sie, nehmen den Hauptschü- diese Arbeitszeit nicht nur für Menschen bis 18 oder bis lern Ausbildungsplätze weg, weil sie über 18 Jahre alt 21 Jahre, sondern für Menschen bis 35 Jahre gelten. sind und nicht mehr unter das Jugendarbeitsschutzgesetz fallen. Herr Burgbacher, es trifft tatsächlich zu, dass der (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Frau Nahles, Anteil der Auszubildenden mit Hauptschulabschluss im das ist was fürs Präsidium!) Gaststättengewerbe zurückgegangen ist. Er liegt inzwi- Sie werden dann ungeteilte Zustimmung zumindest bei schen bei 30 bis 35 Prozent. Das ist richtig. Das hat aber einigen jungen Menschen finden. überhaupt nichts mit dem Jugendarbeitsschutzgesetz zu tun. Das liegt vielmehr an den auch in diesem Bereich Wir werden beide Anträge in der weiteren Behand- gestiegenen Anforderungen. Der DEHOGA selbst sagt, lung ablehnen, weil man aus unserer Sicht bei beiden zu dass nur noch die Hälfte aller Ausbildungsplätze in die- kurz gesprungen ist, und zwar deswegen, weil es bei der sem Bereich für Hauptschülerinnen und Hauptschüler Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes nicht nur um zugänglich ist. Da liegt das Problem und nicht im Ju- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7569

Brigitte Pothmer (A) gendarbeitsschutzgesetz. Das hat etwas mit den gestie- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, (C) genen Anforderungen zu tun. Es ist dramatisch, dass das hat etwas mit dem Alter sowie der körperlichen und Hauptschülerinnen und Hauptschüler auf diese gestiege- psychischen Entwicklung zu tun. Es kann doch nicht nen Anforderungen nicht vorbereitet sind. Hier versagt richtig sein, Auszubildende, die ihre Ausbildung erst mit nicht der Jugendarbeitsschutz, sondern das föderale Bil- 18 Jahren beginnen – das sind die meisten –, wie Kinder dungssystem, und zwar mit dramatischen Folgen. zu behandeln. Dieser Logik kann ich nicht folgen, und ich finde sie falsch. Ich glaube im Übrigen, dass die jun- (Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜND- gen Menschen das gar nicht wollen. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich will Ihnen einmal sagen, wo die Arbeit eigentlich sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und zu machen wäre. Nehmen wir einmal das Beispiel Nie- der SPD) dersachsen, wo die FDP mit in der Regierungsverant- wortung steht; sie strebt sie erneut an. In Niedersachsen Frau Golze, ich habe Ihnen sehr genau zugehört. Ich verlassen fast 9 Prozent der Jugendlichen die Schule habe auch Ihren Antrag sehr genau gelesen. Sie argu- ohne Abschluss. Meine Damen und Herren von der FDP, mentieren mit der erhöhten Verletzungsgefahr. In der das ist eine Aufgabe, um die Sie sich einmal kümmern Begründung Ihres Antrags schreiben Sie aber selbst müssten. Dieses Ergebnis ist wahrlich kein gutes Zeug- – ich zitiere –: nis Ihrer Arbeit dort. Der Schwerpunkt von Gefährdungen liegt zudem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns sowie bei Abgeordneten der SPD) – damit ist das Alter gemeint – Ob jemand einen Ausbildungsplatz findet, hängt in erster Linie von seiner Qualifikation ab. Das hängt von in der Frühphase von Ausbildungs- und Erwerbstä- der Nationalität ab. Es hat auch mit regionalen Gegeben- tigkeit. heiten zu tun. Mit einem hat es aber nichts zu tun, näm- Die Gefährdung ist also vom Alter unabhängig. Die Ge- lich mit dem Jugendarbeitsschutzgesetz. Der Jugendar- fährdung hat vielmehr damit zu tun, dass die Leute eine beitsschutz ist notwendig. Er soll die Jugendlichen vor neue, eine ungewohnte Tätigkeit aufnehmen. Sie hat Überforderung und Gefahren schützen. Dieser Schutz nicht in erster Linie mit dem Alter zu tun. Wir sehen da- muss nach unserer Ansicht auch weiterhin gewährleistet her keinen Änderungsbedarf beim Jugendarbeitsschutz, sein. weder in die eine noch in die andere Richtung. (B) Herr Burgbacher, Sie haben heute wieder, wie schon (D) in früheren Debatten, mit dem Ausgehverhalten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jugendlichen argumentiert, frei nach dem Motto: Wer Herr Burgbacher, wenn Sie sich um die Behebung der mit 16 in die Disco geht, kann auch bis 24 Uhr kellnern. Ausbildungsplatzmisere wirklich verdient machen wol- Wie man bei uns zu Hause sagte: Wer feiern kann, der len, müssen Sie gänzlich andere Dinge tun. Dann geht es muss auch arbeiten können. um strukturelle Maßnahmen, um die Modularisierung (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Da ist etwas von Ausbildungsgängen und darum, dass die Änderun- dran, oder?) gen des Berufsausbildungsgesetzes von 2005 endlich auch in den Ländern umgesetzt werden. Vier von Im Prinzip habe ich ja nichts dagegen. Konsequenter- 16 Ländern haben das bisher getan. Darum sollten Sie weise müssten Sie dann aber das Prinzip des Freizeitver- sich einmal kümmern. Es geht auch darum, die duale haltens auf die Arbeitssituation ausdehnen. Dann muss Ausbildung grundsätzlich zu erweitern und zu moderni- auch dort gelten: Ich gehe feiern, wann ich will, ich gehe sieren. Es geht vor allen Dingen darum, die schulische arbeiten, wann ich will, und ich gehe auch nach Hause, Ausbildung erheblich zu verbessern. wann ich will. Wenn Sie dieses Freizeitsprinzip auf die Arbeitssituation übertragen, dann kann daraus etwas Wenn 25 Prozent eines Jahrganges gar keinen oder ei- werden. nen schlechten Schulabschluss haben, dann ist der zen- trale Angriffspunkt an dieser Stelle. Es kann einfach (Dirk Niebel [FDP]: Das ist ja Anarchie! Ge- nicht richtig sein, dass es in Deutschland immer noch nau so haben Sie auch regiert! – Dr. Guido Personen gibt, die die Schule mit dem Etikett „Nicht Westerwelle [FDP]: Das ist die Politik der ausbildungsfähig“ verlassen. Vor dieser Aufgabe stehen Grünen!) wir. Ich finde, Sie sollten diese törichten Argumente Ich habe das Gefühl, dass Sie das nicht wirklich inte- schlicht und ergreifend aus dem Spiel lassen. Jugendli- ressiert. Sie begreifen sich eher als verlängerter Arm des che stehen doch deswegen unter dem besonderen Schutz DEHOGA. Denn der Gesetzentwurf, den Sie hier vorge- des Staates, weil ihre psychische und physische Ent- legt haben, entspricht eins zu eins dem, was der wicklung mit 16 Jahren noch nicht abgeschlossen ist. Es DEHOGA fordert. macht Sinn, dass wir sie schützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sowie bei Abgeordneten der SPD) NEN]: Lobbyisten!) 7570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Brigitte Pothmer (A) Wahrscheinlich, Herr Westerwelle, hatten auch Sie Rede. Ich richte an Sie folgende Frage: Haben Sie über- (C) eher den DEHOGA als die Jugendlichen im Blick, als haupt schon einmal einen Betrieb von innen gesehen, so- Sie die FDP zum Anwalt der „vergessenen Mitte“ ausge- dass Sie hier überhaupt mitreden können? rufen haben. Gemeint haben Sie damit diejenigen – ich zitiere Sie jetzt einmal –, „die morgens nicht liegen blei- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- ben, sondern aufstehen, ihre Kinder zur Schule bringen wie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Guido und arbeiten gehen.“ Was soll das eigentlich heißen? Westerwelle [FDP]: Sehr gute Frage!) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nicht jede Denn Ihre Ausführungen waren völlig weltfremd. dumme Frage muss ich beantworten!) Ich verweise deshalb darauf, dass es heute darum Heißt das, dass die 4 Millionen Menschen ohne Arbeit geht, dabei zu helfen, Entscheidungen herbeiführen, die Faulenzer sind? Heißt das, dass sich Arbeitslose nicht dringend erforderlich sind, um der Jugendarbeitslosig- um ihre Kinder kümmern? Heißt das, dass Schulabbre- keit verstärkt begegnen zu können und noch mehr Aus- cher selber schuld sind? Herr Westerwelle, diese Fragen bildungsplätze zu schaffen. Schließlich ist die Ausbil- müssen Sie beantworten. Sie sind nicht der Anwalt der dung der Schlüssel zur Zukunft. „vergessenen Mitte“ der Gesellschaft, sondern mit dieser (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) Politik kann man die FDP als Anwalt der Gesellschaft vergessen. Wir alle sagen ja: Alle Jugendlichen müssen einen Aus- bildungsplatz bekommen. Ich danke Ihnen. Ich freue mich, heute sagen zu dürfen, dass zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stichtag 30. September 2006 4,8 Prozent mehr Ausbil- sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Guido dungsplätze zur Verfügung standen als im Vorjahr. Die Westerwelle [FDP]: Jetzt bekomme ich sogar gute Konjunktur macht sich nun auch auf dem Ausbil- noch Berufsverbot!) dungsmarkt bemerkbar. Deshalb sage ich ein herzliches Dankeschön an alle Betriebe, die bereit waren, zusätzli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: che Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, um den Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Hinsken von der jungen Mitbürgern das notwendige Rüstzeug für die Zu- CDU/CSU-Fraktion. kunft zu geben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (B) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Insbesondere im Hotel- und Gaststättenbereich hat (D) Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- man eine federführende Rolle übernommen. Allein hier men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sind über 100 000 Azubis beschäftigt. In dieser Branche (Dirk Niebel [FDP]: Jetzt aber ehrlich bleiben, werden mittlerweile 9 Prozent der Ausbildungsverträge Herr Hinsken!) abgeschlossen. Sie ist Spitzenreiter. Das sollte einmal gesagt und anerkannt werden. Diese Zukunftsbranchen Ich verhehle nicht, dass ich mit vielem, was Herr – so möchte ich Hotellerie und Gastronomie bezeichnen – Burgbacher hier ausführte, sympathisiere. könnten noch viel mehr ausbilden, wenn Restriktionen wegfielen. (Beifall bei der FDP)

Ich werde im Laufe meiner Rede versuchen, das eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder andere aus meiner Sicht zu beleuchten. Herr Kollege Hinsken, erlauben Sie eine Zwischen- (Dirk Niebel [FDP]: Ist Ihre Sicht auch die der frage der Kollegin Bulling-Schröter? Regierung?) Ich glaube, dass gerade in dem Stadium, in dem wir Ernst Hinsken (CDU/CSU): uns jetzt befinden, auf die Arbeitsgruppe gesetzt werden Selbstverständlich, gern. muss, die bis zum März dieses Jahres zu einem Ergebnis kommen wird, das zugrunde gelegt wird, um eine akzep- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): table Lösung für alle Seiten zu finden, die zugleich als Danke schön. – Kollege Hinsken, ist Ihnen bekannt, praktikabel bezeichnet werden kann. dass man sich in den Berufsschulen darüber Gedanken macht, warum Azubis aus bestimmten Branchen sehr oft (Beifall bei der CDU/CSU) im Unterricht einschlafen? Zu Ihnen, verehrte Frau Kollegin Golze, möchte ich (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) nur sagen: Das, was Sie hier ausführten, war für mich Klassenkampf pur. In einem Artikel meiner Heimatzeitung, dem „Donauku- rier“, den Sie als Bayer ja kennen, stand, dass vor allen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dingen Azubis, die in einem touristischen Gebiet in der neten der FDP) Nähe meines Wahlkreises im Gaststättengewerbe tätig Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, Ausbeu- sind, sehr lange arbeiten müssen und zu spät zum Unter- tung, Horrorszenarien und dergleichen bestimmten Ihre richt kommen, weil sie vorher halbe Nächte durcharbei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7571

Eva Bulling-Schröter (A) ten mussten. Wie stehen Sie dazu? Das ist in besagter die gesetzlichen Grundlagen und Bestimmungen nicht (C) Zeitung nachzulesen. Das heißt, es handelt sich hierbei eingehalten werden, dann sollten sich die Betroffenen um keine übertriebene Darstellung. – ich empfehle Ihnen, dies auch den Leuten, die zu Ihnen kommen, zu sagen – bei den zuständigen Ämtern da- Ernst Hinsken (CDU/CSU): rüber beschweren. Dann könnte kontrolliert werden, ob Verehrte Frau Kollegin, ich weiß nicht, in welchen ihre Ausführungen zutreffend sind oder nicht. Schulen geschlafen wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich fürchte, in Meine Damen und Herren, ich habe vorhin gesagt, jeder!) dass es mir vor allen Dingen darum geht, dass Restrik- Wenn das in Ihrer Heimat der Fall ist, dann bitte ich Sie, tionen wegfallen. Hier sind wir als Gesetzgeber gefragt. dafür zu sorgen, dass das möglichst bald abgestellt wird. Eine Möglichkeit hierfür besteht in der Anpassung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Ich halte die Aussage des Außerdem ist für mich nicht nachvollziehbar, dass Präsidenten des Deutschen Hotel- und Gaststättenver- Schüler, wie Sie sagen, zu spät zum Unterricht kommen. bandes Ernst Fischer für interessant, dass allein durch Das liegt dann auch an der Schule. Diese hat ja die Mög- eine generelle Heraufsetzung der Nachtruhegrenze bei lichkeit, dafür zu sorgen, dass jeder so pünktlich er- Auszubildenden unter 18 Jahren auf 23 Uhr und an Ta- scheint, wie es auch beim Arbeitsplatz erwartet wird. gen vor Berufsschulunterricht auf 21 Uhr mindestens (Zuruf der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE 2 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen werden könn- LINKE]) ten. – Ich habe Ihre Frage sehr wohl verstanden. (Zuruf von der LINKEN: Das glauben Sie doch selber nicht!) In diesen Fällen sind, wie ich meine, nicht wir gefor- dert und gefragt, sondern hierfür gibt es gesetzliche – Erstens glaube ich das, und zweitens finde ich das rich- Grundlagen. Wenn die eingehalten werden, dann trägt tig, was er sagt. – Deshalb trete ich für eine Korrektur das dazu bei, dass die Schüler dem Schulunterricht fol- ein und hoffe, dass die Arbeitsgruppe, die sich mit die- gen können, statt einzuschlafen. sen Fragen beschäftigt, zu entsprechenden Ergebnissen Ihre Ausführungen kann ich auch insofern nicht nach- kommt; vollziehen, als man ja gar nicht weiß, wo der Jugendli- (Beifall bei der FDP – Peter Rauen [CDU/ che am Abend vor dem Berufsschulunterricht war. War CSU]: Richtig! – Zuruf von der FDP: Ein auf- er im Betrieb oder war er zu guter Letzt in der Disco? rechter Schwarzer!) (B) Wenn er dort bis 24 Uhr oder 1 Uhr war, dann kann ich (D) mir vorstellen, dass er müde ist und sich nicht so wie die denn was bei Mehrschichtbetrieben möglich ist, muss anderen auf den Unterricht konzentrieren kann. doch überall möglich sein. (Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Eva (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Bulling-Schröter [DIE LINKE] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage) Verehrte Frau Kollegin Pothmer, was in Österreich möglich ist – die haben das nämlich 2001 in dem Sinne – Meine Kollegen signalisieren mir, ich solle mit der geändert, wie der Antrag lautet; unter Umständen ma- Rede fortfahren. Aber gut, ich lasse noch eine weitere chen wir das ja auch –, das muss auch bei uns möglich Zwischenfrage zu. sein. Da ist die Situation so, dass sie betriebsfreundlich ausgestaltet ist und dem Jugendlichen gesagt wird, wenn Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): viel Umsatz da ist, wenn viel Arbeit da ist, dann lernst Kollege Hinsken, ich habe jetzt bayerisch gespro- du am meisten und dann darfst du nicht durch Abwesen- chen; wir beide verstehen ja sehr gut Bayerisch. Es geht heit glänzen. nicht darum, dass Schüler abends in der Disco oder sonst (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wo waren, sondern es war nachweislich so, dass sie we- bei der FDP) sentlich länger als acht Stunden und auch deutlich nach 22 Uhr arbeiten mussten, und das über Wochen hinweg. Schließlich hat sich die Praxis in den Betrieben verän- Es geht auch nicht darum, dass die Schüler faul oder un- dert. Viele Betriebe – das kann nicht beiseitegeschoben diszipliniert wären. Es liegt auch nicht an der Schule. werden – haben mittags geschlossen. Das Ausgehverhal- Vielmehr haben in einigen Fällen Arbeitgeber ihre Azu- ten hat sich in die Abendstunden verlegt. bis – Eltern haben sich sogar bei mir persönlich be- schwert – sehr lange, also deutlich über 22 Uhr hinaus, arbeiten lassen, unter anderem auch deswegen, weil am Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Personal gespart wurde. Herr Kollege Hinsken, entschuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal unterbreche. Erlauben Sie eine Zwischen- frage der Kollegin Faße von der SPD-Fraktion? Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sie wissen, dass es gegen die gesetzlichen Grundla- gen und Bestimmungen verstößt, wenn ein Azubi länger Ernst Hinsken (CDU/CSU): als acht Stunden zur Arbeit herangezogen wird. Wenn Selbstverständlich. 7572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Übrigens, die Ausnahme der Beschränkung bei (C) Bitte, Frau Faße. Schichtbetrieben – dort haben wir es doch – benachtei- ligt vor allem kleine Unternehmen, und die bilden doch am meisten aus. Profitieren würden von einer solchen Annette Faße (SPD): Regelung gerade die Real- und Hauptschüler, die noch Sehr geehrter Herr Kollege Hinsken, geben Sie mir nicht 18 Jahre alt sind. Die Gastronomie – das haben Ge- Recht, dass wir im DEHOGA-Bereich Probleme haben, spräche ergeben – wäre zufriedener und würde es lieber weil Stellen nicht besetzt sind? Könnte das vielleicht ers- sehen, wenn sie Real- und Hauptschüler bekommt – da tens daran liegen, dass schon diese Ausbildungsstellen die dauerhaft in der Branche bleiben –, anstatt nur Abitu- sehr unattraktiv sind? Könnte es zweitens an der Bezah- rienten einzustellen. lung liegen? Könnten Sie mir drittens sagen, warum wir so viele Abbrüche in diesem Bereich haben? Müssten Ich habe auch – es ist mir ganz wichtig, das hier zu wir uns nicht viertens vermehrt damit auseinandersetzen, sagen – mit betroffenen Jugendlichen in Betrieben ge- dass junge Leute in diesem Bereich sehr wohl ungesetz- sprochen, als ich dafür warb, vermehrt Ausbildungs- lich beschäftigt werden, statt uns damit auseinanderzu- plätze zur Verfügung zu stellen. Sie werden es nicht setzen, ob wir eine Stunde mehr oder weniger draufpa- glauben – ich bin gerne bereit, den Kontakt zu diesen Ju- cken? Ich glaube, wir müssen uns mit den Inhalten, mit gendlichen zu vermitteln –: Da gab es verständnisvolle der Form der Ausbildung in diesem Bereich sehr inten- Reaktionen. Sie sehen es doch selber, dass man, wenn siv auseinandersetzen. Aber es kann nicht sein, dass hier die meiste Arbeit da ist, nicht einfach nach Hause gehen gilt: Es sind unbesetzte Arbeitsplätze da, und das liegt an kann, sondern bereit sein muss, mitzuhelfen, damit es im der Altersbeschränkung 18 Jahre. Geben Sie mir recht, Betrieb einigermaßen läuft. dass hier eine Vielzahl von Themen bearbeitet werden muss, aber bestimmt nicht das letzte? (Andrea Nahles [SPD]: Die Ausnahme von der Regel!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Die Ausdehnung der Arbeitszeit führt übrigens nicht zu einer Gesundheitsgefährdung. Schauen Sie, auch ein Bäckerlehrling ist nicht gefährdet, weil er schon als 17-Jäh- Ernst Hinsken (CDU/CSU): riger um 4 Uhr mit der Arbeit beginnen muss. Bereits Verehrte Frau Kollegin Faße, in verschiedener Hin- jetzt dürfen Jugendliche ab 16 Jahren öffentliche Tanz- sicht gebe ich Ihnen recht. Aber ich meine, gerade das, veranstaltungen bis 24 Uhr allein besuchen. was Sie jetzt alles angesprochen haben, müsste einmal in den dafür zuständigen Gremien angesprochen werden. (Iris Gleicke [SPD]: Ja! Die fangen aber auch (B) Es muss angesprochen werden, inwieweit das zutrifft, erst um 23 Uhr an!) (D) und wenn es zutrifft, müssen Maßnahmen ergriffen wer- den, um Missstände abzustellen. Ansonsten bin ich Ich bin der festen Überzeugung, dass das ein vernünfti- schon der Meinung, dass gerade im Hotellerie- und ger und richtiger Schritt ist. Gaststättenbereich – damit habe ich sehr viel zu tun – An dieser Stelle möchte ich an die Verhandlungspart- immer gute Arbeit geleistet wird, hervorragend ausgebil- ner in der Bund-Länder-Kommission, die beim Bundes- det wird. minister für Arbeit angesiedelt ist, appellieren: Geben Wenn wir immer wieder sagen, die Tourismusbranche wir uns doch alle einen Ruck, und gestalten wir die Aus- ist eine Leitökonomie des 21. Jahrhunderts – und dazu bildungszeiten auf dem Sektor Hotellerie und Gastrono- gehören auch Hotellerie und Gastronomie –, dann soll- mie so, wie ich es beschrieben habe! Niemandem fällt ten wir auch das Notwendige an Maßnahmen ergreifen, eine Perle aus der Krone, wenn er, ohne dass die Ge- um vermehrt Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stel- samtarbeitszeit verlängert wird, täglich eine Stunde län- len und Qualität während der Ausbildungszeit zu vermit- ger arbeitet. teln, die wir dringend brauchen, um auch in Zukunft be- (Peter Rauen [CDU/CSU]: Richtig!) stehen zu können. So könnten wir die Grundlage dafür schaffen, dass ord- (Beifall bei der CDU/CSU) nungsgemäß ausgebildet werden kann und die Ausbil- Meine Damen und Herren, ich habe noch einmal aus- dungsplätze, die wir dringend benötigen, auch in Zu- geführt, dass sich das Ausgehverhalten der Gäste in die kunft vorgehalten werden können. Abendstunden verlagert hat. In den Sommermonaten Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. sind die Restaurants oft noch um 22 Uhr voll besetzt. Und wenn der Azubi dann seine Tätigkeit beendet und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – den Löffel fallen lässt, dann stört das den Betriebsablauf. Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Was ist denn Im Restaurant muss doch die Arbeit dann gemacht wer- jetzt die Haltung der Union?) den, wenn sie anfällt. (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Arbeitskräfte auf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Abruf?) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion. Gastwirte müssen sich nach dem Gast richten und nicht umgekehrt. Dazu brauchen sie auch die Mitarbeiter. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7573

(A) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Deswegen muss man wirklich versuchen, die konkrete (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- Einstellungssituation in den Blick zu nehmen und die statten Sie mir zwei Vorbemerkungen. Erstens. Da ich Entscheidung der Betriebe nachzuvollziehen. Der 18-jäh- nur vier Minuten Redezeit habe, lasse ich Zwischenfra- rige Abiturient hat also das Prä. gen zu. Es wurde vom Kollegen Grotthaus darauf hingewie- (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) sen, dass nur ein Drittel aller Auszubildenden übernom- men wird. Herr Kollege Grotthaus, dass dem so ist, Zweitens. Das, was du, lieber Ernst, gesagt hast, werte könnte auch an den Auszubildenden liegen. Denn viele ich als Bestätigung der Position der FDP. Du hast deine Abiturienten, die ihre Ausbildung in dieser Branche in Aussage heute zwar ein bisschen verklausuliert – viel- der Tasche haben, beginnen anschließend mit einem Stu- leicht gilt also doch Marx, dass das Sein das Bewusst- dium der Tourismuswirtschaft oder einer vergleichbaren sein bestimmt –, aber ich zitiere gerne, was du in der De- Fachrichtung. Deswegen haben sie ihrerseits gar kein In- batte vom 10. März 2005 unmissverständlich ausgeführt teresse, nach ihrer Ausbildung dauerhaft in diesem Be- hast: reich zu arbeiten. Der Vorschlag der FDP, das Jugendarbeitsschutzge- (Ernst Burgbacher [FDP]: Völlig richtig!) setz zu ändern, findet … unsere volle Unterstüt- zung. Warum? Weil er in die richtige Richtung geht. Die Betriebe hingegen würden sich sehr freuen, wenn Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, zu sagen, mehr Haupt- und Realschüler ihre Ausbildung bei ihnen einem über 16-Jährigen sei es nicht zuzumuten, bis beginnen würden. Denn Haupt- und Realschüler bieten 23 Uhr zu arbeiten … die Gewähr, auf Dauer im Unternehmen zu bleiben. Wa- rum sollte man den Betrieben das nicht ermöglichen? Das war damals noch der unverfälschte Originalton von Ernst Hinsken. Heute klang das ein bisschen modifi- (Beifall bei der FDP) zierter. Auch der Zwischenruf von Klaus Brähmig da- mals ist in diesem Zusammenhang interessant: dass das Ich finde es wieder einmal bemerkenswert, wie ver- Jugendarbeitsschutzgesetz so schnell wie möglich abge- quer die Linken denken. Das kann man sehr gut daran schafft gehört. erkennen, wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf argumentie- ren: Weil junge Menschen immer später in die Ausbil- (Zurufe von der FDP: Aha!) dung eintreten, wollen Sie den Geltungsbereich des An dieser Stelle möchte ich beide beim Wort nehmen. Jugendarbeitschutzgesetzes von 18 auf 21 Jahre ausdeh- Wenn richtig ist, was unser Altbundeskanzler nen. Das Gegenteil wäre richtig: Frühere Einschulung, Dr. Helmut Kohl gesagt hat kürzere Schulzeiten, kürzere Ausbildungszeiten, das wä- (B) ren die Antworten, die wir im Sinne des Ganzen und (D) (Zurufe von der SPD: Oh!) auch im Sinne der Finanzierung unserer Sozialsysteme geben müssten. – entscheidend ist, was hinten herauskommt –, dann ist heute der Zeitpunkt gekommen, um zu springen und zu (Beifall bei der FDP) entscheiden. Hic Rhodus, hic salta! Ein Allerletztes – weil niemand Zwischenfragen ge- Wenn im Jugendarbeitsschutzgesetz in der von beiden stellt hat; ich bin sehr enttäuscht, liebe Kolleginnen und festgestellten Weise Restriktionen bestehen, dann ist Kollegen! –: beim Gesetzentwurf der FDP die Hand zu heben. Ich fordere zumindest alle Kolleginnen und Kollegen von (Willi Brase [SPD]: Peinlich!) der Union auf, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Räumen Sie auf mit der Mär, Auszubildende seien bil- Natürlich lade ich auch die Kolleginnen und Kollegen lige Arbeitskräfte! Das mag vor dreißig, vierzig Jahren von der SPD ein, das Gleiche zu tun. so gewesen sein. Heute sind Auszubildende längst nicht (Beifall bei der FDP) mehr billige Arbeitskräfte. Wenn Sie sich die betriebs- wirtschaftlichen Kalkulationen ansehen, dann sehen Sie, Dass die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit dass Aushilfskräfte und Teilzeitkräfte für die Betriebe al- eine der zentralen Aufgaben unserer Arbeitsmarktpolitik lemal billiger sind. Wir wollen aber, dass die jungen und der Politik insgesamt ist, ist unbestritten. Aber die Menschen eine Chance bekommen. Dafür ist der Gesetz- Politik muss auch dafür sorgen, dass es Rahmenbedin- entwurf der FDP der richtige Weg. Ich empfehle Ihnen gungen gibt, die es den Betrieben ermöglichen, auszubil- nochmals, ihm zuzustimmen. den. Der Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion ist ein Beitrag, bestehende Barrieren abzubauen, mit denen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sich Jugendliche unter 18 Jahren bei der Ausbildungs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten platzsuche insbesondere im Hotel- und Gaststättenge- der CDU/CSU) werbe konfrontiert sehen. Ich will es auf den Punkt brin- gen: Das Jugendarbeitsschutzgesetz soll Jugendliche bei der Arbeit schützen, aber es soll sie nicht vor der Arbeit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schützen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Nahles von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 7574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Andrea Nahles (SPD): Ich will auch ganz klar sagen, dass wir hier von der (C) Lieber Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und FDP eine falsche Rechnung vorgeführt bekommen: dass Kollegen! Herr Kolb, wir haben – das ist mir durch Ihren weniger Jugendarbeitsschutz mehr Arbeitsplätze be- Redebeitrag deutlich geworden – in der Tat eine große deute. Tatsache ist, dass wir bereits zweimal – 1984 so- Lücke im Jugendarbeitsschutzgesetz: Es fehlt, dass man wie 1996 unter der Regierung Kohl, an der Sie von der die Jugendlichen auch vor Ihnen, der FDP, schützen FDP ja beteiligt waren – muss. Das scheint mir das größte Manko zu sein. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich erinnere (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der mich genau!) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- deutliche Verschlechterungen der Jugendarbeits- NEN) schutzbedingungen hatten: Verlängerung der Arbeits- Es ist schon bedauerlich, dass wir uns ausgerechnet zeiten, Schichtdienstverlängerung, all das, was Sie jetzt heute, wo die EU-Arbeitsminister und -Sozialminister wieder fordern. Wenn wir uns aber anschauen, wie sich im Rahmen unserer EU-Ratspräsidentschaft zum ersten die Anzahl der Ausbildungsplätze im Zeitraum von Mal hier in Berlin zusammenkommen und das Thema 1984 über 1996 bis heute entwickelt hat, muss man fest- „Gute Arbeit“ behandeln, mit Ihrem Gesetzentwurf be- stellen: Das ist dramatisch. fassen müssen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat auch et- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Da müssen Sie was mit der Konjunktur zu tun!) jetzt durch, Frau Kollegin!) Im Jahre 1984 gab es noch circa 720 000 betriebliche Ganz Europa versteht, dass wir die Lernbedingungen, Ausbildungsplätze. Im Jahre 1996 gab es in Gesamt- die Weiterbildungsbedingungen für Arbeitnehmer ver- deutschland nur noch ungefähr 600 000 betriebliche bessern müssen, für junge wie für alte. Ganz Europa ver- Ausbildungsplätze. Im Jahre 2005 gab es nur noch steht, dass wir nicht mehr Deregulierung brauchen, son- 590 000 betriebliche Ausbildungsplätze. dern mehr Prävention. Wenn die Leute bis 67 arbeiten Das muss uns doch dazu ermuntern, die Ursachen da- sollen, müssen wir mit dem Gesundheitsschutz, mit dem für ehrlich zu benennen. Das hat nichts damit zu tun, ob Arbeitsschutz schon bei den Auszubildenden Ernst ma- eine Stunde länger gearbeitet wird oder nicht, sondern chen. das hat mit dem gravierenden Strukturwandel und damit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zu tun, dass die Ausbildungsquoten in den Großbe- trieben halbiert wurden. Das hat auch damit zu tun, dass Ganz Europa begreift das, nur die FDP nicht. Es tut mir sich immer mehr Betriebe aus der Ausbildungsverant- (B) leid: Das ist ein Armutszeugnis. wortung zurückgezogen haben. In Deutschland bilden (D) (Beifall bei der SPD) mittlerweile nämlich nur noch 23 Prozent der Betriebe aus. Das sind die entscheidenden Skandale, über die wir Es ist eine Absurdität, hier zu hören, wir hätten die reden müssen. Realitäten nicht im Auge. Das haben wir sehr wohl. Schauen Sie einmal in den Ausbildungsreport, den der Ich sage von meiner Seite: Der Ausbildungspakt hat DGB dankenswerterweise angefertigt hat, und gucken im letzten Jahr nur gerade so eben und mit größter Mühe Sie sich an, was die jungen Leute selber über ihre Aus- sowie übrigens einer massiven staatlichen Hilfe – wir bildungssituation berichten! Da haben wir zum Beispiel haben die EQJs ausgebaut – funktioniert. Das war okay. den Fall eines Kochs, der beschreibt, wie er jeden Tag Für das Jahr 2007 kann das aber wahrscheinlich nicht mehr als zehn Stunden, meistens zwölf Stunden, arbeitet das letzte Wort gewesen sein. Wir müssen diesen Ausbil- – auf der Basis des jetzigen Jugendarbeitsschutzgesetzes – dungspakt weiterentwickeln, damit wir den jungen Leu- und wie ihm die Chefin, wenn er sich ein bisschen Lern- ten am Ende auch entsprechende Ausbildungsangebote zeit ausbedingt, weil ihm die Ausbildung wichtig ist, mit machen können. Rausschmiss droht, wenn er nicht macht, was sie will. In (Beifall bei der SPD) Betrieben wird, gerade weil es einen Ausbildungsplatz- mangel gibt, zunehmend Druck auf die Auszubildenden Ein weiterer Punkt. Das Ganze geht ja auf das Saar- ausgeübt, sie werden de facto stückchenweise um ihre land zurück. Wir haben heute auch hier gehört, dass es in Rechte betrogen. Das sind die Realitäten in den Ausbil- der Union einige Befürworter gibt. Ich selber komme dungsbetrieben. Dem jetzt auch noch das Siegel der Le- aus Rheinland-Pfalz, wo die Strukturen, wie Sie wissen, gitimation aufzudrücken, denen noch zu sagen: „Jawohl, sehr ähnlich wie die im Saarland sind. Es ist sehr interes- ihr tut recht, lasst es weiter so laufen“, das können wir sant, zu beobachten, wie die Realitäten dort aussehen. nicht akzeptieren. Wir müssen uns vielmehr zum Anwalt Vor wenigen Tagen war ich in der Arbeitsagentur in der Interessen der jungen Menschen machen. Auch meinem Wahlkreis. Mir fiel dabei auf, dass der Zuwachs wenn es zu wenige Ausbildungsplätze gibt, ist uns die bei den freien Fördermitteln sehr groß war. Ich habe ge- Situation in der Ausbildung nicht egal. fragt, warum sie besonders viele Zuwächse bei der Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten währung von Mitteln nach § 10 SGB III haben. Sie be- der CDU/CSU und der LINKEN) richteten mir: Na ja, wir mussten den Auszubildenden in letzter Zeit sehr oft und mit sehr unkonventionellen Din- Das ist eine der zentralen Botschaften, die vom heutigen gen unter die Arme greifen. Wir kaufen ihnen zum Teil Tag ausgehen muss. Mofas und Mopede oder unterstützen sie dabei. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7575

Andrea Nahles (A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: „Mopede“? Wo [FDP]: Gehen Sie mal mit der guten Freundin (C) haben Sie denn gelernt, dass das die Mehrzahl Frau Nahles anständig um!) von Moped ist? – Dirk Niebel [FDP]: Sie sind doch Literaturwissenschaftlerin!) Gitta Connemann (CDU/CSU): Ich habe nachgefragt: Mofas und Mopede? Das hätte ich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie alle mir auch gewünscht. – Das, was dahinter steckt, ist ganz kennen bestimmt die Geschichte vom Hans Guckindie- banal: Die jungen Menschen müssen immer weiter zu ih- luft: rem Ausbildungsplatz fahren, nämlich 20 oder auch Wenn der Hans zur Schule ging, 30 Kilometer. Stets sein Blick am Himmel hing. Selbstverständlich gibt es weder bei Ihnen im Saar- Nach den Dächern, Wolken, Schwalben land, wo Herr Müller die Anliegen des DEHOGA unter- schaut er aufwärts, allenthalben: stützt, noch bei uns in der Eifel einen ausreichenden öf- Vor die eignen Füße dicht, fentlichen Personennahverkehr. Dadurch sind die jungen Ja, da sah der Bursche nicht. Leute ernstlich gezwungen, mit ihren Mofas – den Acht- So heißt es im „Struwwelpeter“. Ich zitiere daraus heute zigern, wie sie so schön heißen – durch die Gegend zu nicht, weil es um Jugendliche geht, sondern weil mich düsen. Im Sommer ist das vielleicht kein Problem, aber einige Wortbeiträge, aber auch die vorliegenden Anträge bei einem Wetter wie heute und im tiefen Winter ist das an das Verhalten von Hans erinnern. Sie richten den anders. Blick nur auf das, was sie sehen wollen, aber nicht auf 16- und 17-Jährige müssen zusätzlich zu ihrer eigent- die Realität. lichen Berufsausbildungszeit weite Wege mit einer klei- Dabei verdient das Jugendarbeitsschutzgesetz sicher- nen Achtziger bzw. einem Moped zurücklegen. Das ist lich eine ernsthaftere Debatte, als sie heute stattgefunden in den ländlichen Regionen in Deutschland kein Einzel- hat. Denn immerhin geht es darin um den Schutz von fall. Ich frage mich: Wollen wir ihnen noch zusätzliche Jugendlichen vor Überforderung und Gefahren am Arbeitszeit auf die Schultern packen? Ich sage: Nein. An Ausbildungs- und Arbeitsplatz. So hat das Nachtar- dieser Stelle muss ganz klar auch das Recht der jungen beitsverbot des § 14 den Zweck, den Jugendlichen eine Leute gesehen werden. ausreichende Nachtruhe zu sichern. (Beifall bei der SPD) Eine ausreichende Nachtruhe ist für jeden Men- Lassen Sie mich als Letztes sagen: Ich höre von Ihnen schen lebenswichtig, für junge, in der Entwicklung immer das Wort „Generationengerechtigkeit“. Die FDP stehende Menschen ganz besonders. (B) sagt immer wieder, Generationengerechtigkeit habe (D) So heißt es in der amtlichen Begründung zum Gesetz. für sie Priorität. Ich höre das immer dann, wenn es um die Rente geht und Sie den Leuten sagen, dass sie mehr Dieses Gesetz stammt aus dem Jahre 1976. Die Er- Eigenverantwortung übernehmen müssen. In Wirklich- kenntnis, dass Jugendliche eine ausreichende Nachtruhe keit geht es dabei um die privaten Versicherungen, die brauchen, hat an Aktualität nichts verloren. Aber es gilt Profite machen, wenn zusätzliche Lebensversicherungen auch die Erkenntnis, dass Jugendliche von heute sich abgeschlossen werden. körperlich und geistig schneller entwickeln als vor 30 Jahren. Das möchte ich ausdrücklich nicht mit deren Wenn es bezüglich der Generationengerechtigkeit um Freizeitverhalten begründen. Jugendliche gehen sicher- die Rechte von jungen Menschen und der jungen Gene- lich heute länger aus als früher. Aber mögliche Freizeit- ration geht, dann ist bei Ihnen aber Fehlanzeige. aktivitäten und der Schutzzweck dieses Gesetzes stehen (Dirk Niebel [FDP]: Zum Beispiel das Recht nicht auf demselben Blatt. auf einen Ausbildungsplatz?) (Zuruf von der SPD: So ist es!) Sie sollten wirklich versuchen, die Generationengerech- tigkeit nicht nur dann auf Ihren Schild zu heben, wenn es Es geht ausschließlich darum, welchen Schutzes Jugend- einzelnen Interessengruppen nutzt, sondern Sie sollten liche bedürfen, und zwar angesichts ihrer Reife. Diese die Generationengerechtigkeit auch als etwas begreifen, entwickelt sich heute schneller. Das hat der Gesetzgeber was beim Arbeitsschutz und bei den Arbeitsbedingungen übrigens erkannt und weitgehend reagiert. Ich erinnere der jungen Menschen in der Ausbildung anfängt. nur an die Herabsetzung der Volljährigkeitsgrenze von 21 auf 18 Jahre. Ein 18-Jähriger ist voll geschäftsfä- Vielen Dank. hig – mit allen Konsequenzen. Die Änderungen im Ju- gendschutzgesetz will ich hier gar nicht anführen. Auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weitere Beispiele ließen sich nennen. der CDU/CSU und der LINKEN) Allein das wäre schon Argument genug, um das Ju- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gendarbeitsschutzgesetz auf seine Aktualität hin zu prü- Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von fen. Hinzu kommt aber, dass die Novellierung ange- der CDU/CSU-Fraktion. mahnt wird, und zwar zum einen von den Ländern und zum anderen auch von Ausbildungsbetrieben. Diese (Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder Ausbildungsbetriebe sollten wir ernst nehmen. Ich [CDU/CSU]: Eine gute Frau! – Dirk Niebel muss Ihnen sagen: Als ich hier den einen oder anderen 7576 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Gitta Connemann (A) Wortbeitrag gehört habe, hat es mich geschaudert, und Hier besteht offensichtlich eine Ungleichbehandlung, (C) zwar durchaus auch bei dem, was Sie gesagt haben, Frau die kaum durch den Gesundheitsschutz gerechtfertigt Nahles, um das in aller Deutlichkeit zu sagen. sein kann und die zulasten kleinerer Betriebe geht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Nahles, Sie haben ja recht, wenn Sie sagen, die Ausbildungsquote bei großen Betrieben sei massiv rück- So eine verzerrte Wahrnehmung von Ausbildungsbetrie- läufig. Wir haben Stabilität am Ausbildungsmarkt wegen ben! Es ist gar keine Frage: Ein Ausbildungsbetrieb, der der kleinen und mittleren Betriebe. Genau diesen soll- sich nicht an die Vorschriften des Jugendarbeitsschutz- ten wir deshalb unter die Arme greifen. gesetzes hält, wie sie dargestellt worden sind, verhält sich nicht nur nicht korrekt, sondern – ich bitte um Ent- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schuldigung – das ist unter aller Sau, und dann sollte Es gibt auf jeden Fall Gründe genug, über eine Novel- man ihn entsprechend anzeigen. lierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes nachzudenken. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die einschlägige EU-Richtlinie schafft Raum dafür. Der NEN]: Was ist das denn für ein unparlamenta- Kollege Hinsken hat bereits erwähnt, dass das Nachbar- rischer Ausdruck?) land Österreich davon schon Gebrauch gemacht hat. – Ich komme aus der Landwirtschaft; deswegen darf ich Vor diesem Hintergrund hat der Länderausschuss für das so nennen. Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik gefordert, das Ju- gendarbeitsschutzgesetz den heutigen Bedürfnissen an- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) zupassen und zu modernisieren. Die von uns gemeinsam getragene Bundesregierung hat darauf reagiert und eine Aber es geht in diesem Fall darum, ein Gesetz weiter- Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese wird zuentwickeln, und zwar im Sinne von Ausbildung. jetzt prüfen, ob Änderungen erforderlich sind, um die Denn eine Ausbildung ist das beste Kapital für die Zu- Ausbildungs- und Beschäftigungschancen junger Men- kunft junger Menschen. Erst diese gibt ihnen das Rück- schen zu verbessern. grat für den Arbeitsmarkt. Da hat sich die Situation si- cherlich entspannt; aber es gibt nach wie vor zu wenig Bei allen Überlegungen muss natürlich die Gewähr- Ausbildungsplätze, obwohl in Hotellerie und Gastrono- leistung des Gesundheitsschutzes der Jugendlichen an mie noch Ausbildungspotenzial vorhanden ist. Es gibt erster Stelle stehen. Das ist überhaupt keine Frage. Denn unbesetzte Stellen. Wenn genau diese Ausbildungsbe- eine Aktualisierung darf nicht auf Kosten ihrer Sicher- triebe sagen, sie hätten ein Problem mit einem bestimm- heit gehen. Deswegen muss eine Gesamtprüfung statt- (B) ten Gesetz, und wenn diese Ausbildungsbetriebe in der finden. Die Betonung liegt auf „gesamt“. (D) Vergangenheit unter Beweis gestellt haben, dass es ihnen In diesem Punkt richtet sich meine Kritik an die FDP. wirklich um Ausbildung geht, indem sie auch in schlech- ten Zeiten immer wieder die Ausbildungsquote erhöht (Zurufe von der FDP: Oh!) haben, dann sollten wir diese Ausbildungsbetriebe doch wenigstens anhören. Herr Kollege Burgbacher und Herr Kollege Kolb, ich schätze Sie als sachliche Kollegen. Aber Sie fordern hier Es gibt die Klage, dass Jugendliche nur bis 22 Uhr ar- nur eine punktuelle Überprüfung des Gesetzes. Wir beiten dürfen. Nur zur Klarstellung: Es geht hier nicht brauchen aber eine Gesamtbetrachtung. Das wissen Sie; um die Verlängerung der Arbeitszeit, sondern um eine denn es sind auch Länder in dieser Arbeitsgruppe, an de- andere Verteilung der Beschäftigungszeiten. ren Regierung die FDP beteiligt ist. Ihre Forderung ist also nicht ganz nachvollziehbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ernst Burgbacher [FDP]: Wir scheitern an der Die entsprechenden Gründe sind genannt worden. Es ist Union!) auch gesagt worden, dass Schulabgänger unter 18 durch die Begrenzung auf 22 Uhr schlechtere Chancen haben, Aufgabe der Arbeitsgruppe ist die Erarbeitung eines und zwar unabhängig vom formalen Schulabschluss, umfassenden Berichtes, der das Für und Wider insge- weil entscheidend das Ausbildungseintrittsalter ist. Das samt abwägt. Nur auf einer solchen Grundlage kann die ist anhand der Zahlen des DIHK belegbar. Entscheidung gefällt werden, ob und wie das Jugendar- beitsschutzgesetz novelliert werden sollte. So stellt sich (Andrea Nahles [SPD]: Frau Kollegin, wollen eine verantwortungsvolle Politik dar. Sie nun zustimmen oder ablehnen? Das hätte ich gern einmal gewusst!) Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass es Ihnen da- Es gibt weitere Ungereimtheiten. Herr Kollege rum nicht geht. Auch in diesem Fall ist es so. Auch heute Hinsken hat schon erwähnt, dass es für Mehrschichtbe- zeichnen Sie sich durch eine Bewusstseinstrübung aus, triebe Ausnahmen gibt. Für mich persönlich ist nicht die schon sprichwörtlich und eigentlich ermüdend ist. nachvollziehbar, wieso man bei einer Fast-Food-Kette Das einzig Interessante an Ihren Initiativen ist inzwi- bis 23 Uhr arbeiten darf, aber in einem benachbarten Ho- schen die Frage, mit welcher Kostümierung Sie diese be- telrestaurant nicht. gleiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7577

Gitta Connemann (A) T-Shirts, Tüten und Eisenkugeln; heute ist es der rote Wir sehen keinen Handlungsbedarf, am bestehenden (C) Button. Ich halte der Jugendabteilung des DGB-Bezirks- Jugendarbeitsschutzgesetz etwas zu verändern, und des- verbandes Berlin-Brandenburg zugute, dass es dieser halb auch keine großartige Notwendigkeit, hier und wirklich um den Gesundheitsschutz junger Menschen heute auf das Arbeitspapier der saarländischen Regie- bei der Arbeit geht. Ihnen, meine Damen und Herren von rung einzugehen. Mich erstaunt und wundert es, warum der Linken, nehme ich das nicht ab. Das zeigt mir schon das Bundesland Saarland, das sagt: „Wir brauchen mehr ein Blick auf Ihre Bundestagshomepage. Dort fordern Ausbildungsplätze und wollen deshalb das Jugendar- Sie, die Grenze für das aktive und passive Wahlrecht beitsschutzgesetz ein Stück weit verändern“ – ich sage: auf 16 Jahre zu senken. Nach Ihrer Vorstellung dürfte zuungunsten der Jugendlichen verschlechtern –, nicht also ein 16-Jähriger Mitglied des Deutschen Bundesta- von den Möglichkeiten des Berufsbildungsgesetzes, ges sein. Ein Mandat hat Pflichten, beispielsweise die das wir mit breitester Mehrheit beschlossen haben, Ge- Vertretung von vielen Menschen auch nach 22 Uhr. Ein brauch macht. Ich erinnere zum Beispiel an den § 43 16-Jähriger könnte also noch um 23 Uhr als Abgeordne- Abs. 2, der es in bestimmten Fällen endlich ermöglicht, eine vollzeitschulische Ausbildung unter Anerkennung ter tätig sein, aber nicht als Koch. als Berufsausbildung und mit Zulassung zur Kammer- (Dirk Niebel [FDP]: 22 Uhr ist Schicht im Ple- prüfung auf den Weg zu bringen. num!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das zeigt die Absurdität Ihres Antrages. Ich sage das deshalb, weil das Saarland nach einer Um- Ich bin froh, dass sich die Bundesregierung verant- frage der Kultusministerkonferenz mittlerweile das ein- wortungsvoll zeigt. Wir brauchen eine vorurteilsfreie zige Bundesland ist, das in diesem Bereich nicht handeln Prüfung – für Gesundheitsschutz und mehr Ausbildungs- will. Dazu sage ich: Lieber dort handeln, anstatt am Ju- plätze. gendarbeitsschutz herumzumäkeln! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD) neten der FDP) Wir begrüßen ausdrücklich, dass sich die Gewerk- schaftsjugend – ob nun auf regionaler, bezirklicher oder Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bundesebene – mit Unterstützung der Jusos dieses The- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat mas annimmt. Es ist noch nicht allzu lange her, da war der Kollege Willi Brase von der SPD-Fraktion das Wort. über die Homepage www.azubi.de eine teilweise er- schütternde Auflistung einzusehen, zu welchen ausbil- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ernst dungsfremden Tätigkeiten Auszubildende in sehr vie- (B) Burgbacher [FDP]: Auch Aktivist!) len Fällen – natürlich unter Druck – herangezogen (D) wurden, Willi Brase (SPD): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer hat die denn Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ins Netz gestellt?) Sehr geehrte Damen und Herren! Für mögliche weil wir kein Überangebot an Ausbildungsplätzen ha- 2 000 Ausbildungsplätze, verbunden mit dem Hinweis, ben. Angesichts der Tätigkeiten, die Auszubildende teil- dass angeblich so viele junge Leute mit Abi im Hotel- weise sogar in Verletzung des bestehenden Jugendar- und Gaststättengewerbe als Auszubildende beschäftigt beitsschutzgesetzes zu übernehmen haben, kann ich nur sind – nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind sagen: Wir sind gut beraten, dieser Sache nachzugehen es gerade einmal 1,3 Prozent –, leichtfertig das Jugend- und nicht leichtfertig Änderungen voranzutreiben, die arbeitsschutzgesetz zu ändern, halte ich für den falschen das Ausmaß dieser Verstöße nachher möglicherweise Weg. Das sollten wir nicht machen. noch vergrößern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der LINKEN) Mir ist es wichtig, festzustellen, dass die Frage des Es fällt auf, dass immer dann, wenn betriebliche Arbeitsschutzes oder des Gesundheitsschutzes im Ar- Ausbildungsplätze fehlen, gefordert wird – manchmal beitsleben eine Angelegenheit ist, die – meine Kollegin ist es ja schon fast egal, wie die wirtschaftliche Lage Frau Nahles hat darauf hingewiesen – nicht nur für junge aussieht –: Wir müssen die Schutzrechte verändern. Ich Leute wichtig ist. Eine vernünftige betriebliche Ge- sage dazu: verschlechtern. Dann wird gefordert: Wir sundheitspolitik ist vielmehr während des gesamten müssen die Ausbildungsvergütungen senken. Manchmal Ausbildungs- und Arbeitslebens notwendig. Wenn wir wird auch gefordert: Wir müssen die Löhne nach unten wollen, dass die Menschen, sowohl was die Wochenar- drücken. Ich kann all denen, die das fordern, nur sagen: beitszeit als auch teilweise die Lebensarbeitszeit angeht, Gehen Sie nach Kamp-Lintfort und Bocholt zu den bei länger arbeiten, dann müssen wir diesen Aspekt wesent- BenQ beschäftigten Arbeitnehmern! Die werden Ihnen lich stärker nach vorne bringen. Wir hoffen, dass es sagen, welche bitteren Pillen sie in den letzten Monaten Franz Müntefering während der EU-Ratspräsidentschaft haben schlucken müssen. Es kann für uns kein Weg sein, gelingt, das Bewusstsein, wie wichtig gutes und gesun- so eine Politik zu machen. des Arbeiten ist, auch im EU-Kontext zu stärken. Prä- vention muss die Perspektive der Zukunft sein, nicht die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Menschen der LINKEN) und schon gar nicht die der Auszubildenden. 7578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Willi Brase (A) (Beifall bei der SPD) den teilweise Verdrängungsprozesse statt, die wir in den (C) Griff bekommen müssen. Das Beste, was wir machen können, ist, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu ermuntern Wir können doch nicht darüber diskutieren, dass wir und aufrufen, da, wo sie es wollen und können, zukünftig das Ausbildungsalter in der beruflichen Bil- Betriebs- und Personalräte sowie Jugend- und Aus- dung weiter anheben wollen. Wir müssen es in den zubildendenvertretungen zu bilden. Denn diese haben nächsten Wochen, Monaten und Jahren vielmehr schaf- nach dem Gesetz die Aufgabe, mit dafür zu sorgen, dass fen, das Ausbildungseinstiegsalter wieder zu senken. Schutzvorschriften eingehalten und ausbildungs- Diesen Weg müssen wir gehen. fremde Arbeiten verhindert werden. Überall dort, wo (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Betriebsräte sind, kann auch der Jugendarbeitsschutz vernünftig eingehalten werden. Wir möchten die Arbeit- Wenn auf Landesebene im Bildungsbereich die Ver- nehmerinnen und Arbeitnehmer ausdrücklich dazu er- kürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf zwölf muntern und auffordern, Betriebs- und Personalräte zu Jahre geregelt würde, dann hätte das zur Folge, dass das bilden. Ausbildungseinstiegsalter entsprechend sinkt. Wenn wir diskutieren, dass in der schulischen Bildung manches (Beifall bei der SPD) verbessert werden muss, um die Fähigkeiten der jungen Die Fraktion Die Linke hat in ihrem vorliegenden Ge- Leute hinsichtlich der Ausbildung wieder zu erweitern, setzentwurf gefordert, den Geltungsbereich des dann geht es darum, dass sie nach zehn Pflichtschuljah- Jugendarbeitsschutzgesetzes auf Jugendliche bis ren in die betriebliche Ausbildung eintreten können. Das 21 Jahre auszuweiten; dazu ist einiges gesagt worden. Es ist der richtige Weg. Es hat keinen Sinn, das Jugendar- ist schwierig, zu sagen: Wir weiten den Geltungsbereich beitsschutzgesetz zu verschlechtern. des Jugendarbeitsschutzgesetzes auf ein höheres Alter, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. also für Jugendliche bis 21 Jahre, aus. Da stellt sich für mich die Frage: Wie ist das im Kontext mit der Volljäh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rigkeit ab 18 Jahre zu sehen? Ich konnte mit 18 Jahren der CDU/CSU) noch nicht wählen. Ich hätte mich gefreut, wenn ich das gedurft hätte. Ich konnte aber schon mit 18 Jahren zur Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bundeswehr gehen. Es gibt Zivildienstleistende, die 19 oder 20 Jahre alt sind. Manche Zivildienstleistende Ich schließe die Aussprache. werden auch zur Nachtarbeit eingesetzt. Das ist bei ei- Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- nigen Organisationen notwendig. Wenn man leichtfertig würfe auf den Drucksachen16/2094 und 16/3016 an die (B) beschließen würde, den Geltungsbereich des Jugendar- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- (D) beitsschutzgesetzes auf Jugendliche bis 21 Jahre zu er- schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist weitern, dann würde das in diesem Bereich zu Proble- nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- men führen. schlossen. Ich will auf Folgendes hinaus: Bevor man zu einer Er- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c sowie weiterung des Geltungsbereichs des Gesetzes kommt, Zusatzpunkt 3 auf: sollte man genauer darauf achten, welche Wirkungen da- mit für den gesamten Bereich verbunden wären. Wir 28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wissen, dass sich 17-Jährige in der Regel darauf freuen, gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- dass sie bald 18 werden, weil sie dann volljährig und zung der Richtlinie des Europäischen Parla- voll geschäftsfähig sind. Damit stehen sie voll ihre Frau ments und des Rates über die Umwelthaftung bzw. ihren Mann. Ich finde, dass das nach wie vor der zur Vermeidung und Sanierung von Umwelt- beste Weg ist. Deshalb sehen wir derzeit keine Notwen- schäden digkeit, den Geltungsbereich des Gesetzes auf Jugendli- che bis 21 Jahre zu erhöhen. – Drucksache 16/3806 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Es wird immer wieder gefordert, Ausbildungshemm- Verbraucherschutz nisse zu beseitigen, und behauptet, dazu gehöre auch das Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Jugendarbeitsschutzgesetz. Bis heute gibt es aber keine b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- verlässliche Statistik, die belegt, dass mit weniger Ju- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- gendarbeitsschutz in massivem Umfang zusätzliche lung des Statusrechts der Beamtinnen und Be- Ausbildungsplätze in der Bundesrepublik entstehen. amten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz – (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb BeamtStG) [FDP]: Wie auch? Statistik ist Beschreibung – Drucksachen 16/4027, 16/4038 – des Geschehens!) Überweisungsvorschlag: – Es gibt deshalb keine Statistik, weil dieser Punkt nicht Innenausschuss (f) Rechtsausschuss entscheidend ist. Entscheidend sind verschiedene andere Verteidigungsausschuss Faktore, wie die Erwartungen der Unternehmen, was Ausschuss für Bildung, Forschung und Wachstum und Beschäftigung angeht. Des Weiteren fin- Technikfolgenabschätzung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7579

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nach dem Wahltag beim Deutschen Bundestag Ein- (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ver- spruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl einle- einbarung vom 11. April 2006 zwischen der gen. Insgesamt 195 solcher Wahleinsprüche sind nach Regierung der Bundesrepublik Deutschland der Bundestagswahl am 18. September 2005 eingegan- und der Regierung der Republik Polen über gen. 157 dieser Einsprüche hat der Bundestag bereits im die Durchführung des Übereinkommens vom letzten Jahr zurückgewiesen. Heute empfiehlt Ihnen der 25. Februar 1991 über die Umweltverträglich- Wahlprüfungsausschuss die Zurückweisung weiterer elf keitsprüfung im grenzüberschreitenden Rah- Einsprüche. Neun davon betreffen die Kandidatur von men (Vertragsgesetz zur Deutsch-Polnischen Mitgliedern der WASG auf Listen der Linkspartei. UVP-Vereinbarung) Diese Wahlkooperation beider Parteien hat – nicht nur – Drucksache 16/4011 – unter Staats- und Verfassungsrechtlern, sondern auch in Überweisungsvorschlag: der Öffentlichkeit – zu mitunter hitzigen Diskussionen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit geführt. Deshalb erlaube ich mir als Vorsitzender des ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Wahlprüfungsausschusses, unsere Beschlussempfehlun- Delegation des Deutschen Bundestages zur Euro- gen mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen kurz zu mediterranen Parlamentarischen Versammlung erläutern. Zugleich nutze ich die Gelegenheit für ein kleines Resümee unserer bisherigen Wahlprüfung und Gründungsversammlung der Euromediterra- für einige grundsätzliche Anmerkungen zum Wahlprü- nen Parlamentarischen Versammlung am fungsverfahren. 22./23. März 2004 in Athen, Griechenland – Drucksache 15/3414 – Ein erfolgreicher Wahleinspruch kann gravierende Überweisungsvorschlag: Folgen haben, nämlich eine Wiederholung der Bundes- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) tagswahl. Aus diesem Grunde sind die Anforderungen Auswärtiger Ausschuss an eine Ungültigkeitserklärung der Wahl hoch. Ers- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und tens muss ein Verstoß gegen Vorgaben des Wahlrechts, Entwicklung ein sogenannter Wahlfehler, vorliegen. Zweitens muss dieser Wahlfehler mandatsrelevant sein. Das heißt, der Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Rechtsverstoß muss sich nachweisbar auf die Sitzvertei- ten Verfahren ohne Debatte. lung im Deutschen Bundestag ausgewirkt haben oder Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zumindest ausge- (B) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu wirkt haben können. Diese hohen Hürden, Wahlfehler (D) überweisen. Zu Tagesordnungspunkt 28 b liegt inzwi- und Mandatsrelevanz, sind verantwortlich dafür, dass schen die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der bisher noch nie eine Bundestagswahl für ungültig erklärt Stellungnahme des Bundesrates auf Drucksache 16/4038 wurde, weder vom Deutschen Bundestag noch vom vor, die wie die Vorlage auf Drucksache 16/4027 über- Bundesverfassungsgericht, das in zweiter Instanz für die wiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das Wahlprüfung zuständig ist, da alle Wahlprüfungsent- ist der Fall. Dann ist so beschlossen. scheidungen, die der Deutsche Bundestag trifft, vor dem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe angegriffen wer- den können. Beratung der Vierten Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses Nun wäre es ein großes Missverständnis, anzuneh- zu 11 gegen die Gültigkeit der Wahl zum men, die Wahlprüfung sei praktisch bedeutungslos, da 16. Deutschen Bundestag eingegangenen noch nie eine Bundestagswahl für ungültig erklärt Wahleinsprüchen wurde. Das Gegenteil ist der Fall; denn allein schon die – Drucksache 16/3900 – Überprüfung der Vorbereitung und Durchführung der Wahl auf ihre Rechtmäßigkeit und erst recht die Auf- Berichterstattung: deckung von Wahlfehlern tragen dazu bei, dass die Abgeordnete Dr. Carl-Christian Dressel Wahlbehörden bei künftigen Wahlen sorgfältiger agieren Ernst Burgbacher und dass sich Wahlfehler nicht regelmäßig wiederholen. Hans-Christian Ströbele Deshalb geht der Wahlprüfungsausschuss jedem zulässi- Es handelt sich um die Beschlussfassung zu einer gen Einspruch gründlich nach, auch wenn die fehlende Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist. Wird Mandatsrelevanz des behaupteten Wahlfehlers auf der das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das ist Hand liegen mag. Bei der Prüfung eines Einspruchs wer- der Fall. Das Wort hat der Vorsitzende des Wahlprü- den häufig Fragen im Hinblick auf die Praxistauglichkeit fungsausschusses, der Abgeordnete Strobl. – Bitte bestimmter Wahlrechtsvorschriften aufgeworfen. Es ent- schön. spricht einer bewährten Praxis, die Bundesregierung dann in Form sogenannter Prüfbitten zu entsprechenden Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Reformüberlegungen zu veranlassen. Das Wahlprüfver- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! fahren wird damit zum Impulsgeber für eine Fortent- Jeder Wahlberechtigte kann innerhalb von zwei Monaten wicklung unseres Wahlrechts! 7580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) Das Gesagte spiegelt sich auch in den heute zur Ent- Bundestagswahlen teilnehmen. Hintergrund ist, dass (C) scheidung anstehenden Einsprüchen betreffend die Kan- nach dem seit 2000 geltenden Staatsangehörigkeitsrecht didatur von Mitgliedern der WASG auf Listen der auch Deutsche, die im Inland leben, die deutsche Linkspartei wider. Der Ausschuss empfiehlt Ihnen die Staatsangehörigkeit verlieren können, wenn sie eine Zurückweisung dieser Einsprüche, weil er einen Wahl- ausländische Staatsangehörigkeit, zum Beispiel die tür- fehler, also einen Verstoß gegen das Wahlrecht, nicht kische, annehmen. Hier ist von mehreren Tausend Fällen feststellen konnte. Zwar geht das Bundeswahlgesetz da- die Rede, in denen Deutsche durch die Annahme der tür- von aus, dass Listen nur von jeweils einer Partei einge- kischen Staatsbürgerschaft die deutsche Staatsbürger- reicht werden können. Es schreibt – anders als das Land- schaft verloren und trotzdem an der Bundestagswahl tagswahlrecht in Schleswig-Holstein oder in Mecklenburg- teilgenommen haben sollen. Zu erwähnen sind weiterhin Vorpommern – aber nicht vor, dass nur Mitglieder der die Einsprüche, die die Zulässigkeit des Einsatzes von einreichenden Partei über deren Liste kandidieren dür- Wahlgeräten zum Gegenstand hatten. Sie zeugen, ebenso fen. Der Umstand, dass überhaupt Mitglieder der WASG wie eine zurzeit anhängige öffentliche Petition, von ei- auf den Listen der Linkspartei kandidierten, stand als nem offenbar weitverbreiteten Misstrauen gegen diese Form der Erleichterung der Abgabe und Zählung der solcher der Zulässigkeit dieser Listen also nicht entge- Stimmen. gen. Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich mich bei Art und Umfang der Platzierung von WASG-Mitglie- den Kolleginnen und Kollegen im Wahlprüfungsaus- dern auf den Listen rechtfertigen nach Auffassung des schuss für die kollegiale Zusammenarbeit und beim Se- Ausschusses auch nicht die Annahme, dass es sich nur kretariat des Ausschusses für die geleistete Unterstüt- noch formal um Listen der Linkspartei, materiell aber zung ganz herzlich bedanken. Ausdrücklich möchte ich um die 5-Prozent-Klausel aushebelnde gemeinsame Lis- dem langjährigen Sekretär des 1. Ausschusses, Herrn ten beider Parteien gehandelt hätte. So fanden sich je- Dr. Winkelmann, danken. Er hat sich nicht nur um die weils auf den ersten fünf Plätzen, die die aussichtsreichs- Fortentwicklung des Wahlrechtes, sondern auch um die ten sind, stets mehr Mitglieder der Linkspartei als solche Fortentwicklung des Parlamentsrechtes hoch verdient der WASG. Aufgrund der auf die Bildung einer gemein- gemacht. samen Partei ausgerichteten nachweisbaren Anstrengun- gen beider Parteien stellten sich die Listen als hinrei- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP chend homogen dar. und der LINKEN) Ich bitte Sie nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, der (B) Dass Ihnen der Ausschuss die Zurückweisung der (D) Einsprüche empfiehlt, heißt indessen nicht, dass sich da- Beschlussempfehlung zuzustimmen. mit die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Um- fange eine Partei Nichtmitglieder auf ihre Listen setzen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: darf, ein für allemal erledigt hätte. Vielmehr wird noch Vielen Dank für die Berichterstattung, Herr Kollege – das ist in der Beschlussempfehlung ausdrücklich ver- Strobl. merkt – darüber zu reden sein, ob insoweit für künftige Bundestagswahlen nähere gesetzliche Vorgaben ge- Wir kommen zur Abstimmung. Die Fraktion des macht werden sollten. De lege ferenda wäre freilich Bündnisses 90/Die Grünen hat Einzelabstimmung zu denkbar, dass nur Mitglieder der einreichenden Partei den Empfehlungen des Ausschusses zu den Anlagen 1 über deren Liste kandidieren dürfen. bis 9 einerseits sowie 10 und 11 andererseits verlangt. Ich darf darauf hinweisen, dass in den Anlagen 1 bis 9 Die große Aufmerksamkeit, die die Wahlkooperation Entscheidungen enthalten sind, die die Zulassung der von Linkspartei und WASG zu Recht gefunden hat, darf Landeslisten der Linkspartei/PDS betreffen. Bevor wir indessen nicht den Eindruck vermitteln, es handle sich abstimmen, weise ich darauf hin, dass bei Nichtzustim- dabei um das einzige bedeutende Thema der Wahlprü- mung zu den Ausschussbeschlussempfehlungen diese fung in dieser Wahlperiode. Vielmehr betrafen auch die gemäß § 13 des Wahlprüfungsgesetzes als an den Wahl- bereits zurückgewiesenen Einsprüche wichtige Themen prüfungsausschuss zurückverwiesen gelten. und warfen die Frage nach gesetzgeberischen Maßnah- men auf. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang so- Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Wahl- wohl an die Nachwahl in Dresden im Oktober 2005 als prüfungsausschusses zu den Anlagen 1 bis 9 auf auch an die Versendung von mehr als 10 000 falschen Drucksache 16/3900? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Stimmzetteln an die Briefwähler der beiden Dortmunder hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung Wahlkreise. Es gibt seitens des Bundesrates bereits einen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen. Gesetzentwurf bzw. eine Entschließung, in der die Bun- desregierung zur Überprüfung der einschlägigen Wahl- Wer stimmt für die Beschlussempfehlung zu den rechtsbestimmungen aufgefordert wird. Ferner hat der Anlagen 10 und 11? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Deutsche Bundestag die Bundesregierung anlässlich ein- Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenom- schlägiger Wahleinsprüche gebeten, zu prüfen, wie si- men. Damit ist die Beschlussempfehlung auf chergestellt werden kann, dass nur Wahlberechtigte an Drucksache 16/3900 insgesamt angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7581

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Hunderttausende zukunftssicherer Arbeitsplätze nicht (C) entstehen. Das ist Ihr Problem. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – SES 90/DIE GRÜNEN Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gegen „Ge- schwatze“ verwehren wir uns!) Unterschiedliche Auffassungen in der Bundes- regierung zu einer klimaverträglichen Ener- Man tut so, als wäre die Atomkraft da, um das Klima gieversorgung ohne Atomkraft zu schützen, und als ob man deshalb an ihr festhalten müsste. 6 Prozent des deutschen Energieverbrauchs wer- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- den durch die Atomenergie erzeugt. Weltweit sind es nerin der Kollegin Renate Künast vom Bündnis 90/Die circa 2,5 Prozent, und die Tendenz ist sogar sinkend. Sie Grünen das Wort. sehen, wie klein die Spanne überhaupt ist, um Klima- schutz mithilfe von Atomkraftwerken zu betreiben; die Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorhandenen Möglichkeiten würden dafür nicht einmal Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben ausreichen. in den letzten Tagen und Wochen eine bemerkenswerte Debatte, einen bemerkenswerten Zickzackkurs der Ko- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) alitionsfraktionen und auch der Regierungsmitglieder er- Ich will ein Szenario von CDU/CSU und FDP auf- lebt. Zuletzt wurde eine aktuelle Umfrage von Forsa greifen. Sie haben einmal gesagt: Wenn man mithilfe – sie stammt vom 14. Januar dieses Jahres – als Argu- von Atomkraftwerken wirklich Klimaschutz betreiben ment benutzt. Diese Umfrage will ich gern aufgreifen. wollte, also eine entsprechende CO2-Reduzierung erzie- Danach halten es 61 Prozent der Bundesbürger für len wollte, müsste man – so lautet das Ergebnis einer nicht vertretbar – die Frage wurde ihnen so gestellt –, früheren Enquete-Kommission des Bundestages – allein aus der Atomenergie auszusteigen, bevor – jetzt kommt in Deutschland 50 bis 70 neue Atomkraftwerke bauen. das Wichtige – alternative Energien wie Sonnen- und Sie wissen doch selber: Das geht nicht, weil Sie sonst Windkraft in einem vergleichbaren Umfang zur Verfü- Ihre privaten Vorgärten zur Verfügung stellen müssten. gung stehen. Da haben manche gestutzt, und viele von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Koalition, insbesondere von der CDU/CSU, nehmen das immer wieder gern als Argument dafür, dass man Dies wird in Deutschland gar nicht möglich sein. nicht aussteigen dürfe. Genau das und die Tatsache, dass Sie suggerieren, das Zudrehen des Ölhahns in Russ- Frau Merkel sagte, wer aus der Atomenergie aussteigen land vor einigen Tagen sei ein Argument für die Richtig- (B) wolle, müsse auch die Alternativen aufzeigen, sind für keit Ihrer Position. Ich sage Ihnen: Das ist es nicht. Wa- (D) uns der Ansatzpunkt, hierüber zu diskutieren. rum? Weil Atomenergie kein Ersatz für Öl ist, auch (Beifall des Abg. Jan Mücke [FDP]) wenn Sie so tun. 70 Prozent des Öls werden zum Antrieb von Autos genutzt. Die Atomenergie ist aber keine Tech- – Klatschen Sie nicht zu früh, Sie Lobbyvertreter! nologie zum Antrieb von Fahrzeugen; es gibt nämlich keine Minireaktoren in Autos. Also lassen Sie den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Quatsch, und beleidigen Sie nicht unseren Intellekt mit Wissen Sie was? Uns als Grüne können Sie mit dieser solchen Argumentationen! Argumentation, auch mit dieser Umfrage gar nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schrecken. Warum? Weil wir genau den gleichen Ansatz wie diese 61 Prozent haben! Wir stehen dafür, den Die Atomenergie ist und bleibt eine Risikotechnolo- Atomausstieg so zu organisieren, dass wir parallel mit gie. Sie wissen es: Atomkraftwerke sind nicht sicher. Steigerung der Energieeffizienz, mit Einsparungen und Das hat uns Tschernobyl gezeigt. Unter dem dortigen mit erneuerbaren Energien in eine Alternative einstei- Unglück leiden Menschen bis heute. Forsmark hat uns gen. Es gibt keinen Grund zum Frohlocken, und es gibt gezeigt, dass auch die modernsten Kraftwerke nicht si- keinen Grund zur Sorge. Es ist machbar, und wir werden cher sind. Wir alle wissen um die Gefahr durch An- es machen. schläge. Wir wissen, dass die alten Atomkraftwerke in Deutschland dringend geschlossen werden müssen, weil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sie nie im Leben den Zusammenstoß mit einem Starfigh- Ich weiß genau, dass Sie wissen, dass es möglich ist. ter, mit einem Eurofighter, geschweige denn mit einem Man braucht allerdings wirklich auch den Willen, eines Passagierflugzeug, von Terroristen gesteuert, aushalten zu erkennen: dass der Atomausstieg und Klimaschutz würden. Auch da liegen die Gefahren der Atomkraft. zueinander gehören. Es gibt bei Ihnen ein munteres (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durcheinander und kein Konzept, gleichwohl in Ihrer sowie bei Abgeordneten der SPD) Koalitionsvereinbarung steht, dass Sie den Atomausstieg nicht rückgängig machen wollen. Zu Ihnen – das sage Wir wissen, dass eine große Mehrheit in dieser Repu- ich direkt in Richtung CDU/CSU – kann ich nur eines blik es ablehnt, wieder in die Atomenergie einzusteigen. sagen: Ihre Politik, Ihr ewiges Geschwatze über das Wir wissen – das weiß auch Frau Merkel; diesen Fehde- Rückgängigmachen führt dazu, dass in dieser Republik handschuh nehmen wir gerne auf –, dass Alternativen Investitionen in Milliardenhöhe nicht getätigt werden, vorhanden sind. Wenn wir uns in Europa das ehrgeizige dass in dieser Republik Zehntausende, wenn nicht gar Ziel setzen, die CO2-Emmissionen um 30 Prozent zu 7582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Renate Künast (A) senken, dann setzt das Innovationen und Investitionen in deutlich gemacht: Wenn wir unsere Energieerzeugung (C) Gang, die ihresgleichen suchen. Wir müssen es anpa- nicht wettbewerbs- und zukunftsfähig gestalten, wird die cken. Setzen wir auf die Klimaschutzpotenziale im Ver- Importabhängigkeit der Europäischen Union steigen. Im kehr und in den Haushalten! Jahr 2030 werden – so die Prognose – 60 Prozent des Energiebedarfs in der EU mit Energieimporten gedeckt; Dann würde folgender Satz gelten – das ist mein Fazit –: bereits heute sind es 50 Prozent. Wir in Deutschland Eine Versorgungslücke durch das Auslaufen der decken schon heute zwei Drittel unseres Bedarfs mit Im- Kernenergie existiert nicht. porten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleichzeitig stellt uns der Klimawandel vor neue He- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- rausforderungen. Der „Stern“-Report – auch Sie haben KEN) ihn zur Kenntnis genommen und darüber breit diskutiert – hat uns anschaulich vor Augen geführt, dass wir es uns Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU- nicht leisten können, heute nicht zu handeln. Bei der Fraktion, hier warte ich auf Applaus bei Ihnen; denn die- Verringerung der Importabhängigkeit und beim Klima- ser Satz ist ein Originalzitat aus dem Papier „Ergebnisse schutz werden die erneuerbaren Energien, aber auch die des Energiegipfels vom 3. April 2006“. Das war der Steigerung der Energieeffizienz – Frau Künast, in Ihrem Energiegipfel der Regierung von ; dieser Redeschwall habe ich dieses Thema fast vermisst – Satz trägt ihre Unterschrift. Dieser Satz stimmt. Also las- selbstverständlich eine große Rolle spielen. sen Sie uns endlich mit dem Gerede über die Atomener- gie aufhören! Sie ist nämlich gefährlich. Lassen Sie uns Die Europäische Kommission hat in ihrem Strategie- endlich den Bau von Alternativen anpacken! Es macht papier die Bedeutung der erneuerbaren Energien hervor- Sinn, auf erneuerbare Energien, auf Effizienz und Ein- gehoben: Bis zum Jahr 2020 sollen 20 Prozent der Ge- sparen zu setzen. samterzeugung in der EU aus regenerativen Energien stammen. Angesichts der aktuellen und der zu erwarten- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Entwicklung sollten wir ernsthaft prüfen, ob unsere sowie bei Abgeordneten der SPD) Ziele in Deutschland beim Ausbau der erneuerbaren Energien nicht anzupassen sind, ob wir nicht mehr kön- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von der CDU/CSU–Fraktion. Auch im Wärmebereich sollten wir die erneuerbaren Energien vorantreiben. Die Aufstockung des Marktan- (Beifall bei der CDU/CSU) reizprogrammes um 39 Millionen Euro in diesem Jahr (B) war ein ganz deutlicher Schritt in diese Richtung. Wir in- (D) Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU): vestieren jetzt 213 Millionen Euro in das Marktanreiz- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und programm. Wir zeigen: Hier funktioniert der Markt. Wir Kollegen! Die heutige Debatte hat das Thema: haben hier ein Instrument geschaffen, das von den Men- schen angenommen wird. Die Koalition hat hier einen Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregie- deutlichen Impuls gesetzt. rung zu einer klimaverträglichen Energieversor- gung ohne Atomkraft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Frau Künast, ich möchte Folgendes feststellen: Wir werden noch weitere Vorschläge zur Förderung Erstens. Sowohl die Koalition als auch die Bundesre- der erneuerbaren Energien im Wärmebereich diskutie- gierung stehen zum Koalitionsvertrag. ren. Wir haben einiges vor. Ich sage Ihnen: Wir kommen Zweitens. Die Kanzlerin hat das Thema Energiever- hier zu mehr marktkonformen Lösungen. sorgung in Europa mit all seinen Facetten zu dem Thema Bei der Nutzung der erneuerbaren Energien zur Wär- der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gemacht. meerzeugung sollten wir folgenden Gedanken aufneh- Drittens. In dieser Funktion ist es notwendig, den men: Es hilft im Klimaschutz nicht weiter, wenn die um- Blick nicht nur auf den Koalitionsvertrag zu lenken, son- weltfreundlich erzeugte Wärme durch undichte Fenster dern auch auf das, was andere Länder in Europa tun und oder fehlende Wärmedämmung am Gebäude wieder ver- worüber sie diskutieren. Bei diesem Thema – das wird loren geht. Deshalb sollten wir das CO2-Gebäudesanie- man wohl noch dürfen – denkt nicht jedes Land wie wir. rungsprogramm und das Marktanreizprogramm besser Denkverbote darf es nicht geben. aufeinander abstimmen. Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine im (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ vergangenen Jahr und der Ölstreit mit Weißrussland in CSU]) diesem Jahr zeigen doch eines: Deutschland und Europa Investitionen für erneuerbare Energien in energieeffizi- müssen mit ihren heimischen Energieressourcen besser enten Gebäuden könnten durch einen Bonus gefördert haushalten, sie müssen sich stärker entwickeln und sich werden. Diese Verbindung bringt mehr Effizienz und unabhängiger von Importen machen. Die Europäische mehr Klimaschutz. Kommission hat in der vergangenen Woche ein Strate- giepapier zur Energiepolitik veröffentlicht. Darin hat sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7583

