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„DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG“

„DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG“

Die Sakralisierung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ in der nationalsozialistischen Dichtung: Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel

Proefschrift voorgedragen tot het behalen van de graad van doctor in de letterkunde te verdedigen door

Anneleen Van Hertbruggen

Promotor: Prof. Dr. Arvi Sepp Antwerpen, 2019

Faculteit Letteren & Wijsbegeerte Departement Letterkunde

„DES DEUTSCHEN DICHTERS SENDUNG“

De sacralisering van „Führer“, „Reich“ en „Volk“ in nationaalsocialistische poëzie: Heinrich Anacker, Gerhard Schumann en Herybert Menzel

Proefschrift voorgedragen tot het behalen van de graad van doctor in de letterkunde te verdedigen door

Anneleen Van Hertbruggen

Promotor: Prof. Dr. Arvi Sepp Antwerpen, 2019

Faculteit Letteren & Wijsbegeerte Departement Letterkunde

© Anneleen Van Hertbruggen, 2019 Druck und Bindung: Universitas Cover: Collage verschiedener Gedichtzitate über „Führer“, „Reich“ und „Volk“ aus den Anthologien von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel (Computerrekonstruktion, © Geert Barzin, 2019) Fonds Wetenschappelijk Onderzoek (FWO) - Vlaanderen (Projektnummer 6692) Universiteit Antwerpen

Inhaltsverzeichnis

Danksagung ...... 13

I. Zur Erforschung der Sakralisierung des Politischen in nationalsozialistischer Lyrik - Einführung ...... 15 1. Problemstellung ...... 17 2. Forschungsfragen und Zielsetzung ...... 20 3. Korpuswahl ...... 22 4. Stand der Forschung ...... 25 4.1 Die nationalsozialistische Literatur bzw. Lyrik ...... 25 4.2 Der religiöse Diskurs in NS-Dichtung ...... 29 5. Zur Gliederung der Arbeit ...... 31

II. Der Nationalsozialismus: Eine fanatische Bewegung oder eine politische Religion? - Ein Definitionsversuch ...... 35 1. Totalitarismus, Fanatismus, völkische Ideologie - Begriffliche Überlegungen ...... 37 2. Der Nationalsozialismus – Eine politische Religion? ...... 42 2.1 Forschungsfeld und Definitionsproblematik der „politischen Religion“ ...... 44 2.2 Das Wesen der politischen Religion ...... 48 2.2.1 Die politische Religion als sakralisierter Totalitarismus ...... 48 2.2.2 Die Erweiterung des Religionsbegriffs ...... 54 3. Der Nationalsozialismus als (politische) Religion – Plädoyer für eine neue Perspektive ...... 58 3.1 Der mehrdimensionale Charakter der politischen Religion ...... 58 3.2 Die politische Dimension – Was ist ‚politisch‘ ...... 59 3.3 Der Nationalsozialismus als (politische) Religion – Ein mehrdimensionales System ...... 62 4. Die textuelle Repräsentation der (politischen) Religion in der NS- Propagandadichtung - Sakralisierung der „Glaubensartikel“ ...... 63

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III. Die nationalsozialistische Lyrik: Die Literarizität eines umstrittenen Korpus - Gattungsfrage und methodologische Überlegungen ...... 65 1. Nationalsozialistische Lyrik - Problemfeld der deutschen Literaturgeschichte...... 67 1.1 Nationalsozialistische Lyrik ...... 68 1.2 Die dienende Funktion der Lyrik im „Dritten Reich“ ...... 71 1.3 Das Gedicht im Nationalsozialismus ...... 73 1.4 Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel – Dichter der Jungen Mannschaft ...... 78 1.4.1 Dichter der Jungen Mannschaft ...... 78 1.4.2 NS-Dichter und ihr Verhältnis zur Religion ...... 81 2. Methodologische Überlegungen – Ideologiekritische Interpretationsansätze ...... 84 2.1 Die werkimmanente Textinterpretation des Close readings ...... 85 2.2 Peter Zimas ideologiekritische Textsoziologie ...... 86 2.2.1 Diskurs ...... 89 2.2.2 Ideologie ...... 91 2.3 Das methodische Instrumentarium für die Analyse des religiösen Diskurses . 92 2.3.1 Die lexikalisch-semantische Ebene: Das Wort und seine Bedeutung ...... 92 2.3.2 Die syntaktisch-narrative Ebene: Der Diskurs ...... 93 2.3.3 Die intertextuelle Ebene: Die sozio-linguistische Situation ...... 95 3. Abschließende Bemerkungen zum Analyseverfahren ...... 96

IV. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ - Die religiöse Potenz politischer Ideologeme ...... 99 1. Einführung – Von Säkularisierung zu (Re-)Sakralisierung ...... 101 2. Die sakrale Potenz von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ ...... 104 2.1 Der „Führer“ - Ein Messias? ...... 104 2.1.1 - „Führer“ der Bewegung ...... 104 2.1.2 Ein deutscher Messias ...... 107 2.2 Das „Dritte Reich“ als theologisches Konzept ...... 114 2.2.1 Die christliche Wurzel des „dritten Reiches“ ...... 114 2.2.2 Joachims „drittes Reich“ und das „Dritte Reich“ im Nationalsozialismus als politischer Religion ...... 117

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2.3 Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“...... 123 2.3.1 Die „Volksgemeinschaft“: Vom parteilosen Schlagwort zur nationalsozialistischen Erfolgsgeschichte ...... 124 2.3.2 Auserwähltheit und Märtyrerstilisierung – Die religiöse Aufwertung der „Volksgemeinschaft“ ...... 128 3. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ - eine säkularisierte und (re-)sakralisierte Trinität ...... 131

V. Die messianische Stilisierung des „Führers“ - Am Beispiel von Heinrich Anackers Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936) ...... 133 1. Adolf Hitler - Mensch oder (politischer) Messias in Anackers Dichtung ...... 135 1.1 Adolf Hitler - Ein Mensch ...... 135 1.2 Adolf Hitler als (politischer) Messias in Heinrich Anackers Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936) ...... 137 2. Heinrich Anackers messianische Stilisierung des „Führers“ ...... 139 2.1 Nachahmung der biblischen Sprache ...... 139 2.2 Eine Heilsbotschaft in der Krisenzeit – Warten und Hoffen auf den „Messias“ ...... 141 2.2.1 Die „Wartezeit“ als „Kampfzeit“ ...... 141 2.2.2 Adolf Hitler als der gottgesandte Retter ...... 144 2.3 Eine gläubige und gehorsame Bewegung ...... 145 2.3.1 Die bedingungslose Nachfolge der Bewegung ...... 145 2.3.2 Der Glaube an die göttliche Natur des „Führers“ ...... 148 2.3.3 Der „Führer“ als Heilsbringer und Erlöser ...... 150 2.4 Der „Führer“ nach dem Vorbild Christi ...... 152 2.4.1 Der lehrende und leidende „Messias“ ...... 152 2.4.2 Der Messias als Bauherr ...... 153 2.4.3 Der Messias und das Symbol des Brots und des Lichts ...... 153 3. Zwischenfazit – Die messianische Repräsentation des „Führers“ in affirmativer NS-Dichtung ...... 156

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VI. Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“ - Am Beispiel von Gerhard Schumanns Die Lieder vom Reich (1935) ...... 159 1. Das - „Dritte“ oder „heilige“ - Reich in Schumanns Dichtung ...... 161 1.1 Der Reichsgedanke Gerhard Schumanns ...... 161 1.2 Die Sakralisierung des „Reiches“ in Gerhard Schumanns Gedichtband Die Lieder vom Reich (1935) ...... 163 2. Gerhard Schumanns sakralisierte Reichsidee ...... 165 2.1 Nachahmung der biblischen Sprache ...... 165 2.2 Adaption christlicher Symbolik ...... 166 2.2.1 Brot und Wein ...... 166 2.2.2 Das Blut und die Wundmale Christi ...... 167 2.2.3 Licht-Dunkel-Symbolik ...... 171 2.2.4 Apokalyptische Symbolik ...... 174 2.3 Dichterische Verarbeitung des neutestamentlichen Erzählstoffs ...... 175 3. Zwischenfazit – Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“ in der affirmativen NS-Dichtung ...... 178

VII. Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ - Am Beispiel von Herybert Menzels Gedichte der Kameradschaft (1936) ...... 181 1. Die Volksgemeinschaft in Menzels Dichtung ...... 183 1.1 Die Gemeinschaftsidee von Herybert Menzel ...... 183 1.2 Die Stilisierung der „heiligen Mission“ der Volksgemeinschaft in Herybert Menzels Gedichte der Kameradschaft (1936) ...... 184 2. Herybert Menzels Gestaltung der „heiligen Mission“ der Volksgemeinschaft ...... 185 2.1 Nachahmung der biblischen Sprache ...... 185 2.2 Die kollektive Identität – „deutsche“ Exklusivität ...... 186 2.2.1 Das Kollektiv – Eine „exklusive“ Identität ...... 186 2.2.2 Das Volk als eine „gläubige“ Bewegung ...... 188 2.3 Die unsterbliche Gemeinschaft – Die Märtyrerstilisierung ...... 191 2.3.1 „Die Jugend von Langemarck“ – Das leuchtende Vorbild der deutschen Soldaten...... 191 2.3.2 Die „Gefallenen der Bewegung“ – Die nationalsozialistische Märtyrerverehrung ...... 194 2.3.3 Nach dem Vorbild der Märtyrer durch das Opfer ins ewige Leben ...... 196

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2.3.4 Blut und Fahne als Symbole der Märtyrer ...... 199 2.4 Männer und Frauen – Eine unterschiedliche „Mission“ ...... 202 2.4.1 Das Ideal des „streitbaren Mannes“ ...... 203 2.4.2 Die Frau als Mutter ...... 205 3. Zwischenfazit - Die religiöse Ebene der Volksgemeinschaft in der affirmativen NS-Dichtung ...... 207

VIII. Fazit - Abschließende Bemerkungen über Repräsentativität und Schuld ...... 211

Literaturverzeichnis ...... 219 1. Primärliteratur ...... 221 1.1 Anackers, Menzels und Schumanns Werke ...... 221 1.2 Andere nationalsozialistische Werke ...... 221 1.3 Anthologien...... 222 2. Sekundärliteratur...... 222 2.1 „Literatur im Nationalsozialismus“ - Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg ...... 222 2.2 Literaturwissenschaft und Historiografie ...... 226 2.3 Totalitarismusforschung, Religionswissenschaft und Religionspolitologie ... 230 2.4 Sprache, Diskurs und Ideologie ...... 234 2.5 Lexika und Wörterbücher ...... 236

Abstract ...... 237 1. Deutsche Fassung ...... 239 2. Niederländische Fassung ...... 240

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Danksagung

Nach gut fünf Jahren Forschung wurde aus einem weißen Blatt ein ganzes Buch. Am Anfang dieser Dissertation und am Ende meines Promotionsverfahrens ist es mir an dieser Stelle nicht nur ein Bedürfnis, sondern auch eine große Freude, mich bei denjenigen zu bedanken, die mich in den vergangenen Jahren begleitet und unterstützt haben und ohne die es die vorliegende Arbeit nicht geben würde. Mein größter und herzlichster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Arvi Sepp, der mich schon während meines Studiums und besonders als Betreuer meiner Masterarbeit im Jahre 2010 intensiv gefördert hat und der in diesen fünf Jahren des Forschens und des Schreibens auch dieses Dissertationsprojekt auf hervorragende Weise betreut hat. Sein kritisches und detailliertes aber vor allem zu jeder Zeit sehr konstruktives Feedback waren von unschätzbarem Wert, sowohl für die Qualität dieser Arbeit als auch für meine eigene Entwicklung als Literaturwissenschaftlerin. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft noch an weiteren Projekten zusammenarbeiten können. Ich möchte mich auch besonders bei Herrn Prof. Dr. Klaus Vondung bedanken, dessen Forschung mir nicht nur eine große Inspiration und wichtige Quelle gewesen ist, sondern der bereits vor zwei Jahren die Zeit für ein anregendes Gespräch über mein Projekt gefunden hat. Als Mitglied meiner „Doktoratsbetreuungskommission“ hat er besonders in der Schlussphase dieses Projektes meine Arbeitstexte mit Aufmerksamkeit und kritischem Blick gelesen und mit hilfreichen Kommentaren versehen. Frau Prof. Dr. Vivian Liska möchte ich meinen Dank aussprechen, weil sie mir als starke Frau in der akademischen Welt bereits seit meiner Studienzeit und während der kurzen Periode als Praktikantin am Institut für jüdische Studien ein Vorbild gewesen ist. Außerdem hat sie mich vor einem Jahr herzlich in der Forschungsgruppe am Institut für jüdische Studien willkommen geheißen und hat auch sie sich als Mitglied meiner „Doktoratsbetreuungkommission“ an dieser Arbeit beteiligt. Die Arbeit wäre ohne die notwendige finanzielle Unterstützung nicht möglich gewesen. Dazu bedanke ich mich bei der Universität Antwerpen und bei BOF (Bijzonder Onderzoeksfonds), FWO (Fonds voor Wetenschappelijk Onderzoek - Vlaanderen) und OJO (Omkadering van Jonge Onderzoekers). Auch den Mitarbeitern des Lesesaals und der Bibliothek, die mir während meiner Recherchen am Bundesarchiv - Berlin Lichterfelde, am Evangelischen Zentralarchiv Berlin sowie am Deutschen Literaturarchiv in Marbach weitergeholfen haben, seien hier gedankt. Ein besonderes Dankeschön gilt zudem Frau Susanne Hennings, Mitarbeiterin des Deutschen Rundfunkarchivs (Frankfurt), die so freundlich gewesen ist, mich ausführlich per E-Mail über die vorhandene Kollektion zu beraten. Ich möchte mich auch bei den

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Bibliothekmitarbeitern der Universität Antwerpen bedanken, da sie meine zahlreichen IBL-Anträge quasi immer erfolgreich erledigt haben. Für die verschiedensten Hilfestellungen auf technischem Gebiet bedanke ich mich besonders bei Jessica Van de Weerd, Thomas Crombez und Hubert Meeus. Dass ich in den letzten Jahren nicht im sprichwörtlichen akademischen Elfenbeinturm gelebt habe, verdanke ich in erster Linie meinen lieben Kollegen, die noch an ihren eigenen Projekten arbeiten oder diese mittlerweile bereits abgeschlossen haben. Sowohl die monatlich organisierten „Doctorandilunches“ als auch die spontanen Ausflüge zum „Kaffeemann“ ergaben nicht nur interessante Diskussionen über unsere sehr unterschiedlichen Projekte, sondern ermöglichten innerhalb dieses akademischen Kontextes auch lockere Gespräche über Harry Potter, Hobbys und Ausflüge am Wochenende. Ein besonderes „dank-je-wel“ sage ich an dieser Stelle Johanna Ferket, mit der ich in den letzten zwei Jahren nicht nur den Büroraum, sondern vor allem auch viele Erfolgsgeschichten und Frustrationen hinsichtlich des Promotionsverfahrens geteilt habe. Danke für Deine immer ermutigenden Worte! Auch ein besonderes Dankeschön an Annelies Augustyns, die seit zwei Jahren meine „Partnerin in Crime“ hinsichtlich deutscher Literatur, Sprache und Kultur ist. Meine deutsche Insel ist seit ihrer Anwesenheit nicht mehr so einsam. Es ist mir auch eine ganz besondere Freude, meinem Freundeskreis und meiner Familie für die Unterstützung und Ermunterung während meines Gesamtstudiums und Promotionsverfahrens zu danken, insbesondere meinen Eltern, Großeltern und Geschwistern. Auch meine Tochter Clara, die überhaupt keine Ahnung hat, in welchem Maße sie zur Verwirklichung dieser Arbeit beigetragen hat, verdient hier eine besondere Erwähnung. In Zeiten von Stress war ihr Lächeln eine unerschöpfliche Energiequelle. Unendlicher Dank gebührt schließlich ohne jeden Zweifel meinem Mann Geert Barzin, ohne dessen unermüdliche Unterstützung die vorliegende Studie nicht möglich gewesen wäre. Sein aufrechtes Interesse für mein Projekt, seine kritischen Fragen und Anmerkungen in den zahlreichen Gesprächen über das Forschungsthema, seine Anwesenheit bei Forschungsausflügen, seine technische Hilfe beim Entwurf des Titelblatts und beim Lay-out des Textes, seine endlose Geduld und schließlich seine Bereitschaft, in den letzten Monaten quasi alleine für die Abend- und Nachtroutine unserer Tochter zuständig zu sein, damit ich diese Arbeit fertig schreiben konnte, haben mir das ganze Promotionsverfahren in vielerlei Hinsicht wesentlich erleichtert. Eigentlich kann ich meine Dankbarkeit für seine Unterstützung kaum in Worte fassen, deswegen widme ich ihm diese Arbeit. Antwerpen, im März 2019 Anneleen Van Hertbruggen

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I Zur Erforschung der Sakralisierung des Politischen in nationalsozialistischer Lyrik

Einführung

Sakralisierung des Politischen

1. Problemstellung

Ich glaube an dich, denn du bist die Nation, ich glaube an Deutschland, weil du Deutschlands Sohn.

(Baldur von Schirach, „Dem Führer“, V.7-8)

Ich glaube an dich. Die hier zur Einführung zitierten zwei Verszeilen entstammen einem Gedicht mit dem Titel „Dem Führer“, verfasst in den frühen 1930er Jahren vom nationalsozialistischen Politiker und Reichsjugendführer der NSDAP Baldur von Schirach. Der Zeitraum, in dem das Gedicht verfasst worden ist sowie auch die nationalsozialistische Überzeugung des Dichters verraten gleich, dass mit dem im Titel anonym gelassenen „Führer“ ganz spezifisch Adolf Hitler als „Führer“ der NSDAP und ab 1933 des nationalsozialistischen Deutschlands gemeint wird. Gerade in Kombination mit der in diesen letzten zwei Verszeilen des Gedichtes zweifach wiederholten „glauben an“-Formel erweist sich dieses Zitat als exemplarisch für das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit, und zwar die Erforschung des religiösen Diskurses in affirmativer NS-Dichtung. Obwohl mit „glauben an“ nicht unbedingt immer ein religiöses Glaubensbekenntnis ausgesprochen wird, ruft die Formel in einem christlich-religiösen Kontext aber schon spontan Verbindungen mit Konzepten wie „Gott“, „Jesus Christus“, dem „Heiligen Geist“ und der „Heiligen Kirche“ hervor. In von Schirachs Gedicht glaubt man aber weder an „Gott“, „den Vater“, den „Schöpfer des Himmels“ noch an „Jesus Christus“, „seinen eingeborenen Sohn“, sondern an „dich“, mit dem „der Führer“, der angeblich „die Nation“ verkörpert, gemeint wird. Auch an „Deutschland“ wird geglaubt, weil der „Führer“ nicht nur als Verkörperung dieser Nation, sondern auch als deren „Sohn“ gilt. Die angebliche Einheit von „Führer“, „Nation“ und „Söhne der Nation“ steigert die pseudoreligiöse Darstellung in diesem Gedicht umso mehr, da sie sich der christlichen Trinitätslehre anzulehnen scheint, in der auch „Vater“, „Sohn“ und „Heiliger Geist“ als drei unterschiedliche Seinsweisen der göttlichen Wesenseinheit gelten.1

Von Schirachs Gedichtzitat erweist sich für die vorliegende Arbeit als ein geeigneter Anlass, um zwei Aspekte des Nationalsozialismus, die in der Forschung bereits zu weitgehenden Diskussionen geführt haben, kritisch hervorzuführen: auf der einen Seite die zielgerichtete „Ästhetisierung des Politischen“, auf der anderen Seite auch die „Sakralisierung“ politischer Inhalte. Gerade in dieser „Ästhetisierung der Politik“ hat Walter Benjamin eine wichtige Charakteristik des Nationalsozialismus als faschistischen Regimes gesehen: „Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen

1 Vgl. „Trinität“ in Hans Dieter Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Tübingen: Mohr 1998-2007, Bd. 8, 601 und Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Freiburg, Basel, Rom, Wien: Herder 1993-2001, Bd. 10, 240.

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Einführung

Lebens hinaus“.2 Dabei beschränkte sich diese Ästhetisierung nicht nur auf die Verarbeitung politischer Inhalte in der in dieser Arbeit zentral gestellten affirmativen Lyrik, sondern sie setzte sich auf unterschiedlichen Ebenen des NS-Systems durch. So führt Klaus Schreiner die visuelle Stilisierung des Führerbildes durch die Fotofirma Heinrich Hoffman zu einem „Markenartikel“ und die theatralische Inszenierung von erhebenden, nicht alltäglichen Massenerlebnissen als Beispiele für diese Ästhetisierung der nationalsozialistischen Politik heran. Außerdem bediente sich der Nationalsozialismus eines Sammelsuriums an Formelementen – wie beispielsweise Massenaufmärsche und Gedenkumzüge, Chöre und Musik, Apell und Gelöbnis, Fahnen, Fackeln und Feuerschalen –, solange sie als zweckmäßig erschienen.3 Der US- amerikanische Historiker deutsch-jüdischer Herkunft George L. Mosse interpretiert diese Ästhetisierung der Politik als Ausdruck einer „new politics“, die er quasi als das Erbe einer mit der Französischen Revolution eingesetzten Idee der Volkssouveränität und einem sich daraus entwickelnden aufkommenden Nationalismus betrachtet. Obwohl die Ideen der Französischen Revolution ganz Europa beeinflusst haben, sieht Mosse im Nationalsozialismus den absoluten Höhepunkt dieser „new politics“. Denn die kultisch inszenierten Volksfeste aus der Zeit der Französischen Revolution hätten den politischen Kult des Nationalsozialismus zwei Jahrhunderte später sozusagen bereits angekündigt.4

Auch Walter Benjamin betont die Rolle des rituellen Kults innerhalb dieser „Ästhetisierung der Politik“, denn das Ritual bestimme die Bedeutung des „Kunstwerks“ sowohl in der Vergangenheit - in der „Tradition“ – als auch im modernen politischen System: „Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen“,5 in dem Sinne hat der „einzigartige Wert des ‚echten‘ Kunstwerks […] seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte“.6 Der Faschismus ästhetisiert die Politik gerade dann, wenn er die Mittel der Kunst zur Ritualisierung seiner Macht einsetzt, wie etwa im nationalsozialistischen Führerkult und Blut-und-Boden-Kult. „Der Nationalsozialismus“, sagt Klaus Vondung, „besaß einen Kult, wie ihn die Religionen aufweisen, nämlich

2 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 42. Dieser Aufsatz erschien zunächst im Jahre 1936 gekürzt auf Französisch und wurde erst 1963 postum vollständig publiziert. 3 Vgl. Klaus Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters. In: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. Hg. v. Klaus Hildebrand. München: Oldenbourg 2003, 47. 4 Vgl. George L. Mosse: The Nationalization of the Masses. Ithaca, London: Cornell University Press 1975, 1- 17. 5 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 16. 6 Ebd.

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Sakralisierung des Politischen

öffentlich sanktionierte Feste und Feiern mit regelrechten Liturgien und festgelegten Ritualen“.7

Obwohl Mosse das Ritual im Nationalsozialismus als „new politics“ bloß als Ausdruck des politischen Stils einer „säkularen Religion“ betrachtet,8 lässt sich in der nationalsozialistischen Ästhetisierung der Politik aber auch eine gewisse „Sakralisierung“ entdecken, weswegen diese Arbeit die „politische Religion“ als Bezeichnung für den Nationalsozialismus bevorzugt.9 Bereits in von Schirachs oben zitierten Verszeilen aus seinem Gedicht „Dem Führer“ fallen das religiös konnotierte Vokabular – die „glauben an“- Formel – und die Anspielung auf die christliche Trinitätslehre gleich auf. Grundlegend hat sich besonders der italienische Historiker Emilio Gentile mit der „Sakralisierung des Politischen“ auseinandergesetzt, nicht nur im Zusammenhang mit dem italienischen Faschismus sondern insgesamt mit den Konzepten der säkularen und politischen Religion.10 Gentile betrachtet die sogenannte „Sakralisierung der Politik“ – ob diese nun als Laienreligion, irdische, säkulare oder politische Religion, politische Mystik oder Idolatrie definiert werde – als eine der distinktivsten, wenn nicht gefährlichsten Merkmale totalitärer Systeme:11

This process takes place when, more or less elaborately and dogmatically, a political movement confers a sacred status on an earthly entity (the nation, the country, the state, humanity, society, race, proletariat, history, liberty, or revolution) and renders it an absolute principle of collective existence, considers it the main source of values for individual and mass behaviour, and exalts it as the supreme ethical precept of public life. It thus becomes an object for veneration and dedication, even to the point of self-sacrifice.12

Auch in dem für die vorliegende Arbeit gewählten Korpus affirmativer NS-Dichtung werden profanen und ideologischen Kernbegriffen wie „Führer“, „Reich“ und „Volk“ sakrale Eigenschaften zugeschrieben und religiös aufgewertet, weshalb sie laut Vondung sogar als „Glaubensartikel“ der nationalsozialistischen politischen Religion erscheinen.13

7 Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971, 8. 8 Vgl. Mosse: The Nationalization of the Masses, 16-17. 9 In Kapitel II geht diese Arbeit ausführlich auf die Definitionsproblematik des Nationalsozialismus als einer politischen Religion ein. 10 Vgl. dazu beispielsweise Emilio Gentile: The Sacralisation of Politics: Definitions, Interpretations and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism. In: Totalitarian Movements and Political Religions 1.1 (2000), 18-55 und Emilio Gentile: Political Religion: A Concept and its Critics – A Critical Survey. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6.1 (2005), 19-32. 11 Vgl. Gentile: The Sacralisation of Politics: Definitions, Interpretations and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism, 18. 12 Ebd., 18-19. 13 Vgl. Klaus Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6.1 (2005), 91.

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Einführung

Gerade die „Sakralisierung“ dieser drei Ideologeme innerhalb der affirmativen NS- Dichtung steht in der literarischen Analyse dieser Arbeit zentral.

2. Forschungsfragen und Zielsetzung

Eine solche quasi-religiöse Darstellung des „Führers“ – und im weiteren Sinne auch des „Reiches“ und des „Volkes“ – war im nationalsozialistischen Deutschland keineswegs eine Ausnahme. Die Präsenz eines religiösen Diskurses auf allen Ebenen des NS-Systems – etwa im politischen Kult, in der Propaganda, in der Lyrik und in Reden von Hitler und verschiedenen anderen hohen NS-Funktionären – hat schon im „Dritten Reich“ Anlass dazu gegeben, den Nationalsozialismus als eine „politische Religion“ zu beschreiben.14 Diese Bezeichnung hat nach dem Zusammensturz des nationalsozialistischen Regimes und besonders ab den 1990er Jahren zu scharfen Diskussionen über das Wesen des Nationalsozialismus und die Besonderheit „politischer Religionen“ geführt. Vor allem dank der ausführlichen Bearbeitung des Themas durch Hans Maier und der von ihm zwischen 1992 und 2000 organisierten Konferenzen über Totalitarismus und politische Religion entstand ein breit angelegtes Forschungsprojekt.15 Das heranwachsende Interesse an diesem Themenkomplex führte zudem zur Veröffentlichung der Zeitschrift Totalitarian Movements and Political Religions ab dem Jahre 2000. Seit 2011 erscheint die Zeitschrift vierjährlich unter dem neuen Titel Politics, Religion & Ideology und profiliert sich als das führende internationale Forum für die wissenschaftliche Erforschung der Politik „illiberaler“ Ideologien, sowohl religiöser als auch säkularer Art. Dabei fokussiert sie sowohl auf das historische als auch das gegenwärtige Verhältnis von Politik und Religion.16 So untersuchte die Zeitschrift im Jahre 2018 sowohl die Zukunft der türkischen Gülen Bewegung nach dem Putschversuch in der Türkei im Jahre 201617 als auch die psychologischen Folgen der „Entmenschlichung“ in der nationalsozialistischen Ideologie18, die Interpretation religiöser Gebete als politischer Texte19 und politische Symbolik in

14 Zeitgenossen wie Paul Schütz, Erich Voegelin und Raymond Aron beschrieben den Nationalsozialismus bereits in den 1930er Jahren als eine „politische Religion“. Auf die Definitionsproblematik des Nationalsozialismus als „politischer Religion“ geht Kapitel II dieser Arbeit ausführlich ein. 15 Zu denken ist hier insbesondere an die von Hans Maier (mit-)herausgegebenen Bände mit dem Titel „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“ (3 Bde., Paderborn: Ferdinand Schöning 1995-2003). 16 Vgl. „Aims and scopes“ der Zeitschrift Politics, Religion & Ideology. ORL: https://www.tandfonline.com/action/journalInformation?show=aimsScope&journalCode=ftmp21 [Letzter Zugriff: 27.02.2019]. 17 Vgl. das Themenheft „Ruin or Resilience? The Future of the Gülen Movement in Transnational Political Exile“, Politics, Religion & Ideology 19.1 (2018). 18 Vgl. besonders Johannes Steizinger: The Significance of Dehumanization: Nazi Ideology and Its Psychological Consequences. In: Politics, Religion & Ideology 19.2 (2018), 139-157. 19 Vgl. besonders Serawit Bekele Debele: Reading Prayers as Political Texts: Reflections on Irreecha Ritual in Ethiopia. In: Politics, Religion & Ideology 19.3 (2018), 354-370.

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Sakralisierung des Politischen unterschiedlichen gegenwärtigen politischen Bewegungen.20 Auch die vorliegende Arbeit untersucht das Verhältnis von Religion und Politik, und zwar in der Zeit des „Dritten Reiches“. Indem die Arbeit an der Diskussion über den Nationalsozialismus als „politische Religion“ anknüpft und in der literarischen Analyse besonders auf die Kristallisation des religiösen Diskurses in affirmativer NS-Dichtung eingeht, untersucht sie das Verhältnis von Religion und Nationalsozialismus in zweierlei Hinsicht.

Zunächst geht die Arbeit der Frage nach, inwiefern das Konzept „politische Religion“ tatsächlich auf den Nationalsozialismus anwendbar sei. Zu diesem Zweck geht sie nicht nur auf die Forschungstradition und die damit zusammenhängende Definitionsproblematik ein, sondern sie schlägt eine erweiterte Auffassung über den Religionsbegriff selbst vor und plädiert somit für eine neue Perspektive auf die „(politische) Religion“ als handhabbares Konzept zur Beschreibung des Nationalsozialismus.

Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit richtet sich jedoch auf die Analyse und Interpretation des religiösen Diskurses innerhalb affirmativer NS-Dichtung, die somit als textuelle Repräsentation des Nationalsozialismus als „(politischer) Religion“ betrachtet werden kann. Sie fokussiert besonders auf die Sakralisierung dreier zentraler Ideologeme des Nationalsozialismus, und zwar den „Führer“, das „Reich“ und das „Volk“, die bereits in von Schirachs Gedicht gemeinsam in einem religiös aufgewerteten Kontext dargestellt wurden. Die literarische Analyse dieser drei Ideologeme, die also als profane Konzepte von den Dichtern zielgerichtet auf eine sakrale Ebene erhoben werden, fällt in drei Themenbereiche auseinander. So interpretiert diese Arbeit die Sakralisierung des „Führers“ vor dem Hintergrund messianischer Erlösungsbedürfnisse in den 1920er und 1930er Jahren im Nachkriegsdeutschland. Die sakrale Gestaltung des „Reiches“ versucht diese Arbeit über die theologischen Wurzeln des ursprünglich christlichen Symbols des „dritten Reiches“ zu erläutern. Das „Volk“, das vielleicht das inhärent „profanste“ Konzept der drei Ideologeme darstellt, empfindet seine sakrale Ausrichtung da, wo einzelne Individuen zu Märtyrern stilisiert oder wo im Allgemeinen die Rolle der Frau und des Mannes religiös aufgewertet werden. Mittels einer ideologiekritischen Herangehensweise, die diese Arbeit Peter Zimas Textsoziologie entlehnt, erforscht diese Arbeit die Wirkung des religiösen Diskurses in der affirmativen NS-Dichtung auf lexikalisch-semantischer, syntaktisch-narrativer und intertextueller Ebene.

Obwohl man auch in einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht darüber hinweg kann, dass der Nationalsozialismus eine grundsätzlich antisemitische Ideologie ist, ergibt sich der Antisemitismus in dieser Arbeit jedoch nicht explizit als zentrales Thema. Obwohl das Antisemitische des Nationalsozialismus bereits im vierten Punkt des

20 Vgl. das Themenheft „Symbolism and Politics“, Politics, Religion & Ideology 19.4 (2018).

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Einführung ursprünglichen Parteiprogramms der NSDAP festgelegt wurde21 und die Judenverfolgung sich im Nachhinein als den zentralen Aspekt der nationalsozialistischen Rassenpolitik erwiesen hat, hat sie den eigentlichen „Faschisierungsprozess“ laut Utz Maas in den ersten Jahren nach der Machtübernahme eher wenig bestimmt.22 Im für diese Arbeit herangeführten Korpus relativ früher nationalsozialistischer Dichtung erweist sich die „Judenfrage“ denn auch nicht als ein explizites Thema. Allerdings kann man davon ausgehen, dass die nationalsozialistischen Dichter die antisemitische Auffassung des Nationalsozialismus in ihrer Parteidichtung zwangsläufig – aber dann eher implizit – befürworten. Obwohl die vorliegende Analyse nationalsozialistischer Dichtung nur stellenweise auf den Antisemitismus eingehen wird, berücksichtigt sie zur jeden Zeit den grundsätzlich antisemitischen Charakter der ideologischen Überzeugung der gewählten Dichter.

3. Korpuswahl

Nicht nur untersucht diese Arbeit jedes der drei Ideologeme – „Führer“, „Reich“ und „Volk“ – vor dem Hintergrund dreier spezifischer Themenkreise – Messianismus, „drittes Reich“ als theologisches Konzept und Märtyrerstilisierung –, sondern sie verbindet jedes Ideologem und das damit zusammenhängende Thema zudem mit einem spezifischen Gedichtband. Die dazu ausgewählten drei Gedichtbände wurden von drei unterschiedlichen Autoren verfasst, und zwar von Heinrich Anacker (1901-1971), Gerhard Schumann (1911-1995) und Herybert Menzel (1906-1945), und in der Anfangsphase des „Dritten Reiches“ publiziert.23 Die in diesen Anthologien enthaltenen Gedichte wurden im Zeitraum von 1930 bis 1936 geschrieben und manchmal bereits anderswo – in anderen Anthologien oder auch in Zeitungen – publiziert. Diese Arbeit widmet den biographischen Hintergründen der drei gewählten Autoren nur wenig Aufmerksamkeit, da ihre Dichtung als repräsentativ für die nationalsozialistische Dichtung im Ganzen gilt.

Die Wahl des Korpus erfolgte auf Basis der folgenden Kriterien: Die gewählten Autoren gehören zur sogenannten „Jungen Mannschaft“, einer Gruppe junger und genuin nationalsozialistischer Autoren, die sich am Anfang der 1930er Jahre gebildet hat und die in erster Linie Parteidichtung verfassten. Die Autoren hatten bereits vor der

21 „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein“. Kurt Rosten: Das ABC des Nationalsozialismus. Berlin: Kommissionsverlag Schmidt & Co. 1933, 53. 22 Vgl. Utz Maas: „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand.“ Sprache im Nationalsozialismus. Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, 15. 23 Gerhard Schumann: Die Lieder vom Reich. München: Albert Langen - Georg Müller 1935; Herybert Menzel: Gedichte der Kameradschaft. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1936 und Heinrich Anacker: Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung. München: Eher 1936, Erstausgabe im Jahre 1933.

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Machtübernahme literarische Ambitionen, obwohl die zunächst erfolglos blieben. Erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und nachdem sie ihre schriftlichen Tätigkeiten in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes gestellt hatten und darüber hinaus auch innerhalb des Systems als Parteifunktionäre selber Karriere machten, hatte ihre Dichtung Erfolg. Obwohl die Arbeit auch die frühe Dichtung anderer nationalsozialistischer Dichter wie Baldur von Schirach, Herbert Böhme, Hans Baumann oder Will Vesper hätte heranziehen – und zu den gleichen Ergebnissen kommen – können, versucht sie mit der Wahl für Anacker, Schumann und Menzel ein möglichst differenziertes Bild des „nationalsozialistischen Dichters“ zu vermitteln, indem diese drei Autoren verschiedenen Ecken des Deutschen Reiches entstammten: Anacker wurde in der Schweiz geboren und verzichtete auf seine Schweizer Staatsangehörigkeit, nachdem er freiwillig in das „Dritte Reich“ umgesiedelt war; Schumann erlebte Kindheit und einen Großteil seiner Karriere in Baden-Württemberg; und Menzel entstammte der östlichen Region Obornik/Posen, die im Laufe der Geschichte entweder Polen oder Deutschland – und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wieder Polen – angehörte.

Schließlich wurden absichtlich drei Gedichtbände aus der ersten Hälfte der 1930er Jahre gewählt, da sich diese Periode als eine Übergangszeit zwischen der sogenannten „Kampfzeit“ der frühen NS-Bewegung, und zwar die Aufstiegszeit in der Weimarer Republik, und der Vorbereitungsphase des neuen Krieges erwiesen hat. So siedelt beispielsweise Utz Maas die Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1938 an24 und Michael Grüttner beschreibt besonders die Periode von Ende 1937 bis August 1939 als eine „Übergangsphase zwischen den Friedensjahren des Dritten Reiches und dem Zweiten Weltkrieg“, also als eine Zeit der weiteren „Radikalisierung“ des Regimes.25 Die vorangehende Periode, die mit der nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar 1933 einsetzt, wäre im Gegensatz dazu als eine Epoche zu betrachten, in der die Herrschaftsverhältnisse stabilisiert und die nationalsozialistische Ideologie für die große Masse weiter konzeptualisiert und konsolidiert wurden. Der nationalsozialistische Propagandaapparat, der bereits im März 1933 mit der Institutionalisierung des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda in zahlreichen Betätigungsfeldern aktiv wurde, spielte in diesem Zusammenhang eine sehr große Rolle. Nicht nur die Presse, die sowohl Zeitungen als auch Radio umfasste, sondern auch die ganze Kulturpolitik wurde in den Dienst der Verbreitung der Ideologie gestellt. Auch die Vereinnahmung der – affirmativen – Lyrik von der Politik wurde damit Realität. Dies zeigte sich nicht nur im unverhohlenen politischen Engagement der Dichter als Mitglieder der Partei oder als Parteifunktionäre, sondern auch im pointiert politisch inspirierten Inhalt ihrer Dichtung,

24 Vgl. Maas: „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand.“ Sprache im Nationalsozialismus, 12. 25 Vgl. Michael Grüttner: Das Dritte Reich. 1933-1939. Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19. Stuttgart: Klett-Cotta 2014, 485.

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Einführung der besonders in zahlreichen Oden an den „Führer“, vaterländische Hymnen und Trauergedichte über und für die „Gefallenen der Bewegung“ zum Ausdruck kam.

Obwohl Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz „What National Socialism has Done to the Arts“ behauptet, dass die nationalsozialistische Kunst im Allgemeinen einen eher begrenzten Einfluss auf die gesamte deutsche Gesellschaft hatte26 und auch Cornelia Jungrichter die Relevanz der vom Nationalsozialismus vereinnahmten Kunst im Hinblick auf die Formierung der faschistischen Massenbasis neben anderen Medien, wie Presse, Rundfunk, Film oder offiziellen Veranstaltungen eher gering einschätzt,27 will die vorliegende Arbeit diese Auffassung doch nuancieren. So sieht Jungrichter gerade in der künstlerischen Ausdrucksform der Literatur die Möglichkeit, adäquate Inhalte zu artikulieren und zu publizieren, „d.h. konkret für die Text-Leser-Relation im Sinne des NS ‚Vorstellungen, Wünsche, Leitbilder zu wecken, Gedanken und Meinungen zu lenken, ja sogar Handlungsweisen vorzuschreiben‘“.28 Außerdem sei die für diese Arbeit fokussierte affirmative NS-Dichtung auch nicht von Presse, Rundfunk und offiziellen Veranstaltungen zu trennen, da diese Lyrik nicht zur „besinnlichen Einzellektüre“ sondern als „Gemeinschaftslied“ aufgefasst wurde.29 Nationalsozialistische Gedichte wurden im Rundfunk rezitiert, an Massenveranstaltungen gesungen, in Schulbüchern aufgenommen und im Unterricht rezipiert. Ohne die Relevanz und die Wirkung der nationalsozialistischen Lyrik damit überschätzen zu wollen, muss allerdings hervorgehoben werden, dass ihre Reichweite die schlichte Verbreitung in einzelnen Gedichtbänden schon übersteigt. So zeugt zum Beispiel Gudrun Wilcke in ihrem Buch Die Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer Beeinflussung (2005), das sie erst im Alter von 77 Jahren verfasste, davon, wie die NS- Diktatur sie als Kind zu einer „begeisterten, also gläubigen und ergebenen“ Anhängerin ihrer Ideologie „erzogen“ hat.30 In diesem Zusammenhang möchte Wilcke aufzeigen, „wie das NS-System sich damals der Lust der Kinder und Jugendlichen am Lesen, vor allem aber am Singen bediente und sie zunutze machte. Wie sie deren Bereitschaft zur Begeisterung, Gläubigkeit und Hingabe missbrauchte, um die junge Generation im nationalsozialistischen Sinn zu indoktrinieren“.31 Unter anderem wegen ihres Zeugnisses stimme ich Ulrich Schmid vorsichtigerweise zu, dass man nationalsozialistische „Kunstwerke“ – auch die Dichtung – nicht als reine „Veranschaulichungen“ der

26 Vgl. Theodor W. Adorno: Essays on Music. Berkeley, Los Angeles: The University of California Press 2002, 383. 27 Vgl. Cornelia Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1979, 7. 28 Ebd. 29 Vgl. Albrecht Schöne: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur. München: Beck 2005, 263- 264. 30 Vgl. Gudrun Wilcke: Die Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer Beeinflussung. Frankfurt am Main: Peter Lang 2005, 9. 31 Ebd., 7.

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Sakralisierung des Politischen faschistischen Ideologie, sondern als „konstitutive Elemente“ ihrer sozialen Kultur betrachten sollte.32

4. Stand der Forschung

4.1 Die nationalsozialistische Literatur bzw. Lyrik

Mit seiner Dissertation über The Political Poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors (1968) wollte Walter Knoche eine literaturwissenschaftliche Forschungslücke füllen. Denn, so merkt er an, trotz der Vielzahl der Bücher, die zu dem Zeitpunkt bereits über das „Dritte Reich“ geschrieben worden waren, beschäftigte sich nur eine kleine Minderheit mit seiner Literatur. Während sowohl deutsche als auch ausländische Historiker, Psychologen und Soziologen den Markt bereits innerhalb von einigen Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit Büchern und Artikeln überschwemmten, blieb es auf literaturwissenschaftlicher und literaturhistorischer Seite geraume Zeit sehr ruhig.33 Den wichtigsten Grund für diese literaturwissenschaftliche Vernachlässigung der NS-Literatur sieht Esther Roßmeißl in der nach dem Zweiten Weltkrieg dominanten These, die nationalsozialistische Literatur sei keine „echte Literatur“ gewesen: „Sie sei nicht frei gewesen, sondern habe im Dienst politischer Propaganda gestanden, sie sei inhuman, intellektuell anspruchslos und formal unzureichend, trivial und somit einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung unwürdig“.34 Besonders diese Propaganda– funktion und den angeblich „inhumanen“ Inhalt dieser Dichtung erklärt Cornelia Jungrichter innerhalb eines Kritikverfahrens, „das gewichtige historisch-politische und funktionale Gesichtspunkte nicht in Betracht zieht und sich stattdessen auf eine ausschließliche Wertung aus ästhetisch-ethischer Perspektive konzentriert“.35 Anhand dieser Perspektive wird Literatur wegen der schlichten Gleichsetzung mit „ethisch gut- ethisch schlecht“ als „Kunst-Nichtkunst“ oder „literarisch gut-schlecht“ bewertet.36 In dieser Hinsicht sei die nationalsozialistische Dichtung, die mit den vorgeblich „zeitlosen“ ästhetischen Normen der Literaturwissenschaft nicht übereinstimme und darüber hinaus auch „in ethischer Hinsicht“ nur als „schlecht“, „barbarisch“ und „monströs“ erscheine, als „Nichtkunstwerke“ zu kategorisieren: „Angesichts eines solchen Pauschalurteils wird die literarische Produktion des ‚Dritten Reiches‘ von vornherein abqualifiziert als eine, mit der

32 Vgl. Ulrich Schmid: Style versus Ideology: Towards a Conceptualisation of Fascist Aesthetics. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6.1 (2005), 128. 33 Vgl. Walter Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors. The Ohio State University 1969 (Unpublizierte Dissertation), 1. 34 Esther Roßmeißl: Märtyrerstilisierung in der Literatur des Dritten Reiches. Taunusstein: Driesen 2000, 11. 35 Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 15. 36 Vgl. ebd.

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Einführung zu beschäftigen sich nicht lohnt“.37 Wie aber Hauke Brunkhorst betont, sind Ethik und Ästhetik zweierlei: „Werden sie vermengt, macht am Ende entweder das Leben zu wenig oder die Kunst zu viel Sinn“.38 Die Frage nach „Kunst“ oder „Nicht-Kunst“ aus ethisch- ästhetischen Überlegungen erweist sich für die vorliegende Frage nicht als ausschlaggebend. Im Rahmen der ideologiekritischen Textinterpretation analysiert sie die ausgewählten Texte als Produkte des damaligen Zeitgeistes, der die politische Dichtung tatsächlich als „Dichtkunst“ betrachtete.

Obwohl die These, NS-Literatur sei keine echte Literatur gewesen, die literatur– wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte und die literaturwissenschaftliche Forschung zu diesem Thema immer noch große Lücken aufweist, sind bis zum heutigen Tag doch bereits mehrere Werke erschienen, die sich kritisch mit dieser Literatur auseinandersetzen. Diese Arbeit versucht im Folgenden eine Übersicht über die Forschungslage zur Literatur im „Dritten Reich“ seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu bieten, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Die Anfänge der Literaturerforschung des „Dritten Reiches“ sind bereits in den 1960er Jahren zu finden, obwohl die verfassten Arbeiten nicht aus literaturwissenschaftlichem sondern aus publizistischem Interesse entstanden sind. So wuchsen die Studien von Franz Schonauer (1961) und Dietrich Strothmann (1961) aus ihren Berufstätigkeiten als Journalist und bot der ehemalige Bibliothekar und Publizist Ernst Loewy mit seinem Werk Die Literatur unterm Hakenkreuz (1966) eine erste verdienstvolle Materialversammlung an.39

Vor allem aus historischem Blickwinkel entstanden in den letzten siebzig Jahren verschiedene Arbeiten, die sich manchmal nur am Rande mit der nationalsozialistischen Literatur beschäftigen. Der Historiker und Holocaust-Überlebende Joseph Wulf versuchte als einer der ersten und mit zahlreichen Publikationen, die bundesdeutsche Gesellschaft umfassend über die Verbrechen der Nationalsozialisten und den Holocaust zu informieren. Besonders mit seinen Dokumentationen zu verschiedenen Themenbereichen des „Dritten Reiches“ – wie Literatur und Dichtung, Theater und Film, Musik und die bildenden Künste – leistete er auch einen beträchtlichen Beitrag zur Erforschung der

37 Vgl. ebd. 38 Hauke Brunkhorst: Ansichten des Intelektuellen: Vom deutschen Mandarin zur Ästhetik der Existenz. In: Raum und Verfahren. Hg. v. Jörg Huber und Alois Martin Müller. Zürich, Frankfurt am Main: Stroemfeld - Roter Stern 1993, 55. 39 Franz Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich. Versuch einer Darstellung in polemisch-didaktischer Absicht. Olten: Walter Verlag 1961; Dietrich Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich. Bonn: Bouvier 1961; Ernst Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1966. Auch Anacker, Schumann und Menzel werden in diesen Studien stellenweise erwähnt.

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Sakralisierung des Politischen

Kultur- und Literaturpolitik im „Dritten Reich“.40 Allerdings wurde das Textmaterial in beispielsweise der Dokumentation Literatur und Dichtung im Dritten Reich (1960) noch unkommentiert und ohne Deutung gesammelt, wie es laut Simone Bautz für diese Zeit noch üblich gewesen ist.41 Seit den 1990er Jahren hat sich auch der amerikanische Historiker Jay W. Baird wiederholt auf die nationalsozialistische Literatur und besonders die Dichtung in ihrem historischen Kontext bezogen. So widmete er den NS-Dichtern Gerhard Schumann und Hans Baumann zwei Kapitel in seinem Werk über nationalsozialistische Heldenverehrung.42 Vier Jahre später stellt er einen weiteren Autor der Jungen Mannschaft, Eberhard Wolfgang Möller, als Hitlers Muse vor.43 In seiner 2008 erschienen Studie über das Leben und Werk sechs führender konservativer Dichter aus der NS-Zeit, die den Traum von Veteranen des Ersten Weltkrieges artikulierten, um eine sozial gerechte nationale Gemeinschaft zu bilden, greift Baird auch an zahlreichen Stellen auf die von ihnen verfasste Kriegslyrik zurück.44

Auch die ersten germanistischen Arbeiten – von Albrecht Schöne45 und Walter Knoche46 – zu nationalsozialistischer Literatur entstanden bereits in den 1960er Jahren und fokussierten sogar besonders auf die – politische – Lyrik. Einen bedeutsamen Beitrag zur nationalsozialistischen Literaturtheorie bieten Klaus Vondung47 und Uwe-K. Ketelsen.48 Letzterer bietet mit seiner Studie Literatur und Drittes Reich (1994)49 sogar einen Überblick über die verstreuten Publikationen bis Anfang der 1990er Jahre. Obwohl Horst Denkler und Karl Prümm mit ihrem Sammelband Die Deutsche Literatur im Dritten Reich (1976)50 versucht haben, neue Forschungsergebnisse in die Diskussion um die Literatur der NS-Zeit einzuführen, blieb diese im literaturhistorischen Bewusstsein doch weiterhin so

40 Siehe dazu etwa seine Publikationen beim Verlag Sigbert Mohn in Gütersloh: Musik im Dritten Reich (1963), Die bildenden Künste im Dritten Reich (1963), Theater und Film im Dritten Reich (1963) und besonders interessant für die vorliegende Arbeit auch Literatur und Dichtung im Dritten Reich (1960), in dem Wulf auch Anacker, Schumann und Menzel an mehreren Stellen als Beispiele heranführt. 41 Vgl. Simone Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. Justus-Liebig-Universität-Gießen 2008 (Unveröffentlichte Dissertation), 37 42 Baird präsentiert Gerhard Schumann als „Elitist Poet of the Volk Community“ und Hans Baumann als „Troubadour of the Hitler Youth“. Vgl. Jay W. Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1990, Kapitel VI und Kapitel VII. 43 Vgl. Jay W. Baird: Hitler’s muse: The political Aesthetics of the Poet and Playwright Eberhard Wolfgang Möller. In: German Studies Review 17.2 (1994), 269-285. 44 Vgl. Jay W. Baird: Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich. New York: Cambridge University Press 2008. Baird erwähnt vor allem Anacker und Menzel, und in geringerem Maße auch Schumann, an mehreren Stellen. 45 Albrecht Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965. 46 Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors. 47 Klaus Vondung: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie. München: List 1973. 48 Uwe-K. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890-1945. Stuttgart: Metzler 1976. 49 Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. Vierow bei Greifswald: SH 1994. 50 Horst Denkler und Karl Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Stuttgart: Philipp Reclam 1976.

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Einführung gut wie unbekannt. Sie sei, so Ketelsen, „in ein Knäuel von Unwissenheit, bewußter Vergeßlichkeit, Reinigungszwängen, Verdrängungen, Berührungsängsten und reaktiven Aggressionskomplexen verstrickt“.51 Auch Karl Heinz Schoeps52 und Brian Murdoch53 versuchen mit ihren Studien, das literarhistorische Bewusstsein der Deutschen für die nationalsozialistische Literatur zu wecken. Besonders für den Unterricht eignen sich die Materialsammlung zur „deutschen Faschismus in seiner Zeit“ von Harro Zimmermann54 und zwei im Reclam-Verlag publizierte Quellensammlungen. Der 15. Band der Reihe zur deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart gibt eine Übersicht über die Literatur der Jahre 1925 bis 1945. Besonders die Abschnitte zu nationalsozialistischer Literaturkritik und nationalsozialistischer Lyrik beziehen sich auf die Literatur im „Dritten Reich“.55 2001 erschien bei Reclam noch eine Quellensammlung, die ausschließlich die Literatur und Literaturpolitik im „Dritten Reich“ dokumentiert.56 Mit Cornelia Jungrichters Studie zur nationalsozialistischen Sonettdichtung,57 Alexander von Bormanns Aufsatz zum Gemeinschaftslied58 und Alfred Roths Studie zum Massenlied59 sind besonders im Bereich der lyrischen Produktion auch drei wichtige gattungsspezifische Studien erschienen. Erst 1993 erschien mit Jürgen Hillesheims und Elisabeth Michaels Lexikon nationalsozialistischer Dichtung60 der erste Versuch, eine umfangreiche und systematische Sammlung der für den Nationalsozialismus wichtigen Dichtung zu bieten. Mit seiner mittlerweile vier Bände umfassenden Sammlung bio- bibliographischer Portraits verschiedener NS-Autoren hat der Germanist und Literaturhistoriker Rolf Düsterberg im letzten Jahrzehnt einen wichtigen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Lyrik geliefert.61 Schließlich verfasste Simone Bautz mit ihrer Dissertation über Gerhard

51 Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890-1945, 1. 52 Karl-Heinz Schoeps: Literatur im Dritten Reich. Berlin: Peter Lang 1992. 53 Murdoch widmet der faschistischen Lyrik ein ganzes Kapitel in seinem Buch Brian Murdoch: Fighting Songs and Warring Words: Popular Lyrics of Two World Wars. Routledge 1990 vgl. besonders Kapitel 4. 54 Harro Zimmermann: Der deutsche Faschismus in seiner Lyrik mit Materialien. Stuttgart: Ernst Klett 1982. 55 Henri R. Paucker (Hg.): Neue Sachlichkeit Literatur im ‚Dritten Reich‘ und im Exil. Stuttgart: Reclam 1974, vgl. besonders S.57-58 und S.92-100. 56 Sebastian Graeb-Könneker (Hg.): Literatur im Dritten Reich. Stuttgart: Reclam 2001, vgl. besonders hinsichtlich der Lyrik S. 243-274. 57 Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung. 58 Alexander von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen - Traditionen - Wirkungen. Hg. v. Horst Denkler und Karl Prümm. Stuttgart: Philip Reclam 1976, 256-280. 59 Alfred Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993. 60 Jürgen Hillesheim und Michael Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, vgl. S.13-21 für Heinrich Anacker, S.327-333 für Herybert Menzel und S.407-412 für Gerhard Schumann. 61 Rolf Düsterberg: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 4 Bde. Bielefeld: Aisthesis 2009, 2011, 2015, 2018. Der erste Band enthält einen Aufsatz von Jan Bartels zu Gerhard Schumann (vgl. S.259-294). Der zweite Band enthält einen Aufsatz von Düsterberg selber zu Herybert Menzel (vgl. S. 143-147) und von Verena Schulz zu Heinrich Anacker (vgl. S.21-40).

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Sakralisierung des Politischen

Schumann im Jahre 2008 das erste umfangreiche – und bisher einzige – Werk über einen spezifischen nationalsozialistischen Propagandadichter.62

4.2 Der religiöse Diskurs in NS-Dichtung

Noch dürftiger ist die Lage in Bezug auf thematische Teilgebiete in der NS-Literatur, wie beispielsweise die in der vorliegenden Arbeit fokussierte Funktion des religiösen Diskurses in der NS-Propaganda-Dichtung. Obwohl die sogenannte „nationalsozialistische Sprache“ – auch die „Sprache des Dritten Reiches“ oder die „Sprache im Dritten Reich“ bereits öfter Gegenstand der Forschung war, beschränken sich diese Werke meistens auf die religiöse Dimension der NS-Sprache als Propagandamittel oder das christlich-religiöse Vokabular innerhalb der Propagandasprache. Als wichtigste und erste Arbeit zu diesem Thema muss hier auf Victor Klemperers LTI – Notizbuch eines Philologen (1947) hingewiesen werden. Auf Basis seiner Tagebuchanzeichnungen aus der Zeit des „Dritten Reiches“ verfasste Klemperer noch während der Kriegsjahre die erste ausführliche sprachkritische Arbeit, in der bereits auf die „religionsähnlichen“ Züge der nationalsozialistischen Sprache aufmerksam gemacht wurde.63 Viel jüngeren Datums sind die im Jahre 2004 erschienene sprachwissenschaftliche Dissertation von Christian Dube, der die religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers analysiert,64 die im Jahre 2006 vorgelegte Inaugural-Dissertation von Angelika Breil zur nationalsozialistischen Rhetorik65 und verschiedene Publikationen zur nationalsozialistischen Sprachmanipulation des polnischen Sprachwissenschaftlers Jacek Makowski.66

Zum religiösen Diskurs in der nationalsozialistischen Dichtung lassen sich nur vereinzelte Publikationen oder Hinweise in umfassenderen Arbeiten aufweisen. Bereits im Jahre 1960 setzt sich Werner Hamerski in einem Aufsatz spezifisch mit religiösen Motiven in der nationalsozialistischen Lyrik auseinander.67 Indem er besonders auf „the poetry of the ‚Rufer‘“ fokussiert, erweist sich die bereits erwähnte Dissertation von Walter Knoche auch als eine wichtige Arbeit zu diesem Thema. Bei seiner Suche nach zentralen Themen und

62 Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. 63 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen 1947. Leipzig: Philipp Reclam 1970, vgl. besonders Kapitel XVIII „Ich glaube an ihn“. 64 Christian Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945. Norderstedt: Books on Demand 2004. 65 Angelika Breil: Studien zur Rhetorik der Nationalsozialisten (Fallstudien zu den Reden von Joseph Goebbels). Ruhr-Universität-Bochum 2006 (Unpublizierte Dissertation), vgl. insbesondere Abschnitt 2.6.7 Religiös konnotierte Begriffe und Wendungen. 66 Vgl. beispielsweise Jacek Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus. Lodz: Wydawnictwo Uniwersytetu Lodzkiego 2008, Dissertation. 67 Werner Hamerski: „Gott“ und „Vorsehung“ im Lied und Gedicht des Nationalsozialismus. In: Publizistik 5 (1960), 280-300.

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Einführung

Motiven in NS-Lyrik sei er quasi automatisch in der religiösen Sphäre gelandet.68 Obwohl weitere Forscher wie Cornelia Jungrichter, Albrecht Schöne, Karl Heinz Schoeps und Simone Bautz einen religiösen – oder religiös anmutenden – Sprachgebrauch in der nationalsozialistischen Literatur mal vereinzelt in den Mittelpunkt rücken, erscheint das Thema kaum als zentraler Forschungsgegenstand.

Bezüglich der religiösen Metaphorik in der nationalsozialistischen Literatur ist vor allem das Werk von Klaus Vondung erwähnenswert. In seiner im Jahre 1971 veröffentlichten Dissertation Magie und Manipulation – Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus untersucht er die Entstehung und die Form des nationalsozialistischen Feierstils. Er unterscheidet verschiedene nationalsozialistische Feiertype, wie z.B. die chorischen Feierspiele, die Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf und die Morgenfeiern, deren Gestaltungsform quasi als eine „Liturgie“ erscheint. Außerdem erscheinen die in den Feiern benutzten Texte als eine Art „liturgische Texte“. Mit sogenannten „Bekenntnisliedern“ wird der Glaube an den „Führer“, das Vaterland oder die Fahne ausgesprochen, die chorischen Dichtungen wurden zu konkreten Feieranlässen verfasst.69 Obwohl Vondung die religiöse Metaphorik in nationalsozialistischer Dichtung in diesem Buch nur im Rahmen der rituellen Gestaltung des Nationalsozialismus fokussiert, hat er sich in seiner weiteren Forschung mehrmals mit nationalsozialistischer Dichtung und Literaturpolitik und deren inhärenten religiösen Dimension befasst. So vertritt er in einem im Jahre 1997 erschienenen Aufsatz die These, dass ein Literaturwissenschaftler eher die Rolle eines Theologen einnehme, wenn er sich mit der Interpretation nationalsozialistischer Propagandadichtung beschäftigt und die Literaturwissenschaft folglich eher als „Literaturtheologie“ erscheine.70 Auch seine jüngste Buchveröffentlichung Deutsche Wege zur Erlösung (2013) hat die religiöse Dimension des nationalsozialistischen Systems zum Gegenstand. Wie Vondung in seinem Nachwort selber verdeutlicht, ist dieses Buch „das Resümee jahrzehntelanger Beschäftigung mit Erscheinungen der Religiosität im Nationalsozialismus“.71 Die sieben Kapitel behandeln dann auch die Themen, mit denen er sich schon in früheren Werken auseinandergesetzt hat: politische Religion, Glaube, Mystik, Mythos und Ritual, Kult, Theologie und Apokalypse.

68 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 8. 69 Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, vgl. besonders S.117-122. 70 Vgl. Klaus Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich. In: Rhetorik 17 (1997), 37-44. 71 Klaus Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung. München: Fink 2013, 139.

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Sakralisierung des Politischen

5. Zur Gliederung der Arbeit

Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, die Formen und Funktionen des christlich- religiösen Diskurses in affirmativer NS-Dichtung, für die die Dichtung von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel als repräsentativ gilt, anhand einer möglichst ideologiekritischen Textinterpretation zu untersuchen. In diesem Zusammenhang versteht diese Arbeit die zur Analyse angeführte NS-Dichtung als textuelle Repräsentation der nationalsozialistischen „(politischen) Religion“. Zu diesem Zweck gliedert sich die Arbeit, die insgesamt acht Kapitel enthält grob in zwei Hauptteile: Nach dieser Einführung folgen zunächst zwei Kapitel, die zusammen die theoretische Grundlage dieser Dissertation konstituieren. Die nächsten vier Kapitel umfassen die eigentliche literaturwissenschaftliche Analyse, die besonders auf die Sakralisierung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ in ausgewählter NS-Dichtung fokussiert. Im abschließenden Fazit geht diese Arbeit noch einmal besonders auf die Repräsentativität der drei gewählten NS-Dichter ein und bietet zudem einen Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten.

Kapitel II und III, die die theoretische Grundlage dieser Dissertation bilden, führen besonders das Verhältnis von Nationalsozialismus und Religion bzw. Nationalsozialismus und Dichtung hervor. Zu diesem Zweck setzt sich Kapitel II zunächst mit „Totalitarismus“, „Fanatismus“ und „völkischer Ideologie“ als wichtigen Konzepten innerhalb der Totalitarismusforschung auseinander und versucht darüber hinaus den ambivalenten Charakter des Nationalsozialismus als einer „modernen“ Erscheinung zu erklären. Dieser ambivalente Charakter zeigt sich auch in der Bezeichnung des Nationalsozialismus als einer „politischen Religion“, welche für die vorliegende Arbeit über den religiösen Diskurs in nationalsozialistischer Dichtung als besonders geeignet erscheint. Deswegen richtet sich das Hauptaugenmerk dieses Kapitels zunächst auf die Forschungstradition und Definitionsproblematik der Bezeichnung „politische Religion“. Um die „politische Religion“ als ein handhabbares Konzept für die Analyse und Interpretation eines religiösen Diskurses in NS-Dichtung darzustellen, plädiert dieses Kapitel für eine erweiterte und mehrdimensionale Perspektive, damit auch nicht-religiöse – oder politische – Systeme als „(politische) Religionen“ beschrieben und interpretiert werden können. Gemäß dieser Auffassung lässt sich die affirmative NS-Dichtung dann als textuelle Repräsentation dieser nationalsozialistischen „(politischen) Religion“ erkennen und erscheinen die darin enthaltenen sakralisierten politischen Inhalte als mögliche „Glaubensartikel“ dieser „(politischen) Religion“.

Kapitel III versucht daraufhin, zunächst die nationalsozialistische Lyrik zu definieren, wobei sie die gesellschaftspolitische Funktion dieser Lyrik in den Mittelpunkt rückt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser „Gebrauchswertcharakter“ weitgehend kritisiert und als einer der Gründe für die literaturwissenschaftliche Vernachlässigung herangeführt. Im

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Einführung

„Dritten Reich“ wurde die nationalsozialistische Dichtung als pointiert politische Dichtung jedoch gerade wegen ihrer dienenden und „erzieherischen“ Funktion stark gefördert und gelobt. Dieses Kapitel erläutert die zwei wichtigsten im vorliegenden Korpus enthaltenen Gedichttypen – das Marsch- und Soldatenlied und die Feier- und Weihedichtung – dann auch besonders hinsichtlich ihrer Funktion innerhalb des NS- Systems. Auch der nationalsozialistische Dichter selber übernimmt in diesem Zusammenhang eine spezifische – auch „dienende“ – Rolle innerhalb der NS-Gesellschaft. Dieses Kapitel präsentiert Anacker, Schumann und Menzel als Dichter der sogenannten „Jungen Mannschaft“ als repräsentativ für die nationalsozialistischen Dichtung. Vor diesem Hintergrund und weiterbauend auf die theoretischen Überlegungen zum Nationalsozialismus als „(politischer) Religion“ im vorangehenden Kapitel, führt dieses Kapitel zudem Argumente für eine ideologiekritische Herangehensweise an diese Dichtung an. Zu diesem Zweck verbindet sie die „literaturtheologischen“ Überlegungen von Klaus Vondung mit dem textsoziologischen Ansatz von Peter Zima. In diesem Zusammenhang bietet dieses Kapitel eine Arbeitsdefinition von Diskurs und Ideologie an.

Kapitel V, VI und VII enthalten die eigentlichen Textanalysen der ausgewählten Gedichtbände, die also die sakralisierten Ideologeme „Führer“, „Reich“ und „Volk“ als sogenannte „Glaubensartikel“ der nationalsozialistischen „(politischen) Religion“ in den Mittelpunkt rücken. Gerade in Verbindung mit einem christlich-religiösen Diskurs erscheinen diese Ideologeme in der Dichtung als sakrale Höchstwerte. Das diesen drei Kapiteln vorangehende Kapitel IV untersucht jedoch zunächst die bereits inhärente religiöse Potenz dieser drei Ideologeme. Wegen der krisenhaften Nachkriegssituation in Deutschland in den 1920er Jahren wuchs allmählich ein generelles Erlösungsbedürfnis, dass die Stilisierung von politischen „Führern“ zu pseudoreligiösen „Messias“-Figuren ermöglichte. Auch die erfolgreiche Stilisierung von Adolf Hitler als dem nationalsozialistischen „Führer“ zum „deutschen Messias“ lässt sich in diesem historischen Kontext und außerdem auch im Rahmen eines „politischen Messianismus“, der seinen Ursprung in der Französischen Revolution findet, erklären. Dieses Kapitel führt die religiöse Potenz des zweiten Ideologems – „Reich“ – auf die mittelalterliche christliche Theologie von Joachim von Fiore zurück. Joachims Vorstellung von drei Zeitaltern, die auf Deutsch als „erstes“, „zweites“ und „drittes Reich“ übersetzt werden, gilt als das theologische bzw. geschichtsphilosophische Fundament des Symbols des „dritten Reiches“, das in den nachfolgenden Jahrhunderten als Kollektivsymbol in der abendländischen Tradition rezipiert wurde. Die religiöse Potenz von „Volk“ als drittem „Glaubensartikel“ erklärt dieses Kapitel anhand von externen Faktoren, und zwar aus der Pflicht, die jedes Mitglied der Volksgemeinschaft seinem „Führer“ und „Reich“ gegenüber zu erfüllen hat. Zentral steht dabei die Bereitschaft, für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben, was in der Märtyrerstilisierung der sogenannten „Gefallen der Bewegung“ – mit denen sowohl die Verstorbenen im Zweiten Weltkrieg als auch die getöteten Putschisten

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Sakralisierung des Politischen im Jahre 1923 gemeint werden – zum Ausdruck kommt. Diese Stilisierung von „Helden“ zu „Märtyrern“ führt in erster Linie zur sakralen Aufwertung des männlichen Mitglieds der Volksgemeinschaft. Wie die Analyse zeigt, beschränkt sich die Darstellung der Frau zu der religiösen Aufwertung ihrer Mutterrolle.

Kapitel V, VI und VII überprüfen die Sakralisierung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ dann besonders in ihrer textuellen Repräsentation in der nationalsozialistischen Dichtung. Die Analyse übersteigt die rein lexikalisch-semantische Ebene, indem sie auf syntaktisch- narrativer Ebene wiederkehrende Motive und Topoi untersucht. Außerdem deckt die Analyse auch intertextuelle Verweise auf die christliche Bibel72 und in geringerem Maße auch kirchliche Liedbücher auf. Das Hauptaugenmerk von Kapitel V richtet sich auf die Stilisierung von Adolf Hitler als einem messianischen „Führer“ in Heinrich Anackers Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936, Erstausgabe 1933). Kapitel VI erforscht, inwiefern Gerhard Schumann das „Reich“ in seiner Anthologie Die Lieder vom Reich (1935) als theologisches Konzept gestaltet. Die Märtyrerstilisierung der „Gefallenen der Bewegung“ und in geringerem Maße die Sakralisierung der Genderrollen stehen im Mittelpunkt der Analyse des Glaubensartikels „Volk“ in Herybert Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft (1936).

72 Die in der Arbeit aufgenommenen Bibelzitate werden der Lutherbibel 1912 entnommen.

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II Der Nationalsozialismus - Eine fanatische Bewegung oder eine politische Religion?

Ein Definitionsversuch

Der Nationalsozialismus

In der vorliegenden Arbeit, die auf den religiösen Diskurs in affirmativer nationalsozialistischer Lyrik fokussiert, lassen sich gleich in der Zielsetzung wichtige klärungsbedürftige Terminologien bemerken. Während das nächste Kapitel und im Hinblick auf die lyrische Gattung und das methodologische Verfahren Licht auf die Begriffe „Dichtung“ und „Diskurs“ wirft, führt dieses Kapitels das Verhältnis zwischen „Nationalsozialismus“ und „Religion“ im „Dritten Reich“ hervor. Im Besonderen wird untersucht, inwiefern der Religionsbegriff mit einer primär politisch verstandenen Ideologie im Einklang zu bringen wäre. Zu diesem Zweck schaut diese Arbeit zunächst kurz auf Hannah Arendts Versuch, den Nationalsozialismus anhand des Totalitarismuskonzeptes zu deuten. Anschließend wird ausführlich auf das Deutungsmuster der politischen Religion eingegangen, wessen Grundlage bereits in der Hitler-Zeit gelegt wurden. Nach einer Skizze der Forschungstradition und der Definitionsproblematik wird kritisch an die bisher unterbeleuchtete „religiöse“ Eigenheit dieses Konzeptes herangegangen. Anhand des mehrdimensionalen Religionskonzeptes von Ninian Smart versucht dieses Kapitel eine neue Perspektive auf den (politischen) Religionsbegriff zu bieten. Schließlich und bereits im Hinblick auf das lyrische Korpus dieser Arbeit beschreibt dieses Kapitel die textuelle Repräsentation der sogenannten „Glaubensartikel“ als säkularisierten und sakralisierten Ausdrücke der nationalsozialistischen (politischen) Religion.

1. Totalitarismus, Fanatismus, völkische Ideologie - Begriffliche Überlegungen

In den Aufarbeitungsversuchen nach dem Zweiten Weltkrieg spielte in erster Linie die Totalitarismustheorie von Hannah Arendt eine große Bedeutung. In ihrem umfangreichen Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955)73 präsentiert Arendt die „totale Herrschaft“ als eine neue „Staatsform“ am Beispiel der nationalsozialistischen und stalinistischen Regime. Zwei historische Gründe für das Aufkommen dieser neuen Staatsform sieht Arendt einerseits im Niedergang und Zerfall des Nationalstaats und andererseits im Aufstieg der modernen Massengesellschaft.74 Vor allem das Potenzial der „Masse“ habe sich als ein wichtiges Element für die fruchtbare soziale Basis eines totalitären Systems erwiesen: „Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne Unterstützung durch die von ihr terrorisierten Massen nicht möglich“.75 Dabei sei auch die sozio-politische Situation von Bedeutung, denn die Masse unterstützte das ihr

73 Dieses Werk erschien im Jahre 1951 zunächst in englischer Sprache in den USA mit dem Titel The Origins of Totalitarianism. 1955 brachte Arendt eine deutsche und bereits erweiterte Fassung heraus. 74 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1955, XII. 75 Ebd., 488.

