Plenarprotokoll 11/236

Deutscher

Stenographischer Bericht

236. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Bundes- Bahr SPD 18885 D ministers Dr. Schwarz-Schilling 18861A Dr. Knabe GRÜNE/Bündnis 90 . . . 18887A Erweiterung der Tagesordnung 18861 A Dr. Hornhues CDU/CSU 18890D Frau Kottwitz GRÜNE/Bündnis 90 . . . 18892 D Zur Geschäftsordnung Genscher, Bundesminister AA 18893 D Such GRÜNE/Bündnis 90 18861 B Frau Unruh fraktionslos 18895 C Bohl CDU/CSU 18862 B Hoppe FDP 18896 D Jahn (Marburg) SPD 18863 A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE/Bündnis 90 (Erklärung nach § 31 GO) 18897 C Absetzung eines Punktes von der Tagesord- nung 18930 B Tagesordnungspunkt 2: Außerhalb der Tagesordnung Aussprache zur Haltung der Bundesre- Dr. Ullmann GRÜNE/Bündnis 90 (Erklärung gierung zur Erhöhung von Steuern und nach § 32 GO) 18930 C Abgaben Dr. Heuer Gruppe der PDS (Erklärung nach Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlan- § 32 GO) 18930 D des 18898 A Dr. Waigel, Bundesminister BMF . . . 18906 D Tagesordnungspunkt 1: Frau Matthäus-Maier SPD 18908 B Regierungserklärung des Bundeskanz- Dr. Ullmann GRÜNE/Bündnis 90 . . . 18910 D lers zu den Ergebnissen des Gipfeltref- fens der Staats- und Regierungschefs der Frau Matthäus-Maier SPD 18912 C KSZE in Paris und zum bevorstehenden Europäischen Rat in Rom Frau Vennegerts GRÜNE/Bündnis 90 . 18912 D Dr. Kohl, Bundeskanzler 18863 D Dr. Graf Lambsdorff FDP 18915 C Dr. Ehmke () SPD 18869A Westphal SPD 18917 A Dr. Bötsch CDU/CSU 18873 D Dr. Faltlhauser CDU/CSU 18917 C Duve SPD 18874 A Dr. Gysi Gruppe der PDS 18919 B Frau Dr. Vollmer GRÜNE/Bündnis 90 . 18876 C Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 18921 D Dr. Graf Lambsdorff FDP 18879 D Dr. Graf Lambsdorff FDP 18924 B Frau Dr. Kaufmann Gruppe der PDS . . 18883 A Schäfer (Offenburg) SPD 18924 D II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Frau Unruh fraktionslos 18925 A Anlage 1

Dr. Blüm, Bundesminister BMA 18925D, 18927 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . .18933* A Dreßler SPD 18927 A Anlage 2 Cronenberg (Arnsberg) FDP 18927 C Zu Protokoll gegebene Rede des Abg. Glos Hoss GRÜNE/Bündnis 90 18928A (CDU/CSU) zu TOP 2 — Aussprache zur Hal- tung der Bundesregierung zur Erhöhung von Wüppesahl fraktionslos 18928 B Steuern und Abgaben 18933* D Präsidentin Dr. Süssmuth 18931A Anlage 3

Berichtigung 18932 Amtliche Mitteilung 18935* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18861

236. Sitzung

Bonn, den 22. November 1990

Beginn: 10.01 Uhr

Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Herren, ken dieser Organisation erschüttert seit knapp drei die Sitzung ist eröffnet. Wochen ganz Westeuropa. Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich Herrn (Lachen bei der CDU/CSU) Bundesminister zu seinem am Dr. Schwarz-Schilling Nach den ersten Berichten aus Italien hat zunächst 19. November gefeierten 60. Geburtstag herzlich be- meine Fraktion hierzu zwei Anfragen an die Regie- glückwünschen. - rung gerichtet, die leider trotz Fristablauf noch nicht (Beifall) beantwortet wurden. Dann folgten auch einzelne an- dere Kollegen. Unseren Anträgen auf Sondersitzun- Die CDU/CSU-Fraktion hat fristgemäß einen An- gen des Innen- und Verteidigungsausschusses in der trag auf Erweiterung der heutigen Tagesordnung vor- vergangenen Woche, um ausführliche Informationen gelegt. Dieser soll nach Tagesordnungspunkt 1 be- der Bundesregierung entgegenzunehmen, sind die handelt werden. Es handelt sich dabei um die Entsen- Fraktionen der Koalition wie auch der SPD leider ein- dung von Beobachtern in das Europäische Parlament. mütig entgegengetreten. Die endgültige Entscheidung ist erst kurz vor dieser Sitzung in der Fraktion gefallen; deshalb die nach- Anschließend haben Sie, lieber Kollege Penner, sich trägliche Beantragung. Ist das Haus damit einverstan- in der Presse mehrfach zitieren lassen, das Plenum den? — Gegenstimmen? — Keine. Enthaltungen? — oder zumindest der Verteidigungsausschuß solle über Auch nicht. Dann ist dieser Antrag der CDU/CSU- „Gladio" informiert werden und diskutieren. Ich gehe Fraktion einstimmig als ergänzender Punkt auf die davon aus, daß dies mittlerweile der Haltung Ihrer Tagesordnung genommen. gesamten Fraktion entspricht und deren Zustimmung zu unserem Antrag ermöglicht. Die Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 beantragt unter Abweichung von der Geschäftsordnung gemäß Zweitens. In ganz Europa haben sich die Parla- § 126 eine Erweiterung der Tagesordnung. Das Wort mente inzwischen mit „Gladio" befaßt. Eine Plenarsit- zung fand z. B. gestern in den Niederlanden statt; hat der Herr Abgeordnete Such. heute oder morgen findet eine im Europäischen Par- lament statt. In Italien nahm am vergangenen Don- nerstag ein parlamentarischer Untersuchungsaus- Such (GRÜNE/Bündnis 90) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens meiner Fraktion möchte schuß seine Arbeit auf. Ähnliches ist für Belgien ange- ich das Haus bitten, gemäß § 126 GO folgender Ab- kündigt. weichung von der Geschäftsordnung zuzustimmen. Die Regierungschefs anderer Staaten haben — be- Obwohl wir dies nicht fristgemäß nach § 20 Abs. 2 GO ginnend schon in der ersten Novemberwoche in Ita- angekündigt haben, möchten wir beantragen, die lien — ihren Parlamenten ausführliche schriftliche In- heutige Tagesordnung um eine Aussprache zu ergän- formationen zukommen lassen. Beides, also Informa- zen, und zwar über die „Aufgaben, Organisation und tion und Befassung des Plenums, sollte daher auch in Tätigkeit der Geheimorganisation ,Gladio'/,Stay Be- Deutschland möglich sein. hind' sowie das diesbezügliche Informationsverhalten (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen der Gruppe der PDS) Bundestag". Ich halte das Thema für so wichtig und hoffe mich dabei in Übereinstimmung mit vielen Kol- Drittens. Was geschieht hier bisher aber tatsächlich? leginnen und Kollegen, daß sowohl eine Zweidrittel- Heute nachmittag soll die PKK zu „Gladio" tagen, ein- zustimmung nach § 126 GO wie auch eine Mehrheit mal mehr unter Ausschluß der GRÜNEN. für den Antrag auf Ergänzung der Tagesordnung als (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) solchen möglich sein sollte. Entgegen den Erklärungen von Minister Klein blei- Diese Hoffnung gründet auf folgenden Erwägun- ben nach dem PKK-Gesetz aber auch das Plenum und gen — ich begründe damit meinen Antrag — : Erstens. die Fachausschüsse für diese Fragen zuständig. Die Die Nachricht von Existenz und mutmaßlichem Wir Befassung in der PKK reicht nicht aus; nicht nur des- 18862 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Such halb, weil die Vertreter aller Parteien, die Verantwor- Diese Frist endet am Tage vorher um 18 Uhr. Ein sol- tung für „Gladio" getragen haben, dort unter sich sit- cher Antrag wäre also gestern zu diesem Zeitpunkt zen, sondern auch wegen des Gegensatzes zur be- noch möglich gewesen. schriebenen Praxis anderer Staaten. Wir halten es da (Abg. Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Die haben mehr mit Minister Töpfer, der am vergangenen Mitt- Buß- und Bettag gefeiert! Das muß man ver woch im „Stern TV" spontan sagte, über diese Orga- stehen!) nisation müßten Parlament wie Öffentlichkeit rück- haltlos aufgeklärt werden. Sie haben eben ausgeführt, daß Sie dieses Thema für besonders wichtig und dringlich halten, (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) (Such [GRÜNE/Bündnis 90]: Eben! Und aus Viertens. Ich hoffe auch auf Zustimmung aus FDP diesem Grunde können wir hier abstim und CDU/CSU. Herr Hirsch, Sie als PKK-Mitglied ha- men!) ben gestern abend im ZDF erklärt, Sie seien von den obwohl darüber schon seit 14 Tagen in der Öffentlich- Presseberichten über „Gladio" überrascht gewesen. keit diskutiert wird. Ich muß sagen: Es ist relativ un- Ähnlich dürfte es daher auch Ihren Kollegen aus der glaubwürdig, wenn Sie, nachdem über dieses Thema PKK ergangen sein. Schon wegen dieser bisher unter- nach ihrem eigenen Vortrag schon 14 Tage in der lassenen Information durch die Regierung, wegen des Öffentlichkeit diskutiert wird, nicht die Kraft und die Affronts gegen die PKK sollten Sie nun für eine Be- Zeit finden, bis 18 Uhr des Vortages einen entspre- handlung im Plenum stimmen können. chenden Antrag hier im Hause einzubringen. Fünftens. Terminlich sollte dieser zusätzliche Ta- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE/Bündnis 90]: Re gesordnungspunkt zu der Zeit der vorgesehenen den Sie zur Sache!) PKK-Sitzung, also praktisch statt dieser nach dem Be- richt über die KSZE-Konferenz stattfinden. Dies Das zeigt im Grunde genommen, daß Sie ganz andere schlösse inhaltlich direkt an den europäischen- Kon- Ziele verfolgen. text an, bevor die rein innenpolitische Frage von Steu- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord ern bzw. Abgaben erörtert würde. Angemessen neten der FDP — Such [GRÜNE/Bünd schiene mir eine Debattenzeit von ca. zwei Stunden zu nis 90]: Tun Sie doch nicht so, als ob Sie dann sein. zugestimmt hätten, Herr Bohl!) (Abg. Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Nur? Sie sind Wir haben — das haben Sie nach Ihrem eigenen aber sparsam!) Vortrag hier zur Kenntnis zu nehmen — die parla- mentarischen Kontrollgremien, die sich mit dieser Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Frage befassen, Es muß unser aller Interesse sein, insbesondere auch das der Fraktionen, welche während der Existenz von (Frau Eid [GRÜNE/Bündnis 90]: Die sind „Gladio" Regierungsverantwortung trugen bzw. tra- übergangen worden! — Such [GRÜNE/ gen, den Wählerinnen und Wählern noch vor dem Bündnis 90]: Die wissen doch nichts!) 2. Dezember 1990 Klarheit darüber zu geben, wie die informiert werden und die darüber diskutieren. diese geheime Organisation in Deutschland gewirkt Die Bundesregierung hat sich durch den zuständigen hat und wie die bisherige Informationspolitik der Bun- Staatsminister Stavenhagen öffentlich erklärt. desregierung gegenüber den Volksvertretern in die- All dies zeigt überdeutlich, daß hier nichts unter den ser Sache zu rechtfertigen ist. Teppich gekehrt wird, Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. (Zuruf von den GRÜNEN/Bündnis 90: Ich danke Ihnen. Alles!) (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und daß hier seitens der Regierung Offenheit und Klarheit der Gruppe der PDS) hergestellt wird (Such [GRÜNE/Bündnis 90]: Alles unter den Teppich gekehrt wird! — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE/Bündnis 90]: Wenn das Klarheit ist, Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Bohl was ist dann Dunkelheit?) zur Geschäftsordnung. Bitte sehr. und daß Sie, wohl wissend, daß Sie keine Zweidrittel- mehrheit für die Änderung der Tagesordnung heute haben werden, im Grund genommen nur die Direkt- übertragung des deutschen Fernsehens mißbrauchen Bohl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr ver- ehrten Damen und Herren! Wenn eine Fraktion der wollen, um Ihre Dinge hier vorzutragen. Das ist der Auffassung ist, man müsse einen wichtigen Punkt Sachverhalt. noch nachträglich auf die Tagesordnung setzen, so ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — dafür nach unserer Geschäftsordnung eine Frist vor- Widerspruch bei den GRÜNEN/Bündnis 90) gesehen. Das alles bringt mich dazu, für die Fraktion der (Such [GRÜNE/Bündnis 90]: Das ist uns be CDU/CSU festzustellen, daß wir Ihrem Antrag nicht kannt! — Weiterer Zuruf von den GRÜNEN/ zustimmen werden. Ich bin ganz sicher, daß die deut- Bündnis 90: Von der man abweichen sche Öffentlichkeit für dieses Wahlschauspiel, das Sie kann!) inszenieren wollen, wohl Verständnis haben wird, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18863

Bohl aber unserer Überzeugung noch mehr Verständnis Es liegen noch Geschäftsordnungsanträge des entgegenbringt, daß der Bundestag nicht der richtige Herrn Abgeordneten Wüppesahl vor. Ich erteile Herrn Ort ist, an dem heute darüber geredet werden Abgeordneten Wüppesahl das Wort zur Geschäftsord- sollte. nung und mache ihn darauf aufmerksam, daß dieser Vielen Dank. Geschäftsordnungsbeitrag nach der Geschäftsord- nung nicht länger als fünf Minuten sein darf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Wüppesahl [fraktionslos]: Die Anträge sind zurückgezogen!) Vizepräsident Stücklen: Zur Geschäftsordnung er- — Zurückgezogen? teile ich dem Abgeordneten Herrn Jahn das Wort. (Wüppesahl [fraktionslos]: Das ist offen- sichtlich nicht weitergeleitet worden!) —Damit haben sich diese Geschäftsordnungsanträge Jahn (Marburg) (SPD): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Was öffentlich unter dem Stichwort erledigt. „Gladio" ruchbar geworden ist, trägt alle Zeichen ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. nes Skandals. Bötsch [CDU/CSU]: Das Protokoll verzeich- (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) net das erste Mal Beifall für den Abgeordne- ten Wüppesahl!) Es hat den Anschein, daß die Bundesregierung ihrer gesetzlich festgelegten Pflicht zu einer umfassenden Unterrichtung des Parlamentes in der Parlamentari- Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: schen Kontrollkommission zur Kontrolle der Nach- Regierungserklärung des Bundeskanzlers zu richtendienste nicht nachgekommen ist. den Ergebnissen des Gipfeltreffens der Staats- (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd und Regierungschefs der KSZE in Paris und nis 90 und bei Abgeordneten der Gruppe- der zum bevorstehenden Europäischen Rat in PDS) Rom Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Umfassende und öffentliche Aufklärung ist deshalb der SPD vor. Weitere Entschließungsanträge der Frak- geboten. Aber wir meinen, Kolleginnen und Kollegen tion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 sind angekündigt. von der Fraktion DIE GRÜNEN, man kann das nicht tun, indem man den zweiten vor dem ersten Schritt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tut. die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen (Seehofer [CDU/CSU]: Der SPD-Kollege Widerspruch. Es ist so beschlossen. Kühbacher wußte alles!) Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung Wir wollen in der heutigen Sitzung der Parlamenta- hat der Herr Bundeskanzler. rischen Kontrollkommission deutlich machen, daß die Sozialdemokraten nicht bereit sind, das in dieser ver- traulich arbeitenden Kommission verstecken zu las- Dr. Kohl, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine sen. sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema unse- rer heutigen Debatte ist die Zukunft Europas, seine (Zustimmung bei der SPD) künftige Sicherheit und Zusammenarbeit und sein im- Wir wollen die öffentliche Aufklärung im Verteidi- mer engerer Zusammenschluß in der Europäischen gungsausschuß und im Auswärtigen Ausschuß. Gemeinschaft. Ich berichte Ihnen über den KSZE- (Such [GRÜNE/Bündnis 90]: Und im Innen Gipfel der Staats- und Regierungschefs Anfang dieser ausschuß!) Woche in Paris und über die dort unterzeichneten und verabschiedeten Dokumente, und ich gebe Ihnen ei- Dort muß zunächst einmal vorbereitet werden, was nen Ausblick auf den Europäischen Rat in Mitte dann am Ende auch als Ergebnis der Prüfung im Ple- Rom Dezember und die dort zu eröffnenden zwei Regie- num des Deutschen Bundestages erörtert werden rungskonferenzen über die Wirtschafts- und Wäh- muß. Aber ohne eine sorgfältige Vorbereitung, wie sie rungsunion sowie über die Politische Union. nur in den Fachausschüssen möglich ist, kann das hier nicht zu einer geordneten Auseinandersetzung füh- Zusammengenommen bedeuten diese beiden Gip- ren. felbegegnungen im Abstand von weniger als einem Monat Weichenstellungen für eine neue Epoche der Deswegen stimmen wir einer Erörterung in der öf- europäischen Geschichte, in der wir der Vision von fentlichen Debatte heute nicht zu, behalten uns aber dem einen Europa entscheidend näher kommen. eine Fortführung des Themas in aller Form vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der SPD) der Abg. Frau Unruh [fraktionslos]) Gerade für unser Land, die Bundesrepublik Deutsch- Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Herren, land, das vor sechs Wochen seine Einheit in Frieden, wir kommen zur Abstimmung über den Geschäftsord- in Freiheit und in gutem Einvernehmen mit allen sei- nungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90. nen Nachbarn und Partnern vollenden konnte, sind Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? beide Gipfelbegegnungen von historischem Rang. — Bei einer Reihe von Enthaltungen und Ja-Stimmen In Paris wurde das Werk der deutschen Einigung aus der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 und der unter dem europäischen Dach vollendet. In den Bei- Fraktion der SPD ist dieser Antrag abgelehnt. trägen der Staats- und Regierungschefs und in den 18864 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundeskanzler Dr. Kohl Dokumenten wurde besonders sinnfällig, daß jetzt ein Südosteuropas sind in festem Vertrauen auf die Ideale großes Ziel deutscher und europäischer Politik er- der KSZE mutig für ihr Recht, für ihre Freiheit und für reicht ist: Wir Deutsche überwinden die widernatürli- ihre Selbstbestimmung eingetreten. Ich habe dies in- che Teilung, unter der unser Land und Volk mehr als der letzten Sitzung des Deutschen Bundestages aus- vierzig Jahre gelitten hat, und wir Europäer beenden führlich gewürdigt und will heute unseren Dank noch Konfrontation und Kalten Krieg und begründen die einmal bekräftigen. historisch gewachsene Einheit unseres Kontinents neu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich habe in Paris all unseren Partnern in der KSZE für ihren großartigen Beitrag zu diesem Erfolg ge- Nur auf dem Fundament dieses grundlegenden Wan- dankt. Im KSZE-Prozeß ist über 15 Jahre hindurch dels und des darauf neu begründeten Vertrauens war hervorragende Arbeit geleistet worden. Die Schluß- es möglich, in Paris Ecksteine für eine dauerhafte und akte von Helsinki von 1975 war die richtige, die zu- gerechte europäische Friedensordnung zu legen. kunftsweisende Weichenstellung. Dieser grundlegende Wandel kommt besonders (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sinnfällig in der „gemeinsamen Erklärung von 22 Staaten" zum Ausdruck. Hierin erklären die — Jetzt warten Sie bitte erst einmal ab. — Wir, die 22 Staaten, die sich vormals in Bündnissen unver- Unionsparteien, haben sie damals mit Skepsis aufge- söhnlich gegenüberstanden, daß sie nicht mehr Geg- nommen, — — ner sind, sondern neue Partnerschaften aufbauen und (Lachen bei der SPD) einander die Hand zur Freundschaft reichen. — Meine Damen und Herren, ich würde Ihnen wirk- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie lich raten: Jetzt warten Sie doch einmal ab. Im Mo- bei Abgeordneten der SPD) ment brauchen wir hier keine Wahlversammlung ab- Vor allem: Sie bekräftigen ihre Verpflichtungen zuhalten. zum Gewaltverzicht. Sie versichern feierlich, daß sie (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord keine ihrer Waffen jemals einsetzen werden, es sei neten der FDP — Lachen bei der SPD) denn zur Selbstverteidigung oder im Einklang mit der UNO-Charta. Wann in der Menschheitsgeschichte Es sollte möglich sein, auch in einer solchen Stunde sind Allianzen in diesem Geist des Friedens und der einen solchen Satz einmal ruhig aussprechen zu kön- Versöhnung aufeinander zugegangen? nen. Wir, die Unionsparteien, haben sie damals mit Mit dem „Vertrag über konventionelle Streitkräfte Skepsis aufgenommen, eine Skepsis, die sich glückli- in Europa" haben die 22 Staaten gleichzeitig das um- cherweise als unbegründet herausgestellt hat. Ich fassendste und weitreichendste Abkommen in der nehme deshalb diese Debatte zum Anlaß, der damali- Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle un- gen Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut terzeichnet. In nur 20monatigen Verhandlungen ha- ben sie ein beispielloses Regelwerk geschaffen, um Schmidt und Bundesminister Hans - Dietrich Gen- scher meinen besonderen Respekt für diese Entschei- vom Atlantik bis zum Ural die konventionellen dung zu bezeugen. Hauptwaffensysteme zu begrenzen und diese Be- grenzungen strikten Überprüfungen zu unterwerfen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der Künftig wird es in Europa auf jeder Seite nur noch SPD) 20 000 Kampfpanzer, 30 000 gepanzerte Kampffahr- Jetzt möchte ich den anderen Satz auch noch ruhig zeuge, 20 000 Artilleriesysteme, 6 800 Kampfflug- sagen. Ich schließe die Kollegen und zeuge und 2 000 Kampfhubschrauber geben. Kein ausdrücklich in diese Feststellung einzelner Staat darf mehr als ein Drittel dieses Poten- ein. tials behalten. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD Für die Umsetzung dieses Vertrages sind weniger und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos]) als vier Jahre vorgesehen. Danach wird zwischen den westlichen und den östlichen Staaten Gleichheit der Auf dem Europäischen Rat in Rom werden wir Deut- konventionellen Streitkräfte in Europa auf niedrige- sche durch die Tat beweisen, daß wir mit der wieder- rem Niveau als bisher geschaffen sein. Danach wird gewonnenen Souveränität unseres Landes nicht rück- kein Staat in Europa mehr die Fähigkeit haben, einen wärtsgewandt umgehen. Wir sind im Gegenteil mehr Überraschungsangriff auszulösen oder großangelegte als bisher bereit, Hoheitsrechte auf die Europäische Offensivhandlungen zu unternehmen. Damit ist so- Gemeinschaft zu übertragen. Wir arbeiten weiter an wohl ein historischer Markstein der Abrüstung er- dem großen Ziel, das uns mit unseren europäischen reicht als auch das Fundament einer ganz Europa Freunden eint, nämlich an den Vereinigten Staaten umfassenden Sicherheitsarchitektur gelegt. von Europa zu bauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Daß wir Deutsche in diesem Herbst eine glückliche bei Abgeordneten der SPD) Wende unserer Geschichte erleben und zugleich eine große Zukunft für ganz Europa mitgestalten dürfen, Kurzum: Frieden und Sicherheit in Europa werden verdanken wir vor allem zwei historischen Entwick- künftig mit weniger Waffen verbürgt. Ich habe in mei- lungen: Präsident Gorbatschow hat in der Außen- ner ersten Regierungserklärung vor dem Deutschen und Sicherheitspolitik der Sowjetunion „Neues Den- Bundestag im Oktober 1982 die Arbeit der von mir ken" durchgesetzt, und die Völker Mittel-, Ost- und geführten Bundesregierung unter das Ziel gestellt: Deutscher Bundestag — 11. 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Bundeskanzler Dr. Kohl Frieden schaffen mit weniger Waffen. Wir haben Wort Ich würdige in diesem Zusammenhang erneut, daß gehalten. Präsident Bush die amerikanischen Chemiewaffen aus unserem Land einseitig und vorzeitig abgezogen - (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und hat. der FDP — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE/Bünd nis 90]: Wie wäre es mit einem Dank an die Mit dem Vertrag über die konventionellen Streit- Friedensbewegung?) kräfte in Europa wird die sicherheitspolitische Lage Europas grundlegend verbessert. Diese positive Wir- Die Bundesregierung hat deshalb von Anfang an als kung wird durch die neuen vertrauens - und sicher- Teil ihrer besonderen Verantwortung für den Frieden heitsbildenden Maßnahmen weiter verstärkt, die par- in Europa angesehen, die Verhandlungen über kon- allel dazu in Wien ausgehandelt wurden und die die ventionelle Streitkräfte in Europa in jeder nur denk- Staats- und Regierungschefs nunmehr in Paris zustim- baren Weise zu fördern. Wir haben weiterführende mend zur Kenntnis genommen haben. Konzeptionen und konsensfähige Texte beigetragen, wofür ich den Verhandlungsführern wie auch ihren Ich hebe besonders die sicherheitspolitische Bedeu- Kollegen in den anderen Wiener Foren meine beson- tung des neuen Mechanismus für die Aufklärung un- dere Anerkennung aussprechen möchte. gewöhnlicher militärischer Aktivitäten hervor; ebenso den umfassenden Informationsaustausch, der erst- Meine Damen und Herren, wir haben nicht zuletzt mals auch Militärhaushalte und die Planungen für auf dem Weg zur deutschen Einheit die Verpflichtung Großgerät einbezieht. Ich begrüße das neue, moderne übernommen, die Streitkräfte des geeinten Deutsch- Kommunikationssystem, das gerade im Krisenfall land auf die Zahl von 370 000 Mann zurückzuführen. schnellste Abstimmung erlaubt und dadurch Fehlein- Diese Verpflichtung war der Schlüssel zum Verhand- schätzungen verhindert. Diese vertrauens- und si- lungserfolg in Wien. Genauso hatten wir im Sommer cherheitsbildenden Maßnahmen durchzusetzen ge-

1987 mit unserem Verzicht auf die Pershing I a den hört zu den ersten Hauptaufgaben des KSZE - Kon-

Durchbruch zum INF-Vertrag und zur weltweiten fliktverhütungszentrums, das die Staats - und Regie- Verschrottung aller nuklearen Mittelstreckenraketen rungschefs in Paris beschlossen haben. Damit ist ein erleichtert. wesentliches deutsches Verhandlungsziel erreicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, ich komme damit zum wichtigsten Abschluß des Pariser Gipfels, dem Doku- Die Bundesrepublik Deutschland hat im Vertrag ment unter dem Titel „Pariser Charta für ein neues über die konventionellen Streitkräfte in Europa Redu- Diese Charta verdient eine ausführlichere zierungspflichten übernommen, mit denen sie in ab- Europa". Würdigung, als dies im Rahmen einer Regierungs- soluten Zahlen nach der Sowjetunion an zweiter Stelle erklärung möglich ist. Lassen Sie mich jedoch zwei steht, gemessen an den vorhandenen Potentialen je- wesentliche Aspekte hervorheben. doch an der Spitze liegt. Wir bauen ab: Panzer um 42 %, gepanzerte Kampffahrzeuge um 64 %, Artillerie Erstens: Das Pariser Gipfeldokument ist eine um 42 %, Flugzeuge um 16 % und Kampfhubschrau- Magna Charta der Freiheit. ber um 14 %. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Alle Reduzierungen werden selbstverständlich bei Abgeordneten der SPD) überprüft durch ein bis in Einzelheiten festgelegtes Es bekennt sich zu einer auf Menschenrechten und System der Verifikation und Inspektion. Damit wird in Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, zu Wohl- Europa ein Maß an Offenheit und Transparenz auf stand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Ge- militärischem Gebiet erreicht, das in der Geschichte rechtigkeit sowie zu gleicher Sicherheit für alle Län- ohne Vorbild ist. der. Die sind Leitbilder für die gemeinsame Zukunft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unseres Kontinents. Die Hoffnungen und Erwartun- gen so vieler Menschen und Völker, die sich über Besonders wichtig ist für uns die im Vertrag enthal- Jahrzehnte mutig für die Ideale der KSZE eingesetzt tene Verpflichtung, unmittelbar im Anschluß an seine haben, werden damit endlich erfüllt. Unterzeichnung die Verhandlungen auf der Grund- lage des gleichen Mandats sowie im gleichen Teilneh- Wir erinnern uns in dieser Stunde mit großer Dank- merkreis fortzusetzen. Wir gehen davon aus, daß da- barkeit an Andrej Sacharow, der vor knapp einen bei auch andere Partner ihren Beitrag zur Festigung Jahr starb. von Sicherheit und Stabilität in Europa leisten und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP ebenfalls ihre Personalstärken begrenzen. und den GRÜNEN/Bündnis 90) Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: Mit der Wer an die Tage zurückdenkt, in denen er seinen Unterzeichnung des ersten Wiener Vertrags über kon- Kampf aufnahm, wer an die von sofortiger Repression ventionelle Streitkräfte in Europa erhält nunmehr der begleiteten Anfänge so vieler Helsinki-Gruppen zu- erfolgreiche Abschluß der Genfer Verhandlungen rückdenkt, der kann ermessen, welch große Weg- über die weltweite Ächtung chemischer Waffen höch- strecke Europa auf dem Weg zur gemeinsamen Frei- ste Priorität. Vor dem Hintergrund der krisenhaften heit gegangen ist. Entwicklung am Golf ist es allerhöchste Zeit, daß das Für uns Deutsche ist die umfassende Bekräftigung Damoklesschwert dieser Massenvernichtungswaffen der Rechte der Minderheiten von besonderer Bedeu- von der Menschheit genommen wird. tung. Das Pariser Gipfeldokument bekennt sich zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ihrem Schutz als Gebot des Friedens, der Gerechtig- bei Abgeordneten der SPD) keit, der Stabilität und der Demokratie. Es gewährlei- 18866 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundeskanzler Dr. Kohl stet ihnen die Entfaltung ihrer ethnischen, kulturellen, gruppe nach Moskau reist. Sie wird dort mit Präsident sprachlichen und religiösen Identität. Die Staats- und Gorbatschow selbst und mit seinem Beauftragten, Regierungschefs haben zu diesem besonderen, für dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Sitarjan,- uns sehr wichtigen Thema ein zusätzliches KSZE-Fo- zusammentreffen. rum einberufen. Es geht dabei um die Unterstützung der Reformen Zweitens: 15 Jahre nach der Schlußakte von Hel- im Bereich von drei Schwerpunkten: Erstens sollen sinki werden erstmals im Rahmen der Konferenz für Wege erörtert werden, die beiderseitige Zusammen- Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gesamt- arbeit so wirksam wie möglich zu gestalten. Zweitens europäische Institutionen geschaffen. Sie befähigen soll im Hinblick auf den Europäischen Rat in Rom im die KSZE besser als bisher, ihre Arbeit im Dienst des Dezember die multilaterale Zusammenarbeit vorbe- Friedens, der Stabilität und der Zusammenarbeit in sprochen werden. Drittens wollen wir uns bemühen, ganz Europa wirksam zu erfüllen. Regelmäßige Zu- die Weichen für humanitäre Hilfsaktionen so zu stel- sammenkünfte der Staats- und Regierungschefs, Tref- len, daß das, was hier bei uns in der Bundesrepublik fen der Außenminister als Rat der KSZE mindestens Deutschland gespendet wird, auch tatsächlich den einmal im Jahr sowie deren Vorbereitung durch hohe Menschen in der Sowjetunion zugute kommt. Beamte schaffen ein beispiellos dichtes Netz des Dialogs und der Konsultation. Ein neu geschaffenes (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD Sekretariat in Prag wird diese Konsultation und Kom- und den GRÜNEN/Bündnis 90) munikation unterstützen. Ich begrüße besonders, daß das erste Treffen der Außenminister im Juni 1991 in Um es klar auszudrücken: Es geht nicht darum, die stattfinden wird. Hilfsorganisationen von Staats wegen zu bevormun- den. Vielmehr geht es darum, zu erreichen — das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ein wichtiges Anliegen vieler Mitbürgerinnen und bei Abgeordneten der SPD) Mitbürger aus der Bundesrepublik — , daß die Men- Neben dem schon erwähnten Konfliktverhütungs- schen eine gewisse Garantie bekommen, daß ihre zentrum, das in Wien arbeiten wird, wird ein Büro für Hilfe auch tatsächlich den Empfänger erreicht. In die- sem Sinne hat Präsident Gorbatschow vorgeschlagen, freie Wahlen in Warschau eingerichtet, um im Zusam- menhang mit Wahlen in den Teilnehmerstaaten Kon- daß wir beide auch die Schirmherrschaft über diese Aktion übernehmen. takte und Informationsaustausch zu erleichtern. Be- sonders begrüße ich, daß künftig die Parlamente im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) KSZE-Prozeß stärker mitsprechen werden. Die Schaf- fung einer parlamentarischen Versammlung der Meine Damen und Herren, in Paris ist bei allen Fort- KSZE steht auf der Tagesordnung des ersten KSZE- schritten im KSZE-Rahmen deutlich geworden, daß Außenministerrates im Sommer in Berlin. unser Kontinent die Europäische Gemeinschaft als Meine Damen und Herren, schließlich haben die einen politischen und wirtschaftlichen Stabilitätsan- ker braucht; ich füge hinzu, aus deutscher Sicht mehr Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Vereinigten Staaten von Amerika denn je. Die EG muß Europa in dieser entscheidenden Phase der geschichtlichen Entwicklung den notwen- bzw. Kanada andererseits in gemeinsamen transat- digen Halt geben. Wir wollen daher die Europäische lantischen Erklärungen ihre künftigen Beziehungen Gemeinschaft in den kommenden Jahren im Innern verabredet. Zusätzlich zum Nordatlantischen Bündnis weiter festigen und ihre Handlungsfähigkeit sicher- und zusätzlich zur KSZE-Rolle der USA und Kanadas stellen. Nur so kann sie auch in Zukunft als treibende bedeuten die transatlantischen Erklärungen eine wei- Kraft im gesamteuropäischen Prozeß und darüber hin- tere starke Bindung zwischen Europa und den nord- aus wirken. Daher wollen wir sie entsprechend der amerikanischen Demokratien. Deren Verantwortung Vision ihrer Gründungsväter zur Europäischen Union in und für Europa wird erneut festgeschrieben. Die ausbauen und damit den Grundstein zu den Vereinig- transatlantische Solidarität wird bekräftigt. ten Staaten von Europa legen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos]) Angesichts des dynamischen Fortschritts bei der Ei- nigung Europas werden die Gemeinschaft und ihre Diesem Ziel gelten die beiden Regierungskonferen- Organe nun selbst Partner der USA und Kanadas. Ver- zen, die wir in drei Wochen in Rom eröffnen. Sie sollen abredet sind regelmäßige Konsultationen auf höchster die Grundlagen für die Wirtschafts- und Währungs- Ebene und engste Abstimmungen in allen Fragen der union festlegen und die Politische Union voranbrin- gemeinschaftlichen Zuständigkeit. gen. Nur wenn es uns gelingt, diese Reformvorhaben zum Erfolg zu führen, wird die Europäische Gemein- Herr Präsident, meine Damen und Herren, am schaft die Herausforderungen, die sich ihr von innen Rande des Pariser KSZE-Gipfels bin ich wiederholt und von außen stellen, bestehen können. Nur so wird mit Präsident Gorbatschow zusammengetroffen. Wir sie in der Lage sein, ihrer politischen und wirtschaft- haben unsere Gespräche von Bonn und Ludwigshafen lichen Verantwortung für ganz Europa und gegen- fortgesetzt, und wiederum standen die Wirtschaftsre- über ihren Partnern in der Welt gerecht zu werden. formen in der Sowjetunion und Möglichkeiten, ihre Durchsetzung von außen abzustützen, im Mittelpunkt Für uns Deutsche kommt es bei diesen Konferenzen der Gespräche. Wir haben vereinbart, daß in der kom- im wesentlichen auf folgendes an: Erstens wollen wir menden Woche eine hochrangige deutsche Experten rechtzeitig vor der nächsten Europawahl im Sommer Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18867

Bundeskanzler Dr. Kohl 1994 die Rechte und die Kompetenzen des Europäi- ter der Leitung von Bundesbankpräsident Pöhl auf schen Parlaments nachhaltig stärken. einen gemeinsamen Entwurf für ein Statut der künfti- gen europäischen Zentralbank verständigt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wer die Diskussion der letzten Jahre aufmerksam ver- - bei Abgeordneten der SPD und der Abg. folgt hat, muß feststellen, daß es heute über die von Frau Unruh [fraktionslos]) uns immer wieder vorgebrachten Eckpunkte keinen Es entspricht unserem demokratischen Selbstver- wirklichen Dissens mehr gibt. ständnis, weitere Hoheitsrechte der nationalen Parla- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- mente und Regierungen in dem Maße auf europäische neten der FDP) Institutionen zu übertragen, in dem gleichzeitig eine klare parlamentarische Kontrolle auf europäischer Für diese wichtige Überzeugungsarbeit schulden wir Ebene gewährleistet ist. Es ist ganz unstreitig, meine auch der Deutschen Bundesbank und ihrem Präsiden- Damen und Herren, daß wir bisher eine Reihe von ten Dank. Kompetenzen der nationalen Parlamente und Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie rungen auf die Gemeinschaft übertragen haben, ohne bei Abgeordneten der SPD) daß in diesem Bereich eine wirkliche parlamentari- sche Kontrolle existiert — ein an sich unmöglicher Meine Damen und Herren, Kern und Ziel muß ein Zustand, den wir ändern müssen. unabhängiges europäisches Zentralbanksystem sein, das ebenso wie die Deutsche Bundesbank vorrangig (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der der Sicherung der Geldwertstabilität verpflichtet ist. SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN/ Um dies zu erreichen, brauchen wir bereits bis zum Bündnis 90) Eintritt in die zweite Stufe am 1. Januar 1994 nachhal- Wir brauchen ein starkes Europäisches Parlament. tige Fortschritte in der wirtschaftlichen Konvergenz Seine Befugnisse werden sich im Laufe der kommen- aller Beteiligten. den Jahre mehr und mehr denen der nationalen Par- Fünftens gilt für uns bei alledem, daß wir keinesfalls lamente annähern. So sollte das Parlament z. B. zu- mehr Zentralismus in Europa wollen, künftig bei der Wahl des Präsidenten und der Mitglie- der der Kommission beteiligt werden. Vor allem aber (Beifall des Abg. Dr. Dregger [CDU/CSU]) müssen wir den Weg zu einer echten Mitentscheidung sondern ein Europa der Bürger, das die Eigenarten des Parlaments bei der Gesetzgebung ebnen. und Traditionen der Länder und Regionen achtet und Zweitens muß es darum gehen, die Effizienz der erhält. Gemeinschaftsorgane nachdrücklich zu verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Hierzu gehört sicherlich die Straffung der Arbeits- bei Abgeordneten der SPD und der Abg. weise und der Entscheidungsprozesse von Kommis- Frau Unruh [fraktionslos]) sion, Rat und Europäischem Parlament. Hierzu gehört nach unserer Überzeugung die Veran- Eines der Schlüsselthemen, das große Schwierig- kerung eines vernünftigen Gleichgewichts zwischen keiten aufwerfen wird, wird die Vermehrung der Fälle den Befugnissen der Gemeinschaft und denen ihrer sein, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit ab- Mitglieder. Föderalismus, Subsidiarität und die Ein- stimmt. Zugleich muß an entsprechend klare Quoten beziehung der Interessen der Regionen sind für uns im Parlament gedacht werden. Aber auch Stellung wesentliche Ordnungsprinzipien unserer europäi- und Aufgaben des Europäischen Rates sollten insbe- schen Zukunft. Für uns Deutsche ist — ich will dies sondere auf der Grundlage der feierlichen Deklara- besonders betonen — die Parallelität der beiden Re- tion von Stuttgart aus dem Jahre 1983 in den Verträ- gierungskonferenzen von einer grundlegenden Be- gen verankert und fortentwickelt werden. deutung. Unser Kernziel ist und bleibt die politische Union Europas. So wichtig die Verwirklichung der Drittens geht es um die Schaffung einer echten ge- Wirtschafts- und Währungsunion ist, sie bliebe aus meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zu der meiner Sicht nur Stückwerk, wenn wir nicht gleichzei- auch die Entwicklungspolitik gehören muß. Für uns tig die politische Union verwirklichten; beide Ziele gilt unverändert, daß das europäische Einigungswerk gehören unauflöslich zusammen. ohne die volle Einbeziehung der Sicherheitspolitik und langfristig auch der Verteidigung unvollständig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bleibt. Gerade die Ereignisse dieses Jahres haben uns bei Abgeordneten der SPD) vor Augen geführt, wie notwendig es ist, daß die Euro- Meine Damen und Herren, wir werden uns in Rom päer über ein wirkungsvolles Instrumentarium verfü- erneut einem Thema zuzuwenden haben, das Anlaß gen, um ihre gemeinsamen Interessen in der Welt zu großer Sorge gibt: Es geht um den Kampf gegen noch deutlicher zur Geltung zu bringen. Drogen, gegen die international organisierte Krimi- Viertens wollen wir die europäische Wirtschafts - nalität, insbesondere gegen die Mafia, sowie gegen und Währungsunion verwirklichen. Auf der Grund- den nationalen und internationalen Terrorismus. Wir lage des Berichts des Delors-Ausschusses, den wir im haben hierzu auf der europäischen Ebene in den letz- Sommer 1988 in Hannover unter meinem Vorsitz ein- ten Jahren Maßnahmen eingeleitet, die nach meiner gesetzt hatten, hat der Europäische Rat Ende Oktober Überzeugung angesichts der Dimension der Gefähr- dieses Jahres in Rom der Regierungskonferenz klare dung jedoch nicht ausreichen. Orientierungen vorgegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- Meine Damen und Herren, es ist erfreulich, daß sich neten der FDP — Zuruf von der SPD: Das die Notenbankgouverneure der Zwölf bereits jetzt un stimmt!) 18868 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundeskanzler Dr. Kohl Ich halte es für das Gebot der Stunde, die Zusam- höchste Priorität hat. Die irakische Führung sollte wis- menarbeit auch auf der europäischen Ebene sehr sen, daß ein weiteres Festhalten von Ausländern in rasch und spürbar zu verbessern. Ich bin der Überzeu- Kuwait und im Irak den Konflikt erheblich verschärft,- gung, daß wir dringend eine europäische Zentrale daß dies ein Spiel mit dem Feuer ist. zur Verbrechensbekämpfung brauchen; sonst laufen Alle meine Gesprächspartner in den vergangenen wir Gefahr, daß die Dinge außer Kontrolle geraten. Tagen haben die internationale Solidarität beschwo- Wir wollen weiterhin den Abbau und den Wegfall ren. Das gilt für Präsident Bush, für Präsident Mitter- der Grenzkontrollen. Dies erfordert aber zwingend rand, für Premierministerin Thatcher genauso wie für engste Abstimmung sowie ein gemeinsames Vorge- Präsident Gorbatschow und andere. Wir sind uns hen in Kernbereichen polizeilichen und justizpoliti- einig, daß diese völlige Übereinstimmung von höch- schen Handelns. Wir werden daher im Rahmen der stem Gewicht und von größter Bedeutung für die Zu- Regierungskonferenz zur Politischen Union nach- kunft ist. Wer diese Solidarität gefährdet oder aufkün- drücklich dafür eintreten, daß diese Fragen in die digt, erschwert eine f riedliche Lösung des Konflikts Gemeinschaftsverträge einbezogen werden. und die Durchsetzung der allgemein gültigen Normen Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, daß des Völkerrechts in der Golfregion. wir in den kommenen Jahren auf diese Weise nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nur für ein handlungsfähiges Europa sorgen, sondern bei Abgeordneten der SPD) zugleich auch der Vision der europäischen Einheit einen wesentlichen Schritt näherkommen werden. Meine Damen und Herren, diese überzeugende so- Wir wollen einen entscheidenden Beitrag für ein lidarische Haltung schließt den klaren Wunsch aller neues kraftvolles Europa leisten, für unsere gemein- ein, eine friedliche Lösung anzustreben. Keiner von same europäische Zukunft in Frieden, in Freiheit, in uns will Krieg. Aber wir alle wollen die Durchsetzung Wohlstand und in Sicherheit. der Resolutionen des UN - Sicherheitsrates, das heißt vor allem den bedingungslosen Abzug aller iraki- Wir wollen unseren Beitrag zu dem Ziel leisten, das schen Truppen aus Kuwait, die Wiederherstellung der in der Präambel unseres Grundgesetzes mit gleichem vollen Souveränität des Landes und selbstverständ- Rang verankert ist wie die Wiederherstellung unserer lich — ich wiederhole es noch einmal — die Freilas- Einheit: das vereinte Europa. Das in Freiheit vereinte sung aller festgehaltenen Ausländer. Deutschland ist sich seiner Verantwortung für ein in Freiheit vereintes Europa bewußt. Wir werden auch in Alle sind sich einig, daß nur im Rahmen der Verant- Zukunft unsere Politik danach ausrichten. wortung der Vereinten Nationen gehandelt werden soll. Sie bleiben das Dach für alle Aktionen, und nie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mand soll sich im Blick auf die Entschlossenheit der Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Be- Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- gegnung von 34 Staats- und Regierungschefs gab Ge- nen täuschen, den Beschlüssen Geltung zu verschaf- legenheit zu zahlreichen Gesprächen auch am Rande fen und sie durchzusetzen. der Konferenz. Dabei standen verständlicherweise vor Wir alle waren uns aber auch darin einig, daß die allem der Golfkonflikt und — damit verbunden — das Zeit reif ist, daß über den Golfkonflikt hinaus auch die Problem der im Irak und in Kuwait festgehaltenen Probleme der anderen Krisenherde dieser Region auf Ausländer im Vordergrund. dem Verhandlungswege gelöst werden müssen. Es Wir freuen uns mit den deutschen Geiseln und ihren wird im Mittleren und Nahen Osten keinen dauerhaf- Angehörigen über die Ankündigung, daß alle festge- ten Frieden und keine Sicherheit geben, wenn nicht haltenen Deutschen jetzt endlich ausreisen dürfen. endlich der arabisch-israelische und der Libanon- Wir haben von Anfang an auf dieses Ziel hingearbei- Konflikt auf dem Verhandlungsweg beigelegt wer- tet. den. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Unsere gemeinsamen Anstrengungen — ich denke, bei Abgeordneten der SPD und der Abg. das darf ich für alle hier im Hause sagen — waren aber Frau Unruh [fraktionslos]) immer darauf gerichtet, die Freilassung aller Geiseln Das Ziel, so denke ich, könnten regionale Sicher- aus allen Nationen zu erreichen. heitsstrukturen sein, die wie in Europa auf Abrüstung (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, bei Ab und Rüstungskontrolle und insbesondere auf den all- geordneten der SPD und der GRÜNEN/ seitigen Verzicht auf ABC-Massenvernichtungsmittel Bündnis 90 sowie der Abg. Frau Unruh [frak sowie auf Zusammenarbeit gründen. tionslos]) Meine Damen und Herren, der KSZE-Gipfel in Pa ris Wir werden auch in Zukunft alles tun — soweit dies in war eine eindrucksvolle Demonstration des Friedens- unseren Möglichkeiten liegt — , um dieses Ziel zu er- willens aller. Aber wir wissen, daß Frieden und Si- reichen. Wir hoffen, daß bis zum Weihnachtsfest, dem cherheit in Europa nicht für sich allein stehen können. Fest des Friedens für alle Christen, alle Geiseln aus- Wir müssen gemeinsam Mitverantwortung dafür reisen dürfen. Meine Damen und Herren, dies wäre übernehmen, daß der Frieden auch in anderen Regio- ein wichtiges Signal, das die Chancen für eine f riedli- nen der Erde möglich wird. Wir, die Bundesregierung, che Lösung entscheidend verbessern könnte. sind zu dieser Mitverantwortung bereit. Wer im Golfkonflikt eine friedliche Lösung will, wer (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU eine militärische Auseinandersetzung ausschließen und der FDP und Beifall bei Abgeordneten will, der muß wissen, daß die Lösung der Geiselfrage der SPD) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18869

Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Herren, In diesem Zusammenhang möchte ich auch Egon ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bahr nennen, der heute seine Abschiedsrede in die- Abgeordnete Dr. Ehmke. sem Hohen Hause halten wird. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN/Bündnis 90) Unser Freund trug hohe Verantwortung Dr. Ehmke (Bonn) (SPD): Herr Präsident! Meine Da- bei der Konzipierung und Ausführung einer zukunfts- men und Herren! Das gestern abgeschlossene Gipfel- weisenden Ost- und Entspannungspolitik. Wir alle treffen der KSZE-Staaten von Paris ist aus der Sicht haben ihm für sein Wirken in der Bundesregierung der SPD ein außenpolitisch notwendiger, sicherheits- und als Abgeordneter zu danken. politisch sinnvoller und europapolitisch hoffnungsvol- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten ler Schritt auf dem Weg zu einer europäischen Frie- der GRÜNEN/Bündnis 90) densordnung. Der KSZE-Prozeß war von Beginn an mit dem Be- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten mühen um konventionelle Abrüstung verbunden. Der der CDU/CSU) Grundsatz, daß Kooperation in Europa ohne den Ab- Neues im Konsens von 34 Staaten durchzusetzen wird bau von Konfrontation nicht möglich ist, hat heute nie einfach sein. Daß es bei dieser Konferenz in be- nichts an Gültigkeit verloren. Wir begrüßen daher achtlichem Maße gelungen ist, ist zunächst Ausdruck nachdrücklich, daß mit dem am 19. November unter- dessen, daß sich die KSZE-Staaten in den letzten Jah- zeichneten Vertrag über konventionelle Streitkräfte ren entscheidend nähergekommen sind. Es ist aber in Europa der Einstieg in die konventionelle Abrü- auch Ausdruck des Einsatzes der Verhandlungsdele- stung gelungen ist. Der konventionelle Rüstungswett- gationen in den verschiedenen Bereichen, und ich lauf, der uns nicht nur höhere Kosten, sondern auch spreche sicher nicht nur im Namen meiner Fraktion, höhere Risiken aufgebürdet hatte, wird nun durch ei- wenn ich den Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes, nen politisch kontrollierten Abrüstungsprozeß er- des Verteidigungsministeriums und allen anderen an setzt. dem Verhandlungserfolg beteiligten Ressorts meinen Die Bundeswehr wird — das stand schon vorher herzlichen Dank und Glückwunsch ausspreche. fest — auf 370 000 Mann begrenzt. Für uns, Herr Bun- deskanzler und Herr Bundesverteidigungsminister, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steht außer Frage, daß diese Reduzierung der Mann- der CDU/CSU und der FDP) schaftsstärke auch von einer deutlichen Verringerung Die Ergebnisse von Paris sind ein Erfolg der KSZE- der Rüstungsausgaben begleitet werden muß. Staaten, aber auch ein Erfolg deutscher Außenpolitik. (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh Ich erinnere daran, daß sich Paris nahtlos in die Archi- [fraktionslos]) tektur der sozialdemokratischen Friedens-, Sicher- Unser Ziel ist es, den Verteidigungshaushalt in der heits- und Menschenrechtspolitik einfügt, die mit der kommenden Legislaturperiode um die Hälfte zu redu- Person von Willy Brandt verbunden ist. zieren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Es war Willy Brandt, der die Entspannung in Europa Dabei spreche ich von den reinen Militärausgaben. eingeleitet hat, deren Früchte Sie und wir heute ern- Wir sind uns bewußt, daß die Abrüstung auch mit vie- ten. Die Kollegen aus den Unionsparteien erinnern len strukturpolitischen und sozialen Problemen ver- sich vielleicht noch daran, daß es nicht ganz leicht bunden ist, für deren Lösung in der Übergangsphase war, Helsinki und die KSZE gegen ihre starre Kalte- auch Gelder eingesetzt werden müssen, die im Vertei- Kriegs-Mentalität durchzudrücken. digungshaushalt frei werden. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ (Beifall bei der SPD — Unruhe im Saal — CSU) Dr. Vogel [SPD]: Herr Präsident! — Weitere Zurufe von der SPD: Ruhe bitte!) Ohne Helsinki gäbe es heute keine deutsche Ein- heit. Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, ich möchte Ihnen dazu gratu- darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen. lieren, daß Sie sich überwunden haben, heute zuzu- geben, daß sich die Union damals geirrt hat, Dr. Ehmke (Bonn) (SPD): Herr Bundeskanzler und (Beifall bei der SPD) vor allem Herr Bundesaußenminister, das Festhalten und daß Sie Willy Brandt gratuliert haben, daß er trotz der Regierungskoalition am Jäger 90 — um nur dieses Ihres starren Widerstandes die Entspannungspolitik Beispiel noch einmal zu nennen — ist sicherheitspoli- fortgeführt hat. Das ehrt Sie, Herr Bundeskanzler. Ich tisch ebenso sinn- wie finanzpolitisch verantwor- darf Ihnen sagen, wir Sozialdemokraten sind immer tungslos. froh, wenn Sie und andere Mitglieder der Unionspar- (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh teien sozialdemokratisches Gedankengut überneh- [fraktionlos] ) men. Wir haben nur noch eine kleine Bitte: es sollte Herr Bundeskanzler, diese Waffe ist die technische nicht immer fünfzehn Jahre dauern, Herr Bundes- Vergegenständlichung alten Denkens, ein Restbe- kanzler. stand einer verstaubten Gleichgewichtsutopie, die (Beifall bei der SPD) von zwei Bündnissen ausgeht, die alles versuchen, um 18870 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Ehmke (Bonn) sich gegenseitig die Hälse umzudrehen. Schmeißen europäischen Abrüstungsprozeß bereits jetzt langfri- Sie endlich auch diese Antiquität Ihrer sogenannten stiger anlegen, stärker ausweiten und neu strukturie- Politik der Stärke über Bord! ren sollten. Insbesondere gilt es, die vertrauens- und- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten sicherheitsbildenden Maßnahmen auszuweiten. Die der GRÜNEN/Bündnis 90) militärischen Potentiale in Europa müssen nicht nur verringert werden, sondern sie müssen auch in der Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, noch Struktur so verändert werden, daß sie zum Angriff eins: Sie sollten nach den Vorgängen im Golf, von nicht mehr tauglich sind. Der sozialdemokratische denen Sie gerade gesprochen haben, nun endlich Leitgedanke der Angriffsunfähigkeit muß jetzt ver- Ernst machen mit einer restriktiven Politik des Waf- wirklicht werden. fenexports. (V o r sitz : Vizepräsident Westphal) (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Das im Rahmen des Pariser VKSE-Abkommens ein- der GRÜNEN/Bündnis 90) zurichtende Verifikationsregime ist zu begrüßen. Die lasche Haltung Ihrer Regierung hat bereits viel Noch besser wäre allerdings eine gemeinsame — d. h. Unheil im Nahen Osten angerichtet. eine supranationale — Verifikations- und Kontroll- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten agentur. Sie wäre ein wichtiger Beitrag zu kooperati- der GRÜNEN/Bündnis 90 — Dr. Laufs [CDU/ ver Sicherheit in Europa. CSU]: Unsinn!) Gemeinsame Anstrengungen sind auch im Bereich Da das so ist und da deutsche Gas-Produktionsstätten der Konversion gefordert. Wir stecken bei der Kon- in Rabta wie auch im Irak gebaut werden konnten — versionsforschung und auch hinsichtlich der Verfah- meine Herren, ich weiß nicht, was es darüber zu la- ren zur Vernichtung von Waffen und militärischem chen gibt; das ist einer der traurigsten Tatbestände Gerät noch ganz in den Anfängen. Aber es wäre doch der deutschen Politik Ihrer Regierungszeit —, widersinnig, gerade dieses Gebiet von der internatio- nalen Arbeitsteilung auszunehmen. (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bündnis 90 sowie bei Abgeordneten der Gruppe der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) PDS und der Abg. Frau Unruh [fraktions Nachdem wir von unseren ost- und mitteleuropäi- los]) schen Nachbarn, vor allem von der Sowjetunion Zu- sollten wir die durch Willy Brandts Aktion eingeleitete stimmung zu weitgehenden Abrüstungsmaßnahmen Freigabe aller deutscher Geiseln, die wir mit Freude erreicht haben, liegt es in unserem eigenen Interesse, für sie und ihre Familienangehörigen begrüßen, zum diesen Ländern bei der Umstellung ihrer Industrien Anlaß nehmen, uns in der Beschränkung des Waffen- und bei der Vernichtung von Waffen und militäri- exports doppelt verpflichtet zu fühlen. schem Gerät zu helfen. Wir sollten auch das neue Denken im sowjetischen (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ Militär politisch nutzen und eine institutionalisierte Bündnis 90 — Vogel [Ennepetal] [CDU/ Kooperation militärischer Stäbe aufbauen. Wir müs- CSU]: Das ist der billige Jakob!) sen unsere Vorstellungen von gemeinsamer Sicher- — Wenn Gasproduktion im Nahen Osten, Kollege heit bzw. Sicherheitspartnerschaft in eine auf Dauer Vogel, für Sie der billige Jakob ist, dann ist es höchste angelegte und supranational verankerte Abrüstungs- Zeit, daß Sie gemeinschaft umsetzen. (Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Kansy [CDU/ Die Vereinbarungen zur Intensivierung und Insti- CSU]: Der Redner ist der billige Jakob! — Dr. tutionalisierung des KSZE-Prozesses — der Bundes- Laufs [CDU/CSU]: Das hat doch mit der Bun kanzler hat sie aufgezählt — sind zu begrüßen. Dabei desregierung nichts zu tun! — Weitere Zu geht es nicht nur um eine Verstetigung des Verhand- rufe von der CDU/CSU) lungsprozesses, sondern es geht auch um den ersten Leuten Platz machen, die das anders sehen, die das Schritt auf dem Wege zum Aufbau integrativer Sicher- richtig sehen. heitsstrukturen in Europa. Uns Europäern ist nach zwei Weltkriegen klarge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) worden, daß ein bloßes Neben- und selbst ein Mitein- Sie wissen doch genau, daß es dieses Versagen der ander von Nationalstaaten noch keine feste Friedens- Bundesregierung ist, das Sie in der Geisel-Frage so ordnung schafft. Die Länder im Nahen und Mittleren schweigsam gemacht hat, weil die Amerikaner Sie mit Osten machen heute in der Golfkrise die gleiche Er- den Versäumnissen auf diesem Gebiet jeden Tag vor- fahrung noch einmal. Wir freuen uns, Herr Bundes- führen können. kanzler, Sie auch hinsichtlich der Frage von Krieg und (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ Frieden im Nahen Osten heute auf den Spuren Willy Bündnis 90 — Zuruf von der SPD: Unglaub Brandts gefunden zu haben. lich ist das! — Bohl [CDU/CSU]: Herr Ehmke, (Beifall bei der SPD) ich bitte Sie, das ist ja selbst unter Ihrem Wer eine dauerhafte Friedensordnung in Europa Niveau!) will, muß zweigleisig vorgehen: Nicht nur müssen die Aber zurück zu Paris: Die Fortsetzung der Wiener Militärpotentiale abgebaut und damit die Fähigkeit Verhandlungen und die Aussicht auf ein weiteres Ab- zur Kriegsführung verringert werden, sondern es rüstungsabkommen im Jahre 1992 stimmen hoff- müssen auch supranationale, friedenschaffende nungsfroh. Ich bin aber der Auffassung, daß wir den Strukturen aufgebaut werden. Der westeuropäische Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18871

Dr. Ehmke (Bonn) Integrationsprozeß hat gezeigt, daß das möglich ist. So drückt, aber nicht gelöst worden sind. Die KSZE-Staa- wie heute auf Grund dieses Prozesses ein Krieg zwi- ten müssen daher gemeinsam dafür sorgen, daß sol- che Spannungen entschärft und, wenn es geht, abge- schen Frankreich und Deutschland undenkbar ist, so - muß morgen jeder militärische Konflikt in Europa vom baut werden und daß auf keinen Fall die Sicherheit Antlantik bis zum Ural undenkbar werden. Europas Opfer solcher neuen nationalen Konflikte wird. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN/Bündnis 90 sowie der Abg. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Frau Unruh [fraktionslos]) der Gruppe der PDS sowie der Abg. Frau Dabei erfordert die Errichtung eines europäischen Unruh [fraktionslos]) Sicherheitssystems nicht nur die endgültige Überwin- Ein Konfliktverhütungszentrum, das wie das in Paris dung der Blockkonfrontation, sondern auch die Erar- geschaffene nur buchhalterische Aufgaben hat, wird beitung und Umsetzung einer gemeinsamen Frie- dieser Aufgabe nicht gerecht. dens- und Sicherheitsordnung. Das erfordert den Ver- zicht auf nationale Souveränität, so wie ihn das Den in Paris verhandelnden Staaten ist es nur an- Grundgesetz heute bereits erlaubt. satzweise gelungen, die Grundlagen einer Friedens- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) politik der 90er Jahre festzulegen. Zu definieren ist beispielsweise auch noch, Herr Bundeskanzler, die Die neue Ordnung muß über kompetente, demokra- künftige Gestaltung transatlantischer Beziehungen. tisch legitimierte und durchsetzungsfähige Institutio- Die Stärkung und Ausweitung der europäischen Zu- nen verfügen. sammenarbeit und des Dialogs mit den Vereinigten Die Ergebnisse von Paris spiegeln die Veränderung Staaten und mit Kanada kommen beiden Seiten zu- der Grundkonstellation europäischer Politik aber nur gute. Aber was immer verabschiedet worden ist, Herr sehr unvollkommen wider. Das Pariser Gipfeltreffen Bundeskanzler, wir bedauern, daß die vorbereitete hat im Bereich der konventionellen Abrüstung be- transatlantische Erklärung leider nicht die Zustim- achtliche Ergebnisse gebracht. Was die Institutionali- mung der Konferenz gefunden hat. sierung des KSZE-Prozesses angeht, so kann besten- In Europa selbst wird angesichts zunehmend offe- falls von bescheidenen Ansätzen gesprochen wer- ner Grenzen die alte Unterscheidung zwischen Au- den. ßen- und Innenpolitik immer prekärer. Der Sieg der Nun muß man sehen: Die Ausgangslage war unter- demokratischen Idee — gerade dieses positive Ereig- schiedlich. Während die konventionelle Abrüstung an nis — , hat zur Folge, daß die Wohlstandsdifferenzen langjährige Erfahrung aus den MBFR-Verhandlun- zwischen den verschiedenen Staaten wie ein Magnet gen anknüpfen konnte und von den noch bestehen- auf die Wanderungsströme wirken. Eine nationale den Militärallianzen organisiert wurde, müssen für die Abschottung ist auf die Dauer keine Lösungsmöglich- neuen Aufgaben der KSZE-Staaten, gemeinsame Si- keit. Wir werden hoffentlich nach dem Wahlkampf cherheit zu organisieren, neue kooperative Strukturen sehr schnell auf die Vorschläge und die Anregungen geschaffen werden. von Oskar Lafontaine zurückkommen. Wir werden dasselbe wie bei den Aus- und Übersiedlern erleben: Dies geht sicher nicht von heute auf morgen. Lassen Erst schreien Sie „Das ist nicht gut! ", und hinterher Sie mich aber bitte daran erinnern, daß die NATO im schreiben Sie es ab. So wird es auch in diesem Fall Jahre 1986 ihr Bekenntnis zu konventioneller Abrü- gehen. stung mit der Forderung nach kühnen neuen Schritten verbunden hat. Ein wenig von dieser Kühnheit hätte (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh man sich auch in Paris für die nun eingeleitete Insti- [fraktionslos]) tutionalisierung des KSZE-Prozesses gewünscht. Statt dessen regiert im Augenblick leider eher Kleingläu- Der konsequente Ausbau der KSZE-Bereiche wirt- bigkeit. schaftliche Zusammenarbeit und Menschenrechte ist daher neben der Lösung der Abrüstungsfrage drin- (Beifall bei der SPD) gend geboten. Ich denke da, Herr Bundeskanzler, z. B. an das sehr mager ausgestattete KSZE-Sekretariat. Ich denke Wirtschaftliche Hilfe bei der Umstrukturierung und beim Aufbau der und aber insbesondere an das neu eingerichtete Konflikt- Volkswirtschaften in Osteuropa der Sowjetunion ist nicht nur ein Gebot demokrati- verhütungszentrum, das der auf dem NATO-Gipfel in London erhobenen Forderung, es solle auch zur scher Solidarität und spezifisch deutscher historischer Schlichtung von Streitigkeiten zwischen KSZE-Mit- Verantwortung; das alles liegt auch in unserem eige- gliedstaaten dienen, in der jetzigen Form nicht genü- nen Interesse. Wir dürfen es nicht zulassen, daß nach gen kann. Hier fehlt eindeutig ein politisches Mandat, Überwindung des alten Ost-West-Gegensatzes nun das diese KSZE-Institution in die Lage versetzen ein neuer Konflikt zwischen verarmten östlichen und würde, den neuen sicherheitspolitischen Herausfor- reichen westlichen Ländern entsteht. derungen in Europa gerecht zu werden. Meine Da- (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Richtig!) men und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kalte Krieg ist zwar vorbei, der Ost-West-Konflikt exi- Wir dürfen auch nicht zulassen, daß die mühsam stiert nicht mehr; dem steht aber der Ausbruch natio- erreichte Demokratisierung in Osteuropa deshalb naler Spannungen im Osten und Südosten Europas scheitert — übrigens mit Rückwirkung auf den Prozeß gegenüber — Spannungen, die von der kommunisti- der deutschen Einheit; machen Sie sich da bitte nichts schen Zwangsherrschaft zwar Jahrzehnte lang unter vor —, weil die neuen demokratischen Regierungen 18872 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Ehmke (Bonn) nicht rasch genug die sozio-ökonomischen Krisen hergebracht hat. Wir fordern die Bundesregierung meistern können. auf, sich für die unverzügliche Aufnahme dieser Ver- handlungen einzusetzen. Verhandlungsziel muß da- (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Richtig!) - bei die dritte Null-Lösung sein, und zwar sowohl bei Was wir jetzt benötigen, ist schnelle sofortige Hilfe, den land- als auch bei den luftgestützten Nuklearsy- verbunden mit der gemeinsamen Ausarbeitung eines stemen. Das ist nicht nur eine Ergänzung der konven- Konzepts für die Heranführung der neuen Demokra- tionellen Abrüstung in Europa, es ist auch ein wichti- tien in Mittel- und Osteuropa an die Europäische Ge- ger Baustein für eine gesamteuropäische Friedensord- meinschaft. nung. Die NATO-Staaten haben soeben in Pa ris Herr Bundeskanzler, Sie haben über Ihre Abspra- feierlich erklärt, daß die Staaten des Warschauer che mit Präsident Gorbatschow in bezug auf eine So- Pakts nicht mehr unsere Gegner sind. Die NATO hat forthilfe berichtet. Alles, was dort nur irgend möglich den Schluß gezogen, daß sie ihre Nuklearstrategie ist, Herr Bundeskanzler, wird die Unterstützung der grundsätzlich ändern muß. Demnach sollen Nuklear- deutschen Sozialdemokraten haben; waffen künftig nur mehr allerletztes Zufluchtmittel sein. Das ist nur ein Stück Umdenken. Aber schon (Beifall bei der SPD) dieses Stück Umdenken, Herr Bundeskanzler, macht denn wir sind der Meinung: In dem bevorstehenden es erforderlich, in ganz Europa auf nukleare Kurz- Winter wird sich für die Völker der Sowjetunion und streckenwaffen zu verzichten. Wenn Sie diesen si- Osteuropas zeigen, was unsere Worte eigentlich wert cherheitspolitischen Aspekt nicht einsehen, werden sind. Sie sicher Einsehen haben, wenn ich Ihnen sage: Die Völker Europas, auch das deutsche Volk, sind nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bereit, eine andere Lösung als den vollständigen Ab- der CDU/CSU, der FDP und der GRÜNEN/ zug taktischer Nuklearwaffen aus Europa hinzuneh- Bündnis 90) men. Ich halte es im übrigen nicht nur für sinnvoll, die (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten politische, wirtschaftliche und menschliche Dimen- der GRÜNEN/Bündnis 90) sion auszubauen; der KSZE-Prozeß muß gleichzeitig auch alle Aspekte des Umweltschutzes umfassen. Ich sprach davon, daß die Geschichte der Konferenz Friedenspolitik heißt heute auch, die grenzüber- für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sich schreitenden Umweltrisiken zu mildern. Die ökologi- nahtlos in die Architektur sozialdemokratischer Ost- schen Probleme Osteuropas einschließlich der Sowjet- politik einfügt. Im Verlauf dieser Geschichte hat sich union sind bekannt. Wir erleben sie ja hautnah in den der Helsinki-Prozeß gewandelt. Auch das müssen wir neuen Bundesländern. Wir wissen: Die osteuropäi- sehen. Ging es zunächst lange Jahre darum, auf unse- schen Volkswirtschaften werden nur sehr langsam in rem hochgerüsteten Kontinent schrittweise mehr Ver- der Lage sein, mit diesen Problemen fertig zu werden, trauen zwischen Ost und West zu schaffen und gleich- schon aus finanziellen Gründen. zeitig die Menschenrechte im kommunistischen Machtbereich langsam voranzubringen, so haben sich Weil wir davon unmittelbar und mittelbar betroffen die Ausgangsbedingungen mit dem Wirken von Mi- sind und nicht noch weitere Jahre zuwarten dürfen, chail Gorbatschow grundlegend geändert, dem auch müssen wir jetzt gemeinsame Lösungen suchen. Ich wir noch einmal für alles, was er in diesem Jahr und in halte es für erforderlich, schon auf der nächsten Kon- den vorangegangenen Jahren für Deutschland und ferenz 1992 einen KSZE-Umweltministerrat einzu- für Europa getan hat, herzlich danken. richten mit einem ständigen Sekretariat, einer Um- weltschutzagentur, einer gesicherten europaweiten (Beifall bei der SPD — Hornung [CDU/CSU]: Datenerhebung, einem Technologietransfer-Zentrum Und Reagan und Bush!) und insbesondere einer europäischen supranationa- Wir haben es heute in Osteuropa mit demokratisch len Aufsichtsbehörde auf dem Gebiet der Reaktorsi- legitimierten Regierungen zu tun, die sich aktiv für cherheit. den Ausbau, die Intensivierung und die Institutionali- (Beifall bei der SPD) sierung des KSZE-Prozesses einsetzen. Wenn ich hier einen langen sozialdemokratischen Angesichts dieser neuen Voraussetzungen kann die Wunschkatalog vortrage, der bei weitem noch nicht Politik der kleinen Schritte, die zu den Veränderun- vollständig ist, ist mir durchaus klar, daß im Rahmen gen in Mittel- und Osteuropa so Grundsätzliches bei- der KSZE viele Interessen berücksichtigt werden getragen hat, ausgeweitet werden. Der KSZE-Prozeß müssen und daß man immer nur schrittweise vor- war von Anfang an in mehrfacher Hinsicht innovativ: wärtskommt. Er war erstens ein blockübergreifender Kooperati- onsprozeß, in dem West- und Osteuropäer, neutrale Aber, Herr Bundeskanzler: Wo sich deutsche und und blockfreie Europäer, die USA, Kanada und die europäische Interessen treffen, muß meines Erachtens Sowjetunion gleichberechtigt mitgearbeitet haben. Er die Bundesregierung entschlossener die Initiative er- hat außen-, sicherheits-, wirtschafts- und gesell- greifen. Aus Konzeptionslosigkeit resultierende Ge- schaftspolitische Interessen miteinander verknüpft staltungsschwäche würde von uns allen teuer bezahlt mit dem Ziel, Sicherheit, Zusammenarbeit und Ver- werden. flechtung zu erreichen und damit Konflikte gewaltfrei So ist es, um ein Beispiel zu nennen, außerordent- zu lösen. Der KSZE-Prozeß wies von Anfang an über lich bedauerlich, daß Paris uns den von der NATO eine multilaterale Kooperation hinaus auf eine neue schon seit Monaten in Aussicht gestellten Verhand- europäische Friedensordnung, eine Friedensordnung, lungen über nukleare Kurzstreckenwaffen nicht nä die gleichzeitig Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18873

Dr. Ehmke (Bonn) und demokratische Beteiligung für alle kooperieren- nur die europäische Union, die Vereinigten Staaten den Staaten in Aussicht stellt. Wenn dieser Prozeß von Europa verwirklichen, wirtschaftlich eng ver- nicht bei der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen flochten, förderativ gestaltet, politisch handlungsfä- Nenner aller beteiligten Staaten stehenbleiben soll, hig, demokratisch und sozial ausgerichtet und aufge- bedarf es neuer Formen der Kooperation, der Integra- baut über die freiwillige schrittweise Abgabe nationa- tion und supranationaler Strukturen. ler Souveränitätsrechte an die größere europäische Einheit. Das grundsätzliche Anliegen der KSZE, in ganz Eu- ropa für Menschenrechte und Demokratie einzutre- (Beifall bei der SPD) ten, ist keineswegs gegenstandslos geworden. An vie- Dieses Ziel, einen friedlichen, demokratischen und len Stellen in Osteuropa funktionieren leider die alten sozialen Bundesstaat in Europa einzurichten, ist nicht Seilschaften noch, oder sie erheben sich schon wieder. neu. Wir Sozialdemokraten haben dies bereits in un- Gerade in den neu hinzugekommenen Ländern der serem Heidelberger Programm von 1925 gefordert. Bundesrepublik wissen die Menschen davon jeden Die Vorstellung von einem geeinten und friedlichen Tag ein trauriges Lied zu singen. Da steht uns eine Europa gehörte auch zu den Hoffnungen nach dem sehr, sehr große Aufgabe weiter bevor. Ende des Ersten Weltkrieges. Diese Hoffnungen zer- Dafür ist es wichtig, daß der KSZE-Prozeß nicht nur stoben an der Engstirnigkeit der Siegermächte und eine Sache der Regierungen und der Parlamente dann am Wahnsinn Hitlers. Im deutschen Widerstand bleibt. Er muß, wo immer es geht, auf der Ebene der gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft Gesellschaften ergänzt werden. Die europäische Frie- lebte diese europäische Idee wieder auf. Mit dem 1949 densordnung muß im gesellschaftlichen Leben ver- gegründeten Europarat begann der Versuch ihrer wurzelt werden, wie es sich etwa das Helsinki-Citi- Verwirklichung. Er scheiterte zunächst an der Block- zen-Committee zum Ziel gesetzt hat. Wenn wir von bildung und an der Blockkonfrontation. Verehrte Kol- demokratischer Beteiligung reden, meinen wir auch leginnen und Kollegen, daß die Überwindung dieser die Beteiligung von Jugendorganisationen, Sportver- Blockkonfrontation möglich geworden ist, ist das bänden, Kirchen, Schulen und Universitäten an dem große Hoffnungszeichen unserer Zeit. Nun dürfen wir neuen Miteinander in Europa. Unser besonderer nicht in alten, bornierten Nationalismus zurückfallen, Dank gilt in dieser Hinsicht Präsident Vaclav Havel, sondern wir müssen gemeinsam sagen: Unsere Zu- der diese gemeinhin etwas unterbelichteten Seiten kunft heißt Europa. des europäischen Einigungsprozesses immer wieder (Beifall bei der SPD) eindrucksvoll herausgestellt hat.

(Beifall bei der SPD) Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Herr Ab- Europa war in seiner langen Geschichte eher eine geordnete Dr. Bötsch. Heimstätte des Krieges als des Friedens. Über Jahr- hunderte war ein großer Teil der europäischen Intelli- genz davon absorbiert, daß man immer neue Dr. Bötsch (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr Schlachtordnungen, immer neue Destruktionsma- verehrten Damen und Herren! 1990 ist ein glückliches schinen erfand. Auch gegen Ende des 20. Jahrhun- Jahr für die Deutschen. Am 3. Oktober vollzog sich die derts wird uns der Friede nicht automatisch in den Einheit Deutschlands in Freiheit und Frieden mit Zu- Schoß fallen oder erhalten bleiben. Friede muß orga- stimmung unserer Verbündeten und europäischen nisiert werden. Der Friedensprozeß braucht eine Ar- Nachbarn. Am 9. November unterzeichneten Bundes- chitektur. Auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen kanzler Kohl und Präsident Gorbatschow den umfas- Friedensordnung scheinen mir folgende Punkte von senden deutsch-sowjetischen Vertrag in Bonn, und besonderem Gewicht zu sein: Wir wollen den Abrü- am Montag dieser Woche haben sich NATO und War- stungsprozeß fortsetzen, beschleunigen und aus- schauer Pakt mit der Unterzeichnung des Wiener Ver- bauen. Wir wollen ein verbindliches Streitschlich- trages über konventionelle Abrüstung in Europa und tungsregime aufbauen, das Konflikte schon im Ansatz mit ihrer gemeinsamen Erklärung die Hand zur verhindern bzw. friedlich beilegen kann. Wir wollen Freundschaft gereicht. Nicht im 200. Jahr nach der den weiteren Ausbau wirtschaftlicher Zusammenar- Französischen Revolution, aber immerhin ein Jahr da- beit mit dem Ziel einer langfristigen Verflechtung der nach setzen sich Freiheit, Menschenrechte und De- europäischen Volkswirtschaften. Wir wollen den Auf- mokratie in ganz Europa durch. und Ausbau einer wirksamen Umweltschutzgemein- Dieses Europa am 22. November 1990 läßt sich mit schaft in Europa. Wir wollen mit der Friedensordnung dem Europa etwa vom 1. Januar 1989 nicht verglei- auch einen Beitrag leisten zur Reform der internatio- chen. Noch vor 23 Monaten schien der Kommunismus nalen Staatengemeinschaft, zur Stärkung der UNO, noch nicht gescheitert, lag der Erfolg der Wiener Ab- zur Überwindung des Nord-Süd-Gegensatzes und zur rüstungsgespräche noch im dunkeln, und nicht ein- friedlichen Regelung regionaler Konflikte. Eine euro- mal Optimisten hätten zu hoffen gewagt, daß noch im päische Innenpolitik wäre ein großer Beitrag auf dem selben Jahr die Mauer in Berlin fallen wird und mit Weg zu einer Weltinnenpolitik. den 90er Jahren eine neue Ära eingeleitet wird, die Wir wollen schließlich für diese europäische Frie- nicht mehr von alter Gegnerschaft, sondern von Soli- densordnung den Ausbau demokratischer Strukturen darität und verantwortlichem Handeln für die Erhal- in und zwischen den europäischen Gesellschaften. tung des Friedens in Europa und der Welt geprägt Supranationale Einrichtungen müssen her, aber sie wird. müssen demokratisch legitimiert und kontrolliert wer- (Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. den. Wir wollen den europäischen Bundesstaat, nicht Paintner [FDP]) 18874 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Bötsch Für Europa bricht ein neues Morgen an. Die Charta ersten Stein aus der Mauer gerissen haben, die von Paris dokumentiert den geschichtlichen Wende- Deutschland und Europa teilte. punkt. (Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, ge- Beteiligt waren die um ihre Freiheit kämpfenden statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tschechen und Slowaken, die mit ihrem Präsidenten Duve? Vaclav Havel neue Zeichen für eine friedvolle Nach- barschaft in Europa und das neue Denken setzten.

Dr. Bötsch (CDU/CSU): Bitte! Zu verweisen ist auf den Mut der Leipziger, der Dresdener, der Rostocker, der Erfurter, der Berliner und vieler anderer unserer Landsleute, die mit friedli- Bitte schön, Herr Duve! Vizepräsident Westphal: chen Demonstrationen die SED-Unterdrückung ab- schüttelten. Ich danke Michail Gorbatschow, der Duve (SPD): Herr Kollege Bötsch, Sie haben eben durch sein neues Denken von Glasnost und Pere- von verantwortlichem Handeln gesprochen. Gehört es stroika dieser Entwicklung nicht nur freien Lauf ließ, auch zu verantwortlichem Handeln, wenn Sie die sondern sie auch tatkräftig förderte. Menschen in der ehemaligen DDR als missionsbedürf- tig und die ehemalige DDR als Missionsland bezeich- Auch die Politik im freien Teil Deutschlands strebte nen, die — wie Afrika — zu missionieren sei? Ist das diesen Erfolg an — hier will ich im Endergebnis keine verantwortungsvolles Handeln eines Politikers der Partei ausnehmen — , die einen früher, die anderen Bundesrepublik Deutschland? etwas später. Deutschland, in der Mitte Europas gele- gen, von allen europäischen Staaten mit den meisten Nachbarn, war von der Konfrontation zwischen den Dr. Bötsch (CDU/CSU): Herr Kollege Duve, da Ihr Blöcken am meisten betroffen und bedroht. Der saar- offener Brief an den früheren Ministerpräsidenten de ländische Ministerpräsident sagte jedoch vor einer Maizière in der Öffentlichkeit nicht die Bedeutung Woche an dieser Stelle, es seien nur die Früchte der gefunden hat, die Sie ihm offenbar beigemessen ha- langfristig angelegten SPD-Ost- und -Entspannungs- ben, versuchen Sie jetzt, mit einer Zwischenfrage, politik, die jetzt geerntet würden, und zwar von ande- vom Thema weg, hier irgend etwas abzuhandeln. ren geerntet würden. Der Bundeskanzler hat dazu (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Nun antworte mal! heute in seiner Regierungserklärung einen Dank an — Duve [SPD]: Antworten Sie bitte!) die damals handelnden Politiker ausgesprochen, und Ich werde Ihrem Brief natürlich nicht noch nachträg- ich schließe mich diesem Dank an. lich zu dieser Publizität verhelfen. — So! (Dr. Klejdzinski [SPD]: Wer war das denn da- (Beifall bei der CDU/CSU — Duve [SPD]: Sie mals?) bleiben also bei Ihrem Ausdruck?) Nur, meine Damen und Herren von der Opposition Meine sehr verehrten Damen und Herren — — und Herr Kollege Klejdzinski — ich spreche Sie jetzt (Duve [SPD]: Sie bleiben also bei Ihrem Aus- an, weil Sie dazwischengerufen haben — , Ihre Ent- druck „Missionsland"?) spannungspolitik war nicht auf die Beseitigung der — Herr Präsident, ist es eigentlich so, daß das Mikro- Spaltung Deutschlands und Europas ausgerichtet, phon nach der Zwischenfrage eingeschaltet bleibt? (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) sondern nur darauf, die Spaltung erträglicher zu ma- Vizepräsident Westphal: Nein, nein! Aber man chen. Nun gut, das war auch schon etwas; das will ich kann es selbst wieder einschalten, und das ist manch- überhaupt nicht bestreiten. mal nicht ganz mit der Geschäftsordnung vereinbar. Herr Ehmke, wenn Sie heute aber sagen, die Ziele (Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Bei Herrn seien zunächst anders gewesen, die Ziele hätten erst Duve macht man das!) durch Gorbatschow umgestellt werden können, dann frage ich mich, warum Sie immer wieder die Offenheit Dr. Bötsch (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Da- der deutschen Frage zur Lebenslüge erklärt haben men und Herren, es wird immer gesagt: Der Erfolg hat viele Väter. — Diesmal stimmt es jedenfalls. Am Erfolg (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) beteiligt sind die Polen — sie hätten nicht so früh und warum Ihr Parteivorsitzender noch am 3. Oktober lachen sollen —, 1989 zur Ablehnung des leichtfertigen und illusionä- (Zuruf von der SPD) ren Wiedervereinigungsgeredes aufgefordert hat. die sich in der Gewerkschaft Solidarität zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU) fanden und einen langen, von Rückschlägen nicht freien, aber letztlich erfolgreichen Kampf gegen Privi- Ich sage zum wiederholten Male: Nicht die soge- legien, gegen Bevormundung und gegen die Diktatur nannte Friedensbewegung, die gegen unsere Ver- der Politbüros führten. bündeten demonstriert hat, nicht aber gegen die Ver- letzung der Menschenrechte durch die kommunisti- Beteiligt sind die Ungarn, die in einer mutigen Ent- sche Nomenklatura, hat die deutsche Einheit be- scheidung die Ausreise unserer Landsleute aus der wirkt, damaligen DDR in die Freiheit gestattet und damit — wie Bundeskanzler Kohl schon im letzten Dezember (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE/Bündnis 90]: Das bei seinem Besuch in Ungarn festgestellt hat — den ist ja unglaublich, diese Einäugigkeit!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18875

Dr. Bötsch sondern unsere Standfestigkeit in Sicherheitsfragen über den Kommunismus gesiegt hat, meine sehr ver- und in Fragen unserer gesamten Verteidigungspoli- ehrten Damen und Herren. tik. Das war der Erfolg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nicht diejenigen haben den Erfolg herbeigeführt, die Diese Politik hat auch wesentlich zu dem Erfolg der durch voreilige einseitige Abrüstungsvorschläge in KSZE beigetragen. Der Zusammenhalt der westlichen Richtung Sowjetunion nur zu einer Zementierung der Allianz ist gewahrt geblieben, auch bei der schwer- Verhältnisse beigetragen hätten. sten Bewährungsprobe dieses Bündnisses im Gefolge des von initiierten NATO-Doppel- Meine Damen und Herren! Sie müssen sich schon beschlusses. Die Vereinigten Staaten von Amerika vorhalten lassen, daß Sie mehr auf die damaligen und Kanada blieben und bleiben über die KSZE ein Machthaber und weniger auf die betroffenen Men- politischer Machtfaktor in Europa. schen gehört haben, (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) Schon in der Vorbereitung der KSZE wuchs Europa zusammen. Es entwickelte sich über die Wirtschafts- wie z. B. auf Alexander Solschenizyn, der in der gemeinschaft hinaus die europäische politische Zu- Dankrede für den Preis, den er wegen des Verbots der sammenarbeit der Staaten der Europäischen Gemein- sowjetischen Führung in Stockholm nicht entgegen- schaft. Der Westen hat seine Grundwerte wie Men- nehmen durfte, davor warnte, der grinsenden Fratze schenwürde, Freiheit des Individiums, offene Gren- der Barbarei nur Nachgiebigkeit und Lächeln entge- zen für Menschen und damit die Beseitigung der Spal- genzusetzen. Sie wollten auch die Weisheit und Weit- tung Deutschlands, Informationen und Meinungen sicht des Harmel-Berichtes nicht erkennen, der 1967 und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den formulierte: Mittelpunkt der Konferenz gestellt. Menschenrechte gegen staatliche Willkür, Selbstbestimmungsrecht (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Den haben wir gegen Fremdbestimmung — das ist die Erfolgsge- doch formuliert!) schichte der KSZE, besonders ab 1983. Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist jedoch nicht möglich ohne eine Lösung der Vorher hatte die KSZE weder die Breschnew-Dok- Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärti- trin noch die Verbannung Sacharows verhindert, und gen Spannung in Europa bildet. Vaclav Havel mußte wiederholt ins Gefängnis. Das Belgrader Folgetreffen 1977 war ein Fehlschlag. 1981 Ihr Kanzlerkandidat wollte diese Tatsache nicht wurde das Madrider Folgetreffen von den Ereignissen einmal im Spätfrühjahr dieses Jahres akzeptieren, als in Polen überschattet. Der KSZE drohte das endgül- er die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag auffor- tige Scheitern. 1982 konnte der Erfolg nur dadurch derte, den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- gerettet werden, daß die KSZE um ein halbes Jahr und Sozialunion, den ersten und unumkehrbaren vertagt wurde. Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit, abzuleh- nen. Dies ist es, was die Menschen in Deutschland Meine Damen und Herren, erst unter unserer Regie- Herrn Lafontaine heute vorwerfen. Deshalb kommt er rungszeit zeigte die KSZE positive Ergebnisse. Die natürlich als Kanzler für das vereinte Deutschland verschiedenen Expertentreffen des Folgetreffens in auch nicht in Frage. Wien und die VKSE in Stockholm haben Bewegung in (Beifall bei der CDU/CSU) den festgefügten Status quo gebracht. Insofern war Stockholm der erste Durchbruch von der Konfronta- Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den tion zur Kooperation. 70er Jahren wurde die Rüstung im Ostblock ein so starkes Bedrohungspotential für den freien Westen, Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit ist daß sich die NATO auf Anregung des damaligen Bun- die Nachkriegsepoche endgültig zu den Akten der deskanzlers Helmut Schmidt — schon damals hatte er Geschichte gelegt, und wir können endlich darange- recht — zu Ihrem bekannten Doppelbeschluß ent- hen, ein Europa zu verwirklichen, in welchem die schließen mußte. Menschen miteinander und nicht gegeneinander le- ben. Trotzdem vermißte dieser Tage ein Journalist Jetzt, während unserer Regierungszeit, wurde der den Ausdruck echter Freude bei den Menschen. INF-Vertrag über den vollständigen Abbau der ato- maren Mittelstreckenraketen in Europa und der voll- Dies mag beispielsweise an der Golfkrise liegen, Chemiewaffen aus der Bundesre- ständige Abzug der die ja auch das Gipfeltreffen von Paris überschattete. publik vereinbart und inzwischen vollzogen. Wie Die positive Erfahrung der internationalen Solidarität auch der erste Vertrag über den Abbau der konven- gegen eine Diktatur wird überlagert von der Sorge in Europa mit unserer konstruktiven tionellen Waffen über eine bestehende Kriegsgefahr, über das Wohl Abrüstungspolitik die eigene Festigkeit und Verteidi- und Wehe von Menschen, die als Geiseln mißbraucht gungsfähigkeit mit umfassender Verhandlungsbereit- werden. Ich wiederhole das, was der Bundeskanzler schaft verband, haben wir mehr erreicht, als die SPD sagte: Wir freuen uns über die Freilassung der deut- je verlangt hat. schen Geiseln und danken allen, die daran beteiligt Es ist das Verdienst von , es ist das Ver- waren. Wir freuen uns mit ihnen und mit ihren Fami- dienst von Ronald Reagan, von George Bush und an- lien. Doch unsere Forderung nach Freilassung aller deren westlichen Staatsmännern, daß die Freiheit Geiseln aller Nationen und nach dem Rückzug des 18876 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Bötsch Irak aus Kuwait bleibt davon unberührt, meine Da- — Nein, wir machen es zum richtigen Zeitpunkt. Sie men und Herren. hätten es als Vorleistung gebracht. Wir machen es in einem gleichmäßigen, gleichzeitigen und die Sicher-- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord heit nicht bedrohenden Abrüstungsprozeß. Das ist der neten der FDP) Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik. Herr Kollege Ehmke, Sie haben da etwas mißver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ständliche Äußerungen gemacht, so als ob sich der Herr Bundeskanzler nicht immer auf dem Weg des Herr Bundeskanzler, die KSZE-Staaten haben die Friedens und auf dem Weg der Verhandlungen befun- Vereinigung Deutschlands mit Genugtuung zur den hätte. Sie sollten das noch einmal nachlesen und Kenntnis genommen. Sie, Herr Bundeskanzler, haben prüfen, ob Sie das wirklich so mißverständlich stehen- ihnen für den Beitrag zu dieser Entwicklung gedankt. lassen sollten. Ich möchte Ihnen heute namens der CDU/CSU-Frak- tion für Ihre erfolgreiche Arbeit danken, für die erfolg- Sie müssen auch die Frage beantworten, ob ange- reiche Arbeit Ihrer gesamten Regierung. Sie haben es sichts dieses Erfolges der KSZE, angesichts der Sorge, verdient, Regierungschef im vereinten Deutschland wie es am Golf weitergeht, die von Ihnen für heute zu sein und es auch nach dem 2. Dezember zu blei- nachmittag beantragte Sondersitzung so recht in den ben. Rahmen hineinpaßt. Das ist nicht Ihre Sorge um die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Menschen, sondern das ist Ihre Sorge um fehlende Wahlkampfthemen, die Sie dazu getrieben hat, meine sehr verehrten Damen und Herren. Vizepräsident Westphal: Das Wort hat die Abgeord- nete Frau Dr. Vollmer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, der sozialistische Zen- Frau Dr. Vollmer (GRÜNE/Bündnis 90): Herr Präsi- tralismus war der Feind der persönlichen Leistung, dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten die der Würde des Menschen entspricht. Deshalb 500 Jahre europäischer Zivilisation kannten neben stimme ich dem zu — jetzt ist er gerade hinausgegan- unzähligen Kriegen auch vier große europäische Frie- gen — , was der Kollege Ehmke sagte: Wir müssen denskonferenzen: Den Westfälischen Frieden, den diese Strukturen in den Betrieben, in den Verwaltun- Wiener Kongreß, den Versailler Frieden und nun den gen beseitigen. Natürlich gibt es da noch alte Seil- KSZE-Gipfel von Paris. Auch aus dem letzten, diesem schaften, Kalten Krieg kriechen die Völker Europas heraus wie (Zuruf von der CDU/CSU [zur Gruppe der aus einer zu langen und zu kalten Frostperiode. Sie PDS]: Dort drüben sitzen sie, hier im Bundes begreifen die neue Ordnung noch nicht und wissen tag!) noch nicht: Wird dieser Frieden nun von Dauer sein? sowohl in den fünf Ländern als auch in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, auch in Polen, auch in der Einiges ist diesmal sicher anders als früher und viel- Tschechoslowakei. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, leicht hoffnungsvoller: Auf dem Schlachtfeld des Kal- die wir hier haben, und es freut mich, meine Damen ten Krieges blieben nicht Millionen Tote zurück wie und Herren, daß die SPD auch für das, was der Bun- früher, wenn auch immer noch zu viele Verluste und deskanzler an Hilfe für die Sowjetunion hier ange- Schädigungen von Menschen zu beklagen sind. Und kündigt hat, ihre Unterstützung zugesagt hat. Es ist es sind diesmal nicht die Sieger, die die Landkarte eine gemeinsame Aufgabe. Der größte Fehler wäre es, Europas im Rausch ihres Erfolges neu entwerfen. For- wenn wir bei der Schaffung der Friedensordnung die mal jedenfalls waren sie alle gleichberechtigt, die am Sowjetunion ausklammerten, ausgrenzten, außen vor Runden Tisch in Paris Platz nahmen. Es gab also keine ließen. Ich glaube, die Sowjetunion gehört mit dazu, Sieger mit Waffen; das ist wahr. Trotzdem hat es so genauso wie die Vereinigten Staaten und Kanada als etwas wie Gewinner gegeben, und wir Deutschen europäische politische Mächte mit zu diesem Prozeß gehören dazu. Die Frage aber, die in Paris als Schrift gehören. Das ist gut so; denn wir müssen die Abrü- groß an der Wand stand, ist nicht beantwortet worden: stung vorantreiben. Wird es auch keine Verlierer geben? Paris war vorerst nur der Abschluß einer Epoche, Die Fortsetzung der Gespräche über die konventio- deren Ordnung berechenbar, waffenstarrend und un- nelle Abrüstung ab dem 26. November begrüßen wir; gerecht war. Ob es in der unsicheren Zukunft Europas denn Abrüstung ist überall vonnöten. Wir brauchen in wirklich keine Verlierer geben wird, hängt ganz und Europa keine landgestützten Kurzstreckenraketen gar davon ab, ob es gelingt, eine gerechte Zukunfts- mehr. Auf wen sollen sie den eigentlich schießen? ordnung für dieses neue europäische Haus zu entwer- Wir brauchen die freiwerdenden Ressourcen für un- fen. sere Aufgaben in Deutschland, für die politische und (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und wirtschaftliche Umstrukturierung in den Staaten des bei Abgeordneten der SPD) sich auflösenden Warschauer Paktes, für unsere Hilfe Dieser Frage will ich in acht Punkten nachgehen. zur Selbsthilfe in der Dritten Welt und für den Schutz Diese achte Punkte kann man — je nach Blickwin- der Umwelt. kel — als Ausdruck von Sorge oder als umgestülpte (Zuruf von der SPD) Hoffnungen ansehen. — Wollen Sie mir hier widersprechen? Zum ersten: Entstehen die neuen europäischen Ideen wirklich schneller, als die alten europäischen (Erneuter Zuruf von der SPD) Wahnideen zurückkehren? Es erscheint keineswegs Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18877