Katherina Reiche (Potsdam) (A) Anknüpfungspunkt für die Debatte war die Kernener- Verantwortung verschieben und hier Nebelkerzen wer- (C) gie. Wir debattieren dieses Thema im Deutschen Bun- fen – da springen Sie einfach zu kurz. destag heute zum wiederholten Male. Es ist bekannt, dass es in der Koalition zu diesem Punkt unterschiedli- Sprechen wir vom Dissens, sprechen wir von Verzö- che Auffassungen gibt. Der Koalitionsvertrag – dazu gerungen in der energiepolitischen Debatte in der Gro- habe ich mich bereits geäußert – ist aber eindeutig. Der ßen Koalition! Da findet derzeit energiepolitisch eine Koalitionsvertrag – das habe ich ebenfalls schon gesagt – Achterbahndiskussion statt. Es gibt einen tiefgreifenden bedeutet kein Denkverbot. Es ist selbstverständlich, dass Dissens beim Thema Steinkohlesubventionen. Die SPD man darüber nachdenken muss, welche Konsequenzen fordert plötzlich, einen Sockelbergbau aufrechtzuerhal- es für die Versorgungssicherheit und den Klimaschutz ten. An der Finanzierung wird sich der Bund dann aller- hat, wenn wir in Deutschland aus der Kernenergie aus- dings ohne das Land NRW beteiligen müssen. In steigen. Wir sprechen hier über 30 Prozent der Stromer- Nordhrein-Westfalen, wo wir mitregieren, haben wir zeugung in Deutschland. Dieser Anteil muss ersetzt wer- nämlich ganz klar vereinbart, dass wir aus der Steinkoh- den – beispielsweise durch Gasimporte, beispielsweise lesubventionierung aussteigen werden. durch erneuerbare Energien, die dann wiederum in ande- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ren Bereichen fehlen würden. Hierdurch würden unsere der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Zu dem Spielräume bei der Energieversorgung weiter einge- Zeitpunkt werden Sie nicht mehr dabei sein!) schränkt. Gas und Biomasse sind für die Wärmeerzeu- gung und als Kraftstoff noch nicht in ausreichendem Sie haben einen anhaltend tiefgehenden Dissens bei Maß vorhanden. Mit längeren Laufzeiten wäre da ande- der Nutzung der Kernenergie. Sie können keine Ent- res möglich. scheidung für einen Endlagerstandort für Atommüll tref- fen. Noch einmal: Wir stehen zum Vertrag. Wir halten den Ausstieg aus der Kernenergie aber für verfrüht. Wir (Beifall bei der FDP) brauchen sie, bis wir tatsächlich vernünftige, wettbe- Ein Hin und Her findet beim Emissionshandel statt. werbsfähige und bezahlbare Alternativen haben. Es gibt immer wieder Verzögerungen und auch ein stän- Sicherung der Energieversorgung, Verringerung der diges Hickhack beim Wärmegesetz. Einmal heißt es: Abhängigkeit von Importen, mehr Effizienz und Klima- „Ja, es kommt“, und einmal heißt es: „Nein, es kommt schutz – das sind zentrale Herausforderungen unserer nicht“; auch Frau Reiche hat sich in dem Punkt mehr- Zeit. Wir sind bereit, uns diesen Herausforderungen zu mals widersprochen. stellen, sie nicht nur zu begleiten, sondern durch aktives (Beifall bei der FDP) praktisches politisches Handeln auch zu bestehen. (B) Es gibt Verzögerungen beim Energiepass für Gebäude, (D) Vielen Dank. bei der Kraftwerksanschlussverordnung und, und, und. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass Deutsch- Dieter Grasedieck [SPD]) land die EU-Ratspräsidentschaft innehat und die G 8 führt. Dieses Verhalten zeugt von energiepolitischer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Konzeptions- und Kopflosigkeit. Wir blamieren uns in Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der der EU und der Welt. FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich – das wissen Sie – für einen breit aufgestellten, unideologischen Ener- Gudrun Kopp (FDP): giemix ein. Wir fordern Sie auf, einmal zu sagen, wie Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da- sich die Lücke, die sich aus dem Ausstieg aus der Kern- men! Wir möchten aufhören, über die gefährliche Atom- energie zum jetzigen Zeitpunkt ergäbe, überhaupt schlie- technologie zu sprechen, haben Sie, Frau Künast, gefor- ßen ließe, und zwar vor dem Hintergrund, dass der Kli- dert. Wenn ich das richtig verstanden habe, haben Sie die maschutz eine riesengroße Rolle spielt. heutige Debatte zu dem Thema beantragt; wir führen sie (Ulrich Kelber [SPD]: Das haben wir Ihnen schon aufgrund Ihres Wunsches. Sie müssen sich entscheiden, zehnmal gesagt! Lesen Sie es endlich!) was Sie möchten. Staatssekretär Müller hat am vergangenen Montag ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sagt, dass sich die Kernenergie in Deutschland durch den der CDU/CSU) Einsatz erneuerbarer Energien komplett ersetzen lasse. Als Replik auf das, was Sie gefordert haben – die Das ist nach unserer Rechnung nicht der Fall. Der Anteil Kernkraftwerke in Deutschland ohne einen zusätzlichen des Stromes aus kerntechnischen Anlagen liegt in Schutz gegen Flugzeugabstürze müssen abgeschaltet Deutschland bei 30 Prozent. Selbst wenn der Anteil der werden –, kann ich Ihnen nur sagen: Dies hätte Herr erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung bis zum Trittin dann bereits in der vergangenen Legislaturperiode Jahr 2020 auf 25 Prozent erhöht werden könnte – derzeit bei dem einen oder anderen Werk tun müssen. sind es 11 Prozent –, bleibt die Frage, wie der dann ver- bleibende Rest gedeckt werden kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der FDP: Mit Kohle!) 7584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Gudrun Kopp (A) – Ja, möglicherweise mit Kohlekraftwerken. Schönen Michael Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- (C) Gruß in Richtung Klimaschutz. Es fehlt ein Konzept, nister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: wie Sie diese Lücke schließen wollen. Auch an dieser Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus wel- Stelle bleiben Sie Antworten schuldig. chen Gründen die Aktuelle Stunde auch immer beantragt wurde – darüber kann sich jeder eine Meinung bilden –, (Beifall bei der FDP) auf jeden Fall ist es wichtig, dass wir über die Energie- und Klimafragen debattieren. Die Diskussion zeigt näm- Die FDP tritt dafür ein, dass die Treibhausgasemissio- lich, dass wir noch eine Menge Klarheit schaffen müs- nen bis zum Jahr 2020 gegenüber 1990 um 30 Prozent sen. Aus meiner Sicht ist die Energiefrage die wichtigste gesenkt werden. Wir setzen uns ferner dafür ein, dass in Schlüsselfrage dieses Jahrhunderts. der zweiten Zuteilungsperiode 2008 bis 2012 die anteili- gen 10 Prozent der Emissionszertifikate – das ist jetzt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schon möglich – versteigert werden. Die Erlöse aus die- der CDU/CSU) sen Versteigerungen sollten zur Senkung bzw. Abschaf- fung der Stromsteuer herangezogen werden. Das würde Im Übrigen bezieht sich die Frage nicht nur auf Gas, auch eine Entlastung der Privathaushalte bedeuten. Öl, Kohle oder Uran, sondern auf eine Vielzahl von Roh- stoffen. Wir müssen der Wahrheit ins Auge schauen, (Beifall bei der FDP) dass sich in diesem Jahrhundert die Verteilungs- und Nutzungskonflikte auch bei Edelmetallen und vielen an- Wir setzen auf Energieeffizienz und Energieeinspa- deren Stoffen zuspitzen werden. Wenn wir darauf nicht rung. Wir setzen bei der Förderung erneuerbarer Ener- vorbereitet sind, wird sich das vor allem in vielen Indus- gien, vor allem im Wärmebereich, auf marktwirtschaftli- triestaaten brutal auswirken. Insofern ist diese Diskus- che Instrumente, nicht nach dem EEG, sondern nach sion notwendig, und es ist gut, dass sie geführt wird, von einem Mengensteuersystem. Wir setzen auf die CO2- mir aus auch kontrovers. Aber wir sollten sie auf jeden arme Kohleverstromung und auf die Kernenergie, die Fall konstruktiv führen, bis wir sagen können: Wir nä- wir dringend brauchen. Von daher fordern wir die Bun- hern uns an. In diesem Sinne sollten auch die Kontrover- desregierung auf, sich endlich, insbesondere mit Blick sen ausgetragen werden. Ich finde das nicht falsch. auf den Klimaschutz, dazu durchzuringen, ihre Ideologie hintanzustellen und dafür zu sorgen, dass Versorgungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden CDU/CSU) sowie der Wirtschaftsstandort Deutschland gestärkt Es geht also um eine Frage, die eine erhebliche Trag- wird. weite hat, nicht nur für Ökonomie und Ökologie, son- dern meines Erachtens in der Konsequenz auch für Frie- (B) (D) Der neuerliche Konflikt zwischen Russland und den und Freiheit in der Welt. Darum geht es bei diesem Weißrussland war nach dem Konflikt von vor einem Jahr Thema. Dazu möchte ich drei Anmerkungen machen. mehr als ein Weckruf. Hier läuteten die Alarmglocken. Wir müssen unsere Exportabhängigkeit verringern. Das Zum Klimawandel. Die Bundeskanzlerin hat gesagt gilt gerade beim Gas, aber auch beim Öl. Wir sind total – das Parlament hat das auch schon mehrfach getan –, abhängig. dass der Klimawandel die größte Herausforderung die- ses Jahrhunderts für die Menschheit ist. Nur ein paar Da- (Dr. Axel Berg [SPD]: Für Uran gilt das auch, ten: Nach allen Szenarien, die wir kennen, können wir Frau Kollegin!) schon heute kaum noch etwas für die Abbremsung des Klimawandels in den nächsten 50 Jahren tun. Alle Sze- Wir stellen fest, dass Russland nicht der zuverlässige narien zeigen, dass sich das, was wir heute tun, wahr- Partner ist, den wir uns wünschen. scheinlich erst 2050 und später auswirkt. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die verlangen, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wir die Anstrengungen verstärken. Wir werden wahr- Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kopp. scheinlich noch in diesem, aber spätestens im nächsten Jahrzehnt erleben, dass sich die Erderwärmung auf Gudrun Kopp (FDP): 0,2 Grad pro Jahrzehnt beschleunigt. Aller Wahrschein- lichkeit nach kommt es im globalen Mittel Ende dieses Insofern ist ein breiter Energiemix, zu dem mittelfris- Jahrhunderts zu einer Erwärmung um 3 Grad. Das be- tig auch die Kernenergie gehört, angesagt. deutet beispielsweise, denn es gibt erhebliche regionale Wir fordern Sie auf, die Realitäten endlich anzuerken- Unterschiede, dass Regionen wie Grönland Erwär- nen. mungsprozesse von mehr als 10 Grad erleben werden. Auch wissen wir nicht, was in Nordrussland passieren Danke. wird. Wenn die Erwärmung tief in die Böden geht und damit die Methanreservoire freisetzt, kann sich der Pro- (Beifall bei der FDP) zess schnell dramatisch beschleunigen. Vieles andere wissen wir auch nicht genau, zum Bei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: spiel wie die großen Eisflächen auf der Erde reagieren Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär werden. Aber wir wissen, dass dort gewaltige Verände- Michael Müller. rungsprozesse stattfinden. Das, was wir wissen, ist schon Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7585

Parl. Staatssekretär Michael Müller (A) so alarmierend, dass man sich wundern muss, warum wir Der zweite Punkt. Es ist völlig richtig, dass man, (C) nicht mehr tun. Wir reden mehr über das Problem, als wenn man Ausstieg und klimaverträgliche Energiepoli- dass wir handeln. tik einfordert, auch sagen muss, wie das gehen soll. Die Europäische Kommission hat am 10. Januar 2007 gefor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dert, dass im Jahr 2020 in den EU-Mitgliedstaaten der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Anteil der erneuerbaren Energien im Energiebereich, in CDU/CSU und der FDP) den drei Feldern Verkehr, Wärme und Strom, 20 Prozent Vor diesem Hintergrund muss ich Ihnen sagen: Natür- betragen soll. Es wurde nachgewiesen, dass das geht. Ich lich muss man sich fragen – das hat die Enquete-Kom- nehme an, dass Sie diese Auffassung teilen. mission getan –, ob nicht angesichts dieser Herausforde- In fast allen klimastrategischen Szenarien, die ich rung für die Menschheit ein anderes großes Risiko in kenne, geht man davon aus, dass bis zum Jahre 2020, Kauf genommen werden muss, also beispielsweise die meist sogar bis zum Jahre 2050, etwa 40 Prozent der Nutzung der Atomkraft, um diese Gefahr abzuwenden. CO2-Einsparungen auf den Einsatz erneuerbarer Ener- Ich erinnere daran, dass der Bundestag das getan hat. Im gien und etwa 60 Prozent auf Effizienzgewinne entfal- Bundestag wurde intensiv darüber diskutiert. Wir haben len. Auf dieser Basis liegen wir weit über dem 40-Pro- 1990 die Studie der Weltenergiekonferenz von Cannes zent-Reduktionsziel. Deshalb ist die Frage der zugrunde gelegt, die eine Verzwölffachung der Atomnut- Reduktion der CO2-Emissionen keine technische Frage, zung vorsah, also von etwa 440 auf weit über 5 000 Re- sondern eine politische und eine ökonomische Frage. aktoren. Das interessante Ergebnis dieser Studie war, Damit hängt alles davon ab, ob wir den politischen Wil- dass die Kohlendioxidemissionen trotzdem von circa len aufbringen, dieses Ziel durchzusetzen, ob wir die 22 Milliarden Tonnen unvertretbar auf über Kraft haben, diese gesellschaftliche Anstrengung zu 40 Milliarden Tonnen ansteigen. Und warum? Weil die stemmen, und bereit sind, die Übergangsphase, die bei verschwenderische – das heißt die sehr ineffiziente – einem Umstieg immer am schwierigsten ist, in Kauf zu Form der Energienutzung nicht beendet wurde. Das ist nehmen. Es geht also darum, ob wir im Hinblick auf un- der eigentliche Kern. sere Zukunftsverantwortung bereit sind, den schwierigen Prozess des Umbaus zu verfolgen. Im Kern geht es nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten um das Ob, sondern um das Wie. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Übrigen sieht man, wenn man das Thema vertieft betrachtet, dass ganz schnell andere Abhängigkeitspro- Ich könnte Ihnen zahlreiche Beispiele nennen. So (B) bleme entstehen. Wir haben heute laut dem Red Book zeigt die für das Bundeswirtschaftsministerium erstellte (D) der OECD eine Reichweite von Uran von 150 Jahren, Studie zur Kraft-Wärme-Kopplung ein Potenzial auf, das bei, wie ausgeführt, etwa 440 Atomkraftwerken in der um eine Größenordnung von 10 Terawattstunden höher Welt. Nehmen Sie einmal das FUSER-Szenario, das von liegt als das Gesamtpotenzial der Atomkraft. Allein über 5 000 Atomkraftwerken ausgeht: Dann beträgt die durch die bessere Einstellung der Heizungsanlagen in Reichweite auf einmal nur noch 15 Jahre. Wer im Ernst Deutschland könnten zwei Großkraftwerke überflüssig kann das verantworten? werden. Das Problem des Stand-by-Betriebes ist Ihnen bekannt. Wenn das 5-Liter-Auto zum Regelfall würde, (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: dann würde der Energieumsatz im Verkehrssektor fast Niemand!) um die Hälfte reduziert. All das sind doch machbare Visionen. Deshalb finde ich es viel interessanter, zu fra- – Das kann niemand verantworten. gen, ob die Politik den Mut hat, Insofern kommen wir an der Feststellung nicht vor- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei, die die Kommission – übrigens auch mit Zustim- NEN]: Ob ihr den Mut habt!) mung der Kollegen von CDU/CSU, FDP und aus der Wissenschaft – einmütig getroffen hat, dass es bei der eine solche gleichsam europäische Mondfahrt zu organi- Lösung des Klimaproblems nicht um den Austausch von sieren. Aber es wäre eine große Chance, um zu zeigen, Brennstoffen geht, sondern darum, unter welchen Bedin- was wir technologisch können. Das trüge auch zu einer gungen wir am besten die Potenziale von Einsparung, stabilen Weltwirtschaft und damit zum Frieden auf Er- Effizienzsteigerung und erneuerbaren Energien mobili- den bei, indem Verteilungskonflikte um Energie und sieren können. Das ist die Kernfrage, die einstimmig von Rohstoffe entschärft werden. Es wäre großartig, wenn der Kommission festgestellt wurde und auf die sie ihre wir Europäer diese Vision Wirklichkeit werden ließen. Empfehlungen bezieht. Das ist die richtige Schlussfolge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung, die wir ziehen müssen. Es geht eben nicht nur um der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE die Entkopplung von Wirtschafts- und Energiewachs- GRÜNEN) tum, sondern es geht um die Frage, unter welchen Bedin- gungen wir eine erhebliche Reduktion des Energieum- Lassen Sie mich drittens noch eines sagen: Es wird satzes erreichen können. häufig gesagt, die Atomkraft müsse noch länger einge- setzt werden, um Zeit zu gewinnen. Seit der ersten Öl- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten preiskrise 1973 kenne ich diese Debatte. Auf obige For- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) derung kann ich nur entgegnen: Umgekehrt wird ein 7586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Parl. Staatssekretär Michael Müller (A) Schuh daraus, wir haben nämlich bei den alternativen kartellartigen Strukturen in der Energieversorgung und (C) Energien schon viel zu viel Zeit verloren. Das ist die mehr nicht. Ihr Grundlaststrom verträgt sich nicht mit Wahrheit. den Anforderungen an eine moderne Energieerzeugung. Gefragt sind dezentrale, schnell regelbare Kraftwerke Vielen Dank. mit Kraft-Wärme-Kopplung, die den wachsenden Anteil (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von Strom aus Wind, Sonne und Bioenergie ergänzen. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Laufzeitverlängerungen bedeuten daher eine fahrlässige NISSES 90/DIE GRÜNEN) Verzögerung im Klimaschutz. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Kurt Hill von der Wer sich für die Strahlentechnik ausspricht, sagt Nein zu Fraktion Die Linke. erneuerbaren Energien. So sieht es aus. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte es ganz deutlich sagen: Es ist unmora- lisch, das Strahlenrisiko der Atomkraft mit den Gefahren Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): des Klimawandels zu rechtfertigen. Die Zahlen sprechen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! eine deutliche Sprache. 29 Milliarden Kilowattstunden Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie Strom produzieren die fünf Atomkraftwerke jährlich, die machen Ihre energiepolitischen Hausaufgaben nicht. Die bis 2010 abgeschaltet werden. Erneuerbare Energien lie- Verbraucherinnen und Verbraucher können das an den fern bis zu diesem Zeitpunkt schon über 100 Milliarden überhöhten Energierechnungen ablesen, und wir alle Kilowattstunden Strom. Bereits 2015 werden die erneu- spüren, insbesondere heute, den Klimawandel. Wie sehr erbaren Energien die Strommengen bereitstellen, die alle die Regierung der Realität hinterherkriecht, lässt sich an jetzigen Atommeiler liefern. Die gefährliche Strahlen- der heutigen Debatte ablesen. Läuft in der Energiever- technik ist überflüssig wie die Pest. Außer dem Energie- sorgung etwas schief, wird panikartig nach mehr Atom- kartell nützt sie niemandem. kraft gerufen. Das, meine Damen und Herren, ist ein (Beifall bei der LINKEN) Tanz um das Goldene Kalb und sonst nichts. (Beifall bei der LINKEN) Auch ich nehme Bezug auf die FORSA-Umfrage: 61 Prozent der Befragten halten einen Ausstieg aus der Das Einknicken der EU-Kommission und der deut- Atomkraft für nicht vertretbar, ehe nicht Sonnen- und schen Ratspräsidentschaft vor der Atomlobby zeigt die Windenergie oder andere Alternativen in einem ver- Konzeptlosigkeit. Frau Künast hat bereits auf die Aus- (B) gleichbaren Umfang zur Verfügung stehen. Wind, Sonne (D) sage unserer Bundeskanzlerin im Deutschlandfunk hin- und Bioenergie können bereits viel mehr als das. Sie gewiesen, dass diejenigen, die gleichzeitig Atomausstieg sparen pro Jahr fast 100 Millionen Tonnen Klimagase und Klimaschutz wollen, natürlich auch aufgefordert ein, senken die Energiekosten jährlich um seien, Antworten zu geben. Wo ist denn die Antwort von 8,9 Milliarden Euro, erfordern keine strahlenden Endla- Frau Dr. Merkel? Sie steht in der Pflicht, eine Antwort ger und stehen für eine friedliche Energienutzung. Fazit: zu geben. Atomkraft schadet dem Geldbeutel und dem Klima und (Beifall bei der LINKEN) nicht mehr. Seit Beginn dieser Legislaturperiode warten wir auf ein (Beifall bei der LINKEN) schlüssiges Energiekonzept der Bundesregierung, das Die Linke fordert deshalb von der Bundesregierung genau diese Fragen beantwortet. ein klares Bekenntnis zum Atomausstieg. Den Schlüssel Die Energiekonzerne nutzen derweil Atommeiler und für die Energiewirtschaft der Zukunft bilden Energieeffi- Klimaschutz als Gelddruckmaschine. Die Zeche zahlen zienz, Energieeinsparung und erneuerbare Energien. Nur die Bürgerinnen und Bürger über die Stromrechnung, in- so gelingt es uns, die Energiesicherheit zu erhöhen und klusive 19 Prozent Mehrwertsteuer. Wenn die abge- den CO2-Ausstoß bis 2050 um 80 Prozent zu senken. schriebenen und maroden Atomblöcke bisher die Strom- Lassen Sie mich jetzt zum Schluss kommen. Ich preise nicht gesenkt haben, warum sollte das durch möchte den Satz der Bundeskanzlerin, den ich eingangs längere Laufzeiten geschehen? Wenn Uran als Brenn- nannte, neu formulieren: Diejenigen, die sich dem stoff zu 100 Prozent importiert werden muss, wie sollen Atomausstieg und dem Klimaschutz verweigern, sind Atomkraftwerke die Versorgungssicherheit erhöhen? jetzt auch aufgefordert, Antworten zu geben. (Beifall bei der LINKEN) Danke schön. Hinzu kommt, dass sie ohnehin im Sommer regelmäßig wegen Kühlwassermangels versagen. (Beifall bei der LINKEN) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – So ist es. Es zeugt von Inkompetenz in der Sache zu Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Dr. Georg behaupten, Atommeiler könnten die Versorgungssicher- Nüßlein von der CDU/CSU-Fraktion. heit erhöhen. Dass sie das Klima retten würden, ist schlichtweg falsch. Denn Atommeiler zementieren die (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7587

(A) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): zu sagen: Herr Minister, ich weise darauf hin, dass das (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Titel nicht die Position der SPD ist. der heutigen Aktuellen Stunde suggeriert, dass es den Antragstellern darum geht, herauszuarbeiten, dass sich (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist doch Quark die Koalitionspartner über die Energiepolitik uneinig hoch drei!) sind. Nun könnte man dazu sagen: Wir sind uns öfter un- – Das hat er gesagt. Das steht so im Protokoll. Aber wir einig. sollten uns an dieser Stelle nicht zur Freude der Grünen (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- streiten. NEN]: Das merkt das ganze Land!) (Ulrich Kelber [SPD]: Peinlich ist das!) Bevor Sie sich über diese Einlassung freuen, füge ich Unterhalten Sie sich mit Ihrem Minister. Er wird Ihnen gleich hinzu: Gott sei Dank! Schließlich kann man nicht sagen, was er mit seiner Äußerung zum Ausdruck brin- in einem Wahlkampf gegeneinander antreten und dann, gen wollte. wenn man in die Situation einer Großen Koalition kommt, immer in allen Punkten vollständig einig sein. (Ulrich Kelber [SPD]: Setzen! Sechs!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Nun komme ich auf einen Punkt zu sprechen, über der SPD) den hoffentlich Einigkeit besteht: das Zielsystem. Wir brauchen eine Energieversorgung, in deren Rahmen Kli- Frau Künast, das müssten Sie aus der Zeit Ihrer Betei- maverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Wirt- ligung an der letzten Regierung auch noch wissen. schaftlichkeit sinnvoll miteinander kombiniert werden. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Position der Union in dieser Frage ist sehr plausibel. NEN]: Aber so schön wie Sie konnten wir das Wir sagen: Wir brauchen einen breiten Energiemix ohne nicht!) ideologische Verengung. Nun sage ich etwas, was Sie vielleicht auch wundern (Beifall bei der CDU/CSU) wird: Wir sind uns in entscheidenden Teilen der Energie- politik sehr wohl einig. Wichtige Beispiele sind für mich Wir müssen den Anteil der fossilen Energien reduzieren, die wachsende Bedeutung erneuerbarer Energien sowie die erneuerbaren Energien aufbauen und die Effizienz des EEG als Instrument zum Ausbau der erneuerbaren steigern. Aber ich meine, dass wir die Kernkraftwerke Energien und die Bedeutung der erneuerbaren Energien weiterlaufen lassen müssen, bis wir sie wirtschaftlich im Wärmebereich. Frau Kollegin Reiche hat zu diesem sinnvoll ersetzen können. (B) Thema heute bereits richtungweisende Ausführungen Dass das nicht so einfach ist, wie der eine oder andere (D) gemacht. suggeriert, möchte ich mit Zahlen belegen: Wir decken Beim Thema Kernenergie sind wir uns, wie ich 28 Prozent unseres Strombedarfs mit Kernenergie ab; meine, einig, und zwar darüber, dass wir uns nicht einig das ist ein Fakt. Die Kernenergie liefert 48 Prozent der sind. Auch das ist eine sehr ehrliche Aussage. Aber viel- Grundlast. Daran werden wir auch durch die verstärkte leicht ändert sich an dieser Uneinigkeit, um die es Ihnen Nutzung von Wind und Sonne – Wind ist der eigentliche vermutlich geht, noch etwas. Denn die Bürgerinnen und Wachstumsmotor der erneuerbaren Energien – nicht viel Bürger fangen immer dann, wenn uns Russland demon- ändern können. striert, was man dort unter „Druschba“ – sprich: Freund- Im Hinblick auf die nachwachsenden Rohstoffe müs- schaft – versteht, damit an, umzudenken bzw. nachzu- sen wir uns um das Thema Mobilität und Wärme küm- denken. Wie wir heute schon gehört haben, hat die mern. Aber ich denke, dass wir das Thema erneuerbare Kanzlerin angemahnt, über den Atomausstieg nachzu- Energien nicht zu sehr strapazieren sollten. Wir sollten denken. Nachdenken schadet der Politik nie. dafür sorgen, dass sie sich weiterhin so gut wie in der (Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt! Dann tun Vergangenheit entwickeln. Dann werden wir alle Freude Sie es endlich!) an diesem Thema haben. Im Übrigen tut das auch Umweltminister Gabriel. In Wenn wir über Effizienzsteigerungen diskutieren, einer der letzten Sitzungen des Umweltausschusses vor müssen vor allem die klimaschädlichen Folgen der Nut- dem Jahreswechsel hat er sich sehr deutlich eingelassen zung von Kohle und Gas im Mittelpunkt stehen. und gesagt: Die ambitionierten klimapolitischen Ziele, Abschließend noch einen Satz zur Kernenergie. Auf die uns von der europäischen Ebene vorgegeben werden, der Welt gibt es insgesamt 444 Kernkraftwerke, 78 da- können wir bei einem gleichzeitigen Ausstieg aus der von in unseren Nachbarstaaten. Daran wird der Ausstieg Kernenergie wohl nicht erreichen. Deutschlands aus der Kernenergie nichts ändern, mithin (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist eine Unwahr- auch nichts an den damit verbundenen Risiken, sehr heit! Eine bewusste Unwahrheit! Das haben wohl aber an den zusätzlichen Abhängigkeiten, in die Sie nicht nötig, Herr Kollege Nüßlein!) wir uns dadurch begeben. Darüber sollten wir nachden- ken. Nachdenken schadet nicht. – Wenn Sie das bestreiten, fragen Sie den Kollegen Schwabe, der unmittelbar neben Ihnen sitzt. Er sah sich (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: in der damaligen Sitzung genötigt, zu remonstrieren und Dann fangen Sie doch endlich damit an!) 7588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dr. Georg Nüßlein (A) Miteinander reden schadet auch nicht. Wenn wir so vor- Der Ausgangspunkt für den Konflikt war, dass Russ- (C) gehen, werden wir sehen, dass die Große Koalition auch land seine Öllieferungen an Weißrussland eingestellt hat. an dieser Stelle vorankommt. Wer solche Lieferengpässe beim Öl heranzieht, um die Kernenergie zu propagieren, der hat nicht verstanden, Vielen herzlichen Dank. dass Öl und Atom nichts miteinander zu tun haben, der (Beifall bei der CDU/CSU) argumentiert vollkommen ideologisch. Ich muss wie Herr Kelber sagen: Wer so argumentiert, der ist nicht in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Lage, das Thema Energieversorgung intellektuell zu Das Wort hat jetzt die Kollegin Bärbel Höhn vom erfassen. Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Recht hat der Mann, damit hat die CDU/CSU ein Pro- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): blem. So sagte – er ist nicht irgendwer in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reden der CDU/CSU, sondern ihr Fraktionsvorsitzender – ges- der Großen Koalition haben deutlich gemacht, wie wich- tern: Wer verhindern wolle, dass sich eines Tages nur tig diese Aktuelle Stunde ist. noch Reiche warme Wohnungen leisten können, müsse den Atomausstieg rückgängig machen. Diese Aussage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist so falsch wie schamlos. Herr Kauder sollte sich schä- Denn ein solches Hin und Her und ein solches Verniedli- men, hier die Ängste der Leute zu schüren. Das geht chen, Herr Nüßlein, habe ich selten gehört. Sie können ja nicht. uneinig sein in unwichtigen Fragen. Allerdings hat Herr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Müller – wie viele andere auch – deutlich gemacht, dass sowie bei Abgeordneten der LINKEN) die Energiepolitik eine der wichtigsten Fragen ist. Die Kanzlerin selbst hat gesagt, die Energiepolitik wird eine Ihre Forderung, die Atomkraftwerke länger laufen zu der zentralen Fragen unserer EU-Ratspräsidentschaft. lassen, bedeutet nichts anderes, als das Oligopol, das wir Doch wie wollen Sie im Rahmen der EU-Ratspräsident- auf dem Energiemarkt haben und das den Energiekon- schaft etwas umsetzen, wenn in einer zentralen Frage der zernen ihre unverschämte und unsoziale Preispolitik er- eine Hüh und der andere Hott sagt, wenn Sie selber noch möglicht, weiter zu fördern. Wer keinen Wettbewerb auf nicht wissen, wohin Sie wollen? Das geht nicht. dem Energiemarkt schafft, wer nicht die Oligopole (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bricht, der ist schuld, wenn die Menschen Wärme eines (B) sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Tages nicht mehr bezahlen können. Deshalb brauchen (D) Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sie verengen wir mehr Wettbewerb auf dem Energiemarkt; nur so dieses Thema auf die Kernenergie!) können wir das Thema endlich in den Griff bekommen. Das schadet letzten Endes Europa. Denn dieses Hüh und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Hott bedeutet, dass Sie die erneuerbaren Energien am bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ende nicht ausreichend nach vorne bringen, dass Sie Wer behauptet, dass wir die Atomkraftwerke länger Energieeffizienz und Energiesparen nicht ausreichend laufen lassen müssten, um von Energieimporten aus nach vorne bringen. Deshalb: Das, was Sie hier reden Russland unabhängiger zu werden – wie Sie das behaup- und was Sie anderswo tun, sind zwei verschiedene Sa- tet haben, Frau Kopp –, der weiß nicht, was er redet. Wo chen. Wir werden das weiter deutlich machen. kommt das Uran denn her? Im Jahre 2004 haben wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 25 Prozent des Urans aus Russland bezogen, liebe Frau sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Kopp. Wissen Sie, welches die anderen Länder sind, aus Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Stimmt über- denen wir Uran bezogen haben? Das waren so vertrau- haupt nicht!) enswürdige Länder wie Niger, Usbekistan und Kasach- stan! Das Jahr ist noch keine drei Wochen alt, da haben Sie in der Energiepolitik schon drei Konflikte: Der erste ist der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Atomausstieg. Der zweite ist das Wärmegesetz. Warum und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sagt Frau Reiche, dass sie das Wärmegesetz nicht will? der SPD) (Widerspruch der Abg. Katherina Reiche Da kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, in [Potsdam) [CDU/CSU] – Dr. Georg Nüßlein welche Unabhängigkeit Sie uns da bringen wollen! [CDU/CSU]: Sie hat das Gegenteil gesagt! Sie Es gibt nur einen Weg, auf dem wir vorankommen müssen schon zuhören! – Peter Rauen [CDU/ können: indem wir auf die erneuerbaren Energien setzen, CSU]: Die Ohren aufmachen und zuhören!) Energie einsparen und die Energieeffizienz steigern. Das Gleichzeitig sagen Sie, dass Sie die erneuerbaren Ener- ist auch die einzige Möglichkeit, mit der wir die Kon- gien nach vorne bringen können. Wie passt das zusam- flikte um knapper werdende Ressourcen lösen können. men? Das werden wir weiter thematisieren. Der dritte ist Die erneuerbaren Energien sind der Weg für den Frieden der Wettbewerb auf dem Energiemarkt, den Sie nicht auf dieser Erde. Deshalb müssen wir die erneuerbaren herstellen wollen. Energien nach vorne bringen, müssen wir sie stärken. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7589

Bärbel Höhn (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie wieso in einigen Medien und insbesondere auch in An- (C) bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) zeigenkampagnen gelegentlich der Eindruck erweckt wird, es gebe eine Renaissance der Atomenergie. Durch Was Sie mit Ihrer Politik, den großen Energiekonzer- die Zahlen wird deutlich, dass es diese Renaissance nicht nen eine Verlängerung der Laufzeit ihrer Atomkraft- gibt. werke in Aussicht zu stellen, erreichen, können wir heute in der „Financial Times Deutschland“ lesen: Wenn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie den Energiekonzernen den kleinen Finger reichen, DIE GRÜNEN) nehmen die gleich die ganze Hand. So verkünden diese Das wird auch nicht dadurch besser, dass gelegentlich heute, sie wollen nicht bis 2020 so weit sein, den CO - 2 überlegt wird – auch von der Union –, wann die SPD so Ausstoß zu reduzieren, sondern erst 2040 damit anfan- weit ist, den Ausstiegsbeschluss infrage zu stellen. Das gen. Deshalb passen Sie auf, was sie tun! wird auch nicht dadurch besser, dass man bestimmte Äu- Wir müssen auch deshalb den Wettbewerb stärken ßerungen im Umweltausschuss missinterpretiert. Ich und auf erneuerbare Energien setzen, weil es nur durch habe das an der entsprechenden Stelle klargestellt, weil eine dezentrale Energieerzeugung endlich zu mehr Wett- Sie den Minister missinterpretiert haben. Ich denke, es bewerb auf dem Energiemarkt kommen wird, sodass es war notwendig, dazu ein paar Sätze zu sagen. Die SPD faire Preise auf dem Energiemarkt geben wird und wir steht ohne Frage zu diesem Ausstiegsbeschluss. Das am Ende nicht durch überhöhte Preise in eine soziale konnte man in den letzten Tagen – ich weiß gar nicht, Schieflage geraten. Momentan müssen die Verbraucher wie häufig – bei den Äußerungen von Herrn Gabriel in und die Wirtschaft die erhöhten Preise der Energiekon- den Zeitungen auch nachlesen. zerne bezahlen, weil sie ein Kartell haben und ihre Man muss sicherlich zur Kenntnis nehmen, – ich weiß Preise absprechen. Das ist unsozial. Deshalb müssen wir nicht, ob man sie loben muss –, dass die Energieversor- auf erneuerbare Energien, Effizienz und Energieeinspar- gungsunternehmen in der letzten Zeit zumindest eine maßnahmen setzen. gute Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit gemacht haben. Lieber Herr Müller, ganz zum Schluss – es wäre nett, Warum entdecken gerade die Stromversorger, die EVUs, wenn Sie zuhören würden –: Sie sprechen hier von die den Klimawandel in den letzten Jahren lange in Ab- Mehrheiten im Bundestag. Ich sage: Schauen Sie doch rede gestellt oder zumindest unterschätzt haben, dieses einmal, dass Sie die Mehrheiten in der Bundesregierung Thema jetzt für sich? Das muss man die Öffentlichkeit erreichen. Dann wären wir schon weiter. wirklich einmal fragen. Wer glaubt denn eigentlich, dass börsennotierte Großkonzerne jetzt aus tiefster Überzeu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung mit der Atomenergie Klimaschutz betreiben wol- (B) und bei der LINKEN) len? Das erzählen mir genau dieselben, die zum Thema (D) Emissionshandel permanent in meinem Büro auf dem Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Stuhl sitzen und erzählen, dass jede Minderungsver- Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von pflichtung, die wir eingehen, eigentlich zu anspruchsvoll der SPD-Fraktion. ist. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frank Schwabe (SPD): Deshalb habe ich den Eindruck – ich glaube, diesen Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! kann man ganz gut untermauern –, dass es überhaupt Verehrte Damen und Herren! Herr Dr. Nüßlein hat ge- nicht um Klimaschutz geht. Ansonsten würden die rade von 444 Atomkraftwerken geredet. Es gibt noch Selbstverpflichtungen, die die Stromversorger eingegan- eine ganze Menge mehr, die zum Glück aber stillgelegt gen sind, eingehalten. Ich denke, mittlerweile glaubt in der Gegend herumstehen oder gar nicht erst ans Netz man auch in der Politik nicht mehr, dass das mit den gegangen sind. Selbstverpflichtungen so funktioniert. Warum werden sie eigentlich nicht eingehalten? Wenn sie hinsichtlich Nach meinen Zahlen waren Ende des letzten Jahres der CO -Minderung und des Klimaschutzes eingehalten 442 Atomkraftwerke am Netz. Mittlerweile sind wir bei 2 würden, dann müssten wir uns mit der Europäischen 437. Warum eigentlich? – Dies sind wir deshalb, weil Kommission nicht mehr über den Nationalen Alloka- pünktlich zum Jahreswechsel – das ist wunderbar – fünf tionsplan streiten. Warum werden sie nicht eingehalten? Atomkraftwerke vom Netz gegangen sind. So ist näm- lich die Realität. Es ist auch gut so, dass das so gesche- (Beifall bei der SPD) hen ist. In den nächsten Jahren werden weitere 200 vom Netz gehen. Selbst dann, wenn heute alle auf der Welt Es geht also um die Gewinnmaximierung einiger. anfangen würden, neue Atomkraftwerke zu planen, Durch jeden weiteren Tag, den ein alter Atomreaktor am würde die Stromversorgung durch die Atomenergie bis Netz ist, erhält man eine Menge Geld. Das ist eine Ma- zum Jahre 2020 weiter zurückgehen. So ist die aktuelle schine zum Gelddrucken. Es geht um Gewinnmaximie- Situation. rung. Das ist ja erst einmal nichts Schlechtes und ein Ziel in der Wirtschaft, das man durchaus vertreten kann. 17 von 27 Ländern der Europäischen Union nutzen Das ist keine Schande.Aber man muss es auch so benen- keine Atomenergie oder haben gesagt, dass sie ausstei- nen. Man darf den Menschen keinen Sand in die Augen gen wollen. Insofern kann ich gar nicht nachvollziehen, streuen. Es muss klar sein, wer welche Aufgabe hat und 7590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Frank Schwabe (A) dass Politik – also wir – die Aufgabe hat, Klimaschutz weil Sie auch heute wieder Antworten schuldig geblie- (C) zu betreiben und für die Sicherheit der Menschen zu sor- ben sind. gen und eben nicht die Gewinnmaximierungsinteressen der großen Unternehmen zu vertreten. Die Wahrheit ist nämlich immer konkret. Ich will gerne die Themen, die bereits von verschiedener Seite International betrachtet ist das Argument der ver- angesprochen worden sind, noch einmal aufgreifen. meintlichen Rettung des Klimas über Atomenergie gera- dezu lachhaft, wenn klar wird, dass selbst größte An- In der Tat ist es richtig, dass das Einsparen von Ener- strengungen – das könnte man jetzt lange ausreizen – gie und die Verbesserung der Energieeffizienz das wirk- nicht dazu führen werden, dass man beim Primärener- samste, schnellste und kostengünstigste Mittel ist, den gieverbrauch jemals auch nur über 10 Prozent kommen Energieverbrauch zu reduzieren und damit einen wert- wird. vollen Beitrag zur Verringerung der Treibhausgasemis- sionen zu leisten. Da sind wir uns in der Regierung und, (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- wie ich glaube, im ganzen Haus weitestgehend einig. Eckardt) Unsere Bundesregierung hat da bereits sehr viel unter- Auch national ist die Debatte – das muss man wirk- nommen und auch Positives erreicht. Ich nenne nur ein- lich mit allem Bedacht sagen – verlogen. Das, was in der mal das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das einen Klimadebatte und in der Frage der Versorgungssicher- Renner darstellt, jetzt ergänzt um eine Zuschussvariante heit jetzt notwendig ist, ist nichts anderes als das, was für Eigenheimbesitzer. Durch dieses Programm wird der Herr Staatssekretär gesagt hat, nämlich eine energie- nachhaltig CO2 eingespart, und zwar nicht irgendwann politische Revolution. Es sind Quantensprünge im Be- in der Zukunft, sondern heute, mit einem Volumen von reich von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien fast 2 Milliarden Euro pro Jahr. Außerdem ist es ein Mit- notwendig. Eine Verlängerung der Nutzung der nicht zu- telstandsbeschäftigungsprogramm und hat weitere posi- kunftsfähigen Atomenergie führt nicht zum Umstieg auf tive Auswirkungen. eine andere Energieversorgung, die den Klimaschutz in Aber mit all den Bemühungen schaffen wir es gerade den Mittelpunkt rückt. einmal, 20 Prozent bis 2020 einzusparen. Auf das (Beifall bei der SPD) Jahr 2020 komme ich noch zu sprechen; das ist nämlich unser momentaner Zielhorizont, was den Klimaschutz Notwendig ist jetzt zweierlei: erstens die Erkenntnis und den Kernenergieausstieg, wie er jetzt im Gesetzblatt – es ist gut, dass auch viele junge Menschen hier anwe- steht, anbelangt. In dem EU-Grünbuch wird nachgewie- send sind –, dass wir an dem Thema Klimaschutz nicht sen, dass wir, Herr Staatssekretär Müller, 20 Prozent des vorbeikommen werden. Das wird die Energieversorgung Energieverbrauchs bis 2020 einsparen können; so weit, (B) in der Welt dramatisch verändern. Diejenigen, die sich so gut. (D) als Erste darauf einstellen, werden entsprechend gut da- stehen. Ich hoffe, dass die Bundesrepublik Deutschland (Ulrich Kelber [SPD]: Mit heutigen Technolo- das tut. Zweitens ist es notwendig, jetzt den Mut aufzu- gien!) bringen, den Umstieg zu organisieren. Das ist die Ver- antwortung, die wir gemeinsam haben, ob beim Emis- – Mit heutiger und auch mit weiterer Technologie. – sionshandel, beim Wärmegesetz oder bei anderen Lassen Sie es 30 Prozent sein. Aber wir sind uns auch ei- Dingen. nig, dass wir in Zukunft auf jeden Fall nicht null Ener- gieverbrauch haben werden, sondern 70 oder 80 Prozent Es gibt gute, wie ich finde: überragende, Gründe, die des heutigen Energieverbrauchs. Die Frage ist: Wie er- gegen die Nutzung der Atomenergie sprechen. Es mag zeugen wir diese 70 oder 80 Prozent der Energie? ganz spezielle Gründe – wenn auch keine guten – dafür geben, die Atomenergie weiter zu nutzen. Der Klima- Dabei werden unzweifelhaft die erneuerbaren Ener- schutz, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist allerdings gien eine wichtige, herausragende Rolle spielen. Aber garantiert keiner dieser Gründe. auch heute habe ich niemanden getroffen, dessen An- nahme optimistischer war, als dass wir bis zum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahr 2020 maximal 30 Prozent des Stromverbrauchs in der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Deutschland aus erneuerbaren Energien produzieren. Ich GRÜNEN) glaube, es gibt niemanden, auch nicht hier im Saal, der sagt, dass mehr realistisch wäre, von wirtschaftlichen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gesichtspunkten einmal ganz zu schweigen. Im Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/ Jahr 2006 waren es knapp 12 Prozent; die Zahlen sind CSU-Fraktion. gerade erst letzte Woche veröffentlicht worden. Das (Beifall bei der CDU/CSU) heißt, wir schaffen es genau bis 2020 – der Kollege Nüßlein hat es angesprochen –, die Kernenergie durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Knapp 30 Prozent der Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Stromproduktion kommen heute aus Kernkraft, und wir Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und schaffen es, diese 30 Prozent bis zum Jahr 2020 zu erset- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, zen. Aber was passiert mit den übrigen 70 Prozent? wenn jemand heute den Intellekt anderer beleidigt, dann sind Sie es, weil Sie sich nach wie vor beharrlich wei- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gern, Zahlen und Fakten zur Kenntnis zu nehmen, und Aber das ist doch die falsche Richtung!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7591

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Die fliegen nicht wie das Manna vom Himmel, sondern Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) die müssen aus fossilen Energien erzeugt werden, was in Der Kollege Axel Berg bekommt das Wort für die Bezug auf den Klimaschutz mit Sicherheit nicht hilfreich SPD-Fraktion. ist. Wir haben eine Chance. Deshalb sollten wir jetzt Dr. Axel Berg (SPD): nicht darüber schwadronieren, was man in Niger oder in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! China oder sonst wo erreichen kann, sondern die Frage Dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen eine ist: Was können wir konkret hier in Deutschland tun? Aktuelle Stunde zum Thema klimaverträgliche Energie- Wir können durch eine Verlängerung der Laufzeit der versorgung einberufen hat, ist lustig. Sie fragt nicht die Kernkraftwerke erreichen, im Jahr 2020 60 Prozent des Bundesregierung nach ihrer Auffassung, sondern will, Stroms immissionsfrei zu erzeugen, nämlich 30 Prozent dass das Parlament für die Regierung antwortet. Auch aus Kernenergie und 30 Prozent aus erneuerbaren Ener- gut, das machen wir natürlich mit Vergnügen. gien. Zunächst darf ich feststellen, dass die Kanzlerin ein- deutig zum Koalitionsvertrag und damit zum Atomaus- (Ulrich Kelber [SPD]: Nicht Stromerzeu- stieg steht. Wie Sie wissen, bestimmt die Bundeskanzle- gung!) rin die Richtlinien der Politik. Das als Einstieg und erste Das heißt, dann müssten nur noch 40 Prozent aus fossi- Antwort, auch für die Kollegen Nüßlein und Pfeiffer. len Brennstoffen erzeugt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich gibt es parteipolitische Differenzen – Herr Sie bringen alles durcheinander!) Nüßlein, Sie haben es angesprochen – zwischen der SPD und der Union. Aber das ist Parteipolitik und eben nicht Mit dem jetzt eingeschlagenen Weg erreichen wir das Regierungshandeln und schon gar nicht gesetzgeberi- Gegenteil. Genau aus diesem Grund sind wir der Mei- sche Tätigkeit. nung, dass wir die Kernenergie brauchen, und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, nicht nur aus Diversi- Die Diskussion um die Kernkraft und deren vorgebli- fizierungsgründen, sondern gerade wegen des Klima- che positive klimapolitische Bilanz gleicht dem Austrei- schutzes. ben des Teufels mit dem Beelzebub. Atomkraft ist mit- nichten klimafreundlich. Denken Sie doch nur an den Jetzt reden wir – – CO2-Ausstoß beim Uranabbau, beim Transport, beim Kraftwerksbau – das sind Kolosse aus Beton und Stahl –, (B) (Jörg Tauss [SPD]: Wer ist wir?) beim Bau und beim Bewachen eines Endlagers für Tau- (D) sende von Jahren. – Wir als Union, Sie vielleicht auch noch einmal; denn irgendwann werden Sie ja auch noch gescheiter – wenn (Zurufe von der CDU/CSU) nicht in diesem Leben, dann aber vielleicht im nächsten. Doch selbst, wenn es anders wäre, liebe Meckerer unter (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihnen, wäre es unverantwortlich, unserer Nachwelt, den NEN]: Sie müssen erst einmal gescheiter wer- Generationen der nächsten tausend Jahre, strahlenden den!) Müll zu hinterlassen, um den diese sich dann kümmern müssen, obwohl diese Generationen nur noch aus den Unser jetziges Klimaschutzziel ist eine Reduzierung Geschichtsbüchern wissen werden, dass es in der Ge- des Ausstoßes klimaschädlicher Gase um 21 Prozent in schichte der Menschheit einmal eine kurze Phase gab, in Deutschland bis zum Jahr 2012. Das haben wir verabre- der Atomkraft genutzt wurde. det. Bis 2020 wollen wir sogar eine Reduktion um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 40 Prozent. Das können wir machen, aber heute Morgen DIE GRÜNEN) hat noch niemand dargelegt, wie er dieses Ziel ohne den Beitrag der Kernkraft erreichen will. Die Gefahr eines Unfalls oder eines Anschlags stelle ich dabei gar nicht in Rechnung. Das alles ist doch weder (Ulrich Kelber [SPD]: Sie waren in der En- verantwortungsvoll noch irgendwie nachhaltig. quete-Kommission, wo das aufgeschrieben wurde! Sie haben das mit aufgeschrieben! Sie Mir scheint, bei der Debatte hat sich die Atomindus- erinnern sich noch nicht einmal an Ihre eige- trie in ihrer eigenen Desinformationskampagne ein biss- nen Papiere!) chen verheddert. Sie selbst will bis 2020, also noch be- vor wir in Deutschland endgültig ausgestiegen sind, rund – Herr Kelber, Sie haben die Chance, das nachher noch 160 Terawattstunden atomar erzeugen. Die Branche der darzulegen. Ich bin gespannt darauf. Bisher habe ich es erneuerbaren Energien verspricht wiederum, bis dahin noch von niemandem gehört. 240 Terawattstunden zu erzeugen, also ein Drittel mehr. Diese Branche hat sich in den letzten Jahren als wesent- Vielen Dank. lich glaubwürdiger dargestellt. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [SPD]: Haben Sie Ihre eigenen Papiere verges- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sen?) LINKEN) 7592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dr. Axel Berg (A) Darüber hinaus sind wir an qualitativem und nicht nur an Lasst uns doch lieber gemeinsam darüber diskutieren, (C) rein quantitativem Wachstum mit einem höheren Ener- wie wir eine innovative, fortschrittliche und nachhaltige gieverbrauch interessiert. Energiestrategie organisieren! Letztlich wollen wir dies doch alle, wie aus den grundsätzlichen Beteuerungen der Frau Merkel hat am Wochenende die Anhänger des Kollegen hervorgeht. Noch haben wir den First-Mover- Atomausstiegs aufgefordert, Alternativen für Strom aus Vorteil, der uns beispielsweise zum „Windweltmeister“ Uran zu nennen. Dieser Aufforderung möchte ich natür- machte und der deutschen Windindustrie 2005 eine lich gerne nachkommen: Exportquote von mehr als 70 Prozent bescherte. Das ist Erstens. Wir dürfen diese Diskussion nicht auf den der First-Mover-Vorteil. Strom verengen, wie es auch in dieser Debatte wieder Sofern uns der Klimawandel nicht schon vorher vom der Fall war. Wir müssen immer die gesamte Energie se- Planeten vertreiben sollte, werden sich die erneuerbaren hen, also auch die Wärme und den Verkehr. Bei der Energien doch sowieso durchsetzen, schon deshalb, weil Wärme hilft uns beispielsweise ein massiver Ausbau der Öl und Gas genauso wie Kohle und Uran irgendwann KWK, der Kraft-Wärme-Kopplung. Hier können wir einmal erschöpft sein werden. Also lasst uns bei den an- schon jetzt Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent errei- deren Technologien der erneuerbaren Energien Welt- chen. Das ist eine Technologie für die mittelfristige meister werden und nicht an der Atomkrafttechnologie Energieversorgung im Strom- und Wärmebereich. Stat- festhalten, die weltweit ein Auslaufmodell ist! ten wir unsere Kraftwerke damit weiter massiv aus, kön- nen wir Anlagen zur einfachen Wärmeproduktion ab- schalten. Außerdem soll ein Erneuerbare-Energien- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wärmegesetz beschlossen werden. Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Beim Verkehr geht es darum, Sprit aus fossilen Brennstoffen durch Biosprit zu ersetzen. Mit Atomreak- Dr. Axel Berg (SPD): toren ist außer U-Booten bisher noch nie etwas gefahren. Wir müssen jetzt das langfristige Ziel ins Auge fassen und es konsequent verfolgen. Dies ist eine umfassende (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) regenerative Energieversorgung. Zweitens. Mit der Erfindung der Dampfmaschine Ich danke Ihnen. kam vor 200 Jahren die Industrialisierung mit Massen- produktionen in Gang. Mithilfe einer Maschine konnte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Mann die Arbeit erledigen, für die man vorher der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- 100 Männer brauchte. Seitdem wurde der Faktor Arbeit NISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) extrem rationalisiert; das ist einer der Gründe für die Ar- (D) beitslosigkeit, die wir heute haben. Ich bin davon über- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zeugt, dass wir in wenigen Jahrzehnten ebenso 100-mal Für die CDU/CSU-Fraktion hören wir jetzt den Kol- mehr Licht aus einer Kilowattstunde Strom erzeugen legen Franz Obermeier. können und 100-mal so viel Arbeit aus einem Kubikme- ter Holz herausholen können. (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Was meint denn Herr Stoiber zur Ener- Drittens. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind rund gie? – Ulrich Kelber [SPD]: Bist du für Stoiber 90 Prozent der Energieforschungsmittel der OECD-Län- oder für Beckstein?) der, also der reichen Industrieländer, in die Kernener- gieforschung geflossen. Insofern ist es überhaupt kein Wunder, dass wir in der Entwicklung der Effizienztech- Franz Obermeier (CDU/CSU): nologien und der Technologien der erneuerbaren Ener- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Lassen gien noch nicht weiter sind. Sie mich ein paar Gedanken zu dieser Aktuellen Stunde vortragen. Zunächst einmal möchte auch ich mich darum 2004 wurden gerade einmal 2,5 Prozent des weltwei- bemühen, die Fragestellung der Grünen zu beantworten. ten Energieverbrauchs – diese Zahl ist bekannt; sie Ja, wir haben eine Große Koalition. Diese Große Koali- wurde vorhin erwähnt – durch Atomstrom gedeckt. Für tion hat eine große Menge an Gemeinsamkeiten und in 60 Jahre Forschung ist das eine historisch einmalige einer Frage, in der Energiepolitik, Fehlallokation von Forschungsmitteln, gepaart mit extremem Marktversagen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist eine Kernfrage!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in der Kernenergiefrage, In dieser Situation befinden wir uns jetzt. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch in der Gesundheitsfrage!) Bereits mehrere Enquete-Kommissionen zu Energie- fragen haben sich des Themas der Kernenergienutzung sind wir unterschiedlicher Auffassung. Das ist nichts Be- angenommen. Also sollten wir uns jetzt nicht allzu lange sonderes. In einer guten Demokratie muss es so sein, mit diesen ollen Kamellen, mit dieser veralteten Techno- dass zwei große Volksparteien miteinander koalieren logie, aufhalten. können. Denn wir sind keine Einheitspartei, Herr Hill; (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7593

Franz Obermeier (A) wir sind demokratische Parteien, die ihre eigenen An- Im Übrigen stand die Lautstärke, mit der Sie die (C) sichten zu dem Thema haben. Frage nach den Treibhausgasemissionen beantwortet ha- ben, Frau Künast, im umgekehrten Verhältnis zur Logik (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Wir sind eine des Inhalts. demokratische Partei, keine Einheitspartei!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Gemeinsamkeiten sind sehr breit angelegt. Es ist Frau Merkel hat eine andere Ansicht! Dann schon eine ganze Reihe davon genannt worden. Was die haben Sie schon wieder Streit!) Förderung der erneuerbaren Energien angeht, besteht eine Gemeinsamkeit darin, dass wir alle Möglichkeiten Es ist unbestreitbar ein Problem, wenn wir in kurzer Zeit ausschöpfen wollen, die erneuerbaren Energien und die 30 Prozent der Stromerzeugung CO2-frei substituieren Nutzung der nachwachsenden Rohstoffe so schnell wie müssen. Das wird nur mit fossiler Energie möglich sein. möglich in die Energiemärkte in der Bundesrepublik Dagegen wehren wir uns. Wir vertreten den Standpunkt, Deutschland und in Europa einzuführen, auch wenn sich dass mittel- und langfristige Strategien notwendig sind, die jeweiligen Vorstellungen in geringen Nuancen unter- bei denen sowohl die ökonomischen als auch die ökolo- scheiden. gischen Aspekte – sprich: die CO2-Implikationen – be- rücksichtigt werden, um dem Riesenproblem der sozialen In der heutigen Debatte ist zum Beispiel die Frage der Frage in der Bundesrepublik Deutschland einigermaßen Ökonomie ziemlich vernachlässigt worden. Ich möchte gerecht zu werden. Denn unser größtes Problem ist nach näher darauf eingehen, weil wir in den sieben Jahren der wie vor die Massenarbeitslosigkeit, die wir nur durch rot-grünen Regierung feststellen mussten, dass die öko- eine Stärkung im internationalen Wettbewerb bewältigen nomische Betrachtung der Energiepreise relativ wenig können. Berücksichtigung fand. Die Grünen haben – das haben wir in der Energie-Enquete hinlänglich verfolgen müs- Herzlichen Dank. sen – den Aspekt der volkswirtschaftlichen Auswirkun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen hinsichtlich der dirigistischen Eingriffe durch eine Regierung nicht berücksichtigen wollen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wenn es jetzt um die Frage der technischen Möglich- Für die SPD spricht jetzt der Kollege Christoph Pries. keiten zur Nutzung der nachwachsenden Rohstoffe geht, dann müssen wir auch den ökonomischen Aspekt in den (Beifall bei der SPD) Vordergrund rücken. Christoph Pries (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Es geht um die offenen Fragen hinsichtlich der moder- Als ich am 8. Januar vom Stopp der russischen Erdöllie- nen Energiepolitik. Die Frage, wie die Versorgungs- ferungen erfuhr, schossen mir sofort zwei Gedanken sicherheit in Europa und in der Welt ohne Kernkraft ge- durch den Kopf: Erstens. Das ist eine Situation, die währleistet werden kann, ist sehr wohl relevant, auch zeigt, wie abhängig wir von einer sicheren Energiever- wenn – wie von den Rednern der SPD ausgeführt wurde – sorgung sind. Das ist eine Situation, die zeigt, dass es der Anteil anderer Energiequellen relativ gering ist. In uns gelingen muss, wirtschaftliches Wachstum und der Bundesrepublik Deutschland wird der Grundlastbe- Energieverbrauch zu entkoppeln. Das ist eine Situation, darf fast zur Hälfte aus Strom aus der Kernenergie ge- die zeigt, wie wichtig unsere Anstrengungen im Hin- deckt. Das ist deswegen ein Problem, weil beispiels- blick auf mehr Energieeffizienz und mehr Energieein- weise bei der Windkraftleistung die zehnfache Menge sparung sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien notwendig wäre, um Grundlaststrom zu ersetzen. sind. (Ulrich Kelber [SPD]: Na, na! Lesen Sie die Mein zweiter Gedanke war etwas profaner. Mir war neuen Forschungsergebnisse!) unmittelbar klar, dass ich einmal mehr an dieser Stelle zum Thema Atomenergie reden würde. Manche Zuhörer –Sie sollten die dena-Studie lesen, die schließlich eini- werden sich vielleicht fragen, warum das. Sachlich be- germaßen objektiv ist. Der könnten Sie schon glauben. steht natürlich zwischen Erdölimporten und Atomstrom (Ulrich Kelber [SPD]: Da steht aber etwas an- kein Zusammenhang. deres drin!) (Beifall bei der SPD) Das bedeutet, dass wir sehr wohl die Frage berück- Das Beispiel vom Auto, das mit Benzin und Diesel fährt, sichtigen müssen, wie wir den Umstieg von den her- und von Atomkraftwerken, die lediglich Strom erzeu- kömmlichen Wandlungstechniken hin zu den moderne- gen, muss ich hier nicht wiederholen. Es wurde schon so ren nachwachsenden Rohstoffen gestalten. In der CDU/ oft gesagt. Nichtsdestotrotz ist es die Wahrheit. CSU-Bundestagsfraktion vertreten wir dabei die Auffas- sung, dass wir auch aus ökonomischen Gründen die Erdöl wird in Deutschland lediglich zu 1,6 Prozent in Kernkraft zumindest als Brücke in das neue Zeitalter der Stromerzeugung eingesetzt. Man sollte also anneh- dringend brauchen. Das bitte ich, immer wieder zu be- men, dass wir nicht über mehr Atomstrom, sondern über rücksichtigen. einen geringeren Spritverbrauch diskutierten, wie es Umweltminister Gabriel gefordert hat. Wer aber die Dis- (Beifall bei der CDU/CSU) kussionen in den letzten Monaten verfolgt hat, dem 7594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Christoph Pries (A) musste klar sein: Der Stopp der Öllieferungen aus Russ- Da wären zweitens die Subventionen. Auch der finni- (C) land würde den interessierten Kreisen als willkommener sche Reaktor konnte lediglich auf der Grundlage massi- Auftakt für die diesjährige Atomdebatte dienen. Neue ver staatlicher Hilfen und Stromabnahmegarantien reali- Sachargumente haben die zahlreichen Wortmeldungen in siert werden. Ohne den Griff in die Tasche des den letzten Tagen nicht hervorgebracht. Aber darum geht Steuerzahlers werden neue Atomkraftwerke nirgendwo es auch gar nicht. Vielmehr geht es darum, das Thema in Westeuropa ans Netz gehen. Atomenergie um jeden Preis auf der Tagesordnung zu halten. Das Ergebnis der aktuellen Diskussion lässt sich (Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: daher in drei Sätzen kurz und knapp zusammenfassen: Der bayerische Steuerzahler hat Finnland ge- holfen!) Erstens. Zwischen Union und SPD bestehen weiterhin Da wären drittens die üblichen Kostensteigerungen. unterschiedliche Auffassungen über die Nutzung der Der Hersteller liefert den Reaktor zum Festpreis von Atomenergie. 3 Milliarden Euro. Dieser Schnäppchenpreis wurde von Zweitens. Für eine Änderung des Atomgesetzes gibt Experten von Anfang an als unrealistisch niedrig einge- es keine parlamentarische Mehrheit. stuft. Hinzu werden weitere Verluste kommen. Alleine die Konditionalstrafen und die Schadenersatzverpflich- Drittens. Der Atomausstieg steht daher nicht zur Dis- tungen durch die Bauverzögerungen werden bereits auf position. rund 1 Milliarde Euro geschätzt. In Finnland treffen die Kostensteigerungen das ausführende Unternehmen. Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erfahrungen in der Vergangenheit lehren aber, dass bei der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE zukünftigen Projekten der Steuerzahler zur Kasse gebe- GRÜNEN) ten wird. Ich möchte noch auf eine Meldung aus den letzten Ta- Ein Beispiel aus meiner Heimat: Der Schnelle Brüter gen eingehen. Der Kollege Wanderwitz meldete sich in in Kalkar am Niederrhein war einst auch ein Prestigeob- der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ zu Wort. In jekt der Atomindustrie. Er hat zwar nie Strom erzeugt, seiner Funktion als Sprecher der Jungen Gruppe in der dafür aber knapp 3,6 Milliarden Euro verschlungen. Die Unionsfraktion sprach er sich für den Neubau von Atom- einst gepriesene Brütertechnologie war weltweit ein si- kraftwerken aus. cherheitstechnisches und finanzielles Fiasko. Statt erneut (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) viel Geld in eine Technologie von gestern zu stecken, sollten wir lieber mutig in die Technologien und Arbeits- – Herr Mißfelder, ich finde das gut. Ich finde es gut, dass plätze von morgen investieren. (B) diejenigen hier im Hause, die Atomkraftwerke bauen (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, las- wollen, dies endlich offen zugeben. Ich finde das gut, sen Sie uns unsere Energie auf Fortschritte in den Berei- weil es den Bürgerinnen und Bürgern deutlich macht, chen Energieeffizienz, Energieeinsparung und erneuer- dass viele, die von Reststrommengen oder längeren bare Energien konzentrieren, bei denen wir uns Laufzeiten reden, eigentlich neue Atomkraftwerke mei- grundsätzlich einig sind. Lassen Sie uns weniger Energie nen. darauf verwenden, zu betonen, wo wir bekanntermaßen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unterschiedlicher Auffassung sind. Das wäre in jeder DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD], zu Hinsicht ein wichtiger Beitrag zur Energieeffizienz und Abg. Philipp Mißfelder [CDU/CSU] gewandt: zum Klimaschutz. Als Erstes wollen wir die Liste mit den Stand- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: orten, Herr Mißfelder!) Und zur Energieeinsparung!) Ich finde das gut, weil man den Bürgerinnen und Bür- Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit. gern dann deutlich machen kann, was sie zukünftig in Deutschland wieder erwarten könnte. (Beifall bei der SPD) Wenden wir uns kurz dem einzigen Neubauprojekt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Atomindustrie in Westeuropa zu, dem europäischen Druckwasserreaktor in Finnland. Lassen wir das erste Als letzter in der Aktuellen Stunde hat der Kollege Jahr nach Baubeginn Revue passieren, treffen wir auf Uli Kelber für die SPD-Fraktion das Wort. viele alte Bekannte aus 50 Jahren Atomenergie. Da wä- (Beifall bei der SPD) ren erstens die üblichen technischen Probleme und Bau- mängel sowie die daraus folgenden Bauverzögerungen. Nur ein Jahr nach Baubeginn hat sich der Termin für die Ulrich Kelber (SPD): Fertigstellung des Projektes bereits von 2009 auf 2011 Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und verschoben. Der Grund dafür sind gravierende Mängel Herren! Es wäre in der Tat gut, wenn wir in Deutschland in der Bauausführung: schlechte Bauplanung, mangel- endlich über die wirklich notwendigen Schritte zum Kli- hafte Betonqualität und jetzt der Austausch fehlerhafter maschutz sprechen würden, über Energieeffizienz und Rohre im Reaktorkühlsystem. erneuerbare Energien, aber nicht über eine Dinosaurier- technologie wie die Atomkraft, die zur Nutzenergiever- (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist unglaublich!) sorgung in Deutschland – es wurden immer die Zahlen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7595

Ulrich Kelber (A) weltweit erwähnt – gerade einmal etwas mehr als Zweitens. Atomenergie bietet das Gegenteil von (C) 5 Prozent beisteuert. Preisstabilität, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Atomkraftwerke sind Kraftwerke der Monopolisten. (Gudrun Kopp [FDP]: Was?) (Gudrun Kopp [FDP]: Was ist mit der Stein- Schon deswegen ist sie kein wichtiger Bestandteil einer kohle?) Politik für den Klimaschutz. Die erneuerbaren Energien tragen fast 8 Prozent zur Energieversorgung bei und ihr Es sind die Monopolisten, die die hohen Preise diktieren. Anteil steigt jedes Jahr um einen Prozentpunkt. Heute gab es ein neues Gutachten der Industrie, in wel- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Grundlast!) chem nachgewiesen wird, dass diese Monopolisten ver- mutlich die Strombörsen manipulieren, um Preise, die Machen Sie es doch einfach der SPD nach: Sprechen um 30 bis 40 Prozent höher liegen, durchzusetzen. De- Sie mit uns, mit Bundesumweltminister ren Spielzeuge, die Meiler der Monopolisten, wollen Sie über ökologische Industriepolitik, noch länger am Netz lassen? (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Der ist doch gar (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht da!) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) über Arbeitsplätze durch Technologievorsprung, Inge- nieurleistung beim Einsparen von Energiebedarf und Geben Sie doch endlich den Wettbewerbern freien über erneuerbare Energien, die jedes Jahr preisgünstiger Raum. Geben Sie denen die Möglichkeit, mit einzugrei- statt teurer werden. fen und damit die Preise zu senken. Wenn ich schon den (Beifall bei der SPD) Satz höre: Brücke zum Solarzeitalter. – Neben der Tatsa- che, dass man irgendwann auch einmal über die Brücken Wir können so Versorgungssicherheit, Preisstabilität und gehen muss, muss man feststellen, dass die Verlängerung Klimaschutz unter einen Hut bringen und in allen drei der Laufzeit der Kraftwerke der Monopolisten, die das Feldern erfolgreicher sein als mit der heutigen fossilen Solarzeitalter so weit wie möglich nach hinten hinaus- und nuklearen Energieerzeugung. Wir müssen den schieben wollen, nichts anderes heißt, als das Solarzeit- Kleinmut einstellen. Eine andere Energieversorgung ist alter nach hinten zu verschieben. Das steckt hinter dem machbar, finanzierbar, und sie ist wirtschaftlich sinnvoll. Gerede von der Brücke. Aber die Debatte von heute ist nun einmal auch zum (Beifall bei der SPD) Thema Atomenergie angesetzt worden. Wir als SPD ha- (B) ben in den letzten Wochen einen Fehler gemacht. Drittens. Atomstrom ist nichts für den Klimaschutz. (D) Er ist nicht CO2-frei. Ich lasse die Argumente der auf- (Gudrun Kopp [FDP]: Nicht nur einen!) wendigen Uranbeschaffung und des Baus weg und be- schränke mich nur auf den Betrieb. Ein Atomkraftwerk Wir haben auf die laufenden Angriffe der Atomlobby, in kann im Gegensatz zu modernen, dezentralen Kraftwer- welcher Ausprägung auch immer, immer nur mit dem ken nicht produktiv gleichzeitig Strom und Wärme pro- Hinweis reagiert, der Vertrag werde eingehalten. Das duzieren. Zwei Drittel der produzierten Energie geht als werden wir beenden. Wir werden ab jetzt die Argumente Wärme über die Kühltürme in die Atmosphäre oder in wieder stärker in den Vordergrund stellen, mit denen sich die Flüsse hinein. Das heißt, zu Atomkraftwerken gehö- die Atomlobby auseinandersetzen muss. ren Millionen von Einzelheizungen in Wohnungen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Firmengebäuden, die dann laufend CO2 produzieren. Je- der LINKEN) der, der von Energiepolitik etwas Ahnung hat, weiß des- wegen, dass moderne Kraft-Wärme-Kopplungskraft- Es gibt keinen Grund, weder für den Klimaschutz noch werke – sogar solche, die auf fossiler Basis betrieben für die Versorgungssicherheit und schon gar nicht für die werden – eine bessere CO2-Bilanz haben als die Summe Preisstabilität, auf Atomenergie zu setzen. Ich nenne Ih- aus Atomkraftwerken und Einzelheizungen. nen fünf Argumente: (Beifall bei der SPD) Erstens. Keine Versorgungssicherheit durch Atom- energie. Uran, das zu 100 Prozent importiert wird, wird Viertens, Endlagerung. Kein einziges Land auf der jetzt schon knapp, weil keine Minen mehr exploriert Welt hat das Problem, für 250 000 Jahre tödlichen Müll wurden und in wenigen Jahren die Lagerstätten für leicht sicher zu verwahren, gelöst. Was in Deutschland pas- gewinnbares Uran erschöpft sind. siert, das finde ich schon spannend. Herr Pfeiffer, Ihre Landesregierung, gestellt von CDU und FDP (Beifall bei der SPD – Gudrun Kopp [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Sie sind nicht auf (Zuruf der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) dem neuesten Stand!) – Frau Kopp, dort ist Ihre Partei auch einmal an der Re- Außerdem liefert Atomstrom keinerlei Beitrag zur Ver- gierung beteiligt; Baden-Württemberg ist eines der bei- sorgung im Wärmebereich und im Treibstoffbereich, die den Länder –, mehr als zwei Drittel unseres Energiebedarfs ausma- chen. Was sollen wir also mit der Atomkraft, wenn wir (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir sind in drei die Versorgungssicherheit gewährleisten wollen? Ländern an der Regierung!) 7596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Ulrich Kelber (A) schreibt an den Bundesumweltminister Briefe. Sie for- Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer (C) dert in Bezug auf das Endlager in der Schweiz, dass Abgeordneter und der Fraktion der FDP nicht an einem Standort exploriert wird, sondern dass der bestgeeignete Standort in der Schweiz gefunden Wissenschaftssystem zukunftsfähig gestal- wird. Dies sei nach internationalen Kriterien das einzig ten – wissenschaftsadäquate Arbeitsbedin- akzeptable Verfahren. Die gleiche Landesregierung ver- gungen schaffen weigert den deutschen Bürgern ein solches Endlager auf – Drucksachen 16/3286, 16/4043 – deutschem Boden. Berichterstattung: (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das stimmt Abgeordnete Carsten Müller (Braunschweig) ja so nicht!) Jörg Tauss Cornelia Pieper Das ist schizophren bis zum Abwinken. Volker Schneider (Saarbrücken) Kai Gehring (Beifall bei der SPD) Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Letzter Punkt, die Unbeherrschbarkeit der Risiken am Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Beispiel des Terrorismus. Ich habe 2002 das vertrauliche Gutachten über die Sicherheit der deutschen Atomkraft- Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine halbe werke gegen Terrorangriffe gelesen. Es war zeitgleich in Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wider- den Zeitungen nachzulesen – so viel zur Sicherheitsphi- spruch. Dann ist so beschlossen. losophie. Wir wissen, dass unsere ältesten Kraftwerke Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem keinerlei Schutz gegen gezielte Terrorangriffe besitzen, Kollegen Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion. dass aber der durch einen solchen Angriff ausgelöste Su- per-GAU für Millionen von Menschen verheerende Aus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wirkungen hätte und Kosten in Billionenhöhe verursa- chen würde. Wer auf dieser Grundlage immer noch für Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Atomenergie streitet, hat entweder gute Nerven oder Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und kein Verantwortungsgefühl. Das ist nicht unser Weg. Herren! Wir haben uns heute Vormittag über das Machen Sie mit auf dem Weg zu einer neuen Energie- 7. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union versorgung! Dann klappt es auch mit dem Klimaschutz. unterhalten. Dabei geht es um den Wettbewerb um die Vielen Dank. klügsten Köpfe in Europa und in der Welt. Wir haben ge- (B) meinsam herausgearbeitet, dass zwar erhebliche Finanz- (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mittel bereitgestellt werden, dass Finanzen allein aber der CDU/CSU) nicht alles bestellen können. Mindestens genauso wich- tig sind – das entspricht auch den Vorstellungen von Frau Ministerin Schavan – attraktive Rahmenbedingun- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Deutschland. Zusätzlich wollen wir insbesondere junge Menschen für Wissenschaft und Forschung begeistern. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: Zugegebenermaßen versprüht der bloße Arbeitstitel a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung arbeitsrechtlicher gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Vorschriften in der Wissenschaft“ auf den unvoreinge- zur Änderung arbeitsrechtlicher Vorschriften nommenen Zuhörer keinen besonderen Esprit. Auch der in der Wissenschaft Name des heute zu beschließenden Gesetzes – Wissen- schaftszeitvertragsgesetz – ist nicht wirklich aufregend. – Drucksache 16/3438 – (Jörg Tauss [SPD]: So wollte ich meine Rede auch Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung beginnen! Jetzt müssen wir uns abstimmen!) (18. Ausschuss) – Herr Kollege Tauss, das haben wir in den wenigen ver- – Drucksache 16/4043 – gangenen Monaten schon so hervorragend gemacht, dass ich keinen Zweifel habe, dass uns das gelingen wird. Berichterstattung: Abgeordnete Carsten Müller (Braunschweig) In Wahrheit ist dieses Gesetz ein bedeutender Bau- Jörg Tauss stein, wenn es darum geht, sinnvolle, praktikable Rah- Cornelia Pieper menbedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissen- Volker Schneider (Saarbrücken) schaftler zu setzen. Kai Gehring (Jörg Tauss [SPD]: Moment, ich klatsche! – Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Wissenschaft und Forschung stehen auf der Tagesord- und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) nung der Großen Koalition ganz oben. Der Koalitions- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia vertrag zwischen Union und SPD legt fest – ich zitiere –: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7597

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Wir wollen junge Talente und Nachwuchswissen- chen Regelungen nunmehr in ein neues Gesetz zu über- (C) schaftler fördern und ihnen Karriereperspektiven führen und die alten Regelungen so zu ersetzen. eröffnen. Die Besten aus aller Welt müssen in Deutschland attraktive Studien- und Arbeitsbedin- (Beifall bei der CDU/CSU) gungen vorfinden. Der Ausschuss für Bildung und Forschung hat eine Worum geht es bei dem hier in Rede stehenden Ge- sehr umfangreiche Anhörung zum Thema durchgeführt. setz im Kern? Unbefristete freie Stellen in den Stellen- Die Fachleute haben die Gesetzesinitiative der Bundes- plänen unserer Universitäten und unserer außeruniversi- regierung praktisch einhellig unterstützt; sie halten sie tären Forschungseinrichtungen sind tatsächlich für richtig und wichtig. Weil sie richtig und wichtig ist, Mangelware. Wer sich heute hier hinstellt und einfach zählt nun bei der Beschlussfassung darüber jeder Tag. nur unbefristete Stellen fordert, der redet an den Reali- Jeder Tag, den dieses Gesetz früher kommt, ist ein Ge- täten vorbei. Mit anderen Worten: Er macht nichts ande- winn für den Wissenschaftsstandort Deutschland, weil res, als eine Sonntagsrede zu halten. sich die von außen gesetzten Rahmenbedingungen, unter denen Forschung und Entwicklung stattfinden, in den Bisher gab es nur sehr restriktiv ausgeprägte Mög- vergangenen Jahren erheblich geändert haben. So sind lichkeiten zum Abschluss befristeter Beschäftigungsver- zum Beispiel die Drittmitteleinnahmen der Hochschulen hältnisse. Das führte nicht selten dazu, dass wir unsere im Zeitraum zwischen 1995 und 2003 um rund klügsten Köpfe auf dem Höhepunkt ihrer wissenschaftli- 60 Prozent auf rund 3,4 Milliarden Euro gestiegen. Die- chen Leistungsfähigkeit verloren haben, und zwar zum ser Anstieg ist zu begrüßen. Wir müssen ihm Rechnung Teil – das ist keine schlechte Alternative – an die Indus- tragen. trie, zum Teil aber auch – diese Alternative ist nicht zu Wir stellen immer wieder fest, dass Wissenschaft und begrüßen – an das Ausland. Forschung heute wesentlich in Teamarbeit betrieben Ein fiktiver Lebenslauf einer jungen Wissenschaftle- werden. Dem wollen wir Rechnung tragen, indem wir rin mag in etwa so aussehen: Abitur im Jahr 1997, an- den personellen Geltungsbereich dieses neuen Gesetzes schließend Studium des Maschinenbaus, zugleich Tätig- auf das wissenschaftliche Personal und auf das nichtwis- keit als wissenschaftliche Hilfskraft, Vordiplom im senschaftliche Personal erstrecken. Zeitraum 1999/2000, Diplom im Jahre 2003, danach Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) burt zweier Kinder, wiederum Tätigkeit an der Uni in be- fristeten Arbeitsverhältnissen als wissenschaftliche Ich habe eben von der Wichtigkeit dieser Initiative Hilfskraft. Dieser jungen Frau war es nach bisheriger gesprochen. Ich möchte das mit zwei Zitaten aus der An- Rechtslage nicht möglich, länger als zwölf Jahre, neun (B) hörung untermalen. Professor Dicke von der Hochschul- (D) Monate und 20 Tage befristet an universitären oder au- rektorenkonferenz ließ sich wie folgt ein: ßeruniversitären Forschungseinrichtungen beschäftigt zu werden. Danach musste sie, völlig unabhängig von ihrer Die HRK begrüßt diese Regelungsvorschläge und Qualifikation, diese Einrichtung verlassen. bittet darum, sie schnellstmöglich zu verabschie- den, denn sie stellen eine realistische Perspektive (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Unglaub- für den leistungsstarken wissenschaftlichen Nach- lich! Völlig unverständlich!) wuchs dar. Mit der heutigen Zustimmung zu diesem Gesetz än- Herr Dr. Hartmer vom Deutschen Hochschulverband dert sich die Situation fundamental. Zum einen kann ergänzte: diese junge Frau nunmehr 16 Jahre und neun Monate lang beschäftigt werden. Das resultiert aus einer von uns Aus der Sicht der betroffenen Nachwuchswissen- sehr begrüßten und unterstützten familienpolitischen schaftler ist dieser Gesetzentwurf der Bundesregie- Komponente: Für die Erziehung und Betreuung eines rung uneingeschränkt und nachhaltig zu begrüßen. jeden Kindes unter 18 Jahren werden zwei Jahre ange- Wir haben uns auch mit einem Entschließungs- rechnet, in denen eine weitere befristete Beschäftigung antrag der Linksfraktion auseinanderzusetzen. Dieser möglich ist. Antrag wird den Anforderungen tatsächlich nicht ge- recht. Er zementiert unzureichende, heute bereits beste- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg hende Rahmenbedingungen und ist insofern irregeleitet. Tauss [SPD]: Eine gute Sache!) Damit ist er in der Sachdiskussion nicht ohne Weiteres Zudem ist nach diesen rund 17 Jahren für die junge zu gebrauchen. Wissenschaftlerin nicht zwangsläufig Schluss. Sie kann Ein Aspekt erschien mir aber doch interessant, auch nämlich aufgrund eines neueingeführten Drittmittelbe- wenn es nicht zum heutigen Thema passt. Ich zitiere aus fristungstatbestandes darüber hinaus auf befristeten Stel- dem Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke: len, die überwiegend drittmittelfinanziert sind, weiterbe- schäftigt werden. Das ist der materielle Hintergrund des Die Tarifsperre stellt einen unzumutbaren Eingriff Gesetzes, über das wir uns heute unterhalten. in die Koalitionsfreiheit und in das verfassungs- rechtlich geschützte Recht der Tarifautonomie dar. Das Ganze hat auch einen formellen Hintergrund: Wir waren aufgrund der Föderalismusreform angehalten, die An einer anderen Stelle findet sich folgende Formulie- bisher zum Teil im Hochschulrahmengesetz befindli- rung – ich zitiere noch einmal –: 7598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Tarifliche Regelungen können wesentlich zielge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) richteter den spezifischen Bedingungen… Rech- Für die FDP erteile ich das Wort Uwe Barth. nung tragen … (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Herr Ein hochinteressantes Zitat! Aber wie halten Sie es mit Barth, stören Sie den versöhnlichen Ton der diesen zweifelsohne richtigen Erkenntnissen beispiels- Debatte nicht!) weise bei der Diskussion um Mindestlöhne? Ihre Aus- führungen dazu – sicherlich zu anderer Zeit – interessie- ren mich. Vielleicht nutzen Sie aber auch schon Ihre Uwe Barth (FDP): Redezeit heute, um darauf einzugehen. Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann fast nahtlos an das vom Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gen Müller eben Gesagte anschließen. des Abg. Uwe Barth [FDP]) (Jörg Tauss [SPD]: Positiv anschließen!) Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz kodifiziert in wesentlichen Bestandteilen die bisherige Rechtspre- Es entspricht unserem Selbstverständnis, das wir als chung des Bundesarbeitsgerichts. Wir finden relativ we- konstruktive Opposition haben, dass man guten Gesetz- nige Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus, glaube entwürfen auch zustimmt. ich, die Zweifel daran haben, dass das Bundesarbeitsge- richt den besonderen Bedürfnissen und Anforderungen (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das Lande Rechnung trägt. kommt viel zu selten vor, Herr Barth! – Jörg Tauss [SPD]: Ihr könnt immer zustimmen!) Wir haben es in diesem Gesetz mit einer Tarifsperre zu tun. Hierdurch werden sowohl kollektivrechtliche wie Es freut mich, dass wir dieses Wissenschaftszeitver- auch einzelvertragliche Abweichungen ausgeschlossen. tragsgesetz heute verabschieden können. Es freut mich Diese Tarifsperre ist vom Bundesverfassungsgericht auch deshalb, weil es eine ganz zentrale und langjährige überprüft worden. Sie hat sich als durchaus haltbar er- Forderung der Liberalen umsetzt, nämlich die Forde- wiesen. Insofern haben wir diesen Gedanken fortgeführt. rung, die Befristungsregelungen für das Personal, wel- Um bestehenden Bedenken zu begegnen, haben wir uns ches sich noch in der wissenschaftlichen Ausbildung be- allerdings auf Folgendes verständigt: Wir wollen recht findet, von denen für das sogenannte Drittmittelpersonal zeitnah eine Evaluation der Regelungen vornehmen, um zu trennen. Mit dieser Trennung entspricht das neue Ge- festzustellen, ob mit den Befristungsmöglichkeiten setz der Lebenswirklichkeit an unseren Universitäten Schindluder getrieben wird, mithin: ob sie missbraucht wesentlich besser, als es das Hochschulrahmengesetz je- (B) (D) werden. Das jedenfalls ist nicht Ziel dieser Initiative. mals getan hat. Wir sind uns auch ziemlich sicher, dass es nicht zu ei- nem Missbrauch kommen wird; aber wir wollen diesen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bedenken Rechnung tragen. der CDU/CSU) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade bei Arbeitsverhältnissen auf Drittmittelbasis Woher nehmen Sie die Sicherheit?) stieß das HRG sehr schnell an seine Grenzen, weil eine sichere Prognose über das Ende eines Arbeitsverhältnis- Trotz dieses wichtigen Bausteins ist das Fernziel für ses oftmals nicht möglich ist, genau dies aber die Forde- uns, mittelfristig einen unbürokratischen und praktikab- rung des Bundesarbeitsgerichts in seiner Rechtspre- len Wissenschaftstarifvertrag zu bewirken. chung war. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz schafft durch ganz wichtig! – Carl-Ludwig Thiele [FDP], den Befristungsgrund der Drittmittelfinanzierung an die- zur CDU/CSU gewandt: Ihr könnt mal klat- ser Stelle die dringend notwendige Rechtssicherheit. Mit schen!) Beendigung eines befristeten Projekts endet auch das Das ist ein wichtiges Anliegen. Arbeitsverhältnis. Diese Regelung erleichtert aus unse- rer Sicht ganz entscheidend sowohl die Möglichkeit, Ich will noch folgendes Fazit ziehen: Das Wissen- projektorientierte Teambildungen vorzunehmen, als schaftszeitvertragsgesetz ist ein wichtiger Baustein für auch die Teilhabe an internationalen Forschungskoope- die Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen. Das Mi- rationen, die in aller Regel ebenfalls zeitlich befristet nisterium hat einen guten Gesetzentwurf vorgelegt. Hier- sind und eine hohe Mobilitätsbereitschaft erfordern. Wir für danke ich der Frau Ministerin sehr herzlich. beschließen daher heute ein Gesetz, das den wirklichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Verhältnissen an den Hochschulen und auch an den au- ßeruniversitären Forschungseinrichtungen, die an dieser Dieser gute Entwurf ist durch die Änderungsanträge der Stelle nicht unerwähnt bleiben dürfen, tatsächlich end- Koalition noch besser geworden. Mithin gibt es lauter lich gerecht wird. gute Gründe für eine Zustimmung. Ich bitte darum, dass Sie diese heute geben. Für die Wissenschaftler eröffnet sich mit der Rege- lung die Chance, eine Wissenschaftskarriere mit Dritt- Vielen Dank. mittelprojekten einzuschlagen, auf Drittmittelprojekten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) aufzubauen. Das Risiko eines abrupten Abbruchs nach Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7599