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Ein Definitionsversuch terrorisierende Regime, gerade weil sie sich zur gleichen Zeit in einer Krisenzeit auch von ihm unterstützt fühlte: „Totalitäre Bewegungen […] sind überall da möglich, wo Massen existieren, die aus gleich welchen Gründen nach politischer Organisation verlangen“.76 Gerade darin lag laut Martin Broszat die Stärke der nationalsozialistischen Massenbewegung. Denn, während sich die Masse von anderen politischen Bewegungen eher vernachlässigt fühlte, fühlte sie sich durch die Ideologie und Organisationsstärke der NSDAP legitimiert und wurde sie zu einer politisch durchsetzungsfähigen und gefährlichen Kraft.77

Innerhalb dieses totalitären Herrschaftsapparats spielt auch die Figur des „Führers“ eine zentrale Rolle: „Im Zentrum der Bewegung, als der Motor gleichsam, der sie in Bewegung setzt, sitzt der Führer“.78 Die totalitäre Organisation sei darauf ausgerichtet, den Willen des „Führers“ durchzuführen. Allerdings weist Arendt erneut auf die bestimmende Funktion der Masse hin, denn „ohne das Vertrauen der Massen hätte weder er [Hitler] noch Stalin Führer bleiben können“.79 Außerdem könnte man Hitlers Machtergreifung als „Führer“ der damals weitaus größten Partei in dieser Hinsicht auch nur als „legal nach allen Regeln der demokratischen Verfassung“80 interpretieren. Obwohl sowohl im stalinistischen als auch im nationalsozialistischen System Macht und Autorität direkt von der Person des „Führers“ abgeleitet waren und also nicht durch Gesetze bestimmt, sieht Roland Schindler in Hitlers und Stalins Verfahren doch einen Unterschied. Beide „Führer“ besetzten wichtige Funktionen der Bewegung mit Personen ihres Vertrauens und konnten daher auch jederzeit entscheiden, einen Funktionär zu entmachten. Während Hitler die betroffenen Funktionäre aber auf bedeutungslose Posten versetzte, ließ Stalin sie liquidieren.81 Auch wenn Hitlers Verfahren in diesem spezifischen Kontext vielleicht als etwas gemäßigter erscheinen würde, war Gewalt – oder Terror – auch im nationalsozialistischen totalitären Herrschaftsapparat ein zentrales Mittel der Macht.

Neben Gewalt bedienen sich totalitäre Bewegungen zur Verbreitung ihrer Macht, so Arendt, auch der Propaganda. Diese Propaganda sei dabei aber eher als „Indoktrination“82 und „psychologischer Kriegsführung“83 zu verstehen, wobei sich ihr Terror nicht so sehr gegen Gegner, die man durch Propaganda nicht hat überzeugen können, als vielmehr

76 Ebd., 496. 77 Vgl. Martin Broszat: Zur Struktur der NS-Massenbewegung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), 53. 78 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 592. 79 Ebd., 489. 80 Ebd. 81 Roland W. Schindler: Geglückte Zeit - gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne. Frankfurt, New York: Campus Verlag 1995, 75. 82 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 545. 83 Ebd., 548.

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Der Nationalsozialismus gegen jedermann richte.84 Laut Arendt zeigt sich der Terror aber als die eigentliche Herrschaftsform totalitärer Regime, denn sobald sich aus den totalitären Bewegungen tatsächlich verfestigte totalitäre Diktaturen entwickelt haben, wird Terror benutzt, um mit Gewalt die ideologischen Doktrinen und die aus ihnen folgenden praktischen Lügen in die Wirklichkeit umzusetzen:85 „Terror bleibt grundsätzlich die Herrschaftsform totalitärer Regierungen, wenn seine psychologischen Ziele längst erreicht sind; das wirkliche Grauen setzt erst ein, wenn Terror eine vollkommen unterworfene Bevölkerung beherrscht“.86

Gerade in diesem Unterwerfungsdrang und in der Kompromisslosigkeit zeigt sich zudem der Fanatismus totalitärer Regime. So sei es kein Zufall, wenn in totalitären Staaten Strafkolonien entstehen, ganz unabhängig davon, ob es sich um Fanatiker der linken oder der rechten Ideologien handele: „Jeder, der sich nicht dem Totalitätsanspruch der fanatischen Weltanschauung unterwerfen will, ist gefährlich und muss deshalb vernichtet oder zumindest der Berührung mit anderen Menschen entzogen werden“.87 Bereits der jüdische Schriftsteller Victor Klemperer zeichnete in seinem Tagesbuch auf, wie häufig die Begriffe „fanatisch“ und „Fanatismus“ an offizieller Stelle gebraucht wurden und – wichtiger noch – welchen Wertwandel das Wort erlebt hat.88 Denn, das ursprünglich negativ konnotierte Wort „Fanatismus“ wurde im nationalsozialistischen Sprachgebrauch positiv umgewertet. Auf Basis ihrer Studien zu den Reden von Joseph Goebbels schlussfolgert Angelika Breil, dass dieses Wortfeld „die höchste Stufe des Glaubens an die Idee des Nationalsozialismus ein[schließt], aus dem eine uneingeschränkte Bereitschaft resultiert, sich als Person für die Sache einzubringen“.89 Auch Hitler deutet den Fanatismus in Mein Kampf als eine positive Charakteristik, indem er die Zukunft der Bewegung vom „Fanatismus“ seiner Anhänger abhängen lässt. In diesem Zusammenhang sei „Fanatismus“ als „die Unduldsamkeit, mit der ihre Anhänger sie [die Bewegung] als die allein richtige Verstehen und anderen Gebilden ähnlicher Art gegenüber durchsetzen“.90 Diese völlige Selbstidentifikation des Individuums mit der Bewegung führt dazu, dass das „fanatisierte“ Mitglied weder von Erfahrung noch Argumenten zu erreichen ist.91

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man laut Arendt gerade mit psychologischen Erklärungen „eines halb geistesgestörten Fanatismus“ den Antisemitismus als Kern und Kristallisationspunkt der nationalsozialistischen Ideologie versucht zu erklären.92 Allerdings kannte der deutsche Rassebegriff bereits eine viel längere Geschichte in

84 Vgl. ebd., 545. 85 Vgl. ebd. 86 Ebd., 548. 87 Walter Biemel: Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart. Den Haag: Martinus Nijhoff 1968, 35. 88 Vgl. Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 72. 89 Breil: Studien zur Rhetorik der Nationalsozialisten (Fallstudien zu den Reden von Joseph Goebbels), 190. 90 Adolf Hitler: Mein Kampf. München: Eher 1943, 384. 91 Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 492. 92 Vgl. ebd., 3.

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Ein Definitionsversuch völkischen Ideologien, die ihren Ursprung schon im 18. Jahrhundert finden. Obwohl die Rassenpolitik der Nazis ihre beste Propaganda dargestellt habe, haben „weder die Nazis noch die Deutschen [den Rassenbegriff] entdeckt, er ist nur nie vorher mit solch gründlicher Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt worden“.93 Im 19. Jahrhundert hat es auch in Frankreich und England bereits Versuche gegeben, die Bevölkerung in verschiedene Völker aufzuteilen. Am Beispiel Deutschlands demonstriert Arendt, wie mit rassischen Ideen die kollektive Identität eines Volkes begründet werden könne.94 Uwe Puschner zufolge ist das rassische Element der einzige Aspekt, den die Nationalsozialisten in seiner Gesamtheit der völkischen Ideologie übernommen haben.95

Indem Arendt den totalen Herrschaftsapparat schließlich auch mit einer „Geheimgesellschaft“ vergleicht, macht sie in ihrer Darstellung des Nationalsozialismus als eines totalitären Regimes auch bereits auf einige pseudoreligiöse Charakteristiken dieses Systems aufmerksam. Obwohl Zeitgenossen wie Eric Voegelin, Raymond Aron und Paul Schütz den Nationalsozialismus bereits in den 1920er und 1930er-Jahren als eine „politische“ oder „säkulare Religion“ beschrieben,96 hat Arendt die Bezeichnung für ihr Totalitarismuskonzept nicht übernommen. Allerdings weist auch sie auf einige Aspekte hin, die auch für einen solchen Deutungsversuch brauchbar wären. So sollen totalitäre Bewegungen verschiedene Charakteristiken von Geheimgesellschaften, „die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit etablieren“,97 übernommen haben. Beispiele dafür sieht sie im Prinzip, „dass ausgeschlossen ist, wer nicht ausdrücklich eingeschlossen ist“,98 und in der Rolle, die dem Ritual in den Bewegungen zukommt.99 Auch die Tendenz zur Verselbständigung der Funktion des „Führers“ bekam in der totalitären Bewegung einen pseudoreligiösen Charakter: Der andauernde politische Erfolg des „Führers“ war der ideale Nährboden für den sogenannten „Führermythos“, in dem sein Erfolg als Beweis für die besondere Mission, mit der die Vorsehung ihn betraut hat, gedeutet wurde.100 Hans Maier hat diese Aspekte im Rahmen einer gewissen „Religiosität“ totalitärer Systeme erklärt,101 die bereits im „Dritten Reich“ Anlass dazu gegeben haben, den Nationalsozialismus als ein religiöses – oder zumindest ein religionsähnliches – System zu bezeichnen.

93 Ebd., 260. 94 Vgl. Schindler: Geglückte Zeit - gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne, 35-38. 95 Vgl. Uwe Puschner: ‚One People, One Reich, One God‘ The Völkische Weltanschauung and Movement. In: German Historical Institute London Bulletin 24.1 (2002), 27. 96 Auf die „politische Religion“ und die Forschung der hier genannten Zeitgenossen wird im zweiten Teil dieses Kapitels näher eingegangen. 97 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 597. 98 Ebd., 599. 99 Vgl. ebd., 600. 100 Vgl. Schindler: Geglückte Zeit - gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne, 75-76. 101 Vgl. Hans Maier: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. In: Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Hg. v. Jesse Eckhard. Baden- Baden: Nomos 1999, 125.

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Der Nationalsozialismus

Gerade im Zusammenhang mit dem „religiösen“ Charakter totalitärer Systeme erhebt sich auch die Frage, ob der Nationalsozialismus als ein Produkt der Moderne zu betrachten wäre. Unter anderem auf der Grundlage von Max Horkheimer und Theodor W. Adornos Dialekt der Aufklärung hat der Soziologe Zygmunt Bauman die „Janusköpfigkeit“ oder auch die „Ambivalenz“ als das zentrale Wesensmerkmal der Moderne entlarvt.102 Auch der Nationalsozialismus sei von einem fundamental ambivalenten Grundcharakter geprägt. So gibt es nicht nur das Nebeneinander von „konservativem“ und „revolutionärem“ Gedankengut, die sozialdarwinistische „Wissenschaftsgläubigkeit“ scheint dann wieder der irrationalen „Mythenbildung“ gegenüberzustehen. Für diese Arbeit ist vor allem der ambivalente Charakter des Nationalsozialismus als einer möglichen „politischen Religion“ von Bedeutung. Wie im Folgenden im Rahmen der Debatte über den Nationalsozialismus als „politische Religion“ noch weiter erläutert wird, verhielt sich der Nationalsozialismus auf der einen Seite „dezidiert anti-kirchlich“ und „anti-religiös“, auf der anderen Seite etablierte er sich aber auch als ein „religionsähnliches Phänomen“.103 Vielleicht wäre der Nationalsozialismus gerade in seiner Gestalt als „politische Religion“ als ein Produkt der Moderne, und zwar als ein Produkt von Industrialisierung und Säkularisierung und so als ein Erbe der Französischen Revolution zu betrachten.

Laut Vondung bedeutet „Säkularisierung“ im Grunde genommen, dass etwas, das zur heiligen Sphäre gehört, in die weltliche – säkulare – Sphäre verwandelt wird. Im 17. Jahrhundert wurde „Säkularisierung“ als juristisches Konzept in der christlichen Welt im Zusammenhang mit der Übergabe von kirchlichem oder klösterlichem Eigentum hin zum Staat benutzt. Im 19. und 20. Jahrhundert transferierte das Säkularisierungskonzept von der juristischen in die philosophische Sphäre und wurde so auch auf politische Ideen anwendbar.104 Diese Säkularisierungstendenz führte dazu, dass alte Formen religiöser Autorität und Identität in Verfall gerieten. In diesem Zusammenhang weist Stanley Stowers aber auf die Idee des homo religiosus, die Religiosität als einen zentralen Bestandteil der menschlichen Natur betrachtet: „Religion or the sacred is somehow the ground of human existence. If true religion is lost, the human need remains and it must find new objects of worship”.105 In diesem Sinne lässt sich der Nationalsozialismus in Gestalt einer „politischen Religion“ als Antwort auf das spirituelle Vakuum der Moderne interpretieren. Gerade diese „Sakralisierung“ des Politischen beschreibt Emilio Gentile als ein modernes Phänomen, dass erst durch die Trennung von Kirche und Staat als Folge der

102 Vgl. Riccardo Bavaj: Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus: Eine Bilanz der Forschung. München: Oldenbourg 2014, 54. 103 Vgl. Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 120. 104 Vgl. Klaus Vondung: Are Political Religions and Civil Religions Secularizations of Traditional Religions? In: Review of Religions 1 (2016), 5. 105 Stanley Stowers: The Concepts of ‚Religion‘, ‚Political Religion‘ and the Study of Nazism. In: Journal of Contemporary History 42.1 (2007), 19.

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Ein Definitionsversuch

Säkularisierung möglich wurde.106 Diese „Sakralisierung“ sei als eine Art Prozess zu verstehen, in dem eine politische Bewegung einer irdischen – säkularen – Entität wie etwa Nation, Staat, Rasse, Partei, Mensch einen heiligen Status verleiht und diese so als heilige Sache zur letzten Sinnstiftung der kollektiven Einheit verabsolutiert.107 Sarah Thieme hat Gentiles Konzept der Sakralisierung des Politischen als ein „Zuschreibungsprozess des Heiligen“ konkretisiert.108 Gerade das Konzept der Sakralisierung eignet sich laut Vondung besonders für die „politische Religion“, weil in solchen Systemen wesentlich säkulare, und zwar politische und ideologische Angelegenheiten sakralisiert werden.109

Im Folgenden wird besonders die Bezeichnung des Nationalsozialismus als „politischer Religion“ problematisiert. Dafür fokussiert diese Arbeit zunächst auf die Forschungstradition, um schließlich selber für eine neue – mehrdimensionale – Perspektive auf den Nationalsozialismus als eine (politische) Religion zu plädieren, weswegen im weiteren Verlauf der Arbeit auch der verwendete religiöse Diskurs in nationalsozialistischer Propagandadichtung erklärt und interpretiert werden kann.

2. Der Nationalsozialismus – Eine politische Religion?

Wegen der ausgesprochenen antisemitischen Überzeugungen des Nationalsozialismus und der nach dem Zweiten Weltkrieg oft beschriebenen feindseligen Haltung den christlichen Kirchen gegenüber,110 hat es durchaus den Anschein gegeben, der Nationalsozialismus sei Religion und Kirche zuwider gewesen. Allerdings waren Adolf Hitler und seine Gesinnungsgenossen den christlichen Kirchen und ihrer Sache schon gewogen.111 Bereits das nationalsozialistische Parteiprogramm äußert sich im vierundzwanzigsten Artikel besonders zur Beziehung zu den christlichen Kirchen:

Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-

106 Vgl. Gentile: The Sacralisation of Politics: Definitions, Interpretations and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism, 22. 107 Vgl. ebd., 18-19. 108 Vgl. Sarah Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939). Frankfurt am Main: Campus Verlag 2017, 44. 109 Vgl. Vondung: Are Political Religions and Civil Religions Secularizations of Traditional Religions?, 9. 110 Vgl. z.B. John S. Conway: The Nazi Persecution of the Churches 1933-1945. London: Weidenfeld and Nicolson 1968. 111 Vgl. Thomas D. Schwartz: The National Socialist Stand on Christianity. The Barnes Review (1999) In: Wintersonnenwende (2002). ORL: https://www.wintersonnenwende.com/scriptorium/english/archives/articles/NSChristianity.html [Letzter Zugriff: 08.02.2019].

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Der Nationalsozialismus

materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage Gemeinnutz vor Eigennutz.112

In diesem Parteipunkt spricht sich die NSDAP nicht für oder gegen eine der beiden Landeskirchen aus. Eine gewisse religiöse Freiheit wird vorausgesetzt – obwohl dies natürlich nicht für die jüdischen Mitbürger gilt – und die Partei scheint ein „positives Christentum“ zu unterstützen, mit dem suggeriert wird, dass Staat und Partei den christlichen Standpunkten nahe standen, solange diese mit dem „Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse“ in Übereinstimmung waren. Die wichtigste Grundlage dieses positiven Christentums scheint sich einfach mit der nationalsozialistischen Idee der kollektiven Identität zu überschneiden, indem „Gemeinnutz vor Eigennutz“ gefordert wird.113 Auch wenn sich Hitler mehrmals für eine deutliche Trennung von Kirche und Staat ausgesprochen hat und er und andere führende Persönlichkeiten wiederholt betonten, dass die NSDAP eine säkulare Bewegung war, kann – und konnte – man nicht über die religiöse Dimension im Nationalsozialismus hinwegsehen. Es sei dann auch zu simplifizierend, Nationalsozialismus und Christentum generell als unvereinbare, monolithische Einheitsblöcke gegenüberzustellen.114

Bereits während der Hitler-Zeit wurde diese religiöse Dimension wahrgenommen, was unter anderem dazu geführt hat, dass Zeitgenossen wie Erich Voegelin und Raymond Aron den Nationalsozialismus ausdrücklich als eine „politische Religion“ bezeichneten.115 Obwohl das Deutungskonzept der „politischen Religion“ in der Totalitarismusforschung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst keine große Rolle spielte, meint der Religionspolitologe Claus-Ekkehard Bärsch, dass „jede Forschung über die Geschichte des Nationalsozialismus sowie jede Verurteilung der Handlungen der Nationalsozialisten […] die Erkenntnis der religiösen Dimensionen in der nationalsozialistischen Anschauung von

112 Rosten: Das ABC des Nationalsozialismus, 57. 113 Die Tagung „Was glaubten die Deutschen 1933-1945?“, die am 6. und 7. Dezember 2018 an der WWU in Münster stattfand, versuchte eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Religion und Politik im Nationalsozialismus zu bieten. Wie der Historiker Armin Nolzen während einer der vielen Diskussionsrunden bemerkte, bleibt das Konzept „positives Christentum“ bis heute ein weißer Fleck in den Studien zum Nationalsozialismus. Für das Programm dieser Tagung siehe https://www.uni- muenster.de/imperia/md/content/religion_und_moderne/flyer/tagung_was_glaubten_die_deutschen_pro gramm.pdf. [Letzter Zugriff: 01.02.2019]. 114 Vgl. Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 34. 115 Voegelin arbeitete den Begriff ‚politische Religion‘ zum ersten Mal in seinem Buch Die politischen Religionen (1938) heraus. Raymond Aron benutzte dieses Konzept zum ersten Mal 1939 in seinem Essay Élie Halévy et l’ère des tyrannies in deutlicher Verbindung mit der Definition von Voegelin. Vgl. dazu Brigite Gess: The Conceptions of Totalitarianism of Raymond Aron and Hannah Arendt. In: Totalitarianism and Political Religion. Hg. v. Hans Maier. Oxon: Routledge 2004, 235, Fn. 234. Voegelin verfasste seine Arbeit bereits im Jahre 1938 in Wien, kurz vor seiner Emigration in die USA. Diese Arbeit zitiert im Folgenden aus Erich Voegelin: Die politischen Religionen. Stockholm: Bermann-Fischer 1939.

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Ein Definitionsversuch

Welt voraus[setzt]“.116 Erst in den 1990er Jahren wurde die „politische Religion“ dann wieder in den Brennpunkt gerückt, was der Anfang einer langen – bis heute noch nicht beendeten – Diskussion über die Möglichkeiten, Grenzen und Tauglichkeit dieses Begriffs bedeutete. Vor allem dank der ausführlichen Bearbeitung des Themas durch den ehemaligen bayerischen Kultusminister und Inhaber des Münchner Lehrstuhls für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie Hans Maier und der von ihm zwischen 1992 und 2000 organisierten Konferenzen über Totalitarismus und politische Religion entstand ein breit angelegtes Forschungsprojekt.117 Dieses Kapitel möchte die überwiegend historische und politikwissenschaftliche Perspektive auf das Konzept der politischen Religion mit einer religionsphilosophischen, die auf das „Religiöse“ – also den Religionsbegriff selber – fokussiert, erweitern.

2.1 Forschungsfeld und Definitionsproblematik der „politischen Religion“118

Ein kurzer Blick auf die Forschungstradition zeigt die andauernde Debatte darüber, ob und wie man den Nationalsozialismus als „politische Religion“ bezeichnen könnte. Laut Hans Maier hat den Anfang zur Herausarbeitung der theoretischen Grundlage der politischen Religion bereits im Jahre 1932 gemacht. Werfel schilderte das Bild eines Mannes, der vom Krieg erschüttert worden war und an Wissenschaft und Vernunft zweifelte. Der Mann hatte zwei Söhne, die nicht mit einem passiven Ich leben konnten und eine höhere Ordnung suchten, der sie sich anschließen konnten: Der eine Sohn entschied sich für den Nationalsozialismus, der andere für den Kommunismus. Werfel bezeichnete die beiden Ideologien damals bereits als primitive Stufen der Ich- Überwindung: Sie seien Ersatzreligionen oder Religionsersatz.119 Im Allgemeinen werden der Politologe und Soziologe Erich – später: Eric – Voegelin (1901-1985) und der französische Soziologe und Philosoph Raymond Aron (1905-1983) als die Grundleger des Modells der politischen Religion verstanden. Unabhängig voneinander beschrieben sie im Jahre 1938 bzw. 1939 den Nationalsozialismus explizit als eine „politische Religion“ bzw.

116 Claus-Ekkehard Bärsch: Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ als politische Religion. In: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 2. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1997, 227. 117 Zu denken ist hier insbesondere an die von Hans Maier (mit-)herausgegebenen Bände mit dem Titel „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“ (3 Bde., Paderborn: Ferdinand Schöningh 1996-2003). 118 Die ersten Überlegungen zur Definitionsproblematik des Nationalsozialismus als „politischer Religion“ wurden im Rahmen dieses Dissertationsprojekts bereits 2014 veröffentlicht in Anneleen Van Hertbruggen: Methodische Annäherungen an die politische Theologie als Interpretationsansatz für nationalsozialistische Propagandadichtung. In: Focus on German Studies 21 (2014), 24-37. 119 Vgl. Hans Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs. In: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 2. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1997, 304.

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Der Nationalsozialismus

„religion politique“,120 wobei Voegelins Theorie in einer christlichen Anthropologie wurzele und Aron das Konzept in religionskritischer, aufklärerischer Sicht verwende.121 Rainer Hering merkt jedoch an, dass bereits drei Jahre zuvor auch der Theologe Paul Schütz (1891-1985) ein Manuskript mit dem Titel „Die politische Religion. Eine Untersuchung über den Ursprung des Verfalls in der Geschichte“ abgeschlossen, jedoch nicht publiziert hat.122 Wer den Begriff der politischen Religion als erster geprägt habe, ist aber nicht so sehr von Bedeutung als vielmehr die Beobachtung, dass es in den 1930er Jahren bereits in unterschiedlichen Fachgebieten eine Auseinandersetzung mit der politischen Religion gegeben hat.123 Sowohl aus politologischer, soziologischer als auch theologischer Perspektive werden die auf den ersten Blick separat zu behandelnden Begriffe „Politik“ und „Religion“ miteinander verbunden: „Wer von Religion spricht, denkt an die Institution der Kirche, und wer von Politik spricht, denkt an den Staat“.124 Diese terminologische Verbindung von Religion und Politik im Sinne einer „politischen Religion“ wurde in der späteren Forschung indes wiederholt als problematisch empfunden und hat zu überzeugten Gegnern und Befürwortern des Begriffs geführt.

Auf die begriffliche Problematik der „politischen Religion“ hat auch Voegelin bereits hingewiesen. Er meinte, dass man – um die politischen Religionen angemessen erfassen zu können – den Begriff des Religiösen so erweitern müsse, das nicht nur die Erlösungsreligionen sondern auch jene anderen Erscheinungen darunter fallen, die man in der Staatsentwicklung als religiöse zu erkennen glaubt.125 Zu einer Erweiterung des Religionsbegriffs kam es bisher nicht, zu alternativen Begriffsvorschlägen – wie etwa „Anti- Religion“, „Pseudo-Religion“, „Religionsersatz“, „Ersatzreligion“, „säkulare Religion“, „politisch-soziale Religion“ und „politische Säkularreligion“ – aber durchaus.126 Auch die Forscher, die den Gebrauch des Begriffs „politische Religion“ weiterhin verteidigten – zwar manchmal einfach aus schlichter Ermangelung eines besseren Konzeptes –, haben immer wieder auf die begrifflichen Schwierigkeiten hingewiesen. So meint Hans Mommsen, dass die Anwendung des Begriffs „politischer Religion“ auf den Nationalsozialismus eine

120 Vgl. Gess: The Conceptions of Totalitarianism of Raymond Aron and Hannah Arendt, 235, Fn. 234. 121 Vgl. Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, 305. 122 Vgl. Paul Schütz: Die politische Religion. Eine Untersuchung über den Ursprung des Verfalls in der Geschichte (1935). Hg. v. Rainer Hering. Hamburg: Hamburg University Press 2009, 9. 123 Vgl. ebd., 10. 124 Voegelin: Die politischen Religionen, 11. 125 Vgl. ebd., 12. 126Vgl. etwa Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, 306; Matthias Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff. In: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 2. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1997, 250-259; Hans Günter Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. Hg. v. Klaus Hildebrand. München: Oldenbourg 2003, 67.

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Ein Definitionsversuch ideologische Stringenz und Kohärenz voraussetzt, über die die Bewegung nicht verfügte.127 Allerdings erwidert Klaus Vondung, dass die „Divinisierung der Rasse“ mit den daraus folgenden Glaubensinhalten einen religiösen Kern sui generis bildet, der auch nicht als bloße „Ersatzreligion“ zu interpretieren ist.128 Auch die Tatsache, dass Hitler und andere führende Persönlichkeiten der Partei immer wieder den säkularen Charakter der Bewegung betonten und sich explizit gegen die Idee aussprachen, dass die NSDAP als eine Religion oder Sekte zu betrachten wäre, spräche gegen die Bezeichnung des Nationalsozialismus als einer „politischen Religion“.129 Trotzdem hat Hitler das Religiöse auch ausgenutzt. So hat er seine erste öffentliche Rede als Reichskanzler im Februar 1933 mit „Amen“ beendet130 und er bediente sich in seinen politischen Reden beispielsweise mit Lexemen aus den Wortfeldern „Glaube“, „Gott“ und „heilig“ wiederholt eines christlich- religiösen Vokabulars.131 Bereits in Mein Kampf behauptete Hitler, die NS-Weltanschauung solle auf einen „politischen Glauben“ bauen.132

Man könnte argumentieren, dass „Glaube“ nicht unbedingt etwas Religiöses bedeuten muss,133 trotzdem hat der israelische Historiker Uriel Tal die Bedeutung dieses „politischen Glaubens“ innerhalb der Diskussion über den Nationalsozialismus als „politische Religion“ betont. Denn gerade die Kombination von Politischem und Religiösem innerhalb der eigenen politischen Ideologie habe das Potential für große historische Ereignisse und Taten inne: „Neither faith without politics, nor politics without faith – the magic that inflames the masses – would be useful to Nazism. Hitler’s policy, as was laid down already in Mein Kampf, is based on this very interrelationship“.134 Diesen Glauben zu propagieren

127 Vgl. Hans Mommsen: National Socialism as a political religion. In: Totalitarianism and Political Religions. Volume II Concepts for the comparison of dictatorschip. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. London, New York: Routledge 2007, 161. 128 Vgl. Klaus Vondung: ‚Gläubigkeit‘ im Nationalsozialismus. In: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 2. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1997, 28. 129 Vgl. Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, 306-308; Stowers: The Concepts of ‚Religion‘, ‚Political Religion‘ and the Study of Nazism, 16. 130 Vgl. Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells, 52. 131 Für eine ausführliche und umfangreichere Analyse – sowohl auf lexikalischer als auch auf syntaktischer Ebene – der christlich-religiösen Sprache in den Reden Hitlers verweise ich auf Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945, 125-194. Angelika Breil weist in ihrer Analyse ausgewählter Reden Goebbels auf dessen Gebrauch religiös konnotierter Begriffe und Wendungen. Vgl. Breil: Studien zur Rhetorik der Nationalsozialisten (Fallstudien zu den Reden von Joseph Goebbels), 285-289. 132 Vgl. Hitler: Mein Kampf, 418. 133 Der Duden definiert das Lexem „Glaube“ in erster Linie als eine „gefühlsmäßige nicht von Beweisen, Fakten o. Ä. bestimmte unbedingte Gewissheit, Überzeugung“ und erst in zweiter Linie als eine „religiöse Überzeugung“. Vgl. „Glaube“ in: Duden.de. ORL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Glaube [Letzter Zugriff: 10.02.2019]. 134 Uriel Tal: ‚Political Faith‘ of Nazism Prior to the Holocaust. In: Religion, Politics and Ideology in the Third Reich: Selected Essays. Hg. v. Uriel Tal. New York: Taylor & Francis 2004, 19.

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Der Nationalsozialismus und Glaubensbekenntnisse einzufordern war ein wichtiges Ziel der nationalsozialistischen Propaganda. Denn, „den Glauben zu bekennen ist eine viel stärkere ‚sakrale‘ Verpflichtung als etwa die Bereitschaft zu erklären, einem Parteiprogramm zu folgen“.135 Auch Goebbels hatte dies 1928 bereits verstanden: „Sie werden niemals Millionen von Menschen finden, die für ein Wirtschaftsprogramm ihr Leben lassen. Aber Millionen von Menschen werden einmal bereit sein, für ein Evangelium zu fallen“.136 Klemperer beschreibt an mehreren Stellen, wie sich die nationalsozialistische Propaganda bewusst einer evangelischen Sprache bediente. So beschreibt er beispielsweise eine Szene aus dem ersten Jahre unter nationalsozialistischem Regime, in der ein Besuch von Hitler in einer Pressemitteilung angekündigt wird:

„Feierstunde von 13.00 bis 14.00 Uhr. In der dreizehnten Stunde kommt Adolf Hitler zu den Arbeitern.“ Das ist, jedem verständlich, die Sprache des Evangeliums. Der Herr, der Erlöser kommt zu den Armen und Verlorenen. Raffiniert bis in die Zeitangabe hinein. Dreizehn Uhr – nein, „dreizehnte Stunde“ – das klingt nach Zuspät, aber ER wird ein Wunder vollbringen, für ihn gibt es kein Zuspät.137

Schlichtweg mit der Formel „dreizehnte Stunde“ lässt die Mitteilung Hitler als einen christusähnlichen Retter erscheinen. Außerdem hat sich Hitler laut Klemperer mindestens einmal „mit unzweideutigen neutestamentlichen Worten“ als den deutschen Heiland bezeichnet, indem er die im Jahre 1923 bei der Feldherrnhalle Gefallenen „Meine Apostel“ nannte.138 Laut Klemperer wurde der Nationalsozialismus dann auch von Millionen als Evangelium hingenommen, weil er sich der Sprache des Evangeliums bediente.139 Sich stützend auf Klemperers Aufzeichnungen schließt auch Marie-Claude Fusco, dass die nationalsozialistische Sprache deutliche evangelische Züge trägt, weswegen Mein Kampf als die nationalsozialistische „Bibel“ erschien und sich beispielsweise das Wort „Reich“ in diesem Zusammenhang weit über seine politische und irdische Bedeutung hinaus zu Höhen des christlichen Jenseits und Himmelreichs erhob.140

Auch wenn die Begriffsproblematik bis heute nicht eindeutig gelöst ist, schließt sich diese Arbeit einer Reihe namhafter Faschismus-Forscher – wie Michael Burleigh, Roger Griffin, Claus-Ekkehard Bärsch, Emilio Gentile, Uriel Tal – an, die den Nationalsozialismus weiterhin als eine „politische Religion“ betrachten. Obwohl sich die Bezeichnung „politische Religion“ besonders für eine Arbeit über den christlich-religiösen Diskurs in

135 Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung, 39. 136 Goebbels zit. in Gerhard Kurz: Braune Apokalypse. In: Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts. Hg. v. Jürgen Brokoff und Joachim Jacob. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 134. 137 Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 52. 138 Vgl. ebd., 137. 139 Vgl. ebd., 146. 140 Vgl. Marie-Claude Fusco: Langue totalitaire. Langue du religieux. In: Topique 96.3 (2006), 130.

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Ein Definitionsversuch nationalsozialistischer Propagandalyrik zu eignen scheint, soll aber schon berücksichtigt werden, dass dieses Konzept nicht alle Aspekte des Nationalsozialismus fassen oder erklären kann. Außerdem bleibt weiterhin diskutabel, was genau das Wesen einer „politischen Religion“ ausmacht.

2.2 Das Wesen der politischen Religion

Um den Begriff „politische Religion“ als handhabbares Konzept in der Diskussion über und der Analyse des religiösen Diskurses in nationalsozialistischer Propagandalyrik einzusetzen, wird im Folgenden zunächst eine beobachtungsleitende Definition dieses Konzeptes formuliert. Besonders anhand zweier Definitionsvorschläge – von Emilio Gentile (2005) und Mathias Behrens (1997) – wird versucht, die wesentlichen Charakteristiken einer politischen Religion zu erfassen. Wegen der fortdauernden Definitionsproblematik wird danach in Nachfolge Voegelins und anhand des mehrdimensionalen Religionskonzeptes von Ninian Smart eine Erweiterung des Religionsbegriffs vorgeschlagen.

2.2.1 Die politische Religion als sakralisierter Totalitarismus

Auch der italienische Historiker Emilio Gentile hat sich mit der Begriffsproblematik der politischen Religion auseinandergesetzt, denn „the term ‚political religion‘ is often used as a synonym for civil religion, secular religion, public religion, politicised religion, religious politics and so on“.141 Obwohl Gentile betont, dass der Unterschied zwischen politischer und ziviler Religion nicht immer klar zu sehen ist, versucht er die beiden Konzepte schon zu definieren. So versucht er die konzeptuellen Unterschiede zwischen den beiden ‚Religionstypen‘ – politisch und zivil – bezüglich ihres Verhältnisses traditionellen Religionen und anderen politischen Strömungen gegenüber zu verdeutlichen. In diesem Zusammenhang formuliert er folgende Definition der politischen Religion:

Political religion is a form of sacralisation of politics of an exclusive and integralist character. It rejects coexistence with other political ideologies and movements, denies the autonomy of the individual with respect to the collective, prescribes the obligatory observance of its commandments and participation in its political cult, and sanctifies violence as a legitimate arm of the struggle against enemies, and as an instrument of regeneration. It adopts a hostile attitude toward traditional institutionalised religions, seeking to eliminate them, or seeking to establish with them a relationship of symbiotic coexistence, in the sense that the political religion seeks to incorporate traditional religion within its own system of beliefs and myths, assigning it a subordinate and auxiliary role.142

141 Gentile: Political Religion: A Concept and its Critics – A Critical Survey, 19. 142 Ebd., 30.

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Der Nationalsozialismus

Gentile führt mit etwa politischem Kult, Gewalt und Gegnerschaft zur traditionellen Religion tatsächlich verschiedene Aspekte an, die auch im NS-System zu finden sind, und die bei Hannah Arendt als Elemente eines totalitären Systems erscheinen. Auch die Bedeutung des Kollektivs zuungunsten des Individuums und die Idee der Exklusivität scheinen das totalitäre System und die politische Religion miteinander zu teilen. Außerdem alludierte Arendt mit der Beschreibung der Rolle des Rituals bereits auf eine gewisse Sakralisierung der totalitären Politik, die in Gentiles Definition in einem „eigenen Mythen- und Glaubenssystem“ Ausdruck findet. Obwohl es also gerechtfertigt zu sein scheint, den Nationalsozialismus auf Basis dieser Definition als eine politische Religion zu beschreiben, kann man sich fragen, ob diese Definition mit dem Begriff ‚politische Religion‘ wohl deckungsgleich ist. Obwohl der Begriff vermuten lässt, dass es in erster Linie um eine Art Religion geht, die vom Politischen weiter bestimmt wird, scheint – rein begrifflich – eher das Umgekehrte der Fall zu sein: Gentiles Definition beschreibt eine gewisse (sakralisierte) Politik, die einen totalitären Charakter hat und sich anderen Religionen gegenüber feindlich benimmt, die dann aber schon mit einigen religiösen Eigenschaften – z.B. einem (politischen) Kult und einem eigenen Glaubens- und Mythensystem – ausgestattet wird. Dass das Glaubenssystem als eine weitere Ausgestaltung eines politischen Systems dargestellt wird, mutet innerhalb einer Diskussion über ‚Religion‘ eher merkwürdig an, da man spontan erwartet, dass gerade der ‚Glaube‘ an etwas innerhalb einer Religion zentral stehen würde. Mit dieser Problematik – nämlich ob die politische Religion wohl als eine Religion zu betrachten sei – hat sich Mathias Behrens bereits 1997 auseinandergesetzt.

Behrens geht der Frage nach, was Religion ist und was sie im Kontext der politischen Religion bedeuten kann. Ebendarum versucht er einen „wissenschaftlich operationellen Begriff, der sich für die Theoriebildung eignet und sich der Antwort auf die Frage nach dem eigentlichen Wesen von Religion enthält“,143 zu bestimmen. Zu diesem Zweck formuliert Behrens einen „reduzierte[n] Religionsbegriff“, in dem ein „Absolutum“ oder einen „letzten Sinngrund“ zentral stehen.144 Auf diese Weise vermeidet Behrens es, über eine transzendente Realität bzw. einen Gott als zentrale Eigenschaft einer Religion zu sprechen, denn dies wäre im Kontext totalitärer Regime ungeeignet. Laut Behrens kann man dann von Religion sprechen, „wenn etwas als letzter Sinngrund gilt und sich der Mensch auf dieses Ziel hin engagiert“.145 Allerdings reicht der individuelle Glaube nicht, um eindeutig von einer Religion sprechen zu können: „Die Dimensionen von Gemeinschaft und Institution führen zur Ausbildung von Kult, religiösem Symbol und sakraler Sprache. ‚Religion‘ muß untersucht werden hinsichtlich ihres gedanklichen Anspruches und ihrer konkreten empirischen Gegebenheit. Hierin unterscheidet sich

143 Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 251. 144 Ebd., 254-255. 145 Ebd., 255.

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Ein Definitionsversuch

Religion von Philosophie und Ideologie“.146 Sich stützend auf diesen reduzierten Religionsbegriff versucht Behrens das Wesen einer politischen Religion dann folgendermaßen zu explizieren:

Das Spezifische einer politischen Religion muß darin gesehen werden, daß sich die Absolutsetzung einer endlichen Wirklichkeit als eines letzten Sinngrundes, den man zu erkennen glaubt (Theorie) und für den man eine Ganzhingabe fordert (Praxis mit Aktionsprogramm), mit einer politischen Gemeinschaft derart verbindet, daß die Religion ohne diesen politischen Grund, der selbst zumindest teilweise mit dem Absolutum identifiziert wird, nicht existieren kann.147

Obwohl einige Elemente des reduzierten Religionsbegriffs in dieser Definition erkennbar sind, kommt Behrens nicht weiter als ein immer noch sehr abstraktes Konzept, das nichts Konkretes über das Wesen einer politischen Religion aussagt. Über eine „politische Gemeinschaft“ kann man sich vielleicht noch Gedanken machen, was aber „der letzte Sinngrund“ einer politischen Religion darstellt und was die erwähnte „Ganzhingabe“ der Menschen beinhaltet, wird in dieser Kurzdefinition überhaupt nicht konkret expliziert. Im weiteren Verlauf des Artikels versucht Behrens die politische Religion weiter zu spezifizieren, wobei er das Konzept im Zusammenhang mit dem Totalitarismus-Begriff interpretiert148 und auch Gentiles Definition149 sehr nahe kommt. So kennzeichnet sich die politische Religion laut Gentile durch ihre ablehnende und sogar feindliche Haltung anderen Religionen und anderen politischen Ideologien und Bewegungen gegenüber. Behrens beschreibt die politische Religion eindeutig als „Gegner der bestehenden Religionen“, der sich außerdem durch ein allgemeines „Freund-Feind-Denken“ kennzeichnet.150 Laut Behrens will die politische Religion „universale Welterklärung und universaler Staat“ sein und so dem Menschen in „sein ganzes Dasein prägen“,151 was Gentile dann wieder als den universalen und exklusiven Charakter der politischen Religion zusammenfasst. Dieser „Wahrheitsanspruch“ betont dabei noch einmal den „exklusiven Sinn“ der politischen Religion.152 Während Gentile die „Sakralisierung der Politik“ eher schlicht als einen „politischen Kult“ mit einem „eigenen Glaubens- und Mythensystem“ beschreibt, geht Behrens doch etwas ausführlichen auf die „Sakralisierung der politischen und profanen Lebenswelt“153 ein. So meint Behrens, dass bei der politischen Religion – im Vergleich mit der christlichen Religion – der Führer oder die Partei nicht einfach an die

146 Ebd. 147 Ebd., 257. 148 Vgl. ebd., 258. 149 Bei den folgenden Referenzen auf Gentile wird auf seine Definition, die hier auf S.48 zitiert wird, verwiesen. 150 Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 259. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Ebd., 260.

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Der Nationalsozialismus

Stelle der Kirche, sondern eindeutig an die Stelle Gottes selbst tritt.154 Hieraus entwickelt sich dann ein Mythos und ein kultisches Leben, in dem vor allem Personen, Orte und Symbole von einer sakralen Dimension her gedeutet werden.155 Die sakrale Ebene der politischen Religion zeigt sich schließlich auch in einer „Heilslehre“, bei der das „Heil“ sich aber nicht im Jenseits sondern im Diesseits vollzieht und sich der Mensch also durch die eigene Tat erlöst.156

Im Grunde entwerfen die Beschreibungen – oder ‚Definitionen‘ – von Behrens und Gentile ein sehr ähnliches Bild der politischen Religion. Obwohl die Autoren sie manchmal etwas anders – oder auch ausführlicher bzw. knapper – beschreiben, kann man, wie folgende Tabelle zeigt, im Großen und Ganzen dieselben Aspekte identifizieren. Anhand dieser Übereinstimmungen werden in der dritten Tabelle neun Charakteristiken aufgelistet, die die politische Religion im Rahmen der vorliegenden Arbeit gemäß den Definitionen von Gentile und Behrens kennzeichnen:

Gentile (2005) Behrens (1997) Charakteristiken der politischen Religion 1. Sacralisation of politics 1. Sakralisierung der I. Sakralisierung der politischen und Politik profanen Lebenswelt 2. Exclusive and 2. Letzter Sinngrund; II. Exklusiver Charakter integralist charakter Universale und Geltung in allen Welterklärung und Lebensdimensionen universaler Staat; Wahrheitsmonopol; Geltung in allen Dimensionen des menschlichen Lebens 3. Rejection of coexistence 3. Freund-Feind-Denken III. Totalitäres System with other political ideologies and movements 4. Denial of the autonomy 4. Politische IV. Kollektivismus statt of the individual with Gemeinschaft Individualismus respect to the collective 5. Obligatory observance 5. Ganzhingabe (Praxis V. Obligatorische Hingabe to its commandments mit Aktionsprogramm)

154 Ebd., 259. 155 Vgl. ebd., 260. 156 Vgl. ebd., 260-261.

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Ein Definitionsversuch

6. Political cult 6. Kultisches Leben VI. Symbolik und (Ritus, Liturgie, politischer Kult Sakralsprache, Musik); Deutung von Personen, Orten und Symbolen von einer sakralen Dimension her 7. Hostile attitude toward 7. Gegner der VII. Gegner der Religionen traditional bestehenden Religionen institutionalised religions 8. Own system of beliefs 8. Absolutsetzung einer VIII. Glaube und Mythos and myths endlichen Wirklichkeit als eines letzten Sinngrundes, den man zu erkennen glaubt (Theorie; Mythos; Heilslehre) 9. 9. Führer und Partei IX. Verehrung von „Führer“ anstelle Gottes und Partei

Wenn man diese Auflistung auf den Nationalsozialismus hin überprüft, so könnte man schließen, dass der Nationalsozialismus in Gestalt einer politischen Religion zu beschreiben wäre. Die ersten drei Charakteristiken schließen sich aneinander an: Denn auch der Nationalsozialismus zielt auf eine Sakralisierung der Politik (I), die einen exklusiven Charakter (II) hat und ihre Geltung in allen Dimensionen des Lebens geltend macht. Ein totalitäres System (III) wie der Nationalsozialismus versucht seinen Einfluss nicht nur politisch, sondern auch in der Privatsphäre des Menschen geltend zu machen. Maier weist in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit mit Religionen hin, die auch dazu neigen, den Menschen detaillierte Vorschriften zu machen. Zum Beispiel an den Wendepunkten des Lebens – Geburt, Hochzeit, Tod – sei die Religion mit besonderen Riten gegenwärtig.157 Auch Hannah Arendt betont die Bedeutung von Ritualen in totalitären Regimen, wie beispielsweise die Umzüge der mumifizierten Leiche Lenins auf dem Roten Platz in Moskau oder das nationalsozialistische Ritual der „Blutfahne“ bei den Feierlichkeiten der Nürnberger Parteitage. Die Wirksamkeit des Rituals liegt vor allem in der Erschaffung eines „Erlebnis einer mysteriösen Handlung, das offenbar als solches Menschen besser und sicherer aneinander kettet als das nüchterne Bewusstsein, ein

157 Vgl. Maier: „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, 124.

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Der Nationalsozialismus

Geheimnis miteinander zu teilen“. 158 Das Ritual fördert in dieser Hinsicht die kollektive Einheit der Teilnehmer.

Auch das bereits erwähnte Prinzip, „das ausgeschlossen ist, wer nicht ausdrücklich eingeschlossen ist“,159 scheint der Nationalsozialismus als totalitäre Bewegung nicht nur mit Geheimgesellschaften zu teilen, sondern passt auch in die obige Auflistung der Charakteristiken der politischen Religion. Dieses Prinzip äußert sich sowohl in der dritten Charakteristik, indem die Nationalsozialisten andere politische Ideologien und Bewegungen einfach verboten haben, und spielt bereits auf die vierte Charakteristik an: Kollektivismus (IV) war ein großes Thema im NS-System, was sich unter anderem in einer kollektiven deutschen Identität und der Organisation zahlreicher Massenveranstaltungen zeigte. Auch die obligatorische Hingabe (V) könnte man mit den vorigen Charakteristiken verbinden, denn es blieb den Deutschen nichts anderes übrig, als sich der NS-Herrschaft zu beugen, da alternative Bewegungen oder Überzeugungen einfach verboten waren. Der Führerkult, der Blut-und-Boden-Kult und die dazugehörende Symbolik sind einige Beispiele für die Symbolik und den politischen Kult (VI), die einer politischen Religion nach der obigen Tabelle eigen sind. Sowohl in der formalen als auch in der inhaltlichen Gestaltung dieses Feierkultes weisen sich laut Vondung deutliche Parallele mit der christlichen Liturgie auf.160 Auch die siebte Charakteristik trifft auf den Nationalsozialismus zu: Die Nationalsozialisten haben sich nach einiger Zeit als Gegner der bestehenden Religionen (VII) erklärt. Obwohl die NSDAP in den ersten Jahren des „Dritten Reiches“ noch versucht hat, aus der evangelischen Kirche eine regimetreue ‚Reichskirche‘ zu entwickeln, hat das Regime später aber wegen des Totalitätsanspruches des Nationalsozialismus auf die ganze Gesellschaft und den ganzen Menschen jede andere politische, weltanschauliche und selbst religiöse Organisation neben der NSDAP verboten,161 was gleich wieder die dritte Charakteristik bestätigt. Vondung beschreibt zudem, wie sich die nationalsozialistischen Feiern um einen sakral aufgewerteten Symbolapparat, der als „heiliges Zentrum“ erscheint, organisieren. Diese sechs zentralen Symbole identifiziert er als „Glaubensartikel“ des nationalsozialistischen Glaubens und seien als „Credo“ als Beispiel für Glauben und Mythos (VIII) des Nationalsozialismus als politischer Religion zu verstehen.

Thus at the centre of Nazi symbolism and creed stood the ‚Blood‘; then came the ‚People‘ as the substantive bearer of the blood; the ‚Soil‘, the land, which nourishes the people; the

158 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 600. 159 Ebd., 599. 160 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 8. 161 Vgl. ebd., 46-47.

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Ein Definitionsversuch

‚Reich‘, in which it finds its political realisation; the ‚Führer‘ as the representative of people and Reich; the ‚Flag‘ as the most holy material symbol.162

Es sei dabei nicht wichtig, dass diese sechs ‚Artikel‘ weder originell noch intellektuell anspruchsvoll waren; auf jeden Fall sehr wichtig war indes die Glaubwürdigkeit dieser Glaubensartikel. Einerseits waren sie wegen ihrer symbolischen Konsistenz glaubwürdig, andererseits auch überzeugend wegen ihres rituellen Ausdrucks während der NS-Feiern.163 Der Glaubensartikel „Führer“ weist außerdem darauf hin, dass auch die letzte Charakteristik – Verehrung von Führer und Partei (IX) – auf den Nationalsozialismus zu übertragen wäre.

Gemäß dieser aus den Umschreibungen von Gentile und Behrens destillierten Liste der Charakteristiken der politischen Religion scheint es schon gerechtfertigt zu sein, den Nationalsozialismus als eine politische Religion zu beschreiben. Allerdings kann man weiterhin einwenden, dass es eine ‚Über-Bestimmung‘ der politischen und eine ‚Unter- Bestimmung‘ der religiösen Charakterisierung der politischen Religion gibt. Denn nur die sechste und achte Charakteristik bzw. Symbolik und [politischer] Kult und Glaube und Mythos könnte man eventuell als typische Eigenschaften einer Religion betrachten, während sich die sieben anderen Charakteristiken eher mit einem politischen – totalitären – System assoziieren lassen. Außerdem muss man die sechste und achte Charakteristik nicht unbedingt als religiös verstehen, sondern man kann sie auch aus einer politischen Perspektive her auslegen. Behrens hat zudem selber angemerkt, dass geprüft werden müsse, „inwieweit diese Sakralisierung nicht eher (rein funktional) einer Strategie der Machtdurchsetzung und Manipulation dient als dem Wesen der politischen Religion entspringt“.164 So scheint die religiöse Ebene in der Liste der Charakteristiken der politischen Religion also wieder in den Hintergrund gedrängt zu werden und scheint es immer noch eher um Aspekte einer gewissen – totalitären – Politik zu gehen, die weiter mit religiösen Eigenschaften ausgestattet wird.

2.2.2 Die Erweiterung des Religionsbegriffs

Die größte Schwierigkeit in der Definitionsproblematik der politischen Religion scheint also die Bestimmung ihrer religiösen Ebene zu sein, was es daraufhin erschwert, eine totalitäre Ideologie wie der Nationalsozialismus als eine politische Religion zu beschreiben: „Much of the difficulty with the idea of nazism as a political religion results from a lack of clarity about the concept of religion and its role in academic scholarschip“.165 Eine weitere Schwierigkeit, so bemerkt Vondung mit Recht, ist die Tatsache, dass der

162 Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 91. 163 Vgl. ebd. 164 Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 260. 165 Stowers: The Concepts of ‚Religion‘, ‚Political Religion‘ and the Study of Nazism, 11-12.

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Der Nationalsozialismus

Begriff „Religion“ außerdem zur Gefahr führt, dass die nationalsozialistische Religion als eine Variante der christlichen Religion erscheint, während es grundlegende Unterschiede zwischen den beiden ‚Religionen‘ gibt.166 Auch Behrens merkt an, dass nur wenige Religionswissenschaftler einen solchen Religionsbegriff verwenden, der sich auf die totalitären Regime bzw. Ideologien beziehen lassen kann.167 Michael Burleigh bringt diesen heiklen Punkt mit einer Metapher auf den Punkt: „At first sight, even mentioning Nazism in connection with the great transcendental monotheisms seems excessive, like comparing a little brown puddle to a tremulous ocean on the grounds that they both contain water“.168 Allerdings hat Voegelin bereits Ende der 1930er Jahre einen ersten Vorschlag gemacht, um diese Problematik zu umgehen: „Um die politischen Religionen angemessen zu erfassen, müssen wir daher den Begriff des Religiösen so erweitern, daß nicht nur die Erlösungsreligionen, sondern auch jene anderen Erscheinungen darunter fallen, die wir in der Staatsentwicklung als religiöse zu erkennen glauben“.169 Vielleicht geht es also nicht darum, den Religionsbegriff komplett ‚neu‘, aber schon ‚besser‘ – oder lieber: ‚breiter‘ – zu definieren. Oder mit den Worten Voegelins: Man müsse den Religionsbegriff ‚erweitern‘. Eine solche Erweiterung des Religionsbegriffs scheint in der Auflistung der neun Charakteristiken einer politischen Religion noch nicht vorhanden zu sein.

Eine Erweiterung des Begriffs ‚Religion‘ ist freilich nicht einfach, denn bisher fehlt eine eindeutige und universale Religionsdefinition. So gibt es eine Unmenge an Definitionsversuchen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, die je nachdem die Präsenz eines göttlichen Wesens, einen emotionalen Wert oder gerade den sogenannten illusorischen Aspekt der Religion zentral stellen.170 Die Definitionsversuche lassen sich gemäß ihrer etymologischen, substantialistischen, funktionalistischen oder multidimensionalen Herangehensweisen klassifizieren.171 Diese Arbeit macht es sich nicht zur Aufgabe, einen universalen Religionsbegriff anzubieten, sondern versucht ihn so zu „erweitern“, damit er als handhabbares Konzept innerhalb der Definitionsproblematik der politischen Religion erscheint. Indem Mathias Behrens die Religion in seiner Suche nach

166 Vgl. Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 94. 167 Vgl. Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 256. 168 Michael Burleigh: National Socialism as a Political Religion. In: Totalitarian Movements and Political Religions 1.2 (2000), 10. 169 Voegelin: Die politischen Religionen, 12. 170 Für einen Einblick in die unterschiedlichen Perspektiven auf den Religionsbegriff verweise ich auf das einführende Kapitel „Can Religion be defined?“ in Robert Crawford: What is Religion? London: Routledge 2002, 1-8. 171 Näheres zu etymologischen, substantialistischen, funktionalistischen und multidimensionalen Religionsdefinitionen erklärt zum Beispiel Johann Figl: Religionswissenschaft. Inssbruck, Wien: Tyrolia 2003, 65-71.

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Ein Definitionsversuch einem „zur Theoriebildung geeignete[n] Begriff“172 als eine „im Denken, Fühlen, Wollen, Handeln (und Sein) vollzogene Hinwendung des Menschen als Individuum und als Gemeinschaftswesen zu Gott“173 definiert und so bereits auf den mehrschichtigen Aufbau der Religion hinweist, entscheidet sich auch diese Arbeit für eine mehrdimensionale Perspektive,174 und zwar für das mehrdimensionale Religionskonzept des britischen Religionswissenschaflters und -historikers Ninian Smart. Smarts mehrdimensionales Religionskonzept erweist sich in zweierlei Hinsicht für diese Arbeit gewinnbringend. Erstens versucht Smart mit seiner Perspektive über die auf der Hand liegenden Gemeinsamkeiten zwischen den abrahamitischen Religionen (Christentum – Islam – Judentum) hinauszugehen, damit auch komplett anders organisierte Glaubenssysteme wie der Hinduismus oder dem Buddhismus anhand dieses Konzeptes beschrieben werden können. Andererseits schlägt Smart bereits eine Brücke zwischen Religion und Politik, indem dem Religionskonzept ihm zufolge eine politische Dimension inhärent ist.

Bereits im Jahre 1969 beschrieb Smart ‚Religion‘ als einen mehrdimensionalen Organismus, in dem die Praxis und der Glaube an zentraler Stelle stehen. Seiner Meinung nach gibt es eine Reihe von Aspekten, über die jede Religion in größerem oder geringerem Maße verfügt.175 1996 beschreibt er schließlich sieben Dimensionen, die er alle mit einer doppelten Bezeichnung versieht, die sie näher erläutern und ihre Bedeutung zugleich erweitern sollen. Die Dimensionen werden folgendermaßen aufgeteilt:

(1) Eine rituelle oder praktische Dimension; (2) eine doktrinäre oder philosophische Dimension; (3) eine mythische oder narrative Dimension; (4) eine empirische oder emotionale Dimension; (5) eine ethische oder rechtliche Dimension; (6) eine institutionelle oder soziale Dimension; (7) eine materielle oder künstlerische Dimension.176

172 Behrens: ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff, 262. 173 Ebd. Kursivierung im Original. 174 Verschiedene wichtige religionswissenschaftliche Werke beschreiben eine Dreiteilung des Religionsbegriffs: Glaubensüberzeugungen oder Mythen, religiöse Praktiken oder Ritus und die Gemeinschaft, auf die die beiden Ersteren bezogen sind. Aus dieser Dreiteilung haben sich weitere multidimensionale Modelle entwickelt. Mit diesen Dimensionsmodellen versuchen die Wissenschaftler eine Reihe von Aspekten zu identifizieren, die in (fast) allen Religionen anzutreffen sind. Meistens wird unter den verschiedenen Dimensionen aber schon ein hervorragendes Kriterium – wie Glaubenssätze oder die Bezogenheit auf eine ultimative Wirklichkeit – angegeben, wodurch Religion als Religion gekennzeichnet wird. Vgl. Figl: Religionswissenschaft, 69-71. 175 Vgl. Ninian Smart: The Religious Experience of Mankind. New York: Charles Scribner's Sons 1969, 6-10. 176 Ninian Smart: Dimensions of the sacred: an anatomy of the world's beliefs. London: HarperCollins 1996, 10. Die Reihenfolge der aufgelisteten Dimensionen sei unwichtig.

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Der Nationalsozialismus

Das Ziel der Smart’schen mehrdimensionalen Aufgliederung ist zweifach: „One is to provide a realistic checklist of aspects of a religion so that a description of that religion or a theory about it is not lopsided. […] So one purpose is to achieve balance. The other is to give a kind of functional delineation of religions in lieu of a strict definition”.177 Diese mehrdimensionale Liste scheint kulturelle und ideologische Grenzen zu übersteigen und so auf eine möglichst objektive und nicht von einer Ideologie oder religiöser Praxis geprägten Weise an den Religionsbegriff heranzugehen. Außerdem fügt Smart dieser ‚Basisliste‘ schließlich noch zwei zusätzliche Dimensionen hinzu: (8) eine politische und (9) eine wirtschaftliche Dimension.178 Auf diese Weise schlägt Smart eine Brücke zwischen Religion und Politik, denn die politische Bedeutung von Religionen sei oft verharmlost worden.179 Besonders seit der iranischen Revolution 1979 wird der gegenseitige Einfluss von Religion aber anders eingeschätzt:

If the dimensional factors have a potent effect on the political process, then religion is a vital factor in that bit of history; but if the political process strongly affects the dimensions, then politics is a dominant factor in that bit of history. More dialectically, both effects may be working together.180

Darüber hinaus führt Smart eine Reihe von Faktoren unterschiedlicher Weltanschauungen an, die innerhalb eines politischen Systems wichtig sind – wie etwa „loyalty to one’s nationalism as incorporating a certain worldview; divine kingship; […] the concept of the caliph in Islam“181 und so weiter. Eine Verwobenheit von Politik und Religion lässt sich dementsprechend auch in seiner Interpretation des Religionsbegriffs finden und mittels der mit den zwei zusätzlichen Dimensionen – politisch und wirtschaftlich – erweiterten Liste zur Auslegung des Religionsbegriffs können auch andere Systeme, auf die die Bezeichnung ‚Religion‘ auf den ersten Blick nicht zutrifft, doch als ‚Religion‘ eingestuft werden. Schon Smart selbst gab den ersten Anstoß zu einer solchen Operation, indem er darlegte, dass sich auch der US-amerikanische Nationalismus anhand seines mehrdimensionalen Religionskonzeptes beschreiben ließ.182 In dieser Hinsicht scheint Smart bereits einen wichtigen Versuch zu leisten, den Religionsbegriff so zu erweitern, damit auch andere – auch politische – Systeme als religiös anerkannt werden können.

177 Ebd., 8-9. 178 Vgl. ebd., 10. 179 Die Trennung von Religion und Politik sei ein ziemlich modernes Faktum. Denn ursprünglich war Autorität eindeutig an Religion (im römischen Sinne) und Tradition gebunden. Diese „Trinität von Religion- Tradition-Autorität“ wurde später von der katholischen Kirche übernommen und bis in die Neuzeit behalten. Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 642. 180 Smart: Dimensions of the sacred: an anatomy of the world's beliefs, 21. 181 Ebd. 182 Für Smarts Anwendung seines mehrdimensionalen Religionskonzeptes auf den US-amerikanischen Nationalismus siehe ebd., 13-14.

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Ein Definitionsversuch

3. Der Nationalsozialismus als (politische) Religion – Plädoyer für eine neue Perspektive

Mit dem Ziel, die Deutung des „Politischen“ und des „Religiösen“ im Begriff der politischen Religion auszugleichen, verbindet dieses Plädoyer die Einsichten aus der Forschungstradition über die politische Religion mit Smarts mehrdimensionalen Religionsbegriff. Während vergangene Definitionsversuche den politischen Charakter der politischen Religion immer hervorhoben und so – im Gegensatz zu dem, was der Begriff vermuten lässt – eher eine Art sakralisierte Politik beschrieben, versucht dieses Plädoyer den Begriff aus einer religiös-orientierten Perspektive her zu deuten, in der auch das Politische eine wichtige Rolle spielt.183

3.1 Der mehrdimensionale Charakter der politischen Religion

Die Einbeziehung von Smarts mehrdimensionalem Konzept zur genaueren Auslegung des Religionsbegriffs scheint schon deshalb gewinnbringend, weil Smart selbst bereits eine Brücke zwischen Religion und Politik geschlagen hat, indem er seiner Basisliste mit sieben Religionsdimensionen eine dezidiert politische Dimension hinzugefügt hat.184 Im Rahmen einer möglichen Definition des Konzeptes „politische Religion“ scheint eine Kombination von Smarts mehrdimensionaler Darstellung mit der Liste der neun wesentlichen Charakteristiken der politischen Religion, die aus den Umschreibungen von Emilio Gentile und Mathias Behrens abstrahiert wurden, zu einer tauglicheren Festlegung des Konzeptes zu führen. Allerdings wird hier nicht behauptet, dass diese Herangehensweise an politische Religionen, die einzig wahre und richtige ist. Genauso wie Smart bezüglich seines Religionskonzeptes bemerkt, gilt auch hier: „It is obvious that other ways of looking at worldviews are possible. The question is not whether my approach is the only one, it is whether it is fruitful. Clearly there can be more than one fruitful way of analysing religions and, more generally, worldviews”.185 In der hier vorgestellten Theorie wird von einer Definition ausgegangen, in der das Religiöse zentral steht, das dann mit zusätzlichen politischen Charakteristiken – sowohl in einer achten, dezidiert politischen, Dimension als auch weiter verwoben in den anderen Dimensionen – weiter ausgestattet wird. Wenn man Smarts mehrdimensionales Konzept mit den neun Charakteristiken der politischen Religion verbindet, kommt man zur folgenden Übersicht:

183 Ein Plädoyer für eine mehrdimensionale Perspektive auf den Nationalsozialismus als „(politische) Religion“ wurde veröffentlicht in Anneleen Van Hertbruggen: Glaube und Propagandadichtung: Religionsdimensionen im Nationalsozialismus. In: Kritische Ausgabe: Zeitschrift für Germanistik & Literatur 19.28/29 (2015), 51-55. 184 Die wirtschaftliche Dimension wird in dieser Arbeit außer Acht gelassen. 185 Smart: Dimensions of the sacred: an anatomy of the world's beliefs, 15.

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Der Nationalsozialismus

Smarts „dimensions of religion“ Charakteristiken der politischen Religion (1996) (1) rituell – praktisch Symbolik und (politischer) Kult (VI) (obligatorische) Hingabe (V) [Exklusiver Charakter und Geltung in allen Lebensdimensionen (II)] (2) doktrinär – philosophisch (3) mythisch – narrativ Glaube und Mythos (VIII) (4) empirisch – emotional Verehrung (von „Führer“ und Partei) (IX) (5) ethisch – rechtlich (6) institutionell – sozial Kollektivismus statt Individualismus (IV) (7) materiell – künstlerisch (8) politisch Sakralisierung der Politik (I) [Totalitäres System (III) + Gegner der Religionen (VII)] [Exklusiver Charakter und Geltung in allen Lebensdimensionen (II)]

Nach der Abstrahierung der Charakteristiken der politischen Religion aus den Definitionen von Gentile und Behrens wurde bereits bemerkt, dass nur zwei Charakteristiken – Symbolik und (politischer) Kult (VI) und Glaube und Mythos (IX) – mit dem Wesen einer Religion in Verbindung gebracht werden können. Diese beiden Charakteristiken sind dann auch einfach und logischerweise in die rituell-praktische (1) bzw. mythisch-narrative (3) Dimension einzuordnen. Obwohl bei den übrigen Charakteristiken der politische Aspekt auf den ersten Blick überwiegt, merkt man, dass einige doch in gewisser Hinsicht mit einer Basisdimension des Smart’schen Religionskonzeptes assoziiert werden können. So gehört die persönliche Hingabe (V) eines Gläubigen auch zur rituell-praktischen (1) Dimension und kann die Verehrung (X) – in diesem Fall von „Führer“ und Partei – zur empirisch-emotionalen (4) Dimension gerechnet werden. Der für die politische Religion wichtige Kollektivismus (IV) kann man der Glaubensgemeinschaft gegenüberstellen und so zur institutionell-sozialen (6) Dimension rechnen. Die Liste der Charakteristiken verfügt nicht über Aspekte, die zu den doktrinär- philosophischen (2), ethisch-rechtlichen (5) und materiell-künstlerischen (7) Dimensionen gerechnet werden können.

3.2 Die politische Dimension – Was ist ‚politisch‘

Bevor zu einer genaueren Auslegung der Charakteristiken der politischen (8) Dimension gekommen werden kann, soll hier kurz erläutert werden, was unter ‚Politik‘ verstanden wird. ‚Politisch‘ wird vom Duden als „die Politik betreffend“ definiert.186 Allerdings sagt

186 Vgl. „politisch“ in: Duden.de. ORL: https://www.duden.de/rechtschreibung/politisch [Letzter Zugriff: 08.02.2019].

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Ein Definitionsversuch diese Definition nicht viel über das Wesen der Politik aus. Lorenz Engi behauptet, dass immer ein großer Klärungsbedarf bestehe, wo gründlich und genau über Politik gesprochen werde. Leider kann der Begriff oftmals nicht komplett gedeckt werden. In seinem Artikel Was heißt Politik? (2006) geht er ausführlich auf die Definitionsproblematik des Begriffs ‚Politik‘ bzw. ‚politisch‘ ein. Er nimmt diese beiden Begriffe zusammen, weil es seiner Meinung nach wenig sinnvoll sei, ‚Politik‘ vom ‚politischen‘ abzugrenzen. Er beschreibt mehrere Definitionsversuche, wobei er bei der ursprünglichen Bedeutung des Stammwortes der ganzen Wortfamilie, nämlich des altgriechischen pólis anfängt. Dieses pólis könnte man am ehesten mit ‚Stadt‘ oder ‚Bürgerschaft‘ übersetzen. Da die Bedeutung der pólis doch nicht komplett mit dem abstrakten Charakter von ‚Stadt‘ oder ‚Staat‘ übereinstimme, erscheine die Übersetzung als ‚Bürgerschaft‘ tauglicher. Allerdings sei diese Übersetzung wenig anschaulich und es erscheint Engi besser, den altgriechischen Begriff pólis einfach einzudeutschen. Manche Wissenschaftler wie Johann Caspar Bluntschli, Georg Jellinek und Herbert Krüger haben den Begriff ‚Politik‘ einfach dem Begriff ‚Staat‘ oder ‚Staatliches‘ gleichgesetzt, während Autoren wie Hermann Heller, Carl Schmitt und Dolf Sternberger sich gegen die Identifizierung des Politischen mit dem Staatlichen wandten.187 Schon im Griechischen wurde das Politische (pólis) dem Privaten (oíkos; Haus) gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung zum Bereich des Häuslichen und Privaten trifft auch heute noch auf den Kerngehalt der Begriffe ‚Politik‘ und ‚politisch‘ zu:

Politik bezieht sich auf das Gemeinsame, das alle Bürger Betreffende. Sie handelt vom Allgemeinen, vom alle Verbindenden und für alle Geltenden. Nicht der einzelne Bürger in seinen je besonderen Umständen und Eigenschaften ist das politisch Interessierende, sondern die Gemeinschaft der Menschen. Wer im Modus des Politischen denkt und spricht, der sucht Regelungen und Lösungen für prinzipiell: alle.188

In der politischen (8) Dimension des obigen Schemas sollten also Eigenschaften aufgenommen werden, die sich auf das ‚Politische‘, das ‚Gemeinsame‘, das ‚alle Bürger Betreffende‘ beziehen. Die Liste der Charakteristiken einer politischen Religion umfasst schon einige Aspekte, die mit Politik assoziiert werden können: Sakralisierung der Politik (I), totalitäres System (III) und Gegner der Religionen (VII). Der erste Punkt ‚Sakralisierung der Politik‘ bezieht sich nicht auf eine bestimmte Art der Politik und kann eindeutig der achten Dimension zugerechnet werden. Die zwei anderen Charakteristiken erscheinen ein wenig problematischer. Man sollte berücksichtigen, dass die Definitionen von Emilie Gentile und Mathias Behrens, aus denen die Liste abstrahiert wurde, im Rahmen der Debatte über totalitäre Systeme wie den Nationalsozialismus und Kommunismus entstanden sind. Das ‚politische‘ in diesen Definitionen der ‚politischen‘ Religion ist also

187 Vgl. Lorenz Engi: Was heißt Politik. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 92.2 (2006), 237-239. 188 Ebd., 238.

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Der Nationalsozialismus nicht als allgemein und objektiv politisch zu verstehen, sondern die Definitionen wurden vom Anfang an aus einer totalitären Perspektive her erschlossen. Die zwei aufgelisteten Charakteristiken gehören also in gewisser Hinsicht schon in die politische (8) Dimension, aber sie sind Charakteristiken einer sehr spezifischen – nämlich: totalitären – Politik. Deswegen wurden diese Charakteristiken in Klammern hinzugefügt, damit nicht der Eindruck erweckt wird, dass sie als wesentliche Eigenschaften der „Politik“ interpretiert werden.

Die Charakteristik exklusiver Charakter und Geltung in allen Lebensdimensionen (II) wurde zwischen Klammern sowohl der rituell-praktischen (1) als auch der politischen (8) Dimension zugeordnet. Diese Charakteristik scheint in dem Sinne problematischer zu sein, da sie sowohl eine essentielle Eigenschaft einer Religion als auch eines totalitären Systems darstellt. Diese Charakteristik scheint bei der Bestimmung irgendeines Systems als (politischer) Religion oder als totalitären Systems also überflüssig zu sein, weil man anhand dieser Charakteristik nicht zwischen beiden unterscheiden kann.

Anhand dieser Aufteilung scheinen nur vier Charakteristiken (I, III, VII und VII) eindeutig zur politischen Dimension zu gehören, zwei Charakteristiken (VI und VIII) wurden gleich als wesentliche Merkmale einer Religion erkannt und deswegen eindeutig in die rituell- praktische (1) und mythisch-narrative (3) Basisdimension eingeordnet. Eine Charakteristik (II) scheint für die Unterscheidung zwischen einem totalitären – politischen – und einem religiösen System unbrauchbar und wird in Klammern sowohl zur rituell-praktischen (1) als auch zur politischen (8) Dimension gerechnet. Drei Charakteristiken (IV, V und IX) kann man, obwohl sie politisch beladen sind, doch einer der sieben Basisdimensionen zuordnen. Obwohl also eine dezidiert politische (8) Dimension unterschieden wird, scheint das Politische auch in anderen Dimensionen unterschwellig anwesend zu sein. Laut Smart ist dies aber nicht problematisch. Denn, obwohl er sieben klar abgegrenzte Basisdimensionen unterscheidet, bemerkt er, dass alle Dimensionen schon irgendwie miteinander verflochten sind: „[O]ne cannot make worldviews tidier than they are. But they are sometimes better patterned than at first sight appears”.189 Mit seinen separat aufgelisteten Religionsdimensionen hat Smart bloß versucht, die Komplexität der religiösen Systeme aufzuzeigen. Allerdings wird auch aus dem nationalsozialistischen Beispiel deutlich, dass es quasi unmöglich ist, die Dimensionen strikt voneinander zu unterscheiden.