Frau Dr. Vollmer zufällig, daß sich mitten im risikoreichen Geburtsvor- Ob wir mutig genug sind, die Waffen aus der Hand gang eines neuen Verhältnisses der Völker Europas zu legen, oder so feige, daß wir Vertrauen pur nicht zueinander wieder die alten Gespenster melden. Mit ertragen können, daran, glaube ich, entscheidet sich den Waffen und Techniken der Alten und der Neuen die Zukunft Europas. Was wir brauchen ist nicht mehr Welt droht — wir haben schon darüber gesprochen — und nicht weniger als eine radikale Umwertung aller Kriegsgefahr am Golf. Und wieder geht es dabei politischen Werte. Solange uns der ältlich-stählerne — neben anderen Gründen — auch um den Anspruch Charme der NATO als Stärke und das mutige und Europas auf Energieressourcen, wie in vielen euro- idealistische Gebilde KSZE als zu schwach erscheint, päischen Konflikten der früheren Jahrhunderte solange, glaube ich, bleiben wir weiterhin Kinder des auch. 20. Jahrhunderts. Und da ist die nicht endenwollende Krise der Ent- (Beifall bei bei den GRÜNEN/Bündnis 90 kolonialisierung der Sowjetunion mit ihren wild auf- und der SPD — Frau Geiger [CDU/CSU]: Die brechenden Nationalitätenkonflikten; da sind Kra- bleiben wir sowieso!) walle, Verschärfung der sozialen Konflikte und dro- hende Hungerrevolten in den großen Städten Ost- Rein realpolitisch gibt es für mich aus diesen Über- europas, und da gibt es wieder Fremdenhaß und legungen nur folgende Konsequenz: Entweder löst Pogrome. sich die NATO in absehbarer Zeit zugunsten eines Dies alles erzeugt ungeheure Anforderungen an die über die KSZE entstehenden gesamteuropäischen Politik. Sie muß in der Lage sein, durch Selbstfesse- neuen Sicherheitssystems auf, in dem alle Länder Eu- lung den drohenden Kriegsausbruch zu verhindern. ropas Mitglied sein können, oder alle osteuropäischen Sie muß in der Lage sein, Hoffnungen gerade aus Staaten, inklusive der Sowjetunion, erhalten die Mög- Osteuropa zu erfüllen, von denen wir nicht einmal lichkeit, Mitglied der NATO zu sein, was eine völlige wissen, ob es überhaupt möglich ist, sie nicht allzu Umkrempelung der NATO bedeuten würde und so- sehr zu enttäuschen; und sie muß praktisch die Men- mit faktisch auf dasselbe hinausliefe. schenrechte schützen und Toleranz stärken. (Beifall bei der GRÜNEN/Bündnis 90 und (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und der SPD) der SPD) Zum zweiten. Michail Gorbatschow hat in seiner Zum vierten: Was fangen die Deutschen mit ihrer Rede am 9. November gesagt: Wir brauchen eine neuen Rolle in der Mitte Europas an? — Mein altes ganz neue Kategorie in den internationalen Beziehun- Thema. Mit der deutschen Vereinigung ist ein neues gen, das Vertrauen! — Vertrauen ist gut, meinte schon Machtzentrum entstanden, genauer, ein altes hat eine Lenin, aber er konnte hinter diesen Satz keinen Punkt neue Qualität bekommen. Das neue Deutschland ist setzen; Kontrolle ist besser, hat er darum gleich hin- eben nicht die BRD plus ein bißchen. Das Neue be- ter's Semikolon gesetzt. Gleiches tun heute alle die, steht nicht nur darin, daß Deutschland jetzt auch öko- die meine, die Einheit Europas immer noch mit Waffen nomisch noch stärker wird. Das eigentlich Neue liegt bewachen zu müssen. Vertrauen ist gut, sagt Gorba- auch nicht allein in der günstigen Brückenstellung tschow, Kontrolle ist besser, murmelt Herr Bush und zwischen Ost und West. Vielmehr ist so etwas wie ein murmelte Frau Thatcher, die gerade zurückgetreten neuer ideologischer Leitstern am Horizont Europas ist, und murmelt auch Herr Wörner. erschienen, der die sowjetische Jahrhundertvision vom proletarischen Weltreich, aber eben auch die (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat auch Herr Leitfunktion des American way of life ablöst. Gorbatschow gesagt!) Gegenüber der ungeheuren Risikobereitschaft der (Duve [SPD]: Ablösen könnte!) Selbstauflösung des Warschauer Pakts erscheint die NATO quasi als eine Agentur des Mißtrauens, quasi Von gefährlicher Faszination erstrahlt also nun der als letzte Zentrale dieses lenistischen Denkens. „German way of life" eine Lebensart, in der sich Mer- cedes und die Grünen, Seidenhemden und soziale (Frau Geiger [CDU/CSU]: Das ist wohl ein Sicherung friedlich zu verbinden scheinen. Witz!) Es ist im übrigen bemerkenswert, zu welch roman- (Pfeffermann [CDU/CSU]: Die fahren sogar tischen Landschaftsskizzen sich auch die sonst so da drin, Frau Kollegin!) kühl-rationale FAZ aufwirft, wenn es um die NATO Die amerikanische Art zu leben, die noch zu Ken- geht. Da schreibt Karl Feldmeyer am 19. November, nedys Zeiten höchst erfolgreich war und seine Politik die NATO gewährleiste „die Teilhabe an der Tiefe des begleitet hat, hat drei Kennzeichen, die sie heute of- strategischen Raums". — Aha, Teilhabe an der Tiefe fenbar zu einem auslaufenden Modell macht. des strategischen Raums also! Wer denkt dabei nicht an Napoleon, von anderen Feldherren ganz zu (Frau Würfel [FDP]: Nach Ihrer Meinung!) schweigen! Denkt man auch an ihr Ende? (Pfeffermann [CDU/CSU]: Wir denken, der Erstens. Die Spaltung zwischen Arm und Reich ist Kalte Krieg ist vorbei, aber Sie lassen ihn tief und brutal. wieder auferstehen!) Zweitens. Der Energieverbrauch ist so grotesk hoch, Zum dritten. NATO und KSZE können auf Dauer daß diese Art der Verschwendung im beginnenden keine Partner sein, so wie gewaltfreie Politik und Ge- Zeitalter der Ökologie allzu deutlich die Zeichen ihres waltpolitik nie Brüder sein können. eigenen notwendigen Untergangs trägt. 18878 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Frau Dr. Vollmer Drittens. Die Neigung der amerikanischen Politik die westlichen Staaten ökonomisch abrüsten. Sie müs- zum Militärischen und zur Weltpolizistenrolle er- sen ihren Krieg gegen die Natur, die Zerstörung des scheint unausrottbar. Bodens durch die Agrarindustrie und die Überflutung- (Hornung [CDU/CSU]: Herr, vergib ihnen, der Erde mit Gift und Abfall beenden. denn sie wissen nicht, was sie reden!) (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und Dagegen, nur dagegen erscheint Deutschland bei Abgeordneten der Gruppe der PDS) heute vergleichsweise zurückhaltend, intelligent, effi- Oder wollen wir demnächst die Deponie Schönberg zient und stark. Dieses Bild macht Deutschland im erst nach Polen, dann in die Sowjetunion und schließ- Wortsinn zu einem Fluchtpunkt mitten in Europa, zu lich nach Afrika exportieren? einem Punkt, wohin man fliehen will. Doch — darauf bestehe ich — ist dieser „German way of life" nicht die (Hornung [CDU/CSU]: Nach Joschka Fi Spitze der globalen Hoffnung, sondern nur ihre am scher!) besten funktionierende Illusion. Und doch ist er eher Sicherheit wird auch die KSZE in Zukunft nur noch das schillernde und damit gefährliche Ende einer Epo- dann schaffen können, wenn sie die Ökologie in den che als der Beginn einer neuen. Mittelpunkt rückt. Die KSZE braucht einen vierten (Hornung [CDU/CSU]: Der antisozialistische Korb, einen grünen Korb, einen Korb eigens und aus- Markt hat den Kommunismus besiegt! So ist drücklich für die Ökologie. das!) (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) Wir sind derzeit nur das lustigste und eleganteste Nebenbei bemerkt: Daß man ausgerechnet die Bluesorchester auf der Titanic der Weltgesellschaft. Frauen einfach mit ins erste Körbchen hineinlegt, (Beifall bei der GRÜNEN/Bündnis 90 und kann doch wohl nicht der Beitrag der KSZE zur Eman- der SPD) zipation der Frauen sein. Wie soll daraus ein gemeinsamer Aufbruch zur (Zuruf von der CDU/CSU: Das wird das Überwindung der ökonomischen und sozialen Spal- Kernproblem der KSZE gewesen sein!) tung Europas entstehen? Das ist die Hauptaufgabe. Noch zwei weitere Vorschläge. Nach dem Vorbild Wie sollen damit die dunklen Wolken der Armut von des Club of Rome sollte es einen Club of Bitterfeld Osteuropa vertrieben werden, von denen Tadeusz — oder wie immer man ihn nennen will — , einen Zu- Mazowiecki gesprochen hat? Das Gegenteil ge- sammenschluß westeuropäischer Wissenschaftler, schieht: Im Osten bahnt sich im Augenblick ein gna- Unternehmer, Gewerkschafter, Umweltschützer und denloser Kampf um einen der wenigen Plätze im Ret- Banker zur Planung und Durchführung der ökologi- tungsboot Europa an. schen Erneuerung der Industrien und Landwirtschaf- (Frau Geiger [CDU/CSU]: Warum müßt ihr ten Osteuropas, geben. Und man sollte die demüti- alles so schwarzsehen? Das ist ja furcht gende Nutzlosigkeit der sowjetischen Soldaten auf bar!) dem Boden der ehemaligen DDR beenden. Bei uns werden im Geist und in den Gesetzesschmie- (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) den neue Mauern konstruiert. Die Wirkung des west- Sie könnten mit einer großzügigen handwerklichen lichen Modells auf den Osten ist mittlerweile so, daß und ökologischen Ausbildung umgeschult werden die Menschen dort wie Ertrinkende beginnen, sich und damit wichtige Initiativen zur Ausbildung in ih- von allem zu trennen, was auf dem schnellen Weg rem Land leisten. zum Westen oder zur Kopie des Westens hinderlich sein könnte. (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 sowie bei Abgeordneten der SPD und der Gruppe Der erste Impuls von West nach Ost war wirklich die der PDS) Freiheit und die Demokratie, der zweite scheint Bru- talität und Egoismus zu sein. Dazu gehört auch die Das wäre dann eine Konversion menschlicher Fähig- beispiellose Geschichtsvergessenheit, daß wir ausge- keiten, die auch allen anderen Soldaten guttäte, ins- rechnet die sowjetischen Juden, die zu uns reisen wol- besondere auch den amerikanischen, die im Augen- len — das ist erstaunlich genug — , zurückweisen. Da- blick Bremerhaven und Frankfurt Nacht für Nacht zur gegen bitten wir Sie, unseren Antrag zu unterstüt- Drehscheibe im Golfkrieg machen. zen. (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und der Gruppe der PDS sowie des Abg. Dr. Soell bei Abgeordneten der SPD) [SPD]) Zum fünften. Wir müssen bei uns anfangen. Wir Der sechste Punkt. Zur Lösung der Zukunftsaufga- brauchen einen historischen Kompromiß mit Osteu- ben der zukünftigen Europäer müssen wir alte Lasten ropa, und wir brauchen einen neuen Begriff von einer loswerden, vor allem die Bürokratien, die durch den europäischen und von einer Weltbürgergemeinsam- Kalten Krieg gewachsen sind. Die Bürokratien sind keit. der neue Feudaladel Europas. Die UdSSR ist unter der Last von 17 Millionen Bürokraten zusammengebro- In bezug auf die Menschenrechte und die politi- chen, auch ökonomisch. schen Freiheiten konnten die westlichen Demokratien tatsächlich ein Vorbild für Osteuropa sein. In bezug (Pfeffermann [CDU/CSU]: Sagen Sie den auf die Ökonomie — darauf bestehen wir GRÜNEN — Satz noch einmal ganz langsam zum Mit- dürfen wir kein Vorbild sein. Darum müssen gerade schreiben!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18879

Frau Dr. Vollmer Ich befürchte, daß auch dies ein gesamteuropäisches Aber eine Konföderation braucht kein Machtzen- Problem ist. Die überflüssige Nomenklatura wegzu- trum. Europa besteht heute aus mehr als 30 Staaten. kriegen, die überflüssige NATO aufzulösen und den Morgen schon können es 40 oder 50 sein, je nachdem, die EG-Bürokratie auf ein rationelles Maß zurückzu- wie sich Jugoslawien, die Sowjetunion, aber auch stutzen, auch das sind gigantische Zukunftsaufgaben manche Länder Westeuropas entwickeln werden. Al- für Europa. lein schon diese Zahlen zeigen: Jeder Versuch eines gesamteuropäischen Zentralismus fördert nur die al- (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 sowie ten Großmachtrivalitäten und kann deswegen nur bei Abgeordneten der SPD und der Gruppe schiefgehen. der PDS) Der letzte Punkt: Das gilt auch für jede Art von Weitergehende Abrüstung in Europa wäre dazu neuer europäischer Weltbeglückungsaktion. Was der wichtigste Schritt und eine doppelte Befreiung: auch immer wir in Europa machen — es darf nur die von den Kosten und von den Sicherheitsapparaten. Hälfte unserer Kraft beanspruchen. Die eigentliche Warum also geschieht das nicht? Warum geht die Aufgabe wird immer mehr das Verhältnis zum Süden mächtige, starke Bundesrepublik da nicht voran? Ich sein. glaube, CDU und FDP können es nicht, weil sie — wie schon die Rüstungsexporte gezeigt haben — mit den Peter Sloterdijk hat gesagt: Die Pointe des 20. Jahr- Militärbürokratien und -industrien seit Jahrzehnten hundert ist, daß die Dinge so weit gekommen sind, zu sehr verbrüdert sind. Es fehlt ihnen der Mut, alte daß der imperiale Ring um den Erdkreis geschlossen Freunde in die Bedeutungslosigkeit zu entlassen; es ist. mangelt ihnen manchmal auch an pazifistischer Phan- Durch unsere Wirtschaftsweise wird heute aus je- tasie. dem Geiselnehmer auch eine Geisel und aus jedem Sie, Herr Genscher, haben in Ihrer Rede letzte Wo- Erpresser auch ein Erpreßter. Das wird das Schicksal che die gleichzeitige Anwesenheit von Offizieren ver- der Nationen im 3. Jahrtausend bestimmen. schiedener Pakte Wir werden uns einleben müssen (Bundesminister Genscher: Soldaten!) — so Peter Sloterdijk — — oder Soldaten — in ein und derselben Stadt als die in einer Welt, in der die fremden Lebenden wich- Spitze der europäischen Sicherheitspartnerschaft tiger werden als die eigenen Toten. skizziert. Ich kann nur sagen: Die Spitze ist erst er- Das wäre dann auch das Ende der nationalen Egois- reicht, wenn sich diese Soldaten als Zivilisten begeg- men, und genaugenommen ist gerade das eine der nen. größten Hoffnungen für Europa. (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und Ich danke Ihnen. der Gruppe der PDS) (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90, bei Wie lange, Herr Bundeskanzler, müssen wir eigent- der Gruppe der PDS und der SPD) lich noch auf Ihre Phantasie warten, sich endlich ein- mal bei der Friedensbewegung zu bedanken? Vizepräsident Westphal: Frau Kollegin Dr. Vollmer, (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90, der Sie gehören zu denjenigen, die jetzt ihre letzte Rede in SPD und der Gruppe der PDS — Duve [SPD]: diesem Parlament gehalten haben. Da ich weiß, daß Bei der er sogar den Slogan geklaut hat!) die Präsidentin am Schluß unserer heutigen Tages- ordnung uns alle, die wir hier ausscheiden, in beson- Der siebte Punkt: Der KSZE - Gedanke muß ausge- baut und mit wirklicher Macht ausgestattet werden. derer Weise ansprechen will, bitte ich Sie um Ver- Am Anfang der KSZE waren nur die Träumer klug. ständnis dafür, daß ich jetzt dazu nichts sage. Die Zweifler waren damals die historisch Dummen. Graf Lambsdorff ist der nächste Redner. Die CDU gehörte — das hat der Bundeskanzler dan- (Frau Garbe [GRÜNE/Bündnis 90]: Ist das kenswerterweise anerkannt — zu den letzteren, zu auch seine letzte Rede?) den Dummen. Grundlage des KSZE-Prozesses war ursprünglich Dr. Graf Lambsdorff (FDP) : Herr Präsident! Meine nämlich eine Fiktion — eine Fiktion des guten Willens sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist in der Tat aller Vertragsparteien, eine Fiktion, die zunächst naiv nicht meine letzte Rede in diesem Parlament. Aber es und idealistisch schien, mittlerweile aber geschichts- muß ja auch für die Frau Kollegin Vollmer nicht die trächtig geworden ist. Auch in Zukunft geht es bei der letzte sein; es kann ja einmal eine Legislaturperiode KSZE um eine Fiktion, um eine Fiktion des Runden lang unterbrochen werden. Wer weiß denn, was alles Tisches und der Gleichheit aller Beteiligten. Hoffent- noch geschieht. lich ist diese Fiktion ebenso erfolgreich, hoffentlich führt sie zu einer Gleichheit unter den Menschen Eu- (Hornung [CDU/CSU]: Nur für Gysi wird es ropas und damit auch inhaltlich zu einer Ablösung des die letzte sein!) sozialistischen Ideals von Gleichheit. — Für wen auch immer. Jeder hier in diesem Hause Dazu aber ist eine Stärkung dieses Gremiums nötig, hat sicherlich seine Wünsche und wünscht sich man- die mit den jüngsten Beschlüssen allenfalls angedeu- chen als letzten Redner in seiner letzten Legislaturpe- tet, aber noch keinesfalls eingeleitet wurde. Die Idee riode. Da ist der Phantasie keine Grenze gesetzt. einer europäischen Konföderation ist hier am meisten Meine Damen und Herren, die Einheit und Freiheit zu fördern, weil sie am meisten auf diesem Prinzip der Deutschlands zu vollenden und in einem vereinten Gleichberechtigung besteht. Europa dem Frieden der Welt zu dienen, das sind die 18880 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Graf Lambsdorff Ziele, die das Grundgesetz den Deutschen und insbe- Die Ostverträge und die Einleitung des KSZE-Prozes- sondere den politisch Handelnden vorgegeben hat. ses mußten damals gegen den heftigen Widerstand Für die FDP hat es nie einen Zweifel daran gegeben, der CDU/CSU durchgesetzt werden. daß sie ihre ganze Kraft für die Erfüllung dieser Auf- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, erin- träge einsetzen wird. nern Sie sich noch daran, wie Sie das KSZE-Dokument Seit dem 3. Oktober leben die Deutschen wieder in von Helsinki damals charakterisiert haben? Sie sag- einem Staat mit einer Verfassung, einem Parlament ten: „Supermarkt von Attrappen. " und einer Rechts- und Wirtschaftsordnung. Den er- sten Auftrag unseres Grundgesetzes haben wir damit (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Der Herr erfüllt. Bötsch war das!) In den vergangenen Tagen haben die europäischen — Herr Bötsch hat das alles heute so in Watte ver- Staaten, die USA und Kanada in Paris gemeinsam die packt. Fundamente für eine Friedensordnung in Europa ge- (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das ist jetzt die Ab- legt und in der Charta für Europas Zukunft Einverneh- teilung Binnenwahlkampf!) men über wesentliche Elemente der Konstruktion des gemeinsamen europäischen Hauses gefunden. — Meine Damen und Herren, zum Thema „Binnen- wahlkampf" kann ich nur sagen: Der Kollege Bötsch Die europäische Friedensordnung ist damit keine hat mir vor ein paar Minuten gesagt, die FDP be- Vision mehr, sondern ein konkretes Handlungspro- komme bald die absolute Mehrheit. Ich habe ihm ge- gramm. Die Entwicklung in Europa seit dem Inkraft- sagt: Noch ein paar CSU-Wahlkongresse, dann könn- treten des Grundgesetzes hat es nicht immer einfach ten wir das vielleicht schaffen. gemacht, sich den Glauben daran zu erhalten, daß die Einheit Deutschlands und eine europäische Friedens- (Heiterheit und Beifall bei der FDP) ordnung Ziele sind, die durch konkretes politisches Selbstverständlich; war auch uns nicht verborgen Handeln verwirklicht werden können. geblieben, daß die Schlußakte von Helsinki nicht viel 1967, sechs Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer mehr als ein politisches Programm war, das im Rah- und ein Jahr vor der Niederschlagung des Prager men eines langfristigen Prozesses mit konkretem, ver- Frühlings, schrieb der Westen im Harmel-Bericht das traglich fixiertem Inhalt ausgefüllt werden mußte. Wir Konzept dessen auf, was jetzt Wirklichkeit geworden machten uns an die Arbeit. ist: Der Pariser Gipfel zeigt, daß wir uns auf den richti- Die Entwicklung der sowjetischen und osteuro- gen Weg begeben hatten. Die Sowjetunion war erst päischen Politik berechtigt zu der Hoffnung, daß unter Präsident Gorbatschow bereit, die Perspektiven diese Regierungen schließlich die Vorteile erken- des KSZE-Prozesses wirklich auszuloten. Er erkannte nen werden, die auch ihnen aus der gemeinsa- die Möglichkeiten, die sich aus den Rahmenbedin- men Erarbeitung einer friedlichen Regelung er- gungen des KSZE-Prozesses für die Sowjetunion er- wachsen. geben. Er verzichtete darauf, anderen Völkern mit Gewalt seinen Willen aufzuzwingen. Er verschaffte Und weiter: den Menschenrechten in der Sowjetunion Geltung, und er entsprach damit wesentlichen Forderungen Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen der KSZE-Vereinbarungen. Dies ist sein historisches Schranken zwischen Ost- und Westeuropa besei- Verdienst. tigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren. Der von ihm eingeleitete Wandel der sowjetischen Politik machte 1986 den ersten großen Erfolg der Zu dieser Zeit regierte in Bonn die Große Koalition KSZE-Sicherheitspolitik möglich: die Stockholmer aus CDU/CSU und SPD. Beide Parteien zogen außen- Vereinbarungen über vertrauensbildende Maßnah- und deutschlandpolitisch mit großer Energie in entge- men. 1987 folgte die Vereinbarung über die beidersei- gengesetzte Richtungen und sorgten so für Unbeweg- tige und vollständige Beseitigung der Mittelstrecken- lichkeit. Die FDP bemühte sich mit allen ihr zur Ver- waffen. Der NATO-Doppelbeschluß, den wir in der fügung stehenden Mitteln, auf die Notwendigkeit ei- Regierung Schmidt gemeinsam mit der SPD gefaßt ner neuen Ostpolitik hinzuweisen. hatten, wurde zum Erfolg und zugleich zum entschei- 1969 ermöglichte der Wähler die Bildung der sozial- denden Beweis für die Veränderung der Politik der liberalen Koalition, die den deutschen Beitrag zur Sowjetunion. Schaffung einer europäischen Friedensordnung ein- (Beifall bei der FDP) leiten konnte. Die SPD hatte in dieser wie auch in anderen Fragen Die Regierung Brandt/Scheel schloß die Verträge schon während der Regierung Schmidt den Mut ver- mit der Sowjetunion, mit Polen, mit der Tschechoslo- loren, und sie hat ihn bis heute nicht wiedergefunden. wakei und mit der DDR. Sie waren ein entscheidender Auch deswegen hat Helmut Schmidt recht: Oskar La- Beitrag zur Herstellung der noch schwankenden Ver- fontaine hat einen Wahlsieg nicht verdient. trauensbasis, die die Voraussetzung für den erfolgrei- chen Abschluß des ersten KSZE-Gipfels 1975 in Hel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sinki war. Meine Damen und Herren, man muß nicht nur die (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten richtigen politischen Ideen haben, sondern auch den der SPD) Mut haben, durchzuhalten, wenn es schwierig wird. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18881

Dr. Graf Lambsdorff Ich frage mich schon, Herr Bahr, wie Ihnen zumute Es wird mit der FDP, mit dem Außenminister Gen- ist, wenn Sie nachlesen, was Sie damals — 1988 — in scher auch in Zukunft nationale Alleingänge der der Veranstaltung „Nachdenken über Deutschland" Deutschen nicht geben. Der KSZE-Gipfel in Paris hat- in den Münchener Kammerspielen gesagt haben: die Vereinigung Deutschlands als Beitrag zur euro- „Wer dabei die deutsche Frage aufwirft, der stört Eu- päischen Stabilität zur Kenntnis genommen, und er ropa." hat die Einbettung der deutschen Einheit in den Auf- bau der europäischen Friedensordnung unterstri- (Zuruf von der CDU/CSU: Übelst!) chen. — Nicht übel, aber es war eine Fehleinschätzung. — Jetzt ist die Frage gelöst, und niemand ist gestört. Wie weit wir auf dem Weg von der Konfrontation zur Kooperation vorangekommen sind, zeigt die von Der entscheidende Durchbruch des KSZE-Prozes- den 22 Mitgliedstaaten der NATO und des War- ses kam mit der Wiener Folgekonferenz, die im Ja- schauer Pakts auf dem Pariser Gipfel abgegebene nuar 1989 mit einem richtungsweisenden Schlußdo- feierliche Erklärung, die einen Gewaltverzicht zwi- kument abgeschlossen wurde. Zwei Elemente dieses schen beiden Bündnissen ausspricht und ein neues Dokuments sind hervorzuheben: die Festschreibung Verhältnis ihrer Mitgliedstaaten zueinander vorzeich- der Menschen- und Bürgerrechte und die Einsetzung net. von Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa. Meine Damen und Herren, man muß sich ja immer mühen, noch dreimal die Augen aufzureißen und die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ohren aufzumachen, um das überhaupt alles zu be- Die Betonung der Menschen- und Bürgerrechte hat greifen, was sich in den letzten zwölf Monaten ent- den Reformgruppen in den Staaten Ost- und Südost- wickelt hat. europas den Rücken gestärkt und dazu beigetragen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie daß sie sich binnen weniger Monate durchsetzen bei Abgeordneten der SPD) konnten. Die Revolution in der früheren DDR, die den Weg Aber der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten zur Überwindung der Teilung Deutschlands mit fried- konnte sich noch im Januar dieses Jahres eine solche lichen Mitteln freikämpfte, konnte sich auf die Erklä- Entwicklung nicht vorstellen. Wie sonst wäre zu erklä- rung zu den Menschenrechten der KSZE-Dokumente ren, daß er die Einbindung eines vereinten Deutsch- und auf das ungarische Beispiel stützen. land in die NATO für anachronistisch hielt — so wört- lich. (Hornung [CDU/CSU]: Und auf das Festhal ten am Verfassungsauftrag!) (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Hört! Hört! — Kuhlwein [SPD]: Sie wußten es im Januar — Vor allen Dingen auch auf das Festhalten an der auch noch nicht!) einheitlichen Staatsbürgerschaft, die Herr Lafontaine abschaffen wollte. — In dem Zeitpunkt sind wir für die Einbindung des Die Deutschen haben ihre Einheit mit Zustimmung vereinten Deutschlands in die NATO eingetreten, und Unterstützung der Vier Mächte und mit Zustim- aber Herr Lafontaine hat uns gesagt, das sei eine an- mung und Unterstützung aller ihrer Nachbarn und achronistische Vorstellung. Der Anachronist und das aller ihrer Partner vollenden können. Es gibt keinen Provisorium ist er. besseren Beweis dafür, daß wir das Vertrauen der Völ- (Zuruf von der FDP: So ist es!) kergemeinschaft wiedergewonnen haben. Die Bedeutung der Beteiligung der USA und Kana- Das Vertrauen gilt in ganz besonderem Maße dem das bei der Gestaltung des Friedens auf dem europäi- deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. schen Kontinent unterstreicht die Transatlantische Er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) klärung, die die zwölf EG-Staaten und die USA und Kanada während des Pariser Gipfels unterzeichnet Seine Außenpolitik der Verantwortung und Bere- haben. Die amerikanische Präsenz hat in den vergan- chenbarkeit machte die schnelle Verständigung mit genen Jahrzehnten entscheidend zur Friedenssiche- den Vier Mächten über die deutsche Einheit möglich. rung und zur Stabilität in Europa beigetragen. Gerade Jeder, der sieht, wie schwierig manches in den Län- in der Zeit des Wandels und der Neuorientierung in dern östlich unserer Grenzen heute wird, kann nur Europa können und wollen wir auf diese Präsenz nicht glücklich darüber sein, verzichten; das europäische Haus braucht eine nord- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) amerikanische Einliegerwohnung. wie schnell wir den Zwei-plus-Vier-Prozeß in trok- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kene Tücher gebracht haben, daß wir von allen mög- lichen Entwicklungen nicht mehr beeinträchtigt wer- Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Wei- den. chen für die Fortentwicklung der Europäischen Ge- meinschaft zur Europäischen Union sind gestellt. Wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wollen die Vertiefung der Europäischen Gemein- Der römische Gipfel und eigentlich auch die KSZE- schaft. Der Reformprozeß in der Sowjetunion, Polen, Veranstaltung sollten die deutsche Einheit ja noch Ungarn, der Tschechoslowakei und den anderen gewissermaßen absegnen und billigen; man hat nur Staaten Osteuropas muß unumkehrbar werden, und noch den Vollzug billigend zur Kenntnis nehmen kön- er muß zu einem vollen Erfolg werden. Deshalb muß nen. Das war schon eine große Leistung. die Gemeinschaft offen sein für die neuen Demokra- 18882 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Graf Lambsdorff tien und Marktwirtschaften, die schon jetzt die Per- Erstens: Zuwarten reicht nicht. Jawohl, Kredite spektive einer Integration in die EG brauchen. brauchen Reformen, aber Reformen brauchen auch Kredite. - (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Bahr [SPD]) (Bahr [SPD]: Ja!) Zweitens: Die Stabilität der Sowjetunion ist auch Die FDP ist — anders als der Herr Bundeskanzler — unsere Stabilität. der Meinung, daß wir Deutschen geradezu verpflich- tet sind, den Ungarn, den Polen, den Tschechoslowa- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — ken den Weg in die Europäische Gemeinschaft zu öff- Bahr [SPD]: Ja!) nen. Meine Damen und Herren, das Konzept für die eu- (Bahr [SPD]: Sehr wahr!) ropäische Friedensordnung liegt vor. Die ersten Bau- maßnahmen sind begonnen. Es kommt jetzt darauf an, Es kann nicht genug sein, an Sonn- und Feiertagen die Dynamik dieses Prozesses aufrechtzuerhalten und und in Staatsakten unsere Dankbarkeit gegenüber möglichst zu beschleunigen. Die Liberalen haben den den Regierungen und Völkern zum Ausdruck zu brin- Auftrag der Präambel des Grundgesetzes stets als gen, ihnen aber das Eigentliche, was sie brauchen konkrete Aufforderung zu politischem Handeln ver- — das sind nicht Kredite und Lieferungen, sondern standen. Integration in die westliche Wirtschaft — , zu verweh- Lassen Sie mich dies hier heute einmal sagen: Wir ren. Das ist falsch. sind stolz auf die kontinuierliche außenpolitische Hal- (Beifall bei der FDP und der SPD — Wider tung und Linie unserer Partei. Mit spruch bei der CDU/CSU) und der CDU/CSU haben wir die Aussöhnung nach Westen getragen, heftig bekämpft von der SPD. Mit — Nein, nein, nun wollen wir das mal nicht verstek- Willy Brandt und Helmut Schmidt und der SPD haben ken. Der Herr Bundeskanzler hat ausdrücklich eine wir die Ost- und Entspannungspolitik getragen, heftig andere Position noch vor drei Wochen vertreten. bekämpft von CDU und CSU. Ich bekunde dem Bun- deskanzler ausdrücklich meinen Respekt für die Ein- (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Da haben Sie sicht, die er heute hier zum KSZE-Prozeß vorgetragen nicht richtig zugehört!) hat. Ich wünschte mir, Herr Bahr, daß von Ihnen eine — Wir können doch noch lesen und hören. ähnliche Erklärung — Herr Ehmke hat nichts derglei- chen gesagt — und ähnliche Einsichten zum NATO- (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Manchmal nur Doppelbeschluß und seiner Wirkung auch einmal kä- das, was man will!) men. —Aber wenn es nicht so ist, ist es ja ein leichtes, es zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sagen. Dann wäre es ja schön. Dann wären wir einig. Ich sage, Frau Vollmer, ich sehe keinen Anlaß, uns Das machte die Koalitionsverhandlungen schon wie- bei der Friedensbewegung zu bedanken; denn sie der einfacher, meine Damen und Herren. hätte uns den falschen Weg gewiesen. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP — (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Soell [SPD]: Ein bißchen zu sicher!) Unsere Folgerichtigkeit hat zum KSZE-Gipfel nach Von Europa, meine Damen und Herren, das zu einer Paris geführt. Die Freie Demokratische Partei braucht neuen Form friedlichen Zusammenlebens findet, wird an ihrem außenpolitischen Weg durch die vier Jahr- umfassende, weltweite Solidarität mit den wirtschaft- zehnte Bundesrepublik Deutschland nichts zu korri- lich, ökologisch, sozial und militärisch gefährdeten gieren. Die Namen von zwei liberalen Außenmini- Regionen dieser Welt erwartet. Nur, sage ich, Frau stern stehen für diese Politik, erst Walter Scheel, unser Vollmer, noch einmal: Sosehr auch wir selbstver- späterer Bundespräsident. Sein Name steht unter dem ständlich dafür sind, allen ökologischen Forderungen Brief zur deutschen Einheit. Unter dem Schlußdoku- so schnell und so umfassend wie möglich gerecht zu ment der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen steht der werden, eine Voraussetzung brauchen Sie dafür, Name des Mannes, der seit sechzehn Jahren die Ver- nämlich leistungsfähige Wirtschaften; sonst sieht es antwortung für die deutsche Außenpolitik hat. Die nämlich am Ende so aus wie in der DDR. FDP sagt Hans-Dietrich Genscher Dank für eine über- ragende staatsmännische Leistung. (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten (Lebhafter Beifall bei der FDP — Beifall bei der CDU/CSU) der CDU/CSU)

Diesen Herausforderungen gerecht zu werden heißt Der Erfolg der Konferenz der KSZE - Staaten in Paris in diesen Tagen nach Auffassung der Freien Demo- erfüllt uns mit Freude. Meine Damen und Herren, die kraten: wir müssen der Sowjetunion im bevorstehen- deutsche Einheit ist vollendet. Die Teilung Deutsch- den Winter helfen. Das ist das Drängendste. Aber, lands und Europas ist überwunden. meine Damen und Herren, Winterhilfe allein reicht nicht. Die Sowjetunion und unsere östlichen Nach- (Zuruf der Abg. Frau Dr. Sonntag-Wolgast barn brauchen weitere Hilfe für ihren Weg der Refor- [SPD]) men. Für die FDP sage ich — wohlwissend, wie — Die deutsche Einheit ist vollendet, nicht die Einheit- schwierig das ökonomisch alles zu beurteilen ist, und lichkeit, das wissen wir auch. Aber die staatliche Ein- ich kann das hier nur sehr kurz darstellen — zwei heit ist vollendet. Warum müssen wir denn immer Punkte: davon abstreichen? Warum müssen wir diesen Erfolg Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18883

Dr. Graf Lambsdorff denn immer kleinschreiben? Das hat doch überhaupt Meine Damen und Herren, Europas neue Horizonte keinen Sinn. werden aber zugleich von dunklen Wolken der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kriegsgefahr am Golf überschattet. Präsident Bush wollte seine an der Heimatfront zunehmend umstrit- Ich wiederhole: Die deutsche Einheit ist vollendet. Am tene militärische Offensivstrategie in Paris offensicht- 3. Oktober war sie vollendet. Daß da noch viel zu tun lich bestätigen lassen; dies mißlang. Und es wäre wohl bleibt, wissen alle; und ich glaube, wir haben bessere auch mehr als ein Geburtsfehler gewesen, wenn der Konzepte als Sie. europäische Aufbruch von einer De-facto-Kriegser- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — klärung begleitet worden wäre, wo doch die Zeichen Zurufe von der SPD) aus Bagdad andeuten, daß das gemeinsame, ent- Die Teilung Deutschlands und Europas ist überwun- schlossene Handeln der internationalen Staatenge- den. meinschaft den Agressor ohne Krieg zum Rückzug zwingen kann. Heute ist die letzte Plenarsitzung dieser Sitzungspe- riode. Für die Freien Demokraten sage ich — und je- (Lenzer [CDU/CSU]: Hoffentlich haben Sie der Bürger in unserem Lande kann es nachvollziehen recht!) und überprüfen — : Es hat seit Bestehen der Bundes- republik Deutschland keine ertragreichere, keine er- Nein, der Zynismus Saddam Husseins in seinem Spiel folgreichere Legislaturperiode gegeben. Wir wollen mit Geiseln und einem okkupierten Staat darf nicht diese Arbeit fortsetzen. durch Zynismus gegenüber Abertausenden unschul- (Anhaltender lebhafter Beifall bei der FDP digen Menschen und der Umwelt ersetzt werden, die und der CDU/CSU) Opfer eines Angriffskrieges am Golf werden wür- den. Wir begrüßen die angekündigte Freilassung der Das Wort hat die Abge- Vizepräsident Cronenberg: deutschen Geiseln und fordern Saddam Hussein auf, ordnete Frau Dr. Kaufmann. alle ausländischen Geiseln freizulassen. Die angekün- digte Freilassung der deutschen Geiseln sollte die Bundesregierung nicht in Erklärungszwänge verstrik- Frau Dr. Kaufmann (Gruppe der PDS): Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! Der Pariser Europa- ken, sondern ihr endlich Veranlassung sein, sich poli- tisch aktiv in den Konflikt einzuschalten und seine gipfel ist zu Ende. Die Gruppe der Abgeordneten der PDS begrüßt seine Ergebnisse, insbesondere den Ver- nichtmilitärische Überwindung in den Mittelpunkt ih- trag über die Reduzierung und Begrenzung der kon- res Handelns zu stellen. ventionellen Streitkräfte. Damit wurde die Tür für er- Statt dessen wird jedoch über die Änderung des forderliche weitergehende Abrüstungsschritte weit Grundgesetzes nachgedacht, um deutsche Soldaten aufgestoßen. an den Golf entsenden zu können. Wir sind unter Ausdrücklich möchte ich erklären, daß wir das Frie- Beachtung der deutschen Geschichte strikt dagegen, densbekenntnis des Bundeskanzlers, seine erneute daß deutsche Soldaten jemals wieder außerhalb Bekräftigung der Endgültigkeit der Grenzen als Fak- Deutschlands eingesetzt werden. tor der Stabilität in Europa begrüßen. Wir tragen die damit einhergehende Forderung, keine neuen Wohl- (Bohl [CDU/CSU]: Warum habt ihr sie denn standsgrenzen zu errichten sowie dem neuen Natio- 1968 in die Tschechoslowakei geschickt? nalismus keinen Raum zu gewähren, nicht nur unein- Warum haben Sie die dahin geschickt?) geschränkt mit, sondern werden dies — wo und wann auch immer erforderlich — mit einklagen. Und die Aufforderung an deutsche Soldaten, sich an einem solchen Einsatz nicht zu beteiligten, ist schon In Paris sollten die Nachkriegsära, der Kalte Krieg deshalb keine Straftat, weil nach der gegenwärtigen und die Block-Konfrontation endgültig zu Grabe ge- Rechtslage noch ihr Einsatz eine Straftat wäre. tragen werden, wenngleich nicht wenige Politiker ihn im Innern, z. B. gegenüber der PDS, fortsetzen, wenn- Meine Damen und Herren, es wäre unredlich, zu gleich in der früheren DDR ausgeteilte, entwürdi- übersehen, daß Paris zwar eine historische Etappe in gende Fragebogen von altem antikommunistischen Würde abgeschlossen, zugleich aber über die Zukunft und antisowjetischen Geist geprägt sind. Europas noch nicht bzw. erst in Ansätzen entschieden Daß die Nachkriegsära in Paris für beendet erklärt hat. Diese schwierige Aufgabe liegt erst noch vor uns, werden konnte, dies haben die demokratischen Um- und daran müssen alle politischen Kräfte Europas wälzungen und die Reformen im Osten Europas er- — sowohl die, die Regierungsverantwortung tragen, möglicht. als auch jene, die sich in der Opposition befinden — teilnehmen können. (Hornung [CDU/CSU]: Damit ist die PDS überflüssig!) Noch lebt, wie Präsident Mitterrand erklärte, der Sichtbarster Ausdruck sind die historischen Verände- Kalte Krieg in manchen Köpfen weiter, obwohl er öf- rungen auf der politischen Landkarte, die deutsche fentlich für tot erklärt wurde. Die Fähigkeit des ver- Einheit, der eingeleitete Prozeß des Abbaus der über- einten Deutschland, den Bauplan eines künftigen ge- dimensionalen Waffenarsenale und die gegenseitige meinsamen Hauses Europa kreativ und prägend mit- Versicherung der Staaten von Warschauer Vertrag zugestalten, wird in hohem Maße davon abhängen, und NATO, nicht mehr Gegner, sondern künftig Part- wie es gelingt, die im eigenen deutschen Haus beste- ner zu sein. henden sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Grä- 18884 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Frau Dr. Kaufmann ben zu überwinden und Versuche der Ausgrenzung über Jahrhunderte gewachsenen ethnischen Konflik- Andersdenkender zu beenden. ten, sind Faktoren der Instabilität, die zu Chaos, Bür- gerkrieg und zur Entstehung von regelrechten Krisen-- (Zuruf von der SPD: Da kenne ich welche, die und Konfliktzonen führen können. Wir übersehen Gräben gegraben haben!) nicht die reale Gefahr, daß dadurch die Einigung Eu- Demokratie kann sich — sei es im Osten Deutsch- ropas großen Schaden nehmen und ernsthaft hinaus- lands, sei es im Osten Europas — nur befestigen, gezögert werden kann. wenn sich alle Bürgerinnen und Bürger chancen- Die künftigen sicherheitspolitischen Strukturen, die gleich in der neuen deutschen und europäischen Ge- den Westen u n d den Osten einschließen müssen, sind schichte wiederfinden. noch nicht klar erkennbar. Dabei übersehen wir nicht, (Hornung [CDU/CSU]: Wenn die Überbleib daß erste Schritte zur Institutionalisierung von Ein- sel der Diktatur beseitigt sind!) richtungen und zur Schaffung von Mechanismen zur Internationalisierung darf sich nicht an nationale Friedensbewahrung in der Pariser Charta festge- Grenzen stoßen. Der Ruf nach der Einheit Europas schrieben wurden. Wir glauben aber nicht, daß die und das Verbot des Wahlrechts für Ausländer sind KSZE künftig nur eine Art multinationaler Rahmen für nicht miteinander vereinbar. Auch dieses Defizit im Entscheidungen sein kann, die in der NATO oder Grundgesetz zeigt, daß die Ausarbeitung einer neuen anderswo getroffen werden. Europa braucht ein deutschen Verfassung in Angriff zu nehmen ist. neues, umfassendes, nicht militärisch geprägtes Si- cherheitsdenken; denn die eigentlichen Gefahren für Meine Damen und Herren, was erwarten die Men- seine Stabilität und Sicherheit erwachsen nicht mehr schen in den ostdeutschen Ländern, im Süden und aus der militärischen Konfrontation, sondern aus na- Osten Europas und in der Sowjetunion von diesem tionalen Konflikten, ungelösten ökonomischen und sich einigenden Europa? Sie erwarten Frieden, weit sozialen Problemen. Das heißt, die NATO kann auf geöffnete Grenzen und vor allem einen wirtschaftli- Dauer so, wie sie ist, nicht bleiben. Sie muß sich von chen Aufschwung, der ihre Lebensqualität deutlich ihren doktrinären und strukturellen Altlasten lösen. und spürbar verbessert. Ihre Erwartungen in die öko- nomische Kraft des Westens sind so hoch, daß es (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Hat Ihnen das schwerfallen wird, sie auch nur annähernd zu erfül- einer aufgeschrieben?) len. Viele Menschen glauben, daß ihnen die Markt- Es kann doch nicht sein, daß die NATO einerseits in wirtschaft und der Brückenschlag zum Westen gewis- der Sowjetunion keinen Feind mehr sieht, die UdSSR sermaßen über Nacht ein Schlaraffenland bescheren. aber andererseits nach wie vor als größte potentielle Es sollte deshalb auch der Mut aufgebracht werden, Bedrohung bezeichnet wird. die Dimension der tatsächlich bestehenden und noch zu erwartenden Probleme klar zu benennen und Es stellt sich doch die Frage: Entweder werden ebenso unmißverständlich die Weichen für ihre reali- beide Blöcke aufgelöst und ein neues, wirklich kollek- stische Bewältigung zu stellen. Die Erfahrungen, die tives Sicherheitssystem im Rahmen der KSZE ge- wir im Osten Deutschlands gemacht haben und ma- schaffen, oder die NATO verändert total ihre Optio- chen, gebieten dies schlicht und einfach. nen und Strukturen, erklärt sich offen für den Beitritt aller anderen europäischen Staaten, einschließlich Absichtserklärungen, wonach es keine Wohlstands- der Sowjetunion, und macht so den Weg für die Ent- mauern, keine Europäer erster und zweiter Klasse, stehung eines solchen Systems frei. kein Armenhaus und kein Billiglohngebiet Europas geben dürfe, sind die eine Seite. Die andere Seite aber (Dr. Mechtersheimer [GRÜNE/Bündnis 90]: ist, daß eben dies nicht ausreicht. Ein gesamteuro- Das Dritte wird passieren!) päisches „new deal", das von allen Staaten mitgetra- Meine Damen und Herren, es darf keine Pause in gen wird, muß schleunigst entwickelt und am besten der Abrüstung zugelassen werden. Der aus der Redu- baldmöglichst zum Gegenstand einer Art ökonomi- zierung von Quantität resultierende Effekt darf nicht scher Nachfolge-KSZE gemacht werden. durch Fortsetzung qualitativ neuer Rüstung zunichte (Hört! Hört! bei der SPD) gemacht werden. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt es Hun- (Zustimmung bei der Gruppe der PDS) derte, wenn nicht Tausende von Arbeitslosen mit den Überhaupt wird die drastische Reduzierung von Aus- unterschiedlichsten Berufen, die in der UdSSR und in gaben für militärische Zwecke zur Nagelprobe. Die anderen osteuropäischen Ländern studiert, gelebt Bundesregierung muß hier neue Signale setzen, d. h. und gearbeitet haben und über ausgezeichnete Verzicht auf weitere Milliarden verschlingende Rü- Sprach- und Landeskenntnisse verfügen. Sie sollten stungsobjekte wie Jäger 90 und Panzerabwehrkampf- die Möglichkeit erhalten, entsprechend ihren Fähig- hubschrauber. keiten für diese Länder oder in ihnen tätig zu wer- den. Die Bundesregierung muß neue Signale setzen, in- dem sie sich dafür einsetzt, daß die in der ehemaligen Meine Damen und Herren, der zentralistischen DDR entstehende kernwaffenfreie Zone nicht durch Planwirtschaft einfach eine zum Teil rücksichtslose luftgestützte nukleare Abstandswaffen praktisch auf- Marktwirtschaft, wie sie z. B. im Westen Deutsch- gehoben wird, und indem sie auf den Abzug aller lands kaum noch üblich war, aufzustülpen führt zu Kernwaffen und Kernwaffenträger aus ganz Deutsch- neuen gefährlichen Deformationen. Die unvermeidli- land hinwirkt. che Konsequenz enttäuschter Hoffnungen der Men- schen, gepaart mit nationalen Leidenschaften und (Beifall bei der Gruppe der PDS) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18885