Uwe Barth (A) der Qualifikationsphase wird durch dieses Gesetz deut- heit mit Vertretern der Hochschuleinrichtungen und der (C) lich reduziert. außeruniversitären Einrichtungen geführt haben, ist die- ses Thema angesprochen worden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Dass die Hochschulen zum Teil von zaudernden Per- Das haben Sie richtig erkannt!) sonalabteilungen arbeitsrechtlich nicht immer richtig be- raten wurden, muss man an dieser Stelle auch einmal – Vielen Dank, Herr Kollege Kretschmer. – Für unser festhalten. Land bedeutet dies natürlich, dass Nachwuchswissen- schaftler sich ihre Karrierechancen nicht mehr zwingend (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) im Ausland suchen müssen, sondern auch bei uns Kar- rierechancen haben. Die Verunsicherung lag eher aufseiten der Personalabtei- lungen als beim Gesetzgeber; nichtsdestotrotz: Es gab Die familienpolitische Komponente des Gesetzent- eine solche Verunsicherung, und es kam vor, dass junge wurfs möchte ich in besonderem Maße hervorheben. Menschen sehr restriktiv – zum Teil zu einem Zeitpunkt, (Beifall der Abg. Cornelia Pieper [FDP] und zu dem es überhaupt nicht nötig gewesen wäre – aus desAbg. Jörg Tauss [SPD]) ihrer Stelle an der Universität verabschiedet wurden, was natürlich zu Härtefällen führte. Das wiederum – Vielen Dank, Herr Tauss, es geschieht sehr selten, dass führte unter anderem zu der Gründung der Initiative Sie mir applaudieren. „Lost Generation“. (Cornelia Pieper [FDP]: Ich habe auch ge- Wir reagieren natürlich auch auf eine andere Entwick- klatscht!) lung; Kollege Müller ist auch darauf bereits eingegan- Mit der Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf gen. Zur Erreichung des 3-Prozent-Ziels müssen wir den die Höchstbefristungsdauer wurde ein wichtiger Schritt Einsatz von Drittmitteln im Bereich der Wissenschaft, in Richtung Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch der Hochschulen, verstärken. Im Land tut sich auf die- und gerade von hochgebildeten Menschen – es geht um sem Gebiet viel. In der Vergangenheit konnten wir be- wissenschaftliche Karrieren – unternommen. reits steigende Drittmittelquoten an Instituten der Hoch- schulen und Universitäten als Erfolg feiern, und dies, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wie ich meine, zu Recht. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist ein guter Nur, diese Mittel sind naturgemäß flüchtig. Keiner Schritt hin zu einem konkurrenzfähigen, aufgaben- und kann sich darauf verlassen, dass die Drittmittel nach Ab- leistungsbezogenen Vergütungssystem im Bereich der schluss eines Projektes automatisch in ein anderes Pro- (B) Wissenschaft. Es erlaubt mehr Flexibilität und mehr Dif- jekt fließen. Das ist klar. Umso unerfreulicher war es, (D) ferenzierungen. Deshalb werden wir Liberale dem Ge- wenn jemand, der in einem Projekt beschäftigt war, das setzentwurf zustimmen. über Drittmittel finanziert wurde und noch nicht beendet (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten war, aus arbeitsrechtlicher Verunsicherung heraus verab- der CDU/CSU) schiedet wurde. Die Universitäten haben umgekehrt da- mit argumentiert, dass sie auf der Grundlage dieser Ich möchte allerdings darauf hinweisen – Kollege flüchtigen Drittmittel nicht feste Stellen einrichten kön- Müller hat das am Schluss seiner Ausführungen ebenfalls nen, für die sie das Kostenrisiko allein tragen müssen. getan –, dass ein zweiter, ganz wesentlicher Bestandteil noch fehlt, nämlich der Wissenschaftstarifvertrag. Er Vor diesem Hintergrund haben wir gesagt: Wir müs- wird dringend gebraucht. Daran müssen wir – das ist der sen und wollen etwas ändern. Man kann lange darüber nächste Schritt – unbedingt arbeiten. diskutieren, ob die Diskussionen immer richtig verlaufen sind. Karl R. Popper hat es einmal wunderbar auf den Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerk- Punkt gebracht: Eine Illusion ist als Illusion durchaus samkeit. Realität. – Mit anderen Worten: Vor einem eingebildeten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Tiger springt man genauso zur Seite wie vor einem ech- der CDU/CSU) ten. Die Universitäten und Forschungseinrichtungen sind immer wieder beiseitegesprungen. Viele sind, Kol- lege Müller, der geforderten Prognose sogar ausgewi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chen. Wenn man eine Prognose gestellt hätte, hätte man Jetzt spricht der Kollege Tauss für die SPD-Fraktion. in vielen Fällen festgestellt, dass die Fortführung des Ar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) beitsverhältnisses möglich gewesen wäre. Diese Mög- lichkeiten wurden aber nicht genutzt. Um noch einmal Popper zu zitieren: Eine Illusion ist als Illusion eben Re- Jörg Tauss (SPD): alität. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute ein Gesetz, das zwar – der Kol- Mit der Reform des Hochschulrahmengesetzes im lege Müller hat darauf hingewiesen – einen merkwürdi- Jahr 2002 haben wir versucht, diese Rechtsunsicherheit gen, eher langweiligen Titel trägt, das aber für die deut- ein Stück weit zu beenden. Dies ist, wie die Praxis ge- sche Wissenschaft und Forschung, vor allem für unseren zeigt hat, leider nicht gelungen. Andererseits muss man wissenschaftlichen Nachwuchs, von erheblicher Bedeu- ganz klar sagen: Auch vor der HRG-Novellierung in tung ist. In allen Gesprächen, die wir in der Vergangen- 2002 – man tut manchmal so, als sei die Welt in der Ver- 7600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Jörg Tauss (A) gangenheit ganz traumhaft gewesen – bestanden einige den. Wir müssen etwas tun. Das haben wir mit diesem (C) Probleme. Es gab Kettenarbeitsverträge mit vorge- Gesetz gemacht. täuschtem Arbeitgeberwechsel innerhalb von Instituten und andere arbeitsrechtliche Taschenspielertricks. Wie Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, natürlich gibt gesagt: Das Thema beschäftigt uns seit einiger Zeit. es weitere Punkte, über die wir diskutieren können. Das Thema Wissenschaftstarifvertrag ist angesprochen Ein Problem besteht zweifellos darin – die Fraktion worden. Kollege Barth, ich will hier mit einem Missver- Die Linke kritisiert dies –, dass wir hier einen neuen ständnis aufräumen: Wir machen den Wissenschaftsta- eigenen Befristungstatbestand einführen. Dies ist tat- rifvertrag nicht. sächlich so. Es handelt sich um einen eigenen neuen Be- fristungstatbestand. Es ist ein Stück weit Sonderarbeits- (Uwe Barth [FDP]: Aber dafür einsetzen! Das recht. Dass wir Sozialdemokraten dem nicht nur mit ist wichtig!) Begeisterung gegenüberstehen, ist klar. Ich sage Ihnen – Wir setzen uns seit geraumer Zeit dafür ein; das ist aber: In Abwägung dessen, was für die jungen Men- nicht der Punkt. schen in den Hochschulen die Praxis ist, ist das für mich ein formalrechtlich kleineres Übel – das hat auch die An- Der Punkt ist, dass es eine Tarifgemeinschaft der Län- hörung ergeben –, das ich an dieser Stelle akzeptiere, der gibt. Über Ihre Regierungsbeteiligung in Baden- wenngleich ich es nicht völlig ignoriere. Württemberg zum Beispiel haben auch Sie dort ein biss- chen Verantwortung. Mit Herrn Frankenberg streite ich Es gibt noch weitergehende Vorschläge: Im Bundesrat seit zwei Jahren darüber. Ich habe ihm gesagt, er solle wurde eine Regelung diskutiert – hatte diesen mal in der Tarifgemeinschaft der Länder entsprechend Vorschlag gemacht –, wonach allein der Umstand, dass initiativ werden. Erst hieß es, das sei sehr schwierig, spä- irgendwohin Drittmittel fließen, eine Befristung begrün- ter wurde sogar etwas angekündigt, aber dann stellte sich det. Das halte ich für inakzeptabel. Ich glaube, ihr von heraus, dass das offensichtlich nicht so ernst gemeint der Arbeitsgruppe Recht – es sind genügend qualifizierte war. Juristen, lieber Kollege Stünker, hier im Saal – hättet dann darauf hingewiesen, dass dies europarechtlich Ich würde mich freuen, wenn es Initiativen für einen überhaupt nicht machbar ist. Es hätte jenseits der recht- Wissenschaftstarifvertrag gäbe, der über das hinausgeht, lichen Problematik zudem zu einem Sozialdumping in was wir hier diskutieren. Wir sind da völlig offen; aller- Wissenschaft und Forschung geführt. Damit wäre nicht dings werden Tarifverträge von den Tarifvertragspar- ein größeres Maß an Rechtssicherheit geschaffen wor- teien, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, geschlossen. An den, sondern sie wäre zulasten der Beschäftigten verrin- dieser Stelle sind übrigens die Gewerkschaft Verdi und (B) gert worden. Aus diesem Grunde tragen wir diesen Weg an ihrer Spitze Herr Bsirske, der oft beschimpft wird, (D) mit. Ich halte ihn für vernünftig, und wir haben das in wesentlich flexibler als die Arbeitgeberseite im öffentli- den Verhandlungen mit dem Hause so bestätigt. chen Bereich auf Länderebene. Mit den Gewerkschaften hätten wir – entgegen dem, was gemeinhin unterstellt Darüber hinaus begrüßen wir – das ist schon ange- wird – schon längst ein modernes Tarifrecht. Da es bis- sprochen worden; ich freue mich, dass die FDP dies lang nicht vereinbart werden konnte, müssen wir dafür auch so sieht –, dass der Gesetzentwurf eine familien- sorgen. politische Komponente enthält. Die Erziehung und Be- treuung eines Kindes verlängert die Möglichkeit einer Es gibt eine weitere Befürchtung, die Kollege weiteren befristeten Beschäftigung um zwei Jahre. Ich Schneider sicher noch mit Vehemenz vortragen wird glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn wir über – wie gesagt: man sollte nicht nur darüber reden! –: Ein wissenschaftlich tätige Mütter, zum Beispiel in der Me- solcher Tarifvertrag könnte nach Umsetzung unseres Ge- dizin, reden. Das ist eine familienfreundliche Lösung, setzentwurfes nicht nur für junge Wissenschaftlerinnen die die Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Karriere und Wissenschaftler, sondern auch für nichtwissen- und Familie deutlich verbessert. Ich glaube, solche Si- schaftliches Personal einen zusätzlichen Befristungstat- gnale sind an mehreren Stellen wichtig. bestand begründen, der dann zur Beendigung eines Ar- beitsverhältnisses führt. Ja, dies sehen wir so. Dies ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ – Frau Kollegin Hirsch, Sie haben recht – Fakt. Oft wer- CSU und der FDP) den auch in befristeten Projekten wie Drittmittelprojek- ten Hilfspersonal oder ergänzendes qualifiziertes Perso- – Die Familienpolitikerin klatscht als Erste begeistert nal wie Facharbeiter benötigt, so zum Beispiel Beifall. Glasbläser für chemische Experimente, in denen ganz spezielles Glas gebraucht wird. Das ist alles unbestritten. Leider will Die Linke, liebe Frau Kollegin Hirsch, auch von dieser Komponente nichts wissen. Das finde Wir können aber doch nun nicht hingehen und for- ich schade. Aber darüber können wir uns noch einmal dern, dass diejenigen, die in einem Drittmittelprojekt für unterhalten. Kollege Schneider, gestern Abend haben nichtwissenschaftsnahe Tätigkeiten bzw. Hilfstätigkei- Sie uns wieder so nette Witze erzählt. Manchmal, wenn ten gebraucht werden, unbefristet eingestellt werden. ich eure Anträge lese, habe ich den Eindruck, dass sie Dazu würde es nie kommen. Vielmehr entstünde die Si- genau in diese Richtung gehen: Lösungen wollen wir tuation, dass die Erledigung dieser Tätigkeiten, sofern in nicht, aber gut, dass wir darüber geredet haben. – Es den wissenschaftlichen Einrichtungen dafür überhaupt reicht für die Wissenschaftler nicht, dass wir darüber re- noch Personal vorhanden ist, outgesourct würde, über Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7601

Jörg Tauss (A) einen Werksvertrag oder wie auch immer erledigt würde. hältnisse zu befristen. So wundert es nicht, dass schon (C) Damit wäre also nichts gewonnen. jetzt, um nur ein Beispiel zu nennen – Herr Tauss ist ja auch schon darauf eingegangen –, die Fraunhofer-Ge- (Uwe Barth [FDP]: Es wäre ein Systembruch!) sellschaft 46 Prozent der Wissenschaftler und 34 Prozent Ich sage hier an dieser Stelle allerdings mit aller Klar- aller Beschäftigten befristet beschäftigt. Dagegen wer- heit auch für die Koalition – hier sind wir uns einig –: den haushaltsrechtlich mögliche und gebotene Chancen Wir werden sehr sorgfältig beobachten, wie Wissen- auf unbefristete Beschäftigung nach Einschätzung des schaftseinrichtungen, insbesondere die, die vom Bund Gesamtbetriebsrates bei weitem nicht ausgeschöpft. mitfinanziert werden, mit diesem Gesetz umgehen. Dennoch wollen Sie mit dem hier vorliegenden Missbräuche wie bei den Fraunhofer-Instituten – der Ge- Gesetzentwurf Möglichkeiten der sachgrundlosen Be- samtbetriebsrat hat uns ja geschrieben – oder wo auch fristung durch die Einbeziehung des nichtwissenschaft- immer werden wir nicht akzeptieren. Diese Zusage – so lichen Personals und das Instrument der Drittmittelfinan- steht es auch in unserem Entschließungsantrag – geben zierung erheblich ausweiten. wir. Ich glaube aber nicht, dass wir hier von Missbrauch reden sollten, sondern von den Chancen, die sich aus (Zuruf des Abgeordneten Jörg Tauss [SPD]) diesem neuen Arbeitsrecht für befristete Drittmittelpro- Der Dank der Arbeitgeber, Herr Tauss, für dieses Ge- jekte ergeben. Diese Chancen sollten wir nutzen. schenk dürfte Ihnen gewiss sein. Wozu noch faire Ar- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. beitsverträge aushandeln, die sowohl der Rechtssicher- heit und der Reduzierung des unternehmerischen Risikos (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aufseiten der Arbeitgeber dienen, als auch die Arbeit- der CDU/CSU) nehmer in geeigneter Form für diese Art der Risikoüber- wälzung auf sie entschädigen? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Volker Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Schneider für die Fraktion Die Linke. Möchten Sie eine Frage des Kollegen Tauss zulassen? (Beifall bei der LINKEN) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Aber bitte. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war ja zu erwarten: Sie reden hier darüber, dass Men- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) schen über längere Zeit befristet eingestellt werden kön- Bitte schön. (D) nen, aber nicht darüber, was das für eine mittel- und langfristige Familien- und Lebensplanung bedeutet. Sie Jörg Tauss (SPD): reden auch nicht darüber, dass dieses Gesetz – Herr Lieber Kollege, vielleicht können wir die Kirche im Tauss hat es ja wenigstens in Ansätzen getan – unterm Dorf lassen und nicht infrage stellen, dass die Arbeitge- Strich auch dazu beiträgt, dass man für ein Forschungs- ber überhaupt noch an fairen Arbeitsverhältnissen inte- projekt benötigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ressiert seien. besonders einfach wieder los wird. Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, dass gerade eine (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: Institution wie die Fraunhofer-Gesellschaft darauf ange- Quatsch!) wiesen ist, hervorragendes Personal zu bekommen, sodass Denken Sie etwa an einen auf Nanotechnologie speziali- dort ein natürliches Interesse des Arbeitgebers – ich weiß sierten Physiker – selbstverständlich gilt Gleiches auch natürlich, dass es sich hier um eine öffentlich wie privat für eine Physikerin –, der gezielt für ein Forschungspro- geförderte Wissenschaftsorganisation handelt – vorhan- jekt etwa im Bereich der Nanomesstechnik angeworben den ist, den Leuten nicht übel mitzuspielen, sondern mit wurde: Es ist Fakt, dass seine bzw. ihre Verwendungs- ihnen Arbeitsverträge abzuschließen, die ein vernünftiges möglichkeit in anderen Projekten äußerst begrenzt ist. wissenschaftliches Arbeiten ohne Angst vor der Zukunft ermöglichen? Voraussetzung dafür, dass man sich auf Auch ohne dieses hier zu beratende Gesetz gibt es seine wissenschaftliche Arbeit konzentrieren kann, ist ja, schon jetzt für die Arbeitgeber in den Forschungsein- dass man sich nicht täglich nach einem anderen Arbeits- richtungen Möglichkeiten genug, dieses „Problem“ zu platz umschauen muss. Können wir uns nicht darauf ver- bewältigen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ständigen, dass das ein wenig ein Popanz ist, den Sie hier unbefristeten Verträgen können betriebsbedingt gekün- aufbauen? digt werden. (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Das sind die Sonntagsreden, die ich meine!) Herr Kollege Tauss, wenn ich Ihnen als Mitglied der Fraktion Die Linke jetzt antworte, dass ich Ihre Meinung Befristungen von Arbeitsverhältnissen sind bei Vorlie- nicht teile, wird Sie das mit Sicherheit weder wundern gen eines sachlichen Grundes in Form von zweck- oder noch befriedigen. zeitbefristeten Arbeitsverhältnissen möglich. Das Hoch- schulrahmengesetz eröffnet in §§ 57 a ff. erweiterte (Jörg Tauss [SPD]: Ich gebe die Hoffnung ja Möglichkeiten, auch ohne einen Sachgrund Arbeitsver- nie auf bei den Verlorenen!) 7602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Aber so einfach mache ich es mir auch gar nicht. Ich Vielen Dank. (C) empfehle Ihnen einen Blick in die heutige Ausgabe der (Beifall bei der LINKEN – Carsten Müller „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Sie wissen, das ist [Braunschweig] [CDU/CSU]: Wo war das? nicht gerade unser Kampfblatt. Dort finden Sie einen Ar- Davon war nichts zu merken! – Gegenruf des tikel mit der Überschrift: „Mitte dreißig am Abgrund“. Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Dort werden Sie einiges darüber lesen, wie im Bereich LINKE]: Im Ausschuss! Da sehen Sie mal, der Wissenschaft, zum Beispiel vom Präsidenten der wie Sie im Ausschuss aufpassen, Herr Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ihr Gesetz in die- Müller!) sem Punkt eingeschätzt wird. Dort heißt es: Mit dem Ge- setz werden nun definitiv nicht die attraktiven Arbeitsbe- dingungen geschaffen, wie Sie hier vorgeben, sondern es Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wird dabei bleiben, dass wir im internationalen Ver- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Kai Gehring, gleich Probleme haben werden, a) Wissenschaftler zu Bündnis 90/Die Grünen. beschäftigen und b) diese Wissenschaftler zu halten, und zum guten Schluss wird im Zweifelsfall auch nach Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 18 Jahren der Wissenschaftler in die USA auswandern. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das heute hier vorliegende Wissenschaftszeit- (Beifall bei der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: Also vertragsgesetz könnte für die Wissenschaft in Deutsch- „FAZ“ kann man jetzt auch nicht mehr lesen!) land ein wichtiger Schritt sein. Leider ist es ein Schritt, – Die „FAZ“ können Sie auch nicht mehr lesen; auch sie den die Bundesregierung in die falsche Richtung geht. scheint zum linken Kampfblatt zu verkommen. Es ist das erste Bundesgesetz, mit dem der Abschied Ich sagte bereits: Der Dank der Arbeitgeber für dieses vom Hochschulrahmengesetz umgesetzt wird und mit Geschenk dürfte Ihnen gewiss sein. Wozu dann noch dem sich einmal mehr zeigt, welche negativen und gra- faire Arbeitsverträge aushandeln? Warum Arbeitgeber in vierenden Auswirkungen die Föderalismusreform I auf der Pflicht belassen, am Ende eines Projektes zu über- Bildung und Wissenschaft in unserem Land hat. Das Ziel prüfen, ob man nicht doch noch eine Beschäftigungs- der Reform des Arbeitsrechtes für Beschäftigte in der möglichkeit in anderen Bereichen der Einrichtung hat? Wissenschaft muss sein, dass es auch unterhalb der Pro- fessur attraktive Beschäftigungsverhältnisse gibt Das gilt insbesondere für den nichtwissenschaftli- (Jörg Tauss [SPD]: Unbestritten!) chen Bereich. Denn ich habe ja bereits erwähnt, dass die Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bei hochspeziali- und wir alle jungen Talente für den Wissenschaftsstand- (B) sierten Wissenschaftlern durchaus sehr eingeschränkt ort gewinnen. (D) sind. Aber was heißt das für die Sekretärin? Ist denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch die Sekretärin in dem Moment, in dem ihr Chef das Projekt beendet hat, in keinem anderen Bereich mehr Unser Ziel ist deshalb ein Arbeitsrecht für Wissen- einsetzbar? Das ist für mich nicht nachzuvollziehen. Das schaftlerinnen und Wissenschaftler, das dem normalen scheint eine neue, moderne Form von Leibeigenschaft Arbeitsrecht entspricht. Dieses Gesetz leistet das Gegen- zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftli- teil. An die Stelle des Sonderrechts der lebenslangen chem Personal zu sein, etwa in der Form: zusammen ein- Verbeamtung tritt nach dem Willen der Koalition nun gestellt, zusammen gearbeitet, zusammen entlassen. das Sonderrecht der ewigen Befristung. So können wir niemanden davon überzeugen, dass es sich lohnt, in (Beifall bei der LINKEN) Deutschland Forscherin oder Forscher zu werden. Den Arbeitgebern garantieren Sie aber nicht nur Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN quemlichkeit im individualrechtlichen Bereich, auch und bei der LINKEN) kollektivrechtlich brennt in diesem Gesetz nichts an. Den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften wird Zu den Details unserer Kritik: Ihr Gesetzentwurf lässt durch die Tarifsperre verboten, abweichende und für keine Möglichkeiten zu, von Tarifverträgen abzuwei- Arbeitnehmer günstigere Vereinbarungen zu schließen. chen. Er enthält eine Tarifsperre. Ich frage die Große Zur Legitimation dieses fragwürdigen Fakts verweisen Koalition: Warum gehen Sie so zentralistisch vor? Wa- Sie auf eine Nichteinigung zwischen Arbeitgebern und rum wollen Sie alle über einen Kamm scheren? Warum Gewerkschaften, die auf die Jahre 1983 und 1984 datiert – glauben Sie, dass große Hochschulen die gleichen Pro- so, als seien nicht 23 Jahre ins Land gegangen; so, als bleme wie kleine Forschungseinrichtungen haben und seien die handelnden Akteure die gleichen wie damals. dass kleine Hochschulen die gleichen Lösungen wie Herr Müller, was für eine armselige Begründung! große Forschungseinrichtungen wollen? Das ist doch re- alitätsfern. Angesichts so viel grundsätzlicher Kritik kann die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Fraktion Die Linke dem vorliegenden Entwurf insge- Jörg Tauss [SPD]: Das hat sich aus der Anhö- samt nicht zustimmen, obwohl wir etwa die familienpo- rung aber nicht ergeben!) litische Komponente des Entwurfs durchaus begrüßen und im Ausschuss, Herr Tauss, durch Zustimmung in Wir Grüne haben deswegen eine Streichung der Tarif- Einzelfragen unsere Bereitschaft zur konstruktiven Zu- sperre beantragt. Unserer Meinung nach können die Ta- sammenarbeit mehr als unter Beweis gestellt haben. rifpartner passgenauere Lösungen als der Gesetzgeber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7603

Kai Gehring (A) finden. Forschungseinrichtungen könnten ohne Tarif- Ob die betroffenen Personen wichtige Daueraufgaben (C) sperre adäquate Regelungen treffen. Aber erstaunlicher- übernehmen oder nicht, ist dabei zweitrangig. An den weise hat uns nicht einmal die SPD in diesem Vorhaben Hochschulen sind allerdings vor allem im Zusammen- unterstützt. hang mit Betreuung und Lehre in großem Umfang Dau- eraufgaben zu erfüllen. Können diese nicht erfüllt wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den, birgt das nicht nur für die betroffenen Forscher, Das ist die eine Unlogik Ihres Gesetzentwurfs. sondern auch für die Studierenden Nachteile. Die zweite Unlogik besteht darin, dass Sie sich wei- Wie wir auch heute wieder gehört haben, erwidern die gern, etwas klarzustellen, was für die Mitarbeiterinnen Koalitionsfraktionen auf unsere Befürchtung einer mas- und Mitarbeiter eine Mindestsicherung bedeuten würde. senhaften Umwandlung unbefristeter in befristete Be- Ich meine eine bindende Regelung, dass die Dauer des schäftigungsverhältnisse lapidar: Ach, das wird schon Arbeitsvertrages zumindest der Dauer der Bewilligung nicht passieren. Das werden wir einmal evaluieren. – der Drittmittel entsprechen muss. Ihr Gesetz hätte zur Diese Evaluierung werden wir einfordern. Wir werden Folge, dass der Arbeitgeber die Mittel, die ihm zur Ver- Sie kritisch begleiten und auffordern, Konsequenzen aus fügung stehen, zeitlich stückeln kann. Das würde dazu den Ergebnissen zu ziehen. führen, dass ein Wissenschaftler noch nicht einmal im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hinblick auf seine Mittel und die Laufzeit seines Pro- Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: jekts Zukunftssicherheit hätte. Das ist ein schwerwie- Wir auch! Dann ist es ja gut! Dann sind Sie auf gendes und unnötiges Problem, gerade für Wissenschaft- unserer Seite!) lerinnen und Wissenschaftler mit Kindern, der Kinderkomponente zum Trotz. Grundsätzlich bleiben wir Grüne dabei: Für die Wis- senschaft in Deutschland wäre es viel besser, wenn für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – das wissenschaftliche wie für das nichtwissenschaftliche Jörg Tauss [SPD]: Diesen Arbeitsrechtspro- Personal die Grundsätze des allgemeinen Arbeitsrechts zess würde ich gewinnen, Herr Kollege! Den und damit auch die des Befristungs- und Kündigungs- würde ich gewinnen!) schutzrechts gelten würden. Die Tarifpartner haben das Wir haben uns dafür eingesetzt, dass die Mindestdauer in Aussicht gestellt. Sie sollten nicht durch ein ungeeig- des Arbeitsvertrages der Dauer der Bewilligung der netes Gesetz entmutigt werden. Drittmittel entspricht. Kollege Tauss, nehmen Sie doch in Ihrem Gesetzent- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) wurf diese kleine Präzisierung vor. Das wäre das Min- Sie müssten zum Ende kommen, Herr Kollege. (D) deste, was die Bundesregierung in ihrer Verantwortung für die Wissenschaftler tun müsste. Andernfalls wird die Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): durch die Befristung entstehende Unsicherheit allein auf Das war mein letzter Satz. die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt. Das ist keine zukunftsweisende Lösung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Genau!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Wir brauchen mehr Menschen, die sich für ein Leben desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur in der Wissenschaft entscheiden. Die Bundesregierung Änderung arbeitsrechtlicher Vorschriften in der Wissen- allerdings gibt nur Lippenbekenntnissen ab. Das haben schaft auf Drucksache 16/3438. Der Ausschuss für Bil- wir auch heute Morgen in der Debatte über das 7. FRP dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung emp- erneut feststellen können. Mit Ihrem Gesetzentwurf hät- fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf ten Sie beweisen können, dass Sie es ernst meinen, aber Drucksache 16/4043, den Gesetzentwurf in der Aus- diese Chance haben Sie leider vertan. schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Ihr Gesetzentwurf ist kein gelungener Beitrag, um die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Konkurrenzfähigkeit Deutschlands innerhalb der Brain- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Circulation zu verbessern, für die sich die EU in ihrem Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter neuen Rahmenprogramm starkmacht. Verschärfend Beratung mit den Stimmen der Großen Koalition und der kommt hinzu, dass die Bundesregierung auch das nicht- FDP gegen die Stimmen der Linken und des wissenschaftliche Personal einbeziehen will. In Ihrem Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Gesetzentwurf wird als einzige Bedingung für die Be- Wir kommen zur fristung eines Arbeitsvertrages die „überwiegende Fi- nanzierung aus Drittmitteln“ genannt. Man muss, glaube dritten Beratung ich, kein Pessimist sein, um sich die Folgen auszumalen: Die Mittel werden hin- und hergeschoben, bis sie „pas- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem sen“. Aus unbefristeten Arbeitsverhältnissen werden Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Wer dann reihenweise befristete. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge- setzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimm- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ergebnis wie zuvor angenommen. 7604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- tion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Der Ausschuss (C) schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf für Wirtschaft und Technologie hat in seiner Beschluss- Drucksache 16/4079. Wer stimmt für diesen Entschlie- empfehlung auf Drucksache 16/4078 den von der Frak- ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da- tion des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Ent- mit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung der wurf eines Anti-Spam-Gesetzes auf Drucksache 16/1436 Fraktion Die Linke und Gegenstimmen aus dem übrigen sowie den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Haus abgelehnt. Die Grünen auf Drucksache 16/3499 mit dem Titel „Ver- braucher beim Telemediengesetz nicht übergehen“ mit Tagesordnungspunkt 6 b. Beschlussempfehlung des einbezogen. Über diese Vorlagen soll ebenfalls abschlie- Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- ßend beraten und abgestimmt werden. – Ich sehe, Sie abschätzung auf Drucksache 16/4043 zu dem Antrag der sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Fraktion der FDP mit dem Titel „Wissenschaftssystem zukunftsfähig gestalten – wissenschaftsadäquate Ar- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die beitsbedingungen schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den An- ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. trag auf Drucksache 16/3286 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung ge- Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Dagmar gen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Zustimmung der Wöhrl für die Bundesregierung. übrigen Mitglieder des Hauses angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: neten der SPD)

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- desregierung eingebrachten Entwurfs eines minister für Wirtschaft und Technologie: Gesetzes zur Vereinheitlichung von Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Vorschriften über bestimmte elektronische gen! Wir alle wissen, dass die Informationswirtschaft Informations- und Kommunikationsdienste boomt. Sie ist heute einer der wichtigsten Wirtschaftsbe- (Elektronischer-Geschäftsverkehr-Verein- reiche überhaupt. Hier geht es um eine Schlüsseltechno- heitlichungsgesetz – ElGVG) logie, die ein Wachstumsbeschleuniger für viele andere – Drucksachen 16/3078, 16/3135 – Branchen ist. – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Die Nutzung des Internets ist für die meisten Men- (B) ordneten Bärbel Höhn, Volker Beck (Köln), schen heute eine Selbstverständlichkeit, ob das Online- (D) Grietje Bettin, weiteren Abgeordneten und der shopping ist, ob das E-Mail-Communication ist oder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Electronic Banking. Mehr als 60 Prozent der Bevölke- eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- rung sind inzwischen online und nutzen die neuen zes zur Änderung des Teledienstegesetzes Dienste; die Tendenz ist steigend. Die hervorragende (Anti-Spam-Gesetz) Entwicklung in unserem Land zeigt, dass Deutschland hier über gute Rahmenbedingungen verfügt. Wir wollen – Drucksache 16/1436 – natürlich, dass das so bleibt. Deshalb wollen wir die vor- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- handenen Regelungen ständig fortentwickeln und ver- schusses für Wirtschaft und Technologie bessern. Ich glaube, wir sind uns einig: Wir brauchen (9. Ausschuss) heute und auch zukünftig einfache Regelungen, wir brauchen verlässliche Regelungen, und wir brauchen – Drucksache 16/4078 – faire Regelungen – für die Unternehmen und auch für Berichterstattung: die Verbraucher. Abgeordneter Martin Dörmann (Zuruf von der FDP: Machen wir es doch!) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Kernstück des Gesetzentwurfes, über den wir heute richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- reden, ist das neue Telemediengesetz, das gemeinsam nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- mit dem neuen Staatsvertrag der Länder für Rund- ordneten Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai funk und Telemedien zum 1. März 2007 in Kraft treten Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion soll. Wenn man sich die beiden Regelwerke ansieht, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN merkt man, sie verhalten sich wie die zwei Seiten einer Verbraucher beim Telemediengesetz nicht Medaille: Mit dem Telemediengesetz werden die wirt- übergehen schaftlichen Anforderungen an die neuen Dienste gere- gelt, mit dem Rundfunkstaatsvertrag die inhaltlichen. – Drucksachen 16/3499, 16/4078 – Diese beiden Regelwerke bilden gemeinsam den neuen Berichterstattung: Rechtsrahmen für die Telemedien. Drei wesentliche Ver- Abgeordneter Martin Dörmann besserungen sind damit auf den Weg gebracht worden: Durch den Wegfall der komplizierten Abgrenzung von Es liegen hierzu ein Entschließungsantrag der Frak- Tele- und Mediendiensten wird der bestehende Rechts- tion der FDP sowie ein Entschließungsantrag der Frak- rahmen vereinfacht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7605

Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl (A) Zugleich wird ein übergreifendes und einheitliches Da- Sie können zukünftig Auskunftsersuchen von Sicher- (C) tenschutzkonzept für Rundfunk und Telemedien ge- heitsbehörden oder Rechteinhabern nachkommen, ohne schaffen. Im Übrigen streben die Länder damit erste in Konflikt mit dem Datenschutz zu kommen. So ist es Schritte für die Vereinfachung ihrer Aufsichtsratsstruk- zum Beispiel Verkaufsplattformen zukünftig möglich turen an. – zum Beispiel bei einem Betrugsverdacht –, Auskünfte über bestimmte Daten ihrer Kunden zu erteilen. Wichtig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist, dass mit dieser datenschutzrechtlichen Öffnungs- neten der SPD) klausel keine Pflicht der Diensteanbieter verbunden ist Die Umsetzung dieser Kernanliegen wird von allen und auch keine Befugnisse von Sicherheitsbehörden beteiligten Kreisen begrüßt. Ich möchte hier noch einmal festgeschrieben werden. Diese müssen zukünftig noch in auf einige wesentliche Änderungen, die uns besonders den speziellen Fachgesetzen geregelt werden. wichtig erscheinen, hinweisen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, uns al- Wer Verbraucher bei der E-Mail-Werbung in die Irre len ist klar, dass wir auch mit diesem Gesetz nicht am führt und den Empfänger solcher Nachrichten dadurch Ende des Weges angelangt sind. Es gibt weiter reichende bei der Spam-Bekämpfung behindert, wird zukünftig Forderungen, etwa hinsichtlich der Verantwortlichkeit mit einem Bußgeld von bis zu 50 000 Euro rechnen müs- der Diensteanbieter. Ich glaube aber auch, dass wir ver- sen. schiedene Dinge nicht übersehen dürfen. Es gibt sehr viele verschiedene Interessen auf verschiedenen Seiten: (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das Es gibt die Diensteanbieter, die Inhaber von Rechten wird sie sehr schrecken!) geistigen Eigentums und die Verbraucher. Diese ver- Wir wissen um die Ereignisse in diesem Bereich. Sie schiedenen Interessen müssen wir auch zukünftig sorg- werden zum Beispiel vorgeblich von der Staatsanwalt- fältig prüfen und gegeneinander abwägen. schaft München angemailt, auf der als Betreff „Ihr Straf- verfahren XY“ steht. Diese Nachricht täuscht über den Dann haben wir noch andere Gegebenheiten zu be- Charakter der Mail, nämlich darüber, dass es sich um ei- achten, nämlich die zwingenden Vorgaben des europäi- nen kommerziell orientierten Absender handelt. Durch schen Rechtes. Deswegen ist es für uns wichtig, dass diese und ähnlich falsche Angaben werden sehr hohe zunächst auf der europäischen Ebene versucht wird, hier Öffnungsraten erzielt. Ich glaube, wir sind uns darin ei- eine binnenmarktgerechte Fortentwicklung zu erreichen. nig, dass es nur wenige Menschen geben wird, die eine Wir glauben, dass diese Ergebnisse dann leicht in deut- solche Mail ungelesen einfach löschen würden. sches Recht umgesetzt werden können. Die Europäische Kommission ist hier bereits in Gespräche mit den Mit- Wir alle wissen auch, dass es nach wie vor ein sehr (B) gliedstaaten eingetreten. Es sind Studien in Auftrag ge- (D) hohes Spam-Aufkommen gibt, womit sehr hohe Produk- geben worden, unter anderem zu den Fragen der Verant- tionsverluste verbunden sind. Das trägt nicht gerade wortlichkeit der Diensteanbieter. Wir hoffen, dass die dazu bei, dass das so wichtige Vertrauen in den Bereich ersten Ergebnisse uns schon bald vorliegen werden. In der Kommunikation mit E-Mails nachhaltig gestärkt diesen Studien werden viele Punkte angesprochen, unter wird. Im Gegenteil: Dieses Vertrauen trägt Schaden da- anderem, wie die Haftung bei Suchmaschinenanbietern von. Wir wissen aber auch, dass wir den größten Teil der und Links zukünftig ausgestaltet werden kann. Unser Spammer mit nationalen Regelungen nicht erreichen Ministerium und die Mitgliedstaaten befinden sich in würden, weil die meisten im außereuropäischen Ausland sehr engen Abstimmungen mit allen beteiligten Kreisen. sitzen. Wir werden uns aktiv in die Diskussion einbringen. Vor diesem Hintergrund hat es auch keinen Sinn, wei- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. tergehende Regelungen einzuführen, wie sie von der Op- position gefordert werden. Diese könnten wir nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) durchsetzen. Deswegen heißt es für uns, hier ein Signal zu setzen, dass wir solche Verhaltensweisen zukünftig Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht mehr tolerieren werden. Es wird einen neuen Buß- Jetzt spricht für die FDP-Fraktion der Kollege Hans- geldtatbestand im Telemediengesetz geben. Dadurch Joachim Otto. wird eine bislang noch bestehende Regelungslücke ge- schlossen und die internationale Zusammenarbeit in Zu- (Beifall bei der FDP) kunft erleichtert – darüber sind wir froh –, die gerade im Bereich der Spam-Bekämpfung wichtig ist. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu- neten der SPD) nächst einmal Glückwunsch, Frau Wöhrl! Sie sind seit Tagen die erste führende CSU-Politikerin, die sich nicht Ein wichtiger Punkt ist auch weiterhin, dass wir die zu personalpolitischen, sondern zu fachlichen Fragen ge- Datenschutzvorschriften für Anbieter von Internetzu- äußert hat. gängen und E-Mail-Diensten nennenswert reduzieren werden. Die Interessen der Nutzer bleiben gewahrt, da (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Na, na, na!) diese Anbieter ohnehin schon dem Telekommunika- Willkommen im Reich der Fachfragen! tionsdatenschutz unterliegen. Sehr wichtig ist auch, dass die Diensteanbieter in Zukunft mehr Klarheit erhalten. (Beifall bei der FDP) 7606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Auch in der Sache kann ich Frau Wöhrl in vielen Din- tigen Bereich des E-Commerce und der Telemedien er- (C) gen zustimmen. Dieses Gesetz wäre ein ziemlich gutes reichen müssen, sind Rechtssicherheit, Klarheit und Be- Gesetz, wenn es vor einem oder zwei Jahren eingebracht rechenbarkeit für die Branche. In diesem Bereich worden wäre. In der Tat bringt es Verbesserungen gegen- werden Milliardenbeträge umgesetzt und es gibt dort über dem jetzigen Zustand. Wir sind uns allerdings einig große Steigerungsraten. – ich hoffe, auch da, Herr Dörmann, nicken Sie –, dass dieses Gesetz schon jetzt, bevor wir es überhaupt verab- Um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern, schiedet haben, überholt ist, in Teilen sogar obsolet. Be- müssen wir einen verlässlichen Rechtsrahmen setzen. grifflichkeiten stimmen nicht mehr mit dem TKG über- Ich sehe es als ein hohes Gut an, dass die Fraktionen des ein. Es gibt europäische Regelungen, die bald umgesetzt Deutschen Bundestages nach Möglichkeit zusammenar- werden müssen; Sie haben eben völlig zu Recht Haf- beiten. Herr Meyer, das Angebot gilt: Wir sollten so tungsregelungen für Links, Suchmaschinen und Ähnli- schnell wie möglich die Reform auf den Weg bringen, ches angesprochen. Die gesamten Überwachungspflich- um Rechtssicherheit und Klarheit herzustellen und um ten müssen geändert werden. All das sind Dinge, in das Vertrauen in die Gesetzgebungskompetenz zu stär- denen wir uns weitgehend einig sind. ken. Wir werden – ich gebe es zu: – schweren Herzens – Ich frage mich jetzt nur: Warum – das ist meine Kritik diesem Gesetz unsere Zustimmung erteilen und hoffen, an diesem Gesetzentwurf – haben wir das nicht gleich dass unser Angebot von den Koalitionsfraktionen in an- gemeinsam hier geändert? Der Kollege Meyer hat ges- gemessener Weise beantwortet wird. Herr Dörmann, ich tern im Wirtschaftsausschuss gesagt – ich stimme ihm da bin gespannt, was Sie mir auf dieses Angebot jetzt ant- zu –, die Reform dieses Gesetzes müsse bereits im Fe- worten werden. bruar beginnen. Es tritt aber erst im März in Kraft. Das heißt, das Gesetz ist noch gar nicht in Kraft, aber wir Vielen Dank. müssen schon wieder nachbessern. Bildlich gesprochen: Sie zwingen uns, das Flugzeug während des Fluges zu (Beifall bei der FDP) reparieren, anstatt die Reparatur schon vor dem Start vorzunehmen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nun erteile ich dem Kollegen Dörmann das Wort für (Beifall bei der FDP) die SPD-Fraktion. Das ist die Hauptkritik an diesem Gesetzentwurf. Ich meine, dass es nicht der Rechtssicherheit dient, auch Martin Dörmann (SPD): (B) nicht dem Vertrauen in die Gesetzgebungsarbeit, wenn Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) wir den Verbrauchern und auch der Industrie sagen müs- Herr Kollege Otto, zunächst einmal bedanke ich mich sen, dass das Gesetz, das sie jetzt bekommen, praktisch für das Angebot, das Sie unterbreitet haben. Auf dieses überholt ist und wir bereits an einer Novelle arbeiten. Angebot werden wir im Laufe des Jahres sicherlich zu- rückkommen. Nun rechne ich schon fest mit Ihrem Einwand des an- geblichen Zeitdrucks und der Pflicht zur Notifizierung (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ich bei der EU-Kommission. Meine Damen und Herren, so bin beglückt!) ganz ernst kann ich solche Argumente nicht nehmen; denn Sie haben selber heute einen Änderungsantrag ein- Ich bedanke mich insbesondere für die Zustimmung der gebracht, der nicht nur redaktionelle Änderungen be- FDP zu unserem Gesetzentwurf. inhaltet. In § 14 Abs. 2 ist auf Anregung des Bundesrates Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedeutung des beispielsweise eine recht weitgehende inhaltliche Ände- Internets für Wirtschaft und Verbraucher nimmt täglich rung bei den Bestandsdaten enthalten. Dann hätten wir zu. Ende 2006 verfügten rund 68 Prozent der erwachse- meines Erachtens auch gemeinsam dieses Gesetz gut nen Deutschen über einen Internetzugang. Die Anwen- machen können und nicht nur gut gemeint. dungen im Internet sind vielfältig. Fast drei Viertel der deutschen Internetnutzer stellten Preisvergleiche an. 60 Pro- Jetzt komme ich zu der komplizierten Frage, warum zent kauften Produkte und Dienstleistungen. 50 Prozent die FDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf trotzdem zu- tätigten ihre Bankgeschäfte online. Millionen besuchen stimmt. Wir tun das deshalb, weil wir – das ist ein Ange- täglich Suchmaschinen und Internetforen. Allein bei bot an die Koalitionsfraktionen – die Hoffnung haben, Ebay sind in Deutschland 20 Millionen Mitglieder regis- dass wir, anders als beim TKG, wo es die Geheimdiplo- triert. Dort werden alle 50 Sekunden eine Digitalkamera, matie zugunsten eines Staatsbetriebes gab, beim Teleme- alle zwei Minuten ein Fahrzeug und täglich immerhin diengesetz zu einer konstruktiven und vertrauensvollen 13 Bagger verkauft. Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg kom- men. Das ist ein klares Angebot an die Regierungsfrak- Die Bedeutung der Internetbranche als wichtiger tionen, dass man hier wieder auf den Pfad der fachlichen Zukunfts- und Wachstumsmarkt in Deutschland wird Vernunft zurückkehrt und dass wir uns über die Ände- weiterhin steigen. Die neuen Möglichkeiten schaffen je- rungen, über die wir weitgehend einig sind – Frau doch auch vielfältige praktische und rechtliche Problem- Wöhrl, Sie haben eben schon einige angesprochen; die stellungen. Neue Kommunikationsforen und Geschäfts- Richtung stimmt –, gemeinsam verständigen. Denn das modelle sowie die massenhafte Nutzung des Internets Wichtigste, was wir bei dem wirtschaftlich enorm wich- stellen besondere Herausforderungen dar. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7607

Martin Dörmann (A) Wir alle wollen, dass im Internet kein rechtsfreier punkte des Verbraucherschutzes und des Datenschutzes (C) Raum entsteht und dass rechtswidrige Handlungen auch oder die Interessen von verschiedenen Unternehmen ver- dort wirksam bekämpft werden können. Zugleich sind treten. wir darauf angewiesen, dass mit den von uns gewonne- nen Daten sorgfältig umgegangen wird. Es darf nicht Bei der Anhörung wurden insbesondere folgende Fra- zum gläsernen Menschen kommen. Schließlich geht es gestellungen beleuchtet: Ist eine noch schärfere Anti- auch darum, die Offenheit und Meinungsvielfalt dieses spamregelung sinnvoll und zielführend, auch vor dem neuen Mediums zu bewahren und zu befördern. Hintergrund, dass etwa 85 Prozent der Spammails aus dem Ausland versendet werden, sodass ein direkter Zu- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stellt sich die griff auf die Absender faktisch nicht möglich ist? Bedarf Bundesregierung diesen Herausforderungen. Im Kern es einer Präzisierung der Datenschutzvorschriften? geht es dabei um das neue Telemediengesetz. In ihm Müssen einzelne Begriffsbestimmungen gesetzlich noch sind jetzt die grundlegenden wirtschaftsbezogenen Re- näher definiert werden? Und schließlich: Müssen die gelungen sowohl für die Tele- als auch für die Medien- Verantwortlichkeitsvorschriften im Telemedienge- dienste zusammengefasst, die bislang in unterschiedli- setz, die gegenüber dem geltenden Recht unverändert chen Gesetzen bzw. im Mediendienste-Staatsvertrag geblieben sind, weiterentwickelt werden? normiert wurden. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ma- Die bisherige Unterscheidung hat sich angesichts der chen wir es doch!) immer weiter fortschreitenden Konvergenz im Bereich Gerade der letztgenannte Bereich der Verantwortlich- der Informations- und Kommunikationstechnologie keit kennzeichnet einen wichtigen und entscheidenden weitgehend überlebt. Mit diesem Gesetz wird jetzt ein Zielkonflikt. Einerseits wird in Teilen der Internetwirt- vereinfachter, einheitlicher und entwicklungsoffener schaft das Bedürfnis gesehen, einzelne Diensteanbieter, Rechtsrahmen geschaffen, durch den die komplizierte beispielsweise Suchmaschinen, von Verantwortlichkei- Abgrenzung entfallen kann. Das schafft mehr Klarheit ten möglichst freizustellen, unter anderem mit der Be- und Rechtssicherheit sowohl für die Nutzer als auch für gründung, man könne anhand der Vielzahl der potenziel- die Diensteanbieter. len Fälle das Problem nur schwer handhaben. Mit dem Telemediengesetz wird zudem ein übergrei- Andererseits stehen dem die berechtigten Interessen der fendes und einheitliches Datenschutzkonzept für Rund- betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher gegen- funk und Telemedien in Abgrenzung zum Datenschutz über, die beispielsweise Unterlassungsansprüche auf- für Telekommunikation normiert. Das soll ebenfalls zu- grund der Verletzung von Persönlichkeitsrechten oder sätzliche Rechtssicherheit schaffen. Diesem Ziel dienen auch Eigentumsrechten wirksam geltend machen wol- (B) auch die klarer geregelten Befugnisse der Diensteanbie- len. Eines ist klar: Allein vor der Masse dürfen wir nicht (D) ter zur Auskunftserteilung über Nutzerdaten. kapitulieren, wenn es um Rechtsverstöße geht. Es wurde gerade schon erwähnt: Ein besonderes Är- Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Pro- gernis im Internet ist das sogenannte Spamming, also bleme betreffen einen zentralen Bestandteil der Umset- das Senden unerwünschter E-Mails. Schutzvorschriften zung der europäischen E-Commerce-Richtlinie, der gibt es bereits in mehreren Gesetzen. Einerseits gibt es hier einschlägig ist. Hierzu wird gerade eine Studie der strafrechtliche Verbote und Sanktionen. Zudem gibt es EU erarbeitet, die bis Mitte 2007 fertiggestellt sein soll. im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb zivilrechtli- In ihr werden die Erfahrungen der einzelnen Mitglieds- che Vorschriften. So können beispielsweise Verbraucher- länder mit den Verantwortlichkeitsvorschriften ausge- verbände gegen Spammer gerichtlich vorgehen, insbe- wertet. sondere auch durch schnell wirksame einstweilige Die Koalitionsfraktionen haben bereits im Wirt- Verfügungen. schaftsausschuss deutlich gemacht, dass sie die in der Die bereits bestehenden Anti-Spam-Vorschriften wer- Anhörung aufgeworfenen Fragen, Herr Otto, sehr ernst den nun in dem neuen Telemediengesetz um einen Ord- nehmen nungswidrigkeitentatbestand erweitert. Danach kann mit (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wir einem Bußgeld in Höhe von 50 000 Euro belegt werden, auch!) wer in der Kopf- oder Betreffzeile einer Werbe-E-Mail den kommerziellen Charakter der Nachricht absichtlich und an der einen oder anderen Stelle durchaus Präzisie- verschleiert oder verheimlicht. rungs- und Änderungsbedarf sehen. Dennoch haben wir darauf verzichtet, bereits in diesem Gesetzgebungsver- In der vom Wirtschaftsausschuss durchgeführten An- fahren wesentliche Änderungen an dem Gesetzentwurf hörung zum vorliegenden Gesetzentwurf hat sich im der Bundesregierung vorzunehmen, und uns in unserem Wesentlichen zweierlei ergeben: Einerseits gibt es für Änderungsantrag auf wenige, nicht so gravierende Punkte die Zusammenführung der Vorschriften in einem einheit- beschränkt. lichen Telemediengesetz eine einhellige Zustimmung, übrigens auch hier im Hause; Kollege Otto hat darauf Dies hat einen besonderen Grund: In dem Teleme- hingewiesen. Andererseits werden bezüglich einiger De- diengesetz fassen wir nämlich die wirtschaftsbezogenen tailregelungen Verbesserungsvorschläge unterbreitet, Vorschriften bei den Tele- und Mediendiensten zusam- wobei diese Vorschläge jedoch sehr unterschiedlich aus- men, während die medienrechtlichen Bestimmungen im fallen, je nachdem, ob die Experten eher die Gesichts- neunten Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien 7608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Martin Dörmann (A) normiert sind, der am 1. März dieses Jahres in Kraft tritt. Sexualleben entnehmen. Das Problem wird durch die (C) Bund und Länder hatten sich nämlich im Vorfeld darauf eingeschränkte Wahlmöglichkeit der Verbraucherinnen verständigt, gemeinsam für einen entsprechenden recht- und Verbraucher beim Onlineshopping noch verstärkt. lichen Rahmen zu sorgen, um auch hier eine klare Zu- 61 Prozent der Internetnutzer haben in einer Umfrage ordnung vorzunehmen. erklärt, dass sie beim Onlineshopping um ihre Internetsi- Um aber keinen rechtsfreien Raum zu schaffen, müs- cherheit besorgt sind. 78 Prozent gaben an, dass ihre sen das Telemediengesetz und der Rundfunkstaatsver- Hauptsorge dem Diebstahl und dem Weiterverkauf ihrer trag zur gleichen Zeit in Kraft treten. Dies stellen wir mit Daten an Dritte gilt. der heutigen Verabschiedung des Telemediengesetzes si- Die Stärkung der Interessen der Nutzerinnen und Nut- cher. Würden wir in diesem Gesetzgebungsverfahren zer und ihr Schutz vor Datenmissbrauch und Datendieb- wesentliche Änderungen an dem Gesetzentwurf vorneh- stahl müssten das Kernelement eines Telemediengeset- men, müssten diese bei der EU notifiziert werden, was zes sein. Der vorliegende Gesetzentwurf wird unserer zu erheblichen Zeitverzögerungen führen würde, sodass Auffassung nach diesem Anspruch in vielen Punkten ein gleichzeitiges Inkrafttreten nicht mehr möglich wäre. nicht gerecht. Auch das wurde bei der Anhörung mehr Deshalb, sehr geehrter Herr Otto, haben sich die Ko- als deutlich. alitionsfraktionen dafür entschieden, zusätzliche Ände- Sie, Kollege Dörrmann und auch Frau Wöhrl, haben rungswünsche in diesem Gesetzgebungsverfahren zu- schon angekündigt – Herr Otto hat das auch angespro- nächst zurückzustellen. Wir tun dies übrigens guten chen –, dass schon bei der Verabschiedung des Gesetz- Gewissens, weil das neue Telemediengesetz zu einer entwurfs weitergehende Novellierungen anstehen. Dann deutlichen Verbesserung gegenüber dem heutigen stellt sich uns aber die Frage, warum wir heute Regelun- Rechtszustand führt, was letzten Endes unbestritten ist. gen beschließen sollten, die wir morgen rückgängig ma- Bei der späteren Novellierung können wir dann die Er- chen müssten, zumal die vorgesehenen Regelungen den gebnisse der aktuellen EU-Studie zur E-Commerce- Datenschutz und den Verbraucher- und Verbraucherin- Richtlinie berücksichtigen, aus der sich aller Voraussicht nenschutz nicht verbessern, sondern verschlechtern. nach ohnehin Änderungsbedarf ergeben wird. (Beifall bei der LINKEN) Mit dem neuen Telemediengesetz schaffen wir erst- mals einen einheitlichen Rechtsrahmen für Tele- und Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Otto, sehen wir dazu kei- Mediendienste. Das ist ein wichtiger Schritt zu mehr nerlei Veranlassung. Rechtssicherheit, und es ist ein wirksamer Beitrag für die Fortentwicklung des Internets. Das ist letztendlich Wir beschränken uns deshalb darauf, noch einmal aus unserer Sicht den dringendsten Änderungsbedarf auch (B) gut für uns Nutzer und für die positive Entwicklung der (D) Internetwirtschaft. Daher bitte ich Sie um Ihre Zustim- aus Sicht der Verbraucherschutzverbände und der Daten- mung zu diesem Gesetzentwurf. schützer zu benennen. Dazu gehört die Einführung eines Koppelungsverbotes. Die Nutzung von Diensten soll Herzlichen Dank. nicht an die Zustimmung zur weitreichenden Datenerhe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bung und -verwendung gekoppelt werden, wie es bei Ih- der CDU/CSU) rem Entwurf möglich ist. Nutzungsprofile sollen nur dann erstellt werden dür- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fen, wenn der Nutzer explizit eingewilligt hat. Die Mög- Es spricht jetzt für die Linke die Kollegin Ulla Lötzer. lichkeit der anonymen Nutzung von Telemediendiensten soll im Gesetz verstärkt werden. (Beifall bei der LINKEN) Nach wie vor halten wir den weitreichenden Zugriff staatlicher Stellen und anderer auf die Telemedienbe- Ulla Lötzer (DIE LINKE): standsdaten für besorgniserregend. Es gibt keinen nach- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Stellen vollziehbaren Grund, warum das Grundrecht auf das Sie sich vor, Sie gehen in einem Supermarkt einkaufen Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nicht gleicherma- und müssen dort erst einmal Ihre persönlichen Daten, ßen für die Internetnutzung gelten sollte. Neigungen und Einkaufswünsche angeben und einer Weiterverwendung der Daten zustimmen. Ich würde in (Beifall bei der LINKEN) diesem Fall sofort kehrtmachen. Stattdessen verankern Sie einen Freibrief für die ermit- Während wir uns im Supermarkt – noch jedenfalls – telnden Behörden, da es weder einer Ermächtigungs- anonym bewegen können, ist das im Internet nicht der schwelle noch einer konkreten und klaren Zweckbestim- Fall. Daten werden gespeichert und weiterverkauft. Je- mung oder einer richterlichen Anordnung bedarf. der Klick wird vermerkt. Der Weg zum gläsernen Men- Gänzlich abzulehnen sind die Aufnahme der Nachrich- schen im Internet ist schon ziemlich weit fortgeschritten. tendienste in den Kreis der berechtigten Stellen und die Die Veröffentlichung von Sucheingaben von Zulassung von Auskünften „zur Durchsetzung der Rechte 600 000 Menschen durch das Internetunternehmen AOL am geistigen Eigentum“. Letztere kritisierte der stellver- macht die besondere Dringlichkeit deutlich. Den 20 Mil- tretende Landesdatenschutzbeauftragte von Schleswig- lionen Datensätzen ließen sich Namen, finanzielle Infor- Holstein in der Anhörung als verfassungswidrig. Wer mationen, Krankheiten oder Informationen über das seine Rechte in diesem Zusammenhang durchsetzen will, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7609

Ulla Lötzer (A) kann sich an die für die Strafverfolgung zuständigen Stel- wann sein Angebot Rundfunk, Telekommunikation oder (C) len wenden. Telemedium ist. Auch wir begrüßen den Ansatz, Telemedienrechte zu- Geradezu fahrlässig ist aber, dass die Bundesregie- sammenzuführen und zu vereinheitlichen. Es kommt rung nun einen Gesetzentwurf verabschieden möchte, aber auf den Inhalt an. Mit dem vorliegenden Gesetzent- mit dem die Entwicklung auf europäischer Ebene wurf haben Sie die Chance vertan, das Vertrauen der schlicht ignoriert wird. Fast zeitgleich mit Brüssel verab- Verbraucherinnen und Verbraucher zu stärken und den schieden wir hier einen Gesetzentwurf, der eine Zweitei- Datenschutz zu verbessern. Damit erschließen Sie auch lung in Telemedium und Rundfunk vorsieht. Brüssel keine brachliegenden wirtschaftlichen Potenziale. geht aber schon viel weiter und unterscheidet zwischen linearen und non-linearen audiovisuellen Diensten sowie Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Informationsdiensten im Sinne von E-Commerce. Sie (Beifall bei der LINKEN) verhalten sich so, als wäre die langwierige und aufge- regte Debatte über die EU-Fernsehrichtlinie unbemerkt an Deutschland vorbeigezogen. Allein deshalb ist schon Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: am heutigen Tag klar, dass wir das Telemediengesetz in Zum Abschluss der Debatte spricht die Kollegin Kürze überarbeiten müssen. Ein solches Verfahren kön- Grietje Bettin für Bündnis 90/Die Grünen. nen wir Grünen nicht unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Wir hinken mit diesem Gesetz den internationalen legen! Ich habe schon in der Anhörung und im Ausschuss Entwicklungen hinterher. Mit diesem Stückwerk macht gesagt, dass wir die Zusammenlegung von Teledienste- man Deutschland nicht zur Spitze im IKT-Bereich, Frau gesetz und Mediendienste-Staatsvertrag der Bundeslän- Wöhrl. Es ist eher ein Armutszeugnis für die Bundesre- der grundsätzlich begrüßen und dass wir diese Regelung gierung, wenn bei Verabschiedung des Gesetzes die für längst überfällig halten. Überall wurde das Teleme- Überarbeitungsnotwendigkeit schon deutlich sichtbar diengesetz von der Bundesregierung als die Neuordnung wird. Wir Grüne bedauern es sehr, dass die Chancen und der Medienordnung angepriesen. Aber das wird dem vor- Möglichkeiten der digitalen Welt noch immer nicht in gelegten sehr lückenhaften Gesetzentwurf in keiner den Köpfen der Bundesregierung angekommen sind. Weise gerecht. Das zeigt sich nicht nur in mangelndem Willen, die Ver- antwortlichkeiten neu zu ordnen. Der Föderalismus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht es uns hier sicherlich nicht leicht. Aber unser (D) (B) Das Gesetz ist schon heute veraltet. Man kann davon Hauptkritikpunkt ist, dass die Bundesregierung die Welt ausgehen, dass es bereits in einem halben Jahr oder des Internets wieder einmal ohne die Nutzerinnen und schon früher überarbeitet werden muss. Nutzer, ohne die Verbraucherinnen und Verbraucher ge- stalten will. Sie verkennt völlig, dass gerade hier die (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ab Grundsteine für verbraucherfreundliche Regelungen Februar!) gelegt werden könnten. Hier liegen Wettbewerbsvorteile Aber ob das dann wirklich gemacht wird, steht für mich aus unserer Sicht ungenutzt auf der Straße, zum Beispiel noch in den Sternen; denn das ist ein sehr unübliches im Bereich des Datenschutzes. Verfahren. Zu diesem seltsamen Verfahren kommt es, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weil die Bundesregierung die Einwände und Bedenken der Unternehmen und Verbände nicht ernst nimmt Die Bundesregierung nutzt dieses Gesetzeswerk nicht, um endlich eine Angleichung des Datenschutzniveaus (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Weil bei Rundfunk, Telekommunikation und Telemedien her- Rot-Grün zu lange gepennt hat!) zustellen, wie dies schon lange von allen Seiten gefordert und weil sie sich nicht traut, den Bundesländern die Stirn wird. Wir halten die unterschiedlichen Niveaus für unzu- zu bieten. Konsequenterweise müsste sie das Inkrafttre- lässig; denn bei allen Formen der Kommunikation und ten des Rundfunkstaatsvertrags verzögern, der – das der Mediennutzung muss man den höchsten Schutz des haben schon meine Vorrednerinnen und Vorredner deut- Individuums gewährleisten und sich am Fernmeldege- lich gemacht – mit dem Telemediengesetz zusammen- heimnis des Grundgesetzes zwingend orientieren. hängt. Wir bedauern zudem, dass die Bundesregierung den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vorschlag des Bundesrates nicht aufgenommen hat, ein uneingeschränktes Verbot der Koppelung von Dienste- In unserer Anhörung wurde deutlich, dass alle die Zu- nutzung und Datenherausgabe im Telemediengesetz sammenlegung von Tele- und Mediendiensten grund- festzuschreiben. Dann hätte die weitverbreitete Praxis sätzlich begrüßen, dass es aber leider an allen Ecken und endlich ein Ende gehabt, dass Internetdienste nur der Enden noch Mängel gibt und dass der Gesetzentwurf so nutzen kann, der seine persönlichen Daten bereitwillig eigentlich gar nicht verabschiedet werden dürfte. Es preisgibt und in die Zusendung von Werbung einwilligt. fehlt beispielsweise eine positiv-rechtliche Definition Stattdessen erweitert die Bundesregierung den Zugriff des neuen Begriffs „Telemedium“. Das heißt, auch mit auf persönliche Daten sogar noch. Das finden wir ausge- dem neuen Gesetz weiß kein Diensteanbieter genau, sprochen bedauerlich. 7610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Grietje Bettin (A) Leider ist meine Zeit schon zu Ende. Deshalb kann Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die wei- (C) ich zu dem wichtigen Thema Spam nicht mehr kommen. tere Beratung. Zusammenfassend lässt sich nur wiederholen: Dieses Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Gesetz ist aus unserer Sicht eher ein Armutszeugnis und schusses für Wirtschaft und Technologie auf verdient die Bezeichnung Neuordnung der Medienord- Drucksache 16/4078 zu dem Antrag der Fraktion des nung mit Sicherheit nicht. Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Verbraucher Danke schön. beim Telemediengesetz nicht übergehen“. Der Aus- schuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschluss- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) empfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/3499 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schlussempfehlung bei Zustimmung der Koalition, Ge- Ich schließe die Aussprache. genstimmen der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grü- nen und Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- angenommen. desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung von Vorschriften über bestimmte elek- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b tronische Informations- und Kommunikationsdienste auf auf: den Drucksachen 16/3078 und 16/3135. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buch- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia stabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Hirsch, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weite- che 16/4078, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Praktika gesetzlich regeln entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – – Drucksache 16/3349 – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Überweisungsvorschlag: Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen Ausschuss für Bildung, Forschung und der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen ange- Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales nommen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dritte Beratung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu- Gehring, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer (B) stimmen will, den bitte ich, aufzustehen. – Gegenstim- Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- (D) men? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in SES 90/DIE GRÜNEN dritter Beratung mit dem gleichen Stimmergebnis wie vorher angenommen. Perspektiven für die Generation Praktikum schaffen Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent- schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs- – Drucksache 16/3544 – antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4080? – Überweisungsvorschlag: Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist der Ent- Ausschuss für Bildung, Forschung und schließungsantrag bei Zustimmung der FDP und Ableh- Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales nung durch die übrigen Mitglieder des Hauses abge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lehnt. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksa- battieren. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so be- che 16/4081? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch schlossen. dieser Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der die Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und Die Kollegin Cornelia Hirsch, Die Linke. Linke, Gegenstimmen der Koalitionsfraktionen und bei Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN) Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurfs eines Anti-Spam-Gesetzes auf der Drucksa- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! che 16/1436. Der Ausschuss für Wirtschaft und Techno- In den letzten Monaten gab es gleich zwei Petitionen logie empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- zum Thema Praktika an den Bundestag. Beide haben fehlung auf Drucksache 16/4078, den Gesetzentwurf ab- sehr viel Unterstützung erhalten. Allein die letzte haben fast 60 000 Menschen unterzeichnet, 60 000 Menschen, zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf die damit mehr und bessere gesetzliche Bestimmungen zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt für Praktika eingefordert haben. Darum ist es gut und dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf richtig, dass sich der Bundestag heute auf Antrag der in zweiter Beratung bei Zustimmung der Fraktion des Linken mit diesem Thema befasst. Bündnisses 90/Die Grünen und Die Linke, Gegenstim- men der Koalition und Enthaltung der FDP abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7611

Cornelia Hirsch (A) Ich möchte Ihnen und vor allem den weiteren Zuhöre- tion die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- (C) rinnen und Zuhörern unseren Antrag ganz grob erläu- mern schon seit mehreren Jahren systematisch abbaut. tern. Grundsätzlich unterscheiden wir darin zwischen echten Praktika auf der einen und Scheinpraktika auf (Beifall bei der LINKEN – Willi Brase [SPD]: der anderen Seite. Echte Praktika sind für uns solche Wer baut ab?) Praktika, die man traditionell kennt: Während Studium Müssen die Betroffenen denn beim Thema Praktikum oder Ausbildung arbeitet man für einige Wochen oder genauso lange warten wie bei der Forderung nach einer Monate in einem Unternehmen mit, kann Gelerntes in gesetzlichen Ausbildungsumlage, die man versprochen der Praxis ausprobieren und Neues kennenlernen. Wir hat? Erwartet sie das gleiche Theater wie beim gesetzli- wollen, dass alle die Möglichkeit haben, solche Erfah- chen Mindestlohn, wo wir hier ein unsägliches Herum- rungen zu sammeln, und wir wollen, dass diese Praktika lavieren erleben? mehr beinhalten als Kaffeekochen und Kopieren. (Beifall bei der LINKEN – Swen Schulz (Beifall bei der LINKEN) [Spandau] [SPD]: Sie meckern doch nur nach! Deshalb ist unsere erste Forderung die nach verbindli- Franz Müntefering ergreift die Initiative!) chen Praktikarichtlinien, die unter anderem eine Vergü- Wir sagen Nein. Solch eine Politik – links blinken, tung und eben auch eine ausreichende Betreuung vor- und dann schon umkippen, bevor man überhaupt ange- schreiben. fangen hat, abzubiegen – sollte sich wirklich niemand Neben den echten Praktika gibt es leider auch immer mehr gefallen lassen. mehr Scheinpraktika. Scheinpraktika haben mit Prak- (Beifall bei der LINKEN – Willi Brase [SPD]: tika im traditionellen Sinne überhaupt nichts mehr zu Ladenschluss in Berlin!) tun. Sie werden nur als Vorwand benutzt, um arbeits- rechtliche Bestimmungen zu umgehen. Praktisch gestal- – Bevor Sie sich zu sehr aufregen, komme ich auf die tet sich das so, dass Unternehmen anstelle regulärer nächste Fraktion zu sprechen. Arbeitsverhältnisse vermeintliche Praktikumsstellen an- Genau das Gleiche gilt nämlich für die Vorschläge bieten. Die Betroffenen arbeiten dann meist ohne Lohn von Union und FDP. Man braucht keine hellseherischen und unter vollkommen unsicheren Arbeitsbedingungen Fähigkeiten zu haben, um hier zu erahnen, was Sie uns in den Unternehmen mit. Kaum jemand muckt dagegen nachher vorschlagen werden. Herr Barth will sprechen, auf, kaum jemand kann dagegen aufmucken; zu groß ist Frau Bär will sprechen. Sicherlich werden sie sich hin- die Sorge, hinausgeworfen zu werden, vollkommen aus- stellen und sagen: Natürlich ist es ein Problem, dass Ab- gegrenzt zu sein und gar nichts mehr zu finden. Das ist solventinnen und Absolventen unter dem Vorwand von (B) Ausbeutung pur. (D) Praktikastellen ausgebeutet werden; (Beifall bei der LINKEN) (Uwe Barth [FDP]: Erzählen Sie uns doch ein- Unsere zweite Forderung ist deshalb, solche Scheinprak- mal, was Sie wollen, und nicht, was wir wol- tika zu verbieten. So viel zu unserem Antrag. len!) Die Vorschläge, die wir aus den anderen Fraktionen aber es ist doch vollkommen verkehrt, jetzt wieder mit bisher gehört haben, überzeugen uns nicht. weiteren gesetzlichen Forderungen zu kommen, wie es die Linken ja immer täten. Sie werden sagen: Der rich- Ich möchte hier als erstes Beispiel den Antrag der tige Weg sind weitere Flexibilisierungen. Grünen aufführen, der hier ebenfalls behandelt wird. Sie schlagen allen Ernstes vor, das Problem der Scheinprak- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Woher wissen tika mit freiwilligen Selbstverpflichtungen der Unter- Sie das? Sie haben doch keine Ahnung!) nehmen zu lösen. Das wird weiß Gott nicht funktionie- Ihre Flexibilisierung heißt aber – das müssen immer ren. Mit solchen Vorschlägen mogeln Sie sich auf mehr Menschen am eigenen Leib erfahren – Abbau von Kosten der Betroffenen um eine Lösung herum. erkämpften Rechten, heißt Arbeitslosigkeit oder Arbeit (Beifall bei der LINKEN – Kai Gehring mit zu wenig Lohn zum Leben. Das wollen wir nicht. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen (Beifall bei der LINKEN) die Gesetzeskeule schwingen! Das wird die Probleme nicht lösen!) Wir wollen sinnvolle, sichere und gerecht bezahlte Arbeit. Statt immer weiterer Flexibilisierung, also eines Was wir brauchen, sind gesetzliche Bestimmungen, die Abbaus von Rechten, fordern wir Verbesserungen und ausreichend Schutz gegen die zunehmende Ausbeutung einen weiteren Ausbau. Ein erster Schritt in diese Rich- bieten. tung ist, dass Praktika wieder zu dem werden, was sie ei- Wenig glaubwürdig sind auch die Kolleginnen und gentlich sein sollten: ein Lernverhältnis und kein Deck- Kollegen aus der SPD. Wir halten es wirklich für sehr mantel, um arbeitsrechtliche Bestimmungen zu scheinheilig, sich hier hinzustellen und – Vizekanzler umgehen. Müntefering hat es vorgemacht – zu sagen: „Wir wollen Besten Dank. etwas gegen die Ausbeutung der Praktikantinnen und Praktikanten unternehmen“, und das, obwohl diese Frak- (Beifall bei der LINKEN) 7612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auch künftig immer besser werden. Das zeigt sich allein (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär für die an der Arbeitslosenquote, die zwar zuletzt bei CDU/CSU-Fraktion. 3,8 Prozent lag – wir sind uns einig, dass das 3,8 Prozentpunkte zu viel sind –, aber trotzdem erheb- (Beifall bei der CDU/CSU) lich niedriger als die allgemeine Arbeitslosenquote ist. Zum Vergleich: Der Anteil der Arbeitslosen, die gar kei- Dorothee Bär (CDU/CSU): nen Berufsabschluss haben, hat sich im selben Zeitraum Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und vervierfacht. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hirsch, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie vom Rednerpult Ich glaube, dass sich die Situation für Akademiker aus einmal verkauften, was Sie vorschlagen, und nicht weiter verbessern wird, weil die Nachfrage nach Höher- nur ankündigten, was Herr Barth und ich hier sagen. Das und Höchstqualifizierten, die die Anpassungen an die können wir selber. neuen Bedingungen am Arbeitsmarkt leisten können, steigen wird. Leider Gottes spielt es auch eine Rolle, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dass die Zahl der Erwerbspersonen insgesamt weiter ab- Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Das war die nehmen wird; infolge des Geburtenrückgangs geht Hälfte meiner Rede!) selbstverständlich auch die Zahl der Akademiker zurück. Sie sprechen in Ihren Anträgen immer von der „Ge- Wir werden den Arbeitsmarkt für weitere Akademiker- neration Praktikum“; dies ist zu einem geflügelten Be- gruppen öffnen und den Akademikern helfen, dass sie griff in den Medien geworden. Ich möchte aber zum An- keine größeren Schwierigkeiten beim Berufseinstieg fang sagen: So wie 1968 nicht alle 68er waren, sind mehr haben. heute nicht alle Hochschulabsolventen Praktikanten, die Selbstverständlich müssen wir – das sieht auch unsere bei geringer oder gar keiner Bezahlung ausgebeutet wer- Fraktion so – die derzeitige Situation kritisch beäugen. den. Ich finde es nicht gut, wenn hier eine ganze Genera- tion pauschal abgewatscht wird. Praktikum ist selbstver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- ständlich nicht gleich Praktikum. Sie haben die wie des Abg. Dr. Unterscheidung zwischen echten Praktika und Schein- [SPD]) praktika angesprochen. Ich möchte an Sie appellieren, mit diesem Pauschalausdruck nicht die zu verunglimp- Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass es nicht sein fen, die sich Mühe geben, die Praktika anbieten, oder kann, dass Hochschulabsolventen monatelang ohne Be- die, die Praktika machen. Sie selber können, wenn Sie zahlung voll arbeiten. Es kann auch nicht sein, dass sie Praktikanten haben, mit gutem Beispiel vorangehen. keine Planungssicherheit haben. Ich denke, wenn je- (B) mand monatelang ohne Bezahlung und ohne Planungssi- (D) (Beifall des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ cherheit arbeitet, hat er das große Problem, dass er sich CSU] – Zurufe von der LINKEN: Das tun wir nicht um die Familie kümmern kann bzw. keine Familie auch!) planen kann. Schon allein deswegen sind wir, ist die Bundesregierung nicht untätig. Deswegen erübrigt sich – Es wundert mich zwar, dass jemand bei Ihnen ein eigentlich Ihr Antrag. Praktikum machen will; aber das ist ein anderes Thema. (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU, der (Beifall bei der CDU/CSU – Cornelia Hirsch SPD und der FDP) [DIE LINKE]: Was haben Sie denn gemacht? Wo ist Ihre Gesetzesinitiative?) Sie wollen mit Ihrem Antrag die Hürden für Prakti- kumsplätze so hoch hängen, dass es bald gar keine Mög- Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales lichkeit mehr gibt, überhaupt Praktikumsplätze anzubie- möchte alle Hochschulabsolventen auf unbezahlten ten. Das Problem ist auch: Wenn Sie allen Studenten das Praktikumsstellen besser über ihre Rechte aufklären. Gefühl geben, am Ende ihres Studiums stünde die Ar- Deswegen hat es einen Fragenkatalog zum Thema beitslosigkeit, nehmen Sie ihnen die Hoffnung, nach er- Praktika erarbeitet; er wird auf der Homepage des Minis- folgreich abgeschlossenem Hochschulstudium einen Ar- teriums präsentiert. beitsplatz zu finden. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Publikation, kein Fragebogen!) LINKE]: Wir wollen nicht Hoffnung nehmen, Der Katalog beinhaltet beispielsweise Fragen zur Ar- wir wollen Hoffnung geben! Das ist ein Unter- beitszeitregelung, zu den Pausen und Ruhezeiten. schied!) Zudem gibt es die Initiative „Fair Company“. – Nein, das wollen Sie nicht. Es wäre schön, wenn Sie es 400 Unternehmen haben sich zusammengeschlossen und wollten. Sie haben gesagt, es gebe – – Nein, das würde sich zur Einhaltung bestimmter Regeln verpflichtet. Bei- jetzt zu weit führen. Ich möchte mir keine Rüge der Prä- spielsweise dürfen keine Vollzeitstellen durch Prakti- sidentin einhandeln. kumsstellen ersetzt werden; Hochschulabsolventen, die Es gibt inzwischen deutliche Signale, dass sich gerade sich auf eine feste Stelle beworben haben, dürfen nicht für Akademiker die Situation auf dem Arbeitsmarkt än- mit einem Praktikum vertröstet werden; Praktikanten dert. Ich glaube, dass die Chancen von Akademikern auf dürfen nicht mit der vagen Aussicht auf eine anschlie- dem Arbeitsmarkt nicht nur momentan gut sind, sondern ßende Vollzeitanstellung geködert werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7613