189 Smart: Dimensions of the sacred: an anatomy of the world's beliefs, 24.

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Ein Definitionsversuch

3.3 Der Nationalsozialismus als (politische) Religion – Ein mehrdimensionales System

Klaus Schreiner stimmt Peter Walkenhorst zu, wenn er anmerkt, dass es angemessener und sinnvoller erscheint, „von einer religiösen Dimension nationalistischer Ideologien zu sprechen“, als „den Nationalismus als ‚politische Religion‘ zu bezeichnen“.190 Allerdings scheint Smarts mehrdimensionale Auffassung gerade das Umgekehrte zu suggerieren. Wenn man den Nationalsozialismus als eine politische Religion beschreiben will, kann man neben den sieben religiösen Basisdimensionen auch eine starke politische Dimension entdecken. Denn aus der Verbindung von Smarts mehrdimensionaler Religionsprinzip und den aus Behrens und Gentiles Definitionen der politischen Religion abstrahierten Liste der Charakteristiken kann man schließen, dass sich Religion und Politik nicht gegenseitig ausschließen. In dieser Hinsicht scheint die kombinierte Tabelle zu einer tauglicheren Umschreibung des Konzeptes „politische Religion“ zu führen. Wenn man nun, Smarts Beispiel von der Einordnung des amerikanischen Nationalismus folgend, den Versuch unternimmt, die sieben Basisdimensionen und die achte – erweiterte – politische Dimension auch im deutschen Nationalsozialismus zu identifizieren, ergibt sich folgendes Schema:

Smarts „dimensions of religion“ Deutscher Nationalsozialismus (1) rituell – praktisch Politischer Kult mit Hitlergruß und Blutfahne (2) doktrinär – philosophisch ‚Glaubensartikel‘: Blut, Volk, Boden, Reich, Führer und Fahne (3) mythisch – narrativ Führermythos, Mythos des Nationalstaats, Blut und Boden (4) empirisch – emotional Patriotische Feiern, Singen von Bekenntnisliedern (5) ethisch – rechtlich Rassische und nationalsozialistische Werte (6) institutionell – sozial Propagandaministerium; zur ‚Geistlichkeit‘ könnte man die Schulmeister oder die Führer der HJ usw. rechnen (7) materiell – künstlerisch Hakenkreuz, Wallfahrtsorte der Gefallenen, Propagandapoesie (8) politisch NSDAP als politische Partei: Diktatur + Gewalt/Krieg + Gegner des Judentums und der katholischen und evangelischen Kirche als Charakteristiken der totalitären Politik

Aus diesem Schema kann man schließen, dass der Nationalsozialismus gemäß Smarts mehrdimensionalen Konzeptes sehr wohl als eine (politische) Religion betrachtet werden

190 Walkenhorst zit. in Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 43.

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Der Nationalsozialismus kann. Kritiker des Konzeptes werden aber wahrscheinlich immer wieder aufführen, dass die in der Tabelle aufgelisteten Aspekte bloß formellen Charakters sind und nur der Propaganda dienten. Auch Klaus Vondung stimmt zu, dass die Massenveranstaltungen, Zeremonien, Riten, Uniformen und Flaggen vor allem propagandistischen Zwecks waren. Trotzdem sei dies nicht im Widerspruch zur symbolischen Funktion der Zeremonien und Riten und man soll die ‚Form‘ als symbolischen Ausdruck einer sogenannten „politischen Religion“ Ernst nehmen: Denn „behind the forms there was faith“.191

4. Die textuelle Repräsentation der (politischen) Religion in der NS-Propagandadichtung - Sakralisierung der „Glaubensartikel“

In Übereinstimmung mit dem mehrdimensionalen Konzept der (politischen) Religion weist auch der Nationalsozialismus eine materiell-künstlerische Dimension (7) auf, die oft mit der rituell-praktischen (1) verbunden wird. So wurde in nationalsozialistischen Feiern eine religionsähnliche Liturgie nachgeahmt,192 in der auch bestimmte Artefakte wie etwa die Fahne als „heilige Symbole“ mitgetragen und Bekenntnischarakter tragende Texte rezitiert wurden.193 In dem Sinne seien diese Texte als Ausdrücke der nationalsozialistischen (politischen) Religion zu verstehen und der materiell- künstlerischen Dimension (7) zuzuordnen.

Auch die für diese Arbeit fokussierte nationalsozialistische Propagandadichtung, für die die Dichtung von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel als beispielhaft gilt, lässt sich in dieser Hinsicht als künstlerischer Ausdruck der nationalsozialistischen (politischen) Religion erkennen. Die literarische Analyse dieser Dichtung untersucht im Besonderen die Funktion des religiösen Diskurses in der lyrischen Repräsentation der nationalsozialistischen Glaubensartikel „Führer“, „Reich“ und „Volk“. Indem diese nationalsozialistischen „Glaubensartikel“ durch Sakralisierungsprozesse tatsächlich als religiös aufgewertete und sogar „heilige“ und verabsolutierte Konzepte der nationalsozialistischen (politischen) Religion erscheinen, wären sie der doktrinär- philosophischen Dimension (2) zuzuordnen. Wie diese drei Glaubensartikel in der NS-

191 Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 2-3. 192 Vondung hat die Verwandtschaft zwischen der nationalsozialistischen Feierfolge und der dreiteiligen Liturgie des protestantischen Predigtgottesdienstes aufgezeigt. Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 117-118. 193 Wie im nächsten Kapitel im Rahmen der Gattungsfrage expliziert wird, entstanden in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ sogenannte „Bekenntnislieder“, die als Lobpreisungen auf „Führer“, Volk und Vaterland zu verstehen sind.

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Ein Definitionsversuch

Propagandadichtung ihren geheiligten Status bekommen, wird mittels einer literarischen Analyse im weiteren Verlauf dieser Arbeit untersucht.

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III

Die nationalsozialistische Lyrik - Die Literarizität eines umstrittenen Korpus

Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Die nationalsozialistische Lyrik

1. Nationalsozialistische Lyrik - Problemfeld der deutschen Literaturgeschichte

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Germanistik die nationalsozialistische Literatur und Dichtung lange Zeit vernachlässigt. Die dafür verantwortliche dominante These war, diese Literatur sei keine „echte Literatur“ gewesen: „Sie sei nicht frei gewesen, sondern habe im Dienst politischer Propaganda gestanden, sie sei inhuman, intellektuell anspruchslos, formal unzureichend, trivial und somit einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung unwürdig“.194 Allerdings sollte eine propagandistische Funktion der Literatur ihre kritische literaturwissenschaftliche Untersuchung nicht unbedingt verhindern.

Zu vielen Zeiten, und man ist fast versucht, zu sagen: in ihren großen Zeiten, hat die Kunst gedient – dem Kultus, dem Gottesdienst, dem höfischen oder dem bürgerlichen Fest, der Erziehung und Belehrung, auch der Politik. Da war Poesie Mittel zu einem außerkünstlerischen Zweck, übernahm sie Aufgaben. Doch die Geschichte lehrt, daß die Kunst sich an großen Aufgaben zu bilden, daß sie an ihnen zu wachsen vermag. Selbst dort, wo das Lied politisch wird.195

Damit möchte diese Arbeit die nationalsozialistischen Autoren auf keinen Fall über einen Leisten mit politisch engagierten Autoren wie oder Walther von der Vögelweide schlagen, sondern nur darauf hinweisen, dass man auch ihre Texte als Produkte der damaligen gesellschaftlichen Situation betrachten kann, die daraufhin gegen diesen gesellschaftlichen Hintergrund untersucht werden sollten. Walter Hinderer definiert den Begriff „politische Lyrik“ in dem Sinne nicht als einen Gegenbegriff zur „reinen Lyrik“, sondern als Bezeichnung einer bestimmten Gruppe „poetischer Texte, deren specifica differentia in der politischen Thematik liegt wie die religiöser Lyrik in der religiösen oder erotischer in der erotischen Thematik“.196 Dabei handele es sich bei politischer Lyrik um ein spezifisches Phänomen, „das nur unter den Aspekten der Textproduktion, der historischen Situation, der Kommunikation, der Rezeption und der Wirkung sinnvoll analysiert und charakterisiert werden kann“.197 In dieser Hinsicht reichen rein ästhetische und poetologische Kriterien für die Analyse dieser Lyrik nicht aus, sondern sollte auch der politisch-historische Kontext, in dem die Lyrik entstanden ist, berücksichtigt werden.198 Zu diesem Zweck schlägt diese Arbeit für die Analyse des

194 Roßmeißl: Märtyrerstilisierung in der Literatur des Dritten Reiches, 11. 195 Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, 5. 196 Walter Hinderer: Versuch über den Begriff und die Theorie politischer Lyrik. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart: Philipp Reclam 1978, 10. 197 Ebd. 11. 198 Dieses Argument gilt nicht nur für die Interpretation nationalsozialistischer Dichtung. Die Berücksichtigung des politisch-historischen Kontextes kann sich auch bei der Analyse und Interpretation nicht-politischer oder anders-politischer Lyrik als fruchtbar erweisen. Allerdings scheint eine nuancierte Interpretation der NS-Dichtung ohne die Berücksichtigung des politisch-historischen Kontextes und

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen gewählten Korpus ein ideologiekritisches Verfahren, das die religiöse Dimension innerhalb der NS-Dichtung besonders beachtet, vor, indem die werkimmanente Textinterpretation des Close readings mit dem von Peter Zima entwickelten textsoziologischen Ansatz ergänzt wird. Bevor diese methodologischen Überlegungen weiter ausgeführt werden, soll hier im Folgenden zunächst auf die nationalsozialistische Lyrik als Gattung eingegangen werden.

1.1 Nationalsozialistische Lyrik

Quasi in allen Arbeiten, die sich mit nationalsozialistischer Lyrik auseinandersetzen, wird deren „Gebrauchswertcharakter“199 hervorgehoben. Denn, die sogenannte „volkhafte Dichtung“ wurde nach der Machtübernahme im Januar 1933 nach drei Kriterien beurteilt: „Zum Ersten musste sie der Rassenideologie verpflichtet sein, zum Zweiten sollte sie den (sozial-darwinistischen) Kampfwillen beschreiben und zum Dritten die ideologischen Inhalte als quasi-religiös verherrlichen“.200 Eine eigenständige Poetik oder Ästhetik habe der Nationalsozialismus jedoch nicht hervorgebracht.201 Obwohl die nationalsozialistische Programmatik tatsächlich ein wichtiges Charakteristikum der nationalsozialistischen Dichtung darstellt, hat sich der Literaturwissenschaftler Helmuth Langenbucher scharf gegen eine Einstufung der Lyrik als „Parteidichtung“ ausgesprochen. In seiner Argumentation bezieht er sich nicht auf die lyrische Eigenheit der Dichtung, sondern auf die damalige politische Organisation des Reiches. „Parteilyrik“ existiere nur dort, wo „Politik“ als „Parteipolitik“ – und deswegen als das „Gegeneinanderrasen von Parteimeinungen, Interessen usw.“ – zu betrachten wäre.202 Im nationalsozialistischen Deutschland war „die einzige Partei, die es heute bei uns noch gibt, [...] Deutschland“.203 Wegen des Fehlens unterschiedlicher Parteien wäre eine „Parteidichtung“ laut Langenbucher also unmöglich und auch unnötig. Indem die nationalsozialistische Dichtung keine „Tendenzdichtung“ sei und deswegen nur auf Teile des Volkes abzielen

besonders hinsichtlich der Debatte über den Nationalsozialismus als eine politische Religion schwierig zu sein und stellt diese Arbeit eine solche Herangehensweise also explizit voraus. 199 Walter Hinderer sieht diesen Gebrauchswertcharakter der „politischen Dichtung“ in der „Zweckdienlichkeit ästhetischer Mittel für spezifische Intentionen“, welche im Rahmen der politischen Dichtung in ihrer politischen Thematik liegen. Vgl. Hinderer: Versuch über den Begriff und die Theorie politischer Lyrik, 10. Alfred Roth beschreibt die nationalsozialistischen Massenlieder als „Gebrauchstexte“, die als Mittel faschistischer Propaganda der Massenmobilisierung dienten und dementsprechend in ihrer Wirkung konzipiert waren. Vgl. Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion, 15. 200 Antje Karger: NS-Literaturpolitik. Die literarische Produktion von 1933 bis 1945 und . Norderstedt: GRIN 2012, 15. 201 Ebd. 202 Helmuth Langenbucher: Dichtung der Jungen Mannschaft. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1935, 19. 203 Ebd. 24.

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Die nationalsozialistische Lyrik würde, gehe es ihr „um das Ganze“.204 Auch der NS-Dichter Gerhard Schumann zog in einem 1937 erschienenen Aufsatz stark gegen eine Beschränkung der damaligen Dichtung auf die bloße Vermittlung des Parteiprogramms vom Leder. Dabei betonte er nicht die inhaltlichen Lenkung der Politik, sondern die inhärente politische „Haltung“ des Dichters selber:

Es ist ein Unding, den nationalsozialistischen Künstler auf ein ödes Abwandeln des nationalsozialistischen Parteiprogramms beschränken zu wollen, ihn zum gefälligen Hausdichter, -maler oder –musiker der Partei und ihrer sich gegenseitig übertreffenwollenden Gliederungen zu machen. Nicht die Tatsache wehender Hakenkreuzfahnen oder polternder Marschstiefel auf der Bühne, nicht die mystisch zusammengewürfelten Begriffe Blut, Ehre, Freiheit, Volk, Scholle, Führer usw., nicht die ölfarbene, blutige Darstellung sterbender Kämpfer der Bewegung, mit einem Wort, nicht der Stoff, sondern die Haltung entscheidet für uns.205

Die Tatsache, dass Schumann sich dazu berufen fühlte, einen Aufsatz zum Wesen und zur Stellung der Lyrik im „Dritten Reich“ zu schreiben, scheint darauf hinzuweisen, dass der politisch orientierte Inhalt der NS-Dichtung bereits im „Dritten Reich“ kritische Stimmen über deren Wert reizten. Schumann sieht die bedeutende Rolle des nationalsozialistischen Dichters nicht im „Stoff“, den er in seiner Dichtung behandelt, sondern in seiner persönlichen „Haltung“, aus der sich seine Dichtung ergibt. Gerade in der Erforschung dieser „Haltung“ sah der Germanist Ralf Schnell eine Möglichkeit, Aufschluss zu geben über das, was nationalsozialistische Dichtung als „Dichtung“ ausmacht, und zwar jenseits der Parteiprogrammatik und ideologischen Begrifflichkeit.206 Die dualistisch strukturierte nationalsozialistische Dichtung sei eine Dichtung des Aufbruchs und des Heimkehrs. Indem die Idee des „Dritten Reiches“ dieser Aufbruchsbewegung Richtung gibt und dem Führerprinzip mittels Sakralisierungsversuchen eine gewisse Religiosität verliehen wird, erscheint sie zudem als sakrale Dichtung. Für diese so um den Führer hergestellte „spirituelle Gemeinschaft“ will diese Dichtung zudem Massen- oder Gemeinschaftsdichtung sein, in der die Volksgemeinschaft mittels der Organisierung von „Massensymbolen“ – wie Fahne, Sterne, Blut und Boden – und unsichtbaren Massen literarisch konstituiert wird. Sonst charakterisiert sich die nationalsozialistische Sprechweise durch eine monumentale, auktoriale und suggestive Sprechweise und entwickeln sich ihre Strukturmerkmale nicht genrespezifisch, sondern genreübergreifend.

204 Ebd. 205 Gerhard Schumann: Politische Kunst? - ja! aber ... In: Der SA-Mann. Ausgabe Berlin-Brandenburg 21.6 (1937), 1. 206 Schnell fasst seine Überlegungen zur Beantwortung der Frage „Was ist nationalsozialistische Dichtung?“ in zehn bzw. dreizehn Thesen zusammen. Der nächste Abschnitt gibt ein kurzes Resümee seiner Befunde in Was ist nationalsozialistische Dichtung. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 5.39 (1985), 397-405 und Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘? In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hg. v. Jörg Thunecke. Bonn: Bouvier 1987, 28-45.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Wegen der ungebrochenen Übernahme und nationalsozialistischen „Aufladung“ von Elementen des tradierten Formenkanons – etwa der Formenstrenge des Sonetts – beschreibt Schnell die nationalsozialistische Dichtung zudem als epigonale Dichtung. Außerdem bildet sie „den erfolglosen Versuch, der ästhetisierten Sphäre des politischen Lebens mit den Ausdrucksmitteln der Poesie nachempfindend auf den Fersen zu bleiben“.207 Obwohl Schoeps anmerkt, dass nicht alle diese Elemente in gleichem Maße in sogenannten nationalsozialistischen Werken vorkommen, hat er Schnells literarisch- ästhetische Überlegungen zur NS-Dichtung doch als die „bisher brauchbarste Definition der Literatur des Dritten Reichs“ beurteilt.208

Obwohl die politische Instrumentalisierung der Lyrik zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes aus heutiger Sicht also meistens als negativ interpretiert wird, sei ihre politische Aufgabe aber kein Grund für eine literaturwissenschaftliche Vernachlässigung.209 Auch die nationalsozialistische Dichtung ist als Teil der deutschen Literaturgeschichte zu betrachten. So war die – politisch – engagierte Lyrik keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. In allen Perioden der deutschen Literaturgeschichte seit der Frühen Neuzeit hat Literatur gesellschaftliche Zu- oder Missstände thematisiert, angeprangert oder auch bestätigt.210 In dieser Hinsicht ist die politische Lyrik des Nationalsozialismus „eine Literatur aus der Haltung einer sozialen Reaktion der unteren und mittleren Schichten des Bürgertums auf die liberal-kapitalistischen Tendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts und die marxistisch- sozialistischen Antworten darauf“.211 Gerade in ihren epigonalen Zügen beschreibt Schnell sie zudem auch als Teil der literaturgeschichtlichen Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.212 Nicht nur inhaltlich stellt sich die nationalsozialistische Dichtung

207 Schnell: Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘?, 39; Ebd.: Was ist nationalsozialistische Dichtung 402. 208 Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 8. 209 Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, 5. 210 Benedikt Jeßing und Ralph Köhnen stellen die engagierte Lyrik des 20. Jahrhunderts in die literaturgeschichtliche Tradition der politisch engagierten Lyrik der antinapoleonischen Befreiungskriege als auch der Gedichte zwischen französischer Julirevolution (1830) und der gescheiterten bürgerlichen Revolution in Deutschland (1848). Auch die Werke von etwa und Julius Becher ab den 1920er Jahren und des DDR-Schriftstellers Wolf Biermann gehören in die literarische Tradition der engagierten Lyrik. Vgl. Benedikt Jeßing und Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Weimar: J.B. Metzler 2003, 96. 211 Uwe-K. Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart: Philipp Reclam 1978, 293. 212 Ohne detailliert darauf einzugehen beschreibt Schnell die Aufbruchsbewegung, die dualistische Weltanschauung, die regressive Utopie und das ästhetische Epigonentum nicht nur als Kennzeichen einer ‚völkisch-nationalen‘ Vorläufer-Literatur des Nationalsozialismus, sondern auch der konservativen Weltanschauungsessayistik, der Spätromantik des 19. Jahrhunderts und der Heimatkunst nach 1890 und der Neuromantik. Diese literarischen Strömungen weisen bereits aggressive Antisemitismen und Nationalchauvinismen auf, die der nationalsozialistischen Kampfliteratur nahestehen. Auch die Balladenliteratur um die Jahrhundertwende, die Literatur der Jugendbewegung, der literarische Expressionismus, die um 1920 entstehende Kriegsliteratur und die Zivilisationskritik weisen laut Schnell Affinitäten mit der nationalsozialistischen Literatur auf. Vgl. Schnell: Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘?, 39-40.

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Die nationalsozialistische Lyrik in die deutsche Literaturgeschichte, auch formal greifen die nationalsozialistischen Dichter auf den literarischen Kanon zurück. Bevor aber genauer auf die verschiedenen Gedichttypen im hier vorhandenen Korpus eingegangen wird, wird im Folgenden zunächst auf die Funktion der Lyrik im „Dritten Reich“ eingegangen.

1.2 Die dienende Funktion der Lyrik im „Dritten Reich“

Bereits in Mein Kampf postulierte Hitler, dass die deutsche Kultur „von den Erscheinungen einer verfaulenden Welt“ gesäubert werden sollte und dass sich die Künste in den Dienst einer „sittlichen Staats- und Kulturidee“ zu stellen hatten.213 Diese dienende oder sogar „erziehende“ Funktion der Künste wiederholte er nicht lange nach seiner Machtübernahme in seiner Regierungserklärung vom 23. März 1933:

Unser gesamtes Erziehungswesen – das Theater, der Film, Literatur, Presse, Rundfunk – sie werden als Mittel zu diesem Zwecke angesehen und demgemäß gewürdigt. Sie haben alle der Erhaltung der im Wesen unseres Volkstums liegenden Ewigkeitswerte zu dienen; die Kunst wird stets Ausdruck und Spiegel der Sehnsucht oder der Wirklichkeit einer Zeit sein.214

Obwohl der Nationalsozialismus keine eigenständige Poetik oder Ästhetik hervorgebracht hat, hat Hitler in seiner „Kulturrede“ im September 1933 aber schon versucht, diese Widerspiegelung „der Sehnsucht oder der Wirklichkeit“ durch die Künste zu lenken. So stellte er der Kunst zur Aufgabe, durch „heldische Verehrung gemeiner Züge“ nationalsozialistische Grundwerte zu propagieren, was sich in „Idole[n] für die Masse und […] Leitbilder[n] für die zu züchtende Elite“ zeigen wurde.215 Auch Joseph Goebbels betonte die Bedeutung „der politischen Erziehung der Nation“ als die „echte Aufgabe“ der Kunst.216 Gemäß dieser Auffassung verlor die Kunst nach der nationalsozialistischen Machtergreifung dann auch jedes Eigenrecht und jede Eigenbestimmung und wurde sie zu einem heteronomen herrschaftstechnischen Instrument der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Mit der Gründung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda im Frühjahr 1933 wurden „Kultur“ und „Propaganda“ dann auch quasi austauschbar.

Spätestens mit der Errichtung der „Reichsschrifttumskammer“ (RSK), die am 15. November 1933 als eine der sieben Einzelkammern der „Reichskulturkammer“ etabliert wurde, ermöglichte Joseph Goebbels die Kontrolle und Leitung des gesamten

213 Hitler: Mein Kampf, 279. 214 Hitler zit. in Günter Hartung: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2001, 237. 215 Vgl. ebd., 241. 216 Goebbels zit. in Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 33.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Literaturlebens.217 Die RSK betreute alle Phasen des Buchvertriebs vom Autor über den Verlag an Buchhandlungen und Bibliotheken bis hin zu Buchbesprechungen. Die Mitgliedschaft in der RSK war obligatorisch für jeden, der an diesem Prozess teilhaben wollte, sonst wurde ihm die Ausübung seines Berufs schlichtweg verboten.218 Obwohl die RSK auch die Veröffentlichung von „Tendenzromanen“ wie Artur Dinters Sünde wider das Blut oder den des Hanns Heinz Ewers unterstützte, war sie sich bewusst, „daß gedruckte Literatur immer nur einen begrenzten Kreis von Lesern erreicht und daß ihre Wirkung sich direkter Kontrolle entzieht“, denn jeder „Lesende ist mit seinem Buch allein“.219 Das nationalsozialistische Gedicht, das sich in all seinen Formen in erster Linie als „Massenlied“ oder „Gemeinschaftslied“ verstand,220 hatte in dieser Hinsicht ein viel größeres propagandistisches Potenzial, denn ihr Wirkungspotenzial lag nicht in der besinnlichen Lektüre des Einzellesers: „Um ihre Wirkungskraft zu entfalten, bedurfte sie der Gemeinschaft, vor der man sie sprach und in der man sie sang“.221 Gerade im gemeinsamen Singen oder Rezitieren – zum Beispiel an Massenveranstaltungen oder Gelegenheitsfeiern – verband das Gedicht oder Lied die Teilnehmer zu einer „Gemeinschaft“, was die nationalsozialistische Idee der kollektiven Einheit förderte. Schöne betont dann auch, dass die Verbreitung und Bedeutung einzelner Gedichtbände weniger am Verkauf in den Buchhandlungen als an ihrer ständig wiederholten Darbietung bei den Morgenfeiern, Heimabenden und Dorfgemeinschaftsabenden, den Schul- und Betriebsfeiern, den nationalen Feiertagen des NS-Jahres, den Aufmärschen, Appellen und Versammlungen der Partei und den kultischen Großveranstaltungen der Nürnberger Parteitage zu messen ist. Denn, „das ist der Ort und die Stunde dieser Lyrik. Da übt das Gemeinschaftslied seine überwältige Wirkung“.222

Die „dienende“ Funktion der nationalsozialistischen Lyrik zeigt sich gemäß dieser Auffassung auf zwei Ebenen. Einerseits soll sie einen bereits von Hitler in seiner Kulturrede geforderten Heroismus propagieren, andererseits dient sie sowohl in ihrer Thematik als auch in ihrer Form der nationalsozialistischen Idee der Kollektivität. Denn, nicht nur braucht das Gemeinschaftslied die Gemeinschaft zur Verbreitung seines ideologischen Inhalts, sondern das Gemeinschaftslied gestaltet die Gemeinschaft auch mit, indem es ein Wir-Gefühl, das nicht nach Ziel und Gründen frage, herstellt.223 Die Marsch- und Soldatenlieder und die Feier- und Weihedichtung, die im Folgenden als zwei Typen

217 Vgl. Karger: NS-Literaturpolitik. Die literarische Produktion von 1933 bis 1945 und Exilliteratur, 8. 218 Vgl. Karl-Heinz Schoeps: Literature and Film in the Third Reich. New York: Camden House 2004, 37-38. 219 Hartung: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik, 306. 220 Das Kampflied, Feier- und Bekenntnislied und Soldatenlied betrachtet Roth als verschiedene Ausformungen des nationalsozialistischen Massenliedes. Vgl. Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion, 11. 221 Schöne: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur, 263. 222 Ebd., 264. 223 von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied, 261.

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Die nationalsozialistische Lyrik innerhalb der nationalsozialistischen Dichtung dargestellt werden, werden diesen beiden Voraussetzungen der nationalsozialistischen Kulturpolitik ohne weiteres gerecht.

1.3 Das Gedicht im Nationalsozialismus

Neben ihrem Leistungsvermögen als Gemeinschaftslied zeigt sich das propagandistische Potenzial der nationalsozialistischen Lyrik auch besonders in ihrem Agitationscharakter. Indem die Texte durch einen starken Antiindividualismus und eine stilisierte Kampfbereitschaft gekennzeichnet sind, zielen sie auf das Sammeln von Gesinnungsgenossen.224 Weil diese Lyrik zur aktiven Teilnahme am Kampf oder zum expliziten Bekenntnis zum Nationalsozialismus aufruft, bezeichnet Helmuth Langenbucher sie als eine „politische Tat“,225 weshalb sie auch als „Aktionslyrik“ zu verstehen ist. Gerade in dieser Bezeichnung lässt sich die performative Funktion der nationalsozialistischen Lyrik erkennen. Nach John L. Austins Sprechakttheorie lassen sich sprachliche Äußerungen in konstatierende, mit denen etwas behauptet, beschrieben oder festgestellt wird, und performative Äußerungen aufteilen. Mit der Äußerung eines performativen Satzes wird nichts behauptet, beschrieben oder festgestellt, sondern vielmehr eine Handlung vollzogen.226 Der performative Charakter der NS-Dichtung zeigt sich besonders in den zahlreichen „Bekenntnisliedern“, die vor allem ab 1935 allmählich immer mehr verfasst wurden und besonders für den Gebrauch in nationalsozialistischen Feiern gedacht waren.227 Die in diesen Texten enthaltenen „Glaubensbekenntnisse“ an beispielsweise „Führer“, „Volk“ und „Vaterland“ lassen sich in diesem Zusammenhang auch als sprachliche Handlungen verstehen: Im Rezitieren oder Singen dieser Verse nimmt der Sprecher ganz eindeutig ideologische Stellung.

Außerdem lässt sich der performative Charakter des nationalsozialistischen Gedichtes auch mit seiner propagandistischen oder „Appellfunktion“ verbinden. Die NS-Lyrik ruft zum expliziten Bekenntnis oder zur aktiven Teilnahme am Kampf auf, weil diese Lyrik als Produkt der vom französischen Philosophen Louis Althusser so genannten „ideologischen Staatsapparate“ zu verstehen ist: „Ein ideologischer Staatsapparat ist jedes der Systeme, die die materielle – zugleich theoretische wie praktische – Realität der herrschenden Ideologien bilden“.228 Genauso wie beispielsweise die religiösen, schulischen oder politischen ideologischen Staatsapparate reproduziere auch ein kultureller ideologischer

224 Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich, 295-298. 225 Helmuth Langenbucher: Die deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit. Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag 1939, 191. 226 Vgl. John Langshaw Austin: Zur Theorie der Sprechakte: how to do things with words. Stuttgart: Reclam 1972, 7-20. 227 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 117-118. 228 Saül Karsz: Theorie und Politik: Louis Althusser. Frankfurt am Main: Ullstein 1975, 235.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Staatsapparat, der im nationalsozialistischen Regime von der Reichskulturkammer gelenkt wird, die materielle Realität der herrschenden – also in diesem Kontext nationalsozialistischen – Ideologie. Durch einen Mechanismus der Konditionierung, den Athusser als „Anrufung“ bezeichnet, konstituieren sich die individuellen Subjekte, die außerdem als „gesellschaftlich Handelnde“ zu verstehen sind, in den und durch die ideologischen Staatsapparate.229 Die verschiedenen ideologischen Staatsapparate gewährleisten die Einheit der herrschenden – nationalsozialistischen – Ideologie, indem ihre „Verschiedenartigkeit […] aus der Spezialisierung ein und derselben herrschenden Ideologie in relativ autonomen Bereichen“230 resultiert: „Die Apelle, die von Familie, Schule, Gewerkschaft, Presse und Sport an das Individuum-Subjekt ergehen, sind in Wirklichkeit ein ununterbrochener Apell“.231 Das heroisierte Ideal und die nationalsozialistische Idee des Kollektivs sind daher nicht nur wichtige Themen des nationalsozialistischen Gemeinschaftsliedes, sondern lassen sich auch in anderen literarischen Gattungen sowie in politischen Massenveranstaltungen oder in der schulischen Erziehung finden.

In den verschiedenen Etappen der nationalsozialistischen Bewegung nahm das nationalsozialistische Gemeinschaftslied zudem unterschiedliche Formen an. So wären laut Alexander von Bormanns vorgetragener Skizze einer historischen Typologie drei Liedarten zu unterscheiden. In der der nationalsozialistischen Machtübernahme vorangehenden „Kampfzeit“232 überwog das sogenannte „Sturm- und Kampflied“, während sich nach der Machteinsetzung Hitlers 1933 das „Feier- und Bekenntnislied“ durchsetzte. Im Vorfeld und während des Krieges habe dann wieder das „Marschlied“ geherrscht.233 Die Gedichte im vorliegenden Korpus sind alle zwischen 1930 und 1936, also gerade am Ende der sogenannten „Kampfzeit“ und in den Anfangsjahren des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland, entstanden und lassen sich im Großen und Ganzen den zwei letzten Kategorien zuordnen: das Marsch- oder Soldatenlied und die Feier- und Weihedichtung. Bereits die Bezeichnung der beiden Kategorien lässt ihren symptomatischen Charakter innerhalb der totalitären Struktur des „Dritten Reiches“, die auf Gemeinschaftsbildung gerichtet ist, erkennen. Während das gemeinschaftsbildende Element der Marsch- und Soldatenlieder sich in erster Linie auf formaler Ebene befindet, versucht der der Feier- und Weihedichtung inhärente Bekenntnischarakter die Gemeinschaft inhaltlich und sprachlich zu etablieren.

229 Vgl. ebd., 240-241. 230 Vgl. ebd., 246. 231 Vgl. ebd. 232 So bezeichneten die Nationalsozialisten die Zeit des Aufstiegs der NSDAP von 1918 bis 1933. Vgl. „Kampfzeit“ in Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin: Walter de Gruyter 2000, 347. 233 Vgl. von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied, 269.

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Die nationalsozialistische Lyrik

Die Marsch- und Soldatenlieder kennzeichnen sich durch eine starke Rhythmisierung, durch die sich die Texte leicht skandieren lassen. Viele dieser Texte wurden außerdem vertont. Die Melodie lädt nicht nur zum gemeinsamen Singen, sondern auch zum Marschieren ein. Dabei hat dieses Marschieren laut Ketelsen keinerlei verkehrspraktische Bedeutung, sondern betont einfach die antiindividualistische Form des Liedes.234 Das gemeinsame Singen und die starke Rhythmisierung tragen besonders zur Gemeinschaftsbildung bei. Inhaltlich referieren die Texte stichwortartig auf die nationalsozialistische Ideologie, als Hauptthema des Marschliedes nennt von Bormann die ideologische Verallgemeinerung, die das Soldatsein als vorbildliche Haltung schlechthin gefunden hat.235 Obwohl laut von Bormanns historischer Typologie die Marsch- und Soldatenlieder erst im direkten Vorfeld des Krieges, also Ende der 1930er Jahre, blühten, behauptet Alfred Roth und beweist auch das vorliegende Korpus, dass die dritte Entwicklungsphase des nationalsozialistischen Massenliedes in der Form des nationalsozialistischen Soldatenliedes schon viel früher einsetzt.236 Allerdings soll hier angemerkt werden, dass es bei Anackers, Schumanns und Menzels Marsch- und Soldatenliedern in den drei gewählten Gedichtbänden vielleicht eher um eine Mischform zwischen dem älteren Kampflied und dem neuen auf den Krieg orientierten Marsch- und Soldatenlied geht. Einerseits gedenken die Marsch- und Soldatenlieder in diesem Korpus sowohl der „Kampfzeit“ der Bewegung, indem die Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg und diejenigen, die in den 1920er Jahren für die Bewegung gestorben sind, als wahre „Märtyrer“ dargestellt werden. Andererseits wird der Soldatentod als Helden- oder auch Märtyrertod bereits als Vorbild für die Kampfbereitschaft in einem zukünftigen Krieg aufgewertet. Obwohl sich diese Texte mit Wörtern wie ‚ziehen‘, ‚Soldat‘, ‚Kampf‘ und Fahnen- und Trommelmetaphern durch einen militärischen Diskurs kennzeichnen, lässt sich in der Märtyrerstilisierung der bereits verstorbenen „Gefallenen der Bewegung“ und im Aufruf zur zukünftigen Opferbereitschaft für „Führer“ und Vaterland auch einen auffälligen religiösen Diskurs entdecken.

Neben der aggressiven und militärischen Marschlyrik lässt sich auch eine ‚sanftere‘ erkennen, die vor allem nach 1933 und als Feier- und Weihedichtung blühte. Diese Texte dienen der Stabilisierung des weltanschaulichen Horizontes der Gesinnungsgenossen und beabsichtigen die Formulierung eines Bekenntnisses,237 weshalb sie auch als ‚Bekenntnislieder‘ bezeichnet werden. Genauso wie im Falle der Marschlieder zielt die Feierdichtung auf die Etablierung einer Gemeinschaft. Diese offenbart sich aber nicht als marschierende Kolonne, sondern als „feiernde Gemeinde“,238 die das „Bekenntnis“

234 Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich, 295. 235 Vgl. von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied, 272. 236 Vgl. Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion, 45. 237 Vgl. Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich, 300. 238 Vgl. ebd.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen gemeinsam rezitiert oder singt. Bereits in seiner Dissertation hat Klaus Vondung auf die auffälligen Ähnlichkeiten zwischen der nationalsozialistischen Feierfolge und dem Aufbau eines evangelischen Predigtgottesdiensts hingewiesen.239 Nicht nur habe die nationalsozialistische Feier die dreiteilige Liturgie übernommen, die „Weihedichtung“ übernimmt zudem die Funktion liturgischer Texte.240 Da wo im evangelischen Gottesdienst Gott gelobt wird, wird in der nationalsozialistischen Feier ein Bekenntnis zum „Führer“, zum Vaterland oder auch zur Fahne ausgesprochen. Die Feier- oder Weihedichtung etabliert sich zudem als Gelegenheitsdichtung, verfasst für bestimmte Feiern oder Gedenktage. So gibt es zahlreiche Gedichte, die zum Gedenken der nationalsozialistischen Machtübernahme oder als Erinnerung an die Gefallenen beim misslungenen Putschversuch im Jahre 1923, zur säkularisierten Umdeutung ursprünglich christlicher Feiern wie Weihnachten oder Ostern oder zum Geburtstag des „Führers“ verfasst worden sind. Besonders letztere Gelegenheitsgedichte gestalteten eine wahre „Führerhymnik“, die Günter Scholdt als eine „Ansammlung von Hitler verherrlichenden lyrischen Produkten, deren Verfasser Legion und deren Wirkungen vermutlich verheerend waren“, definiert.241

Trotz des Auftragscharakters ihrer Dichtung haben sich die nationalsozialistischen Dichter, von denen viele auch einen germanistischen Hintergrund hatten,242 mit ihren Gedichten in der lyrischen Tradition positioniert. Obwohl Hitler, die RKK und RSK bis auf einige inhaltliche Präferenzen keine näheren Ausführungsbestimmungen festlegten, wurde der Rückgriff auf die klassische Tradition schon empfohlen. Beispielsweise hinsichtlich der Bereiche der Plastik und Architektur wurde das „Schönheitsideal der antiken Völker und Staaten“ mit Nachdruck hervorgehoben.243 Noch in seiner „Kulturrede“ im Jahre 1933 führte Hitler aus:

Und es ist daher kein Wunder, daß jedes politisch heroische Zeitalter in seiner Kunst sofort die Brücke sucht zu einer nicht minder heroischen Vergangenheit. Griechen und Römer werden dann plötzlich den Germanen so nahe, weil alle ihre Wurzeln in einer Urrasse zu

239 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 117-118. 240 Vgl. Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich, 44. 241 Günter Scholdt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919-1945 und ihr Bild vom „Führer“. Bonn: Bouvier 1993, 49. 242 Heinrich Anacker besuchte im Wintersemester 1921 an der Universität Zürich einige Vorlesungen in Literatur und Philosophie, unterbrach sein Studium aber bereits im Sommersemester 1922. Auch Schumann stellte sein im Jahre 1930 begonnenes Studium der Fächer Germanistik, Philosophie, Geschichte und Anglistik an der Universität Tübingen ohne Abschluss ein. Vgl. Verena Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. Bd. 2. Hg. v. Rolf Düsterberg. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2011, 25; Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 77. 243 Hartung: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik, 241.

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Die nationalsozialistische Lyrik

suchen haben. […] Da es besser ist, Gutes nachzuahmen, als neues Schlechtes zu produzieren, können die vorliegenden intuitiven Schöpfungen dieser Völker heute als Stil ohne Zweifel ihre erziehende und führende Mission erfüllen.244

Gerade in der Nachahmung der Ode und des Sonetts zeigt sich auch für die Lyrik einen bewussten Rückkehr zu Gedichtformen aus dem antiken Formenkanon. Laut Hartung hat Hitler vor allem deswegen einen bewussten Klassizismus empfohlen, weil er seinen Künstlern Traditionswerte vorlegen wollte, die die Positivität seiner Kulturpolitik betonten und diese auch explizit in Gegensatz zur vorausgegangen Epoche stellen wollte.245 Die Oden auf den „Führer“ oder die vaterländischen Hymnen, die im Rahmen der Feier- und Weihedichtung verfasst wurden, stellen in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung der antiken Tradition panegyrischer Lyrik, zu der das „Loblied“ oder die „Lobrede“ gerechnet wird, dar. In der Antike bedeutete das vom griechisch abgeleiteten Substantiv „panegyrikos“ ein „Werk der Redekunst oder Dichtkunst, das seinen Gegenstand mit lobender Intention vorstellt“.246 Heutzutage wird das eher gebrauchte Adjektiv „panegyrisch“ für jede Form preisender Dichtung – oft auch pejorativ gemeint – verwendet. Vor allem seit der Etablierung des Absolutismus in den deutschen Territorialstaaten im 17. Jahrhundert sei die den Herrscher unterstützende Panegyrik in eine Legitimationskrise geraten, denn der Dichter wurde zu einem „ökomisch potenten“ Bürger, der seinen Herrscher auf Bestellung huldigte. Gerade dieses staatlich geförderte Herrscherlob lässt sich auch im Personenkult diktatorischer Regime im 20 Jahrhundert, wie dem Nationalsozialismus verfolgen.247

Sowohl Mosse als auch Vondung merken an, dass die Nationalsozialisten in ihrer Textproduktion nicht nur auf das klassische Ideal zurückgreifen, sondern auch formale und inhaltliche Elemente aus der christlichen Liturgie adaptieren.248 So ahmen die Nationalsozialisten mit den sogenannten „Bekenntnisliedern“ laut Vondung mehr als nur den liturgischen Gesang, sondern eine ganze musikalische Gattung nach, und zwar das Gemeindelied, das sich seit der Reformation zu einem festen Bestandteil der Liturgie entwickelt hat. Vondung betrachtet das nationalsozialistische „Bekenntnislied“ sowohl wegen seines formalen Charakters als auch seiner Funktion innerhalb der

244 Hitler zit. in ebd. 245 Vgl. ebd. 246 Vgl. „Panegyrikos“ in Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2003, 5. 247 Vgl. „Panegyrikos“ in ebd., 6-7. 248 Vgl. Mosse: The Nationalization of the Masses, 33; Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 114.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen nationalsozialistischen „Liturgie“ als die genaue Parallele zum gottesdienstlichen Gemeindelied.249

1.4 Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel – Dichter der Jungen Mannschaft

Der Fokus der literarischen Analyse richtet sich auf die Funktion des religiösen Diskurses in der affirmativen NS-Dichtung. Zu diesem Zweck wird der religiöse Diskurs in drei frühen Gedichtbänden der Autoren Heinrich Anacker (1901-1971), Gerhard Schumann (1911-1995) und Herybert Menzel (1906-1945) untersucht.250 Warum diese drei Dichter und ihre Lyrik als repräsentativ für die nationalsozialistische Dichtung im Allgemeinen gelten, wird im Folgenden erklärt. Darüber hinaus wird auch ihr Verhältnis als NS-Dichter zur – christlichen – Religion kurz erläutert.

1.4.1 Dichter der Jungen Mannschaft

Die Lyrik von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel gilt als repräsentativ für die Lyrik zahlreicher Autoren, die ihre „schriftstellerischen Talente“ in den 1930er Jahren in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes stellten und deren Namen nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten sind. Genauso wie Dichter wie etwa Hans Baumann, Herbert Böhme, Eberhard Wolfgang Möller und der Reichsjugendführer Baldur von Schirach waren auch Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel damals bekannte Persönlichkeiten.251 Diese Autoren gehörten zu der sogenannten „Jungen Mannschaft“, einer Gruppe genuin nationalsozialistischer Autoren, die sich seit dem Ende der 1920er Jahre bildete.252 Zu dieser „Jungen Mannschaft“ gehörten zahlreiche junge Dichter, die zwischen 1900 und 1912 geboren wurden253 und meistens schon vor der Machtübernahme der NSDAP und deren

249 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 118. 250 Die drei erforschten Gedichtbände entstammen der Anfangszeit des NS-Regimes: Schumann: Die Lieder vom Reich, 1935, Anacker: Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung, Erstausgabe 1933 und Menzel: Gedichte der Kameradschaft, 1936. All die in diesen drei Gedichtbänden aufgenommenen Gedichte wurden zwischen 1930 und 1936 verfasst und manchmal bereits vorher anderswo publiziert. Den in der Analyse zitierten Gedichte folgt in Klammern die Referenz auf die hier erwähnten Gedichtbände, und zwar die Initialen des jeweiligen Autors (HA, GS oder HM) und die Seitenangabe. Wenn nicht das Gesamtgedicht zitiert wird, folgt nach der Seitenangabe noch die Referenz auf die jeweiligen Verszeilen. 251 Ein Forschungsaufenthalt am Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach am Neckar ergab zahlreiche Artikel über diese und andere NS-Autoren. Zeitungen wie der Völkische Beobachter, die Berliner Illustrierte, das Hamburger Tageblatt und viele mehr veröffentlichten nicht nur eine Vielzahl ihrer Gedichte, sondern berichteten auch über die Literaturpreise, über Dichterlesungen bei öffentlichen Veranstaltungen oder im Radio oder warben für neue Anthologien. 252 Vgl. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890-1945, 65. 253 Vgl. Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich. Versuch einer Darstellung in polemisch-didaktischer Absicht, 109.

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Die nationalsozialistische Lyrik

Organisationen wie der (SA) angehörten.254 Obwohl die meisten von ihnen bereits in den 1920er Jahren ihre ersten Gedichte verfassten, erlebten sie erst Erfolg, als sie ihre literarische Produktion zur Verarbeitung und Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie einsetzten. Diese Dichter verfassten parteikonforme Lyrik wie politische Kampflyrik und Marschlieder sowie Gelegenheitslyrik anlässlich nationalsozialistischer Feiertage.

Ihre Texte waren, wie bereits oben im Rahmen der „dienenden“ Funktion der Lyrik erwähnt, nicht zur „besinnlichen Einzellektüre des Einzellesers“ da.255 Damit ihre Lyrik ein möglichst breites Publikum – also die „Masse“ – erreichen konnte, wurden ihre Gedichte in Zeitungen abgedruckt, an Dichterabenden rezitiert oder nach Vertonung auch als Marschlieder oder bei offiziellen Veranstaltungen gesungen.256 Darüber hinaus strahlte der Rundfunk diese politische Dichtung ab 1933 im gesamten Deutschen Reich aus.257 Während der politische Inhalt dieser Dichtung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer literaturwissenschaftlichen Vernachlässigung geführt hat, haben zeitgenössische Germanisten diese Dichter gerade wegen ihres politischen Engagements gepriesen. So kommentierte Langenbucher den „Auftrag“ des Dichters wiederholt im Rahmen des aus nationalsozialistischer Perspektive geänderten Werts der Lyrik. Genauso wie die Lyrik der Auffassung Hitlers nach der „sittlichen Staats- und Kulturidee“ zu dienen hat,258 empfängt auch der Dichter seinen dichterischen „Auftrag“ aus seiner Dienstbarkeit seinem Volke gegenüber: „Erfüllt er diese Forderung nicht, geht von dem Gehalt seiner Dichtung keine aufbauende Wirkung auf das Leben der Volksgemeinschaft aus, so verliert diese für uns an Bedeutung, auch wenn sie formal noch so vollendet ist“.259 Auch Heinz Kindermann weist auf die Bedeutung des Volkes und der Nation als wichtige Voraussetzungen der „wahrhaften Dichtung“ seiner Zeit: „Schrifttum, das sich national indifferent oder bewußt international erweist, ist für den Blutkreislauf der Nation bedeutungslos und schädlich“.260 Der Dichter werde so „zum Gewissen seines Volkes“ und erfülle damit einen „priesterlichen Beruf“, indem er als „Mittler zwischen der Volkheit und dem Einzelnen“ fungiere und so die „große Gemeinschafts- und Erzieher-Aufgabe des Dichters“

254 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 96. 255 Vgl. Schöne: Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur, 263. 256 So wurde beispielsweise Menzels Gedicht „In unsern Fahnen lodert Gott“ als einleitende Kantate für die Totenfeier zum 9. November 1938 des NSDAP-Kreises Lünen benutzt. Vgl. Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 456. 257 Das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) in Frankfurt am Main enthält noch eine beträchtliche Anzahl von Tonbändern aus der Zeit des nationalsozialistischen Rundfunks. 258 Vgl. Hitler: Mein Kampf, 279. 259 Langenbucher: Die deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit, 9-10. 260 Heinz Kindermann: Dichtung und Volkheit. Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag 1937, 1.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

übernehme.261 Laut Langenbucher erheben sich die Dichter so zu „Sehern und geistigen Führern der Volksgemeinschaft“262 und empfangen ihre hohen Würden als berufene „Bewahrer der höchsten Lebenswerte, der ewigen Lebensgesetze und der großen ‚göttlichen Gestaltungsgedanken‘ seines Volkes“.263 Indem der Dichter mit seinem Werk der „nationalen Erfahrung“ diene, werde er Kindermann zufolge „zum Seher und Künder seines Volkes“.264

Auch Anacker, Schumann und Menzel, die aus verschiedenen Ecken des Deutschen Reiches kamen, passten in dieser Reihe politisch engagierter Schriftsteller. So wurde Anacker 1901 als Sohn einer deutsch-schweizerischen Mutter und eines Thüringer Vaters in Aarau in der Schweiz geboren. Während seines Studiums in Zürich und Wien Anfang der 1920er Jahre lernte er die Ideen der lokalen NS-Abteilungen kennen und bereits 1924 trat er der NSDAP und der SA bei. Nachdem er 1928 nach Deutschland gezogen war, verzichtete er letztendlich im Jahre 1939 freiwillig auf die Schweizer Staatsangehörigkeit.265 Gerhard Schumann wurde 1911 im Baden-Württembergischen Esslingen am Neckar als Sohn eines Lehrers – und Ausbilder von Lehrern – und einer musisch begabten Mutter geboren. In diesem von Musik und Literatur erfüllten Haushalt entwickelte sich Schumann zu einer Kunst liebenden und an Politik interessierten Person.266 Während seiner Studienzeit in Tübingen lernte er die nationalsozialistische Bewegung kennen, wonach er im Jahre 1930 der NSDAP und im Jahre 1931 der SA beitrat.267 Im Jahre 1906 wurde Herbert Menzel, der sich erst später Herybert nannte, in Obornik/Posen geboren, einer Region, die im Laufe der Geschichte schon mehrmals Gegenstand der Gebietsumverteilung gewesen war. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags im Jahre 1919 wurde das ehemalige deutsche Gebiet dem restaurierten Polen zugeschrieben. Dieser Verlust der Heimat hat den jungen Menzel stark geprägt und wurde zu einem zentralen Thema in seinem literarischen Werk.268 1932 trat er der lokalen Ortsgruppe der NSDAP in Tirschtiegel bei.269

261 Vgl. ebd., 12-13. 262 Langenbucher: Die deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit, 9. 263 Ebd., 13. 264 Heinz Kindermann: Des deutschen Dichter Sendung in der Gegenwart. Leipzig: Philipp Reclam 1933, 9. 265 Vgl. Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“, 25-26. 266 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 42-43. 267 Jan Bartels: Gerhard Schumann – der „nationale Sozialist“. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 10 Autorenporträts. Bd. 1. Hg. v. Rolf Düsterberg. Bielefeld: Aisthesis 2009, 266. 268 Vgl. Rolf Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. Bd. 2. Hg. v. Rolf Düsterberg. Bielefeld: Aisthesis 2011, 144. 269 Vgl. ebd., 155.

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Die nationalsozialistische Lyrik

Wie die meisten Autoren der Jungen Mannschaft verfassten diese drei Dichter bereits in den 1920er Jahren ihre ersten literarischen Werke. So hat Anacker bis zum Jahre 1931 bereits sieben Gedichtbände veröffentlicht, die hauptsächlich wenig innovative Natur- und Liebesgedichte befassten.270 Am Ende der 1920er Jahre hat auch Schumann seine ersten Gedichte veröffentlicht, zu dem Zeitpunkt noch in Zeitschriften und Anthologien. Auch hatte er schon einige Volkszenen und zwei Dramen, die damals unveröffentlicht blieben, geschrieben.271 Bereits 1926 erschien Menzels erster Gedichtband, dem im Jahre 1930 noch ein zweiter folgte. Im selben Jahr erschien auch sein erster und im Jahre 1929 geschriebener Roman mit dem Titel Umstrittene Erde, der bis 1943 mehrere Auflagen mit insgesamt mindestens 56 000 Exemplaren erlebte.272 Ihren großen literarischen Erfolg erlebten die Autoren erst nach der Machtübernahme im Jahre 1933, indem sie ihre Lyrik auch freiwillig in den Dienst des Nationalsozialismus stellten und in der nationalsozialistischen Kulturbürokratie Karriere machten. Außerdem empfingen sowohl Anacker, Schumann als auch Menzel verschiedene literarische Preise für ihre Dichtung.273

1.4.2 NS-Dichter und ihr Verhältnis zur Religion

Im Rahmen der in dieser Arbeit beabsichtigten Analyse des religiösen Diskurses in der Dichtung von Anacker, Schumann und Menzel soll kurz auf das persönliche Verhältnis dieser Dichter zur – christlichen – Religion eingegangen werden. Für Heinrich Anacker lässt sich diese Frage aber schwierig klären, da einfach kaum Informationen zu seiner Religionszugehörigkeit oder zu der seiner Eltern vorhanden sind. Paul Gerhardt Dippel, der 1937 eine Biographie Anackers in seiner Reihe Künder und Kämpfer vorlegte, spricht mit keinem Wort über Anackers religiösen Hintergrund und auch Verena Schulz, die erst vor zehn Jahren ein Autorenportrait des Dichters verfasste, hat keine Informationen zu Anackers religiösen Überzeugungen hinzuzufügen.274 Der einzige Beweis dafür, dass Anacker dem Religiösen nicht unbedingt abgeneigt war, bietet der Fragebogen für alle

270 Vgl. Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“, 23. 271 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 75. 272 Vgl. Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 148. 273 Da die Dichtung von Anacker, Schumann und Menzel als exemplarisch für die nationalsozialistische Dichtung im Allgemeinen gilt und ihre individuellen Biographien für die literarische Analyse nicht ausschlaggebend sind, wird hier auf weitere Angaben zu ihren persönlichen Leben verzichtet. Für weitere Informationen über das Leben und Wirken Heinrich Anackers verweise ich auf Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“, 21-40 und Paul Gerhardt Dippel: Heinrich Anacker. München: Deutscher Volksverlag 1937, aus der Reihe Künder und Kämpfer herausgegeben von Paul Gerhardt Dippel. Genaueres zur Biographie Gerhard Schumanns bietet Simone Bautz mit ihrer umfangreichen Dissertation Gerhard Schumann – Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors. Weitere Informationen über das Leben und Werk Herybert Menzels findet man in Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 143-173 und Gerhard Schilde: Herybert Menzel. München: Deutscher Volksverlag 1938, ebenfalls aus der Reihe Künder und Kämpfer. 274 Vgl. Dippel: Heinrich Anacker Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“, 21-40.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Mitglieder der NSDAP, indem Anacker als seine religiöse Überzeugung „gottgläubig“275 andeutete.276 Auch bezüglich Herybert Menzels religiöser Überzeugung sind nur geringe Informationen vorhanden. Man weiß, dass er evangelisch getauft wurde und bis zum neunten Lebensjahr die evangelische Volksschule in Tirschtiegel besuchte.277 Außerdem zeugt Menzel selber davon, wie er über seine Großeltern mütterlicherseits mit der gelebten Praxis der evangelischen Religion in Kontakt kam. Er beschrieb seinen Großvater als einen ernsten und frommen Mann, der zur ersten Garbe betete und täglich die Bibel las. Seine Großmutter schrieb ihm und den anderen Enkeln in Briefen ihrer Meinung nach passende Gesangbuchverse und Bibelsprüche.278 Wie Menzel in seinem erwachsenen Leben der evangelischen Religion gegenüberstand, ist weiter nicht belegt. Es steht aber fest, dass er mit der biblischen Bildlichkeit vertraut gewesen sein soll.

Über Gerhard Schumanns Verhältnis zur Religion als überzeugter Nationalsozialist ist unter anderem wegen seiner in den 1970er Jahren erschienenen Autobiographie Besinnung. Von Kunst und Leben (1974) mehr Informationen vorhanden. In Schumanns Elternhaus war die Religion von großer Bedeutung. Seine Mutter war die Enkeltochter eines evangelischen Pfarrers und Gerhard besuchte vom 15. bis zum 19. Lebensjahr die Internaten der evangelisch-theologischen Seminare in Schöntal und Urach.279 Seine religiösen Ansichten verhinderten einen Eintritt in die nationalsozialistische Partei aber nicht. Laut Baird war Schumann sogar davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus und das Christentum denselben Kampf führten und deswegen zusammenschmelzen konnten. Er teilte diese Überzeugung sowohl mit seinen Freunden als auch mit Theologen und anderen Akademikern in Tübingen:

Christentum und Nationaler Sozialismus, wie wir ihn verstanden, wurden von mir und meinen jungen Freunden in jenen Jahren keinesfalls als unüberbrückbare Gegensätze, sondern als Pole fruchtbarer lebensspendender Spannung empfunden.280

Alle sehnten sich nach einer spirituellen und politischen Erneuerung, die sich in der Verwirklichung des kommenden Reiches zeigen wurde.281 Schumann hatte aber laut Baird

275 Seit dem 26. November 1936 wurde die Bezeichnung „gottgläubig“ anstelle der Ausdrücke „Dissident“ oder „konfessionslos“ offiziell zur Angabe der Religionszugehörigkeit derjenigen, die aus den christlichen Kirchen ausgetreten waren, vorgeschrieben. Vgl. „gottgläubig“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 281-282. 276 Anackers Fragebogen der NSDAP wird im Bundesarchiv in Berlin aufbewahrt: Bestandssignatur R/9361/I. 277 Vgl. Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 144-146. 278 Vgl. Schilde: Herybert Menzel, 4. 279 Vgl. Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung, 44; Bartels: Gerhard Schumann – der „nationale Sozialist“, 262; Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 44; 61. 280 Gerhard Schumann: Besinnung von Kunst und Leben. Bodman, Bodensee: Hohenstaufen Verlag 1974, 130. 281 Vgl. Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 136.

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Die nationalsozialistische Lyrik nicht unbedingt das auf Rassenelitismus basierte „Dritte Reich“ von Adolf Hitler vor Augen:

Instead, he wanted the mystical conception of the Reich that stretched over thirteen centuries, from the days of Charlemagne and the Hohenstaufen emperors. Schumann conceived of the Continent united not under German dictatorship but under German political, cultural and moral suasion.282

Mit dieser Reichsvorstellung gingen Schumann und sein Bekanntenkreis weit über die Ideen der nationalsozialistischen Partei hinaus. Es ist jedoch aus heutiger Sicht kaum nachzuvollziehen, inwiefern Autoren wie Schumann die nationalsozialistische Ideologie tatsächlich in all ihren Facetten wohl oder nicht verinnerlicht haben. Allerdings soll Schumann in Hitler schon einen Führer, der diese Reichsidee zu Stande bringen konnte, gesehen haben.283 Schumann erklärte später in seiner Autobiographie, dass Adolf Hitler für ihn zur Zeit „der gottgesandte Führer und Retter des Reichs“284 war. Die Anwesenheit von sowohl christlichen als auch nationalsozialistischen Symbolen an seiner Hochzeit mit Margarethe Hausser bedeuteten zu dem Zeitpunkt auch keine Inkongruenz.285 Sein religiöses Engagement,286 das er mit seinem Wiedereintritt in die evangelische Kirche im Jahre 1946 betonte, hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sogar dazu geführt, dass er als „Minderbelasteter“ eingestuft wurde. Der Theologie-Professor Helmuth Thielicke kam in seiner Beurteilung zum Schluss, dass die „politische Dichtung innerhalb seines Gesamtwerkes nur einen relativ kleinen Platz einnahm. Aufs Ganze gesehen ist es eine metaphysische und sehr stark religiöse Dichtung“.287 Obwohl Schumanns Dichtung tatsächlich metaphysische und religiöse Züge aufweist, sei es aber ein vorschnelles Urteil zu behaupten, dass sie deswegen nicht als politisch zu betrachten sei. Denn, wie auch die mehrdimensionale Auffassung des Nationalsozialismus als politischer Religion und die Anekdote über nationalsozialistische und christliche Symbolik an Schumanns Hochzeit zeigen, schließen sich Religion und Politik nicht unbedingt gegenseitig aus. Es ist sogar genau die tatsächliche Verflechtung von (christlicher) Religion und (nationalsozialistischer) Ideologie in seiner Dichtung, und dann besonders die Konzeptualisierung dieses neuen – dritten – Reiches als spiritueller und politischer Idee, die in dieser Arbeit untersucht wird.

282 Ebd., 134. 283 Vgl. ebd. 284 Schumann: Besinnung von Kunst und Leben, 144. 285 Vgl. Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 136. 286 Bartels: Gerhard Schumann – der „nationale Sozialist“, 284. 287 Zit. in ebd., 284-286.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

2. Methodologische Überlegungen – Ideologiekritische Interpretationsansätze

Diese auffällige Verflechtung von religiösem und politischem Diskurs in der nationalsozialistischen Dichtung veranlasste Klaus Vondung bereits im Jahre 1997 zur Behauptung, dass die Literaturwissenschaft, wenn sie sich mit der Interpretation nationalsozialistischer Propagandadichtung beschäftigt, eher als „Literaturtheologie“ erscheine.288 Außerdem bedienten sich nicht nur die NS-Dichter eines religiösen Diskurses in ihrer Dichtung, sondern auch Germanisten und Literaturwissenschaftler im „Dritten Reich“ übernahmen den religiösen Diskurs in der Beschreibung und Bewertung der zeitgenössischen Dichtung. Zur Illustration zieht diese Arbeit hier die zusammenfassende Übersicht von Vondung selbst heran:

Walther Linden, zum Beispiel, sieht in Dietrich Eckarts Werk „eine neue religiöse Haltung“, in Heinrich Anackers Gedichten „ein gläubiges religiöses Gefühl“; in einem Gedicht Baldur von Schirachs werde „das Politische mit einer fast überstarken Kraft ins Religiöse umgedeutet.“ Herbert Böhme, Gerhard Schumann und andere junge nationalsozialistische Schriftsteller seien durch „religiösen Drang“, „religiöses Weltgefühl“ und „religiöse Gesinnung“ gekennzeichnet, vor allem aber durch die „innige Verschmelzung des Religiösen und Völkischen“. Erich Trunz behauptet, die Arbeiterdichter, die sich zum Nationalsozialismus bekehrt haben, hatten eine „neue religiöse Beseelung“ in die Dichtung gebracht. Heinz Kindermann postuliert, die Grundlage wahrer deutscher Dichtung müsse eine „volkhafte Religiosität“ sein. Und Hans Naumann forderte in seiner Ansprache zur Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Bonn: „Wir wollen ein Schrifttum, dem Familie und Heimat, Volk und Blut, das ganze Dasein der frommen Bindungen wieder heilig ist.“289

Vondung weist darauf hin, dass man an solche Sprache in der Literaturwissenschaft nicht gewöhnt sei. Diese Germanisten verwenden für ihre Interpretationen keine eigentlich literaturwissenschaftlichen Kategorien sondern „einen Diskurs von offenkundig religiösem Charakter“ mit dem Zweck, dieser „artgemäßen deutschen Dichtung“ eine religiöse Qualität zuzuschreiben.290 Auf diese Weise erhebt dieser religiöse Diskurs die Literatur von der profanen Ebene in einen geheiligten Bereich, wodurch ihre Inhalte als heilig erklärt werden und die Texte selber als „heilige Texte“ erscheinen. Gerade weil diese Texte als „heilige Texte“ gelten und in dem Sinne „Offenbarung“ oder religiöse Erlebnisse

288 Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich, 39. 289 Die nationalsozialistischen Germanisten Walther Linden, Erich Trunz, Heinz Kindermann und Hans Naumann zit. in ebd., 38. 290 Ebd.

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Die nationalsozialistische Lyrik verschriftlichen, solle der Literaturwissenschaftler laut Vondung die Rolle der Theologen einnehmen.291

Obwohl die Inhalte der Erlebnisse, die in dieser Dichtung wiedergegeben werden und an die die Dichter glauben und die Leser glauben sollen, für die nationalsozialistische „Literaturtheologie“ als eine „religiöse Doktrin“ zu betrachten seien, werden sie üblicherweise als Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie charakterisiert.292 Da Vondungs Perspektive aber keine herausgearbeitete Methode zur Interpretation des religiösen Diskurses in nationalsozialistischer Dichtung darstellt, bevorzugt diese Arbeit eine ideologiekritische Herangehensweise, die Vondungs theoretische „literaturtheologische“ Überlegungen und die jahrzehntelange Diskussion über den Nationalsozialismus als eine politische Religion berücksichtigt. Um die Struktur und die Wirkung des religiösen Diskurses auf grammatisch-syntaktische, lexikalisch-semantische und thematisch-narrative Ebene zu entziffern, schlägt diese Arbeit eine Verbindung zwischen dem werkimmanenten Ansatz des Close readings mit dem literatursoziologischen Ansatz der Textsoziologie von Peter Zima vor.

2.1 Die werkimmanente Textinterpretation des Close readings

Das Grundprinzip einer literarischen Analyse umfasst in erster Linie das (wiederholte) Lesen eines Textes. Diese Grundthese steht auch im traditionellen Analyseverfahren des Close readings zentral. Close reading wird im Englischen auch „explication“ genannt, ein Wort, das auf das lateinische Verb für „entfalten“ oder „auffalten“ („to unfold“) zurückgeht und sei als eine gründliche Analyse von Gedichten oder kurzen Prosapassagen zu definieren:293

Explication unfolds the text’s meaning in relation to its formal and structural elements; it allows you the student – and indeed any reader – to examine the language and structure of a work as a function of its content, i.e., of the ideas, images or emotions it expresses.294

Die Analyse der vorliegenden Arbeit setzt sich zum Ziel, die religiöse Dimension in der Propagandalyrik von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel zu „entfalten“. Sie untersucht dabei sowohl die Säkularisierung oder Profanierung des religiösen Diskurses als auch die Sakralisierung wichtiger ideologischer Kernkonzepte des Nationalsozialismus, denen so ein geheiligter Stellenwert zukommt. Obwohl das Close reading im Grunde Gründlichkeit anstrebt, wird das Hauptinteresse der „Entfaltung“ der religiösen Dimension gelten, was in diesem Zusammenhang die Analyse des religiösen

291 Vgl. ebd., 39. 292 Ebd., 40. 293 Vgl. Elisabeth A. Howe: Close Reading. An Introduction to Literature. Boston: Longman 2010, 3. 294 Ebd.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Diskurses im vorliegenden Korpus bedeutet. In dieser Hinsicht ist das Ziel des Close readings schon von vornherein „strategisch“ bestimmt. Ich verweise hier auf Gillis J. Dorleijn (2015), der das Gedicht als eine „Strategie“ beschreibt. Dorleijn beschreibt die „strategische Lektüre“ in zweierlei Hinsicht. Einerseits versucht die strategische Lektüre die Strategie des Schriftstellers – seine Positionierung, Profilierung oder Self-Fashioning295 – aufzudecken. Im Besonderen das Eröffnungsgedicht eines Gedichtbandes ist dabei von Interesse, weil dieses Gedicht als eine Handlung oder auch ein Statement des Schriftstellers betrachtet werden kann. Andererseits kann die strategische Lektüre auch den strategischen Charakter der Lektüre an sich bedeuten.296 Wenn der Leser ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, wie in der vorliegenden Arbeit die Erforschung des religiösen Diskurses in politisch inspirierter Lyrik, dann hat er schon für sich eine bestimmte Lektürestrategie ausgewählt.

Die für die vorliegende Arbeit gewählte nationalsozialistische Lyrik war im „Dritten Reich“ weitverbreitet und sie – und ihre Schriftsteller – wurde wegen ihres politischen Engagements vielfach gelobt. Gerade wegen des politischen Inhalts der Dichtung und des politischen Engagements der Schriftsteller wird sich diese Arbeit bei der literarischen Analyse dieser spezifischen Lyrik nicht auf eine werkimmanente Interpretation, die normalerweise ausschließlich auf immanente, also ästhetische, formale oder strukturelle Merkmale des Textes fokussiert, beschränken, sondern diese Texte auch im Lichte des historisch-politischen Kontextes und als dessen Produkt betrachten. Im Folgenden wird dann auch die sozioliterarische Herangehensweise der Textsoziologie herangeführt, um diese Lyrik durch eine ideologiekritische Brille zu betrachten.

2.2 Peter Zimas ideologiekritische Textsoziologie

Elisabeth Howes oben zitierte Definition weist auf die spezifische Untersuchung der Funktion der Sprache und Struktur eines Werkes im Zusammenhang mit dessen Inhalt als ein wichtiges Ziel des Close readings hin. Aber besonders die „nationalsozialistische Sprache“ in der politisch orientierten Lyrik der NS-Dichter bedarf an dieser Stelle weiterer Erklärung. Der nationalsozialistische Sprachgebrauch hat im Laufe der Jahrzehnte zu verschiedenen sprachkritischen Arbeiten Anlass gegeben, wobei sich quasi alle Forscher

295 Obwohl Dorleijn nicht explizit auf ihn verweist, übernimmt er mit „Self-Fashioning“ ein Begriff von Stephen Greenblatt, der damit ein Prozess der Identitätskonstruktion innerhalb einer gegebenen sozialen Situation bezeichnet. Auch die Literatur funktioniere innerhalb eines solchen Systems: Sie sei die Manifestation des konkreten Verhaltens ihres Autors, der Ausdruck der sozialen „Codes“, die dieses Verhalten gestalten, und sie reflektiere zugleich über gerade diese „Codes“. Vgl. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago, London: The University of Chicago Press 2005, 4. 296 Vgl. Gillis J. Dorleijn: Het gedicht als strategie. Een demonstratie. In: Spiegel der Letteren 57.2 (2015), 129- 131.

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Die nationalsozialistische Lyrik darüber einig sind, dass die Sprache bei der Durchsetzung des nationalsozialistischen Regimes eine zentrale Rolle gespielt hat.

Die ersten Arbeiten, die kritisch auf die nationalsozialistische Sprache reflektierten, entstanden bereits zur Zeit des „Dritten Reiches“. Der österreichisch-jüdische Schriftsteller (1874-1936) hatte mit seiner literarisch-satirischen Zeitschrift Die Fackel bereits seit 1899 die Manipulationspraktiken der Presse bekämpft.297 Besonders in den Fackel-Bänden Nr. 876-922 aber vor allem im bereits im Jahre 1933 verfassten aber erst posthum veröffentlichen Pamphlet „Die dritte Walpurgisnacht“ (1955) hat sich Kraus kulturkritisch mit dem Hitler-Regime auseinandergesetzt.298 Rudolf Bähr ist aber der Meinung, dass Kraus eine umfassende historische Perspektive fehlte, weswegen seine Kritik an der Sprache im nationalsozialistischen Deutschland auf einzelne stilkritische Eindrücke beschränkt blieb.299 Der deutsch-jüdische Schriftsteller Victor Klemperer (1811- 1966), der dank des Privilegs einer Mischehe im nationalsozialistischen Deutschland lebte bzw. zu leben gezwungen war, verfasste während der Kriegsjahre und auf Basis seiner Tagebuchaufzeichnungen das Buch LTI – Notizbuch eines Philologen (1947). Im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung sei darauf hinzuweisen, dass Klemperer bereits auf eine „religionsähnliche“ Sprache im „Dritten Reich“ aufmerksam machte. Nicht nur hätten die Nationalsozialisten eine solche Sprache absichtlich in ihren Organisationen und Feiern benutzt, sie sei auch spontan im alltäglichen Sprachgebrauch übernommen worden.300 Außerdem sei die nationalsozialistische Ideologie von Millionen als Evangelium hingenommen worden, weil sie sich der Sprache des Evangeliums bedient habe.301

Noch in den letzten zwanzig Jahren haben sich in erster Linie Sprachwissenschaftler an einer sprachanalytischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch im Allgemeinen und dem religiösen Sprachgebrauch im Besonderen gewagt.302 So hat Christian Dube, der evangelische Theologie und Germanistik studierte, die religiöse Sprache in ausgewählten Reden Adolf Hitlers aus den Jahren 1933-1945 analysiert303 und der polnische Soziolinguist Jacek Makowksi untersuchte den religiösen,

297 Vgl. Rudolf Bähr: Grundlagen für Karl Kraus' Kritik an der Sprache im nationalsozialistischen Deutschland. Köln, Wien: Böhlau 1977, 1. 298 Vgl. ebd., 73. 299 Vgl. ebd., 79. 300 Klemperer berichtet darüber, wie ihm dreimal von drei unterschiedlichen Menschen ein „Glaubensbekenntnis“ zu Hitler vermittelt wurde. Vgl. Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 131-135. 301 Vgl. ebd., 146. 302 Für einen ausführlichen Stand der Forschung über sprachkritische Arbeiten über die nationalsozialistische Sprache verweise ich auf Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945, 17-41 und Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus, 15-18. 303 Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen kultischen und mystischen Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus.304 Beide betrachten die Sprache als „ein zentrales Instrument nationalsozialistischer Machtentfaltung“,305 als „Instrument der Manipulation“306 und sogar als „Sprachrohr der nationalsozialistischen Ideologie“.307 Gerade diese Wechselbeziehung zwischen Ideologie und Sprache verlangt im Umgang mit nationalsozialistischen Texten einen ideologiekritischen Ansatz, der darüber hinaus die Wort- und Satzebene der Texte übersteigt. Für diese Perspektive bietet sich die textsoziologische Herangehensweise von Peter Zima an.

Wie er selber erklärt, hat sich die Textsoziologie in den siebziger Jahren aus der Kritik der Literatursoziologie entwickelt und sie wurde in den 1980er Jahren von Peter Zima weiter präzisiert.308 Zima weist auf den Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft hin und betont dabei die Tatsache, dass die Sprache an sich kein neutrales System ist: „In Wirklichkeit drücken wir jedoch […] unsere Gedanken nicht in isolierten Wörtern oder Sätzen aus, sondern in mehr oder weniger lange Diskursen, die in einer bestimmten soziohistorischen Situation auf andere Diskurse reagieren“.309 Diese soziohistorische Situation konstituiert sich aus etwa Kultur, Religion, Ideologie und Theorie, wobei sich diese oft inhaltlich überschneiden.

Ein zentrales Merkmal der von Zima entwickelten Textsoziologie sieht Barbara Fontanellaz darin, dass die Analysen nicht auf der Ebene des Satzes stehen bleiben, sondern den diskursiven Ausdruck kollektiver Interessen zu ermitteln versuchen.310 Mit Gruppeninteressen verknüpft werde beispielsweise auch die Ideologie zu einer kollektiven Sprachform, einem sogenannten „Soziolekt“,311 das als ein Ensemble verschiedener Diskurse zu beschreiben wäre.312 Diese kollektiven Interessen zeigen sich in erster Linie auf der semantischen Ebene, da „auf dieser Ebene die kollektiven Positionen und Interessen in die Sprache eindringen, die, wie sich zeigen wird, kein statisches System ist, sondern ein Ensemble von historischen Strukturen, deren Entwicklung eng mit den Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen zusammenhängt“.313 So wird

304 Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus. 305 Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945, 15. 306 Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus, 11. 307 Ebd. 308 Vgl. Peter V. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik. Tübingen: Francke Verlag 1989, 231. 309 Ebd., 242. 310 Vgl. Barbara Fontanellaz: Auf der Suche nach Befreiung – Politik und Lebensgefühl innerhalb der kommunistischen Linken. Bern: Peter Lang 2009, 84. 311 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 235. 312 Vgl. Ebd., 250. 313 Ebd., 238.