Frau Dr. Kaufmann Die Bevölkerung erwartet ein komplexes, vor allem an! Ihr habt doch immer gemeint, wir seien sozialen und ökologischen Bedürfnissen entsprechen- Ausländer! — Frau Schulte [Hameln] [SPD]: des Konzept für eine umfassende Konversion. Das Aufschreiben und ablesen!) - von der PDS noch in der Volkskammer mit initiierte Das neue Europa darf nicht nur durch Regierungen Konversionsgesetz muß im neuen Bundestag behan- und Eliten gestaltet werden. Es erfordert vielmehr das delt werden. Diesbezüglich wurden die ehemaligen gemeinsame Handeln aller politischen und gesell- Volkskammerabgeordneten alle verpflichtet. schaftlichen Kräfte, die Mitwirkung seiner Bürgerin- Auch die Fragen von Wehr- und Zivildienst können nen und Bürger, die als Angehörige ihrer Nationen in einer wirklich demokratisch selbstbestimmten Ge- zugleich Europäer werden möchten. sellschaft nur auf der Grundlage freier Entscheidung (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Wir sind keine Aus- der Betroffenen gelöst werden. Die Forderung nach länder!) der Aufhebung der Wehrpflicht bleibt deshalb ak- tuell. Die Bedeutung aller in Europa ablaufenden Pro- zesse darf jedoch nicht zu einem Eurozentrismus füh- Im Zusammenhang mit der Abrüstung muß deutli- ren. Frieden, d. h. auch ökonomischer, ökologischer che Kritik an der Bundesregierung geübt werden. Ra- und sozialer Ausgleich, muß unbedingt auch mit der dikale Abrüstungsvorschläge kamen bisher noch nie sogenannten Dritten Welt gefunden werden. von ihr, sondern immer von anderen Regierungen, insbesondere von der sowjetischen Regierung, und, (Beifall bei der Gruppe der PDS) Herr Graf Lambsdorff, gerade auch von der außerpar- Es darf nicht dabei bleiben, daß die Industriestaaten lamentarischen Friedensbewegung. Der Anteil dieser auf Kosten der sogenannten Dritten Welt leben, daß Bundesregierung bestand stets darin, zu verhindern, zwischen verschiedenen Mächten über die Neuvertei- daß die Abrüstung zu radikal wird. Viel zu häufig ver- lung hinsichtlich der Ausbeutung dieser Welt nur handelte sie nach oben statt nach unten. Gerade nach nachgedacht wird. Herstellung der Einheit Deutschlands sollten künftig (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Ihr habt dafür nichts von einer deutschen Regierung die am weitesten rei- gemacht! Außer Waffen habt ihr nichts gelie- chenden Abrüstungsvorschläge ausgehen. fert! Nur Soldaten habt ihr geschickt!) (Hornung [CDU/CSU]: Ein Unsinn! Das ist Im Ausgleich mit der sogenannten Dritten Welt muß nicht mehr mit anzuhören!) Europa und kann auch die Bundesrepublik Deutsch- — Das ist überhaupt kein Unsinn. land eine positive Rolle spielen. Wir würden es begrüßen, wenn im Wettbewerb um Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. die radikalsten Abrüstungsvorschläge künftig die (Beifall bei der Gruppe der PDS) Bundesrepublik Deutschland als Sieger hervorgeht. (Beifall bei der Gruppe der PDS) Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- Meine Damen und Herren, viele Fragen stehen neu ordnete Bahr. vor uns: die Notwendigkeit, insbesondere die ökono- mische, kulturelle und humanitäre Dimension der KSZE weiter auszugestalten und das Verhältnis von Bahr (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Her- EG-Integration und gesamteuropäischem Prozeß, von ren! Vor einer Woche hat der Bundeskanzler hier ver- Europarat und KSZE zu durchdenken. spätet eingeräumt, daß es bisher einen Feind gab. Es kommt darauf an, im Rahmen der KSZE die par- Aber es stimmt: Wir haben keinen Gegner, keinen lamentarisch-demokratische Kontrolle zu stärken Feind mehr. und die entsprechende Zusammenarbeit mit gesamt- Kaum etwas kennzeichnet die vollständig verän- europäischen Rahmen zu fördern. Dazu gehört eine derte Lage besser als die verrückte Tatsache, daß die Erweiterung der Rechte des Europaparlaments. sowjetische Elitearmee auf dem Territorium der Was die Architekten des künftigen Europas betrifft, NATO in Deutschland steht, obwohl die NATO doch sieht die PDS eine realistische Vision in der Idee einer gerade das immer verhindern wollte. gesamteuropäischen Konföderation gleichberech- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei Sie könnte die Realisierung von Plänen tigter Staaten. Abgeordneten der GRÜNEN/Bündnis 90 — für eine Vormachtrolle des vereinten Deutschlands in Hornung [CDU/CSU]: Mit unserer Dul- Europa zumindest erschweren. Es ist gefährlich, dung!) Träume von einer solchen Vormachtrolle oder von einer Großmachtrolle Deutschlands zu hegen. Und niemand ist deswegen beunruhigt. (Hornung [CDU/CSU]: Das ist Ihre Gedan Der Ost-West-Konflikt ist zu Ende. Die deutsche kenwelt!) Teilung ist zu Ende. Die Teilung Europas ist zu Ende. — Das ist nicht meine Gedankenwelt. Gucken Sie Ein verspätetes Geschenk des Ost-West-Konflikts bitte ins Protokoll: Auf der Sitzung im Reichstag hat ist der der Anfang dieser Woche Herr Dregger in bezug auf Deutschland von einem Abrüstungsvertrag, in Paris unterzeichnet wurde. Sein Ziel war, ein Kernland in Europa gesprochen. Dahinter sehe ich Gleichgewicht konventioneller Waffen zwischen schon so etwas. NATO und Warschauer Vertrag zu erreichen. Dieses (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das ist ein bißchen Ziel ist auf dem Papier erreicht, in der Realität ver- was anderes! Schauen Sie mal die Landkarte fehlt. 18886 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bahr Wer mehr hat, soll mehr abrüsten. Das war die aner- Auch daß der Westen letztlich weniger Verifikation kannte Regel zwischen Ost und West, wollte, als er im Ansatz gefordert hat, zeigt die Verän- derung der Lage. Das bedeutendste Abrüstungsab-- (Dr. Knabe [GRÜNE/Bündnis 90]: Jetzt ha kommen der Geschichte ist durch die Geschichte ben wir bald mehr!) überholt worden, schon am Tage der Unterschrift. um ein Gleichgewicht zu schaffen, das auf der Basis (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bündnis der deutschen Teilung ausgerichtet wurde. Die Stabi- 90 und der Gruppe der PDS) lität europäischer Streitkräfte sollte um die deutsche Teilung herum ausbalanciert werden. Das mindert nicht das berechtigte Lob für die große und engagierte Arbeit, die Beamte aus allen beteilig- Wenn das funktioniert hätte, wäre der jetzt unter- ten Staaten geleistet haben, übrigens auch aus der zeichnete Vertrag ein Riesenerfolg der Entspan- DDR. Im Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungs- nungspolitik geworden. In den nicht einmal 20 Mona- kontrolle hatten wir Gelegenheit, Zivilisten und Sol- ten der Verhandlungen sind die Grundlagen verloren- daten schätzenzulernen, die Phantasie mit dem Willen gegangen. Der Vertrag kam in dem letzten geschicht- zum Erfolg verbanden. lich möglichen Augenblick, in dem die Staaten des Warschauer Vertrages noch als Staaten des War- Wir dürfen uns auch an die Vorgeschichte dieses schauer Vertrages Rüstungsverpflichtungen überneh- Vertrages erinnern, an das Signal von Reykjavik, aber men konnten und wollten — mit Ausnahme der DDR, die Vorgeschichte beginnt spätestens in Oreanda die schon nicht mehr unterzeichnet hat, weil es sie 1970, als Bundeskanzler Brandt und Generalsekretär nicht mehr gibt. Breschnew vereinbarten, daß der politischen Entspan- nung die militärische folgen muß. Reduktion der Aber die Warschauer Vertragsorganisation ist keine Streitkräfte ohne Nachteil für die Beteiligten, das war militärische Einheit mehr. Jeder weiß, daß Polen, die die Formel, aus der die jahrelangen Verhandlungen in CSFR und Ungarn nicht mehr gemeinsam mit der Wien über ausgewogene Truppenverminderung wur- Sowjetunion auf die östliche Waagschale geworfen den. werden können. Ihre frei gewählten Regierungen de- finieren ihre Sicherheitsinteressen selbst. Sofern sie Immer weiter get riebene Waffenprogramme, kon- ihre Unabhängigkeit aus dem Osten bedroht sähen, ventionell wie atomar, qualitativ wie quantitativ, un- würden sie sie östlich von Deutschland behaupten. terminierten das schon erreichte Vertrauen. Das ging Aber selbst eine solche Überlegung ist veraltetes Den- so weit, daß ein amerikanischer Präsident 1976, ken aus der Zeit der Konfrontation. Gerald Ford, also ein Jahr nach der Helsinki- Schlußakte, feststellt, Détente sei im amerikanischen Jedenfalls wird das Verschwinden der bisherigen ein Fremdwort, womit er sprachgeschichtlich wohl so- östlichen konventionellen Überlegenheiten nicht das gar recht hatte. erstrebte Gleichgewicht, sondern eine neue Asym- metrie zugunsten des Westens bringen. Es wird poli- Rüstungen und Gegenrüstungen haben die sinnlose tisch von großer Bedeutung für die weitere Entwick- Fähigkeit zum Kriegführen ausgebaut, und die Wirk- lung in Europa sein, daß die alte Gleichung „NATO samkeit der Helsinki-Schlußakte gebremst. Die äu- gegen Warschauer Vertrag" sich nicht auf eine Ge- ßere Drohkulisse hat die innere Dynamik behindert, in genüberstellung von NATO und Sowjetunion redu- der Gesellschaften zu Reform und Demokratie dräng- ziert. Denn auch die NATO hat keinen Feind mehr. ten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der GRÜNEN/Bündnis 90 und der Gruppe Die Rückschläge in Polen Anfang der 80er Jahre der PDS) sind unvergessen. Die Historiker werden zu entschei- Die Sowjetunion, unser Sicherheitspartner, braucht den haben, ob die Rüstung so notwendig war oder, die neue Entwicklung nicht zu stören. Unter- und umgekehrt, ob sie nicht gerade marode Regime stabi- Überlegenheiten bei Stückzahlen von Waffen sind in lisiert hat. Europa politisch irrelevant geworden. Sie waren auch (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh früher nicht so wichtig, wie sie hier gemacht wurden, [fraktionslos]) weil sie ohnehin militärisch nicht mehr benutzbar wa- ren. Graf Lambsdorff, ich bin jedenfalls der Meinung, daß für die heutige Lage Gorbatschow wichtiger war als Zu den kleinen Schönheitsfehlern des Vertrages der Doppelbeschluß. gehört die Festsetzung von Obergrenzen, die den NATO-Staaten bei einigen Waffenkategorien sogar (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ Aufrüstung gestatten. Deutschland ist die Ausnahme. Bündnis 90) Wir werden, da uns die NVA glücklicherweise zuge- Europa kann durch Rüstung der vergangenen Jahre rechnet wird, prozentual weit an der Spitze der Abrü- auch kostbare Zeit verloren haben. Abrüstung ist ein stung liegen. Schlüssel für Menschenrechte, mehr Freiheit und Re- (Sehr gut! bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und formen. Daran erinnern heißt fordern: Es muß erreicht der CDU/CSU) werden, daß Rüstung und Modernisierung nie wieder ein Eigenleben gewinnen und neue Spannungen pro- Unsere Verbündeten werden wohl nicht so verrückt duzieren. sein, ohne Feind weiterzurüsten. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Bündnis 90) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18887

Bahr Es darf kein neuer Wettlauf mit qualitativ neuen Waf- den sich ähnlich entscheiden. Polen will seine Streit- fensystemen entstehen, die neue militärische Optio- kräfte auf 130 000 Mann reduzieren, die CSFR auf nen eröffnen. 60 000. Deutschland wird dann 370 000 Mann ha- - ben, Herr Abgeordneter Vizepräsident Cronenberg: (Dr. Mechtersheimer [GRÜNE/Bündnis 90]: Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- Eine ganze Menge!) neten Knabe? und unsere Nachbarn werden fragen: Wozu braucht Bahr (SPD): Bitte sehr. ihr soviel? In der Tat: Wir werden nicht mehr brauchen als alle Dr. Knabe (GRÜNE/Bündnis 90) : Herr Kollege unsere Nachbarn zusammen, die ja weder Gegner Bahr, Sie haben den Einsatz von Gorbatschow und noch Feind sind. „Sicherheit für Deutschland und den Doppelbeschluß verglichen. Aber war nicht eine Sicherheit vor Deutschland" wird ein Kriterium der wesentliche Voraussetzung die langjährige Arbeit der europäischen Stabilität sein, die eben nur im gesamt- Friedensbewegung, die auch im Osten Vertrauen er- europäischen Rahmen zu finden sein wird. zeugt hat, daß hier im Westen Menschen leben, die sie nicht vernichten wollen, die sich nicht angreifen wol- Da also weitere Abrüstung erwünscht und möglich len, sondern die für eine Verständigung insgesamt ist, wird die Bundeswehrplanung schon jetzt darauf eingetreten sind? einzurichten sein, daß es nicht bei 370 000 Mann bleibt. Bahr (SPD): Ich habe schon früher gesagt, daß es (Dr. Mechtersheimer [GRÜNE/Bündnis 90]: einen Zeitpunkt gegeben hat, in dem man die Frie- So ist es!) densbewegung hätte erfinden müssen, wenn es sie nicht gegeben hätte. Die Bundeswehr steht vor der größten Reform, seit es (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh sie gibt. [fraktionslos]) (Frau Dr. Däubler-Gemlin [SPD]: So ist es!) Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß For- schungsprogramme und Entwicklungsprogramme Da man den Streitkräften nicht alle vier Jahre eine weiterlaufen. Wenn wir es nicht schaffen, da einen neue Struktur verordnen kann, sollten die jetzt fälli- Deckel draufzusetzen, hat Europa auf Sand gebaut. gen Entscheidungen so getroffen werden, daß weitere (Beifall bei der SPD) Reduktionen mitgedacht werden. Verhandlungen mit dem Ziel Stopp der Modernisie- (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd- rung müssen nun beginnen. Die beiden bisherigen nis 90 und der Gruppe der PDS sowie der Seiten dürfen je 20 000 Panzer behalten. Wer braucht Abg. Frau Würfel [FDP] und der Abg. Frau gegen wen 40 000 Panzer, da niemand mehr Gegner Unruh [fraktionslos]) und Feind hat? Ich nenne einmal die Richtzahl von 250 000, (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd nis 90, der Gruppe der PDS und der Abg. (Zuruf von der CDU/CSU: Warum denn so Frau Unruh [fraktionslos]) viel?) Die zügige Fortsetzung der Verhandlungen zur Fort- die unter- oder überschritten werden kann, je nach- setzung der Abrüstung ist geboten. Geboten ist die dem, wie wir das im Verbund mit unseren Nachbarn Gegen wen Überprüfung aller Rüstungsprogramme. beschließen. sollen die Panzer rollen, die in den nächsten vier Jah- ren vom Band rollen sollen? — Wirtschaftlicher Unsinn Streitkräfte brauchen eine sinnvolle und erfüllbare muß gestoppt werden, um den politischen Unsinn ei- Aufgabe, sonst passiert, was wir bei der sowjetischen ner neuen Drohkulisse zu verhindern. Armee in Ostdeutschland sehen. Unsere Sorge vor ihr (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd ist zu einer Sorge für sie geworden. Was also wird die nis 90 und der Abg. Frau Unruh [fraktions Aufgabe der Bundeswehr? los]) Eine ist sicherlich, die Unverletzlichkeit des eige- Hier kann sich die neue Souveränität des größeren nen Territoriums zu schützen. Da wird dann die Frage Deutschland bewähren. Es wird gar nicht billig, den zu stellen sein, ob Deutschland so stark aus dem We- Schutt des alten Konflikts wegzuräumen, aber das sten bedroht wird, daß es die Masse seiner Streitkräfte darf doch kein Grund sein, neuen Schrott zu produzie- im Westen haben muß. Zwei Drittel des deutschen ren! Territoriums bildet die ehemalige Bundesrepublik, (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd ein Drittel bildet die ehemalige DDR. Im Augenblick nis 90, der Gruppe der PDS und der Abg. ist vorgesehen, daß sechs Siebtel der Bundeswehr im Frau Unruh [fraktionslos]) alten Westen, ein Siebtel im alten Osten stehen. Wenn 1994 alle sowjetischen Streitkräfte hinter der (Hornung [CDU/CSU] : Aus wohl durchdach- sowjetischen Grenze stehen werden, reduziert und ten Gründen!) kontrolliert, dann werden die Amerikaner bedeutend weniger als 100 000 Mann haben, die Engländer stark Das macht keinen Sinn. Wer für die neuen Bundesbür- reduziert haben, die Franzosen vielleicht abgezogen ger gleiche Rechte und Pflichten will, weil nur so die sein. Andere Verbündete auf deutschem Boden wer Einigung der Deutschen zu vollenden ist, wird ihnen 18888 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bahr auch gleiche Belastungen bei den Streitkräften zumu- der Sicherheit geteilt bleiben? Wir können für die ten oder zubilligen. Westdeutschen weder mehr noch weniger Sicherheit wollen oder haben wie für die Ostdeutschen. Gegen- (Dr. Knabe [GRÜNE/Bündnis 901: Am be wen oder was sind Atomwaffen noch zu begrün- sten null Siebtel!) den? Aber da wir ja auch im Osten keine Gegner oder Feinde mehr haben, gegen die wir die Bundeswehr (Zuruf von der Gruppe der PDS: Überhaupt konzentrieren müßten, wird sich für die Bundeswehr nicht!) eine so ausgewogene Stationierung empfehlen, daß weder im Westen noch im Osten deutsche Hinterge- Unsere alte Forderung „keine Atomwaffen auf dem danken vermutet werden können. Eine territorial aus- Gebiet von Staaten, die darüber nicht verfügen" muß gewogene Verteilung von Streitkräften, die im we- jetzt verwirklicht werden. sentlichen territoriale Aufgaben haben — das ist die Richtung für die deutschen wie für die Streitkräfte (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd- unserer europäischen Nachbarn. nis 90, der Gruppe der PDS, der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] sowie des Abg. Wüppe- Eine zweite Aufgabe der Bundeswehr wird sein, sahl [fraktionslos]) ihren Beitrag im und zum Verbund der europäischen Sicherheit und der dafür aufzubauenden Strukturen Von Norwegen bis nach Griechenland zieht sich zu leisten. nun ein atomwaffenfreier Korridor. Es täte Europa Zum Schutt aus den Zeiten der Konfrontation und gut, wenn er durch das Gebiet der alten Bundesrepu- blik etwas erweitert wird. Als Sozialdemokraten nach Bedrohung gehören die Atomwaffen auf unserem Bo- den. Mit dem INF-Vertrag wurden landgestützte weit- der zweiten Null-Lösung die nächste forderten, er- reichende Mittelstreckenraketen verboten. In kurzer klärte der Bundeskanzler: Die dritte Null - Lösung gibt Zeit wird es keine solchen Waffen mehr geben, die es nur über meine Leiche. Nun ist die dritte Null- Lösung fällig. Helmut Kohl wird sie, falls er Kanzler vom Boden der NATO-Staaten aus die Sowjetunion erreichen können. Gleiches gilt umgekehrt für sowje- bleibt, machen und sich dennoch seines Lebens tische Atomwaffen mit europäischen Reichweiten. freuen. Was zu regeln bleibt, sind weitreichende Raketen, (Beifall der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — die aus der Luft oder von Schiffen aus gegeneinander Hornung [CDU/CSU]: Naiv ist das!) gerichtet werden können. Ich denke, es ist klar: Sie müssen weg, und neue zu entwickeln ist sinnlos. — Nun warten Sie doch einmal ab! Sie haben ja schon erlebt, daß der Bundeskanzler die zweite Null-Lösung (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd akzeptiert hat. Heute war er sogar stolz, daß er die nis 90, der Gruppe der PDS und der Abg. Pershing I zugesagt hat. Das waren doch alles sozial- Frau Unruh [fraktionslos]) demokratische Forderungen, die mit Verspätung ak- Falls sie in Amerika noch entwickelt werden sollten, zeptiert wurden. was unwahrscheinlich geworden ist, sollte die Bun- desregierung erklären, daß sie jedenfalls nicht in (Beifall bei der SPD, des Abg. Dr. Ullmann Deutschland stationiert werden. [GRÜNE/Bündnis 90] und der Abg. Frau Un- ruh [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd nis 90, der Gruppe der PDS und der Abg. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie auf Frau Unruh [fraktionslos]) den zugesagten Beginn der nuklearen Verhandlun- Sie würden nicht in die Landschaft passen, in der gen drängt und sich für eine Null-Lösung einsetzt, die Sicherheit in Europa gemeinsam mit dem Partner her- keine Stationierungsart — auch nicht die Stationie- gestellt wird. Wir haben ja in der letzten Woche ver- rung von Flugzeugen — ausschließt. Es dürfen keine traglich festgelegt, daß auch die Sowjetunion zu die- neuen Grauzonen entstehen. Die Fähigkeit zum sen Partnern gehört. Kriegführen mit Atomwaffen muß endgültig beseitigt werden. Dann gibt es noch die Kurzstrecken - und Gefechts- feldwaffen. Sie können noch die Tschechen bedro- (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd- hen; oder die Bundesregierung, falls sie nach Berlin nis 90, der Gruppe der PDS, der Abg. Frau zieht. Unruh [fraktionslos] und des Abg. Wüppe- (Heiterkeit bei der SPD) sahl [fraktionslos]) Auch unsere französischen Freunde werden sich zu Die neugewonnene Souveränität sollten die Deut- fragen haben, ob die größere Reichweite, die sie mit schen als Gewicht gerade dafür einsetzen. Seit Jahren der Hades statt der Pluton gewinnen wollten, noch haben wir eine neue Strategie der NATO gefordert, irgendeinen politischen oder militärischen Sinn die an die Stelle der Abschreckung gemeinsame Si- macht. Denn wem soll es nützen, Dresden oder Ro- cherheit durch Sicherheitspartnerschaft setzt. Das ist stock oder Prag treffen zu können? Seit der Bundes- nun Politik des Bündnisses geworden. Die Chemie- kanzler Ostdeutschland endgültig zur atomwaffen- waffenfreiheit kommt für Europa, auch wenn es die freien Zone gemacht hat, verdient er nicht nur den weltweite Ächtung noch nicht gibt. Hinlängliche Ver- Glückwunsch der Sozialdemokraten, die das schon teidigung und strukturelle Angriffsunfähigkeit — lange wollten, sondern er steht auch vor der grund- diese komplizierten Beg riffe werden nun erlebbare sätzlicheren Frage: Soll das geeinte Deutschland in Wirklichkeit; eigentlich Grund genug, die Regierung Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18889

Bahr zu preisen, daß sie erreicht hat, wogegen sie immer der Sowjetunion passiert — der Westen wird es nicht gekämpft hat. mit Waffen lösen können. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Zuruf (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ - von der CDU/CSU: So ein Quatsch!) Bündnis 90) Nun reicht die NATO der Sowjetunion die Hand zur Den strategischen Atomschirm halten die Amerika- Freundschaft. So weit sind Sozialdemokraten nie ge- ner aufgespannt. Gerade auch in diesem Zusammen- gangen. Aber wir begrüßen das natürlich trotzdem. hang wird eine fundamentale Änderung der Situation klar: Die Politik der Stärke ist zu Ende. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN/Bündnis 90) (Beifall bei der SPD und der Gruppe der PDS sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Es gab noch eine erstaunliche Veränderung. Aus Kittelmann [CDU/CSU]: Durch die Politik dem früheren Vorwurf an die SPD, sie mache sich der CDU/CSU und der FDP) mehr Sorgen um die Sowjetunion als um uns, ist eine gemeinsame Sorge geworden. Genauer gesagt: Auch die Konservativen sagen das endlich. (Dr. Knabe [GRÜNE/Bündnis 90]: Die wer den wir begrüßen!) Gescheitert war Die deutsche Frage ist durch die russische Frage ab- (Hornung [CDU/CSU]: Wer ist denn geschei- gelöst worden, wenn von potentieller Instabilität in tert?) Europa gesprochen wird. die Politik der Stärke schon in Vietnam und in Afgha- Wir alle wünschen, daß Perestroika und Glasnost nistan. erfolgreich sein mögen. Aber das Zerbrechen der al- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ ten Identität von Partei und Staat ist dort noch schwie- Bündnis 90) riger als in allen anderen Staaten, in denen sich eine Partei einen Staat, ein Parlament, eine Regierung Und wenn ich die letzten dreißig Jahre überblicke, hielt, weil es dort eben keine Strukturen und keine sehe ich nicht, daß Politik der Stärke in der Dritten Traditionen gibt, an die sich die Gesellschaft noch Welt Erfolg haben kann. erinnern könnte. Sehr viele suchen ihre Identität in (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ der Nationalität. Bündnis 90) Wenn Europa den Völkern der Sowjetunion helfen Wir halten den Platz frei für die Staaten Osteuro- will, damit die Nationen, wie hier, nicht mehr das Maß pas aller Dinge bleiben oder werden, dann müssen wir die europäische Aussicht eröffnen. „Einbinden und nicht (Feilcke [CDU/CSU]: Sie trauern dem Sozia- Ausgrenzen" muß die Devise sein. Europäische Si- lismus nach!) cherheit — so haben wir immer gesagt — ist nicht für den Augenblick, in dem sie selbst bestimmen kön- ohne oder gegen Amerika, aber eben auch nicht ohne nen. So hieß es am Anfang des Gemeinsamen oder gegen die Sowjetunion zu garantieren. Marktes. In Paris haben die frei gewählten Repräsen- (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh tanten Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei [fraktionslos]) deutlich gemacht: Jetzt ist dieser Augenblick gekom- men. Die jahrzehntelange Aufforderung des Westens, Niemand weiß, ob es gelingt, die Sowjetunion zu der Osten sollte seine Fenster nach Europa öffnen, einem Bundesstaat oder einem Staatenbund umzufor- darf nun, da dies geschieht, nicht damit beantwortet men; aber wir haben keine Zeit, das abzuwarten. werden, daß die EG ihre Fenster schließt. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist deren Auf (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh gabe!) [fraktionslos]) Auch deshalb müssen die Verhandlungen schnell Wenn Europa näher zusammenrückt, darf der fortgesetzt werden, weil die Sowjetunion mit weiteren Atlantik nicht breiter werden. Noch ist die NATO das Verträgen verpflichtet werden sollte, solange es die einzige völkerrechtliche Instrument für die amerika- Sowjetunion noch gibt. nischen Verpflichtungen in Europa und die Kontrolle (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh Deutschlands. Verbindungen, Beziehungen, Zusam- [fraktionslos]) menarbeit bis hin zu institutioneller Art können auch die NATO zu einem europäischen Sicherheitssystem Wird der Grundriß des europäischen Hauses schnell wachsen lassen — vielleicht unter anderem Na- genug und verbindlich genug festgelegt, um für die men —, das dann aber auch die Sowjetunion nicht Nationen in Osteuropa annehmbar und glaubwürdig ausschließen dürfte. zu werden, oder läuft die Desintegration dort schnel- ler, als die europäische Integration wächst? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Die Antwort auf nationale und nationalistische Am- Abg. Frau Unruh [fraktionslos]) bitionen heißt Europa. Die sowjetische Armee kann Es ist noch offen, ob die Entwicklung diesen Weg die Probleme des Landes nicht lösen. Die Unsicherhei- nimmt oder ob die KSZE neue europäische Strukturen ten dort dürfen nicht zur Ersatzbefriedigung in Brüssel entwickelt und völkerrechtlich verbindlich macht, die werden, um nach neuen oder Restbedrohungen zu dann die NATO entbehrlich werden lassen. Europäi- suchen. Es gibt auch außerhalb Europas keinen Kon- sche Strukturen brauchen wir jedenfalls, verläßliche flikt, der neue Rüstungen rechtfertigt. Was immer in Institutionen, damit die beschlossene Sicherheitsge- 18890 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bahr meinschaft der Europäer unzerbrechbar wird, ge- wegungen, nationalistischen Gegensätzen, Autono- schützt gegen jeden Rückfall und gegen Abenteurer miebestrebungen von Minderheiten und Separation tum. Hier bringt Paris zu wenig, weniger, als die Bun- ergeben, alles verstärkt durch wirtschaftliche Hoff-- desregierung wollte. Ein Auftrag zur Ausarbeitung nungslosigkeit. Zur Bewältigung dieser sich entwik- eines Vertrages für eine Nachfolgekonferenz 1992 ist kelnden Krisen brauchen wir Management — europä- leider nicht erteilt worden. Hier muß Bonn am Ball isch —, Hilfen — europäisch — und Programme und bleiben. Politik — europäisch —; dazu brauchen wir Institutio- Wer am Ende des Ost-West-Konfliktes alles über- nen, die Europa vernetzen, zu einem Raum machen, in prüft, was zu seiner Überwindung nötig gewesen sein dem gleiche Regeln der Demokratie, des Rechtes und mag, stellt nun neue Risiken fest: die Instabilität, die der wirtschaftlichen Verläßlichkeit herrschen. Wir durch wirtschaftliche Verrottung zu Not und Mangel müssen aus der Schlußakte von Helsinki einen ver- führt, wie in Ländern der Dritten Welt. Dagegen hel- bindlichen Vertrag machen. fen keine Waffen. (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd- Wenn Europa der Kontinent der Demokratie wird, nis 90, der Gruppe der PDS sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] und des Abg. dann wird er der Kontinent des Friedens. Die beste Wüppesahl [fraktionslos]) Friedensgarantie für uns ist eine demokratische So- wjetunion. Die Staaten Ost- und Südosteuropas müs- Europa hat eine Chance wie nie zuvor in seiner sen Erfolg bei ihrer Demokratisierung haben. Dazu Geschichte: Die Friedensordnung, von der wir so helfen keine Waffen. lange als Ziel gesprochen haben, ist zur praktischen Aufgabe geworden. (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd nis 90 und der Gruppe der PDS) Lassen Sie mich am Schluß meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag für viele Anregungen, sogar Die Menschen in Osteuropa werden nicht anders Aufregungen danken, die 18 Jahre mit sich bringen, reagieren als die Menschen in der DDR: Wenn die und für Erfahrungen bei Erfolgen und Mißerfolgen. Waren nicht zu den Menschen kommen, gehen die Sollte ich jemanden unwissentlich verletzt haben, Menschen zu den Waren, sofern sie können. bitte ich um Verzeihung, sollte ich jemanden willent- (Hornung [CDU/CSU]: Das ist ein Ausspruch lich verletzt haben, um Nachsicht; auch ich hatte eini- unseres Kanzlers!) ges einzustecken. Wir sind ja für Bewegungsfreiheit, oder? Russische (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Beobachter rechnen in Millionen-Ziffern. Das wird der GRÜNEN/Bündnis 90, der CDU/CSU doch nur zu verhindern sein, wenn die Menschen be- und der FDP sowie der Abg. Frau Unruh gründete Hoffnung haben können, daß es zu bleiben [fraktionslos] und des Abg. Wüppesahl [frak- lohnt. Auch für diese Hoffnung helfen keine Waf- tionslos]) fen. Allen Kolleginnen und Kollegen, die nicht wiederkeh- ren, wünsche ich Gesundheit und sinnvolle Erfüllung; (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ allen, die wiederkommen, eine glückliche Hand bei Bündnis 90) den großen und schönen Aufgaben, vor denen wir Vom 1. Januar an soll es Reisefreiheit für die Bürger gemeinsam stehen. der Sowjetunion geben. Sie werden nicht nur nach (Anhaltender Beifall bei der SPD, den GRÜ- Polen, in die Tschechoslowakei, Ungarn und Öster- NEN/Bündnis 90, der Gruppe der PDS sowie reich reisen. Die Aufrufe zur Hilfe sind richtig. Das der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] und des erfreuliche Echo darf nicht verhallen; also muß die Abg. Wüppesahl [fraktionslos] — Beifall bei Hilfe dorthin kommen, wo sie gebraucht wird. Die ver- der CDU/CSU und der FDP — Abg. Dr. Vo- stopften Eisenbahnverbindungen sind dafür keine gel [SPD] und Abg. Brandt [SPD] gratulieren Garantie. Es gibt genug Transportkapazität bei der Abg. Bahr [SPD]) sowjetischen Luftwaffe in Deutschland und bei der deutschen Luftwaffe; es gibt auch genügend Flug- plätze. Vorbereitungen für eine Luftbrücke der euro- Vizepräsident Cronenberg: Wie der Kollege West- päischen Sicherheitspartner könnten noch vor Weih- phal heute morgen schon gesagt hat, werden alle aus- nachten getroffen werden. scheidenden Kolleginnen und Kollegen in gebühren- (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd der Form noch von der Präsidentin verabschiedet, so nis 90 und der Gruppe der PDS sowie des daß ich es mir verkneifen muß, jetzt eine Bemerkung Abg. Wüppesahl [fraktionslos]) zu machen. Das Wort hat der Abgeordnete Professor Horn- Für die neuen Herausforderungen sind wir kaum hues. vorbereitet. Unsere Sicherheit wird nicht mehr durch Waffen bedroht, sondern durch wirtschaftliche (Zuruf von der SPD: Irgend jemand muß doch Existenzfragen unserer Partner. Das bedeutet: Bisher etwas sagen! — Heiterkeit) war der Preis für die Sicherheit die Rüstung. Jetzt ist der Preis für die europäische Stabilität die Hilfe. Dr. Hornhues (CDU/CSU): Ja, meine sehr geehrten (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ Damen und Herren, Herr Kollege Bahr, alles Gute! Bündnis 90) Wir haben uns manchmal über Sie geärgert, Wir brauchen neben den Sofortmaßnahmen Krisen (Kittelmann [CDU/CSU]: Was heißt „manch- zentren gegen Konflikte, die sich aus Wanderungsbe mal"?) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18891

Dr. Hornhues Manchmal haben wir auch durchaus anerkennend, steht, wie wir es verstehen, und dies sehe ich als den auch wenn's nicht laut war, gedacht: Nicht schlecht ganz großen Gewinn, der dann in solchen Sätzen sei- nen Niederschlag findet. Wenn ich mich an so manche gemacht! Gefreut hätten wir uns heute, wenn Sie den - Ball von Graf Lambsdorff so ganz am Ende doch noch Interpretationsstreitereien, die wir in der Vergangen- aufgegriffen hätten und vielleicht das, was Sie ja ge- heit haben durchführen müssen, erinnere, dann weiß meint, aber nicht so deutlich gesagt haben, was auch ich, was es heißt, dies so sagen zu können. Wir haben Herr Kollege Ehmke gemeint hat und nicht sagen das Vertrauen, daß alle, die unterzeichnet haben, das wollte, als er den Beamten der Ministerien dankte, die gleiche meinen. Größe gehabt hätten zu sagen: Danke schön auch an Der Pariser Gipfel ist unserer Auffassung nach in diejenigen, die oben auf den Ministerien sitzen, dem einem zentralen Punkt von, wie ich glaube, wegwei- Bundeskanzler, dem Bundesaußenminister und dem sender Bedeutung. Er ist einerseits Schlußpunkt un- Verteidigungsminister. Es hätte dazu gehört, es wäre ter, wenn Sie so wollen, das alte Europa. Er ist aber schön gewesen, aber was soll's. auch Anfangspunkt für ein neues Europa. In der (Kittelmann [CDU/CSU]: Das wäre Ab Charta von Paris wird dies deutlich. Wenn alle schlußgröße gewesen! — Vielleicht macht's 34 Staats- und Regierungschefs das, was wir immer Helmut Schmidt!) unter Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demo- kratie verstanden haben, als das sie jetzt Verbindende Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU bezeichnen, wenn schon damals in Bonn vereinbart sieht in den Ergebnissen von Paris den krönenden worden ist, daß man die gleiche ökonomisch-gesell- Abschluß von zwölf Monaten, die — da muß ich dem schaftliche Ordnung gemeinsam realisieren wird, Kollegen Lambsdorff recht gegen — soviel an Ereig- dann ist die Charta von Paris das Manifest für das nissen gebracht haben, daß man immer wieder inne- neue Europa, das es jetzt entscheidend zu gestalten halten möchte, um zu begreifen, was sich eigentlich gilt. alles getan hat und wo viele unserer Bürger Mühe haben mitzubekommen, was sich in welchem Tempo Meine sehr geehrten Damen und Herren, unserer eigentlich tut. Das Schöne an all diesen Ereignissen Auffassung nach steht jetzt im Vordergrund, denjeni- aber ist, was selten geschieht, daß man im Grunde gen, die zu uns gefunden und die die Chance ergriffen immer wieder ja sagen kann zur Entwicklung und sich haben, sich für Freiheit und Demokratie zu entschei- freuen kann über die Entwicklung, die wir erlebt ha- den, als sie die Chance zur Entscheidung bekamen, zu ben: Freie Wahlen in Polen, Ungarn zerreißt den Ei- helfen und sie zu unterstützen, damit dies auf Dauer sernen Vorhang, Fall der Mauer, Helmut Kohl nimmt verwirklicht werden kann. Ende November, vor gut einem Jahr, Kurs auf die Denn noch ist nicht sicher, daß das, was im Pariser deutsche Einheit mit dem Zehn-Punkte-Plan, Vaclav Dokument steht, überall sicher bleiben wird. Die jun- Havel, der Mann, der die Helsinki-Erklärung zu sei- gen Demokratien und diejenigen, die Demokratien ner Standarte für Freiheit gemacht hat, wird Präsident werden wollen und auf dem Weg dahin sind, kämpfen der Tschechoslowakei. Zwischen Kohl und Gorba- mit größten Schwierigkeiten. Es ist nicht nur eine tschow wird vereinbart, daß die sowjetischen Truppen Frage von „Man muß helfen, wenn man die Möglich- Deutschland verlassen, sie gehen nach Hause, in ihre keit dazu hat" . Es ist nicht nur eine Frage von Solida- Heimat zurück, Deutschland bleibt insgesamt in der rität, oder wie immer man dies bezeichnen will. Es ist NATO. Der Höhepunkt für uns Deutsche ist der 3. Ok- vielmehr — ich betone das — zutiefst in unserem tober. Wir gewinnen, was kaum einer für sich und Interesse — ein egoistisches Interesse, wenn Sie so seine aktive Zeit noch hat erwarten können, die deut- wollen — , daß wir nun alles tun, was in unseren Kräf- sche Einheit, und jetzt die Charta von Paris, wo am ten steht, um die jetzt aktuellen und konkreten Vorabend das umfassendste Abrüstungsabkommen Schwierigkeiten, die im wesentlichen im ökonomi- unterzeichnet wurde, das es bisher gegeben hat. Die schen Bereich liegen, überwinden zu helfen. Denn, Superlative in der Presse sind so zahlreich, daß ich Herr Kollege Bahr, wenn dies gelingt — dies muß ge- nicht den Versuch machen möchte, noch einiges hin- lingen — , dann wird manche Frage auch im Blick auf zuzufügen. Waffen mit jedem Monat, der vergeht, anders zu be- Aber es bewegt einen dann doch, wenn nach all den antworten sein. Jahren, die hier skizziert und beschrieben worden Ich glaube, meine sehr geehrten Damen und Her- sind, es in Paris von den Regierungs- und Staatschefs ren, daß wir all unseren Mitbürgern zu Dank ver- unterzeichnet, feierlich heißt, daß sie in dem anbre- pflichtet sind, die sich längst aufgemacht haben, um chenden neuen Zeitalter europäischer Beziehungen angesichts der Meldungen, die aus der Sowjetunion nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaf- kommen, wie früher und auch noch heute in Polen ten aufbauen und einander die Hand zur Freundschaft und anderswo Hilfe zu leisten. Sie fragen: Wo ist die reichen wollen. nächste Anschrift, wo man helfen kann? Man sollte bei einer solchen Übertragung im Fernsehen laufend Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sagen Kontonummern einblenden, damit diejenigen, die wir heute so locker daher. Herr Kollege Bahr, wir spenden möchten, wissen, wohin sie etwas geben haben dabei nicht mal mehr Interpretationsprobleme, können. was dies denn heißen könnte, weil alle Seiten im Grunde gar nicht versuchen, zu interpretieren. Darin Ich begrüße nachdrücklich, daß inzwischen alles sehe ich den größten Fortschritt, den wir erreicht ha- eingeleitet worden ist, um die Probleme, die entstehen ben, nämlich einen ungeheuren Zuwachs an wechsel- könnten, zu bewältigen. Wenn mehr getan werden seitigem Vertrauen. Wir vertrauen darauf, daß die muß, dann muß dies auch geschehen. Das Ganze muß andere Seite, die unterzeichnet hat, es genauso ver bewältigt werden, damit Osteuropa, damit die Sowjet- 18892 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Hornhues union nicht im Chaos versinkt. — Dies ist der erste abgeschoben wird, die sich dann einmal wieder Punkt. darum kümmern. Der zweite Punkt ist, daß wir den Ländern Mittel- (Beifall der Abg. Frau Eid [GRÜNE/Bünd- und Osteuropas, die jetzt im Grunde das wollen, was nis 90]) wir haben, nämlich eine Struktur, die für uns immer Meine sehr geehrten Damen und Herren, für meine Soziale Marktwirtschaft hieß, auf allen Ebenen hel- Fraktion möchte ich feststellen: Wir freuen uns. Wir fen, diese im ökonomischen Bereich zu erreichen, zu freuen uns darüber, daß wir das alles so miterleben gestalten und durchzuführen. Wir haben damit keine dürfen; denn es ist einfach schön, das miterleben zu großen Erfahrungen. Wir haben erste Erfahrungen im können. Zusammenleben im neuen, im größeren Deutschland. Ich bekenne für mich ganz persönlich jedenfalls: Ich Diese werden wichtig sein. hätte es nicht geglaubt, hier stehen zu können und im Der dritte Schritt wird sein — Herr Kollege Bahr und Kopf diese Ereignisse zu haben. Ich hätte nicht ge- Herr Kollege Lambsdorff, da gebe ich Ihnen recht —, glaubt, dies noch erleben zu können. Deswegen bin daß wir allen Ländern Mittel- und Osteuropas, die ich doppelt froh und hoffe, daß ich auch beim näch- wollen, die Perspektive eröffnen, mit uns gemeinsam sten Mal — so gut, wie es geht — wieder kräftig mit- im gleichen Verbund, d. h. EG-assoziiert oder auch mischen kann. weitergehend, zusammenzuleben. Diese Perspektive Ich möchte ein Letztes anmerken. Wir werden ja muß entwickelt sein, weil sonst das, was gelingen gleich eine interessante Debatte über Abgaben und muß, nur schwer erreichbar sein wird. ähnliche Riesenprobleme haben. Ich bitte die da be- Gelingen muß, daß es für die Menschen in Mittel- teiligten Kollegen um Nachsicht: Wir werden einmal und Osteuropa eine Zukunft gibt, daß es für sie Hoff- nicht an dem gemessen werden, wie das mit der Ab- nung auf Zukunft im eigenen Land gibt. Denn wir gabe, mit der Steuer oder mit dem, was da sonst noch müssen wissen: Wenn es diese Perspektive — Hoff- anstehen mag, war, Herr Kollege Lafontaine. Wir wer- nung auf Zukunft im eigenen Land — nicht gibt, dann den daran gemessen werden, ob wir die Chance, die werden wir allerdings damit rechnen müssen, daß wir jetzt haben, nämlich ein neues, ein demokrati- weitere Millionen ihre Zukunft verzweifelt in einem sches Europa im Frieden mit immer weniger Waffen anderen Land suchen werden. Es ist zutiefst in unse- zu gestalten, mit Optimismus und mit Mut ergreifen. rem Interesse, wenn wir da mit allem, was wir haben, Man wird uns danach fragen, ob wir es schaffen oder helfen. ob nicht. Und daran werden wir gemessen werden. Ich bedanke mich. (Vorsitz: Vizepräsidentin Renger) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir be- grüßen die Vereinbarungen von Paris: das Konflikt- verhütungszentrum, das in Wien eingerichtet werden Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat Frau Abge- soll, und das Sekretariat in Prag. Ich möchte anregen, ordnete Kottwitz. daß auch wir — der Deutsche Bundestag — in der nächsten Legislaturperiode einmal darüber nachden- Frau Kottwitz (GRÜNE/Bündnis 90): Frau Präsiden- ken, ob wir mit unserem klassischen Ausschußinstru- tin! Meine Damen und Herren! Das Ende der Block- mentarium den Herausforderungen gewachsen sind, konfrontation gibt uns die historische Chance, die bis- ob wir da nicht neu gewichten müssen und ob wir uns her durch den Rüstungswettlauf gebundenen mate- angesichts des Drängens bestimmter Aufgaben nicht riellen und menschlichen Ressourcen einzusetzen, um etwas anderes als das bisher Bestehende einfallen las- die tatsächlichen Probleme anzugehen, denen sich die sen müssen. Menschheit heute gegenübersieht. Die ökologische Ich glaube, der Bundeskanzler hat zu Recht ange- Krise, der ungehemmte Raubbau des Menschen an regt, daß es höchste Zeit wird, die parlamentarische der Natur wird in der Pariser Erklärung zwar ange- Kontrollücke in Europa, in der Europäischen Gemein- sprochen; aber ein rasches, abgestimmtes Handeln schaft, zu schließen. Wir unterstützen dies nachhaltig. aller KSZE-Staaten wird nicht vereinbart, obwohl die Wir sollten, so meine ich, genauso darauf hinwirken, Verschmutzung von Wasser, Boden und Luft in vielen eine parlamentarische Begleitung des KSZE-Prozes- Regionen Europas die kritische Grenze schon weit ses zu schaffen. Wir sollten kontinuierliche Parlamen- überschritten hat. Die vor einem Jahr in Sofia stattge- tariertreffen im Rahmen der KSZE als Ergänzung zu fundene KSZE-Umweltkonferenz war nur ein erster, den Bemühungen innerhalb der IPU und zu den Be- nicht ausreichender Schritt, die Umweltprobleme an- mühungen im Europarat einrichten. zugehen. Denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich Die GRÜNEN in Europa setzen sich für eine KSZE- habe in den letzten Monaten gelernt — ich bitte all Umweltcharta ein, die alle Staaten völkerrechtlich diejenigen um Nachsicht, die sich im Europarat und verpflichtet, die Sauberkeit von Wasser, Boden und anderswo engagieren — , daß der „Klub der Interna- Luft, die Bewahrung unserer natürlichen Lebens- tionalisten", wenn sie so wollen, zu Hause oft zu grundlagen zu garantieren. Ein gemeinsames Um- schwach ist, um das, was er denkt, meint und für rich- weltsekretariat der KSZE-Staaten sollte geschaffen tig hält, auch durchzusetzen. Deswegen will ich anre- werden, das jährlich Berichte über die Umsetzung der gen, daß ein solches permanentes KSZE-Parlamenta- Umweltcharta erarbeitet, wobei Nicht-Regierungsor- riertreffen zu den jeweiligen Themen aus der Mitte ganisationen gleichberechtigt zu beteiligen sind. des Hauses heraus, aus den Fachausschüssen heraus, (Beifall des Abg. Hüser [GRÜNE/Bündnis von uns selber gestaltet wird und das nicht auf einige 90]) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18893