Dorothee Bär (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Schneider und „dürfen“ aus. Damit dokumentieren Sie ihr Bestre- (C) [Saarbrücken] [DIE LINKE]: 400 Unterneh- ben, alles gesetzlich zu regeln. Dagegen sind für uns ge- men in ganz Deutschland! Beeindruckend!) setzliche Regelungen kein Allheilmittel. Das Beispiel des Fahrraddiebstahls mag das verdeutlichen. Auch Einige Absolventen haben so die Möglichkeit, mit Un- Fahrraddiebstahl ist verboten, findet aber trotzdem statt. ternehmen, die sich schon zur Teilnahme bereiterklärt Wir haben es hierbei eben nicht vorrangig mit einem ju- haben, gut und sicher zusammenzuarbeiten. Die positi- ristischen, sondern mit einem moralischen Problem zu ven Beispiele sollen anspornen und dazu führen, dass tun. bald mehr Unternehmen teilnehmen werden. Ich rufe Sie deshalb dazu auf, sich – mit uns zusam- Mit der Forderung, sich bei der Entlohnung von Prak- men – konstruktiv mit diesen Themen zu beschäftigen tikanten an einem gesetzlichen Mindestlohn zu orientie- und sich nicht immer diesem blinden Aktionismus zu ren, machen Sie letztlich genau den Fehler, den Sie den widmen. Es ist für uns ganz wichtig, sicherzustellen, betreffenden Unternehmen berechtigterweise vorwerfen: dass es weiterhin nicht nur genügend Akademiker, son- Sie verwechseln nämlich Praktikumsplätze mit regulären dern überhaupt genügend Qualifizierte gibt, die besser Arbeitsplätzen. Ein Praktikant ist laut Definition des ausgebildet und besser weitergebildet werden. Bundesarbeitsgerichts, wer sich für eine vorübergehende Dauer zwecks Erwerbs praktischer Kenntnisse und Er- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang fahrungen einer bestimmten betrieblichen Tätigkeit und Thierse) Ausbildung, die keine systematische Berufsausbildung Wir sollten den jungen Akademikern auch Mut zuspre- darstellt, unterzieht. chen und ihnen sagen: Geht nach dem Studium mit Opti- Mit Forderungen nach einem Mindestlohn wecken mismus hinaus! Stattdessen sagen Sie ihnen: Ihr studiert Sie Hoffnungen und Begehrlichkeiten – beides können nur, um unbezahlte Praktika zu machen; es gibt eben Sie ja sehr gut –; Sie helfen aber in Wahrheit niemandem keine Arbeitsplätze in Deutschland. weiter, nicht den Unternehmen und erst recht nicht den Vielen Dank. Praktikanten. Mit solchen Forderungen fördern Sie die Praktika nicht; sie gefährden ihre Existenz. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. : Gerade kleine und mittlere Unternehmen, Theater, Kul- Ich erteile das Wort Kollegen Uwe Barth, Fraktion tureinrichtungen, aber vor allem auch soziale Einrich- (B) der FDP. tungen wären dann schlichtweg nicht mehr in der Lage, (D) Praktikumsplätze anzubieten. Verlierer wären die Ein- (Beifall bei der FDP) richtungen, und Verlierer wären vor allem die Praktikan- ten. Uwe Barth (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wir müssen an dieser Stelle deshalb ganz klar differen- Kollegen! In einem vielbeachteten Artikel in der „Zeit“ zieren zwischen Unternehmen, die aus wirtschaftlichen wurde im März 2005 erstmalig auf die Probleme und Zwängen heraus nicht in der Lage sind, ihren Praktikan- Missstände hingewiesen, mit denen manche Hochschul- ten Aufwandsentschädigungen oder eine Entlohnung an- abgänger bei ihrer Suche nach einem Berufseinstieg in zubieten, die im Praktikum aber Wissen vermitteln – das der Tat konfrontiert werden. Im letzten Jahr hat es der ist der Sinn des Praktikums –, und Unternehmen, die Prak- Begriff „Generation Praktikum“ bei der Wahl zum Wort tikanten gezielt ausnutzen, obwohl sie in der Lage wären, des Jahres auf Platz zwei geschafft. Die bereits erwähnte eine Entlohnung zu zahlen, oder – schlimmer noch – Un- öffentliche Petition mit 60 000 Unterschriften ist ein ternehmen, die Praktikanten statt regulärer Arbeitskräfte weiterer Beleg für die große öffentliche Aufmerksamkeit einstellen. Das ist in der Tat moralisch verwerflich. und die Bedeutung, die dieses Thema hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Wichtig ist, dass man sich darüber klar wird, worüber bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- man spricht. Nicht Praktika sind das Problem, sondern NISSES 90/DIE GRÜNEN) der Missbrauch dieses an sich sehr sinnvollen und not- Das sind auch die Fälle, die unter den Betroffenen für wendigen Instrumentes Verärgerung sorgen. Wenn Praktikanten eine Stelle an- (Willi Brase [SPD]: Richtig!) treten und von Monat zu Monat vertröstet werden, wenn ihnen bei Erreichen guter Leistungen eine feste Anstel- und damit der Missbrauch der Praktikanten als billige lung in Aussicht gestellt wird, die Einlösung dieses Ver- oder gar kostenlose Arbeitskräfte. sprechens mit Ausreden aber immer weiter hinausge- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der schoben wird und es eben nicht zu der Einstellung SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- kommt, dann entsteht Verärgerung. Das sind die schwar- SES 90/DIE GRÜNEN) zen Schafe, um die es geht. Während wir uns bis dahin noch einig sind, kommt Mein dringender Appell ist deshalb, diesen Unter- nun der Bruch, liebe Kollegin Hirsch. Ihr Antrag zeich- schied nicht aus den Augen zu verlieren, hier nicht alle net sich durch sehr regen Gebrauch der Wörter „müssen“ über einen Kamm zu scheren und mit gesetzlichen Rege- 7614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Uwe Barth (A) lungen am Ende nicht mehr Schaden anzurichten, als Spätestens seit diesem Artikel wissen wir, dass es eine (C) Nutzen zu erzielen. Es ist ganz klar, dass wir das Han- „Generation Praktikum“ gibt. Das Studium ist längst deln dieser schwarzen Schafe nicht tolerieren können. keine sichere Eintrittskarte mehr in das Berufsleben. Auch Hochschulabsolventen müssen oft monatelang um Wichtiger als gesetzliche Regelungen ist aus unserer einen Arbeitsplatz kämpfen. Sicht aber, dass die von den Prozessen Betroffenen han- deln. Wenn Fachbereiche von ihren Studenten den Nach- Um die Dramatik des Themas ein wenig zu veran- weis über ein Pflichtpraktikum verlangen, dann haben schaulichen, habe ich im Internet recherchiert und mir die entsprechenden Universitäten ihren Studenten ge- laufende Stellenausschreibungen für Praktikanten an- genüber natürlich auch eine gewisse Verantwortung. Bei geschaut. Ich möchte an dieser Stelle nur ein einziges, der Suche nach geeigneten Praktikumsplätzen und bei dafür aber signifikantes Beispiel nennen: eine PR-Agen- der Durchführung des Praktikums können Universitäten tur aus Frankfurt am Main. Voraussetzung für das drei- helfen. Durch eine gezielte Vermittlung kann sicherge- bis sechsmonatige Praktikum ist unter anderem ein abge- stellt werden, dass die Praktika nur in Betrieben, Unter- schlossenes Hochschulstudium, erste Erfahrungen im nehmen und Einrichtungen stattfinden, die mit ihren Kommunikations-, Marketing- oder Medienbereich, ide- Praktikanten fair umgehen. Auch Praktikumsvereinba- alerweise in einer PR-Agentur, und natürlich hohe Ein- rungen – das gilt übrigens auch für Praktika, die nach der satzbereitschaft. Das Unternehmen bietet im Gegenzug Ausbildung stattfinden – sind mit Sicherheit ein geeigne- – so ist es tatsächlich formuliert – nette Kollegen, inter- tes und sehr einfaches Mittel. Hier kann man festschrei- essante Kunden und die Option zur Übernahme in ein ben – das liegt im beiderseitigen Interesse –, in welchem einjähriges Traineeprogramm. Rahmen das Praktikum stattfindet. Gerade im Bereich der Bachelorausbildungen müssen sich die Universitäten Die Praktikumsofferte ist zynisch. Man könnte glau- die Frage stellen, ob ein sechsmonatiges Praktikum sinn- ben, es sei ein Einzelfall. Es handelt sich aber nicht um voll und notwendig ist. Auch das gehört dazu. einen Einzelfall. Es handelt sich vielmehr um die ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten flixte Realität. Unzählige solcher Beispiele lassen sich der CDU/CSU) finden. Zum Schluss möchte ich an die Studenten und Absol- Was verstehen wir generell, abstrakt unter einem venten appellieren. Ich weiß, dass die Angst vor einer Praktikum? In der Regel wird „Praktikum“ definiert als Lücke im Erwerbslebenslauf sehr groß ist und der Start Lernverhältnis, das für einen begrenzten Zeitraum zur ins Berufsleben alles andere als einfach ist. Um eines beruflichen Orientierung und zum Erwerb erster berufli- möchte ich aber doch bitten: Lassen Sie nicht alles mit cher Kenntnisse absolviert wird. Diese primären Zielset- (B) sich machen! Man kann schwarze Schafe über Netz- zungen des Praktikums werden immer häufiger verfehlt. (D) werke identifizieren, ächten und meiden. Verkaufen Sie Praktikantinnen und Praktikanten werden oft als billige sich nicht unter Wert, liebe Praktikanten, liebe Absol- oder kostenlose Arbeitskräfte missbraucht. venten! Sie sind die Zukunft unseres Landes und nicht seine Reserve an billigen Arbeitskräften! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Es gibt derzeit keine bundesweit erhobenen belastba- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ren Daten über die Zahl der Hochschulabsolventen, die der CDU/CSU und der SPD) unbezahlte Praktika absolvieren. Aber es ist nicht zu übersehen, dass immer mehr Hochschulabsolventen im Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Anschluss an das Studium nicht den Berufseinstieg fin- Ich erteile das Wort Kollegin Anette Kramme, SPD- den, sondern stattdessen ein Praktikum, dann vielleicht Fraktion. noch eines und dann noch ein weiteres absolvieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In einer repräsentativen Studie der FU Berlin gaben im Jahr 2005 ein Viertel der Absolventen aus dem Jahr- Anette Kramme (SPD): gang 2000 an, nach dem Studium Praktika absolviert zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haben. In fast der Hälfte der Fälle waren die Praktika un- Früher fiel es schwer, den Plural des Wortes Prakti- bezahlt. Die Stichprobe der DGB-Jugend weist in eine kum zu bilden, viele sagten „Praktikums“ oder, ähnliche Richtung. Von 100 befragten Praktikanten sagte noch schrecklicher, „Praktikas“. Heute hört man die Hälfte, sie hätten eine reguläre Stelle ersetzt. 40 Pro- den Plural nur noch in der richtigen Form. … Sie zent von ihnen bekamen trotz Vollzeittätigkeit keinerlei Lohn. – die Praktikanten – Das Problem „Generation Praktikum“ ist interessan- spazieren in die Firmen, sie werden von den älteren terweise kein spezifisch deutsches Thema. In mehreren Kollegen ob ihrer Jugend und ihres Fleißes geliebt, Ländern der EU hat sich ein regelrechter Praktikantenar- aber diese Liebe ist nicht von Dauer. Sie werden be- beitsmarkt herausgebildet. Dessen Merkmale sind ein nutzt, aber nicht gebraucht. extrem hohes Qualifikationsniveau, flexibelste Arbeits- Leider ist mir dieser schöne Spruch nicht eingefallen. zeiten, Überstundenbereitschaft, niedrige Sozialstan- Ich habe ihn aus der „Zeit“ vom 31. März 2005 zitiert. dards und eine geringe bis keine Entlohnung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7615

Anette Kramme (A) Es ist wichtig, dass wir das Thema „Generation Prak- nem Schülerpraktikanten, der für eine Woche in einen (C) tikum“ heute auf der Tagesordnung haben. Die Anträge Betrieb hineinschaut, besteht sicherlich kein Handlungs- der Linken und der Grünen enthalten allerdings keine bedürfnis. Interessanter ist die Thematik der Hochschul- neuen Aspekte. All die angesprochenen Gesichtspunkte absolventen. Interessant ist die Problematik allerdings sind bereits in die Überlegungen des BMAS eingeflos- auch bei Studenten. Denn Studenten können durchaus sen. relevante Arbeitsleistung erbringen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zweitens müssen wir klären, ob es rechtlich erforder- Der Fragebogen!) lich ist, in § 26 Berufsbildungsgesetz eine genaue Defi- nition des Begriffes Praktikum in Abgrenzung zum Be- Ein Teil der Praktikanten fällt derzeit unter § 26 des griff Arbeitsverhältnis vorzunehmen. Das BAG arbeitet Berufsbildungsgesetzes. Der Lernzweck des Prakti- durchaus mit diesen Begrifflichkeiten. Da ist genauer kums steht nach den in § 26 genannten Vorschriften im vorzugehen. Meine Damen und Herren der Linken, Ihr Vordergrund. Nichtsdestotrotz haben diese Praktikanten Antrag bleibt an dieser Stelle schlichtweg oberflächlich. Anspruch auf Vergütung. Auch das Bundesurlaubsge- setz, das Arbeitszeitgesetz und das Betriebsverfassungs- Drittens. Wir müssen klären, ob es sinnvoll ist, den gesetz finden Anwendung. Steht jedoch nicht der Lern- Parteien eines Praktikumsvertrages aufzuerlegen, dass zweck im Vordergrund, sondern das Erbringen einer eine schriftliche Niederlegung der Vertragsbedingungen Arbeitsleistung, so handelt es sich – auch wenn als Prak- zu erfolgen hat. tikum tituliert – um ein Arbeitsverhältnis. Viertens. Wir sollten auch darüber reden, ob durch (Willi Brase [SPD]: Sehr richtig!) eine gesetzliche Regelung festgelegt werden soll, dass die Ausbildungsinhalte für das jeweilige Praktikumsver- Gestatten Sie mir, dass ich kurz aus einem Urteil des hältnis konkret umschrieben werden müssen. Ich denke, Bundesarbeitsgerichtes aus dem Jahr 2003 zitiere – dort das würde dem Arbeitgeber klarmachen, was er machen ist dies ganz hübsch zusammengefasst –: oder nicht machen muss. Dies könnte in einem ersten Arbeitnehmer ist, wer auf Grund eines privatrecht- Schritt schnell umgesetzt werden. lichen Vertrages im Dienst eines anderen zur Leis- Fünftens. Wir müssen abschließend eine politische tung weisungsgebundener, fremdbestimmter Ar- Entscheidung darüber treffen, ob es sinnvoll ist, einen beit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist … zeitlichen Rahmen für die Lernverhältnisse gesetzlich Demgegenüber ist ein Praktikant in aller Regel vo- festzuschreiben. rübergehend in einem Betrieb praktisch tätig, um sich die zur Vorbereitung auf einen – meist akade- Praktika sind wichtig. Es darf aber nicht passieren, (B) mischen – Beruf notwendigen praktischen Kennt- dass sich Arbeitgeber aufgrund gesetzlicher Regelungen (D) nisse und Erfahrungen anzueignen. … Die Vergü- aus der Ausbildung zurückziehen. Ausbeutung darf um- tung ist der Höhe nach deshalb gekehrt aber genauso wenig stattfinden. Wir werden sorgfältig abwägen, welche Maßnahmen wir ergreifen – im letzteren Fall – können. auch eher eine Aufwandsentschädigung oder Bei- Ganz herzlichen Dank. hilfe zum Lebensunterhalt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Scheinpraktikanten haben also die Möglichkeit, vor das Arbeitsgericht zu ziehen. Der Betroffene kann auf eine angemessene Vergütung nach § 138 des Bürgerli- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: chen Gesetzbuches klagen. Es besteht auch die Möglich- Ich erteile das Wort Kollegen Kai Gehring, Fraktion keit, die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Wir haben im Bündnis 90/Die Grünen. Strafgesetzbuch eine spezielle Vorschrift zum sogenann- ten Lohnwucher. Tatsächlich ist dies das aber eine sehr Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hohe Hürde. Zum einen wissen viele nicht um ihre Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Rechte – ich denke, das ist ein Hauptproblem –, zum an- Kollegen! „Der dümmste Hund im ganzen Land, das ist deren scheuen sie den Weg zum Gericht. Denn es besteht und bleibt der Praktikant“ – so titelte die „tageszeitung“ die vage Hoffnung auf Festanstellung. Den Einstieg ins vor einigen Wochen zum Thema Generation Praktikum. Unternehmen will man sich schließlich nicht verbauen. Ich fürchte, dies trifft das Gefühl und die Lebensrealität zahlreicher junger Menschen in unserem Land gut. Be- Ich sage ganz klar: Wenn Unternehmen Vollzeitarbeit, legt wird dies unter anderem durch die beeindruckende die es bei ihnen gibt, von Menschen erledigen lassen, die Unterstützung für die Petition gegen die Ausbeutung von man Hospitanten, Volontäre oder Praktikanten nennt, Praktikanten. Über 60 000 junge Menschen, darüber hi- und ihnen kein Geld dafür gibt, dann ist das unerträglich. naus fairwork e. V. und die Gewerkschaften dürfen wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hier im Bundestag nicht ignorieren. Daher bringen wir der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ heute auch eine wichtige gesellschaftliche Debatte ins DIE GRÜNEN) Parlament. Erstens müssen wir in den nächsten Wochen politisch Die Realität sieht folgendermaßen aus: Viele Hoch- klären, bei welcher Art von Praktika tatsächlich politi- schulabsolventinnen und -absolventen finden nach dem scher oder rechtlicher Handlungsbedarf besteht. Bei ei- Studium nicht sofort eine feste Stelle. Um Lücken im 7616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Kai Gehring (A) Lebenslauf zu vermeiden, nehmen sie fast jede Form men, die Praktikanten teilweise fest als billige Arbeits- (C) von Beschäftigung an. „Schwarze Schafe“ unter den Un- kraft einplanen, klargemacht werden: Ein Praktikum ist ternehmen nutzen dies aus und bieten statt vollwertiger ein Lern- und kein Arbeitsverhältnis. Jobs geringfügig oder nicht bezahlte Praktika an. Das geht dann klar zulasten regulärer Beschäftigung. Gleich- Ein Mindestlohn für Praktikanten schafft aus unserer zeitig gilt auch: Ein Hochschulabschluss ist und bleibt Sicht allerdings eher einen Niedriglohnsektor für Akade- die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Wir dür- mikerinnen und Akademiker und könnte das Problem fen das Problem der Generation Praktikum also weder zementieren, anstatt es zu lösen. verharmlosen noch dramatisieren, sondern wir müssen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es anpacken und Lösungen dafür vorschlagen. Wir wollen drittens keine falschen Versprechungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ist es richtig, ein unabhängiges Gütesiegel Die Ausnutzung von Praktikantinnen und Praktikan- „Faires Praktikum“ einzuführen. Die Arbeitgeber ver- ten dürfen wir nicht akzeptieren. Ich habe die Hoffnung, pflichten sich damit auf überprüfbare Mindeststandards dass das hier im Parlament auf breiten Konsens stößt. Es für faire Praktika, damit diejenigen, die eine Praktikums- ist offensichtlich: Die Generation Praktikum ist kein Me- stelle suchen, auch wissen, was sie erwartet und wo es dienhype, sondern für Tausende junger Menschen pre- fair zugeht. käre Realität. Die Botschaft unserer heutigen Debatte Viertens. Wichtig ist bei dieser ganzen Debatte auch, muss daher lauten: Wo Praktikum draufsteht, muss Fair- darauf hinzuweisen, dass wir den Praxisbezug im Stu- ness drin sein. dium stärken wollen. Wer Praktika von Absolventen re- Es wurde Zeit, dass sich der Bundestag endlich mit duzieren will, muss letztlich Praktika im Studium för- dem Thema beschäftigt. Es hat ja über ein Jahr gedauert, dern. Deswegen fordern wir auch die Hochschulen auf, bis ein Kabinettsmitglied erstmals das Problem erkannt in allen Studiengängen Praktika verbindlich zu veran- und benannt hat. Frau Kramme, es ist schon wirklich ein kern; denn so lernen Studierende früher, was sie später starkes Stück, dass Sie unsere Vorschläge mal eben so für die Berufspraxis brauchen, wobei Praxisbezug kein abkanzeln und sich dazu inhaltlich überhaupt nicht posi- Selbstzweck ist. tionieren, obwohl Sie selber als Koalition noch gar nichts vorgelegt haben. Wir wollen fünftens auch eine bessere Studierenden- und Absolventenberatung; denn das ist gut für den bes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – seren Übergang vom Studium zum Beruf. Anette Kramme [SPD]: Was machen Sie denn für Vorschläge? Ein bisschen Öffentlichkeits- Ich bin auch der Meinung, dass wir prüfen sollten, ob (B) (D) arbeit, dabei bleibt es!) es beim Berufsbildungsgesetz Änderungsmöglichkeiten gibt. Ich bin sehr gespannt, was hierzu aus dem Wir Grüne sind da schon weiter: Wir waren die erste Müntefering-Ministerium auf den Tisch kommen wird. Fraktion, die das Thema im Parlament auf die Agenda gesetzt und eigene Vorschläge für faire Praktika gemacht Sie sehen, es gibt keine einfachen Lösungen für das hat. Wir haben in unserem Antrag ein Maßnahmenbün- komplexe Problem, aber mit den Vorschlägen der Grü- del vorgelegt, um der Generation Praktikum Perspekti- nen können wir einen großen Schritt tun, um die Ausnut- ven zu eröffnen. zung von Praktikantinnen und Praktikanten zu beenden. Auch das Agieren der Linksfraktion in dieser Debatte Wir haben als erste Fraktion im Deutschen Bundestag ist wenig hilfreich. Gleich den Holzhammer herauszuho- faire Mindeststandards für Praktikanten in Fraktions- len, sei es der gesetzgeberische oder rhetorische, hilft und Abgeordnetenbüros beschlossen. Wir appellieren uns in dieser Debatte nicht weiter. auch an alle anderen Fraktionen: Folgen Sie unserem Beispiel oder machen Sie die Regelungen, die Sie haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN transparent! Wir alle müssen mit gutem Beispiel voran- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und gehen, wenn es um faire Praktikumsbedingungen geht. der FDP) Wir Grüne wollen erstens keine Endlospraktika. Je (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) länger ein Praktikum dauert, desto mehr steht Arbeit Das gilt übrigens auch und ganz besonders für die statt Lernen im Vordergrund. Deswegen sollen Praktika Bundesregierung. Es ist ein Armutszeugnis, wenn Sie während des Studiums in der Regel nicht länger als vier freimütig erklären, dass es für Praktika im Kanzleramt Monate dauern. Praktika nach dem Studium sollten eher oder in den Ministerien grundsätzlich keine Vergütung die Ausnahme sein. Ein Studium muss für den direkten gibt. Berufseinstieg qualifizieren und nicht für Praktikaschlei- fen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen zweitens kein Praktikum ohne Vergütung. Das zeigt, dass die Problematik der Generation Prak- Wer ein Praktikum macht, soll dafür auch eine Aufwands- tikum Anstrengungen von allen Seiten erfordert. Politik, entschädigung erhalten. Die Tarifpartner sind gefordert, Hochschulen, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Arbeits- hierzu angemessene Regelungen zu treffen; denn neben agenturen, Studierende und Absolventen, sie alle müssen einem Vollzeitpraktikum kann man keinen Lebensunter- gemeinsam an einem Strang ziehen. Es ist höchste Zeit, halt mehr verdienen. Deshalb muss gerade Unterneh- dass auch die Große Koalition hierzu einen Beitrag leis- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7617

Kai Gehring (A) tet. Dann können wir die Generation Praktikum hoffent- fristung gefordert, die durch eine Selbstverpflichtung (C) lich bald wieder aus unserem Wortschatz streichen. der Unternehmen erreicht werden soll. Herzlichen Dank. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein richtig guter Vorschlag, oder?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meiner Meinung nach geht es wirklich nicht um die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Dauer der geleisteten Praktika. Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Romer, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: CDU/CSU-Fraktion. Doch, natürlich! Sonst gibt es später keine Jobs!) (Beifall bei der CDU/CSU) Vielmehr sind die Praktikumsstellen vom ersten Tag an Franz Romer (CDU/CSU): wirkliche Arbeitsverhältnisse mit Anspruch auf Arbeits- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten entgelt. Mit einer zeitlichen Begrenzung lösen wir dieses Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Problem also nicht. Wir sprechen heute über ein Thema, das sich inzwischen Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag zunächst in der öffentlichen Diskussion unter dem Begriff „Gene- einmal eine ordentliche Überregulierung aller Prakti- ration Praktikum“ eingeprägt hat. Es gibt in Deutschland kumsverhältnisse. Dem können wir nicht zustimmen. viele Unternehmen und Behörden, die jungen Menschen Das BMA befasst sich momentan mit der Auswertung nach dem Schulabschluss oder während des Studiums ei- der Datenlage. Des Weiteren prüft das BMA die rechtli- nen Einblick in die praktische Arbeit bieten oder auch chen Handlungsoptionen und erstellt Material zur Infor- erst dazu beitragen, dass sich junge Menschen für ein mation der Praktikanten, wie es im Antrag der Grünen Berufsziel entscheiden. Zudem bieten Praktika den Ar- gefordert wird. Es geht vor allem darum, den Betroffe- beitnehmern und Arbeitgebern die Möglichkeit, einan- nen all ihre Möglichkeiten, Rechte und Pflichten aufzu- der besser kennenzulernen. Wie wir aus der Arbeitsver- zeigen, die zum Beispiel im Bundesbildungsgesetz zur mittlung wissen, kann daraus häufig auch eine Regelung von Praktika bereits festgelegt worden sind. Festanstellung entstehen. Wir müssen die abschließenden Bewertungen des Minis- Doch wie in jedem System gibt es auch hier in der teriums abwarten, um die tatsächliche Lage besser beur- Praxis einige schwarze Schafe, die die Abhängigkeitssi- teilen zu können. Damit wäre dann aber der Forderung tuation und die Lage auf dem Arbeitsmarkt ausnutzen, beider Anträge nach mehr Informationen Rechnung ge- um mit Praktikanten preiswerte Arbeitskräfte zu gewin- tragen. (B) (D) nen. Verfolgt man die Diskussion zum Thema „Genera- Fragen wir uns nach den Ursachen für die Entwick- tion Praktikum“, so wird von einer starken Zunahme von lung im Bereich der Praktika, so wird schnell klar, dass unbezahlten oder gering entlohnten Praktika von Berufs- die Probleme auf dem Arbeitsmarkt die Unternehmen anfängern ausgegangen. und die Behörden erst in die Lage versetzen, das Über- Zu dieser Gruppe gehören besonders die gut qualifi- angebot an gut ausgebildeten Berufsanfängern auszunut- zierten Hochschulabsolventen. zen. Wir müssen also dafür sorgen, dass Hochschulab- gänger ihr frisches Wissen und Können nicht in endlos Die Betroffenen berichten, dass es inzwischen in eini- aneinandergereihten Praktika vergeuden. Wir müssen gen Branchen völlig normal sei, dass qualifizierte Prakti- den Arbeitsmarkt stärken, den Berufsanfängern einen kanten unentgeltlich oder gering entlohnt über einen sehr geordneten Berufseinstieg ermöglichen und unserer langen Zeitraum beschäftigt werden. Dabei dienen diese Volkswirtschaft das wichtige Know-how der hochquali- Stellen nicht primär der Aus- oder Weiterbildung, son- fizierten Absolventen zuführen. dern entsprechen eher der Charakteristik gewöhnlicher Arbeitsplätze. Manchmal hat man das Gefühl, Absolventen suchen schon gar nicht mehr nach einem Arbeitsplatz, sondern Die Große Koalition weiß um dieses Problem. Franz reihen ein Praktikum an das andere. Das ist eine absurde Müntefering hat schon im September letzten Jahres be- Vorstellung. Dieses Problem ist nicht in erster Linie tont, dass die Bundesregierung dieses Problem mit Sorge durch Neuregelungen bei den Praktika zu lösen. Eine betrachtet und an verschiedenen Maßnahmen zu seiner Überregulierung aller Praktikumsverhältnisse darf nicht Lösung arbeitet. dazu führen, dass die Unternehmen oder Behörden, die ordnungsgemäße Praktika anbieten, keine Anreize mehr Die Anträge des Bündnisses 90/Die Grünen und der haben, Stellen zur Verfügung zu stellen. Linksfraktion sind voreilig und schießen über das Ziel hinaus. Deshalb lehnen wir sie ab. Bevor bestehende Ge- Ich unterstütze ausdrücklich die Initiative „Fair Com- setze geändert oder gar neue beschlossen werden, sollten pany“ unter der Schirmherrschaft Franz Münteferings. wir erst einmal eine genaue Ermittlung des Sachverhalts Sie ist ein Gütesiegel für Unternehmen, die sich be- durchführen. Denn wir brauchen eine solide Basis für stimmten Regeln für faire Praktika unterwerfen. Sie ga- die weitere Diskussion. rantieren unter anderem, keine regulären Arbeitsplätze durch Praktika zu ersetzen Wir müssen auch prüfen, ob nicht schon die bestehen- den Regelungen eine Handlungsmöglichkeit bieten. Im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Antrag der Grünen wird zum Beispiel eine zeitliche Be- der SPD) 7618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Franz Romer (A) und keine Bewerber auf ordnungsgemäße Stellen mit trägen mit dem Thema beschäftigen und dass wir uns (C) Praktika zu vertrösten. hierüber austauschen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um dem Problem auf den Grund gehen zu können, Das ist ein Anfang!) muss man zunächst einmal feststellen: Nicht alle Prak- tika sind schlecht. Auch wir Bundestagsabgeordnete beschäftigen in unseren Büros Praktikanten. Wir sollten Vorbild sein (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD NISSES 90/DIE GRÜNEN) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Gegenteil – das sage ich auch an die Adresse der Zu- und uns ebenfalls fair verhalten, wenn es um die Vergabe schauerinnen und Zuschauer, von denen viele jüngeren und Ausgestaltung von Praktikumsplätzen geht. Ich per- Alters sind –, es ist so, dass die meisten Praktika sinnvoll sönlich biete in der Regel Studierenden nur ein auf sechs sind und erfolgreich durchgeführt werden. Sie sind un- bis acht Wochen begrenztes Praktikum an. verzichtbarer Bestandteil von Ausbildungen und Studi- (Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Vergütet oder engängen, weil sie Einblicke in die Arbeitswelt verschaf- nicht?) fen. Zeitlich begrenzt werden berufliche Fertigkeiten vermittelt, die auf dem weiteren Lebensweg enorm hel- Junge Berufseinsteiger mehrere Monate unentgeltlich fen. Das sind faire Praktika; sie finden unsere volle Un- oder gering bezahlt zu beschäftigen, halte ich für nicht terstützung. vertretbar. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ich fasse zusammen: Wir werden die Anträge von FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Bündnis 90/Die Grünen und der Linkspartei ablehnen. NEN) Wir sehen das Problem; doch die Anträge sind zur Lö- sung nicht geeignet. Das BMA wird eine Datenbasis und Aber es gibt eben auch unfaire Praktika. Immer häufi- einen Handlungsrahmen erarbeiten. Die Große Koalition ger wird berichtet, dass Arbeitsplatzsuchende wie Prakti- wird weiter die Rahmenbedingungen verbessern, damit kanten eingestuft, aber wie reguläre Arbeitskräfte einge- gerade junge Berufseinsteiger bessere Möglichkeiten be- setzt werden. Das sind die genannten Scheinpraktika: kommen. Wenn uns eine weitere Verbesserung am Ar- ohne oder nur für geringe Bezahlung und ohne soziale beitsmarkt durch sinkende Lohnnebenkosten und durch Absicherung, sechs Monate, ein Jahr oder gar länger, als eine Verbesserung der Rahmenbedingungen gelingt, Ersatz für regulär Vollzeitbeschäftigte. Dagegen wollen müssen wir über dieses Thema nicht mehr reden. wir vorgehen. (B) (D) Ich bedanke mich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Offenbar hat sich ein regelrechter Praktikantenarbeits- neten der SPD) markt herausgebildet. Es gibt Unternehmen, die die Not der Leute schamlos ausnutzen, sie ködern mit dem Ver- sprechen, dass, wenn sie im Praktikum gute Leistungen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zeigen, eine reguläre Stelle in Aussicht stehe. Diese Ver- Ich erteile das Wort Kollegen Swen Schulz, SPD- sprechen erweisen sich häufig als trügerisch. Fraktion. ( [Nürnberg] [SPD]: Leider wahr!) Swen Schulz (Spandau) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Die Kosten für die Gesellschaft und für die Betroffenen ren! „Generation Praktikum“ ist bei den „Wörtern des sind hoch: Vollwertige Arbeitsplätze werden verdrängt, Jahres“ 2006 auf Platz zwei gelandet, hinter „Fanmeile“ Sozialversicherungsabgaben fehlen, Steuern werden und vor „Karikaturenstreit“. In Berlin läuft gerade ein nicht gezahlt, der Staat muss mit Transferzahlungen Theaterstück mit dem Titel „Tod eines Praktikanten“. mehr Hilfe zum Lebensunterhalt leisten. Man muss sich Die beiden Petitionen zum Thema Praktika haben zusam- auch einmal vergegenwärtigen, wie sozial ungerecht das men die Unterstützung von über 100 000 Bürgerinnen ist: Wer kann es sich schon leisten, monatelang ohne Be- und Bürgern erhalten. Das sind Schlaglichter, die deut- zahlung zu arbeiten, allein in der Hoffnung, im An- lich machen, dass es im Bereich Praktika ernste Pro- schluss einen Job zu bekommen? Außerdem wird die Fa- bleme gibt, die viele Menschen betreffen. Sie zeigen die miliengründung durch so eine Phase natürlich erschwert. Notwendigkeit, dass wir im Deutschen Bundestag über (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handlungsmöglichkeiten sprechen. Richtig!) Nachdem sich die SPD-Fraktion schon im letzten Jahr Studium und Qualifikation werden unattraktiver, wenn mit dieser Thematik befasst hat und Franz Müntefering sich die Leute fragen müssen, wann sie nach dem Stu- angekündigt hat, sich diesem Thema zu widmen, liegen dium bzw. nach der Ausbildung endlich ins reguläre Ar- nun Anträge der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ beitsleben eintreten können. Die Grünen vor. Bei allen Differenzen, die in der De- batte deutlich geworden sind, sage ich: Vom Grundsatz Eine Reihe von Unternehmen schert sich nicht um her freue ich mich darüber, dass Sie sich mit diesen An- Verantwortung, will einfach nur Kosten sparen. Aber am Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7619

Swen Schulz (Spandau) (A) Ende werden auch diese Unternehmen es teuer bezahlen, Wir müssen ein Weiteres bedenken: Gesetze bergen (C) wenn sie so mit dem Nachwuchs an qualifizierten Ar- immer auch die Gefahr, dass überreglementiert wird – beitskräften umgehen. Das darf so nicht weitergehen. mit unerwünschten Folgen. Wir müssen faire Praktika unterstützen und dürfen diese (Uwe Barth [FDP]: Hört! Hört!) neue Form der Ausbeutung nicht tolerieren. Ich möchte hier nicht großartig ein Gesetz machen, mich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dabei ganz toll fühlen und hinterher Briefe erhalten, in der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- denen steht: Ihr habt das ja vielleicht gut gemeint, aber SES 90/DIE GRÜNEN) das Gesetz führt dazu, dass das Praktikum, das ich ma- chen wollte, jetzt nicht mehr möglich ist, weil es nicht Es gibt einige untergesetzliche Maßnahmen, die wir mehr angeboten werden kann. – Es gibt also einen Un- ergreifen sollten und von denen einige in den Anträgen terschied zwischen gut gemeint und gut gemacht. Das genannt sind. Das Bundesministerium für Arbeit und So- müssen wir dabei bedenken. ziales richtet bereits ein Internetportal mit Informationen für Praktikantinnen und Praktikanten ein. Denn sie ha- (Uwe Barth [FDP]: Das ist geradezu das Ge- ben Rechte, wie die Kollegin Kramme bereits ausgeführt genteil!) hat. Darum sage ich Ihnen für die SPD-Fraktion zu: Wir Wir sollten auch die Gewerkschaften und die vernünf- werden die verschiedenen Forderungen und Möglichkei- ten sorgfältig prüfen und mit Ihnen gemeinsam diskutie- tigen Unternehmen mit ins Boot holen. Viele sehen ja, ren, um dann zu schauen, was die beste Vorgehensweise dass da etwas schiefläuft. Die Initiative „Fair Com- ist. Kollegin Kramme hat dazu ja schon einiges gesagt. pany“, deren Schirmherr Franz Müntefering ist, zählt heute fast 700 Unternehmen, die sich zu fairen Praktika Zum Schluss sage ich: Wenn wir das hinbekommen, bekennen und verpflichten, und es kommen täglich neue dann leisten wir einen wichtigen Beitrag dazu, den Leu- hinzu. ten tatsächlich zu helfen, sodass bald vielleicht nicht mehr von der Generation Praktikum, sondern von der (Beifall des Abg. Willi Brase [SPD]) Generation Arbeit die Rede ist. Das ist eine gute Basis für eine breite Aktion, vielleicht Vielen Dank. für eine Stiftung, die sich um faire Praktika kümmert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir müssen mit den Betroffenen zusammenarbeiten und der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ uns auch anschauen, was die Arbeitsagenturen und die DIE GRÜNEN) (B) Jobcenter machen. (D) Die Hochschulen können helfen, und die öffentlichen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Arbeitgeber müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Ich schließe die Aussprache. Das ist hier bereits gesagt worden, und das betrifft insbe- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf sondere die Bundesregierung und den Deutschen Bun- den Drucksachen 16/3349 und 16/3544 an die in der Ta- destag sowie seine Abgeordneten. Es ist richtig, dass gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, sich der Ältestenrat auf Initiative der SPD mit dem wobei die Federführung jeweils beim Ausschuss für Bil- Thema befasst. Ich setze einfach einmal auf eine breite dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung liegen Unterstützung nach der heutigen Debatte. soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. (Beifall bei der SPD) Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: In den Anträgen und auch in den angesprochenen Pe- titionen werden zusätzlich gesetzliche Maßnahmen ge- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten fordert. Es dreht sich dabei vor allem um die klarere De- Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, Hartwig finition von Praktika, damit alle Beteiligten genauer Fischer (Göttingen), weiterer Abgeordneter und wissen, was Recht ist. Es geht um eine Höchstdauer von der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- Praktika, weil mit der Dauer auch die Wahrscheinlich- neten Gabriele Groneberg, Dr. Sascha Raabe, keit steigt, dass aus dem Lernverhältnis ein Arbeitsver- Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der hältnis wird, und vielfach wird eine vorgeschriebene Fraktion der SPD Vergütung gefordert. Energie- und Entwicklungspolitik stärker ver- zahnen – Synergieeffekte für die weltweite Wir müssen das diskutieren. Ich bitte aber alle Frak- Energie- und Entwicklungsförderung besser tionen herzlich, es sich dabei nicht zu einfach zu nutzen machen, sondern mit uns zusammen sorgfältig darüber nachzudenken, womit wir die Situation wirklich verbes- – Drucksache 16/4045 – sern; denn es gibt ja bereits einen rechtlichen Schutz. Überweisungsvorschlag: Offenkundig haben wir aber ein Durchsetzungsproblem. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Schließlich sind die Praktikantinnen und Praktikanten in Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss einer denkbar schwachen Position. Die Frage ist also: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Was hilft in der Realität? Verteidigungsausschuss 7620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gewinnen in dramatischer Weise an Bedeutung; der (C) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Streit um die Klimaveränderungen, deren Herkunft Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und Auswirkungen nimmt an Heftigkeit zu. Es verwun- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union dert also nicht, dass in diesen Zeiten der Begriff der Haushaltsausschuss Energieaußenpolitik geprägt wurde. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, untrennbar Koczy, Thilo Hoppe, Marieluise Beck (Bremen), verbunden werden müssen selbstverständlich auch Ener- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des gie- und Entwicklungspolitik. Dies betrifft die vorhande- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nen oder eben nicht vorhandenen Ressourcen ebenso wie die klimatischen Auswirkungen. Unser vorliegender An- Rohstoffeinnahmen für nachhaltige Entwick- trag beschäftigt sich ausführlich mit diesen Problemen. lung nutzen Ich will an einigen Beispielen deutlich machen, worum – Drucksache 16/4054 – es hier geht. Überweisungsvorschlag: Beispiel Afrika. Auf unserem afrikanischen Nachbar- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und kontinent liegt ein Zehntel der weltweit bekannten Ölre- Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss serven. Diese Ölvorkommen bergen ein enormes Poten- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zial, eine einmalige Chance für die betroffenen Staaten, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit energetisch, aber vor allen Dingen auch finanziell, wenn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die es darum geht, das aus der Ölförderung gewonnene Geld Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich in Wachstum und Entwicklung in diesen Ländern zu in- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. vestieren. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Deshalb müssen wir gerade jetzt die politische, wirt- Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion, das Wort. schaftliche und soziale Entwicklung der rohstofffördern- den Länder und Regionen mit dem Ziel unterstützen, (Beifall bei der SPD) dass das Geld in den wichtigen Bereichen wie Versor- gung der Bevölkerung mit Wasser und Energie und Auf- Gabriele Groneberg (SPD): bau von Bildungs- und Gesundheitssystemen ebenso wie Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen für die wirtschaftliche Entwicklung Verwendung findet. und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Energie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ist in den letzten Monaten ohne Frage das Thema Num- (B) mer eins. Sorgen um unsere eigene Energiesicherheit, Ressourcen können Fluch und Segen mit sich brin- (D) steigende Energiepreise überall auf der Welt und vor al- gen. Wir wissen, dass die größten Probleme in diesem lem auch ein zunehmender Energiehunger in Entwick- Zusammenhang im Bereich der Korruption von Regie- lungs- und Schwellenländern bestimmen die Diskussio- rungen und in den Eigeninteressen diverser Machtcli- nen. Wir alle wissen: Eine sichere und wirtschaftlichere quen liegen. Die Undurchsichtigkeit der Einnahmeflüsse Energieversorgung ist ein überaus wichtiger Standort- begünstigt schlechte Regierungsführung und die Verun- faktor für alle Volkswirtschaften. Der Faktor Energie treuung von Mitteln. Von 1997 bis 2002 sind alleine in entscheidet mit über deren Zukunftsfähigkeit. Angola 1,5 Milliarden Dollar in diesem Bereich versi- ckert und damit verlorengegangen – und dies angesichts Die Versorgung mit Energie ist entscheidend für der vielen Probleme gerade in diesem Land. wirtschaftliches Wachstum, für Gesundheit und Bildung, für menschlichen Wohlstand. Die Frage der Energie be- Wir, die Industriestaaten, sind aufgefordert, Entwick- rührt eben alle Bereiche der gesellschaftlichen Entwick- lungs- und Schwellenländer in ihren Bestrebungen nach lung. einem transparenten Abbau ihrer Rohstoffe zu unterstüt- zen, damit die Gewinne der Bevölkerung in den Ländern Energiepolitik – und das mit ihr verbundene Interesse zugutekommen. an einer ausreichenden Energieversorgung – hat inzwi- schen oberste Priorität auf der politischen Agenda. Die Hier kommt der Transparenzinitiative für den Roh- deutsche EU-Ratspräsidentschaft widmet sich aus gu- stoffsektor, „Extractive Industries Transparency Initia- tem Grund diesem Thema. Antworten auf die aktuellen tive“, EITI, eine besondere Bedeutung zu. Sie fordert energiepolitischen Fragen zu finden hat in diesen Zeiten eine Offenlegung der Einnahmen aus der Rohstoffwirt- absoluten Vorrang, ja ist geradezu mit Brisanz versehen, schaft, um durch Transparenz die Korruption zu be- denkt man an unberechenbare Gas- und Öllieferanten, kämpfen. Deshalb fordern wir mit dem vorliegenden das Versiegen vorhandener Ölfelder, die Debatte um eine Antrag auch, dass die Initiative in ihrer Arbeit weiterhin Renaissance der Atomkraft, den wachsenden Energiebe- politisch, organisatorisch und finanziell unterstützt wird. darf der Schwellen- und Entwicklungsländer und damit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie selbstverständlich auch eine Verschärfung der Ressour- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ cenkonkurrenz sowie die Konflikte und Kriege, die da- DIE GRÜNEN) raus resultieren. Es wird in Zukunft auch auf internationaler sowie auf Nicht zu vergessen: Das Thema Energie ist mehr als bilateraler Ebene wichtig sein, dass im Dialog mit den nur Versorgung: Die Aspekte der Klimaverträglichkeit EITI-Staaten deutlich gemacht wird, dass die vollstän- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7621

Gabriele Groneberg (A) dige Umsetzung der eingegangenen Verpflichtung für Der Wechsel zu heimischer erneuerbarer Energie (C) tatsächliche Transparenzfortschritte unabdingbar ist. – vor allem wenn sie vor Ort vorhanden ist, wie Wind- und Sonnenenergie oder Geothermie – befreit die Ent- Ebenso müssen wir regionale Kontrollmechanismen wicklungsländer von ihrer Energieimportlast. Die Ener- unterstützen. Ganz wichtig ist in diesem Zusammen- gieimportlast, die die Entwicklungsländer schultern hang, dass wir, wie wir es auch in unserem Antrag for- müssen, ist immens. Eine Entlastung von mehr als dern, bestehende Strukturen zum Beispiel in Afrika stär- 60 Milliarden US-Dollar kann erreicht werden, wenn ken. Die Initiative „New Partnership for Africa’s Development“, NEPAD, ist hier ein entscheidender diese Länder nicht die Mehraufwendungen für den ge- Schritt in die richtige Richtung. Erstmals bekannten sich stiegenen Ölpreis aufwenden müssen. Steigt der Preis bei der Gründung der Initiative im Jahr 2001 die afrika- pro Barrel Öl nur um einen US-Dollar, treibt das die Öl- nischen Regierungschefs zu ihrer Verantwortung, durch rechnung der ärmsten Länder pro Jahr um eine Milliarde gute Regierungsführung die Grundlagen für eine nach- US-Dollar in die Höhe. haltige Entwicklung des Kontinents schaffen. NEPAD Vor dem Hintergrund der Energieimportlast und des zeigt die Einsicht der afrikanischen Staaten in die Not- sich beschleunigenden Klimawandels müssen wir unsere wendigkeit von Good Governance, wie man auf Neu- Anstrengungen intensivieren, Entwicklungsländern zu deutsch so schön sagt, von guter Regierungsführung helfen – das gilt insbesondere für die afrikanischen Län- eben. Nur eine gute Regierungsführung wird bei roh- der südlich der Sahara –, sich auf die klimatischen Ver- stoffreichen Entwicklungsländern zur Verteilungsge- änderungen einzustellen. Wir in Deutschland sind prä- rechtigkeit beitragen. destiniert dafür; wir können das mit leistungsfähigen und Aber nicht alle Entwicklungsländer sind mit Ressour- klimafreundlichen Technologien. cen, vor allem im Energiebereich, gesegnet. 2 Milliarden Der Aufbau von nuklearer Technologie zur Energieer- Menschen haben heute auf diesem Globus keinen Zu- zeugung kann unserer Meinung nach keine Lösung der gang zu Elektrizität; vielen anderen fehlt der Zugang zu anstehenden Energieproblematik sein; moderner und sauberer Energie. Sie decken ihren Ener- giebedarf mit Feuerholz und anderer Biomasse. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hartwig Der Energiebedarf dieser Länder wird in den nächsten Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) Jahren aber enorm ansteigen. Der Weltenergiever- brauch wird in den nächsten 30 Jahren um zwei Drittel denn das verständliche Streben nach Energiesicherheit zunehmen. Nahezu zwei Drittel des Wachstums werden und nach Energieunabhängigkeit geht teilweise Hand in dabei auf die Entwicklungsländer entfallen. Die globale Hand mit der Gefahr des missbräuchlichen Umgangs mit Energienachfrage wird von 30 auf 43 Prozent steigen, (B) Nuklearmaterial. Dazu gibt es eine Menge zu sagen. (D) hauptsächlich in Asien. Mein Kollege wird dazu Ausführungen machen. Damit sind wir bei zwei weiteren Handlungsfeldern Noch vor 20 Jahren haben Ideologien die Außenpoli- und auch bei der Verbindung von Energie- und Entwick- tik bestimmt. Heute steht zunehmend Energiesicherheit lungspolitik mit dem Thema Klimaschutz. Wirtschaftli- im Zentrum deutscher Außenpolitik. Hier ist es von au- ches Wachstum führt zu vermehrten CO2-Emissionen, ßerordentlicher Bedeutung, in Zusammenhängen zu den- die wiederum eine nachweisbare und immer deutlicher ken. Unser Antrag zeigt: Energie-, Entwicklungs- und empfundene Bedrohung für das Klima darstellen. Nach Klimaschutzpolitik können nicht mehr sektoral betrach- seriösen Klimastudien wird bis zum Jahre 2100 die welt- tet werden. Diese Politikfelder sind komplex miteinan- weite Temperatur um durchschnittlich 3 Grad Celsius der verbunden. steigen, der Pegel der Nordsee soll um über 40 Zentime- ter steigen. Erneuerbare Energien sind kein Luxus, sie sind ein Schlüssel zur Armutsbekämpfung. Sie ermöglichen Jahrzehntelange Anstrengungen im entwicklungspoli- Energiesicherheit für uns ebenso wie für die Entwick- tischen Bereich könnten durch die Folgen des Klima- lungsländer. wandels damit zunichtegemacht werden. Zunehmende Versteppung und Verwüstung von Landstrichen, verbun- Ich danke Ihnen. den mit immer knapper werdenden Wasserressourcen, vertreiben die Menschen aus ihren Heimatregionen. Hö- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten here Energieeffizienz, verbunden mit dem Einsatz der CDU/CSU) erneuerbarer Energien, werden helfen, den steigenden Energiehunger zu stillen und mindestens den Klimawan- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: del nicht noch weiter anzuheizen. Ich erteile das Wort Kollegen Karl Addicks, FDP- Fraktion. Ein ganz wichtiges Argument, gerade für rohstoff- arme Entwicklungsländer, für den Einsatz erneuerbarer (Beifall bei der FDP) Energien ist, dass diese entscheidend zur Armutsbe- kämpfung beitragen können, wenn damit eine Energie- Dr. Karl Addicks (FDP): versorgung gewährleistet wird, die nachfragegerecht, ef- fizient, kostengünstig und vor allen Dingen dezentral Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- einsetzbar ist. gen! Energiefragen sind in der Tat sehr eng mit Entwick- lungsfragen verknüpft. Daher kann ich die Anträge der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Grünen und der Koalition im Grunde nur begrüßen. 7622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dr. Karl Addicks (A) Allerdings – ich darf Ihnen das an dieser Stelle sagen – (Beifall bei der FDP) (C) habe ich Anlass, mich ein bisschen darüber zu ärgern, Entwicklung und Energiepreise verhalten sich gera- dass Sie uns nur wenig Zeit gegeben haben, uns mit die- dezu umgekehrt proportional, zumindest in den kleine- sen Anträgen zu befassen. Ich habe Ihre Anträge gestern ren Ländern, die selber keine Ressourcen haben. Denn bekommen; am Montag wurden sie auf die Tagesord- eine höhere Ölrechnung macht zwar die Förderländer nung gesetzt. Ich finde das nicht in Ordnung. Das sollte reich. Die anderen aber, die keine Ressourcen haben, in Zukunft früher geschehen. Das wäre ein kollegialerer macht sie arm. Dadurch werden wichtige Mittel für die Umgang mit der Opposition. Entwicklung derjenigen Länder, die keine Ressourcen (Beifall bei der FDP – Gabriele Groneberg haben, letztlich aufgezehrt. Wir haben mit unserer Klei- [SPD]: Wir arbeiten dran!) nen Anfrage zur Verantwortung der ölproduzierenden Länder ein bisschen an die Solidarität zumindest derje- Aber wir wollen hier nicht lamentieren. Das muss man nigen OPEC-Länder, die keine Entwicklungsländer wahrscheinlich so hinnehmen. mehr sind und schon einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben, appelliert, denjenigen unter die Arme zu Sowohl der Antrag der Grünen als auch der der Koali- greifen, die überhaupt nichts haben. tion sind im Grunde nicht verkehrt. Wir haben in unserer Kleinen Anfrage „Verantwortung der ölproduzierenden Die entwicklungspolitische Ausgangslage ist durch Länder“ diese Fragen schon aufgeworfen. Ich kann mich ein globales Bevölkerungswachstum, einen drastischen aber, ehrlich gesagt, mit der Definition von Konfliktroh- Zuwachs des Bedarfs an Primärenergie vor allem in stoffen im Antrag der Grünen nicht so richtig anfreun- China und Indien, durch zunehmende geostrategische den. Das geht ein bisschen in eine bürokratische Rich- Risiken in den Reserveländern, durch überregionale tung. Wozu die Definition von Konfliktrohstoffen Machtmonopole des Energiesektors und durch ein Über- einführen? Damit wird ein wenig über das Ziel hinausge- schreiten des weltweiten Fördermaximums, das wahr- schossen. scheinlich im nächsten Jahrzehnt erreicht werden wird, gekennzeichnet. China zum Beispiel hat sich von einem Außerdem sollten wir im Entwicklungszusammen- früheren Rohölexporteur zu einem der größeren Rohöl- hang immer wieder sehr ernsthaft über die korrekte Ver- importeure gewandelt. Wenn das Fördermaximum teilung der Rohstoffeinnahmen der Entwicklungslän- überschritten sein wird, wie es im nächsten Jahrzehnt der der diskutieren. Frau Kollegin Groneberg hat gerade Fall sein wird, dann müssen wir wirklich aufpassen. schon die Beispiele Angola und Nigeria erwähnt und an- Denn dann geht es abwärts. Diejenigen Förder- oder gesprochen, in welcher Höhe nebenbei Gelder abge- Ressourcenländer, die dann nicht die Chance ergriffen zweigt werden. Die Summen, die Sie, Frau Kollegin haben, ihre Wirtschaft auf ein nachhaltiges Wirtschaf- (B) (D) Groneberg, genannt haben, sind wahrscheinlich stark un- ten umzustellen, werden dann möglicherweise schlecht tertrieben. Ich glaube, dass sie wesentlich größer sind. aussehen. Die Internationale Energieagentur hat pro- Das hat auch etwas mit Post-Conflict-Countries und Pre- gnostiziert, dass wir bis 2030 einen Anstieg des Pri- Conflict-Countries zu tun. Wir sollten das Augenmerk märenergiebedarfes um 52 Prozent haben werden. Da- viel mehr darauf richten, dass in den Entwicklungslän- rin liegt ein sehr großes Konfliktpotenzial. Hier haben dern Konflikte um die Verteilung von Rohstoffen gar wir wirklich dringenden Handlungsbedarf. nicht erst entstehen. Denn wenn Konflikte und Bürger- kriege entstehen, wird unsere ganze Arbeit, die wir als In den beiden vorliegenden Anträgen, im Antrag der Entwicklungspolitiker geleistet haben, letztlich zunich- Koalition und in dem der Grünen, wird vorgeschlagen, tegemacht. sich von der Konzentration auf die begrenzten Ressour- cen zu lösen und auf erneuerbare Energien zu setzen. Wenn wir Ihnen aber gute Vorschläge machen, um Dies ist aus unserer Sicht ein sehr richtiger Ansatz. Ich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in manchen Län- erinnere an das Beispiel Namibia; wir haben dieses Land dern zu fördern und Ungerechtigkeiten zu verhindern, kürzlich besucht. Namibia wird alsbald im Hinblick auf dann sollten Sie in Zukunft nicht all diese Anträge ein- seine Elektrizitätsversorgung vor Problemen stehen, weil fach ablehnen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Lieferverträge, die mit Südafrika bestanden, gekün- die Anträge, die wir zu Kenia und Südafrika gestellt ha- digt wurden und bisher nichts an die Stelle dessen ge- ben. Sie wissen – ich möchte daran erinnern –, was in setzt worden ist. Wir können nur hoffen, dass in Namibia Kenia passiert ist. Es kam zu einer Beschränkung der Ende dieses Jahres nicht die Lichter ausgehen. Wir soll- Pressefreiheit. Die Eliten in diesen Ländern, die mehr ten alsbald eine Initiative ergreifen und den Namibiern oder weniger korrupt sind, lachen sich tot, wenn sie se- mithilfe von regenerativen Energien helfen, das Loch zu hen, wie wir damit umgehen und dass ihnen im Grunde stopfen. überhaupt nichts droht. Wenn Sie dann noch die Nicht- (Beifall bei der FDP) einhaltung von Konditionen mit TZ-Maßnahmen flan- kieren wollen, kann ich mich eines gewissen Lächelns Wir müssen bei unseren zukünftigen Anstrengungen nicht enthalten. Da kann der Polizei- bzw. Innenminister auch einen Schwerpunkt auf die Energiespeicherung und von Kenia also ruhig weiter missliebige Zeitungen auf dezentrale und lokale Nutzungsmöglichkeiten legen. schließen und TV-Stationen zerstören. Die Engländer Insbesondere bei der Elektrifizierung des ländlichen haben darauf etwas anders reagiert. Wir sollten zumin- Raumes sollten wir gezielter vorgehen und sie mit ange- dest ein Signal setzen. Ich würde mich freuen, wenn von passten Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit Ihnen ein entsprechendes Signal käme. fördern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7623

Dr. Karl Addicks (A) Aber für eine verantwortliche und sachgerechte För- Erhöhung der Energiepreise – vor allem der Erdölpreise – (C) derung erneuerbarer Energien ist die Liberalisierung profitieren, nämlich die OPEC-Staaten. An dieser Stelle und wettbewerbliche Ausgestaltung dieser Märkte es- wollen wir zum Ausdruck bringen, dass die von der sentiell. Das müssen wir beachten. Ansonsten kann der OPEC geleistete Entwicklungshilfe für die betroffenen Zugang zu elektrischer Energie in diesen Ländern nicht Länder zu wenig ist und entsprechend erhöht werden kostendeckend ermöglicht werden, wodurch die Abhän- muss. gigkeit von den Lieferanten verstärkt wird. Die zweite Facette – auch das wurde schon genannt – Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Deshalb ist, dass die Entwicklungsländer insgesamt eine immer kann ich meine Ausführungen leider nicht so beenden, stärkere Schlüsselrolle in der Energie- und Klimapoli- wie ich es mir gewünscht hätte. tik spielen. Berechnungen zufolge werden zwei Drittel Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. des Zuwachses am Energiebedarf der nächsten 50 Jahre von den Entwicklungsländern beansprucht. Das hat (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Gabriele schon heute sehr negative klimapolitische Auswirkun- Groneberg [SPD]) gen. China zum Beispiel ist nicht nur der größte SO2- Emittent, sondern auch der zweitgrößte CO2-Emittent. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Indonesien ist der drittgrößte CO2-Emittent. Das hat eine Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/ traurige Ursache, nämlich die nicht in den Griff zu be- CSU-Fraktion. kommenden großen Waldbrände in Indonesien, die in manchen Jahren für bis zu 50 Prozent des weltweiten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) CO2-Ausstoßes verantwortlich waren. So kann es in unser aller Interesse nicht weitergehen. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Deswegen meinen wir, dass gerade in diesem klimapoli- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten tischen Zusammenhang der Waldschutz und die techno- Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den wir als Ko- logische Zusammenarbeit intensiviert werden müssen. alitionäre vorgelegt haben, beschäftigt sich in der Tat mit Letztere muss darauf hinwirken, dass auch den Entwick- einem sehr komplizierten und delikaten, aber auch sehr lungs- und Schwellenländern gelingt, was uns bereits ge- wichtigen Thema. Nicht zuletzt deshalb hat Global Wit- lungen ist, nämlich das Wachstum vom Energiever- ness die heutige Debatte als eine historische Chance be- brauch abzukoppeln. Ich glaube, das ist das A und O, zeichnet, die wir auch nutzen wollen. und es ist nur durch technologische Sprünge und durch In unserem Antrag sind vier Facetten genannt, die die technologische Zusammenarbeit zwischen den In- (B) zum Ausdruck bringen sollen, wie sehr Energie- und dustrienationen und den Entwicklungs- und Schwellen- (D) Entwicklungspolitik miteinander verzahnt werden müs- ländern möglich. sen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die erste Facette ist von Frau Kollegin Groneberg der SPD) schon ausführlich dargelegt worden, nämlich dass die weltweit tendenziell steigenden Energiepreise die Ent- In diesem Zusammenhang möchte ich ansprechen, dass wicklungsländer, die nicht über eigene Energiequellen wir hier die Verantwortung von zum Beispiel China und verfügen, in dramatischem Maße ärmer machen. Indien einfordern müssen. Diese Länder müssen sich be- wegen und sagen: Wir, die Entwicklungs- und Schwel- Das Beispiel Kenia wurde bereits genannt. Allein die lenländer, wollen verantwortungsbewusste Partner im Mehrkosten, die Kenia in den letzten Jahren für stei- Kiotomechanismus sein und bekennen uns dazu, in die- gende Energiepreise aufwenden musste, übersteigen die sem Gesamtsystem mitzumachen. gesamten Einnahmen Kenias aus der Entwicklungshilfe. Die Entwicklungshilfe verliert aber vollständig ihren Die dritte Facette ist ebenfalls dramatisch und betrifft Sinn, wenn sie von steigenden Energiekosten aufgefres- das Desaster vieler rohstoffreicher und insbesondere sen wird. ölreicher Entwicklungsländer im Umgang mit ihrem ei- genen Reichtum. Es gibt in rohstoffreichen Entwick- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lungsländern eine unheilige Allianz aus schwacher Ver- Dieser Entwicklung kann man nicht tatenlos zusehen. waltung und Demokratie, korrupten Eliten und rein Sie macht Wachstumschancen zunichte, die wir alle wol- gewinnorientierten, meistens ausländischen Extraktions- len. Sie macht auch die Chancen zunichte, die Millen- firmen, die oft mit politischer Rückendeckung agieren. nium-Development-Ziele zu erreichen, und deshalb Diese unheilige Allianz hat bislang dafür gesorgt, dass müssen wir im Verbund mit unseren Partnern alles tun, der Ressourcenreichtum bzw. der Ölreichtum in vielen um dem entgegenzuwirken. Ländern statt zum Segen zum Fluch wurde. Kenianische Politiker haben vor einigen Jahren die berühmte Aussage Frau Kollegin, Sie haben schon viele Punkte genannt, gemacht: Auch bei uns in Kenia suchen nun die Ameri- zum Beispiel die Energieeffizienz und die erneuerbaren kaner nach Öl und wir beten täglich zu Gott, dass sie kei- Energien in den armen Ländern. Ein wichtiger Punkt, in nes finden. – Das ist eine bizarre Situation, die aber die dem ich Ihnen zustimme, Herr Addicks – er ist auch in Realität in vielen Entwicklungsländern widerspiegelt. unserem Antrag aufgeführt –, ist, dass wir uns an dieje- Der Reichtum weniger wird nicht zur Entwicklung vieler nigen wenden müssen, die in besonderer Weise von der genutzt. 7624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dr. Christian Ruck (A) Leider wird diese Situation durch eine sehr aggressive politik. Ich glaube, das ist eine große Aufgabe für die (C) Beschaffungspolitik großer Schwellenländer wie China, Zukunft. Wir müssen schon heute im Vorfeld des G-8- die neue Global Player sind, noch verschärft. Diese be- Gipfels und während der Europapräsidentschaft damit treiben sozusagen im staatskapitalistischen Verfahren anfangen. ganz offen eine Energiebevorratungspolitik. Wir, die In- Vielen Dank. dustrienationen, sollten uns vor Scheinheiligkeit hüten; denn das, was die einen offen machen, haben gelegent- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lich andere weniger offen versucht, um ihren Energiebe- darf zu decken. Aber uns bereitet große Sorgen, dass die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Volksrepublik China in einer Art und Weise auftritt, die Ich erteile das Wort Kollegin Heike Hänsel, Fraktion unsere verzweifelten Versuche unterminiert, eine Ent- Die Linke. wicklungspolitik zu betreiben, die auf Good Governance und die Einhaltung der Menschenrechte achtet sowie (Beifall bei der LINKEN) Bad Governance isoliert und ächtet. Es ist daher ent- scheidend, dass wir alle, insbesondere die Europäer, ge- Heike Hänsel (DIE LINKE): rade während des deutschen Vorsitzes beim G-8-Gipfel Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in diesem und Kollegen! Energie ist natürlich das aktuelle Thema Jahr dies zum Gegenstand eines ernsthaften Dialogs vor – wir hatten heute die Aktuelle Stunde darüber –, und sie allem mit der Volksrepublik China machen und sie an ist der entscheidende Faktor für Entwicklung. Das ist ihre Verantwortung für die Welt erinnern. ganz klar und wird mittlerweile von großen Teilen der Bevölkerung erkannt. Es ist wichtig, dass wir dieses (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Thema hier diskutieren. neten der SPD) Zu den Anträgen der Koalition und der Grünen möchte Natürlich müssen wir als westliche Verbündete in die- ich bemerken, dass es für mich in diesen Anträgen einige sem Fall einig sein. Das ist eine Aufgabe für den G-8- problematische Punkte gibt und ich mit der Stoßrichtung Gipfel. Dort müssen wir auf der Grundlage eines ge- zum Teil nicht ganz einverstanden bin. Ich möchte einige schlossenen Verhaltenskodex auf höchster Ebene mit Punkte nennen. Sie sprechen von dem Fluch der Ressour- solchen Ländern wie China und Indien verhandeln kön- cen. Ich sehe Ressourcen weder als Fluch noch als Segen, nen. weil Ressourcenreichtum per se nicht zu Armut und Krieg führt, im Gegenteil. Vielmehr stellt sich die Frage Die vielen Beispiele vor allem, aber nicht nur aus des Umgangs mit den Ressourcen. Insofern müssen sich Afrika wie Angola, der Sudan und der Kongo – darauf (B) die Abnehmer dieser Ressourcen – das sind hauptsäch- (D) wurde schon hingewiesen – zeigen uns, dass mit den lich die führenden Industrieländer – die Frage stellen, dortigen Problemen ernsthafte Sicherheitsprobleme ein- wie sie damit umgehen und wie sie um den Zugang zu hergehen, die uns alle berühren. Wir müssen das zuneh- diesen Ressourcen kämpfen. Es stellt sich auch generell mend in Rechnung stellen und unser politisches Engage- die Frage nach dem enormen Ressourcenverbrauch unse- ment in dieser Hinsicht verstärken. Wir müssen zudem rer Länder. bereit sein, in den rohstoffreichen Entwicklungsländern mit neuen entwicklungspolitischen Ansätzen verstärkt Insofern stellen sich für mich erst einmal andere Fra- aufzuwarten, und zwar in zwei Richtungen. Wir müssen gen, nämlich die, wie wir es schaffen, von diesem eine technische Kooperation anbieten, die gutwillige Re- enormen Ressourcenverbrauch wegzukommen und den gierungen in die Lage versetzt, bei ihren Rohstoffvor- Wandel in unserem Energiesystem hier in den Industrie- kommen und Rohstoffextraktionen mit technischem und ländern durch eine konsequente Umstellung auf regene- administrativem Know-how Ordnung zu halten. rative Energien einzuleiten und das Bewusstsein zu schaffen, dass wir mit diesem Wachstum nicht mehr wei- Das heißt, dass sie zum Beispiel eine Grenzsicherung, termachen können, sondern dass wir vielmehr von die- Finanzinstitutionen und Steuerinstitutionen aufbauen sem quantitativen Wachstum, von dem wir ständig spre- können, die sie in die Lage versetzen, ihre Rohstoffe chen, wegmüssen, hin zu einem qualitativen Wachstum; besser zu kontrollieren. Das betrifft auch die Frage, was denn dieses Wachstum und dieser Wohlstand, den wir sie in Bezug auf ihre Entwicklung mit den Einkommen momentan haben und den wir weiter anstreben, gehen besser machen können. ganz klar auf Kosten der Umwelt, des Klimas und der Entwicklungsmöglichkeiten der Länder des Südens. Letzte Facette – auch das wurde schon angesprochen – Deswegen stellt sich in erster Linie die Frage an uns: sind unsere eigenen Interessen. Wir haben ein großes In- Was machen wir? teresse, unsere eigene Energieversorgung – Stichwort: Russland – auch in andere Länder stärker zu diversifizie- (Beifall bei der LINKEN) ren. Wir haben ein Interesse an guten energiepolitischen Dazu gehört für mich auch ganz klar die Absage an Verbindungen zu Entwicklungsländern. Wir haben aus unsere aggressive Außenpolitik. Das neue Weißbuch zur diesem Grund auch ein erhebliches Interesse an geordne- Zukunft der Bundeswehr ist vorgestellt worden. Darin ten, gesitteten Extraktionsverfahren und an der politi- steht ganz klar, dass wir auch den Zugang zu Energie schen Stabilität der betreffenden Länder, vor allem der notfalls militärisch absichern müssen. Das ist für mich afrikanischen Länder. Daraus ergibt sich genau die Ver- Rohstoffimperialismus, und das lehnen wir ganz klar ab. bindung, die wir heute im Parlament diskutieren, nämlich die Verbindung von Energiepolitik und Entwicklungs- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7625

Heike Hänsel (A) Ich muss auch sagen, dass mir der Tenor, wie wir hier nationale, rechtlich verbindliche Vereinbarung, wie wir (C) jetzt Energie und Entwicklung diskutieren, nicht gefällt. mit Rohstoffen umgehen, was Einnahmen und was Aus- Auch Sie, Herr Ruck, haben gerade gesagt – wenn Sie gaben angeht. Natürlich basiert bisher vieles auf Freiwil- bitte zuhören –, ligkeit. Das ist einfach nicht ausreichend. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Na klar höre Ich muss Ihnen auch noch sagen: Sie wenden sich an ich zu!) die G-8-Staaten und fordern sie auf, gemeinsam mit den Schwellenländern einen Aktionsplan für die Rohstoff- China verbrauche sehr viel Energie. Letztendlich geht es länder zu entwickeln. Das wundert mich natürlich schon in dem Antrag über Energie- und Entwicklungspolitik etwas. Früher wären Sie aufgestanden und hätten gegen doch sehr stark um die Energiesicherheit Deutsch- die Treffen der G-8-Staaten demonstriert. Jetzt werden lands. diejenigen, die für diese Energiepolitik verantwortlich (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ja und? – sind, beauftragt, für eine Neuausrichtung dieser Politik Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist doch auch zu sorgen. Das wird nicht möglich sein. wichtig! – Gabriele Groneberg [SPD]: Das ist Wir können das nur durch die Stärkung der Zivilbe- doch auch ein berechtigtes Interesse!) völkerung erreichen. Die Zivilbevölkerung muss ganz – Ich denke, es geht um die Entwicklungsländer. – Letzt- andere Möglichkeiten der Einflussnahme haben, um in endlich geht es – das steht auch im Koalitionsvertrag – den jeweiligen Ländern Entscheidungen herbeizuführen. darum, dass Instrumente der Entwicklungszusammenar- Die G-8-Staaten werden diese Entscheidungen nicht her- beit die weltweite Sicherung der Energieversorgung ga- beiführen. Diese Staaten planen nämlich im Grunde rantieren sollen. Das ist für mich ein instrumentelles nichts anderes als neue Strategien, um ihre Energiever- Verhältnis zur Entwicklungspolitik. Sie beklagen das bei sorgung zu sichern. Deshalb wollen wir gemeinsam mit den Chinesen und sagen, China betreibe eine aggressive vielen Initiativen gegen die G-8-Treffen mobilisieren. Ressourcen- und Energiepolitik. Aber wir haben das seit Energiesicherheit durch die Umstellung auf regenerative Jahrzehnten gemacht. Sie haben im Grunde von uns ge- Energien in den Ländern des Südens wird nur gemein- lernt. sam mit der Zivilbevölkerung und mit engagierten Initia- tiven möglich sein. (Beifall bei der LINKEN – Gabriele Groneberg [SPD]: Da besteht doch ein ganz gewaltiger Un- Danke. terschied!) (Beifall bei der LINKEN) Das ist für mich – Sie haben es selber gesagt – eine (B) scheinheilige Diskussion. Sie wollen zum Beispiel Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) China an die internationale Verantwortung erinnern. Er- Ich erteile das Wort Kollegin Ute Koczy, Fraktion des innern Sie auch die USA an die internationale Verant- Bündnisses 90/Die Grünen. wortung, was zum Beispiel den Irakkrieg angeht? (Beifall bei der LINKEN) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gab es bis heute irgendeine Konsequenz aus diesem Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ölkrieg? Condoleezza Rice ist zurzeit in der Bundes- Kollegen! Leonardo DiCaprio hat sein Kaufverhalten republik. Frau Wieczorek-Zeul und Herr Ruck, es wäre geändert. In Zukunft will er eine schriftliche Bestätigung sehr wichtig, ganz klar zu sagen: Wir tragen diese ag- dafür haben, dass er beim Kauf von Schmuck keine „Kon- gressive und verbrecherische Politik, diese Kriegspolitik fliktdiamanten“ erwirbt; denn er hat bei den Aufnahmen nicht mit. zum Film „Blood Diamond“ – „Blutdiamanten“ –, der am 25. Januar in Deutschland Premiere hat, einen Schmuggler (Beifall bei der LINKEN) gespielt und viel über die Tragödien in Sierra Leone ge- lernt. Der „Titanic“-Star lässt uns nacherleben, wie brutal Das wäre, was Energiepolitik angeht, das Wahrnehmen der Krieg um Rohstoffe in Afrika ist. internationaler Verantwortung. Ich wiederhole: Bis heute gab es keinerlei Konsequenzen. Herr Addicks, es geht darum, festzuhalten, welche Stoffe Konfliktrohstoffe sind, und gegen die damit ver- Solange wir international völkerrechtswidrige Kriege bundenen Missstände anzugehen. akzeptieren, können wir der chinesischen Regierung doch nicht sagen, sie solle ihre Verantwortung in Afrika Ich halte fest: Afrika ist nicht der einzige Kontinent, wahrnehmen. Das ist eine verlogene Politik. Wir müssen dessen Reichtümer durch ausländische Mächte geplün- zu etwas ganz anderem kommen: Wir brauchen interna- dert werden. Hinzu kommt: Industrieländer erhalten tionales Recht, und wir brauchen internationale Verein- Konkurrenz in ihrem Rohstoffhunger durch aufstrebende barungen, was die Umstellung des Energiesystems an- Staaten, die das westliche Konsummodell nachahmen. geht. Erdöl, Gas, Eisenerz, Kupfer, Kobalt, Gold, Platin, Holz, Wasser und anderes sind ein knappes, ein teures Gut. Ich möchte etwas zum Antrag der Grünen sagen. Sie Was noch schlimmer ist: Sie alle gehen zur Neige. haben die Transparency-Initiative angesprochen. Auch wenn ich sie im Prinzip gut finde, ist sie meiner Mei- Die Frage aus meiner Sicht als Entwicklungspolitike- nung nach nicht weitreichend genug, weil sie unverbind- rin ist nicht „Wer wird diesen Kampf gewinnen?“, son- lich bleibt. Wir brauchen im Grunde auch da eine inter- dern: Was tun wir in dieser Situation? Wie meistern wir 7626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Ute Koczy (A) das? Diese Frage wollen wir mit diesem Antrag beant- ren. Insofern ist uns Leonardo DiCaprio um Längen vo- (C) worten, zumindest wollen wir dies versuchen. Mit dem raus. grünen Antrag zu Rohstoffen wollen wir erreichen, dass Der Antrag der Koalition hingegen geht vor allem auf die internationale Gemeinschaft handelt, und zwar ähn- Energiefragen ein. Er enthält einen Absatz, den ich lich wie im Fall des Kimberleyprozesses, bei dem es scharf kritisiere. CDU/CSU und SPD stehen in der Ge- darum ging, diejenigen Diamanten zu kennzeichnen, an fahr, die Entwicklungspolitik für die Energiepolitik denen Blut klebt, sodass man sie nicht mehr kauft. Deutschlands zu instrumentalisieren. In Ihrem Antrag Genauso müssen wir mit allen Rohstoffen umgehen. wird deutlich auf die vitalen deutschen Interessen in Es kann nicht angehen, dass wir ignorieren, dass interna- Zentralasien sowie in der Nord- und Subsahara verwie- tionale Rohstoffkonflikte entstehen und dass wir keine sen; man will die betreffenden Länder stabilisieren, da- Grundlage dafür haben, dass der Verkauf von Konfliktroh- mit sie den deutschen Markt weiter beliefern. Damit ge- stoffen international geächtet und völkerrechtlich unter- ben Sie etwas Kostbares auf: das partnerschaftliche bunden wird, ja, vielleicht sogar strafrechtlich verfolgt Verhältnis zu den Entwicklungsländern, das es ermög- wird. licht, auf Augenhöhe zu diskutieren, weil man nicht die eigenen Interessen in den Vordergrund stellt. Ich erkenne Herr Addicks beklagt, das wäre zu viel Bürokratie. in Ihren Positionen einen Zickzackkurs: Auf der einen Was soll man mit Verbrechern tun, die durch die Welt Seite wollen Sie die erneuerbaren Energien fördern, die reisen, die ihr Volk ausgebeutet haben, die Reichtum er- Energieeffizienz steigern und Energie einsparen; Sie ha- worben haben, die aber straffrei bleiben, weil es keine ben also die drei E der Grünen übernommen. rechtlichen Möglichkeiten gibt, sie zu bestrafen? Solche Systeme zu schaffen, ist der erste Schritt; die NGO Glo- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ist das der bal Witness hat angeregt, darüber zu diskutieren, ob das Zickzackkurs?) nicht möglich ist. Das unterstützen wir, damit sind wir einverstanden. Ich würde Sie jetzt loben, wenn Sie diese Position nicht (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist meine Rede! Da- konterkarieren würden, indem Sie auf den Energiemix ran brauchen Sie mich nicht zu erinnern!) anspielen, aber an keiner Stelle sagen: Nein zur Atom- – Sie haben aber gesagt, man solle das lieber nicht tun, kraft! weil das zu Bürokratie führe. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das müssen Ich sage: Wir müssen einmal darüber diskutieren, wie Sie den Chinesen oder den Indern sagen: Nein wir mit den Rohstofffragen insgesamt umgehen: Wie zur Atomkraft!) (B) können wir den Ressourcenfluch, den auch die Koali- Wir wissen, dass sich die afrikanischen Staaten auf (D) tionsfraktionen beklagen, bekämpfen? Wir müssen über den Weg machen, eine Politik der Nutzung fossiler Ener- die kalten Kriege um Rohstoffe reden und deren Dyna- gien und der Atomenergie wieder voranzutreiben; wir mik erkennen. Ich sehe es als Aufgabe der Entwick- sagen aber ganz klar: Afrika braucht alles außer Atom- lungspolitik an, hier Maßnahmen zu ergreifen. kraft. Die heutige Debatte ist eine Premiere: Global Witness Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. hat eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der die Orga- nisation dem Bundestag dazu gratuliert, dass er das erste (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Parlament weltweit ist, das eine Debatte darüber führt, sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- inwiefern internationales Handeln notwendig ist, um das KEN – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sagen Geschäft mit Konfliktrohstoffen zu stoppen. Sie das mal den Afrikanern!)