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Die nationalsozialistische Lyrik diese semantische Ebene zu einem „Kode“,314 der allen Mitgliedern einer Gruppe bekannt ist, und in dessen Rahmen sie Texte interpretieren, die aus den Gruppeninteressen entstanden sind. Gerade die Idee eines solchen Kodes sollte bei jeder Textanalyse berücksichtigt werden. Denn Zima sieht gerade in der Eigenart eines solchen semantischen Kodes den Grund, weshalb sich Ideologen selten über einen Text verständigen können, denn jeder von ihnen privilegiert einen solchen Kode, der „indirekt den Interessen und Standpunkten seiner Gruppe entsprechen“.315 Bei der textsoziologischen Analyse eines Textes sollte auch der Literaturwissenschaftler sich der soziohistorischen Situation und des damit zusammenhangenden semantischen Kodes bewusst sein.

Indem Zima die Ideologie an sich als ein diskursives Verfahren und in dem Sinne als eine „transphrastische Struktur“ bezeichnet,316 beschränkt sich die literarische Analyse des vorliegenden Korpus im textsoziologischen Sinne nicht nur auf eine reine Textanalyse, sondern sie wird zu einer diskurskritischen und ideologiekritischen Analyse. In diesem Zusammenhang soll hier zunächst kurz auf die Konzepte ‚Diskurs‘ und ‚Ideologie‘ eingegangen werden.

2.2.1 Diskurs

Die etymologische Bedeutung des Diskursbegriffs scheint nicht nur das Begriff an sich definieren zu wollen, sondern auch die Suche nach einer adäquaten Definition zu beschreiben: „‚discorso‘ bedeutet zunächst die richtungslose Hin- und Herbewegung, das orientierungslose Herumrennen“.317 Man rennt orientierungslos herum zwischen vagen Diskursdefinierungen wie Jürgen Links „konkrete Darstellungsweise eines Textes“318 und noch vageren Umschreibungen wie Siegfried Jägers „Fluß von ‚Wissen‘ durch die Zeit“.319 Jäger fügt dieser rätselhaften Formel aber schon hinzu, dass Diskurs immer schon mehr oder minder stark strukturiert sei und in diesem Sinne als konventionalisiert und sozial verfestigt erscheine.320 In dieser Hinsicht sei Diskurs auch als eine Form sozialer Praxis zu umschreiben. Dies schließt der Auffassung von Ruth Wodak und Michael Meyer an, die

314 Ebd., 241. 315 Ebd. 316 Vgl. ebd., 215; 256. 317 Martina Wagner-Egelhaaf: Text, Kultur, Medien. In: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Hg. v. Jürgen H. Petersen und Martina Wagner-Egelhaaf. Berlin: Erich Schmidt 2006, 226. 318 Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. München: Wilhelm Fink 1974, 282. 319 Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Münster: UNRAST-Verlag 2004, 129. 320 Vgl. ebd.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Diskurs als eine Form sozialer Praxis321 oder ein multidimensionales soziales Phänomen322 umschreiben:

It is at the same time a linguistic (verbal, grammatical) object (meaningful sequences or words or sentences), an action (such as an assertion or a threat), a form of social interaction (like a conversation), a social practice (such as a lecture), a mental representation (a meaning, a mental model, an opinion, knowledge), an interactional or communicative event or activity (like a parliamentary debate), a cultural product (like a telenovela) or even an economic commodity that is being sold and bought (like a novel).323

Zimas Auffassung von Diskurs als einer transphrastischen Struktur324 übersteigt das rein Sprachliche ebenfalls und ist in diesem Zusammenhang eher als eine Praxis zu interpretieren: „Erst jenseits des Satzgefüges treten die semantischen Unterschiede und Gegensätze in Erscheinung. […] Erst in einem transphrastischen, diskursiven Zusammenhang nimmt er [ein Satz] konkrete Bedeutung an“.325

Auch für diese Arbeit wird die Idee des – religiösen – Diskurses als ein kommunikatives und übersprachliches Konzept, das auf die Praxis ausgerichtet sei, definiert. Denn, der Sinngehalt, den er vermittelt, soll – wie Vondung bereits betonte – soziales Verhalten und Handeln organisieren.326 Da das vorliegende Korpus drei Gedichtbände enthält, fokussiert diese Arbeit in erster Linie auf die textuelle Repräsentation des religiösen Diskurses in diesem Korpus. In Anlehnung an Siegfried Jäger betrachtet diese Arbeit Texte nicht als etwas rein Individuelles, sondern als sozial und historisch rückgebundene Produkte und in dem Sinne als wichtige Bausteine des gesellschaftlichen Diskurses.327 Deswegen richtet sich das Hauptaugenmerk der Analyse in erster Linie auf die Erforschung lexikalischer, semantischer und narrativer Elemente. Die transphrastische Struktur des religiösen Diskurses wird in geringerem Maße auch im Hinblick auf die rituelle Ebene des Nationalsozialismus erläutert.

321 Vgl. Ruth Wodak und Michael Meyer: Critical Discourse Analysis: History, Agenda, Theory and Methodology. In: Methods of Critical Discourse Analysis. Hg. v. Ruth Wodak und Michael Meyer. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage 2010, 5. 322 Vgl. Teun A. van Dijk: Critical Discourse Studies: A Sociocognitive Approach. In: Methods of Critical Discourse Analysis. Hg. v. Ruth Wodak und Michael Meyer. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage 2010, 67. 323 Ebd. 324 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 215; 256. 325 Ebd., 243. 326 Vgl. Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich, 43. 327 Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 117.

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Die nationalsozialistische Lyrik

2.2.2 Ideologie

Zima definiert Ideologie als „ein diskursives Partialsystem“,328 das in relativ kurzer Zeit entstehen kann und häufig ad hoc konstruiert wird. Wichtig zu beachten sei, dass eine Ideologie nicht im Vakuum entstehe, sondern immer in einem ganz bestimmten historischen und kulturellen Kontext und so als Bestandteil einer gelebten Kultur zu betrachten sei.329 Auch andere diskurstheoretische Ansätze wie die Kritische Diskursanalyse verstehen Ideologie als ein zentrales Konzept. Vor allem die Frage, wie Sprache Ideologie vermittelt, sei dabei von Bedeutung:

Ideologies serve as an important means of establishing and maintaining unequal power relations through discourse [...]. In addition, ideologies also function as a means of transforming power relations more or less radically. Thus, we take a particular interest in the ways in which linguistic and other semiotic practices mediate and reproduce ideology in a variety of social institutions.330

Genauso wie Reisigl und Wodak betrachtet Zima die Ideologie als ein Herrschaftsinstrument331 für das die Sprache als Sprachrohr und Instrument der Manipulation fungiere.332 Eine sprachkritische Arbeit ist im diskursiven Kontext also auch als eine ideologiekritische Arbeit aufzufassen: „Critique regularly aims at revealing structures of power and unmasking ideologies“.333 Laut Zima ist außerdem das Verhältnis des erzählenden Subjekts zu seinem eigenen Diskurs als Erzählung für die Textsoziologie als Ideologiekritik ausschlaggebend. Dabei soll man sich unter anderem die Frage stellen, ob sich das sprechende Subjekt der semantisch-syntaktischen Verfahren – des Diskurses – , die es anwendet, bewusst ist oder nicht.334 Da sich Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel – die ausgewählten Autoren im vorliegenden Korpus – sich als NS- Dichter den Erwartungen und Forderungen der Reichskulturkammer fügten, könnte man wohl davon ausgehen, dass sie sich dessen bewusst waren. In diesem Sinne scheint es angebracht, die textsoziologische Herangehensweise zudem als eine ideologiekritische Analyse zu betrachten.

328 Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 56. 329 Vgl. ebd., 27. 330 Martin Reisigl und Ruth Wodak: The Discourse-Historical Approach (DHA). In: Methods of Critical Discourse Analysis. Hg. v. Ruth Wodak und Michael Meyer. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage 2010, 88. 331 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 25. 332 Vgl. Makowski: Manipulierte Sprache. Religiöser, kultischer und mystischer Wortschatz in der Sprache des Nationalsozialismus, 11. 333 Wodak und Meyer: Critical Discourse Analysis: History, Agenda, Theory and Methodology, 8. 334 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 247.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

2.3 Das methodische Instrumentarium für die Analyse des religiösen Diskurses

Die ideologiekritische Analyse des religiösen Diskurses im vorliegenden Korpus nationalsozialistischer Lyrik fokussiert sowohl auf die Säkularisierung oder Profanierung des religiösen Diskurses als auch auf die Sakralisierung wichtiger ideologischer Kernkonzepte des Nationalsozialismus. In diesem methodischen Instrumentarium wird schließlich kurz erläutert, auf welchen unterschiedlichen Ebenen der religiöse Diskurs im Korpus untersucht wird.

2.3.1 Die lexikalisch-semantische Ebene: Das Wort und seine Bedeutung

Obwohl Zima die lexikalische und die semantische Ebene voneinander abgrenzt, weist er doch bereits auf ihre notwendige Verknüpfung hin, weswegen sie für dieses methodische Instrumentarium zusammengeführt werden. So schlagen sich auf der lexikalischen Ebene laut Zima gesellschaftliche Probleme unmittelbar in der Sprache nieder.335 Wegen des „symptomatischen“ Charakters der Lexeme springen Besonderheiten oder Differenzen manchmal ins Auge und können oft intuitiv erfasst werden.336 Für die vorliegende Arbeit erweist sich das christlich-biblische Vokabular für den religiösen Diskurs im Nationalsozialismus als symptomatisch. Allerdings soll eine textsoziologische Untersuchung nicht auf den lexikalischen Bereich beschränkt bleiben, denn erst auf der semantischen – und auch auf der makrosyntaktischen Ebene – kann eine gründliche und umfassende Analyse hervortreten.

Die semantische Ebene bildet laut Zima die Grundlage der diskursiven Analyse, weil auf dieser Ebene die kollektiven Positionen und Interessen in die Sprache eindringen. Dabei versteht er die „Sprache“ nicht als ein statisches System“, sondern als ein „Ensemble von historischen Strukturen, deren Entwicklung eng mit den Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen zusammenhängt“.337 Auf dieser Ebene ist die „symbolspendende“ Funktion des religiösen Diskurses von Bedeutung, die der Literatur die einschlägigen Attribute verleiht, die den neuen Sinngehalt produzieren.338 Dies zeigt sich zum Beispiel in der Analyse der Trope, die Petersen als Form „uneigentlichen Sprechens“ definiert, denn „das eigentlich Gemeinte kommt nicht direkt, also etwa durch den Gebrauch des treffenden Begriffs sondern nur mittelbar, z.B. durch ein Bild zum

335 Vgl. ebd., 236. 336 Vgl. ebd., 238. 337 Ebd. 338 Vondung: Literaturwissenschaft als Literaturtheologie. Der religiöse Diskurs der Germanistik im Dritten Reich, 39.

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Die nationalsozialistische Lyrik

Ausdruck“.339 Das Bildungsprinzip der Trope sei die Substitution, die in verschiedenen Graden auftreten kann. Bei einer geringen Distanz zwischen dem eigentlichen und dem übertragenen Ausdruck ist von „Grenzverschiebungstropen“ (z.B. Periphrase, Metonymie) die Rede, während „Sprungtropen“ (z.B. Metapher, Allegorie) eine größere Distanz aufweisen.340 Bei einer Metonymie wird ein Wort von einem anderen, das in einer ‚realen‘ Beziehung zum anderen steht, ersetzt. Insgesamt kann man acht metonymische Beziehungen unterscheiden: (1) Personen – Ort, (2) Ort – Institution, (3) Gefäß – Inhalt, (4) Erzeugnis – Erzeuger, (5) Erfindung – Erfinder, (6) Werk – Autor, (7) Abstraktes – Sinnbild und (8) Ursache – Wirkung.341 Auch die Metapher ersetzt einen eigentlichen Ausdruck durch einen anderen. Sie steht jedoch nicht in einer qualitativen, realen Beziehung zu dem eigentlichen Ausdruck wie die Metonymie. Bei der Metapher sei eine Abbild- oder Ähnlichkeitsrelation vorhanden, weswegen die Antike Rhetorik die Metapher als verkürzten Vergleich aufgefasst hat.342

Die Metaphern und Metonymien wären als Bausteine des von Jürgen Link herangeführten Konzeptes der „Kollektivsymbolik“, die er als „die Gesamtheit der sogenannten ‚Bildlichkeit‘ einer Kultur“343 bezeichnet, zu betrachten. Diese Kollektivsymbole sind also, laut Jäger, Symbole, die alle Mitglieder einer Gesellschaft kennen. Mit diesem Bilderrepertoire könne man sich dann ein Gesamtbild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. der politischen Landschaft der Gesellschaft machen.344 Hier soll allerdings noch hinzugefügt werden, dass die Metapher dem Symbol-Begriff nicht gleichzusetzen ist. Günter Butzer und Joachim Jacob verdeutlichen in ihrem Vorwort des von ihnen zusammengestellten Lexikon literarischer Symbole, dass eine Metapher als „Störung der semantischen Kohärenz“ zu verstehen ist, während das Symbol auf der pragmatischen Ebene operiert und daher ignoriert werden kann, „ohne dass dies einen Einfluss auf die Kohärenz des Textes haben würde“.345

2.3.2 Die syntaktisch-narrative Ebene: Der Diskurs

Diese Ebene betrachtet Zima schlicht als die Ebene des Diskurses, wobei die Analyse nicht auf den Bereich der phrastischen Syntax eingeschränkt werden soll, da diese als „isoliertes Faktum“ immer wieder den Eindruck der Neutralität erwecke.346 Allerdings wird die

339 Jürgen H. Petersen: Textinterpretation. In: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Hg. v. Jürgen H. Petersen und Martina Wagner-Egelhaaf. Berlin: Erich Schmidt 2006, 113. 340 Vgl. Ansgar Nünning: Grundbegriffe der Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2004, 281-282. 341 Vgl. Jeßing und Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, 158. 342 Vgl. Nünning: Grundbegriffe der Literaturtheorie, 176-179. 343 Jürgen Link zit. in Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 133-134. 344 Vgl. ebd., 133. 345 Günter Butzer und Joachim Jacobs „Vorwort“ in Günter Butzer und Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, V. 346 Vgl. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 242-243.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Analyse des religiösen Diskurses in nationalsozialistischer Dichtung zeigen, dass politische Ideologeme auch wegen einer spezifischen grammatisch-syntaktischen Situation religiös aufgewertet werden, beispielsweise durch die Voranstellung religiös konnotierter Adjektive oder in Verbindung zu bestimmten Verben. Die Arbeit beschreibt zudem auch, wie die grammatisch-syntaktische Struktur selber zu einer religiösen Aufwertung des profanen Inhaltes führen kann, z.B. in der Nachahmung biblischer Sprache. Dies zeigt sich etwa im mannigfachen Gebrauch des vorangestellten Genitivs oder in altertümlichen Wortformen. In diesem Kontext wird auch die Verwendung bestimmter rhetorischer Stilmittel, die die grammatische Struktur des Textes beeinflussen, berücksichtigt. Dabei sei unter anderem an Stilfiguren, die die übliche syntaktische Wortfolge vertauschen, zu denken, wie der Chiasmus und das Hyperbaton oder an Wiederholungsfiguren, wie Geminatio, Anapher oder auch Alliteration.

Allerdings soll man beachten, so hebt Zima hervor, dass man in Wirklichkeit seine Gedanken nicht in isolierten Wörtern oder Sätzen ausdruckt, sondern in mehr oder weniger langen Diskursen, die in einer bestimmten soziohistorischen Situation auf andere Diskurse reagieren und die auch erst in einem transphrastischen, diskursiven Zusammenhang konkrete Bedeutung annehmen.347 In diesem narrativen Zusammenhang erweisen sich Topoi und Motive als wichtige Komponente. Das Metzler Lexikon Literatur definiert das „Motiv“ als die „kleinste bedeutungsvolle Einheit“ eines literarischen Textes oder als „selbständig intertextuelles Element“. Nach der Bedeutung innerhalb eines Textes könne zwischen Haupt- bzw. Kernmotiven, Neben- und Füllmotiven unterschieden werden.348 Laut Elisabeth Frenzel umfasst das Motiv bereits ein inhaltliches, situationsmäßiges Element, mit dem es einen Handlungsansatz darstellt. Besonders bei Dichtungen, deren Inhalt nicht sehr komplex ist, könne dieser Handlungsansatz durch das Kernmotiv in kondensierter Form wiedergegeben werden.349

Obwohl der Topos-Begriff ursprünglich der antiken Rhetorik entstammt, wo es die Lehre vom Finden der Argumente war und so ein Bindeglied zwischen der Rhetorik und der Dialektik oder Logik bildete,350 wird Topos in der modernen Literaturwissenschaft auch als ein „‚Fundort‘ für Beweise oder Argumente“, der als ein „Reservoir von Mitteln zur Findung von Argumenten“ zur Verfügung stehe, definiert.351 Die moderne Bedeutung von Topos als locus communis (‚Gemeinplatz‘) verdankt der Begriff vor allem dem Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) des deutschen Philologen E.R. Curtius, das zu einer Neudefinierung der Topoi als „feste[r] Clichés oder Denk- und

347 Vgl. ebd. 348 Vgl. „Motiv“ in D. Burdorf et al. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur: Begriffe und Definitionen. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2017, 514. 349 Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoff-, Motiv- und Symbolforschung. Stuttgart: Metzler 1978, 29. 350 Vgl. Nünning: Grundbegriffe der Literaturtheorie, 278-279. 351 Ebd. 279.

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Die nationalsozialistische Lyrik

Ausdrucksschemata“ geführt hat.352 Auch Dieter Liewerscheidt hat die Topoi schon im Jahre 1987 als „Formkonstanten“ oder abgenutzte „Klischee[s]“ beschrieben.353 Weil es in (Propaganda-)Poesie nicht darum geht, ein argumentatives Statement zu machen, wobei ein Topos als ‚Schlussstein‘ zwischen einem konkreten Argument und einer daraus folgenden Schlussfolgerung dient, sondern um eine poetische Verarbeitung ideologischer Kernkonzepte, scheint ein argumentativer Topos-Begriff für die vorliegende Arbeit nicht brauchbar. Jäger beschreibt Topoi im Zusammenhang mit seiner Vorstellung der Kollektivsymbolik als „culturale stereotypes“,354 welche der Neudefinierung des Topos- Begriffs durch Curtius annähert. Da sich diese Vorstellung des Topos-Begriffs auch im Rahmen der Gedichtanalyse eignet, geht auch diese Arbeit von Topoi als ‚Klischees‘ oder auch als ‚Leitmotiven‘ aus.

2.3.3 Die intertextuelle Ebene: Die sozio-linguistische Situation

Indem Zima davon ausgeht, dass Individuen und Gruppen „nicht im luftleeren Raum, sondern im Rahmen von Diskursen und Soziolekten“ miteinander kommunizieren,355 stellt er Habermas‘ Begriff der „idealen Sprechsituation“ grundsätzlich in Frage. Während Habermas vom Konzept einer „neutralen Sprache“ ausgeht, kommunizieren Subjekte laut Zimas Auffassung „in einem historischen Sprachsystem, dessen Bedeutungen sich ändern und dabei stets von neuem besondere, partikulare Positionen und Interessen ausdrücken“.356 In diesem Zusammenhang stellt Zima Habermas‘ Begriff der „idealen Sprechsituation“ eine „sozio-linguistische Situation“, in der „Soziolekte und Diskurse aufeinander reagieren, einander bestätigen, miteinander verschmelzen oder in Konflikt geraten“, gegenüber.357 Texte, die innerhalb einer solchen bestimmten und historisch begrenzbaren sozio-linguistischen Situation entstehen, können daher laut Zima nur dialogisch oder „intertextuell“ verstanden werden. Zima fasst „Intertextualität“ als einen strukturellen Prozess auf, „weil die sprechenden Subjekte nicht auf einzelne Wörter, Sätze oder Textpassagen reagieren, sondern auf die in ihrer sozio-linguistischen Situation und für ihre Position relevanten semantischen und narrativen Strukturen“.358

Bei der Analyse des religiösen Diskurses in nationalsozialistischer Dichtung wird sich zeigen, dass die Bibel und andere religiöse Texte (Liedtexte, Gebete, …) vielerorts als

352 Ebd. 353 Dieter Liewerscheidt: Schlüssel zur Literatur. Düsseldorf, Wien, New York: ECON Verlag 1987, 70. 354 Siegfried Jäger: Discourse and knowledge: theoretical and methodological aspects of a critical discourse and dispositive analysis. In: Methods of Critical Discourse Analysis. Hg. v. Ruth Wodak und Michael Meyer. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage 2001, 35. 355 Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 250. 356 Ebd., 251. 357 Ebd., 252. 358 Ebd., 253.

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Gattungsfrage und methodologische Überlegungen

Referenzquelle erscheinen. In diesem Zusammenhang ist Aleida Assmanns Beschreibung der Bibel als eines ‚kulturellen Textes‘ von Bedeutung:

Als kultureller Text besitzt die Bibel das Privileg einer Form von Exegese, die den Text durch anreichernde Leseverfahren auffüllt und auratisiert. Dabei wird die endliche und konstante Zeichenmenge des kanonisierten Textes nicht nur erweitert, sie wird auch mit jeder neuen Gegenwart vermittelt. Dante, Milton oder Bunyan sind Autoren, die die Voraussetzungen des kulturellen Textes für die eigene literarische Produktion übernahmen. Ihre Texte zeigen sich als bibel-ähnlich, und sie melden damit einen Anspruch auf die Rezeptionsformen kultureller Texte an.359

Die Bibel hat sich also im Laufe der Geschichte weitermanifestiert. In „jeder neuen Gegenwart“ werden ihre Geschichten neu verarbeitet und die biblischen Bilder in neuen – auch nichtreligiösen – Texten aufgenommen. Auch in der nationalsozialistischen Propagandapoesie werden biblische Bilder und Symbole verarbeitet und neu gedeutet, weil die Bibel als ‚kultureller Text‘ zum kollektiven Gedächtnis der Nation gehört. Ihre Bilder sind von allen Mitgliedern der – hier: deutschen – Gemeinschaft gekannt und werden also auch ohne weitere Erklärung verstanden. Auch die Bilder eines kulturellen Textes – wie der Bibel – gehören also zu der von Siegfried Jäger genannten gesamten Bildlichkeit der Kultur und sind in dem Sinne als Kollektivsymbole zu betrachten. Die nationalsozialistischen Propagandadichter haben sich zur poetischen Darstellung der nationalsozialistischen Ideologie verschiedener Sprachsymbolik bedient, so auch der biblischen Bildlichkeit, allerdings in einer abgewandelten, umgedeuteten und so ideologiekonformen Fassung.

3. Abschließende Bemerkungen zum Analyseverfahren

Während das vorige Kapitel das Verhältnis von „Religion“ und „Nationalsozialismus“ im Rahmen der Debatte über den Nationalsozialismus als eine „politische Religion“ hervorgeführt hat, hat sich das Hauptaugenmerk dieses Kapitels auf die Funktion des „religiösen Diskurses“ in der nationalsozialistischen Dichtung gerichtet. Dabei hat sich herausgewiesen, dass nicht nur die Dichter sondern auch die nationalsozialistische Germanistik sich eines religiösen Diskurses bedienten, und zwar mit dem Zweck, sowohl ideologische Inhalte in der Dichtung als auch die Dichtung an sich religiös aufzuwerten. Gerade deswegen meint Klaus Vondung, dass die Literaturwissenschaft in diesem Zusammenhang eher als eine Art „Literaturtheologie“ erscheint. Da diese „Literaturtheologie“ aber kein konkretes methodologisches Verfahren beschreibt, hat

359 Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? In: Literaturkanon - Medienereignis - Kultureller Text. Hg. v. Andreas Poltermann. Berlin: Erich Schmidt 1995, 237.

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Die nationalsozialistische Lyrik dieses Kapitel eine Kombination der werkimmanenten Interpretation des Close readings mit dem ideologiekritischen Ansatz der Textsoziologie vorgeschlagen. Bei der literarischen Analyse wird diese methodologische Herangehensweise auch jederzeit die theoretischen Überlegungen zur politischen Religion berücksichtigen. Obwohl die Analyse in erster Linie die literarische Analyse der im Korpus für diese Arbeit aufgenommenen nationalsozialistischen Dichtung von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel vor Augen hat, stellt sie sich zur Aufgabe, auch auf die transphrastische Struktur des religiösen Diskurses hinzuweisen. Denn, da wo die Gedichte gemeinsam rezitiert oder gesungen werden, zeigt sich der religiöse Diskurs des Nationalsozialismus auch auf einer pragmatisch-rituellen Ebene.

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IV

„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

1. Einführung – Von Säkularisierung zu (Re-)Sakralisierung

Im Zentrum der literarischen Analyse stehen die drei politischen Ideologeme „Führer“, „Reich“ und „Volk“, die zur Zeit der NS-Herrschaft in der Losung „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ auf Propagandaplakaten und in politischen Reden allgegenwärtig waren. Klaus Vondung betrachtet diese drei Kernkonzepte der nationalsozialistischen Ideologie zusammen mit „Fahne“, „Blut“ und „Boden“ als die sogenannten „Glaubensartikel“ des NS- Glaubens.360 Aber nicht nur Vondung, sondern auch weitere Forscher entdeckten eine quasi-sakrale Ebene im Zusammenhang mit diesen Ideologemen. So meint Uwe Puschner, dass das völkische Erbe der nationalsozialistischen Ideologie gerade in dieser Parole zum Ausdruck kommt: Nur einen Aspekt haben die Nationalsozialisten der völkischen Weltanschauung in seiner Gesamtheit übernommen, und zwar das rassische Element, das in der völkischen Parole „ein Volk, ein Reich, ein Gott“ zusammengefasst wird. Die Idee ‚eines Gottes‘ habe sich für die nationalsozialistische Bewegung als sehr konstruktiv erwiesen, obwohl die Gottheit unter Einfluss der völkischen heldischen und germanischen Heilsgestalt in einen charismatischen „Führer“ verwandelt wurde. Daraufhin habe sich auch die Losung „ein Volk, ein Reich, ein Gott“ in „ein Volk, ein Reich, ein Führer“ verwandelt.361 Sowohl Jay W. Baird als auch Gerhard Hay sehen gerade in dieser Triade eine neue nationalsozialistische und säkularisierte „Trinität“,362 die nebst dem völkischen Erbe auch auf die christliche Dreieinigkeitstradition zurückgreift. Diese „Trinität“ von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ konstituiert den Hauptfokus der vorliegenden literarischen Analyse. Diese wird aufzeigen, dass diesen politischen Ideologemen gerade wegen ihrer Einbettung in einem christlich-religiösen Diskurs quasi-heilige Eigenschaften zugeschrieben werden, wodurch sie als religionsähnliche Höchstwerte – sogar „Glaubensartikel“ – der nationalsozialistischen Ideologie erscheinen. Diese Idee einer „Sakralisierung des Politischen“, die Sarah Thieme als „Zuschreibungsprozess des Heiligen“ konkretisiert hat,363 führte bereits in den methodischen Überlegungen zu der Überzeugung, dass eine rein politische Auslegung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ in der nationalsozialistischen Dichtung nicht ausreicht, sondern dass die literarische Analyse um einen ideologiekritischen – sogar „literaturtheologischen“ – Interpretationsansatz erweitert werden müsse.

360 Vgl. Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 91. 361 Puschner: ‚One People, One Reich, One God’ The Völkische Weltanschauung and Movement, 27. 362 Baird: Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich 3; Gerhard Hay: Religiöser Pseudokult in der NS-Lyrik am Beispiel Baldur v. Schirach. In: Liturgie und Dichtung: ein interdisziplinäres Kompendium. Bd. 1. Hg. v. Hansjakob Becker und Reiner Kaczynski. Erzabtei Sankt-Ottilien: EOS Verlag 1983, 858. 363 Vgl. Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 44.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

Bereits im Jahre 1931 beschrieb der evangelische Theologe Richard Karwehl die nationalsozialistische Heilslehre als „eine säkularisierte Eschatologie“. Dabei habe die NS- Bewegung der Kirche ihre entscheidenden Begriffe entlehnt und diese daraufhin für eigene Zwecke verwandelt:

Die Erbsünde ist die Sünde wider das Blut. Die Gottebenbildlichkeit ist das Urbild des Ariers. Die Vertreibung aus dem Paradies ist die Senkung des rassischen Niveaus durch ‚Blutschande‘. Das Parteiprogramm ist unveränderlich und unfehlbar wie das Dogma der Kirche. Das Reich Gottes wird durch das Dritte Reich ersetzt.364

Obwohl Baird, Hay und Karwehl den Säkularisierungsprozess der nationalsozialistischen „Trinität“ betonen, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass der „Führer“, das „Reich“ und das „Volk“ an vielen Gelegenheiten ausgesprochen religiös aufgewertet und in dem Sinne quasi „(re-)sakralisiert“ werden. Wie die literarische Analyse aufweisen wird, bedienten sich auch Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel in ihrer poetischen Darstellung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ wiederholt eines christlich- religiösen Diskurses. Sie führen dabei eine nationalsozialistische Tradition fort, die bereits Mitte der 1920er Jahre und als Folge des Krisenzustands im Nachkriegsdeutschland entstanden ist und die im weiteren Verlauf dieses Kapitels im Zusammenhang mit der Sehnsucht nach einem starken „Führer“, einer wiedervereinten und mächtigen deutschen Nation und einer vereinten „Volksgemeinschaft“ erläutert wird.

Bereits verschiedene Jahre vor der eigentlichen Machtergreifung erschienen religiös anmutende Gedichte, in denen Hitlers Anhänger – wie das NSDAP-Mitglied Otto Bangert – nicht nur ihre Devotion an den „Führer“ zum Ausdruck brachten, sondern auch die Gründung des „Dritten Reiches“ als die quasi-heilige „Mission“ des „Führers“ und die NS- Bewegung und seine Mitglieder als eine „gläubige“ Bewegung betrachteten.

Adolf Hitler

Er stieg empor aus Urwelttiefen und wurde ragend wie ein Berg. Und während wir ins Elend liefen und bebend nach dem Retter riefen, 5 begann er groß sein heilig Werk.

Er trat mit starken, kühnen Schritten in eine Welt von Haß und Trug. Und siehe! Plötzlich stand er mitten

364 Richard Karwehl zit in Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 32-33.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

im Volk, mit dem sein Herz gelitten, 10 sein Herz, das so voll Liebe schlug.

Er riß empor die Volksgenossen mit seines Wesens letztem Schwung. Sie lauschten ihm, tief aufgeschlossen, bis ihre Herzen überflossen 15 von glühender Begeisterung.

Und plötzlich sieht man Fahnen wehen von einer nie erschauten Art. Kolonnen ziehn, die Trommeln gehen, und hunderttausend Männer stehen 20 um einen Willen fest geschart.

Ins ferne Morgenglühn weist er, und alle Herzen sind entbrannt. Die Fäuste beben und die Geister – Nun baue Deinem Volk, o Meister, 25 ein neues, hohes Vaterland!365

Dieses Lobgedicht auf den „Führer“ wurde am 3. Juli 1926 im Völkischen Beobachter abgedruckt. Bangert nahm es darüber hinaus auch in seinem Buch Gold oder Blut. Der Weg aus dem Chaos (1927) auf, dem er einen fünf Gedichte umfassenden Anhang mit dem Titel „Aufbruch. Gedichte der deutschen Revolution“ hinzufügte. Obwohl der Titel dieses Gedichtes vermuten lässt, dass der Fokus in erster Linie auf dem „Führer“ liegt, weist bereits dieses frühe nationalsozialistische Gedicht auf den Zusammenhang von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ hin. Bangert beschreibt Hitler als einen „Retter“ (V.4) und „Meister“ (V.24), dessen „heilig Werk“ (V.5) darin bestehe, seinem Volk „ein neues, hohes Vaterland“ (V.25) zu bauen. Die Darstellung eines Volkes, das „bebend nach dem Retter“ rief (V.4), in der von „Elend“ (V.3), „Haß“ und „Trug“ (V.7) gekennzeichneten Weimarer Republik scheint die damalige Sehnsucht nach einem starken „Führer“, der das Deutsche Reich in all seiner Größe wiederherstellen sollte, schon gut zu fassen. Darüber hinaus lässt sich bereits in diesem Gedicht einen christlich-religiösen Diskurs erkennen, um diese Erwartung und Sehnsucht zum Ausdruck zu bringen. So stellt Bangert die Gründung eines neuen Reiches oder eines neuen „Vaterlandes“ (V.25) pointiert als ein „heilig Werk“ (V.5) dar. Außerdem steht der „Führer“ nicht allein, sondern „mitten / im Volk“ (V.8-9) und stehen „hunderttausend Männer“ um seinen „Willen fest geschart“ (V.19-20). Der „Führer“ erscheint dabei quasi als ein gottgesandter und lang ersehnter Retter mit einer heiligen

365 Bangert, O.: Gold oder Blut. Der Weg aus dem Chaos. München: Eher 1930. 156-157.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

Mission, und zwar die Gründung eines neuen Reiches, die vom Volke als eine gläubige Anhängerschaft mitunterstützt wird.

2. Die sakrale Potenz von „Führer“, „Reich“ und „Volk“

Die auffällige Sakralisierung der politischen Ideologeme „Führer“, „Reich“ und „Volk“ waren nicht so sehr das Produkt des lyrischen Talents von Autoren wie Bangert, aber auch Anacker, Schumann und Menzel als vielmehr die bereits unterschwellig anwesende sakrale Potenz der drei Ideologeme selber. Im Folgenden wird erklärt, auf welchem Grund Propagandaautoren „Führer“, „Reich“ und „Volk“ religiös aufwerteten. Dabei wird sich zeigen, dass diese nationalsozialistische Triade mit Max Webers Charisma-Theorie und dem politischen Messianismus, mit der Drei-Zeiten-Lehre von Joachim von Fiore und der katholischen Tradition der Märtyrerstilisierung im Einklang zu bringen wäre.

2.1 Der „Führer“ - Ein Messias?

Robert Musil diagnostizierte zu Recht, dass gerade Zeiten der Krise „Geburtsstunden von messianischen Heilsbringern und Erlösern“366 sind. Gerade in der sogenannten Weimarer Krisenzeit kam die Chance für die NSDAP367 und Adolf Hitler kam dabei eine besondere Rolle zu.

2.1.1 Adolf Hitler - „Führer“ der Bewegung

In seiner umfangreichen Hitler-Biographie betont Volker Ullrich die Bedeutung der Ereignisse im Jahre 1921, gerade inmitten der Weimarer Krisenzeit. Im Frühjahr 1921 kam es zu verschärften Spannungen zwischen führenden Mitgliedern der NSDAP und Adolf Hitler, der zu diesem Zeitpunkt mit seiner Geschäftigkeit als Werbeobmann bereits eine Starrolle in der Partei spielte.368 Laut Ian Kershaw war es vor allem gerade Hitlers öffentlichem Auftreten zu verdanken, dass die Mitgliederzahl der NSDAP bis August 1921 so stark angewachsen war – von 190 Mitgliedern im Januar 1920 bis 3300 im August 1921. Bis Ende 1920 hatte er bereits bei über 30 Massenveranstaltungen mit 800 bis 2500 Teilnehmern und verschiedenen kleineren internen Parteiversammlungen gesprochen. Im Februar 1921 trat er sogar als Redner auf dem bis dahin größten Treffen auf – über 6000 Zuhörer im Zirkus Krone in München.369 Hitler widersetzte sich den Bestrebungen, die NSDAP mit anderen völkischen Parteien und Gruppierungen zu verschmelzen und die

366 Musil zit. in ebd., 1. 367 Hagen Schulze: Kleine deutsche Geschichte. München: DTV 1996, 159-160. 368 Für weitere Einzelheiten über die parteiinternen Spannungen verweise ich auf Volker Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939. Frankfurt am Mai: Fischer 2013, 128-131. 369 Vgl. Ian Kershaw: Hitler. A Biography. New York, London: W. W. Norton & Company 2008, 89.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Leitung deswegen von München nach Berlin zu verlegen. Außerdem fürchtete er wohl auch, so sind sich Kershaw und Ullrich einig, dass er seine eroberte Position in einer vereinigten Partei der Völkischen verlieren würde. Nachdem er schon mehrmals damit gedroht hatte, erklärte er am 11. Juli 1921 seinen endgültigen Austritt aus der NSDAP. Viele Parteimitglieder glaubten aber nicht auf Hitler verzichten zu können. Nachdem er gefragt wurde, unter welchen Umständen er sich eine Rückkehr in die Partei vorstellen konnte, formulierte Hitler sechs Bedingungen, die von der Parteileitung einstimmig akzeptiert wurden. So trat er bereits am 26. Juli wieder in die NSDAP ein.370

Obwohl seine Gegner ihn in den darauffolgenden Tagen noch mit Flugblättern anzuschwärzen versuchten, wurde er am Abend des 29. Juli zum Parteivorsitzenden der NSDAP gewählt. Dieses Ereignis sei als der erste Schritt in der Transformation der NSDAP zu einer „Führer-Partei“371 zu betrachten, was gleich auch der Anfang der Stilisierung des Demagogen Hitlers zum „Führer der Bewegung“ bedeutete.372 Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen sogenannten „Führerkult“ und auch der Begriff „Führer“ tauchte erstmals – und immer noch ausnahmsweise – im Dezember 1921 im Völkischen Beobachter auf.373 Angesteckt vom italienischen „Duce-Kult“ bekam Hitlers Aura einen neuen Impuls. Eine Woche nach Mussolinis „Marsch auf Rom“ im Oktober 1922 proklamierte Hermann Esser, einer der frühesten Gefolgsleute Hitlers und der spätere Reichspropagandaleiter der NSDAP, im vollen Festsaal des Münchner Hofbräuhaus, Adolf Hitler sei Deutschlands Mussolini, was den symbolischen Moment markiere, an dem Hitlers Anhänger den Führerkult erfanden.374 Ab diesem Zeitpunkt wurde Hitler zu einem charismatischen „Führer“ und sogar „zum künftigen Retter der Nation“ hochstilisiert.375 Erst in den Jahren 1926 bis 1928, also nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahre 1923, der darauf folgenden Haftperiode in Landsberg und der Neugründung der Partei im Jahre 1925 habe sich, so Ullrich, der Kult um den „Führer“ institutionalisiert, unter anderem mit der Verpflichtung des Grußes „Heil Hitler!“ für die Parteimitglieder.376 Außerdem hat sich auch Hitlers Selbstbild während seiner Haftperiode, in der er auch mit dem Schreiben von Mein Kampf angefangen hat, geändert. Während Hitler sich am Anfang der 1920er Jahre noch als „Trommler“ der Bewegung sah, dämmerte ihm allmählich die Erkenntnis, er sei

370 Hitler verlangte unter anderem die Festlegung Münchens als „Sitz der Bewegung“ und seine Ernennung zum „Ersten Vorsitzenden mit diktatorischer Machtbefugnis“. Diese Bedingungen waren in erster Linie darauf gezielt, seine eigene Position in der Partei für die Zukunft sicher zu stellen und unangreifbar zu machen. Für weitere Einzelheiten zu den parteiinternen Spannungen und Hitlers Rückkehrsbedingungen verweise ich auf Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 128-131 und Kershaw: Hitler. A Biography, 100-103. 371 Vgl. Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 133; Kershaw: Hitler. A Biography, 104. 372 Vgl. Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 133. 373 Vgl. ebd., 147; Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 242; Kershaw: Hitler. A Biography, 111. 374 Vgl. Kershaw: Hitler. A Biography, 110. 375 Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 147. 376 Vgl. ebd., 235.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme der prädestinierte „Führer“.377 Auch in der Führeridee seiner Anhängerschaft überstieg Hitlers Aufgabe das rein Politische. Dies wird bereits deutlich, indem Bangert Hitler gerade als ein „Retter“ – und nicht schlicht als „Führer“ – und sein Ziel als ein pointiert „heiliges Werk“ darstellt. Auf diese Weise erhebt er die Vorstellung des „Führers“ quasi auf eine übernatürliche Ebene, was auch in der späteren Propagandalyrik wiederholt und in viel größerer Zahl so thematisiert wurde. Obwohl es durchaus übertrieben scheint, Hitler tatsächlich übermenschliche Qualitäten zuzuschreiben, merkt Ullrich wahrscheinlich zu Recht auf:

Freilich hätte der Versuch, den NSDAP-Vorsitzenden zur sehnsüchtig erwarteten nationalen Heilsfigur aufzubauen, kaum Erfolg haben können, wenn nicht Hitler tatsächlich auch einige außergewöhnliche politische Fähigkeiten besessen hätte, darunter vor allem sein rhetorisches und sein schauspielerisches Talent.378

Hitlers „außergewöhnliche“ Talente wurden in der Forschung bereits wiederholt anhand von Max Webers Theorie über charismatische Herrschaft beschrieben. Weber definiert Charisma als eine „außeralltägliche“ Qualität einer Person, durch die er als „Führer“ wahrgenommen wird. Dabei stützt sich Charisma also auf eine soziale Beziehung zwischen einer Person, die über eine solche Qualität verfügt, und denen, die daran glauben, dass er diese Qualität tatsächlich besitzt.379 Außerdem sei „Charisma“ in Webers Auffassung, so Rainer M. Lepsius, nicht einfach ein anderes Wort für Prestige, Popularität oder persönliche Exzellenz, sondern eine „revolutionäre Kraft“: Eine charismatische Beziehung strukturiere eine gegebene soziale Situation neu.380 Während Musil Krisenzeiten als die „Geburtsstunden von messianischen Heilsbringern und Erlösern“381 betrachtete, ist die Krisenzeit auch als die soziale Vorbedingung für das Aufkommen einer charismatischen Persönlichkeit, und zwar eines starken Mannes, der die Krise überwinden könnte, zu betrachten.382 In dieser Hinsicht betrachtet Max Weber Charisma zudem als eine unstabile Qualität, denn sie hängt vom Erfolg der charismatischen Persönlichkeit in der Krisensituation ab: „bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden“.383 Ein weiteres wichtiges Element in Max Webers Charisma-Idee sei laut Joseph Nyomarkay der Glaube an eine höhere Kraft oder Idee, und zwar an den Mythos einer höheren „Mission“, die im

377 Vgl. Kershaw: Hitler. A Biography, 138. 378 Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 148. 379 Max Weber erläutert seine ideale Vorstellung der charismatischen Herrschaft in Wirtschaft und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2008, 179-182. 380 Vgl. Rainer M. Lepsius: The Model of Charismatic Leadership and its Applicability to the Rule of Adolf Hitler. In: Totalitarian Movements and Political Religions 7.2 (2006), 176. 381 Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 1. 382 Vgl. Lepsius: The Model of Charismatic Leadership and its Applicability to the Rule of Adolf Hitler, 178 383 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 179.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Nationalsozialismus bereits bald religiös anmutete.384 Diese „Mission“, die Bangert als ein „heiliges Werk“ beschreibt, war für die nationalsozialistische Bewegung die Gründung – sogar die „Auferstehung“ – eines neuen, „dritten“ Reiches. Diese auffällige Sakralisierung nicht nur der „Mission“ sondern auch der zu prädestinierten Retter stilisierten Rolle des „Führers“ selbst führte dazu, dass Hitler über seine politischen Qualitäten und Tätigkeiten hinaus auch als messianischer „Führer“ stilisiert wurde. Gerade in dieser messianischen Stilisierung liegt die sakrale Potenz des Führerbegriffs.

2.1.2 Ein deutscher Messias

Hitler hat sich selbst nie als „Messias“, „Heiland“ oder „Erlöser“ bezeichnet. Es waren vielmehr seine Verehrer und Gefolgsleute, die ihm diese Rolle zuschrieben.385 Bereits in der Kampfzeit der 1920er Jahre schrieb Julius Streicher, der spätere Herausgeber des Stürmer: „Ein Mann ist erstanden, dem die Rettung unseres Volkes gelingen wird: Adolf Hitler. Er ist gesegnet von Gott, er wird das Schlimmste von unserem Volk abwenden“.386 Otto Bangert, der Hitler bereits in seiner 1926 publizierten Ode als „Retter“ darstellte, sah in Hitler des „Volkes Retter und Held“, der „getrieben [wird] von jenem unerbittlichen Muß, das wir Schicksal nennen“ und sich seiner „weltgeschichtlichen Sendung“ bewusst ist.387 Eine solche „messianische“ Darstellung einer starken Führerpersönlichkeit war in Nachkriegsdeutschland nicht ungewöhnlich.

Obwohl nach der Niederlage Deutschlands zum ersten Mal eine demokratisch gewählte Reichsregierung an die Macht kam, verflog die Hoffnung auf einen erträglichen Frieden bereits im Jahre 1919 mit der Unterfertigung des Versailler Vertrags – aus deutscher Perspektive auch oft das „Diktat von Versailles“ genannt.388 Das Gefühl, „einem ungerechten Gewaltakt wehrlos ausgeliefert zu sein“, überherrschte alles, denn Deutschland wurde unter Sonderrecht gestellt, militärisch entmachtet, wirtschaftlich ruiniert und politisch gedemütigt.389 Politische Instabilität, eine enttäuschende Außenpolitik und weiterbestehende wirtschaftliche Probleme kennzeichneten die Anfangsjahre der Republik. Aber auch die zwanziger Jahre waren von wachsender Arbeitslosigkeit und einem permanenten Krisenbewusstsein gekennzeichnet.390 In dieser Krisenzeit und mit dem Bismarckreich als Symbol der nationalen Einheit noch in Erinnerung wuchs, so beschreibt Zeitzeuge , das „Erlösungsbedürfnis“ der

384 Vgl. Joseph Nyomarkay: Charisma and Factionalism in the Nazi Party. Minnesota: University of Minnesota Press 1967, 16-17. 385 Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 38. 386 Streicher zit. in ebd., 29. 387 Bangert: Gold oder Blut. Der Weg aus dem Chaos, 144. 388 Vgl. Schulze: Kleine deutsche Geschichte, 139. 389 Ebd., 138-139. 390 Vgl. ebd., 159-160.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme verunsicherten Nation. Besonders in seinem zwischen 1930 und 1932 verfassten Roman Der Mann ohne Eigenschaften beschreibt Musil, wie die „Wortgruppe Erlösung“ im Sprachgebrauch seiner Zeitgenossen immer beliebter wurde.391 Laut Beate Althammer kristallisierte sich gerade am Bismarckmythos die Sehnsucht nach einem starken „Führer“, der die nationale Ehre wiederherstellen und ein neues mächtiges Reich – das „Dritte Reich“ – errichten würde.392

Außerdem gab es im deutschen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, so beschreibt Ulrich Linse, eine „Kontinuität der apokalyptischen Revolution“, die besonders in Zeiten der Krise Widerhall fand.393 Dieses apokalyptische Denken ist ursprünglich auf die Offenbarung des Johannes zurückzuführen, weswegen die Apokalypse als Weltuntergang in der christlichen Tradition als eine wichtige Durchgangsphase zu einer „neuen Erde“ verstanden wird. Obwohl sich das apokalyptische Denken Vondung zufolge im 20. Jahrhundert von ihrem christlich-religiösen Ursprung entfernt hat, meint die Apokalypse aber immer noch die totale Zerstörung der Welt, damit eine neue und vollkommene aufgerichtet werden kann. In dem Sinne interpretiert Vondung die Apokalypse also als „Erlösungsvision“.394 Vor diesem Hintergrund von politischer und geistiger, ökonomischer und sozialer Krise und darüber hinaus genährt von einer Tradition apokalyptischen Denkens traten in den 1920er Jahren unterschiedliche Persönlichkeiten hervor, die Linse unter der Bezeichnung „Inflationsheilige“ zusammenbringt.395 Auch in diesen „Inflationsheiligen“ kamen Politik und Religion zusammen, denn ihr Auftreten lässt sich laut Linse nur „aus einem tiefempfundenen Verfall der alten Welt, der Sinnentleerung bisheriger Existenz und der Hoffnung auf die moralische Erneuerung von Mensch und Gesellschaft, eben aus dem Glauben an eine politisch-religiöse Transformation“ verstehen, weswegen rein wirtschaftliche Antworten auf die Krise nicht ausreichten.396

Das Auftreten solcher „Inflationsheiligen“ illustriert zudem, dass die Suche nach einem „Führer“ – die Führersehnsucht – in den 1920er Jahren keineswegs ein Reservat der Rechten war. Auch ein liberaler Politiker wie Walther Rathenau oder der Demokrat Alfred

391 In diesem Roman zitiert Musil Zeitgenossen, die sich „theologisch imprägnierter Begriffe“ bedienen, „um ihren Krisenerfahrungen und ihrem Hoffen auf eine Gesundung von Staat und Gesellschaft eine Sprache zu geben“. Musil zit. in Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 1. 392 Beate Althammer: Das Bismarckreich 1871-1890. Paderborn: Schöningh 2017, 254. 393 Vgl. Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Berlin: Siedler 1983, 28. 394 Vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München: dtv 1988, 11. 395 Vgl. Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. 22. In seinem Buch führt Linse verschiedene sogenannte „Inflationsheilige“ heran, wie etwa Gusto Gräser, Johannes Baader, Friedrich Muck-Lamberty und Ludwig Christian Haeusser. Diese Arbeit möchte nur darauf hinweisen, dass sich die Hoffnung auf eine messianische Erlöserfigur nicht nur in der Person Adolf Hitlers kristallisierte, sondern ein allgemeines – die Politik und Religion übersteigendes – Phänomen darstellte. 396 Ebd., 35.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Weber machten sich Sorgen um die „führerlose“ Republik.397 Auch im Vereinskatholizismus setzte sich der „Führer“-Begriff durch und sogar Christus wurde als „Führer“ benannt.398 Obwohl die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der Weimarer Republik im Jahre 1924 zunächst das Ende der öffentlichen Wirksamkeit der „Inflationsheiligen“ bedeutete, bekamen sie mit der Weltwirtschaftskrise fünf Jahre später erneute Lebenskraft.399 Allerdings waren sie dem „Führer“ der nationalsozialistischen Bewegung, die bereits zu einer Massenbewegung geworden war, nicht mehr gewachsen. Obwohl Linse auch in Hitler „eine Mutante des Typus Inflationsheiliger“ sieht,400 war es am Ende er, der tatsächlich die politischen Machtmittel errang, um als „deutscher Messias“ seine apokalyptische Vision zu verwirklichen. Nach der Machtergreifung bedienten sich hohe NS-Funktionäre also weiterhin eines religiösen Diskurses, um Hitlers Führerschaft zu legitimieren. So schrieb Joseph Goebbels beispielsweise, Adolf Hitler „erfüllte wie ein Diener Gottes das Gesetz, das ihm aufgegeben war“.401 Hermann Göring sah Hitler als „den Retter“, den „der Herrgott dem deutschen Volke“402 geschenkt hat. Das Volk liebe Adolf Hitler, „weil wir glauben, tief und unerschütterlich glauben, daß er uns von Gott gesandt ist, Deutschland zu retten“.403 Auch Gerhard Schumann gestand in seiner erst nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Autobiographie ein, dass Adolf Hitler für ihn und seinen Bekanntenkreis zur Zeit „der gottgesandte Führer und Retter des Reichs“404 war. Inwiefern sind aber die Begriffe „Messias“ und „Messianismus“, die doch durch und durch religiös grundierte Begriffe sind, auf eine politische Ideologie wie die nationalsozialistische anwendbar?

Vondung interpretiert „Messianismus“ als ein Systembegriff der Moderne, dessen terminologische Problematik bereits einige Jahrhunderte vorher angefangen hat.405 Die (משיח) “Begriffe „Messias“ und „Messianismus“ gehen auf das hebräische Wort „Maschiach zurück, das genauso wie sein griechisches Äquivalent „Christos“ (Χριστός) einen Messias als „Gesalbten“ charakterisiert.406 Gerade die Idee der „Salbung“ stellt laut Klaus Schreiner die herrschaftslegitimierende Kraft in der messianischen Vorstellung des Messias als eines

397 Vgl. Thomas Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936. In: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft Hg. v. Wolfgang Hardtwig. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 106. 398 Vgl. ebd. 399 Vgl. Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, 36. 400 Vgl. ebd., 40. 401 Joseph Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. München: Eher 1934, 14. 402 Hermann Göring: Aufbau einer Nation. Berlin: E. S. Mittler & Sohn 1934, 31. 403 Ebd. 52. 404 Schumann, Gerhard. Besinnung. Von Kunst und Leben. 2. Auflage Bodman/Bodensee: Hohenstaufen. 1974, 144. 405 Für Vondungs Interpretation des Begriffs „Messianismus“ im Rahmen der Idee der „Apokalypse“ und „Utopie“ verweist die Arbeit besonders auf Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, 40-42. 406 Vgl. „Messias“ in Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 7, 168.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

„von Gott erwählte[n] und gesalbte[n] König[s]“ dar.407 Obwohl der Messianismus in erster Linie aus der jüdischen und christlichen Tradition bekannt ist, könnte man aber auch politische Erlöserfiguren als „Messias“ und in dem Sinne auch politische Religionen oder kultische Formen der Personenverehrung als „messianische Bewegungen“ betrachten.408 Obwohl es also anders hätte ausgehen können, bedeutete die mit der europäischen Aufklärung einsetzende Säkularisierung Europas nicht das Ende des Messianismus. Auch die europäische Neuzeit war von Gestalten und Bewegungen gekennzeichnet, „die durchaus die Bezeichnung messianische Bewegung verdienen, obwohl sie auf den ersten Blick nicht, oder nur wenig, mit dem herkömmlichen Messias-Bild verbunden werden können.409 Als politischer Begriff wurde „Messianismus“ im beginnenden 19. Jahrhundert geprägt und in dem Zusammenhang auf das Feld der Politik und politischen Theorie übertragen. Schreiner führt den Begriff „Messianismus“ auf den in Paris lebenden polnischen Mathematiker und Philosophen Joseph Marie Höené Wronski (1776-1853) zurück, der seit 1831 mehrere Schriften verfasst hatte, in denen der Begriff Messianismus vorkam.410 Wronskis Messianismus trägt utopische Züge und er bezeichnet mit dem Begriff ein „System zukunftsgerichteter Ideen und Erwartungen, aus denen, wenn sie denn verwirklicht würden und in Erfüllung gingen, eine ideale gesellschaftliche und politische Ordnung hervorgehen solle“.411 Gerade das Wissen um die Bedeutung der Messiasidee in der Geschichte des Judentums führte laut Schreiner im 19. Jahrhundert zur Aufnahme des Begriffs „Messias“ ins politische Vokabular, „um das Harren und Hoffen auf einen politischen Retter und Heilsbringer zum Ausdruck zu bringen“, denn dem „Messiasbegriff eignete von seinem Ursprung her eine ‚politische Urbedeutung‘, die ihn auf andere Verhältnisse übertrag- und anwendbar machte“.412

Das Konzept des „politischen Messianismus“ steht auch Zentral in der Totalitarismusforschung des israelischen Historikers Jacob Leib Talmon (1916-1980).413

407 Vgl. Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 3. 408 Vgl. „Messias/Messianismus“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 5, 1143. 409 Hans J. Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 68.1 (2016), 5. 410 Wie etwa „Podrome du Messianisme“, „Prospectus du Messianisme“ und „Métapolitique messianique“. Vgl. Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 7. 411 Ebd. 412 Ebd. 413 Otto Seitschek erläutert die dreigliedrigen Struktur von Talmons historisch-philosophischem Hauptwerk History of Totalitarian Democracy: Der erste Band, The Origins of Totalitarian Democracy (1952), unterscheide liberale und totalitäre Demokratie und deren gemeinsamen Ursprünge im 18. Jahrhundert. In Political Messianism: The Romantic Phase (1960) stelle Talmon die geistesgeschichtliche Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts näher dar und erweitert sie in diesem Zusammenhang um die Rolle des Sozialismus und des Nationalsozialismus. Im dritten Band, The Myth of the Nation and the Vision of Revolution

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Talmon führt die Wurzeln der totalitären Regime im 20. Jahrhundert auf die Philosophie des 18. Jahrhunderts zurück, wobei er unter anderem die Philosophie von Jean-Jacques Rousseau große Bedeutung zuschreibt. Vorangetrieben von dem durch die Säkularisierung bedingten schwindenden Einfluss von Religion und Kirche auf Mensch und Gesellschaft, rückte der Staat nach und nach an die Stelle der für die Sittlichkeit allein ausschlaggebenden Instanz.414 Im Entwicklungsprozess der Demokratie unterscheidet Talmon strikt zwischen liberaler und totalitärer Seite. Gerade in der „totalitären Demokratie“, mit deren Begriff Talmon laut Seitschek ein Novum in der Totalitarismusforschung schafft,415 spielen messianische und religiöse Elemente eine zentrale Rolle.416 Seitschek zufolge braucht die liberale Demokratie einen politischen Messianismus nicht, weil sie das Zwangsprinzip aufgebe und sich nach dem ‚trial and error‘-Prinzip entwickle. Die totalitäre Demokratie aber folge der zwanghaften Maxime des ‚so-und-nicht-Anders‘ und stütze sich auf eine einzige politische Wahrheit,417 was sich im Rahmen dieser Arbeit auch bereits als ein gemeinsames Merkmal der politischen Religion – in der Interpretation von Emilio Gentile und Mathias Behrens – und des totalitären Regimes erwiesen hat. Die ideologische Gefolgschaft einer Führerfigur oder einer politischen Bewegung sei laut Seitschek in der totalitären Demokratie also notwendig und dieser politische Messianismus fungiere dann gewissermaßen als ‚Motor‘, um Energien für die eigene Ideologie und vor allem deren Durchsetzung zu gewinnen.418 Obwohl Hannah Arendt der Führerfigur nicht unbedingt messianische Züge zuschreibt, beschreibt auch sie den „Führer“ als „Motor“ der totalitären Bewegung.419 Weil die totalitäre Diktatur sowohl in ihrer linken, sozialistischen als auch in ihrer rechten, nationalistischen Ausprägung stark messianischen Charakter aufweist, hält Talmon den Begriff „politischer Messianismus“ im Endeffekt für passender als „totalitäre Demokratie“.420

Sowohl in seiner religiösen als auch politischen Ausrichtung ist der Messianismus immer mit einer sozialen Bewegung und einer spezifischen historischen Situation verbunden.421

(1980/1981), geht Talmon auf die Rolle des Mythos der Nation und dessen revolutionäre Triebkraft bis hin zu den totalitären Entwicklungen im 20. Jahrhundert ein. Vgl. Hans Otto Seitschek: Politischer Messianismus - Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon. Paderborn: Schöningh 2005, 25-26. 414 Vgl. ebd., 55. 415 Vgl. ebd., 74. 416 Vgl. ebd., 54. 417 Vgl. ebd., 74. 418 Vgl. ebd. 419 Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 592. 420 Vgl. Jacob Talmon: Political Messianism. The Romantic Phase. London: Secker & Warburg 1960, VIII. 421 Vgl. „Messias/Messianismus“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 5, 1143.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

Das Lexikon für Theologie und Kirche beschreibt drei Faktoren, die sich für das Entstehen – auch politisch – messianischer Bewegungen konstitutiv erwiesen haben:

1. Eine Krisensituation als Ausgangspunkt, die von den Gliedern einer bestimmten Gesellschaft als Bedrohung für ihr soziales, politisches, ethisches und religiöses Überleben empfunden wird; 2. Das Auftreten einer charismatischen Führungspersönlichkeit, welche das Krisenbewusstsein in sich verdichtet und sich mit dem Geschick der Gemeinschaft solidarisiert; 3. Das Erlebnis einer visionären oder auditiven Berufung und Beauftragung zum sammelnden und rettenden Handeln – oft in Analogie zu biblischen Propheten oder Rettergestalten wie Mose und besonders zur messianischen Sendung Jesu, dessen Wirken, Leiden und Auferstehung auf den „Messias praesens“ übertragen wird.422

Genauso wie in Max Webers Theorie über charismatische Herrschaft scheint eine – politische, soziale, ethische und/oder religiöse – Krisensituation eine Grundbedingung für das Aufkommen einer messianischen Herrschaftsfigur zu sein. Die Krisensituation im Nachkriegsdeutschland der 1920er Jahre scheint diese soziale Bedingung, wie bereits erklärt, zu erfüllen. Die wichtigsten Gründe für „das ungeduldige Harren auf einen charismatischen Hoffnungsträger“ waren laut Schreiner „der verlorene Krieg, der Zusammenbruch des Kaiserreichs und nicht zuletzt Zweifel an der Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie“.423 Dem dritten konstitutiven Faktor zufolge, sollte die charismatische Herrschaftsfigur jedoch eine weitere Bedingung erfüllen. Um als Messias- Figur wahrgenommen werden zu können, sollte sich dieser lang ersehnte „Führer“ zu seiner „messianischen Sendung“ berufen oder beauftragt fühlen. Laut Hillerbrand schließt Messianismus also immer zugleich eine Botschaft ein, die „Erlösung vom gegenwärtigen Übel“ verspricht.424 Dabei sei „Erlösung“ nicht unbedingt als Befreiung von Sünde, sondern auch als die Befreiung „von den Nöten des täglichen Lebens“, und zwar „vom irdischen Leiden, von Krankheit und Hungersnot, von Neid, Krieg und Gewalt“ zu interpretieren.425 Ob seine Aussagen ernst zu nehmen sind, bleibt dahingestellt, Hitler hat sich aber schon mehrmals als der Nachfolger Christi präsentiert. Einen Grund dafür sieht Völker Ullrich beispielsweise in Hitlers Weigerung, das 25-Punkte-Programm der NSDAP einer Revision zu unterziehen, denn: „Auch das Neue Testament ist voller Widersprüche, was jedoch der Ausbreitung des Christentums keineswegs hinderlich gewesen ist“.426 Alfred Läpple weist außerdem darauf hin, dass Hitler das Wort „Vorsehung“ mehr und mehr für sich allein pachtete: „Hitler hat immer dann auf die ‚Vorsehung‘ oder auf den ‚Allmächtigen‘ sich

422 „Messianische Bewegungen“ in Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 7, 164. 423 Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 26. 424 Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte, 9. 425 Ebd., 8. 426 Hitler zit. in Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 232.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ berufen, wenn ein Attentat auf ihn mißglückte oder ein blutiger Sieg ihm zufiel“.427 Außerdem scheint er sich auch in Mein Kampf als ein „Werkzeug und Vollstrecker der göttlichen Vorsehung“428 zu verstehen: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“.429

Ullrich greift auf Webers charismatische Herrschaftstheorie zurück, um die soziale Beziehung zwischen charismatischer Führerfigur und der Bewegung zu betonen. Denn, um wirken zu können, „braucht der charismatische Politiker, Max Weber zufolge, eine Gemeinde von Anhängern, die von seinen ‚außeralltäglichen‘ Fähigkeiten überzeugt ist und deshalb fest an seine Berufung glaubt“.430 Es geht also nicht nur darum, dass sich eine Figur wie Adolf Hitler als „Führer“ – oder auch Retter und Messias – versteht, wesentlich ist auch die „Anerkennung“ als solchen durch die Bewegung.431 Die oben angeführten Zitate von Streicher, Goebbels und Göring zeigen, wie Hitler durch NS-Funktionäre als „Retter der Nation“ wahrgenommen oder zumindest so dargestellt wurde. Schumann beschreibt in seiner Autobiographie, dass viele NS-Propagandaautoren im Führer tatsächlich einen gottgesandten Retter sahen. Aber auch der kleine Mann scheint an Hitlers Mission geglaubt zu haben. So berichtet Victor Klemperer davon, wie ihm dreimal von drei unterschiedlichen Leuten ein Glaubensbekenntnis zu Hitler vermittelt wurde: „Ich glaube an ihn“432, „An Hitler glaube ich“433 und „Ich glaube an den Führer“434. Gerade dieser „Glaube“ an den „Führer“ brachte auch unzählige Lobgedichte auf den „Führer“ hervor, für die die Dichtung von Heinrich Anacker, die später der literarischen Analyse unterzogen wird, als exemplarisch gilt. Hans Jörg Schmidt beschreibt die „Auserwähltheit“ des „Führers“ als einen topischen Bezugspunkt der Gelegenheitslyriker, der insbesondere in der NS-Gelegenheitslyrik als Form der Adoratio weit verbreitet ist.435

Gerade die messianische Stilisierung des „Führers“ bestimmt die sakrale Potenz des Führerbegriffs. Allerdings ist die Triade „Führer“ – „Reich“ – „Volk“ notwendig, um dem messianisch ausgelegten Führerbegriff tatsächlich Inhalt und Relevanz zu verleihen. So betont Hillerbrand, dass bei messianischen Individuen und Bewegungen immer drei

427 Alfred Läpple: Kirche und Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich: Fakten, Dokumente, Analysen. Asschaffenburg: Paul Pattloch 1980, 28. 428 Ebd. 429 Hitler: Mein Kampf, 70. 430 Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 148. 431 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 179. 432 Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 131. 433 Ebd., 134. 434 Ebd., 135. 435 Hans Jörg Schmidt: Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“/„Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“. In: Totalitarismus und Literatur. Hg. v. Hans Jörg Schmidt und Petra Tallafluss. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 102-103.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

Gesichtspunkte wesentlich sind, und zwar Botschafter, Botschaft und Bewegung: „Ein Botschafter verkündigt eine als ‚neu‘ bezeichnete Botschaft, um die sich eine Bewegung formiert“.436 Die Botschaft ist die im nächsten Teil beschriebene Prophezeiung der Errichtung eines neuen – dritten – Reiches. Die Bewegung erweist sich in Bezug auf die Darstellung Hitlers als des „Berufenen, Auserwählten und Gottgesandten“ als eine gläubige Gemeinschaft in bedingungsloser Hingabe und blindem Gehorsam.437

2.2 Das „Dritte Reich“ als theologisches Konzept

Heutzutage scheint die Idee eines „Dritten Reiches“ quasi unlösbar mit der nationalsozialistischen Herrschaftsepoche verbunden zu sein. Allgemein wird angenommen, dass Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) mit seinem 1923 herausgebrachten Buch Das Dritte Reich den Nationalsozialismus mit seinem wirksamsten politischen „Slogan“ versorgt hat,438 auch wenn er der frühen NS-Bewegung nicht angehörte. In der NS-Historiografie folgte dieses „Dritte“ Reich auf das – „erste“ – Heilige Römische Reich deutscher Nation (952-1806) und das – „zweite“ – Bismarcksche Hohenzollernreich (1871-1918). In dem Sinne erscheint diese Reichsidee auf den ersten Blick als ein rein politisches und mit Macht verbundenes Konzept. Das Symbol des „Dritten Reiches“ ist jedoch im Grunde ein theologisches bzw. geschichtsphilosophisches Konzept, das das Zeitalter des Heiligen Geistes markiert, das auf das Zeitalter des Vaters und des Sohnes folgen sollte.439 Diese Idee kommt im Endzeitlichen Denken des Zisterzienserabts Joachim von Fiore (um 1130-1202) wie in der Erlösungsidee des Thomas Müntzer (1488/89-1525) zum Ausdruck.440 Gerade dieser religiöse Ursprung des Symbols des „Dritten Reiches“ wurde in Deutschland bereits um die Jahrhundertwende rezipiert und ausführlich diskutiert.

2.2.1 Die christliche Wurzel des „dritten Reiches“

Die Idee eines „dritten Reiches“ findet seinen – christlichen – Ursprung in der Drei-Zeiten- Lehre des mittelalterlichen Abtes Joachim von Fiore (um 1130-1202) aus Kalabrien. Dass dieser italienische Mönch in der Literatur in erster Linie mit seinem verdeutschten Namen zu finden ist, zeuge David Redles zufolge für die Stärke seiner Sonderperspektive auf Apokalypse in der deutschen Geschichte und Wissenschaft über die Jahrhunderte, auch

436 Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte, 2. 437 Vgl. Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, 35-36. 438 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 9; Vgl. Matthias Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism. In: A Companion to Joachim of Fiore. Hg. v. Matthias Riedl. Leiden: Brill 2017, 305. 439 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 9. 440 Vgl. Seitschek: Politischer Messianismus - Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, 170.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ während der NS-Periode.441 Joachim von Fiore interpretierte die Geschichte als eine aufsteigende Abfolge von drei Zeitaltern oder Reichen, in der lateinischen Originalfassung drei „status“ genannt. Auffällig ist, dass dieses „status“ im Englischen unterschiedlich mit „stage“, „age“, „state“ und „time“ und im Deutschen bedeutsamerweise mit „Reich“442 übersetzt wird.