Frau Kottwitz Die Umweltbeeinträchtigungen, die von militäri- die Unterbindung der militärischen Intervention sein. scher Nutzung ausgehen, sind so immens, daß dies Konflikte müssen durch Verhandlungen, z. B. durch allein schon Grund genug ist, jegliches Militär abzu- eine internationale Nahostkonferenz, befriedet wer- schaffen. den. Hier kann der KSZE-Prozeß durchaus als Beispiel dienen. (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) Die ungerechte Weltwirtschaftsordnung und die Wir begrüßen das Wiener Abkommen, weil jeder fortbestehende ökonomische und politische Abhän- Panzer weniger ein Gewinn für den Frieden und die gigkeit der Länder des Südens werden in Zukunft Umwelt ist. Aber in den Jubel über das Wunder von Ursachen für vielfältige Konflikte bleiben. Hier muß Wien können wir nicht uneingeschränkt einstimmen. die Außenpolitik der KSZE-Staaten gegenüber Län- Das östliche Militärbündnis besteht faktisch nicht dern der Dritten Welt radikal geändert werden. Ge- mehr. Seine endgültige Auflösung ist nur noch eine rechte Rohstoffpreise einerseits und die Reduzierung Frage der Zeit. von CO2 und Rohstoffverbrauch andererseits sind not- (Kohn [FDP]: Sind Sie traurig?) wendig, damit die Schere zwischen dem reichen Nor- den und dem armen Süden nicht noch weiter ausein- Dagegen aber ist der Aufrüstungswille und die Stei- anderklafft. gerung des Rüstungsetats bei den NATO-Staaten un- gebrochen. Die Pariser Konferenz hätte hierzu den Vorschlag des Europäischen Parlaments zur Schaffung eines Eu- (Kittelmann [CDU/CSU]: Das stimmt doch ropäischen Solidaritätsfonds zur Unterstützung der nicht!) sogenannten Dritten Welt aufgreifen und unterstüt- — Bei uns heißt das: ein Rüstungsetat von 50 Milliar- zen müssen. den DM, Jäger 90, Fortsetzung des Tiefflugterrors und (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) neue luftgestützte atomare Abstandswaffen. Sind das Europa darf nicht zu einer exklusiven Festung der Rei- die Kennzeichen westlicher Friedenspolitik, Herr Kit- chen werden, die sich dann auch noch für Asylsu- telmann? chende vor allem aus der Dritten Welt schließt. Um die friedenspolitische Bedeutung des in Paris Wir sind sehr besorgt über die wachsende rassisti- unterzeichneten Vertrages zu ermessen, reicht es sche und chauvinistische Tendenz gegenüber den eben nicht aus, nur eine Verminderung bei Panzern Immigranten und Flüchtlingen in Europa. Zu den in und anderen Waffen zu sehen, aber gleichzeitig die der Pariser Erklärung erwähnten Menschenrechten stattfindende Modernisierung und Umrüstung zu ver- gehört auch der Schutz vor Verfolgung aus rassischen, schweigen. Von dem Abkommen fast unberührt blei- religiösen und politischen Gründen. Deshalb muß in ben die Luftstreitkräfte. Auf Druck der NATO völlig ganz Europa das Recht auf Asyl uneingeschränkte ausgeklammert werden die Seestreitkräfte. Deren Gültigkeit haben. strategische Bedeutung wird aber gerade in diesen (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) Tagen am Golf deutlich. Die GRÜNEN/Bündnis 90 wollen im Gegensatz zu Die besonders friedensgefährdenden Rüstungsex- den etablierten Parteien eine starke KSZE, die den porte werden nach dem Pariser Abkommen sogar Weg zu einer neuen europäischen Friedensordnung noch zunehmen. Schon jetzt verhandeln die USA mit ohne Militärblöcke ebnet. Die dazu notwendige Insti- der spanischen Regierung über den Verkauf von 485 tutionalisierung kann aber nicht aus einem Büro in nach dem VKSE-Vertrag abzurüstenden Panzern, und Prag mit vier Beamten und einem selbst von Präsident die Bundesrepublik exportiert altes NVA-Gerät in die Bush bescheiden genannten, mit nur drei Beamten Krisenregion am Golf. ausgestatteten Konfliktverhütungszentrum in Wien Es ist unverantwortlich und überhaupt nicht frie- bestehen. Das vorläufige Büro am Rande der Abrü- densfördernd, wenn die nach dem Vertrag zu reduzie- stungsrunde in Wien ist Ausdruck davon, daß die renden Waffen in andere Teile der Welt exportiert KSZE offenbar auch weiterhin entgegen den sal- werden. Sie müssen verschrottet werden, und zwar so bungsvollen Reden auf der Pariser Konferenz eine schnell wie möglich. nachgeordnete Rolle in Europa spielen soll. (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und Ich komme zum Schluß. Wir fordern eine starke der Gruppe der PDS sowie bei Abgeordneten KSZE anstelle der NATO und eine gesamteuropäi- der SPD) sche ökologisch-ökonomische Vertrags- und Koope- rationsgemeinschaft als politisches Gegengewicht zur Daher ist Rüstungskonversion eine der wichtigsten wirtschaftlich übermächtigen EG. Aufgaben der Zukunft. Im Sinne des Wiener Abkom- (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und mens wäre es folgerichtig, den aufgeblähten Rü- bei Abgeordneten der Gruppe der PDS) stungshaushalt innerhalb der nächsten Legislaturpe- riode in einen Konversionshaushalt umzuwandeln. Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat der Bundes- (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) minister des Auswärtigen, Herr Genscher. Die aktuelle Krise am Golf zeigt, daß auch nach dem Abbau des Ost-West-Konfliktes die Gefahr von inter- Bundesminister des Auswärtigen: Frau nationalen Krisen, ausgehend von regionalen Krisen, Genscher, Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- keineswegs gebannt ist. ren! Ich habe mit großer Aufmerksamkeit der Rede Wichtigstes Ziel bei der Regelung aller regionalen unseres Kollegen Bahr zugehört. Er hatte heute Gele- Konflikte muß die Wahrung der Gewaltlosigkeit und genheit, ein Ergebnis zu würdigen in der West-Ost- 18894 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundesminister Genscher Politik und in der Abrüstungspolitik, an dessen Zu- Deswegen fühlen wir uns sehr wohl. Es ist schön, standekommen er einen beachtlichen Anteil hat. Ich wenn der Mensch so sehr in den Mittelpunkt europäi- möchte ihm an dieser Stelle für viele Jahre gemeinsa- scher Politik gerückt wird, wie das hier geschieht, und- men außenpolitischen Weges danken, auf dem unsere wenn soziale Gerechtigkeit zu einem gemeinsamen Gemeinsamkeit auch dann nicht verloren ging, wenn Ziel aller Staaten gemacht wird, soziale Gerechtigkeit, wir uns innenpolitisch nicht auf derselben Linie be- die eine wesentliche Voraussetzung auch der wirt- fanden. schaftlichen und politischen Stabilität jedes Staates ist. (Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜ NEN/Bündnis 90 sowie bei Abgeordneten Wir müssen lernen, daß dieses Europa, wenn es eins der CDU/CSU und der Gruppe der PDS) sein soll, nicht mehr ein Europa der West-Ost-Bezie- hungen ist, wie ich überhaupt finde, daß West und Ost Ich möchte an dieser Stelle meinem Fraktionskolle- wieder mehr zu geographischen Begriffen werden gen Hoppe danken für sein stetiges Eintreten für den sollten und nicht zu politischen und ideologischen KSZE-Prozeß von der ersten KSZE-Debatte, die wir im Unterscheidungsmerkmalen. Wir können das Ver- Deutschen Bundestag hatten, bis auf den heutigen hältnis zwischen den verschiedenen Staaten Europas Tag. Lieber Herr Hoppe, das bleibt unvergessen. nicht mehr allein durch Handelsbeziehungen und Zu- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD sammenarbeit definieren. Wir müssen gemeinsame und den GRÜNEN/Bündnis 90) Einrichtungen schaffen. Damit meine ich nicht die Institutionen, die wir jetzt mit dem Dokument von Die Frau Kollegin Vollmer hat sich mit einer Rede Paris geschaffen haben; die sind wichtig, damit dieses verabschiedet, die dem entsprach, was ich zu ihren größere Europa handlungsfähig wird. Wir müssen ge- Reden immer gedacht habe: Ich kann ihr nicht in allen meinsame Verbindungen, gemeinsame Räume, den Punkten zustimmen, aber ich kann noch weniger ihr gemeinsamen europäischen Rechtsraum, eine ge- in allen Punkten widersprechen. meinsame europäische Infrastruktur, einen europäi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden Sie schen Verkehrsraum, einen europäischen Energie- alle hier vermissen. verbund, einen europäischen Kommunikationsver- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD bund schaffen. Das alles müssen Angebote der west- und den GRÜNEN/Bündnis 90) lichen Staaten an unsere östlichen Nachbarn sein, um ihnen den Eintritt in die Marktwirtschaft im Rahmen Meine sehr verehrten Damen und Herren, als 1975 ihrer Reformprozesse zu erleichtern. die Schlußakte von Helsinki unterzeichnet wurde, war das eine Investition in die Zukunft. Das war Zukunfts- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie vertrauen, was ausgedrückt wurde. Auch jetzt ist von bei Abgeordneten der SPD) uns wieder Zukunftsvertrauen verlangt. Es geht Wir können ihnen die Entscheidungen, die sie intern darum, daß wir nach dem bedeutsamen Ergebnis von zu treffen haben, nicht abnehmen. Wir können ihnen Paris, der „Charta für das neue Europa", einen Stabi- aber durch ein solches gesamteuropäisches Angebot litätsbegriff in Europa entwickeln, der immer weniger die Durchführung dieser Entscheidungen erleichtern. militärisch definiert wird, bei dem die wirtschaftli- Zu diesem Angebot muß auch die Offenheit unserer chen, die ökonomischen, die ökologischen Fragen in Europäischen Gemeinschaft für unsere östlichen den Vordergrund treten und bei dem wir erkennen, Nachbarn gehören. wie sehr Europa aufeinander angewiesen ist, wie sehr In diesen Tagen hat mich ein Außenminister eines Europa zusammengehört. unserer östlichen Nachbarn gefragt, wie es mit der (Beifall bei der FDP) Beitrittsperspektive aussehe. Ich habe ihm gesagt: Wir haben durchaus nicht den Ehrgeiz, für immer das Wir sind uns ja wohl auch alle bewußt, daß die östlichste Land der Europäischen Gemeinschaft zu Werte, zu denen sich nun alle Staaten Europas beken- bleiben, sondern wir möchten gern sehen, daß diese nen, nicht einen Sieg der einen über die andere Seite Europäische Gemeinschaft das wird, was ihr Name bedeutet, nicht einen Sieg des Westens über den ausdrückt: eine Gemeinschaft europäischer Demo- Osten, sondern eine Besinnung des ganzen Europa kratien, auf eine gemeinsame Kultur - und Geistesgeschichte. Das ist wirklich ein Akt europäischer Selbstbesin- (Bahr [SPD]: Ja!) nung. eine Gemeinschaft europäischer, marktwirtschaftlich (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der orientierter Länder. Sie heißt ja nicht Westeuropäi- SPD) sche Gemeinschaft. Sie heißt Europäische Gemein- schaft. Es ist letztlich ein freiheitliches Bekenntnis zu ei- nem Europa, das nicht irgendein Europa sein soll, son- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD dern ein Europa der Menschenrechte, ein Europa der und bei Abgeordneten der GRÜNEN/Bünd- Demokratie, ein Europa der freien Wahlen, ein Europa nis 90) der Marktwirtschaft. Der Begriff „Sozialismus" fehlt Deshalb wird es wichtig sein, daß wir jetzt erken- in dem Dokument von Paris. nen, daß in dieser neuen Phase des KSZE - Prozesses (Zuruf von der FDP: Das ist gut so!) die Erwartungen des Ostens größer sein werden als die des Westens. Jetzt sind wir zur Leistung aufgefor- Man kann also sagen: Es ist wirklich ein durch und dert. Als wir 1975 im Deutschen Bundestag über die durch liberales Zeitalter, vor dem wir stehen. Schlußakte diskutierten, habe ich gesagt: Wenn diese (Beifall bei der FDP — Zuruf von der SPD) Schlußakte Wirklichkeit wird, dann müssen nicht wir Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18895

Bundesminister Genscher uns ändern, sondern unsere östlichen Nachbarn müs- scher Erfolg geworden. Der KSZE-Prozeß hat uns den sen sich ändern. Sie müssen das tun, was notwendig Weg geebnet zur Einheit unseres Volkes in einem ist, um die hier übernommenen Verpflichtungen zu Staat, aber wir dürfen niemals vergessen, daß die Ein- - verwirklichen. Jetzt ist es an uns, darauf die Antwort heit unseres Volkes nur dann Bestand in Frieden und zu geben. Auf die Reformpolitik des Ostens muß die Freiheit haben wird, wenn sie eine Einheit ist in einem Solidarität des Westens die gesamteuropäische Ant- größeren Europa der Demokratie, der Freiheit und des wort sein. Friedens. Deshalb bleibt es dabei, was wir immer ge- sagt haben: Wir wollen nicht ein deutsches Europa, (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD sondern wir wollen ein europäisches Deutschland. und den GRÜNEN/Bündnis 90) Und dieses vereinigte Deutschland wird ein Deutsch- Es ist ganz gewiß unser Ziel, diesen Reformprozeß land des guten Beispiels sein in der Arbeit für ein grö- unumkehrbar zu machen, aber es ist noch ein zer- ßeres, für ein besseres Europa. brechlicher Prozeß. Es wird vieler Hilfe, großer Ge- Ich danke Ihnen. duld und großer europäischer Solidarität bedürfen, (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU sowie bei damit die Unumkehrbarkeit Realität wird. Der Wille Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN/ der Völker ist da, der Wille auch ihrer Repräsentanten Bündnis 90) ist da, aber die Fähigkeit, diesen Willen umzusetzen, können und müssen wir von hier aus unterstützen. Es ist das eine Europa, um das es geht. Es ist unser Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat Frau Abge- Europa. Was wir tun, ist auch eine Investition in die ordnete Unruh. eigene, gemeinsame europäische Zukunft. Ich denke, daß die Politik des guten Beispiels des Frau Unruh (fraktionslos): Sehr geehrte Präsidentin! vereinigten Deutschlands sich gerade in dieser Frage Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Was bewähren muß. Wenn wir zeigen, daß wir die deut- Herr Genscher vorhin von sich gegeben hat, muß man sche Einheit nicht als das Endziel unserer Politik be- vom Grundsatz her begrüßen, aber bitte nur, was den trachten, sondern daß für uns die deutsche Einheit ein Anfang von KSZE und Verträgen betrifft, die ge- wichtiger Schritt auf dem Wege zur Einheit Europas schlossen worden sind. Ansonsten sehe ich Herrn ist und daß wir deshalb über den großen Problemen, Genscher als einen Übervater, die wir mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern haben, nicht vergessen, daß es (Heiterkeit bei der FDP) noch größere Probleme östlich der deutschen Ost- der sich so darstellen kann, daß man oftmals nicht grenze gibt. Dann werden wir auch in dieser Phase glaubt, daß er zur FDP gehört. unsere europäische Bewährungsprobe bestehen. Wenn ich die beiden Reden von Herrn Lambsdorff, Wir haben uns auf dem Weg zur deutschen Einheit dem Parteiführer der FDP, und Herrn Bahr vergleiche, zu Recht für den europäischen Weg zur deutschen einem Mann mit langjährigen Erfahrungen, mit Einheit entschieden. Nun werden wir unter Beweis 18 Jahren Deutscher Bundestag auf dem Rücken, stellen, daß das vereinigte Deutschland diesen euro- dann muß ich als Parteivorsitzende der Grauen, initi- päischen Weg weitergeht als einen gesamteuropäi- iert vom Seniorenschutzbund Graue Panther, schen Weg, bei dem nicht vergessen wird, daß die (Kittelmann [CDU/CSU]: Bitte keine Wer- Europäische Gemeinschaft die Grundlage unseres bung!) Handelns sein muß, daß sie der Stabilitätsanker für sagen: Wir stehen voll hinter dem, was Herr Bahr hier das ganze Europa ist, aber daß diese Europäische als seine — leider — letzte Rede von sich gegeben Gemeinschaft auch ein Angebot an alle Staaten Euro- hat. pas sein muß. (Heiterkeit bei der FDP) Ich habe es sehr begrüßt, daß von allen Rednern die Aber jetzt haben Sie quasi eine Übermutter in der Bedeutung der Einbeziehung der Sowjetunion in die- Politik vor sich stehen, ses ganze Europa unterstrichen worden ist. Das ist wichtig, auch als eine Adresse an diesen großen (Heiterkeit im ganzen Haus) Nachbarn im Osten, der so viel bedeutet für das die nämlich folgendes in dieser Bundesrepublik Schicksal Europas, dessen Stabilität übrigens auch so Deutschland veranlassen konnte: daß sich unabhän- viel bedeutet für das Schicksal Europas. Zu Recht ist gige alte Politiker — ob mit oder ohne Parteibuch — gesagt worden, daß die Stabilität der Sowjetunion noch einmal zusammengetan haben, um einfach auch unsere Stabilität ist, die gesamteuropäische Sta- daran mitzuwirken, ein Gesamteuropa zu gestalten. bilität. Deshalb ist der Aufruf, jetzt zu helfen, so wich- Jetzt kann ich Ihnen einmal vorlesen, was diese Alt- tig: zu zeigen, daß für uns Solidarität eine Frage der politiker, querbeet durch alle Parteibücher, und Par- Menschlichkeit ist, der guten Nachbarschaft, des gu- teilose sowie auch junge vierzig-, junge dreißigjährige ten Beispiels, daß wir aber darüber hinaus auch inter- Mitglieder von uns formuliert haben. Davon können essiert sind, über die aktuelle Hilfe hinaus das größere sich die CDU, die CSU sowie die FDP einen ganz Europa zu schaffen durch die Verbindung von West schönen Stiefel von Politik abschneiden. und Ost in einem gemeinsamen europäischen Raum, (Kittelmann [CDU/CSU]: Aber die SPD auch! der alle Aspekte des politischen, ökonomischen und Und ein bißchen die GRÜNEN!) menschlichen Lebens umfaßt. — Ich denke da an Aussagen von Herrn Bahr und Meine sehr geehrten Damen und Herren, so ist der nicht an das dumme Gelächter von Herrn Stolten- KSZE-Prozeß für uns Deutsche nicht nur ein europäi berg. 18896 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Frau Unruh Ich zitiere aus dem Wahlprogramm der Grauen: er wirklich liberal denkt wie Herr Genscher, Ihr Über- vater, Drastische Senkung des Rüstungsetats. Sofortige Einstellung aller Tiefflüge und sonstiger Manö- (Dr. Feldmann [FDP]: Den hätten Sie wohl ver. Keine neue Stationierung von Kampfhub- auch gern?!) schraubern, Giftbomben und atomaren Waffen in zu eigen machen. Sie könnten die Zukunft für Ge- der BRD. Konsequente Weiterverfolgung einer samteuropa sein. offensiven Friedens- und Abrüstungspolitik, auch Und ich warne wieder die SPD: Geht der FDP nicht wenn sie mit einseitigen Abrüstungsschritten auf den Leim. verbunden ist. (Heiterkeit bei der FDP — Beifall bei der — Siehe Bahr. — SPD) Anstelle der Pflichtbundeswehr oder sonstiger Stellen Sie sich einmal vor, Sie müßten mit der FDP nationaler Kriegstruppen soll eine freiwillige Ge- koalieren, um an die politische Macht zu kommen. samteuropäische Ost-West-Friedens-Schutzor- Was würden die Menschen da wohl denken, ganisation geschaffen werden. (Kittelmann [CDU/CSU]: Welche Men- Ferner heißt es in Punkt 14 unseres Wahlpro- schen?) gramms: auf der einen Seite einen Graf Lambsdorff zu erle- Aufbau einer Europäischen Ost-West-Gemein- ben, schaft, in der die besten (Dr. Feldmann [FDP]: Das wäre doch was!) (Zurufe von der CDU/CSU) der teilweise unmenschlich handelt, — jetzt hören Sie bitte einmal zu — (Widerspruch bei der FDP) (Kittelmann [CDU/CSU]: Wir können gar und auf der anderen Seite wieder eine SPD erleben zu nicht anders, so laut sind Sie!) müssen, die sagt: Wir wollen die Koalition ja nicht gefährden, deshalb müssen wir leider wieder unso- sozialen Regelungen aus allen Ländern — — ziale Taten — und dann für Gesamteuropa — vollbrin- Das Soziale liegt doch bei Ihnen so im argen, daß es gen. einen schüttelt. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Also bauen Sie die Grauen auf. GRÜNEN/Bündnis 90) (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN/ Also nochmals: Bündnis 90 — Lachen und Zurufe bei der CDU/CSU und der FDP) Aufbau einer Europäischen Ost-West-Gemein- schaft, in der die besten sozialen Regelungen aus allen Ländern zum Standard erklärt werden müs- sen. Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat der Abgeord- nete Hoppe. Zum jeweiligen Standard in der Währung und der jeweiligen Nationalität. Und wenn wir über Europa, über Gesamteuropa Hoppe (FDP) : Frau Präsidentin! Meine Damen und hinaus denken: Herren! Nach dieser Unruhe fällt es mir etwas schwer, zu reden. Aber nachdem mein Außenminister mich Genau wie Weltbank, Welthandel usw. sozialen auf meine Rede zum KSZE-Prozeß vom 25. Juli 1975 Welt-Ausgleichsfonds schaffen. angesprochen hat, die ich für meine Fraktion im Bun- Ferner heißt es — und da kommen auch noch die Mit- destag halten durfte, darf ich in dieser Debatte zum tel her — : KSZE-Prozeß — denn dazu fühle ich mich dadurch fast aufgefordert — jetzt mein parlamentarisches Streichung der Mittel für Militär- und Rüstungs- Schlußwort sprechen. forschung. In diesem Jahr sind zwei politische Visionen Reali- Weiter heißt es mit Blick auf das menschliche Mit- tät geworden. Und man kann mit Wernher von Braun einander, letztlich nicht nur in Gesamteuropa, son- sagen, daß hinterher nichts so einfach aussieht wie dern später auch in der ganzen Welt: eine verwirklichte Utopie. Geeignete Maßnahmen zum Abbau von Auslän- (Dr. Vogel [SPD]: Das ist wahr!) derfeindlichkeit und Fremdenhaß. In Europa ist Seit dem 3. Oktober 1990 leben die Deutschen wie- jeder irgendwo ein Ausländer. Aber auch keine der in einem Staat mit einer Verfassung, einem Parla- Besserstellung z. B. von Aussiedlern gegen- ment und einer Rechts- und Wirtschaftsordnung. Und über förderungsbedürftigen Bundesbürgern. Das am 19. November 1990 haben die europäischen Staa- Asylrecht ten gemeinsam mit den USA und Kanada die Funda- — für Nicht-Ost- und -West-Europäer — mente für eine Friedensordnung in Europa gelegt und Einvernehmen über die wesentlichen Elemente muß nach dem Grundgesetz ausgelegt werden. der Konstruktion des gemeinsamen europäischen Ich glaube, Herr Bundesjustizminister, diese Pro- Hauses erzielt. „Die Einheit und Freiheit Deutsch- grammpunkte sollte sich Herr Graf Lambsdorff, wenn lands zu vollenden" und „in einem vereinten Europa Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18897

Hoppe dem Frieden der Welt zu dienen" waren die Ziele, die Meine Damen und Herren, ich schließe damit die das Grundgesetz uns vorgegeben hatte. Aussprache. Ich beende meine politische Arbeit zu einem Zeit- Wir kommen zur Abstimmung über die vorliegen- punkt, an dem Deutschland vereint ist und Europa den Entschließungsanträge. Ich lasse zuerst über den einer neuen, kooperativen friedlichen Ordnung zu- Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf strebt. Meine deutschlandpolitische Vision ist zu einer Drucksache 11/8462 abstimmen. Hier wird die Über- freudig erfüllten Pflicht geworden. weisung beantragt. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion DIE Ich scheide mit der Zuversicht, daß auch die Vision GRÜNEN/Bündnis 90 auf Drucksache 11/8465 auf. Harmel-Berichts von 1967 insgesamt Realität des Auch hier wird die Überweisung beantragt. wird. Herr Dr. Lippelt, Sie wünschen das Wort zur Ab- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stimmung nach § 31 der Geschäftsordnung? Bitte Die Teilung , Deutschlands und Europas ist schön. Mittelpunkt meines politischen und p rivaten Lebens gewesen. Als Berliner — ich muß sagen: als gelernter Berliner; denn ich hatte das Glück, 1949 rechtzeitig Dr. Lippelt (Hannover) (GRÜNE/Bündnis 90): Frau darüber informiert zu werden, daß ich verhaftet wer- Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie beantra- den sollte, und konnte von Rostock nach Berlin flie- gen Abstimmung über diesen Antrag. hen — habe ich die Teilung Deutschlands und Berlins, Es handelt sich bei diesem Antrag um einen Antrag, das Schicksal der Menschen in der ehemaligen DDR, der auf die KSZE bezogen worden ist, aber dem Kern denen Demokratie und Freiheit über 40 Jahre hinweg und der Sache nach auf die letzte Diskussion über die vorenthalten blieben, und die Gefahr des Auseinan- Golfkrise zurückgeht. Dieser Antrag ist damals zu- derlebens der Deutschen unmittelbar erlebt. sammen mit anderen Anträgen überwiesen worden, Trotz der Niederschlagung des Aufstandes im Jahre obwohl klar war, daß der Auswärtige Ausschuß nicht 1953 und trotz des Mauerbaus habe ich an der Vision mehr tagen würde. Es hat auch keine interfraktionel- festgehalten, daß Deutschland im Rahmen einer euro- len Verständigungen gegeben. päischen Friedensordnung seine Einheit wiederfin- Wir meinen, daß eine Stellungnahme zur Golfkrise den würde. Ich weiß mich in diesem Punkt mit vielen keinen Aufschub mehr duldet. Deshalb wollen wir in diesem Hause einig. Die Gemeinsamkeit der poli- dieses Spiel mit der Überweisung an die Ausschüsse, tisch Handelnden, die ich immer für unverzichtbar die überhaupt nicht mehr existieren, nicht mitma- gehalten habe, bleibt mir in guter Erinnerung. chen. Glücklich würde ich mich schätzen, wenn gerade in (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Die tagen doch so- der vor uns stehenden schwierigen Aufbauphase im gar noch!) geeinten Deutschland und bei den vielfältigen Aufga- ben in Europa und in der ganzen Welt das Bewußtsein — In diesem Punkt wollen wir es nicht mitmachen, der gemeinsamen Verantwortung wieder in den Vor- Herr Ehmke. dergrund träte. Wenn wir die Sache so ernst einschätzen, wie sie ist, dann muß dazu Stellung genommen werden. Deshalb (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten verlangen wir die Abstimmung über diesen Antrag. der CDU/CSU) Die jetzt anstehenden Entscheidungen müssen in (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) einem kritischen Dialog mit wechselseitiger Fairneß gefunden werden. Das Ansehen unseres Parlaments Vizepräsidentin Renger: Sie haben den Antrag ge- gründet sich nicht zuletzt auf der Fähigkeit zum Kon- hört. Nach der Praxis des Hauses geht der Überwei- sens. sungsantrag allerdings vor. Ich lasse also zunächst (Beifall bei der FDP) über die Überweisung abstimmen. Wer der Überwei- Mit wahltaktischem Peitschenknallen kann man zwar sung an die Ausschüsse zustimmt, den bitte ich um Schlagzeilen produzieren, man kann aber beim Wäh- das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? ler kein Vertrauen gewinnen. Augenauskratzen ist — Bei Gegenstimmen der Fraktion DIE GRÜNEN/ wahrlich nicht das Gebot der Stunde. Deshalb wün- Bündnis 90 und der Gruppe der PDS ist diese Über- sche ich allen, die im neuen Deutschen Bundestag weisung beschlossen. vertreten sein werden, Augenmaß, Einfühlungsver- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der mögen und vor allem Glück. Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 auf Drucksa- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der che 11/8466. Hier ist ebenfalls die Überweisung bean- SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN/ tragt. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist Bündnis 90) das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 auf Drucksa- Vizepräsidentin Renger: Ich glaube, ich sollte sa- che 11/8467. Auch hier ist die Überweisung bean- gen, lieber Herr Hoppe, daß Ihnen das ganze Haus für tragt. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist Ihre langjährige parlamentarische Arbeit dankt. Es auch hier die Überweisung beschlossen. wünscht auch Ihnen alles Gute. Damit sind die Entschließungsanträge zu diesem (Beifall im ganzen Haus) Tagesordnungspunkt erledigt. 18898 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Vizepräsidentin Renger Ich darf Ihnen noch mitteilen, daß der heute morgen Jetzt, nach Vorlage der sogenannten Eckwerte aufgesetzte Zusatztagesordnungspunkt betreffend beschlüsse der Bundesregierung zum Bundeshaus- Drucksache 11/8468 zu einem späteren Zeitpunkt be- halt 1991 in der vergangenen Woche, wissen wir:- raten wird. Diese Aussage war der Steuerlüge erster Teil. (Beifall bei der SPD) Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Denn die Eckwerte bringen keine Klarheit. Es handelt sich bei dieser Mogelpackung nicht um Eckwerte, Aussprache zur Haltung der Bundesregierung sondern allenfalls um Versteckwerte. zur Erhöhung von Steuern und Abgaben Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion (Beifall bei der SPD) der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 Nicht einmal das für 1991 geplante Ausgabenvolu-

VOL men wird genannt. Bei der Staatsverschuldung wird Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für getrickst, um die Nebentöpfe zu verschleiern. die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Das Haus (Kittelmann [CDU/CSU]: Reden Sie von der ist damit einverstanden. — Dann ist das so beschlos- Verschuldung des Saarlands?) sen. Und was die angeblich zu erzielenden Einsparun- Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile dem Herrn gen angeht: Zwar wird ein Betrag von 35 Milliarden Ministerpräsidenten des Saarlandes, Herrn Lafon- DM genannt, aber Sie sagen nicht, in welchen Berei- taine, das Wort. Bitte. chen das Geld eingespart werden soll. (Kittelmann [CDU/CSU]: Wieso spricht der (Kittelmann [CDU/CSU]: Kürzen Sie bei Ih- jetzt zuerst?) rem Koch!) — Weil das so ist. Als der Bundesfinanzminister die Lippen spitzte, erin- nerte er — das werden Sie vielleicht nicht verstehen, meine Damen und Herren von der Koalition — an die Ministerpräsident Lafontaine (Saarland): Frau Prä- Gruppe „Milli Vanilli", sidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! (Heiterkeit bei der SPD und den GRÜNEN/ Die Koalition, die Bundesregierung, der Bundes- Bündnis 90) finanzminister und allen voran der Bundeskanzler ha- ben versucht, sich von den Wählerinnen und Wählern eine Gruppe, die zeitweise durchaus Erfolg hatte, bei einen Blankoscheck ausstellen zu lassen. der aber irgendwann herauskam, daß sie, als sie die Lippen spitzte, gar keine Töne von sich gab. (Kittelmann [CDU/CSU]: Aber jetzt nicht wieder die alte Rolle!) (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN/Bündnis 90 — Kittelmann Heute sehen wir die Risiken, wenn man es dieser Bun- [CDU/CSU]: Was haben Sie zu „Marie desregierung überläßt, erst nach der Wahl die Beträge Claire" zu sagen?) in einen vorzeitig unterschriebenen Scheck einzuset- zen. Viele werden überfordert. Deshalb verlangen wir Statt einer wahrhaftigen Aussage darüber, was man heute Klarheit über Absichten und Wege der künfti- denn bereit ist, einzusparen, gen Finanzpolitik, vor allem über die soziale Vertei- (Kittelmann [CDU/CSU]: Wie es Helmut lung der Belastungen, die auf viele Bürgerinnen und Schmidt getan hat!) Bürger zukommen. werden diffuse Einzelmaßnahmen — so wörtlich die (Beifall bei der SPD und der Gruppe der Pressemitteilung des Finanzministeriums — „in Erwä- PDS) gung gezogen" . Meine Achtung, meine Damen und Ob es Ihnen paßt oder nicht, meine Damen und Her- Herren: Sie ziehen wirklich Einsparungen in Erwä- ren von der Koalition: gung. Das erscheint mir angesichts der Haushalts- (Kittelmann [CDU/CSU]: Und Helmut lage Schmidt!) (Bohl [CDU/CSU]: Welche Schulden haben Der Versuch des Sich-Durchlügens bis zum Wahltag Sie hinterlassen?) ist ein für allemal gescheitert. wirklich eine beachtliche Aussage, die ich ohne jede (Beifall bei der SPD und der Gruppe der PDS Einschränkung für die Sozialdemokratische Partei — Kittelmann [CDU/CSU]: Unerhört, dieser Deutschlands anerkenne. Kompliment! Vorwurf!) (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Wie Ob freiwillig oder unfreiwillig, dies ist die Konsequenz viele Schulden haben Sie im Saarland, Herr aus den Wochenendäußerungen der Herren Kohl und Lafontaine?) Waigel. Scherz beiseite: Statt Klarheit herrscht heilloses Um den Verdacht zu zerstreuen, der Rückzug des Durcheinander. Entwurfs zum Bundeshaushalt 1991 im Sommer die- (Kittelmann [CDU/CSU]: Im Saarland!) sen Jahres habe etwas mit Verschleierung zu tun, er- klärte der Herr Bundeskanzler in einem Fernsehinter- Die Bundesregierung ist gegenüber Parlament und view Anfang August, rechtzeitig vor dem Wahltag Öffentlichkeit wortbrüchig geworden. werde die „Kassenlage" offengelegt. „Der Wähler (Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Wieso muß darüber Klarheit haben." Soweit das Zitat. denn?) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18899

Ministerpräsident Lafontaine (Saarland) Der Steuerlüge Teil 2 handelt von der Frage: Wird Ziel des Opfers den Preis wert ist. Sie müssen vor es Mehrbelastungen für die Bürgerinnen und Bürger allem wissen, daß die auf sie zukommenden Belastun- geben? Ja oder nein? gen sozial gerecht verteilt werden. - (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Eine hinreißende (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Rede! — Kittelmann [CDU/CSU]: Ein wahrer der GRÜNEN/Bündnis 90 — Kittelmann Staatsmann!) [CDU/CSU]: Auf Ihren Koch!) Die Aufführung dieses Aktes hat viele Bilder und Sze- Viele, dankenswerterweise auch in den Unionspar- nen. teien, waren und sind nicht bereit, dem Zickzackkurs (Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: „Marie des Bundeskanzlers zu folgen. Sie fordern den Bun- Claire " ! ) deskanzler auf, von seinem Nulltarifversprechen ab- zurücken. Es lohnt sich, sie einmal nachzuzeichnen. (Kittelmann [CDU/CSU]: Sie hätten sich lie- (Kittelmann [CDU/CSU]: Das Haushaltsbuch ber das ZDF-Politbarometer ansehen sollen! des Saarlands!) — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Man Szene 1 des Koalitionstheaters: Gibt es die deutsche soll nie von sich auf andere schließen, Herr Einheit zum Nulltarif? Monatelang haben uns die Lafontaine!) Bundesregierung und besonders der Bundeskanzler, Und diese Forderungen hatten Wirkung: Plötzlich, zuletzt bei der Fernsehansprache zum 1. Juli 1990, wie aus heiterem Himmel, einen Tag nach der Verei- stereotyp vorgegaukelt — ich zitiere — : „Keiner wird nigung, erklärte der Bundeskanzler, der bisher den wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas ver- Satz, niemand müsse auf etwas verzichten, immer zichten müssen. " wiederholte, wörtlich: Das wird uns große Anstren- (Kittelmann [CDU/CSU]: Auf was haben Sie gungen abfordern, und dafür werden wir auch Opfer verzichtet?) bringen müssen. Wirklich ein historischer Satz. (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Wie bringen wir das jetzt zusammen, zuerst die Be- SPD) hauptung, niemand müsse auf etwas verzichten, und Er ist so schön. Man kann ihn gar nicht oft genug wie- dann den Appell, wir alle müßten Opfer bringen? Ich derholen: „Keiner wird wegen der deutschen Einheit glaube, daß hier ein Mann das Opfer der Tatsache auf etwas verzichten müssen. " geworden ist, daß er rechtzeitig darauf verzichtet hat, gründlich nachzudenken. Anders ist dieser Wider- (Glos [CDU/CSU]: Haben Sie auf Ihren Koch spruch logisch nicht aufzulösen. verzichtet?) (Beifall bei der SPD) Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wußte von Anfang an, daß dies nicht stimmt. Szene zwei, die behandelt werden muß: Gibt es Steuererhöhungen? Meine Damen und Herren, aus (Clemens [CDU/CSU]: Wenn man sich nicht Rücksicht erspare ich es Ihnen und uns, die täglich bewußt war, darf man sich nicht wundern!) höhere Latte von Steuererhöhungsforderungen aus Das Eigentliche, das hier anzumerken ist, ist, daß Kreisen der Union zu zitieren. derjenige, der vorgaukelt, die Einheit sei zum Null- (Glos [CDU/CSU]: Der SPD!) tarif zu haben, Der Herr Bundeskanzler wollte keine Steuererhö- (Kittelmann [CDU/CSU]: Und Ihr Koch!) hungsdiskussion, weil sie ihn gezwungen hätte, vor an einer entscheidenden Stelle einen Fehler macht, der Wahl Roß und Reiter zu nennen, weil er Angst hat, weil er eben ein solidarisches Miteinander zum rich- konkret zu sagen, welche breiten Schichten der Be- tigen Zeitpunkt nicht einfordert. völkerung letztendlich zahlen müssen. Deshalb hat er (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ am Montag voriger Woche vergeblich versucht, die Bündnis 90 — Lachen bei der CDU/CSU — Front zu begradigen. Der CDU-Vorstand — Bieden- Bohl [CDU/CSU]: Da muß er ja selber lachen! kopf, Späth und Rommel hin und her — kündigte an: — Kittelmann [CDU/CSU]: Er ist nur ein Es wird keine Steuererhöhungen geben. Spieler! — Bohl [CDU/CSU]: Er bringt nicht (Zuruf von der SPD: Einstimmig! — Kittel- mal ein Pokerface hin!) mann [CDU/CSU]: Gibt es auch nicht!) Warum sollte jemand bereit sein, Opfer zu bringen, Der Versuch, den sächsischen Ministerpräsidenten im wenn es laut Bundeskanzler auch ohne Verzicht geht? CDU-Vorstand zum Schweigen zu bringen, erwies Wie kann man Opfer bringen ohne Verzicht? sich bereits zwei Tage später als Pyrrhussieg. Gegen- Die Bürgerinnen und Bürger sind zu Opfern bereit. über der „Sächsischen Zeitung" vom darauf folgen- Aber sie wollen Klarheit haben, auf was sie verzichten den Mittwoch erklärte Biedenkopf zur Möglichkeit müssen. einer generellen Steuererhöhung nach der Bundes- tagswahl: Das ist eine ganz andere Frage; über die (Kittelmann [CDU/CSU]: Verzichten können haben wir überhaupt nicht gesprochen. — Auf der Sit- sie auf die SPD! — Clemens [CDU/CSU]: Auf zung der CDU-Spitze am Montag seien jedoch eine Oskar werden sie verzichten müssen!) ganze Reihe von Risiken besprochen worden, aus de- Sie müssen auch ihre privaten Einnahmen und Aus nen sich Steuererhöhungen ergeben könnten. Diese gaben planen können. Sie müssen wissen, daß das könnten sich aus den internationalen Beziehungen, 18900 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Ministerpräsident Lafontaine (Saarland) beispielsweise einer Verschärfung der Golfkrise, aus Der Bundeskanzler behauptete dieser Tage, er habe ökologischen Problemen oder der Aufbauarbeit im Steuererhöhungen nie grundsätzlich, sondern stets Osten Europas, so in der Sowjetunion und Polen, erge- nur als Mittel zur Finanzierung der deutschen Einheit- ben. Würden diese hinzutreten, so ändere sich die ausgeschlossen. Situation, habe auch Bundeskanzler Kohl bemerkt. (Glos [CDU/CSU]: Richtig!) Herr Bundeskanzler, sagen Sie nicht nur hinter den Auch diese Behauptung entspricht nicht der Wahr- verschlossenen Türen des CDU-Vorstandes, sagen heit. Sie heute hier vor dem Bundestag klipp und klar, was Sie eigentlich vorhaben! (Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU]: Aber Helmut Schmidt hat recht!) Szene drei der Komödie: Steuererhöhungen wofür? Noch am 19. Juni dieses Jahres hat der Bundeskanzler Nachdem sich der Bundeskanzler in einen Wust von im ZDF die Frage nach Steuererhöhungen wie folgt Äußerungen zu verstricken drohte, schien er in der beantwortet: Fernsehsendung „Was nun, Herr Kohl?" den Gordi- Wir haben immer gesagt — und ich bleibe da- schen Knoten durchgeschlagen zu haben. bei —, (Zurufe von der CDU/CSU: Da war er hervor —ich bleibe dabei! — ragend! — Besser als Sie! — Spitze!) daß beim Zustand unserer Wirtschaft, die sich in — Deswegen war auch dieser Defekt beim TED, weil einer glänzenden Verfassung präsentiert, wir der Herr Bundeskanzler an diesem Tag so hervorra- keine Steuererhöhungen brauchen. gend war. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) — Halten Sie mit Ihrem Beifall noch zurück; ich bin Er schien den Gordischen Knoten durchschlagen zu mit dem Zitat noch nicht zu Ende. haben. Steuererhöhungen für die deutsche Einheit: niemals, für andere Sachen, UdSSR-Hilfe, Golf, Steuererhöhungen bedeuten doch eine Ein- Europa: vielleicht. So die neue Linie des Herrn Bun- schränkung der Investitionsbereitschaft. deskanzlers, als ginge es nicht um ein und denselben (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Topf, den Bundeshaushalt 1991. Der Bundeskanzler schloß also Steuererhöhungen Wenn uns die deutsche Einheit eben in der näch- noch im Juni ohne jede Einschränkung aus. sten Zeit mindestens 100 Milliarden DM pro Jahr ko- Es ist nun keine Schande, wenn ein Politiker seine stet, Meinung ändert, (Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie sie (Kittelmann [CDU/CSU]: So oft wie Sie?) nicht, die Einheit?) wenn er sich geirrt hat, selbst wenn ihm fundamentale dann muß das Geld aufgebracht werden. Ich bin da- Fehleinschätzungen unterlaufen sind. für, dieses Geld aufzubringen. Jede Mark, auch die gepumpte, kann nur einmal ausgegeben werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Kläglich, kläg- (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Die neue Linie bei lich!) Ihnen! — Kittelmann [CDU/CSU]: Die SPD Aber er sollte sich dazu bekennen, wenn er durch als größter Schuldenmacher — und dann immer neue Irrungen und Wirrungen die Öffentlich- diese Ratschläge!) keit zu täuschen versucht. Wenn das Geld falsch verwendet wird, fehlt es an (Widerspruch bei der CDU/CSU) anderer Stelle. Es geht insofern nicht um die Finanzie- Es ist eine Schande, wenn er vorgibt, er habe alles fest rung der deutschen Einheit; es geht um den Bundes- im Griff, wo jedermann das finanzpolitische Chaos haushalt 1991 und die Finanzplanung von Bund, Län- schon sehen kann. dern und Gemeinden für die nächste Legislaturpe- riode. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU: Wo denn? — Glos [CDU/CSU]: Nur im (Beifall bei der SPD) Saarland! — Kittelmann [CDU/CSU]: Was Es geht darum, die vor uns stehenden Aufgaben zu sagen Sie denn zu Helmut Schmidt, Herr La- lösen. Dafür brauchen wir die Mittel, dafür brauchen fontaine?) wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Die Meine Damen und Herren, wenn in der „Herald Bürgerinnen und Bürger müssen sehen können, daß Tribune " beispielsweise steht, wir sorgsam mit ihrem Geld umgehen, (Kittelmann [CDU/CSU]: Da hat Helmut (Kittelmann [CDU/CSU]: Das von der SPD; Schmidt das Interview nicht gegeben!) das ist ja wohl nicht wahr!) und vor allem, daß wir ehrlich mit ihnen umgehen. daß die Kosten der Einheit zehnmal so hoch sind, (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ (Unruhe — Glocke der Präsidentin) Bündnis 90 — Kittelmann [CDU/CSU]: Das wie Sie, verehrter Herr Bundeskanzler, geschätzt ha- ist unredlich! — Weiterer Zuruf von der ben — ich wiederhole: zehnmal so hoch — , dann sollte CDU/CSU: Da hilft auch kein Mut-Zuklat das doch vielleicht einmal Veranlassung sein, nicht schen!) immer nur zu lärmen und in Albernheit zu flüchten, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18901