(Gabriele Groneberg [SPD]: Die Debatte Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wurde von der Koalition initiiert! Das wollen Ich erteile das Wort Kollegen Frank Schwabe, SPD- wir nicht vergessen!) Fraktion. – Das stimmt so nicht. (Beifall bei der SPD) Es gibt auch andere Wege, dies zu stoppen. Initiativen wie Publish What You Pay und EITI setzen auf mehr Öf- Frank Schwabe (SPD): fentlichkeit und Transparenz im Rohstoffsektor. Die gu- Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich ten Ansätze reichen nicht aus; wir müssen mehr tun. möchte, weil es so wichtig ist, noch einmal wiederholen, was einige schon gesagt haben: Die Energie- und Kli- Wir diskutieren heute über zwei Anträge, die sehr un- mafragen sind die entscheidenden Fragen des 21. Jahr- terschiedlich auf Fragen des Umgangs mit Rohstoffen hunderts. Das gilt für die nationale Politik – Herr und Energie in Bezug auf die Entwicklungspolitik ein- Dr. Nüßlein und ich konnten das schon heute Mittag mit- gehen. Der Antrag der Grünen konzentriert sich auf das einander diskutieren; auch er wird gleich noch reden –, Ziel, Rohstoffeinnahmen für eine nachhaltige Entwick- aber erst recht für die internationale Politik, insbeson- lung zu nutzen. Wir müssen als diejenigen, die direkt dere für die Entwicklungszusammenarbeit. Mit dem Kli- von den Rohstoffen profitieren, die Verantwortung dafür mathema sind sowohl Risiken als auch Chancen für die übernehmen, dass wir beim Kauf von Rohstoffen keine Entwicklungszusammenarbeit verbunden. Der Klima- ökologischen Desaster hervorrufen oder Konflikte schü- wandel hat große Auswirkungen auf die Entwicklungs- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7627

Frank Schwabe (A) zusammenarbeit. Deswegen befasst sich das Ministe- Teilnahme an der Weltklimakonferenz in Nairobi mit (C) rium dankenswerterweise sehr stark und engagiert mit Kenia und der Situation dort ein bisschen mehr aus- diesem Themenkomplex. einanderzusetzen. (Beifall der Abg. Gabriele Groneberg [SPD] – Es ist so, dass in Kenia nur 70 Prozent der Bewohne- Dr. Karl Addicks [FDP]: Trotzdem gibt es hier rinnen und Bewohner in den Städten und 48 Prozent der- Stürme!) jenigen auf dem Lande Zugang zu sauberem Trinkwas- ser haben. Es gibt tolle Projekte der GTZ, der Der Klimawandel trifft uns in Deutschland und in Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, um diese Europa. Er trifft allerdings nicht nur uns hier, sondern er Quote zu erhöhen. Fast in Blickweite dieser Projekte trifft auch die Entwicklungsländer in besonders dramati- schmelzen allerdings am Mount Kenia, dem zweitgröß- scher Art und Weise; das ist heute schon angeführt wor- ten Bergmassiv Afrikas nach dem Kilimandscharo, die den. Wir in den entwickelten Ländern sind es allerdings, Gletscher. Der Berg, der in der Sprache der Massai die über 150 Jahre eine Art des Lebens und Wirtschaf- „schwarz-weißer Berg“ heißt, wird seinen Namen in tens sowie des Energieverbrauchs entwickelt haben, die 20 Jahren wohl nicht mehr verdienen, weil es dann den Klimawandel verursacht. Deshalb fordern die Ent- nichts Weißes mehr geben wird; sprich: Alle Gletscher wicklungsländer zu Recht, dass wir unseren Lebenswan- werden bis dahin abgeschmolzen sein. Das allerdings hat del ändern und zeigen, dass Wohlstand und nachhaltige dramatische Auswirkungen auf die Menschen, die am Energienutzung Hand in Hand gehen können und müs- Fuße des Berges leben und das Schmelzwasser dieser sen, bevor wir den Entwicklungsländern besondere An- Gletscher als Trinkwasser nutzen. strengungen, zum Beispiel im Rahmen internationaler Auf der einen Seite gibt es also gute Projekte zur Klimaprotokolle, abverlangen können. Trinkwasserbereitstellung, auf der anderen Seite macht Es ist gerade das Beispiel China angesprochen wor- der Klimawandel solche guten Ansätze wieder kaputt. den. Es ist im Prinzip ein Dominoeffekt. Wir Deutsche Es gibt leider eine ganze Menge solcher Beispiele; man müssen innerhalb Europas vorangehen. Wir müssen zu- könnte das entsprechend fortführen. sehen, dass die Amerikaner dazukommen. Die Folgen des Klimawandels für die Entwicklungs- (Gabriele Groneberg [SPD]: Sehr richtig!) länder und für die Entwicklungszusammenarbeit sind unübersehbar. Es liegen aber auch Chancen in der De- Wir müssen die Schwellenländer wie China, Indien und batte; auch das ist heute schon angesprochen worden. andere gewinnen. Dann werden wir in der Lage sein, auch Entwicklungsländer davon zu überzeugen, mitzu- 1,6 Milliarden Menschen auf der Erde sind heute machen. ohne Stromversorgung. Das ist schlecht für die Men- (B) schen. In der internationalen Klimadebatte ist klar, dass (D) (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es nicht nur schlecht für die Menschen, sondern auch Da haben wir aber lange zu tun, wenn wir schlecht für die Menschheit wäre, wenn diese Menschen diese Reihenfolge abarbeiten wollen! zukünftig durch zentrale Großkraftwerke versorgt wür- den. Das gilt sowohl für den fossilen als auch für den Ich bin nicht sicher, ob sich die Chinesen jemals irgend- atomaren Bereich. Deshalb gilt es aus Sicht des Klima- welchen Protokollen wie dem Kiotoprotokoll anschlie- schutzes und aus Sicht der Entwicklungszusammenar- ßen – ich hoffe es, und ich glaube es auch –; ich bin mir beit, den Kampf um eine nachhaltige Energieversor- nur ziemlich sicher: Sie werden sich auf keinen Fall an- gung aufzunehmen. schließen, wenn wir nicht mit ambitionierten Klima- schutzzielen vorangehen. Dazu dient zum Beispiel das, was bei der Klimakon- ferenz in Nairobi auf Initiative von Minister Gabriel ver- (Gabriele Groneberg [SPD]: Genau!) abredet wurde, nämlich den europäischen Dachfonds für Das ist unsere Aufgabe vor Ort. Eine gute Politik im Energieeffizienz und erneuerbare Energien, GEEREF, Sinne der Entwicklungsländer umfasst nicht allein den weiter aufzustocken. Dazu dient der flexible Mechanis- Klimaschutz bei uns zu Hause, aber eben auch den Kli- mus des Kiotoprotokolls, CDM, der in den Entwick- maschutz bei uns zu Hause. lungsländern allerdings nicht ausreichend gut funktio- niert. In Schwellenländern funktioniert er sehr gut, in Wir haben bei der Reduzierung von Treibhausgas- Entwicklungsländern leider nicht ausreichend. Dazu emissionen Vorbild zu sein, und wir sind das auch. Wir dient auch die Ausweitung der Exportunterstützung. haben im Deutschen Bundestag einen guten Antrag ver- Dazu dient nicht zuletzt die Initiative zur Gründung ei- abschiedet, der besagt, dass wir bis zum Jahr 2020 in ner internationalen Energieagentur für erneuerbare Ener- diesem Bereich um 40 Prozent reduzieren wollen. Wir gien. haben auch bei der Steigerung von Energieeffizienz und Mit Blick auf die Zeit sage ich nur noch: Es gibt dem Ausbau von erneuerbaren Energien Vorbild zu sein. große Potenziale im Rahmen einer Verknüpfung von In den Entwicklungsländern drohen die Veränderun- Energie-, Klima- und Entwicklungspolitik. Der heutige gen durch den Klimawandel die Erfolge, die es in der Tag – auch das ist schon angesprochen worden – mit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gibt, leider zu Behandlung dieser Anträge und der Verabschiedung des konterkarieren. Das Beispiel Kenia ist heute schon viel- Koalitionsantrags ist ein guter Tag. fach in unterschiedlicher Weise angesprochen worden. Vielen Dank. Auch ich will das Beispiel Kenia noch einmal anführen, weil ich die Gelegenheit hatte, mich im Rahmen der (Beifall bei der SPD) 7628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das ist zunächst einmal richtig, weil wir eine Vorbild- (C) Ich erteile das Wort Kollegen Georg Nüßlein, CDU/ funktion haben. Wir müssen zeigen, dass wir mit den CSU-Fraktion. Ressourcen vorsichtig umgehen und klimaschädliche Gase reduzieren. Angesichts dieser Vorbildfunktion soll- (Beifall bei der CDU/CSU) ten wir nicht zu zaghaft sein.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ge- statten Sie mir bitte, dass ich als letzter Redner in dieser In diesem Prozess müssen wir auch in technischer Debatte noch einmal herausstelle, welche Bedeutung das Hinsicht Vorbild sein. Die erneuerbaren Energien wur- Thema, über das wir hier reden, hat. den angesprochen. Gott sei Dank haben wir auf diesem Gebiet die Technologieführerschaft inne. Es liegt an uns, Im 21. Jahrhundert wird der Zugang zu Rohstoffen, im Bereich des Exports noch das eine oder andere zu be- speziell zu Wasser und Energie, nicht nur über Wohl- wegen. stand, sondern vor allem über den Frieden in der Welt entscheiden. Frau Koczy hat vorhin das Thema Kernenergie ange- sprochen. Liebe Kollegin, vollkommen unabhängig von (Gabriele Groneberg [SPD]: Das ist wohl der Frage, ob man für oder gegen den Ausstieg ist, wird wahr!) es auf der Welt nach wie vor Kernkraftwerke geben. Wir werden – ich hoffe, diese Prophezeiung ist falsch – Wenn sie mit deutscher Technik ausgestattet wären, wäre erbitterte Kämpfe um eben diesen Zugang erleben. Ich mir persönlich ganz erheblich wohler. glaube, dass sich Europa da nicht heraushalten kann. Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- können doch nicht ernsthaft glauben, dass wir in Europa neten der FDP) in Frieden leben können, während ein erheblicher Teil der Menschheit deutlich unterhalb der Armutsgrenze Wir sollten auch auf diesem Gebiet Vorbild sein und den lebt. Technologietransfer sicherstellen. Deshalb brauchen wir auf diesem Gebiet Fortschritte in den Bereichen For- Für einen Energiepolitiker ist es etwas Besonderes, schung und Technik. wenn er seine Rede so beginnt. Entscheidend ist, dass wir dank dieses Antrags aus dem Klein-Klein der Ener- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sie haben so gut giepolitik herauskommen – wo wir uns immer um den angefangen, Herr Nüßlein! Nehmen Sie das deutschen Energiemix streiten – und den Blick über den nicht wieder zurück! – Zuruf der Abg. Ute (B) Tellerrand hinaus auf die umfassende Verantwortung der Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) Politik richten können. Auf der einen Seite geht es da- rum, den Wohlstand und den Frieden in der Welt zu si- – Sie können Kernkraftwerke nicht wegbeten, es wird chern, und auf der anderen Seite darum, die Schöpfung halt so sein. zu bewahren, indem wir den Klimawandel aufhalten. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch Damit bin ich beim Zusammenhang zwischen Ener- deswegen kritisiere ich den Antrag!) gie- und Entwicklungspolitik. Der Klimawandel trifft Zu den Themen Ressourcenbeschaffung und Breite die Entwicklungs- und Schwellenländer geografisch be- des Energiemix in Deutschland sage ich Ihnen ganz of- dingt am stärksten. Der Klimawandel hängt davon ab, fen: Wenn in Entwicklungsländern wie Mauretanien das welche Energie wir einsetzen. Der Wohlstand hängt da- erste Barrel Öl gefördert wird, dürfen wir nicht sofort von ab, welchen Zugang wir zu Energie haben. Er hängt ankündigen, dass wir uns entwicklungspolitisch zurück- auch von der Frage der Good Governance ab, also da- ziehen wollen. Wir müssen uns vielmehr sowohl auf- von, wie die entsprechenden Gelder letztlich verteilt grund eigener Interessen engagieren, aber auch, weil wir werden. nur so einen Beitrag dazu leisten können, dass die Gel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Iris der strukturfördernd eingesetzt und die Einnahmen sinn- Gleicke [SPD]) voll verteilt werden. Philosophisch kann man über die Frage diskutieren, Das Gleiche gilt für die Schwellenländer, speziell für wie man verhindern will, dass die Schwellenländer im China. Mit Blick auf China gibt es den einen oder ande- Hinblick auf den Klimawandel und den Ressourcenver- ren, der sagt: China hat jetzt ein Stadium erreicht, ab brauch die gleichen Fehler machen, die wir gemacht ha- dem man entwicklungspolitisch und im Bereich der wirt- ben. Es ist nämlich eine philosophische Frage, ob man schaftlichen Zusammenarbeit nichts mehr tun muss. einen Anspruch darauf hat, Fehler zu machen. Ich Doch das Gegenteil ist der Fall. In China spielt die Mu- meine, die Entwicklungsländer haben einen Anspruch sik. Da wird über das Klima und über die Beschaffungs- auf Entwicklung. märkte entschieden. Deshalb müssen wir uns einmi- schen. Das können wir nur über die wirtschaftliche An dieser Stelle müssen wir über die Rolle Deutsch- Zusammenarbeit tun im Sinne eines Do-ut-des-Prinzips, lands reden. Der Anteil Deutschlands an den CO2-Emis- also einer Zusammenarbeit, bei der der eine gibt, damit sionen beträgt 3,19 Prozent. Trotzdem diskutieren wir auch der andere gibt. Nur dann, wenn wir bei diesem schwerpunktmäßig über die Frage, was wir in Deutsch- Thema bleiben, können wir auf die Standards, auf die land tun können, um die CO2-Emissionen zu reduzieren. Menschenrechte und auf die Wirtschaft in China sinn- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7629

Dr. Georg Nüßlein (A) voll einwirken. Deshalb müssen wir bei diesem Thema Ziele. Sie steht aber auch gerade hinsichtlich der Flücht- (C) bleiben. lings- und Migrationspolitik vor großen Herausforderun- gen. Wir haben die Bilder aus dem Mittelmeer vor Vielen herzlichen Dank. Augen. Im letzten Jahr sind Tausende von Bootsflücht- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lingen bei dem Versuch umgekommen, sich nach Europa neten der SPD) zu retten. Aber nicht nur dort, auch an den östlichen Au- ßengrenzen der EU spielen sich dramatische Szenen ab, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wenn Flüchtlinge versuchen, in die Europäische Union Ich schließe die Aussprache. einzuwandern. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Insbesondere aus Afghanistan, Sri Lanka, Tschetsche- Drucksache 16/4045 zu Tagesordnungspunkt 9 a zur fe- nien und dem Irak kommen Flüchtlinge, die Schutz vor derführenden Beratung an den Ausschuss für wirtschaft- Verfolgung suchen. Die Europäische Union kann und liche Zusammenarbeit und Entwicklung und zur Mitbe- darf sich hier nicht achselzuckend abwenden. Deshalb ratung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft die politische für Wirtschaft und Technologie, den Verteidigungsaus- Verantwortung, klare Signale für eine humanitäre, kohä- schuss, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re- rente und nachhaltige Ausrichtung der europäischen aktorsicherheit, den Ausschuss für Menschenrechte und Flüchtlings-, Einwanderungs- und Integrationspolitik zu Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für Bildung, For- senden. schung und Technikfolgenabschätzung, den Ausschuss Das, was Herr Bundesinnenminister Schäuble bisher für die Angelegenheiten der Europäischen Union sowie auf europäischer Ebene vorgelegt hat, ist dazu nicht ge- den Haushaltausschuss zu überweisen. eignet. Es ist sehr dürftig und bleibt weit hinter den gro- Die Vorlage auf Drucksache 16/4054 zu Tagesord- ßen Erwartungen zurück, die wir zu Recht an die deut- nungspunkt 9 b soll zur federführenden Beratung an den sche EU-Ratspräsidentschaft in diesem Bereich haben. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wicklung und zur Mitberatung an den Auswärtigen Aus- schuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Im Bereich der Flüchtlingspolitik fehlt das klare sowie an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Bekenntnis zum Flüchtlingsschutz völlig. Stattdessen Reaktorsicherheit überwiesen werden. redet der Innenminister nebulös von zirkulärer, befriste- ter Migration. Diese verquaste Sprache zeigt schon, was Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. sich dahinter verbirgt, nämlich der Versuch, in die alte Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Gastarbeiterpolitik der 50er-, 60er-Jahre zurückzukom- (B) (D) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf: men. Das ist mit uns nicht zu machen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Philip Winkler, Omid Nouripour, Claudia Roth Wenn man liest, was der Innenminister zur Integra- (Augsburg) und der Fraktion des BÜNDNIS- tion sagt, die angeblich an vorderster Stelle der politi- SES 90/DIE GRÜNEN schen Agenda der Bundesregierung steht – schließlich Für eine Initiative der Bundesregierung mit gibt es eine Staatsministerin im Kanzleramt für diesen dem Ziel einer humanitären, kohärenten und Bereich –, stellt man fest, dass Integration auf europäi- nachhaltigen Ausrichtung der europäischen scher Ebene in dem ganzen Plan nur an einer Stelle auf- Flüchtlingspolitik taucht, nämlich bei der Reintegration in den ausländi- schen Arbeitsmarkt nach der Rückkehr, also Integration – Drucksache 16/3541 – im Ausland. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Überweisungsvorschlag: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Innenausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wir schlagen in vielen Punkten konkret vor, wie es Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf europäischer Ebene besser gemacht werden kann. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich will nur wenige anreißen. Zum einen müssen die Seenotrettungsdienste ausgebaut werden, insbesondere Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die zivilen. Es muss endlich klar geregelt werden, dass Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Kapitäne, die die Anweisung geben, schiffbrüchige Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten Flüchtlinge an Bord zu nehmen, nicht länger wegen Bei- erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist hilfe zur illegalen Einwanderung verfolgt werden kön- das so beschlossen. nen. Es gab ja schon entsprechende Verfahren; es han- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem delt sich dabei also nicht um eine rein theoretische Kollegen Josef Winkler, Fraktion des Bündnisses 90/Die Diskussion. Neben dem Fall Cap Anamur, der sich nicht Grünen. zur Verallgemeinerung anbietet, gibt es auch andere. So- lange die Rechtslage unklar ist, besteht eben die Gefahr, dass Flüchtlinge nicht aufgenommen werden. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Um den Anrainerstaaten des Mittelmeeres Anreize deutsche EU-Ratspräsidentschaft setzt sich selber große zur Aufnahme zu geben, ist es wichtig, klare Neurege- 7630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Josef Philip Winkler (A) lungen für die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb serung der Zusammenarbeit in Migrationsfragen mit den (C) der EU zu finden. Es wird ja auch von verschiedenen Herkunfts- und Transitländern zu wichtigen Weichen- EU-Staaten gefordert, dass Flüchtlinge solidarisch und stellungen gekommen. Damit wird deutlich gemacht: Im human innerhalb der EU umverteilt werden, also nicht Alleingang wird die Steuerung von Migration nicht ge- nur die Kostenlasten von allen getragen werden, sondern lingen, sondern nur gemeinsam mit anderen Staaten. Das auch die Flüchtlinge verteilt werden. Hierbei sollte man war ein guter Auftakt für die EU-Ratspräsidentschaft. sich an dem Vorschlag des UNHCR, also des Hohen Herzlichen Glückwunsch dazu. Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, orientie- (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher ren, dass gemäß dem Resettlement-Verfahren klar fest- [FDP]: Wieso klatscht die SPD denn nicht?) gelegt wird, dass zum Beispiel eine bestimmte Zahl von aufgenommenen Flüchtlingen in Deutschland unter- Herr Kollege Winkler, Sie haben kritisiert, dass von kommt. Integration nicht die Rede gewesen sei. Das ist ein gro- ber Fehler. Die Frage der Integration ist nun wirklich Wir brauchen also ein schlüssiges Gesamtkonzept, eine Aufgabe der Mitgliedstaaten. Nicht jedes Problem das Fragen der Entwicklungszusammenarbeit, des Um- in Europa ist ein Problem für Europa. Über Integration weltschutzes, aber auch der Demokratie- und Menschen- und ihre konkrete Ausgestaltung entscheiden wir auf na- rechtspolitik mit einer gesteuerten Wirtschaftsmigration tionaler Ebene selbst. Insofern hat Bundesinnenminister verknüpft. Das Konzept der zirkulären Migration, das Schäuble recht, wenn er sich in dieser Frage auf europäi- der Bundesinnenminister gemeinsam mit dem französi- scher Ebene zurückhält. Das erwarten wir von der Kom- schen Amtskollegen im Oktober letzten Jahres der Öf- mission übrigens auch. fentlichkeit vorgestellt hat, beinhaltet als einzig guten Punkt, dass endlich auch legale Zuwanderungsmög- Wir als CDU/CSU sind davon überzeugt, dass es in lichkeiten in die EU vorgesehen werden. Wir wissen ja, erster Linie um die Bekämpfung der Fluchtursachen vor dass der Druck an den Außengrenzen auch deshalb so Ort gehen muss. Wir glauben, dass man den potenziellen groß ist, weil es fast keine Möglichkeiten gibt, legal dau- Flüchtlingen in ihrer Heimat eine Perspektive eröffnen erhaft in die EU einzureisen. Solange das so bleibt, läuft muss. Deswegen unterstützen wir den in Dresden erziel- alles andere ins Leere und wird in keiner Weise für eine ten Konsens, nämlich erstens illegale Migration nicht zu Eingrenzung der Problematik sorgen können. tolerieren, sondern zu bekämpfen und zweitens Illegale sofort zurückzuführen und ihren Status unter keinen Deshalb verfolgen die Grünen einen anderen Ansatz Umständen innerhalb der EU zu legalisieren. Das würde und fordern von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft nämlich den Weg nach Europa nur attraktiver machen. eine stringentere Politik insbesondere in Form der Schaf- Wir müssen Pull-Effekte verhindern. (B) fung von legalen Zuwanderungsmöglichkeiten. Man (D) kann nicht ständig darüber klagen, dass Menschen bei Dabei geht es weniger um das Schicksal der Boots- dem Versuch, in die EU einzureisen, ums Leben kom- flüchtlinge, was uns natürlich wegen der Todesfälle, die men. Wenn man der Masse der Flüchtlinge, die in die Kollege Winkler angesprochen hat, besonders bewegt. EU drängen, Herr werden will, reicht es nicht, die Ab- Ihre Zahl ist allerdings relativ gering im Vergleich zur schottung der Grenzen zu verbessern, sondern man muss Zahl der illegalen Zuwanderer über die ost- und südost- auch Wege zu einer legalen Einreise in die EU aufzei- europäischen Länder oder zur Zahl derjenigen, die Tou- gen. Ich meine, dass die Bundesregierung hier nun wirk- ristenvisa missbrauchen. lich einmal klare Kante zeigen sollte. Wir Grünen haben Insofern – da sind wir uns mit der Bundesregierung das mit den zwölf in unserem Antrag enthaltenen Punk- einig – kommt dem Aufbau der Grenzschutzagentur ten getan. Ich hoffe, dass wir Sie im Ausschuss bei der Frontex und ihrer Arbeit eine zentrale Rolle zu. Beratung davon überzeugen können, einige davon auf- zugreifen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Herzlichen Dank. Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Schutz der Außengrenzen und dem Schutz von Migranten. Es ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richtig, was der Direktor von Frontex, Ilkka Laitinen, gestern gegenüber der Zeitung „Die Welt“ erklärt hat. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich zitiere: Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel, Stärkere Kontrollen sprechen sich unter den Men- CDU/CSU-Fraktion. schen, die illegal nach Europa wollen, sehr schnell (Beifall bei der CDU/CSU) herum. Das heißt, es fällt Schlepper- und Schleuserbanden dann Reinhard Grindel (CDU/CSU): schwerer, ihr abscheuliches Geschäft mit der Not der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschen zu machen, wenn klar ist, dass es keine Lassen Sie mich zunächst Bundesinnenminister Schleichwege nach Europa gibt. Wolfgang Schäuble und auch dem Parlamentarischen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Staatssekretär sehr herzlich zum gelunge- nen EU-Ministerrat in Dresden gratulieren. Es ist nicht Wir haben doch in Deutschland Anfang der 90er- nur mit der Überführung des Vertrages von Prüm in den Jahre – Kollege Wiefelspütz hat damals den Asylkom- EU-Rechtsrahmen, sondern gerade auch bei der Verbes- promiss und die Rückführungspolitik mit verhandelt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7631

Reinhard Grindel (A) und vereinbart – die Erfahrung gemacht, dass der Zu- nicht nur auf eine enge Zusammenarbeit innerhalb der (C) strom von Flüchtlingen durch eine konsequente Rück- EU an, sondern Voraussetzung für eine wirksame Kon- führungspolitik deutlich verringert werden konnte. Erst trolle und Steuerung der Zuwanderung ist gerade auch dadurch, dass sich vor Ort, in der Heimat potenzieller die Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten. Flüchtlinge, herumgesprochen hat, dass es keinen Sinn Wir brauchen mit ihnen Partnerschaftsabkommen, in macht, viel Geld für Schleuser und Schlepper auszuge- denen sie sich zur Rücknahme übrigens nicht nur ihrer ben, weil man relativ schnell wieder in die Heimat zu- eigenen Staatsangehörigen, sondern auch von Flüchtlin- rückgeführt wird, konnte den Schleppern ihr schmutzi- gen aus Drittstaaten verpflichten, die sich über ihr Terri- ges Handwerk gelegt werden. torium auf den Weg nach Europa gemacht haben. Und daraus folgt auch eine weitere Konsequenz: Es Wahr ist aber auch, dass es eine Bereitschaft, solche muss überall die Erkenntnis reifen, dass die stillschwei- Partnerschaftsabkommen abzuschließen, nur geben gende Zulassung von illegaler Beschäftigung und erst wird, wenn wir den Herkunfts- und Transitländern auch recht von Legalisierungskampagnen nur einen Anreiz etwas anzubieten haben. Dazu gehört eine intensivere schaffen, sich nach Europa aufzumachen. Und ich zitiere Entwicklungszusammenarbeit, bei der wir die Push-Fak- noch einmal Laitinen, der sagt: toren wie Armut, Arbeitslosigkeit, regionale Konflikte oder eine schlechte Gesundheitsversorgung angehen Es gibt in der Tat Gründe, warum Illegale ein be- müssen. Eine geeignete Maßnahme wäre sicherlich stimmtes Land ansteuern. Das hat nicht zuletzt mit auch, für Studenten aus diesen Ländern einen erleichter- der unterschiedlichen Gesetzeslage zu tun. ten Zugang zu unseren Universitäten zu schaffen. Im Vordergrund muss also eine unverzügliche Rückfüh- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE rung von illegalen Immigranten in ihre Herkunfts- oder GRÜNEN]: Bravo, machen wir das!) Transitländer stehen. Selbstverständlich – um das klar zu betonen – könnte Wir unterstützen auch nicht den Vorschlag, den der auch das in der deutsch-französischen Initiative erarbei- Kollege Winkler hier zu einer noch stärkeren Teilung tete Konzept zur Förderung der zirkulären Migration als der Verantwortung für Flüchtlinge, die aus Seenot ge- Anreiz dienen. Kollege Winkler, das darf man nicht als rettet wurden, unterbreitet hat, wie es in der Tat einige alte Gastarbeiterpolitik diskreditieren. EU-Mittelmeerländer verlangen. Im vergangenen Jahr sind – das war die Spitze – auf den Kanarischen Inseln ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 30 000 Illegale angekommen. Wir hatten in Zeiten der NEN]: Doch! Nur die Worte sind neu! – Ulla starken Zuwanderung von Asylbewerbern und Bürger- Jelpke [DIE LINKE]: Was ist es denn sonst?) (B) kriegsflüchtlingen zu uns nach Deutschland jeweils Die zirkuläre Migration ist in erster Linie im Inte- (D) mehrere 100 000 im Jahr und konnten uns auch nicht auf resse der Heimatländer der Migranten, weil dadurch dem eine Lastenteilung innerhalb der EU stützen. Brain-Drain entgegengewirkt wird und die Rückkehr der Entscheidender ist aber, Kollege Winkler, dass die Arbeitsmigranten mit einer Verbesserung der wirtschaft- Länder mit der illegalen Migration nicht allein gelassen lichen Lage vor Ort einhergeht; denn wenn sie in Ihre werden. Es gibt die Unterstützung durch Frontex. Diese Heimat zurückkehren, bringen sie Devisen und beruf- muss noch ausgebaut werden, etwa durch eine stärkere liche Qualifikation mit. Gleichzeitig könnte die zirkuläre operative Zusammenarbeit gerade in Krisensituationen, Migration in EU-Ländern, in denen die illegale Beschäf- aber es gibt hier die Solidarität der Europäischen Union. tigung in einzelnen Wirtschaftszweigen ein großes Aus- maß hat, eine sinnvolle Alternative sein, um die Zuwan- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE derung besser zu steuern. GRÜNEN]: Das reicht nicht aus!) Völlig klar muss dabei sein, dass eine zirkuläre Mi- Wir müssen selbstverständlich die Flüchtlinge gerade gration nur in solchen EU-Ländern vertretbar ist, die in Transitländern schützen – auch das unterstütze ich –, über einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt verfügen. Au- indem dort demokratische Polizeistrukturen und humane ßerdem muss die tatsächliche Rückkehr der Migranten in Asylsysteme sichergestellt werden. ihre Heimat nach zwei oder drei Jahren sichergestellt Richtig ist aber auch, dass jedes Zielland von Migra- sein. Insofern können die Entscheidungen über zirkuläre tion auch selbst für sich Konzepte entwickeln muss, um Migration nur auf nationaler Ebene und nicht zentral in den illegalen Zustrom zu reduzieren. Dass zum Beispiel Brüssel getroffen werden. So, Herr Kollege Altmaier, in Spanien und Italien ein Ende der Legalisierungskam- habe ich die Ausführungen, die der Bundesinnenminister pagnen ein Mittel wäre, um den Pullfaktor zu reduzieren, in seinem Papier mit Herrn Sarkozy gemacht hat, immer das muss dort eigentlich jedem Politiker klar sein. verstanden. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Lassen Sie mich am Ende noch auf Cap Anamur zu sprechen kommen. Herr Kollege Winkler, ich sage Ih- Dabei verkennen wir nicht: Eine Verbesserung der nen: Ich finde es peinlich, dass Sie diesen Fall in Ihrem wirtschaftlichen Perspektiven in den Herkunftsländern Antrag ansprechen. Sie haben die Strafverfahren er- muss in der Tat dazukommen. Deshalb ist es richtig – ich wähnt. Fest steht – das haben viele vergessen –, dass die- will das hier ausdrücklich unterstreichen –, wenn der ses Schiff mehrere Tage auf See bleiben musste, damit Bundesinnenminister in Dresden einen ganzheitlichen, der damalige Chef von Cap Anamur, Elias Bierdel, beim einen globalen Ansatz gefordert hat. Dabei kommt es Einlaufen in einen sizilianischen Hafen medienwirksam 7632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Reinhard Grindel (A) an Bord dabei sein konnte. Fest steht auch, dass man die Drittländern verstärkt werden. Es darf aber auch keine (C) 37 Afrikaner, die damals an Bord waren, als Bürger- Anreizsysteme geben, die eine weitere unkontrollierte kriegsflüchtlinge aus Darfur, also aus dem Sudan, aus- Zuwanderung ermöglichen. Falsche Anreize tragen we- gegeben hat, auf deren Tragödie man angeblich auf- sentlich dazu bei, dass solche humanitären Katastrophen merksam machen wollte. Tatsächlich waren sie entstehen. Wirtschaftsflüchtlinge aus Nigeria. Der Begründer von Wir müssen uns im Klaren sein, dass viele Einrei- Cap Anamur, Rupert Neudeck, hat das als verantwor- sende reine Wirtschaftsflüchtlinge sind, die von Schlep- tungslose Aktion bezeichnet. Um es deutlich zu sagen: perorganisationen und Menschenhändlern in die EU ge- Das ist ein sehr schlechter Fall, um Ihre Position zu stüt- lockt werden. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass zen. kriminelle Schleuser Menschen aus Geldgier mit fal- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Versprechungen nach Europa locken. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass solche Schlep- Ich komme zum Schluss. Wir brauchen in der Tat eine perbanden sogar den Tod der Verschleppten auf See bil- europäische Flüchtlingspolitik mit Augenmaß. Wir brau- ligend in Kauf nehmen. Wenn sich Menschen, durch fal- chen eine Politik, die den sozialen Zusammenhalt in un- sche Versprechungen verlockt, selbst in Gefahr bringen, seren Gesellschaften nicht gefährdet. Wir werden nur etwa auf See, dann ist Seenotrettung zwar notwendig, dann in unserer Bevölkerung Akzeptanz für die Gewäh- aber keine Ursachenbekämpfung. Vielmehr muss man rung von Asyl und wohlüberlegte legale Migration errei- sowohl in den Herkunftsländern der Migranten als auch chen, wenn wir gleichzeitig mit aller Konsequenz für die in der EU darauf hinwirken, dass solche Tragödien gar Sicherung unserer Außengrenzen und für eine konse- nicht erst stattfinden. quente Rückführung illegaler Immigranten sorgen. Um diese Balance und diesen Ausgleich der Interessen muss Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei einzelnen es in der europäischen Flüchtlingspolitik gehen. Dabei Vertretern der Grünen nach wie vor eine naive Freude haben die Bundesregierung und insbesondere der Bun- über unkontrollierte und unsteuerbare Zuwanderung be- desinnenminister unsere Unterstützung. steht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU] – Josef Philip Winkler (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich will Na- [SPD]) men hören!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: So kann es nicht gehen. Wir brauchen eine Steuerung der Zuwanderung, keine Ausweitung der Anreize und keine (B) Ich erteile das Wort Kollegen Hartfrid Wolff, FDP- (D) Fraktion. Vereinfachung der Möglichkeiten der unkontrollierten Zuwanderung. Die Beihilfe zur illegalen Einreise muss (Beifall bei der FDP) strafbar bleiben; das gilt für die illegale Migration über See wie für die über Land. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An- der CDU/CSU) trag der Grünen ist in seiner humanitären Intention über- zeugend und begrüßenswert. Zumindest gilt dies auf den Gegebenenfalls ist das Vorliegen einer strafbaren Hand- ersten Blick. lung in jedem Einzelfall zu prüfen, wobei selbstver- ständlich klar sein muss, dass eine Rettung aus Seenot (Lachen des Abg. Josef Philip Winkler niemals eine rechtswidrige Tat sein kann. Viele Gedan- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ken im Antrag der Grünen sind – ich wiederhole das aus- Die Grünen haben recht: Wir brauchen ein einheitliches drücklich – aus liberaler Sicht absolut richtig, und wir europäisches Flüchtlings- und Asylkonzept. Wir brau- unterstützen sie; doch Lösungsansätze enthält Ihr Antrag chen eine europäische Lastenteilung im Bereich der nicht. Flüchtlingsströme. Wir müssen Hemmnisse beseitigen, Überzeugender sind die Ansätze der EU-Kommis- die die Bereitschaft, aus Seenot zu retten, einschränken. sion, die auch eine Intensivierung der Zusammenarbeit Doch die Grünen beleuchten in ihrem Antrag – vielleicht mit Drittländern, etwa mit Marokko, zum Ziel haben. nicht unbeabsichtigt – nur Teilaspekte und übersehen Gleichzeitig wird in den Plänen der EU-Kommission den Gesamtzusammenhang ihrer grundsätzlich berech- hervorgehoben, dass es Anreize zur illegalen Beschäfti- tigten Anliegen. gung gibt. Ein Thema ist auch die Lastenverteilung in- Im vorliegenden Antrag wird beispielsweise das hu- nerhalb der EU. In der Tat können wir Malta und die Ka- manitäre Anliegen der Seenotrettung mit den Zuwande- naren nicht mit den Tausenden von Migranten rungsbestimmungen in den Mitgliedstaaten der Europäi- alleinlassen. Wir Liberalen unterstützen das Anliegen, schen Union verknüpft, und zwar zu Recht. Für die FDP legale Wirtschaftsmigration steuernd zu erleichtern. Not- gilt unmissverständlich: Pacta sunt servanda. Abge- wendig ist aber auch, illegale Migration zu unterbinden schlossene internationale Verträge müssen eingehalten und mit aller Härte gegen Menschenhandel und men- werden. Man darf aber niemals vergessen, die wirkli- schenverachtende Schleuserbanden vorzugehen. Hier chen Ursachen der Flüchtlingsströme zu bekämpfen. müssen auch repressive Maßnahmen, wie sie die EU an- Deshalb muss die wirtschaftliche Unterstützung in den gedacht hat, greifen. Wir brauchen eine gesteuerte Zu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7633

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) wanderung, aber keine Anreize für weitere illegale Ein- Bei einem konkreten Flüchtlingsschicksal bin ich, (C) wanderung. wenn man die Ursache schon nicht bekämpfen kann, als zweitbeste Hilfe im Zweifel immer dafür, dass man ver- In dem Antrag der Grünen werden wichtige Anliegen sucht, den Flüchtlingen in der Region, in der sie zu thematisiert, die wir unterstützen. Konsequent verwei- Hause sind, zu helfen. gert wird aber der Blick auf die Folgen, die ein blauäugi- ges Gutmenschentum haben kann. Wir alle hier sind in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der Verantwortung, die Probleme insgesamt ins Auge zu fassen und kritisch zu diskutieren. Ich finde es sehr unwürdig und brutal, sie dazu zu zwin- gen, Tausende von Kilometern zurückzulegen, um ihr Vielen Dank. Leben zu retten oder zu versuchen, ihre Lebenschancen zu nutzen. Ich weiß, dass das leicht wieder denunziert (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und auch kritisiert werden kann, nach dem Motto: Egal der CDU/CSU) was mit den Flüchtlingen passiert, Hauptsache sie kom- men nicht nach Europa, geschweige denn nach Deutsch- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: land. – Das ist nicht mein Ziel. Ich erteile das Wort Kollegen Dieter Wiefelspütz, SPD-Fraktion. (Iris Gleicke [SPD]: Ja!) Wenn es nicht anders geht und wenn ein Flüchtling nur Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): in Europa bzw. in Deutschland ohne Furcht um sein Le- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ben und seine Freiheit leben kann, dann muss eine faire Herren! Die europäische Flüchtlingspolitik hat sich an Chance für ihn bestehen, dass er Europa auch erreicht den Werten von Realismus und von Menschlichkeit zu und in Deutschland ankommt. Das ist doch überhaupt orientieren. keine Frage. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD) Die Reihenfolge würde ich umdrehen!) Herr Staatssekretär Altmaier und Herr Staatsminister – Einverstanden: an den Werten von Menschlichkeit und Erler, ich würde mir aber schon wünschen – vielleicht ist von Realismus. Oder sagen wir besser: Im Zweifel muss das etwas salopp gesagt, aber erlauben Sie mir das bitte –, die Flüchtlingspolitik immer humanitär ausgerichtet dass es zum Markenzeichen deutscher Außenpolitik und sein. Das ist unser Wertgefüge; davon gehe ich aus. internationaler Innenpolitik wird, dass wir wirklich sub- (B) stanzielle Beiträge zur Ursachenbekämpfung leisten, so (D) Ihr Antrag, geschätzter Kollege Winkler, ist aus- schwierig das auch ist. Wenn man eine humanitäre schließlich von Menschenfreundlichkeit geprägt. Das ist Flüchtlingspolitik betreiben will, dann muss das eigent- in dieser Welt, wie sie ist, ein bisschen zu wenig. Sie lich die Nummer eins, Nummer zwei und Nummer drei blenden in Ihrem Antrag die brutale Realität des organi- der Bemühungen sein. Darüber hinaus sind aber auch sierten Menschenhandels aus, bei dem mit der Not von andere Aspekte wichtig. Menschen, mit den Hoffnungen von Menschen, mit dem Elend von Menschen brutalste Geschäfte gemacht wer- Herr Grindel, die Flüchtlingszahlen gehen immer den. Sie blenden das aus, Sie befinden sich in einer ganz weiter in den Keller. Sie haben von dem Asylkompro- anderen Wirklichkeit: in einer, die Sie sich zusammenge- miss von 1992/1993 gesprochen. Damals gab es malt haben. 420 000 Asylanträge. In diesem Jahr werden es viel- leicht noch 20 000, 25 000 oder 30 000 Asylanträge sein – Ich denke, wenn Menschlichkeit unser wichtigstes eher weniger. Ziel ist, auch im Zusammenhang mit Flüchtlingen, müs- sen wir viel ernster diskutieren, was wir gemeinsam zur (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ursachenbekämpfung beitragen können. Ich denke, NEN]: Das ist nicht nur erfreulich!) dass das, was Deutschland in der letzten Zeit auf die Reihe bekommen hat – egal wer in Deutschland regiert Ich meine, dass man diese Zahlen nicht als Erfolgszah- hat –, nicht unbedingt Ruhmestaten sind. Ich räume ein: len transportieren sollte; denn das Elend in dieser Welt Die Überschrift „Ursachenbekämpfung“ geht uns allen ist ja nicht geringer geworden. wohl leicht über die Lippen. Doch wenn sie umgesetzt (Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/ werden muss – was wehtun kann –, wird es ungleich DIE GRÜNEN]: Richtig!) schwieriger; das will ich durchaus selbstkritisch anmah- nen. Wir sollten miteinander bei den Überlegungen wett- Strukturen haben sich verändert. Es wäre nicht richtig, eifern, was wir dazu beitragen können, dass es nicht zu sich nur auf die Beantwortung der Frage zu beschränken, diesem Elend von Flüchtlingssituationen kommt, wie sie wie wir mit diesen 20 000 bis 30 000 Asylbewerbern weltweit jeden Tag auftreten. Deswegen hat die Be- umgehen. Ich meine, dass wir alle miteinander auch vor kämpfung der Ursachen aus meiner Sicht allererste Prio- dem Hintergrund solcher Zahlen Veranlassung haben, rität, gerade der Menschlichkeit wegen. Ich füge hinzu hier und dort auch ein bisschen Großzügigkeit walten zu – ich bitte, auch das nicht misszuverstehen –: Ich bin der lassen, wobei sich schon die Frage stellt, ob das Wort Meinung, dass wir dabei helfen sollten, dass Flüchtlinge „Großzügigkeit“ in diesem Zusammenhang überhaupt nicht so entwurzelt werden, wie das vielfach der Fall ist. ganz angemessen ist. 7634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dr. Dieter Wiefelspütz (A) An die Adresse der Grünen sage ich, dass es richtig Innenminister – der geschätzte Kollege Dr. Schäuble und (C) ist, dass wir Grenzsicherung betreiben, Kriminalität be- der geschätzte Innenminister der Französischen Repu- kämpfen und Illegalität unterbinden. Das darf kein Wi- blik – aus ihrer Ressortverantwortung heraus die Richti- derspruch zu dem sein, was ich eingangs gesagt habe. gen sind, um über zentrale Arbeitsmarktfragen zu reden. Ich bin da skeptisch – mehr will ich dazu gar nicht sagen – (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bitte darum, dass das – jedenfalls in Deutschland; NEN]: Es gibt keinen Anlass, das an uns zu wir reden hier nicht über Frankreich – sehr sorgfältig mit adressieren!) denjenigen, die in Bezug auf den Arbeitsmarkt Verant- – Ich möchte Sie einfach ansprechen. Das müssen Sie wortung haben und davon auch etwas verstehen, abge- aushalten. Ich glaube nämlich bei allem Respekt wirk- stimmt wird. Das wollte ich noch gesagt haben. lich, dass Ihr Antrag einseitig ist und dass Sie dabei eine Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ganze Menge an Wirklichkeit ausblenden und einfach nicht zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Jawohl!) der CDU/CSU)

Eine menschliche Politik muss die Wirklichkeit Vizepräsidentin : – zum Teil auch eine scheußliche Wirklichkeit – anneh- Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Ulla Jelpke für men und damit umgehen. Ich kann überhaupt nichts die Fraktion Die Linke. Positives daran finden, dass Menschen – beispielsweise Bootsflüchtlinge – in dieser Weise schamlosen kriminel- (Beifall bei der LINKEN) len Machenschaften zum Opfer fallen. Das muss mit al- len Mitteln unterbunden werden. Es muss dafür Sorge Ulla Jelpke (DIE LINKE): getragen werden, dass es gar nicht zu solchen Situatio- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie Sie nen kommt. Hier müssen wir zum Teil Ursachenbe- alle wissen, sehen wir uns im Mittelmeer mit einer hu- kämpfung betreiben. Wenn es aber zu kriminellem Men- manitären Katastrophe konfrontiert. Nach Angaben der schenhandel kommt, dann muss dieser auch unterbunden Flüchtlingsorganisation Pro Asyl sind allein im vergan- werden. genen Jahr 6 000 Menschen bei dem Versuch umgekom- (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) men, über den Seeweg in die Europäische Union zu ge- langen. Dass so viele Menschen der europäischen Das darf nicht als etwas Inhumanes denunziert werden. Flüchtlingsabwehr zum Opfer fallen, ist erschütternd. Man muss diesen Verbrechern das Handwerk legen. Das Umso bezeichnender ist, dass es keine offiziellen Zahlen halte ich für unerlässlich. (B) gibt. Auf unsere Kleinen Anfragen zu den Todesopfern (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ an den EU-Außengrenzen kann die Bundesregierung CSU und der FDP) keine Angaben machen. Angeblich liegen keine amtli- chen Zahlen vor. Polizei, Marine, Nachrichtendienste, Aus Zeitgründen will ich zwei Aspekte nur noch kurz sie alle sind im Einsatz, um Europas Grenzen zu schüt- ansprechen. Wir werden bei der Novelle des Aufent- zen. Wie viele Leben dieser sogenannte Schutz kostet, haltsgesetzes dafür sorgen, dass Menschen, die aus rein scheint die Verantwortlichen aber nicht wirklich zu inte- altruistischen Gründen, aus rein humanitären Gründen ressieren. Da werden die Prioritäten der Politik schnell dazu beitragen, dass jemand nach Deutschland kommt, klar. sich nicht vor einem Strafgericht rechtfertigen müssen. Das werden wir durchsetzen. Insoweit Meine Damen und Herren, die gesamte Flüchtlings- politik der Europäischen Union ist auf Abschottung aus- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gerichtet. Motor dieser Entwicklung war schon immer NEN]: Wird es spannend!) die Bundesrepublik Deutschland. Minister Schäuble werden Wünsche, die wir seit langem haben, in Erfül- führt an dieser Stelle die Politik seines Vorgängers in der lung gehen, aber nicht, weil Sie das fordern, sondern Bundesregierung von SPD und Grünen weiter. Es war weil die Große Koalition aus Sozialdemokraten und , der die verstärkte Zusammenarbeit der EU- Menschen aus der Union das für richtig hält. Wir werden Staaten bei der Flüchtlingsabwehr vorangetrieben hat. das umsetzen; das ist sachgerecht. Der Antrag der Grünen zielt leider nicht auf eine Kehrt- wende dieser Politik. Auch wenn er erreichen will, dass Lassen Sie mich zum Schluss, Herr Grindel, einen es weniger Todesopfer gibt, reicht das bei weitem nicht Aspekt kurz andeuten, den ich nicht ganz so euphorisch aus. Anstatt das Übel an der Wurzel zu packen, wollen sehe wie Sie. Das sage ich auch an die Adresse des Par- die Grünen leider auch nur an den Symptomen herum- lamentarischen Staatssekretärs. Bezüglich der zirkulä- doktern. ren Arbeitsmigration – ich räume ein, dass ich das Wort für ein Ungeheuer halte – Meine Damen und Herren, bei dem am Dienstag zu Ende gegangenen Treffen der EU-Innen- und -Justizmi- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: „Hartz IV“ ist nister in Dresden wurde noch einmal deutlich, dass es auch nicht mehr schön!) der Europäischen Union weiter nur um eins geht: die bin ich nicht nur aus sprachlichen Gründen, sondern Abschottung noch weiter zu perfektionieren. An keiner auch aus inhaltlichen Gründen, Herr Grindel, skeptisch. Stelle war dort die Rede von effektivem Flüchtlings- Ich bin im Übrigen auch skeptisch, ob ausgerechnet die schutz. Der Schutz der Grenzen steht an erster Stelle; Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7635

Ulla Jelpke (A) erst weit dahinter kommt der Schutz der Menschen. Von Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 sowie (C) einer ernsthaften Bekämpfung der Fluchtursachen kann Zusatzpunkt 5 auf: meiner Meinung nach, Herr Grindel, nicht wirklich die 13 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Rede sein, wenn man hier im Wesentlichen auf die Be- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaf- kämpfung des Schleppertums oder auch die Einführung fung deutscher Immobilien-Aktiengesellschaf- des Gastarbeiterstatus, den Sie hier letztendlich einfor- ten mit börsennotierten Anteilen dern, abzielt. – Drucksachen 16/4026, 16/4036 – Bei der Bekämpfung von Flüchtlingen wurde dage- gen eine neue Stufe erreicht. Die nordafrikanischen Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Transitstaaten sollen gedrängt werden, abgeschobene Rechtsausschuss Flüchtlinge aufzunehmen. Ausgerechnet mit Regimen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wie Libyen, Marokko und Mauretanien soll eng zu- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO sammengearbeitet werden. Diese Staaten werden von ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Flüchtlingsorganisationen beschuldigt, systematisch Bluhm, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weite- Flüchtlinge in die Wüste abgeschoben zu haben. Pro rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Asyl fordert zu Recht ein „Ende der Kumpanei bei Men- schenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen und Neue Steuervergünstigungen und Gewinnver- Migranten“. lagerungen in das Ausland verhindern – REITs in Deutschland nicht einführen (Beifall bei der LINKEN) – Drucksache 16/4046 – Dieser permanente Bruch der Menschenrechte wird Überweisungsvorschlag: von der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX Finanzausschuss (f) koordiniert. EU-Innenkommissar Frattini will, dass die Rechtsausschuss Mitgliedstaaten bis April FRONTEX mehr Schiffe, Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Hubschrauber und Flugzeuge zur Verfügung stellen, um Haushaltsausschuss sie technisch aufzurüsten. Die EU-Kommission schreibt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die hierzu eindeutig: Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Ständige Operationen auf See würden nicht nur das dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfah- Abfangen einer größeren Zahl von Schiffen mit il- ren. legalen Einwanderern ermöglichen, sondern auch Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für als Abschreckung wirken. (B) die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekre- (D) Darum geht es: nicht Schutz, sondern Abschreckung. tärin Frau Dr. Barbara Hendricks. Dafür nimmt man meines Erachtens auch Tote in Kauf. (Beifall des Abg. [CDU/ Amnesty International hat in seinem Zehnpunkteplan CSU]) für die deutsche Ratspräsidentschaft gefordert: Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Der Versuch, Europa zu erreichen, darf nicht zur Bundesminister der Finanzen: Todesfalle werden. Die EU muss die Menschen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wirksam schützen, die ihre Außengrenzen anstre- Kollegen! Das heute zur Beratung anstehende Gesetz ben. Sie muss jedem, der ihr Territorium erreicht, führt Real Estate Investment Trusts, sogenannte REITs, ein faires Asylverfahren garantieren. Der Flücht- in Deutschland ein und schafft damit ein börsennotiertes lingsschutz darf nicht auf EU-Anrainerstaaten aus- Immobilienanlageprodukt, welches wir bisher noch gelagert werden. nicht hatten. REITs haben sich als internationaler Stan- (Beifall bei der LINKEN) dard in über 20 Ländern der Welt etabliert. Bei uns muss dies erst noch, wie gesagt, geschehen. Dieser Forderung können wir uns nur voll und ganz anschließen. Statt einer Agentur zur Koordinierung des Die gesetzliche Einführung eines deutschen REIT soll Grenzschutzes brauchen wir eine Agentur zur Koordi- das Spektrum der indirekten Immobilienanlage in nierung des Flüchtlingsschutzes. Deutschland ergänzen, um eine Stärkung des Wirt- schaftsstandortes Deutschland und eine Professionalisie- Ich danke Ihnen. rung der Immobilienwirtschaft und Wettbewerbsgleich- (Beifall bei der LINKEN) heit gegenüber europäischen Finanz- und Immobilienstandorten zu erreichen. Die Einführung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: deutscher REITs wird zudem die internationale Wettbe- werbsfähigkeit deutscher Unternehmen steigern und Die Aussprache ist damit geschlossen. hochqualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland schaffen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Das Gesetz enthält im Wesentlichen folgende Ele- Drucksache 16/3541 an die in der Tagesordnung aufge- mente: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Der deutsche REIT ist als in Deutschland ansässige Überweisung so beschlossen. Aktiengesellschaft, also REIT AG, ausgestaltet, die 7636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) zwingend an der Börse notiert sein muss. Der Streube- Carl-Ludwig Thiele (FDP): (C) sitz soll durch eine dauerhafte Quote von 15 Prozent ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten sichert werden, um deutsche REITs einem breiten Anle- Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat seit Jahren die gerkreis zugänglich zu machen. Einführung von REITs gefordert. Unsere Bundestags- fraktion hat dazu eine Anhörung durchgeführt; die FDP Die REIT AG ist von der Körperschaft- und Gewer- insgesamt hat dazu einen Kongress veranstaltet. Wir besteuer befreit, vorausgesetzt der REIT beschränkt sich freuen uns, dass wir heute über den Gesetzentwurf der auf seine Haupttätigkeit, nämlich den Erwerb, die Be- Bundesregierung diskutieren können, in der Hoffnung wirtschaftung und den Verkauf von Immobilien. Die darauf, dass dieser Gesetzentwurf in Kürze zum Gesetz Besteuerung der Erträge des REIT erfolgt nach Aus- wird und in Deutschland Wirksamkeit entfaltet und die schüttung direkt beim Anleger als Dividende. Das Halb- REITs damit in Deutschland endlich eingeführt werden. einkünfteverfahren gilt nicht. Allerdings ist zu dem Gesetzentwurf zu sagen: Er An einer REIT AG darf sich jeder Aktionär nur mit kommt zwar spät, aber vielleicht noch nicht zu spät. Zu- weniger als 10 Prozent direkt beteiligen. Diese Höchst- dem ist er noch nicht ausreichend. Denn im Gesetzent- beteiligungsklausel passt einerseits zum Charakter der wurf ist die Einbeziehung von Wohnimmobilien ausge- REIT-Aktiengesellschaft als einer Kapitalgesellschaft schlossen; auf diesen Punkt werde ich gleich separat mit breitem Anlegerkreis. Sie sichert andererseits die eingehen. nach dem Doppelbesteuerungsabkommen höchstmögli- che Quellenbesteuerung ausländischer Anteilseigner und Finanzminister Steinbrück hatte noch Anfang letzten vermeidet negative Auswirkungen auf das Steuerauf- Jahres erklärt, dass er direkt nach der Sommerpause ei- kommen. Investoren können jedoch mittelbar mehr als nen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen werde. 10 Prozent an einem REIT halten. (Frank Schäffler [FDP]: Er hat nicht gesagt, Es ist die steuerliche Begünstigung der Aufdeckung nach welcher Sommerpause!) stiller Reserven vorgesehen. Durch einen nur hälftigen Daran ist er allerdings leider innerhalb der SPD-Bundes- Wertansatz über einen Zeitraum von drei Jahren soll so- tagsfraktion gescheitert. wohl die Einführung von REITs gefördert als auch der Immobilienmarkt mobilisiert werden. Wir wollen, dass auch Wohnimmobilien im Bestand in REITs aufgenommen werden. Wir sehen uns mit gro- Mit diesen Regelungen erfüllt der Gesetzentwurf die ßen Teilen der Union und einer großen Minderheit der im Koalitionsvertrag genannten Voraussetzungen für die SPD darin einig, dass das so kommt. Es ist bedauerlich, Einführung deutscher REITs und stellt insbesondere die (B) dass die Blockade seitens der Linken innerhalb der SPD (D) verlässliche Besteuerung beim Anteilseigner sicher. dazu führt, dass dieses Instrument, das es international gibt und dort eine positive Wirkung entfaltet, wie die Am Dienstag hat das Bundeskabinett die Gegenäuße- Staatssekretärin ausgeführt hat, nicht gleich mit voller rung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bun- Schlagkraft in Deutschland eingesetzt werden kann. desrates vom 15. Dezember 2006 beschlossen. Soweit der Bundesrat um die Prüfung bestimmter Maßnahmen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gebeten hat, wird die Bundesregierung diesem Wunsch der CDU/CSU) entsprechen. Vor dem 1. Januar 2007 erbaute Bestands- wohnungen, deren Nutzfläche überwiegend, also zu Das Thema Immobilien bringt es mit sich, darauf hin- mehr als 50 Prozent, Wohnzwecken dient, bleiben, an- zuweisen, dass heute draußen ein Sturm tobt. Wenn man ders als der Bundesrat es vorgeschlagen hatte, von dem hier im Plenum des Deutschen Bundestages ist, hat man Anwendungsbereich ausgenommen, um befürchteten fast den Eindruck, man sei im Auge des Orkans; denn es negativen Auswirkungen auf den Mieterschutz sowie die ist sehr ruhig hier. Wir bekommen den Sturm nicht mit. Stadtentwicklung entgegenzuwirken. REITs werden sich Immobilien haben einen Wert für die Menschen, und in Deutschland auch ohne die Einbeziehung von Woh- zwar nicht nur einen materiellen, sondern auch einen im- nungen etablieren können, weil ausreichend Geschäfts- materiellen. Die Werte, die in unserem Land in diesem immobilien zur Verfügung stehen. Bereich über Generationen hinweg geschaffen worden sind, müssen weiter gepflegt und bewahrt werden. Entscheidend ist, dass in Deutschland der Einstieg in Dieser Bereich der Volkswirtschaft ist nicht zu unter- den REITs-Markt möglich sein wird. Dies wird das Ge- schätzen. Es wird hier ein Volksvermögen von setz leisten. 7 000 Milliarden Euro geschätzt. In diesem Zusammen- Herzlichen Dank. hang ist es wichtig, sich die volkswirtschaftliche Bedeu- tung dieses Bereiches klarzumachen: Im Grundstücks- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und Wohnungswesen sind – ohne den Bereich Bauwirt- schaft – etwa 400 000 Erwerbstätige beschäftigt. Inso- fern ist es gut, dass dieser Bereich weiter professionali- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: siert werden soll. Das Wort hat nun der Kollege Carl-Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion. Es gibt viele Gründe, die für die Einführung von REITs sprechen; auf einige dieser Gründe möchte ich (Beifall bei der FDP) kurz eingehen: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7637

Carl-Ludwig Thiele (A) Erstens: Die Anlageklasse Immobilie wird in Zukunft des Immobilienvermögens in Deutschland ausmachen, (C) an Attraktivität gewinnen. Sie bringt nachhaltige mit aufgenommen werden. Das wäre sinnvoll, und ich Erträge. Sie ist im Gegensatz zu den umlagefinanzier- appelliere, sich dem nicht zu verschließen, auch wenn im ten Alterssicherungssystemen geeignet, Kapitaldeckung außerparlamentarischen Bereich erste Festlegungen er- für den Einzelnen zu schaffen. folgt sind. Zweitens. Die deutschen Unternehmen haben im in- Herzlichen Dank. ternationalen Vergleich eine sehr niedrige Eigenkapital- (Beifall bei der FDP) quote, aber überdurchschnittlich viel Immobilienbesitz. In anderen Ländern ist der Immobilienbesitz weniger verbreitet. Dort werden Immobilien vermehrt gemietet Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: oder geleast. Nächster Redner ist der Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/CSU-Fraktion. Wenn wir durch eine Exitstrategie unseren Unterneh- men in Deutschland ermöglichen können, die Immobi- (Beifall bei der CDU/CSU) lien aus den Unternehmen auszugliedern, sie aber den- noch zur Verfügung zu haben, dann können wir die Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Eigenkapitalbasis vieler deutscher Unternehmen stärken, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe in der Hoffnung darauf, dass das verfügbare Eigenkapi- Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzmarktpolitik ist tal dann für Investitionen zugunsten der wirtschaftlichen ein Bereich, der häufig ohne die Aufmerksamkeit der Fortentwicklung des Betriebes und damit auch der Ar- breiten Bevölkerung diskutiert wird. Ein Grund dafür ist beitsplätze genutzt wird. die zweifelsohne falsche Annahme, dass der Finanz- markt nichts mit der allgemeinen Bevölkerung und der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Volkswirtschaft zu tun habe – zumindest nichts Gutes –, der CDU/CSU) sondern ein Thema für Börsen, Banken, Versicherungen Drittens. Auch der öffentliche Immobilienbesitz ist und die Vermögenden in unserer Gesellschaft sei. in diesem Zusammenhang besonders betroffen. Schon Dieser Irrglaube herrscht leider auch bei einigen Ver- vor der Diskussion um die REITs haben Kommunen da- tretern in diesem Hause vor, wie Ihr Antrag beweist, mit begonnen, große Wohnungsbestände zu veräußern. meine Damen und Herren von der Linken. Wer so einsei- Von Rot-Grün wurden unter dem SPD-Minister tig diskutiert, verkennt die Rolle des Finanzmarktes für Müntefering Hunderttausende von Wohnungen veräu- die gesamte Volkswirtschaft. ßert, was wir zwar für richtig halten, aber in Verbindung (B) mit einem angemessenen Mieterschutz, der gleichwohl (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) bereits gesetzlich geregelt ist und noch weiter gestärkt Der deutsche Finanzmarkt leistet einen unverzicht- werden kann. baren Wachstumsbeitrag. Allein der Anteil der Kredit- Alle diese Möglichkeiten wurden in der Vergangen- wirtschaft an der Bruttowertschöpfung liegt bei ungefähr heit von Sozialdemokraten genutzt, die das vielleicht 3,2 Prozent. Die Finanzbranche hat damit insgesamt für auch in Zukunft tun werden, eventuell sogar in Berlin. das Wachstum in Deutschland eine ähnliche Bedeutung Insofern sollte das Instrumentarium nicht verteufelt wer- wie die großen Industriebranchen. Das gilt auch für die den. Das ist billige Parteitaktik und geht an den Bedürf- Zahl der Arbeitsplätze. Darum ist es unsere Verantwor- nissen der Menschen völlig vorbei. tung als Finanzpolitiker, den deutschen Finanzmarkt durch die richtigen politischen Weichenstellungen so (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Olav auszugestalten, dass er sich positiv weiterentwickeln Gutting [CDU/CSU]) kann. Viertens. In anderen Ländern gibt es REITs schon Unter diesem Vorzeichen möchte ich auch den Ent- längst. Sie sind dort bereits etabliert. Wenn wir wollen, wurf eines Gesetzes zur Schaffung deutscher Immobi- dass der Finanzplatz Deutschland und die Immobilien in lienaktiengesellschaften mit börsennotierten Anteilen Deutschland international stärkere Anerkennung fin- – also REITs – diskutieren, den wir heute in erster Bera- den, dann sollten wir hier die Möglichkeit eröffnen, ein tung behandeln. Mit dem Gesetz führen wir in Deutsch- international geltendes Instrument wie REITs in land ein international anerkanntes Finanzprodukt ein, Deutschland einzuführen, damit wir nicht nur Sonder- nämlich die sogenannten Real Estate Investment Trusts, wege beschreiten, sondern damit auch Anleger aus besser bekannt unter ihrer Abkürzung REITs. REITs sind Deutschland und der ganzen Welt die Möglichkeit ha- steuertransparente, an der Börse notierte Aktiengesell- ben, mithilfe der REITs in deutsche Immobilien zu in- schaften, deren Kerngeschäft es ist, Immobilienbestände vestieren. Wir benötigen das Kapital, mit dem dann wei- zu verwalten, zu erwerben und zu verkaufen. ter gearbeitet werden kann. Auf Unternehmensebene sind REITs von der Besteue- Insofern freue ich mich auf konstruktive Beratungen. rung befreit. Um diesen Status aber zu erreichen, müs- Wir werden eine Anhörung durchführen. Dem Gesetz- sen REITs ihren Gewinn zu mindestens 90 Prozent an entwurf werden wir in seinen Grundzügen zustimmen. die Anteilseigner ausschütten. Dieser Gewinn wird dann Allerdings werden wir sehr genau darauf achten, ob beim Anteilseigner besteuert. Der REIT ist somit kein nicht der eine Geburtsfehler behoben werden kann und steuerfreies Produkt, wie Sie, meine Damen und Herren die Wohnimmobilien im Bestand, die etwa 60 Prozent von der Fraktion Die Linke, es in Ihrem Antrag glauben 7638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Leo Dautzenberg (A) machen wollen. Die Besteuerung findet lediglich auf ei- gen auf Immobilienmarkt und Standortbedingungen (C) ner anderen Ebene statt. Auf die weiteren Detailregelun- habe ich bereits gesprochen. gen zum Beispiel zum Mindestgrundkapital, zu den Hal- tefristen und zur Mindeststreuung möchte ich aus Kommen wir also zur verlässlichen Besteuerung Zeitgründen nicht eingehen. Das Ganze ist also in ein beim Anleger. Auch dies stellt das Gesetz, das als Ent- Rahmenwerk eingebunden, das erfüllt werden muss. Das wurf vorliegt, sicher. In der Tat war es keine leichte Auf- macht den Sonderstatus dieses Produktes deutlich. gabe, die besondere steuerliche REIT-Konstruktion in die deutsche Steuersystematik umzusetzen und gleich- REITs wurden erstmals in den Vereinigten Staaten zeitig die verlässliche Besteuerung beim in- und auslän- von Amerika eingeführt, und zwar bereits im Jahre 1960. dischen Anleger sicherzustellen. Die Problematik be- Mittlerweile gibt es vergleichbare Strukturen in vielen stand hier vor allem im Zugriff auf den ausländischen Ländern der Welt. Seit 2000 wurden in sieben Ländern Anleger. Hierfür hat das Bundesministerium der Finan- REITs aufgelegt. Warum brauchen wir nun auch in zen eine gute Lösung gefunden, nämlich das Dividen- Deutschland das Produkt REIT? Wir haben doch bereits denmodell mit Streubesitzklausel. Dieses Modell sieht Immobilienanlageprodukte, mag der eine oder andere vor, dass ein einzelner Anleger unmittelbar maximal ins Feld führen; das ist richtig. Wir verfügen mit offenen 10 Prozent der Anteile an einem REIT halten darf. So si- und geschlossenen Fonds sowie Spezialfonds bereits chert sich der deutsche Staat seinen Zugriff auf den aus- über verschiedene, gute Finanzprodukte. Allerdings sind ländischen Anleger. Das heißt, auch die fiskalischen In- REITs mit diesen Produkten nicht zu vergleichen. Ihr teressen des Staates sind mit diesem Gesetz gewahrt. Chance-Risiko-Profil liegt zwischen Renten und Aktien. REITs sind also nicht, wie einige Kritiker fälschlicher- In seiner rechtlichen Gestalt orientiert sich der deut- weise vorbringen, hochspekulative Anlagen. Sie wirken sche REIT an den international bekannten Standards ei- vielmehr portfoliostabilisierend und sind daher für insti- nes REIT. Dies gilt bis auf eine entscheidende Aus- tutionelle Investoren besonders interessant. Kurz gesagt: nahme. Diese Ausnahme besteht darin, dass der deutsche REITs ergänzen und verbessern das Anlagespektrum in REIT – so sieht es zumindest der Gesetzentwurf vor – Deutschland. nicht in Bestandsimmobilien investieren darf. Bestands- immobilien sind laut Definition im Gesetz solche Immo- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) bilien, die vor dem 1. Januar 2007 erbaut wurden und die zu mehr als 50 Prozent Wohnzwecken dienen. Diese Darüber hinaus ist die Einführung von REITs – damit Ausklammerung, mit dem Argument der sozialen Woh- komme ich zu meiner Eingangsbemerkung zurück – nungspolitik und des Mieterschutzes begründet, geht an nicht nur für den Finanzmarkt positiv. Sie ist erst recht den Tatsachen vorbei. Meine Fraktion hält diese Aus- (B) kein Steuergeschenk an die Akteure des Finanzmarktes. klammerung für sachlich falsch. (D) Vielmehr werden auch andere Wirtschaftszweige un- mittelbar – genauso wie der Arbeitsmarkt mittelbar – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – profitieren. So eröffnet der REIT beispielsweise der Im- Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir auch!) mobilienwirtschaft die Chance, sich weiter zu professio- Mit dieser Einschätzung stehen wir nicht alleine. Der nalisieren, und zwar durch die Schaffung neuer Berufs- Bundesrat ebenso wie viele Fachleute teilen unsere An- sparten und qualifizierter Arbeitsplätze zum Beispiel im sicht. Selbst das Bundesfinanzministerium sah im Refe- Bereich des Portfoliomanagements. Im Vergleich zu an- rentenentwurf noch die Einbeziehung der Wohnimmobi- deren Eigentümern können REITs zum Beispiel eine ef- lien vor. fizientere Verwaltung aufbauen, und zwar dadurch, dass sie sich auf bestimmte Immobilienarten und Standorte Die Befürchtung, dass REITs aufgrund ihrer Rendite- spezialisieren. Ebenso interessant sind REITs für Unter- orientierung übermäßige Mieterhöhungen veranlassen nehmen mit großen Immobilienbeständen. Sie bieten könnten, ist schon alleine deshalb unzutreffend, weil na- den Unternehmen eine attraktive Möglichkeit, sich von türlich auch REITs an das deutsche Mietrecht gebunden ihren Immobilienbeständen zu trennen, um somit finan- sind. ziell flexibler zu werden, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren und dabei wiederum Liquidität für andere (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Bereiche zu gewinnen. Selbst wenn sich die Befürchtung begründen ließe, ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine Ausklammerung der Bestandsimmobilien aus dem deutschen REIT wirkungslos; denn damit könnte noch Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Bundesre- lange nicht verhindert werden, dass zum Beispiel ein gierung mit diesem Gesetz nun endlich dem deutschen ausländischer REIT in Paris oder demnächst in London Finanz- und Immobilienmarkt das Produkt REIT anbie- oder aber auch ausländische Private-Equity-Firmen tet. Die Große Koalition hat sich für die Einführung von deutsche Wohnungen kaufen. REITs bereits im Koalitionsvertrag ausgesprochen. Wir haben uns darauf verständigt, die Einführung unter der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bedingung voranzutreiben, dass zum einen die verlässli- Carl-Ludwig Thiele [FDP]) che Besteuerung beim Anleger sichergestellt wird und Sie können im Grunde jeden Wohnungsbestand verkau- dass zum anderen positive Auswirkungen auf Immobili- fen, ihn nur nicht in einen deutschen REIT einbringen. enmarkt und Standortbedingungen, also auf den Finanz- markt, zu erwarten sind. Über die positiven Auswirkun- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist absurd!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7639

Leo Dautzenberg (A) Eine größere Widersinnigkeit habe ich bisher kaum er- nungen. Das Ergebnis aus Freiburg: 70,5 Prozent der (C) lebt. Wähler waren gegen die vom grünen Bürgermeister ge- planten Wohnungsverkäufe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Die Ausklammerung von Bestandsimmobilien ist aber nicht nur wohnungspolitisch wirkungslos, sie ist auch Der Deutsche Mieterbund erklärt – Zitat –: marktschädigend, weil durchaus viele Wohnungsunter- nehmen und Wohnungsbesitzer in Deutschland an einem Wer öffentliche Wohnungsbestände verkaufen will, Verkauf oder an einer Umwandlung in einen REIT inte- stellt sich gegen die Interessen der Mehrheit der ressiert sind. Durch diese Ausklammerung geht dieses Bürger. Potenzial am deutschen Markt vorbei. Er spricht im Anschluss von Wohnungsmonopoly. In dem Beratungsverfahren werden wir als Union die (Zuruf von der FDP: Riesenquatsch!) Integration von Wohnimmobilien weiterhin verfolgen. Gleiches gilt für die EK-02-Problematik früherer In dieser Situation legt die Bundesregierung ihren Ge- gemeinnütziger Wohnungsunternehmen. Wir müssen setzentwurf zur Zulassung von REITs auch in Deutsch- überlegen, ob wir dafür nicht eine Regelung finden. Auf land vor. Das spricht nicht gerade dafür, dass Sie die der anderen Seite sind auch noch Fragen bei der Exit- Sorgen der Menschen außerhalb dieses Hauses wirklich Tax – Konversion des Wohnungsbauvermögens in den ernst nehmen. Die Fraktion Die Linke lehnt die Einfüh- REIT hinein – zu klären, zum Beispiel wer davon be- rung von REITs in Deutschland ab, günstigt werden soll. Im Gesetzentwurf sind zwei vorge- (Beifall bei der LINKEN) sehen, nämlich der REIT und die offenen Immobilien- fonds. Ob das der Weisheit letzter Schluss sein soll, unter anderem – viel kann man in vier Minuten nicht sa- müssen wir diskutieren. gen – aus folgenden Gründen: Wir haben einen entscheidenden Schritt vollzogen, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Völker, hört indem der Gesetzentwurf eingebracht worden ist. Es gilt die Signale!) der Grundsatz, dass in den Beratungen noch etwas ver- Die Bundesregierung behauptet, REITs seien nötig – das ändert werden kann. Insofern sind wir auf einem guten ist auch hier gesagt worden –, weil hohe Eigenbestände Wege, ein gutes Finanzmarktprodukt für Deutschland zu an Immobilien in den deutschen Unternehmen gehoben kreieren. werden müssen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu ver- Vielen Dank. bessern. Ich sehe hierzu angesichts der Dauerposition als (B) Exportweltmeister jedoch überhaupt keine Veranlas- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carl- sung. Sie verschärfen damit nur das internationale Steu- Ludwig Thiele [FDP]: Sehr gute Rede!) erdumping.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Bundesregierung behauptet, die Immobilienwirt- Das Wort hat nun der Kollege Dr. Axel Troost für die schaft sei ohne REITs nicht konkurrenzfähig. Ich halte Fraktion Die Linke. diese Behauptung für frei erfunden. Woher kommt denn der Run ausländischer Investoren auf deutsche Immobi- (Beifall bei der LINKEN) lien? Heute immer wieder gesagt und auch in den Printme- Dr. Axel Troost (DIE LINKE): dien ständig zu lesen: Wohnimmobilien sind außen vor. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Heu- Hier hat die SPD-Linke zwar in der Tat wichtige Arbeit schrecken im Wohnzimmer“ war der Titel einer Fernseh- gegen die vom BMF ursprünglich vorgegebene Linie ge- sendung von diesem Montag. leistet; aber trotz allem sind ihre Forderungen nur par- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Muss ein blöder tiell durchgesetzt. Faktisch bleiben Wohnimmobilien Film gewesen sein!) nämlich drinnen: Wie eben gesagt worden ist, sind laut Gesetzentwurf REITs für Mischimmobilien bis zu einem Der Anlass: Eine Welle von Privatisierungen kommu- Wohnanteil von 50 Prozent und für Neubauten generell naler Wohnungen durchzieht die Republik. Immer zulässig. Damit kommen weite Bereiche des Wohnungs- mehr Menschen fragen sich: Werde ich auch morgen marktes unter Renditedruck. noch ein Dach über dem Kopf haben? Kann ich die dro- henden Mieterhöhungen bezahlen? Aber – und das (Zuruf von der FDP: Das ist doch Quatsch!) stimmt mich persönlich sehr zufrieden und zuversicht- 306 Euro Miete bei 640 Euro Rente, und nun drohen lich – auch der Widerstand wächst. Gegen die geplante Mieterhöhungen von 80 Euro, zum Beispiel in Dort- Privatisierung der Landesentwicklungsgesellschaft in mund-Wickede – Nordrhein-Westfalen wehrt sich die Volksinitiative „Si- chere Wohnungen und Arbeitsplätze“. Herne, Velbert, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Durch wen Dortmund, Onkel Toms Hütte in Berlin-Zehlendorf, denn?) Freiburg, über 300 000 betroffene Mieterinnen und Mie- das ist die Realität in unserem Lande. ter alleine im Ruhrgebiet – überall Bürgerbegehren und Klagewellen gegen die Privatisierung kommunaler Woh- (Beifall bei der LINKEN) 7640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dr. Axel Troost (A) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regie- über die positiven Effekte, die das haben kann, gehört. (C) rungsfraktionen, ich glaube nicht, dass Ihre Auflagen zur Sie haben sich mit den Gegenargumenten aber überhaupt Schonung des Wohnungsmarktes fortbestehen. Sie wer- nicht auseinandergesetzt. Es wäre zum Beispiel interes- den verpuffen, oder sie werden, wie von der CDU/CSU sant gewesen, einmal zu hören, was Sie eigentlich zu den hier eben angedeutet, im Beratungsprozess sogar noch Einwänden, die Ihre Parteikollegen in den Ländern ma- aufgeweicht. Das heißt für uns: Verramschen von Sozial- chen, sagen. Diese Kollegen sagen ziemlich deutlich, kapital. So lautete auch die Kritik in einem Fernsehbei- dass mit der Exit-Tax massive Probleme verbunden sind. trag. Sie tragen mit diesem Gesetz dazu bei. Diese Probleme bestehen danach nicht nur darin, dass man in den Wertansatz noch mehr hereinnehmen müsste, Für meine Fraktion ist und bleibt klar: Wir stehen erst wie Sie angedeutet haben – Herr Dautzenberg, so habe am Anfang einer Unterwerfung der Wirtschaft und der ich zumindest Sie verstanden – öffentlichen Hand unter die Gier der Finanz- und Immo- bilienmärkte. Meine Fraktion unterstützt den Widerstand (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es wollen dagegen mit allen Kräften, auch und gerade im Miet- mehr rein!) wohnungsmarkt. Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab. Wir legen Alternativansätze vor, und deswegen haben – ja, es wollen mehr rein –; ein Problem besteht vielmehr wir den Gegenantrag eingebracht. darin, ob man überhaupt eine Abgrenzung vornehmen kann, ob aus dieser Sondernorm nicht eine neue Kette Danke schön. von Sondernormen im Steuerrecht wird, die nachher (Beifall bei der LINKEN) nicht mehr kontrollierbar ist, und ob aus der Exit-Tax womöglich ein neuer Beihilfefall im europäischen Recht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wird. Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gerhard Schick für Dazu passt der Subventionsbericht, den wir diese Wo- die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. che im Finanzausschuss behandelt haben, sehr gut: Wir sind dabei, eine neue Sondernorm zu schaffen. In Ihrer Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Begründung für die Einführung von REITs müssten Sie NEN): nicht nur über die Vorzüge des Finanzmarktprodukts, Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- sondern auch über die Konsequenzen für das Steuer- legen! Herr Troost, Sie haben über die verschiedenen recht deutliche Worte verlieren. Wir werden im Aus- Verkäufe gesprochen. In Ihrer Aufzählung hat eine Stadt schuss und bei den Anhörungen noch einmal sehr kri- gefehlt: Dresden. tisch nachfragen. (B) (D) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist deren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) selektive Wahrnehmung, Herr Kollege!) Die Einführung von REITs kann nicht rechtfertigen, Aber ich will auf die Wohnimmobilien gar nicht so sehr dass zum Beispiel durch ein Sale-and-lease-back-Ver- eingehen; denn im Gesamtkontext ist diese Frage nicht fahren neue Lücken im deutschen Steuerrecht entstehen zentral. Es ist auch nicht die Position der SPD, durch und wir uns, um diese Verfahren zu unterbinden, neue eine Herausnahme der Wohnimmobilien seien alle Pro- komplexe Regelungen ausdenken müssen, die das Steu- bleme gelöst. Die Gesamtproblematik der Wohnungsver- errecht verkomplizieren. Im Zusammenhang mit der in käufe in Deutschland, die wir heute diskutieren, bestand § 13 des Gesetzentwurfes vorgesehenen steuerfreien schon längst vor der Einführung von REITs. Rücklage ist überdies eine Frage des Beihilferechts zu (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das! – klären: Ist die Steuerbefreiung gerechtfertigt? Sie sind Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) mit keinem Wort darauf eingegangen, dass dies neue Ge- staltungspotenziale in sich birgt. Das Herausnehmen von Wohnimmobilien aus REITs macht dieses Problem überhaupt nicht kleiner. Wir müs- Ich habe auch nicht gehört, dass die Fragen, die Kol- sen andere Lösungen finden. lege Pronold beim letzten Mal, als wir hier über REITs diskutiert haben, gestellt hat, beantwortet worden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie sagen, eine verlässliche Besteuerung sei gesichert. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Für mich ist das bisher allerdings nur eine Aussage, die der FDP) in Bezug auf die konkreten Einzelfälle noch nicht fun- Ich kann für meine Fraktion sagen, dass wir zustim- diert unterlegt worden ist. Deswegen freue ich mich, men: REITs ist als Kapitalmarktprodukt sinnvoll; es hat nachher mehr dazu zu hören, was die Antworten auf die eine Reihe von Vorteilen. Richtig ist auch, dass wir inter- Fragen sind, die Sie selbst in der letzten Diskussions- nationale Entwicklungen aufgreifen und das Interesse runde gestellt haben, zum Beispiel: Wie ist das bei aus- des Finanzstandorts Deutschland fördern. Die Frage ist ländischen Anteilseignern? Erst wenn diese Fragen ge- bloß: Zu welchem Preis tut man das, und wie tut man klärt sind, können wir ein Produkt wie REITs das? Dazu kann ich nur sagen: Dem vorliegenden Ge- unterstützen. setzentwurf können wir nicht zustimmen. Danke schön. Man kann fördern; doch man darf Förderung nicht zum Selbstzweck machen. Ich habe in den Beiträgen viel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7641