Dem Ersten Reich Gottvaters und des alttestamentlichen Gesetzes und dem Zweiten Reich des Sohnes und des Evangeliums wird – nach einem Zwischenreich des Antichrist mit schrecklichen Verfolgungen – um 1260 das Dritte Reich des Heiligen Geistes folgen, ein Zeitalter ohne geschriebenes Testament, ohne Herrschaft, in dem die Bewohner in völliger Gleichheit und Harmonie in ewigem Frieden leben.443

Nach Alfons Rosenberg, der Joachims 1955 publizierte Herausgabe von Das Reich des Heiligen Geistes bearbeitet und mit einem Vorwort versehen hat, besteht die revolutionäre Einsicht Joachims gerade darin, dass es nicht nur zwei sondern drei Heilszeiten geben müsse. In Anlehnung an die christliche Dreifaltigkeitstradition weise jede Heilszeit den Stempel und Charakter einer der drei Personen der Gottheit – Vater, Sohn und Heiligen Geist – auf. Dabei wäre jede neue Zeit als Frucht der vergangenen Zeit zu verstehen.444 Außerdem, so erklärt Erich Voegelin, wäre jedes der Reiche symbolisch durch ihre „Führer“ bestimmt: „Am Anfang des zweiten Reiches steht, nach den Vorläufern Zacharias und Johannes, Christus; am Anfang des dritten Reiches, das nahe bevorsteht, eine Erscheinung die schlechthin DUX, der Führer, genannt wird“.445 Rosenberg erklärt, dass die Kirche in diesem dritten status keine Priester- und Sakramentskirche mehr darstellt, sondern ein von Mönchen geleiteter Liebesverband von Christen, der zwar immer noch von einer päpstlichen Figur geführt wird.446 Voegelin fasst Joachims „Reichsapokalypse“ folgenderweise zusammen:

Das dritte Reich Joachims ist nicht eine neue Institution, die revolutionär an die Stelle der Kirche zu treten hätte, sondern ein Prozeß der Vergeistigung der Ekklesia und der Umbildung der Weltkirche zu einem neuen Orden kontemplativen vergeistigten Mönchstums; im Gegensatz zu der Reichsapokalypse des Paulus enthält die Offenbarung des Joachim daher auch keine Hinweise auf die Sozialordnung des dritten Reiches; im Reich der spiritualis intellegentia leben die Menschen kontemplativ, nicht mehr aktiv-kontemplativ

441 Vgl. David Redles: Nazi End Times: The Third Reich as Millenial Reich. In: End of Days. Essays on the Apocalypse from Antiquity to Modernity. Hg. v. Karolyn Kinane und Michael A. Ryan. Jefferson, North Carolina, London: McFarland & Company 2009, 173. 442 Ebd. 443 Zit. in „Drittes Reich“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 156. 444 Vgl. Alfons Rosenbergs Einleitung in Joachim Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes. Hg. v. Alfons Rosenberg München: Otto-Wilhelm-Barth 1955, 19-20. 445 Voegelin: Die politischen Religionen, 40-41. 446 Vgl. Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 23.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

wie der Klerus der Weltkirche, sie leben geistig und arm, brüderlich, alle vom gleichen Rang, ohne Zwangsordnung.447

Zu dieser Auffassung des endzeitlichen Denkens kam Joachim, indem er anhand einer analytischen Technik – von ihm concordia genannt –, Korrespondenzen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament aufdeckte.448 Die Entsprechung vom Alten und Neuen Testament deutet auf eine weitere Entsprechung mit einer noch künftigen Offenbarung, die bereits in der Apokalypse des Johannes angekündigt wurde, hin.449 Obwohl es im prophezeiten Jahr 1260 keine große spürbare und apokalyptische Veränderung gegeben hat, sehen manche die Verwirklichung der joachitischen Prophezeiung in der Entstehung des Franziskaner Ordens. Laut Rosenberg sahen die Franziskaner in dem Heiligen Franziskus von Assisi dem „eigentlichen Testamentsvollstrecker des Seher-Abts“ und dem „Verwirklicher der joachitischen Lehre vom Geist-Zeitalter“.450 Außerdem glaubten sie die Franziskanische Stiftung als „den von Joachim prophezeiten Reformationsorden, als das Vorbild und die Keimzelle der Geistkirche erkennen zu können“.451 Riedl meint, dass Joachim vor allem in radikaleren Abspaltungen als Prophet verehrt wurde. Unter anderem wegen der Bearbeitungen seiner Lehre durch die Franziskaner überlebten Joachims Ideen und Symbolik bis in die Neuzeit.452

Obwohl Joachims Werk im 13. Jahrhundert schon theologische Kritik auslöste – unter anderem von Thomas von Aquin – wurde es keineswegs verurteilt oder zensiert.453 Seine Geschichtsinterpretation wurde bis in die Neuzeit weitgehend rezipiert und zu einem „wirksamen Topos im christlich-theologischen, geschichtsphilosophischen und sozialutopischen Denken Europas“.454 Der Symbolismus der Reichsapokalypse lebt zudem fort, so Voegelin, im Symbolismus des 19. und 20. Jahrhunderts.455 Rosenberg ist sogar der Meinung, dass Joachim von Fiores Prophezeiung vom kommenden „dritten Reich“ seit dem 13. Jahrhundert das entscheidende Ferment aller abendländischen Reformversuche

447 Voegelin: Die politischen Religionen, 41. 448 Vgl. Redles: Nazi End Times: The Third Reich as Millenial Reich, 173. 449 Vgl. Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 19-21. 450 Ebd., 27. 451 Ebd. 452 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 275- 280. 453 Vgl. Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 50-51. 454 Zit. in „Drittes Reich“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 156. 455 Vgl. Voegelin: Die politischen Religionen, 42. Weitere Einzelheiten zu Joachims geistesgeschichtlicher Nachwirkung bieten Matthias Riedl (Hg.): A Companion to Joachim of Fiore. Leiden: Brill 2017, Julia Eva Wannenmacher (Hg.): Joachim of Fiore and the Influence of Inspiration: Essays in Memory of Marjorie E. Reeves (1905-2003). London: Taylor & Francis 2016 und Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 50-66.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ geblieben ist, auch wenn sie entstellt und missbraucht und schließlich in der nationalsozialistischen Zeit aufs äußerste säkularisiert worden ist.456

2.2.2 Joachims „drittes Reich“ und das „Dritte Reich“ im Nationalsozialismus als politischer Religion

In seiner ausführlichen Studie über das Leben und Werk von Joachim von Fiore, herausgegeben im Jahre 2017, widmet Matthias Riedl der möglichen Bedeutung seiner Lehre für die kommunistische und nationalsozialistische Ideologie – die modernen politischen Religionen – ein ganzes Kapitel. Dabei bezieht er sich mehrmals auf das Werk Erich Voegelins, der bereits in seinem 1938 herausgegebenen Buch Die politischen Religionen auf Joachims Reichsapokalypse verwies.457 Laut Voegelin hat Joachim mit seiner trinitarischen Eschatologie ein Symbolaggregat geschaffen, das bis heute die Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft bestimmt.458 Gerade die Stärke dieses Symbolaggregats – und besonders die Symbolik des dritten status – wäre eine mögliche Erklärung für den Erhalt von Joachims Erbe bis in die Neuzeit:

The memory of this transformation of eschatology, the name of its initiator, and the basic symbols connected to it were always preserved in Western civilization, independently of concrete knowledge about the abbot’s writings.459

Sowohl Voegelin als auch Riedl unterscheiden vier Symbole aus Joachims Reichsapokalypse, die für die modernen politischen Religionen von zentraler Bedeutung wären: In der Vorstellung der Geschichte als eine Abfolge von drei Zeitaltern sei das Symbol des dritten status – des dritten Reiches – als letzten Zeitalters das erste zentrale Symbol. Das zweite Symbol sei die zu diesem dritten Reich gehörende Führerfigur. Das dritte Symbol, der Prophet des neuen Zeitalters, könne in das zweite Symbol des „Führers“ aufgehen. Der von Joachim vorgesehene Mönchorden – auch eine Bruderschaft oder Gemeinschaft perfekter Spirituellen – erweise sich schließlich als das vierte zentrale Symbol.460

Die Verwendung des Symbols des „dritten Reiches“ im nationalsozialistischen „Dritten Reich“ stelle aber ein Sonderfall dar. Obwohl auch das NS-Symbol ursprünglich auf die joachitische Lehre zurückzuführen sei, sollte das Symbol vielmehr wegen zweifelhafter

456 Vgl. Rosenbergs Einleitung in Von Fiore: Das Reich des Heiligen Geistes, 52. 457 Vgl. Voegelin: Die politischen Religionen, 40-41. 458 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 271. 459 Ebd., 276. 460 Vgl. Erich Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction. Chicago, London: The University of Chicago Press 1952, 11-113; Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 277-280.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme literarischer Transfers überlebt haben.461 Der deutsche Begriff „Drittes Reich“ erschien zum ersten Mal 1888 in der deutschen Übersetzung von Kaiser und Galiläer, dem Doppeldrama des norwegischen Autors Henrik Ibsen, nach dem es zu einem geläufigen Ausdruck in der deutschen Literatur wurde.462 Vor allem mit Arthur Moeller van den Brucks 1923 veröffentlichtem Buch Das dritte Reich trat das Symbol erneut in das aktive Gedächtnis der Deutschen ein. Obwohl Alfred Läpple meint, dass Moeller van den Bruck mit dieser Veröffentlichung die Brücke von der joachitischen Utopie zur politischen Ideologie Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus geschlagen habe,463 führt Voegelin Moeller van den Brucks Verwendung des Symbols auf dessen Arbeit über russische Autoren wie Dostojewski zurück.464 In der russischen Literatur wird das Symbol des „Dritten Reiches“ als Symbol für Moskau als das „dritte Rom“ – nach Rom als dem ersten und Konstantinopel als dem zweiten Rom des Christentums – verwendet.465 Riedl weist in diesem Zusammenhang auf Moeller van den Brucks Bekanntschaft mit dem russischen Schriftsteller und Literaturkritiker Dmitri Mereschkowski (1865-1941) hin, mit dem er an einer deutschsprachigen Dostojewski-Ausgabe arbeitete. Mereschkowski, der unter anderem von als zweitgrößter Philosoph nach Friedrich Nietzsche gepriesen worden ist, könnte Joachims Namen über die Schriften Schellings466 kennengelernt haben. Joachims triadischer Symbolismus wäre daraufhin einfacherweise mit dem alten Mythos des imperialistischen Russland im Einklang zu bringen. Beweis dafür sieht Riedl in Mereschkowskis Trilogie Christ and Antichrist (1895-1904). Im zweiten Band – Leonardo da Vinci – erzählt Mereschkowski eine Legende, die die Verschmelzung joachitischer Symbole mit dem russischen imperialistischen Mythos illustriert. Der dritte Band – Peter and Alexej – endet sogar mit einer joachitischen Vision, in der der Evangelist Johannes erscheint und die Struktur der heiligen Geschichte offenbart. Riedl glaubt, es wäre plausibel, dass Moeller van den Bruck während seiner Zusammenarbeit mit Mereschkowski von seinen prophetischen Ideen erfahren hat.467

461 Vgl. Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction, 113. 462 Vgl. „Drittes Reich“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 156. Für weitere Informationen über den Gebrauch des Ausdrucks „Drittes Reich“ in der deutschen Literatur am Anfang des 20. Jahrhunderts verweise ich auf denselben Artikel. 463 Vgl. Läpple: Kirche und Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich: Fakten, Dokumente, Analysen, 23. 464 Vgl. Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction, 113. 465 Vgl. ebd., 112-114. 466 Schelling unterscheidet in seiner Philosophie der Offenbarung drei Perioden und lobt dabei die Freiheit der „dritten“ und „wahren Kirche“: „Petrus ist mehr der Apostel des Vaters, er blickt am tiefsten in die Vergangenheit. Paulus ist der eigentliche Apostel des Sohnes, Johannes hingegen der wahre Apostel des Heiligen Geistes. – Johannes ist der Apostel der zukünftigen, erst wahrhaft allgemeinen Kirche.“ Zit. in Arthur Schult: Das Johannesevangelium als Offenbarung des kosmischen Christus. O. Reichl 1965, 13. Schelling merkt dabei selber bereits die auffällige Kongruenz mit den Ideen von Joachim von Fiore auf. Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 307, Fn. 151. 467 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 306- 309.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Das Symbol des „dritten Reiches“ und seine religiöse Herkunft wurde in Deutschland aber bereits um die Jahrhundertwende rezipiert und diskutiert, wie zum Beispiel bei der vom Dichter Richard Dehmel organisierten Tafelrunde im Berliner Lokal „Schwarzes Ferkel“, das auch Moeller van den Bruck besuchte.468 Vor allem nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg taucht der Ausdruck immer häufiger auf, wie z.B. bei Oswald Spengler469, Ernst Krieck470, Dietrich Eckart471 und natürlich Arthur Moeller van den Bruck, der das Konzept eines „dritten Reiches“ in einem völlig anderen – säkularisierten – Kontext erscheinen ließ:

Was aber Joachim von Fiore immerhin noch im christlichen Kontext sah, indem er vom Dritten Reich des Heiligen Geistes, von der Endzeit-Gemeinde des universalen Pfingstfestes, von einem nie endenden Paradies der Freude und des Friedens und vom Heiligen Geist als dem göttlichen Führer (dux) in apokalyptischer Begeisterung sprach, ist von den Ideologen des Nationalsozialismus radikal umgedeutet und säkularisiert worden. Adolf Hitler hat man als Inkarnation und Personifikation des Dritten Reiches propagiert und verehrt, von dem allein Heil und Rettung für alle Zukunft komme. Das Dritte Reich des heiligen Geistes wurde zum Dritten Reich des unheiligen Geistes, der Menschenverachtung, der Menschenvergötzung und des verbrecherischen Wahnsinns.472

Ob Joachim die nationalsozialistischen Ideologen tatsächlich weitgehend beeinflusst hat, ist kaum nachzuvollziehen, so verweist Moeller van den Bruck in seinem Buch Das dritte Reich zum Beispiel nirgendwo explizit auf Joachim. Dass Joachims Lehre aber schon bis in die 1920er Jahre unter deutsche Intellektuelle bekannt war, belegt der direkte Verweis auf einen „calabrischen Mönch“ in der „Rede am Feuer“ des nationalsozialistischen Erziehungswissenschaftlers Ernst Krieck (1882-1947):473

468 Vgl. ebd., 305-306; Vgl. „Drittes Reich“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 156. 469 Riedl beschreibt, wie Oswald Spengler (1889-1936) in seinem Untergang des Abendlandes Joachim von Fiore als den großen zentralen Denker des Mittelaltares darstellt. Seine Ideen seien grundlegend für weitere Prozesse, die die Moderne hervorgebracht haben. Außerdem stellte Spengler, dessen Werk von jedermann aus der politischen Rechtsszene gelesen wurde, Joachims Prophezeiung als ein germanisches Ideal dar. Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 267. 470 Weiter unten wird auf Kriecks „Rede am Feuer“, in dem er explizit auf Joachims Symbol des „dritten Reiches“ eingeht, verwiesen. 471 Laut David Redles entdeckte Dietrich Eckart (1869-1923), Hitlers späterer Mentor, Joachims Idee eines „dritten Reiches“ wahrscheinlich über Henrik Ibsens Peer Gynt. Eckarts deutsche Nachdichtung aus dem Jahre 1914 gehörte zu seinen eigenen größten Erfolgen. Allerdings reinterpretierte Eckart Joachims Trinitätslehre, so Riedl, als eine besonders rassistische trinitarische Theologie. Genauso wie Alfred Rosenberg verstand er die Geschichte als einen Rassenkampf: einen universalen Kampf zwischen Licht und Dunkel, Christ und Antichrist. Vgl. Redles: Nazi End Times: The Third Reich as Millenial Reich, 174; Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 311-313. 472 Läpple: Kirche und Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich: Fakten, Dokumente, Analysen, 23 473 Nachdem Krieck diese Rede im Jahre 1931 vor Frankfurter Studenten an der Pädagogischen Akademie in Frankfurt hielt, wurde sie am 13. September 1931 in der Beilage „Der Jungstahlhelm“ der Zeitschrift Des Stahlhelms gedruckt: Ernst Krieck: Rede am Feuer. In: Der Stahlhelm. Beilage 37.2 (1931), 9.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

Vor siebenhundert Jahren erstrahlte über dem Mittelmeer der Komet des letzten großen Staufers, Abendland und Morgenland überscheinend. An ihn hat sich die Mythe von der Wiederkehr der Reichsherrlichkeit geheftet, die mit ihm untergegangen ist. Zu seiner Zeit wurde erstmals von einem calabrischen Mönch jenes Wort der Sehnsucht und der Frohbotschaft verkündet, das dann als Erweckung von der jungen franziskanischen Bewegung in die Herzen der Völker gepflanzt wurde; das Wort vom dritten Reich, eine religiöse und eine politische Sehnsucht nach einem höheren Gemeinschaftsdasein, gesprochen an einer Wende der Zeiten.474

Laut Krieck wurde dieses „Wort vom dritten Reich“ im Laufe der Geschichte noch ein zweites und ein drittes Mal „verkündet“. Bei wäre die „Losung“ des „dritten Reiches“ „noch nicht Volk, sondern Menschheit“, während Moeller van den Bruck „die Botschaft vom dritten Reich“ schließlich als „ein deutsches Schicksal“ verkündete.475 Voegelin sieht in der christlichen Reichsapokalypse und dem Symbolismus des Spätmittelalters „den geschichtstiefen Untergrund der apokalyptischen Dynamik der modernen politischen Religionen“.476 Auch Seitscheck glaubt, dass Joachims Vorstellung vom „dritten Reich“ symbolisch mitspielte, wenn die Hitler-Diktatur als „Drittes Reich“ nach dem ersten und zweiten Kaiserreich bezeichnet wird.477

Es ist Riedl zufolge nicht unbedingt die wichtigste Frage, ob Joachim spätere Ideologen beeinflusst habe. Vielmehr sei es von Bedeutung, das gemeinsame Prinzip hinter den Parallelen zu erkennen, und zwar die Überzeugung, dass die Geschichte ein bedeutsamer Prozess in Richtung auf die endgültige Verwirklichung des ursprünglichen telos darstellt. In diesem Zusammenhang erscheinen Propheten, die diese geschichtliche Struktur verstehen und in dem Sinne über Vorwissen über die Zukunft verfügen.478

Joachim of Fiore as well as the intellectual leaders of modern mass movements derived the meaning of their existence entirely from their anticipation of the future. Their lives were dedicated to pointing forward toward the culmination of the historical process. This dedication, however, gave meaning not only to the individual existence of the visionaries, but also to the existence of the collectives that accepted them as prophets: the Franciscan Spirituals, the communist parties, and the völkisch movements.479

Obwohl das Symbol des „Dritten Reiches“ schon einen nachweisbaren christlichen Hintergrund aufweist, kann man jedoch nicht einschätzen, inwiefern sich der kleine Mann dieses religiösen Ursprungs bewusst war. Es hat sich aber schon als Symbol für das

474 Ebd. 475 Ebd. 476 Voegelin: Die politischen Religionen, 41. 477 Vgl. Seitschek: Politischer Messianismus - Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, 170. 478 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 316. 479 Ebd.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ apokalyptische Weltbild des Nationalsozialismus geeignet. Vondung betrachtet gerade dieses apokalyptische Weltbild als die „extreme Manifestation nationalsozialistischer Religiosität – oder eben der ‚politischen Religion‘ des Nationalsozialismus und darüber hinaus „als die einzig plausible Erklärung für die dem Holocaust zugrundeliegende Intention, die Juden zu vernichten“.480 Dieses Weltbild entsteht laut Vondung „in Krisensituationen, produziert von Menschen, die sich in ihrer gesamten Existenz – spirituell, gesellschaftlich, aber auch politisch – gefährdet und gedemütigt, unterdrückt und verfolgt empfinden“.481 In dieser Hinsicht scheint das Aufkommen eines apokalyptischen Weltbildes den gleichen Vorbedingungen wie das Entstehen messianischer – oder charismatischer – Bewegungen zu unterliegen. Das zentrale Strukturmal der Apokalypse sieht Vondung in der Verknüpfung von Untergang und Erneuerung, Vernichtung und Erlösung.482 Die literarische Analyse der Propagandadichtung wird zeigen, dass sich dieses Strukturmerkmal besonders im Motiv der Auferstehung, und zwar in der Idee der Auferstehung des „Dritten Reiches“ aus der Weimarer „Katastrophe“, niederschlägt. In diesem Zusammenhang zeigt sich außerdem auch das chiliastische Element der nationalsozialistischen Reichsapokalypse.

Genauso wie „Messianismus“ sei auch der Begriff „Chiliasmus“ – oder der synonyme, im englischen Sprachgebrauch gebräuchliche Terminus „Millennarismus“ – laut Vondung als ein Systembegriff der Moderne zu verstehen.483 Mit dem vom griechischen Zahlwort χίλια – „tausend” – abgeleiteten Begriff „Chiliasmus“ – oder vom lateinischen „millennium“ abgeleiteten Begriff „Millennarismus“ – deutet man in jüdisch-christlicher Tradition auf die Erwartung des Tausendjährigen Reiches – auch eines Tausendjährigen Reiches des Friedens – nach der Wiederkunft des Messias und gerade vor dem letzten Gericht und dem Ende der Welt. Das Konzept des Chiliasmus wurde auch auf andere und nicht-religiöse Bewegungen übertragen, in denen das – baldige – Hereinbrechen einer fundamental veränderten Welt erwartet wird.484 Laut Vondung wurde der Begriff „Chiliasmus“ durch die Schriften von Heinrich Corrodi und Kant im 18. Jahrhundert in Deutschland geläufig, während die Bezeichnung „Chiliasten“ für die Anhänger des Glaubens an ein tausendjähriges Reich schon viel früher, etwa vom Kirchenvater Augustin, geprägt wurde. Vondung erklärt, dass die Bezeichnung „Chiliasten“ ursprünglich ein Abgrenzungs- und Kampfbegriff innerhalb der religiösen bzw. theologischen Auseinandersetzung war, mit dem auch Augustin die „Vertreter einer Irrlehre“ kennzeichnen wollte. Seit dem 18. Jahrhundert kam die Kritik nicht länger nur von kirchlicher Seite, sondern auch von

480 Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung, 119. 481 Ebd., 121. 482 Vgl. ebd. 483 Vgl. Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, 32. 484 Vgl. „Chiliasmus“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 2, 136 und „Chiliasmus“ in Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2, 1045-1049.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

Vertretern der Aufklärung und einer „vernünftigen Religion“.485 Als ein Beispiel für die unterschiedlichen Auslegungen der chiliastischen Vision nennt Vondung Joachim von Fiore, der laut Vondung „die folgenreichste Geschichtsspekulation des Mittelalters entwarf“486 und dessen Vorstellung des dritten status „in Analogie zum tausendjährigen Reich gesehen werden kann“.487 Im Zusammenhang mit neuzeitlichen Ideologien schlägt Vondung vor, den Begriff „Chiliasmus“ als „eine systematische Geschichtsspekulation zu bezeichnen, die einen Zustand der Vollkommenheit auf dieser Erde entwirft“.488 Anhand dieser Definition ist der Begriff „Chiliasmus“ laut Vondung nicht nur anwendbar auf Spekulationen, „die im Sinne der Offenbarung Johannis das tausendjährige Reich als Einbruch in die absolute Defizienz der Geschichte erwarten“, sondern auch auf solche, „die den Zustand der Vollkommenheit als Zielpunkt einer fortschreitenden Höherentwicklung betrachten“.489 Vondung sieht in Joachim von Fiores Einteilung der Geschichte in drei Zeitalter ein Beispiel dieses zweiten Typus.490 Man könnte also vorsichtig davon ausgehen, dass das Symbol des „Dritten Reiches“ in der Vorstellung eines „Tausendjährigen Reiches“ in der nationalsozialistischen Apokalypse auf das Erbe Joachim von Fiores zurückzuführen sei.

Obwohl sich das „Dritte Reich“ in der NS-Propaganda als wichtiges Symbol durchgesetzt hatte,491 wurde es allmählich durch „Reich“ oder – ab 1938 – „Großdeutsches Reich“ ersetzt. Das Symbol des „Dritten Reiches“ war vor allem dann wichtig, so lange die erwartete Erfüllung noch in der Zukunft lag. Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 und im Kontext des herrschenden NS-Regimes büßte das Symbol an Kraft ein. Als man scherzhaft anfing, auf ein mögliches „Viertes Reich“ zu verweisen, wurde das Symbol deutlich abgelehnt.492 So schreibt Oswald Torsten 1943 in seinem Buch Rîche. Eine geschichtliche Studie über die Entwicklung der Reichsidee:

Zweierlei geht wohl aus diesen Ergebnissen hervor: einmal gibt es kein erstes, zweites und drittes Reich, es gibt auch keine kleindeutsche und großdeutsche Lösung nebeneinander. Das Reich ist eine dem geschichtlich sich entfaltenden deutschen Werden und dem deutschen Bewußtsein eingeborene Idee, die sich im einheitlichen Lauf der Entwicklung vom Eintritt der Westgermanen in die europäische Geschichte bis zu Hitlers Vollendungswerk in ununterbrochenem, einheitlichem Fluß über große Hemmungen

485 Die terminologische Problematik des Begriffs „Chiliasmus“ in der Vergangenheit beschreibt Vondung besonders in Die Apokalypse in Deutschland, 32-39. 486 Ebd., 35. 487 Ebd., 36. 488 Ebd. 489 Ebd., 36-37. 490 Vgl. ebd., 37. 491 Für eine diskursive Analyse des „Reich“-Symbols in der Dichtung von Heinrich Anacker siehe Anneleen Van Hertbruggen: Das Dritte Reich: die diskursive Sakralisierung in der NS-Propagandadichtung von Heinrich Anacker. In: Studia Theodisca 24 (2017), 51-68. 492 Vgl. Riedl: Longing for the Third Age: Revolutionary Joachism, Communism, and National Socialism, 311.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

hinweg und unter zahlreichen Rückschlägen durch fortwährende Auseinandersetzung mit dem Einbruch der dualistisch-theokratischen Idee Vorderasiens und des Mittelmeerraumes verwirklicht.493

Durch mehrere aufeinanderfolgende Presseanweisungen wurde die Bezeichnung „Drittes Reich“ im Sommer 1939 schließlich offiziell verboten.494 Die Gedichte von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel, die im Rahmen dieser Arbeit analysiert werden, sind alle zwischen 1930 und 1936 entstanden. In Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung benutzt Anacker die Bezeichnung „Drittes Reich“ in sieben Gedichten. In Schumanns und Menzels Gedichtbänden ist immer vom einfachen „Reich“ die Rede. Die auffällige Sakralisierung des „Reiches“ mittels der Voranstellung von Adjektiven wie „heilig“ oder durch die Einbettung des Symbols im Auferstehungsmotiv in der nationalsozialistischen Propaganda im Allgemeinen und in dieser Propagandadichtung im Besonderen hat Klaus Vondung dazu gebracht, das Reichsymbol als ein quasireligiöses Konzept der nationalsozialistischen politischen Religion zu definieren, indem er es zu den sogenannten „Glaubensartikeln“ des NS-Credo rechnet.495

2.3 Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

Mit dem Fokus auf den Glaubensartikel „Volk“ wird in diesem Teil auf das letzte Kernkonzept der nationalsozialistischen Parole „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ eingegangen. Gerade die Idee der deutschen „Volksgemeinschaft“ stellt eine der zentralen Ideen der nationalsozialistischen Ideologie dar. Diese „Volksgemeinschaft“ lässt sich aber nicht separat von den zwei anderen Glaubensartikeln interpretieren. Bereits im Rahmen der Weberschen Charisma-Theorie wurde die notwendige soziale Beziehung zwischen der charismatischen Persönlichkeit und der Gemeinschaft, die an die außergewöhnlichen Qualitäten dieser Führerfigur glaubt, betont. Auch Joachim von Fiore unterstellt in seiner apokalyptischen Reichsidee das gemeinsame Auftreten einer prophetischen Führerfigur und einer gläubigen Bewegung, die zusammen den Anfang des neuen – dritten – Reiches einläuten. Während Joachim von Fiore eine Art neuen Mönchsordens vor Augen hatte, der

493 Oswald Torsten: Rîche. Eine geschichtliche Studie über die Entwicklung der Reichsidee. München Berlin: Verlag von R. Oldenbourg 1943, 164. 494 Vgl. Cornelia Schmitz-Berning zitiert in ihrem Vokabular des Nationalsozialismus aus verschiedenen Zeitungen und Wörterbüchern, um das Verschwinden der Bezeichnung „Drittes Reich“ zu illustrieren. Es soll der Wunsch des „Führers“ gewesen sein, diesen Ausdruck nicht mehr und anstatt dessen „nationalsozialistisches Deutschland“, „Großdeutsches Reich“ oder „Deutsches Reich“ zu verwenden. Daraufhin wurde das Stichwort „Drittes Reich“ beispielsweise aus den neuen Auflagen des Rechtschreibdudens und dem Volks-Brockhaus gestrichen und durch „Großdeutsches Reich“ ersetzt und nannte sich die Zeitschrift ‚Kunst im Dritten Reich‘ ab 1939 ‚Die Kunst im Deutschen Reich‘. Vgl. „Drittes Reich“ in: Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 159-160. 495 Vgl. Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept, 91.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme durch seine Spiritualität gekennzeichnet werde, war aus nationalsozialistischer Perspektive das grundlegende Definitionselement des „Volkes“ die „Rasse“496 bzw. das „Blut“.

Während sich die religiöse Aufwertung der Glaubensartikel „Reich“ und „Führer“ ziemlich einfach im Rahmen ihrer christlichen Ursprünge erklären ließ, lässt sich die Sakralisierung des Glaubensartikels „Volk“ nur auf implizite Weise nachweisen. Obwohl Manfred Gailus und Armin Nolzen die „Volksgemeinschaft“ als ein rein säkulares Konzept bezeichnen, mit dem das NS-Regime die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen versucht,497 erscheint auch das „Volk“ oder die „Volksgemeinschaft“ als eine mythisierte und sogar sakral aufgewertete Gegebenheit. So wird die nationalsozialistische „Bruderschaft“ in einen transzendenten Sakralbereich verlegt, indem die „Gefallenen der Bewegung“ als Leitbild der neuen Generation angeführt werden. Gerade in dieser als Vorbild aufgestellten Opferbereitschaft steigert sich auch die Bedeutung des die Gemeinschaft verbindenden Bluts. Das Blut gilt nicht nur als biologisches Definitionselement der „Volksgemeinschaft“, sondern auch als mythisches Fundament des deutschen Reiches. So dichtet Gerhard Schumann in seinen „Liedern vom Reich“, „so wuchs aus Blut und Erde neu das Reich“ (GS 18, V.14). Außerdem erscheint das deutsche Volk in diesem Kontext nicht nur als „Blutsgemeinschaft“ sondern auch als „Schicksalsgemeinschaft“: es sei ihre „Mission“, um – unter Leitung des „Führers“ – das Vaterland, das Deutsche Reich wieder groß zu machen. Im Folgenden wird zunächst erklärt, wie sich die Vorstellung der „Volksgemeinschaft“ in den 1920er Jahren als eine parteiübergreifende Idee durchsetzte und sich im nationalsozialistischen Kontext in Verbindung mit der Idee der „Auserwähltheit“ und der Verherrlichung des Märtyrertodes im Rahmen der aktiv gepflegten Erinnerungskultur zu einem mythisierten und religiös aufgewerteten Konzept entwickelte.

2.3.1 Die „Volksgemeinschaft“: Vom parteilosen Schlagwort zur nationalsozialistischen Erfolgsgeschichte

Obwohl der Begriff „Volksgemeinschaft“ aus heutiger Sicht unlöslich mit der nationalsozialistischen Ideologie verbunden zu sein scheint, war der Begriff in den 1920er Jahren keineswegs ein Reservat der Rechten. Bereits seit dem 19. Jahrhundert bildet „Gemeinschaft“, Michael Wildt zufolge, den Gegenbegriff zu „Gesellschaft“ und gilt somit als „Ausdruck für die Kritik an der rasanten Dynamisierung und Pluralisierung von Sozialverhältnissen im Zuge von Industrialisierung, Säkularisierung, Marktorientierung

496 Vgl. „Volk“ in: Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 642. 497 Vgl. Manfred Gailus und Armin Nolzen: Einleitung: Viele konkurrierende Gläubigkeiten – aber eine „Volksgemeinschaft“? In: Zerstrittene „Volksgemeinschaft“ Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Hg. v. Manfred Gailus und Armin Nolzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 18.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ und politischem Liberalismus“.498 Sowohl Wildt als auch Thomas Mergel betonen, dass der Begriff „Volksgemeinschaft“ nicht einfach als antidemokratisch zu bezeichnen sei, denn nicht nur konservative und völkische Bewegungen, sondern auch rechte und linke Liberale, Katholiken und Protestanten sowie die Sozialdemokraten bedienten sich dieses Begriffs.499 1924 beobachtete Helmuth Plessner, die „Gemeinschaft“ sei das „Idol dieses Zeitalters“.500 Die Sehnsucht nach einer deutschen „Volksgemeinschaft“ war aber keine neue Utopie. Viel mehr als in anderen Ländern herrschte in Deutschland die Idee vor, dass es zur historischen Aufgabe der Politik gehöre, Gemeinschaft herzustellen: „Die föderale Struktur des alten Deutschen Reiches, der konfessionelle Zwiespalt und die sozialen Friktionen: sie alle erheischten eine Politik, die in Deutschland innere Zusammengehörigkeit stiftete“.501

Bis zum Anfang des Ersten Weltkrieges gelang es der Politik aber nicht, diesen Erwartungen zu entsprechen. Laut Wildt verdankt die „Volksgemeinschaft“ ihre Hochkonjunktur jedoch gerade der Kriegserfahrung des Ersten Weltkrieges. In den 1920er Jahren blickt man fast nostalgisch auf den Anfang des Ersten Weltkrieges zurück und dann besonders auf die Kriegsaussage von Wilhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“.502 Dieser Satz erfasste den „Geist von 1914“ und wurde während der Weimarer Zeit zur Formel für „die geeinte Volksgemeinschaft, die über Parteien und Klassen hinweg in der Einheit und Geschlossenheit eine Stärke erblickte, mit der sie jedem Feind zu trotzen glaubte“.503 Mergel betont aber den mythischen Charakter der Idee, dass im Krieg zum ersten Male eine Gemeinschaft des ganzen Volkes entstanden ist, die im Angesicht ihrer Feinde zu sich selber gefunden hat. Allerdings war dieser Mythos nach dem Krieg höchst lebendig und stieß, so Mergel, auf breite Akzeptanz.504 Auch der Nationalsozialismus nahm diese von Wilhelm II. imaginierte Einheit als Vorbild und

498 Michael Wildt: „Volksgemeinschaft“ Eine Antwort auf Ian Kershaw. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011), 103. 499 Vgl. Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936, 98-99 und Wildt: „Volksgemeinschaft“ Eine Antwort auf Ian Kershaw, 104. 500 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft: eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, 28. 501 Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936, 97-98. 502 Dieser Satz, mit dem er das deutsche Volk in den Krieg geführt hat, sei das bekannteste Zitat von Wilhelm II. und wurde unzählige Male in Zeitungsmeldungen, auf Plakaten und Postkarten verbreitet. Obwohl es in Deutschland Ende Juli und Anfang August 1914 tatsächlich wilde Ausbrüche von „Hurra-Patriotismus“ gegeben hat, betonen Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff, dass diese Welle der Begeisterung keineswegs alle Bevölkerungsschichten erfasste. Vgl. Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff: Deutsche Legenden. Vom „Dolchstoß“ und anderen Mythen der Geschichte. Berlin: Ch. Links. 27-28. 503 Michael Wildt: Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 176. 504 Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918-1936, 98.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

Anrufung der „Volksgemeinschaft“ und versprach diese verlorene Einheit wiederherzustellen.505 Nach der Machtübernahme wurde die Sehnsucht nach der Gründung des „Dritten Reiches“ in der Retrospektive zudem auf die Soldaten am Kriegsanfang projiziert. So hieß es am 2. August 1933 im Völkischen Beobachter: „Am 2. August 1914 begann der Marsch des deutschen Soldaten in das Dritte Reich. Niemals hat sich das soldatische Opfer in solchem Grade als Gestalter aller Dinge erwiesen“.506 In diesem Kontext wurde der Tod so vieler Deutscher nicht länger im Zusammenhang mit der Kriegsniederlage Deutschlands gedeutet, sondern wurde ihr Opfer als Teil des Sieges, und zwar des Sieges der deutschen „Volksgemeinschaft“ neuinterpretiert.

Obwohl der Begriff „Volksgemeinschaft“ in der Weimarer Zeit als das politische Schlagwort par excellence fungierte und sowohl von der rechten als auch von der linken Szene vereinnahmt wurde, blieb die inhaltliche Auslegung eher vage. Adolf Hitler explizierte seine Interpretation der „Volksgemeinschaft“ am 27. Januar 1934 in einem Interview mit dem Schriftsteller Hanns Johst für das Frankfurter Volksblatt:

Volksgemeinschaft: das heißt Gemeinschaft aller wirkenden Arbeit, das heißt Einheit aller Lebensinteressen, das heißt Überwindung von privatem Bürgertum und gewerkschaftlich- mechanisch organisierter Masse, das heißt die unbedingte Gleichung von Einzelschicksal und Nation, von Individuum und Volk.507

Obwohl Hitler in diesem Zitat den Schein wahrt, dass er mit der Idee der „Volksgemeinschaft“ eine politische Gemeinschaft aller Deutschen vor Augen hat, liegt der wesentliche Unterschied zum pro-republikanischen Verständnis der „Volksgemeinschaft“ gerade in dieser Unwahrheit:

Während sich die pro-republikanischen Parteien stets für eine politische Gemeinschaft aller Deutschen auf der Basis der Weimarer Verfassung, also für die Inklusion aussprachen, war die „Volksgemeinschaft“ der Völkischen und Nationalsozialisten ausnahmslos durch Grenzen und somit durch Exklusion bestimmt, etwa in der Ausgrenzung der sogenannten Gemeinschaftsfremden.508

Gerade diese Idee der Exklusion betrachtet Hannah Arendt als eine wesentliche Charakteristik eines totalitären Regimes wie des Nationalsozialismus, in dem „ausgeschlossen ist, wer nicht ausdrücklich eingeschlossen ist“.509 Auch Peter Berghoff

505 Alexander Meschnig: Die Sendung der Nation. Vom Grabenkrieg zur NS-Bewegung. In: Attraktion der NS- Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 36. 506 Völkischer Beobachter am 02.08.1933 zitiert in ebd., 40. 507 Hitler zit. in Max Domarus (Hg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1 Triumph 1932- 1934.Wiesbaden: Löwit 1973, 349. 508 Gerhard Hirschfeld: Die Attraktion des Ersten Weltkriegs für die Nazi-Bewegung. In: Attraktion der NS- Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 77. 509 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 599.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ betrachtet die „kollektive Identität“ als „exklusiv“, denn mit der Konstruktion des „Identischen“ werde auch das „Differente“, das „Andere“ oder das „Fremde“ konstruiert.510 Die nationalsozialistische Ideologie konstruiert das „Andere“ und so auch die Grenzen der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ nach rassischen Kriterien. Dabei bemerkt Arendt, dass die Nationalsozialisten den Rassebegriff nicht erfunden haben, dass er aber „nur nie vorher mit solch gründlicher Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt worden“511 ist. Gerade in dieser von Rasse bestimmten exklusiven Identität der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ lässt sich auch das manichäische Element des Nationalsozialismus entdecken. Die manichäische Lehre, die seinen Namen seinem persischen Stifter Mani (etwa 216-276) verdankt, ist eine gnostische Lehre mit dualistischem Charakter: Licht und Finsternis, Gut und Böse, Geist und Materie werden nicht radikal voneinander getrennt und sich gegenübergestellt.512 Hagen Schulze betrachtet gerade die nationalsozialistische Rassendoktrin als ein manichäisches Gut- Böse-Bild, die als Gegenbild des „heils- und lichtbringenden Ariertums“ eine Gruppe brauchte, „die lediglich kraft objektiver Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse alles Böse, Schlechte und Abartige verkörperte, und diese satanische Außenseiterposition zu besetzen“, und zwar die Juden.513

Obwohl Hitler im Interview mit Hanns Johst zu behaupten scheint, dass die nationalsozialistische Idee der „Volksgemeinschaft“ die Überwindung der tiefen Spaltung zwischen den Deutschen vor Augen hat, betont Peter Fritszche, dass der Nationalsozialismus im Grunde die – gewaltsame – Verwirklichung einer rassisch gesäuberten „Volksgemeinschaft" erzielte. Er interpretiert den Begriff des „Volkes“ zudem als ein doppeldeutiges Konzept: Die Idee des Volkes sei „sowohl die rhetorische Grundlage, auf der die Nationalsozialisten operierten, als auch das Ziel, das sie anstrebten“.514 Wie dem auch sei, die nationalsozialistische Idee der „Volksgemeinschaft“ fand Ende der 1920er Jahre auf jeden Fall großen Beifall. Einen Beweis dafür sehen Thomas Rohkrämer und Gudrun Brockhaus in einer Untersuchung des amerikanischen Soziologen Theodore Abel. Abel sammelte 1934 fast 600 autobiografische Berichte früher NS-Anhänger und lobte einen Preis aus für die beste Antwort auf die Frage: „Warum bin ich Nationalsozialist geworden?“ Das mit Abstand meistgenannte Motiv (31,7%) war die Sehnsucht nach der

510 Peter Berghoff: Das Phantasma der „kollektiven Identität“ und die religiösen Dimensionen in den Vorstellungen von Volk und Nation. In: Völkische Religion und Krisen der Moderne: Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende. Hg. v. Stefanie von Schnurbein und Justus H. Ulbricht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 61. 511 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 260. 512 Vgl. „Mani“ in Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 6, 1267 und „Manichäismus“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 5, 136. 513 Schulze: Kleine deutsche Geschichte, 170. 514 Peter Fritzsche: Die Idee des Volkes und der Aufstieg der Nazis. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 162.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme

Volksgemeinschaft,515 was sich als Ausdruck des Wunsches nach Einheit und Sicherheit im von politischen und sozialen Spaltungen geprägten Nachkriegsdeutschland deuten lässt.

2.3.2 Auserwähltheit und Märtyrerstilisierung – Die religiöse Aufwertung der „Volksgemeinschaft“

Obwohl die Idee der „Volksgemeinschaft“ in erster Linie durchaus säkular motiviert zu sein scheint, umgibt auch dieses Konzept eine gewisse Religiosität und dann vor allem im Zusammenhang mit den anderen beiden Glaubensartikeln. So führt die Verbindung vom „Führer“ mit dem pointiert religiös konnotierten Verb „erlösen“ nicht nur dazu, dass der Führer selbst als ein quasimessianischer „Retter“ nach dem Vorbild Christi erscheint, sondern auch dass das ihm nachfolgende Volk in gewisser Hinsicht „auserwählt“ ist, „erlöst“ zu werden.516 Laut Klaus Schreiner gehören der Glaube und der Anspruch „eine von Gott auserwählte Nation zu sein“, bereits zum Nationalismus der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Schreiner zitiert dabei unter anderen Heinrich Heine und Friedrich Schleiermacher. Während Ersterer die Deutschen – zusammen mit den Franzosen – als die beiden „auserwählten Völker der Humanität“ bezeichnet, betrachtet Letzterer die deutsche Nation als „ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes“.517 In ihrer politischen Anpassungsbereitschaft zielten in den 1930er Jahren sowohl katholische als auch protestantische Theologen darauf, aus Deutschland ein auserwähltes Volk im biblischen Sinne zu machen.518 Dabei habe Adolf Hitler für das deutsche Volk außerdem das „Monopol auf Auserwähltheit“ beansprucht, denn es könne „nicht zwei auserwählte Völker geben“.519 Diese Idee der „Auserwähltheit“ schließt dem „Erlösungsbedürfnis“ des Volkes an, das bereits im Zusammenhang mit dem messianischen Sendungsbewusstsein des „Führers“ angesprochen wurde. Wie bereits erklärt, setzt das Auftreten einer charismatischen – oder messianischen – Führerfigur eine Krisenzeit voraus, denn – um noch einmal auf Robert Musil zu verweisen – solche Zeiten der Krise seien „Geburtsstunden von messianischen Heilsbringern und Erlösern“.520 Ein solcher „Erlöser“ verkündigt in diesem Zusammenhang eine gewisse „Heilsbotschaft“, die das Ende der Krisenzeit vorhersagt. Das Auftreten eines „Erlösers“ mit einer solchen „Heilsbotschaft“ unterstellt aber auch eine Gemeinschaft, die dazu „auserwählt“ sei, „erlöst“ zu werden. In diesem Kontext werden „Volk“, „Nation“ und „Rasse“ – die häufig synonym gebraucht

515 Vgl. Gudrun Brockhaus: Einführung. Attraktion der NS-Bewegung – Eine interdisziplinäre Perspektive. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 16-17; Thomas Rohkrämer: Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 84. 516 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 44. 517 Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters, 22. 518 Vgl. ebd., 24. 519 Zit. ebd., 25. 520 Ebd., 1.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ werden – laut Peter Berghoff zu Symbolen, die das Phantasma der „kollektiven Identität“ als Antwort auf menschliche Existenz- und Identitätsfragen anbieten.521

Nicht nur der „Führer“, sondern das ganze Volk wurde außerdem aufgefordert, für die Verwirklichung der messianischen Botschaft – und zwar die Gründung des „Dritten Reiches“ – mitzukämpfen. In diesem Zusammenhang verlegen die Nationalsozialisten die Volksidee in einen transzendenten Sakralbereich, indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden, und zwar mittels einer gezielten Märtyrerstilisierung nationalsozialistischer Helden als „Gefallenen der Bewegung“. Bereits seit Jahrhunderten hat sich die Bereitschaft, für das Vaterland zu sterben, als ein wichtiges Motiv in der deutschen Literatur und Kultur erwiesen.522 So verweist Baird beispielsweise auf die Verherrlichung und den Großmut des militärischen Todes in Prinz Friedrich von Homburg von und die Faszination für die erlösenden Qualitäten des Heldentodes in Richard Wagners Opern. Mehr noch als der Sieg war die Ehre das höchste Ziel des Helden, die er durch den Tod im Kampf erwerben konnte. Dieser „Opfertod“ garantierte diesem „Märtyrer“ nicht nur das „ewige Leben“,523 sondern forderte auch die Opferbereitschaft der zukünftigen Generationen für das Vaterland. Auch in der nationalsozialistischen Gesellschaft stellte die Heldenverehrung ein zentrales Leitbild dar und spielte der „Kult um tote Helden“524 eine herausragende politische Rolle. Dieser Heldenkult habe mehr mit Tod als mit Leben, eher mit Vernichtung als mit Sieg zu tun.525 Die nationalsozialistische „Märtyrerstilisierung“ richtete sich dabei nach zwei großen Gruppen von Vorbildern: die verstorbenen Soldaten im Ersten Weltkrieg und die sechzehn NSDAP-Mitglieder, die das Leben im misslungenen Putschversuch im Jahre 1923 ließen. Was die erste Gruppe betrifft, führten die nationalsozialistischen Propagandisten in erster Linie den Langemarck-Mythos, der bereits während der Kriegszeit und auch in den 1920er Jahre vielfach verarbeitet wurde. Dieses „Opfer“ der sogenannten „Jugend von Langemarck“, auf das in der Analyse noch weiter eingegangen wird, nahm in Deutschland

521 Vgl. Berghoff: Das Phantasma der „kollektiven Identität“ und die religiösen Dimensionen in den Vorstellungen von Volk und Nation, 69-70. 522 Diese Opferbereitschaft für das Vaterland lässt sich auch in neuzeitlichen Nationalismen in anderen Ländern und in anderen Kulturepochen der deutschen Geschichte erkennen und sei in dem Sinne nicht als ein exklusives Merkmal des Nationalsozialismus zu betrachten. So wurden beispielsweise sowohl der deutschen als auch der französischen Soldaten, die im deutsch-französischen Krieg (1870-1871) gefallen waren, als Helden gedacht. Ihr Tod auf dem Schlachtfeld wurde nachträglich als Opfertod für das Deutsche Kaiserreich bzw. für die französische Dritte Republik gedeutet und ihr Sterben für das Vaterland wurde den Lebenden als Vorbild hingestellt. Laut Annette Maas hat dieses „patriotische Heldentum“ seit der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen in seiner Annäherung an die Sphäre des Heiligen eine übernatürliche Identifikationsmöglichkeit geschaffen. Vgl. Annette Maas: Der Kult der toten Krieger. Frankreich und Deutschland nach 1870-71. In: Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Étienne François et al. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 215. 523 Baird Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 1-2. 524 Vgl. dazu Sabine Behrenbecks umfangreiche Dissertation, die 1996 publiziert wurde als Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole. Vierow bei Greifswald: SH-Verlag, 1996 . 525 Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, xi.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme mythische Proportionen an und blieb laut Gerd Krumeich, Autor des Langemarck-Beitrags im dreibändigen Werk Deutsche Erinnerungsorte, bis 1918 die einzige positive Kriegserfahrung der Deutschen.526 Laut Krumeich enthielt dieser Topos nicht nur die bloße Beschreibung des Opfergeistes der „Jugend von Langemarck“, sondern er implizierte auch die „Hoffnung auf ein Fortwirken oder Wiedererwachen eben dieses Opfergeistes“.527 Gerade diese nationalsozialistische Sinndeutung des Soldatentodes baut auf einem bereits im 19. Jahrhundert eingebürgerten Deutungsmuster auf, das, wie Sabine Behrenbeck anmerkt, dem Schema der christlichen Erlösungslehre folgt. Die heroische Narrative in Kombination mit der christlichen Heilslehre schien eine Antwort auf den „Sinn des Massensterbens“ anzubieten.528

Dieses „heroisierte Opfertum“ der deutschen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg wurde auf die eigenen Toten der nationalsozialistischen Bewegung übertragen.529 Sie wurden als wahre „Märtyrer der Bewegung“ in der unter dem NS-Regime aktiv gepflegten „Erinnerungskultur“ und an jährlichen Gedenktagen mit dazugehörenden Feiern und Massenveranstaltungen verherrlicht. Bereits am Ende der 1920er Jahre wurden die ersten kultisch veranstalteten „Totenehrungen“ organisiert, wie beispielsweise der „Langemarck- Tag“ am 28. November 1928. Der „Kult“ um die toten Helden kulminierte aber im Opferritus vom 9. November,530 der bereits 1926 von Hitler zum „Reichstrauertag“ der NSDAP erklärt wurde.531 Im Mittelpunkt dieser Gedenkfeiern standen die sechzehn NSDAP-Mitglieder, die 1923 beim Putschversuch getötet wurden. Sarah Thieme bezeichnet diese sechzehn als „Proto-Märtyrer“ der NS-Bewegung, da sie „als zuerst Verstorbene eine übergeordnete Rolle innerhalb der NS-Märtyrerfiguren einnahmen“.532 Laut Thieme initiierte Hitler selbst ihre Verehrung,533 indem er diese „Blutzeugen“ der Bewegung in der über der Namensliste stehenden Widmung des ersten Bandes von Mein Kampf zu Märtyrern stilisierte:

526 Ebd. 527 Vgl. Gerd Krumeich: Langemarck. In: Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 3. Hg. v. Étienne François und Hagen Schulze. München: C.H. Beck 2001, 295. 528 Vgl. Sabine Behrenbeck: Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 45. 529 Habbo Knoch: Die „Volksgemeinschaft“ der Bilder. Propaganda und Gesellschaft im frühen Nationalsozialismus. In: Attraktion der NS-Bewegung. Hg. v. Gudrun Brockhaus. Essen: Klartext 2014, 139. 530 Kurz: Braune Apokalypse, 138. 531 Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 299. 532 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 24. 533 Ebd., 154.

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„Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Am 9. November 1923, 12 Uhr 30 Minuten nachmittags, fielen vor der Feldherrnhalle sowie im Hofe des ehemaligen Kriegsministeriums zu München folgende Männer im treuen Glauben an die Wiederauferstehung ihres Volkes.534

Geraden wegen des „zeremoniellen Stils“ und der „christlich konnotierten Wörter“ wie „Glauben“, „Wiederauferstehung“ und „Blutzeugen“ traut Hansjakob Becker Hitler zu, einem profanen Ereignis religiöse Weihe verleihen zu wollen.535 Dass das Ereignis am 9. November 1923 als „Heilsgeschichte“ zu interpretieren sei, lässt sich auch aus späteren Reden Hitlers am und über den 9. November demonstrieren. Becker und Behrenbeck beschreiben, wie der Jahrestag des Todes der sechzehn Gefallenen zum Geburtstag des Reiches wurde, weil sich der Jahrestag als Mysterium offenbarte. So habe Hitler im Jahre 1934 deklariert, dass das von ihnen vergossene Blut zum Taufwasser des „Dritten Reiches“ geworden sei.536 Laut Behrenbeck erinnerte dieser Feiertag gewissermaßen an das „Gethsemane und Golgatha der ‚Bewegung‘“, dem zehn Jahre später die österliche Auferstehung gefolgt sei.537 Die Gedichtanalyse wird zeigen, wie die Propagandadichtung diese christliche Symbolik zur lyrischen Verwertung des Märtyrertodes transferierte.

3. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ - eine säkularisierte und (re-)sakralisierte Trinität

Die sakrale Potenz der politischen Ideologeme „Volk“, „Reich“ und „Führer“ der nationalsozialistischen Ideologie sind nur völlig in ihrer Kombination zu verstehen. Der messianische „Führer“ verkündet eine Botschaft eines neuen „Dritten Reiches“. Das „Volk“ als „gläubige Bewegung“ glaubt an die vom „Führer“ verkündete Reichsbotschaft und das „Volk“ engagiert sich zudem dafür, den „Führer“ in seiner Mission zu unterstützen. Keins der Symbole kommt ohne die beiden anderen zur Geltung. Dies wird sich besonders in der Analyse der Gedichtbände von Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel zeigen. Obwohl die Analyse sich stets auf die Sakralisierung eines Ideologems in einem spezifischen Gedichtband fokussiert (Anacker – „Führer“; Schumann – „Reich; Menzel – „Volk“), sind die Ideologeme keineswegs separat zu betrachten.

Bei der Analyse der messianischen Stilisierung von Adolf Hitler als „Führer“ in Anackers Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936) wird die textuelle Repräsentation verschiedener Eigenschaften eines „politischen Messias“ untersucht. Dabei

534 Diese Widmung ist dem ersten Band von Hitlers Mein Kampf vorangestellt. 535 Hansjakob Becker: Liturgy in the service of power. The National Socialist cult of the dead as a secularised Christian paschal celebration. In: Totalitarianism and Political Religions. Hg. v. Hans Maier. 2007, 27. 536 Vgl. Ebd.; Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 299-300. 537 Vgl. Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 300.

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Die religiöse Potenz politischer Ideologeme steht nicht nur die Darstellung des „Führers“ als „Messias“ im Mittelpunkt, sondern es wird auch auf seine Beziehung mit dem „Volk“ eingegangen. Unter anderem anhand des Motivs der Treue wird Bereitschaft zur Nachfolge als eine „gläubige“ Überzeugung gedeutet. Auch die politische Botschaft – und zwar die Gründung eines „Dritten Reiches“ – bekommt eine religiöse Aufwertung, indem sie von Hitler als messianischem „Führer“ „verkündet“ wird und er als „Bauherr“ dieses Reiches erscheint.

Das Symbol des „Dritten Reiches“ hat seine ursprünglich joachitische Konnotation in Schumanns Gedichtband Die Lieder vom Reich (1935) verloren. Allerdings wertet er die Reichsidee an verschiedenen Stellen mit christlicher Symbolik und Metaphorik auf. So wird die Gründung des neuen Reiches als eine „Auferstehung“ verstanden, die an verschiedenen Stellen auf neutestamentliche Narrative verweist. Dabei kommt vor allem dem „Führer“ nach dem Vorbild Jesu Christi als „Bauherrn des Reiches“ eine bedeutende Rolle zu. Ein wichtiges Thema in Schumanns Dichtung ist die Entindividualisierung des Ichs zugunsten einer Gemeinschaft, durch die das „Reich“ lebensfähig wird. Auch der „Führer“ bleibt dabei namenlos, weswegen die „Mission“ des „Führers“ zur Aufgabe des ganzen Volkes wird.

Die Sakralisierung des „Volkes“ in Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft (1936) geht aus von der Pflicht, die jedem Mitglied der Volksgemeinschaft seinem „Führer“, „Volk“ und „Reich“ gegenüber zu erfüllen hat. Es geht also um die Frage, wie sich jeder in den Dienst der Gemeinschaft und seines Vaterlandes stellen kann. In diesem Sinne wird die Opferbereitschaft für das Vaterland als die höchste Tugend propagiert. Der Mann soll als „Kamerad“ dazu bereit sein, für sein Vaterland zu kämpfen und gegebenenfalls sogar zu sterben. Gerade aus dieser Opferbereitschaft, die sich nach dem Vorbild der verstorbenen Soldaten im Ersten Weltkrieg und der getöteten Putschisten aus dem Jahre 1923 gestaltet, ergibt sich die Möglichkeit, die Toten – auch die „Gefallenen der Bewegung“ – zu „Märtyrern“ zu stilisieren. Diese Märtyrerstilisierung ist besonders für die sakrale Aufwertung der Rolle des Mannes in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft von Bedeutung. Obwohl auch die „Mission“ der nationalsozialistischen Frau auf das Weiterbestehen der Volksgemeinschaft und des Reiches bis in die Ewigkeit ausgerichtet war, beschränkt sich die sakrale Darstellung der Frau in der religiösen Aufwerten ihrer Mutterrolle.

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V

Die messianische Stilisierung des „Führers“

Am Beispiel von Heinrich Anackers Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936)

Die messianische Stilisierung des „Führers“

1. Adolf Hitler - Mensch oder (politischer) Messias in Anackers Dichtung

In seinem Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936, Erstausgabe 1933) nennt Heinrich Anacker den Namen Hitlers in 23 unterschiedlichen Gedichten und zehnmal in Kombination mit seinem Vornamen Adolf. In 22 Gedichten benutzt er die Bezeichnung „Führer“ und zweimal erscheint die nationalsozialistische Heil-Formel, einmal in Kombination mit seinem Namen („Heil Hitler“: HA107, V.14) und einmal in Kombination mit seinem „Führer“-Titel („Heil dem Führer“: HA39, V.13). In Anackers Gedichtband, der als exemplarisch für die affirmative NS-Dichtung gilt, erscheint Adolf Hitler nicht nur als ein rein politischer „Führer“, sondern quasi als eine gottgesandte Figur, als ein Retter des Vaterlandes, als ein Erlöser des Volkes. Die Zuschreibung erlösender Eigenschaften an den politischen „Führer“ Adolf Hitler führt zu einer quasimessianischen Darstellung des nationalsozialistischen „Führers“, der so das rein Menschliche übersteigt und als eine Pseudogottheit erscheint.

1.1 Adolf Hitler - Ein Mensch

Obwohl der Titel des hier zur Einführung angeführten Gedicht „Adolf Hitler als Mensch“ (HA108) anderes vermuten lässt, weist Anackers Gedicht gerade auf diese Übermenschlichkeit des „Führers“ hin.

Adolf Hitler als Mensch

So sieht ihn die Welt: Gewappnet in Erz, Und die Hand am geschliffenen Schwerte - Wir aber kennen sein gütiges Herz Unterm Mantel der stählernen Härte.

5 Die Kinder künden's in strahlendem Glück, Die irgendwo ihm begegnet; Und Tiere haben mit stummem Blick Sein stilles Wohltun gesegnet.

Denn die tiefste Wurzel all seines Tuns 10 Ist ein volkumfassendes Lieben - Drum ist er dem Letzten und Ärmsten von uns Als Führer Kam'rad noch geblieben.

So sieht ihn die Welt: Gewappnet in Erz, Und die Hand am geschliffenen Schwerte -

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Am Beispiel Heinrich Anackers

15 Wir aber kennen sein gütiges Herz Unterm Mantel der stählernen Härte! (HA108)

Dass Hitler in diesem Gedicht für seine Liebe für Volk und Vaterland und seine Friedenspolitik gelobt wird, jedoch gleichzeitig auch als größter Kriegsherr aller Zeiten erscheint, stellt für Walter Knoche ein seltsames Paradox dar.538 Diese zweiteilige Darstellung des „Führers“ wird außerdem durch die geprägte Gegenüberstellung von „wir“ und „sie“ pointiert. Besonders in der ersten und letzten Strophe unterscheidet Anacker ganz klar, welchen Eindruck das – auffällig betonte Anfangswort – „wir“ (V.3, 15) und die diesem Wir gegenübergestellte „Welt“ (V.1, 13) von Adolf Hitler haben. Die „Welt“ nimmt in erster Linie nur sein Aussehen wahr und sieht ihn als einen starken, kräftigen und kampfbereiten Menschen. Mit einem „geschliffenen Schwerte“ (V.2, 14) und einer Rüstung „in Erz“ (V.1, 13) beschreibt Anacker Hitler eher als einen mittelalterlichen Ritter als einen modernen Soldaten. Das kollektivierende „Wir“ durchblickt dieses äußerliche Erscheinungsbild aber. Denn unter seinem „Mantel der stählernen Härte“ (V.4, 16) versteckt sich anscheinend ein „gütiges Herz“ (V.3, 15), das nur „wir“ (V.3, 15) kennen. In den nächsten Abschnitten wird die Bedeutung dieses kollektivierenden „Wir“, mit dem generell „die Deutschen“ – also die arischen Nachfolger, vielleicht sogar die nationalsozialistischen „Gläubigen“ – für den Erfolg Adolf Hitlers als charismatischen „Führers“ und lang ersehnten Retters des Vaterlandes weiter expliziert. Von seiner angeblichen Gutherzigkeit „künden“ (V.5) in der zweiten Strophe „Kinder“ (V.5) und „Tiere“ (V.7). Als literarisches Symbol vertritt das Kind generell die Unschuld und ist in dem Sinne im Stande vorurteilsfrei wahr zu sprechen.539 Nachdem die Kinder „ihm begegnet“ (V.6) sind, werden sie von einem „strahlenden Glück“ (V.5) überfallen und sie „künden“ (V.5) spontan „es“ (V.5), mit dem Hitlers gütiges Herz gemeint sein könnte. Nicht mit Worten sondern „mit stummem Blick“ (V.7) „segnen“ (V.8) außerdem auch die Tiere die Arbeit Hitlers.540 Dieser ungewöhnliche Kontakt oder auch die wortlose Kommunikation mit Kindern und Tieren weist bereits auf die außergewöhnlichen – sogar übernatürlichen – Qualitäten des „Führers“ hin, die im Folgenden im Rahmen der messianischen Darstellung des „Führers“ weiter beschrieben werden. Den Grund – auch die „Wurzel“ (V.9) – seiner Güte erklärt schließlich die dritte Strophe. Sein Triebfeder sei „ein volkumfassendes Lieben“ (V.10). Alles, was Hitler macht, macht er offenbar aus Liebe für das Volk. Dabei steht er nicht über dem Volk, sondern zwischen den Menschen. Außerdem scheint diese Liebe grenzen- und bedingungslos zu sein, denn er ist auch „dem

538 Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 21. 539 Vgl. „Kind“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 180. 540 Obwohl Knoche anmerkt, dass das Adjektiv „stumm“ schon richtig in Verbindung mit den „Tieren“ benutzt wird, scheint es ihm aber schwer vorstellbar, dass die Tiere die Arbeit Hitlers tatsächlich „gesegnet“ haben. Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 22. Es scheint aber – wie bei jeder Gedichtinterpretation – unangebracht zu sein, den inhaltlichen Realitätssinn des Textes in Frage zu stellen.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

Letzten und Ärmsten von uns / als Führer Kam’rad noch geblieben“ (V.11-12). Sowohl die zweite Strophe als auch diese zwei Verse könnten beim christlichen Leser spontan Assoziationen mit dem Leben Jesu Christi hervorrufen. So erinnert die in der zweiten Strophe dargestellte positive Beziehung zu Kindern an Jesu Gebot, die Kinder zu sich kommen zu lassen.541 In der dritten Strophe impliziert Anacker, dass sich Hitler, wie Jesus, nicht über dem Volke erhaben fühlte, sondern einfach inmitten des Volkes stand und sogar den Kontakt mit denen am Rande der Gesellschaft aufsuchte. Lukas und Matthäus stellen Jesus wiederholt als einen Freund der Armen, der Zöllner, der Kranken usw. dar,542 während Anacker den „Führer“ kurz und knapp als „Kam’rad“ (V.12) der „Letzten und Ärmsten von uns“ (V.11) beschreibt. Schließlich wiederholt die letzte Strophe die erste wortwörtlich und betont damit die äußere Kraft und zugleich die innere Güte des „Führers“.

Gerade mit den im- und expliziten Referenzen auf das Leben Christi als auch mit der weiteren Zuschreibung übermenschlicher Qualitäten stellt Anacker den „Führer“ gerade nicht als „Menschen“ dar. Anhand einer Reihe von Merkmalen eines (politischen) Messias wird die Analyse von Anackers Gedichtband Die Fanfare sich dann auch gerade auf die angeblich übermenschliche Seite Adolf Hitlers – oder zumindest dessen übermenschliche Darstellung – fokussieren.

1.2 Adolf Hitler als (politischer) Messias in Heinrich Anackers Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (1936)

Bei der Betrachtung messianischer Individuen und Bewegungen seien drei Gesichtspunkte wesentlich, und zwar Botschafter, Botschaft und Bewegung.543 Es sind dann auch gerade diese drei Faktoren, die in der messianischen Stilisierung des „Führers“ in der Propagandapoesie eine zentrale Rolle spielen. So unterscheidet Hans Otto Seitschek in messianischen Bewegungen drei zu differenzierenden Phasen, von denen die ersten zwei auch in Anackers Lyrik thematisiert werden:

Erstens das messianische Warten und Hoffen auf den Messias, der in die Welt kommt, um Erlösung zu bringen. Zweitens die bedingungslose Nachfolge, wenn der Messias auftritt und gewissermaßen in der Welt ist. […] Drittens die Erwartung der Wiederkunft des Messias, wenn er der Welt für eine gewisse Zeitspanne entrückt ist.544

541 Vgl. Mt 19,13-15; Mk 10,13-16; Lk 18,15-17. 542 Vgl. Lk 14,13; Lk 7,34; Mt 11,5; Mt 11,19. 543 Vgl. Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte, 2. 544 Seitschek: Politischer Messianismus - Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, 31-32.

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Am Beispiel Heinrich Anackers

Die erste Phase – das Warten und Hoffen – hängt direkt mit der sozialen Vorbedingung einer messianischen Bewegung zusammen, und zwar mit der gegenwärtigen Krisensituation. Propagandaautoren wie Anacker beschreiben die Periode zwischen der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Erfolg des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren als eine Zeit der Zerstörung, Hoffnungslosigkeit und Knechtschaft. Die Analyse wird zeigen, dass auch Anacker diese Krisenperiode in seiner Lyrik mit einer Sehnsucht nach einem starken, quasigöttlichen „Führer“ und darüber hinaus mit einer Hoffnung versprechenden Heilsbotschaft verbindet.

Mit Referenzen auf die unwandelbare Treue, den blinden Gehorsam des Volkes und den Hitler-Gruß thematisiert Anacker auch die zweite messianische Phase: die bedingungslose Nachfolge der Bewegung von Adolf Hitler als Messias-Figur. Damit lässt sich auch eine Parallele zu Max Webers Charisma-Theorie ziehen. Der charismatische „Führer“ beansprucht nicht nur die höchste Autorität, sondern die Anhänger akzeptieren darüber hinaus absoluten Gehorsam als ihre Pflicht.545 Anacker dichtet aber nicht nur über die Untertänigkeit des Volkes seinem „Führer“ gegenüber, sondern auch über den angeblichen Glauben an die göttliche Kraft des „Führers“, was in einem religiösen Personenkult von zentraler Bedeutung ist. Eine Gottheit wird „durch erstens Zuschreibung seitens der Glaubenden, zweitens geglaubtes übermenschliches Wirken und drittens geglaubte Allgegenwart“546 erwiesen. In der Analyse wird einerseits auf die religiös konnotierten Denotationen des „Führers“ – wie „Retter“ und „Erlöser“ – und andererseits auf Beschreibungen seiner geglaubten übermenschlichen Eigenschaften fokussiert.

Da die dritte Phase im Messianismus in nationalsozialistischem Sinne eigentlich erst nach dem Verschwinden des Messias – sprich nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ – stattfindet, soll es nicht überraschen, dass diese Phase in der Lyrik aus den Anfangsjahren des NS-Regimes nicht thematisiert wird. Die Propagandaautoren haben sich bei der Hochstilisierung des „Führers“ aber auch vom Leben des christlichen Messias inspirieren lassen. Propagandaautoren wie Heinrich Anacker und Otto Bangert vergleichen Adolf Hitler mehrmals explizit mit Jesus Christus. So schrieb Bangert bereits Ende der 1920er Jahre:

Und nur aus dieser Weltuntergangsstimmung heraus vermag auch die Erscheinung eines Hitler wirklich erfaßt zu werden; sie ist vollkommen irrational und beinahe mystisch in ihrer Wirkung. Ihre einzigartige Macht liegt in der überwältigenden Gewißheit ihrer Sendung und Kraft, die sicher über ein untergehendes Zeitalter schreitet, so wie einst Jesus über die sterbende Antike schritt. Und so besteht auch Hitlers Gefolgschaft nicht aus Interessenten

545 Lepsius: The Model of Charismatic Leadership and its Applicability to the Rule of Adolf Hitler, 175. 546 Schmidt: Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“/„Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“, 99.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

und Egoisten wie die entgeistigten Haufen der alten Parteien, sondern aus Gläubigen, Jüngern und Idealisten, denen es um ein ewiges Deutschland geht.547

Auch Anacker war es nicht fremd, in seiner Lyrik Parallelen mit dem Leben und Wirken Jesu zu ziehen. Weil im Neuen Testament bestimmte Züge des Lebens Jesu – z.B. Lehren und Leiden – als messianisch gewertet werden, die im Alten Testament nicht mit dem Messias-Bild verbunden waren, untersucht diese Arbeit schließlich auch die Symbolsprache, die explizit der christlichen Tradition und der biblischen Bilderwelt des Neuen Testaments entnommen wurden.

2. Heinrich Anackers messianische Stilisierung des „Führers“

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache

Bereits auf lexikalisch-semantischer Ebene zeigt sich, wie oft und explizit Anacker für seine politisch engagierte Dichtung aus dem christlich-religiösen Vokabular schöpft. Mit mehreren Verweisen auf „Himmel“ (HA56, V.5, 11, 14; HA106, V.7) und „Teufel“ (HA16, V.11; HA50, V.14; HA75, V.15; HA82, 12; HA82, V.12) und die einmalige Erwähnung des „Heiligen Christ“ (HA113/114, V.29) greift Anacker explizit auf die christliche Tradition zurück. Substantive wie „Altar“ (HA27, V.11; HA95, V.12), „Frucht“ (HA56, V.9; HA72, V.15; HA81, V.19, HA106, V.12; HA113/114, V.12), „Glaube“ (HA17, V.5; HA23, V.11; HA51, V.3; HA115, V.5), „Gnade“ (HA52, V13), „Opfer“ (HA40, V.3; HA46, V.14; HA54, V.5, 16; HA56, V.9; HA67/68, V.13; HA70, V.3; HA75, V.14; HA88, V.7; HA104, V.4; HA109/110, V.9), „Saat“ (HA54, V. 6; HA61, V.11, 13; HA72, V.15; HA74, V.8; HA76, V.6; HA114, V.6), „Seele“ (HA43, V.11; HA72, V.7; HA82, V.8; HA107, V.10), „Stern“ (HA15, V.16; HA23, V.14; HA28, V.13; HA40, V.10; HA52, V.4; HA67/68, V.11; HA101, V.6; HA105, V.4), „Tempel“ (HA45, V.7) und „Wunder“ (HA46, V.12; HA94, V.14) scheinen so dem Neuen Testament entnommen zu sein. Auch die zahlreiche Verwendung von Adjektiven wie „ewig“ (HA28, V.15; HA46, V.15; HA77, V.13; HA84, V.4; HA88, V.13; HA91, V.28; HA95, V.11; HA101, V.6; HA116, V.18), „gläubig“ (HA25, V.16; HA26, V.2; HA41, V.9; HA85, V.8; HA91, V.12; HA94, V.2) und „heilig“ (HA14, V.8, 20; HA21, V.12; HA24, V.4; HA28, V.6; HA39, V.7; HA40, V.11; HA41, V.12; HA51, V.13; HA55, V.3; HA56, V.3; HA58, V.13; HA61, V.10; HA67/68, V.13, 24; HA69 ,V.11; HA70, V.2; HA79, V.5; HA83, V.12; HA84, V.8; HA85, V.15; HA87, V.5; HA90, V.12; HA91, V.4; HA104, V.10; HA114, V.17) springt gleich ins Auge. Außerdem rufen Verben wie „sich bekehren“ (HA64, V.12), „sich bekennen“ (HA76, V.16; HA116, V.9), „erlösen“ (HA74, V.9; HA79, V.10; HA115, V.14), „glauben“ (HA28, V.16; HA47, V.8; HA80, V.9; HA81, V.23), „jubeln“ (HA22, V.18;

547 Bangert: Gold oder Blut. Der Weg aus dem Chaos, 147.

139

Am Beispiel Heinrich Anackers

HA42, V.14; HA50, V.15; HA52, V.14; HA74, V.14; HA90, V.6; HA98, V.5; HA100 V.13; HA114, V.2), „predigen“ (HA67/68, V.8), „segnen“ (HA26, V.12; HA52, V.11; HA60, V.5; HA108, V.8), „verkünden“ (HA77, V.14; HA79, V.1), „vollenden“ (HA43, V.7; HA83, V.7; HA93, V.8; HA94, V.8) und „weihen“ (HA17, V.16; HA43, V.7; HA88, V.6; HA95, V.3; HA102, V.12; HA103, V.10; HA104, V.10; HA106, V.18; HA111, V.20; HA115, V.13) spontane Assoziationen mit der christlichen Tradition hervor.

Auf das christliche Motiv der Auferstehung verweist Anacker nicht nur mit dem expliziten Gebrauch des Substantivs „Auferstehn“ (HA14, V.12; HA24, V.7; HA82, V.2; HA88, V.2) und dem Verb „auferstehen“ (HA50, V.13; HA113/114, V.6, 30), sondern er deutet die österliche Auferstehungsgeschichte im Gedicht „Deutsche Ostern 1933“ (HA113/114) völlig im politischen Sinne um. Mit Lexemen wie „Osterglocken“ (V.1, 7, 13, 19, 25) , „Golgatha“ (V.9), „Kreuz“ (V.10) und „Grab“ (V.21) appelliert Anacker sofort an die christliche Ostergeschichte. Allerdings spielt nicht Jesus, sondern das fünffach wiederholte „Deutschland“ (V.5, 9, 15, 21, 29) die Hauptrolle in dieser deutschen „Passionsgeschichte“. Im ersten Teil des Gedichtes wird die Vergangenheit Deutschlands, nämlich die Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Kreuzigung Jesu gleichgesetzt, indem Anacker schreibt „auch Deutschland erlitt sein Golgotha, / und ward ans Kreuz geschlagen“ (V.9- 10). Mit „auch Deutschlands Grab ist heute leer“ (V.21) und „war der Stein auch noch so schwer“ (V.23) wird sehr offensichtlich auf die Geschehnisse an Ostern verwiesen. Den biblischen Evangelien zufolge war das Grab Christi am Ostertage leer und der schwere Stein, der vor dem Grab gelegen hatte, war weggerollt (Lk. 24, 1-4). In Anackers Gedicht ist vielmehr das Grab Deutschlands leer, „denn Deutschland ist, wie der Heilige Christ, / leuchtend auferstanden!“ (V.29-30) Die letzten zwei Zeilen sind sogar nicht mehr metaphorisch zu verstehen; hier wird buchstäblich die Situation Deutschlands mit der Auferstehung des „Heiligen Christ“ verglichen.

Auch das Weihnachts- und Pfingstfest deutet Anacker in nationalsozialistischem Sinne um. So beschreibt Anacker das Weihnachtsfest im Gedicht „Frontweihnacht 1931“ (HA23) als die „Christnachtfeier“ (HA23, V.12) und in „Weihnachtsamnestie“ (HA52) als „Fest des Herrn“ (HA52, V.2). Der „Befreier“ (HA23, V.14) und so auch die Freiheit des Volkes werden gemäß der weihnachtlichen Überlieferung von einem „Stern“ (HA23, V.14; HA52, V.4) angekündigt. Schließlich scheint sich Anacker mit dem Symbol der „Feuerzungen“ (HA115, V.3) auch dem Pfingstfest anzunähern. Allerdings lassen sich Anackers „Feuerzungen“ nicht auf irgendwelche Apostel nieder, sondern „es spricht das neue Deutschland zur Welt / mit hundert feurigen Zungen“ (HA115, V.19-20).

140

Die messianische Stilisierung des „Führers“

2.2 Eine Heilsbotschaft in der Krisenzeit – Warten und Hoffen auf den „Messias“

Die erste Phase in der messianischen Erwartung kennzeichnet sich durch das Warten und Hoffen auf den Messias. Anacker beschreibt diese „Wartezeit“ als „Kampfzeit“, in der bereits an die göttliche Sendung des „Führers“ geglaubt wurde.