Ministerpräsident Lafontaine (Saarland) sondern nun wirklich einmal über eine seriöse Finan- Am gleichen Tag wiederholte Helmut Kohl auf dem zierung in den nächsten Jahren zu reden. CSU-Kongreß in München — zwei Orte, zwei Quel- len, der gleiche Inhalt; ich zitiere — : (Beifall bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/ - CSU]: Habt ihr keinen Besseren?) Wir werden nicht umhin kommen, in der kom- menden Legislaturperiode in einigen Bereichen Die Szene vier, meine Damen und Herren, spielte über die Erhöhung von Abgaben zu reden. am Wochende. Steuererhöhungen: nein; aber Abga- Auch in „Bild am Sonntag" sagt er: ben sollten es jetzt sein. An dem einen oder anderen Punkt müssen die (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt er Deutschen mehr zahlen. zum Thema!) Ich habe hier wörtlich zitiert; Auch hier war der Akteur kein Geringerer als der Herr Bundeskanzler persönlich. Gegenüber dem „Kölner (Zuruf von der CDU/CSU: Den Helmut Stadtanzeiger" am Samstag brachte er die Abgaben- Schmidt oder wen?) erhöhungen ins Spiel: denn die Kurskorrektur des Bundeskanzlers schlug in der Öffentlichkeit und auch in der Koalition wie eine (Frau Geiger [CDU/CSU]: Famoses Pressear Bombe ein. Bundeskanzler Helmut Kohl und auch der chiv, wie?) Bundesfinanzminister seien — so ließ Graf Lambsdorff Der Bürger werde in der nächsten Legislaturperiode, am Montag verlauten „von allen guten Geistern ver- so der Bundeskanzler, an dem einen oder anderen lassen". Punkt mehr zahlen müssen; beispielsweise könne dies (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Wo er recht hat, für die Umwelt erforderlich werden, hat er recht!) (Glos [CDU/CSU]: Ja, so ist das Leben!) Ich sage es noch einmal: Bundeskanzler Helmut Kohl etwa in Form einer Kohlendioxidabgabe. und auch der Bundesfinanzminister seien von allen guten Geistern verlassen, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) (Bundesminister Dr. Waigel: Dafür hat er sich Zwar bekannte Kohl erfreulicherweise wörtlich: schon entschuldigt!) Der Unterschied zwischen Steuern und Abgaben weil sie 14 Tage vor der Wahl im Zusammenhang mit ist für den Bürger nicht so relevant; den Kosten der deutschen Einheit eine Debatte um Abgaben und Steuern eröffnet haben. (Lachen bei der SPD) Bedauerlich ist nur, daß sich der Graf weniger über er muß aus demselben Portemonnaie zahlen. den Inhalt der Ankündigungen als über den Zeitpunkt ärgerte. Man könnte das in der Sprache des Bundeskanzlers noch fortsetzen: Entscheidend ist für die Bürgerinnen (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bündnis und Bürger, was hinten herauskommt. — So einfach 90, der Gruppe der PDS sowie der Abg. Frau ist das! Unruh [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ Dies läßt auf einiges schließen. Der Graf hätte nichts CSU: Na, na, na! — Kittelmann [CDU/CSU]: dagegen gehabt, wenn nach der Wahl die Wahrheit Sehr zweideutig!) gesagt worden wäre. Aber vor der Wahl den Bürge- rinnen und Bürgern die Wahrheit zu sagen, so Graf Ihm gefalle der Weg der Abgabe besser, so immer Lambsdorff, da muß man doch von allen guten Gei- noch der Bundeskanzler, als der der Steuern, weil der- stern verlassen sein. jenige, der sich rechtzeitig umgestellt hat und nun (Beifall bei der SPD) weniger Schaden verursacht, belohnt werde, sagt der Bundeskanzler. „Und das kostet Geld." Er habe, Süffisant bemerkte der Graf halb entschuldigend, heißt es dann abschließend — das kennen wir ja nun halb bissig: Der Bundeskanzler habe in München schon —, nicht gesagt, es gebe keine Steuer- und schließlich frei gesprochen. Abgabenerhöhungen. Wörtlich: „Ich sage: Es gibt (Heiterkeit bei der SPD — Beifall der Abg. keine Steuerhöhungen im Blick auf die deutsche Ein- Frau Dr. Vollmer [GRÜNE/Bündnis 90]) heit. " — Wahrscheinlich wegen der Karnickelplage in Als dies nun passiert war, sahen sich Bundeskanz- Australien oder so! Aber wegen der deutschen Einheit leramt und CDU/CSU-Bundestagsfraktion veranlaßt, gibt es keine Steuererhöhungen! eine ganze Batte rie von Nebelkerzen zu zünden: Sie (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ verstünden diese Aufregung überhaupt nicht. Der CSU: Ha, ha, ha!) Bundeskanzler habe doch weiterhin Steuererhöhun- gen ausgeschlossen und Abgaben nur im Sinne des — Meine Damen und Herren, mit dieser Formel „Es Wahlprogramms für den Umweltschutz gefordert. gibt keine Steuererhöhungen wegen der deutschen Einheit" machen Sie sich doch nur noch lächerlich! (Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!) (Beifall bei der SPD) Auch dies stimmt zwar nicht genau, aber immerhin: Ungefähr so etwas hat er auch gesagt. Rücken Sie doch von dieser Formel ab! Ein einfacher Blick auf die zitierten Äußerungen (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh von Samstag beweist das Gegenteil. Die CO2-Abgabe [fraktionslos]) wie auch der Umweltschutz wurden vom Bundes- 18902 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Ministerpräsident Lafontaine (Saarland) kanzler ausdrücklich nur als ein Beispiel für die Er- klärungen diffamiert haben, wie Sie uns als Steuerer- schließung zusätzlicher Finanzierungsquellen ge- höhungspartei bezeichnet haben nannt. Andere hat er auch nicht ausgeschlossen. - (Zuruf von der CDU/CSU: Rückschritt 90!) Nun wären wir natürlich sehr dankbar, verehrter und wie Sie auf der anderen Seite gesagt haben: Wer Herr Bundeskanzler, wenn Sie einmal so nett wären, sagt, er werde das zurückgeben, der wird gar keinen hier vorne hinzukommen und zu sagen, an welchen Umwelteffekt erzielen können. — Nun kratzen Sie die Punkten die Bürgerinnen und Bürger denn noch Steu- Kurve und schreiben bei uns ab. Das ist wirklich keine ern zahlen müssen. starke Vorstellung, Graf Lambsdorff. Das ist wirklich (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd keine starke Vorstellung! nis 90, der Gruppe der PDS sowie der Abg. (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh Frau Unruh [fraktionslos] — Kittelmann [fraktionslos]) [CDU/CSU]: Das macht er erst, wenn Sie Ih ren Koch mitbringen!) Dies öffnet den Vorhang zur Szene fünf: Wie viel- fältig ist die Phantasie der Bundesregierung und der Aber wir lassen uns ja gerne überraschen. Wir ha- sie tragenden Parteien für die Erschließung zusätzli- ben Geduld. Wir haben Zeit. Deshalb lade ich Sie cher Finanzierungsquellen? herzlich ein, in irgendeinem Zusammenhang, verehr- ter Herr Bundeskanzler, vor der Wahl doch so nett zu Der Bundesfinanzminister hat im „Spiegel" -Ge- sein und den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen, wo spräch dieser Woche durchaus Kreativität bewiesen. und an welchen Punkten sie, wenn Sie im Amt blei- Er sprach vom Sonderopfer für Beamte, und er ver- ben, breitete sich über die Privatisierungen z. B. bei der Telekom. Die Idee, die Telekom zu privatisieren (Kittelmann [CDU/CSU]: Was heißt (Glos [CDU/CSU]: Ist eine gute Idee!) „wenn"?) — Maggie Thatcher läßt grüßen! — zeigt, — — mehr Steuern, mehr Abgaben oder mehr Gebühren zahlen müssen. (Zurufe von der SPD: Ließ grüßen! — Ein Abschiedsgruß!) (Zuruf von der CDU/CSU: Auf jeden Fall we niger als bei Ihnen!) — Ich wollte das durchaus in einen Zusammenhang stellen. Nun zur FDP. Graf Lambsdorff empfiehlt die FDP als (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und den einzigen Garanten gegen Steuererhöhungen. Das ist GRÜNEN/Bündnis 90) wirklich beachtlich. Die Profilierungsübungen von Ih- nen, Herr Graf Lambsdorff, beim Steuerthema sind Die Idee, die Telekom zu privatisieren, zeigt, daß der allerdings etwas unglaubwürdig. Sie haben vielleicht Bundesregierung das Wasser bis zum Halse steht. vergessen, daß der Bundeswirtschaftsminister noch (Widerspruch bei der CDU/CSU) vor wenigen Tagen im Kabinett für die Einführung einer Klimaschutzsteuer geworben hat. Ich habe Sie will jetzt das Tafelsilber verscherbeln. Für die So- schon immer bewundert, wie Sie es fertigbringen, an zialdemokraten sage ich den Beschäftigten der Bun- einem Tag Presseerklärungen über die Einführung despost: Wir werden uns gegen solche Kurzschlußre- einer Klimaschutzsteuer loszulassen und noch am sel- aktionen zur Wehr setzen. ben Tag zu tönen, Sie seien gegen jedwede Steuerer- (Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ höhungen. Ich habe das immer wieder bewundert. CSU]: Was sagt Helmut Schmidt dazu?) Kompliment, Graf Lambsdorff; wirklich: Kompli- ment. Bei dem Erfindungsreichtum lesen wir auch über die Vorteile privat finanzierten Autobahnbaus und (Zuruf von der CDU/CSU: Der hat für das über Autobahngebühren. Das wäre im übrigen auch Koalitionsklima gearbeitet!) eine Steuererhöhung, weil ja damit das Mineralöl- Ich zitiere den Sprechzettel des Bundeswirtschafts- steueraufkommen und die Kraftfahrzeugsteuer für an- ministers vom 7. November. dere Zwecke genutzt werden könnten. (Kittelmann [CDU/CSU]: Um wieviel wollten ... eine Klimaschutzsteuer, die ich für besonders Sie das Benzin verteuern? — Dr. Dregger geeignet erachte, nachhaltige Einsparungen und [CDU/CSU]: Haben Sie nichts anderes auf Substitionsanreize auszulösen. dem Kasten?) (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Fortschritt 90!) Wir lesen über Umweltabgaben, und bemerkens- Nun war diese Steuererhöhungsankündigung auf wert genug: Die Frage, ob er eine Mehrwertsteuer- dem Markt, und Graf Lambsdorff eierte herum. Da ist erhöhung ausschließe, hat Waigel nicht etwa verneint, er auf einmal auf die Idee gekommen, zu sagen: aber sondern er hat dem „Spiegel" mit einer Gegenfrage nur dann, wenn sie auf der anderen Seite den Bürge- geantwortet. Er fragte: Schließen Sie aus, daß mit die- rinnen und Bürgern zurückgegeben werden. ser Frage die Auflage des „Spiegel" sinkt? — Warum war er nicht zu einer klaren Antwort fähig, wenn Sie (Aha! bei der SPD) hier lärmend und lautstark verkünden, Sie seien ge- gen jedwede Form der Steuererhöhung? Das ist nun wirklich toll, Graf Lambsdorff. Ich habe Ihnen wochen- und monatelang zugehört, wie Sie un (Abg. Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr ser Konzept „Fortschritt 90" in ungezählten Presseer wahr!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18903

Ministerpräsident Lafontaine (Saarland) Wem glauben Sie diese Lüge eigentlich noch aufti- der Redner seine Stimme derartig anstrengen muß, schen zu können? Das pfeifen doch die Spatzen von um überhaupt noch gehört zu werden. den Dächern! (Lachen bei der CDU/CSU) - (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Ich bitte Sie jetzt wirklich sehr nachdrücklich darum, der GRÜNEN/Bündnis 90 — Kittelmann sich etwas zurückzuhalten und dem Redner die Mög- [CDU/CSU]: Sie machen sich doch über sich lichkeit zu geben, sich hier zu artikulieren. selbst lustig, Herr Lafontaine, und lachen auch noch darüber!) (Beifall bei der SPD) Auf die Frage nach den geplanten Beitragserhö- hungen für die Arbeitslosenversicherung — es geht ja Ministerpräsident Lafontaine (Saarland): Das weiter; Ihr Erfindungsreichtum ist noch lange nicht zu Ganze ist ein konzeptionsloser Selbstbedienungsla- Ende — wollte der Bundesfinanzminister die Erhö- den: hungen so nicht bestätigen. (Kittelmann [CDU/CSU]: Das hat Helmut (Zurufe von der CDU/CSU: Der Schmidt hat Schmidt nicht gesagt!) doch recht! — Der Schmidt weiß, wovon er redet!) ein bißchen Umwelt, ein bißchen Autofahrer, dann Sonderopfer für Beamte. Der Bundesfinanzminister Er hat auch guten Grund dazu; denn uns liegen Infor- wirft ein paar Brocken hin. Nichts Genaues weiß man mationen vor, nach denen der Bundesfinanzminister nicht. Über das, was kommt, wird ein Mantel von vorhat, den Beitragssatz um zwei Punkte zu erhöhen. Nebel und Verschleierung gehängt. Ich frage mich: Er hat vor, diesen Beitragssatz um zwei Punkte zu Wie lange müssen sich die Bürgerinnen und Bürger erhöhen — solche Informationen liegen uns aus den das eigentlich noch gefallen lassen? Ministerien vor—, während der Beitrag für die Ren- tenversicherung nur um einen Punkt gesenkt wird: (Kittelmann [CDU/CSU]: Ihre Rede oder unter dem Strich also eine glatte Beitragserhöhung wen?) um elf Milliarden DM. Eröffnen Sie, meine Damen und Herren von den Ko- (Dr. Vogel [SPD]: Hört! Hört!) alitionsparteien, endlich eine seriöse Diskussion über die Finanzierung der deutschen Zukunftsaufgaben. In Anlehnung an die berechtigten Hinweise des Bun- deskanzlers, daß für die Bürgerinnen und Bürger der (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Unterschied zwischen Steuern und Abgaben uner- der Gruppe der PDS — Kittelmann [CDU/ heblich sei, gilt dies erst recht für die Beitragserhö- CSU]: Das war nicht seriös!) hung. Mit den Eckwerten der Bundesregierung ist das (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten nicht geschehen. Diese Eckwerte beinhalten einen der GRÜNEN/Bündnis 90) Milliardenverschiebebahnhof von der Rentenkasse hin zur Arbeitslosenversicherung. Dies als Einsparung Hinzu kommt, daß Sie nicht nur den Arbeitnehme- zu verkaufen ist eine Zumutung. rinnen und Arbeitnehmern Belastungen aufbürden wollen — die Sie jetzt verschweigen wollen oder im (Zuruf von der CDU/CSU: Und was sagt Hel- Nebel unsichtbar werden lassen wollen — , sondern mut Schmidt?) auch in die Rentenkasse greifen. Dieser Griff in die — Meine Damen und Herren, damit Sie sich beruhi- Rentenkasse bedeutet, daß die Rentnerinnen und gen: Ich bin wirklich überrascht, wie hoch Altbundes- Rentner in Zukunft weniger Rente zu erwarten ha- kanzler Schmidt bei Ihnen noch im Ansehen steht. ben. (Beifall bei der CDU/CSU — Kittelmann (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten [CDU/CSU]: Ja, er hat aufgeholt!) der GRÜNEN/Bündnis 90 — Unruhe bei der Er steht auch in meinem Ansehen. Aber bei nicht frei- CDU/CSU — Kittelmann [CDU/CSU]: Jetzt gegebenen Äußerungen kann man sich irren. Ein Be- beginnt die Rentenlüge! — Weitere Zurufe leg dafür sitzt etwas weiter hinten in Form des verehr- von der CDU/CSU) ten Herrn Bundeskanzlers. Über ihn sagte ein ande- Das Ganze ist ein konzeptionsloser Selbstbedienungs- rer: laden. Ich halte Herrn Kohl, den ich trotz meines (Glos [CDU/CSU]: Das war zu billig! — Wei Wissens um seine Unzulänglichkeit um des Frie- terer Zuruf von der CDU/CSU: Der Helmut dens willen als Kanzlerkandidaten unterstützt Schmidt weiß, wovon er redet! — Weitere habe ... Er wird nie Kanzler werden; er ist total Zurufe — Anhaltende Unruhe bei der CDU/ unfähig; ihm fehlen die charakterlichen, die gei- CSU — Glocke der Präsidentin) stigen und die politischen Voraussetzungen, ihm fehlt alles dafür. Sie sehen, Männer können sich auch einmal irren. Der Vizepräsidentin Renger: Entschuldigen Sie, Herr Beweis: die Wienerwald-Rede des Kanzlerkandida- Ministerpräsident! ten. (Anhaltende Zurufe) (Heiterkeit bei der SPD — Kittelmann [CDU/ Hier wird eine Debatte geführt. Diese dient dazu, daß CSU]: Das war eine Fälschung!) man sich den Redner anhört. Dabei sind auch Zwi Die Verschiebung ist finanzpolitisch eine folgen- schenrufe erlaubt, aber nicht ununterbrochen, so daß schwere Fehlentscheidung. Auf Grund der absehba- 18904 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, don 22. November 1990

Ministerpräsident Lafontaine (Saarland) ren Bevölkerungsentwicklung mit einem immer wei- gabevolumen von 404 Milliarden DM. Dem stehen ter steigenden Anteil älterer Menschen und einer ent- Gesamteinnahmen von nur 321 Milliarden DM ge- sprechenden Zunahme des Finanzbedarfs der Ren- genüber. Daraus ergibt sich im nächsten Jahr im Bun-- tenversicherung haben SPD, CDU/CSU und FDP mit deshaushalt ein Finanzierungsdefizit von 83 Milliar- der Rentenreform in einer gemeinsamen Kraftan- den DM. Dieses Defizit liegt um 13 Milliarden DM strengung, die wir alle gebilligt haben, die Grundla- höher als die vom Bundesfinanzminister genannte gen dafür geschaffen, daß die Rentenversicherung Nettokreditaufnahme von 70 Milliarden DM. In den auch Mitte der 90er Jahre die notwendigen Finanz- folgenden Jahren bis 1994 steigt dieses verheimlichte reserven besitzt. Das war unsere Absicht. Insofern Defizit auf 25 Milliarden DM an. sind die Einwände, die vorgetragen wurden, wirklich (Jaunich [SPD]: Der Rest sind die Abga- an der falschen Stelle vorgetragen. ben!) Nach dem, was jetzt von der Bundesregierung be- Offensichtlich wollte die Bundesregierung diese un- schlossen wurde, ist diese Vereinbarung durchbro- gedeckte Finanzierungslücke deshalb verbergen, um chen. Wir nennen das einen Griff in die Rentenkasse. sich der Frage zu entziehen, wie sie diese Lücke zu Dies haben wir mit Ihnen nicht vereinbart! schließen beabsichtigt. (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd (Zuruf von der CDU/CSU: Der Herr Professor nis 90 und der Abg. Frau Unruh [fraktions Schiller hat es gesagt!) los]) Die Bundesregierung weist die gesamtstaatliche Auch hier haben Sie Ihr Wort gebrochen. Noch am Neuverschuldung mit 140 Milliarden DM aus. Frau 17. Mai 1990 hat der Bundessozialminister verkün- Kollegin Matthäus-Maier hat Ihnen vorgerechnet, daß det: die Finanzierungslücke unter Berücksichtigung aller Die Anschubhilfe für den Aufbau einer vergleich- Nebentöpfe und Blindbuchungen für 1991 mehr als baren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine ge- 200 Milliarden DM beträgt. samtstaatliche Aufgabe und darf nicht den Bei- (Glos [CDU/CSU]: Die hat schon viel falsch tragszahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet gerechnet! — Kittelmann [CDU/CSU]: Des- werden. Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln. halb hat sie heute Sprechverbot!) (Hört! Hört! bei der SPD) Meine Damen und Herren, wenn Sie einmal ein biß- Diesen Standpunkt habe ich immer vertreten. Es chen ehrlich wären, gibt keinen Zweifel, daß dies die Position der (Widerspruch bei der CDU/CSU) gesamten Bundesregierung und der Koalition dann würden Sie zugeben, daß die Einschätzung der ist. ausländischen Presse, daß Sie sich um einen Faktor 10 Meine Damen und Herren, hier haben Sie Ihr Wort verschätzt haben, richtig ist und daß niemand vor eini- gebrochen! Das kann man auch nicht mit Albernhei- gen Monaten hier geglaubt hätte, daß wir einmal über ten zukleistern wollen. Finanzierungslücken von 200 Milliarden DM zu reden (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten hätten, niemand! der GRÜNEN/Bündnis 90) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ Ich frage den Bundesarbeitsminister: Wie steht es Bündnis 90) nun mit dem regierungsamtlichen Griff in die Renten- — Graf Lambsdorff, da nützt auch kein Kopfschüt- kasse und der Äußerung, die ich gerade zitiert habe, teln! sofern sie nicht falsch zitiert worden ist? Dann würde In früheren Jahren sind Finanzminister wegen eini- ich mich im nachhinein entschuldigen; das passiert ger Milliarden zurückgetreten. Das war in früheren schon einmal. Jahren so, aber seit 1982 gibt es ja das demokratische (Zuruf von der CDU/CSU: Aber erst mit Institut des Ministerrücktritts nicht mehr. Dies ist auch Dreck schmeißen!) eine bemerkenswerte Feststellung. Es kann ja sein, daß die Presse Sie falsch wiedergege- (Zustimmung bei der SPD) ben hat. Dann haben Sie die Gelegenheit, das zu Der hier erwähnte Sachverhalt ist viel gravierender. erklären. Wir werden in den nächsten Jahren dreistellige Milli- Ich frage Sie, Herr Blüm: Wie steht es jetzt mit Ihrer ardensummen zu decken haben — ich hoffe, daß Sie Aussage von damals? Haben wir alle — das ist unsere dies bald einmal begriffen haben —, über deren ge- Frage — die gemeinsame Kraftanstrengung zur Si- naues Volumen und über deren Deckung sich die cherung der Renten gemacht, damit Sie jetzt einseitig Bundesregierung bis zum heutigen Tage ausge- die Axt anlegen? Das ist die Frage, um die es geht. schwiegen hat. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: So ein Oberleh- rer!) Ich hatte bereits eingangs darauf hingewiesen, daß es sich bei den Eckwerten um eine Mogelpackung Und das können wir doch nicht durchgehen lassen! handelt, die nicht einmal das beabsichtigte Ausga- Unsere Rechnungen basieren auf Fortschreibungen benvolumen benennt. Das hat einen guten Grund: Bei der bisherigen Politik. Wie stellt sich das zu deckende dem von der Bundesregierung für die nächsten Jahre Finanzvolumen eigentlich dar, wenn wir die Zu- angegebenen Ausgabenanstieg von 2 % ergibt sich kunftsaufgaben, die Lösung der Infrastrukturpro- rechnerisch für den Bundeshaushalt 1991 ein Aus bleme in den neuen Ländern, dazunehmen? Es ist für Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18905

Ministerpräsident Lafontaine (Saarland) uns ein Skandal, wenn wir Milliarden aufwenden, um Eine wichtige Aufgabe bleibt, daß wir Maßnahmen Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit zu finanzieren, statt gegen die Dauerarbeitslosigkeit, für Arbeitsplätze für Jugendliche und für Behinderte ergreifen. mit Investitionsprogrammen etwa in die Sanierung - der Umwelt, der Telekommunikation, des Wohnungs- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ wesens, des Verkehrssektors Arbeit zu finanzieren CSU: Erst einmal zu Hause Ordnung schaf- und zu organisieren. fen!) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ Wir Sozialdemokraten wollen auch die ungerechte Bündnis 90 — Zuruf von der CDU/CSU: So Steuerpolitik korrigieren. Daß Sie den Weihnachts- zialismus!) freibetrag gestrichen haben, bedauern wir. Wir wer- den ihn wieder einführen. Im Berliner Wahlkampf plakatiert die CDU — man höre und staune — : „Wir packen's an! Gleicher Lohn (Beifall bei der SPD — Frau Fuchs [Köln] für gleiche Arbeit! " — Ihre Partei, Herr Bundeskanz- [SPD]: Sehr gut!) ler, fordert gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir haben Finanzierungsvorschläge vorgelegt. (Kittelmann [CDU/CSU]: Ja, als Zukunfts Die ruinöse Staatsverschuldung der Bundesregie- option!) rung ist gefährlich. Ich halte mich hier nicht mit klu- Ich halte das für Berlin und für ganz Deutschland gen abstrakten Rechnereien über Staatsverschul- kurzfristig für viel zu viel versprochen, solange die dungsanteile am Bruttosozialprodukt und dergleichen Produktivität so weit auseinanderläuft. auf. Im Kern geht es bei der realistischen Beurteilung der Staatsverschuldung um drei Seiten: um die fiska- (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Richtig!) lische, die ökonomische und die soziale. Aber wer so etwas in einem Wahlkampf verspricht, Die ausufernde Staatsverschuldung, die wir in die- der ist in diesem Wahlkampf völlig unglaubwürdig. sem Ausmaß noch niemals hatten, hat finanzpolitisch schwerwiegende Folgen. Die zunehmende Zinsbela- (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh stung der öffentlichen Haushalte schnürt die Hand- [fraktionslos] — Kittelmann [CDU/CSU]: lungsfähigkeit des Staates immer weiter ein. Bereits in Jetzt macht er Berliner Wahlkampf! Dann re diesem Jahr betragen die Zinszahlungen von Bund, den wir von Momper!) Ländern und Gemeinden nach Angaben der Bundes- regierung 67,5 Milliarden DM. Das kann für den öffentlichen Dienst nicht verwirk- licht werden. Wir haben vor Monaten schon auf die (Glos [CDU/CSU]: Sie schreiben doch von Folgen hingewiesen. 100 Milliarden in Ihren Zeitungsanzeigen!) Weitere Zinsen kommen hinzu. Wer so tief in die (Kittelmann [CDU/CSU]: Was sagen Sie Staatsverschuldung greift, macht den Staat fiskalpoli- dann zu der 10-%-Forderung?) tisch handlungsunfähig, und er beraubt sich in der Dies hätte gravierende Folgen für die gewerbliche Zukunft der Gestaltungsfähigkeit. Wirtschaft. (Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ CSU] : Wer das Saarland so verschuldet hat, Wäre es nicht sachdienlich, ehrlich über das zu re- sollte nicht über Finanzen reden!) den, was auf uns zukommt, und offen anzusprechen, daß es große Schwierigkeiten gibt, statt eine Se rie von Die Staatsverschuldung in der geplanten Größen- Versprechungen zu machen? ordnung ist auch ökonomisch gefährlich. Sie wirkt zinstreibend. Die Höhe des Zinssatzes und nicht ir- Große Haushaltsrisiken bestehen aber nicht nur in gendwelche anderen Rechnereien sind jetzt das öko- Verbindung mit der deutschen Einheit und den kost- nomisch Entscheidende. Es ist bedauerlich, daß wir spieligen Fehlentscheidungen der Bundesregierung. jetzt eine Steuerdebatte führen. Das ist ökonomisch In allen Programmen, die wir jetzt lesen und die auf völlig verfehlt. Wir bräuchten eine Zinsdebatte; denn dem Markt sind, werden Versprechungen gemacht, sie würde über Investitionen und neue Arbeitsplätze die zusätzliche enorme Finanzmittel erfordern. entscheiden. (Kittelmann [CDU/CSU]: Bisher hat er nur (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau geschimpft!) Dr. Vollmer [GRÜNE/Bündnis 90]) Die Bundesregierung ist bis zum heutigen Tage eine Der Präsident der Bundesbank hat Ihnen ins Antwort schuldig geblieben, wie sie das, was sie zu- Stammbuch geschrieben, meine Damen und Herren, sätzlich verspricht, finanzieren will. Ob Steuern, Ab- daß ein hoher Zins in dieser Form folgendes heißt: gaben oder Gebühren, die Mittel müssen aufgebracht Einbruch der Investitionen, weil sich das angelegte werden, wenn die Wahlversprechen eingelöst wer- Kapital besser und sicherer verzinst als das inve- den sollen. stierte, als Folge davon eine deutliche Abbremsung der Konjunktur, als Folge davon Preiserhöhungen und Zukunftsaufgaben stellen sich nicht nur in den weitere Zinstreiberei, weil der Kapitalmarkt bereits neuen, sondern auch in den alten Bundesländern. jetzt überfordert ist. (Clemens [CDU/CSU]: Insbesondere im (Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Schlesinger Saarland!) sagt etwas anderes!) 18906 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1 990

Ministerpräsident Lafontaine (Saarland) Nichts anders urteilt der Sachverständigenrat in sei- und bei Abgeordneten der Gruppe der nem Jahresgutachten, das in der vergangenen Woche PDS) veröffentlicht wurde. Die Sachverständigen weisen Wir sagen: Es ist heute nicht mehr die Frage, ob- es darauf hin, daß die Bauherrn durch die hohen Zinsen Mehrbelastungen für die Bürgerinnen und Bürger stark belastet würden gibt. Die Frage ist vielmehr, welche Mehrbelastungen (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: So ist es!) es geben wird. Wir Sozialdemokraten sagen Ihnen: Wir lassen nicht zu, daß in erster Linie bei den kleinen und mit erheblichem Preisanstieg am Bau — sie er- Leuten abkassiert wird, weil Sie solch schwere Fehler warten für das kommende Jahr 8 % Preisanstieg — zu gemacht haben. rechnen sei. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Diese Tatsachen zeigen, daß der scheinbar so be- der GRÜNEN/Bündnis 90) queme Weg über die astronomische Staatsverschul- dung in den kommenden Jahren schwerwiegende Ihre Vorschläge ignorieren, daß insbesondere in der Folgen haben wird. ehemaligen DDR noch Nettolöhne von 600 DM ge- zahlt werden und daß es dort eine Mindestrente von Ungehemmte Staatsverschuldung hat schließlich 495 DM gibt, die Sie jetzt teilweise erhöhen wollen. eine soziale Seite: Die Spaltung unserer Gesellschaft in jene, die von hohen Zinsen leben können, und an- (Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist eine Infla- dere, die für die Zinsen arbeiten müssen. Wir haben tion der Worte!) folgende Alternativen formuliert: Deshalb geht es um dieses Thema: Wir brauchen eine solide Finanzpolitik, wir brauchen aber auch mehr Erstens. Für Steuersenkung für Unternehmen und soziale Gerechtigkeit. Um diese soziale Gerechtigkeit sehen wir keinen Raum. Spitzenverdiener werden wir in den nächsten Monaten ringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten „Reaganomics" und „Thachterismus" sind geschei- der GRÜNEN/Bündnis 90 und der Gruppe tert. der PDS) (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Zweitens. Es bedarf nun endlich drastischer Ein- CSU: Und auch Sozialismus!) schnitte in den Verteidigungsetat. Sie haben die erste Runde „Reaganomics" durch die (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bünd gigantische Staatsverschuldung, die in erster Linie in nis 90 und der Gruppe der PDS) konsumtive Ausgaben floß, bereits gedreht. Es wird Drittens. Die teilungsbedingten Ausgaben in der unsere Aufgabe sein zu verhindern, daß hier in der Bundesrepublik sind auf die neuen Länder umzubu- Bundesrepublik in der zweiten Runde nun „Thatcher- chen. Das ist nicht populär, aber gleichwohl richtig. ismus" praktiziert wird. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der Gruppe der PDS) Meine Damen und Herren, wir haben erlebt, was es Viertens. Das Vermögen von SED/PDS und ihren heißt, wenn diese Bundesregierung Steuerbeschlüsse früheren Blockparteien CDU und FDP muß unver- faßt. Es geht immer nach demselben Muster: Es wird züglich eingezogen und für den Aufbau der neuen von unten nach oben umverteilt. Die Bürgerinnen und Bundesländer eingesetzt werden. Bürger haben die Wahl. Wir entscheiden uns dafür, (Beifall bei der SPD) vor der Wahl die Wahrheit zu sagen. Mittlerweile wird nicht mehr nur über die Millio- (Beifall bei der SPD — Lachen und Zurufe nenschiebereien der PDS geschrieben, sondern auch von der CDU/CSU und der FDP) über die Millionenschiebereien der Ost-CDU. Wir entscheiden uns dafür, eine solide Finanzpolitik (Beifall bei der SPD) zur Grundlage unserer weiteren Arbeit zu machen. Und wir entscheiden uns dafür, soziale Gerechtigkeit Der Parteivorsitzende könnte sich vielleicht dazu durchzusetzen, wenn alle — das ist wahr und das ha- äußern. ben wir immer gesagt — Opfer bringen müssen. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD Bündnis 90 sowie bei Abgeordneten der und Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) Gruppe der PDS) Auch bei der FDP ist die Frage erlaubt, ob sie wirk- lich glaubwürdig ist. Sie, Graf Lambsdorff, haben hier Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat der Bundes- ein besonderes Beispiel dafür gegeben. Als die Millio- minister der Finanzen, Herr Dr. Waigel. nenschiebereien der PDS ruchbar wurden, sagten Sie (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der voller Empörung: Mir fehlen die Worte. SPD: Bundesminister der Schulden!) (Lachen bei der SPD) Es wäre besser gewesen, Sie hätten gesagt: An dieser Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Frau Prä- Stelle halte ich die Klappe. — Dann wären Sie sich des sidentin! Meine Damen und Herren! Das war die Beifalls der großen Mehrheit der Bevölkerung sicher schwächste Vorstellung eines Kanzlerkandidaten der gewesen. SPD seit 1949. (Heiterkeit und lebhafter Beifall bei der SPD (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — sowie Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 Lachen bei der SPD) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18907

Bundesminister Dr. Waigel An die Stelle von Fakten und Argumenten treten reine Da ist von Sonderopfer überhaupt nicht die Rede. Polemik, Unterstellung und politische Verleumdung. (Zuruf von der SPD: Lesen Sie doch mal wei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ter! — Gansel [SPD]: Weiterlesen!) - Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Ernst Reuter, Fritz Aber es ist doch selbstverständlich, daß beim Nettozu- Erler und auch würden sich schämen wachs von Löhnen, Gehältern und auch Beamtenbe- angesichts dieser Kleinkariertheit, die ein SPD-Spit- soldungen in diesem und im nächsten Jahr ein Gleich- zenkandidat hier zum Thema Deutschlandpolitik ge- klang erzielt werden muß. Nicht mehr und nicht weni- äußert hat. ger habe ich hier zum Ausdruck gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen und Zurufe von der SPD) Vizepräsidentin Renger: Herr Bundesminister, ge- Das ist eine kleinkarierte und bisweilen schäbige Art, statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordne- wie die Menschen in Ost- und Westdeutschland ge- ten Gansel? geneinander aufgehetzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Nein. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sag hier lieber ein mal die Wahrheit!) Vizepräsidentin Renger: Er gestattet keine Zwi- Ich kann dem Kanzlerkandidaten nur dringend ra- schenfrage, Herr Gansel. ten, (Zurufe von der SPD: Er hat Angst!) (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Laß das man!) mit den ehemaligen SPD-Finanzministern Schiller Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Meine und Apel einmal ein Wort zu reden. Die könnten ihm Damen und Herren, ich erlaube mir, meine Gedanken nämlich eine Menge darüber sagen, wo er sich irrt und genauso zusammenhängend vorzutragen, wie es Herr was wir im letzten Jahr richtig gemacht haben. Lafontaine eben getan hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Klejdzinski [SPD]: Ihn hat ja auch nie- Aber wenigstens sollte man Herrn Lafontaine emp- mand gefragt!) fehlen, mit seinem Koch zu sprechen, damit er ihm Außerdem habe ich in meinen Reden schon so viele nicht weiter ein Neid-Menü serviert. Zwischenfragen zugelassen, daß Sie mir hier wirklich nicht mit dem Zwischenruf „Angst" zu kommen brau- (Zurufe von der SPD) chen. Bei der Besetzung der Stelle des Koches hat er ja auch (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE/Bündnis 90]: nicht nach den Kosten gefragt. Aber Angst haben Sie trotzdem!) (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Meine Damen und Herren, die Koalition bleibt bei neten der FDP) ihrer Haltung: Keine Steuererhöhungen zur Finanzie- Meine Damen und Herren, was die SPD jetzt bietet, rung der Investitionen in die Einheit Deutschlands. ist das Niedrigstniveau des Wahlkampfes. (Dr. Heltzig [SPD]: Vor dem 2. Dezember!) (Zuruf von der SPD: Reden Sie doch einmal Es bleibt beim Eckwertebeschluß vom 14. November zur Sache!) 1990 über Einsparungen und Umschichtungen, über den Abbau von Subventionen und Sonderregelungen Mir steht die neueste Ausgabe der Sonntagszeitung sowie einer zeitlich begrenzten Anhebung der Neu- der SPD mit den Schlagzeilen „Schöne Bescherung — verschuldung. Leere Regale vor Weihnachten — Kunden empört — Lieferungen in den Osten verknappen Angebot" zur (Beifall bei der CDU/CSU) Verfügung. Wir sind in dieser Haltung vom Sachverständigen- rat, von fast allen Sachverständigen, die Sie beim (Zuruf von der CDU/CSU: Pfui!) Hearing des Haushaltsausschusses anhören wollten, Es ist ja unglaublich, daß man sich nicht schämt, leere und von der Bundesbank unterstützt worden. Regale im Westen, die ich noch nicht gesehen habe, Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sind die darauf zurückführen zu wollen, daß jetzt zu viele Wa- Steuererhöhungspartei. ren in den Osten kommen. Schämen Sie sich über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — diese Art und Weise der Auseinandersetzung! Lachen bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben die Steuer- und Abgabenquote in den 70er Außerdem, Herr Lafontaine, haben Sie mir unter- Jahren auf schwindelerregende Rekordhöhe ge- stellt, ich wolle den Beamten ein Sonderopfer auf er- bracht. Sie haben in den letzten Jahren, zum Glück legen. Woraus entnehmen Sie denn das? ohne Regierungsverantwortung, sage und schreibe 44 Steuererhöhungspläne auf den Tisch gelegt. (Zuruf von der SPD: Aus der Zeitung!) Daß die Staatsquote von 50 auf unter 46 % gesenkt Ich zitiere wörtlich: wurde und die Steuerquote heute auf dem niedrigsten Selbstverständlich müssen die anstehenden Be- Stand seit 1959 ist, ist der Erfolg der Finanzpolitik die- schlüsse von allen Gruppen angemessen getra- ser Koalition und dieser Regierung. gen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 18908 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundesminister Dr. Waigel Ihre Sprache ist allerdings verräterisch. Daß Sie hier — Frau Präsidentin, ich nehme nicht an, daß das nur noch zu Beg riffen wie „Lüge" und „Unterstel- Frage-und-Antwort-Spiel auch in umgekehrter Rei- lung" greifen, daß hier Vokabeln wie „Schweine- henfolge stattfinden kann. — - reien" im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Ver- (Zuruf von der SPD: Sie haben doch ge- hältnis von einem Bürgermeister gebraucht werden, fälscht! — Weitere Zurufe von der SPD) das zeigt doch, daß Sie sich in Ihrer Strategie geirrt haben. Sie selber, Herr Lafontaine, haben zugegeben, Nur, Frau Kollegin Matthäus-Maier, wenn ich mich daß Sie sich darin geirrt haben, wie dies bei der Bevöl- recht erinnere, haben Sie und auch andere Sprecher kerung ankommt. Sie haben gemeint, durch diese der SPD mehrfach erklärt, es sei jetzt nicht die Zeit für Aufputschung der Gefühle könnten Sie eine Mehrheit Steuererhöhungsdiskussionen, sondern man müsse erreichen. Sie haben sich getäuscht; die Bevölkerung vielmehr Einsparungen und Umschichtungen vorneh- wird anders entscheiden. men. Genau das haben wir getan, während Sie hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heute wieder den Steuererhöhungspfad beschreiten. Außerdem wäre es viel reizvoller, Herr Lafontaine, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — wenn Sie sich einmal mit den verschiedenen sehr wi- Zurufe von der SPD) dersprüchlichen Äußerungen aus den eigenen Reihen Meine Damen und Herren, wollen Sie leugnen oder zur Steuerpolitik beschäftigten. wollen Sie bestreiten, daß die sozialdemokratischen (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Was ist in der Bürgermeister und Ministerpräsidenten Voscherau, Kasse? — Dr. Heltzig [SPD]: Kassensturz!) Engholm, Schröder und Wedemeier zum Teil zusätz- So hat z. B. Frau Matthäus-Maier noch im Februar lich zur Ergänzungsabgabe immer wieder für eine 1990 im „Münchner Merkur" gesagt: Anhebung der Mehrwertsteuer eingetreten sind, weil Ich bin gegen die Einführung einer Ergänzungs- die Länder natürlich davon profitieren würden? Stimmt das auch nicht? abgabe für Besserverdienende. (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Dummes Zeug! (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Herr Waigel, was Eine glatte Lüge!) ist in der Kasse? Jetzt kommen Sie mal zur Ja, stimmt das jetzt noch, oder stimmt das nicht mehr, Sache!) oder haben Sie um des kurzfristigen Vorteils willen, Die Teilung überwinden heißt, teilen zu lernen; das für einige Wochen im Schatten von Herrn Lafontaine ist richtig. Aber wir wollen nicht — wie die Sozial- stehen zu dürfen, Ihre Überzeugung aufgegeben? demokraten — den Mißerfolg, sondern wir wollen die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zukunftsperspektiven eines wiedervereinigten Deutschlands teilen. Die Investitionen in die Einheit, in die Freiheit und in den Aufbau einer Sozialen Gestatten Sie eine Zwi- Vizepräsidentin Renger: Marktwirtschaft, die wir jetzt und in den nächsten schenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus Jahren tätigen, werden die rentierlichsten Investitio- Maier? nen in Deutschland seit 1945 sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Weil ich sie direkt angesprochen habe, ja. Zurufe von der SPD) Unser Konzept heißt: Prioritäten setzen statt umver- Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Bundesfinanzmi- teilen. Würden wir nach den Vorstellungen der So- nister, würden Sie bitte zur Kenntnis geben, daß ich zialdemokraten neue Ausgaben einfach nur auf die dem „Münchener Merkur" noch nie ein Interview bisherigen Verpflichtungen draufsatteln, dann wären gegeben habe? wir in wenigen Jahren wieder bei der totalen Staats- (Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Hier steht es wirtschaft. doch! — Weitere Zurufe von der CDU/ (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sagen Sie doch lie- CSU) ber, wo Sie sind!) — Ich bitte um Entschuldigung! Dann zeigen Sie das Wir haben demgegenüber in der letzten Woche klar- bitte vor. Ich habe dem „Münchener Merkur" kein gemacht: Bereits im nächsten Jahr werden 35 Milliar- Interview gegeben. Ich bin der Ansicht — wie wir alle; den DM im Bundeshaushalt eingespart und umge- das können Sie nachlesen — , daß die starken Schul- schichtet. tern einen zeitlich befristeten Solidarbeitrag leisten müssen. Es wäre eine glatte Lüge, wenn es hier so (Zurufe von der SPD: Wo denn?) stehen sollte. Bis 1994 werden wir den Ausgaberahmen sogar um (Zustimmung bei der SPD) 70 Milliarden DM reduzieren. (Zurufe von der SPD: Wo?) Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Ich habe nicht behauptet, daß dort ein Interview abgedruckt ist. — Meine Damen und Herren, wir haben seit 1982 Ich frage Sie: Haben Sie diesen oder einen ähnlichen alles, was wir angekündigt haben, auch umgesetzt. Satz gesagt, oder haben Sie das nicht getan? Wir haben die Wähler vor den Wahlen nicht angelo- gen, wie es 1976, 1980 und 1982 von der SPD versucht (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Nein! Ich habe wurde. ihn nicht gesagt! Passen Sie mal auf: Wir dis kutieren hier dauernd im Bundestag! Hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — habe ich das Gegenteil gesagt!) Zurufe von der SPD) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18909