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sind. Uns ging es darum, Bestandswohnimmobilien he- (C) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege rauszunehmen, weil wir die Sorgen der Menschen sehen; Florian Pronold, SPD-Fraktion. Freiburg ist angesprochen worden. Es geht nicht nur um Fragen der Mieterinnen und Mieter, die ein großes Inte- Florian Pronold (SPD): resse daran haben, dass ihre Wohnungen nicht an der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Börse gehandelt werden, sondern auch um die Frage der Kollegen! Die Bundesregierung und die sie tragenden Stadtentwicklung. Wir können doch nicht immer Politik- Fraktionen haben nun den Weg für REITs freigemacht. felder separat bearbeiten, ohne Zusammenhänge zu be- Das ist das Ergebnis langer politischer Debatten. Es ist achten. richtig, dass sie geführt wurden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE Wollen Sie mir allen Ernstes erzählen, dass eine börsen- GRÜNEN]: Die Debatten sind noch nicht vor- notierte Immobiliengesellschaft die Frage einer sozialen bei!) Stadtentwicklung genauso im Auge hat wie eine ehemals Schauen Sie nach Frankreich, wo REITs zu schnell ein- gemeinnützige und immer noch im Mehrheitsbesitz ei- geführt wurden: Man stellte dann fest, dass viele REIT- ner Kommune befindliche Wohnungsbaugesellschaft? Anteile von spanischen Investoren gehalten wurden, für (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Gucken Sie sich die die REIT-Dividenden aufgrund eines Doppelbesteue- mal den Reparaturstau an!) rungsabkommen, das übersehen wurde, quasi steuerfrei waren. Es ist sehr wichtig, dass wir die Fragen, die mit Das glaubt doch niemand! der Sicherstellung der Anlegerbesteuerung zusammen- Städtetagspräsident Christian Ude hat sehr deutlich hängen, verlässlich beantworten können, bevor wir uns gemacht, wie wichtig es ist, dass die Kommunen dieses in den Gesetzgebungsprozess begeben. Hierbei haben Handlungsinstrument noch haben. Ich habe mich darü- wir im Vergleich zum Beginn der Debatte erhebliche ber gefreut, dass ich von meinem Koalitionspartner, zu- Fortschritte gemacht. mindest von den Kommunalpolitikern, viel Zuspruch in Sie sehen an den Anmerkungen des Bundesrates und der Frage bekommen habe, wie es denn mit dem Wohn- den dort enthaltenen Prüfbitten, dass es nach wie vor bestand weitergehen soll. Fragen Sie die Augsburger Fragen zum Sale-and-lease-back-Verfahren, zu den eu- CSU-Kolleginnen und -Kollegen! Es hat mich sehr ge- roparechtlichen Auswirkungen und zur Exit-Tax, zur freut, dass auch die sagen: Jawohl, wir brauchen hier die Beihilfeproblematik, gibt, die wir ganz normal im parla- kommunale Handlungsfähigkeit, um Stadtentwicklung mentarischen Verfahren klären. gerade in den Großstädten betreiben zu können. (D) (B) Deshalb haben wir die Bestandswohnimmobilien aus- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genommen. Uns geht es nicht darum, neu entstehende NEN]: Das sind aber gewaltige Fragen!) große Gebäude am Potsdamer Platz mit teuren Wohnun- – Ja, wir werden sie klären. Der Klärungsprozess beginnt gen oben und Verkaufsflächen unten in den Schutz ein- gerade: Es finden Anhörungen statt; danach – vor der zubeziehen. zweiten und dritten Lesung – werden wir die Antworten geben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das parlamentari- Herr Kollege, ich darf Ihren Redefluss unterbrechen. sche Verfahren beginnt gerade erst!) Es gibt die Bitte der Kollegin Andreae, eine Zwischen- frage stellen zu dürfen. Gestatten Sie? Wir wollen sicherstellen, dass der Anleger besteuert wird; so haben wir es im Koalitionsvertrag vereinbart. Florian Pronold (SPD): Die Debatte hat dazu geführt, dass wir schon wesentlich Gern. weiter als vorher sind. Ich bin froh, dass wir das nicht wie in Frankreich, also nicht im Hoppla-hopp-Verfahren gemacht haben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr. Die Bedenken, die übrigens am Anfang nur ganz we- nige hatten, wurden im Bundesrat von allen, unabhängig Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von der politischen Couleur – auch von der FDP –, ge- teilt. Es ist gut, dass offene Fragen, die am Anfang nur Herr Kollege Pronold, Sie haben gesagt, dass Sie wenige gesehen haben, nun von vielen gesehen werden. durch die Veränderung des Gesetzentwurfs gegenüber Das führt im Endeffekt dazu, dass ein besseres Gesetz dem Referentenentwurf – so wird das ja auch begründet – beschlossen wird. Das ist unsere Absicht. einen klaren Mieterschutz ermöglichen. Sie argumentie- ren, die Wohnungsbestände der Kommunen oder auch (Beifall bei der SPD) der öffentlichen Hand allgemein würden nicht an einen REIT verkauft werden können. Wie wollen Sie eigent- Es ist ein wichtiger Schritt für die SPD-Fraktion, dass lich verhindern, dass solche Wohnungen dann an Pri- nun auch die Bundesregierung befürwortet, Wohnim- vate-Equity-Fonds oder ausländische REITs verkauft mobilien bei der Schaffung von REITs außen vor zu las- werden? sen. Es stimmt nicht – die Linksfraktion versucht, den Eindruck zu erwecken –, dass de facto auch sie betroffen (Beifall bei der FDP) 7642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Florian Pronold (SPD): sind wir auf einem guten Weg. Den Rest klären wir in (C) Das ist eine Frage, die wir schon lange beantwortet der Debatte. haben. Aber schon die Fragestellung ist falsch. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der SPD: Das hätte man den grünen Bürgermeister in Freiburg fragen sollen!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Die Fragestellung ist tatsächlich falsch. Sie brauchen nur nachzulesen. Dazu ist genug geschrieben worden. Pri- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen vate-Equity-Fonds und ausländische REITs können auf den Drucksachen 16/4026, 16/4036 und 16/4046 an schon heute deutsche Wohnimmobilien kaufen. Das ist die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- überhaupt nicht zu bestreiten. Der Unterschied ist der: schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das Jetzt haben wir als Nationalstaat das Recht der Besteue- ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. rung der Erträge aus diesen Immobilien. Wenn ein REIT Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie geschaffen wird, in den Wohnimmobilien eingebracht Zusatzpunkt 6 auf: werden, besteht dieses Recht der Besteuerung auf der Ebene der Gesellschaft nicht mehr. Dann tritt die Proble- 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin matik der Gleichbehandlung auf, sodass wir den auslän- Zeil, Gudrun Kopp, Christian Ahrendt, weiterer dischen REIT europarechtlich womöglich steuerfrei stel- Abgeordneter und der Fraktion der FDP len müssen und eine Durchleitung erfolgt. Keine Verlängerung des Briefmonopols – Wir haben in der Debatte niemals behauptet, das sei Wettbewerb auf dem deutschen und europäi- eine Lösung für die ernst zu nehmende Frage der ren- schen Postmarkt ermöglichen ditegetriebenen Finanzinvestitionen auf dem Wohnim- – Drucksache 16/3623 – mobilienmarkt. Wir haben immer gesagt: Wir wollen eine Katalysatorfunktion verhindern, weil uns die Frage Überweisungsvorschlag: der sozialpolitischen Gestaltung im Hinblick auf den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss kommunalen Wohnungsbestand wichtig ist. Deshalb Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union wollen wir hier nicht übereilt solche Investitionen zulas- Haushaltsausschuss sen. ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg Lötzer, Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, [CDU/CSU]: Das können wir auch durch Be- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- (B) teiligungen sicherstellen!) KEN (D) Aus dem gesellschaftlichen Bereich sind Mieterver- Vollständige Öffnung der Postmärkte stoppen eine, Gewerkschaften und große Teile der Kommunalpo- – Universaldienstverpflichtung absichern litik mit uns hier Seit´ an Seit´ marschiert, um ein ver- – Drucksache 16/4044 – nünftiges Ergebnis zu erzielen. Überweisungsvorschlag: Ich habe die Debatte von Anfang an verfolgt. Am An- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss fang hat man uns vonseiten derer, die die REITs wollen, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gesagt: Das mit den Wohnimmobilien ist überhaupt nicht Haushaltsausschuss interessant. Die nehmen wir nur als Beiwerk, um das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ganze in sich ein bisschen sicherer zu machen, um nicht Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die nur Gewerbeimmobilien, sondern auch ein paar FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre dazu keinen Wohnimmobilien zu haben. Dieser geringe Bestand an Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wohnimmobilien interessiert uns eigentlich gar nicht. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Mit wem ha- Kollegen Martin Zeil für die FDP-Fraktion. ben Sie denn gesprochen?) Später haben wir gesagt: Okay, dann nehmen wir die halt Martin Zeil (FDP): raus. – Daraufhin wiederum hat man uns erklärt: Jetzt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und machen REITs überhaupt keinen Sinn mehr, weil man Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: die Wohnimmobilien nicht drin hat. – Man sollte sich schon klar darüber sein, was man will. Die Exklusivlizenz der Deutschen Post AG stellt das wichtigste Wettbewerbshindernis auf den Post- Die SPD und die Bundesregierung haben in dieser märkten dar. Frage eine klare Position: Wir wollen nicht, dass es hier ... das im Postgesetz genannte Ziel der Erstellung zu einem zusätzlichen Renditedruck auf die kommuna- von chancengleichem und funktionsfähigem Wett- len Wohnungsbestände kommt. Wir wollen, dass ein ver- bewerb (wird) nach wie vor verfehlt ... Die voll- nünftiger REIT als Finanzmarktinstrument auf den Weg ständige Abschaffung der Exklusivlizenz hat ... gebracht wird, die Besteuerung beim Anleger so sicher oberste Priorität ... wie möglich ist und die Interessen der Mieterinnen und Mieter sowie der Kommunen berücksichtigt werden. Da (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7643

Martin Zeil (A) Zu diesem Ergebnis kommt die Monopolkommission in ist, vor der Konkurrenz fürchten? Hier sollen aus unserer (C) ihrem vierten Sondergutachten zur Funktionsfähigkeit Sicht Ängste geschürt werden, um eine Monopolverlän- des Wettbewerbs auf den Märkten für Postdienstleistun- gerung zu erreichen. gen. (Beifall bei der FDP) Angesichts der Diskussion auf europäischer Ebene ist es höchste Zeit, dass dieses Haus in dieser wichtigen Auch die Androhung des Abbaus von Arbeitsplätzen Frage ganz klar Position bezieht. Wichtig ist, vorneweg ist nur vorgeschoben. Denn tatsächlich hat die Post eines klarzumachen: Es darf hier nicht um ein bestimm- schon während des geltenden Briefmonopols im Zuge tes Unternehmen gehen. Als Mitglieder dieses Hauses der Rationalisierungsmaßnahmen mehr als 33 500 haben wir die Verantwortung, das beste Angebot bei ei- Arbeitsplätze abgebaut. Umso bemerkenswerter ist es ner flächendeckenden Grundversorgung zu besten – daran sieht man, was Wettbewerb bewirken kann –, Preisen zu garantieren. dass die anderen Anbieter 42 000 neue Arbeitsplätze ge- schaffen haben. Nach unserem Grundgesetz muss der Bund auch die Nun noch ein Blick nach Europa: In Ihrem Entschlie- Versorgung im ländlichen Raum gewährleisten. Die ßungsantrag zur Postrichtlinie haben Sie festgestellt, Bundesnetzagentur ist als Kontrollinstanz vorgesehen. Deutschland gehöre zu den Mitgliedstaaten mit der Wenn eine Versorgungslücke entsteht, kann sie die höchsten Marktöffnung. Ich glaube, dass das einer ech- Dienstleistungen in Zukunft entsprechend den Vorgaben ten Betrachtung nicht standhält. des Postgesetzes ausschreiben und den Auftrag an den günstigsten Bieter vergeben. Laut Postgesetz – das ist, so (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP]) glaube ich, noch einmal klarzumachen – ist kein be- stimmtes Unternehmen zur Erbringung der Universal- Zusammen mit Großbritannien und den nordischen Län- dienstleistungen verpflichtet. dern, die bereits ihren Markt geöffnet haben, und den Niederlanden, die dies für 2008 ankündigen, wären bei Mehr Wettbewerb wird eine hohe Dienstleistungs- einer deutschen Liberalisierung 60 Prozent des europäi- qualität in der Fläche garantieren. Das haben die benach- schen Marktes geöffnet. Deswegen unterstützten wir die barten Märkte Paket- und Expressdienstleistungen, aber Bundesregierung bei diesen Bestrebungen. Nur sind Sie auch der Telekommunikationsmarkt zur Genüge bewie- aus unserer Sicht bislang zu halbherzig und ohne klare sen. Für den Fall einer Versorgungslücke sieht das Post- Linie, gerade was den Fall der Exklusivlizenz über den gesetz zur Finanzierung einen Ausgleichsfonds vor, an 31. Dezember 2007 hinaus angeht. dem sich alle Marktteilnehmer mit einem entsprechen- den Umsatzvolumen beteiligen müssen. Gleichartige (Beifall bei der FDP) (B) (D) Regelungen im Bereich der Telekommunikation sind nie Nach unserer Ansicht soll in Zukunft nicht mehr ein in Anspruch genommen worden, weil es weder Versor- einzelner Postdienstleister sämtliche Universaldienst- gungslücken gab noch entsprechende Kosten nachge- leistungen erbringen, sondern alle Marktteilnehmer sol- wiesen wurden. len unter diskriminierungsfreien Wettbewerbsbedingun- Auch durch die Mehrwertsteuerbefreiung der Post, gen ihre Chance bekommen. Von dem dadurch über die wir in diesem Hause zu einem späteren Zeit- entstehenden Wettbewerb werden vor allen Dingen die punkt noch einmal reden werden, wird der Wettbewerb Verbraucher und Geschäftskunden durch preisgünstige massiv verzerrt. Hier müssen wir zu klaren Lösungen und kundenorientierte Dienstleistungen profitieren. Dies kommen. wäre ein wichtiges Signal für mehr Beschäftigung und Wettbewerb. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Es zeigt sich, dass die Post trotz des Monopolschutzes und der gegenwärtig marktbeherrschenden Stellung in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den letzten Jahren flächendeckend Filialen abgebaut und Das Wort hat nun der Kollege Alexander Dobrindt für die Anzahl der Briefkästen stark ausgedünnt hat. Die die CDU/CSU-Fraktion. Zahl der stationären Einrichtungen privater Postdienst- leister ist dagegen sprunghaft gestiegen, und zwar vor al- (Beifall bei der CDU/CSU) lem dort, wo sich der bisherige Anbieter aus der Fläche zurückgezogen hat. Im liberalisierten Paketmarkt ist die Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Zahl der Paketshops inzwischen auf mehr als 16 500 an- gestiegen und liegt somit um fast 20 Prozent über der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Anzahl der Einrichtungen der Post AG. Kollegen! Herr Zeil, ich kann Ihnen in vielen Punkten zustimmen. Aber wenn Sie pauschal sagen, wichtige Schauen wir auf das Unternehmen selbst. Es wirbt vor Universaldienstleistungen sollten von allen möglichen allen Dingen mit der Internationalisierung, damit, dass Anbietern erbracht werden dürfen, so trifft dies nicht den man auf fünf Kontinenten präsent ist. Schon heute be- Kern. Der Punkt ist, dass diese Universaldienstleistun- schäftigt dieses Unternehmen im Ausland mehr Mitar- gen in Zukunft überhaupt in der Fläche erbracht werden beiter als in Deutschland. Weltweite Aktivitäten werden und dass jeder Kunde Zugang zu ihnen hat. Das ist für angepriesen. Warum soll sich also ein solches Unterneh- uns wichtiger als die Tatsache, dass nicht nur einer, son- men, das nach eigenen Angaben weltweit gut aufgestellt dern viele anbieten. 7644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Alexander Dobrindt (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Briefe verschicken, einfache Pakete aufgeben. Deswe- (C) der SPD – Martin Zeil [FDP]: Habe ich auch gen möchte ich an dieser Stelle ganz klar sagen: Wir be- gesagt!) fürworten, was die Post an dieser Stelle macht. Ich hoffe, dass auch die Deutsche Post zu dem Ergebnis kommt, „Wettbewerb auf dem deutschen und europäischen dass das Versuchsprojekt Post Point erfolgreich ist, und Postmarkt ermöglichen“ – das klingt relativ simpel, in dass sie diesen Versuch über ganz Deutschland erfolg- Wirklichkeit steht aber mit der vollständigen Öffnung reich ausrollt. der Postmärkte eines der größten Projekte bei der Schaf- fung eines echten Binnenmarktes für Dienstleistungen Die Europäische Union hat am 26. Oktober eine in Europa kurz vor seiner Verwirklichung. Der Postsek- Richtlinie verabschiedet, die die Vollendung des Binnen- tor der EU macht circa 90 Milliarden Euro aus. Das ist marktes zum 1. Januar 2009 zum Inhalt hat. Die geplante ein gigantischer Markt. Die Europäische Kommission Abschaffung aller reservierten Bereiche ist etwas, das erwartet von einer zunehmenden Liberalisierung eine wir ausdrücklich befürworten. Das heißt für uns in Stärkung des Wettbewerbs und von dieser Stärkung des Deutschland: Der Monopolbereich der Briefe bis Wettbewerbs sinkende Preise, neue Produkte, einen bes- 50 Gramm wird und soll spätestens zu diesem Zeitpunkt seren Service und mehr Kundenorientierung. fallen. Über die Beibehaltung der Vorgaben zum Post- Für uns ist in diesem Zusammenhang die entschei- universaldienst habe ich gerade gesprochen. Ich erinnere dende Frage: Wird die Versorgung mit Postdienstleistun- hier an die Diskussionen, die wir in der letzten Wahl- gen für die Menschen in unserem Land besser oder periode über Briefkästen und Poststellen hatten. schlechter? Darum geht es uns, und daran müssen wir Natürlich gibt es in dieser Richtlinie eine Festlegung unser Handeln letztlich messen. Natürlich kann man sa- darüber, mit welchen alternativen Maßnahmen der Uni- gen: Markt macht alles besser. Dieser Auffassung stehe versaldienst zukünftig – wenn er von den Unternehmen ich durchaus nahe, aber dann muss es sich auch um ei- nicht mehr kostendeckend erbracht werden kann, weil in nen echten Markt handeln. der Fläche zu wenig Aufkommen ist – finanziert werden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) soll. Wie stellt man sich das vor? Aber wenn es kein echter Markt ist, dann wird es in aller (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Regel nicht besser. Wir erleben das in anderen Berei- Kastner) chen; beim Strommarkt sehen wir das zurzeit. Wenn es Wenn das Aufkommen für Postdienstleistungen auf dem kein echter Markt ist, wird es für die Menschen nicht Land – zum Beispiel im Flächenland Bayern, aus dem besser. ich komme – zu gering ist, weil zu wenige Menschen (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Briefmarken kaufen oder Pakete verschicken, dann wird (D) neten der SPD) sich unter Umständen ein Postanbieter aus dieser Fläche zurückziehen. Weil das im freien Markt möglich ist, Also müssen wir sicherstellen, dass dieser Markt im muss der Staat, muss die Regulierungsbehörde eingrei- Sinne der Kunden funktioniert. Schon in der letzten fen können und sagen: Wir suchen per Ausschreibung Wahlperiode haben wir – wenn auch in einer anderen einen neuen Anbieter für diese Region; wenn wir diesen Konstellation – darüber diskutiert, wie sich die Situation Anbieter gefunden haben, werden wir – zum Beispiel der Postdienstleistungen für die Menschen verändert, über das Modell eines Fonds, in den alle Anbieter ein- und ich kann mich gut daran erinnern, wie emotional zahlen müssen – diese Dienstleistung vor Ort subventio- einzelne Kollegen dargestellt haben, welche Probleme nieren, damit sie möglich gemacht wird. ein Abbau der Briefkästen und die Schließung von Post- ämtern mit sich bringt. Ich halte das theoretisch für möglich. Das kann funk- tionieren, aber nicht unbedingt allein über den Preiswett- (Klaus Barthel [SPD]: Einschließlich der bewerb. Gerade in der Fläche, wo es wenige Anbieter FDP!) und wenige Interessenten gibt, wird nicht unbedingt der – Einschließlich der FDP, natürlich. Das ist aber auch billigste Anbieter der sein, der es ordentlich machen nicht schlimm. kann. Ich erinnere daran, dass wir bei der Gesundheitsre- form ein ähnliches Problem mit der ärztlichen Versor- Auf der anderen Seite müssen wir aber sehen, wie gut gung in der Fläche hatten. Wir haben versucht, dies wir heute mit dem Versuch der Deutschen Post AG zu- – auch auf finanzielle Art und Weise – auszugleichen. rechtkommen, Post Points aufzubauen, und wie erfolg- Wir müssen uns also überlegen, ob es in Zukunft mög- reich diese Stellen heute sind – zugegebenermaßen mit lich sein muss, denjenigen, der in der Fläche das „Pro- einem heruntergefahrenen Angebot. Wenn ich bei mir zu gramm Post“ anbieten soll, in einem Schönheitswettbe- Hause schaue, muss ich sagen: Das funktioniert – ein werb auszusuchen. Die Anbieter würden dann also einen kleiner Zeitungsladen mitten in einer kleinen Gemeinde, Vorschlag vorlegen, wie sie ihr Angebot gestalten wol- dabei ein kleines Café, ein kleiner Shop, len, und nachdem ein Anbieter ausgewählt worden ist, (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Mit kleinen Löh- würde man darüber sprechen, was man bereit ist zu zah- nen!) len – nicht umgekehrt. mit vielen Kunden. Das ist sehr erfolgreich und deckt zu Im Richtlinienvorschlag der Europäischen Union ist 95 Prozent das ab, was die Menschen brauchen, nämlich noch eine ganze Reihe von Punkten enthalten, die wir einfache Postdienstleistungen: Briefmarken kaufen, unterstreichen können. Die vollständige Öffnung wird Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7645

Alexander Dobrindt (A) eine größere Attraktivität für neue Produkte und zukünf- gelegt, die die völlige Marktöffnung der Postdienste (C) tige Investitionen bringen, das können wir unterschrei- bis 2009 vorsieht. Dazu gehört, dass 90 Prozent der ben. Wir glauben auch stark daran, dass zukünftig neue Briefsendungen nicht mehr für die nationalen Post- Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen werden. In der dienste reserviert werden sollen. Tat ist bei den alternativen Wettbewerbern der Anteil von Mitarbeitern am Umsatz an Postdienstleistungen in Wirtschaftsminister Glos will dieses Projekt mit Ihrer Deutschland höher als heute bei der Post AG. Von daher Unterstützung auch gegen den Widerstand vieler Mit- können wir schon davon ausgehen, dass auch dieser gliedstaaten – wie Frankreich – im Rahmen der Ratsprä- Wettbewerb zukünftig mehr Beschäftigungsmöglichkei- sidentschaft vorantreiben. 12 Mitgliedstaaten haben bei ten schafft. Wir begrüßen ausdrücklich noch einmal die der letzten Ratssitzung daran massiv Kritik geübt, vom Öffnung der Postmärkte zum 1. Januar 2009. Widerstand der Gewerkschaften ganz zu schweigen. Allerdings müssen wir auch fragen, was diese Öff- Die flächendeckende Versorgung mit Postdienstleis- nung der Postmärkte in Europa insgesamt zu bedeu- tungen zu angemessenen Preisen ist im Grundgesetz ver- ten hat. Wir haben momentan kein einheitliches Bild und ankert. Schon jetzt ist Deutschland in der Privatisierung leider ist die Befürchtung groß, dass wir dieses einheitli- und Öffnung der Postdienste für den Wettbewerb füh- che Bild auch nicht herstellen können. Es gibt verschie- rend. Der Anspruch des Grundgesetzes soll durch das dene Länder, die ihre Märkte inzwischen geöffnet und Postgesetz, die Universaldienstleistungsrichtlinie sowie den Wettbewerb in ihrem Land vollständig zugelassen die Selbstverpflichtung der Post AG erfüllt werden. Die haben. Es gibt in Europa eine Reihe von Ländern, die Zahl der Briefkästen, Erreichbarkeit von Filialen, Anfor- auf dem gleichen Stand wie wir sind, nämlich kurz da- derungen an die Leerung und Zustellung sowie ange- vor, zum 1. Januar 2008 eine vollständige Liberalisie- messene Beschäftigungsbedingungen sind dort festge- rung einzuführen. Es gibt aber auch Länder, die deutlich schrieben. gemacht haben, dass sie mit einer kompletten Liberali- sierung zum 1. Januar 2009 oder im Jahr 2009 nicht zu- Kollege Zeil, schon unter diesen Bedingungen sind rechtkommen und diese Liberalisierung auch nicht ein- die Folgen dieser Öffnung – eben nicht die Vorausset- führen wollen. zungen, sondern die Folgen dieser Öffnung – verhee- rend. EU-weit weist Deutschland die viertgrößte Rate An dieser Stelle müssen wir sagen: Es ist uns ein beim Abbau von Filialen auf; die Brieflaufzeiten haben Anliegen – deshalb fordern wir an dieser Stelle die Bun- sich verschlechtert; bei der Post AG haben über 30 000 desregierung auch auf, dafür zu sorgen –, dass, wenn Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verloren. Stattdessen Liberalisierung in Europa im Bereich der Postdienstleis- blühten Subunternehmen und Post-Shops mit zum Teil tungen stattfindet, sie möglichst in allen Ländern und sittenwidrigen Arbeitsbedingungen – wie unter anderem (B) (D) Märkten stattfindet und nicht nur in einem Teil davon, in Bayern mit 4 Euro die Stunde – auf. Ungefähr 13 000 Herr Zeil, nicht nur in 60 Prozent, wie Sie es ausgeführt Arbeitsplätze wurden im Saldo im Briefbereich vernich- haben. Wir wollen die Liberalisierung vielmehr in tet. 100 Prozent der Länder. Sie muss nicht überall zum glei- chen Zeitpunkt, zum 1. Januar 2008, einsetzen. Aber es Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktion, muss sichergestellt werden, dass zumindest ein bis zwei auf welcher Grundlage behaupten Sie dann, Liberalisie- Jahre später alle auf dem gleichen Stand sind, also alle rung sei ein Jobmotor? Mit Ihren Vorhaben wären wei- Wettbewerber und alle Kunden in Europa die gleichen tere Verschlechterungen auf der Tagesordnung. Herr Chancen haben. Zumwinkel hat für diesen Fall bereits den Abbau weite- rer 32 000 Stellen angekündigt. Ich glaube, nur dann ist dieser Vorschlag für uns zu- stimmungsfähig. In diesem Sinne wünschen wir der Kollege Barthel, auch Sie wissen, die Gewährleistung Bundesregierung viel Erfolg mit ihrer Position und mit der Versorgung auf der Grundlage der Universaldienst- unserer Position, in den nächsten Monaten Verhand- leistungsrichtlinie selbst wird gefährdet. Sie wird bisher lungsergebnisse zu erreichen, die es möglich machen, durch die Gewinne aus der Exklusivlizenz finanziert. dass auch die Länder, die sich momentan noch wehren, Kollege Zeil, das ist nicht das größte Wettbewerbshin- mit dabei sind und der Liberalisierung des Postmarktes dernis, sondern der Garant für die Erfüllung der verfas- in Europa zustimmen. sungsgemäßen Ansprüche an eine flächendeckende Ver- sorgung mit Postdienstleistungen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Martin Zeil [FDP]: Also hat die Monopolkommis- sion Ihrer Meinung nach Unrecht?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Kommission schlägt unter anderem vor, der Staat Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer, könne neben dem Fonds Beihilfen leisten. Die Kosten Fraktion Die Linke. soll dann der Steuerzahler tragen. Derzeit werden die (Beifall bei der LINKEN) Gewinne der Post noch mit herangezogen. Diese Soziali- sierung der Kosten und Privatisierung der Gewinne auf- seiten der Aktionäre der Post AG lehnen wir allerdings Ulla Lötzer (DIE LINKE): entschieden ab. Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die EU-Kommission hat neben der FDP eine Richtlinie vor- (Beifall bei der LINKEN) 7646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Ulla Lötzer (A) Tatsächlich würden dadurch die Universaldienstver- nerseits sind die Erfolge unübersehbar. Die Post hat ei- (C) pflichtung selbst und damit auch die Postkunden und nen enormen Modernisierungsschub hinter sich. die Beschäftigten auf der Strecke bleiben. Noch längere Aber schauen wir uns in Stadt und Land um: Postfi- Schlangen vor den Postschaltern, Filialsterben, das Ab- lialen werden outgesourcet; gerade läuft wieder eine sol- hängen von Briefkästen und weitere Dumpingbedingun- che Umwandlungswelle. Es wechseln die Orte und die gen für die Beschäftigten in ganz Europa wären die Fol- Betreiber der Agenturen. Die meisten Agenturen gibt es gen. sowieso nur noch deswegen, weil gesetzliche Regelun- Statt europaweiter Liberalisierung brauchen wir auch gen das erzwingen, aber nicht deswegen, weil der Markt in diesem Bereich einen gesetzlichen Mindestlohn, da- es erfordert. Arbeitsplätze werden abgebaut. Die Zustel- mit auch die Briefträgerinnen und Briefträger der Subun- ler schaffen ihre Arbeit zum Teil nicht mehr. Betriebli- ternehmen von ihrer Arbeit leben können. Wir brauchen che Konflikte, wie sie in den letzten Tagen zum Thema schärfere Kontrollen der Beschäftigungsbedingungen Arbeitszeit stattgefunden haben, spitzen sich zu. durch die Bundesnetzagentur, damit die Ansprüche, die Außerhalb der Post AG machen die Wettbewerber im Postgesetz formuliert sind, auch eingehalten werden. Negativschlagzeilen mit Billigjobs bis hin zu zugegebe- Die flächendeckende Versorgung mit qualitativ hoch- nermaßen legaler Kinderarbeit. Da werden Arbeitneh- wertigen Postdienstleistungen auf europäischer und na- merrechte unterlaufen und Betriebsratswahlen verhin- tionaler Ebene muss weiterhin durch die Gewinne aus dert, da gibt es Stundenlöhne zwischen 3 und 5,60 Euro, dem Briefmonopol finanziert werden. und da herrschen tariflose Zustände. Die Regierung verlässt durch ihr Vorhaben den Boden (Martin Zeil [FDP]: Das alles hat aber nichts der Verfassung. Kehren Sie auf den Boden der Verfas- mit der Liberalisierung zu tun!) sung zurück! Sie sollten unseren Antrag unterstützen. Damit hätten Sie einen entscheidenden Schritt in diese Rund zwei Drittel der von Ihnen gerade gefeierten Richtung getan. 42 000 Arbeitsplätze bei den Wettbewerbern sind Mini- und Midijobs. Nur 20 Prozent dieser Jobs sind Vollzeit- Vielen Dank. stellen. Herr Zeil, selbst viele dieser Vollbeschäftigten (Beifall bei der LINKEN) müssen zusätzlich ergänzende Leistungen in Form von Arbeitslosengeld II in Anspruch nehmen, um überleben Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zu können. Wir hören sogar von sogenannten Aufsto- ckern, davon, dass die öffentlichen Kassen systematisch Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel, SPD-Frak- geplündert werden, um Billigjobs für Zusteller zu orga- tion. nisieren. Der Postsektor – das müssen wir hier einmal (B) (D) ganz nüchtern feststellen – ist im Moment dabei, die Klaus Barthel (SPD): größte Niedriglohnbranche in Deutschland zu werden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil alles das mit fairem Wettbewerb nichts zu tun hat, So sicher wie das Amen in der Kirche ist, können wir im geraten die noch vorhandenen annehmbaren Arbeits- Deutschen Bundestag damit rechnen, in sehr kurzen Ab- plätze immer mehr unter Druck. ständen mit Anträgen der FDP nach dem Motto „Weg mit den Monopolen!“ beglückt zu werden. Wenn dann die FDP in ihrem Antrag den Vorstands- vorsitzenden der Deutschen Post AG dafür angreift, dass (Martin Zeil [FDP]: Ja!) er gesetzlich geregelte Mindestlöhne fordert, haben wir Man muss zugeben, dass Ihre Botschaft immer gleich einmal mehr Blau auf Gelb, was die FDP unter Wettbe- lautet: Sie wollen den vollen und freien Wettbewerb, und werb versteht. zwar sofort – übrigens ganz im Unterschied zur Situation (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bei Apotheken, Fachärzten und Privatkrankenkassen. In diesem Antrag, den alle einmal lesen sollten, steht mit (Martin Zeil [FDP]: Was? Da gibt es doch empörtem Unterton, dass Herr Zumwinkel für gesetzli- schon Wettbewerb!) che Mindestlöhne plädiere, um – wörtliches Zitat – „sein Unternehmen vor der Konkurrenz privater Anbieter zu Halten wir fest: Schon jetzt stehen zwei Drittel der schützen“. Die FDP kann sich also offensichtlich nicht Postmärkte in Deutschland voll im Wettbewerb. Erst An- vorstellen, dass bei gleichen, fairen Löhnen Wettbewerb fang vergangenen Jahres sind weitere 7 Prozent des im Postsektor entstehen kann. Wettbewerb kann es aus Marktvolumens zusätzlich in den Wettbewerb gegangen. der Sicht der FDP anscheinend nur durch Lohndumping Wir sind uns darüber einig: Ende dieses Jahres soll der und Sozialdumping geben. Das kann es doch wohl nicht komplette Rest des Marktes in den Wettbewerb gehen. sein, liebe Kolleginnen und Kollegen! So steht es auch im Gesetz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Allerdings – hier fangen die Unterschiede an – sieht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die FDP damit alle Probleme als gelöst an. Aber die Er- fahrungen, die die Menschen mit solchen Liberalisie- Im Verständnis von Wettbewerb unterscheiden wir rungsprozessen in aller Welt gemacht haben, sind uns fundamental. Wohlstandsgewinne und zusätzliche durchaus differenziert und teilweise sogar gegenteilig. Arbeitsplätze wird es, so denken wir, nur bei gesicherten Gerade auf dem Postsektor liegen Licht und Schatten, Arbeitsbedingungen geben. Sonst haben wir einen rei- was die Liberalisierung betrifft, sehr nah beieinander. Ei- nen Verdrängungswettbewerb, kannibalisieren sich Ar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7647

Klaus Barthel (A) beitsplätze im Unternehmen A und Arbeitsplätze im wir uns diese Kommissionsdokumente an: Da gibt es (C) Unternehmen B und machen sich gegenseitig kaputt. den Bericht der Kommission, der eigentlich die Grund- lage für die neue Richtlinie bilden sollte. Vielleicht sollten auch Sie in der FDP sich einmal die gesetzlichen Grundlagen anschauen. Frau Lötzer hat es schon erwähnt: 1997 – da waren Sie noch nicht hier, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Zeil – haben Sie ein Postgesetz mitbeschlossen, in Herr Kollege! dem von sozialen Belangen die Rede ist, in dem steht, dass Kriterium für die Lizenzvergabe ist, dass die we- Klaus Barthel (SPD): sentlichen Arbeitsbedingungen in der Branche eingehal- Dieser Bericht zeichnet sich dadurch aus, dass sein ten werden. Wir Sozialdemokraten sagen: Wenn die völ- wesentlicher Begleittext nur in englischer Sprache vor- lige Marktfreigabe kommt, müssen diese Instrumente liegt; damit geht es schon los. – von massiven und gründlichen Kontrollen durch die Regulierungsbehörde, die Bundesnetzagentur, über tarif- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: liche und gesetzliche Branchenregelungen bis zu einem eventuellen gesetzlichen Mindestlohn – erst recht ge- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der prüft und eingesetzt werden, um die Spirale nach unten Kollegin Kopp? endlich zu stoppen. Das ist eine notwendige Begleitmaß- nahme, wenn eine völlige Marktöffnung am Jahresende Klaus Barthel (SPD): kommt. Aber sicher. Das andere ist die Aufrechterhaltung und Modernisie- rung bzw. Präzisierung des Universaldienstes; dazu hat Gudrun Kopp (FDP): Kollege Dobrindt schon einiges gesagt. Die Bürgerinnen Danke schön, Herr Kollege Barthel. – Habe ich Sie und Bürger betrachten das, was wir in der jetzigen eben richtig verstanden, dass Sie unter Wettbewerb und PUDLV als Universaldienst definiert haben – ebenso Europäischem Binnenmarkt verstehen, dass es europa- wie die Deutsche Post AG in ihrer Selbstverpflichtung –, weit einen Mindestlohn für diejenigen geben soll, die als absolute Untergrenze, als Grenze des Zumutbaren. Postdienstleistungen erbringen, und glauben Sie tatsäch- Wir wollen und dürfen daran keine Abstriche machen, lich, dass das realisiert werden wird und dass dies das egal ob es um Filialen geht oder um Briefkästen, um die Anliegen der EU ist? Zustellungsqualität oder um den Umfang der Leistun- gen. Klaus Barthel (SPD): (B) Davon habe ich nicht gesprochen. Die Regelung der (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Arbeitsbedingungen liegt in der nationalen Zuständig- Wir werden uns noch den Kopf darüber zerbrechen müs- keit. Wir wollen nur sicherstellen, dass uns durch einen sen, wie wir das finanzieren; denn wir glauben nicht da- fairen Wettbewerb erlaubt wird, solche Mindestregelun- ran, dass das einfach so, im Selbstlauf, passieren wird. gen in Deutschland festzulegen, und dass sie nicht durch ungleiche Wettbewerbschancen auf dem europäischen Wichtig ist aber auch, dass wir faire Wettbewerbsbe- Markt ausgehöhlt werden. Bei diesem Punkt in dem dingungen haben, im Inland wie im Ausland. So, wie es Bericht der EU-Kommission, in dem sie sehr ober- keine Wettbewerbsverzerrungen durch Lohn- und So- flächlich darüber hinweggeht, bin ich gerade. zialdumping geben darf, darf es auch keine unterschied- lichen Regelungen in Europa geben. Wir haben immer In ihm werden nämlich nur sehr formale und globale gesagt, wir brauchen die Harmonisierung der bisher nati- Angaben über diese Wettbewerbssituation gemacht. Auf onalen Postmärkte zu einem europäischen Postbinnen- ganzen vier von 55 Seiten wird die Situation der Men- markt; so lautet die Lissabonstrategie. Wie wir heute schen – ob es Postkunden oder Beschäftigte der Post schon gehört haben, liegt Deutschland mit einigen klei- sind – in diesem gemeinsamen Markt beschrieben. Über nen Staaten am Rande Europas, in denen sich kein ernst- ihre Situation wird hinweggegangen. Es fehlt die Ana- hafter Wettbewerb abspielen wird – was in Skandinavien lyse des Marktes und der Marktzutrittsbedingungen, die auch schwierig ist, ebenso in Großbritannien –, bei der Grundlagen für einen fairen Wettbewerb sind. Daneben Marktöffnung an der Spitze. Doch es darf nicht sein, fehlen auch Angaben über die flächendeckende postali- dass in einigen Ländern der Markt geöffnet ist und Wett- sche Infrastruktur und über die tatsächlichen Verhält- bewerber aus ganz Europa dort agieren dürfen, während nisse auf den Postarbeitsmärkten. In diesem Bericht in anderen Ländern Wettbewerber auf ihren Heimat- zählt der 400-Euro-Job zum Beispiel genauso viel wie märkten keine Konkurrenz zu fürchten brauchen. Des- ein anständig bezahlter Vollzeitarbeitsplatz. Es fehlen wegen müssen wir einen Blick auf das werfen, was die auch jegliche Angaben über die Zufriedenheit der Kun- EU-Kommission in ihrem Bericht und in ihrer Prospek- den, über die Qualität der Leistungen und über Preisrela- tivstudie dazu schreibt – es lohnt sich, einen Blick dort- tionen. hinein zu werfen –: Vorgesehen sind ein einheitliches Datum, wann die Monopole auslaufen, und Spielräume Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bei der Gestaltung des „Universaldienstes“ sowie bei der Herr Kollege, ich gehe davon aus, dass die Frage be- Finanzierung. So weit, so gut. Aber damit ist es nicht ge- antwortet ist und dass die Kollegin Kopp sich setzen und tan, wir können uns nicht einfach zurücklehnen. Schauen ich die Redezeit weiterlaufen lassen kann. 7648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Klaus Barthel (SPD): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Dann müssen wir das leider so tun, Frau Kopp. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte sehr um Verständnis: Wir haben gerade erfahren, dass der öffent- Es gibt aber einen wichtigen Zusammenhang zwi- liche Personennahverkehr in Berlin um 20 Uhr einge- schen den Arbeitsbedingungen und einem fairen Wettbe- stellt wird. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen etwas werb in Europa. Ein Brief ist ein Brief, egal ob er einen um Disziplin und darum, ihre Redezeit einzuhalten, da- Tag oder drei Tage unterwegs ist. 1 Euro ist 1 Euro, un- mit unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – es geht abhängig davon, wie die Einkommenssituation in den je- nicht um uns – die Chance haben, noch nach Hause zu weiligen Ländern aussieht. Das ist also kein Bericht, kommen. sondern ein oberflächlicher und beschönigender Über- blick. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae.

Daneben gibt es noch die Prospektivstudie, die be- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sonders interessant ist, weil sie sich auf ein Gutachten Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und stützt, das die Kommission in Auftrag gegeben hat. In Herren! Wenn wir über die Liberalisierung und Privati- diesem Gutachten stehen zum Beispiel ausdrücklich die sierung in diesem Bereich reden, sollten wir uns zwei Probleme, die es mit der Aufrechterhaltung des Univer- Punkte anschauen, zum einen die Frage, welche Chan- saldienstes und seiner Finanzierung gibt. Das wird dort cen ein Wettbewerb in diesem Bereich hat, und zum an- problematisiert. Von dieser Problematisierung finden wir deren die Frage der Arbeitsbedingungen der Arbeitneh- in dem zusammenfassenden Dokument der EU-Kom- merinnen und Arbeitnehmer. mission keine Zeile wieder. Darin wird stattdessen da- von ausgegangen, dass sich das alles von selbst regelt. Bündnis 90/Die Grünen begrüßen es durchaus, dass Das heißt, sie haben den Bericht – diese Prospektivstu- die europäische Ebene für Wettbewerb bei netzgebun- die –, den sie selber in Auftrag gegeben haben, offen- denen Infrastrukturen sorgt. Wir haben in der Vergan- sichtlich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder genheit schon im Strombereich, im Telekommunika- wollen das nicht tun. tionsbereich und teilweise auch im Postbereich gesehen, dass es durch den Wettbewerb deutliche Fortschritte vor Vor dem Hintergrund dessen, was uns die Kommis- allem für die Verbraucherinnen und Verbraucher gege- sion vorlegt, darf man sich manchmal nicht mehr wun- ben hat. dern, dass die Menschen Probleme mit dem europäi- schen Projekt haben. Deswegen werden wir in der Die geltende Postrichtlinie läuft 2008 aus. Dann wird lediglich das europäische Wettbewerbsrecht gelten. Da- (B) Koalition gemeinsam daran arbeiten – damit komme ich (D) her ist es gut, dass die Kommission einen Vorschlag vor- zum Schluss –, dass der europäische Liberalisierungs- gelegt hat, der als Entscheidungsgrundlage für die Vor- prozess fair gestaltet wird, dass der flächendeckende bereitung des Postmarktes dient. Universaldienst mindestens auf dem jetzigen Niveau ge- halten wird und dass der Postsektor eine Branche wird, Es gibt nach wie vor eine Reihe von Mitgliedstaaten, in der gute Arbeitsbedingungen die Grundlage für gute die bei der Post Monopolbereiche zur Finanzierung der Leistungen sind. Wir werden es bei diesem konkreten Universaldienste zulassen. Deutschland gehört dazu; Beispiel nicht zulassen, dass das europäische Sozialmo- andere Staaten haben bereits privatisiert. Nach dem dell und die Priorität für Arbeitsplätze in Sonntagsreden Postgesetz wird in Deutschland der Postmarkt zum beschworen werden, während in den konkreten Einzel- Januar 2008 vollständig liberalisiert. Wir begrüßen, dass bereichen, in denen wir das umsetzen wollen, davon die Bundesregierung an diesem Termin festhält und er- nicht mehr die Rede ist, sondern dass man dort in der klärt, dass das unabhängig davon geschieht, ob andere keimfreien und abstrakten Welt der Marktmodelle Staaten Wettbewerb einführen. schwebt. Im Übrigen halten wir überhaupt nichts davon, wenn in Deutschland einzelnen Unternehmen Wettbewerbs- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vorteile im Heimatmarkt gewährt werden, damit sie mit Herr Kollege, Sie wollten zum Schluss kommen. den so erzielten Monopolrenditen globale Unternehmen aufbauen können. Das ist heute der Fall.

Klaus Barthel (SPD): (Beifall des Abg. Martin Zeil [FDP]) Deswegen hat die SPD-Bundestagsfraktion in der Das nützt auch den Unternehmen nicht; denn die not- letzten Woche, als wir in Brüssel waren, beschlossen, wendigen Innovationen werden dadurch behindert. Inso- dass wir all die Projekte, die in Europa laufen, einer So- fern darf aus unserer Sicht dem Drängen der Deutschen zialverträglichkeitsprüfung unterziehen. Diese Sozial- Post AG, das Monopol bei den Standardbriefen zu ver- verträglichkeitsprüfung haben die neue Postdienstrichtli- längern, nicht nachgegeben werden. Das Beispiel Tele- nie und erst recht der Antrag der FDP noch nicht kommunikation hat gezeigt, wie Wettbewerb zu sinken- bestanden. den Preisen und teilweise auch besserem Service führen kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Martin Zeil [FDP]: Genau so ist es!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7649

Kerstin Andreae (A) Es ist aber natürlich notwendig, dass man sich die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) Arbeitsbedingungen anschaut. Man kann nicht einfach Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre davon ausgehen, dass im Falle des Wettbewerbs die keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer gleich bleiben oder gar besser werden. Insofern Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- ist es durchaus richtig und begrüßenswert, dass die gin Ingrid Arndt-Brauer, SPD-Fraktion. Richtlinie nicht zu sehr in die Gestaltung der Universal- dienstverpflichtung der Mitgliedstaaten eingreift und Ingrid Arndt-Brauer (SPD): dass die Mitgliedstaaten durchaus Handlungsmöglich- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- keiten haben. Diese müssen sie aber auch nutzen. nen und Kollegen! Aufgrund meines starken Hustens möchte ich meine Rede zu Protokoll geben und Sie bit- Ebenso ist aus unserer Sicht erforderlich, dass die ten, meine wegweisenden Gedanken morgen im Proto- durchaus vorhandenen Möglichkeiten des deutschen koll nachzulesen. Ich bitte dafür um Verständnis.1) Postgesetzes, Einfluss auf die Arbeitsbedingungen der neuen Wettbewerber und auch auf die tarifliche Gestal- Danke. tung zu nehmen – durch Vergabe von Lizenzen oder auch durch Verweigerung oder Nichtverlängerung bzw. (Beifall im ganzen Hause) sogar Zurücknahme von Lizenzen –, genutzt werden. Dass das tatsächlich geschieht, halten wir für außeror- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dentlich erforderlich. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing, FDP-Fraktion. In der gestrigen Sitzung des Wirtschaftsausschussses, bei der ich nicht anwesend war, ging es um einen Ent- schließungsantrag. In diesem steht am Schluss ein Satz, Dr. Volker Wissing (FDP): den ich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! klar unterstützen möchte: Soziale Belange, insbesondere Es ist überfällig, dass die Bundesregierung etwas gegen hinsichtlich der Sicherung angemessener Arbeitsbedin- die Belastung durch Rußpartikel unternimmt. Die FDP gungen, müssen eingehalten werden. – Dazu braucht es begrüßt das ausdrücklich und unterstützt die Bundesre- aber aus unserer Sicht kein Monopol. Man kann durch- gierung bei der Erreichung dieses Ziels. Bemerkenswert aus die Vorteile des Wettbewerbs auf dem Markt für die ist allerdings wieder einmal der Weg, der hier beschritten Verbraucherinnen und Verbraucher nutzen, sollte aber wird. Noch vor wenigen Wochen hieß es aus Kreisen der die Möglichkeiten, die das Postgesetz bietet, nicht aus Koalition, jetzt sei Schluss mit Steuererhöhungen, das den Augen verlieren, vor allem die eigenen Ansprüche Maß des Zumutbaren sei erreicht. Was liegt uns aber (B) (D) im Hinblick auf Arbeitsbedingungen und auch auf bran- vor? Wieder eine Steuermehrbelastung. chenabhängige Mindestlöhne, die hier durchaus ange- bracht wären; es sind ja Beispiele genannt worden. Aus Das ist aber nicht das einzige Problem des Gesetzent- unserer Sicht ist es so nicht akzeptabel. wurfes. Er widerspricht auch voll und ganz dem Ziel ei- ner Vereinfachung unseres Steuerrechts. Mit dieser Position werden wir in die Debatte gehen und hoffen, dass sich hier etwas bewegt. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank. Egal was CDU/CSU und SPD anpacken, zwei Eck- punkte stehen bei ihren Gesetzentwürfen immer schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fest: Erstens. Die Bürgerinnen und Bürger werden zur Kasse gebeten. Zweitens. Die Gesetze werden immer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: komplizierter. Ich schließe die Aussprache. Die Bundesregierung rechnet bei diesem Gesetzent- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf wurf bis 2010 mit Mehrbelastungen von 55 Millionen den Drucksachen 16/3623 und 16/4044 an die in der Ta- Euro. Ursprünglich hieß es einmal, dass sich die Kosten gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. der Steuerbefreiung und die Einnahmen aus der Steuer- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann erhöhung die Waage halten sollten. „Die Waage halten“ ist die Überweisung so beschlossen. heißt für mich aber plus/minus null und nicht 55 Millionen Euro mehr im Staatssäckel. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: (Beifall bei der FDP) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Die Politik von Schwarz-Rot ist nichts anderes als der Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes permanente Griff in die Taschen der Bürgerinnen und Bürger. Ihre Finanzpolitik ist ein Synonym für höhere – Drucksache 16/4010 – Steuern geworden. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) (Gabriele Frechen [SPD]: Sie wissen, dass das Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Unfug ist, was Sie erzählen!) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO 1) Anlage 2 7650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Dr. Volker Wissing (A) – Und Sie wissen, Frau Kollegin Frechen, dass es ge- ein komplizierteres Steuerrecht entschieden. Wir meinen (C) nauso ist, wie ich es sage. Das können Sie in der Begrün- aber, dass wir die von der Bundesregierung vorgeschla- dung zu dem Gesetzentwurf nachlesen. gene Lösung sorgfältig beraten müssen. (Gabriele Frechen [SPD]: Lesen Sie das ein- Wir müssen im Rahmen der Beratungen ausloten, ob fach durch! Sie haben heute Abend Zeit da- es Alternativen zu Ihren Vorschlägen gibt. Denn der für!) schnelle Weg von Schwarz-Rot in Form von Mehrein- nahmen für die Staatskasse und eines komplizierten Das Ziel dieses Gesetzes ist gut, der Weg ist aber Steuerrechts – dies ist eine schöne Düngung des Steuer- höchst fragwürdig. Der Förderwildwuchs im Kraftfahr- dschungels – kann keine Antwort auf ein solches Pro- zeugsteuergesetz ist inzwischen zu einem Problem ge- blem sein. Wir werden uns konstruktiv an diesen Bera- worden. Es ist hier ein echter Paragrafendschungel ent- tungen beteiligen. standen. Der Gesetzentwurf, den Sie uns vorlegen, führt weiter ins Dickicht hinein. Das Kraftfahrzeugsteuerge- (Beifall bei der FDP – Winfried Hermann setz – das sollte uns allen klar sein – soll vor allem die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Rede Besteuerung von Kraftfahrzeugen regeln. Es ist nicht in zu diesem Thema ist nicht zu fassen!) erster Linie ein Umweltgesetz. Man kann über Steuern durchaus bestimmte politi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sche Ziele verfolgen. Aber das darf nicht dazu führen, Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips, CDU/CSU- dass die Steuergesetzgebung so verkompliziert wird, Fraktion. dass am Ende kein Mensch mehr weiß, warum er wie (Beifall bei der CDU/CSU) viel bezahlt. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Patricia Lips (CDU/CSU): Transparenz und Verständlichkeit der Steuergesetzge- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine bung sind eine ganz wesentliche Voraussetzung für die sehr geehrten Damen und Herren! Herr Wissing, ich Akzeptanz unseres Steuerrechts. Es sind dieselben Kol- werde mir im Laufe meiner Rede die Freiheit nehmen, leginnen und Kollegen, die hier einer Verkomplizierung das eine oder andere Mal auf Ihre Ausführungen zurück- nach der anderen zustimmen und die dann verzweifelt zukommen. mit dem Kopf nicken, wenn man sie daran erinnert, dass Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes der Bun- unser Steuerrecht von Monat zu Monat unverständlicher desregierung, die Rußpartikelminderung bei Diesel- wird. Ich frage Sie: Wann wollen Sie denn endlich mit PKWs, ist Bestandteil der Koalitionsvereinbarung und (B) einer Vereinfachung anfangen? Was hat die Bundesre- reiht sich in zahlreiche weitere Diskussionen zu ähnli- (D) gierung bisher zur Vereinfachung unseres Steuerrechts chen Themen an anderer Stelle – dies gilt sowohl für die und zum Bürokratieabbau beigetragen? bundespolitische wie auch, zumeist flankiert, die europäi- (Beifall bei der FDP – Winfried Hermann sche Ebene – ein. Zum Inhalt ist zu sagen – lassen Sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon einmal mich das einfach formulieren; das hat bei Ihnen, Kollege was von Feinstaub gehört?) Wissing, etwas gefehlt –: Es sollen befristet steuerliche Förderungen gewährt werden, wenn entsprechende Sie legen uns ein Steuergesetz nach dem anderen vor, Fahrzeuge durch den Einbau eines Rußpartikelfilters verabschieden das Bürokratiemonster Antidiskriminie- aus- bzw. nachgerüstet wurden und werden. Gleichzeitig rungsgesetz und planen den Einstieg in die Gesundheits- sollen jedoch diejenigen, welche auch künftig eine ent- bürokratie. Aber die Bemühungen um den Bürokratieab- sprechende Norm nicht einhalten, innerhalb einer befris- bau bleiben vollständig auf der Strecke. teten Zeit einen Zuschlag zahlen. In diesem Hohen Haus fordern alle weniger Bürokra- Die vorgesehenen Maßnahmen beinhalten damit fol- tie. Aber immer wenn es konkret wird, entscheiden sich gende Komponenten: erstens den Umweltaspekt, wel- CDU/CSU und SPD für kompliziertere Gesetze. Klare, cher dem Ganzen sicherlich als ein Signal und Ziel zu- einfache und verständliche Steuergesetze sind kein grunde liegt, zweitens den steuerlichen und gleichzeitig Selbstzweck. Sie schaffen Rechtssicherheit und fördern finanziellen Aspekt, der unter den Stichworten „Len- das Vertrauen der Menschen in die Politik. Nicht für je- kungswirkung“ auf der einen und „haushaltspolitische des komplizierte Problem gibt es eine einfache Lösung. Verantwortung“ auf der anderen Seite zum Ausdruck Aber man braucht auch nicht für jedes einfache Problem kommt, und drittens den wirtschaftlichen Effekt, näm- eine komplizierte Lösung. lich eine Beschleunigung der Techniken sowie die Ent- wicklung und Produktion von Nachrüstsystemen. Dies Die FDP unterstützt die Bemühungen der Bundesre- ist ein Effekt, der zahlreiche Betriebe insbesondere im gierung, die Partikelbelastung zu reduzieren. Wir unter- mittelständischen Bereich in unserem Land unterstützen stützen aber nicht die Bemühungen der Bundesregie- soll. rung, dem Staat, wie es auch bei diesem Gesetz der Fall ist, Mehreinnahmen zu verschaffen und wieder einmal (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) das Steuerrecht zu verkomplizieren. Dies möchten wir an dieser Stelle unterstreichen. Hier Wir haben heute die erste Beratung des Gesetzent- erkennen wir getätigte Investitionen und Vertrauens- wurfs. Frau Kollegin Frechen hat sich bereits wieder für schutz in geplante gesetzgeberische Maßnahmen unein- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7651

Patricia Lips (A) geschränkt an. Ich hätte mich gefreut, wenn auch die rung erfolgen, wenn auch nicht in voller Höhe. Denn (C) FDP, die sich den Stiefel der Wirtschaftspolitik gerne an- selbst wenn ein Beschluss auf Bundesebene erfolgt – wir zieht, ein paar Worte dazu verloren hätte. freuen uns über die Gelegenheit, heute in einem geord- neten Verfahren darüber diskutieren zu können –, wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den die finanziellen Auswirkungen in erster Linie die Der Grundgedanke, also die umweltpolitische Kom- Länderhaushalte betreffen. ponente, ist nach unserer Auffassung eigentlich unstrei- Es soll nicht verschwiegen werden – das war auch tig; das hatten Sie bestätigt. Ein Anreiz zur Umrüstung kurz vor der Weihnachtspause den Medien zu entneh- sowie die damit verbundene Förderung der Partikelfilter- men –, dass im ursprünglichen Entwurf, der im Novem- technik soll ganz gezielt einen weiteren Beitrag zum ber vorgelegt wurde, die Regelungen sehr kurzfristig Schutz des Menschen und der Umwelt leisten. Den Be- – sprich: binnen Jahresfrist – in Kraft gesetzt werden griff „Feinstaub“ kannten bis vor wenigen Jahren nicht sollten, um zu einer möglichst zeitnahen Deckung von viele. Heute ist er weiten Teilen der Bevölkerung in der Mindereinnahmen zu kommen. Wir begrüßen es deshalb Tat ein Begriff. Eine Reduzierung von Partikelemissio- ausdrücklich, dass es doch noch möglich wurde, in ei- nen soll nun durch eine weitere Maßnahme unterstützt nem nachträglichen Kompromiss mit den Ländern eine werden. vertretbare Verschiebung des Malus – sprich: der steu- Dabei erkennen wir natürlich an, dass viele Fahrzeug- erlichen Mehrbelastung der betroffenen Halter – im Hin- halter bereits in der Vergangenheit diesem Aspekt beim blick auf die Chance, die steuerliche Förderung zu nut- Fahrzeugkauf sowie bei Nachrüstungen besondere Be- zen, zu erreichen. Uns war es wichtig, die rechtzeitige deutung beigemessen haben. Wünschenswerterweise Kenntnisnahme der steuerlichen Förderung in der Bevöl- sollen es natürlich sehr viel mehr werden. Diesen Vor- kerung zu gewährleisten, um doch noch die realistische gang wollen wir beschleunigen. Möglichkeit einer Umrüstung einzuräumen. Ich möchte bereits an dieser Stelle daran erinnern, Der Gesetzentwurf hatte eine lange Vorlaufzeit in der dass vonseiten des Europäischen Parlamentes aktuell Ressortabstimmung bei Bund und Ländern. Es war für neue Abgasnormen auf den Weg gebracht werden, de- uns dennoch von Bedeutung, dass trotz der Wichtigkeit ren Einhaltung in wenigen Jahren verbindlich werden und Dringlichkeit der Thematik und neben den genann- soll. Diese Vorgaben werden aller Voraussicht nach da- ten Sachpunkten nun auch die Fraktionen des Deutschen rauf abzielen, dass der Einbau eines Partikelfilters erfor- Bundestages eine angemessene zeitliche Beteiligung er- derlich sein wird, um diese Vorgaben dann einzuhalten. fahren, wie es zurzeit geschieht. Den Mitgliedstaaten soll in der kommenden Zeit jedoch Abweichend vom üblichen Verfahren haben wir je- (B) die Möglichkeit gegeben werden, die Einführung um- (D) weltfreundlicher Fahrzeuge steuerlich zu fördern. An doch bereits gestern im Finanzausschuss – also noch diesem Punkt stehen wir heute. Herr Wissing, wir stehen vor der heutigen ersten Beratung im Plenum – über den dafür, die für die betroffenen Halter in unserem Land be- Gesetzentwurf diskutiert. Damit wird deutlich, dass auch stehenden Chancen zu nutzen. uns an einer zeitnahen Umsetzung gelegen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Dem Gesetzentwurf liegt – ich deutete es bereits an – Dies soll uns auch in den weiteren Beratungen begleiten. eine sogenannte kombinierte Bonus-Malus-Regelung Wir gehen davon aus, dass uns das gelingt, zumal die In- zugrunde. Was bedeutet dies? tention des Gesetzes unstreitig sein dürfte. Erstens. Die CDU/CSU möchte an dieser Stelle eben Lassen Sie mich abschließend Frau Arndt-Brauer und gerade nicht einzig mit Verschärfungen und Verboten ein dem Rest der SPD-Fraktion, von der zum Schluss fast gewünschtes und durchaus auch erforderliches Verhalten alle gehustet haben, noch gute Besserung wünschen. erzwingen. Vielmehr soll die Verantwortung der Betrof- Vielen Dank. fenen für sich und andere durch finanzielle Anreize ver- stärkt werden, indem die volle Kostenbelastung einer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zu- solchen Maßnahme nicht allein beim Halter zum Tragen rufe von der SPD: Danke!) kommt. Herr Wissing, das bedeutet erst einmal Steuer- mindereinnahmen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zweitens ist es aber auch zielführend, durch einen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit dem entsprechenden Steuerzuschlag auf weiterhin ungemin- Stenografischen Dienst vereinbart, dass für alle Kolle- derten Schadstoffausstoß ein „Umrüstbewusstsein“ zu ginnen und Kollegen, die keine schriftliche Fassung ih- verstärken. Anders ausgedrückt: Der Zuschlag soll eine rer Rede haben, aber ihre Rede wegen der Wetterlage Lenkungsfunktion erfüllen und ebenfalls zur Nachrüs- dankenswerterweise zu Protokoll geben, morgen um tung oder zum Kauf von moderner, umweltschonender 11 Uhr Abgabeschluss ist. Technik motivieren. Andernfalls muss bezahlt werden. Nächster Redner ist der Kollege Lutz Heilmann, Drittens – das sage ich ausdrücklich in aller Offenheit Fraktion Die Linke. und in unserer Verantwortung für die Haushalte – soll durch die Bonus-Malus-Regelung eine Gegenfinanzie- (Beifall bei der LINKEN) 7652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Lutz Heilmann (DIE LINKE): verdienende machen? Ich glaube, dass uns das nicht zu- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! steht. Hohe Umweltstandards sollten für alle zugänglich Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf sein, egal ob Manager, Studentin und Student oder Rent- zur steuerlichen Förderung von Dieselrußfiltern. Fünf nerin und Rentner. Auch Arbeitslose haben Anspruch Jahre ging die Debatte zwischen Bund und Ländern hin darauf; das möchte ich Ihnen deutlich sagen. und her, oder besser gesagt: Fünf Jahre hat es die deut- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sche Autoindustrie verstanden, dieses Gesetz zu verhin- dern. Die Linke fordert daher eine gestaffelte steuerliche Förderung mit dem Ziel, die geschlossenen Systeme Mehrere Tausende Menschen in Deutschland sterben deutlich mehr zu fördern. Das kann man aufgrund der jährlich an den Folgen der Feinstaubbelastung, bei- Filterkategorien machen, indem man geschlossene Fil- spielsweise an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die durch tersysteme doppelt so stark fördert wie offene, oder man Feinstaub hervorgerufen werden. Der Straßenverkehr ist richtet die Förderung anhand eines Grenzwertes aus. Das eine wesentliche Quelle für Feinstaub. Dieselruß enthält heißt, wer zum Beispiel den Feinstaubgrenzwert PM 4 die besonders schädlichen Klein- und Kleinstpartikel. einhält, bekommt 660 Euro. Wer PM 1 bis PM 3 einhält, Manche behaupten, dass der Straßenverkehr nicht das bekommt entsprechend weniger. Hauptproblem sei. Ich meine aber, dass alle Möglichkei- ten genutzt werden müssen, um die Gesundheit der Men- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schen zu schützen. Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. Mit dem Inkrafttreten der sogenannten Plakettenver- ordnung am 1. März dieses Jahres werden insbesondere Lutz Heilmann (DIE LINKE): in Großstädten Umweltzonen eingerichtet. Fahrzeuge Das sind meine letzten beiden Sätze, Frau Präsiden- mit schlechten Abgaswerten dürfen dann diese Zonen tin. – Die Linke begrüßt, dass es endlich eine steuerliche nicht mehr befahren. Förderung für die Nachrüstung mit Dieselrußfiltern gibt. Aber es zeigt sich auch anhand dieses Gesetzes wieder, Im Grundsatz stimme ich dieser Regelung völlig zu. dass große Koalitionen nicht unbedingt zu großen Geset- Ziel von Umweltzonen ist es aber nicht, die Menschen zen führen. Die fünf Jahre Diskussion haben gezeigt, aus den Städten zu vertreiben, sondern die Emissionen dass mit diesem Gesetz nur wenigen wehgetan, aber den – insbesondere von Feinstaub – zu verringern. Deshalb Betroffenen in den Städten auch nicht wirklich geholfen müssen wir den Menschen die Möglichkeit bieten, die wird. für die Umweltzonen geltenden Werte einzuhalten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (B) (D) Welche Alternativen gibt es denn? Die erste und ein- (Beifall bei der LINKEN) fachste Alternative ist: Man geht um die Ecke zum nächsten Autohändler und kauft sich ein neues Auto. Für viele ist das dank der Politik und insbesondere der Steu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: erpolitik der Großen Koalition kaum noch realisierbar. Das Wort hat der Kollege Winfried Hermann, Bünd- Deshalb ist die zweite Variante, die Autos entsprechend nis 90/Die Grünen. umzurüsten, für mich nachhaltiger. Dies sollten wir steu- erlich fördern. Die Förderung sollte so ausgestaltet sein, Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass die Umrüstung so schnell wie möglich erfolgt und Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine dass der Feinstaub so weit wie möglich reduziert wird. Kolleginnen und Kollegen! Wir Grünen begrüßen, dass es endlich ein Gesetz zur steuerlichen Förderung und Nun frage ich mich, ob der von Ihnen vorgelegte Ge- Einführung von Dieselrußfiltern gibt. Es kommt aber setzentwurf diesem gerecht wird. Ich muss sagen: Nein. reichlich spät, eigentlich schon zu spät. Wir haben trotz Warum? Vor diesem Gesetz sind alle Filter gleich. Wie der grundsätzlichen Zustimmung allerhand Kritik am im realen Leben gibt es aber auch bei den Filtern eine Gesetzesverfahren und an der Funktionsweise des Geset- Zweiklassengesellschaft. Es gibt offene Filter, die zu ei- zes. Es ist ein Beispiel für ausgesprochen schlechtes po- ner Reduzierung des Feinstaubes bis zu 50 Prozent füh- litisches Handeln. Es gab über Jahre hinweg ein Ge- ren und ungefähr 600 Euro kosten. Es gibt geschlossene würge, bis eine Lösung zustande gebracht wurde. Ich Filter, die den Feinstaub bis zu 99 Prozent reduzieren will an dieser Stelle ausdrücklich meiner Kollegin Astrid und circa 1 200 Euro kosten. Richtig wäre es, alle Filter Klug, die nun Staatssekretärin beim Bundesumweltmi- zu fördern, da für manche Autotypen geschlossene Fil- nister ist, danken, mit der ich schon vor drei, vier Jahren tersysteme nicht verfügbar sind. Eine geringere Reduzie- begonnen habe, ein solches Gesetz auf den Weg zu brin- rung des Feinstaubes ist allemal besser als gar keine. gen. Aber das von Ihnen angewandte Gleichbehandlungsprin- zip, nach dem alle Filtertypen mit 330 Euro gefördert Ich weiß, wie schwierig es war und welche Wider- werden, ist keine sachgerechte Lösung. Wer mehr tun stände es von allen Seiten gab. Es ist jedenfalls ein Mär- will und sich ein geschlossenes Filtersystem anschafft, chen, dass es alleine die Automobilindustrie war. Es ist wird dadurch nämlich bestraft und muss tiefer in die Ta- sicherlich ein Beispiel für schlechten Lobbyismus der sche greifen. Wer es will, aber nicht kann, weil er das Automobilindustrie. Es ist aber auch ein Beispiel für Geld nicht zur Verfügung hat, wird erst recht gehindert. eine querschießende Landespolitik und die schlechte Wollen Sie tatsächlich eine Umweltpolitik für Besser- Abstimmung innerhalb der Fraktionen. Die Finanzpoliti- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7653

Winfried Hermann (A) ker haben anders gehandelt als die Umweltpolitiker. Das eine schwache Lösung. Wir brauchen aber dringend Lö- (C) ist eigentlich nicht erträglich. Wir sollten es uns nie mehr sungen, weil Sie sehen, dass in allen Ballungsräumen leisten, so viel Zeit zu benötigen, bis in einer solchen Jahr für Jahr inzwischen die Feinstaubgrenzwerte über- wichtigen Frage ein Fördergesetz zustande gebracht ist. schritten werden. Der Kollege von der FDP hat so getan, als gehe es nur (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben gar um eine steuerrechtliche Frage. Das, lieber Kollege, nichts zustande gebracht, als Sie regiert ha- finde ich nun angesichts der Feinstaubproblematik in ben!) Ballungsräumen, worum es eigentlich geht, völlig dane- ben und völlig ignorant. So kann man in keiner Weise an Die strengste und beste Regelung wäre, wenn endlich das Thema herangehen. alle Dieselfahrzeuge mit einem Filter ausgestattet wür- den. Das wäre eine wirkliche Hilfe. Dazu hätte es eines ( [FDP]: Nur so wie Sie!) schärferen Gesetzes und einer größeren Förderung und nicht einer geringeren Förderung bedurft. Ich will Ihnen einmal sagen, was Sie mit Ihrer Argumen- tation ignorieren. Die WHO hat in mehreren seriösen (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben nicht re- Studien nachgewiesen, dass die Feinstaubbelastung giert in den letzten Jahren? Nein, überhaupt rechnerisch zu einer hohen Zahl von vorzeitigen Todes- keine Verantwortung!) fällen führt. Europaweit haben wir bis zu 300 000 Tote pro Jahr. Kollege, das hätten Sie begreifen müssen. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wer bestreitet das Vielen Dank. hier im Haus?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die stehen zunächst einmal nur in der Statistik. Aber sowie bei Abgeordneten der SPD) wenn diese konkret wären, gäbe es schon dann, wenn es sehr viel weniger wären, einen großen Aufschrei. Dann Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: würden auch Sie fordern, dass die Regierung endlich Ich schließe die Aussprache. handelt. Aber weil das zunächst einmal rechnerische und statistische Größen sind, ist man zögerlich und bringt Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- nichts zuwege. Weil Sie grundsätzliche Bedenken hat- wurfs auf Drucksache 16/4010 an die in der Tagesord- ten: In vergangenen Zeiten hat auch die FDP steuerli- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es chen Förderungen zugestimmt. Es ist doch eine Selbst- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. verständlichkeit, dass die Politik durch Anreize versucht, Dann ist die Überweisung so beschlossen. (B) (D) dass die neueste Technologie für Kfz auf den Markt Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- kommt. nung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Jetzt komme ich zu dem, was wir an diesem Gesetz Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- kritisieren. Es ist schlecht, dass in diesem Gesetz zweit- schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur klassige Technik, die sogenannten offenen Filter, die Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und nur 30 Prozent der Schadstoffe reduzieren, mit dem glei- diese jetzt sofort als Zusatzpunkt 8 ohne Aussprache chen Satz wie eine Vollfilterung in einem geschlossenen aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der System gefördert werden. Das ist, wie ich finde, ökolo- Fall. Dann ist das so beschlossen. gischer Unsinn. Da hätte man deutlich staffeln müssen. Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Zweiter Kritikpunkt: Es ist auch nicht gut, dass die schusses für Wahlprüfung und Immunität Malusregelung so schwach ist, dass nicht wirklich ein (1. Ausschuss) zu einem Antrag auf massiver Anreiz geschaffen wird. Sie haben kritisiert, Genehmigung zur Durchführung eines Straf- dass sogar schon diese Lösung zu Lasten des Steuerzah- verfahrens lers gehe. Aber der Steuerzahler kann dem doch durch eine rechtzeitige Nachrüstung oder durch den Kauf eines – Drucksache 16/4095 – Neufahrzeugs, das sauber ist, entgehen. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung emp- sowie bei Abgeordneten der SPD) fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4095, die Genehmigung zur Durchfüh- Ich meine, die Lösung, die Sie mit der etwas höheren rung eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für Kfz-Steuer gefunden haben, ist so schwach, dass deswe- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – gen keiner nachrüstet. Deswegen ist die Regelung nicht Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den wirklich gut. Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich komme zum Schluss. Ich weiß, Sie sind alle schon Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: aufgeregt. Dieses Gesetz hätte eigentlich einen massiven Schub zur Feinstaubbekämpfung bringen müssen. Die- Beratung des Antrags der Abgeordneten sen massiven Schub kann es leider nicht auslösen. Es ist Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Ulla Lötzer, 7654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann (C) KEN ist die Überweisung so beschlossen. Den Reichtum umverteilen – für eine sozial ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: rechte Reform der Erbschaftsbesteuerung Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst – Drucksache 16/3348 – Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Überweisungsvorschlag: Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak- Finanzausschuss (f) tion der FDP Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verbraucherfreundliche Kennzeichnung strah- Die Rednerinnen und Redner haben ihre Reden zu lungsarmer Mobilfunkgeräte Protokoll gegeben.1) – Drucksache 16/3354 – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3348 an die in der Tagesordnung aufge- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und so beschlossen. Verbraucherschutz Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Die Rednerinnen und Redner haben ebenfalls ihre Re- den zu Protokoll gegeben.4) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Änderung des Bundesvertriebenengesetzes Drucksache 16/3354 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- – Drucksache 16/4017 – verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Überweisungsvorschlag: so beschlossen. Innenausschuss Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Die Rednerinnen und Redner haben ebenfalls ihre Re- den zu Protokoll gegeben.2) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) wurfs auf Drucksache 16/4017 an den Innenausschuss zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – (B) Ulla Lötzer, Dr. Diether Dehm, weiterer Abge- (D) Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be- ordneter und der Fraktion der LINKEN schlossen. Für solidarische und entwicklungspolitisch ko- Der Tagesordnungspunkt 16 soll von der Tagesord- härente Wirtschaftspartnerschaftsabkommen nung abgesetzt werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. – Drucksachen 16/3193, 16/4056 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Berichterstattung: Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Abgeordnete Anette Hübinger gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Dr. Sascha Raabe zung der Richtlinie über Märkte für Finanzin- Hellmut Königshaus strumente und der Durchführungsrichtlinie Heike Hänsel der Kommission (Finanzmarkt-Richtlinie- Ute Koczy Umsetzungsgesetz) Die Rednerinnen und Redner haben ihre Reden zu 5) – Drucksachen 16/4028, 16/4037 – Protokoll gegeben. Überweisungsvorschlag: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Finanzausschuss (f) schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Rechtsausschuss wicklung auf Drucksache 16/4056 zu dem Antrag der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für solidarische und Verbraucherschutz entwicklungspolitisch kohärente Wirtschaftspartner- schaftsabkommen“. Der Ausschuss empfiehlt, den An- Die Rednerinnen und Redner haben ihre Reden zu trag auf Drucksache 16/3193 abzulehnen. Wer stimmt 3) Protokoll gegeben. für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Drucksachen 16/4028 und 16/4037 an die in der Ta- den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen und gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

1) Anlage 3 2) Anlage 4 4) Anlage 6 3) Anlage 5 5) Anlage 7 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7655

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Ich wünsche Ihnen einen guten und hoffentlich siche- (C) ordnung. ren Nachhauseweg. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Die Sitzung ist geschlossen. destages auf morgen, Freitag, den 19. Januar 2007, 9Uhr, ein. (Schluss: 18.52 Uhr)

Berichtigung 75. Sitzung, Seite 7527 (C), dritter Absatz, der zweite Satz ist wie folgt zu lesen: ,,Welcher Personalaufwand steht dem gegenüber, und ist bei den im Aufbau befindlichen Agenturen eventuell schon eine zur Umsetzung der Dienst- leistungsrichtlinie REACH in Helsinki geplant?“

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7657

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Vierten Geset- entschuldigt bis zes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuerge- Abgeordnete(r) einschließlich setzes (Tagesordnungspunkt 15)

Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/ 18.01.2007 Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Unsere Gesundheit ist DIE GRÜNEN unumstritten unser höchstes Gut. Ich freue mich daher, dass es uns mit dem Entwurf zur Änderung des Kraft- Bülow, Marco SPD 18.01.2007 fahrzeugsteuergesetzes gelungen ist, einen weiteren wichtigen Schritt für die Verbesserung des Gesundheits- Ernst, Klaus DIE LINKE 18.01.2007 und Umweltschutzes zu gehen. Dieselfahrzeuge verursa- chen mit ihrem Ausstoß an Feinpartikeln erhebliche Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 18.01.2007 gesundheitliche Gefährdungen – besonders in größeren Hilsberg, Stephan SPD 18.01.2007 Städten und Ballungsgebieten. Wissenschaftliche Studien weisen schon lange auf diesen Umstand hin. Ich begrüße Hintze, Peter CDU/CSU 18.01.2007 es daher ausdrücklich, dass der Bund von seinem Ge- setzgebungsrecht nach Art. 72 Abs. 2 des Grundgesetzes Kasparick, Ulrich SPD 18.01.2007 Gebrauch gemacht hat, die Rußpartikelbelastung zu reduzieren. Auch wenn die Kfz-Steuer den Ländern Kipping, Katja DIE LINKE 18.01.2007 zusteht und somit durch Landesgesetzgebung geregelt werden kann, sollte allen Verantwortlichen klar sein: Kucharczyk, Jürgen SPD 18.01.2007 Nur eine bundeseinheitliche Regelung kann und wird Umgehungs- und Ausweichreaktionen der Betroffenen Dr. Küster, Uwe SPD 18.01.2007 verhindern. Ein Flickenteppich dagegen würde regional zu Ballungen oder Ausdünnungen von Fahrzeugen füh- Lintner, Eduard CDU/CSU 18.01.2007* ren, die gefördert werden. Das müssen wir vermeiden! (B) (D) Lührmann, Anna BÜNDNIS 90/ 18.01.2007 Ich bin aber davon überzeugt, dass der Gesetzentwurf in DIE GRÜNEN der vorliegenden Fassung auch für die Bundesländer zu- stimmungsfähig sein wird – zumal diese auch europa- Merten, Ulrike SPD 18.01.2007 rechtlich geboten ist.