2.2.1 Die „Wartezeit“ als „Kampfzeit“

Die erste Phase des messianischen Prozesses, nämlich das Warten und Hoffen auf eine Messiasfigur wird in vier Gedichten thematisiert. Die Gedichte „Dem Führer!“ (HA11/12), „Durchhalten, zum Endkampf bereit“ (HA38) und „Wir warten!“ (HA50) beschreiben eine Wartezeit von mehreren Jahren, während das „Am Abend des 5. März“ (HA76) eine „Wartezeit“ von einigen Stunden darstellt. Dieses letzte Gedicht gehört zum vierten Themenbereich in Anackers Gedichtband Die Fanfare, nämlich „Die deutsche Erhebung“. Alle 34 Gedichten aus diesem Themenfeld thematisieren in größerem oder geringerem Maße die konkreten Verhältnisse der deutschen Machtergreifung im Jahre 1933. In „Am Abend des 5. März“ (HA76) beschreibt Anacker den Tag der Neuwahlen nach der Machtergreifung. Diese waren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die letzte Wahl, an der mehr als eine Partei teilnahm. Denn nach dieser Wahl gewannen die Nationalsozialisten (NSDAP) und die Konservativen (DNVP) mit einer knappen Mehrheit, wonach die nationalsozialistische Diktatur endgültig anfangen konnte. Anacker beschreibt in diesem Gedicht, wie „[d]as fiebrige Warten beginnt / Auf die siegbedeutenden Zahlen –“ (HA76, V.2-3). Diese Wartezeit dauert jedoch nur eine kurze Periode, denn in der letzten Strophen klingt es:

Und eh' noch der Morgen dämmert Eilt die Runde von Land schon zu Land, Daß Deutschland, wachgehämmert, Sich zum Werk Adolf Hitlers bekannt! (HA76, V.13-16)

Obwohl die nationalsozialistische Partei als Sieger aus der Wahl hervorging, zeugt die letzte Strophe des Gedichtes bereits von dem Personenkult um Adolf Hitler. „Deutschland“ (HA76, V.15) hat nicht die NSDAP gewählt, sondern hat „Sich zum Werk Adolf Hitlers bekannt!“ (HA76, V.16) Mittels der Kombination des Verbes „sich bekennen“ und des Präpositionalobjekts „zum Werk Adolf Hitlers“ betont Anacker die Hingabe des Volkes an den „Führer“. Die Konstruktion „sich bekennen zu“ impliziert zudem mehr als bloß „eine Partei wählen“. Das nicht-reflexive Verb „bekennen“ bezeichnet unter anderem „Zeugnis für seinen Glauben ablegen“. Mit der reflexiven Verbform „sich bekennen zu“ spricht man sich offen für eine bestimmte Religion aus, z.B. in der Formel „sich zum

141

Am Beispiel Heinrich Anackers

Christentum bekennen“.548 Dass sich Deutschland, laut Anacker, zum Werk Adolf Hitlers bekannt hat, ruft in dem Sinne quasi das Gefühl eines religiösen Bekenntnisses hervor. Dieses Gefühl wird außerdem durch die Verwendung des Substantivs „Werk“ (HA76, V.16) verstärkt. Deutschland hat sich nicht zu den Prinzipien, der Ideologie, der Überzeugung oder dem Parteiprogramm Adolf Hitlers, sondern zu seinem „Werk“ bekannt. Bereits in Otto Bangerts Gedicht „Adolf Hitler“ aus dem Jahre 1926 war von dessen „heiliges Werk“ die Rede, was eine Assoziation mit den Werken Gottes549 oder vielleicht mit den im Matthäusevangelium von Jesus beschriebenen Werken der Barmherzigkeit550 hervorruft.

Während in „Am Abend des 5. März“ (HA76) nur einige Stunden auf die Wahlergebnisse gewartet wurde, spielen die drei anderen Gedichte auf eine viel längere und schwierigere Wartezeit an. Im Eröffnungsgedicht des Gedichtbandes „Dem Führer!“ (HA11/12) wird die Dauer der Wartezeit sogar sehr konkret bestimmt:

Wir kämpften erbittert zwölf Jahre lang; Wir lernten das schweigende Warten … (HA11/12, V.1-2)

Wegen des dem Gedicht hinzugefügten Verfassungsdatums – 31. Januar 1933 – und des Datums der Erstausgabe des Gedichtbandes im Jahre 1933 kann man ableiten, dass die Wartezeit im Jahre 1921, als Hitler zum Parteivorsitzenden der NSDAP gewählt wurde, angefangen hat. Dieses „Warten“ (HA11/12, V.2) wurde laut des ersten Verses von Kampf und Erbitterung gekennzeichnet. Das anaphorische „wir“ am Versanfang betont die Tatsache, dass es das Volk sei, das auf einen Retter oder Erlöser wartete. Mit der parallelen Konstruktion am Ende des Gedichtes schließt sich der Zirkel und wird die Hingabe zu Adolf Hitlers erkennbar:

Wir schwören es dir am heutigen Tag: Adolf Hitler, wir halten dir Treue! (HA11/12, V.29-30)

Mit dem Wort „Sehnsucht“ (HA11/12, V.21), die Adolf Hitler entgegenzukommen scheint, steigert Anacker die emotionale Verbundenheit des Volkes: „Die Sehnsucht der Deutschen, du machtest sie wahr“ (HA11/12, V.21). Mittels der Verwendung von Substantiven wie „Werk“ (HA76, V.16) und „Sehnsucht“ (HA11/12, V.21) in Zusammenhang mit dem Namen des „Führers“ wird Adolf Hitler äußerst positive und sogar quasi-religiöse Eigenschaften zugeschrieben.

548 Vgl. „bekennen“ in: Duden.de. ORL: http://www.duden.de/rechtschreibung/bekennen [02.09.2016]. 549 Mit den Werken Gottes sind im Alten Testament bestimmte Taten Gottes in Bezug auf die Schöpfung und die Geschichte gemeint. Vgl. Bührer, Walter, „Werke Gottes“. ORL: https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/34768/ Nov. 2014. [Letzter Zugriff: 05.09.2016]. 550 Mt 25, 34-46.

142

Die messianische Stilisierung des „Führers“

In den letzten zwei Gedichten wird keine konkrete Zeitspanne des Wartens beschrieben. Genauso wie das „fiebrige Warten“ (HA76, V.2) wird auch in „Durchhalten, zum Endkampf bereit“ (HA38) die Wartezeit als eine schwere und nervenauftreibende Periode beschrieben:

Ich weiß, Kameraden, wie schwer das ist, Dies Warten, dies tatlose Warten; Ich weiß, wie verzehrend am Herzen es frißt, Dies Warten, dies Warten, dies Warten … (HA38, V.1-4)

Das lyrische Ich spricht den „Kameraden“ (HA38, V.1) zu und scheint mit ihnen die frustrierten Gefühle zu teilen. Das Warten scheint sinnlos weil „tatlos“ (HA38, V.2) zu sein. Die Geminatio von „Dies Warten“ (HA38, V.4) im vierten Vers betont die Passivität und die daraus hervorgehende Frustration. In der zweiten Strophe wird hinzugefügt, dass die Kameraden nicht nur „tatlos“, sondern auch „voll brennender Ungeduld“ (HA38, V.8) warten. Das lyrische Ich fordert sie jedoch dreimal auf, „des Führers Gebot“ (HA38, V.6, 13, 20) zu befolgen. Mittels Anführungszeichen setzt Anacker eine Strategie der Perspektivierung ein und lässt er den „Führer“ sein „Gebot“ selber wiederholen: „‘Durchhalten – zum Endkampf bereit!‘“ (HA38, V.7, 14, 21).

Im letzten Gedicht Wir warten! (HA50) werden die Kameraden nicht aufgefordert, während der Wartezeit dem Gebot des „Führers“ zu folgen, sondern sie warten auf sein konkretes „Signal“ (HA50, V.1):

Wir alle warten auf das Signal! Wir warten, wir warten, (HA50, V.1-2)

Auch hier springt der anaphorische Gebrauch des Personalpronomens „wir“ ins Auge und im zweiten Vers wird mit einer Geminatio von „wir warten“ erneut die Passivität betont. Auf welches „Signal“ gewartet wird, wird in der zweiten Strophe weiter expliziert:

Wir harren auf unseres Führers Ruf! Wir harren, wir harren, Wie Pferde, die treu ihrem Schlachtroßberuf Mit ungeduldig schlagendem Huf In klirrenden Steinen schon scharren. (HA50, V.6-10)

Mittels der parallelen Konstruktion wird die Frustration des Wartens ein zweites Mal hervorgehoben. Genauso wie in „Durchhalten, zum Endkampf bereit“ (HA38) wird „ungeduldig“ (HA50, V.9) gewartet. Diese Ungeduld wird in diesem Gedicht jedoch nicht direkt auf die Wartenden bezogen, sondern mittels eines Vergleichs mit Pferden, die „mit ungeduldig schlagendem Huf“ (HA50, V.9) darauf warten, ihre Aufgabe zu vollbringen.

143

Am Beispiel Heinrich Anackers

2.2.2 Adolf Hitler als der gottgesandte Retter

Erwartet wird also Adolf Hitler, der das Volk nicht nur aus der politischen Krisensituation der Weimarer Republik führen soll, sondern auch selber als ein Symbol der Freiheit und somit als Retter und Befreier nach einer langen Periode von Kampf und Leid dargestellt wird. Die Zeit des Aufstiegs der NSDAP – seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zur „Machtergreifung“ im Jahre 1933 – wurde im „Dritten Reich“ als „Kampfzeit“ bezeichnet, die aus nationalsozialistischer Perspektive von Terror und Unterdrückung gekennzeichnet wurde.551 Auch Anacker schildert in seinen Gedichten die jüngste Vergangenheit des damaligen Deutschlands als eine schwere und leiderfüllte Periode. Im Eröffnungsgedicht lässt Anacker die „Kampfzeit“ im Jahre 1921, als Hitler zum Parteivorsitzenden der NSDAP gewählt wurde, anfangen. Bereits in der ersten Strophe des Eröffnungsgedichtes „Dem Führer!“ (HA11/12) klingt es, „Wir kämpften erbittert zwölf Jahre lang“ (HA11/12, V.1) und dieser „Weg“ wird als „ein einziger Opfergang“ (HA11/12, V.3) beschrieben. Im Gedicht „Preußens Erhebung“ (HA67/68) dichtet Anacker über die „Knechtschaft“ (HA67/68, V.26) und „die blutigen Ketten / Des teuflischen Paktes von Versailles“ (HA67/68, V.27- 28). Anacker übernimmt in zahlreichen Gedichten das literarische Symbol der „Kette“ als Symbol der Knechtschaft und Unterdrückung 552, oft als Anspielung auf die kommende Befreiung und Freiheit. Das Gedicht „Die Fahnen verboten“ (HA14) ruft mittels des Kettensymbols zu Protest auf: „Zerbrechet die Ketten!“ (HA14, V.21). In „Gegen Versailles!“ (HA18) lockt die Freiheit dagegen schon, denn „Wir trugen vierzehn Jahr lang das Joch - / Nur Ketten noch sind zu verlieren …“ (HA18, V.17-18).

Das Ende dieser Knechtschaft und die Freiheitsprophezeiung wird immer im Zusammenhang mit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Partei im Allgemeinen und des „Führers“ im Besonderen verstanden. So schreibt Anacker in Preußens Erhebung (HA67/68) „Im Hakenkreuze nur naht uns das Heil“ (HA67/68, V.29), wobei er in dem Symbol des Hakenkreuz die Hoffnung auf Errettung sieht. Die letzte Strophe dieses Gedichtes erklärt schließlich sehr explizit, dass man „mit Hitler“ (HA67/68, V.34) auf ein „Deutschland der Freiheit und Ehre“ (HA67/68, V.35) hoffen darf:

Die Fahne weht, die den Weg uns weist; Aus dem Boden schon wachsen die Heere. Der lange geknebelte Adler kreist - Mit Hitler im alten Preußengeist Für ein Deutschland der Freiheit und Ehre! (HA67/68, V.31-35)

Indem Hitler an vielen Stellen explizit mit einem Freiheitsgedanken assoziiert wird, wird er als der lang erhoffte Retter des Vaterlandes dargestellt. So heißt es in „Wir alle tragen

551 Vgl. „Kampfzeit“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 347. 552 Vgl. „Kette“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 180.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“ im Herzen dein Bild“ (HA107) im letzten Vers: „Heil Hitler, dem Führer zu Freiheit und Brot!“ (HA107, V.14). Das Gedicht „München grüßt Adolf Hitler“ (HA85) wiederholt diese Formel und deutet Hitler zudem explizit als Retter des Vaterlandes an: „Adolf Hitler, dem Führer zu Freiheit und Brot! / Dem Retter des Vaterlandes!“ (HA85, V.17-18) Schon im zweiten Gedicht seines Gedichtbandes „Die Fahnen verboten“ (HA14) hat Anacker den „Führer“ explizit zum Retter erklärt. In der ersten Strophe beschreibt Anacker die Weimarer Zeit als ein kommunistisches und jüdisches Regime: „Es herrscht der Haß der Roten, / Es herrscht der Juden Neid“ (HA14, V.3-4). In den folgenden Strophen klingt aber schon die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, weil Deutschland „aufsteigt aus Schmach und Trümmern“ (HA14, V.19) als „Das heil'ge Dritte Reich“ (HA14, V.20). In der letzten Strophe wird Hitler schließlich als Retter des Vaterlandes aufgeführt:

Nur Hitler wird uns retten! Nur Hitler macht uns frei! (HA14, V.23-24)

Der anaphorische Gebrauch von „Nur Hitler“ (HA14, V.23-24) betont, dass „nur“ der „Führer“ dem Volk und dem Vaterland Errettung und Freiheit bringen kann. Die Sakralisierung der Führerfigur als Retter wird zudem dadurch gesteigert, dass die „Freiheit“ (HA14, V.8) in der zweiten Strophe als ein „heil’ges Gut“ (HA14, V.8) dargestellt wird. Außerdem scheint das Volk nicht einfach die Gründung eines neuen deutschen Reiches vor Augen zu haben, sondern es möchte „für Deutschlands Auferstehn“ (HA14, V.12) an Hitlers Seite kämpfen. Deutschland werde dann unter Führung des neuen Messias als „das heil’ge Dritte Reich“ (HA14, V20) auferstehen.

2.3 Eine gläubige und gehorsame Bewegung

In der zweiten Phase der messianischen Bewegung ist der lang ersehnte Messias endlich da. Das Vertrauen und der feste Glaube der Bewegung kommt in einem bedingungslosen Gehorsam zum Ausdruck. Außerdem glaubt die Bewegung fest daran, dass dieser Messias tatsächlich über eine göttliche Natur verfügt und deswegen als Heilsbringer und Erlöser zu betrachten ist.

2.3.1 Die bedingungslose Nachfolge der Bewegung

Das angebliche Vertrauen zu dem „Führer“ als Retter des Volkes und Gründer des neuen deutschen Reiches spricht aus den zahlreichen Ausdrücken der Treue zum „Führer“ in Anackers Gedichten, die die Nachfolge des Volkes implizieren. Das Motiv der Treue zum „Führer“ schlägt sich sowohl in wörtlichen Treueschwüren als auch in der Beschreibung der körperlichen und sentimentalen Treueausdrücke nieder. So endet das Eröffnungsgedicht „Dem Führer!“ (HA11/12) bereits mit einem wörtlichen Treueschwur:

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Am Beispiel Heinrich Anackers

Wir schwören es dir am heutigen Tag: Adolf Hitler, wir halten dir Treue! (HA11/12, V.29-30)

In „Potsdam I“ (HA93) kombiniert Anacker den wörtlichen Treueschwur mit der Beschreibung des Emporhebens der Hand, was als eine körperliche Darstellung der Treue zum „Führer“ zu verstehen wäre:

Da zuckt er heiß durch jedes deutsche Herz - Empor die Hand, daß sie den Treuschwur leiste: „Mit Hindenburg und Hitler sonnenwärts, In Potsdams zeitlos-jungem Heldengeiste!“ (HA93, V.9-12)

Die Hochhebung der Hand zum „Deutschen Gruß“ oder auch „Hitlergruß“ kam schon in den 1920er Jahren auf und wurde im „Dritten Reich“ als offizielles Grußritual eingeführt, meistens in Kombination mit den Worten „Heil Hitler“. Das Nicht-Hochheben der Hand konnte den Verdacht auslösen, der NSDAP und seinem Führer ablehnend gegenüberzustehen.553 Auch den wörtlichen „Heil Hitler“-Gruß könnte man in gewissem Sinne als einen Treueschwur interpretieren. Denn, die Verwendung abweichender Grußformeln wurde als Provokation betrachtet.554 Anacker nimmt diese Grußformel in verschiedenen Gedichten auf. So endet das Gedicht „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“ (HA107) mit „Heil Hitler, dem Führer zu Freiheit und Brot!“ (HA107, V.14). „In Kameraden, Tritt gefaßt!“ (HA39) wird Adolf Hitler nicht namentlich genannt, die Heil-Formel wird jedoch mit seinem Führertitel kombiniert:

Kameraden, Hand empor! Dröhnen soll’s wie Donnerchor: Heil dem Führer! Heil den Fahnen, (HA39, V.11-13)

Nicht nur wird die wörtliche Heil-Formel mit dem körperlichen Treueausdruck des Hitlergrußes verbunden, die Bedeutung des Treueschwurs wird zudem mit einer Hyperbel intensiviert, denn er soll „dröhnen […] wie Donnerchor“ (HA39, V.12). Dass der Treueschwur quasi zu einer religiösen Handlung wird, verdeutlicht das Gedicht „Steig‘ auf, du Jahr der deutschen Schicksalswende!“ (HA24): „Zum heil'gen Schwur erheben wir die Hände“ (HA24, V.4). Mit dem Adjektiv „heilig“ charakterisiert Anacker den Treueschwur anhand einer prädikativen Strategie zu etwas Übermenschlichem.

Auch in „Durchs Brandenburger Tor!“ (HA69) wird der „Schwur“ (HA69, V.12) von der Hochhebung der Hand unterstützt. Außerdem verwendet Anacker hier – genauso wie in

553 Vgl. „Deutscher Gruß“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 141-142. 554 Vgl. „Heil Hitler“ in ebd., 301.

146

Die messianische Stilisierung des „Führers“

„Potsdam I“ (HA93) – Anführungszeichen, um die Treue des Volkes dem „Führer“ gegenüber angeblich wortwörtlich zu zitieren.

Und wieder schwellen Ruf und Lied zum urgewalt'gen Chor: Zum Führer heben wir die Hand in heißem Glück empor. Oh, wie da Aug' in Auge brennt, verklärt von heil'gem Licht! Und jeder Blick ist wie ein Schwur: „Wir stehn in Treu und Pflicht! Wir kennen ein Gelübde nur und einen Willen bloß: Dir, Adolf Hitler, folgen wir, bis Deutschland frei und groß!“ (HA69, V.9-14)

Mit einer Hyperbel hebt Anacker hervor, dass das Volk „ein Gelübde nur und einen Willen bloß“ (HA69, V.13) kennt, und zwar dass man „Adolf Hitler“ „folgen“ wird, „bis Deutschland frei und groß“ ist (HA69, V.14). Der „Führer“ wird also erneut explizit mit dem Freiheitsgedanken verbunden und in dem Sinne implizit als Retter des Volkes charakterisiert. Dieser Treueschwur wird – nebst der Hochhebung der Hand – außerdem durch weitere körperliche Zeichen intensiviert. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit einem „Blick“ (HA69, V.12) lässt sich die Treue zum „Führer“ erkennen. Die Treue zum „Führer“ sei also nicht nur in konkreten Worten zu fassen, sondern findet seinen Ausdruck auch in sentimentalen Formulierungen. So schreibt Anacker in „Heraus zu neuem Kampf“ (HA31), „Der Führer kann sich auf uns verlassen“ (HA31, V.13) und im Gedicht „Am Abend des 5. März“ (HA76) wird mittels der schon oben erwähnten Formel „sich bekennen zu“ ein religiöses Gefühl erweckt. Dem „Führer“ wird nicht nur aus rationalen Gründen gefolgt, er nimmt sogar einen besonderen Platz „im Herzen“ (HA107, V.1) seiner Anhänger ein, wie in „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“ (HA107). In diesem Gedicht wird zudem die Bedingungslosigkeit der Nachfolge hervorgehoben, denn „Wir folgten dir blind und in stürmischem Drang“ (HA107, V.11). Dass mit „dir“ (HA107, V.11) zweifelsohne der „Führer“ gemeint sein sollte, wird sicherheitshalber im letzten Vers dieses Gedichtes mit der Formel „Heil Hitler“ (HA107, V.14) noch mal expliziert. Auch im Gedicht „Treue!“ (HA27) wird das Symbol des Herzens noch einmal als intensivierende Strategie eingesetzt:

Immer schlägt das Herz uns gleich Für den Führer, für das Reich. (HA27, V. 7-8)

Seit dem Mittelalter wurde das Herz sowohl im profanen als auch im religiösen Sinne immer mehr zum Symbol der Liebe, indem es als ein Knoten, durch den Mensch und Mensch oder Gottheit miteinander verbunden sind, betrachtet wurde.555

555 Vgl. „Herz“ in: Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 153.

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Am Beispiel Heinrich Anackers

2.3.2 Der Glaube an die göttliche Natur des „Führers“

Neben der Tatsache, dass Hitler an mehreren Stellen explizit als „Retter“ oder „Befreier“ des Volkes dargestellt wird, scheint der „Führer“ auch übermenschliche, vielleicht sogar gottähnliche Qualitäten zu besitzen. So waren es die Kinder und die Tiere, die im zur Einführung angeführten Gedicht „Adolf Hitler als Mensch“ (HA108) das geglaubte übermenschliche Wirken des „Führers“ symbolisieren. Denn seit jeher gelten Kinder und Tiere „als in ihrem unbefangenen Urteil untauschbar“ und sie werden „in ihrem Verhalten als Indikatoren übernatürlicher Kräfte angesehen“.556

Die Kinder künden’s in strahlendem Glück, Die irgendwo ihm begegnet; Und Tiere haben mit stummen Blick Sein stilles Wohltun gesegnet. (HA108, V.5-8)

Das stille „Wohltun“ (HA108, V.8) des „Führers“ wird von den Kindern „gekündet“ und von den Tieren sogar „gesegnet“, weswegen die religiöse oder übermenschliche Eigenschaft des „Führers“ noch einmal explizit betont wird.

Weil ihr eine besondere Wirkung zugeschrieben wird, interpretiert Schmidt auch die Stimme des „Führers“ innerhalb des übermenschlichen Wirkens des Führers.557 Adolf Hitler vermittelt seine ideologische Überzeugung nicht nur sachgerecht und rational, seine Botschaft wird in „Und ihr habt doch gesiegt!“ (HA86) als „wundervolles Wort“ (HA86, V.1) charakterisiert, wobei die Alliteration des W das Wundervolle besonders in den Vordergrund rückt. Anhand der Stimme des „Führers“ thematisiert Anacker außerdem die geglaubte Allgegenwart des „Führers“ als messianische Charakteristik. Bereits im Eröffnungsgedicht „Dem Führer!“ (HA11/12) beschreibt Anacker, wie seine „Stimme“ „klang im ewigen Chor“ (HA11/12, V.9). Indem Anacker die Stimme in „Adolf Hitler im Rundfunk“ (HA83) als „überall hindringend“ (vgl. HA83, V.3) und als ein „Beschwören“ (HA83, V.4) darstellt, betont er die Allgegenwart und den übermenschlichen Aspekt der Stimme:

Adolf Hitler im Rundfunk

Einst mußten wir weit durch die Gaue ziehn, um nur einmal den Führer zu hören. Nun dringt seine Stimme überall hin, Aufrüttelnd in heißem Beschwören.

556 Schmidt: Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen „Schaffens“/„Schrifttums“ im Rahmen der „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“ und der „nationalsozialistischen deutschen Literatur“, 109. 557 Ebd.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

5 Von Deutschland spricht er, von Deutschland allein, Von Zielen, die ferne schienen; Und er mahnt uns, Vollender des Werkes zu sein In friderizianischem Dienen.

Millionen hören ihn, ernst und still, 10 In tiefergriffenem Lauschen - Und es geht durch das Volk, das frei sein will, Wie ein heiliges Frühlingsrauschen! (HA83)

Besonders die erste Strophe beschreibt die angebliche Allgegenwart der Stimme des „Führers“. Während man sich in der Vergangenheit – „Einst“ (HA83, V.1) – besondere Mühe geben musste, um den „Führer“ hören zu können, dringt seine Stimme „Nun“ (HA83, V.3) überall hin. In der zweiten Strophe kommen die drei Aspekte des Nationalsozialismus als einer messianischen Bewegung zusammen. Nicht nur der Botschafter, dessen Stimme mit Wörtern wie „aufrüttelnd“ und „Beschwören“ (HA83, V.4) sogar quasi-magische Qualitäten zugeschrieben wird, sondern auch die Botschaft und die Bewegung seien von Bedeutung. Der „Führer“ spricht „von Deutschland allein“ (HA83, V.5) und die Bedeutung von „Deutschland“ wird mittels der Wiederholung betont. Außerdem ruft der „Führer“ seine Anhänger dazu auf, „Vollender des Werkes zu sein“ (HA83, V.7), was ihre aktive Teilnahme an die Gründung, oder – wenn man das Gedicht „Die Fahnen verboten“ (HA14) in Erinnerung hat – auch die „Auferstehung“ des „Dritten Reiches“ impliziert. Die dritte Strophe intensiviert die Allgegenwart der Stimme mittels einer Hyperbel, denn nicht nur die Leute in unmittelbarer Nähe sondern „Millionen“ (HA83, V.9) hören sie. In „Steig’ auf, du Jahr der deutschen Schicksalswende!“ (HA24) benutzt Anacker eine ähnliche intensivierende Strategie, indem er hyperbolisch behauptet, der ganze „Erdkreis hört auf unsres Führers Worte“ (HA24, V.14). Die Stimme scheint außerdem einen gewissen Effekt auf die Zuhörer zu haben, denn sie scheinen „tiefergriffen“ (HA83, V.10) von seiner Botschaft zu sein. Genauso wie in der ersten Strophe wird der Stimme in der letzten Zeile quasimagische Eigenschaften zugeschrieben, indem sie „wie ein heiliges Frühlingsrauschen“ (HA83, V.12) dargestellt wird.558

In „Sieg der Treue“ (HA89) wird Hitlers Botschaft nicht nur als „wundervoll“ oder als eine frische Brise beschrieben, sondern Anacker macht einen expliziten Vergleich mit einem „zündenden Wetterstrahl“ (HA89, V.4):

558 Dieses Gedicht veranschaulicht noch einmal den ambivalenten Charakter des Nationalsozialismus als Produkt der Moderne. Auf der einen Seiten wird die Allgegenwart und in dem Sinne die übermenschliche – quasi göttliche – Natur der Stimme hervorgehoben, auf der anderen Seite verrät der Titel, dass Hitlers Stimme das Volk einfach über den „Rundfunk“, den sogenannten „Volksempfänger“, und in dem Sinne einfach wegen technischer Innovation im „Dritten Reich“ erreicht.

149

Am Beispiel Heinrich Anackers

Vor dreizehn Jahren, in diesem Saal, Begann das große Genesen: Hier warf der Führer zum erstenmal Wie einen zündenden Wetterstrahl Ins Volk seine ehernen Thesen. (HA89, V.3-5)

Der Blitz (und Donner) wird in vielen Kulturen als Symbol der Präsenz und Macht eines Gottes verstanden. So ist ein Blitzbündel in antiker Mythologie das Attribut des Göttervaters Zeus oder Jupiter.559 Auch die Wiederkehr Jesu Christi wird im Lukasevangelium mit einem Blitz assoziiert: „Denn wie der Blitz oben vom Himmel blitzt und leuchtet über alles, was unter dem Himmel ist, also wird des Menschen Sohn an seinem Tage sein“ (Lk 17, 24). Im obigen Gedicht scheint Hitler seine These bereits „vor dreizehn Jahren“ (HA89, V.1) und genauso wie Zeus als ein Blitzbündel ins Volk zu werfen.

2.3.3 Der „Führer“ als Heilsbringer und Erlöser

Das Ende der Kampfzeit und die Freiheitsprophezeiung wird immer im Zusammenhang mit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Partei im Allgemeinen und des „Führers“ im Besonderen verstanden. Wie bereits angedeutet, benutzt Anacker in „Preußens Erhebung“ (HA67/68) das Symbol des Hakenkreuzes als ein Symbol der Hoffnung auf Errettung oder auch ein Symbol des Heils. In der Mehrzahl der Gedichte fungiert der „Führer“ selbst aber als ein Symbol der Hoffnung, indem er als Retter oder Befreier dargestellt wird. Besonders in Verbindung mit dem Verb „erlösen“ bekommt der „Führer“ eine quasimessianische Aura, wie in „Nun schmückt die Fahne mit jungem Grün!“ (HA115):

Nun dürfen wir endlich nach dunkler Zeit Uns wieder der Zukunft freuen, Und dürfen die Fahnen, den Toten geweiht, Durch den Führer erlöst, durch den Führer befreit, Bekränzen mit pfingstlichen Maien (HA115, V.11-15)

Neben dem schon genannten Verb „befreien“ benutzt Anacker hier das sehr religiös konnotierte Verb „erlösen“ in Verbindung mit dem Fahnensymbol.560 Auch im Gedicht „Die erwachte Nation“ (HA79) greift Anacker das Verb „erlösen“ auf, obwohl in diesem Gedicht undeutlich bleibt, was „des Führers erlösende Tat“ (HA79, V.10) genau bedeutet. Obwohl Anacker nirgendwo das Substantiv „Erlöser“ benutzt, meint Knoche, dass das

559 Vgl. „Gewitter / Blitz und Donner“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 129. 560 Dass die jährliche Weihung der Nationalfahnen durch Hitlers Berührung mit der sogenannten „Blutfahne“ als ein quasireligiöse Handlung – eine „Konsekration“ der Fahnen – interpretiert werden könnte, wird im Rahmen der Analyse von „Volk“ in Herybert Menzels Gedichtband näher beleuchtet.

150

Die messianische Stilisierung des „Führers“

Wort „Erlöser“ schon ohne Worte hervorgerufen wird, weil es seiner Meinung nach unbestreitbar sei, dass das Adjektiv „erlöst“ religiös konnotiert ist.561

Auch die Heil-Formel, die Anacker in Gedichten wie „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“ (HA107) und „Kameraden, Tritt gefaßt!“ (HA39) benutzt, wäre mit der messianischen Charakterisierung zu verbinden. Obwohl die erste Assoziation, die „Heil“ heutzutage im Gedächtnis der meisten Deutschen auslösen dürfte, der sogenannte ‚Deutsche Gruß‘ ist, kam das Heil aber nicht erst durch die Nationalsozialisten in die deutsche Geschichte; es habe durch sie bloß eine tiefgreifende Wandlung erfahren. In ihrem Beitrag zu „Heil“ als deutschem Erinnerungsort beschreibt Sabine Behrenbeck, dass die NSDAP ihre Grußpraxis – genauso wie in so vielen anderen Aspekten ihrer Propaganda – nicht neu erfunden hat. Der Heilsgruß wurde schon viel länger in Sportvereinigungen (wie das ‚Gut Heil‘ in der Turner-Bewegung von Friedrich Ludwig Jahn) oder als Trinkspruch unter den Studenten benutzt. Auch viele völkische oder patriotische Bewegungen haben den Heilsgruß übernommen und in Österreich wurde er sogar zum vaterländischen Gruß der Alldeutschen. Behrenbeck behauptet, dass es in den frühen Partei- oder SA- Versammlungen der NSDAP noch keine eigene Grußformel gab, die Anhänger antworteten nach einer Rede jedoch häufig mit beifälligen Heilrufen. Seit Ende 1922 habe Adolf Hitler seine Reden vielfach mit Formeln wie ‚Heil euch!‘ oder ‚Heil Deutschland‘ abgeschlossen. Damit stand die Partei in der Tradition anderer völkischer oder vaterländischer Kreise. Hieraus entwickelte sich dann allmählich der Hitler-Gruß, der zum einen die Bedeutung eines ‚Errette uns, Hitler!‘ und zum anderen den Wunsch nach einem gesunden und starken „Führer“ zum Ausdruck brachte. Der Gruß soll aber in jedem Fall Bekenntnischarakter getragen haben.562 Allerdings geht die Idee des Heils auch auf eine christliche Tradition zurück.

Im Neuen Testament ist die Verwirklichung von Heil ausschließlich an Jesus Christus gebunden und bezieht sich auf alle Formen von physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Not. Jesus Christus wird als Mitte einer Gesamtgeschichte verstanden, die von der Erschaffung der Welt bis zu ihrer Vollendung im Reich Gottes verläuft. Das Reich Gottes bedeutet die Befreiung von Krankheit und Leid, die Errettung aus unmittelbarer Lebensgefahr, die Versöhnung mit Gott, die Auferstehung und das ewige Leben.563

Mit dem Hitler-Gruß wird das ‚Heil‘ aber nicht mit Jesus, sondern mit dem „Führer“ verbunden und wird dem „Führer“ erneut eine messianische Eigenschaft zugeschrieben.

561 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 20-21. 562 Vgl. Sabine Behrenbeck: Heil. In: Vandenhoeck & Ruprecht. Hg. v. Étienne François und Hagen Schulze. München: Beck 2005, 310-314. 563 Ebd., 316.

151

Am Beispiel Heinrich Anackers

2.4 Der „Führer“ nach dem Vorbild Christi

Bereits in der Nachahmung der biblischen Sprache hat sich gezeigt, wie ausführlich Anacker aus dem christlich-religiösen Lexikon schöpft. Er beschränkt sich aber nicht auf die reine Übernahme des Vokabulars. In seiner messianischen Darstellungen beschreibt er Adolf Hitler wiederholt nach dem Vorbild Jesu Christi, wobei sich die Bibel – und besonders das Neue Testament – als eine wichtige intertextuelle Quelle erweist.

2.4.1 Der lehrende und leidende „Messias“

Du lehrtest uns niederknieen [sic] Vor des Vaterlandes Hochaltar, (HA11/12, V.22-23)

Bereits im Eröffnungsgedicht wird Adolf Hitler genauso wie Jesus Christus als „Lehrer“ charakterisiert. Die kniende Haltung ist in erster Linie aus religiösen Kontexten als Gebetshaltung und so auch als Symbol der Über- oder Hingabe bekannt. Hitler scheint seinen Nachfolgern also einen sehr konkreten und körperlichen Ausdruck des Gebets beizubringen. Damit folgt er dem Beispiel Jesu Christi, weil auch Jesus, den Evangelisten Matthäus und Lukas zufolge, seine Jünger zu beten gelehrt hat.564 Das Vaterunser wird heutzutage immer noch als zentrales Gebet in allen unterschiedlichen christlichen Strömungen gebetet.

Im selben Gedicht wird auch der leidende Aspekt des Messianismus thematisiert. In der ersten Strophe wird die Zeit vor dem Aufkommen Hitlers als „ein einziger Opfergang“ (HA11/12 V.3) beschrieben; eine Zeit, in der gekämpft und schweigend auf ihn gewartet wurde (vgl. HA11/12, V.1-2). Auch im Gedicht „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“ (HA107) wird diese Periode als eine leiderfüllte Zeit dargestellt, denn „Du gingst uns voran in leidvollen Jahren“ (HA107, V.3). Die Analogie mit dem leidenden Christus wird aber nur in „Dem Führer!“ (HA11/12) weiter expliziert:

Du aber lebtest das Schwerste uns vor; Du warest der Wachste von Allen: Du rissest die Müdegewordnen empor – (HA11/12, V.6-8)

Diese Beschreibung des Führers erinnert an die neutestamentliche Geschichte von Jesus im Garten Gethsemane. Diese Geschichte wird von drei Evangelisten erzählt: Markus, Matthäus und Lukas. Sie erzählen, wie Jesus nach dem letzten Abendmahl mit seinen Jüngern zum Gebet in den Garten Gethsemane geht. Jesus weiß, welche Schmerzen und schließlich welcher Tod ihn in den nächsten Tagen erwartet – sein letzter ‚Opfergang‘ sozusagen – und bekommt Angst. Er bittet seine Jünger mit ihm zu beten, sie schlafen aber

564 Vgl. Mt 6, 9-13 und Lk 11, 1-4.

152

Die messianische Stilisierung des „Führers“ alle ein. Bei Markus und Matthäus findet Jesus seine Jünger nicht weniger als dreimal schlafend und bittet sie, mit ihm zu wachen und zu beten. (Mk 14, 32-42; Mt 26, 36-46; Lk 22, 40-46) Mit den Wörtern „der Wachste“ (HA11/12, V. 7) und „die Müdegewordnen“ (HA11/12, V. 8) scheint Anacker indirekt auf diese Geschichte anzuspielen. Auch die dreifache Wiederholung – und so der anaphorische Gebrauch – des Personalpronomens „du“ scheint diese These zu unterstützen.

2.4.2 Der Messias als Bauherr

In der alttestamentlichen Prophezeiungen wird der Messias als Bauherr des Tempels charakterisiert. Im zweiten Buch des Propheten Samuel liest man: „Der soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will den Stuhl seines Königreichs bestätigen ewiglich“ (2Sam, 7, 13). Der Prophet Sacharia schreibt zudem, „und sprich zu ihm: So spricht der HERR Zebaoth: Siehe, es ist ein Mann, der heißt Zemach; denn unter ihm wird's wachsen und er wird bauen des HERRN Tempel“ (Sach 6, 12). Obwohl Jesus keinen imposanten Tempel gebaut hat, fügt er sich in sein Schicksal als Messias, indem er gesagt haben soll: „Ich will den Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen anderen bauen, der nicht mit Händen gemacht sei“ (Mk 14, 58). Obwohl Adolf Hitler nicht als Bauherr eines Tempels dargestellt wird, spielt Anacker in seinem Eröffnungsgedicht „Dem Führer!“ (HA11/12) schon darauf an. Nicht nur lege Adolf Hitler „den Grundstein zum Dritten Reich“ (HA11/12, V.16), er lehre das Volk auch niederknien „Vor des Vaterlandes Hochaltar“ HA11/12, V.23). Gerade die Vorstellung eines „Hochaltars“ ruft die Assoziation mit einem Tempelgebäude hervor. In „Das Volk hat gesprochen“ (HA77) fehlt die Tempel- Assoziation, Anacker charakterisiert den „Führer“ aber mittels einer Apposition hinter seinem Namen schon als „Bauherr des Reiches“ (HA77, V15).

Dann aber beginnt mit dem mächtigen Bau, Und er finde auf Erden kein Gleiches … Laßt ragen die Türme ins ewige Blau, So wie es verkündet in herrlicher Schau Adolf Hitler - der Bauherr des Reiches! (HA77, V.11-15)

Dieses „Reich“, das beispielsweise in „Die Fahnen verboten“ (HA14) explizit als „heilig“ (HA14, V.20) gekennzeichnet wird, wird auch in diesem Gedicht auf eine sakrale Ebene gehoben, indem es „auf Erden kein Gleiches“ (HA77, V.12) finde. So erscheint nicht nur das „Reich“ quasi als ein „Reich Gottes“, sondern der „Führer“ selbst erscheint in seiner Tätigkeit als „Bauherr“ außerdem als übermenschlich.

2.4.3 Der Messias und das Symbol des Brots und des Lichts

Neben den wörtlichen Treueschwüren und der Beschreibung des körperlichen Hitlergrußes wird das Vertrauen oder der Glaube an den „Führer“ auch in anderen

153

Am Beispiel Heinrich Anackers

Kontexten zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel in Verbindung mit dem Symbol des Lichts oder der Sonne. In „Wintersonnwend 1931“ (HA21) werden der „Führer“ und das nationalsozialistische Hakenkreuzsymbol mittels der anaphorischen Verwendung von „Aufwärts“ mit dem Sonnenzeichen assoziiert:

Aufwärts mit Hitler und Hakenkreuz! Aufwärts im Zeichen der Sonne! (HA21, V.14-15)

Diese Aufwärtsbewegung wird mit der Emporhebung der Hand zum Hitlergruß auch körperlich dargestellt. In „Potsdam I“ (HA93) wird der Hitlergruß nicht mit der üblichen Heilformel verbunden, sondern mit einem Ausruf, in dem die Aufwärtsbewegung in Richtung der Sonne mit dem einfachen Wort „sonnenwärts“ ausgedrückt wird:

Da zuckt er heiß durch jedes deutsche Herz - Empor die Hand, daß sie den Treuschwur leiste: „Mit Hindenburg und Hitler sonnenwärts, In Potsdams zeitlos-jungem Heldengeiste!“ (HA93, V.9-12)

Klaus Vondung behauptet, dass die Nationalsozialisten die Sonnensymbolik den kosmologischen Sonnenmythen entnommen haben. In diesen Mythen erscheine die Sonne als Symbol des Guten, des Lebens und der Kraft, während die Finsternis die Welt des Bösen und des Todes vertritt. Der Nationalsozialismus übernahm die Sonnensymbolik für seine Gut-Böse-Polarisierung, indem er sich selbst mit der Welt des Lichtes identifizierte und seine Gegner der Welt der Finsternis zuordnete.565

Auch das Lichtsymbol steht schon seit der Antike in oppositioneller Beziehung zur Finsternis und wird als Attribut des Göttlichen gedeutet.566 So sagte Jesus Christus über sich selbst: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8, 12). In christlicher Tradition gilt als Lichtfest schlechthin das Weihnachtfest, wobei der Geburt Jesu gedacht wird.567 Die Nationalsozialisten versuchten, das Weihnachtsfest für den eigenen Jahreskalender zu vereinnahmen, wie beispielsweise im Sonett „Frontweihnacht 1931“ (HA23):

So treten wir zur stillen Christnachtfeier … Empor den Blick, du Volk! Am Horizont Aufsteigt dein Stern: Auch dir naht der Befreier! (HA23, V.11-13)

Obwohl in diesem Gedicht der Name des „Führers“ nicht genannt wird, kann man im Kontext des Gedichtbandes davon ausgehen, dass an dieser Stelle mit „Befreier“ (HA23,

565 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 186. 566 Vgl. „Licht“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 205; „Sonne“ in ebd., 354. 567 Vgl. „Weihnachten“ in ebd., 418.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

V.13) der „Führer“ gemeint ist. Anacker intensiviert die religiöse Konnotation des Befreiers in diesem Gedicht, indem er zweimal auf das Weihnachtsfest anspielt. Die „Christnachtfeier“ (HA23, V.11) wird erstens als temporaler Rahmen dieses Gedichtes genannt. Zweitens übernimmt Anacker das Sternsymbol aus der Weihnachtsgeschichte, mit dem die Geburt des neuen Königs, nämlich Jesu, angekündigt wird. Der Evangelist Matthäus schreibt:

Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen die Weisen vom Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. (Mt 2, 1-2)

Auch in Anackers Gedicht steigt ein wegweisender „Stern“ (HA23, V.13) auf. Er kündigt aber nicht die Geburt Christi, sondern das Kommen des neues Messias, und zwar Adolf Hitlers an. Die Lichtsymbolik wird also mittels der Kollektivsymbolik des Weihnachtsfestes indirekt thematisiert.

Eine weitere Ähnlichkeit mit dem biblischen Messias findet sich im Brot-Symbol. Sowohl im Gedicht „München grüßt Adolf Hitler“ (HA85) als auch in „Wir alle tragen im Herzen dein Bild“ (HA107) wird Adolf Hitler mittels der Apposition „dem Führer zu Freiheit und Brot“ (HA85, V.17; HA107, V.14) als Befreier charakterisiert. Die Apposition verbindet den Namen des „Führers“ aber gleich mit dem literarischen Symbol „Brot“. Das Metzler Lexikon literarischer Symbole beschreibt das Brot-Symbol als (1) des Lebensnotwendigen, (2) der Agrikultur, (3) der Gemeinschaft und (4) der leibhaften Gegenwart Christi.568 Im Rahmen des christlich-religiösen Diskurses sind vor allem die erste und vierte Symbolerklärung von Bedeutung. Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas erzählen, wie Jesus zu seinem letzten Abendmahl das Brot bricht und es seinen Jüngern gibt mit den Worten: „Das ist mein Leib“ (Mk 14, 22; Mt 26, 26; Lk 22, 19). Der vierte Evangelist Johannes charakterisiert Jesus als „das Brot des Lebens“ (Joh 6, 48) und „das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6, 51). Das Metzler Lexikon vermerkt, dass der Vers „Unser tägliches Brot gib uns heute“ aus dem Vaterunser-Gebet (Mt 6,11) selbst in postreligiösen Zeiten und Sphären noch zum Kernbestand des allgemeinen Zitatenschatzes gehört.569 Das Brot als Kollektivsymbol charakterisiert den „Führer“ also auch als Bringer des lebensnotwendigen Brotes und schlägt die Brücke zur christlichen Darstellung Jesu.

568 Vgl. „Brot“ in ebd., 55. 569 Vgl. ebd.

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Am Beispiel Heinrich Anackers

3. Zwischenfazit – Die messianische Repräsentation des „Führers“ in affirmativer NS-Dichtung

Dass Anacker den „Führer“ im Titel seines zur Einführung aufgeführten Gedichtes so pointiert als „Mensch“ beschreibt, hat die Frage hervorgerufen, wie der „Führer“ von Zeitgenossen dann wohl wahrgenommen wurde. Auch Volker Ullrich versieht eines der einundzwanzig Kapitel seiner umfangreichen Biographie über Adolf Hitler mit dem Titel „Der Mensch Hitler“. Laut Ullrich ist die Frage, wer denn nun dieser Mann war, der im Alter von nur 43 Jahren am 30. Januar 1933 in das Kanzleramt einzog, schwer zu beantworten. Eine Erklärung für diese Schwierigkeit sieht er in Hitlers gezielter Inszenierung, sich „als einen Politiker zu präsentieren, der, ganz mit seiner Führerrolle identisch, allen privaten Bindungen entsagt habe und einsam seiner historischen Mission nachgehen müsse“.570 Dieses Kapitel hat erforscht, inwiefern sich Anacker in seiner poetischen Stilisierung des „Führers“ eines christlich-religiösen Diskurses bedient, um diese sogenannte „historische Mission“ als eine göttliche Sendung und den „Führer“ selbst in diesem Sinne als einen gottgesandten Messias darzustellen.

Zunächst zeugen die zahlreichen Erwähnungen des „Führer“-Titels und des Namens „(Adolf) Hitler“ in Anackers Gedichtband Die Fanfare von der großen Bedeutung, die diesem Thema in seiner Dichtung zukommt. Außerdem hat die literarische Analyse die weitgehende Sakralisierung dieses Themas gezeigt, denn an vielen Stellen wird der „Führer“ als eine messianische Figur gekennzeichnet. Die messianische Charakterisierung wurde anhand der zusammengestellten Eigenschaftsliste eines Messias überprüft. So werden die ersten zwei von Seitschek beschriebenen Phasen im Messianismus – das Warten und Hoffen auf den Messias und die bedingungslose Nachfolge der Anhänger – an mehreren Stellen, vor allem mittels wörtlicher und körperlicher Treueschwüre, belegt. Dass die „Glaubenden“ dem „Führer“ die Messiasrolle zuschreiben, kann auch aus der Perspektive des Dichters heraus erklärt werden. Heinrich Anacker gilt als nationalsozialistischer Dichter in gewisser Hinsicht auch als „Gläubiger“ und in dem Sinne wäre seine messianische Charakterisierung des „Führers“ als Zuschreibung seitens eines Glaubenden zu verstehen. Das geglaubte übermenschliche Wirken des „Führers“ als Messias und seine geglaubte Allgegenwart wurde hauptsächlich anhand seiner sakralisierten Stimme gezeigt. Schließlich wurden auch Parallelen mit Jesus Christus als Messias gezogen. So übernimmt der „Führer“ in Anackers Dichtung auch eine lehrende und leidende Funktion und er wird an einigen Stellen explizit als Bauherr des Reiches beschrieben. Außerdem erscheint der „Führer“ mehrmals in Verbindung mit dem

570 Ullrich: Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs, 1889-1939, 422.

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Die messianische Stilisierung des „Führers“

Lichtsymbol und dem Symbol des Brots. Genauso wie Jesus Christus wird der „Führer“ schließlich auch als Heilsbringer charakterisiert.

Ein Blick auf die Gedichtbände von Gerhard Schumann und Herybert Menzel macht deutlich, dass auch diese Autoren sich eines ähnlichen religiösen Diskurses bedienen, um den „Führer“ als eine quasi-messianische Figur darzustellen. Obwohl Schumann und Menzel – im Gegensatz zu Anacker – Adolf Hitlers Namen nicht nennen, kann man davon ausgehen, dass auch sie mit der Bezeichnung „Führer“ eindeutig auf den nationalsozialistischen „Führer“ Rücksicht nehmen. Besonders indem der „Führer“ mehrmals schlicht als „der Eine“ beschrieben wird (vgl. etwa GS22, HM48), stellen auch Schumann und Menzel diesen „Führer“ als „Auserwählten“ (GS22, V.10) dar, der sich, wie das nächste Zitat durchblicken lässt, selbst eines religiösen Diskurses bedient:

Nun hält nur uns der Eine auf, wenn er sein Amen spricht! (HM10, V.14-15)

Bereits aus diesem Zitat spricht erneut der Glaube an den und die Treue zum „Führer“. Auch in einem anderen Gedicht betont Menzel die bedingungslose Nachfolge des Volkes, indem er dichtet: „Was unser Führer von uns fordert, gilt“ (HM23, V.6) Genauso wie Anacker benutzt Schumann in seinem sechsten Sonett der „Lieder vom Reich“ eine Hyperbel, um diesen Glauben an den „Führer“ zu beschreiben. Während Anacker mit dem Substantiv „Erdkreis“ (HA24, V.14) die angebliche Wirkung des „Führers“ auf die ganze Erde ausdehnt, drückt Schumann den allumfassenden Glauben an die Rettungskraft des „Führers“ mit dem anaphorisch verwendeten Zahlwort „tausend“ aus:

Aus tausend Augen glomm das letzte Hoffen! Aus tausend Herzen brach der stumme Schrei: Den Führer! Knechte uns! Herr mach uns frei! (GS21, V.12-14)

Gerade die letzte Verszeile dieses Sonetts beschreibt die Beziehung des Volkes zu seinem diktatorischen „Führer“ mit einem Oxymoron. Während das Volk, oder die Masse, im Nationalsozialismus als totalitärem Regime tatsächlich „geknechtet“ wurde, wird diese Knechtschaft bei Schumann zur gleichen Zeit als Befreiung gedeutet. Die Treue zum „Führer“ impliziert also auch die Bereitschaft, seine Worte als „Gebot“ (Vgl. HA38, V.6, 13, 20; HM9, V.18) hinzunehmen.

Wie Anacker verweisen auch Menzel und Schumann in ihrer Darstellung des „Führers“ mehrmals auf die biblische Tradition. So wird „der Eine“ in Schumanns siebtem Sonett des Zyklus „Die Lieder vom Reich“ besonders mit dem Verb „erlöst“ (GS22, V.13) verbunden und spielt er die Hauptrolle in einer Szene, die stark an einer neutestamentlichen Erzählung erinnert, in der Jesus nachts mit einem Engel im Garten Gethsemane kämpft

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Am Beispiel Heinrich Anackers

(vgl. GS22 und Lk 22, 41-44).571 In seinem Gedicht „Es lebt der Eine!“ (HM48) übernimmt Menzel der gelebten christlichen Praxis zudem die Idee, man solle sich an das Leben des „Führers“ – und also nicht an das Leben Jesu Christi – ein Beispiel für das eigene Verhalten nehmen, oder zumindest versuchen, „ihm nachzustreben“ (HM48, V.15):572

Wie er zu leben, Ist uns versagt. Ihm nachzustreben, Froh sei's gewagt! (HM48, V.13-16)

Weil der „Führer“ also immer wieder als eine sakralisierte Messiasfigur erscheint, scheint es schon angebracht, „Führer“ als Glaubensartikel zu klassifizieren. Während ‚Verehrung von „Führer“ und Partei‘ bereits von Behrens und Gentile zum Wesen der politischen Religion gerechnet wurde, kann man diesen Glaubensartikel auch mit dem mehrdimensionalen Religionskonzept von Ninian Smart verbinden. Als Glaubensartikel gehört er eindeutig in die (2) doktrinär-philosophische Dimension, der ganze Führermythos wäre aber auch der (3) mythisch-narrativen Dimension zuzuordnen. Außerdem kann man den Führerkult mit Hitlergruß – sowohl wörtlich als auch körperlich – zur (1) rituell-praktischen Dimension rechnen.

571 Im nächsten Kapitel zu Schumanns Dichtung wird diese Szene unter 2.3 Dichterische Verarbeitung des neutestamentlichen Erzählstoffs weiter erläutert. 572 Nach der Fußwaschung fordert Jesus seine Jünger auf: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe“ (Joh 13, 15).

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VI Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

Am Beispiel von Gerhard Schumanns Die Lieder vom Reich (1935)

Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

1. Das - „Dritte“ oder „heilige“ - Reich in Schumanns Dichtung

1.1 Der Reichsgedanke Gerhard Schumanns

Der Glaube an das Reich war eine Konstante in Schumanns Leben.573 Der nationalsozialistische Literaturwissenschaftler Helmuth Langenbucher beobachtete, dass der Reichsgedanke in Schumanns Denken und Dichten zentral war. Er zählt seine Reichsgedichte dann auch zum „Kern seines lyrischen Werkes“.574

Ob Schumann ein Landschaftsbild oder ein Naturerlebnis besingt, ob er von der Heiligkeit deutschen Muttertums kündet, ob er große Gestalten der Bewegung oder den arbeitenden Menschen in seiner Alltagsumwelt dichterisch verklärt: immer und überall begegnen wir dem neuen Lebensgefühl unseres Volkes, aus dem heraus das Reich geschaffen wurde und bewahrt wird, und der inneren Ordnung, in deren Gefüge jeder Einzelne von uns seinen Platz hat.575

Bereits in diesem Zitat wird die enge Beziehung zwischen „Reich“ und „Volk“, die quasi ineinander zusammenfließen, offenbar. Auch Schumanns Zeitgenosse Rudolf Erckmann schreibt 1939, dass es in Schumanns Reichsidee um die Gestaltwerdung des deutschen Volkes, die Realisierung der Gestaltidee des Deutschtums schlechthin handele.576 Diese Grundüberzeugung Schumanns zeigt sich im titellosen und 1934 verfassten Eröffnungsgedicht (GS7) seines Gedichtbandes:

Wer sich dem Reich verschrieb, Ist ein Gezeichneter. Auf seiner Stirn entbrennt Ein jäh durchzuckend Mal.

5 Den Vielen ist er fremd, Weil er sich selbst vergaß, Weil ihn ein Sternbild treibt, Das zwingend vor ihm glüht.

573 Auch nach 1945 beharrte er laut Bautz darauf, dass Deutschland eine Führungsrolle in Europa einnehmen werde. Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 343. 574 Langenbucher: Die deutsche Geg enwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit, 225. 575 Ebd. 576 Vgl. Rudolf Erckmann: Der Reichsgedanke im Werk schwäbischer Dichter. In: Schwaben 11.4/5 (1939), 310.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

10 Kaum einer sieht die Sucht. Nur wenige lieben ihn. Doch einmal springt sein Wort Wie Feuer in den Kreis.

Da steht er leuchtend vorn. Hält flatternd den Befehl. (GS7)

Gleich in der ersten Verszeile des Gedichtes – und so auch gleich am Anfang des Gedichtbandes – nennt Schumann das „Reich“ (GS7, V.1). Die Gestaltung des Reiches ergibt sich aber erst aus der notwendigen Selbstaufgabe des Ichs zugunsten der Gemeinschaft. Dabei betont Schumann gleich am Anfang „das Erwähltsein dessen […], der sein Leben ohne Vorbehalte in den Dienst der Reichsidee stellt“.577 Dieser ist in Schumanns Gedicht „ein Gezeichneter“ (GS7, V.4). Indem ein „Mal“ (GS7, V.4) auf seiner Stirn erscheint, darf man dies sogar sehr wörtlich nehmen. In seiner Hingabe an das Reich ist dieser „Gezeichnete“ zunächst einsam, denn „den Vielen ist er fremd“ (GS7, V.5). Außerdem verliert er auch sich selbst, indem „er sich selbst vergaß“ (GS7, V.6). Hillesheim und Michael erkennen diese Begriffe des Zerfließens und Sich-Verlierens als Topoi der Romantik, mit denen Schumann die Überwindung der Ich-Grenzen dichterisch versucht zu verdeutlichen.578 Diese Hingabe an das Reich scheint nicht nur aus reinem Idealismus hervorzugehen, sondern von einer höheren Kraft – einem „Sternbild“ (GS7, V.7) – aufgezwungen oder vielleicht prophezeit zu werden. In der dritten Strophe findet das Ich letztendlich Zugang zu einer Gemeinschaft, in dem sein „Wort / Wie Feuer in den Kreis“ (GS7, V.11-12) springt und gerade dieses Aufgehen des Ichs in der Gemeinschaft, oder auch im Volk oder im Reich, setzt Schumann für die Erfüllung der Reichsidee voraus. In der letzten Strophe hat der „Gezeichnete“ seine Einsamkeit endgültig überwunden, indem er in eine Position der Führerschaft geraten ist. Er steht nicht länger außerhalb der „Vielen“, sondern geht voran und führt jetzt sogar den „Befehl“ (GS7, V.14). In dieser führenden Position übernimmt er die Funktion des Sternbilds, das ihn vorangetrieben hat. In diesem Gedicht fließen also nicht nur Volk und Reich zusammen, sondern stellt sich auch der „Führergedanke“ als wichtiges Thema neben dem Reichsgedanken heraus. Im Gegensatz zu Heinrich Anacker bleibt die Führerfigur in Schumanns Dichtung eine unbestimmte und namenlose Figur, da sowohl für den „Führer“ als auch das Volk die Gestaltung des Reiches zentral steht.

577 Hillesheim und Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, 407. 578 Vgl. ebd.

162

Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

1.2 Die Sakralisierung des „Reiches“ in Gerhard Schumanns Gedichtband Die Lieder vom Reich (1935)

Gerhard Schumanns Gedichtband Die Lieder vom Reich erschien 1935 als Jubiläumsbändchen beim Münchner Verlag Albert Langen – Georg Müller579 und enthält 37 Gedichte, die zwischen 1930 und 1935 geschrieben worden sind.580 Bautz zufolge markiert das Jahr 1935 eine Zäsur in Schumanns Biografie, denn nach nur gut zwei Jahren nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland war er zu einem gefeierten Dichter des Regimes geworden.581 Cornelia Jungrichter kennzeichnet Schumann sogar als den „wohl populärste[n] ns Sonettdichter“ (sic).582 Das Schlussgedicht „Dennoch“ (GS50) wurde am 31.05.1935 in der Sonntagsausgabe des Völkischen Beobachters publiziert, was seine „Repräsentativität und Prominenz während der Gleichschaltungsphase des ‚Dritten Reiches‘“583 zeigen sollte. Die Gedichtanthologie Die Lieder vom Reich erreichte mit mehreren Neuauflagen bis in die Kriegsperiode eine Auflage von 75 000 Exemplaren.584 Nach dem titellosen Eröffnungsgedicht fasst Schumann die weiteren 36 Gedichte in drei Gedichtgruppen – „Durchbruch“, „Not und Sieg“ und „Dennoch!“ – von jeweils zwölf Gedichten zusammen. Hillesheim und Michael beschreiben den Gedichtband Die Lieder vom Reich als eine Gedichtanthologie, „in der die Bereiche von Politik und Religion, von Immanenz und Transzendenz, verschwimmen und oft sogar austauschbar werden“.585 Dies zeigt sich besonders in den zwei Sonettzyklen „Die Lieder vom Reich“ (GS16-22) und „Die Reinheit des Reiches“ (GS42-46). Schumann verfasste die sieben Sonette des Zyklus „Die Lieder vom Reich“ (GS16-22) bereits im Jahre 1930 und sie erschienen zum ersten Mal im Bändchen Ein Weg führt ins Ganze (1932). Obwohl die Sonette also noch vor der nationalsozialistischen Machtübernahme geschrieben wurden, enthalten sie bereits grundlegende Elemente der faschistischen Ideologie.586 Indem die ersten vier Sonette im Wort „Reich“ kulminieren und die letzten drei auf den „Führer“ ausgerichtet sind, thematisiert Schumann erneut sowohl den „Führer“- als auch den Reichsgedanken. Gerade wegen der sakralisierten Stilisierung von „Reich“, „Volk“ und „Führer“ erklärte Erich Voegelin Schumanns Sonettzyklus „die Lieder vom Reich“ zu einem „der stärksten

579 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 375. 580 Im Inhaltsverzeichnis hat Schumann seinen Gedichten in Klammern das Verfassungsdatum hinzugefügt. Siehe Schumann: Die Lieder vom Reich, 51-52. 581 Vgl. Bautz: Gerhard Schumann - Biographie. Werk. Wirkung eines prominenten nationalsozialistischen Autors, 274. 582 Vgl. Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 55. 583 Ebd., 387. 584 Vgl. Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1911-1965. München: Verlag Dokumentation 1976, 426. 585 Hillesheim und Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, 407. 586 Vgl. Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 55.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

Ausdrücke politisch-religiöser Erregungen“.587 Bereits Voegelin hat auf die Religiosität in Schumanns Dichtung hingewiesen. Dabei unterscheidet er aber klar zwischen christlicher und nationalsozialistischer Religiosität:

Sie [„Die Lieder vom Reich“] machen es möglich, den Seelenbewegungen nachzugehen, aus deren Stoff sich die Symbole und die geschichtliche Wirklichkeit der innerweltlichen Gemeinschaft aufbauen. Sie haben als religiöse Erregungen ihre Wurzeln im Erlebnis der Kreatürlichkeit; aber das Realissimum, in dem sie sich erlösen, ist nicht, wie im christlichen Erlebnis, Gott, sondern das Volk und die Bruderschaft der verschworenen Gefährten, und die Ekstasen sind nicht geistig, sondern triebhaft, und münden im Blutrausch der Tat.588

In seiner „stilisierte[n] Darstellung der Realität“589, in der „Volksgemeinschaft“ und „Reich“ grundlegende Elemente sind, schöpft Schumann also bewusst aus der christlich-religiösen Tradition und ihrer Bildersprache. Auch in den fünf Sonetten des Zyklus „Die Reinheit vom Reich“ schöpft Schumann aus der christlich-religiösen Symbolsprache. Diese Sonette sind 1934 und gerade noch vor dem Röhm-Putsch entstanden und dem Bändchen Fahne und Stern (1934) entnommen. Langenbucher erklärte diesen Sonettzyklus zum „kraftvollsten und Erschütterndsten, was uns bisher an nationalsozialistischer Dichtung geschenkt worden ist“.590 Viktor Žmegač sieht in diesen Sonetten ein seltsames Beispiel der innerfaschistischen Opposition, da sie sich inhaltlich weitgehend mit den Ausführungen, die der Stabschef der SA, Ernst Röhm, 1933 und 1934 zur Forderung nach einer „Zweiten Revolution“ gemacht habe, decken.591 Langebucher beschreibt sie als „Lieder des Zorns gegen die, die nicht im Kampfe waren, aber jetzt am Siege um so lauter teilhaben wollen“.592

Die literarische Analyse untersucht besonders die religiöse Ebene in Schumanns poetischer Reichsgestaltung. Dabei fokussiert die Analyse auf folgende Aspekte der christlich-religiösen Bildersprache: die Nachahmung biblischer Sprache, die Adaption neutestamentlichen Erzählstoffs und den Transfer christlicher Symbolik mit besonderer Aufmerksamkeit auf die apokalyptische Symbolik.

587 Voegelin: Die politischen Religionen, 59. 588 Ebd., 59-60. 589 Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 55. 590 Langenbucher: Dichtung der Jungen Mannschaft, 97. 591 Vgl. Victor Žmegač (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Königstein: Athenäum 1984, 355. 592 Langenbucher: Dichtung der Jungen Mannschaft, 97.

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

2. Gerhard Schumanns sakralisierte Reichsidee

Auch Schumanns dichterische Sprache schöpft an vielen Stellen direkt aus dem christlich- religiösen Vokabular. Er übersteigt aber das rein Lexikalische, indem er christliche und apokalyptische Symbolik umdeutet und neutestamentlichen Erzählstoff für die sakralisierte Gestaltung des Reiches in seiner Dichtung adaptiert.

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache

Mit mehrfachen Verweisen auf den „Himmel“ (GS17, V.1; GS21, V.10; GS22, V.13; GS29, V.3; GS32, V.2; GS39, V.5) und die wortwörtliche Erwähnung Gottes (GS15, V.11; GS19, V.17; GS 26, V.8; GS29, V.4,14; GS48, V.6) greift Schumann sehr explizit auf die christliche Tradition zurück. Auch Verben wie „segnen“ (GS18, V.2), „glauben“ (GS43, V.3; GS44, V.12, 14), „predigen“ (GS44, V.14) und „erlösen“ (GS22, V.13; GS31, V.12; GS50, V.14) und Substantive wie „Auserwählter“ (GS22, V.10), „Engel“ (GS11, V.3,4), „Gebet“ (GS15, V.7), „Glaube“ (GS29, V.12), „Gnade“ (GS45, V.8), „Münster“ (GS11, V.1), „Opfer“ (GS43, V.6), „Seele“ (GS25, V.8; GS29, V.2; GS34, V.5; GS35, V.6; GS41, V.10; GS45, V.12; GS46, V.12), „Stern“ (GS28, V.5; GS34, V.2,16), „Sternbild“ (GS7, V.7), „Tempel“ (GS43, V.12) und „Wunder“ (GS32, V.13) rufen spontane Assoziationen mit der christlichen Überlieferung hervor. Schließlich springen auch die Adjektive „ewig“ (GS35, V.1; GS50, V.4), „gläubig“ (GS48, V.8) und das der „Fahne“ (GS20, V.11) vorangestellte Adjektiv „heilig“ (GS20, V.11) in diesem Sinne ins Auge. Nicht nur mittels spezifischer Wortschatzübernahme, auch auf Grammatikebene versucht Schumann einen bibelähnlichen Kontext zu schaffen. So ahmt er mit den altertümlichen Formen „Talen“ (GS22, V.4) und „aufstund“ (GS22, V.9) im siebten Sonett der „Lieder vom Reich“ der alttestamentlichen Sprache nach. Auch die Voranstellung des Genitivs – wie etwa in „des Reiches hehren Hort“ (GS20, V.7) und „des Reiches heilge Fahne“ (GS20, V.11) – erscheint als bibelähnliche Sprache.593

Schließlich benutzt Schumann auch einige Konstruktionen, die weniger explizit auf einen biblischen Kontext verweisen. So ruft Schumann in seiner Stilisierung der Neugeburt des Reiches an mehreren Stellen die Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis/ersten Buch Mose hervor. Während sich der „Eine“ in Schumanns dritten Sonett zur „fruchtbare“ Erde niederbückte und sie „segnete … und sprach“ (GS18, V.2), heißt es in Gen 1 sowohl nach

593 Christian Dube beschreibt, dass Luther den Genitiv zum Teil noch vor, an anderen Stellen aber auch nach dem Kopfsubstantiv stellt. Hieraus folgert Dube, dass die Stellung des Genitivs zur Zeit seiner Bibelübersetzung noch nicht einheitlich modernisiert war. Ab 1900 verschwindet der pränominale Genitiv aber allmählich. Wegen der Kenntnis biblischer Wendungen, wie gerade die Menschensohn-Passagen in den Evangelien, in denen Luther schon die alte Position beibehalten hat, und die Tatsache, dass die alte Wortstellung im Neuhochdeutschen unüblich geworden ist, bringen Dube zur Schlussfolgerung, dass der pränominale Genitiv als biblische Sprache erscheint. Vgl. Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933-1945, 86.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns der Schöpfung der Tiere als auch nach der der Menschen: „Und Gott segnete sie und sprach […]: Seid fruchtbar und mehrt euch […]“ (1 Mose 1, 22; 1 Mose 1,28). Auch die Erwähnung einer neuen „Wölbung neuer Himmel“ (GS17, V.1) könnte einen Verweis auf die Schöpfungsgeschichte sein. Obwohl in der Lutherbibel aus dem Jahre 1912 „Feste“ statt „Wölbung“ (1 Mose 1, 1-20) benutzt wird, erscheint in der Schöpfungsgeschichte in verschiedenen Hausbibeln aus dem 19. Jahrhundert an mehreren Stellen schon das Wort „Wölbung“.594 Auch die Wendung „Da wandten sich […] ab und weinten“ (GS20, V.9) könnte bei christlichen Lesern eine spontane Bibelassoziation hervorrufen. In Gen 42 reisen die Söhne Jakobs nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Ihr Bruder Joseph, den sie nicht wiedererkennen, ist Regent im Lande und stellt sie auf die Probe. Als Joseph seine Brüder über sie reden hörte, übermannte ihn die Rührung: „Und er wandte sich von ihnen und weinte“ (1 Mose 42, 24). Eine ähnliche Reaktion – in einem komplett unterschiedlichen Kontext – hat Petrus, nachdem er erkennt, dass er Jesus – sowie dieser vorhergesagt hatte – zum dritten Mal verleugnet hat: „Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich“ (Lk 22, 62).

2.2 Adaption christlicher Symbolik

Neben der Übernahme eines explizit christlichen Vokabulars und der Nachahmung biblischer Sprache, fallen auch bestimmte Symbole, die direkt der christlich-religiösen Symbolik entnommen wurden, ins Auge. Dieser Abschnitt untersucht besonders Schumanns Adaption der Symbole Brot, Wein und Blut sowie der Licht-Dunkel-Symbolik und bestimmter apokalyptischer Symbole.

2.2.1 Brot und Wein

„Brot“ und „Wein“ sind wiederkehrende Kollektivsymbole in der Literatur, wobei ihre christliche Bedeutung als „Symbol der leibhaftigen Gegenwart Christi“ von großer Bedeutung ist:

Und er nahm das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen auch den Kelch, nach dem Abendmahl, und sprach: Das ist der Kelch, das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird.595

Laut Jungrichter artikuliert Schumann in seinen Gedichten besonders „die Hoffnung der desorientierten Bevölkerungsschichten, die in der Weimarer Zeit angesichts ihrer sozialen

594 Beispielsweise in Leander van Ess: Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testamentes. Sulzbach: Seidel 1858, 1. Mose 1, 1-17. 595 Lk 22, 19-20.

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Misere Wunderlösungen herbeisehen“.596 Mit dem Brot-Symbol thematisiert Schumann das „Leiden“ und die „Not“ des Volkes. So erinnert er mit der Aussage „Und hungern Brot“ (GS19, V.9) im vierten Sonett der „Lieder vom Reich“ an Jesus‘ Versprechen: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern“ (Joh 6, 35). Obwohl Schumann in seinen Gedichten schon das Kommen eines „Befreiers“ oder „Retters“ beschreibt, wird nicht Jesus Christus erwartet. Diese spezifische Verwendung des Brots passt aber schon zu des Volkes Hoffnung auf eine „Wunderlösung“. Im fünften Sonett des gleichen Sonettzyklus erscheinen die Symbole „Blut“ und „Wein“ nebeneinander. Allerdings bezieht sich Schumann hier nicht auf die Geschehnisse am Gründonnerstag, sondern ruft er die Opfer im Ersten Weltkrieg in Erinnerung: Aus den Wunden des personifizierten Reiches (GS20, V.7-8) könnte man „Blut und Wein […] keltern“ (GS20, V.8).

2.2.2 Das Blut und die Wundmale Christi

Auch das Blut Christi und seine Wundmale haben zu einer langen Traditionsgeschichte in der christlichen Symbolik geführt. Das Blut symbolisiert die Opferbereitschaft Christi, die zur Errettung und Erlösung der Menschheit geführt hat.597 Die Narben – oder die Wundmale – Christi fungieren im Neuen Testament als Zeugnis seiner Leidensgeschichte und zugleich als Symbol der Auferstehung.598 Schumann appelliert in seinem Gedichtband mehrmals an die Passionsgeschichte Christi, aber nur einmal beschreibt er die blutenden Wunden Gottes, und zwar in „Das Münster“ (GS29), das bereits im Jahre 1930 verfasst wurde: „Und Gottes rote Wunden bluten“ (GS29, V.4). In allen anderen Fällen blutet nicht Christus, sondern das personifizierte Reich, wie im Gedicht „Deutschland“ (GS15), das ebenfalls im Jahre 1930 verfasst wurde und so zu den frühesten Gedichten Schumanns zählt.

Deutschland

Blut strömt aus tausenden Wunden, Not frißt, das graue Gespenst. Größer die Qual der Sekunden, Da du dich selber erkennst.

5 Nun dich der Erdball zertreten, Säumst du nicht frevelnd zugleich? Türmst nicht in wilden Gebeten Opfernder Reinheit das Reich?