Müntefering, Franz SPD 18.01.2007 Das Gesetz soll die weitere Verbreitung moderner Partikelminderungstechniken für neue und bereits im Dr. Paziorek, Peter CDU/CSU 18.01.2007 Verkehr befindliche Personenkraftwagen mit Dieselmo- tor beschleunigen. Es geht dabei nicht um die steuerliche Schäfer (Bochum), Axel SPD 18.01.2007 Förderung bestimmter Techniken, sondern um technik- neutrale Anreize für Fahrzeuge, die einen möglichst Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 18.01.2007 geringen Partikelausstoß aufweisen. Die Gesetzesvor- DIE GRÜNEN lage orientiert sich dabei am voraussichtlichen Euro-5- Grenzwert von 0,005 g/km für die Partikelmasse. Schily, Otto SPD 18.01.2007 Für Dieselfahrzeuge, die bis zum 31. Dezember 2006 Dr. Schröder, Ole CDU/CSU 18.01.2007 erstmals zugelassen wurden, erhalten die Fahrzeughalter eine befristete Steuerbefreiung in Höhe von 330 Euro, Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 18.01.2007 wenn sie ihre Fahrzeuge bis zum 31. Dezember 2009 mit Partikelfiltern nachrüsten. Wir wollen aber nicht diejeni- Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 18.01.2007 gen Halter benachteiligen, die bereits Rußpartikelfilter DIE GRÜNEN eingebaut haben. Die Steuerbefreiung wird daher rück- Veit, Rüdiger SPD 18.01.2007 wirkend zum 1. Januar 2006 gewährt. Wir setzen damit ein Signal, dass vorauseilender Gesundheits- und Um- Weisskirchen SPD 18.01.2007 weltschutz sich lohnt. (Wiesloch), Gert Wer jedoch sein Dieselfahrzeug weiterhin ohne Parti- Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 18.01.2007 kelfilter fährt und den Euro-5-Grenzwert nicht einhält, zahlt ab dem 1. April dieses Jahres einen Steuerauf- schlag von 1,20 Euro je 100 m3. Der Steueraufschlag * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- wird befristet und bis zum 31. März 2011 erhoben. Von sammlung des Europarates dem Abgabenaufschlag betroffen sein werden aber nicht 7658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) nur Altfahrzeuge ohne Filter, die vor dem 31. Dezember Lastkraftwagen mit neusten Emissionsstandards zu nutzen, (C) 2006 zugelassen wurden. Mehr zahlen müssen auch die Güterverkehr auf Bahn und Schiff zu verlagern, Trans- Halter von Neufahrzeugen mit Zulassung nach dem portwege zu optimieren und Verkehr zu vermeiden. 1. Januar 2007, welche den voraussichtlichen Euro-5- Mit der Novellierung des Allgemeinen Eisenbahn- Grenzwert nicht einhalten. gesetzes hat die Bundesregierung zur Stärkung der Das Gesetz sieht aber auch gut nachvollziehbare Aus- Schiene beigetragen. Von dem besseren Wettbewerb im nahmen vor: So werden Oldtimer nicht vom Steuerzu- Schienenpersonenverkehr profitieren die Reisenden, für schlag betroffen sein. Auch Personenkraftwagen, deren die sich die Attraktivität der Bahnen erhöht. Zum 1. Ja- Schadstoffemissionen zwar nur die Grenzwerte der seit nuar 2006 erfolgte die Liberalisierung im grenzüber- 2006 geltenden Euro-4-Abgasnorm erfüllen, deren Parti- schreitenden Schienengüterverkehr, die zum 1. Januar kelausstoß aber den Grenzwert für Partikelmasse von 2007 auch auf den innerstaatlichen Schienengüterver- 0,005 g/km nicht überschreitet, werden keine erhöhten kehr ausgeweitet wird. Steuern zu entrichten haben. Eine herausragende Rolle im grenzüberschreitenden Im Vorgriff auf die zu erwartenden neuen Grenzwerte Verkehr spielt die Schifffahrt. Viele Güter werden per in der Europäischen Union haben auch die Automobil- See- oder Binnenschiff von und nach Deutschland hersteller zugesagt, spätestens ab 2008/2009 alle neuen gebracht. Die deutschen Seehäfen sind als wichtiger Teil Fahrzeuge mit einem Dieselpartikelfilter auszurüsten. der maritimen Wirtschaft ein wesentlicher Garant für die Politik und Wirtschaft ziehen an einem Strang, weil Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland auf Umweltschutz sich auszahlt. Das gilt ebenfalls für die den wachsenden globalen Märkten. Zur Stärkung der Hersteller von Partikelfiltern. Die steuerliche Förderung internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen der Nachrüstung ist aktive Mittelstandsförderung. Auch Seehäfen hat die Bundesregierung beschlossen, die im Interesse der Betriebe brauchen wir eine schnelle und Infrastruktur der Seehafenstandorte zu verstärken sowie unverzügliche Umsetzung des Gesetzes! ihre Strategie für die see- und landseitige Anbindung der Häfen fortzuentwickeln. Dabei ist es das Ziel der Bun- Mir ist bewusst, dass die Förderung der Nachrüstung desregierung, die notwendigen seewärtigen und land- von Altfahrzeugen allein natürlich nicht ausreicht, um seitigen Anbindungen der deutschen Seehäfen gezielt die Umweltbelastungen durch den Straßenverkehr in den und koordiniert auszubauen. nächsten Jahren zu reduzieren. Sie ist freilich – und das entgegne ich den Kritikern – nur ein Baustein im Kon- Wenn Wasserstraßen ausgebaut werden, kollidiert dies zept der Bundesregierung, Mobilität umweltgerecht und sehr oft mit umweltpolitischen Interessen. Im Mai 2004 zukunftsfähig zu gestalten. entstand das „Forum Binnenschifffahrt und Logistik“. (B) Dieses Gremium bindet unterschiedliche Interessen- (D) Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Verkehr in gruppen zusammen und entwickelt Möglichkeiten zur Deutschland auch in den kommenden Jahren weiter zu- Stärkung der Binnenschiffahrt – bei gleichzeitiger nehmen wird. Es daher notwendig, dass alle denkbaren Berücksichtigung der Belange von Umwelt- und Natur- Register gezogen werden, um die Bedürfnisse der Be- schutz. Für die Elbe hat die Bundesregierung zur völkerung nach Mobilität in Einklang mit den Anforde- Berücksichtigung ökologischer Belange bei der Fluss- rungen an Gesundheits- und Umweltschutz zu bringen. unterhaltung Grundsätze erarbeitet. Sowohl in der vergangenen Legislaturperiode als auch Um die Binnenschifffahrt zu stärken, unterstützt das in der jetzigen Wahlperiode hat die Bundesregierung ein Bundesumweltministerium im Rahmen seines Umwelt- umfassendes Konzept entwickelt, Mobilität umweltge- innovationsprogramms zwei Demonstrationsvorhaben recht zu gestalten. Für den Verkehr heißt das vor allem: für umweltfreundliche und wirtschaftliche Binnen- Verkehrsvermeidung, Erhöhung des Anteils umwelt- schiffe. Im April 2002 beschloss die Bundesregierung freundlicher Verkehrsträger am Gesamtverkehr, besonders den Nationalen Radverkehrswegeplan, um den Anteil beim Güterverkehr, Steigerung der Energieeffizienz, des Radverkehrs im Nahbereich zu steigern. Der NRVP sprich Kraftstoffverbrauch und Verringerung der Schad- soll neue Wege und Strategien initiieren und die enormen stoffbelastungen. Potenziale ausschöpfen. Im Bundeshaushalt wurden die Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren Haushaltsmittel für Zwecke des Fahrradverkehrs verstärkt. viel unternommen, um Verkehr umweltgerechter zu Seit Herbst 2002 erarbeitet der Bund-Länder-Arbeits- gestalten. Einiges davon möchte ich Ihnen nochmals kreis „Fahrradverkehr“ detaillierte Konzepte, um den kurz in Erinnerung rufen: Nationalen Radverkehrswegeplan in die Praxis umzuset- zen. Im ersten Quartal 2007 geht voraussichtlich eine Am 1. Januar 2005 startete in Deutschland die satelli- Novelle der Straßenverkehrsordnung ins Gesetzgebungs- tengestützte LKW-Maut. Diese ist mittlerweile eine Er- verfahren. Sie soll die rechtlichen Rahmenbedingungen folgsgeschichte. Technischer Fortschritt und Verkehrs- und vor allem die Verkehrssicherheit zugunsten der Rad- vermeidung durch intelligente Routenplanung zahlen fahrer verbessern. sich aus. Einerseits richtet sich die Mauthöhe nach der Strecke, die ein LKW zurücklegt, andererseits aber auch 2003 legte die Bundesregierung den neuen Bundes- nach der Schadstoffkategorie. Emissionsarme LKW zah- verkehrswegeplan vor. Er unterscheidet sich von seinem len niedrigere Mautsätze. Hierdurch wurde ein wichtiger Vorgänger aus dem Jahr 1992 vor allem durch eine mo- Beitrag zur verursachergerechten Anlastung der Wege- dernisierte Bewertungsmethode. Die einzelnen Vorhaben kosten geleistet. Zudem werden Anreize geschaffen, durchlaufen eine Kosten-Nutzen-Analyse. Sie werden zu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7659

(A) dem umwelt- und naturschutzfachlich geprüft und nach Anlage 3 (C) ökologischen Risiken eingestuft. Diejenigen Bundesfern- straßenprojekte, die ein sehr hohes Umweltrisiko bergen, Zu Protokoll gegebene Reden benötigen eine noch weiter gehende Prüfung. Sie wurden zur Beratung des Antrags: Den Reichtum um- daher nur unter Vorbehalt in das Fernstraßenausbaugesetz verteilen – für eine sozial gerechte Reform der aufgenommen. Sie stehen dort in der Sonderkategorie Erbschaftsbesteuerung (Tagesordnungspunkt 14) „mit besonderem naturschutzfachlichen Planungsauftrag“. Das stellt sicher, dass im weiteren Verfahren die Belange des Naturschutzes bei den einzelnen Projekten besonders Otto Bernhardt (CDU/CSU): Bei dem vorliegenden berücksichtigt werden. Antrag der Linken geht es um eine nachhaltige Erhö- hung der Erbschaftsteuer, insbesondere auch für betrieb- Im Jahre 2004 hat die Bundesregierung das Baugesetz- liches Vermögen. Ein solcher Antrag mag durchaus po- buch novelliert. Dabei wurde erstmals festgeschrieben, pulär sein, ja populistisch; denn egal wie man Reich und dass die Bauleitplanung Verkehrs- und Mobilitätsbelange Arm abgrenzt, es gibt natürlich immer mehr Nichtreiche berücksichtigen muss, um Verkehr zu vermeiden und zu als Reiche. Dennoch, schon die Diskussion über eine verringern. deutliche Erhöhung der Erbschaftsteuer ist schädlich für den Standort Deutschland. Eine gesetzliche Regelung im Im Jahr 2006 ist die sogenannte Euro-4-Norm für Sinne der Fraktion Die Linke würde zur massiven Kapi- LKW in Kraft getreten. Sie reduziert für schwere Nutz- talflucht führen, im erheblichen Umfang Arbeitsplätze fahrzeuge und Busse die zulässigen Grenzwerte für vernichten und zu einem Rückgang der Steuereinnah- Feinstaub von 100 auf 20 Milligramm pro Kilowatt- men führen. stunde. Jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt, muss Am 31. Mai 2006 beschloss das Bundeskabinett zudem wissen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen die Verordnung zur Kennzeichnung emissionsarmer Fahr- der sozialen Marktwirtschaft, dem Privateigentum und zeuge. Das Ziel: Personenkraftwagen, Lastkraftwagen einem moderaten Erbrecht gibt. Wer die soziale Markt- und Busse nach der Höhe ihrer Feinstaubemissionen bun- wirtschaft will – und die weltweite Entwicklung zeigt, desweit einheitlich zu kennzeichnen und ein entsprechen- dass dies das beste Wirtschaftssystem ist, was es bisher des Verkehrszeichen zur Anordnung von Verkehrverboten gab und gibt –, der muss sich auch zum Privateigentum einzuführen. Hierzu werden die Fahrzeuge bestimmten und zu einem moderaten Erbrecht bekennen. Schadstoffgruppen gemäß der EU-Abgasrichtlinie zuge- ordnet und erhalten die jeweilige Plakette. Das erleichtert Die Entwicklung in der Welt zum Thema Erbschaft- es den zuständigen Behörden, den Verkehr für solche steuer läuft genau in eine andere Richtung. Das gilt auch (B) (D) Fahrzeuge zu beschränken, die mit zu hohen Partikelemis- für für Deutschland und die große Koalition. sionen zur Feinstaubbelastung beitragen. Autobesitzer können durch Nachrüstung erreichen, dass ihr Fahrzeug Erstens. Schweden kennt keine Erbschaftsteuer und besser eingestuft wird. Der Vorteil: „Freie Fahrt“ während Italien hat sie abgeschafft. Zweitens. Der Präsident- andere ihr Auto stehen lassen müssen. schaftskandidat Sarkozy setzt sich in Frankreich für die Abschaffung der Erbschaftsteuer ein. Drittens. Auch in Bis zum Jahr 2000 hat sich das BMU-Umweltinnova- Österreich und Spanien wird über eine Abschaffung dis- tionsprogramm im Bereich Verkehr vor allem darauf kutiert. konzentriert, Gasfahrzeuge in den Markt einzuführen. Vor diesem Hintergrund in einer globalisierten Welt Diese Auflistung ließe sich noch lange fortführen. Sie die Erbschaftsteuer zu erhöhen, wäre kontraproduktiv. verdeutlicht die Vielschichtigkeit und Komplexität einer nachhaltigen Verkehrspolitik. Nur die Summe geeigneter Im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 ist Einzelmaßnahmen – so auch die steuerliche Förderung festgelegt, dass die Erbschaftsteuer auf betriebliches der Nachrüstung mit Partikelfiltern als Teil eines Vermögen im Erbfall praktisch entfällt. Wir haben uns Ganzen – kann zum Erfolg führen. bekanntlich für das 10-jährige Stundungsmodell ent- schieden, das darauf hinausläuft, dass die zu zahlende Es ist zudem wirtschaftlicher und kostengünstiger, Erbschaftsteuer beim Übergang auf die nächste Genera- heute Fahrzeuge mit Standards anzuschaffen, die erst in tion zinslos gestundet wird, jedes Jahr 10 Prozent erlas- Zukunft gelten. Wer ein Fahrzeug kauft, das nur die ak- sen werden und die Erbschaftsteuer völlig entfällt, wenn tuellen gesetzlichen Mindeststandards erfüllt, trägt zum der Betrieb zehn Jahre weitergeführt wird. Dies ist ein Beispiel ein wirtschaftliches Risiko: So kann er aufgrund wichtiger Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen. örtlicher Fahrverbote in seiner Nutzung eingeschränkt Und die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Schaf- werden. Er muss es eventuell aufwendig nachrüsten oder fung neuer hat Priorität für die große Koalition. Wir wa- früher als geplant ein neues Fahrzeug anschaffen. Wer ren im ersten Jahr auf diesem Gebiet sehr erfolgreich: hingegen rechtzeitig nachrüstet, schont nicht nur Ge- erstens 600 000 Arbeitslose am Jahresende 2006 weni- sundheit und Umwelt, sondern erhöht auch den Wieder- ger als am Jahresanfang, zweitens 400 000 sozialversi- verkaufswert seines PKWs. cherungspflichtige Beschäftigungen mehr am Jahres- ende 2006 als am Jahresanfang. Ich bin daher fest davon überzeugt, dass viele Bürge- rinnen und Bürger das Angebot der Bundesregierung an- Der Antrag der Linken kommt aus der ideologischen nehmen und ihre Altfahrzeuge umrüsten lassen werden. Mottenkiste des Klassenkampfes. Er hat keine Chance, 7660 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) in Deutschland verwirklicht zu werden, und das ist im einem einzigen Fall tatsächlich die Weiterführung eines (C) Interesse der Arbeitsplätze gut. Betriebs unmöglich gemacht hätte. Trotzdem wird dieses Argument immer wieder ins Feld geführt, um die ohne- Florian Pronold (SPD): Eine Reform der Erbschaft- hin niedrige Besteuerung von Betriebsvermögen weiter steuer ist notwenig. Das ist in diesem Haus sicherlich zu reduzieren oder sogar faktisch abzuschaffen. unstrittig. Darüber, in welche Richtung diese Reform ge- Wir haben uns dennoch bereit erklärt, eine neue Re- hen muss, gibt es jedoch sehr unterschiedliche Vorstel- gelung für die Unternehmensnachfolge zu finden. Für lungen. die SPD-Fraktion geht das aber nur unter drei Bedingun- gen: Weitere Steuervergünstigungen kann es nur dann Die Haltung der SPD in diesem Punkt ist klar: Ererb- geben, wenn die betroffenen Unternehmen nachweisen, tes und geschenktes Vermögen stellt leistungsloses Ein- dass die Arbeitsplätze im Betrieb, die ja immer als Argu- kommen dar, das einen stärkeren steuerlichen Zugriff ment für Steuererleichterungen angeführt werden, tat- der Allgemeinheit rechtfertigt. Dabei gilt es natürlich sächlich erhalten werden. Deshalb bestehen wir auf einer insbesondere, die Weitergabe hoher Privatvermögen sogenannten atmenden Arbeitsplatzklausel. Eine allge- konsequenter und höher zu besteuern, als das bisher der meine Weiterführungsklausel ist nicht ausreichend. Fall ist. Zweitens müssen wir zuverlässig verhindern, dass In der Tat ist die Vermögensbesteuerung bei uns im vererbtes Privatvermögen in Betriebsvermögen umge- internationalen Vergleich mit weniger als 1 Prozent des widmet wird und sich Millionenerben damit ein Steuer- Bruttoinlandsprodukts extrem niedrig. Länder wie Groß- schlupfloch schaffen. Hierfür ist bereits eine ganze britannien und die USA bitten die Vermögensbesitzer in Reihe von Vorkehrungen ausgearbeitet worden, die das erheblich stärkerem Maße zur Kasse, als wir das tun. steuerlich anerkannte produktive Betriebsvermögen eng Hier besteht – insbesondere seit die Regierung Kohl die begrenzen. Vermögensteuer hat auslaufen lassen – deutlicher Nach- holbedarf. In den nächsten Jahrzehnten werden immense Schließlich muss die Erleichterung bei der Unterneh- Reichtümer zwischen den Generationen weitergegeben, mensnachfolge, wie schon gesagt, mit der Reform des der größte Teil der Bevölkerung wird dabei jedoch leer Bewertungsgesetzes im Paket beschlossen werden. Da- ausgehen. Es muss gelingen, einen angemessenen Anteil ran müssten auch die Länder ein vitales Interesse haben, dieser Mittel zu mobilisieren, um vor allem die Finanzie- um sicherzustellen, dass die Einnahmen aus der Erb- rung des Bildungswesens deutlich zu verbessern. Die schaftsteuer in den nächsten Jahren auch tatsächlich flie- SPD hat sich auf verschiedenen Parteitagen zu dieser ßen. Aufgabe bekannt. Sie bleibt auch für die anstehenden (B) Wir werden in diesem Haus in den nächsten Monaten (D) Reformen der Erbschaftsteuer aktuell. noch öfter Gelegenheit haben, über die Erbschaftsteuer Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf zur Er- zu diskutieren. Es werden im Gesetzgebungsverfahren leichterung der Unternehmensnachfolge auf den Weg auch noch eine ganze Reihe strittiger Punkte zu klären gebracht. Eine grundlegende Reform des Bewertungsge- sein. Eventuell werden wir nach dem Urteil des Bundes- setzes muss folgen. Beide Gesetzesvorhaben müssen ge- verfassungsgerichts auch auf einer ganz neuen Grund- meinsam umgesetzt werden, um sicherzustellen, dass die lage diskutieren. Diese wenigen Wochen müssen wir Erbschaftsteuer auch in Zukunft einen angemessenen noch abwarten. und steigenden Beitrag zur Finanzierung der öffentli- Ich denke, es gibt keinen Anlass für den vorliegenden chen Aufgaben leistet. Antrag. Die Reform der Erbschaftsteuer steht auf der Die Reform des Bewertungsgesetzes und Veränderun- Agenda der Koalition. Sobald das Verfassungsgericht gen bei der Besteuerung von Betriebsvermögen können entschieden hat, werden wird daran mit Hochdruck ar- wir hier aber erst dann sinnvoll beraten, wenn das Bun- beiten. desverfassungsgericht sein Urteil über die bestehende Gesetzeslage gefällt hat. Das Verfassungsgericht prüft in Carl-Ludwig Thiele (FDP): Der Antrag der Links- diesem Verfahren eine Vorlage des Bundesfinanzhofs, Fraktion zielt darauf ab, die Erbschaftsteuerbelastung der sowohl die unterschiedliche Bewertung unterschied- deutlich zu erhöhen. Insbesondere für Betriebsvermögen licher Vermögensarten als auch die bestehende massive sollen die aktuellen Vorschriften zu Bewertungsabschlä- Privilegierung des Betriebsvermögens für nicht verfas- gen und zusätzlichen Freibeträgen entfallen mit dem Ziel sungsgemäß hält. Die beiden zentralen Elemente der be- einer umverteilenden Ausgestaltung der Erbschaftsteuer. vorstehenden Erbschaftsteuerreform sind also Gegen- stand des Verfahrens. Es wäre deshalb völlig unsinnig, Ich glaube gerade dieser Passus des Gesetzes zeigt, diesem Urteil vorzugreifen und am Ende gezwungen zu wie weit entfernt die Links-Fraktion von den Inhaber ge- sein, das Erbschaftsteuerrecht kurz hintereinander mehr- führten Betrieben ist. Deshalb lassen Sie mich hierzu ei- fach zu ändern. Das wird auch nicht dem Anspruch der nige grundsätzliche Ausführungen machen. Bürgerinnen und Bürger auf Rechtssicherheit gerecht. Für uns Liberale gilt Artikel 14 des Grundgesetzes. Die Eigentumsgarantie wird gewährleistet. Gleichzeitig Was die Besteuerung des Betriebsvermögens angeht, ergibt sich aus dem Eigentum eine soziale Verpflichtung. so gibt es viele, die die bestehenden Regelungen für aus- reichend halten. In der Tat gibt es bis heute keinen empi- Dies ist auch der Grund, warum das Bundesverfas- rischen Beleg, dass die Erbschaftsteuer auch nur in sungsgericht den Gesetzgeber seinerzeit ausdrücklich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7661

(A) aufgefordert hat, die besondere Gemeinwohlbindung gen oder Betriebsvermögen ergibt sich für uns Liberale (C) und Gemeinwohlverpflichtung von Unternehmen als aus Art. 3 des Grundgesetzes: Hiernach soll Gleiches Garant von Produktivität und Arbeitsplätzen anzuerken- gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden, nen. Kapitalvermögen kann bewertet werden und hierauf Aus dieser Gerneinwohlverpflichtung heraus hat der kann eine Steuer festgelegt und gezahlt werden. Immo- Gesetzgeber seinerzeit die entsprechende Privilegierung bilienvermögen steht auch in einer stärkeren Sozialbin- des Betriebsvermögens vorgenommen. dung. Es ist nicht so fungibel und kann deshalb auch Gerade inhabergeführte Betriebe, gerade die Famili- nicht so einfach veräußert werden wie Kapitalvermögen. Die dritte Stufe ist das Betriebsvermögen. Hierbei ist engesellschaften in Deutschland sind es, die häufig über Generationen hinweg und für die nächsten Generationen insbesondere die stärkere Gemeinwohlbindung auch für Betriebe aufbauen und dadurch Arbeitsplätze schaffen. die Arbeitsplätze zu berücksichtigen. Gerade diese Betriebe sind durch die Erbschaftsteuer Dieses rechtfertigt unterschiedliche Differenzierun- massiv beeinträchtigt. gen bei den zur Vererbung stehenden Werten. Dieses ist Es gibt einen großen Unterschied zwischen Personen- auch der Grund, warum gerade beim Betriebsvermögen gesellschaften und Kapitalgesellschaften, insbesondere darauf geachtet werden muss, dass der Betrieb auch tat- wenn sie börsennotiert sind: Im Todesfall eines Betriebs- sächlich in die nächste Generation gelangt. inhabers fehlt häufig der Kopf des Unternehmens. Das Eine Umfrage der Firma Ernst & Young hat ergeben, Unternehmen wird bewertet und die Erben haben häufig dass gerade für mittelständische Betriebsinhaber die das für die Erbschaftsteuer aufzubringende Geld aus Fortführung des Betriebes an erster Stelle steht. dem Unternehmen zu entnehmen. Dieses schwächt die Eigenkapitalbasis der Unternehmen und führt teilweise Deshalb ist in vielen europäischen Ländern zwischen- dazu, dass Teile des Betriebes oder der Betrieb komplett zeitlich die Vererbung von Betriebsvermögen komplett veräußert werden müssen. steuerfrei gestellt worden. Im Vergleich mit Österreich und der Schweiz muss Deutschland feststellen, dass ge- Ganz anders ist die Situation bei den Kapitalgesell- rade Unternehmer ihren Wohnsitz aus Deutschland we- schaften, insbesondere bei den börsennotierten Kapital- gen der Erbschaftsteuer verlagern. Diese Verlagerung gesellschaften: Wenn ein Aktionär verstirbt, werden die hat zur Folge, dass langfristig das Kapital dieser Perso- Aktien bewertet, die Steuer wird festgesetzt und die nen mit seinen Erträgen dem deutschen Fiskus als Be- Steuer kann aus einem Verkauf eines Teiles der Aktien steuerungsgrundlage nicht mehr zur Verfügung steht. bestritten werden. Die Gesellschaft verliert keinen Cent Dieses muss aus Sicht der FDP verhindert werden. an Kapital. Deshalb ist die Erbschaftsteuer insbesondere (B) (D) für Familienunternehmen eine echte Belastung für die Die Vorschläge der Links-Fraktion sind dem gegen- Familienunternehmen in Deutschland. über darauf angelegt, dass noch mehr Unternehmer ein Interesse daran haben, aus erbschaftsteuerlichen Grün- Dieses nimmt die Links-Partei überhaupt nicht wahr. den Deutschland zu verlassen. Mit ihrem Antrag setzen sie sich aus ideologischen Gründen über die Interessen der mittelständischen Wirt- Neid und Umverteilung sind schlechte Ratgeber für schaft und damit der Arbeitsplätze in diesem Unterneh- wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Wohin ein men hinweg. solches Denken führt, hat uns gerade in der ehemaligen DDR der wirtschaftliche Zustand des Landes gezeigt. Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen: Diesen Weg in den Sozialismus lehnt die FDP ab. In dem Antrag der Linkspartei ist ferner gefordert, die Für uns Liberale ist es wichtig, die Eigentumsrechte derzeit existierenden drei Steuerklassen zu einer Steuer- zu stärken und dem einzelnen Bürger die Möglichkeit zu klasse zusammenzufassen. Da der Antrag der Links- geben, Eigentum zu erwerben – aber Eigentum eben Fraktion zur Erschließung steuerlicher Mehreinnahmen auch auf seine Angehörigen zu vererben. zielt, soll die privilegierte Behandlung des Ehepartners und der Kinder, also der Steuerklasse I, entfallen. Dieses müsste auch den Linken im Deutschen Bun- Dieses hält die FDP nicht für sachgerecht und es wi- destag einleuchten. Auch angesichts der Probleme der derspricht der Einstellung vieler Eltern. Viele Eltern im Umlageverfahren finanzierten Sozialversicherungs- schaffen Werte und setzen sich ein, damit es ihren Kin- zweige müsste auch die Linkspartei anerkennen, dass dern besser geht als ihnen selbst. Zusätzlich sind viele wir in Deutschland verstärkt Kapitalbildung und nicht Bürger bestrebt, Werte und Eigentum aufzubauen, um nur Umverteilung benötigen. für die Kinder und die Ehepartner Vorsorge zu treffen. Deshalb werden wir als FDP den Antrag der Links- Hieraus rechtfertigt sich auch die Privilegierung der Erb- partei ablehnen. schaftsteuerklasse I. Der Staat hat nämlich ein ureigenes Interesse daran, dass sich die Menschen füreinander ein- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Es ist eine unum- setzen und füreinander sorgen, sei es als Eltern für die stößliche Tatsache, dass sich zwar am Sterben nicht rüt- Kinder, sei es als Kinder für die Eltern, sei es als Ehe- teln lässt, aber wohl am Erben. Hermann Ulrich Viskorf, partner untereinander, Richter am Bundesfinanzhof, geht in seinen Thesen zur Eine unterschiedliche Behandlung unterschiedlicher Reform der Erbschaftsteuer davon aus, dass dank fehlen- Vermögen, sei es Kapitalvermögen, sei es Grundvermö- der Gesetzesregelungen 2002 von 800 000 Sterbefällen 7662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) nur 60 000 besteuert wurden. 2005 wurden 200 Mil- erlichen Behandlung des Betriebsvermögens, wie Be- (C) liarden vererbt, aber nur 4 Milliarden Steuern gezahlt. wertungsabschlag, gesonderter Freibetrag, entfallen. Dies ist ein Steuersatz von sage und schreibe 0,015 Pro- zent. Die Länder erzielen durch die Kfz-Steuern mehr Im Übrigen, sehr verehrter Herr Kollege Steinbrück, Einnahmen als durch die Erbschaftssteuer, so das „Han- in Beantwortung einer Kleinen Anfrage meiner Fraktion delsblatt“. zum Thema Betriebsvermögen und Erbschaftsteuer ant- wortet uns ihr Ministerium, dass in noch keinem konkre- Im internationalen Vergleich finden wir die USA mit ten Fall belegt werden konnte, dass der Fortbestand 35,91 Prozent, Japan mit 24,79 Prozent bei den Erb- mittelständischer Familienunternehmen durch eine schaftsteuern. Da, wo viel zu holen ist, wird also außer- Gleichbehandlung des Betriebsvermögens gefährdet ist. halb unserer Landesgrenzen richtig zugepackt. Vielleicht Trotzdem planen Sie mit Ihrer Reform der Erbschaft- haben wir diese Einnahmequellen dank sprudelnder an- steuer ein weiteres Geschenkpaket an reiche Familien- derer Quellen nicht mehr nötig? DIW Zahlen: In den erben aus dem Hause Aldi, Oetker und Schwarz usw. nächsten zehn Jahren stehen in Deutschland 2,2 Billio- nen Euro zum Vererben an. Sie können sich leicht ausre- Sie wollen das Firmeneigentum nicht besteuern und chen, wie viel dringend benötigte Milliarden Einnahmen entlassen die Unternehmenserben aus ihrer Steuerpflicht. der öffentlichen Hand entgehen werden, wenn dieser Re- Warum, Herr Steinbrück? Nehmen Sie unseren Antrag, gierung weiter der Mut zu einer wirklichen Reform der dann ersparen Sie sich vielleicht den Ärger wie bei der Erbschaftsteuer fehlen wird. Lassen sie mich Peter Gesundheitsreform, und Sie leisten etwas für eine drin- Krämer, Reeder und Millionär aus Hamburg zitieren: gend notwendige Verteilungsgerechtigkeit in diesem „Der Erbfall ist der reine Zufall. Es ist völliger Zufall, ob Land. Sie Erbe eines reichen Mannes oder eines armen Mannes Im laufenden Jahrzehnt werden 2 000 Milliarden sind. Das heißt, es ist eigentlich ein Geschenk. Und wir Euro geerbt und verschenkt. So viel wie nie zuvor in der haben ja auch die Schenkungsteuer. Insofern brauchen Geschichte dieser Republik. Dass eine reiche Erbenge- wir auch eine Erbschaftssteuer“ Zitat Ende. neration vor allem in den alten Ländern wartet und hofft, Ja, wir brauchen vor allem eine verteilungsgerechte aber dass auch beim Erben die Mehrheit der Bürgerinnen Reform der Erbschaftsteuer und kein Gemurkse à la Ge- und Bürger leer ausgehen wird, sei nur am Rande ver- sundheitsreform. Wir brauchen sie, weil diese Regierung merkt. Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die Kommu- ausschließlich dafür sorgt, dass einige wenige immer nen, für die Gemeinschaft, für Steuergerechtigkeit wahr, vermögender werden und die Mehrheit der Bürgerinnen und legen Sie eine entsprechende Reform der Erbschaft- und Bürger verzichten muss. Das Geldvermögen ist in steuer vor! Unser Antrag wird Ihnen dabei helfen. Deutschland bei konstant ungleicher Verteilung um (B) (D) 6 Prozent auf 4,54 Billionen im vergangen Jahr gestie- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen. Es ist die alte Leier: Geld ist ausreichend vorhan- Der Antrag der Linksfraktion beschäftigt sich nicht mit den, aber wie wird es verteilt? den vielen schwierigen Fragen der Betriebsfortführung Bei der Erbschaftsteuer handelt es sich doch eigent- im Fall der Unternehmensnachfolge und damit dem wichti- lich um eine ideale Einnahmequelle, da diese Art von gen politischen Ziel, Arbeitsplätze zu sichern und zu er- Zugewinn völlig leistungsfrei und einzig allein durch das halten, sondern vorrangig mit Fragen der Umverteilung Glück und den Zufall der Geburt in der entsprechenden von Reichtum. Dabei wird leicht aus dem Auge verloren, Familie bestimmt ist. Eine Erbschaft ist also nicht der dass wesentlich die Investitionskraft eines Unterneh- steuerpolitische Sündenfall, sondern sie ist der Idealfall. mens darüber entscheidet, ob es im Wettbewerb auf den Zeigen Sie also Mut und reformieren Sie die Erbschafts- schnell sich verändernden Gütermärkten besteht oder steuer, so wie Sie es laut Koalitionsvereinbarung schon nicht. Die Produktzyklen werden kürzer, deswegen muss für den 1. Januar 2007 versprochen haben. die Innovationsfähigkeit der Betriebe gesteigert werden. Der Antrag meiner Fraktion Die Linke kann dabei für Umverteilen im Erbschaftsfall darf man nur auf einem Sie sehr hilfreich sein, weil er Steuer- und Verteilungsge- Wege, der den Investitionsprozess von Unternehmen für rechtigkeit festschreibt. Wir wollen: neue Patente und Produkte nicht gefährdet. Deswegen muss die Unternehmensnachfolge für rund 70 000 Unter- Erstens. Eine Gleichbehandlung aller der Steuer zu- nehmen pro Jahr mit etwa 760 000 Arbeitsplätzen verant- grunde liegenden Vermögensvorteile; das heißt eine wortlich im Sinne des Gemeinwohls geregelt werden. realitätsnahe Bewertung aller Vermögensarten und eine „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Korrektur bei der Bewertung des Betriebsvermögens. Wohl der Allgemeinheit dienen“ (Art. 14 Abs. 2 Grundge- Zweitens. Eine Gleichbehandlung aller steuerpflichti- setz). Die Sozialbindung des Eigentums muss bei einer gen Erben, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad zum Neuregelung des Erbschaftsteuerrechts im Mittelpunkt Erblasser. Das heißt, wir wollen eine Steuerklasse und der Überlegungen stehen. nicht drei und eine Vereinheitlichung der Freibeträge. Die Vorschläge im Antrag der Linksfraktion schießen Nur. Erben, die älter als 60 Jahre sind, Kinder, Ehe- und weit über das Ziel einer gerechteren Erbschaftsteuer hinaus, Lebenspartner erhalten einen höheren Freibetrag. weil sie die Umverteilung von Reichtum zum wesent- Drittens. Keine Privilegierung des Betriebsvermö- lichen Maßstab ihres Antrags gemacht haben. Dabei sind gens, die auch der Bundesfinanzhof für gesetzwidrig ihre Überlegungen, die Höhe des Erbschaftsteuertarifs hält. Das bedeutet, dass die Sondervorschriften zur steu- und die Höhe der persönlichen Freibeträge nicht mehr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7663

(A) nach dem Verwandtschaftsgrad des Erben zum Erblasser Anlage 4 (C) zu regeln, angesichts veränderter Lebensverhältnisse einer Zu Protokoll gegebene Reden genaueren Betrachtung wert. Familie und Verantwortung füreinander liegt heute vermehrt außerhalb verwandt- zur Beratung des Entwurfs eines Siebten Geset- schaftlicher Bindungen, sodass hier Änderungsbedarf zes zur Änderung des Bundesvertriebenengeset- meines Erachtens besteht. Die Linksfraktion will die Ein- zes (Tagesordnungspunkt 17) nahmen aus der Erbschaftsteuer von zurzeit etwa 4 Milliar- den Euro mehr als verdoppeln. Vermögen umzuverteilen, Maik Reichel (SPD): Wir beschäftigen uns heute in ist aber nicht das primäre Ziel einer gerechteren Erb- erster Lesung mit dem siebten Gesetz zur Änderung des schaftsteuer. Bundesvertriebenengesetzes. Etwa ein Dutzend zum Teil wesentliche Änderungen sind in diesen Gesetzentwurf Im Kern geht es vielmehr um Fragen einer gleichmäßi- eingearbeitet worden, die zum einen auf die Erweiterung gen Behandlung von Geldvermögen, Immobilien sowie der Europäischen Union seit dem l. Mai 2004 zurückzu- Betriebsvermögen im Erbschaftsfall. Das Bundesverfas- führen sind; es geht vor allem um die drei baltischen sungsgericht will zu dieser Frage demnächst entscheiden. Staaten Estland, Lettland und Litauen, hier unter anderem Wenn es, wie erwartet wird, endlich vergleichbare Maß- um die Aufhebung der gesetzlichen Kriegsfolgeschicksals- stäbe für die unterschiedlichen Vermögensarten bei der vermutung für Spätaussiedlerbewerber. Ermittlung der Berechnungsgrundlage für die Erbschaft- steuer festlegt, dann wird es im Ergebnis Steuermehrein- Zum anderen geht es um die Erweiterung und Modifi- nahmen geben. Das wollen wir, denn breitere Schultern zierung der Ausschlussgründe und eine entsprechende können im Erbschaftsfall auch eine höhere Last tragen. Regelung der Abfrage bei den verschiedenen Sicher- heitsbehörden. Als Weiteres ändert das Gesetz die Wir wollen endlich von dem unhaltbaren Zustand Zuständigkeiten für die Gewährung der pauschalen Ein- weg, dass Immobilien- und Betriebsvermögen systema- gliederungshilfe von den Ländern zum Bund. tisch gegenüber Geldvermögen begünstigt bleiben. Wir wollen jedoch nicht, dass die Betriebsfortführung im Es werden Regelungen getroffen, damit Behinderte Fall der Unternehmensnachfolge gefährdet wird. Kleine keine Nachteile bei der Aufnahme mehr erfahren. Wir Personenunternehmen haben häufig wenig Investitions- regeln die notwendige Erstattung der Fahrtkosten zu In- kraft, sodass Vermögensentzug im Erbschaftsfall eine tegrationskursen und passen mit dem Gesetz neue Rege- Bedrohung der Betriebsfortführung bedeuten kann. Im lungen in der gesetzlichen Krankenversicherung an. Rahmen der Beratungen zum Gesetzentwurf der Bun- Wir erweitern die Möglichkeit, einen deutschen Fa- desregierung zur Unternehmensnachfolge werden wir miliennamen zu führen. (B) genau darauf unser Augenmerk richten. Die Abgrenzung (D) zwischen begünstigtem und nicht begünstigtem Vermögen Im Art. 1 § 45 regeln wir die eben angesprochenen ist im vorliegenden Gesetzentwurf ein bürokratisches Ausschlussgründe, das heißt, unter welchen Bedingun- Monstrum und wird immens streitanfällig werden. Die gen die deutsche Staatsangehörigkeit nach Art. 116 GG Stellungnahme des Bundesrates befasst sich so gut wie erworben werden kann. ausschließlich mit vielen ungelösten Abgrenzungsfra- Ausschlussgründe bestehen demnach bei Personen, die gen, zum Beispiel für die landwirtschaftlichen Betriebe. „der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewalt- herrschaft erheblich Vorschub“ geleistet haben, die „gegen Fazit: Die Bundesregierung hat dem Bundesrat einen Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit Gesetzentwurf zur Erleichterung der Unternehmensnach- verstoßen haben oder die in den Aussiedlungsgebieten die folge vorgelegt, der 450 Millionen Steuermindereinnah- eigene Stellung zum eigenen Vorteil, aber auch zu anderer men bei den Ländern auslöst. Die Gegenfinanzierung Nachteil in schwerwiegendem Maße missbraucht haben. fehlt. Sie ist ungeklärt. Die Entscheidung des Bundesver- fassungsgerichts soll die Gegenfinanzierung herbeiführen. Zwei weitere Buchstaben, nämlich d) und e) des § 5 Solch ein Verfahren ist schlicht unseriös, wenn man Ver- Nr. 1 werden bezüglich der Ausschlussgründe einge- sprechungen für die Unternehmen in die Welt gesetzt führt, um unter anderem Gesetzeslücken zu schließen. hat, ohne zu wissen, wer die Finanzierung der Steueraus- Der Buchstabe d) betrifft Personen, die – wo auch fälle im Rahmen der Unternehmensnachfolge erbringen immer – eine rechtswidrige Tat begangen haben, die in soll. Die Politik hat den Bundesverfassungsrichtern die unserem Land als Verbrechen gilt. Hierbei gelten unsere Frage der Gegenfinanzierung zu klären zugeschoben, Verjährungsgrenzen. Wir wollen damit der Entziehung durch Festlegung von Maßstäben zur gleichmäßigen Be- einer drohenden Strafverfolgung im Ausland nicht Vor- steuerung von Immobilien-, Betriebsvermögen und schub leisten. Geldvermögen. Buchstabe e) gibt weitere Ausschlussgründe an. Dabei Solch eine Methode, die dritte Gewalt zu beteiligen, geht es um Terroristen bzw. unterstützende Helfer von ist einmalig in der Republik. Mehrere Ministerpräsiden- Terroristen oder terroristischen Vereinigungen. Auch ten der Bundesländer haben bereits angekündigt, dass sie gewaltbereite Extremisten sind hier eingeschlossen. Wer Steuerausfälle bei der Erbschaftsteuer nicht hinnehmen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung oder werden. Die Unternehmen beklagen zu Recht die die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder Rechtsunsicherheit, in der sie sich seit dem Jahreswechsel eines ihrer Länder eintritt oder dies aktiv betreibt, unter- befinden. liegt einem Ausschlussgrund. Aber auch hier kann er 7664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) durch eine Glaubhaftmachung, dass er sich von seiner Ich will an dieser Stelle im Namen des Weißenfelser (C) früheren Handlung distanziert und – wie es im Gesetzes- Bildungsträgers die gute Zusammenarbeit mit dem entwurf heißt – abgewandt hat, diesen Ausschluss ver- BAMF, im sachsen-anhaltischen Fall ist das Halberstadt, hindern. und mit der Ausländerbehörde, hervorheben, die sich stets verlässlich dargestellt hat. Dieser neu eingeführte Buchstabe e) steht unter der aktuellen Bedrohungslage und reagiert damit auf die seit Mit diesem Gesetz leisten wir ebenfalls einen Beitrag langem, zumindest aber seit dem 11. September 2001, zum Bürokratieabbau. Zurzeit ist es noch so, dass es beim bestehenden Bestrebungen, die Bundesrepublik sowie Land und beim Bund eine doppelte inhaltliche Bearbei- alle Bürgerinnen und Bürger und alle, die sich innerhalb tung eines Antrags gibt, was unter anderem die Entschei- unserer Grenzen aufhalten, so gut wie möglich zu schützen. dung über die Gewährung der pauschalen Eingliederungs- hilfe betrifft. Zukünftig werden die Länderbehörden In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass entlastet, indem der Bund, sprich das Bundesverwaltungs- das Bundesverwaltungsamt dadurch die Möglichkeit hat, amt, allein diese Bearbeitung übernimmt. die sich auch aus dem Aufenthaltsgesetz ergibt, die ver- schiedenen Sicherheitsbehörden, das heißt, den BND, Nach der gegenwärtigen Rechtslage des § 28 BVFG das Bundesamt für Verfassungsschutz, MAD, BKA und darf ein vom Bundesverwaltungsamt zu erteilender Auf- das Zollkriminalamt, an der Feststellung möglicher nahmebescheid erst nach Zustimmung des aufnehmen- Versagungsgründe zu beteiligen. Dies gilt nicht nur für den Landes erteilt werden. Das Zustimmungsverfahren Spätaussiedlerbewerber, sondern auch für deren Ehegat- nach § 28 Abs. 2 BVFG ist somit unverzichtbare Voraus- ten und Abkömmlinge. setzung des Aufnahmebescheides. Integration ist unentbehrlich für ein gutes, friedliches Zu diesem Zweck lassen sich die Länder die jeweiligen und vor allem verständnisvolles Zusammenleben aller. Vorgänge vom Bundesverwaltungsamt vorlegen, um im Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir es auch jedem Rahmen einer Einzelfallprüfung über die Erteilung der Spätaussiedler ermöglichen, Integrationskurse zu besu- Zustimmung zu entscheiden. chen, um die deutsche Sprache zu beherrschen. Denn ohne Obwohl es bereits heute zu den Aufgaben des Bundes- sprachliche Integration ist eine weitere, tiefgründigere In- verwaltungsamtes gehört, den Sachverhalt erschöpfend tegration in unser Gemeinwesen schwerlich möglich. zu ermitteln, sind die Länder nicht gehindert, eigene – er- Deshalb muss auch eine Erreichbarkeit von Kursorten gänzende – Ermittlungen durchzuführen oder das Bun- jederzeit gegeben sein. Zwar kann in der Regel ein Spät- desverwaltungsamt durch Rückgabe des Vorgangs um aussiedlerbewerber seinen ersten Wohnort nicht frei Nachermittlungen zu bitten. Das Land kann die Zustim- (B) (D) wählen, dennoch muss das zuweisende Amt die Erreich- mung aber nur dann verweigern, wenn die – zuvor bereits barkeit solcher Kurse beachten. vom Bundesverwaltungsamt geprüften – Voraussetzungen Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge garan- des § 27 BVFG zur Erteilung eines Aufnahmebescheides tiert flächendeckende Integrationskurse. Dieses Ange- nicht vorliegen. bot soll bedarfsorientiert sein, dennoch kann sich im Der heutige Gesetzentwurf sieht daher vor, § 28 Abs. 2 Einzelfall – denken wir an ländlich geprägte Regionen BVFG zu streichen und die bisherige „Doppelprüfung“ unseres Landes – natürlich eine weitere Entfernung zu durch Bund und Land abzuschaffen. Diese Vereinfa- einem Integrationskurs ergeben. Um unnötige Härten, chung des Aufnahmeverfahrens führt somit nicht nur zu vor allem auch finanzieller Art, zu vermeiden, ist eine einem erheblichen Aufgaben- und Bürokratieabbau in Sonderregelung zu den Kosten für Fahrten zum und den Ländern, sondern macht die Verfahren – vor allem vom Integrationskurs getroffen worden. Entsprechend durch Entfallen des kostspieligen Aktenversandes und hohe finanzielle Summen sind dabei für den Bund nicht des hierfür notwendigen Personalaufwandes – effektiver zu erwarten – zirka 100 000 Euro –, zumal die Zahl der und schneller für die betroffenen Personen. Spätaussiedlerbewerber von etwa 35 000 im Jahre 2005 auf 7 700 im vergangenen Jahr 2006 zurückgegangen Dies gilt auch für die von den Ländern geforderte ist. Verlagerung der Zuständigkeit über die Gewährung der pauschalen Eingliederungshilfe nach § 9 Abs. 3 BVFG Dies zeigt sich natürlich auch in den entsprechenden auf das Bundesverwaltungsamt. Künftig soll die Gewäh- Kursen bei den verschiedenen Bildungsträgern. In meinem rung von Leistungen nach § 9 Abs. 3 BVFG bereits im Heimatlandkreis Weißenfels, im südlichen Sachsen-Anhalt, Zuge der Entscheidung des Bundesverwaltungsamtes tritt seit Beginn der 1990er die Kreisvolkshochschule als über die Erteilung einer Bescheinigung nach § 15 BVFG, Träger sehr erfolgreich auf. So sank die Teilnehmerzahl Spätaussiedlerbescheinigung, erfolgen. Da die Länder für von 2004 bis 2006 um etwa 40 Prozent. Vor Ort wurde ihre Entscheidung regelmäßig den beim Bund geführten mir bestätigt, wie wichtig solche Kurse sind, zumal in Vorgang über das Bescheinigungsverfahren beiziehen manchen Kursen nicht nur Spätaussiedler sitzen, son- müssen – Voraussetzung für die Gewährung einer Einglie- dern auch Menschen anderer unterschiedlicher Spra- derungshilfe ist das Vorliegen der Spätaussiedlereigen- chen. Die Brückensprache aller ist die deutsche Sprache. schaft –, ist es nur konsequent, wenn das Bundesverwal- Ich selbst habe vor vielen Jahren an solchen Kursen als tungsamt hierüber gleich im Bescheinigungsverfahren Dozent mitgewirkt, dort waren es vor allem homogene entscheiden kann, sodass auch hier der aufwendige Klassen mit Russischsprachlern. Aktenversand an die Länder, die Prüfung jedes Antrages Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7665

(A) im Einzelfall und die entsprechende Verteilung der Bun- nahme in Deutschland zu finden und hat das geltende (C) desmittel auf die Länder entfallen kann. Recht nicht ausgereicht, dies zu verhindern? Sollte es hier wirklich ein Problem geben, wird sich die FDP einer Aufgrund der Veränderung der Zuständigkeit nach § 9 vernünftigen Lösung selbstverständlich nicht verschlie- Abs. 3 von den Ländern auf den Bund – sprich Bundes- ßen. verwaltungsamt – und der erweiterten Abfrage bei den verschiedenen Sicherheitsbehörden sowie der Über- Ohne Weiteres einleuchtend erscheint mir der gesetz- nahme von Fahrtkosten ergeben sich auch Mehrkosten. geberische Handlungsbedarf im Bereich des Zuzugs Diese belaufen sich auf etwa 370 000 Euro, die im Haus- Schwerkrimineller. Das geltende Recht stellt auf die Ab- haltsplan entsprechend eingearbeitet bzw. im Haushalts- sicht ab, sich durch Aussiedlung der drohenden Strafver- vollzug berücksichtigt werden. Im Einzelplan 06 ist also folgung zu entziehen. Es erscheint in der Tat sachgerech- Vorsorge getroffen und die Kosten sind in der mehrjähri- ter, nicht länger auf die Absicht, sondern auf die gen Finanzplanung vorgesehen. Schwere der Tat abzustellen. Auf diese Weise ist sicher- gestellt, dass Personen, die schwerwiegende rechtswid- Das Gesetz legt ebenfalls Wert darauf, dass Spätaus- rige Taten begangen haben, von der Aufnahme ausge- siedlerbewerber, die aufgrund einer Behinderung, sei sie schlossen sind. Im Übrigen lege ich Wert auf die vor oder nach dem Aufnahmeantrag hervorgetreten, er- Feststellung, dass es sich auch hierbei nicht um ein Mas- klärlicherweise keinen Sprachtest durchführen können, senphänomen handeln dürfte. In diesem Zusammenhang nicht befürchten müssen, damit einen Ausschlussgrund sei der Hinweis erlaubt, dass die aktuellen Kriminalitäts- zu liefern. Eine Bestätigung anderer, dass die deutsche und Integrationsstatistiken zeigen, dass Spätaussiedler Sprache vermittelt wurde, reicht aus. Das SGB IX wird – anders als vielfach behauptet – keine besondere Pro- hierbei herangezogen. blemgruppe darstellen und sich mehrheitlich gut in un- Und natürlich können wir niemandem, der aufgrund sere Gesellschaft integrieren. seiner Behinderung nie die deutsche Sprache sprechen Die FDP unterstützt alle Maßnahmen, die zu einer konnte, im Übrigen auch keine andere, dies als Aus- weiteren Verbesserung der Integration beitragen. Hierzu schlussgrund vorhalten. Eine Benachteiligung durch gehört die im Gesetzentwurf vorgesehene Zahlung von eine Behinderung ist damit ausgeschlossen. Zum ande- Fahrkostenzuschüssen, um Spätaussiedlern und ihren ren sind die Behörden auch sicher selbst in der Lage, sol- Angehörigen die Teilnahme an einem Integrationskurs che genauen Abschätzungen zu treffen. zu ermöglichen. Das Geld ist gut angelegt. Es fördert die Weitere wesentliche Änderungen sind bereits durch Integration von Spätaussiedlern und ihren Familienange- meinen Vorredner aus der Koalitionsfraktion benannt hörigen weiter und vermeidet Integrationskosten an an- (B) worden. Bis in manches Detail wurde neu geregelt, ob es derer Stelle. Die Bitte des Bundesrats, den Kreis der An- (D) die Euroumstellung oder auch die Anpassung an die spruchsberechtigten moderat zu erweitern, wird zu neue Rechtschreibung oder der Fall einer Frühgeburt prüfen sein. während der Aussiedlung ist. Damit haben wir auch wei- Die weiteren Änderungsvorschläge sind ganz über- terhin ein sehr gutes Vertriebenengesetz, was mir auch wiegend rechtstechnischer und verwaltungspraktischer vor wenigen Tagen von einem Betroffenen unter Hin- Natur. Sie werden einen Beitrag zum Bürokratieabbau weis auf Gesetze anderer Länder bestätigt wurde. leisten. Das gilt vor allem für die Übertragung der Zu- Dem weiteren parlamentarischen Verfahren wünsche ständigkeit für die Entscheidung über die Gewährung ich ein gutes Gelingen. Die SPD-Fraktion wird diesen der pauschalen Eingliederungshilfe von den Ländern auf Gesetzentwurf der Bundesregierung unterstützen. das Bundesverwaltungsamt sowie die Abschaffung des Zustimmungsverfahrens im Rahmen des schriftlichen Dr. Max Stadler (FDP): Der gesetzgeberische Hand- Aufnahmeverfahrens. lungsbedarf zur Änderung des Vertriebenen rechts er- schließt sich bei Lektüre des Gesetzentwurfs nicht auf Ulla Jelpke (DIE LINKE): Früher wurden die Enkel Anhieb. Die Bundesregierung will das Bundesvertriebe- und Urenkel deutscher Vorfahren aufgefordert, so nengesetz den politischen Entwicklungen anpassen, in schnell wie möglich in die kapitalistische BRD zu kom- der Verwaltungspraxis aufgetretene Probleme lösen und men. Spätaussiedler galten als Kronzeugen gegen den den Zuzug von Extremisten und Terroristen verhindern. Sozialismus und wurden hemmungslos als Mittel im Kalten Krieg instrumentalisiert. Heute hingegen werden Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang die viel- sie vor allem diskriminiert. Wer einwandern will, ist leicht ein wenig naiv anmutende Frage, ob sich das ver- nicht mehr willkommen, nach dem Motto: Die Russ- triebenenrechtliche Aufnahmeverfahren in der Vergan- landdeutschen haben ihre Schuldigkeit getan, sie sollen genheit zu einem Einfallstor für Extremisten und fortbleiben. Terroristen entwickelt hat. Mir ist eine solche Entwick- lung nicht bekannt. Wenn es im Gesetzentwurf heißt, Das vorgeschlagene Gesetz erweitert die Politik der hier müsse eine Lücke geschlossen werden, damit Extre- Abschottung, eines der Markenzeichen dieser Bundesre- misten und Terroristen keine Aufnahme finden, erwarte gierung, auf die sogenannten Spätaussiedler. Dazu die- ich hierzu von der Bundesregierung weiteren Tatsachen- nen zwei Hebel: Die Deutschkenntnisse sollen künftig vortrag. Hat es in der Vergangenheit Fälle gegeben, in zu einem früheren Zeitpunkt nachgewiesen werden, da- denen Extremisten oder Terroristen versucht haben, über mit auch ein Ablehnungsbescheid früher erfolgen kann. Verfahren nach dem Bundesvertriebenengesetz Auf- Damit werden Familien noch stärker auseinandergeris- 7666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) sen. Innerhalb eines Familienverbandes gibt es dann Rechtsstaatlich bedenklich ist hingegen die Verschär- (C) Deutsche und Ausländer, Menschen, die kommen dür- fung der Ausschlusstatbestände beim Zuzug von Spätaus- fen, und solche, die draußen bleiben müssen. Das ist we- siedlern. So wird in § 5 des Gesetzentwurfes mit sehr un- der nachvollziehbar noch human. klaren Formulierungen geregelt, dass bei Verbrechen, die im Herkunftsland begangen und auch nach deutschem Der zweite Hebel gibt vor, Schwerkriminelle, Extre- Recht strafbar sind, kein Zuzug erfolgen darf. Das gilt auch misten und Terroristen von der Einreise abhalten zu wol- für die Beteiligung an Gewalttaten oder Aufruf zu Gewalt- len. Praktisch wird den Aussiedlern generelles Miss- taten zur Verfolgung politischer Zwecke. Hier besteht noch trauen entgegengebracht. Das Bundesverwaltungsamt erheblicher Klärungsbedarf in den Ausschüssen welche kann nach Gutdünken Abfragen beim BND, beim MAD, Fälle denn da gemeint sind. Es muß sicher sein, dass hier beim Verfassungsschutz, beim BKA und beim Zollkri- nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird. minalamt vornehmen. Wenn Spätaussiedler als soge- nannte Extremisten gelten, die die freiheitlich-demokra- Eine der wichtigsten Änderungen der Rechtslage für tische Grundordnung gefährden, dürfen sie nicht Spätaussiedler durch das Zuwanderungsgesetz war die zuwandern. Das öffnet der Willkür Tür und Tor. Denn neu eingeführte Voraussetzung des Nachweises von gegen die Verdächtigungen der Schlapphüte können sich Grundkenntnissen der deutschen Sprache für Ehegatten die Betroffenen nicht effektiv zur Wehr setzen. und Kinder eines Spätaussiedlers, also § 27 Abs. 1 Bun- desvertriebenengesetz. Diese Neuregelung wird vom Wir wissen alle, wie die Geheimdienste arbeiten, und Bundesinnenministerium in seinem Evaluierungsbericht wir können uns vorstellen, was bei diesen Extremismus- des Zuwanderungsgesetzes überwiegend als sachgerecht abfragen herauskommt. Als Extremist gilt dem Verfas- angesehen, während die meisten Wohlfahrtsverbände sungsschutz bekanntlich jeder, dessen Ansichten von der diese Regelung ablehnen. Im vorliegenden Gesetzentwurf Generallinie abweichen. Das Bekenntnis zum demokra- wird jetzt eine Regelung eingeführt, auf das Vorliegen der tischen Sozialismus reicht ja schon aus, um als Verfas- Sprachkenntnisse zu verzichten, wenn eine Behinderung sungsfeind denunziert zu werden. Viele Abgeordnete un- vorliegt. Das reicht aber bei weitem nicht aus. Die Be- serer Fraktion haben es ja schriftlich, dass sie beobachtet stimmungen müssen ganz allgemein gelockert werden. werden. Im Grenzdurchgangslager Friedland wurden im Jahre Ich frage mich, ob der Bundesregierung eigentlich 2006 insgesamt 8 000 Aussiedler aufgenommen. Seit Er- klar ist, was sie da für eine Ungeheuerlichkeit vor- öffnung des Lagers im Jahre 1945 habe es nie so wenige schlägt: Wer sich für sozialistische Ziele einsetzt, kann Deutschstämmige gegeben, die zurück in ihre ursprüng- nicht Deutscher sein. Überlegen Sie sich mal, an welche liche Heimat wollen, wird der Leiter der Einrichtung in Tradition Sie damit anknüpfen! der Zeitung „Die Welt“ zitiert. Im Jahr 2005 waren noch (B) (D) Das Bundesvertriebenengesetz hat sich überlebt. Es 35 527 Aussiedler gekommen. Seit Inkrafttreten des Zu- basiert nach wie vor auf dem überkommenen Prinzip der wanderungsgesetzes ist der Zuzug von Spätaussiedlern Blutsgemeinschaft. Dieses wird mit kulturrassistischen nach Deutschland im Durchschnitt um rund 40 Prozent Versatzstücken garniert, wie etwa dem „Bekenntnis zum gesunken. deutschen Volkstum“. Und um die schlechtesten deut- Viele schrecken also offenbar vor der Deutschprüfung schen Traditionen hochzuhalten, wird ausgeschlossen, zurück, was auch klar ist, weil sie diese Sprache oft wer nicht dem politischen Wunschbild deutscher Behör- schon seit langem nicht mehr anwenden konnten. Im den entspricht. Jahr 2005 haben zum Beispiel knapp 25 Prozent der An- Faktisch gibt es für das Gesetz keine Berechtigung tragsteller den Test bestanden. mehr. Die Einreisequoten sind seit Jahren im Sinkflug. Anstatt dieses Problem zu lösen und Sprachförderung Im Jahr 2005 sind noch 35 000 Spätaussiedler eingereist, dann gezielt in Deutschland nach der Einreise voranzu- die Zahlen gehen weiter stark zurück. Deswegen plädie- treiben, dürfen Spätaussiedlerbewerber, deren Sprach- ren wir dafür, das Gesetz aufzuheben und stattdessen das kenntnisse nicht ausreichen, gar nicht erst einreisen. Und Zuwanderungsgesetz so zu reformieren, dass es seinen sogar noch viel schlimmer: Im so genannten Zuwande- Namen wirklich verdient. Dort kann auch der Umgang rungs-Änderungsgesetz, auf das wir jetzt ja schon ein mit Personen geregelt werden, deren Vorfahren deutsche Jahr warten dürfen – weil Sie sich nicht einig sind – sol- Staatsbürger waren. len jetzt auch nachziehende Ehegatten von in Deutschland lebenden Ausländern ebenfalls ausreichende Deutsch- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kenntnisse vor anstatt nach der Einreise nachweisen Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur müssen. Damit dürfte dann die Zahl der nachziehenden Reform des Bundesvertriebengesetzes enthält ein wenig Familienangehörigen zu Migranten nach Deutschland Licht, aber auch sehr viel Schatten. ebenfalls drastisch zurückgehen. Wie das alles mit dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Familie zu ver- Die Möglichkeit der Fahrtkostenerstattung für Teil- einbaren ist, bleibt Ihr Rätsel. Dazu können Sie unsere nehmer am Integrationskurs haben wir selbst immer ge- Unterstützung nicht erwarten und daher werden wir fordert, und zwar für alle Integrationskursteilnehmer. Es Ihren Gesetzentwurf ablehnen. ist absolut unverständlich, warum diese Erstattung nicht auch für die Familienangehörigen von Spätaussiedlern Es gibt auch Aspekte, mit denen wir keine Probleme ha- gewährt wird, wie dies auch der Bundesrat in seiner Stel- ben: Zunächst die Aufhebung der Kriegsfolgenschicksals- lungnahme zu diesem Gesetz gefordert hat. vermutung für Spätaussiedler aus den baltischen Staaten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7667

(A) Dies ist eine logische Folgeanpassung durch die Erweite- chen. Die Felder dieser Politik des Lastenausgleiches (C) rung der Europäischen Union. Eine kollektive Verfol- sind bekanntlich vielfältig gewesen. gungslage wird also nur noch für die Nachfolgestaaten der Es entsprach der Logik dieser Solidarität – und war Sowjetunion angenommen. Auch gegen die Zusammen- außerdem vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher legung der bislang höchst umständlichen und für die Be- Konsequenzen aus Art. 116 Grundgesetz geboten –, die troffenen langwierigen Verwaltungsverfahren bis zur Ertei- Deutschen in den Ländern Osteuropas, die infolge des lung des Aufnahmebescheids haben wir keine Einwände. Krieges wegen ihrer Volkszugehörigkeit schwere Lasten Das alles reicht für uns aber nicht aus. In der jetzigen zu tragen hatten, in den Hilfsanspruch gegenüber unse- Form können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. rem deutschen Gemeinwesen einzubeziehen. Eingedenk dieser Zusammenhänge wird deutlich: Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Aussiedlerpolitik ist nicht irgendeine Zuwanderungspo- Bundesminister des Innern: Das Bundesvertriebenenge- litik. Aussiedlerpolitik ist Teil des bis in unsere Tage setz, für das wir Ihnen heute einen Novellierungsentwurf fortreichenden Bemühens der Bundesregierung, sich der vorlegen, ist seit nunmehr 54 Jahren in Kraft. Die Vor- nationalen Verantwortung Deutschlands im Blick auf die lage dieses 7. Novellierungsgesetzes unterstreicht aber, Folgen von Nationalsozialismus und des Zweiten Welt- dass wir die Regelungen dieses Gesetzes nach wie vor krieges zu stellen. Deshalb bedarf es auch weiterhin der benötigen, mehr noch, dass das Grundanliegen des Ge- besonderen Regelung des Bundesvertriebenengesetzes. setzes weiterhin Bedeutung besitzt. Das Bundesvertriebenengesetz hat über 4,4 Millionen „Wir bekennen uns auch weiterhin zu der Verantwor- dieser Menschen ermöglicht, nach Deutschland zu kom- tung sowohl für diejenigen Menschen, die als Deutsche men und hier ein neues Leben zu beginnen. Die durch in Ost- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion un- beiderseitige Anstrengung gelungene Eingliederung die- ter den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten haben ser Menschen in unsere Gesellschaft stellt eine historisch und in ihrer jetzigen Heimat bleiben wollen, als auch für einmalige Leistung dar, deren positive Auswirkungen jene, die nach Deutschland aussiedeln. Dies gilt insbe- auf unser Gemeinwesen überall gegenwärtig sind. sondere für die Deutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, bei denen das Kriegsfolgenschicksal am Auch heute noch finden Spätaussiedler nach dem längsten nachwirkt.“ – So steht es in unserer Koalitions- Bundesvertriebenengesetz Aufnahme in Deutschland. vereinbarung. Zwar geht die Zahl der Aufgenommenen seit Jahren deutlich zurück – im Jahr 2006 sind nur noch rund 8 000 Damit hebt die Koalitionsvereinbarung den Zusam- Spätaussiedler zu uns gekommen –, aber unsere beson- menhang zwischen Aussiedlerpolitik und Kriegsfolgen- dere Verantwortung für diese Menschen bleibt bestehen. (B) bewältigung deutlich hervor. Ohne diesen Zusammen- (D) hang bleibt das Anliegen von Aussiedlerpolitik Die Randbedingungen auch für die Zuwanderung von unverständlich. Spätaussiedlern verändern sich jedoch. Deshalb bedarf auch das Bundesvertriebenengesetz der Novellierung. Dabei hilft der zeitgeschichtliche Rückblick auf die So soll das Gesetz mit dem von der Bundesregierung Nachkriegssituation, die Dimensionen der Politik zur vorgelegten Entwurf eines 7. Änderungsgesetzes wieder Kriegsfolgenbewältigung besser zu erkennen. Nach dem auf den neuesten Stand gebracht werden. Grauen des Nationalsozialismus und den Katastrophen des Zweiten Weltkrieges stand die Frage: Wie stellt sich Dazu muss das Bundesvertriebenengesetz erstens an Deutschland, wie stellen sich die Deutschen ihrer natio- die Osterweiterung der Europäischen Union angepasst nalen Verantwortung? Eine Frage, die ihre Bedeutung werden. So sieht der vorgelegte Gesetzentwurf vor, dass bekanntlich bis heute nicht völlig verloren hat. Personen aus den baltischen Staaten, die als Spätaussied- ler nach Deutschland kommen wollen, in Zukunft wie Dabei umfasste das Verständnis von nationaler Ver- Spätaussiedler aus den sonstigen mittel- und osteuropäi- antwortung mindestens zwei Aspekte: Zum einen ging schen Staaten ein Kriegsfolgenschicksal nachweisen es nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches um müssen. Denn bei Mitgliedstaaten der Europäischen Versöhnung und Wiedergutmachung gegenüber den Op- Union kann man nicht mehr grundsätzlich davon ausge- fern des nationalsozialistischen Rassenwahns und der hen, dass Menschen dort weiterhin unter einem Kriegs- Hitler’schen Eroberungskriege. Neben diesem Versöh- folgenschicksal leiden. Vermutet wird ein Kriegsfolgen- nungsziel stand aber unabweislich die Herausforderung schicksal damit in Zukunft nur noch für deutsche zur Solidarität unter den Deutschen, die von den Folgen Volkszugehörige aus den Republiken der ehemaligen von Krieg und Gewaltherrschaft sehr unterschiedlich, oft Sowjetunion, die noch immer auf ihre gesetzliche Reha- willkürlich oder zufällig betroffen waren. Es gab solche, bilitierung warten. Außerdem wird die Wirksamkeit die das Glück hatten, heil aus dem Krieg zurückzukeh- noch gültiger Altbescheide für Staatsangehörige eines ren, und solche, die getötet oder verletzt wurden. Es gab Mitgliedstaates der Europäischen Union zeitlich be- diejenigen, die in ihrer Heimat weiterlebten, und diejeni- schränkt. gen, die aus der Heimat vertrieben wurden. Zweitens werden die Gründe für einen Ausschluss Nationale Verantwortung übernehmen bedeutete des- von der vertriebenenrechtlichen Aufnahme an das Auf- halb neben den notwendigen deutschen Aussöhnungsbe- enthaltsgesetz und an das Staatsangehörigkeitsgesetz an- mühungen auch, den solidarischen Ausgleich unter den gepasst. Künftig sind auch Personen, die ein Verbrechen Deutschen unterschiedlicher Kriegsbetroffenheit zu su- begangen, den Terrorismus unterstützt oder sich gegen 7668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet um und löst damit die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie (C) haben, vom Erwerb des Spätaussiedlerstatus ausge- aus dem Jahr 1993 ab. Auf den ersten Blick mag der Inhalt schlossen. So wird verhindert, dass Personen mit krimi- des Gesetzes für manch einen oder eine zunächst verwir- nellem oder terroristischem Hintergrund das vertriebe- rend wirken. Und wirklich: Der Gesetzentwurf zur natio- nenrechtliche Aufnahmeverfahren missbrauchen. Der nalen Umsetzung der europäischen Richtlinie über Schutz vor Zuwanderung von Schwerkriminellen, ge- Märkte für Finanzinstrumente – kurz MiFID – enthält eine waltbereiten Extremisten und Terroristen wird damit ganze Masse an Detailregelungen und technischen Ände- weiter verstärkt. rungen. Drittens wird das vertriebenenrechtliche Aufnahme- Die bevorstehende Umsetzung der MiFId durch das verfahren vereinfacht. In Zukunft ist allein das Bundes- Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz wird aller- verwaltungsamt für das Verfahren zuständig. Die bisher dings das deutsche wie auch das europäische Bank-, Bör- noch verbliebene Beteiligung der Länder entfällt. Damit sen- und Kapitalmarktrecht von Grund auf verändern. An- werden unnötige Doppelprüfungen in Zukunft vermie- ders ausgedrückt: Die MiFID wird das neue Grundgesetz den und Bürokratie abgebaut. Dem Ziel der Verwal- des europäischen Kapitalmarktes. Denn im Vergleich zu tungsvereinfachung dient auch der Vorschlag der Bun- ihrer Vorgängerin, der Wertpapierdienstleistungsrichtli- desregierung, festzulegen, dass die Bescheinigung, die nie, ISD, aus dem Jahr 1993, erweitert die MiFID das den Angehörigen der Spätaussiedler vom Bundesverwal- Spektrum der betroffenen Finanzdienstleistungen: tungsamt erteilt wird, auch ihren Deutschenstatus bestä- Neben Kreditinstituten, Wertpapierfirmen und organi- tigt. Durch diese Änderung sollen abweichende Ent- sierten Märkten, Börsen, werden erstmals auch Anlage- scheidungen der Staatsangehörigkeitsbehörden zum berater, Betreiber multilateraler Handelssysteme, MTF, Status der Angehörigen der Spätaussiedler vermieden außerhalb organisierter Märkte, Vermögensverwalter werden. und vertraglich gebundene Vermittler erfasst. Viertens findet das grundgesetzliche Verbot, Behin- Gleichzeitig vergrößert sich der Kreis der betroffenen derte zu benachteiligen, künftig bei Sprach- und Sprach- Finanzinstrumente über die klassischen Wertpapiere und standstests eine klare gesetzliche Grundlage: für Behin- Derivate hinaus: Neu aufgenommen wurden Kredit- derte werden insoweit Ausnahmeregelungen geschaffen. derivate, Derivatkontrakte sowie finanzielle Differenz- Außerdem werden die Möglichkeiten erweitert, einen geschäfte. Und im Gegensatz zur Wertpapierdienstleis- deutschen Familiennamen zu führen und sich damit von tungsrichtlinie, die den europäischen Mitgliedstaaten Anfang an mehr als Teil der deutschen Gesellschaft zu noch individuelle Auslegungen und Handhabungen er- empfinden. möglicht hatte, sieht die MiFID für alle verbindliche (B) Schließlich verbessert das 7. Änderungsgesetz die Vorschriften vor. (D) Regelungen des Bundesvertriebenengesetzes zur Inte- Das Ziel: ein einheitlicher, harmonisierter europäi- gration der Spätaussiedler und ihrer Angehörigen. Sie scher Finanzmarkt bei gleichzeitiger Stärkung des Wett- erhalten in Zukunft einen Fahrkostenzuschuss, wenn sie bewerbs und des Anlegerschutzes. Daher zählen zu den einen Integrationskurs besuchen wollen, der von dem Kernstücken der MiFID die Transparenzpflichten wie Wohnort, der ihnen zugewiesen wurde, nicht zumutbar Vor- und Nachhandelstransparenz, mit der in Zukunft erreicht werden kann. aktuelle Konditionen für den Kauf und Verkauf von Ak- Mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Ent- tieninstrumenten in Europa offengelegt werden müssen. wurf eines 7. Änderungsgesetzes zum Bundesvertriebe- Gerade diese Neuregelung zeigt, wie eng der Zusam- nengesetz erfahren die Regelungen zur Aufnahme von menhang von verbessertem Investorenschutz und grenz- Spätaussiedlern die gebotenen Modernisierungen. Denn überschreitendem Wettbewerb ist: Anbieter und Han- Zuwanderung nach dem Vertriebenenrecht findet auch delsplätze werden so durch die neue Transparenz heute noch statt. Lassen Sie uns die Chance nutzen, sie gebunden, den Anlegern die jeweils besten Handelsmög- weiterhin auf eine rechtliche Basis zu stellen, die den ak- lichkeiten und Kurse anzubieten. tuellen Anforderungen unserer Gesellschaft an Zuwan- Eine ähnliche Wirkung wird von der verschärften derung genügt Pflicht zur „bestmöglichen Ausführung von Kunden-Or- ders“, der Best Execution erwartet. Des Weiteren sollen die Wohlverhaltensregeln sicherstellen, dass die Wertpa- Anlage 5 pierfirmen „ehrlich, redlich und professionell im best- Zu Protokoll gegebene Reden möglichen Interesse ihrer Kunden handeln und diese ein- deutig über die Chancen und Risiken ihrer Geldanlage zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur informieren“. So lautet der Text der Richtlinie. Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Fi- nanzinstrumente und der Durchführungsricht- Gänzlich neu an der MiFID ist in diesem Zusammen- linie der Kommission (Finanzmarkt-Richtlinie- hang die Beweislastumkehr: In Zukunft müssen die An- Umsetzungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 19) bieter nachweisen, dass sie alles getan haben, um eine Schädigung des Anlegers zu vermeiden. Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Das Finanzmarkt- Hier legt die MiFID eine spezifischere Klassifikation Richtlinie-Umsetzungsgesetz setzt die europäische Richt- der Kunden zugrunde als dies bisher der Fall war. Ent- linie über Märkte für Finanzinstrumente – kurz MiFID – sprechend wurden vom professionelle Kunden bis hin Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7669

(A) zum Kleinanleger die Anforderungen an die Qualität des tungen müssen ein System etablieren, das die kundengüns- (C) internen Kontrollsystems und die Dokumentation in den tigste Ausführung ermöglicht. Unternehmen erhöht. Bei der nationalen Umsetzung der Richtlinie ist darauf Wie Sie sehen, ist der Regelungsbereich der europäi- zu achten, dass diese Transparenzanforderungen zwi- schen MiFID weit. Absehbar werden wir uns im weite- schen Kunde und Wertpapierdienstleister ihre positive ren Verfahren der parlamentarischen Beratungen mit den Wirkung entfalten können – und nicht zum „Gläsernen Petiten des Bundesrates auseinanderzusetzen haben wie Kunden“ oder zu einem bürokratischen und kostspieligen beispielsweise dem Thema Best Execution oder der Auf- Apparat führen. sicht über multilaterale Handelssysteme. Ein weiterer inhaltlicher Eckpunkt des FRUG ist der Des Weiteren werden wir uns bei diesem Gesetz auch mit Wettbewerb für Handelsplattformen. In Zukunft sind Inter- der Fragestellung auseinandersetzen müssen, dass wir wie- nalisierungssysteme in ganz Europa erlaubt. Systematische der einmal die nationale Umsetzung einer europäischen Internalisierer führen regelmäßig Kundenaufträge auf Richtlinie vollziehen sollen, bei der auf europäischer Ebene eigene Rechnung und nicht über Börsen oder multilaterale im entsprechenden Gremium des Lamfalussy-Verfahrens Handelssysteme aus. Vorher herrschte in einigen Ländern, noch nicht einmal alle Punkte abgearbeitet wurden. zum Beispiel Frankreich, Börsenzwang. In Deutschland ist lnternalisierung bereits erlaubt. Nina Hauer (SPD): Die Umsetzung der MiFID-Richt- In Zukunft ergeben sich durch die Richtlinie neue linie – der EU-Richtlinie über Märkte für Finanzinstru- grenzüberschreitende Geschäftsmöglichkeiten für deut- mente – ist das Kernstück des Programms zur Schaffung sche Internalisierer, aber auch für Börsen und multilaterale eines Finanzbinnenmarktes in der Europäischen Union. Handelssysteme – denn alle haben jetzt einen Europäi- schen Pass. Sie wird völlig zu Recht als das „Grundgesetz des Finanzmarktes“ bezeichnet. Für den Wertpapiersektor ist Bestandteil der Richtlinie sind auch Preistransparenz- diese Richtlinie, was Basel II für die Banken oder anforderungen für alle drei Arten von Handelsplattfor- Solvency II für die Versicherungen ist. Und so ziemlich men. Diese Anforderungen sind wichtig für die Fairness jeder Marktteilnehmer auf dem Finanzmarkt wird vom und Transparenz am Finanzmarkt. vorliegenden Gesetz – dem FRUG – betroffen sein. Ein Beispiel: Außerbörslich abgeschlossene Aktien- Das Ziel der Richtlinie ist es, europaweit einheitliche geschäfte müssen künftig gegenüber anderen Marktteil- Regeln für die Erbringung von Wertpapierdienstleistun- nehmern transparent gemacht werden, da die Hälfte der gen, wie zum Beispiel Anlageberatung, Vermittlung von Aktien außerbörslich gehandelt werden. Für die anderen (B) Investmentfonds und Dienstleistungen im Zusammen- Anleger werden durch die Meldung dieser Transaktionen (D) hang mit Warenderivaten zu schaffen. wichtige Informationen geboten. Wer Wertpapierdienstleistungen erbringt, steht unter Die europäische Richtlinie ist bahnbrechend für die Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf- Wertpapierbranche. Sie bietet große Vorteile gerade für sicht, BaFin. Im Gegenzug bekommt er einen sogenannten die Privatkunden, die Anlageberatung in Anspruch neh- Europäischen Pass, kann also seine Dienstleistungen men, und bietet einen hohen Anlegerschutz europaweit. grenzüberschreitend in Europa anbieten. Gleichzeitig stellt sie Regeln für einen europaweiten Wettbewerb auf, bei dem unsere Dienstleister gut ab- Auch für die Anleger bedeutet die Richtlinie Positives, schneiden können. denn der Anlegerschutz wird ausgeweitet und europa- weit harmonisiert. Insgesamt entsteht so mehr Wett- Die Unternehmen arbeiten bereits an der Umsetzung: bewerb – und auch ein besserer Wettbewerb –, um den Neue Broschüren, AGBs und Formulare müssen erstellt Kunden unter einheitlichen europaweiten Bedingungen. werden, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geschult wer- Beispielsweise müssen bei der Ausführung von Wert- den. Natürlich wird das ein Kraftakt für alle Beteiligten. papiergeschäften neue organisatorische Anforderungen Dieser Kraftakt wird aber den Finanzbinnenmarkt deut- eingehalten werden, wie Risikokontrolle und die Offen- lich voranbringen und durch klare Spielregeln Nutzen legung von Interessenkonflikten. Neue Wohlverhaltensre- für Anleger und Anbieter bringen. geln gelten im Verhältnis zum Kunden: die Informations- Wir nehmen den Gesetzentwurf der Bundesregierung pflichten vor Abschluss eines Wertpapiergeschäfts, vor positiv entgegen – und werden ihn intensiv und sorgfältig allem die Offenlegung von Gebühren und Provisionen beraten. und die Geeignetheitsprüfung von Wertpapiergeschäften für die Kunden. Kunden werden in Privatkunden und professionelle Kunden unterschieden, bei Privatkunden Frank Schäffler (FDP): Mit dem vorliegenden Ge- fallen Informationspflichten umfangreicher aus. Bei der setzentwurf des Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsge- Beratung der Kunden müssen umfangreiche Dokumen- setzes, FRUG, setzen wir die Richtlinie über Märkte für tationspflichten eingehalten werden, wie zum Beispiel Finanzinstrumente, MiFID, um, eine Richtlinie, die in die Protokollierung des Beratungsgesprächs und dessen der Finanzwirtschaft für erheblichen Aufwand und er- Archivierung. hebliche Kosten sorgen wird. Die Bundesregierung konnte auf meine Anfrage im Dezember die zu erwarten- Es besteht die Pflicht zur bestmöglichen Ausführung den Kosten nicht beziffern. Für Großbritannien hat die von Kundenaufträgen: Erbringer von Wertpapierdienstleis- britische Finanzaufsicht FSA Einführungskosten von bis 7670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) zu 1 Milliarde Pfund sowie laufende Kosten in Höhe von Regierungspolitik es in beklagenswerter Kontinuität tut, (C) 100 Millionen Pfund pro Jahr errechnet. Die FSA geht die Lohnabhängigen durch reale Rentenkürzungen in die außerdem von positiven Effekten in Höhe von 200 Millio- private Altersvorsorge treibt, ist dies nur konsequent. nen Pfund jährlich aus. Denn dann kann auch erwartet werden, dass die „kleinen Leute“ vor den „schwarzen Schafen“ der Finanzmärkte Die Finanzmarktrichtlinie ist der wichtigste Bestandteil geschützt werden. Die gute Nachricht ist, dass das der Finanzmarktharmonisierung im Wertpapierbereich. Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz hier einen Bereits jetzt ist jedoch fraglich, inwieweit diese Harmoni- Fortschritt gegenüber dem Status quo darstellt. sierung gelingt. Aus anderen EU-Mitgliedsländern gibt es sehr unterschiedliche Meldungen, wie die MiFID dort Zu begrüßen ist an dem vorgelegten Entwurf unter an- umgesetzt wird. In Deutschland haben wir uns seitens der derem das Erfordernis einer Berufshaftpflichtversicherung FDP-Fraktion das Ziel der Eins-zu-eins-Umsetzung ge- mit seinen für die Anleger verbesserten haftungsrechtli- setzt. Entgegen dem Vorgehen bei anderen Gesetzesvor- chen Konsequenzen. Gleiches gilt für die detaillierteren haben haben sich bei diesem Gesetz auch die Koalitions- Wohlverhaltensregeln bei der Beratung, Verwaltung und fraktionen darauf verständigt. Dies ist im Sinne der Vermittlung von Finanzprodukten im Sinne des Verbrau- Verhinderung unnötiger Bürokratie geboten. Das ist aber chers. Positiv sind auch die konkreten Bedingungen zur auch gerade im Hinblick auf die Unternehmen, die die Offenlegung der Kosten der Finanzprodukte. Zudem wurde neuen Regelungen umsetzen müssen, dringend erforder- die Anlageberatung zur Hauptdienstleistung gemacht, lich. Wenn wir im europäischen Vergleich keine über die woraus höhere Ansprüche an die fachliche Eignung der Richtlinie hinausgehende Bürokratie haben, wird uns Berater resultieren. das im Wettbewerb nicht schaden. Wie jedoch so oft in der Gesetzgebung werden ins- Es ist auch gut, wenn wir das Gesetz, so wie wir es gesamt gute Regelungen durch Ausnahmetatbestände jetzt geplant haben, bis zum 30. März umsetzen, damit konterkariert. Dies ist leider auch in puncto verbesserter die Unternehmen dann schnellstmöglich Rechtssicher- Anlegerschutz der Fall. Ich will hier gar nicht näher heit haben, da sie die Regeln ja schon zum 1. November darauf eingehen, dass die geschlossenen Fonds aus ver- anwenden müssen. Wir hätten es natürlich begrüßt, braucherfreundlichen Anforderungen der MiFID-Richt- wenn man auf europäischer Ebene noch eine längere linie herausgenommen wurden. Geschlossene Fonds Umsetzungsfrist hätte aushandeln können. sind primär etwas für vermögende Finanzjongleure, die ein hohes Risiko eingehen. Das sollen sie meinetwegen Wir unterstützen die Bundesregierung bei der Ableh- auch tun. Allerdings berichten Verbraucherschützer, dass nung des Vorschlags des Bundesrates, die Best-Execution- geschlossene Fonds mittlerweile auch zur Altersvor- Regelungen auch auf Investmentanteile anzuwenden. sorge genutzt werden. Dies ist besorgniserregend. Sie (B) (D) Eine solche Anwendung ginge über die Anforderungen haben es schlichtweg versäumt, den schwarzen Schafen der Richtlinie hinaus. Sie ist auch, nicht erforderlich, da auf diesem Markt mit der Anwendung der Regulierungen der Kundenschutz über die Regelungen des Investment- das Handwerk zu legen. Ein ärgerlicher Tatbestand! gesetzes gewährleistet ist. Ein weiterer Ausnahmetatbestand zulasten der Ver- Die von der Bundesregierung zwischenzeitlich unter braucher ist der Ausschluss der freien Fondsvermittler dem Stichwort „Bürokratieabbau“ geplante Übertragung aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes. Daraus resul- der Zulassung von Wertpapieren auf die BaFin hätten tiert, dass diese Vermittler weder den Wohlverhaltensregeln wir nicht mitgetragen. Wir begrüßen, dass nun nach dem unterliegen, noch den Nachweis der Sachkunde und Gesetzentwurf die Börsengeschäftsführung die Aufgabe einer Berufshaftpflichtversicherung erbringen müssen. der Zulassungsstelle übernimmt. Ich betone das deshalb, Die Verbraucher werden nicht erkennen, dass ein Pro- weil aus dem Bundesfinanzministerium geäußert wurde, dukt unterschiedlichen Schutzniveaus je nach Vertriebs- man treffe diese Regelung „wider besseres Wissen“ und weg unterliegt. Hier müssen einheitliche Regelungen wolle die Zuständigkeit lieber auf die BaFin übertragen. geschaffen werden. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren wird zu prüfen Ich bekomme oft Zuschriften von Kleinanlegern, die sein, welche Detailänderungen die Sachverständigen sich bitter darüber beklagen, dass sie ihr schwer verdien- noch vorschlagen. Wir sollten insbesondere auch darauf tes Geld verloren haben. Es ist ein äußerst verwerflicher achten, inwieweit das FRUG zu wirklicher Transparenz Tatbestand, dass geschädigte Anleger nach wie vor die für die Anleger beiträgt und nicht nur zu einem weiteren Fehler bei der Anlageberatung beweisen müssen. Man Anwachsen der Papierberge führt, die die Anleger schon kann sich vorstellen, dass gerade Kleinanleger damit heute überreicht bekommen. überfordert sind. Obwohl der Berater im Zusammenhang Die FDP-Fraktion freut sich auf konstruktive Aus- mit der Geeignetheits- und Angemessenheitsprüfung ge- schussberatungen und wird ihren Teil dazu beitragen, genüber der BaFin jederzeit entsprechende Informationen dass die Umsetzung der MiFID in Deutschland ein Erfolg darlegen muss, ist er dazu nicht im Falle eines Rechts- wird. streits gegenüber den Gerichten gezwungen. Diesbezüg- lich muss schnellstmöglich Abhilfe geschaffen werden. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Am Finanzmarkt- Last, but not least brauchen wir in diesem Kontext Richtlinie-Umsetzungsgesetz ist aus meiner Sicht ein kürzere Verjährungsfristen bei fehlerhafter Beratung. zentraler Punkt entscheidend: die Verbesserung des Ver- Verbraucher erhalten auch bei der Altersvorsorge erst braucherschutzes für Kleinanleger. Wenn man, wie die dann Kenntnis über bestehende Ansprüche, wenn die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7671