596 Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 55. 597 Vgl. „Blut“ in Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 54. 598 Vgl. „Narbe / Muttermal“ in ebd., 247.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

In dir und um dich vermessen 10 Höhnisches Lachen schlich. Hat denn der Gott dein Vergessen? Oder verrietest du dich? (GS15)

Laut Baird spricht aus diesem Gedicht die Sehnsucht der späten 1920er und frühen 1930er Jahre nach der Errettung des Reiches und einem starken „Führer“, der das realisieren könnte.599 Schumann beschreibt die damalige Situation – und zwar das Ende der Weimarer Republik – als eine Zeit der „Not“ (GS15, V.2) und der „Qual“ (GS15, V.3), die in Anackers Dichtung pointiert als eine Zeit der Knechtschaft dargestellt wurde. Jay W. Baird interpretiert das Symbol des Blutes in der ersten Verszeile so, dass Schumann eine umgedeutete Version der Passionsgeschichte beschreibt, in der nicht Jesus Christus sondern Deutschland am Kreuz dargestellt wird.600 Gerade die letzte Strophe unterstützt diese These. Während rund um das blutende Deutschland am Kreuz höhnisch gelacht wird, verspotteten auch die Hohepriester Jesus im Vorübergehen.601 Laut der Überlieferung war zudem eine der letzten Sachen, die Jesus vor seinem Tod sagte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“602 Auch Schumann fragt sich, ob Gott Deutschland vielleicht vergessen habe (vgl. GS15, V11). Er nuanciert diese Überlegung aber gleich, indem er kritisch fragt: „Oder verrietest du dich?“ (GS15, V.12) Es wäre möglich, dass Schumann hier auf die nationalsozialistische Überzeugung reflektiert, dass die Niederlage Deutschland im Ersten Weltkrieg eine Folge des Verrats der sogenannten „Novemberverbrecher“ war.

Auch im Gedicht „Kreuz“ (GS31), das Schumann als ein „Schmerzenszeichen“ (GS31, V.3) beschreibt, greift er die Idee einer Leidensgeschichte wieder auf. Das Kreuz sollte als ein „Blutmal in die junge Stirn gebrannt“ (GS31, V.4) sein. Die Notwendigkeit des Leides erklärt Schumann in der letzten Strophe dieses Gedichtes.

Die Frage und der Kampf. Es ruhet nicht, Bis es dich tief in jeden Abgrund stößt. Doch blüht aus Wust und Qual ein Reines Leid, Dann ist ein Stück des dunklen Seins erlöst. (GS31, V.9-12)

In dieser Strophe adaptiert Schumann ein weiteres Element der christlichen Passionsgeschichte: Während das Leiden Christi und sein Kreuzestod den Christen die Erlösung brachte, sei das von Schumann beschriebene „Leid“ (GS31, V.11) notwendig, damit

599 Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 132. 600 Ebd. 601 Vgl. Mk 15, 31; Mt 27, 41. 602 Vgl. Mk 15, 34; Mt 27, 46.

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

„ein Stück des dunklen Seins erlöst“ (GS31, V.12) wird und das lyrische Ich weitergehen kann.

Im Gedicht „Straßburg“ (GS11), dem ersten Gedicht der Gedichtgruppe „Durchbruch“, verbindet Schumann das Reich schließlich mit einem weiteren Symbol der Passionsgeschichte Christi, und zwar mit dem „Dornenkranz“ (GS11, V.12). Das literarische Symbol der Dornenkrone wird allgemein als ein Symbol des Leidens und der Liebesschmerzen gedeutet, in den Evangelien von Matthäus, Markus und Johannes ist die Dornenkrone das Symbol der Passion Christi schlechthin.603

Da nahmen die Kriegsknechte des Landpflegers Jesus zu sich in das Richthaus und sammelten über ihn die ganze Schar und zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel an und flochten eine Dornenkrone und setzten sie auf sein Haupt und ein Rohr in seine rechte Hand und beugten die Kniee vor ihm und verspotteten ihn und sprachen: Gegrüßet seist du, der Juden König! (Mt 27, 27-29)

In „Straßburg“ (GS11) ist nicht das Haupt Jesu, sondern das blutende Münster „gramvoll umflochten von dem Dornenkranze“ (GS11, V.1-2). Das personifizierte Straßburger Münster trauert darum, dass es seit dem Versailler Vertrag nicht länger in das Deutsche Reich, sondern zu Frankreich gehört.

Schumann verbindet die Symbolik der Wundmale nicht nur mit der Reichsidee. Auch mit dem Wort „gezeichnet“, das er sowohl im Eröffnungs- als auch im Schlussgedicht benutzt, ruft er die christliche Tradition hervor. Heute noch definiert der Duden „stigmatisiert“ beispielsweise eindeutig als „mit den Wundmalen Christi gezeichnet“.604 Der Heilige Franziskus von Assisi, der bereits im Zusammenhang mit der joachitischen Drei-Zeiten- Lehre erwähnt wurde, gilt als der erste offiziell anerkannte Fall von Stigmatisation in der Katholischen Kirche. Laut der Überlieferung sollen die Wundmale Christi – auf Füßen, Händen, Seite und Stirn – im Jahre 1222 bei ihm erschienen sein.605 Bereits im Eröffnungsgedicht seines Gedichtbandes benutzt Schumann dieses Symbol des „Gezeichnet-seins“. Hillesheim und Michael bemerken, dass er bereits in den einführenden Verszeilen das „Erwähltsein dessen betont, der sein Leben ohne Vorbehalte in den Dienst der Reichsidee stellt“.606 Mit dem „Mal“ auf der Stirn des „Gezeichneten“ verwende er das biblische Motiv des Kainsmals in umgekehrtem Sinne:

603 Vgl. „Dorn / Dornbusch / Dornausziehen“ in: Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 67. 604 Vgl. „stigmatisiert“ in: www.duden.de ORL: https://www.duden.de/rechtschreibung/stigmatisiert [09.02.2015]. 605 Vgl. „Stigma“ in Betz (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd.7, 1737 und Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9, 1004. 606 Vgl. Hillesheim und Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, 407.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

Wurde Kain wegen des Mordes am Bruder durch das Zeichen an der Stirn geächtet, gebrandmarkt, gleichzeitig aber auch vor der Rache anderer behütet, unter den Schutz Gottes gestellt, so ist derjenige, der das Mal um des Reiches willen trägt, aus der Masse der Vielen qualitativ herausgehoben, demonstriert das Mal doch die kompromißlose Hingabe an das Reich.607

Aber nicht nur in dieser Genesisgeschichte, sondern auch in der Offenbarung des Johannes erscheint das „Zeichen an der Stirn“ als ein wiederkehrendes Symbol. So heißt es in Off 7, 3 „und er sprach: Beschädiget die Erde nicht noch das Meer noch die Bäume, bis wir versiegeln die Knechte unsers Gottes an ihren Stirnen!“ In seiner Auslegung der ersten acht Verse des siebten Kapitels des Buches der Offenbarung greift Zac Poonen auf die jüdische Geschichte und die Anfänge des Christentums zurück. Poonen beruft sich auf Römer 11, wenn er bestreitet, dass, „soweit es Gott angeht, sein Zweck für Israel mit dem Kommen Christi abgeschlossen wurde“.608 Am Tag des Jüngsten Gerichts werde es einen „göttlichen Überrest“ geben, die Jesus nicht als ihren Messias anerkannt haben und also keine Christen geworden sind. Trotzdem werde Gott sie vor seinem Zorn schützen, indem er ihnen einen Engel schicke, der diese Israeliten mit einem Zeichen an der Stirn „versiegeln“ solle.609 In der Offenbarung werden mit dem Symbol der Versiegelung also die „Gottzugehörigen“ gemeint.610 In Schumanns Gedicht tritt das „Reich“ quasi an die Stelle Gottes: Der „Gezeichnete“ ist kein „Gottzugehöriger“, sondern, indem er „sich dem Reich verschrieb“, ein „Reichszugehöriger“. Während dieser „Gezeichnete“ im Eröffnungsgedicht noch einsam war, alleine stand und schließlich zum „Führer“ der anderen wurde, indem er „flatternd den Befehl“ (GS7, V.14) hält, erscheint das kollektive „Wir“ (GS50, V.1,2,3) als eine Gruppe von „Gezeichneten“ (GS50, V.14) im Schlussgedicht „Dennoch“ (GS50) als „erlöst“.

Weil unsre Lippen nur entschlossner schweigen. Weil jede Qual, die hart ins Herz uns stößt, Uns die Gezeichneten zur Tat erlöst. (GS50, V.12-14)

Damit schließt sich der Kreis: Derjenige, der sich in der ersten Verszeile des Gedichtbandes „dem Reich verschrieb“ (GS7, V.1), ist nicht nur ein „Gezeichneter“, sondern erscheint in der letzten Verszeile des Gedichtbandes als „erlöst“ (GS50, V.14). Die Selbstaufgabe des Ichs zugunsten des Reiches führt also zur Erlösung.

607 Ebd. 608 Zac Poonen: Der finale Triumph: Vers für Vers durch das Buch der Offenbarung. Neobooks.com 2014. ORL: https://play.google.com/books/reader?id=acVgAwAAQBAJ&pg=GBS.PT1. [Letzter Zugriff: 20.02.2019], 108. 609 Vgl. ebd., 107-109. 610 Vgl. „Heilige Versiegelung“ in: Netzwerk Apostolische Geschichte. ORL: http://www.apostolische- geschichte.de/wiki/index.php?title=Heilige_Versiegelung [09.02.2018].

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

Im zweiten Sonett der „Lieder vom Reich“ berührt Schumann das Blut-Symbol mit dem Symbol des „Grals“, der in der Überlieferung die heilige Schale mit Christi Blut symbolisiert und auch im letzten Sonett des Zyklus „Die Reinheit des Reiches“ genannt wird (GS17, V.11; GS46, V.12). Laut Jungrichter erschien der Gral zum ersten Mal in der deutschen Literatur in Wolframs von Eschenbach Parzivaldichtung. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts habe ein abgewandelter Parzival- und Gralsgedanke in Deutschland seine Renaissance erlebt.611 Dieser Parzival war ein Einzelner, der auf der Suche nach einem noch unbestimmten Gott war und am Ende seiner Queste ein ‚neues Reich‘ gründete. Jungrichter erklärt, dass diese Parzivalfigur von der NS-Bewegung zu einem nordisch-germanischen Menschen gemacht wird und der Gral zum Symbol der „Erwähltheit“ des deutschen Volkes, wobei der Gral nicht länger das Blut Christi sondern das arische Blut beinhaltet.612

Auftauchend aus dem Hasse hehr und schmal, In klarer Wucht, in rein getürmter Schichtung, Der Stufenbau des Seins, der neue Gral.

Und hingebeugt zu schwörender Verpflichtung So knieten wir, blickhart und herzenweich. Und über uns im Licht der Dom, das Reich. (GS17, V.9-14)

Der „neue Gral“ (GS17, V.11) enthält im zweiten Sonett der „Lieder vom Reich“ (GS17) nicht nur das arische Blut als den „Stufenbau des Seins“ (GS17, V.11), sondern symbolisiert eindeutig das „Reich“ (GS17, V.14) selber. Schumann beschreibt das Aufkommen dieses Grals quasi als eine Auferstehung aus „dem Hasse hehr und schmal“ (GS17, V.9), der Anackers Beschreibung der Weimarer Zeit als eine Zeit des Hasses und Neides ähnelt (vgl. HA14, V.3-4).613 Die Bedeutung des „Reiches“ wird noch dadurch gesteigert, dass das kollektivierende Wir aus Ehrfurcht vor ihm hinkniet (vgl. GS17, V.13).

2.2.3 Licht-Dunkel-Symbolik

An vielen Stellen kontrastiert Schumann „Licht“ und „Finsternis“, wobei das (zukünftige) Reich mit Lichtsymbolen und die graue Vergangenheit mit Finsternis verbunden wird. So beschreibt Schumann seine Heimat in „Tod und Leben“ (GS12) als eine „lichtdurchbrauste Sonnenlandschaft“ (GS12, V.1) und „Deutschland“ im gleichnamigen Gedicht (GS35) als ein „ewiges Feuer“ (GS35, V.1), wobei das Adjektiv „ewig“ als chiliastisches Element in der nationalsozialistischen Perspektive auf das „Dritte Reich“ zu beziehen sei. Obwohl in

611 Vgl. Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung, 64. 612 Vgl. ebd. 613 Zum Diskurs des Zerfalls sowie einem Diskurs des Hasses in nationalsozialistischer Dichtung siehe Anneleen Van Hertbruggen: Ein Diskurs des Zerfalls als Strategie der Klimax in Heinrich Anackers nationalsozialistischer Propagandalyrik. In: Le déclin dans le monde germanique: mots, discours et représentations (1914-2014) / Platelle, Fanny. Hg. v. Fanny Platelle. Reims: Épure 2018, 121-144.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

Schumanns Lyrik nirgendwo explizit von einem „tausendjährigen Reich“ die Rede ist, scheint er sich mit der Beschreibung von Deutschland als „ewig“ schon auf diese Vorstellung beziehen.

Besonders im letzten Sonett der „Lieder vom Reich“ (GS22), das auf den namenlosen und schlicht als „der Eine“ bezeichneten „Führer“ zugeordnet ist, greift Schumann den Licht- Dunkel-Kontrast ausführlicher auf.

Die Lieder vom Reich VII

Da kam die Nacht. Der Eine stand und rang. Und Blut entfloß den Augen, die im Schauen Erstarben vor dem fürchterlichen Grauen. Das aus den Talen zu dem Gipfel drang.

5 Notschrei fuhr auf und brach sich grell und bang. Verzweiflung griff mit letzter Kraft ins Leere. Er aufgebäumt, erzitternd vor der Schwere. - Bis der Befehl ihn in die Kniee zwang.

Doch als er aufstund fuhr der Feuerschein 10 Des Auserwählten um sein Haupt. Und niedersteigend Trug er die Fackel in die Nacht hinein.

Die Millionen beugten sich ihm schweigend. Erlöst. Der Himmel flammte morgenbleich. Die Sonne wuchs. Und mit ihr wuchs das Reich. (GS22)

Das Gedicht beginnt in der „Nacht“ (GS22, V.1), in der „der Eine stand und rang“ (GS22, V.1). Schumann beschreibt die Nacht ausschließlich mit negativ konnotierten Wörtern: „fürchterlichen Grauen“ (GS22, V.3), „Notschrei“ (GS22, V.5), „grell und bang“ (GS22, V.5), „Verzweiflung“ (GS22, V.6), „erzitternd“ (GS22, V.7) und „zwang“ (GS22, V.8). Nach der zweiten Strophe findet mit „aufstund“ (GS22, V.9) der Umbruch statt und überherrschen Lichtsymbole, wie „Feuerschein“ (GS22, V.9), „Fackel“ (GS22, V.11), „Himmel“ (GS22, V.13), „flammte“ (GS22, V.13) und „Sonne“ (GS22, V.14). Laut Vondung haben die Nationalsozialisten diese Symbolik den kosmologischen Sonnenmythen entnommen, die meist ein dualistisches Weltbild symbolisieren:

Die Sonne erscheint als Hierophanie und Symbol des Guten, des Lebens, der Kraft. Demgegenüber vertritt die Finsternis die Welt des Bösen und des Todes. Diese Möglichkeit der Symbolisierung entsprach der Gut-Böse-Polarisierung des nationalsozialistischen Weltbildes. Der Nationalsozialismus übernahm das Sonnensymbol bewußt […] und

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

identifizierte sich mit der Welt des Lichts; seine Gegner wurden der Welt der Finsternis zugeordnet.614

Auch nationalsozialistische Dichter wie Gerhard Schumann verwenden dieses dualistische Bild von Licht/Gut und Finsternis/Böse in ihrer Dichtung. Dabei wird das Lichtsymbol mit dem nationalsozialistischen „Führer“, mit dem Reich oder mit dem Regime schlechthin in Verbindung gebracht, während die Finsternis immer mit der grauen Vergangenheit, mit Regimefeindlichen oder Außenseitern – also „Nicht-Zugehörigen“ wie beispielsweise den Juden – assoziiert wird.

Am Ende des siebten und letzten Sonetts der „Lieder vom Reich“ wird das Lichtsymbol nicht nur mit dem nationalsozialistischen Regime verbunden. Der – bei Schumann anonyme – „Führer“ verjagt als „Lichtbringer“ die nächtliche Finsternis, denn „niedersteigend / trug er die Fackel in die Nacht hinein“ (GS22, V.10-11). Somit ermöglicht er die Erfüllung des neuen Reiches, indem „die Sonne wuchs. Und mit ihr wuchs das Reich“ (GS22, V.14). Diese Bezeichnung des „Führers“ als Lichtbringers ist nicht nur in Einklang mit kosmologischen Sonnenmythen zu bringen, sondern auch mit der neutestamentlichen Idee von Jesus Christus, der die Finsternis verjagt: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8, 12). In christlicher Tradition wird die Geburt Jesu – Weihnachten – als Fest des Lichts gedeutet. Wegen dieser Lichtsymbolik wurde das Weihnachtsfest im vierten Jahrhundert auf den 25. Dezember festgelegt, weil bereits die Römer an diesem Tag das Fest des Lichts feierten, weil die Tage wieder länger werden.615 Obwohl Schumanns Sonett einen „Führer“ mit quasimessianischen Zügen beschreibt, steht im Gegensatz zu Heinrich Anackers Dichtung nicht die Figur des „Führers“ sondern die Reichsidee zentral.616

Auch im Eröffnungsgedicht wird der „Gezeichnete“ von einem „leuchtenden“ (GS7, V.13) Aura umgeben, sobald er eine führende Position einnimmt. Dabei übernimmt er die Funktion des „Sternbilds“ (GS7, V.7), das in der zweiten Strophe noch „zwingend vor ihm glüht[e]“ (GS7, V.8). Neben der Sonne ist auch der Stern ein wichtiges Lichtsymbol, mit dem sowohl in der Bibel als auch sonst in der Literatur die Zukunft bzw. die zukünftige Welt617 dargestellt wird. Außerdem werden Sterne in der Bibel oft in Verbindung mit einer Prophezeiung verstanden. So wird die Geburt Christi in der Weihnachtsgeschichte von einem Stern angekündigt:

614 Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 186. 615 Vgl. Erwin Roosen: Waar woont God? En 100 andere geloofsvragen. Averbode: Altiora 2004, 45. 616 Dass sich in Schumanns Darstellung des „Einen“ im siebten Sonett der „Lieder vom Reich“ eine Parallele mit der neutestamentlichen Ölbergvision von Jesus im Garten Gethsemane ziehen lässt, wird unter 2.3 Dichterische Verarbeitung des neutestamentlichen Erzählstoffs weiter erläutert. 617 „Stern“ in: Butzer und Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, 369.

173

Am Beispiel Gerhard Schumanns

Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen die Weisen vom Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. (Mt 2, 1-2)

Schumanns „Sternbild“ (GS7, V.7) kündigt nicht die Geburt Christi an, sondern geht dem Gezeichneten „zwingend“ (GS7, V.8) voran. In dem Sinne scheint das Sternbild die Vorhersage des Reiches zu verkörpern. Indem der Gezeichnete das Sternbild folgt, entsteht die Möglichkeit, dass die Prophezeiung der neuen Reichsidee erfüllt werden kann. Außerdem wird die Botschaft der Erfüllung der Reichsidee – oder im Gedicht einfach das „Wort“ (GS7, V.11) – mit dem Feuer- und so dem Lichtsymbol assoziiert. Das „Wort“ (GS7, V.11) des Gezeichneten springt „wie Feuer in den Kreis“ (GS7, V.12) und erreicht so schließlich doch die Gemeinschaft, die für die Erfüllung des Reiches unentbehrlich ist. Diese Erfüllung der Reichsidee bezeichnet Schumann in seinem eigenen Weihnachtsgedicht „Deutsche Weihnacht“ (GS32) als einen „Gottestraum“ (GS32, V.7). Obwohl das kollektive Wir „keine Qual und keine Schmach vergessen“ (GS32, V.6) hat, kniet sie doch um diesen Traum. Indem sie das tun, passiert ein „Wunder“ (GS13), denn sie werden „zu schweigenden Gefäßen. / Erfüllt mit Licht“ (GS32, V.8-9). In diesem Sinne benutzt Schumann die Licht-Dunkel-Symbolik nicht nur, um die Führerfigur als „Lichtbringer“ darzustellen, sondern die Botschaft der zukünftigen Erfüllung der Reichsidee erscheint auch als eine Botschaft des Lichts und schließlich erfüllt diese Botschaft diejenigen, die für die Botschaft offenstehen, mit Licht. Schließlich wird auch die Reichsfahne, die im fünften Sonett der „Lieder vom Reich“ sogar als „heilig“ (GS20, V.11) bezeichnet wird, im Gedicht „Du Einzelner“ (GS25) mit Lichtsymbolik verbunden:

Wie unsre Flamme, unsre Fahne Weht! Sie flattert überschüttet ganz von Licht! (GS25, V.11-12)

2.2.4 Apokalyptische Symbolik

Schumann übernimmt und adaptiert in seiner Dichtung auch apokalyptische Symbolik, was bereits mit dem Verweis auf das Mal an der Stirn im Eröffnungsgedicht angesprochen wurde. Auch die wiederkehrende Kombination von Blut und Feuer könnte als apokalyptische Symbolik gedeutet werden. Gerhard Kurz verweist in dem Zusammenhang auf die Apokalypse des Propheten Joel, die Petrus in seiner Pfingstpredigt zitiert: 618

Und ich will Wunder tun oben im Himmel und Zeichen unten auf Erden: Blut und Feuer und Rauchdampf; die Sonne soll sich verkehren in Finsternis und der Mond in Blut, ehe denn der große und offenbare Tag des HERRN kommt. (Apg 2, 19-20)

618 Vgl. Kurz: Braune Apokalypse, 136.

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

Aus diesem Grund lässt sich, so Kurz, im Blutkult des Nationalsozialismus apokalyptische Symbolik vermuten. Er interpretiert das als „Flammenbach“ (GS18, V.8) beschriebene Blut in Schumanns dritten Sonett der „Lieder vom Reich“ als ein apokalyptisch Element, wobei das Blut als ein „Symbol der Gewalt und einer apokalyptischen Vernichtung und Erneuerung“619 fungiere. Auch die Assoziation mit Feuer wäre im apokalyptischen Kontext zu betrachten. Kurz beschreibt Feuer in der nationalsozialistischen Bildwelt als ein Symbol der Reinigung, das bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 zu einer realen Handlung und als apokalyptisches Symbol verstanden wurde.620 Im zweiten Sonett desselben Sonettzyklus lässt sich mit dem Symbol des „Abgrunds“ (GS17, V.4) ebenfalls apokalyptische Symbolik vermuten. Das apokalyptische Wörterbuch erklärt, dass das „Reich der Finsternis“ im Buch der Offenbarung meistens mit dem Wort „Abgrund“ angedeutet wird.621 In diesem Abgrund verbirgt sich laut der Offenbarung ein „Tier“ (vgl. Off 11, 7; 17, 8), das „ohne Zweifel den Volksgeist der neusten Zeit“ bezeichnet, „der, von dem Unglauben durchdrungen, den Glauben an die Kirchenlehre ganz zu unterdrücken sucht, und also wirklich aus dem Abgrunde aufsteigend genannt werden kann“.622 In Schumanns Sonett ist nicht das Tier, sondern der das Reich symbolisierende „neue Gral“ (GS17, V.11) aus dem Abgrund aufgestiegen. Im Zusammenhang mit der apokalyptischen Symbolik in Schumanns Sonetten weist Kurz auf die Differenz der nationalsozialistischen Apokalyptik zur biblischen Apokalyptik hin: Der Nationalsozialismus deutet die Erwartung eines zukünftigen Ereignisses in die nahe Gegenwart um, weshalb das Transzendente in das Immanente umgedeutet wird. Dabei erscheint nicht Gott, sondern der Nationalsozialismus selbst als „Handelnde“, indem er sich als „Weltgericht“ setzt: „Die „Verbrennung“ der alten Zeit soll die alte Zeit weniger tilgen als reinigen. Die neue Zeit ist die Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus“.623

2.3 Dichterische Verarbeitung des neutestamentlichen Erzählstoffs

Mit der Übernahme von Symbolen wie Brot, Wein und Sternbild und der Nachahmung der biblischen Sprache verweist Schumann an verschiedenen Stellen implizit und eher oberflächlich auf biblische Geschichten wie etwa die Schöpfungsgeschichte oder die Geburt Jesu. In zwei Gedichten verarbeitet er aber viel detaillierter zwei neutestamentliche

619 Kurz: Braune Apokalypse, 137. 620 Vgl. ebd., 135-136. 621 Vgl. Nikolaus von Brunn (Hg.): Apokalyptisches Woerterbuch, Brauchbar als ein Schluessel zur Eroeffnung des Geheimen Winke, die in der Offenbarung Jesu Christi durch den Junger, den Er lieb hatte, der Kirche erheilt worden. Basel: C.F. Spittler 1834, 3. 622 von Brunn (Hg.): Apokalyptisches Woerterbuch, Brauchbar als ein Schluessel zur Eroeffnung des Geheimen Winke, die in der Offenbarung Jesu Christi durch den Junger, den Er lieb hatte, der Kirche erheilt worden, 3. 623 Kurz: Braune Apokalypse, 137.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

Geschichten: die Ölbergvision und die Tempelreinigung. Beide Geschichten werden ausführlich inhaltlich verarbeitet und umgedeutet.

Im bereits zitierten siebten Sonett der „Lieder vom Reich“ kontrastiert Schumann Licht und Finsternis. Nicht nur wegen des Lichtsymbols wird die beschriebene Führerfigur mit dem lichtbringenden Christus verglichen, auch inhaltlich ruft das Gedichte einen spezifischen biblischen Kontext hervor. Obwohl Karl-Heinz Joachim Schoeps624 und Albrecht Schöne625 in diesem Gedicht eine Parallele mit der alttestamentlichen Geschichte von Moses, der mit den Gesetzestafeln vom Berge Sinai hinabsteigt, sehen, teile ich Erich Voegelins Meinung, dass es hier um eine Ölbergvision geht.626 Schumann erzählt in seinem Gedicht eine abgewandelte Version der Erzählung von Jesus‘ nächtlichem Kampf mit einem Engel im Garten Gethsemane, sowie sie vom Evangelist Lukas beschrieben wird:

Und er riß sich von ihnen einen Steinwurf weit und kniete nieder, betete und sprach: Vater, willst du, so nehme diesen Kelch von mir, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und es kam, daß er mit dem Tode rang und betete heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde. (Lk 22, 41-44)

Jesus „rang“ mit dem Tode, nachdem er nach seinem letzten Abendmahl zum Gebet in den Garten Gethsemane gegangen war. In Schumanns Sonett „rang“ (GS22, V.1) auch „der Eine“ (GS22, V.1) in der Nacht. Während das Blut den Augen des Einen entfloss (GS22, V.2), wurde der Schweiß Jesu zu Blutstropfen, die auf die Erde fielen. Während Jesus freiwillig zum Gebet niederkniet, wird Schumanns „Einer“ vom „Befehl“ (GS22, V.8) in die kniende Haltung „gezwungen“. Bereits im Eröffnungsgedicht hat der Leser erfahren, dass dieser „Befehl“ (GS7, V.14) die Erfüllung der Reichsidee ist. In diesem letzten Sonett ersetzt die Reichsidee also eine göttliche Instanz, vor der man sich in einer knienden – betenden – Haltung hinsetzt. In Schumanns Gedicht wird der Eine schließlich zum „Auserwählten“ (GS22, V.10), der das Volk „erlöst“ (GS22, V.13).

In seinem Sonettzyklus „Die Reinheit des Reiches“ kontrastiert Schumann zwischen den „Reinen“, die aus reiner Überzeugung und in großer Opferbereitschaft für das neue Reich gekämpft haben, und den „Unreinen“, die sich aus Opportunismus zum Nationalsozialismus bekannten. Bereits im ersten Sonett kritisiert Schumann diese zweite Gruppe, die den Sieg „feiern“ (GS42, V.1), den Ruhm „reichlich“ (GS42, V.3) teilen und den Sinn des Kampfes „weise“ (GS42, V.7) erklären wollen, ohne am Kampf teilgenommen zu

624 Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 135. 625 Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert, 36. 626 Vgl. Voegelin: Die politischen Religionen, 61.

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“ haben. Im zweiten Sonett greift Schumann auf die neutestamentliche Geschichte der Tempelreinigung zurück, um diese Kritik auf die Spitze zu treiben.

Die Reinheit des Reiches 2

Und schon sind auch die Händler da und schlängeln Beredt durchs Volk sich hin, das dumpf und bang Und glaubend aufschaut zu dem schweren Gang. Doch wimmelts rings von Buben und von Bengeln.

5 Sie handeln mit dem Leid, das wir getragen. Verschleudern Opfer, herb uns abgekargt. Das Blut der Toten bieten sie zu Markt. Sie feilschen um den Lohn, dem wir entsagen.

Sie haben alles käuflich schon erworben, 10 Auf Wechslertischen reizvoll ausgelegt. Dafür sind diese Toten nicht gestorben!

Er kommt, der züchtigt und den Tempel fegt! Ihr faßt es nicht in Buden und in Ständen, Das Schicksal, das anhebt sich zu vollenden (GS43)

Zunächst benutzt er mit „Händler“ (GS43, V.1), „handeln“ (GS43, V.5), „zu Markt bieten“ (GS43, V.7), „um den Lohn feilschen“ (GS43, V.8), „käuflich“ (GS43, V.9) und „Wechslertischen“ (GS43, V.10) einen kapitalistischen Diskurs, der in der nationalsozialistischen Rassenlehre als antisemitisch zu verstehen ist. Außerdem ruft dieser Diskurs spontan Assoziationen mit der Tempelreinigungsgeschichte hervor:

Und Jesus ging zum Tempel Gottes hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und stieß um der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: „Mein Haus soll ein Bethaus heißen“; ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht. (Mt 21, 12-13)

In dieser Anekdote verjagt Jesus die jüdischen Händler aus dem Jerusalemer Tempel und fordert die Reinheit des Tempels als Gebethaus. In der letzten Strophe des vierten Sonetts greift Schumann sehr explizit auf diese Geschichte zurück: „Er kommt, der züchtigt und den Tempel fegt!“ (GS43, V.12) Schumann betont die Notwendigkeit eines starken „Führers“, der die Reinheit des Reiches garantieren kann. Im Kontext des Gedichtes setzt er das Reich dem „Tempel“ (GS43, V.12) gleich und versieht die politische Reichsidee erneut mit einem religiösen Aura, indem er ihn als einen sakralen Ort beschreibt.

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

3. Zwischenfazit – Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“ in der affirmativen NS-Dichtung

Die Analyse von Schumanns Gedichtband zeigt, dass der Glaubensartikel „Reich“ stark mit dem Führergedanken und der Volksidee verschränkt ist. Dabei stehen aber sowohl der „Führer“ als auch das Volk immer im Dienste der Gestaltung des Reiches. Besonders in der letzten Verszeile des ersten Sonetts der „Lieder vom Reich“ (GS16) betont Schumann die Notwendigkeit der Entindividualisierung zugunsten der Reichsidee: „Verlor mich selbst und fand das Volk, das Reich“ (GS16, V.14). Nur in der Kollektivität konstituiert sich das Volk, aus dem das Reich entsteht. Auch Herybert Menzel betont, „es geht hier nicht um Mein und Sein“ (HM8, V.22), sondern um das „ewige Deutschland“ (HM8, V.23). Obwohl dieser Gedanke in der Dichtung von Heinrich Anacker und Herybert Menzel sonst weniger ausgesprochen hervortritt, erscheint das Reich aber schon vielerorts in Verbindung mit „Führer“ und/oder „Volk“. So wurde der messianische „Führer“ im vorigen Kapitel bereits als „Bauherr“ des Reiches dargestellt, indem der „Führer“ unter anderem in Anackers Eröffnungsgedicht „den Grundstein zum Dritten Reich“ (HA11/12, V.16) legte. Menzel charakterisiert den „Führer“ sogar besonders durch dessen Liebe für das Vaterland: „Es lebt der Eine / Der Deutschland liebt“ (HM48, V.9-10). Diese Liebe widerspiegelt sich in Hitlers Augen, denn „In seinen Augen glänzt uns Deutschlands Bild“ (HM23, V.8). Nach dem Vorbild des „Führers“ schlägt auch „das Herz“ des Volkes „für das Reich“ (HA27, V.7- 8).

Neben der Übernahme eines religiös konnotierten Lexikons und der Nachahmung biblischer Syntax, hat sich vor allem das Motiv der Auferstehung als wichtigstes Element des religiösen Diskurses in Schumanns sakralisierter Darstellung des Reiches erwiesen. Im Rahmen dieses Motivs übernimmt er das Blut- und Weinsymbol und die Licht-Dunkel- Symbolik. Das Motiv der Auferstehung sei auch im Zusammenhang mit der apokalyptischen Weltvision des Nationalsozialismus zu verstehen, denn nur aus der kompletten Vernichtung oder Zerstörung lässt sich die „Auferstehung“ oder Erneuerung des Reiches verstehen. Konkret bedeutet dies aus nationalsozialistischer Perspektive, dass das neue Reich aus der Krisenzeit der Weimarer Republik „aufersteht“. Anacker ist der einzige der für diese Arbeit ausgewählten Autoren, die das „Reich“ explizit als das „Dritte Reich“ beschreibt (vgl. HA11/12, V.16; HA14, V.20; HA60, V.2; HA94, V.9; HA95, V.4; HA101, V.12; HA104, V.7). Besonders im Gedicht „Die Fahnen verboten“ (HA14) beschreibt er dieses „Dritte Reich“, das aus „Schmach und Trümmern“ (HA14, V.19) aufersteht, als „heilig“ (HA14, V.20). In Anackers Dichtung zeigt sich das Motiv der Auferstehung in erster Linie symptomatisch auf lexikalisch-semantischer Ebene, indem in zwei unterschiedlichen Gedichten explizit von „Deutschlands Auferstehn“ (HA14, V.12; HA24, V.7) die Rede ist. Genauso wie Menzel thematisiert Anacker das Motiv der Auferstehung immer im

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Die sakralisierte Gestaltung des „Reiches“

Zusammenhang mit der Opfer- und Kampfbereitschaft des „Volkes“, auf die im nächsten Kapitel in der Analyse des Glaubensartikels „Volk“ in Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft näher eingegangen wird. So betont Menzel in seinem Gedicht „Die schweigenden Mahner“ (HM33), dass das Volk nach dem Vorbild der für das Vaterland Verstorbenen handeln soll:

Jeder soll sein wie sie, Immer zum Opfer bereit. Jeder soll kämpfen wie sie Für Deutschlands Unsterblichkeit. (HM33, V.12-15)

Anacker betrachtet die „Gräber“ (HA24, V.6) der Freunde als „Meilensteine“ (HA24, V.6) am Weg zu „Deutschlands Auferstehn“ (HA24, V.7). Gerade in dieser Idee der Auferstehung oder Unsterblichkeit des deutschen „Reiches“ erweist sich auch in Anackers und Menzels Dichtung den chiliastischen Charakter des Nationalsozialismus. In seinem Gedicht „Ewiges Deutschland“ (HA28) beschreibt Anacker das Reich mit dem ihm vorangestellten Adjektiv „ewig“ also sehr explizit als ein „ewiges“ Reich. Im Schlussgedicht seines Gedichtbandes „Blick in die Zukunft“ (HA116) fordert er das „Reich“ sogar zu einem gewissen „ewigen“ Zustand auf:

Du Reich, das ein Arndt und ein Bismarck ersehnt, Das ein Dietrich Eckart schon nahe gewähnt, Brich an zur ewigen Dauer! (HA116, V.16-18)

Nur in seinem Gedicht „Deutsche Ostern 1933“ (HA112/113) deutet Anacker, wie bereits angedeutet, die christliche Ostergeschichte und so das Motiv der Auferstehung ganz eindeutig politisch um. Nicht der „Heilige Christ“ (HA112/113, V.29), mit dem er das Reich in der vorletzten Verszeile explizit vergleicht, sondern das fünffach wiederholte „Deutschland“ (HA112/113, V.5, 9, 15, 21, 29) spielt die Hauptrolle in dieser nationalsozialistischen Passionsgeschichte.

Besonders im Zusammenhang mit dem christlichen Motiv der Auferstehung erhebt sich das Ideologem „Reich“ in der affirmativen NS-Dichtung also auf eine sakrale Ebene, weswegen es als Glaubensartikel eindeutig in die (2) doktrinär-politischen Dimension der (politischen) Religion einzuordnen wäre. Das Auferstehungsmotiv verleiht der Reichsidee aber – auch in Anlehnung an Joachim von Fiores Vorstellung des „Dritten Reiches“ – zudem eine gewisse mythische Dimension, die Vergangenheit und Zukunft – besonders in der chiliastischen Auslegung des „ewigen Reiches“ – mit einander verbindet. In dem Sinne kann man das Symbol des („Dritten“) Reiches auch der (3) mythisch-narrativen Dimension zuordnen. Obwohl Gerhard Schumann nicht explizit darauf eingeht, impliziert er besonders im Symbol des „Gezeichnet-seins“ die Exklusivität des Volkes, das sich „dem

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Am Beispiel Gerhard Schumanns

Reich verschreibt“ (vgl. GS7). Gerade dieses Symbol sei also auch als Hinweis auf die (5) ethisch-rechtliche Dimension der (politischen) Religion zu verstehen, da im NS-Regime die Exklusivität durch Rassezugehörigkeit bestimmt wurde.

Obwohl Schumanns Gedichte aus der Anthologie Die Lieder vom Reich und dann vor allem die beiden Sonettzyklen „Die Lieder vom Reich“ (GS16-GS22) und „Die Reinheit des Reiches“ (GS42-GS46) von zeitgenössischen Literaturwissenschaftlern wie Helmuth Langenbucher gepriesen wurden, wurde im Rahmen dieser Arbeit nicht deutlich, ob sie auch in der rituellen Praxis des Nationalsozialismus verwendet wurden. Nur beim Gedicht „Deutsche Weihnacht“ hat Schumann explizit angegeben, dass das Gedicht im Jahre 1931 bei einer Weihnachtsfeier der SA gesprochen wurde. Für andere von Schumann verfasste Gedichten ist aber schon belegt, dass sie an offiziellen Veranstaltungen wiederholt rezipiert wurden. So hat Schumann anlässlich des Anschlusses Österreichs folgendes Gedicht mit dem Titel „Ja (zum 10. April 1938)“ verfasst:

Nach tausendjährigen Wunden hat Blut zu Blut gefunden, geborsten Wall und Deich! Vom Nordmeer bis zum Brenner nur flammende Bekenner: Ein Führer, Volk und Reich!627

Fünf Jahre nach der Publikation der Anthologie Die Lieder vom Reich scheint sich Schumann immer noch eines gleichen religiösen Diskurses zu bedienen. Noch expliziter als in den in diesem Kapitel analysierten Gedichten stellt Schumann „Führer“, „Volk“ und „Reich“ in diesem Gedicht als eine Triade sakralisierter Ideologeme dar, die nicht voneinander zu trennen sind. Erneut wird deutlich, dass die Gefolgsleute der nationalsozialistischen Bewegung – hier schlicht das „Volk“ (V.6) – nicht als reine „Anhänger“ einer politischen Bewegung zu verstehen sind, sondern dass sie als „Bekenner“ (V.5) an „Führer“ und „Reich“ (V.6) glauben. Auch in diesem Gedicht betont Schumann noch einmal die nationalsozialistische Rassenidee, indem „Blut zu Blut gefunden“ (V.2) hat. Laut Baird hat dieses Gedicht Adolf Hitler so beeindruckt, dass er Schumann zu einem Treffen einlud, bei dem auch der Komponist Hans Gansser und Max Roth des Württemberger Staatstheater anwesend waren. Unter Klavierbegleitung von Gansser sang Roth Schumanns Gedicht, welches auf Hitlers Befehl täglich auf allen Sendern gespielt werden sollte.628 Obwohl eine Radiosendung nicht direkt als rituelle Praxis zu verstehen sei, kann man Schumanns Dichtung gerade wegen ihrer Übertragung im Rundfunk auch im Rahmen der (1) rituell-praktischen Dimension interpretieren.

627 Gerhard Schumann: Schau und Tat. Gedichte. München: Langen-Müller 1938 75, V. 1-6. 628 Vgl. Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon 145.

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VII Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

Am Beispiel von Herybert Menzels Gedichte der Kameradschaft (1936)

Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

1. Die Volksgemeinschaft in Menzels Dichtung

1.1 Die Gemeinschaftsidee von Herybert Menzel

Herybert Menzels Zeitgenosse Gerhard Schilde meinte, dass Menzels Herkunft zur Triebfeder seines ganzen Schaffens geworden sei: „Wo immer er weilte – und in der Zeit des Zu-sich-Findens besonders – wird ihm das Erbe, das ihm von seinen Ahnen überkam, nur noch bewußter.629 Geboren in Obornik/Posen entstammte er einer Region, die in der Vergangenheit immer wieder zwischen deutscher bzw. preußischer und polnischer Herrschaft schwankte. Menzel sah sich selbst und seine Heimat aber als „rein deutsch“.630 Er hat sich dann auch schon früh dazu entschlossen, unter anderem als Schriftsteller für den Nationalsozialismus zu kämpfen.631 Menzel war davon überzeugt, dass der „Kampf“ den natürlichen Zustand des Menschen, sogar „das Grundelement des Lebens schlechthin“ bezeichnet: „Die Welt wird als ein von Feinden ringsum wimmelnder Kampfplatz vorgestellt, wo das Hassen mit göttlichem Segen versehen ist und jeder Einzelne bereit sein muss zur totalen Selbstaufgabe, um blind dem einen Führer in seiner von Gott gewollten Mission zu folgen“.632 Diese Kampfbereitschaft sei auch eine Grundvoraussetzung der nationalsozialistischen Idee von „Kameradschaft“, an die Menzel bereits im Titel seines Gedichtbandes anknüpft. In ihrem Vokabular des Nationalsozialismus definiert Cornelia Schmitz-Berning diese „Kameradschaft“, die zu einem politisch-soziologischen Zentralbegriffs des „Dritten Reiches“ geworden ist, als den „Geist der nationalen Solidarität in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“.633 Diese „Kameradschaft“ sei im Schützengraben des Ersten Weltkrieges entstanden, was die „soldatische Haltung“ der Kameradschaft erklärt. Sie sei „im Wollen gemeinsam ausgerichtet […], in ihr verwirklicht sich wahrer Sozialismus der Tat und der Opferbereitschaft“.634 Gerade diese Vorstellung von Kameradschaft zeigt sich im folgenden Gedicht von Menzel, das im Gedichtband Gedichte der Kameradschaft ohne Titel aufgenommen ist, aber dem bei späteren Veröffentlichungen den Titel „Der Kamerad“ hinzugefügt wurde.

Wenn einer von uns müde wird, Der andre für ihn wacht. Wenn einer von uns zweifeln will, Der andre gläubig lacht.

629 Schilde: Herybert Menzel, 3. 630 Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 145. 631 Vgl. ebd., 154. 632 Ebd., 157. 633 „Kameradschaft“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 343. 634 „Kameradschaft“ in ebd.

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Am Beispiel Herybert Menzels

5 Wenn einer von uns fallen sollt, Der andre steht für zwei. Denn jedem Kämpfer gibt ein Gott Den Kameraden beid. (HM26)

Menzel entwirft das Bild einer bedingungslosen Freundschaft zwischen zwei Kameraden, die einander in schwierigen Zeiten stets gegenseitig unterstützen. Während es in der ersten Strophe nur darum geht, dem Anderen im Falle von Müdigkeit (vgl. HM26, V.1) oder Zweifel (vgl. HM26, V.3) zur Seite zu stehen, greift Menzel in der zweiten Strophe das Kampfthema wieder auf. Wie Andrés Nader anmerkt, scheint gerade diese Kampfbereitschaft eine Grundvoraussetzung für die Kameradschaft zu sein, die darüber hinaus von einem „Gott“ (HM26, V.7) zur Verfügung gestellt wird. Dieser Gott versehe jeden Kameraden mit einem Kameraden und scheine diese Kameradschaft sogar über den Tod hinaus zu garantieren.635 Das Gedicht wurde besonders in Gedenkfeiern am 9. November in der Hitlerjugend rezitiert,636 in denen der Toten des misslungenen Putsches im Jahre 1923 gedacht wurden. Gerade diese Idee von Gott als Gemeinschaft erwählt zu werden und die Opferbereitschaft der Gemeinschaft erweisen sich in der Gedichtanalyse als Ausgangpunkte für die Sakralisierung des Glaubensartikels „Volk“.

1.2 Die Stilisierung der „heiligen Mission“ der Volksgemeinschaft in Herybert Menzels Gedichte der Kameradschaft (1936)

Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft, für den ihm im Jahre 1938 seine erste literarische Auszeichnung und zwar der dritte Preis des Literaturpreises der Stadt Berlin verliehen wurde, enthält 48 Gedichte und wurde bis 1944 immer wieder aufgelegt.637 Aus dem ganzen Gedichtband spricht die Idee, dass der Einzelne sich in den Dienst der Volksgemeinschaft und des „Führers“ stellen sollte. Die Rolle, die Männer und Frauen dabei aufnehmen, unterscheidet sich in Menzels Gedichtband gemäß der nationalsozialistischen Ideologie. Die Frau, die übrigens nur in fünf unterschiedlichen Gedichten erwähnt wird, dient dem Volke in ihrer Rolle als Mutter der zukünftigen Generation. Der Mann – auch der Kamerad – stellt sich dazu bereit, für das Volk und seinen Führer zu kämpfen und gegebenenfalls sein Leben für das Vaterland hinzugeben. Menzel wertet die Volksidee in drei Hinsichten religiös auf. Zunächst beschreibt er die Exklusivität der deutschen Volksgemeinschaft anhand der Idee des „Auserwähltseins“ des Volkes. In der Darstellung der Opferbereitschaft des Kämpfers bezieht Menzel sich auf die christliche Tradition der Märtyrerstilisierung. In diesem Zusammenhang stellt er die

635 Vgl. Andrés José Nader: Traumatic Verses: On Poetry in German from the Concentration Camps, 1933-1945. Rochester, New York: Camden House 2007, 173. 636 Heinz Schreckenberg: Ideologie und Alltag im Dritten Reich. Frankfurt am Main: Lang 2003, 487. 637 Vgl. Düsterberg: Herybert Menzel - der „Sänger der ostmärkischen SA“, 160.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ verstorbenen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg und die gefallenen Putschisten aus dem Jahre 1923 zum Vorbild. Schließlich versieht er die Mutterrolle der Frau mit einem sakralen Aura, indem er diese Frauen der Mutter Maria gleichstellt.

2. Herybert Menzels Gestaltung der „heiligen Mission“ der Volksgemeinschaft

2.1 Nachahmung der biblischen Sprache

Genauso wie in Anackers und Schumanns Dichtung zeigt sich der religiöse Diskurs in Herybert Menzel Gedichtband Gedichte der Kameradschaft zunächst auf lexikalisch- semantischer Ebene. Wie Anacker und Schumann erwähnt Menzel an mehreren Stellen „Gott“ (HM15/16, V3, 7, 13, 17, 21, 29; HM18, V.15; HM26, V.7; HM29, V.8; HM50/51, V.17, 21; HM52, V.9; HM57, V.12), er ist aber der einzige, der auch „Maria“ (HM56, V.24) namentlich nennt, indem er die Mutter Jesu den deutschen Müttern als Vorbild stellt. Auch Menzel bedient sich mit Substantiven wie „Amen“ (HM10, V.15), „Ewigkeit“ (HM40, V.14; HM44, V.13; HM57, V.4, 16), „Geist“ (HM36, V.6), „Glaube“ (HM11/12, V.28; HM40, V.16; HM50/51, V.3), „Gleichnis“ (HM55, V.7), „Himmel“ (HM8, V.3; HM9, V.14; HM39, V.4, 10), „Opfer“ (HM20, V13; HM33, V.13; HM45, V.12), „Opfergang“ (HM35, V.6), „Saat“ (HM18, V.16; HM34, V.3, 15; HM35, V.4; HM55, V.2), „Schicksal“ (HM7, V.10, 12; HM8, V.12; HM20, V.3), „Seele“ (HM18, V.2, 5; HM57, V.7), „Segen“ (HM33, V.14; HM41, V.3) und „Stern“ (HM11/12, V.18, 31; HM37, V.2; HM39, V.9; HM56, V.16; HM57, V.6) eines offensichtlich christlich- religiösen Vokabulars. Auch die Adjektive „ewig“ (HM7, V.6; HM8 V.3; HM22, 12, 15; HM35, V.10, HM36, V.12; HM37, V.3; HM39, V.6), „gläubig“ (HM26, V.4; HM38, V.10; HM56, V.22) und „heilig“ (HM15/16, V.14; HM20, V.5; HM21, V.1; HM39, V.4; HM42, V.16; HM54, V.7) sowie Verben wie „auferstehen“ (HM9, V.17; HM34, V.4; HM42, V.18), „sich bekennen“ (HM15/16, V.18; HM33, V.6), „beten“ (HM15/16, V.4, 27; HM22, V.7), „glauben“ (HM15/16, V.28; HM17, V.9; HM50/51, V.20; HM56, V.15), „segnen“ (HM8, V.19; HM15/16, V.10, 29; HM18, V.9; HM42, V.17) und „weihen“ (HM11/12, V.15) lassen sich erneut als christlich- religiöses Vokabular erkennen. Mit dem Titel „Stern über den Hütten“ (HM56) und die Beschreibung einer „werdende[n] Mutter“ (HM56, 23) als „Maria“ (HM56, V.24) inkorporiert auch Menzel die Weihnachtsgeschichte in seiner politischen Dichtung.

185

Am Beispiel Herybert Menzels

2.2 Die kollektive Identität – „deutsche“ Exklusivität

2.2.1 Das Kollektiv – Eine „exklusive“ Identität

Die nationalsozialistische Vorstellung von „Kameradschaft“ übersteigt, so Schmitz- Berning, die Idee der „Freundschaft“, die „eine Teilerscheinung zwischen zweien“ sei. „Kameradschaft“ bezeichne als „Kollektivum“ immer „eine geschlossene größere Gemeinschaft“.638 Dieses Kollektivum wird in zahlreichen propagandistischen Texten mit dem kollektivierenden Personalpronomen „Wir“ ausgedruckt. Wie aber bereits angedeutet, bezieht sich dieses „wir“ auf eine „geschlossene Gruppe“, die durch ihre Exklusivität charakterisiert wird. Besonders im Gedicht „Der Fahnenträger“ (HM21) wird diese Exklusivität als „Auserwähltheit“ gedeutet:

Edles Blut und auserkoren, Kühn im Siege und im Tod (HM21, V.5-6)

Gerade das Adjektiv „auserkoren“ (HM21, V.5) betont die Idee der „Auserwähltheit“ der deutschen „Volksgemeinschaft“. Die entscheidende Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu dieser deutschen Volksgemeinschaft ist das „edle Blut“ (HM21, V.5), das in „Deutschland im Marschtritt“ (HM22) auch als „das beste Blut“ (HM22, V.16) bewertet und in der nationalsozialistischen Ideologie nach rassischen Kriterien definiert wird. Dass die Gemeinschaft gerade im gemeinsamen Blut seinen Kameraden erkennt, betont Menzel im Gedicht „Reih dich ein!“ (HM19):

Lausch auf dein Blut tief innen, Es spricht wie wir! (HM19, V.9-10)

Nur in einem Gedicht spezifiziert Menzel das „Blutserbe“ explizit als exklusiv „deutsch“, und zwar in der ersten Strophe des Gedichtes „Von unserm Schritt“ (HM38)

Von unserm Schritt erwachten Bataillone, Von unsern Trommeln klang's an aller Ohr: Das deutsche Erbe ruft nach seinem Sohne, Hier geht der Weg, die Fahne schreitet vor. (HM38, V.1-4)

Bereits in diesem Gedicht wird die „Volksgemeinschaft“ als ein quasitranszendentes Konzept dargestellt, indem das unbestimmte aber schon personifizierte „deutsche Erbe“ (V.3) seine Nachkommenschaft anruft. Die „Volksgemeinschaft“ übersteigt damit die gegenwärtige Generation und verbindet das vergangene „Erbe“ mit der zukünftigen

638 „Kameradschaft“ in Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, 343.

186

Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

Nachkommenschaft. Noch expliziter beschreibt Menzel diese generationenübergreifende Gemeinschaft in der dritten Strophe des folgenden Gedichtes:

Deutschland im Marschtritt

Wenn wir marschieren - Schritt um Schritt - Wir lauschen: unser Herz schlägt mit. Mein Herz und dein Herz, Kamerad. Im gleichen Takt: Soldat! Soldat!

5 So Reih um Reihe - Schritt um Schritt - Kolonnen stampfen gleichen Tritt. Wir ahnen's groß, wir beten's schon: Dies ist der Pulsschlag der Nation.

Wenn wir marschieren - Schritt um Schritt - 10 In unserm Blute ziehen mit Die Väter all, die Enkel schon: Im ewigen Pulsschlag der Nation.

Soldat! Soldat! So Tritt um Tritt. Hört Deutschland, wie es stritt und litt! 15 Hört Deutschland, wie es ewig zieht, Das beste Blut, ins Heldenlied! (HM22)

Auch hier verbindet das Blut die heutige Generation mit der der „Väter“ und der „Enkel“ (HM22, V.11). Im Gedenken der Vergangenheit ruft Menzel bewusst die deutsche Kriegsvergangenheit in Erinnerung, auf die später noch im Rahmen der Märtyrerstilisierung eingegangen wird. Menzel und mit ihm viele andere NS-Dichter greifen in ihrer Lyrik aber auch auf das Bild der marschierenden Kolonnen (HM22, V.5) als Symbol für die nationale Einheit zurück. So merkt Karl-Heinz Schoeps an, dass sich der Klang marschierender Kolonnen durch zahlreiche Gedichtanthologien zieht: „The monotonous rhythm of marching, especially when accompanied by a drum, encourages placing everyone on the same level and enforces group solidarity; its ‚motoric suggestiveness‘ does not touch the intellect but mobilizes ‚deeper levels‘“.639 Heidrun Ehrke-Rotermund erschließt eine solche „tiefere Ebene“ im emotionalen Bezug, der in der ersten Strophe dreimal mit dem Wort „Herz“ (HM22, V.2-3) beschworen werde. Dieser Bezug lasse sich auch „ohne weiteres auf das Kollektiv von Volk, Vaterland, Nation oder Deutschland übertragen. Indem der Soldat sich seinen Kameraden verbunden fühlt, soll

639 Schoeps: Literature and Film in the Third Reich, 176.

187

Am Beispiel Herybert Menzels er sich zugleich als Glied des lebendigen deutschen Volkskörpers empfinden lernen“.640 Diese emotionale Verbundenheit kommt auch im Rhythmus des Marschliedes zum Ausdruck. Dass die Herzen „im gleichen Takt“ (HM22, V.4) schlagen, wäre die angestrebte Wirkung eines solchen Marschliedes.641 Denn, gerade beim „Marsch im Gleichschritt erfährt der Soldat die Übereinstimmung seines eigenen Bewegungs- und Herzrhythmus mit dem aller neben ihm Marschierenden“.642 Gerade diese „Einheit im Takt“ symbolisiert die quasinaturgemäße „Einheit der Gemeinschaft“. Denn im Gedicht „Die Welt gehört der Führenden“ (HM13/14) schreibt Menzel, „ein Kerl muß bei Soldaten sein“ (HM13/14, V.23) und „gleich schlägt sein Herz im Takt“ (HM13/14, V.24).

Bereits in Gerhard Schumanns „Liedern vom Reich“ kam die Entindividualisierung zugunsten der Idee der Kollektivität zum Ausdruck: Nur im Kollektiv findet die Reichsidee Erfüllung. Auch in Menzels Dichtung kommt dem Individuum ausschließlich im Kontext des größeren Ganzen eine Rolle zu. So heißt es in „Trommeln und Feuer“ (HM8), einem weiteren Marschlied, explizit: „Es geht hier nicht um Mein und Sein“ (HM8, V.22). Es geht um das kollektive „Wir“, das „ins ewige Deutschland“ (HM8, V.23) einzieht und deswegen von der zukünftigen Generation „nicht vergessen“ (HM8, V.24) wird.

2.2.2 Das Volk als eine „gläubige“ Bewegung

Das Konzept des Volkes verfügt nicht über eine ihm inhärente sakrale Dimension. In Verbindung mit den anderen beiden „Glaubensartikeln“ Reich und „Führer“, scheint aber schon eine gewisse „Gläubigkeit“ von dem Volk auszugehen. Im Rahmen der Debatte über den Nationalsozialismus als eine politische Religion betonen Forscher wie Klaus Vondung und Uriel Tal die Bedeutung des (politischen) Glaubens im nationalsozialistischen System. Tal bezeichnet gerade diesen Glauben als „the magic that inflames the masses“.643 Laut Vondung fand dieser Glaube ab 1935 allmählich immer mehr Ausdruck in sogenannten „Bekenntnisliedern“, die vor allem für den Gebrauch in Feierveranstaltungen bestimmt waren.644 Auch in Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft lässt sich einen solchen – politischen Glauben – entdecken. So klingt im Gedicht „Jugend, wir tragen die Fahnen!“ eindeutig: „Vaterland heißt unser Glaube“ (HM11/12, V.18). Außerdem wird der „Führer“ erneut als eine quasimessianische Figur dargestellt. Genauso wie Schumann,

640 Heidrun Ehrke-Rotermund: Die als Gegenstand der Literatur während des „Dritten Reiches“. In: Die Wehrmacht: Mythos und Realität. Sonderausgabe. Hg. v. Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2012, 692. 641 Vgl. von Bormann, Alexander, Das nationalsozialistische Gemeinschaftslied, in: Denkler und Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich, 272. 642 Ehrke-Rotermund: Die Wehrmacht als Gegenstand der Literatur während des „Dritten Reiches“, 691-692. 643 Tal: ‚Political Faith‘ of Nazism Prior to the Holocaust, 19. 644 Vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 118.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ bezeichnet Menzel den „Führer“ mehrmals als den „Einen“, der als „Führer“ „auferstanden“ (HM9, V.17) sei.

Es lebt der Eine!

Wer wollte sagen, Daß er nicht fehlt? Wir alle tragen, Was einsam quält.

5 Wir irrten lange In Nacht und Schuld. Das macht nun bange. Doch habt Geduld.

Es lebt der Eine, 10 Der Deutschland liebt. Es lebt der Reine, Der Kraft uns gibt.

Wie er zu leben, Ist uns versagt. 15 Ihm nachzustreben, Froh sei's gewagt! (HM48)

Auch Menzel benutzt die Licht-Dunkel-Symbolik um die alte – führerlose – Zeit mit der neuen Epoche, in der „der Eine“ lebt, zu kontrastieren. Das kollektive „wir“ war „einsam“ (HM48, V.4) und „irrte(n) […] / in Nacht und Schuld“ (HM48, V.5-6). Mit dem Auftreten des „Einen“ bekommt das Volk neue „Kraft“ (HM48, V.12), die quasi als ein Geschenk von ihm angenommen wird. Dieser „Eine“ wird außerdem nicht unbedingt als ein politischer „Führer“, sondern vielmehr als ein moralischer Wegweiser dargestellt. Seine große Kraft scheint im Emotionalen zu liegen, und zwar in seiner Liebe zu „Deutschland“ (HM48, V.10). Das kollektive Wir soll es wagen, „wie er zu leben“ (HM48, V.13) und „ihm nachzustreben“ (HM48, V15).

Dieses grenzenlose Vertrauen zum „Führer“ führt auch zu einer restlosen Hingabe. Das Volk agiert nur, wenn der „Führer“ ihn dazu befiehlt. In der letzten Zeile des Gedichtes „Nun schlägt das Herz zum Trommelschlag“ (HM10) wird der Befehl des „Führers“ quasi zu einem heiligen Gebot:

189

Am Beispiel Herybert Menzels

Wir sind erweckt, wir sind im Lauf, Nun hält uns nur der Eine auf, Wenn er sein Amen spricht! (HM10, V.13-15)

Besonders mit dem Wort „Amen“ (HM10, V.15) wird die Beziehung zwischen Volk und „Führer“ in gewisser Hinsicht religiös aufgewertet. Nicht nur erscheint der „Führer“ als eine quasimessianische Persönlichkeit, deren Worte ein heiliges Gewicht bekommen, darüber hinaus ergibt sich das Volk als eine gläubige Bewegung, die für eine solche religiös anmutende „Botschaft“ aufgeschlossen ist. Menzel beschreibt das kollektive „Wir“ in seinem bereits erwähnten Gedicht „Von unserm Schritt“ (HM38) außerdem nicht nur als exklusiv „deutsch“ (HM38, V.3) sondern auch als „jung und gläubig“ (HM38, V.10):

Die wir im Dunkel auf den Ruf einst harrten, Wir traten jung und gläubig in das Licht. Die Fahne glüht, es leuchten die Standarten Und unser Deutschland zeigt ein neu Gesicht. (HM38, V.9-12)

In der mühsamen und „dunkeln“ Wartezeit sehnt sich das Volk nach dem „Ruf“ (HM38, V.9) eines Retters. Seine Ankunft bedeutet das Ende der Dunkelheit und ein Neuanfang für „Deutschland“ (HM38, V.12), das hier wiederum als Personifikation auftritt. Genauso wie in Joachims Reichsapokalypse und Max Webers Charisma-Theorie erweist sich die Stärke der Konzepten „Führer“ /charismatische Persönlichkeit, (Drittes) Reich/Heilsbotschaft und Volk/gläubige Bewegung nur in ihrem gemeinsamen Auftreten. Wie bereits angedeutet, entwickelte sich diese Dreiheit auch im Nationalsozialismus quasi zu einer neuen – alternativen – „Trinität“,645 die schließlich auch in der letzten Strophe des Gedichtes „In seinen Augen“ (HM23) deutlich zum Ausdruck kommt.

Was morgen wird, das wollen wir nicht fragen, Was unser Führer von uns fordert, gilt. Er ist der Weg, der Sturm, das große Wagen, In seinen Augen glänzt uns Deutschlands Bild. (HM23, V.4-8)

Gerade in der achten Zeile springt die – aus der christlichen Überlieferung durchaus bekannte – dreigliedrige Struktur ins Auge. Während der Evangelist Johannes Jesus die Worte in den Mund legt, er sei „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6), beschreibt Menzel den „Führer“ in ähnlicher Weise als den „Weg“, den „Sturm“ und „das große Wagen“ (HM23, V.7). Das Volk akzeptiert seine Worte als unwiderlegbare Wahrheit, denn was er von ihnen fordert, „gilt“ (HM23, V.6) ohne Weiteres. Das Einzige, was der „Führer“ – und so auch das Volk – vor Augen hat, ist die Verwirklichung des Reiches, also

645 Vgl. Baird: Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich 3; Hay: Religiöser Pseudokult in der NS-Lyrik am Beispiel Baldur v. Schirach, 857-858.

190

Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

„Deutschlands“ (HM23, V.8). Zu diesem Zweck erklärt sich das Volk bereit, sich für das Reich zu opfern.

2.3 Die unsterbliche Gemeinschaft – Die Märtyrerstilisierung

Der Tod der Soldaten im Ersten Weltkrieg und der sechzehn Parteimitglieder, die das Leben beim misslungenen Putschversuch im Jahre 1923 ließen, wurde in der nationalsozialistischen Propaganda zu einem wahren Martyrium stilisiert. Anhand des „Langemarck-Mythos“, der bereits während der Kriegszeit und in Kriegsliteratur der Weimar Republik verarbeitet wurde, greift Menzel den Soldatentod als „Opfer für das Vaterland“ auf. Die verstorbenen Putschisten, die als Erste im eigentlichen „Kampf“ der nationalsozialistischen Bewegungen getötet wurden, werden zu den wahren „Proto- Märtyrern“646 der NS-Bewegung stilisiert. Diese „Märtyrer“ dienen der Volksgemeinschaft zum Vorbild und fordern sie auf, in ihre Fußstapfen zu treten.

2.3.1 „Die Jugend von Langemarck“ – Das leuchtende Vorbild der deutschen Soldaten

Der Tod der deutschen Soldaten erwies sich bereits während aber auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges als identitätsstiftend für das deutsche Kollektiv. Sogar solchermaßen, dass der Flämische Toponym „Langemarck“, der immer noch die Assoziation mit Soldatenfriedhöfen hervorruft, auch heute noch in der Liste der sogenannten „deutschen Erinnerungsorte“ erscheint. Obwohl die Bedeutung dieses Topos für das aktuelle kollektive Gedächtnis eher niedrig einzuschätzen ist, hatte der Ortsname in der Weimarer Zeit und im „Dritten Reich“ schon einen quasi-mythischen Beiklang.647 So fragt sich Heinrich Anacker in seinem Gedicht „Ewiges Deutschland“ (HA28)648

Denn wer von uns ist so stark, Und so heilig-trunken, Wie die, die bei Langemarck Singend dahingesunken? (HA28, V.4-8)

Dem zeitgenössischen Leser war der Ortsname Langemarck so bekannt, dass eine weitere Referenz auf den Ersten Weltkrieg überflüssig scheint. Indem Anacker seine Kriegshelden „singend“ (V.8) untergehen lässt, schließt er aber schon eindeutig an den bereits mythisch gewordenen Langemarck-Topos an. Dieser kannte seinen Ursprung, so sind sich

646 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 24. 647 Vgl. Krumeich: Langemarck, 292. 648 Der Langemarck-Topos in Heinrich Anackers Dichtung wird ausführlich analysiert in Anneleen Van Hertbruggen: Die a Hero in Langemarck: Flanders in the Nazi Poetry of Heinrich Anacker. In: Journal of Dutch literature 8.1 (2017), 41-59.

191

Am Beispiel Herybert Menzels

Krumeich, Baird, Ketelsen, Aichele und weitere Forscher einig, im Heeresbericht der Obersten Heeresleitung vom 11. November 1914: „Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellung vor und nahmen sie […]“.649 Die historische Wahrhaftigkeit dieses Berichtes wird von vielen Forschern in Frage gestellt. So bezweifelt Aichele zum Beispiel den faktischen Wahrheitsgehalt der zwei Hauptpunkte dieses Berichtes: „Weder wurde unter Absingen des Deutschlandliedes gestürmt noch waren die eingesetzten und verheizten Regimenter im biologischen Sinne jung“.650 Allerdings hatte der Bericht schon einen wahren Kern und – viel wichtiger – er trug ein Element der Hoffnung, auf dem sich der „Langemarck-Mythos“ aufbauen ließ. Bereits während der Kriegszeit wurde „Langemarck“ propagandistisch verwertet und das Bild der vorstoßenden Regimenter, die das Deutschlandlied sangen, nahm in Deutschland mythische Proportionen an. Mit ihrem Opfer habe die Jugend einen Sieg errungen, was bis 1918 als positive Kriegserfahrung der Soldaten ausgenutzt wurde.651 Die anfängliche Kriegsbegeisterung äußerte sich auch in der massenhaften Produktion und Verbreitung von Kriegslyrik. Bereits im Jahre 1915 gehörte diese Kriegslyrik auch zu der für die Schule empfohlenen Literatur.652 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ging die Popularität des Langemarck-Topos erst einmal zurück. Laut Krumeich hat sich die Langemarck-Erinnerung in den 1920er Jahren auf Elemente der Jugendbewegung beschränkt und dann in erster Linie an Universitäten, wobei die Jugend, die nun als Studenten im selben Alter als „die jungen Regimenter in Langemarck“ waren, diese Kriegserfahrung oft kritisch und bitter reflektierten. Erst ab 1928 gewann die Kriegserzählung und der Langemarck-Topos – mit dem zehnten Jahrestag des Kriegsendes und der zunehmenden sozialen und politischen Polarisierung in Deutschland – erneut Konjunktur. So wurde der 19. November 1928 zum Beispiel als „Langemarck-Tag“ der deutschen Studentenschaft etabliert.653 Sowohl Krumeich als auch Ketelsen betonen die Verbindung von Jugend, Opfer und Nation als Kraft des Langemarck-Mythos,654 eine Kraft, die auch von den nationalsozialistischen Propagandisten erkannt und ausgenutzt wurde. Dass der Langemarck-Topos bereits gut im kollektiven Gedächtnis verankert war, illustriert Ketelsen mit einem Verweis auf Ernst Jüngers Werk Der Friede655, in dem Jünger die flämischen Ortsnamen „Douamont“ und „Langemarck“ ohne weitere Erläuterung

649 Zit. nach Krumeich: Langemarck, 292 650 Alexander Aichele: Singend sterben – mit Fichte nach Langemarck: Authentischer Fichteanismus im Ersten Weltkrieg. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81.4 (2007), 619. 651 Vgl. Krumeich: Langemarck, 300. 652 Vgl. Reinhard Dithmar: Der Langemarck-Mythos in Dichtung und Unterricht. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand 1992, xi. 653 Vgl. Krumeich: Langemarck, 306-307. 654 Vgl. Ebd., 309; Uwe-K. Ketelsen: „Die Jugend von Langemarck“. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit. In: ‚Mit uns zieht die neue Zeit‘ Der Mythos Jugend. Hg. v. Thomas Koebner et al. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, 75. 655 Die ersten Drucke erschienen 1941/43 und 1945/46.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ erwähnt. Ketelsen folgert daraus, dass diese Toponymen seinen Lesern so gegenwärtig seien, „daß ihre bloße Nennung genüge, um solche weitreichenden und befrachteten Zusammenhänge zu verstehen, wie er sie vorträgt“.656 Vielleicht hatte es damit zu tun, dass dieser Topos auch in der NS-Schulpolitik seinen Charakter als „Symbol für das heldische Jugendopfer und den Geist der Freiwilligkeit und der Hingabe für Deutschland“657 behielt.

Herybert Menzel erwähnt „Langemarck“ einmal in seinem Gedichtband Gedichte der Kameradschaft, wobei er den Tod und die Motivation dieser „schweigenden Mahner“ als leuchtendes Beispiel für die neue Generation darstellt.

Die schweigenden Mahner

Sie sind gefallen bei Langemarck, Sie sind gefallen im Kampf um die Straßen. Die Fahnen wehen, das Reich steht stark, Stark sind die Völker, die nie ihre Toten vergaßen.

5 Nicht mit Trauern und Klagen Werden wir uns bekennen. Ihre Liebe zu Deutschland muß in uns weiterbrennen. Mütter, ihr sollt euren Kindern Stolz ihre Namen nennen. 10 Väter, an eurer Art Wollen wir ihr Vorbild erkennen.

Jeder soll sein wie sie, Immer zum Opfer bereit. Jeder soll kämpfen wie sie 15 Für Deutschlands Unsterblichkeit. Keiner soll klagen dürfen, Denn er hat mehr noch zu geben. Vor ihrem Sterben schweig still Jedes ruhmvolle Leben. (HM33)

Gleich in der ersten Strophe betont Menzel die Kraft der Erinnerung. Man soll seine Toten nicht vergessen, aber noch wichtiger scheint das Gebot zur Nachfolge: „Jeder soll sein wie sie“ (HM33, V.12). Die Erinnerung an sie bleibt weiterhin lebendig, indem die Mütter aufgefordert werden, ihren Kindern „stolz ihre Namen (zu) nennen“ (HM33, V.9). Außerdem scheinen die Väter diesen Gefallenen bereits nachzufolgen, denn an ihrer „Art / wollen wir ihr Vorbild erkennen“ (HM33, V. 10-11). Das Gedenken der Verstorbenen

656 Ketelsen: „Die Jugend von Langemarck“. Ein poetisch-politisches Motiv der Zwischenkriegszeit, 69. 657 Vgl. Krumeich: Langemarck, 309.

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Am Beispiel Herybert Menzels enthält also mehr als das bloße „Trauern und Klagen“ (HM33, V.5). Die zentrale normative Setzung der Mythen sei laut Thieme „der geforderte unerschütterliche Glauben, der sich im Tod der Märtyrer manifestiert habe“.658 Gerade dieser „Glaube“ sollte von den „Mythenrezipienten“ fortgeführt werden. Menzel fordert explizit zum Gedächtnis dieser Verstorbenen auf: „Ihre Liebe zu Deutschland muß in uns weiterbrennen“ (HM33, V.7). Nach dem Vorbild der Gefallenen sollte diese „Liebe zu Deutschland“ auch die Opferbereitschaft (vgl. HM33, V.13) der neuen Generation erregen. Das Kostbarste, das man als Individuum der Bewegung, dem „Führer“ und dem Vaterland schenken kann, sei ja das eigene Leben, das man aus Treue zur nationalsozialistischen Sache opfere. In den letzten vier Zeilen unterstreicht Menzel, dass „jedes ruhmvolle Leben“ (HM33, V.19) sich vor dem „Sterben“ (HM33, V.18) in Stillschweigen hüllen sollte. Der Kampf und das eventuelle Opfer führe dann schließlich zu „Deutschlands Unsterblichkeit“ (HM33, V. 15).

Krumeich merkt an, dass dieser Topos nicht nur die bloße Beschreibung des Opfergeistes der „Jugend von Langemarck“ enthielt, sondern auch die „Hoffnung auf ein Fortwirken oder Wiedererwachen eben dieses Opfergeistes“ implizierte.659 Gerade diese nationalsozialistische Sinndeutung des Soldatentodes baut auf einem bereits im 19. Jahrhundert eingebürgerten Deutungsmuster auf, das dem Schema der christlichen Erlösungslehre folgt. Das heroische Narrativ in Kombination mit der christlichen Heilslehre schienen eine Antwort auf den „Sinn des Massensterbens“ anzubieten.660 Der Opfertod für das Vaterland führe, so liest man auch in Menzels Gedicht, schließlich zu „Deutschlands Unsterblichkeit“ (HM33, V.16). Die Beschreibung dieses „heroisierte Opfertum“ beschränkt sich außerdem nicht auf die deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg, sondern wurde auf die Toten der eigenen Bewegung übertragen,661 die dann als wahre „Märtyrer der Bewegung“ verherrlicht wurden.