(A) Fristen abgelaufen sind. Was unter dem Finanzminister können langfristig das Vertrauen der Anleger gewinnen (C) Eichel bereits auf dem Weg war, muss erneut aufgegrif- und damit einen Anreiz zur Investition bieten. Wichtig fen werden. Die Verjährung in der Anlagenberatung wird es allerdings sein, Lösungen zu finden, die für die sollte den längeren zivilrechtlichen Regelungen ange- Unternehmen auch tragbar sind. Eine Einbeziehung ge- passt werden. schlossener Fonds könnte etwa großzügigere Über- gangsfristen erfordern. Das Angesprochene wird die Altersvorsorge der auf Solidarität angewiesenen Einkommensschwachen nicht Auch in Bezug auf ein weiteres Finanzprodukt beste- verbessern.; denn dazu taugt die private Vorsorge nicht. hen noch immense Regelungdefizite. Die Rede ist von Jedoch würde den erzwungenermaßen privat Versorgenden Zertifikaten, einem Anlageprodukt, das sich in jüngster mit konsequenteren Regelungen des Verbraucherschut- Vergangenheit besonderer Beliebtheit bei deutschen An- zes zumindest die eine oder andere böse Überraschung legern erfreut. Zwar werden Zertifikate im Gegensatz zu erspart. geschlossenen Fonds eindeutig von den Änderungen durch das FRUG erfasst. Allerdings werden die neuen Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anforderungen durch die MiFID den besonderen Risi- Mit der Finanzmarkt-Richtlinie, der sogenannten ken dieses Anlageproduktes nicht gerecht. So wird es MiFID, reagiert die EU auf die rasanten Entwicklungen nach wie vor keine ausreichende Transparenz hinsicht- im Bereich des Kapitalmarktes. Einerseits finanzieren lich einer fairen ersten Preisbildung von Zertifikaten ge- sich Unternehmen zunehmend über den Kapitalmarkt ben. Auch objektive Mistrade-Regeln, die sich an inter- anstelle der klassischen Aufnahme von Krediten. Ande- nationalen Standards orientieren, sind nicht absehbar. Es rerseits dient der Kapitalmarkt einem immer breiteren bedarf also der gesetzlichen Nachbesserung, um der Ei- Anlegerpublikum zum Vermögensaufbau für die Alters- genheit und Komplexität von Zertifikaten angemessen vorsorge. Die Anzahl der Akteure und die Vielfalt der zu begegnen und den Anlegerschutz umfassend zu ge- Produkte steigen kontinuierlich, nur der gesetzliche Rah- währleisten. men hielt in der Vergangenheit nicht immer Schritt. Es Der Regierungsentwurf sieht eine Bereichsausnahme kam vielfach zu Intransparenz sowie zu Schutzlücken. für ungebundene Vermittler von Investmentfonds vor. Mit der MiFID hat sich die EU daher zum Ziel ge- Freie Vermittler müssen im Gegensatz zum gebundenen setzt, einen effizienteren Markt zu gestalten, durch eine Berater einer Bank geringere Pflichten erfüllen und un- Stärkung des Anlegerschutzes das Vertrauen und damit terliegen keiner Kontrolle durch die Finanzaufsicht. Das die Liquidität des Marktes zu sichern und schließlich die führt zu dem absurden Ergebnis, dass der Kunde je nach Harmonisierung des Binnenmarktes durch klarere Zu- Vertriebsweg ein unterschiedliches Schutzniveau ge- (B) ständigkeiten bei der Finanzaufsicht voranzutreiben. nießt. Sind dem Anleger aufgrund der MiFID künftig (D) Dieses Ziel teilen wir und begrüßen daher auch das Provisionen und andere Kosten offenzulegen, so gilt dies Grundanliegen des Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungs- paradoxerweise ausgerechnet dort nicht, wo Vermittler gesetz, FRUG: konkretisierte Wohlverhaltensregeln für regelmäßig in Finanzstrukturvertriebe eingebunden sind die Finanzdienstleister, festgesetzte Bedingungen zum und maßgeblich durch Provisionszahlungen gesteuert Abschluss von Berufshaftpflichtversicherungen sowie werden. Es ist folglich angezeigt, dass die ungebundenen eine Verpflichtung zur Offenlegung von bestimmten Vermittler künftig auch unter die Regeln des WpHG so- Kosten. Gleichwohl gibt es nach wie vor diverse Schutz- wie des KWG fallen. Die MiFID stellt dies sogar explizit lücken sowie Unstimmigkeiten, die es aufzuzeigen und den Mitgliedstaaten als fakultative Möglichkeit anheim. im parlamentarischen Beratungsverlauf zu beheben gilt. Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft Vorschriften des Die große Koalition trägt ja immer stolz die Eins-zu- deutschen Rechts, die die entscheidenden Neuerungen eins-Umsetzung europäischer Richtlinien vor sich her. der MiFID verwässern. Hier haben wir Diskussionsbe- Das scheint allerdings nur dann zu gelten, wenn die An- darf. Denn obwohl die EU mit der MiFID im Grundsatz bieterseite das will. Beim Finanzmarkt-Richtlinie-Um- darauf bedacht ist, den Anlegerschutz zu stärken, könn- setzungsgesetz weicht sie an wesentlichen Stellen, so ten viele der Anlegerschutzvorschriften in Deutschland beispielsweise bei den geschlossenen Fonds, von ihrem bedeutungslos bleiben. Aufgrund entgegenstehender na- Vorhaben ab. tionaler Vorschriften wird es deutschen Anlegern schwerfallen, etwaige Ansprüche, die aus den neuen Re- Es ist unverständlich, dass geschlossene Fonds aus- gelungen resultieren, auch wirklich durchzusetzen. Nicht weislich der Gesetzesbegründung nicht den Vorschriften umsonst heißt es im Volksmund: Recht haben und recht des Wertpapierhandelsgesetzes, WpHG, unterfallen sol- bekommen ist zweierlei. len. Damit wird die Chance vertan, den sogenannten grauen Kapitalmarkt stärker zu regulieren und einer Auf- Zur Verdeutlichung möge folgendes Beispiel dienen: sicht durch die BaFin zuzuführen. Gerade in diesem Be- Ein deutscher Anleger wird bei seiner Bank falsch bera- reich verlieren Anleger jedes Jahr Milliarden durch un- ten. Ob tatsächlich eine Falschberatung oder eine sons- seriöse Marktakteure. Hier besteht bislang nur eine tige Pflichtverletzung vorliegt, ist nach Umsetzung der ungenügende Prospektpflicht, die ledigliche eine Prü- MiFID leichter feststellbar. Denn im Zuge der Umset- fung auf Vollständigkeit und nicht des Inhalts beinhaltet. zung werden die Wohlverhaltenspflichten, die das Ver- Eine umfassendere Regulierung und mehr Transparenz hältnis des Finanzdienstleisters zum Kunden regeln, aus- durch die Einbeziehung im FRUG muss dagegen auch führlicher und konkreter ausgestaltet. Somit hat der im Interesse der Fondsbetreiber sein. Nur integre Märkte Anleger bei dadurch entstehendem Schaden grundsätz- 7672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) lich das Recht, einen Schadensersatzanspruch geltend zu einem einheitlichen Regelwerk zu vereinen, wie dies (C) machen. Ob er dieses Recht auch zugesprochen be- beispielsweise in Großbritannien bereits der Fall ist. kommt, erscheint zweifelhaft und war in der Vergangen- heit nur selten der Fall. Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim In der Mehrheit der Fälle ist ein solcher Anspruch Bundesministerium der Finanzen: Mit diesem Gesetzes- verjährt, bevor der Anleger von der Existenz des An- vorhaben wird die Umsetzung des EU-Aktionsplans Fi- spruchs Kenntnis erlangt. Grund für diese Schieflage ist nanzdienstleistungen in das deutsche Recht – soweit der eine verjährungsrechtliche Sondervorschrift im WpHG. Wertpapierbereich betroffen ist – abgeschlossen. Diese sieht eine Verjährung nach drei Jahren vor und legt Eine zügige Umsetzung der EU-Vorgaben ist drin- für den Beginn der Verjährungsfrist die objektive An- gend notwendig. Unsere Banken und Wertpapierfirmen spruchsentstehung und damit den Zeitpunkt der Bera- sollen möglichst frühzeitig eine gesicherte Rechtsgrund- tung bzw. des Erwerbs des Finanzproduktes fest. Das ist lage für die anstehenden Umsetzungsarbeiten erhalten. allerdings insbesondere im Bereich der Anlageberatung Damit sollen sie weiterhin gut im Wettbewerb mit den unsachgemäß. Häufig handelt es sich nämlich um europäischen Mitkonkurrenten dastehen. Anlageempfehlungen mit einem langfristigen Anlage- horizont. Die Anleger erkennen vielmals zu spät, dass Der hohe Umsetzungsbedarf erfordert gerade für klei- entstehende Verluste nicht mit Marktgegebenheiten zu- nere Wertpapierfirmen eine ausreichende Vorlaufzeit, sammenhängen, sondern auf einer Falschberatung beru- um den Umstellungsbedarf aus eigener Kraft bewerk- hen. Vertröstende Worte des Beraters über volatile und stelligen zu können und nicht auf teuere externe Bera- zyklische Märkte sowie bessere Zeiten sorgen damit re- tungskapazitäten zurückgreifen zu müssen. Gemäß der gelmäßig für eine Verjährung potentieller Ansprüche. EU-Richtlinie sind die neuen Vorgaben ab November Abhilfe schafft hier die simple Streichung der Sonder- 2007 von der Industrie anzuwenden. Die Bundesanstalt vorschrift des § 37 a WpHG. Dann würden die üblichen für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, wird die Ein- Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches haltung der neuen Regeln ab dem Wirtschaftsjahr 2008 greifen. Jene sehen den Beginn einer dreijährigen Ver- überwachen. jährungsfrist erst ab Kenntnis des Anlegers von den Die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente tritt anspruchsbegründenden Umständen vor. Eine ewig dro- an die Stelle der im Jahr 1993 erlassenen EU-Wert- hende Haftung für die Finanzdienstleister und damit ent- papierdienstleistungsrichtlinie. Sie führt im Wesent- stehende Rechtsunsicherheit ist insofern nicht zu be- lichen in folgenden drei Bereichen zu grundlegenden fürchten, als die Verjährung jedenfalls zehn Jahre nach Änderungen: Erweiterung des Anwendungsbereichs der Anspruchsentstehung eintritt. (B) Richtlinie, einheitliche Regelungen – insbesondere (D) Transparenzanforderungen – für Handelsplattformen, Selbst wenn aber der Anspruch aus der Falschbera- neue rechtliche Grundlagen für die Ausführung von tung nicht verjährt ist, obliegt es nach gegenwärtiger Ge- Wertpapiergeschäften durch die Banken. setzeslage dem geschädigten Anleger die Pflichtverlet- zung seitens des Finanzdienstleisters zu beweisen. Es ist Der Anwendungsbereich der Richtlinie wird um die dem Anleger aber nur schwer möglich, beispielsweise Anlageberatung, die Vermittlung von Investmentfonds eine unterlassene Risikoaufklärung nachzuweisen. Vor und Dienstleistungen im Zusammenhang mit Warenderi- dem Hintergrund, dass den Finanzdienstleistern im Ver- vaten erweitert. Dies hat zur Folge, dass diese Tätigkei- hältnis zur beaufsichtigenden BaFin durch die MiFID ten in der Zukunft der umfassenden Wertpapieraufsicht ohnehin umfangreiche Dokumentationspflichten aufer- der BaFin nach dem Wertpapierhandelsgesetz unterlie- legt werden, erscheint es angemessen, eine Beweislast- gen. Gleichzeitig gilt auch für diese Dienstleistungen, umkehr im Gesetz zu verankern. Demnach müssten die wenn sie grenzüberschreitend angeboten werden, der so- Berater den Beweis einer ordnungsgemäßen Beratung genannte Europäische Pass. führen, während der Anleger den Schadensnachweis zu erbringen hat. Hinsichtlich der Investmentfondsanteile macht der Entwurf von der fakultativen Ausnahme in Art. 3 der Fi- Abschließend möchte ich auf das Problem hinweisen, nanzmarktrichtlinie Gebrauch. Personen, die nur Anla- das sich aus einer unterschiedlichen Gesetzesregelung geberatung und Vermittlung in Bezug auf Investment- für den Vertrieb von Versicherungsprodukten und ande- fondsanteile betreiben, werden nicht als Wertpapierfirma ren Finanzprodukten ergibt. Diese Produkte treten zu- eingestuft. Sie unterliegen der Registrierungspflicht nehmend in Konkurrenz, wenn es beispielsweise um die nach der Gewerbeordnung. Frage der Altersvorsorge geht. Sie werden auch häufig Investmentfondsanteile sind standardisierte Pro- bereits aus einer Hand angeboten. Sowohl Versicherun- dukte, die einer besonderen Überwachung unterliegen. gen als auch Finanzprodukte und die entsprechenden Zudem sind nur Vermittler ausgenommen, die keine Dienstleister unterliegen zudem der Allfinanzaufsicht Kundengelder verwahren. Die Ausnahme ist daher auch der BaFin. Vor diesem Hintergrund ist es aber dem Kun- unter dem Gesichtspunkt des Anlegerschutzes – der den nur schwer begreiflich und auch ein logischer Bruch durch die Richtlinie insgesamt eine Stärkung erfahren in der Gesetzgebung, dass teilweise divergierende Vor- soll – gerechtfertigt. schriften existieren. Langfristig muss ein Anliegen des deutschen Gesetzgebers sein, die Anlagenberatung, -ver- Ein Ziel der Richtlinie ist auch die Stärkung des Wett- waltung und -vermittlung beider Produktsegmente in bewerbs zwischen den Handelsplattformen. Die EU-Vor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7673

(A) gaben unterscheiden nur zwischen Börsen, multilatera- die Folgen der Mobilfunktechnik zu untersuchen, mögli- (C) len Handelssystemen und Internalisierungssystemen. che Gefahren zu erkennen und ihnen zu begegnen. Für diese Handelsplätze werden die neuen Transparenz- Um die Belastung der Strahlung für den Körper zu regeln eingeführt. vergleichen, wird der so genannte SAR-Wert genutzt. Zur Stärkung des Anlegerschutzes werden neue recht- Das ist der Anteil der Sendeleistung, den das Gewebe liche Grundlagen für die Ausführung von Wertpapierge- aufnimmt. Je kleiner also dieser Wert, desto geringer schäften eingeführt. Dieses sind insbesondere die soge- wird das Gewebe durch die Strahlung erwärmt. Der nannten Wohlverhaltensregeln und die Pflicht zur empfohlene obere Grenzwert der Weltgesundheitsorga- bestmöglichen Ausführung der Kundenaufträge. nisation liegt bei 2,0 Watt pro Kilogramm. Die von der MiFID vorgegebene Pflicht zur bestmög- Bei sämtlichen modernen Mobilfunkgeräten liegt der lichen Ausführung ist dem deutschen Recht nicht völlig Wert zwischen 0,04 und 1,94 Watt pro Kilogramm, also fremd. Sie gilt bereits heute aufgrund privatrechtlicher deutlich unter der zulässigen Obergrenze. Das heißt im Vorschriften des Handelsgesetzbuches und ist als allge- Klartext, ob ein Handy 0,4 oder 0,7 Watt pro Kilogramm meine Verhaltenspflicht bereits im Wertpapierhandels- strahlt, macht keinen Unterschied in Bezug auf die gesetz angelegt. Neu ist allerdings, dass sie jetzt auch gesundheitlichen Risiken! Mit anderen Worten: Die Gegenstand der Wertpapieraufsicht wird und damit von Aussagekraft eines niedrigeren Wertes würde lediglich der BaFin zu überprüfen ist. dazu verführen, ein Gerät als vermeintlich „gesünder“ anzusehen als ein anderes. Und eben das wäre falsch. Neben der Umsetzung der EU-Richtlinie enthält der Entwurf Elemente zum Bürokratieabbau, die im Wesent- Seit Jahren, im Grunde seit Beginn der kommerziellen lichen das Börsengesetz betreffen. Unsere Börsen sollen Nutzung des Mobilfunks, werden die möglichen gesund- für den zu erwartenden zunehmenden Wettbewerb mit heitlichen Risiken elektromagnetischer Felder umfassend nichtbörslichen Handelsplattformen vorbereitet werden. untersucht, sowohl von staatlicher Seite als auch vonsei- ten der Industrie. Die Forschungsförderung zu Auswirkungen elektro- Anlage 6 magnetischer Felder ist in den vergangenen Jahren Zu Protokoll gegebene Reden erheblich erweitert worden. Im Rahmen des Deutschen Mobilfunk-Forschungsprogramms wurden vom Bundes- zur Beratung des Antrages: Verbraucher- umweltministerium im Zeitraum von 2002 bis 2007 Mittel freundliche Kennzeichung strahlungsarmer in Höhe von 8,5 Millionen Euro für die Forschung mit Mobilfunkgeräte (Tagesordnungspunkt 18) Schwerpunkt Mobilfunk bereitgestellt. Die Mobilfunk- (B) (D) netzbetreiber beteiligen sich mit weiteren 8,5 Millionen Jens Koeppen (CDU/CSU): Den vorliegenden Antrag Euro an diesen Vorhaben. Darüber hinaus werden weitere der FDP-Fraktion zur Kennzeichnung strahlungsarmer Programme vom Wirtschafts- und vom Bildungsministe- Mobilfunkgeräte greife ich gerne auf, um daran einmal rium durchgeführt. einige grundsätzliche Bemerkungen zum Thema „Ver- antwortungsvoller Umgang mit den Verbrauchern“ zu Außerdem fördert die Bundesregierung Verbände, die machen. Zunächst einmal: Ja, es ist richtig, dass sich sachliche und verbraucherorientierte Informationen zum die Bevölkerung über elektromagnetische Strahlen immer Thema Mobilfunk für eine Bevölkerungsgruppe zur Verfü- noch große Sorgen macht. Nach Auskunft des Bundes- gung stellen, die den wissenschaftlichen und „amtlichen“ amtes für Strahlenschutz gaben im vergangenen Jahr Äußerungen zum Teil skeptisch gegenübersteht. Ins- 30 Prozent der Teilnehmer einer Befragung an, im Hin- gesamt sind von staatlicher Seite in den vergangenen blick auf Mobilfunk „besorgt“ zu sein. Einige behaup- Jahren über elf Millionen Euro in Forschung und Auf- ten, sie fühlten sich gesundheitlich beeinträchtigt. klärung investiert worden. Weltweit gibt es mittlerweile über 20 000 Untersuchungen zu den Auswirkungen elek- Aber worum genau geht es hier eigentlich? Was heißt tromagnetischer Felder auf Menschen, Tiere und Umwelt. in diesem Fall „gesundheitlich beeinträchtigt“? Der letzten WHO-Studie zu diesem Thema zufolge be- Mir fällt auf, dass zwar über die möglichen Folgen der steht kein begründeter Zusammenhang zwischen Mobil- Technologie viel geredet wird; am weitesten verbreitet ist funkstrahlung und steigendem Risiko einer Erkrankung. jedoch eine diffuse Angst, die sich oft auf Unkenntnis Diese Studien werden zudem regelmäßig wiederholt und gründet. Dieses Phänomen ist natürlich nicht neu, ebenso überprüft. wenig wie der daraus resultierende Auftrag, nämlich Das Bundesamt für Strahlenschutz stellt seit langem durch Forschung und Aufklärung zu einer Versachlichung ein umfassendes Informationsangebot in Form von Bro- der Debatte beizutragen. Wir müssen die Sorgen der Men- schüren und Internetauftritten zur freien Verfügung. schen ernst nehmen und dürfen auch nicht zu unkritisch Sämtliche Fragen des Mobilfunks und angrenzender sein gegenüber einer neuen Technologie, nur weil sie eben Themen werden hier sehr gründlich behandelt. Jedes im schon weit verbreitet und mittlerweile fast unverzichtbar Handel befindliche Gerät kann hier mit Blick auf seine ist. Strahlung abgerufen werden. Zudem wird alle zwei Jahre Die Bundesregierung nimmt diese Verantwortung dem Deutschen Bundestag umfassend über laufende und wahr. In diesem Fall trifft das ausnahmsweise sogar auf abgeschlossene Forschungsergebnisse in Bezug auf die die Vorgängerregierung zu, die sehr viel getan hat, um gesamte Mobilfunktechnologie berichtet. 7674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Richtig ist: Eine schlussendliche, alles erschöpfende Lassen Sie mich zum Anfang kurz auf die weiter zu- (C) Analyse der gesundheitlichen Risiken ist nicht bzw. noch nehmende Bedeutung des Mobilfunks in Deutschland nicht möglich. Wer sich aus diesem Grund gefährdet sieht, eingehen. Der Mobilfunk hat sich in den vergangenen dem steht es frei, auf ein Mobiltelefon zu verzichten. Jahren zu einer außergewöhnlichen Wachstumsbranche entwickelt; allein in Deutschland wurden Ende 2005 Wenn aber suggeriert würde, dass es „gute“ und circa 79 Millionen Mobilfunkanschlüsse gezählt. Längst „böse“ Mobiltelefone gibt, schädliche und unschädliche, so hat die Anzahl der Mobilfunkgeräte die der Festnetzan- wäre das reine Irreführung der Verbraucher, Aktionismus, schlüsse deutlich übertroffen. den wirklich keiner braucht – und der auch keinen Sinn hätte außer dem, dass Geräte, die so gut oder schlecht Derzeit stehen wir an der Schwelle zur nächsten Mo- wie alle anderen sind, stigmatisiert würden. Die einzigen bilfunkgeneration. Die UMTS-Technologie, die neben Effekte, die so eine Verfahrensweise im Sinne Ihres An- der einfachen Sprachübertragung eben auch mobile Mul- trages hätte, wären: timedia- und Internetanwendungen ermöglichen wird, befindet sich im Aufbau und wird einer der Schlüssel- Erstens: eine weitere Bürokratisierung durch noch sektoren für die ökonomische Entwicklung in Deutsch- mehr gesetzliche Regelungen. Und, liebe Kollegen von land in den nächsten Jahren sein. der FDP, ist es nicht eines Ihrer Hauptanliegen, eben diese ausufernde Bürokratie zu verringern? Im Übrigen Die Strahlenschutzkommission des Bundes hat in ihrer sehe ich gar keine Notwendigkeit, eine weitere staatliche Empfehlung „Grenzwerte und Vorsorgemaßnahmen zum Regelung zu schaffen, da es ja die Möglichkeit längst Schutz der Bevölkerung vor elektromagnetischen Fel- gibt, über das Gütesiegel „Blauer Engel“ die besondere dern“ darauf hingewiesen – ich zitiere –, „bei der Ent- Verträglichkeit eines Gerätes zu zeigen. Dass die Industrie wicklung von Geräten und der Errichtung von Anlagen bis dato davon kaum Gebrauch gemacht hat, finde ich die Minimierung von Expositionen zum Qualitätskrite- angesichts der eben von mir ausgeführten Sachlage aber rium zu machen“. In diesem Zusammenhang weist die auch verständlich. Strahlenschutzkommission darauf hin, dass, entgegen der öffentlichen Besorgnis, die vor allem Mobilfunkbasissta- Zweitens würde eine gesetzliche Kennzeichnungs- tionen – ortsfeste Anlagen, also Sendemaste – betrifft, die pflicht einen unverantwortlichen Eingriff in die produ- Immission insbesondere durch elektromagnetische Fel- zierende Wirtschaft bedeuten, deren Produkte völlig zu der aus Endgeräten der mobilen Telekommunikation zu Unrecht in gut und böse geteilt wären. Schließlich orien- betrachten sei, weil es hier am ehesten zu einer hohen Ex- tiert sich die Mobilfunktechnologie an internationalen position eines Nutzers kommen könne. Standards. Nationale Einschränkungen im Sinne Ihres Die Sorgen der Bevölkerung müssen sehr ernst ge- Antrages verhindern den weltweiten Vertrieb und Einsatz (B) nommen werden, obwohl nach dem derzeitigen Stand (D) dieser Technik. Ein weiterer Wettbewerbsnachteil für der Forschung von einer für die Bürger nicht gefährli- Deutschland wäre damit geboren. chen Belastung ausgegangen wird. Allerdings muss auch Und drittens – und nun komme ich zu meinem Ein- in Zukunft gewährleistet sein, dass die Geräte und Anla- gangssatz zurück – würden die Verbraucher in Deutsch- gen ständig überprüft werden. Die Untersuchung und land in die Irre geführt. Ihre Wunschregelung, liebe Beobachtung der auf die Kopfregion einwirkenden Han- Kollegen, suggeriert ja, dass eine Kennzeichnung not- dystrahlung erscheint mir, worauf auch die Strahlen- wendig ist, um die Menschen vor schädlichen Geräten schutzkommission besonders hinweist, in diesem Zu- zu schützen, und gerade das ist nicht der Fall. sammenhang als besonders wichtig. Meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, In ihrem Antrag fordert die FDP-Fraktion die Bun- auch wenn ich großes Verständnis dafür habe, dass es desregierung auf, unverzüglich Gespräche zwischen nicht immer leicht ist, in der Opposition zu sitzen, und Bundesregierung und Herstellern zwecks einer verbind- die Verführungen groß sind, der Regierungskoalition zu lichen Selbstverpflichtung mit dem Ziel einer besseren unterstellen, sie würde auf den Schutz der Verbraucher Verbraucherinformation aufzunehmen. zu wenig Wert legen – ein Mindestmaß an Verantwor- Außerdem wird von der Bundesregierung Offenheit tungsbewusstsein gegenüber den Menschen sollte schon für andere Kennzeichensymbole und eventuell auch wei- gewahrt bleiben. Und in diesem Sinne warne ich vor tere Bewertungsmaßstäbe gefordert. Sollte die Selbst- Panikmache und übertriebenem Aktionismus – besonders verpflichtung nicht innerhalb eines Zeitraumes von zwei dort, wo er nicht angebracht ist. Jahren den gewünschten Erfolg bringen, so soll eine ge- setzliche Regelung geschaffen werden, heißt es im An- Ich habe eben ausgeführt, wie groß die Anstrengungen trag der FDP-Fraktion. der Bundesregierung sind, die Risiken der Mobilfunk- technik zu erforschen und zu minimieren. Ich hoffe, Sie Die Feststellungen, die die FDP im Antrag formuliert haben verstanden, warum meine Fraktion und ich Ihren hat, die Situationsbeschreibungen, sind im Wesentlichen Antrag daher ablehnen werden. zutreffend. Die Forderungen an die Bundesregierung hingegen sind schon lange Gegenstand der Bemühungen des Bundesumweltministeriums und im politischen Um- Detlef Müller (Chemnitz) (FDP): Wir diskutieren feld bereits seit einigen Jahren in der Diskussion. heute einen Antrag der FDP-Fraktion, der eine verbrau- cherfreundliche Kennzeichnung von strahlungsarmen Dass die FDP bei ihrem Antrag den Schutz der Ver- Mobilfunkgeräten fordert. braucher vor strahlungsintensiven Anlagen und Geräten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7675

(A) im Sinn hat, möchte ich ihr nicht absprechen. Allerdings verschiedenen Netze mit ihren unterschiedlichen Strah- (C) fehlt mir eine Berechenbarkeit und Geradlinigkeit ihrer lungswerten zu berücksichtigen sind. Vorbild könnte Politik, denn wenn Ihnen so viel am Verbraucherschutz aber eine Klassifizierung sein, wie sie derzeit beispiels- liegt, hätten Sie unter anderem auch bei der Verabschie- weise bei der sogenannten weißen Ware, also zum Bei- dung des Verbraucherinformationsgesetzes zustimmen spiel bei Kühlschränken, üblich ist. können. Die Bundesregierung hat sich immer wieder mit Es existieren bereits Anforderungen und Grenzwerte, Nachdruck dafür eingesetzt, dass die Hersteller die In- wonach ein Handy als strahlungsarm gilt. So soll die formationen für die Verbraucherinnen und Verbraucher maximale Strahlungsintensität des Gerätes, ausgedrückt über die Strahlungswerte ihrer Mobilfunkgeräte verbes- als Spezifische Absorptionsrate, kurz SAR-Wert, nicht sern und deutlich sichtbar auf Geräten und Verpackun- mehr als 0,6 Watt pro Kilogramm betragen. gen anbringen. Und auch die von Ihnen geforderte Selbstverpflich- Das Zugänglichmachen der Daten im Internet oder tung der Mobilfunkhersteller existiert als solche bereits die Ausweisung der Daten in der Bedienungsanleitung seit über fünf Jahren. Die Hersteller sind somit in der reicht bei weitem nicht aus. Pflicht, vor allem auch deshalb, weil den Betreibern der Zu bedenken ist weiterhin, dass eine gesetzliche Mobilfunknetze eine besondere Verantwortung zu- Kennzeichnungspflicht auch auf europarechtliche Be- kommt. Diese Selbstverpflichtung beinhaltet einen we- denken stößt. Es handelt sich ja hier um das sogenannte sentlichen Beitrag der Netzbetreiber, die Vorsorge im Inverkehrbringen von Produkten im harmonisierten Be- Bereich des Mobilfunks auf hohem Niveau weiter zu reich. Eine gesetzliche Regelung könnte daher als unzu- verstärken. So verpflichten sich die Mobilfunkbetreiber lässiger Eingriff in den freien Warenverkehr gedeutet unter Punkt 4 ihrer Selbstverpflichtung – ich zitiere –, werden. „zu Verbraucherschutz und einer Kennzeichnung von Handys und zu einer Einflussnahme auf Hersteller, ver- Wenn wir aber handeln wollen, brauchen wir eine stärkt Handys mit geringem SAR-Wert auf den Markt zu verlässliche und belastbare Datenbasis. bringen“; so weit die Selbstverpflichtung. Die Auswertung des Deutschen Mobilfunk-For- Das Bundesumweltministerium hat bereits 2002 den schungsprogramms wird voraussichtlich bis Frühjahr Blauen Engel als Kennzeichen für strahlungsarme Han- 2008 erfolgen. Gemeinsam mit den dann vorliegenden dys vorgeschlagen. Ergebnissen aus den Forschungsprogrammen der Länder können wir dann eine neue, fundierte Bewertung der Er- Dieses Kennzeichen wurde von den Herstellern von kenntnisse über mögliche gesundheitliche Auswirkun- Anfang an abgelehnt. Dabei wurde der Blaue Engel als (B) gen der elektromagnetischen Felder vornehmen. (D) erste und älteste umweltschutzbezogene Kennzeichnung der Welt für Produkte und Dienstleistungen vor mittler- Lassen Sie mich abschließend feststellen: Die Bun- weile 25 Jahren ins Leben gerufen. Heute tragen etwa desregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht. 3 600 Produkte und Dienstleistungen von circa 580 Zei- chennehmern des In- und Auslandes den Blauen Engel, Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb die Mo- er ist damit keinesfalls – wie uns die Mobilfunkhersteller bilfunkhersteller und -betreiber nachdrücklich auf, end- suggerieren wollen – ein untaugliches Instrument für lich ihrer Selbstverpflichtung nachzukommen und ihre globalisierte Märkte. Zusagen einzulösen. Ich kann die abwartende bzw. abwehrende Haltung Eine erneute Selbstverpflichtung, wie von der FDP der Hersteller nicht nachvollziehen. Der Blaue Engel gefordert, zur Einhaltung der bestehenden Selbstver- bietet der Industrie die Chance, ihre Umweltkompetenz pflichtung wird nichts bringen. für alle sichtbar unter Beweis zu stellen. Mit der Ver- wendung des Umweltzeichens könnten die Mobilfunk- Horst Meierhofer (FDP): Dem jüngsten Bericht der hersteller die Marktchancen ihrer Angebote im Wettbe- Bundsnetzagentur zufolge gab es Ende 2005 in Deutsch- werb deutlich und nachhaltig erhöhen. Als ein modernes land rund 79 Millionen Mobilfunkteilnehmer; damit Marketinginstrument könnten sie den Blauen Engel in stieg die Zahl im Vergleich zu 2004 um fast 10 Prozent. ihrer Kommunikation einsetzen, damit beim Verbrau- Die Exposition des Menschen gegenüber den unter- cher ein verlässliches Zeichen setzen und sich somit ei- schiedlichsten elektromagnetischen Feldern nimmt seit nen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Konkurrenten Jahren ständig zu. Die gegenwärtige Situation ist durch verschaffen. Man muss den Herstellern vorwerfen, dass eine besonders dynamische Entwicklung und Umset- die Bereitschaft fehlt, mit dem Blauen Engel einen zu- zung neuer Technologien gekennzeichnet, die – neben sätzlichen aktiven Beitrag zum vorsorgenden Gesund- bereits bestehenden – zusätzliche elektromagnetische heits- und Verbraucherschutz zu leisten. Über die Anfor- Felder in unserer Umwelt erzeugen. Ob und, wenn ja, ab derungsnormen für die Verleihung des Blauen Engels welchem Grenzwert hochfrequente elektromagnetische könnte man sicherlich diskutieren. Felder wie der Mobilfunk Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben, ist immer noch nicht Wahrscheinlich kann man nicht nur mit einer einfa- endgültig geklärt. chen Kennzeichnung „gesundheits- und umweltfreund- lich: Ja oder Nein“ operieren, auch eine SAR-Kenn- Um nicht falsch verstanden zu werden: Wir als FDP- zeichnung reicht nicht aus, da unter anderem die Fraktion sind weit davon entfernt, hier Ängste zu schü- 7676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) ren, aber man muss sich fragen: Was kann man gegen Das Argument der Kritiker, eine solche Kennzeichnung (C) die in der Bevölkerung leider vorhandenen Ängste tun? suggeriere, dass entsprechend gekennzeichnete Handys In meinem Büro gehen jeden Monat zahlreiche E-Mails gesundheitlich unbedenklicher seien, trifft meiner Mei- besorgter Bürger ein, insbesondere wenn es darum geht, nung nach nicht zu. Mit einer verbraucherfreundlichen dass irgendwo mal wieder ein neuer Mobilfunkmast auf- Klassifizierung geht es ausschließlich um die objektive gestellt werden soll. Information hinsichtlich der Strahlungsintensität. Die Strahlenschutzkommission weist jedoch auch Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Bundesre- darauf hin – und dies greift auch unser Antrag auf –, dass gierung dazu auf, bei den Herstellern und Vertreibern unter dem Gesichtspunkt des vorsorgenden Gesundheits- mobiler Kommunikationsgeräte eine bindende Selbst- schutzes besonders die Endgeräte mobiler Telekommu- verpflichtung zu erwirken, insbesondere mit dem Ziel, nikation und damit auch die Handys zu beachten seien. eine verbraucherfreundliche und transparente Strahlen- Durch den Gebrauch von Handys und Mobiltelefonen klassifizierung zu schaffen. Ich denke da zum Beispiel könne es eher zu einer hohen Strahlenexposition kommen an die Klassifizierungen, wie sie es für den Energiever- als durch die ortsfesten Sendeanlagen. Die kabellosen brauch bei Kühlschränken gibt. Denn der „Blaue Engel“, Endgeräte besonders im Auge zu behalten, hat die FDP den vor allem der damalige Umweltminister Jürgen Trit- übrigens bereits auf ihrem letzten Parteitag in Rostock tin besonders präferierte, ist hier wohl gescheitert. Mit beschlossen. einer Klassifizierung analog den Kühlschränken weiß je- der: ein „A“ bedeutet einen besonders niedrigen Ener- Aus unserer Sicht ist vor allem eine bessere Verbrau- gieverbrauch, ein Kühlschrank, der mit einem „B“ ge- cherinformation dringend erforderlich. Es geht uns da- kennzeichnet ist, verbraucht schon mehr etc. Welchen rum, die Befürchtungen, die Skepsis der Bevölkerung Kühlschrank Sie letztendlich kaufen, bleibt trotzdem ernst zu nehmen und den Verbrauchern die Möglichkeit Ihnen überlassen. Aber Sie haben auf unkomplizierte zu bieten, selbst zu entscheiden, wie wichtig ihnen das Weise die notwendigen Informationen, um frei entschei- Thema „Strahlenschutz“ beim Kauf eines neuen Handys den zu können. Warum also nicht auch bei Handys? ist. Eines muss natürlich klar sein: Eine solche Selbstver- Für uns Liberale ist es eine Selbstverständlichkeit, pflichtung muss in einer festzulegenden überschaubaren dass die Bürgerinnen und Bürger selbst entscheiden kön- Zeitspanne in Kraft treten. Zur Erinnerung: 2001 erklärten nen, welche Präferenzen sie setzen wollen. Staatliche Be- sich die Hersteller bereits dazu bereit, und es ist leider vormundung lehnen wir auch hier ab. Aber: Ein mündiger nicht geschehen. Dennoch wollen wir zum jetzigen Zeit- Bürger muss alle notwendigen Informationen haben, um punkt nicht auf Zwang setzen, sondern auf ein Miteinander auch eine mündige Entscheidung treffen zu können. Das mit den Herstellern, und hoffen hier auf deren Bereit- (B) ist für uns praktizierter Verbraucherschutz. (D) schaft. Von den Mobilfunkbetreibern und -herstellern wird Wir glauben: Je mehr Informationen der Verbraucher dieses Thema bis jetzt aber eher stiefmütterlich behandelt: über sein Produkt erhält, desto geringer ist die Gefahr Wenn Sie sich zum Beispiel heute über Handys im Inter- auch für vielleicht unberechtigte Ängste, denn die Her- net informieren wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, steller zeigen: Wir haben nichts zu verbergen. Eine solche dann müssen Sie sich erst einmal bis zu den technischen Kennzeichnung ist gut für die Mobilfunkbranche und für Daten des jeweiligen Geräts durchklicken. Da finden Sie die Kunden: also eine klassische Win-Win-Situation! dann ganz am Ende den sogenannten SAR-Wert, also den Wert über die Spezifische Absorptionsrate. Nicht Daher meine Bitte an die Koalitionsparteien: Raffen immer oder erst auf Extra-Seiten wird erklärt, was dieser Sie sich auf und stimmen Sie dem Antrag in Ausschuss Wert bedeutet, dass er nämlich angibt, wie viel Sende- und Plenum zu! leistung der Körper beim mobilen Telefonieren auf- nimmt, ausgedrückt in Watt pro Kilogramm. Meistens finden Sie auch noch, dass der empfohlene Grenzwert Lutz Heilmann (DIE LINKE): Die Gefahren des Mo- von 2 Watt pro Kilogramm eingehalten wurde. bilfunks bewegen viele Menschen. Mittlerweile besitzen fast alle Deutschen ein Mobiltelefon, viele sogar meh- Das war ein erster Schritt, aber echte Verbraucher- rere. freundlichkeit sieht anders aus. Unserer Auffassung nach ist die Kennzeichnung der Verpackung mit einem „Öko- Nun hören wir immer wieder von der Bundesregie- label“ nicht entbehrlich. Schließlich sagt der SAR-Wert rung, dass eine schädliche Wirkung von Mobilfunkstrah- allein nichts darüber aus, ob das Gerät als strahlungsarm len bislang nicht nachgewiesen ist. Das ist aber nur die eingestuft wird. Ab welchem Wert ein Handy aber zum halbe Wahrheit, denn es gibt sehr wohl Untersuchungen, Beispiel als besonders strahlungsarm gilt (0,6 Watt), die negative Effekte auf die Gesundheit von Menschen steht nirgends; nicht gerade sehr verbraucherfreundlich, belegen, wobei im 2. Mobilfunkbericht der Bundesregie- wie ich meine. rung all diesen Studien irgendein methodischer Mangel nachgewiesen wurde. Ohne jemandem etwas unterstel- Umso bedauerlicher, dass die Handyhersteller das vom len zu wollen, hat dies doch ein ziemliches „Ge- BMU vorgeschlagene Umweltzeichen „Blauer Engel“ schmäckle“, wenn man bedenkt, dass die Bundesregie- nach wie vor geschlossen ablehnen. Vergabekriterium rung durch die Versteigerung der UMTS-Lizenzen hierfür ist, dass die maximale Strahlungsintensität des seinerzeit 50 Milliarden Euro eingenommen hat. Darf Geräts nicht mehr als 0,6 Watt pro Kilogramm beträgt. nicht sein, was nicht sein soll? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7677

(A) Jedenfalls kann offensichtlich niemand Gefahren durch Vorsorgemaßnahmen vermeiden“ – wobei das (C) durch den Mobilfunk ausschließen. Das folgt aus der nicht explizit im Zusammenhang mit Mobilfunk steht. Empfehlung des Bundesamtes für Strahlenschutz, wo- nach Kinder nicht oder nur wenig mit einem Handy tele- Die Linke ist deshalb der Auffassung, dass ein SAR- fonieren sollten. Wert von 0,6, der für den Blauen Engel eingehalten wer- den muss und der deshalb aus Sicht der Vorsorge als Deshalb ist die Debatte über strahlungsarme Mobil- obere Grenze anzusehen ist, als verbindlicher Grenzwert funkgeräte hier und heute richtig und wichtig. Es ist festzusetzen ist. Bevor Sie mir vorwerfen, ich betreibe wohl unstrittig, dass die größere Gefahr von den Geräten den Ruin der Mobilfunkhersteller – wobei die Geräte ja beim Telefonieren am Ohr ausgeht, als von den Sende- nun ohnehin nicht mehr aus Deutschland kommen – masten. Das heißt nicht, dass die Sendemasten zu ver- kann der bestehende Richtwert von 2 auch stufenweise nachlässigen sind, es heißt aber, dass die Handys das zunächst auf 1 abgesenkt werden – diesen Wert halten vordringlichere Problem sind. Und es heißt auch, dass über 90 Prozent der Geräte ein. sich jede und jeder selber einigermaßen schützen kann, indem er oder sie aufs Handy verzichtet – oder eine Frei- Zudem müssen aus Gründen der Vorsorge auch die sprecheinrichtung benutzt. völlig veralteten Grenzwerte für Sendeanlagen von 1991 verschärft werden. In einigen europäischen Staaten wie Auch wir sind der Auffassung, dass es endlich eine Italien und der Schweiz gelten um den Faktor 100 stren- verbraucherfreundliche Kennzeichnung der Strahlung gere Grenzwerte für Mobilfunkanlagen als in Deutsch- der Mobiltelefone geben muss. Wir teilen auch die Fest- land – da ist es kein Wunder, dass die Grenzwerte in stellung, dass die freiwillige Selbstverpflichtung der Deutschland nie überschritten werden. Mobilfunkbetreiber gescheitert ist. Der SAR-Wert eines Gerätes, dessen Bedeutung die meisten ohnehin nicht Zum Abschluss möchte ich noch auf einen Punkt hin- kennen, wird doch irgendwo zwischen der Akkulaufzeit weisen: Schnurlostelefone senden immer, sogar dann, und dem verfügbaren Zubehör angezeigt. wenn die Geräte in der Basisstation stehen. Der Einbau eines Schalters, mit dem man dies unterbinden könnte, Zudem sagt auch der Präsident des Bundesamtes für kostet gerade einmal zehn Cent. Da bedeutet es nicht den Strahlenschutz, dass der Blaue Engel von den Herstel- Ruin der Telefonhersteller, wenn wir diesen Schalter zur lern boykottiert wird. Diese wollen nicht einige ihrer Ge- Pflicht machen würden. räte als umweltfreundliche kennzeichnen, weil die ande- ren dann als nicht umweltfreundlich gebrandmarkt wären. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die FDP legt einen Antrag zur verbraucherfreundlichen (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Wenn Kennzeichnung strahlungsarmer Mobilfunkgeräte vor. (D) Sie so weit mit Ihrer Analyse gekommen sind, dann ver- Das freut das grüne Herz erst einmal, wissen wir doch stehe ich nicht, warum Sie trotz allem den Bock zum alle, dass die fehlende Handykennzeichnung Ausdruck Gärtner machen und mit der Industrie über eine „bin- eines klaren wirtschaftlichen Willens ist. dende Selbstverpflichtung“ sprechen wollen. Die FDP Seit´ an Seit´ mit den Grünen für Verbrau- Erstens haben Sie bislang nicht erklärt, was das ei- cherinteressen gegen Wirtschaftswillkür? Grundsätzlich gentlich sein soll. Wenn etwas bindend ist, dann müssen gerne, aber schaun mer mal! Verstöße doch mit Sanktionen belegt werden können. Sanktionen aber sind nach meiner Überzeugung eine Wie sieht denn die Geschichte dieses nicht vorhandenen staatliche Aufgabe und nicht Sache der Wirtschaft. Dann Labelings aus: Wir haben seit 2001 eine Selbstverpflich- aber ist es auch keine reine Selbstverpflichtung. tung der Mobilfunkbranche, erstens vermehrt strahlungs- arme Handys auf den Markt zu bringen und zweitens ein Zweitens haben die Erfahrungen der letzten Jahre Qualitätssiegel für Handys mit besonders niedrigem doch eines klar gezeigt: Hersteller und Netzbetreiber ha- SAR-Wert zu entwickeln. Nachdem sich nichts tat, gab ben kein Interesse daran, das Problem der Mobilfunk- es 2002 einen Antrag von SPD und Grünen, in dem es strahlung ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Gesprä- hieß: „... zur Verbesserung des Verbraucherschutzes sollen che mit der Industrie werden nur zu einer weiteren Mobilfunkgeräte hinsichtlich ihrer Strahlungsintensität Verzögerung führen. Daher fordern wir von der Bundes- so gekennzeichnet werden, das der Kunde vor der Kauf- regierung, eine verbraucherfreundliche Strahlungskenn- entscheidung die höchstmögliche Absorptionsrate (SAR) zeichnung auf dem Verordnungswege zu erlassen. des Gerätes in Erfahrung bringen kann.“ Enthalten war Die PDS-Fraktion brachte bereits in der 14. Legisla- auch die Forderung, „ein Qualitätssiegel für Handys mit turperiode einen Antrag ein, in dem wir eine verpflich- besonders niedrigem SAR-Wert zu entwickeln.“ Die tende Kennzeichnung der Strahlung aller Mobiltelefone Union hat den Antrag damals abgelehnt, die FDP hat und Schnurlostelefone gefordert hatten. Daneben ent- sich immerhin nur enthalten. Es tat sich weiterhin nichts, hielt der Antrag 17 weitere Forderungen – mit halbherzi- und so wurde die Jury Umweltzeichen Mitte 2002 aktiv gen Gesprächen mit der Industrie ist es bei weitem nicht und entwickelte Kriterien für die Vergabe des Blauen getan. Engel an strahlungsarme Mobiles. 21 Prozent aller Handys auf dem Markt hätten zu diesem Zeitpunkt das Umwelt- Ich jedenfalls halte es mit dem Staatssekretär Müller, zeichen tragen dürfen, weil sie die Kriterien bereits er- der auf der Internetseite des BMU zum Strahlenschutz füllten. Im März 2005 waren es schon knapp 34 Prozent. mit den Worten zitiert wird: „Krebs lässt sich am besten Nur – kaufen konnte man kein einziges Handy mit dem 7678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Umweltzeichen. Die Hersteller boykottierten es schlicht. sehen, dass zum 31. Dezember 2007 die einseitigen (C) Sie wollten ihre Handys nicht in gute und schlechte eintei- Handelspräferenzen an die AKP-Staaten auslaufen, wel- len. Wir sind also immer noch in derselben Situation: che die EU ungeachtet der geltenden Regeln der Welt- Wer sich ein Handy kauft, hat keine Ahnung von der handelsorganisation, WTO, gewähren konnte. Strahlenbelastung – es sei denn, er schaut im Klein- gedruckten der Betriebsanleitung nach. Im Ernst: Wer Ziel der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen sind die liest die Betriebsanleitung beim Kauf! Bekämpfung der Armut und zugleich die Einbeziehung der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft. Unter die- Die Handy-SAR-Wert-Story ist nicht die einzige, in der ser Zielsetzung kommt eine einseitige Verhandlungsfüh- die Selbstverpflichtung der Wirtschaft zu nichts geführt rung zugunsten der EU-Staaten nicht infrage. Allerdings: hat. Ob es die Verbrauchsobergrenzen bei Fahrzeugen Man darf wirtschaftliche Interessen der EU nicht komplett oder Schadstoffemissionen sind – die Geschichte indus- vernachlässigen. Es geht schließlich auch um die Akzep- trieller Selbstverpflichtungen in der Umweltpolitik ist tanz der Entwicklungshilfe. Wir brauchen also keine ein- die Geschichte gebrochener Versprechen. seitige Betrachtung, wie sie die Linke vorschlägt, sondern eine wohlabgewogene Verhandlungsführung, die den Deshalb freue ich mich über den Antrag der FDP, der AKP-Staaten hilft und uns zumindest nicht schadet. sagt: Jetzt ist Schluss mit Warten! Jetzt müssen wir han- deln! Aber dann kommt das Erwachen, und es kommt Nachdem die Notwendigkeit des Abschlusses neuer mit grausamer Klarheit: Sie fordern kein Ende der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen vor dem 1. Januar SelbstverpfIichtung, Sie fordern „bindende“ Selbstver- 2008 bereits im Jahr 2000 im Cotonouabkommen nie- pflichtung und, wenn die nicht zieht, zwei Jahre später dergelegt und vereinbart wurde, stellt sich die Frage: eine gesetzliche Regelung. Lieber Herr Meierhofer, das Wie steht der hier zu behandelnde Antrag der Linken zu erinnert mich an Momente in meiner Kindererziehung, dieser Vereinbarung? die nicht zu den Sternstunden gehörten: „Und ich sag's dir jetzt zum letzten Mal ...“ Meinen Sie nicht mit mir, Der Antrag auf Drucksache 16/3193 gefährdet die bis dass es oft genug gesagt wurde? Meinen Sie nicht, dass dato gefundenen Verhandlungsergebnisse, die auf dem es Zeit ist, effektiv zu handeln? Weg zum Abschluss der Wirtschaftspartnerschaftsab- kommen bereits erzielt wurden, und damit insbesondere Sie haben einen Antrag eingebracht, den wir Grünen auch das notwendige Verhandlungsziel einer entwick- in der Begründung völlig unterschreiben können. Alles lungspolitischen Unterstützung und Absicherung der ist richtig. Wir geben Ihnen auch Recht, dass der Blaue AKP-Staaten: Einmal sind die Hintergründe der Antrag- Engel hier offenbar nicht das richtige Kennzeichen ist. stellung sowie die Einschätzung der Verhandlungssituation Es ist ein freiwilliges und kann nur wirksam funktionieren höchst fragwürdig, und der im Antrag niedergelegte For- (B) innerhalb einer Wirtschaft, in der ökologisches Profil ein derungskatalog ist trotz einiger entwicklungspolitisch (D) Wert ist. Das ist bei der Mobilfunkbranche ganz offen- sinnvoller Ansätze teils nicht aussagekräftig, teils sichtlich nicht der Fall. schlichtweg unrealistisch. Im Übrigen soll – ungeachtet der im Cotonouabkommen niedergelegten Vereinbarung Lassen Sie uns diesen Antrag befürworten und seine neuer Wirtschaftspartnerschaftsabkommen vor 2008 – ein Schlussfolgerung der vorausgegangenen Begründung an- Verhandlungsstopp bei den Wirtschaftspartnerschaftsab- passen. Streichen wir die beabsichtigten zwei weiteren kommen erfolgen. Jahre Selbstverpflichtung – zwei weitere Jahre des War- tens –, und fordern wir von der Bundesregierung eine Den letzteren Aspekt greife ich angesichts seiner Un- gesetzliche Regelung zur Kennzeichnung. Diese Forde- geheuerlichkeit zuerst auf: Die Linken fordern in ihrem rung können die in dem Antrag benannten 79,2 Millionen Antrag zu Recht einen entwicklungspolitisch sensiblen Mobilfunkteilnehmer von ihren Vertretern verlangen. und fairen Umgang mit den AKPs, und gleichzeitig bedienen sie sich des Mittels eines Vertragsbruchs zur Umsetzung dieser „guten Tat“. Bereits an dieser Stelle Anlage 7 entbehrt der Antrag jeder rechtsstaatlichen Grundlage. Zu Protokoll gegebene Reden Die offen zutage tretenden Hintergründe der Antrag- stellung sind gleichfalls indiskutabel: Bereits zu Beginn zur Beratung des Antrags: Für solidarische und des Antrags greifen die Linken tief in die sozialistische entwicklungspolitisch kohärente Wirschaftspart- Klamottenkiste, wenn sie formulieren: Der Deutsche nerschaftsabkommen (Tagesordnungspunkt 20) Bundestag hält es jedoch für notwendig, dass die Politik der Bundesregierung bei der Gestaltung der Außenwirt- Georg Nüßlein (CDU/CSU): Die Europäische Union schaftsbeziehungen nicht primär den Interessen einiger unterhält mit Ländern aus Afrika, dem karibischen Raum weniger Großunternehmen und ihrer Verbände folgt. und dem Pazifischen Ozean – AKP-Staaten – Verhandlun- gen um sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Nachdem die Damen und Herren von den Linken in postparteiideologischer Manier altsozialistische Geister Diese Wirtschaftspartnerschaftsabkommen – Economic rufen und auf dieser Grundlage die bis dato erzielten Partnership Agreements, kurz EPAs – sind Entwicklungs- Verhandlungsergebnisse und die damit errungene ent- und Handelsabkommen. Sie knüpfen an das im Jahr wicklungspolitische Abfederung der AKP-Staaten 2000 zwischen der EU und den AKP-Staaten geschlossene riskieren, kann ich angesichts solcher Verantwortungs- Cotonouabkommen an und sind vor dem Hintergrund zu losigkeit nur fragen: Wenn die Linken so agieren, wie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7679

(A) können sie sich dann als eine verantwortliche Repräsen- Sache wäre ein Entzug des Mandats zudem nicht sinnvoll, (C) tative in einem demokratischen Rechtsstaat betrachten? da die EPA-Verhandlungen, wie eingangs bereits er- wähnt, bis Ende 2007 abgeschlossen werden müssen. Die dem Antrag der Linken zugrunde gelegte Annahme, Eine Neuverhandlung des Mandats würde dieses Ziel eine Verlängerung der WTO-Ausnahmeregelung wäre unmöglich machen, und dies trotz der laut BMZ in den einfacher zu verhandeln als WTO-konforme Wirtschafts- letzten Wochen erzielten Fortschritte bei den Verhand- partnerschaftsabkommen zwischen der EU und den AKP- lungsprozessen. Unter Bezugnahme auf die eingangs Staaten, halte ich schlichtweg für eine absolute Fehlein- bereits dargestellte Problemlage schließt sich hier der schätzung. Kreis der Beurteilung: Die Antragstellung entbehrt in Der im Antrag niedergelegte Forderungskatalog ist mehrerlei Hinsicht eines tragfähigen Fundaments. insgesamt gleichermaßen unüberlegt und unqualifiziert. Auch wenn der Antrag an der einen oder anderen Dr. Sascha Raabe (SPD): Wie nicht anders zu er- Stelle sinnvoll erscheinende entwicklungspolitische For- warten, ist der Antrag der Fraktion Die Linke zu den derungen beinhaltet, so stellt man bei näherer Prüfung Wirtschaftspartnerschaftsabkommen seit der letzten De- mit Erstaunen fest, dass die Linken kein Problem haben, batte in diesem Haus um keinen Deut besser geworden. einen bereits bestehenden entwicklungspolitischen Kon- Wir lehnen ihn daher auch weiterhin ab. Und so wichtig sens als Forderung zu formulieren. So geschehen in das Thema für sich genommen auch ist, so möchte ich an Ziff. II Nr. 1 des Antrags – denn Ziff. II Nr. 1 greift auf dieser Stelle doch die Gelegenheit nutzen und mein Un- Grundlagen im Koalitionsvertrag in Kap. IX Ziff. 7 verständnis darüber zum Ausdruck bringen, dass es den – Entwicklungspolitik – zurück. An dieser Stelle möchte Damen und Herren von der Opposition nicht möglich ich generell an die Damen und Herren der Opposition war, die beiden Debatten dazu in dieser Woche zusam- appellieren, die Arbeit des Gesetzgebers nicht mit Wie- menzulegen. Eine gemeinsame Debatte wäre dem derholungen zu blockieren. Thema sicher mehr gerecht gewordene als dieses Hin und Her. Ich finde es höchst bedauerlich, dass es Ihnen Eine traurige Belegfundstelle für eine nicht umsetzbare offenbar nicht um die Sache, sondern nur um Ihren An- Niederlegung gibt etwa Ziff. II Nr. 2, wonach Assoziie- rungsverhandlungen grundsätzlich offen und öffentlich trag geht. geführt werden sollen: Die Forderung ist in dieser Form Die Argumente, warum wir den Antrag ablehnen, sicher nicht realisierbar, da eine konstruktive Verhand- habe ich bereits beim letzten Mal hinreichend klar ge- lungsführung einer gewissen Vertraulichkeit bedarf und macht. So kann ich mich im Wesentlichen auf meine da- das Verhandlungsmandat bei der EU-Kommission liegt. maligen Ausführungen beziehen sowie auf das, was ich (B) Auch wenn die deutsche Öffentlichkeit insofern nicht in der morgigen Debatte zum gleichen Thema sagen (D) unmittelbar in den Verhandlungsprozess einbezogen werde. werden kann, steht das Bundesministerium für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – BMZ – Betonen möchte ich lediglich noch einmal, dass es im regen Kommunikationsfluss mit der EU-Kommission dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke an und gewährleistet sowohl gegenüber der Öffentlichkeit eben jener Kohärenz fehlt, die der Titel verheißt. Der als auch gegenüber dem Deutschen Bundestag eine um- Antrag ist zu eindimensional und vereinfacht stark die fassende Information. Gegebenheiten. Nichts anderes sind wir von dieser Frak- Ein weiterer disqualifizierender Beleg findet sich etwa tion gewohnt. in der Antragsziffer II Nr. 9, wonach entsprechend dem Wir wollen – und daher werden wir auch einen eige- Wunsch der afrikanischen Handelsminister die Themen nen Antrag vorlegen –, dass allen Entwicklungsländern Investition, Wettbewerb und öffentliches Beschaffungs- eine faire Chance im Welthandel eingeräumt wird. Un- wesen nicht auf die Agenda der EPA-Verhandlungen abhängig davon, ob es sich um ehemalige Kolonien han- gesetzt werden sollen. Diese Feststellung gibt bedauer- licherweise nicht die aktuelle Position der AKP wieder. delt oder nicht. Eine Ungleichbehandlung der Entwick- Mehrere EPA-Regionen verhandeln über diese Themen lungsländer beim Marktzugang ist durch nichts und stehen den handelsbezogenen Themen positiv gegen- gerechtfertigt. Zahlreiche AKP-Länder haben selbst er- über. Im Cotonouabkommen wurden diese Themen kannt, dass ihnen dieses System bislang keineswegs nur bereits im Sinne einer Unterstützung des Entwicklungs- geholfen hat. Es kommt daher darauf an, von den Präfe- prozesses erwähnt. Wichtig ist an dieser Stelle vielmehr, renzsystemen hin zu einem zoll- und quotenfreien Zu- dass die entsprechenden Regelungen entwicklungsförder- gang zu den europäischen Märkten zu gelangen, der al- lich ausgestaltet werden. len Entwicklungsländern gewährt wird. Zuletzt möchte ich auf die Erwägung der Linken einge- Natürlich brauchen einige dieser Länder mehr Außen- hen, der EU-Kommission das Mandat zur Verhandlung schutz als andere, insbesondere im für die Ernährungssi- der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zu entziehen. cherheit wichtigen Agrarbereich. Die SPD-Bundestags- Zwar ist es rechtlich gesehen möglich, der EU-Kommission fraktion spricht sich daher klar für den notwendigen das Mandat zu den EPA-Verhandlungen zu entziehen Schutz und ein „special and differential treatment“ der bzw. ein neues Mandat zu verhandeln. Notwendig ist Entwicklungsländer aus. Aber unser Ziel muss es sein, hierfür jedoch Einstimmigkeit unter den EU-Mitglied- auch diese Länder an den Wettbewerb heranzuführen, sie staaten, und dies ist politisch absolut unrealistisch. In der wettbewerbsfähig zu machen. 7680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) Viele dieser Länder verfügen durchaus und zu Recht doch eigentlich schützen wollen, nämlich den Ärmsten (C) über ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein. In diesem der Armen. Gefühl sollten wir sie bestätigen und sie als Partner auf Ich will darum noch einmal die Gelegenheit nutzen, Augenhöhe sehen. den Nutzen des freien Warenaustausches zu erklären. Ein Großteil der AKP-Staaten betrachtet die EPA-Ver- Diesen Nutzen haben übrigens nicht nur die AKP-Staa- handlungen als Chance. Klar ist aber auch, dass in den ten, sondern alle Entwicklungsländer gleichermaßen, in- nächsten Monaten noch große Anstrengungen unternom- sofern ist diese Unterscheidung auch immer weniger men werden müssen, um am Ende zu einem erfolgrei- nachvollziehbar. chen, entwicklungsorientierten Abschluss zu kommen. Ich will im Allgemeinen beginnen und anschließend Deutschland hat im Rahmen der EU-Ratpräsidentschaft auf die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen eingehen. die Chance, die EPA-Verhandlungen voranzutreiben und darüber hinaus ähnliche Regelungen für alle Entwick- Offene Märkte verbessern die Entwicklungschancen lungsländer im Rahmen der WTO-Entwicklungsrunde der ärmsten Länder der Welt. Mehr noch: Sie sind die durchzusetzen. Diese Chance sollten wir nutzen. Voraussetzung einer nachhaltigen Entwicklung. Alle em- pirischen Untersuchungen belegen, dass die Öffnung eigener Märkte zu mehr Wohlstand, Bildung, Gesund- Hellmut Königshaus (FDP): Es ist nicht das erste heit und Rechtssicherheit führt, und zwar unabhängig Mal, dass wir hier im Plenum die Wirtschaftspartner- davon, welche Politik andere Staaten betreiben. Die Öff- schaftsabkommen zwischen der EU und den AKP-Staa- nung der Märkte darf dabei für die Entwicklungsländer ten diskutieren. Ich freue mich darüber, da es sich hier- natürlich keine Einbahnstraße sein. Nicht nur die Ent- bei um ein sehr wichtiges Thema handelt. Aber Ihr wicklungsländer müssen ihre Märkte öffnen, sondern die Antrag überzeugt nicht. entwickelten Länder selbstverständlich auch. Sie werfen der FDP ja gerne vor, dass ihre Position in Problematisch ist beispielsweise, dass die USA Le- Handelsfragen zu einfach sei. Es sei zu schlicht, auf den bensmittelhilfe mit staatlichen Mitteln unterstützen, positiven Zusammenhang von freiem Handel und wirt- ebenso wie die Subventionierung ihrer Baumwollfarmer. schaftlicher Entwicklung hinzuweisen, von der auch die Aber auch die Förderung der europäischen Baumwoll- Armen profitieren würden. In Wirklichkeit sei ja alles produktion, die zurzeit mit 700 Millionen Euro jährlich viel komplizierter. Die Welt ist kompliziert, und gerade subventioniert wird, ist ein Problem für die Entwick- der weltweite Warenaustausch, der ja gerne als Globali- lungsländer. sierung bezeichnet wird, ist nicht gerade einfach zu verstehen. Sie aber sollten es mit einiger Mühe doch Die Bundesregierung sollte ihre Möglichkeiten durch (B) schaffen. Denn es gibt belastbare Zahlen über den inter- die EU-Präsidentschaft nutzen, um entsprechende Maß- (D) nationalen Handel, die belegen, dass ausschließlich of- nahmen mit den Partnerländern abzustimmen. Zölle und fene Wirtschaften sich positiv entwickeln während abge- Handelshemmnisse auf verarbeitete Agrarprodukte, wie schlossene zurückfallen. zum Beispiel auf Kaffee, müssen beseitigt werden. Nur so haben die Entwicklungsländer die Chance, dass ein Es gibt viele Beispiele dafür. Lesen Sie einfach nur im größerer Teil der Wertschöpfung bei ihnen stattfinden „Spiegel“ dieser Woche die Titelgeschichte über den kann. Auch die Zölle auf verarbeitete Textilien müssen enormen wirtschaftlichen Aufschwung der Volksrepu- gesenkt bzw. ganz abgeschafft werden. Dies wäre übri- blik China, der vor allem auf die Öffnung der eigenen gens auch im Interesse der europäischen Verbraucher: Märkte und den internationalen Warenaustausch zurück- Mehr Wettbewerb im Textilbereich würde das Angebot zuführen ist. verbreitern und die Preise sinken lassen, und zwar zulas- Der Antrag der Linksfraktion belegt einmal mehr, ten der Handelsorganisationen, nicht der Erlöse der Pro- dass Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen oder sich duzenten. vor dieser erdrückenden Faktenlage sperren. Wahr- Auch in anderen Handelsbereichen müssen die Ent- scheinlich weckt das bei Ihnen antikapitalistische Re- wicklungsländer ihre komparativen Vorteile im interna- flexe, deshalb plädieren Sie erst einmal für das Gegen- tionalen Wettbewerb nutzen. Dies sind im Wesentlichen teil, also für Abschottung und Autarkie. die geringeren Arbeitskosten und unterschiedliche Sozi- alstandards. International verpflichtende Standards in Sie fordern ja sogar, dass Liberalisierungen in „ökolo- diesen Bereichen würden den Zugang zu den Märkten gisch, sozial oder kulturell sensiblen Bereichen“ nicht der Industrieländer beschränken und den armen Ländern einmal verhandelt werden sollen. Leider sagen Sie aber Entwicklungschancen nehmen, also das genaue Gegen- nicht, was sie damit meinen. Sie sorgen sich mehr um teil dessen, was mit solchen Verpflichtungen bezweckt die Zolleinnahmen als um die Entwicklungschancen. wird. Das ist ungefähr so einleuchtend, als würde man fordern, in Deutschland die überbordende Bürokratie aufrechtzu- Die Entwicklungsländer stehen aber auch selbst in der erhalten, um die Gebühreneinnahmen nicht zu verlieren. Verantwortung. Nur der Aufbau von Demokratie, Markt- So können nur staatsgläubige Bürokraten denken. Man wirtschaft und funktionierender Rechtssysteme ermög- könnte das ja amüsant finden, da es so gar nicht mehr in licht auf Dauer die nachhaltige Entwicklung ihrer unsere heutige Zeit passt, aber das Thema ist dazu viel Länder. Die Chancen, die durch Zugeständnisse der In- zu ernst. Im Endeffekt schaden Sie nämlich mit Ihren an- dustrieländer im Handelsbereich und in der Entwick- timarktwirtschaftlichen Parolen genau denen, die Sie lungszusammenarbeit entstehen, müssen auch wahrge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7681

(A) nommen werden. Leider gehört es zur Realität der din und ich – in Nairobi sein und uns die Kritik gegenüber (C) Entwicklungspolitik, dass viele Entwicklungschancen der bisherigen EU-Verhandlungsführung anhören. nach wie vor durch korrupte, autoritäre Regime verspielt Ich bin auch gespannt auf die alternativen Vorstellun- werden. gen, die in Nairobi zur Ausgestaltung von Handel und Diese Voraussetzungen sollten schon im Rahmen der Partnerschaft zwischen Europa und den AKP-Staaten Dohawelthandelsrunde der WTO geschaffen werden, die entwickelt werden. Der Kollege Raabe wird ja ebenfalls ja explizit als Entwicklungsrunde bezeichnet wurde. Lei- vor Ort sein und die Gelegenheit haben, sich mit der der konnten die Verhandlungen bisher nicht erfolgreich Haltung der Nichtregierungsorganisationen aus den beendet werden, zum Nachteil vor allem der Entwick- betroffenen Ländern zu den EPA auseinanderzusetzen. lungsländer. Die laufenden Verhandlungen zwischen der Ich könnte mir vorstellen, dass er dort einiges von dem, EU und den AKP-Staaten könnten die aus dem vorläufi- was hier in diesem Antrag steht, wieder finden wird. gen Scheitern der Doharunde folgende Nachteile etwas Ich hatte in der ersten Lesung zu unserem Antrag be- abmildern, da zumindest ein Teil der Entwicklungslän- reits die ehemalige Kultusministerin von Mali, Aminata der somit dennoch von Handelsliberalisierungen profi- Traoré, zitiert. Sie spitzte die Kritik an der europäischen tieren kann. Handelspolitik gegenüber Afrika in einem Interview in Zum Glück können die Verhandlungen über die neuen der Taz 2005 so zu: „Europa schickt uns seine Hühner- Wirtschaftspartnerschaftsabkommen nicht ewig verzö- beine, seine Gebrauchtwagen, seine abgelaufenen Medi- gert werden, wie das im Rahmen der WTO ja leider zur kamente und seine ausgelatschten Schuhe, und weil eure Normalität geworden ist. Die Wirtschaftspartnerschafts- Reste unsere Märkte überschwemmen, gehen unsere abkommen müssen schnell verhandelt und bald abge- Handwerker und Bauern unter. Jetzt schickt China seine schlossen werden, da die bisherigen einseitigen Handels- Produkte nach Europa, und zwar nicht einmal Reste, son- präferenzen der Lomé-Verträge zugunsten der AKP- dern saubere, wettbewerbsfähige Waren. Und was tut Staaten gegen bindende WTO-Handelsvereinbarungen Europa? Es diskutiert Zölle. Also sage ich: Auch Afrika verstoßen und schon deshalb die Schaffung einer grund- darf sich schützen. Europa kann doch nicht vor China Panik sätzlich neuen Vertragsgrundlage erforderlich ist. kriegen und zugleich von Afrika Öffnung verlangen.“ Und konkret zu den EPA sagte sie: „Für uns sind diese Mit dem Abschluss des Cotonouabkommens im Jahr Abkommen die Massenvernichtungswaffen Europas.“ 2000 wurde das Sonderverhältnis der EU zu den AKP- Staaten in Form von WTO-konformen Wirtschaftspart- Ich will einige wesentliche Kritikpunkte an den bishe- nerschaftsabkommen fortgesetzt. Bis Ende 2007 sollen rigen Verhandlungen zu den EPA zusammenfassen. Sie nun die Verhandlungen mit sechs einzelnen Regional- werden, wie Sie wissen, nicht nur von der Fraktion Die (B) gruppen abgeschlossen sein, damit bis zum 1. Januar Linke vorgetragen, sondern von zivilgesellschaftlichen (D) 2008 das Cotonouabkommen umgesetzt werden kann. Gruppen und Parlamentarierinnen und Parlamentariern in vielen Ländern, insbesondere etwa von unseren Kolle- Eine entscheidende Phase der Verhandlungen über die ginnen und Kollegen im Europaausschuss der französi- Wirtschaftspartnerschaftsabkommen fällt also jetzt in schen Nationalversammlung: die Zuständigkeit der Bundesregierung durch die deut- Erstens. Der Zugang zu den Beschaffungsmärkten der sche EU-Ratspräsidentschaft. Ich fordere die Bundes- öffentlichen Hand und der Abschluss von Investitions- regierung auf, die Monate ihrer Präsidentschaft zu nut- schutzabkommen dürfen auf keinen Fall weiter auf der zen, um die Verhandlungen mit den AKP-Staaten zu Agenda der EPA-Verhandlungen stehen. Dass die EU- einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Diese Wirt- Kommission versucht, diese Themen, die sie im Rahmen schaftspartnerschaftsabkommen dürfen wir aber nur als der WTO nicht voranbringen konnte, jetzt über den Um- nötigen ersten Schritt betrachten, dem weitere auch für weg der Verhandlungen mit vermeintlich schwächeren die Nicht-AKP-Staaten folgen müssen. Partnern doch noch auf die internationale Handelsagenda Von der Liberalisierung des Handels werden vor zu setzen, ist nicht akzeptabel. Dass diese Themen aus der allem die Entwicklungsländer profitieren und nicht, wie Doharunde ausgeklammert werden konnten, war ein Er- Sie befürchten, nur „einige wenige Wirtschaftsunterneh- folg, den die Entwicklungs- und Schwellenländer gegen men“. Lassen Sie sich überraschen, welche Dynamik der die Handelsinteressen des Nordens durchsetzen mussten. Freihandel entfalten kann! Und entgegen dem wiederholt vorgetragenen Hinweis aus der Bundesregierung, die AKP-Staaten hätten an den EPA-Verhandlungen nichts auszusetzen, ist es doch ge- Heike Hänsel (DIE LINKE): Auf dem Weltsozialfo- rade dieser Punkt, den die AKP-Regierungen auf ihren rum, das morgen in Nairobi beginnt, werden sich zahlrei- Ministertreffen immer wieder kritisch anführen. che afrikanische, karibische und pazifische Nichtregie- rungsorganisationen damit auseinandersetzen, welche Zweitens. Wir wissen alle, dass das Präferenzsystem Auswirkungen sie von den Wirtschaftspartnerschaftsab- von Lomé den AKP-Staaten nicht die großen Entwick- kommen (EPA) zwischen der EU und den AKP-Staaten lungserfolge eingebracht hat. Aber zumindest basierte es für ihre Gesellschaften zu erwarten haben und wie alterna- noch auf dem Prinzip der Nichtreziprozität, das auch tive Abkommen, eben solidarische und entwicklungsför- noch im Abkommen von Cotonou verankert ist. Die For- derliche, aussehen könnten. Wir finden es wichtig, dass derung an die AKP-Staaten nach Abschaffung eines diese sozialen Bewegungen stärker gehört und einbezogen Großteils ihrer Zölle hat damit allerdings nichts mehr zu werden, deshalb werden wir – mein Kollege Hüseyin Ay- tun. Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen werden, 7682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007

(A) wenn sie so wie bislang weiterverhandelt werden, des- Entwicklung und Partnerschaft an erster Stelle stehen, (C) halb katastrophale ökonomische und soziale Auswirkun- dass es solidarische und entwicklungspolitisch kohärente gen haben. Diese Auswirkungen können überall dort, wo Abkommen werden. Dazu braucht es einen Neuanfang. schwache, sich entwickelnde Ökonomien bereits einer Dass die EPA-Verhandlungen bisher vom EU-Handels- Handelsliberalisierung ausgesetzt wurden, betrachtet kommissar anstatt vom Entwicklungskommissar geführt werden. Überall haben sich ähnliche Effekte eingestellt: werden, ist kennzeichnend für den völlig falschen bis- Rückgang der kommerziellen Landwirtschaft und im herigen Ansatz. Wir fordern ein Moratorium für die produzierenden Gewerbe, Verlagerung der Beschäfti- Verhandlungen und die Formulierung eines neuen Ver- gung in die exportorientierten Produktionszonen mit den handlungsmandats, das die Entwicklungsbelange der bekannten katastrophalen Arbeitsbedingungen und in Partnerstaaten berücksichtigt und die Asymmetrie den informellen Sektor, noch mehr Raubbau an den zwischen den Verhandlungspartnern in Rechnung stellt. natürlichen Ressourcen. Wir fordern mit vielen anderen Dann wäre auch genug Zeit, die Verhandlungsagenda so zu deshalb, volkswirtschaftlich, sozial, kulturell und ökolo- verändern, dass sie dem Anspruch des europäischen Ent- gisch sensible Bereiche auf jeden Fall von einer Liberali- wicklungskonsenses gerecht wird, dass sie sich nämlich sierung auszunehmen. an den dort formulierten Entwicklungszielen orientiert. Drittens. Die AKP-Staaten rechnen mit enormen Kom- pensationskosten, um die Begleitschäden der Handels- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das liberalisierung auffangen zu können: sinkende Zoll- und Cotonouabkommen von 2000 sieht den Abschluss von Steuereinnahmen, hohe soziale Kosten, erforderliche In- Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) vor. Sie ha- vestitionen in eine infrastrukturelle Anpassung etc. Nach ben das erklärte Ziel, die Armut zu bekämpfen und eine Auffassung der EU – bestätigt durch den Entwicklungs- nachhaltige Entwicklung zu fördern. Bisher steuert die kommissar, der hier neulich im Bundestag zu Besuch EU-Kommission haarscharf an diesem Ziel vorbei. Han- war – wären diese Kosten aus dem 10. Europäischen delspolitisch gesehen steht in Gestalt der EU ein reicher Entwicklungsfonds zu begleichen. Ich bin der Meinung, Riese einer großen Zahl ärmster AKP-Zwerge gegen- dass die Durchsetzung von europäischen Handelsinteres- über. Um auf gleiche Augenhöhe zu kommen, müssen sen nicht die Mittel für Entwicklung belasten darf. Wir sich die einen sehr nach der Decke strecken und die an- fordern deshalb eine Bereitstellung von Kompensations- deren die Demut aufbringen, sich tief zu verbeugen. Ein mitteln weit über den bisher im 10. EEF vorgesehenen entwicklungsverträgliches Ergebnis können wir nur Rahmen hinaus. dann erzielen, wenn der Verhandlungsprozess und das Verhandlungsergebnis der enormen Ungleichheit der Viertens. Der Zeitdruck auf die Verhandlungen muss Partner gerecht wird. Wir brauchen vor allem ein Ent- (B) abgebaut werden. Auf keinen Fall dürfen die AKP-Staaten wicklungspartnerschaftsabkommen. Ich sage mit Be- (D) – vom Auslaufen der Verlängerungsregelung zum Lomé- dacht Entwicklungspartnerschaftsabkommen weil es aus abkommen Ende 2007 bedroht – dazu gezwungen werden, meiner Sicht nur darum gehen kann. Hier unterscheiden Abkommen abzuschließen, von denen sie negative Aus- wir uns von der Linken, die der EU-Kommission über- wirkungen auf die eigene wirtschaftliche und soziale haupt das Verhandlungsmandat entziehen möchte. Entwicklung befürchten müssen. Die EU-Kommission muss jetzt Anstrengungen unternehmen, bei der WTO Das Recht der AKP-Länder auf Entwicklung zu ge- eine Verlängerung der Lomépräferenzen zu erwirken. währleisten, heißt für uns, ihnen zunächst die entspre- Wir fordern in unserem Antrag, dass die Bundesregierung chenden politischen Spielräume zur Förderung einer ihren Einfluss im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsi- sozialen und umweltverträglichen Entwicklung einzu- dentschaft in diesem Sinne nutzt. räumen. Die EU muss ihr Vorgehen überdenken und ihre strategische Partnerschaft mit den AKP-Ländern vom Fünftens. Ein wesentlicher Kritikpunkt an den bisheri- Kopf auf die Füße stellen: Entwicklungsverträglichkeit gen Verhandlungen zu den EPA ist, dass sie weitgehend geht vor Freihandel. hinter verschlossenen Türen stattfinden und stark von Nun zu einigen Herausforderungen, die sich im Rah- den Interessen der EU dominiert werden. Auf der afrika- men der EPA-Verhandlungen konkret stellen: nischen Handelsministerkonferenz im April 2006 wurde kritisiert, dass die EU zuviel Druck ausübe, um ihre Erstens. Wir haben ökonomische Risiken, die auf- Ziele durchzusetzen, und dass sie dabei zu wenig Rück- grund der ungleichen Gewichte eindeutig auf der Seite sicht auf die Entwicklungsbelange der Partner nehme. der AKP-Länder liegen. Wir müssen diese Risiken für Die AKP-Staaten stehen unter Druck, weil sie wissen, dass die ärmsten Länder begrenzen und in Potenziale umwan- ihnen mit dem Auslaufen des Lomépräferenzsystems der deln. Dies kann aber nur mit einem eindeutigen Ent- Zugang zu den europäischen Märkten ganz versperrt wicklungsmandat geschehen. Die EPAs müssen den werden kann. Erst recht fühlen sich viele Vertreterinnen Marktzugang zur EU verbessern. Die EU-Agrarsubven- und Vertreter der afrikanischen Zivilgesellschaft bisher tionen müssen so eingeschränkt werden, dass mit dem nicht in den Verhandlungsprozess einbezogen. Hätte die Agrardumping Schluss gemacht wird. Damit wird Druck EU-Kommission ihre Debatten für diese Stimmen geöff- von Millionen von Produzenten in den AKP-Ländern ge- net, würde ihre Verhandlungsagenda vielleicht anders nommen, die mit der hochsubventionierten europäischen aussehen. Lebensmittelindustrie nicht konkurrieren können. Wir wollen, dass die EPAs nicht in erster Linie Han- Zweitens. Während die EPAs für die AKP-Länder delsabkommen werden, sondern dass in den Abkommen wirtschaftlich sehr bedeutend sind, haben sie für die EU Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 76. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007 7683

(A) hauptsächlich politische Bedeutung. Nach dem Schei- dem Cotonouabkommen stehen, werden sie vom EU- (C) tern der WTO-Verhandlungen gilt es, sehr genau zu beo- Handelskommissar und nicht von Louis Michel, dem bachten, welche Exempel bei bilateralen und biregiona- Entwicklungskommissar, verhandelt. Dieser sitzt am len Handelsabkommen statuiert werden sollen. Es stellt Katzentisch der EPA-Verhandlungen. Es war schon ab- sich die Frage: Tragen die EPAs dazu bei, die Chancen surd, dass der Entwicklungskommissar der EU an den für ein zukünftiges multilaterales Abkommen zu erhö- WTO-Ministertreffen nicht teilnehmen durfte. Dass er hen, oder nehmen sie Entscheidungen vorweg, die im bei den Partnerschaftsabkommen aber nicht mindestens Gegensatz zu den Zielen der Doharunde stehen? Für gleichberechtigt mitverhandelt, ist nicht hinnehmbar. mich ist klar, dass im Rahmen der EPAs keine Themen Wer wenn nicht die EU-Entwicklungspolitiker sollen wie Investitionen, Wettbewerbspolitik und öffentliches denn für die Entwicklungsverträglichkeit der Abkom- Beschaffungswesen verhandelt werden sollen. Diese so- men auf EU-Seite eintreten? Wenn ich das Ganze auf genannten Singapurthemen wurden nach hartem Tauzie- deutsche Verhältnisse übertrage, würde man sagen: Vom hen aufgrund massiver Gegenwehr der Entwicklungslän- Wirtschaftsministerium erwarte ich keine Entwicklungs- der von der WTO-Tagesordnung genommen. Im April agenda, dort werden knallhart die deutschen Exportinte- letzten Jahres hat sich die Afrikanische Union in der ressen verteidigt. Nairobierklärung dafür ausgesprochen, diese Themen „außerhalb des Geltungsbereiches der EPAs“ zu belas- Glücklicherweise ist in Deutschland für die EPAs das sen, aber die EU will „keine EPAs ohne Investitionsre- Entwicklungsministerium zuständig. Daraus erwächst geln und volle Reziprozität“, so der Originalton von Ver- eine besondere Verantwortung für die deutsche EU-Rats- handlungsführer Falkenberg. Wir brauchen auch keine präsidentschaft. Das entwicklungspolitische Mandat für WTO-Plus-Veranstaltung in Form weitgehender Ab- die EPAs muss entschieden gestärkt werden. Ich hoffe kommen bei geistigen Eigentumsrechten (TRIPS) und darüber hinaus, dass von der deutschen EU-Präsident- Dienstleistungen. Die EPA-Verhandlungen dürfen zu schaft starke Impulse für die WTO-Entwicklungsrunde keinem Hebel gemacht werden, der das Lager der Ent- ausgehen. Es muss endlich Schluss sein mit dem ent- wicklungsländer für die weiteren WTO-Verhandlungen wicklungsfeindlichen Protektionismus und der fehlgelei- nachhaltig spaltet. teten Agrarsubventionspolitik der EU. Nur neue weitrei- Drittens möchte ich auf ein ganz besonderes Problem chende EU-Angebote können die WTO-Verhandlungen hinweisen: Obwohl die EPAs im Zusammenhang mit wiederbeleben.

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980