2.3.2 Die „Gefallenen der Bewegung“ – Die nationalsozialistische Märtyrerverehrung

Nachdem Hitler die NSDAP im Jahre 1925 neugründete, wuchs die Bedeutung des Kultischen allmählich an. Nicht nur die kultische Verehrung des Führers kannte in diesen Jahren seinen Anfang, auch die ersten kultisch veranstalteten „Totenehrungen“ wurden bereits am Ende der 1920er Jahre organisiert, wie beispielsweise der „Langemarck-Tag“ am 28. November 1928. Laut Gerhard Kurz kulminierte der „Kult“ um die toten Helden aber

658 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 146. 659 Vgl. Krumeich: Langemarck, 295. 660 Vgl. Behrenbeck: Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung, 45. 661 Knoch: Die „Volksgemeinschaft“ der Bilder. Propaganda und Gesellschaft im frühen Nationalsozialismus, 139.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ im Opferritus vom 9. November,662 der bereits 1926 von Hitler zum „Reichstrauertag“ der NSDAP erklärt wurde.663 Im Mittelpunkt dieser Gedenkfeiern standen die sechzehn NSDAP-Mitglieder, die 1923 beim Putschversuch getötet worden waren. Diese sechzehn gelten als „Proto-Märtyrer“ der NS-Bewegung, da sie „als zuerst Verstorbene eine übergeordnete Rolle innerhalb der NS-Märtyrerfiguren einnahmen“.664 Hitler selbst hat ihre Verehrung initiiert,665 indem er diese „Blutzeugen“ der Bewegung in der über der Namensliste stehenden Widmung des ersten Bandes von Mein Kampf zu Märtyrern stilisierte. Becker und Behrenbeck beschreiben, wie der Jahrestag des Todes der sechzehn Gefallenen zum Geburtstag des Reiches wurde, weil sich der Jahrestag als Mysterium offenbarte. So hat Hitler im Jahre 1934 deklariert, dass das von ihnen vergossene Blut zum Taufwasser des „Dritten Reiches“ geworden sei.666 Dieser Feiertag erinnerte laut Behrenbeck gewissermaßen an das „Gethsemane und Golgatha der ‚Bewegung‘“, dem zehn Jahre später die österliche Auferstehung gefolgt sei.667 Auch Menzel transferierte christliche Symbolik zur lyrischen Verwertung dieses Topos, wie im folgenden Gedicht:

Ihr von der Feldherrnhalle

Wie ihr schrittet zu der Feldherrnhalle, Erste Zeugen Deutschlands neuer Tat, Davon sagen nun die Mütter alle, Und ihr werdet immer wieder Saat.

5 Wie ihr schrittet, folgten Männer, Knaben. Ohne Ende war der Opfergang. Deutschlands Hoffnung wurde oft begraben, Aber immer neu die Trommel klang.

Wie ihr schrittet zu der Feldherrnhalle, 10 Das soll ewig unvergessen sein. Seht, wir kommen, und wir danken alle, Und wir holen euch in unsre Reihn. (HM35)

Erneut betont Menzel die Kraft der Erinnerung, indem der Marsch auf die Feldherrnhalle „ewig unvergessen“ (HM35, V.10) sein wird. Die Putschisten leben aber nicht nur weiter in

662 Vgl. Kurz: Braune Apokalypse, 138. 663 Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 299. 664 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 24. 665 Ebd., 154. 666 Vgl. Becker: Liturgy in the service of power. The National Socialist cult of the dead as a secularised Christian paschal celebration, 27; Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 299-300. 667 Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 300.

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Am Beispiel Herybert Menzels der bloßen Erinnerung, sondern auch in der aktiven Nachfolge der neuen Generation. Ihr Vorbild generiert „immer wieder Saat“ (HM35, V.4) für neue Märsche, die als „Opfergang“ (HM35, V.6) beschrieben werden. Obwohl viele in ihrem Versuch anscheinend gescheitert sind, denn „Deutschlands Hoffnung wurde oft begraben“ (HM35, V.7), findet man immer neuen Mut, um neuanzufangen. In diesem Gedicht beschreibt Menzel, wie das „Opfer“ der Putschisten, die als „Erste Zeugen Deutschlands neuer Tat“ (HM35, V.2) tatsächlich als „Proto-Märtyrer“ dargestellt werden, die neue Generation bereits zur aktiven Nachfolge inspiriert hat. In anderen Gedichten ruft Menzel noch zur Nachfolge ihres Beispiels und zur aktiven Anteilnahme in der Bewegung auf, damit auch die neue Generation als Teil der Volksgemeinschaft für „ewig unvergessen“ sein wird.

2.3.3 Nach dem Vorbild der Märtyrer durch das Opfer ins ewige Leben

Gerade diese Sehnsucht nach oder das Versprechen von Unsterblichkeit wird als eine Antwort auf individuelle existenzielle Fragen verstanden. In seinem Gedicht „In unsern Herzen wird der Feind geschlagen“ (HM20) hebt Menzel ganz besonders hervor, „das Leben ist ein Nichts in seiner Dauer, / wer’s überloht, hat erst sich selbst erlangt“ (HM20, V.7-8). Gerade die Sinndeutung des eigenen Lebens im Jenseits mutet besonders religiös an. Laut Berghoff schließt eine solche „profane Transzendenz“ das Jenseits der konkreten Existenz in der Vergangenheit und Zukunft des Kollektivs“ ein.668 Im selben Gedicht erklärt Menzel dann auch, wie das eigene Leben und das hypothetische Opfer an Bedeutung gewinnen kann:

Erst wer im Marschtritt Kämpfern sich verbunden, Erst wer der Fahne folgt, entgeht der Zeit. Es lebt das Reich in seinen hohen Stunden, Wir sind das Opfer, und wir sind bereit. (HM20, V.9-12)

Gerade in der Treue zum Vaterland, die im Opfer für das Vaterland münden kann, befindet sich das Versprechen der Ewigkeit. Auch im Gedicht „Der alte Sturm“ (HM44) ruft Menzel in der zweiten Strophe die Kriegsvergangenheit in Erinnerung, um dies zu veranschaulichen.

Die hohe Zeit der Kämpfe lebt uns wieder. Du warst dabei in jener bangen Nacht, Du sangst sie mit, die glaubensstarken Lieder. Kamerad, wer hat wie du uns froh gemacht?! (HM44, V.5-8)

668 Berghoff: Das Phantasma der „kollektiven Identität“ und die religiösen Dimensionen in den Vorstellungen von Volk und Nation, 70-71.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

Vor allem mit dem Verweis auf „die glaubensstarken Lieder“ (HM44, V.7), die „in jener bangen Nacht“ (HM44, V.6) gesungen wurden, appelliert Menzel an eine Kriegsszene, die bis zum heutigen Tage im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Zu Weihnachten 1914, als die Hoffnung noch groß war, dass der Krieg bald zu Ende kommen würde, kam es an verschiedenen Frontabschnitten zu spontaner Verbrüderung zwischen – vor allem – britischen und deutschen Soldaten. Berichte von Soldaten erzählen über das gemeinsame Singen von Weihnachtsliedern und sogar den Austausch von kleinen Geschenken.669 Unter dem NS-Regime wurde nicht gerade der Verbrüderung der einander feindlich sich gegenüber stehenden Soldaten gedacht, sondern schon das „gemeinsame Singen“ als kollektive Erfahrung betont. Außerdem wird die letzte Verszeile in Menzels Gedicht anhand dieser Kriegsreferenz fast als eine Aufforderung und zur gleichen Zeit auch als ein Versprechen gedeutet: „In unsrer Treue ist die Ewigkeit“ (HM44, V.13). Wegen ihrer Aufopferung für das Vaterland haben die deutschen Soldaten die Unsterblichkeit erreicht. Auch die heutige deutsche Generation kann mittels ihrer „Treue“ zur nationalsozialistischen Sache und die daraus folgende Opferbereitschaft das „ewige Leben“ gewinnen. Allerdings gilt auch das Umgekehrte, wie Menzel in der zweiten Strophe des Gedichtes „Jugend, wir tragen die Fahnen“ (HM11/12) beschreibt. Und zwar droht für denjenigen, der nicht zum Opfer bereit ist, die ruhmlose Vergessenheit:

Willst du dein Leben nicht wagen, Bist nicht zum Einlaß bereit, Wirst du vergehn in den Tagen, Wir sind der Ruhm unsrer Zeit. (HM11/12, V.13-16)

Auch im Gedicht „Vorm Schicksal“ (HM7) droht Menzel, dass wer zaudert und zagt „für ewig verdammt“ (HM7, V.6) sein wird. Das Ziel des Helden ist also nicht unbedingt der Sieg, er geht bewusst das Risiko ein, dass er – genauso wie die „Gefallenen der Bewegung“ – eine Niederlage erleiden kann. Als oberster moralischer Wert wurde den Angehörigen der „Bewegung“ der Glaube an die nationalsozialistische „Sache“ und „Idee“ und an ihren „Führer“ präsentiert, durch den man sich auch bereit erklärte, bei Bedarf das Leben hinzugeben. Denn die Märtyrer haben gerade mit ihrem Sterben ihren Glauben bezeugt und unterstrichen.670 Das Ziel des neuen Helden sei also nicht der Sieg, sondern der ewige „Ruhm“ (HM11/12, V.16) oder Ehre, indem nicht gerade sein individuelles Schicksal von Bedeutung ist, sondern seine im Opfer deutlich gewordene Anteilnahme an der Erlösung – und so der Unsterblichkeit – der Gemeinschaft.

669 Vgl. Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main: Fischer 2013, 87. 670 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 146-147.

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Am Beispiel Herybert Menzels

Volk auf dem Wege

Wir schreiten ernst, wir schreiten still, Es weiß das Herz, wohin es will. Der Weg ist hart, der Weg ist weit, Wir schreiten in die Ewigkeit.

5 Ein Volk, das sich zusammenlitt, Ein Volk, das um die Sterne stritt Ein Volk, in dem die Seele rang Um den Untersterblichkeitsgesang.

Ein Volk, das sich in Demut bog, 10 Ein Volk, das heiß zum Sturme flog, Ein Volk, das irrend sich verlor Und doch noch fand an Gottes Tor.

Wir schreiten ernst, wir schreiten still. Es weiß das Herz, wohin es will. 15 Der Weg ist hart, der Weg ist weit, Wir schreiten in die Ewigkeit. (HM57)

Menzel fasst das Wesen und das Ziel des „Volkes“ noch einmal im letzten Gedicht seines Bandes Gedichte der Kameradschaft zusammen, wodurch der ganze Gedichtband letztendlich im Wort „Ewigkeit“ (HM57, V.16) gipfelt. Dass aus der nationalsozialistischen Gemeinschaft eine emotionale Verbundenheit und Motivation spricht, zeigt sich erneut in der Verwendung des Wortes „Herz“, das weiß, „wohin es will“ (HM57, V.2,14). Gerade in diesem Gedicht wird das erstrebte Ziel der Volksgemeinschaft mittels christlicher Symbolsprache religiös aufgewertet. Das Volk ist auf dem Wege zur „Ewigkeit“ (HM57, V.4, 16) und weiß, dass der Weg dahin „hart“ und „weit“ ist (HM57, V.3, 15). Albrecht W. Thöne sieht in der Beschreibung des unerreichbaren Zieles des Volkes, „das um die Sterne stritt“ (HM57, V.6) einen Aspekt des idealistischen Charakters des Nationalsozialismus.671 Thöne erklärt, dass sich die Gestirne seit jeher der religiösen Projektionsneigung des Menschen besonders anbot. Indem sie unerreichbar und deswegen nur begrenzt erforschbar waren, symbolisierten sie die „Unendlichkeit“. Wegen ihrer scheinbaren „vollkommenen“ Gestalt, ihrer geordneten Beziehung zueinander und ihrer gesetzmäßigen Bewegung scheinen sie zudem von „ewiger“ Dauer.672 Dass das Volk seine Sinndeutung auf eine transzendente Ebene verlegt, zeigt sich zudem auch darin, dass sich

671 Vgl. Albrecht W. Thöne: Das Licht der Arier: Licht-, Feuer- u. Dunkelsymbolik d. Nationalsozialismus. München: Minerva-Publikation 1979, 62-63. 672 Ebd., 38.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ das Volk schließlich angeblich „an Gottes Tor“ (HM57, V.12) wiederfand. Diese nationalsozialistische Vorstellung von Gott wird im nächsten Abschnitt weiter im Bezug zu dem Symbol der Fahne ausgeführt.

2.3.4 Blut und Fahne als Symbole der Märtyrer

Die Fahne als das nationalsozialistische Symbol schlechthin wird in der Propagandadichtung wiederholt religiös aufgewertet. So stellt Menzel die Fahnen als Wegweiser in die „Ewigkeit“ dar, wie etwa in „In unsern Herzen wird der Feind geschlagen“ (HM20): „Erst wer der Fahne folgt, entgeht der Zeit“ (HM20, V.10). An anderen Stellen bekommt die Fahne einen quasireligiösen Status, indem sie mit einem aus der christlichen Liturgie entnommenen Diskurs verbunden wird. So bezeichnet Menzel sie im Gedicht „Der Fahnenträger“ (HM21) als eine „heilige Fahne“ (HM21, V.1) und in „Jugend, wir tragen die Fahnen“ (HM11/12) werden die Fahnen vom „Führer geweiht“ (HM11/12, V.15). Gerade die enge Assoziation vom „Führer“ mit der Fahne hat laut Knoche dazu geführt, dass um die Fahne eine mythische Aura lag. So sollte zum Beispiel der Hitler-Gruß sowohl an Adolf Hitler als auch an die Fahne gerichtet werden.673 Eine weitere religiöse Aufwertung bekommt die Fahne in der Verbindung zum Blut, wie im Gedicht „Marsch ins Jahrtausend“ (HM9):

Einer ist als Führer auferstanden, Und er hat die Schau und das Gebot. Und wie sie sich alle zu ihm fanden, Färbt ihr Blutschwur seine Fahne rot. (HM9, V.17-20)

Auch in diesem Gedicht treten „Führer“ und Fahne gemeinsam auf, allerdings ist hier von einer sehr spezifischen Fahne die Rede, und zwar von der Fahne, die beim misslungenen Putschversuch im Jahre 1923 mitgetragen wurde und von den Nationalsozialisten als „the Holy of Holies“ betrachtet wurde.674 Als die sechzehn ersten „Märtyrer“ tot in der Residenzstraße bei der Feldherrnhalle lagen, war die Straße voller Blut, das die mitgetragene Fahne durchtränkt habe.675 Im obigen Beispiel scheint die Fahne ihre rote Farbe gerade wegen der blutigen Niederschlagung der Putschisten – oder lieber: der „Märtyrer“ – bekommen zu haben. Laut Baird wurde die Blutfahne zu einer bedeutsamen „Reliquie“ in den Feiern im „Dritten Reich“.676 Die originale Blutfahne wurde im „Braunen Haus“ in München aufbewahrt und nur zweimal pro Jahr dem Publikum gezeigt: am „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“ und am Reichsparteitag. Nicht nur steigerte diese Tatsache die mythische Bedeutung der Blutfahne, sie bekam auch eine besondere

673 Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 104-105. 674 Ebd., 110. 675 Baird: To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, 44. 676 Ebd.

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Am Beispiel Herybert Menzels

Rolle in einer Art Weihungsritual neuer Fahnen. So „segnete“ Hitler die neuen Fahnen, die alle Repliken der ursprünglichen Blutfahne waren, indem er sie mit der Blutfahne berührt. Knoche beschreibt dieses Ereignis als eine Art „säkulare Transsubstantiation“, wobei die angeblich mythischen Kräfte der Blutfahne, die sie durch das Märtyrerblut bekommen hat, auf die neuen Flaggen transferiert werden. Gerade der Transfer der „mythischen Kräfte“ durch die bloße „Berührung“ der Fahne rufe spontan eine neutestamentliche Geschichte in Erinnerung.677 Matthäus erzählt von einer Frau, die bereits seit zwölf Jahren an schweren Blutungen leidet und Jesus aufsucht, in der festen Überzeugung, dass die bloße Berührung seines Kleides ihr Genesung bringen würde: „Und siehe, ein Weib, das zwölf Jahre den Blutgang gehabt, trat von hinten zu ihm und rührte seines Kleides Saum an. Denn sie sprach bei sich selbst: Möchte ich nur sein Kleid anrühren, so würde ich gesund“ (Mt 9, 20-21). Gerade die Idee der Transferierbarkeit mythischer oder heilsamer Kräfte funktionierte auch für das Symbol der Fahne. Die neu „konsekrierten“ Fahnen wurden nach dem Weihungsritual über ganz Deutschland verteilt. Sie sollten das Volk an ihre Gehorsamspflicht erinnern und galten als eine visuelle Gedächtnishilfe an das Blut, das bereits für die Bewegung vergossen worden war. Gerade durch die rote Farbe der Fahne waren die Märtyrer omnipräsent.678 Dieses Weihungsritual der Fahnen scheint Menzel in seinem oben bereits erwähnten Gedicht „Jugend, wir tragen die Fahnen“ (HM11/12) vor Augen zu haben.

Jugend, wir tragen die Fahnen, Die unser Führer geweiht. Wie sie uns rauschen, so ahnen Wir schon die kommende Zeit. (HM11/12, V.14-17)

Die geweihte Fahne erscheint als eine quasireligiöse Reliquie und enthält sogar ein gewisses Versprechen auf eine bessere Zukunft, weshalb sie auch zu einem wichtigen Symbol in der nationalsozialistischen Heilslehre wird. In verschiedenen Gedichten erscheint die Fahne zudem als ein Lichtsymbol, wie etwa in „Von unserm Schritt“ (HM38). So heißt es zunächst am Ende der ersten Strophe ganz allgemein: „Hier geht der Weg, die Fahne schreitet vor“ (HM38, V.4). Die Fahne führt die Bewegung in der dritten Strophe aber auch „im Dunkel“ (HM38, V.9), denn indem „die Fahne glüht, […] leuchten die Standarten“ (HM38, V.11). Laut Knoche dient die mystische Kraft der Fahne als ein leuchtendes, führendes Licht und als eine Quelle der Kraft in dunkeln Zeiten. Wenn man sich der Fahne völlig hingibt, so folgert Knoche, wird sie zur Quelle der Erlösung.679 Im hier als letztes Beispiel angeführten Gedicht versucht Menzel die „Heiligkeit“ der Fahne dadurch zu beweisen, indem er einfach unterstellt, dass Gott selber „in“ der Fahne ist.

677 Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 111-112. 678 Ebd. 679 Ebd., 108.

200

Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

In unsern Fahnen lodert Gott

Nun gilt nicht hüh, nun gilt nicht hott: Sturm! blasen die Trompeten. In unsern Fahnen lodert Gott, Wir kämpfen wie wir beten. 5 Nichts hält uns ab, nicht Zwang, nicht Spott, Der Marsch ist angetreten!

Gott will kein Dach, Gott will kein Haus, Wenn wir die Stuben lassen, Er zieht mit uns zum Kampfe aus 10 Und segnet unser Hassen. Wir halten ihn im Sturmgebraus, Wenn wir die Fahne fassen.

In unsern Fahnen lodert Gott, Drum wir sie heilig nennen. 15 Drum gegen Lug und Trug und Spott Zum Sturme wir anrennen. Und wer da fällt, der stirbt für Gott, Zu dem wir uns bekennen.

Der hat zu ihm sich nie bekannt, 20 Der bleibt, wenn wir marschieren. In dem ist Gott noch nie entbrannt, Der will, daß wir verlieren. Doch er durchglüht das ganze Land, Wird uns zum Siege führen!

25 So pressen unsre Hände wir Nur fester um die Waffen. So wie wir kämpfen, beten wir; So wie wir fallen, glauben wir! Gott segne Wehr und Waffen, 30 Die du zum Kampf erschaffen! (HM15/16)

Besonders in der dritten Strophe betont Menzel, dass gerade die Anwesenheit von „Gott“ in der Fahne dazu führt, dass „wir sie heilig nennen“ (HM15/16, V.14). Auch in diesem Gedicht fallen religiös konnotierte Wörter wie „beten“ (HM15/16, V.4, 27), „segnen“ (HM15/16, V.10, 29) und „glauben“ (HM15/16, V.28), sowie die Formel „Gott / zu dem wir uns bekennen“ (HM15/16, V.17-18) gleich ins Auge. Außerdem wird „Gott“ selber in allen fünf Strophen mindestens einmal genannt. In diesem Gedicht erscheint die Fahne

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Am Beispiel Herybert Menzels eindeutig als ein Symbol des Kampfes. Hansjakob Becker sieht gerade darin einen wichtigen Unterschied zu den christlichen Heilssymbolen. So sei die Hakenkreuzfahne als ein „Sakrament“ zu betrachten, das die Einheit zwischen „Führer“ und Nation im Blut repräsentiere. Becker kontrastiert die Fahne in diesem Kontext mit dem christlichen Sakrament der Eucharistie, die das Opfer Jesu am Kreuz und dadurch die Einheit zwischen Christus und der Kirche im Heiligen Geist darstellt. Allerdings interpretiert er die Eucharistie als das „Siegel der Erlösung“, während die Fahne das „Siegel der Pflicht“ darstelle: „The Eucharist is a sacrament of peace; the flag is a ‚sacrament of struggle‘.“680 Gerade die Anwesenheit von religiös konnotierten Wörtern macht aus diesem „Kampf“ (HM15/16, V.9, 30) fast einen Kreuzzug, in dem die „Fahne“ (HM15/16, V.12) als heiliges Symbol mitgetragen wird. „Gott“ scheint in diesem quasi heilig erklärten Kampf auf der Seite der Nationalsozialisten zu stehen, denn „er zieht mit uns zum Kampfe aus“ (HM15/16, V.9) und wird sie wegen ihres Glaubens sogar „zum Siege führen“ (HM15/16, V.24). Allerdings erscheint der hier siebenmal erwähnte Gott durchaus als „unchristlich“, indem er an bloß eine Nation und eine Fahne gebunden zu sein scheint. Laut Schreckenberg sei der ursprünglich christliche Gott in diesem Gedicht zum ideologischen Helfer des Nationalsozialismus und dessen Messias Hitler geworden.681 Laut Knoche versucht Menzel mit diesem Gedicht Begeisterung für die nationalsozialistische Bewegung auszulösen und diejenigen, die sich noch nicht engagiert haben, gerade durch die religiösen Assoziationen dazu zu überzeugen.682 Dabei scheint es von großer Bedeutung zu sein, die Fahne zu einem „heiligen“ Symbol zu erklären. Mittels schlichter Wiederholung versucht Menzel seine Leser davon zu überzeugen, dass Gott „in unsern Fahnen lodert“ (HM15/16, V.3, 13) und also aufseiten der Nationalsozialisten steht.

2.4 Männer und Frauen – Eine unterschiedliche „Mission“

Obwohl die affirmative NS-Dichtung die nationalsozialistische Volksgemeinschaft in ihrer Gesamtheit als ein – exklusives – Kollektiv darstellt, fokussiert sie in ihrer Darstellung in erster Linie auf die männlichen Mitglieder dieser Gemeinschaft. In diesem Sinne scheint sie die patriarchale Struktur des nationalsozialistischen Regimes richtig zu fassen, denn wie so viele andere politische Regimen war der faschistische Staat ein Männerstaat. Bereits seit der Parteigründung wurden Frauen von Leitungspositionen ausgeschlossen und auch unter der NS-Herrschaft dominierten Männer in allen nationalsozialistischen Organisationen und Verbänden, abgesehen von der NS-Frauenschaft. Außerdem merkt Elke Nyssen an, dass der Begriff „Frau“ im Schlagwortregister von Hitlers Mein Kampf nicht

680 Becker: Liturgy in the service of power. The National Socialist cult of the dead as a secularised Christian paschal celebration, 36. 681 Vgl. Schreckenberg: Ideologie und Alltag im Dritten Reich, 478. 682 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 114-115.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ auftaucht.683 Auch in Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft ist die Frau auffällig unterrepräsentiert. Die Suche nach dem einfach Schlagwort „Mann“ weist als Resultat bereits sechzehn unterschiedliche Gedichte auf – und dann wurden alternative männliche Bezeichnungen wie „Soldat“, „Kamerad“, „Bauer“ oder „Arbeiter“ noch außer Acht gelassen. Das Schlagwort „Frau“ lässt sich dagegen nur in einem Gedicht finden, und zwar in „Frauen sind Heimat“ (HM53), dessen Titel bereits etwas über das nationalsozialistische Frauenbild aussagt. Wenn zusätzlich auch nach den Bezeichnungen „Mutter“ und „Mädchen“ gesucht wird, scheint die Frau in nur sechs weiteren Gedichten erwähnt zu werden. Dieser letzte Analyseteil fokussiert schließlich auf die von Menzel skizzierten Aufgaben des Mannes und der Frau als Mitglieder der Volksgemeinschaft und ganz besonders wird dabei nachgewiesen, inwiefern ihre Tätigkeiten als eine Art „heilige Mission“ zu verstehen wären.

2.4.1 Das Ideal des „streitbaren Mannes“

Bereits in den vorigen Analyseteilen wurde deutlich, dass die Hauptaufgabe des Mannes in erster Linie im Kampf für das Vaterland liegt. Im Kontext der nationalsozialistischen Märtyrerstilisierung wurde erklärt, wie der Mann sich nach dem Vorbild der Kriegssoldaten und der ersten Märtyrer der Bewegung in gleicher Begeisterung zum vaterländischen Opfer bereit erklären sollte. So kennzeichnet Menzel den Mann im folgenden Gedicht denn auch eindeutig als „streitbar“:

Der streitbare Mann

Aufwächst der Mann im Bund der Kameraden, Sein Ziel ist Ehre und sein Ruhm die Tat. Früh wird er schon von schwerer Pflicht beladen, Die fordert er als seiner Volks Soldat. (HM52, V.1-4)

Gerade in dieser ersten Strophe werden die „Ehre“ und der „Ruhm“ (HM52, V.2) als Ziel des Mannes unterstrichen. Interessant ist, dass dieses Gedicht an einer standesamtlichen Hochzeit eines jungen Paares in Posen rezitiert wurde.684 Seine „Pflicht“ scheint dem Manne schon „früh“ (HM52, V.3) erkennbar zu werden, und zwar die Pflicht als des „Volks Soldat“ (HM52, V.4). Im ganzen Gedicht wird die Frau nicht erwähnt. Menzel hebt in den

683 Elke Nyssen: Frauen und Frauenopposition im Dritten Reich. In: Erziehung im Nationalsozialismus: „–und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben!“ Hg. v. Kurt-Ingo Flessau et al. Köln, Wien: Böhlau 1987, 26. 684 Vgl. Christian Ingrao: Hitlers Elite: Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords. Ullstein eBooks 2012, 91.

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Am Beispiel Herybert Menzels letzten zwei Verszeilen sogar explizit hervor, dass das Volk ein eindeutig „männliches“ Volk ist:685

Ein männlich Volk im Kampf um seine Ehre, Ein männlich Volk im Kampfe um sein Recht. (HM52, V.15-16)

Der Mann als „Volkssoldat“ müsste also zu jeder Zeit für das Vaterland kämpfen und sich darüber hinaus stets in den Dienst der Volksgemeinschaft stellen, was an die nationalsozialistische Interpretation der „Kameradschaft“ erinnert. Dass das Opfer für das Vaterland durchaus auf eine sakrale Ebene erhoben wurde, wurde im vorigen Abschnitt schon ausführlich behandelt. Dass auch alltägliche Tätigkeiten religiös aufgewertet wurden – zumindest in der NS-Propaganda – zeigt sich im folgenden Gedicht:

Aufruf zum Opfer

Dir stand das Feld in Garben, Du fuhrest ein dein Brot. Da stehen die, die darben, Die nichts als Gram erwarben 5 Und sehn dich an in Not.

Sie stehen leidverregnet Und wie versteint im Schrei. Da du der Not begegnet Und selber wardst gesegnet, 10 Geh achtlos nicht vorbei

Dir hat das Glück geschienen, Erheb dich nicht mit Spott. Verbunden bist du ihnen, Du mußt dem Volke dienen, 15 Am Armen prüft dich Gott.

Dir ward nur Saat gegeben Wie gutem Ackerland. Was wird zu Lichte streben? Wie dienst du allem Leben? 20 Wardst fruchtbar du anerkannt?

685 An der erwähnten Hochzeit wurde nach diesem Gedicht ein anderes Gedicht von Herybert Menzel rezitiert, dass die Aufgaben der Frau thematisiert. Dieses Gedicht mit dem Titel „Frauen sind Heimat“ (HM53), das auch im Gedichtband Gedichte der Kameradschaft gleich auf „Der streitbare Mann“ (HM52) folgt, wird im nächsten Abschnitt unter die Lupe genommen.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

Der hat auf uns verzichtet, Der nur für sich erwirbt. Das Volk steht auf und richtet. 25 Wir sind ihm nicht verpflichtet. Und seine Seele stirbt. (HM18)

Die Dienstbarkeit dem Volke gegenüber betont Menzel besonders in der dritten Strophe, indem das Dienen des Volkes quasi als ein Gebot erscheint. Ganz eindeutig klingt auch in der letzten Strophe, dass wer „nur für sich erwirbt“ (HM 18, V.22), im Grunde auf die Volksgemeinschaft „verzichtet“ (HM18, V.21). Die religiöse Aufwertung dieser individuellen Dienstbarkeit zugunsten des Kollektivs zeigt sich in der direkten Verbindung mit Gott in der Wendung „am Armen prüft dich Gott“ (HM18, V.15). Außerdem bedient sich Menzel mit „Brot“ (HM18, V.2), „segnen“ (HM18, V.9), „Saat“ (HM18, V.16) – und in dem Kontext auch „Ackerland“ (HM18, V.17) – und „Seele“ (HM18, V.25) bewusst der christlich-biblischen Symbolsprache. Eine besondere biblische Referenz scheint die zweite Strophe zu enthalten. Wenn man „der Not begegnet“ (HM18, V.8) sollte man nicht „achtlos“ (HM18, V.10) vorbeigehen. Gerade in dieser Aufforderung könnte man eine Parallele zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter ziehen. Dieses Gleichnis, das Jesus im Lukas-Evangelium686 erzählt, gehört vielleicht zu den bekanntesten Gleichnissen schlechthin. Gerade in der Dienstbarkeit findet auch der Nationalsozialist Erlösung, im Gegensatz zu demjenigen, der das nicht tut, denn „seine Seele stirbt“ (HM18, V.25.)

2.4.2 Die Frau als Mutter

Auch die Frau hat ihre bestimmte Mission im Rahmen der Volksgemeinschaft, auch wenn ihre Pflichten sich weniger auf den öffentlichen Raum konzentrieren. So erläuterte Adolf Hitler die unterschiedlichen Aufgaben von Männern und Frauen in einer Rede vor der NS- Frauenschaft am 8. September 1934:

Wenn man sagt, die Welt des Mannes ist der Staat, die Welt des Mannes ist sein Ringen, die Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft, so könnte man vielleicht sagen, daß die Welt der Frau eine kleinere sei. Denn ihre Welt ist ihr Mann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Haus.687

Dass sich der Raum der Frau auf das private und Familienleben beschränkte, tritt auch aus Menzels Gedichtband hervor. So erwähnt er sie fünfmal mit der Bezeichnung „Mutter“ und nur einmal mit der allgemeineren Benennung „Frau“. In den Gedichten „Die schweigenden Mahner“ (HM33), „Chor der Gefallenen“ (HM34) und „Ihr von der Feldherrnhalle“ (HM35) werden sie bloß als „Mütter“ der bereits verstorbenen Märtyrer erwähnt. Auch in „Frauen sind Heimat“ (HM53), das nach dem Gedicht „Der streitbare

686 Lk 10, 25-37. 687 Hitler zit. in Domarus (Hg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1,450 .

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Am Beispiel Herybert Menzels

Mann“ (HM52) an der Hochzeit in Posen vorgelesen wurde, wird ihre Aufgabe als Mutter hervorgehoben:

Frauen sind Heimat

Im starken Volke dienen still die Frauen, Sie sind die Heimat und sie sind das Haus. Wenn Männer wagen, schenken sie Vertrauen, Was Männer schaffen, schmücken sie erst aus.

5 Sie sind die frohe Mütter stolzer Söhne, Die wollen sie als ihren hellsten Ruhm. Sie tragen in die Jahre alles Schöne, Sie wirken für ein hohes Menschentum.

Von solchem Volke wird viel Kraft genommen, 10 Was leuchten soll, muß stark durch Leiden gehn. Und wenn das Schwere düster ist gekommen, Groß muß die Frau dem Mann zur Seite stehn. (HM53)

Während im Gedicht „Der streitbare Mann“ (HM52) die Frau nicht mal erwähnt wurde, erscheint die Frau im obigen Gedicht schon im Kontrast zum Manne: sie sind Teil des „starken“ Volkes (HM53, V.1). In jeder Aufgabe scheint die Frau dem Manne unterlegen oder dienstbar zu sein. Wenn der Mann etwas „wagt“, schenkt die Frau ihm bloß „Vertrauen“ (HM53, V.3). Während Männer etwas „schaffen“, soll die Frau nur „schmücken“ (HM53, V.4). Die Hauptaufgabe der Frau besteht aus nationalsozialistischer Perspektive darin, „ein hohes Menschentum“ (HM53, V.8) zu erzeugen. In ihrer Rolle als „Mütter stolzer Söhne“ (HM53, V.5) kommt den Frauen dann auch die größte Ehre zu. In diesem Kontext merkt Nyssen an, dass sich die Frauenideologie im Nationalsozialismus in folgenden zwei Punkten zusammenfassen lässt: „Einerseits Funktionalisierung der Frau als Gebärerin – wobei natürlich nur die arischen Frauen gemeint waren –, andererseits und gleichzeitig die Glorifizierung und damit Aufwertung der Frau als Mutter“.688 Dieses enge Frauenbild führte unter anderem zu einer Änderung in der Steuergesetzgebung im Jahre 1939, die die Steuerklasse auf Grund der Anzahl geborener Kinder in den letzten fünf Jahre bestimmte. Der Fokus auf der Mutterrolle führte auch zu einer Verbesserung der Schwangerschaftsbedingungen und der Kinderfürsorge. Außerdem wurden Frauen auch je nach Kinderzahl mit einem bestimmten „Mutterkreuz“ ausgezeichnet.689 In Menzels

688 Nyssen: Frauen und Frauenopposition im Dritten Reich, 28. 689 Vgl. ebd., 30.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“

Gedichtband wurde die Mutterrolle der Frau im vorletzten Gedicht „Stern über den Hütten“ (HM56) und dann besonders in der letzten Strophe religiös aufgewertet:

Über den ärmlichen Hütten Steht es wie Weihnachtsschein. Für das kommende Große Ist keine Hütte zu klein. Alle wollen wir dienen, Gläubigen Herzens und rein, Jede werdende Mutter Soll uns Maria sein. (HM56, V.16-23)

Mit der Beschreibung von „ärmlichen Hütten“ (HM56, V.16), dem bereits im Titel genannten „Stern“, der „über den Hütten“ steht und dem explizit genannten „Weihnachtsschein“ (HM56, V.17) appelliert Menzel in diesem Gedicht an der christlichen Weihnachtsgeschichte. Während in der christlichen Tradition an Weihnachten der Geburt Christi gedacht wird, bleibt undeutlich, welche „kommende Große“ (HM56, V.18) in diesem Gedicht erwartet wird. Allerding wird die Mutterrolle der Frau explizit religiös gewertet, indem jede Mutter der Mutter Gottes, und zwar „Maria“ (HM56, V.23) gleichgestellt wird.

3. Zwischenfazit - Die religiöse Ebene der Volksgemeinschaft in der affirmativen NS-Dichtung

Obwohl am Ende der literarischen Analyse noch auf die Sakralisierung der unterschiedlichen „Mission“ von Männern und Frauen in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft hingewiesen wird, erweist sich die größte Kraft der sakralisierten Volksidee in der Märtyrerstilisierung der Toten der Bewegung. Eine solche Darstellung – oder besser Verehrung – von Helden ist in vielen Kulturen und Religionssystemen zu finden. Allerdings gelangte das Heldenideal während der NS-Herrschaft zu einem Popularitätshöhepunkt in der deutschen Geschichte der Neuzeit. Indem dieser Heldenkult sich mit menschlichem Leid und Tod beschäftigt und dazu dient, ein „Sinnproblem“ zu bewältigen, tritt er laut Sabine Behrenbeck ein religiöses Erbe an. In diesem Zusammenhang interpretiert sie den nationalsozialistischen Heldenkult dann auch als ein religiöses Phänomen.690 Das für das als Heilsgeschichte interpretierte heroische Narrativ wichtigste Element ist die Opferbereitschaft des Helden. Gerade wegen seines Opfers für das Gemeinwohl – und zwar aus nationalsozialistischer Perspektive die Volksgemeinschaft

690 Vgl. Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, 17-18.

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Am Beispiel Herybert Menzels und das Vaterland – empfängt der Held nicht nur den Dank und die Verehrung der Geretteten, sondern auch das Versprechen der Unsterblichkeit:

So wird der mythische Held zum Heilbringer, der über den Tod hinaus wirkt und die profane Zeit aufhebt: Er hat den Tod überwunden bzw. ist vom Tod auferstanden. Insofern gibt der Heroismus auch eine weitere Antwort auf die Frage, wie der Mensch mit der Tatsache des Todes umgehen kann. Der Mythos deutet den Tod des Helden als Wechsel der Existenzweise, diese Transformation macht ihn erträglich.691

Indem die nationalsozialistische Propaganda bei der politischen Instrumentalisierung auf das bereits vorhandene Deutungsmuster der christlichen Erlösungslehre und des katholischen Märtyrertodes zurückgreift, erscheint die heroische Stilisierung nicht gerade als originell. Indem religiöse Motive aus der christlichen Tradition transferiert werden, stilisiert der nationalsozialistische Kult ihre „Märtyrer“, so Schreckenberg, nach dem Vorbild der katholischen Kirche.692 Hillerbrand hebt diese Opferbereitschaft als wichtigen Bestandteil der messianischen Bewegung hervor, denn hieraus erwächst eine Erinnerungskultur, die das Selbstverständnis der Bewegung entscheidend bestimme.693 Behrenbeck weist aber auch gleich auf einen wichtigen Unterschied bezüglich der Erlösungserwartung aus traditionell christlicher und nationalsozialistischer Perspektive. Während Jesus seinen Nachfolgern mit seinem Tode die Erlösung schenkt, wird die Wirkung des Opfers in der nationalsozialistischen Neuauslegung in die Zukunft verlegt:

Der Sinn des Opfers musste von den Überlebenden erst noch eingelöst werden. […] Die Erinnerung an die Toten sollte bei den Lebenden eine ähnliche Opferbereitschaft erzeugen. Ein Leben mit derselben Hingabebereitschaft verbürge die Wiederauferstehung des gedemütigten Vaterlandes.694

Nach der Machtübernahme im Jahre 1933, der als Beginn der „Heilszeit“ interpretiert wurde, wurde der Märtyrertod der deutschen Soldaten und der Märtyrer der Bewegung in der Retrospektive als ein Offenbarungsereignis gedeutet: Der Sinn ihres Martyriums und ihres Opfers hat sich so Thieme als richtig erwiesen, denn das Opfer hat sich im Erreichen des Heilzieles erfüllt. Allerdings blieb die Auslegung der Heldenmythen weiterhin ambivalent: „einerseits wurde der 30. Januar als Sieg der NS-Bewegung und Beginn der Heilszeit gedeutet, in deren Vorgeschichte das Opfer der Märtyrer zeitlich verortet wurde; andererseits wurde gleichzeitig die ‚Machtergreifung‘ lediglich als erster Schritt zum Heil

691 Ebd., 67. 692 Vgl. Schreckenberg: Ideologie und Alltag im Dritten Reich, 472; Roßmeißl: Märtyrerstilisierung in der Literatur des Dritten Reiches, 44-46. 693 Hillerbrand: „Es werden viele kommen, und sagen: Ich bin der Messias.“ Eine Meditation über den Messianismus in der Religionsgeschichte, 14. 694 Behrenbeck: Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung, 49.

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Die „heilige Mission“ der „Volksgemeinschaft“ gedeutet“.695 Kurz: „Der Kampf wurde aktualisiert und als ‚noch-nicht-fertig‘ umschrieben“.696 In dieser Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lässt sich auch eine gewisse transzendente Ebene entdecken. Im Rahmen der Identitätskrise des deutschen Volkes nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verschaffen die Heldenmythen Antworten auf die Identitätsfrage über die Grenzen von Geburt und Tod.

In den hypostasierten und substantialisierten Identitätskonstruktionen des Volkes, der Nation, der Rasse, der Ethnie und des Staates wurde schließlich das Kollektiv als Ursprung imaginiert, der als Schoß die Lebenden aus der vitalen Substanz der Toten gebiert. Diese Verbindung von Toten, Lebenden und noch Ungeborenen ist eine imaginäre Verbindung von Ursprung, Status und Zukunft, die als Antwort von der Instanz des Kollektivs erscheint. Kollektive Identität als Band der Lebenden, Toten und noch Ungeborenen wird damit zu einer profanen Transzendenz, die das Jenseits der konkreten Existenz in der Vergangenheit und Zukunft des Kollektivs einschließen soll.697

Gerade die Idee einer „profanen Transzendenz“ im Rahmen der Existenzinterpretation fügt sich gut zur Auffassung von Claus-Ekkehard Bärsch, dass der Mensch, auch wenn er Religion und Politik zu trennen versucht, weiterhin von religiösen Denkmustern abhängig ist.698 Diese profane Transzendenz ermöglicht dem Volk zudem das Versprechen auf Unsterblichkeit. So führt Behrenbeck aus, dass dem Kriegstod selber die Aura eines sakralen Aktes zukam, denn der Opfertod der Soldaten wurde quasi als eine Wiederholung der Passion Christi dargestellt: Ihre Niederlage und in dem Sinne ihr „Leiden“ habe zur Auferstehung und so auch zur Unsterblichkeit der Nation geführt.699 Dabei sei nicht das Einzelschicksal des Helden, sondern seine Erlösungsfunktion für die Gemeinschaft von zentraler Bedeutung.700 Hansjakob Becker betont in diesem Kontext die Unbedeutsamkeit des Individuums aus nationalsozialistischer Perspektive. Nur als Mitglied der Nation, die das „ewige“ Blut in sich trägt, könne das Individuum unsterblich werden.701

Genau in diesem Zusammenhang sei auch die religiöse Aufwertung des Glaubensartikels „Volk“ in der affirmativen NS-Dichtung von Herybert Menzel, Heinrich Anacker und

695 Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), 165. 696 Ebd. 697 Berghoff: Das Phantasma der „kollektiven Identität“ und die religiösen Dimensionen in den Vorstellungen von Volk und Nation, 70-71. 698 Claus-Ekkehard Bärsch: Nation, Volk und Volksgeist als Gegenstand der Religionspolitologie. Zum problem der Kontinuität kollektiver Identität. In: Aktuelle Probleme der politischen Wissenschaft, dargestellt von VertreterInnen des Faches an der Gerhard-Mercator-Universität - Gesamthochschule - Duisburg. Geschenkband zur Verabschiedung von Frau Prof. Dr. Heidrun Abromeit (1994), 3. 699 Behrenbeck: Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung, 50. 700 Ebd., 53. 701 Becker: Liturgy in the service of power. The National Socialist cult of the dead as a secularised Christian paschal celebration, 44.

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Am Beispiel Herybert Menzels

Gerhard Schumann zu verstehen. Auch wenn sich die Analyse in diesem Kapitel ausschließlich auf die stilisierte Opferbereitschaft des Volkes in Menzels Gedichtband Gedichte der Kameradschaft beschränkt hat, erweist sich dieses Thema als besonders wichtig in der affirmativen NS-Dichtung im Allgemeinen. Gerhard Schumann bezieht sich in seiner Anthologie Die Lieder vom Reich nirgends explizit auf die „Gefallenen der Bewegung“. Trotzdem betont er im dritten Sonett des Zyklus „Die Lieder vom Reich“, dass das Reich „aus Blut und Erde“ (GS18, V.14) wuchs. Im fünften Sonett desselben Zyklus scheint Schumann zudem auch der verstorbenen Soldaten zu gedenken, indem er dichtet „Die Besten tot, verblutet auf den Feldern“ (GS20, V.5).

Genauso wie Menzel thematisiert Anacker die Opferbereitschaft der sogenannten „Gefallenen der Bewegung“ viel expliziter. Bereits in seinem Eröffnungsgedicht bezieht er sich auf diejenigen, die „tapfer und löwengleich / In Flandern und Rußland“ (HA11/12, V.18- 19) gekämpft haben und gefallen sind. Wie bereits erwähnt, beschreibt er im Gedicht „Ewiges Deutschland“ (HM28) die singenden Regimenter, die bei „Langemarck“ (HA28, V.8) untergegangen sind. In seinem Gedicht „Die Blutfahne“ (HA87) thematisiert Anacker dann wieder den Tod der Putschisten im „November Dreiundzwanzig“ (HA87, V.2). Sowohl die im Titel und im Gedicht erwähnten „Blutfahne“ (HA87, V.16) als auch die zweimal wiederholte und vollständig ausgeschriebene Jahreszahl „Dreiundzwanzig“ (HA87, V.2, 16) lassen keine Zweifel darüber bestehen, welcher „Toten“ (HA87, V.1) Anacker in diesem Gedicht gedenkt. Außerdem erscheint die „Fahne“ auch in diesem Gedicht als eine quasireligiöse Reliquie, indem Anacker sie als „heiliges Tuch“ (vgl. HA87, V.5), das „das ganze deutsche Volk […] erweckt“ (HA87, V.15) hat, beschreibt. Aufgefordert vom Symbol der Fahne und „vom Geiste des toten Kam’raden durchdrungen“ (HA54, V.7) zeigt sich das Volk auch in Anackers Dichtung dazu bereit, für „Deutschlands Auferstehn“ (HA14, V.12; HA24, V.7) zu kämpfen und gegebenenfalls zu sterben.

Obwohl die sakralisierte Aufwertung der Volksgemeinschaft in der NS-Dichtung auch das „Volk“ als Glaubensartikel in der (2) doktrinär-philosophischen Dimension der nationalsozialistischen (politischen) Religion einordnen lässt, hat es in diesem Kapitel auch mehrere Hinweise auf die (1) rituell-praktische Ebene der (politischen) Religion gegeben. Besonders die Stilisierung der „Märtyrer der Bewegung“ fand seinen rituellen Widerklang im jährlichen „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“. An diesem Gedenktag wurden chorische Dichtungen von unterschiedlichen NS-Autoren aufgeführt, die den misslungenen Putschversuch im Jahre 1923 als eine wahre Tragödie darstellten und auf als ein wahres Martyriums darstellten.702

702 Klaus Vondung interpretiert in seiner Dissertation verschiedene Passagen aus chorischen Dichtungen für Feiern an diesem Gedenktag im Rahmen des „Mythos von der ideologischen Unsterblichkeit“. Für näheres zu diesem Thema vgl. Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, 159-171.

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VIII Fazit

Abschließende Bemerkungen über Repräsentativität und Schuld

Fazit

Als Dichter der „Jungen Mannschaft“ waren Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel prominente Persönlichkeiten im „Dritten Reich“. Ihre Gedichte wurden nicht nur in diversen Anthologien aufgenommen, sondern auch in Zeitungen abgedruckt oder im Rundfunk ausgestrahlt. Als „liturgische Texte“ erfüllte ihre Feier- und Weihedichtung zudem eine spezifische Rolle an den jährlich wiederkehrenden Staats- und Parteifeiertagen des NS-Regimes, die im Rahmen der „Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf“703 als einer Art kanonischen Feierkalenders nach christlichem Beispiel organisiert wurden. Auch in der Schule und in Jugendorganisationen wie dem Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädel wurde ihre Dichtung weitgehend rezipiert. Darüber hinaus wurden Anacker, Schumann und Menzel für ihre lyrische Produktivität mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ihre Dichtung wurde in dieser Arbeit denn auch als exemplarisch für die nationalsozialistische Dichtung im Ganzen herangezogen. In diesen abschließenden Bemerkungen sollen noch zwei Reflexionen formuliert werden. Zunächst geht dieses Kapitel auf die Repräsentativität des in der nationalsozialistischen Dichtung benutzten religiösen Diskurses ein, schließlich hat diese Arbeit seiner Verfasserin auch dazu gebracht, sich über die „Schuldfrage“ zu besinnen.

Die vorliegende Arbeit hatte für die ideologiekritische Textanalyse eine strikte Dreiteilung vorausgesetzt, und zwar die Interpretation der messianischen Stilisierung des „Führers“ in Anackers Gedichtband Die Fanfare, die sakrale Gestaltung des „Reiches“ in Schumanns Anthologie Die Lieder vom Reich und den besonderen Fokus auf die Märtyrerstilisierung im Rahmen der religiösen Aufwertung des „Volkes“ in Menzels Gedichte der Kameradschaft. Allerdings hat sich diese Dreiteilung gerade wegen der ideologischen Verknüpfung dieser drei Ideologeme als sehr künstlich und fast unhaltbar erwiesen. Bereits auf lexikalisch-semantischer Ebene hat sich gezeigt, dass die drei Dichter aus einem selben christlich-religiösen Vokabular schöpfen. Aber auch hinsichtlich der Symbolik und Motivik lassen sich Parallele zwischen den drei Autoren ziehen. Die messianische Darstellung, das Motiv der Auferstehung,704 die religiös anmutende Märtyrerstilisierung, die Licht-Dunkel-Symbolik, das Brot-und-Wein-Symbol, die deutsche Mutter als eine Maria-Figur, … all diese Motive und Symbole gehören zu einem christlich-religiösen Diskurs, dessen sich Anacker, Schumann und Menzel in ihrer politischen Dichtung bedienen, um die nationalsozialistischen Ideologeme „Führer“, „Reich“ und „Volk“ zu quasireligiösen Höchstwerten zu steigern. Außerdem sind Anacker, Schumann und Menzel überhaupt nicht die einzigen Dichter – nicht mal die einzigen Nationalsozialisten –, die sich eines solchen religiösen Diskurses im Zusammenhang mit den drei fokussierten nationalsozialistischen Ideologemen bedienten. Auch andere

703 Ebd., 39. 704 Das Motiv der Auferstehung wird nicht nur zur Sakralisierung des „Reiches“, sondern auch des „Führers“ angewandt. Vgl. Anneleen Van Hertbruggen: Christian Resurrection as a Propaganda Tool in Heinrich Anacker's Nazi Poetry - The sacralization of Reich and Führer. In: Focus on German Studies 24 (2017), 19-32.

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Über Repräsentativität und Schuld nationalsozialistische Dichter wie Baldur von Schirach, Herbert Böhme, Hans Baumann, Richard Euringer, Will Vesper, Eberhard Wolfgang Möller und Hella Reuter schöpften für ihre Dichtersprache aus der gleichen christlichen Tradition, weshalb eine ideologiekritische Analyse ihrer Gedichte zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen würde.

Darüber hinaus lässt sich belegen, dass nicht nur nationalsozialistische Dichter in ihrer poetischen Darstellung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ eine christlich-religiöse Bildersprache anwandten, sondern dass dieser Diskurs auch in nicht-fiktiven Kontexten benutzt wurde. So haben sich auch Adolf Hitler und Joseph Goebbels in ihren politischen Reden eines ähnlichen religiösen Diskurses bedient und verwendeten nationalsozialistische Germanisten in ihren literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Interpretation zeitgenössischer Dichtung und zur Beschreibung der „Aufgabe“ des Dichters eine religiös anmutende Sprache. Darüber hinaus zeugte Victor Klemperer davon, wie auch die Alltagssprache im nationalsozialistischen Deutschland immer mehr religiöse Züge aufwies und zeigte Klaus Vondung in seiner Dissertation die Parallelen zwischen nationalsozialistischen Feiern und christlichen Liturgien auf. Diese scheinbare Allgegenwärtigkeit des religiösen Diskurses im nationalsozialistischen Deutschland lässt sich anhand des von Peter Zima im Rahmen seiner Textsoziologie neudefinierten Begriffs „Soziolekt“ erläutern.

Zima betrachtet die Sprache des Nationalsozialismus als eine spezifische „Gruppensprache“ oder einen „Soziolekt“. Eine solche Sprache ist kein „statisches System“, sondern ein „Ensemble von historischen Strukturen, deren Entwicklung eng mit den Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen zusammenhängt“.705 Deswegen sind „Soziolekte“ laut Zima dazu verurteilt, „unablässig miteinander zu konkurrieren, einander zu kritisieren“ – und für diese Arbeit wichtiger noch – „einander intertextuell-parasitär aufzunehmen und miteinander in Symbiosen zu verschmelzen“.706 Auch der nationalsozialistische „Soziolekt“ lässt sich in diesem Zusammenhang als ein „Ensemble von Diskursen“,707 die miteinander dialogieren, verstehen. Da aus dem nationalsozialistischen Soziolekt auch ein pointiert religiöser Diskurs hervorgeht, der mit völkischen, biologischen, antisemitischen, politischen und anderen Diskursen konkurriert und dialogiert, lässt sich erklären, weshalb sich eine religiöse Bildlichkeit in unterschiedlichen Kontexten und auch in Verbindung mit einer politischen Sprache – wie in den für diese Arbeit fokussierten Gedichten oder in politischen Reden – aufweist. Dieser religiöse Diskurs zeigt sich zunächst symptomatisch auf lexikalischer Ebene, viel interessanter sind aber die semantischen und narrativen Strukturen, in denen sich die nationalsozialistischen Inhalte und Ideen niederschlagen, wie beispielsweise anhand des

705 Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, 238. 706 Ebd., 416. 707 Ebd., 250.

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Fazit

Motivs der Auferstehung, das auch Will Vesper in seinem Gedicht „Das neue Reich“ verarbeitet:

Sechs Jahre nur – und dem Wunder gleich stieg aus dem Schutte das Neue Reich, ein Reich des Friedens, ein Reich in Waffen, von Einem gewollt und von Einem geschaffen708

Die ersten vier Zeilen dieses längeren – 47 Zeilen umfassenden und im Jahre 1939 verfassten – Gedichtes veranschaulichen bereits das Zusammenspiel eines politischen, religiösen und historischen Diskurses: Das christliche Motiv der Auferstehung ist auf intertextueller Ebene auf die christlich-biblische Tradition zurückzuführen, in der die Bibel als „kultureller Text“ zum kollektiven Gedächtnis der Nation gehört und deren Bilder also zur gesamten und zeitlosen Bildlichkeit der Kultur aufgenommen sind. In diesem Gedicht stellt Vesper das Motiv der Auferstehung aber in einen sehr spezifischen historisch-politischen Kontext. Mit der Zeitangabe „sechs Jahre nur“ datiert Vesper den Anfang des „Reich[es] des Friedens“ präzise im Jahre der Machtübernahme, und zwar im Jahre 1933. Im nationalsozialistischen Sinne sei die „Auferstehung“ aus dem „Schutte“ als die Errettung aus der Weimarer Krisenzeit zu verstehen. Außerdem lässt sich anhand des großgeschriebenen „Einem“ auch die Verknüpfung vom Reichsgedanken mit der Person des „Führers“, der genauso wie in Schumanns und Menzels Dichtung als der „Eine“ dargestellt wird, erkennen. Auch die messianische und Märtyrerstilisierung sowie die dem Neuen Testament entlehnten Symbole und Motive haben sich in der nationalsozialistischen Sprache als beliebte semantische Strukturen in Kombination mit einem pointiert politischen Diskurs erwiesen.

Die in dieser Arbeit fokussierte Verflechtung von einem religiösen und politischen Diskurs in nationalsozialistischer Dichtung und zwar die Kombination von „Führer“ und Messias, „Reich“ und Motiv der Auferstehung und „Volk“ und Märtyrerstilisierung beschränkt sich also nicht auf die nationalsozialistische Dichtung von Anacker, Schumann und Menzel, sondern erweist sich als eine beliebte Strategie in der nationalsozialistischen Sprache im Ganzen. Gerade in der ständigen Wiederholung dieser religiös aufgewerteten Ideologeme lag die propagandistische Funktion der NS-Dichtung. Der polnische Sprachwissenschaftler Jacek Makowski sieht in diesem „Verfahren der Wiederholung“ sogar eine wichtige Technik der Überredung bzw. der Manipulation, bei der „bestimmte Lexeme, Phrasen, Komponenten oder aber auch gesamte Motive multipliziert werden, was auf das Erreichen der gewünschten, dem Redner bzw. Agitator genehmen Wirkung abzielt“.709 Gerade dieser manipulierende Charakter der nationalsozialistischen

708 Zit. in Graeb-Könneker (Hg.): Literatur im Dritten Reich 261-262, V. 1-4. 709 Jacek Makowski: Zur Multiplizierung in der politischen Sprachmanipulation. In: Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica 5 (2009), 5.

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Über Repräsentativität und Schuld

Dichtersprache bringt diesem Kapitel zu seinem zweiten Bedenken, und zwar der „Schuldfrage“.

Herybert Menzel fiel im Februar 1945 in Tirschtiegel710 und erlebte das Ende des Zweiten Weltkrieges und den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes also nicht mehr. Heinrich Anacker und Gerhard Schumann wurden im Zuge der Entnazifizierung als „Minderbelastete“ eingestuft.711 Besonders für Schumann ist belegt, dass gerade die religiösen und metaphysischen Züge in seiner Dichtung zu seiner Einstufung als „Minderbelasteten“ beigetragen haben, was aber im Schwäbischen Tageblatt als „Fehlurteil“ scharf kritisiert wurde: „Er wird die ‚Lieder der Länder‘, Hymnen, ‚Sonette des Friedens‘ zeugen und den ‚Führer‘ wieder durch den lieben Gott ersetzen. Das kann ihm doch nicht schwerfallen als Minderbelasteter mit Talent“.712 Auch wenn die „Schuldfrage“ kein vorgesehenes Thema der vorliegenden Arbeit war, kam sie im Laufe der Forschung immer wieder auf. Denn, als Mitglieder der NSDAP und als Parteifunktionäre haben auch Anacker, Schumann und Menzel aktiv am nationalsozialistischen Regime mitgearbeitet. Als engagierte und produktive Parteidichter haben sie die nationalsozialistische Ideologie, die doch im Grunde antisemitisch war und an ihrem Höhepunkt Auschwitz ermöglicht hat, dichterisch gestaltet und verbreitet. Gerade innerhalb des heutigen europäischen sogar globalen Weltgeistes, der erneut Züge der Radikalisierung aufweist und in dem social media wie Facebook, Twitter und weitere online Kanäle an die Stelle der traditionellen Massenmedien getreten sind, lässt sich erneut über die Frage nach „Schuld“ und „Verantwortung“ nachdenken, und dann im Besonderen: Ist man schuldig, wenn man einer bestimmten – grundsätzlich zu Verbrechen aufrufenden – Überzeugung oder Ideologie anhängt, ohne direkt an diesen Verbrechen teilzuhaben, und ist man bereits (mit-)verantwortlich, wenn man diese Überzeugungen in reinen Worten, wie etwa in Tweets oder Dichtung, fasst?

In diesem Zusammenhang leuchtet Karl Jaspers‘ analytische Auseinandersetzung mit der Frage nach „Schuld“ und „Verantwortung“ in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen ein. In seiner 1946 erschienen Studie Die Schuldfrage unterscheidet der deutsche Philosoph vier Kategorien der Schuld: die kriminelle, die politische, die moralische und die metaphysische Schuld.713 Mit dem Begriff der kriminellen Schuld bezieht sich Jaspers auf objektiv-strafrechtlich feststellbare Gesetzesverstöße von

710 Vgl. Hillesheim und Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, 327. 711 Für Anacker vgl. o.N.: Anacker als Minderbelasteter eingestuft. In: Neue Württembergische Zeitung (20.08.1948). Zeitungsauszug, aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (H: Anacker, Heinrich); Für Anacker vgl. o.N.: Der ‚minderbelastete‘ Schumann. In: Schwäbisches Tageblatt (22.06.1948). Zeitungsauszug, aufbewahrt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (Z: Schumann, Gerhard). 712 Vgl. o.N.: Der ‚minderbelastete‘ Schumann. 713 Vgl. Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Heidelberg: Lambert Schneider, 1946.

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Fazit individuellen Deutschen, die dafür durch die dafür zuständigen Gerichte abgeurteilt werden müssen. Alle anderen deutschen Staatsbürger, die unter dem NS-Regime in Deutschland gelebt haben und die Entfaltung des verbrecherischen Regimes entweder unterstützt oder nicht aktiv versucht verhindert zu haben, haben in Jaspers‘ Auslegung des Schuldbegriffs in unterschiedlichem Ausmaße an einer politischen, moralischen oder metaphysischen Schuld teil. Auch die politische Schuld ließe sich noch durch das Bestrafen der Schuldigen abbüßen. Die Bewältigung der moralischen und metaphysischen Schuld könne nur in einem Prozess der „inneren Wandlung“ und radikalen „Umkehr“ der moralischen und politischen Denkungsart geleistet werden.714

In ihrer Unterstützung als NS-Parteifunktionäre und wegen ihrer Anteilnahme an der weiteren Entfaltung der nationalsozialistischen Ideologie durch ihre engagierte Parteidichtung scheinen Anacker, Schumann und Menzel schon eine gewisse politische Schuld zu tragen, für die Anacker und Schumann als „Minderbelastete“ abgeurteilt sind. Ob dieses Urteil, wie das Schwäbische Tageblatt hinsichtlich Schumann meinte, als „Fehlurteil“ zu kritisieren sei, lässt sich für diese Arbeit nicht klären. Die vorliegende Arbeit möchte an dieser Stelle nur noch betonen, dass auch die Auseinandersetzung mit dem engagierten „Wort“, das im nationalsozialistischen Deutschland unter anderem in der Parteidichtung zum Ausdruck kam, im Rahmen eines „historischen Bewusstseins“ von Bedeutung ist. Auch wenn die nationalsozialistische Dichtung wegen ihres unethischen und politisch-funktionalen Charakters lange Zeit von der Literaturwissenschaft vernachlässigt worden ist, stellt sie laut Walter Knoche einen guten Gradmesser für den damaligen Zeitgeist dar. Knoche glaubt, dass sich radikale politische Ideen, unabhängig davon, ob die neue Gefahr von linksextremer oder rechtsextremer Seite kommen würde, in Zukunft erneut in der Literatur zeigen würden und die Literatur somit die drohende Gefahr widerspiegeln würde.715 In diesem Sinne hat auch die vorliegende Arbeit die nationalsozialistische Dichtung als ein Produkt seines Zeitgeistes betrachtet. Als abschließende Bemerkung hält diese Arbeit es für relevant, sich in zukünftigen Forschungsarbeiten weiterhin mit nationalsozialistischen Manipulationstechniken, für die die NS-Dichtung als ein Beispiel gilt, auseinanderzusetzen und vielleicht an gegenwärtigen Radikalisierungserscheinungen in der Massenpropaganda zu spiegeln. Denn, so betont Zeitzeugin Gudrun Wilcke, „nur wer von der Gefahr weiß, ist wachsam“.716

714 Vgl. Kurt Salamun: Karl Jaspers. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, 78 und Arvi Sepp: Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945. Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 309. 715 Vgl. Knoche: The political poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors, 173. 716 Wilcke: Die Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer Beeinflussung, 9.

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Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Primärliteratur

1.1 Anackers, Menzels und Schumanns Werke

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1.2 Andere nationalsozialistische Werke

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Torsten, O.: Rîche. Eine geschichtliche Studie über die Entwicklung der Reichsidee. München, Berlin: Verlag von R. Oldenbourg 1943. von Schirach, B.: Die Fahne der Verfolgten. Berlin: Zeitgeschichte Verlag 1933.

1.3 Anthologien

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2. Sekundärliteratur

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236

Abstract

Abstract

1. Deutsche Fassung

„Des deutschen Dichters Sendung“ Die Sakralisierung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ in der national– sozialistischen Dichtung: Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel

Ein auffälliger religiöser Diskurs auf allen Ebenen des nationalsozialistischen Systems – zum Beispiel im politischen Kult, in der Propaganda und den Reden von Hitler und verschiedenen anderen hochrangigen NS-Funktionären – gab bereits im „Dritten Reich“ Anlass dazu, den Nationalsozialismus als sogenannte „politische Religion“ zu beschreiben. Die vorliegende Arbeit untersucht die textuelle Repräsentation dieser „politischen Religion“ in der affirmativen NS-Dichtung und insbesondere die Sakralisierung dreier zentraler Ideologeme: „Führer“, „Reich“ und „Volk“. Zu diesem Zweck wird im theoretischen Teil dieser Studie das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Religion auf der einen Seite und Nationalsozialismus und Dichtung auf der anderen Seite hervorgehoben. Die literarische Analyse konzentriert sich auf die Kristallisation des religiösen Diskurses in der affirmativen NS-Dichtung und geht der Frage nach, wie politische und profane Kernideen wie „Führer“, „Reich“ und „Volk“ auf eine sakrale Ebene hochstilisiert werden.

Aus theoretischer Sicht wird zunächst die Frage untersucht, inwieweit der Begriff der „politischen Religion“ tatsächlich auf das nationalsozialistische Regime anwendbar ist. Zur Einführung wirft diese Studie zunächst einen Blick auf die Totalitarismusforschung seit dem Zweiten Weltkrieg. Danach geht sie tiefer auf die Forschungstradition zur „politischen Religion“ ein. Obwohl die Grundlage für diese Forschung über „politische Religionen“ bereits in den 1930er Jahren gelegt wurde, entstand erst in den 1990er Jahren ein breites und differenziertes Forschungsfeld. Diese Dissertation geht nicht nur auf die Definitionsproblematik der „politischen Religion“ ein, sondern plädiert auch für eine Erweiterung des Religionsbegriffes selbst. Auf diese Weise bietet diese Dissertation eine neue und multidimensionale Perspektive auf die „(politische) Religion“, die somit als handhabbares Konzept für die Beschreibung totalitärer Regime wie des National– sozialismus verwendet werden kann. Noch auf theoretischer Ebene versucht diese Studie, die Frage zu beantworten, was nationalsozialistische Dichtung sei. Für eine nuancierte und ideologiekritische Interpretation dieser politischen Dichtung, die von der Literatur– wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem wegen ihrer zweckdienlichen Funktion weitgehend vernachlässigt wurde, greift diese Arbeit den textsoziologischen Ansatz des österreichischen Literaturwissenschaftlers Peter Zimas auf.

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Abstract

Die konkrete Textanalyse und somit die Interpretation des religiösen Diskurses in der affirmativen NS-Dichtung bilden den eigentlichen Kern dieser Forschungsarbeit. Obwohl diese Arbeit aufweist, dass die Ideologeme „Führer“, „Reich“ und „Volk“ bereits über eine gewisse sakrale Potenz verfügen, steigert die affirmative NS-Dichtung ihre pseudoreligiöse Bedeutung im Zusammenhang mit einem pointiert religiösen Diskurs umso mehr. Da sich die Analyse immer auf die Sakralisierung eines der drei Ideologeme in einem bestimmten Gedichtband konzentriert, lässt sich der textanalytische Teil dieser Arbeit in drei thematische Schwerpunkte unterteilen. Der erste Teil untersucht die Darstellung von Adolf Hitler - dem „Führer“ - als „Messias“ in der Gedichtsammlung Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (Erstausgabe 1933) von Heinrich Anacker (1901-1971). Die Interpretation erfolgt vor dem Hintergrund des so genannten „politischen Messianismus“ und der typischen messianischen Erlösungsbedürfnisse im krisenbetroffenen Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Für die Interpretation der sakralisierten Gestaltung von „Reich“ in der Anthologie Die Lieder vom Reich (1935) von Gerhard Schumann (1911-1995) kehrt diese Dissertation zu den theologischen Wurzeln „des Dritten Reiches“ zurück, insbesondere zur Drei-Zeiten-Lehre des mittelalterlichen Mönchs Joachim von Fiore (ca. 1130-1202). Obwohl „Volk“ das profanste Konzept der drei zu sein scheint, ist auch „Volk“ in der Gedichtsammlung Gedichte der Kameradschaft (1936) von Herybert Menzel (1906-1945) von einer religiösen Aura umgeben. Gerade wenn Individuen als Märtyrer dargestellt werden und – in geringerem Maße – wenn die gesellschaftliche Rolle von Frauen und Männern religiös gewertet wird, erhebt sich auch dieses „Volk“ zu einem geheiligten Konzept. Gerade wegen dieser gezielten Sakralisierung von „Führer“, „Reich“ und „Volk“ betrachtet diese Dissertation diese drei Ideologeme als „Glaubensartikel“ der nationalsozialistischen (politischen) Religion.

2. Niederländische Fassung

„Des deutschen Dichters Sendung“ De sacralisering van „Führer“, „Reich“ en „Volk“ in nationaalsocialistische poëzie: Heinrich Anacker, Gerhard Schumann en Herybert Menzel

Een opvallend religieus discours op alle niveaus van het nationaalsocialistische systeem – bijvoorbeeld in de politieke cultus, de propaganda en toespraken van Hitler en diverse andere hooggeplaatste nazifunctionarissen – gaf reeds in het „Derde Rijk“ aanleiding tot het beschrijven van het nationaalsocialisme als een zogenaamde „politieke religie“. Deze studie onderzoekt de tekstuele representatie van deze „politieke religie“ in affirmatieve nazipoëzie en in het bijzonder de sacralisering van drie centrale ideologemen: „Führer“, „Reich“ en „Volk“. Met dit doel belicht het theoretische luik van deze studie de relatie tussen het nationaalsocialisme en religie enerzijds en nationaalsocialisme en poëzie

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Abstract anderzijds. De literaire analyse focust op de kristallisatie van het religieus discours in de affirmatieve nazipoëzie om zo te onderzoeken hoe politieke en profane kernideeën zoals „Führer“, „Reich“ en „Volk“ naar een sacraal niveau getild worden.

Vanuit een theoretisch perspectief wordt eerst de vraag onderzocht in hoeverre het begrip „politieke religie“ daadwerkelijk toepasbaar is op het nationaalsocialistische regime. Als inleiding werpt deze studie eerst een blik op het totalitarismeonderzoek sinds de Tweede Wereldoorlog, om nadien dieper in te gaan op het traditionele onderzoek naar „politieke religies“. Hoewel de basis voor dit onderzoek al in de jaren dertig van de vorige eeuw werd gelegd, ontstond er pas vanaf de jaren negentig een breed en genuanceerd onderzoeksveld. Dit proefschrift beschrijft niet enkel de problematiek wat betreft het definiëren van de „politieke religie“, maar pleit bovendien voor een verruiming van het concept „religie“ zelf. Op deze manier biedt dit proefschrift een nieuwe visie op „(politieke) religie“, die zo als hanteerbaar concept gebruikt kan worden voor de beschrijving van totalitaire regimes zoals het nationaalsocialisme. Nog op theoretisch niveau probeert deze studie een antwoord te bieden op de vraag: „Wat is nationaalsocialistische poëzie?“ Om tot een genuanceerde en ideologiekritische interpretatie van deze politieke poëzie te komen, die net wegens haar utilitaire functie door de literatuurwetenschap na de Tweede Wereldoorlog grotendeels genegeerd werd, beroept deze studie zich op de tekstsociologische benadering van de Oostenrijkse literatuurwetenschapper Peter Zima.

De concrete tekstanalyse en dus de interpretatie van het religieuze discours in affirmatieve nazipoëzie vormt de eigenlijke kern van dit onderzoek. Hoewel dit onderzoek aantoont dat de ideologemen „Führer“, „Reich“ en „Volk“ reeds over een zeker inherent sacraal potentieel beschikken, worden ze in de affirmatieve nazipoëzie doelgericht in verbinding met een religieus discours verder religieus opgewaardeerd. Doordat de analyse telkens op de sacralisering van één van de drie ideologemen in één specifieke gedichtbundel focust, valt het tekstanalytische luik van dit proefschrift uiteen in drie thematische zwaartepunten. Het eerste deel onderzoekt de voorstelling van Adolf Hitler – de „Führer“ – als een soort „Messias“ in de gedichtbundel Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung (eerste uitgave in 1933) van Heinrich Anacker (1901-1971). De interpretatie gebeurt tegen de achtergrond van het zogenaamde „politiek messianisme“ en de typerende messiaanse verlossingsbehoeften in het door crisis geteisterde Duitsland na het einde van de Eerste Wereldoorlog. Voor de sacrale vormgeving van „Reich“ in de anthologie Die Lieder vom Reich (1935) van Gerhard Schumann (1911-1995) keert dit proefschrift terug naar de theologische wortels van „het Derde Rijk“, met name naar de verdeling van de geschiedenis in drie tijdperken door de middeleeuwse monnik Joachim van Fiore (ca. 1130- 1202). Hoewel „Volk“ het meest profane concept van de drie lijkt te zijn, wordt ook „Volk“ in de gedichtbundel Gedichte der Kameradschaft (1936) van Herybert Menzel (1906-1945) omgeven door een religieus aura. In het bijzonder wanneer individuen als martelaren

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Abstract worden voorgesteld en – in mindere mate – wanneer de maatschappelijke rol van vrouwen en mannen religieus wordt geduid, verheft ook dit „Volk“ zich tot een sacraal opgewaardeerd concept. Net door deze doelgerichte sacralisering van „Führer“, „Reich“ en „Volk“ beschouwt dit proefschrift deze drie ideologemen als het ware als „geloofsartikelen“ van de nationaalsocialistische (politieke) religie.

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