Bundesminister Dr. Waigel Setzen Sie sich doch endlich einmal mit dem aus- schlägt Ministerpräsident Lafontaine Alarm, obwohl einander, was Ihr früherer Wirtschafts- und Finanzmi- die CO2-Abgabe oder Klimaschutzsteuer mit der nister, Professor , gesagt hat oder was deutschen Einheit nun wirklich überhaupt nichts zu Renate Merklein in der „Welt" formuliert hat. tun hat. (Lachen bei der SPD) (Duve [SPD]: Ein besseres Klima könnten wir — Entschuldigung, ich halte das für sehr intelligente schon haben!) Äußerungen, bei denen Lachen völlig unangemessen Sie offenbaren damit wieder einmal Ihren völligen ist. — Beide haben von den Synergieeffekten auf Mangel an finanzpolitischem Grundwissen. Sie müß- Grund der Vereinigung gesprochen. ten doch wissen: Sonderabgaben dürfen nach den Wenn Frau Matthäus-Maier mir in der „Welt" vom strengen Vorgaben der Rechtsprechung überhaupt 16. November 1990 mangelnde Solidität und Ehrlich- nicht zur Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben keit vorwirft — — eingesetzt werden. (Beifall bei der SPD) (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) —Ich finde es bemerkenswert, daß man dem anderen Sie dienen ausschließlich und allein der Verbesserung hier ganz bewußt des Umweltschutzes. Nicht die Bundesregierung durch eine mögliche CO2-Abgabe, sondern die So- (Lennartz [SPD]: Ganz bewußt die Wahrheit zialdemokraten durch ihr widersprüchliches und um- sagt!) strittenes Öko-Steuerprogramm wollen bei den Bür- mangelnde Ehrlichkeit unterstellen darf. Ich finde das gern abkassieren, die Staatsquote erhöhen und ein ganz bemerkenswert. Das ist eine Verwilderung der neues Umverteilungskarussell in Gang setzen. politischen Sitten, die Sie in der Endzeit des Wahl- (Lennartz [SPD]: Riesenblödsinn!) kampfs benötigen, weil Sie nämlich den Kredit beim Wähler verloren haben, meine Damen und Herren. Meine Damen und Herren, ich verstehe auch die Kritik der SPD an alternativen Finanzierungsformen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für Infrastrukturinvestitionen überhaupt nicht. Wenn Wenn Sie dabei zum Ausdruck bringen, die Auf- wir solche Modelle prüfen, geht es doch nur darum, wendungen für die Einheit belasteten auch noch un- wirtschaftlich sinnvolle Projekte, die im Rahmen einer sere Kinder und Enkel, ohne daß wir ihnen dafür mit verantwortbaren Kreditfinanzierung kurzfristig nicht Zukunftsinvestitionen einen Gegenwert hinterlassen, verwirklicht werden könnten, so früh wie möglich auf so kann ich darauf nur erwidern: Eine größere und den Weg zu bringen. ertragreichere Zukunftsinvestition als die Investition (Zuruf von der SPD: Sagen Sie doch mal eine in die deutsche Einheit kann ich mir nicht vorstel- Zahl!) len. Es entspricht ganz elementaren marktwirtschaftlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Grundregeln, Investitionen vorzunehmen, die sich Es wird Zeit, daß Sie endlich die in der Einheit lie- durch Entgelte der Benutzer zumindest auf mittlere genden Zukunftschancen begreifen und Ihre Sicht selbst tragen. Mit zusätzlichen Belastungen der Angstkampagne einstellen. Draußen nimmt Ihnen Bürger hat das ebensowenig etwas zu tun wie die doch keiner mehr die Behauptung ab, wegen der In- Erhebung von Eintrittsgeldern in einem Freizeitpark vestitionen in die Einheit könnten in den alten Bun- oder in einem Kino. Es ist schon ein starkes Stück, wie desländern keine Kindergärten mehr gebaut werden, Lafontaine zu behaupten, wir würden einen Griff in wie dies Ministerpräsident Rau in einem Zeitungsin- die Rentenkasse vornehmen, und es sei die Kürzung terview unterstellt. von Renten zu befürchten. (Lennartz [SPD]: Recht hat er!) (Zurufe von der SPD) Ist das die Fortsetzung der Methode „Versöhnen statt In einem Gesetzentwurf der Fraktion der SPD vom Spalten"? Ich finde, das ist eine merkwürdige Me- 5. Juni 1990 — Drucksache 11/7357 des Deutschen thode, meine Damen und Herren. Bundestages — heißt es: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Senkung des Beitragssatzes von 18,7 auf 18 Pro- zent zum 1. September 1990 und damit Heran- Wie notleidend Ihre Steuererhöhungskampagne führung der Schwankungsreserve an den gesetz- geworden ist, zeigt Ihr verzweifelter Rückgriff auf die lich vorgeschriebenen Wert von einer Monats- völlig unschuldige CO2 - Abgabe. Bereits am 13. Juni ausgabe. 1990 hat das Bundeskabinett die Ressorts beauftragt, die Möglichkeiten der CO2-Reduktion u. a. durch spe- Unterschrieben von „Dr. Vogel und Fraktion". zielle Steuern oder Abgaben zu prüfen. Ja, es ist doch ein seltenes Maß an Doppelzüngig- (Zuruf von der SPD: Aha!) keit, uns, wenn wir so etwas vorhaben, einen Griff in die Rentenkasse zu unterstellen, während man noch Am 22. Oktober 1990 hat sich die CDU in ihrem Wahl- vor wenigen Wochen genau das gleiche vorhatte und programm für die CO2-Abgabe ausgesprochen, und es hier im Deutschen Bundestag eingebracht hat. auch wir in der CSU haben etwas Entsprechendes gefordert. Am 7. November 1990 hat das Bundeskabi- (Beifall und Pfui-Rufe bei der CDU/CSU und nett einen Bericht zur Reduzierung der CO2-Emissio- der FDP — Zurufe von der SPD) nen, der wiederum die Steuer- oder Abgabenoption Für wie dumm halten Sie eigentlich die Mitglieder des enthält, verabschiedet. Jetzt, am 19. November 1990, Deutschen Bundestages und die deutsche Öffentlich- 18910 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundesminister Dr. Waigel keit, wenn Sie meinen, daß sie vergessen haben, was — „Strauß läßt grüßen"? Mit Strauß verglichen zu Sie hier noch am 5. Juni selber beantragt haben? Es ist werden ist nobel; ich bedanke mich sehr herzlich da- der Gipfelpunkt an Heuchelei, was hier stattfindet. für. - (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das sind Sie!) Wir haben übrigens bei den Landtagswahlen in Bay ern fast das gleiche Ergebnis erzielt, und er ist mit uns Meine Damen und Herren, würden wir uns der Stra- sehr zufrieden, wie ich aus verläßlicher Quelle weiß. tegie von Herrn Lafontaine anschließen und Tatsa- chen durch Unterstellungen ersetzen, so müßte ich (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und konsequenterweise den gesamten SPD-Vorstand der der FDP) Gysi-Lüge bezichtigen. Denn da war in der Presse zu Im August sprachen Sie, Herr Lafontaine, davon, bis lesen — ich zitiere — : Gysi lügt, die SPD wird gegen zum Fall der Mauer sei die DDR ein führendes Indu- ihn vorgehen. — Einen Tag später wurde über Ge- strieland gewesen. Woher Sie diese Erkenntnis bezie- spräche des SPD-Präsidiumsmitglieds Bahr mit Herrn hen, weiß ich nicht. Das ist wirklich höhere National- Gysi über die Rückgabe von SED-Vermögen an die ökonomie, über die wir nicht verfügen; das gebe ich SPD gesprochen. gerne zu. Wir tun das nicht. (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD) (Zuruf von der SPD) Und wenn ich heute noch von Ihnen höre, man hätte Ich will es vor allem heute auch deshalb nicht tun, weil damals Herrn Modrow doch das Geld geben sollen, der Kollege Bahr seine letzte Rede hier gehalten hat. dann kann ich nur entgegnen, meine Damen und Her- Nur, meine Damen und Herren, wenn man diese Art ren: Wir sind stolz darauf, daß wir dem Mann, dessen und Weise von Unterstellungen zum politischen Verstrickungen heute erst deutlich werden, damals Handwerk macht, dann vergiftet man das politische keine Mark mitgegeben haben, sondern erst danach Klima und leistet einen miserablen Beitrag zur politi- den Demokraten. schen Semantik und zur politischen Kultur. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD) Sie, Herr Lafontaine, rennen dem Zug der Einheit seit zwölf Monaten vergeblich hinterher. Sie haben Ich nehme an, daß der ehemalige Bundeskanzler sich geirrt. Sie haben im Bundesrat die Währungs- Helmut Schmidt sehr beeindruckt war von der Auffor- union abgelehnt, während die große Mehrheit Ihrer derung der SPD-Spitze zu mehr Solidarität. Aber, Herr Fraktion zugestimmt hat. Während im Ollenhauer- Kollege Vogel, das kann doch wohl nicht Ihr Ernst haus Fusionsverhandlungen zwischen der SPD-West sein. und der SPD-Ost stattfanden, lehnten Sie immer noch das Tempo der politischen Einigung ab. Es trifft zu (Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]) und bleibt wahr: Sie sind der falsche Mann zum fal- Wer wie Oskar Lafontaine die von Helmut Schmidt schen Zeitpunkt am falschen Ort — auch für die hervorgehobenen und beim Wiederaufbau der ehe- SPD! maligen DDR dringend benötigten Tugenden wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Pflichtgefühl und Standhaftigkeit als bloße Sekundär- tugenden abtut und — ich zitiere — hinzufügt „prä- zise gesagt: damit kann man auch ein KZ betrei- Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Minister, gestatten ben", Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ullmann? (Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]) Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Bitte der kann doch keine Solidarität verlangen. Oder sind schön. Unterstellungen, Verleumdungen und Beleidigungen neuerdings zu Primärtugenden des SPD-Kanzlerkan- (GRÜNE/Bündnis 90): Herr Minister, didaten und seiner geschrumpften Anhängerschaft Dr. Ullmann gehen Sie mit mir davon aus, daß Sie Herrn Modrow geworden? zwar nicht 15 Milliarden DM gegeben haben, aber Ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vorgänger im Parteiamt Herrn Honecker mehrere Kredite in Milliardenhöhe zugeschanzt hat? Ich halte es auch für notwendig, Herr Ministerprä- sident Lafontaine, an ein paar Bemerkungen aus den (Zuruf von der SPD: Schalck-Golodkowski! letzten Jahren zu erinnern. — Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN/Bündnis 90) (V o r sitz : Präsidentin Dr. Süssmuth) Noch 1987, Herr Ministerpräsident, waren Sie über- Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Zu die- zeugt, die DDR des Erich Honecker sei keineswegs sem Zeitpunkt, Herr Kollege, war klar, daß eine demo- ein flüchtiges Phänomen, sondern — ich zitiere wört- kratische Regierung kommen würde. lich — „ein wirtschaftlich leistungsfähiger, innenpoli- (Lachen und Widerspruch bei der SPD) tisch stabiler und außenpolitisch selbstbewußter Zu diesem Zeitpunkt war klar, daß Herr Modrow und Staat". Frau Luft unfähig waren, das herbeizuführen, was (Zuruf von der SPD: Strauß läßt grüßen!) man an Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft ver- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18911

Bundesminister Dr. Waigel langen konnte. Zu diesem Zeitpunkt wären die halten, noch etwas zur Finanzpolitik im Saarland sa- 15 Milliarden DM in den Sand gesetzt worden, gen. (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Wieso denn? Da (Zustimmung bei der CDU/CSU) - kann man nur lachen!) Denn die Menschen in der Bundesrepublik sind doch während sie nachher gut angelegt waren, und dabei wirklich daran interessiert, zu erfahren, wie Finanzpo- bleibt es! litik im Saarland stattfindet. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Was er wirklich kann! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU) Präsidentin Dr. Süssmuth: Gestatten Sie eine wei- tere Zwischenfrage des Abgeordneten Brück? Nur, wer abrechnen will, der muß auch rechnen kön- nen. Herr Ministerpräsident Lafontaine, wenn Sie die Fi- Bundesminister der Finanzen: Nein. Dr. Waigel, nanzpolitik der Bundesregierung hier massiv angrei- (Duve [SPD]: Das war ein wichtiger Satz, fen, dann müssen Sie sich an dem messen lassen, was Herr Waigel! Ein sehr wichtiger Satz, Herr Sie selbst als Ministerpräsident im Saarland erreicht Minister!) bzw. nicht erreicht haben. — Ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie zugeben, daß (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt's! — das wichtige Sätze sind. Von Lafontaine konnte man Duve [SPD]: Er hat schon viel erreicht!) das nicht behaupten; da haben Sie den Zuruf auch nicht gemacht. Sie haben sich im letzten Jahr einen Anteil der Kre- dite an den Gesamtausgaben von über 15 % gelei- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Ehmke stet. [Bonn] [SPD]: Ihnen sitzt der Schal(c)k im Nacken!) (Duve [SPD]: In seinen Stahlwerken sieht es Was seine immer noch gehegten Vorstellungen an- besser aus als in den bayerischen!) geht, ein langsam zu vollziehender, langjähriger Stu- Bei den Flächenländern insgesamt betrug der ent- fenplan wäre wohl das richtige gewesen, so sollte sich sprechende Anteil nur 3,9 %, beim Bund 6,6 %. Lafontaine doch von seinem zeitweiligen wirtschafts- (Huonker [SPD]: Dieser Vergleich ist per- politischen Berater, Professor überzeu- Karl Schiller, fide!) gen lassen, der in der „Zeit" kürzlich mit großer Klar- heit dazu Stellung genommen hat. Schiller hat dazu Die Verschuldung des Saarlandes war Ende 1989 geschrieben: mit über 10 000 DM pro Kopf doppelt so hoch wie im Vermag man es sich wirklich auszumalen, daß Durchschnitt der Flächenländer. — eine schwache Obrigkeit in der turbulenten DDR (Lachen und Zustimmung bei der CDU/CSU für mehrere Jahre einen ökonomischen Schutz- — Duve [SPD]: Das sind die Zinsen der Vor- zaun um das Gebiet hätte halten, Devisenkontrol- gänger! — Weitere Zurufe von der SPD) len durchsetzen, eine solide Finanzpolitik und Das ist schon ein starkes Stück: mir hier die Schulden moderne Geldpolitik bei schwankenden Wech- des Jahres 1990 vorzuhalten, sich aber die eigenen selkursen handhaben können? Schulden nicht vorhalten zu lassen. Nein, mit dem Glauben Sie im Ernst, Herr Ministerpräsident Lafon- Doppelspiel können Sie hier nicht mehr durchkom- taine, Ihr Kollege Romberg hätte einen vernünftigen men! Haushalt aufstellen, Subventionen abbauen und die Konvertibilität der DDR-Mark herstellen können? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Und mit welchen Mitteln hätten Sie eine neue Mauer Allein seit 1985 hat jeder Saarländer 3 000 DM zusätz- bauen wollen, um die Menschen davon abzuhalten, liche Landesschulden zu tragen; Hunderttausende oder Millionen, vom Osten in den (Duve [SPD]: Das war die CDU-Regierung!) Westen zu gehen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — im Durchschnitt betrug der Anstieg nur 900 DM. Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD] meldet sich zu (Huonker [SPD]: Sie müßten bei diesen Zah- einer Zwischenfrage) len schamrot werden!) Sie haben die finanzpolitische Situation des Saar- landes bis zur Verfassungswidrigkeit festgefahren — Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Minister, bleibt es bei der Ablehnung von Zwischenfragen, oder lassen wie Ihr eigener Rechnungshof Ihnen bestätigt hat. Sie jetzt eine weitere Zwischenfrage zu? (Duve [SPD]: Das ist eine wahrheitswidrige Aussage, die Sie hier machen!)

Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Nein. Sie sind keinen Schritt vorangekommen, obwohl der Bund seine Zuweisungen ab 1985 um über 10 % jähr- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE/Bündnis 90]: lich erhöht hat. Wieviel gehen jetzt? Warum beantwortet die Bundesregierung diese Frage nicht?) (Dr. Probst [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Lassen Sie mich, weil Sie mir die Schulden dieses Die Folgen dieser verfehlten Finanz- und Wirt- Jahres quasi immer so als persönliche Schulden vor schaftspolitik liegen auf der Hand. Im „Handelsblatt" 18912 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundesminister Dr. Waigel vom 11. Oktober 1990 ist nachzulesen: „Das Land Karl Schiller erklärte: „Ich hätte es genauso ge- Lafontaines hinkt dem Durchschnitt hinterher". macht. " — Wir bedanken uns bei Karl Schiller für diese objektive Darstellung. (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Die Reden wer - den immer schwächer! — Duve [SPD]: Eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) solche Schwäche kann sich ein Finanzmini hat dieser Tage gesagt: „In Bonn müßte ster nicht leisten!) ich immer wieder nur dasselbe erzählen, nämlich daß Insgesamt erhöhte sich die reale gesamtwirtschaftli- der Waigel nichts kann; und im Stillen wüßte ich, daß che Leistung an der Saar seit 1980 um 14,6 %, vergli- das nicht stimmt." — Ich bedanke mich bei Hans Apel chen mit einem Zuwachs von 18,4 % im Bundesge- für diese Fairneß. biet. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- neten der FDP) Und Helmut Schmidt hat recht mit seinen Worten, Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Minister, gestatten auch wenn er sie nur privat gesagt hat: „Lafontaine Sie eine Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier? wird die Wahl verlieren, und das verdient er auch" . — Helmut Schmidt hat recht. Ich danke Ihnen. Dr. Waigel , Bundesminister der Finanzen: Nein. (Lebhafter anhaltender Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP) (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Er hat Angst! — Duve [SPD]: Das, was Sie hier machen, ist schlimmer als das von Tandler!) Präsidentin Dr. Süssmuth: Zu einer Kurzinterven- Meine Damen und Herren, wir und die Wähler wä- tion hat Frau Matthäus-Maier das Wort. ren wahrhaftig schlecht beraten, wenn wir auf finanz- politische Konzepte des gescheiterten Ministerpräsi- denten von der Saar hören würden. Frau Matthäus - Maier (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren, Sie haben doch in den Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bun- 70er Jahren auf die externen Angebotsschocks falsch desfinanzminister, wir haben Ihnen viele Fragen ge- reagiert. Damals ist es zur Überforderung des Staates stellt: Wie hoch wird im nächsten Jahr das Ausgabe- gekommen. Damals ist die finanzpolitische Stabilität volumen des Haushaltes sein? Wie hoch sind die Ein- verlassen worden. nahmen? Wie wollen Sie die Finanzierungslücke von über 200 Milliarden DM finanzieren? Wo wollen Sie (Zuruf von der SPD: Völliger Blödsinn!) konkret einsparen? Warum haben Sie bisher nicht ein- Damals hat man in einer Reformeuphorie eine Finanz- gespart, insbesondere beim Verteidigungshaushalt? politik betrieben, die im Jahre 1982 ein Erbe hinter- Warum haben Sie keine Haushaltssperre erlassen? lassen hat, das uns ungeheure Mühen bereitet hat, Welche Beiträge, Gebühren, Steuern und Abgaben den Staat finanzpolitisch wieder zu konsolidieren. wollen Sie erhöhen? An welcher Stelle wollen Sie den (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Bürger konkret belasten? neten der FDP) Obwohl Sie 35 Minuten gesprochen haben, haben Die Solidität unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik, Sie keine einzige dieser Fragen beantwortet. die Rückbesinnung auf die marktwirtschaftlichen (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN/ Ordnungsprinzipien, die schrittweise Konsolidierung Bündnis 90) der öffentlichen Haushalte, die Reduzierung der lei- Meine Damen und Herren, das waren 35 Minuten stungs- und wachstumsfeindlichen Steuerbelastung, Ablenkungsmanöver. Wir sitzen doch hier im Bundes- Maßnahmen zur Deregulierung und Privatisierung tag, weil dies der Ort ist, um solche Antworten zu haben die Voraussetzung für die längste konjunktu- geben. Eine derartige Rede haben die Bürgerinnen relle Aufwärtsbewegung der Nachkriegsgeschichte und Bürger in dieser Republik nicht verdient. geschaffen. (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN/Bündnis (Beifall bei der CDU/CSU) 90 und der Gruppe der PDS) Acht Jahre Konjunkturaufschwung, eine um über 2,5 Millionen gestiegene Erwerbstätigenzahl, weitge- hend stabile Preise, steigende Realeinkommen aller Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat die Abge- Schichten der Bevölkerung — das ist eine Bilanz, die ordnete Vennegerts. sich sehen lassen kann und auf die wir stolz sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Vennegerts (GRÜNE/Bündnis 90): Frau Präsi- Vielleicht, Herr Lafontaine, überlegen Sie sich doch dentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregie- noch einmal, was Karl Schiller, Hans Apel und Helmut rung ist an Unglaubwürdigkeit nicht zu übertreffen. Schmidt, drei renommierte frühere Finanzminister Das hat eben erst Minister Waigel wieder vorgeführt, dieser Republik, gesagt haben. indem er versucht hat darzustellen, daß er bereits (Zuruf von der SPD: Was haben Sie denn 1982, als der damalige Ministerpräsident Strauß Ho- über die Finanzpolitik von Herrn Apel zu sa necker die Milliardenkredite zugesagt hat, die kom- gen?) mende Revolution vorausgesehen hat. Das ist eine Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18913

Frau Vennegerts wirkliche Verdummung der Leute. Es ist unglaublich, Der Zweck der Übung ist doch allen klar: Hohes was hier abläuft. wirtschaftliches Wachstum — auf dem Papier — führt zu höheren Steuereinnahmen — auf dem Papier — - (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90, der und vermindert entsprechend das Haushaltsdefizit — SPD und der Gruppe der PDS — Wider gleichfalls auf dem Papier. spruch bei der CDU/CSU) Schon jetzt gibt es deutliche Alarmzeichen für die Als die Reform lief, hat er Herrn Modrow jede 1,50 DM wirtschaftlich und sozial fatalen Folgen einer Politik verweigert. Das ist Ihre unsoziale und ungerechte Po- der überzogenen Staatsverschuldung. Auf diesem litik! Gebiet sind Sie wirklich Rekordminister, Herr Waigel. Was viele vermutet haben, wurde durch die Ankün- Die Ausdehnung der staatlichen Kreditnachfrage digung des Bundeskanzlers und Herrn Waigels klar: treibt das Zinsniveau in die Höhe, was Realinvestitio- Auf die Bürgerinnen und Bürger kommen im nächsten nen zunehmend unrentabel macht. Die Finanzpolitik Jahr höhere Belastungen zur Finanzierung des riesi- der Bundesregierung gerät somit sogar in Wider- gen Haushaltsdefizits zu. Eine ganze Nation muß spruch zu ihrer eigenen Zielsetzung, nämlich Investi- wohl schwerhörig gewesen sein, wenn der Kanzler tionen zu fördern. Das hohe Zinsniveau geht auch voll jetzt behauptet, er habe nie versprochen, es werde zu Lasten der sozial Schwachen. Für Wohnungssu- keine Steuer- oder Abgabenerhöhungen geben. Lü- chende und Mieter verteuern sich die Mieten; ganz zu genbaron Münchhausen erscheint nach dieser Be- schweigen von den kleinen Bauherren. hauptung des Kanzlers geradezu als Waisenknabe. Der Zinsanstieg führt auch zu steigenden Zinsaus- (Zustimmung bei den GRÜNEN/Bünd gaben im Bundeshaushalt. Bereits 1990 sind die Aus- nis 90) gaben für Zinsen mit 35 Milliarden DM nach den Aus- gaben für Soziales und Verteidigung der drittgrößte Da ein Großteil der geplanten Rekordverschuldung Ausgabenposten im Haushalt. Ein weiterer Anstieg für 1991 auf Grund des Einigungsprozesses zustande dieser Ausgaben droht die künftigen haushaltspoliti- kommt, ist es einfach absurd, Herr Bundeskanzler, zu schen Gestaltungsmöglichkeiten auf Null zu reduzie- behaupten, die vorgesehenen Steuererhöhungen ren. Wir fordern deshalb einen sofortigen Schulden- seien nicht zur Finanzierung der Aufgaben in den Stopp und nicht, was Sie machen, eine unverantwort- neuen Bundesländern bestimmt. Die CDU ist nicht nur liche Rekordneuverschuldung, Herr Minister. steuerpolitisch unzuverlässig, wie Graf Lambsdorff Anstelle der unverantwortlichen Ausdehung der feststellte, sie hat im Verbund mit Minister Waigel Staatsverschuldung schlagen wir Einsparungen und versucht, die Bevölkerung an der Nase herumzufüh- Umschichtungen im Bundeshaushalt vor, die Sie bis ren. Minister Waigel spricht von Opfern, Einsparun- jetzt schuldig geblieben sind. gen und Rückführung der Ausgaben. Die Frage ist nur: Wo erfolgt es, und zu wessen Kosten geht es? Bereits mit der Herstellung der Währungs-, Wirt- schafts- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 wäre die Mit der magischen Formel „Wirtschaftswunder Bundesregierung verpflichtet gewesen, zügig Ein- DDR" glaubte die Bundesregierung alle durch die sparvorschläge zu entwickeln. Wenn nunmehr in den überstürzte Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion Haushaltseckwerten für 1991 großangelegte Um- ausgelösten Probleme wegzaubern zu können. Wie schichtungen im Volumen von 35 Milliarden DM an- aber sieht die Wirklichkeit aus? In nahezu allen Berei- gekündigt werden, ist auch dies völlig unglaubwür- chen der Haushalts-, Wirtschafts- und Finanzpolitik dig. Im Juni dieses Jahres kündigte Minister Waigel erweisen sich die optimistischen Prognosen der Bun- Einsparungen von 20 Milliarden DM an, dann von desregierung als hinfällig. Auch die von der Bundes- 7,6 Milliarden DM, dann wieder von 35 Milliarden regierung letzte Woche bekanntgegebenen Haus- DM. Im Zeugnis jedes Grundschülers würde ein sol- haltseckwerte für das Haushaltsjahr 1991, die man cher Zickzackkurs zu einem „Versetzung gefährdet" wohl genauer als Verschleierungswerte bezeichnen führen. Und Sie versuchen, sich hier noch als seriöser sollte, gehen von Voraussetzungen aus, von denen Finanzminister darzustellen! Das ist wirklich mehr als heute schon sicher ist, daß sie nicht eintreten werden. dünn. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN/ (Zustimmung bei den GRÜNEN/Bünd Bündnis 90) nis 90) Wir befürchten, daß die Bundesregierung großan- Die Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts für gelegte Streichungen bei Steuervergünstigungen und 1991 werden bewußt zu hoch angesetzt. Für die fünf Finanzhilfen für Arbeitnehmer, Kleinsparer und sozial neuen Bundesländer wagt das Finanzministerium Schwache plant, aber nicht wagt, sie vor der Bundes- keine Prognose, sondern zündet wahlpropagandisti- tagswahl bekanntzugeben. Warum sagen Sie denn sche Nebelkerzen. Für die Beitrittsländer erwarte die nicht, wo Sie streichen wollen, wenn Sie nicht solche Bundesregierung — so Waigel — , daß der Auf- Gemeinheiten planen? schwung im Frühjahr beginnt und kräftig ausfällt. Diese Aussage ist wirklich sehr fundiert und genau: Abbau von Subventionen sind die schönen Worte. Umverteilung von unten nach oben werden die häß- Mein Vorschlag an die Bundesregierung: Wie wäre es lichen Taten sein. denn, wenn sie angesichts des bevorstehenden Weih- Unsere Alternativen sind: nachtsfestes den Wirtschaftsaufschwung schon am 24. Dezember beginnen ließen? Im Zurechtfrisieren Erstens fordern wir massive Kürzungen im Vertei- von Zahlen sind Sie ja hinlänglich geübt. digungsbereich. Trotz der Auflösung der Blockkon- 18914 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Frau Vennegerts frontation bewegt sich der Verteidigungshaushalt auf Dies ist vermutlich auch die Absicht von Kanzler und einem unverantwortlichen Rekordniveau von 57 Mil- Atomlobby. Ziel einer ökologisch verträglichen Ener- liarden DM. Eine drastische Kürzung der Verteidi- giepolitik muß die generelle Verbrauchssenkung und- gungsausgaben ist überfällig. 15 Milliarden DM sind der Ersatz fossiler durch erneuerbare Energien sein. durchaus realisierbar. (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) Dazu gehört auch der sofortige Ausstieg aus der Daß auch die SPD für das kommende Jahr Einspa- Atomenergie. Genau dies wollen die Altparteien aber rungen von 9 Milliarden DM fordert, begrüßen wir nicht, auch die SPD nicht. selbstverständlich. Aber wir erinnern uns daran, daß es noch kein Jahr her ist, daß die GRÜNEN einen Vor- Die Einnahmen aus der Primärenergie- und Mine- schlag der SPD-Haushälter zur Kürzung des Verteidi- ralölsteuer von rund 70 Milliarden DM müssen zweck- gungsetats um 5 Milliarden DM aufgegriffen haben gebunden für Energiesparinvestitionen, erneuerbare und bei der entscheidenden Abstimmung im Parla- Energien und zum Ausbau und Aufbau eines preis- ment die SPD sich enthalten hat. werten und attraktiven öffentlichen Nahverkehrs ein- gesetzt werden. (Stratmann-Mertens [GRÜNE/Bündnis 90]: Hört! Hört!) Umweltabgaben werden nur dann zu einer Verhal- tensänderung beitragen, wenn sie wirklich spürbar Also beim nächsten Mal bitte nicht den gleichen Eier- umweltschädigendes Verhalten belasten. Es mutet tanz! deshalb schon geradezu lächerlich an, wenn CDU/ Zweitens fordern wir die Streichung von Mitteln im CSU und der Bundeskanzler eine CO2-Abgabe for- Bereich der bemannten Raumfahrt und im Bereich der dern, und der Abgabesatz bei 10 DM pro Tonne CO2 Atomenergie und die Einsparung der teilungsbe- liegen soll. Umgerechnet bedeutet dies knapp drei dingten Kosten. Alles zusammengenommen, lassen Pfennig pro Liter Heizöl oder Benzin. Wie dadurch sich damit ca. 30 Milliarden DM einsparen. eine Verhaltensänderung bewirkt werden soll, mag verstehen wer will. Es wäre jedoch eine Illusion, zu glauben — auch das an Ihre Adresse, Herr Finanzminister —, daß Sie allein (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) durch Einsparungen und Umschichtungen die gewal- Problematisch ist auch der SPD-Vorschlag, Ökoab- tigen Aufgaben in der ehemaligen DDR bestreiten gaben zur Finanzierung der Anhebung des steuerli- können. Notwendig ist deshalb eine Verbesserung chen Grundfreibetrags und nicht für den ökologi- der Einnahmenseite, und das wissen Sie. schen Umbau einzusetzen. Daraus erklärt sich auch, Statt wie die Bundesregierung eine unseriöse und warum im SPD-Konzept kaum Mittel für alternative unsoziale Finanzpolitik auf dem Buckel der sozial Verkehrsmittel, für eine umweltverträgliche Land- Schwachen durch hohe Neuverschuldung und eine wirtschaft und für Sanierungsmaßnahmen, z. B. im geplante Mehrwertsteuererhöhung durchzuführen, Altlastenbereich, bereitstehen. Sie wollen auch weiter schlagen wir eine ökologisch orientierte und sozial die Landschaft mit Autobahnen und Fernstraßen zu- differenzierte Anhebung der Steuern vor. pflastern. Völlig unstreitig dürfte sein, daß sowohl zur raschen Wer Ökosteuern zur allgemeinen Steuerentlastung Umweltsanierung Ostdeutschlands wie zur Verbesse- einsetzt, dem fehlt das Geld für den ökologischen rung der ökologischen Situation in der Bundesrepu- Umbau; das ist nun einmal so. blik erhebliche Geldbeträge investiert werden müs- sen. Die GRÜNEN haben bereits vor Jahren zum öko- (Zustimmung des Abg. Hüser [GRÜNE/ logischen Umbau der Industriegesellschaft ein ent- Bündnis 90]) sprechendes ökologisches Steuer- und Abgabenpro- Ökoabgaben werden von den Menschen nur akzep- gramm vorgelegt. tiert und sind nur dann sinnvoll, wenn ihnen konkrete (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) umweltverträgliche Alternativen angeboten werden und sie so in die Lage versetzt werden, sich ökologisch Aber nun wird es hochinteressant: Zu Wahlkampf- vernünftig zu verhalten. Ökoabgaben sind dann am zeiten entdeckt offensichtlich jede Partei ihr Herz für effektivsten, wenn ihr Aufkommen gegen Null geht, die Umwelt und hängt sich schnell ein ökologisches ein Zeichen dafür, daß die Bürgerinnen und Bürger ihr Mäntelchen um. Wenn jetzt der Kanzler Öko-Abga- Verhalten geändert haben und folglich keine Abga- ben ins Spiel bringt, drängt sich der Verdacht auf, daß ben mehr entstehen. es sich ausschließlich um ökologisches Wahlkampf- geklimpere handelt. In Wirklichkeit soll nur Minister Auch aus diesem Grund verbietet es sich, Umwelt- Waigels Haushaltskasse gefüllt werden. steuern zur Finanzierung allgemeiner Staatsausgaben einzuplanen. Wie soll denn ein kontinuierlicher Aus- Zur Finanzierung des ökologischen Umbaus sollte gabebedarf, z. B. für die Anhebung des Grundfreibe- unserer Ansicht nach u. a. eine Primärenergiesteuer trags, finanziert werden, wenn die Umweltsteuern zu- eingeführt werden und die Mineralölsteuer im ersten rückgehen? Das ist ein Konzept, das in sich wider- Schritt um eine D-Mark je Liter angehoben werden. sprüchlich und nicht schlüssig ist. Darüber sollte die (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) SPD auch noch einmal nachdenken.

Eine Primärenergiesteuer ist einer CO2 - Abgabe ein (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Die deutig vorzuziehen, da eine CO2-Abgabe den Atom hat meherere Konzepte, die nicht schlüssig strom freistellt und dieser dadurch begünstigt würde. sind!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18915

Frau Vennegerts Die Finanzierung der deutschen Einheit darf keine Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Frau Präsidentin! Meine soziale Schlagseite bekommen; das ist uns besonders sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Minister- wichtig. Wer viel verdient, soll entsprechend seiner präsident Lafontaine, ich glaube, für diese etwas küm-- höheren Leistungsfähigkeit einen im Vergleich zum merliche Rede Durchschnittsbürger höheren Beitrag leisten. (Widerspruch bei der SPD) (Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Wir ha hätten sich nicht einmal Milli Vanilli, auch nicht ge- ben ja schon eine Progression!) gen ein hohes Honorar, zur Verfügung gestellt. Deshalb ist die Einführung einer Ergänzungsabgabe (Lachen bei der CDU/CSU — Frau Dr. Voll- für Höherverdienende sowohl aus Finanzierungs- mer [GRÜNE/Bündnis 90]: Das war auch ein wie aus Gerechtigkeitsgründen geboten. etwas kümmerlicher Witz! Er weiß nämlich (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) nicht, wer Milli Vanilli ist!) Das haben wir bereits im März gesagt. Eine Solidar- Meine Damen und Herren, die Steuerdiskussion der abgabe der Wirtschaft auf nicht investierte und nicht letzten Wochen ist ein recht eindrucksvolles Beispiel ausgeschüttete Gewinne ist ebenfalls gerecht. dafür, wie man das erreicht, was die Amerikaner self- Die Schaffung eines Niedrigsteuergebietes im Be- fulfilling prophecy, also sich selbst bestätigende Pro- reich der ehemaligen DDR, wie es die FDP vorschlägt, phezeiung, nennen: Man redet den Wählern ein, die lehnen wir ab, weil wir glauben, daß damit der Auf- sozialen Kosten der deutschen Einheit, die in Wahr- takt zu einer allgemeinen Senkung vor allen Dingen heit Reparaturkosten des Sozialismus sind, auch der Unternehmensteuern bezweckt wird. Außer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dem lehnen wir aus sozialen Gründen die Anhebung gingen in die Hunderte von Milliarden. Karl Schiller der Mehrwertsteuer ab, weil sie unsozial ist. hat das heute mit Recht als ein erbärmliches Armuts- Es geht nicht darum, über den hohen Finanzbedarf zeugnis bezeichnet. Wenn man diese Rechnung auf zur Finanzierung der Einheit zu jammern, was immer die Million macht, und dann kommen die zwölf Nul- unterstellt wird, wenn man als Opposition eine andere len, dann werden Sie schon erlauben, daß man fragt, Meinung zur Finanzierung hat, entscheidend ist, zu wer die dreizehnte ist. Das ist dann so bei dieser Rech- wessen Lasten die Finanzierung erfolgen soll und für nung! welche Zwecke die Gelder eingesetzt werden. (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) Dann, meine Damen und Herren, behaupte man Apropos Geld: Die überhastete Wirtschafts- und wahrheitswidrig, diese Riesensummen müßten vom Währungsunion hat nicht nur ökonomisch und sozial öffentlichen Haushalt, also vom Steuerzahler, aufge- fatale Folgen, sie hat auch kriminelle Machenschaften bracht werden. Dann schließt man messerscharf, dazu und Geldschiebereien der ehemaligen Blockparteien brauche man Steuererhöhungen. Sollte das jemand begünstigt, wie sich heute wieder herausgestellt hat. bestreiten, so bezeichne man ihn als Steuerlügner. Für diese Schiebereien ist auch die West-CDU verant- Das Rezept hat gewirkt. Die Argumentationskette wortlich. — zwar falsch, aber sozialistisch griffig — hat bewirkt, (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) daß angeblich 76 % der Menschen im Lande Steuer- Die GRÜNEN/Bündnis 90 setzen sich für einen kon- erhöhungen erwarten. Aber, meine Damen und Her- sequenten ökologischen Umbau der Industriegesell- ren von der Opposition, diese 76 % gehen Ihnen nun schaft ein, der den Menschen eine echte ökologische doch nicht völlig auf den steuerpolitischen Horror- Alternative bietet. leim. Wählen werden sie Sie nicht. Die Bundesregierung hat nicht nur finanzpolitisch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) total versagt; sie hat auch kein Konzept dafür, wie die So masochistisch ist der deutsche Steuerzahler denn ökologischen Probleme des alten und neuen Deutsch- doch nicht, daß er sich Steuererhöhungen geradezu land zu lösen sind. Was die Menschen in den neuen wünschte. Bundesländern brauchen, sind Maßnahmen gegen (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Wir tun das Massenarbeitslosigkeit, Aufbau z. B. von Beschäfti- auch nicht!) gungsgesellschaften und konkrete Sanierungspro- gramme im Umweltbereich. Die Bundesregierung hat 76 % erwarten sie. 76 % erwarten auch, daß sie in die- mit der schnellen Wirtschafts- und Währungsunion sem Winter die Grippe bekommen. Wünschen tun sie sowie dem Einigungsvertrag — mit Unterstützung der sich beides nicht. SPD — die Weichen für diese unsoziale und umwelt- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der schädliche Politik gestellt. CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Aber sie Wir fordern einen ökologischen und sozialen Um- bekommen sie!) bau in Gesamtdeutschland. Nur die GRÜNEN/Bünd- Meine Damen und Herren, die Sozialdemokratische nis 90 stehen für eine sozial gerechte und ökologisch Partei ist aber — das merkt man auch an ihrer Wahl- glaubwürdige Politik. darstellung, was das Wählerverhalten und die An- (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90) sprache der Wähler angeht — dem Realismus doch deutlich näher gerückt. (Zuruf von der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge- Wir haben ja Ihren Fernsehspot gesehen, angelehnt ordnete Graf Lambsdorff. an die Sendung „Dingsda" mit den 4- bis 6jährigen 18916 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Graf Lambsdorff Kindern. Man kann über Geschmack streiten, dar- Nur, meine Damen und Herren, stimme ich auch dem über, ob es sehr sinnvoll ist, 4- bis 6jährige Kinder zur zu — ich glaube, Herr Lafontaine hat das gesagt —, Parteienwerbung einzusetzen — ich will das gar nicht daß die Wahlplakate der CDU von Herrn Diepgen in- tun —; es zeigt Realität. Sie wenden sich an die über- Berlin „gleiches Einkommen auf beiden Seiten" völlig nächste Wählergeneration, und daran tun sie recht. unsinnig und unrealistisch sind und — das kann man am Ende natürlich gar nicht erfüllen — deswegen (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der auch nicht ehrlich sind. CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Mühsam, lie ber Graf!) Meine Damen und Herren, in der Steuerdiskussion gewinnt man bei uns den Eindruck, daß der gesamte Meine Damen und Herren, trotzdem, die Reaktio- finanzwissenschaftliche Sachverstand bei uns in den nen der Presse — — Wind spricht. Seine Hinweise gehen offenbar zum (Zurufe von der SPD: Kinderfreundliche Ge einen Ohr herein und zum anderen wieder heraus. sellschaft! — Nach Ihnen die Sintflut! — Wei Dies gilt im übrigen auch bei vielen journalistischen tere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN/ Kommentatoren, die die Politik doch sonst so gerne Bündnis 90) ermahnen, sachverständigen Rat nicht in den Wind zu schlagen. —Kinderfreundliche Gesellschaft, wenn man das nun im Ernst aufnehmen wollte, Herr Vogel, dann muß ich Selbst die Zeitung, die Karl Schillers überzeugen- sagen: Ich stelle mir unter einer solchen kinderfreund- des Plädoyer gegen Steuererhöhungen jedweder Art lichen Gesellschaft nicht vor, daß Kinder zur Wahl- als erste im Wortlaut abdruckte — allerdings im wirt- werbung und Parteipolitik eingesetzt werden. Das ha- schaftspolitischen, im sachverständigen Teil —, emp- ben wir nun gerade in einem anderen Teil Deutsch- fiehlt eine Woche darauf das Gegenteil in ihrem poli- lands gehabt. tischen Teil. Da wüßte man doch gerne, welche Aus- gabe das Wohlgefallen des Herrn Bundeskanzlers ge- (Beifall bei der FDP und CDU/CSU — Dr. Vo funden hat. gel [SPD]: Aber hohe Schulden!) Wer im Kontext des Themas „Kosten der deutschen — Ich wollte das nicht vertiefen. Aber wenn das der Einheit" über Steuern und umweltpolitische Abga- Hintergrund Ihrer Überlegungen ist, dann: Danke, ben in einem Atemzug spricht, wird sich über das ver- nein. wirrende Echo nicht gewundert haben. Steuern haben (Dr. Klejdzinski [SPD]: Kommen Sie einmal zum Ziel, die Einnahmen des Staates zu erhöhen. mit dem Kindergeld über! — Zuruf der Abg. (Dr. Klejdzinski [SPD]: Sie kritisieren den Frau Dr. Vollmer [GRÜNE/Bündnis 90]) Bundeskanzler!) Trotzdem, meine Damen und Herren: Die Reaktio- Sie sollen mehr Geld in die Kasse bringen. Umweltab- nen der Presse auf die Reden des Bundeskanzlers und gaben haben das Ziel, die Menschen zu umwelt- des Bundesfinanzministers in München waren minde- freundlichem Verhalten zu bringen. Sie haben ihr Ziel stens ebenso bemerkenswert wie die Reden selbst. dann erreicht, wenn kein Geld mehr in die Kasse Fast ohne Ausnahme erklang von „FAZ" bis „Frank- kommt, weil die Abgabepflicht durch umweltgerech- furter Rundschau" der Ruf: Na endlich! Nun ist also tes Verhalten entfallen ist. auch der Bundeskanzler für Steuererhöhungen, und der Bundesfinanzminister will wenigstens die Beam- Für die FDP, meine Damen und Herren, sind Um- ten ärgern. weltabgaben kein Alibi für verdeckte Belastungser- höhungen. Die FDP hat sich in ihrem Wahlprogramm (Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD]) zum Ziel einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes um Um das gleich klarzustellen: Ein Sonderopfer für die 25 % bis zum Jahr 2005 bekannt. Eine gemeinsame Beamten ist mit der FDP nicht zu machen. europäische Klimaschutzsteuer in Gestalt einer zeit- lich gestaffelten Energiesteuer auf fossile Energieträ- (Beifall bei der FDP — Frau Unruh [fraktions ger halten wir für ein geeignetes Mittel, dieses Ziel zu los]: Das ist kein Sonderopfer!) erreichen. Die Beamten werden durch eine Erhöhung der Bei- Also doch!) träge zur Arbeitslosenversicherung nicht belastet; sie (Dr. Vogel [SPD]: werden durch eine Senkung der Beiträge zur Renten- — Nun einmal langsam. Wir stimmen einer solchen versicherung aber auch nicht entlastet. Steuerlösung unter folgenden Bedingungen zu — das Außerdem, meine Damen und Herren, das wissen tun wir seit langem — : wir nun alle, sind solche Sonderopfer erfahrungsge- Erstens. Es muß sich um eine wettbewerbsneutrale mäß in den Tarifverhandlungen für Angestellte und europäische Lösung handeln. gewerbliche Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes niemals durchzusetzen. Zweitens. Die Steuerquote darf nicht dauerhaft an- steigen. Aber, ich füge hinzu: Eine Tarifforderung des öf- fentlichen Dienstes von 10 % läßt alles Augenmaß und Drittens. Die Mittel müssen zur Absenkung der lei- jede gebotene Zurückhaltung gegenüber den Anfor- stungsfeindlichen direkten Steuern verwandt wer- derungen vermissen, die angesichts der deutschen den. Einheit notwendig sind. Viertens. Das Mittelaufkommen muß dem allgemei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen Bundeshaushalt zufließen. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18917

Dr. Graf Lambsdorff Fünftens. Die Steuersätze müssen mit fortschreiten- Dr. Faltlhauser (CDU/CSU): Graf Lambsdorff, darf der Erreichung des Reduktionsziels zurückgeführt ich auf Ihre Grundbedingungen für eine CO2-Steuer, und die CO2-Steuer wieder abgeschafft werden. wie Sie sie genannt haben, zurückkommen, wobei Sie Eine CO2-Lenkungsabgabe halten wir für das fal- u. a. erwähnt haben, daß Sie das in den allgemeinen sche Mittel, weil das Abgabenaufkommen nach auf- Topf des Staatsaufkommens hineintun wollen? Sind wendiger staatlicher Verwaltung ruft. Das Steuerauf- Sie mit mir der Auffassung, daß gerade dies nach den kommen und die Notwendigkeit, staatliche Projekte verfassungsrechtlichen Möglichkeiten bei einer Um- im Umweltschutz zu finanzieren, stehen aber in kei- weltabgabe nicht geht, daß Sie hier also etwas ande- nem begründbaren Zusammenhang. Eine Ausnahme res wollen, als der Bundeskanzler angeführt hat, der gilt nur für die produktbezogene Deponieabgabe für seinerseits ausdrücklich eine Abgabe für den CO2- Sonderabfälle. Ausstoß haben wollte, die ihrerseits zweckgebunden (Frau Garbe [GRÜNE/Bündnis 90]: Das ist ist und dadurch eben nicht in die Kategorie der Steu- ern einzureihen ist? doch auch nicht der richtige Weg!) Hier macht eine Zuordnung Sinn, weil der Abgabe konkrete Aufwendungen der öffentlichen Hand ge- genüberstehen. Graf Lambsdorff (FDP): Nein, das ist genau falsch. Graf Lambsdorff, gestat- Da gibt es genaue Unterschiede. Ich stimme Ihnen Präsidentin Dr. Süssmuth: überhaupt nicht zu, daß das verfassungsrechtlich ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten West- nicht möglich sei, sondern ich sage Ihnen: Wir wollen phal? kein gesondertes Abgabeaufkommen, das in irgend- einem anderen Haushalt als dem des Bundesfinanz- Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird. ministers erscheint; nirgendwo anders! (Dr. Vogel [SPD]: Nie!) (Glos [CDU/CSU]: Sie wollen eine neue Steuer!) Präsidentin Dr. Süssmuth: Nein. Dies soll als eine umweltpolitische Abgabe konstruiert werden, die sich selber aufhebt, wenn das umwelt- Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Bitte, Herr Westphal. freundliche Verhalten der Menschen nicht mehr zur Abgabeerhebung verpflichtet. Westphal (SPD): Graf Lambsdorff, ich wollte Sie eigentlich nur am Anfang dessen, was Sie als Bedin- (Zurufe von der SPD) gung zu einer neuen Steuer genannt haben, fragen, Reden wir doch nicht darum herum. Hier soll in eini- ob Sie noch in Erinnerung haben, wie Herbert Wehner gen Ressorts ein Schattenhaushalt errichtet werden, so etwas genannt hätte, nämlich ein Messer ohne mit dem man dann alle möglichen Denkmäler errich- Klinge, dem das Heft fehlt? ten kann. Dies geht mit uns nicht!

Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Das wäre dann ein un- (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Aha, der Kanz- geeignetes Handwerkszeug. Das, was ich gesagt ler will einen Schattenhaushalt! — Weitere habe, ist kein ungeeignetes Handwerkszeug, Herr Zurufe von der SPD) Westphal. Wir können darüber gerne noch einmal re- Meine Damen und Herren, der Herr Ministerpräsi- den. dent des Saarlandes — — Es fällt mir ja immer schwer Aber ich will Ihnen auch gleich sagen, wo unser — das wissen Sie — , die Klappe zu halten, aber das ist Hauptproblem liegt. Umweltprojekte des Staates ja im Vergleich zu dem, was Sie draußen sagen, noch müssen sich in die Prioritäten des allgemeinen Haus- eine ganz höfliche Formulierung. halts einordnen — jetzt kommt ein entscheidender Satz —; sie dürfen kein unkontrolliertes Schatten- (Ministerpräsident Lafontaine [Saarland]: haushaltsdasein führen. Mit diesen grundsätzlichen Danke, gleichfalls!) Bedenken haben wir Ihre Projekte des Emissionspfen- Draußen lese ich: Kohl und Lambsdorff sind die Erb- nigs und des Sondervermögens Arbeit und Umwelt schleicher des Stalinismus. — Wenn ich das noch ein- immer wieder abgelehnt. Es gibt für uns keinen er- mal höre, dann zitiere ich nicht König Herodes, son- sichtlichen Grund, Herr Bundesminister Töpfer, der dern Al Capone, Herr Ministerpräsident. CDU/CSU zuzugestehen, was wir der SPD ableh- nen. (Heiterkeit) Auch das heutige Interview in der „Bild"-Zeitung, Also manchmal kommt da doch ein bißchen sehr klei- Herr Rühe, läßt Unklarheiten bestehen und Hintertü- nes Karo aus Saarbrücken; und auf Pepita kann man ren offen. Wollen Sie nun eine insgesamt höhere Bela- nicht Schach spielen, Herr Lafontaine. stung der Bürger oder nicht? — Wir wollen sie nicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Das ist der entscheidende Punkt. Frau Matthäus-Maier [SPD]: Das hängt von (Beifall bei der FDP) den Schachfiguren ab!) Meine Damen und Herren, die FDP beteiligt sich an Graf Lambsdorff, gestat- Präsidentin Dr. Süssmuth: sächsischen, bayerischen oder deutschen Meister- ten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten schaften im Rückwärtsrudern von steuerpolitischen Faltlhauser? Erklärungen nicht. Graf Lambsdorff (FDP) : Bitte sehr. (Zurufe von der CDU/CSU) 18918 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Graf Lambsdorff Wir waren, wir sind und wir bleiben die einzige Partei, Die FDP kann keinen vernünftigen Grund erken- die geschlossen Steuererhöhungen zur Finanzierung nen, Steuern und Steuerlastquote zu erhöhen, nicht der deutschen Einheit ablehnt. einen einzigen. - (Beifall bei der FDP — Carstensen [Nord (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Außer dem ho- strand] [CDU/CSU]: Wie ist das mit dem Ku hen Defizit!) bicki, dem Landesvorsitzenden von Schles Im Gegenteil, meine Damen und Herren: Wenn wir wig-Holstein?) die sogenannten heimlichen Steuererhöhungen, die Wir werden keiner Erhöhung der Steuerlastquote zu- ja durch das Zusammenwirken von nominalen Ein- stimmen. Ich sage es noch einmal: Wir werden keiner kommensverbesserungen und steuerlicher Tarifpro- Erhöhung der Steuerlastquote zustimmen. — Und gression zustande kommen, nicht korrigieren, werden schon höre ich den Ruf: Ja, zur Finanzierung der deut- wir allein daraus in den nächsten Jahren Milliarden schen Einheit wollt ihr keine Steuer erhöhen — so ja von Steuermehreinnahmen haben. auch Herr Lafontaine —, aber sonst wollt ihr das doch. Nein, meine Damen und Herren, Steuererhöhun- —Dann kommt ein Schwall von völlig absurden Argu- gen sind falsch. Sie sind für die Leistungskraft unserer menten. Wirtschaft im Westen schädlich, die wir für den Wie- Erstens. Die Mehrwertsteuer müsse wegen der eu- deraufbau der vom Sozialismus verwüsteten Wirt- ropäischen Harmonisierung erhöht werden. schaft der neuen Bundesländer brauchen. (Dr. Klejdzinski [SPD]: Das kommt nicht von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) uns!) Sie sind gleichermaßen schädlich für die neuen Bun- Das ist einfach falsch. Der Mehrwertsteuersatz von desländer. Auf Strukturbrüche dieses Ausmaßes rea- 14 % liegt im voraussehbaren europäischen Rah- giert man doch nicht mit Steuererhöhungen. Will Mi- men. nisterpräsident Biedenkopf allen Ernstes den Ver- brauchern in Sachsen ausgerechnet eine Mehrwert- (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Die Ausrede ist steuererhöhung zumuten? Wir brauchen Steuerer- schon einmal weg!) leichterungen in den fünf neuen Bundesländern. Die Hauptaufgabe des Jahres 1991 heißt: Investitionen im — Entschuldigen Sie vielmals, das habe ich vom Fi- produzierenden Gewerbe in die frühere DDR bringen. nanzminister nun nicht gehört; das habe ich von ganz Nur das schafft Arbeitsplätze, nicht jedoch das Abset- anderen gehört, auch von Ihnen. zen und Verkaufen. (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Das ist un (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wahr! — Weitere Zurufe von der SPD) Dazu bedarf es massiver Verbesserungen der Rah- — Hören Sie mal, Ihre Ministerpräsidenten schlagen menbedingungen. ja nicht nur Mehrwertsteuererhöhungen vor, sondern setzen sich auch noch drei Tage vor der Wahl hin und Machen wir uns bitte alle miteinander nichts vor: lehnen jede zusätzliche Finanzierung zugunsten der Die Ex - DDR steht als Investitionsstandort im Wettbe- neuen Bundesländer ab. Das soll Herr Rau mal dem werb mit Spanien, Portugal, Belgien und vielen ande- Herrn Stolpe beibringen, dem er zwar seine Truppen ren Standorten. Dazu eine Zahl: Ein neuer Arbeits- hinschickt, die das Land halbwegs übernehmen, dem platz in der Automobilindustrie wird in Portugal mit er Geld aber nicht geben will. 400 000 DM subventioniert. Darauf müssen wir rea- gieren. (Beifall bei der FDP — Zurufe von der SPD: Welche Sprache ist denn das? Was ist das Wir müssen auch versuchen, Investitionen in den denn für eine Sprache?) neuen Bundesländern attraktiver als Anlagen in fest- verzinslichen Wertpapieren zu machen. Das wird Meine Damen und Herren, als Reaktion auf die durch das weltweit hohe Zinsniveau erschwert. Es ist Golfkrise — zweites Argument — müsse die Mineral- aber falsch, die Zinshöhe auf das Thema deutsche Ein- ölsteuer erhöht werden. — Welch ein Unsinn! heit zu reduzieren: Das Weltzinsniveau ist höher als (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Schämen Sie bei uns. sich!) Völlig falsch ist die Annahme, Herr Lafontaine, Steuererhöhungen seien für den Kapitalmarkt scho- — Das mache ich nachher. nender als Kreditaufnahmen. Insbesondere ihre Neid- (Dr. Vogel [SPD]: Gleich schämen!) steuer für Besserverdienende trifft genau die Steuer- zahler mit der höchsten Sparquote, also die private Wenn Saddam Hussein die Öl- und Benzinpreise her Ersparnis, und belastet den Kapitalmarkt. auftreibt, wollen wir sie dann noch zusätzlich durch eine Mineralölsteuererhöhung verschärfen? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Drittens. Es könnte eine Rezession geben, und dann Für den Investitionsstandort neue Bundesländer misse man die Steuern erhöhen. — Nun sieht nie- schlägt die FDP das Niedrigsteuerland zusätzlich zu mand für die Bundesrepublik eine Rezession herauf- den Fördermitteln unserer Regionalpolitik vor. ziehen; aber selbst wenn sie kommen sollte, was wäre (Beifall bei der FDP) das für eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die auf eine Rezession nicht mit Steuererleichterungen, son- Es muß jetzt geklotzt und nicht gekleckert werden. dern mit Steuererhöhungen reagieren wollte? Sonst wird die deutsche Einheit eine dauerhafte Ali- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18919

Graf Lambsdorff mentationsveranstaltung von West nach Ost. Das Wir stehen ja wieder vor einer Wahl. Angesichts kann nicht gutgehen. eines solchen schon festen Rituals von Versprechen Wenn wir es richtig machen, dann wird die Investi- vor der Wahl, Widerrufen oder Vergessen nach der- tion in die deutsche Einheit ein überaus lohnendes Wahl erhebt sich die Frage: Was mag den Bundes- Investment sein, für die deutsche Volkswirtschaft im kanzler bewogen haben, vierzehn Tage vor der Wahl ganzen und für alle von uns. Eine Überschrift von Karl zu erklären, in der neuen Legislaturperiode werde es Schiller von heute lautet: „Phantastische Fusionsge- notwendig sein, über eine Erhöhung von Abgaben zu winne". Das ist die Wahrheit, wenn man nicht immer reden. Ist es eine völlig neue Erkenntnis, daß die Ko- nur statisch denkt, sondern den dynamischen Prozeß sten für das Zusammengehen von BRD und DDR doch einer Marktwirtschaft und einer solchen Entwicklung weit höher sind als man wahrhaben wollte, oder ist die sieht. Aber Schluß mit Sozialismus jedweder Spiel- Lage so dramatisch, daß es nun doch opportuner er- art! scheint, bereits vor der Wahl etwas den Schleier zu lüften, um nach der Wahl nicht als der große Leugner (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dazustehen? Wer die Dynamik von Wirtschaftsprozessen nicht be- greift, wer dauernd Kosten mit Investitionen verwech- (Zuruf von der CDU/CSU: Für wen sprechen selt, wer Sparkapitalbildung durch Neidsteuern zer- Sie denn?) stören will, der taugt nicht als Architekt für das Bau- Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das vorhaben Deutschland; den darf man nicht einmal als Versprechen in dem von Ihnen abgeschlossenen Ver- Polier auf die Baustelle lassen. trag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozial- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) union. Da stand nämlich drin, daß ehemalige DDR- Herr Ministerpräsident, Sie haben eine leicht kaba- Bürger eine Urkunde über ihren Anteil am Volksei- rettistische Note für Ihren heutigen Abgang von der gentum erhalten, womit sie sich später einmal eine Bundesbühne — jedenfalls in Teilen Ihrer Rede — ge- Wohnung oder ähnliches kaufen könnten. Das ist ver- wählt. Sie haben Ihre Rede ja auch in Theaterakte traglich vereinbart, aber es redet kein Mensch mehr unterteilt. Ich empfehle Hamlet, letzter Akt, letzte davon. Das war zumindest, um es gelinde auszudrük- Szene, letzte Zeile: Der Rest ist Schweigen. Der Vor- ken, eine Täuschung. hang fällt am 2. Dezember abends. (Beifall bei der Gruppe der PDS — Zurufe (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/ von der CDU/CSU) CSU) Vor welchen Ergebnissen der Regierung Kohl und de Maizière stehen wir jetzt? Alle Wirtschaftsexperten Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge- sind sich einig, und jede Bürgerin und jeder Bürger ordnete Dr. Gysi. spürt es, daß der Anschluß der DDR an die Bundesre- (Feilcke [CDU/CSU]: Gysi, rück die Kohle publik den Altländern einen kräftigen Konjukturim- raus! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU puls bescherte, während in den ostdeutschen Ländern und der SPD) eine schwere und, wie sich immer mehr abzeichnet, tiefe und langwierige Anpassungskrise eingetreten ist, (Gruppe der PDS): Ich bin entzückt hin- Dr. Gysi (Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Vierzig sichtlich der freudigen Aufnahme. Wenn man als Jahre Sozialismus!) schlichter Bürger wie ich (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD) die zu einem wirtschaftlichen Kollaps führen kann. Und das ist nun nicht mehr nur mit 41 Jahren DDR, — zumindest relativ neu im Bundestag — den Reden sondern auch mit handfesten Fehlentscheidungen folgt, die hier gehalten werden, und wenn man allen glauben will, kommt man zu der Feststellung, daß (Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört! Lä- man keiner Partei trauen kann. Das spricht doch da- cherlich!) für, daß auch eine neue gewählt werden kann. (Beifall bei der Gruppe der PDS — Heiter in diesem Jahr zu erklären. Das zeigen die Fakten: keit) Rückgang der Industrieproduktion in der früheren DDR im ersten Quartal 1990 4,5 %, im zweiten Quartal Als ehemalige DDR-Bürger und jetzige Bundesneu- 1990 10 %, aber im dritten Quartal 1990, d. h. nach der bürger haben wir uns in diesem Jahr an den unter- überstürzten und nicht ausgewogenen Währungs- schiedlichen Wert von Wahlversprechungen vor und und Wirtschaftsunion, 48 %! Das ist eine Tatsache. nach dem Urnengang gewöhnen müssen. Den Wert solcher Verkündungen wie „Niemandem wird es (Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Nur bei schlechter gehen, im Gegenteil" haben inzwischen Honecker war es offenbar besser! Oder was fast alle Familien in der ehemaligen DDR erfahren. wollen Sie damit sagen?) (Dr. Klejdzinski [SPD]: Nur der PDS geht es — Also wissen Sie, Ihre Beziehungen zu Herrn Honek- besser!) ker waren wesentlich enger als meine. Da müssen Sie Heute heißt es, daß die Talsohle noch nicht erreicht ihn schon selbst befragen, ja. sei. Aber Mitte des nächsten Jahres soll der mehrfach versprochene stürmische Aufschwung nun tatsächlich (Beifall bei der Gruppe der PDS — Lachen erfolgen. und Pfeifen bei der CDU/CSU) 18920 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Dr. Gysi — Ich habe ihn noch nicht einmal persönlich sprechen von dem Teil etwas halte, soweit sie sich ernsthaft um können. Herr Waigel, Sie hatten ja mehrfach die Mög- die Betriebe und die Belegschaften bemühen. Dieje- lichkeit und haben sich deshalb oft geschätzt. nigen, die wirklich in ihre Tasche wirtschaften, kön-- (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Aber mehr Millio nen meinetwegen von ihren Belegschaften davonge- nen haben Sie bekommen! — Zuruf von der jagt werden. Aber gucken Sie mal, was die heute für CDU/CSU: Ihr sozialistischen Brüder!) Parteibücher haben. Da finden Sie die merkwürdig- sten dabei, bloß kein PDS-Parteibuch. Von einem Investitionsfluß von West nach Ost (Zuruf von der SPD: Warum haben Sie da- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren doch mals abgelehnt, daß Sie die alle ablösen? Das das Fettauge auf der sozialistischen Soße!) waren doch Sie mit der CDU gemeinsam!) oder einem Investitionseffekt der Einheit ist noch — Ihre Parteibücher sind reichlich dabei. nichts zu spüren. Dagegen spricht man offen von ei- nem Konjunktureffekt der Einheit für die Industrieun- Die Auswirkungen der politischen Fehlentschei- ternehmen und Handelsketten in den Altländern der dungen, zementiert im Einigungsvertrag, sind schon Bundesrepublik, heute auf finanziellem Gebiet gravierend. Der über- stürzte Crashkurs wirkt sich einfach aus. (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Und vom Geld fluß nach Norwegen!) Die steigenden Kosten für die Arbeitslosigkeit — sie sind mehrfach falsch eingeschätzt worden — zeigen für die die neuen Länder in erster Linie Markt, dann jedem deutlich, daß es viel besser wäre, die Finanzie- verlängerte Werkbank und bisher nur in den wenig- rung von Arbeit, die Finanzierung der Erhaltung vor- sten Fällen potentieller Produktionsstandort sind. Ge- handener und die Finanzierung der Schaffung neuer spaltene Konjunktur, gespaltener Absatzmarkt zwi- Arbeitsplätze zu erreichen, anstatt die Finanzierung schen den alten und den neuen Bundesländern, das ist von Arbeitslosigkeit mit Priorität vorzusehen. die bisherige Realität der politischen Einheit. Bundeswirtschaftsminister und Bundesfinanzmini- Während in den Altländern in diesem Jahr die Zahl ster sehen das offensichtlich ganz anders. Wie soll der Beschäftigten gegenüber dem Vorjahr um über sonst die Verweigerung der Lizenzen für den Ost- 700 000 stieg, zeigt sich in den neuen deutschen Län- export, z. B. für den ökologisch deutlich verbesserten dern Ende Oktober ein völlig anderes Bild. Eine Ar- Pkw Trabant, zu erklären sein? Das sonderbare Argu- beitslosigkeit von fast 2,6 Millionen Menschen, offen ment von Herrn Haussmann, die Gewährung von oder verschleiert, Kurzarbeiter, insbesondere mit null Subventionen in Höhe von 80 Millionen DM verletze Arbeitsstunden einberechnet. Hinzu kommt noch eine die Gleichbehandlung aller Unternehmen, kann nur geheimgehaltene Zahl von Mitarbeiterinnen und Mit- Erstaunen hervorrufen, wenn man die reale Situation arbeitern des öffentlichen Dienstes, die in die berüch- in Ostdeutschland bedenkt und beachtet, daß die Al- tigte Warteschleife ohne eine reale Perspektive kata- ternative — so die IG Metall — Arbeitslosengelder pultiert wurden und die ja mit Sicherheit auch arbeits- von monatlich etwa 30 Millionen DM sind. los werden. Produktionsrückgänge und Konkurse führen außer- Alle Vorschläge und Mahnungen für notwendige dem unweigerlich zu Steuereinbußen und verschär- Übergangs- und Strukturanpassungsmaßnahmen so- fen damit automatisch die Defizite in den öffentlichen wie Beschäftigungsprogramme für die Wirtschaft der Haushalten der ostdeutschen Länder und Kommu- ehemaligen DDR, nen. (Zuruf von der CDU/CSU: Etwa wie bei der In dieser Situation setzt nach altbewährtem Muster SED!) ein Verwirrspiel der Parteien der Regierungskoalition wie sie auch von vielen Wirtschaftsexperten gefordert um die Steuererhöhungen ein. Keine Steuererhöhung wurden, sind von den Regierungen Kohl und de Mai- für die deutsche Einheit, so eine Aussage. Lediglich zière und den sie tragenden Parteien arrogant in den Abgaben im Umweltbereich, so eine andere. Einspa- Wind geschlagen und häufig als linke Schwarzmale- rungen, Umschichtungen und Subventionsabbau eine rei und Panikmache etikettiert worden. Dabei waren dritte, und Überprüfung der Bund-Länder-Finanzbe- die Hinweise auf die Auswirkungen, auch von uns, ziehungen eine vierte. So tönt es jetzt von den Par- noch eher bagatellisierend. teien. (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Kappen Sie Von der FDP allerdings hört man, sie spreche über- erst mal Ihre Seilschaften!) haupt nicht über Steuererhöhungen, und mit ihr gebe es keine Steuererhöhungen. Heftig prallen auch die Die Auswirkungen der politischen Fehlentscheidun- Aussagen für und wider ein Niedrigsteuergebiet in gen, zementiert im Einigungsvertrag, sind schon den neuen Ländern aufeinander. heute auf finanziellem Gebiet gravierend. Die PDS fordert: Herr Bundeskanzler, machen Sie Ich kann auf Zwischenfragen gerne antworten, aber endlich mit der Verunsicherung der Bevölkerung ich weiß nicht, ob Sie mir das von der Redezeit abzie- durch diese wahltaktischen Diskussionen Schluß! Es hen, Frau Präsidentin. kann doch nicht so schwer sein, klar zu sagen, was die (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Sie können deutsche Einheit voraussichtlich kostet und was sie darauf antworten: Kappen Sie die Seilschaf wem einbringt. Das haben seriöse Wissenschaftler ten!) längst ausgerechnet. — Dann würde ich Ihnen sagen: Schauen Sie einmal (Feilcke [CDU/CSU]: Komm, rück die Kohle nach. Die ehemaligen Leiter der Betriebe, wo ich nur raus!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18921

Dr. Gysi Für uns wird bei diesem Gerangel eines unüberseh- derum höhere Steuereinnahmen des Staates in der bar: Im Kern laufen die Vorschläge der Regierungs- Folge. parteien darauf hinaus, daß wieder die sogenannten Ich sehe, daß meine Zeit abgelaufen ist, Frau Präsi-- kleinen Leute zur Kasse gebeten werden. dentin. (Feilcke [CDU/CSU]: Gysi, die Verkörpe (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU und rung des kleinen Mannes! Das ist die Wahr der FDP — Feilcke [CDU/CSU]: Die Zeit ist heit!) abgelaufen! — Weitere Zurufe von der CDU/ Besonders sollen die ehemaligen Bürgerinnen und CSU) Bürger der DDR die Lasten auferlegt bekommen, die mit neuen Westpreisen und alten Ostlöhnen und -ren- Präsidentin Dr. Süssmuth: Ja, Ihre Redezeit ist ab- ten leben sollen. gelaufen. Was halten wir im Gegensatz zur Regierungspolitik in dieser Situation für geboten? Dringend erforderlich ist ein langjähriges Struktur- und Beschäftigungs- Dr. Gysi (Gruppe der PDS): Darum kümmern sich programm, um Ostdeutschland als Produktions-und schon ganz andere. Alle Rechtsradikalen des Landes Investitionsstandort zu erhalten. begleiten mich permanent, (Dr. Wulff [CDU/CSU]: RAF und SPD!) (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Vermögen zu rückgeben! — Feilcke [CDU/CSU] : Gysi, und Sie übernehmen auch ein bißchen politische Ver- rück den Zaster raus!) antwortung für das, was sie in diesem Land so alles unternehmen. Ich finde, diese Debatten zeigen deut- — Sie wissen, daß Sie damit nicht ernsthaft etwas lich, daß es wirklich erforderlich wird, sich für ein anfangen können. etwas anderes Deutschland zu entscheiden als das, Notwendig sind Sofortmaßnahmen, um die in den das Sie vorhaben. letzten Monaten praktizierte Zerstörung der Existenz (Beifall bei der Gruppe der PDS — Zurufe auch sanierungsfähiger Betriebe in der Ex-DDR durch von der CDU/CSU) eine gnadenlose Konkurrenz zu verhindern. (Feilcke [CDU/CSU]: Exprop riation der Ex Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat Herr Bun- propriateure! Das muß man Ihnen zurufen!) desminister Töpfer. Es ist durch die Treuhand Eigentum von Kommunen zu schaffen. Wir erwarten, daß den Handwerkern und Gewerbetreibenden nachträglich die Einlagen ihrer Dr. Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Natur- Geschäftskonten per 30. Juni 1990 1 : 1 getauscht wer- schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! den, damit sie nicht weiter ihre Angestellten entlassen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der, wie müssen. wir gerade gemerkt haben, glücklicherweise nicht mehr real existierende Sozialismus der SED (Dr. Heltzig [SPD]: Nachdem Sie alle zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) grunde gerichtet haben! Das kann doch nicht wahr sein! — Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/ hat über 40 Jahre lang CSU]: Ihr habt sie doch enteignet! — Feilcke (Beifall bei der Gruppe der PDS — Feilcke [CDU/CSU]: Rück das Geld raus!) [CDU/CSU]: Ihr Pharisäer!) Wir erwarten, daß im Verteidigungshaushalt nach die Menschen von Rostock bis Dresden, von Frankfurt dem Abbau des Ost-West-Konflikts nicht 50 Milliar- bis Magdeburg geschunden; er hat sie psychisch und den DM hineingesteckt werden, sondern daß erheb- physisch rücksichtslos ausgebeutet und ruiniert. Die- lich eingespart wird. ser Sozialismus hat unglaubliche Ruinen bei Men- schen und in der Natur hinterlassen. Er hat einen Kol- (Beifall bei der Gruppe der PDS — Feilcke laps der Umwelt begründet. [CDU/CSU]: Sollen wir eure Führerbunker von Honecker benutzen?) (Feilcke [CDU/CSU]: Auch im Kopf von Herrn Gysi!) Wir wenden uns dagegen, daß die neuen Rüstungs- milliarden offensichtlich mit der Überlegung auf Kon- Die Altlasten sind dramatisch und schockierend, auch flikte hinsichtlich der Dritten Welt ausgegeben wer- und nicht zuletzt in der Rede, die wir gerade gehört den sollen. haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Feilcke [CDU/CSU]: Davon verstehen Sie bei Abgeordneten der SPD) gar nichts!) Die Altlasten sind gesundheitlich ausgebeutete Das halten wir für eine Katastrophe. Wir glauben Menschen mit niedrigerer Lebenserwartung, vergif- auch, daß es gerechtfertigt ist, eine Umlage für Bes- tete Böden, tote Gewässer, verwüstete Landschaften serverdienende einzuführen, mit der man allein und eine ruinierte Wirtschaft. 10 Milliarden DM einsparen könnte. (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Und (Dr. Heltzig [SPD]: Früher waren die SED- wirre Köpfe!) Betriebe steuerfrei! Das ist aber ulkig!) Der ökologische Offenbarungseid zeigt ein men- Die Steuereinnahmen des Staates und die höheren schenverachtendes, die Schöpfung zerstörendes Sy- Gewinne westdeutscher Unternehmen bedeuten wie stem und belegt, daß unbarmherzig und unmensch- 18922 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundesminister Dr. Töpfer lich auf Kosten der Menschen und zu Lasten von Na- benswerte Umwelt wieder zur Grundlage politischen tur und Umwelt gewirtschaftet worden ist. Handelns. Die Menschen können jetzt wieder durch- atmen, und wir werden dies weiter so vorantreiben. Meine Damen und Herren, dies alles wird heute von - niemandem mehr ernsthaft bestritten. Tagtäglich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden die Katastrophen, die damit angerichtet wor- den sind, noch deutlicher sichtbar; wir betrachten Da ist die Frage natürlich berechtigt, meine Damen diese mit Entsetzen und Abscheu. und Herren: Wie ist dieses herausragende, dieses schwierige Aufgabenfeld zu bewältigen? Da ist es Vor diesem Hintergrund behauptet Herr Lafontaine sinnvoll und richtig, in unsere Geschichte zurückzu- in einem „Spiegel"-Interview in diesem Jahr: Die blicken. DDR war, bis die Mauer fiel, ein führendes Industrie- land. Ich kann es aus meiner eigenen persönlichen Le- benserfahrung schildern. Ich bin 1938 in Waldenburg Meine Damen und Herren, dies ist ein empörender in Schlesien geboren worden. 1945 bin ich mit meinen Satz; es ist ein Satz, der bestenfalls Zeichen für un- Eltern und Geschwistern nach Höxter an der Weser glaubliche Ignoranz ist; wahrscheinlicher aber — so vertrieben worden. Mit einem Koffer in der Hand sind muß vermutet werden — ist er jedoch ein Beleg für wir in ein durch Ruinen gekennzeichnetes Land ge- einen schlimmen, menschenverachtenden Zynis- kommen. Aber die Generation meiner Eltern hat nicht mus. resigniert; sie hat nicht gefragt, wieviel das Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaftswunder kostet, sondern sie hat mit Optimismus gehandelt; sie hat investiert, und sie hat eine gute Die Kosten für die Beseitigung der Altlasten des politische Entscheidung für die Soziale Marktwirt- Sozialismus werden heute als Kosten der deutschen schaft und für Konrad Adenauer und seine kluge Poli- Einheit beklagt, und gleichzeitig wird die DDR zu tik getroffen und hat damit den Aufschwung ermög- einer führenden Industrienation erklärt. Welche Ar- licht, meine Damen und Herren. gumentation könnte eigentlich doppelzüngiger und unehrlicher sein als die, die Herr Lafontaine uns hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bietet? Wäre damals Lafontaine in der Verantwortung gewe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen, so würden wir heute noch nach den Kosten der deutschen Einheit fragen, weil wir noch unter den Fol- Die ökologische Erneuerung der Industriegesell- gen des Morgenthau-Plans leiden würden, meine Da- schaft wird gefordert, und gleichzeitig wird die DDR men und Herren. Das ist der Zusammenhang. zu einem führenden Industrieland erklärt. Welche Un- glaubwürdigkeit könnte dies eigentlich noch über- (Zustimmung bei der CDU/CSU) treffen? Diese historische Lektion ist europaweit, ja weltweit Man kann — das muß Herr Lafontaine gesagt wer- verstanden worden. Nicht irgendeine Spielart des So- den — einfach noch nicht in Leuna oder Buna, in Es- zialismus, sondern nur eine soziale, ökologisch ver- penhain oder Bitterfeld, in den Schwermetallanlagen pflichtete Marktwirtschaft in einer freiheitlichen Ge- von Helbra oder Mansfeld gewesen sein und hier hin- sellschaft ermöglicht die Bewältigung der Zukunft. kommen und sagen: Die DDR war ein führendes Indu- Wenn Lafontaine in diesem Jahr, 1990, noch schreibt strieland. Herr Lafontaine kann noch nicht dagewe- — ich darf zitieren — : „Wenn das alte sozialistische sen sein. Auch Herr Gysi ist offenbar auch noch nicht Projekt nicht mehr trägt, so ist es höchste Zeit, ein dort gewesen, meine Damen und Herren. Er kann neues zu konstruieren" , dann können wir ihm nur noch nicht mit den Menschen dort geredet haben. sagen: Es ist höchste Zeit, alle sozialistischen Modelle und Modellchen zu vergessen und endlich zu einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) klaren sozial orientierten Marktwirtschaft zu kom- Meine Damen und Herren, wer dies so behauptet, men. Das ist die Entscheidung, die zu treffen ist. wer das so sagt, der will am Prozeß der deutschen Einheit nicht mitwirken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es geht eben nicht — lassen Sie mich das zumindest in die Richtung von Herrn Lafontaine sagen — um Er will vielmehr den Eindruck erwecken, als wären irgendeinen neuen Weg in die alte sozialistische diese gewaltigen Schwierigkeiten in der Wirtschaft, Sackgasse, sondern es geht um den bewährten Weg die unglaublichen Belastungen von Natur und Um- zu dem Ziel der sozialen, ökologisch orientierten welt und die menschenunwürdige soziale Absiche- Marktwirtschaft. rung der Menschen nicht durch den Sozialismus der SED, sondern durch den Prozeß der deutschen Einheit (Zustimmung bei der CDU/CSU) verursacht; er will allein aus wahltaktischen Gründen Dem Kenner der Sekundärtugenden sei gesagt: der Bundesregierung anlasten, was einzig und allein Wenn es denn eine Sekundärtugend gibt, dann ist es einen Verursacher hat, nämlich das menschenverach- der neue Weg; denn es geht nicht darum, daß der Weg tende, mißwirtschaftende Regime der DDR. neu ist, sondern es geht um die Frage, welches Ziel mit (Nowack [CDU/CSU]: Es war verbreche diesem Weg erreicht wird. Das ist die Primärtugend. risch!) Deswegen setzen wir auf die sozial orientierte Markt- wirtschaft auf einem bewährten Weg dorthin. Dies ist Meine Damen und Herren, Mensch und Natur sind die entscheidende Frage. mißbraucht worden. Mit der deutschen Einheit wer- den Menschenwürde am Arbeitsplatz und eine le (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18923

Bundesminister Dr. Töpfer Meine Damen und Herren, in Sachen Ehrlichkeit Wir haben mit wirtschaftlichem Wachstum die Grund- brauchen wir uns dabei sicherlich keine Vorwürfe lage dafür geschaffen, daß im Rahmen von neuen In- vestitionen tatsächlich auch neue umweltverträgli- oder Vorhaltungen von jemandem anzuhören, der - über das Ziel nichts aussagt, der aber auch nicht an chere Techniken eingesetzt werden konnten. Wir ha- irgendeiner Stelle einmal etwas darüber ausgesagt ben bei der Ausstattung der Produktionsanlagen den hat, was er selbst geleistet hat. Anforderungen an den Umweltschutz Rechnung ge- tragen und nicht mehr nur gefragt, welche Filter ge- Im Saarland ist in den letzten fünf Jahren einiges eignet sind, um eine alte Anlage nachträglich auszu- gewachsen; das ist wahr. Die Schulden sind drama- rüsten. Das ist der entscheidende Fortschritt. Dort, wo tisch gewachsen, die Zahl der Ministerien ist gewach- investiert wird, dort wird eben ungleich besser und sen, die Zahl der Staatssekretäre ist gewachsen, aber ungleich unmittelbarer gerade auch Umwelt entlastet was nicht gewachsen ist, meine Damen und Herren, als mit noch so viel Steuermitteln, die nur im nachhin- ist die wirtschaftliche Leistungskraft etwa im ersten ein korrigieren können und nicht im vorhinein Vor- Halbjahr dieses Jahres. Dies ist in der Tat wahr. sorge treffen können. Darum geht es. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Garbe [GRÜNE/Bündnis 90]: Zur Sa che, Schätzchen!) Meine Damen und Herren, es geht eben nicht — auch das muß man immer wieder sagen — um die Deswegen brauchen wir wirtschaftliche Stabilität. Höhe der Steuersätze, sondern es geht um die Höhe Wir brauchen wirtschaftliche Stabilität, damit die zen- der Steuererträge. Wir haben in dieser Legislaturpe- trale Voraussetzung zur Überwindung der deutschen riode gerade durch eine Steuerreform mit sinkenden Teilung auch wirklich eingehalten wird. Eine wirklich Steuersätzen die Steuererträge erhöht. Das war der gewichtige Meldung ist eine Meldung vom Deutschen entscheidende Fortschritt, um den es ging. Institut für Wirtschaftsforschung, die wir heute in der Zeitung lesen können. Dort heißt es nämlich — ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — darf zitieren — : Glos [CDU/CSU]: Das ist der neue Weg, der wirklich neue!) Rekord bei Investitionen in der Bundesrepublik Dadurch war dann hinterher die finanzielle Möglich- Deutschland. So stellt das Deutsche Institut für keit gegeben. Wirtschaftsforschung fest, daß die Investitions- quote, die bis 1982 auf 15,5 % gefallen war, 1990 Nun kommen wir zu der Frage, meine Damen und auf nahezu 19 % gestiegen ist. Im kommenden Herren, der umweltbezogenen marktwirtschaftlichen Jahr sei mit einem weiteren Anstieg der Investi- Anreize: Ich freue mich natürlich, Graf Lambsdorff, tionen im Unternehmensbereich um 5 % zu rech- daß wir in dieser jetzt zu Ende gehenden Legislatur- nen. periode gemeinsam mit der FDP ein neues Abwasser- abgabengesetz gemacht haben. Soweit das Zitat. (Beifall bei der FDP) Diese Investitionen sind die entscheidenden Vor- aussetzungen für die Überwindung der Belastungen, Ich habe viel Grund und viel Anlaß, mich gerade etwa die der real existierende Sozialismus zurückgelassen bei dem Abgeordneten Wolfgramm dafür zu bedan- hat. Das ist die Basis. ken, daß er sehr darauf geachtet hat, daß wir bei die- ser Abwasserabgabe auch die Restverschmutzung mit (Zustimmung bei der CDU/CSU und der berücksichtigen, um damit einen Anreiz zu bekom- FDP) men, daß derjenige, der in Abwasserreinhaltung inve- stiert, auch eine entsprechende Vergünstigung be- Deswegen dürfen wir Ihnen, Graf Lambsdorff, eines kommt. Herzlichen Dank für diese Unterstützung. sagen: Bei Ihrer Entscheidung, die deutsche Einheit ohne Steuererhöhungen weiterzuentwickeln, sind (Zuruf von der CDU/CSU: Aber wir haben Sie nicht allein, sondern Sie haben die CDU/CSU ganz ebenfalls mitgewirkt! — Heiterkeit bei der eindeutig an Ihrer Seite. Dies ist die Aussage des Bun- CDU/CSU) deskanzlers, und das ist auch die Aussage, die ich zu Daß dieses in der Koalition gemeinsam möglich war, wiederholen hier in der Lage bin. ist eine gute Sache. Daß am Ende auch die Sozialde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mokraten zugestimmt haben, wollen wir nicht verges- sen. Meine Damen und Herren, dies ist die zentrale Her- ausforderung auch für die ökologische Seite. Wenn Wenn das so ist, Graf Lambsdorff, dann muß man die Bundesrepublik Deutschland heute — das ist un- doch wirklich fragen: Wenn für den Bereich des Was- strittig — europaweit und weltweit bei der Umwelt- sers eine solche Abwasserabgabe ein sinnvolles, weil vorsorge und bei der Umweltsanierung an der Spitze investitionsauslösendes und nicht irgendwo einen steht, dann deswegen, weil wir acht Jahre wirtschaft- Verschiebebahnhof darstellendes Instrument ist, licher Stabilität mit hohen Investitionen in der Bun- warum sollen wir das Instrument nicht einsetzen, um desrepublik Deutschland hinter uns haben. Im bei einer der zentralen, weltweit herausfordernden Wachstum die Wirtschaft ökologisch neu zu gestalten, Fragestellungen, der des Treibhauseffektes, voranzu- das war die Herausforderung. Dieser Herausforde- kommen? Dies ist unsere Fragestellung. rung haben wir uns gestellt, und wir haben sie bewäl- (Beifall bei der CDU/CSU) tigt. Warum soll es falsch sein, wenn wir im Ordnungsrecht (Beifall bei der CDU/CSU) bestimmte Wirkungsgrade für die Verwendung fossi- 18924 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundesminister Dr. Töpfer ler Energieträger vorlegen, eine Unterschreitung die- sondern die Investitionen für Umweltschutz weiter ser Wirkungsgrade mit einer Abgabe belegen und stabilisiert. den davon freistellen, der investiert, um den Wir- (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch kungsgrad zu erhöhen und damit fossile Energieträ- des Abg. Dr. Graf Lambsdorff [FDP]) ger sinnvoller zu nutzen und die CO2-Belastung zu vermindern? Was ist denn daran so überraschend? Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deutlich hinzufügen: Diese Überlegung ist nicht im Rahmen (Glos [CDU/CSU]: Das ist sehr gut!) der Diskussion um die deutsche Einheit vorangekom- Ich halte es für eine gute Angelegenheit, daß wir da- men, sondern es ging um die Notwendigkeit, im Rah- bei gleichzeitig auf dem Boden des Urteils des Bun- men des Ordnungsrechts unser Ziel 25 bis 30 % weni- desverfassungsgerichts sagen können: Dies ist eine ger CO2 — nebenbei: damit sind wir weltweit an der Abgabe, die eben gruppennützlich für den Zweck ein- Spitze — zu erreichen und auch marktwirtschaftlich gesetzt werden muß, für den sie erhoben wird, abzusichern. (Glos [CDU/CSU]: Sehr gut!) Meine Damen und Herren, die Schweiz und andere also für eine Verbesserung der Wirkungsgrade von haben genau dasselbe Instrument. Wer kann denn fossilen Energieträgern. Dies ist, wie ich meine, eine wirklich auf die Idee kommen, über eine CO2-Abgabe sehr sinnvolle, vernünftige Vorgehensweise. so etwas wie eine Umwegfinanzierung für die Repa- ratur des real existierenden Sozialismus zu sehen? Das (Beifall bei der CDU/CSU) Gegenteil ist der Fall. Wir machen weiter eine Um- Da ich ja nur zu gut weiß, wie außerordentlich enga- weltpolitik, die im Einklang steht mit einer wirtschaft- giert Sie gerade nach solchen Instrumenten auch mit lichen Stabilität, die wir dringend brauchen, damit Ausschau halten, bei denen über den Anreiz markt- eben auch auf Dauer die Herausforderungen der wirtschaftliches Verhalten im Umweltschutz belohnt deutschen Einheit nicht durch neue Steuern finanziert wird, gehe ich davon aus, daß wir uns auch über die- werden müssen. Dies ist der Zusammenhang. sen Weg noch einigen werden, eine CO2-bezogene So meine ich, meine Damen und Herren, daß es eine Abgabe so einzusetzen, daß wir unser herausragen- gute Gelegenheit gewesen ist, in dieser Stunde des des Ziel von bis zu 30 % Minderung bei CO2 auch Parlaments noch einmal deutlich zu machen: Wir wol- wirklich erreichen können. len Anreize für wirtschaftliche Stabilität und für vor- (Beifall bei der CDU/CSU) sorgenden Umweltschutz. Nur so sind die gravieren- den Umwelthypotheken in den neuen fünf Bundes- ländern mit Augenmaß und Sicherheit zum Wohle der Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Minister, gestatten Menschen zu beseitigen. Sie eine Zwischenfrage von Graf Lambsdorff? Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- Dr. Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Natur- neten der FDP) schutz und Reaktorsicherheit: Sehr gerne.

Präsidentin Dr. Süssmuth: Ich erteile dem Abgeord- Dr. Graf Lambsdorff (FDP) : Herr Töpfer, darf ich neten Schäfer das Wort zu einer Kurzintervention. noch einmal darauf aufmerksam machen, daß es mir gar nicht um die Frage geht, für welchen Zweck an welcher Stelle eine Abgabe eingesetzt wird — wenn Schäfer (Offenburg) (SPD): Frau Präsidentin! Meine das umweltpolitisch sinnvoll ist, warum soll man nicht sehr geehrten Damen und Herren! Wir waren nach darüber reden? —, sondern das es mir um die Frage den Diskussionsbeiträgen heute — auch von Herrn geht: Was wird mit den aufkommenden Mitteln getan, Graf Lambsdorff — gespannt, ob jetzt endlich einmal und wird die dadurch entstehende Mehrbelastung an von der Bundesregierung die Höhe der in der Diskus- anderer Stelle kompensiert, bleibt die allgemeine Be- sion befindlichen CO2-Abgabe genannt wird. Wer soll lastung der Bürger unverändert? die CO2-Abgabe zahlen? In welcher Höhe und wann hat die Bundesregierung vor diese CO2-Abgabe zu erheben? Leider hat der Bundesumweltminister diese Dr. Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Natur- Chance vertan. schutz und Reaktorsicherheit: Ich bin außerordentlich (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU) dankbar, Graf Lambsdorff, daß Sie das noch einmal auf diesen Punkt hin formuliert haben. Bei dem, was Die Wahrheit ist: Am 15. November — es ist wenige wir vorgelegt haben, ist diese Forderung nun wirklich Tage her — hat die Bundesregierung geantwortet, es zu 100 % erfüllt. stehe noch nicht fest, in welcher Höhe die CO2-Ab- gabe erhoben werde und ob die Bundesregierung den (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Dann ist es ja Weg einer Klimaschutzsteuer oder einer CO2-Abgabe gut!) gehen werde. Was jetzt not tut, ist Wahrheit und Klar- Sie ist nämlich dadurch erfüllt, daß erstens derjenige, heit. Leider ist auch der Bundesumweltminister in ei- der investiert, überhaupt keine Abgabe zahlt und daß ner zentralen Frage der Umweltpolitik hier diesem zweitens diese Mittel nicht in einen allgemeinen Dek- Hohen Hause und der Öffentlichkeit schuldig geblie- kungshaushalt eingesetzt werden, sondern aus- ben, für Wahrheit und Klarheit zu sorgen. schließlich für diesen Zweck. Das ist, glaube ich, eine (Beifall bei der SPD — Pfeffermann [CDU/ wichtige, eine sinnvolle Sache, die die Staatsquote CSU]: Wie hätten Sie es den gern? Sagen Sie nicht erhöht, doch mal eine Zahl! — Zuruf von der SPD: (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Doch!) Antwortet jetzt Herr Töpfer?) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18925

Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Bundesminister, und dann noch den Anspruch erhebt, Lobby der Ren- wollen Sie antworten? — Nein. tenkassen zu werden, dann kann es natürlich nur für die enttäuschten Rentner und Rentnerinnen sein, de- - (Bohl [CDU/CSU]: Das ist keine Antwort nen wir wirklich zurufen: Vertraut noch einmal, geht wert! — Zuruf von den GRÜNEN/Bünd zur Wahl! — Schämen Sie sich alle gar nicht, daß fast nis 90: Er hat gar nicht zugehört! — Jahn 30 % der Menschen nicht mehr zur Wahl gehen? Das [Marburg] [SPD]: Herr Töpfer schwätzt! — muß doch irgendeinen Hintergrund haben. Weitere Zurufe von der SPD und Gegenrufe von der CDU/CSU) (Frau Würfel [FDP]: Frau Unruh, es reicht!) Das Wort hat dann die Abgeordnete Frau Unruh. Diesen Hintergrund, den haben wir Alten. — Verzei- chen Sie, Sie gehören doch noch gar nicht zu den Alten. — (Feilcke [CDU/CSU]: So alt sind Sie doch Frau Unruh (fraktionslos): Frau Präsidentin! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Ob ich ein auch noch nicht!) Höhepunkt bin, das weiß ich nicht zu beurteilen; aber Wir mit unseren Lebenserfahrungen, wir haben es daß die Grauen der Höhepunkt im nächsten Bundes- doch gespürt: Es gibt hier keine Mindestrente. Oder tag sein werden, das weiß ich zu beurteilen. gibt es eine? — So. (Heiterkeit) Auch die Alten in der Ex-DDR haben natürlich eine Und eines habe ich in dieser Debatte doch festge- Mindestrente verdient, mit Recht, und zwar von dem stellt: eine Bevölkerungsgruppe hat keine Lobby in Volksvermögen, das diese Alten geschaffen haben. diesem Deutschen Bundestag. Die Urkunde ist in eine Mindestrente oder, wie man sagen könnte, in eine Intelligenzrente umzusetzen. Ist (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind ein grauer es nicht hochintelligent, nach dem Zweiten Weltkrieg Star!) überlebt zu haben? Überlegen Sie sich doch einmal: Wir werden uns ganz energisch dagegen wehren, daß Was bedeutet denn Intelligenz? z. B. die Rentenkassen wieder einmal zur Plünderung (Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Sie hal- anstehen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß die kleinen ten hier doch keine Wahlrede?) Rentner und Rentnerinnen aus der Pflichtversicher- tenkasse bluten müssen. Darin waren sich CDU/CSU Eins darf sich im Deutschen Bundestag natürlich und FDP und — man höre und staune — seit Ehren- nicht wiederholen: daß CDU-Abgeordnete während bergs Zeiten auch die SPD einig. Sie waren sich so einer heißen Debatte rausgehen und sagen: Was küm- einig, weil Sie ja Hunderte von Milliarden aus diesen mert mich das? Gehen wir lieber einen trinken! — Rentenkassen entnommen haben. Sie haben diese Dafür gibt es die Diäten nicht, meine Herren der kleinen Rentner um 25 % abdynamisiert. Sie waren CDU. sich so sicher und so einig, daß selbst die Sozialdemo- (Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Was? Ich kraten im August vorigen Jahres einen Renten-Deal bin doch kein Trinker!) mit ihnen gemacht haben. Und — Schlußsatz — : Überlegen Sie sich einmal, Also, es gibt kein Stück Lobby für die Renten, die was es bedeutet, in unserer Gesellschaft unkündbar bei uns am niedrigsten sind: vierzig Jahre Erwerbstä- zu sein — unkündbar! Wen muß man als Lobby dann tigkeit und, wenn es hoch kommt, 1 400 Mark Rente. haben, Was haben Sie denn da angestellt! Anstatt 30 Milliar- den für die Finanzierung der Arbeitlosenversicherung (Frau Würfel [FDP]: Die FDP!) in der Ex-DDR zu riskieren, zahlen Sie doch einmal damit die Unkündbarkeit unserer Beamten endlich eine 13. Weihnachtsrente für diese kleinen Rentner. anders geregelt wird? Oder wir werden alle unkünd- Geben Sie, Sozialdemokraten, doch eine einmalige bar, ein sozial gerechtes System. Abfindung für die kleinen Rentner, die ihr so geschä- digt habt im Laufe der vierzig Jahre; nein, nicht vier- In diesem Sinne: Wähler und Wählerinnen, wählt zig, es läuft erst seit 1952. Da sind die ersten Renten die Grauen! geklaut worden — es sind ja eigentlich Renten — zum (Glos [CDU/CSU]: Das ist ja grauenvoll! — Aufbau einer Rüstung — 1952! Und stellen Sie sich Weitere Zurufe von der CDU/CSU) einmal vor, Graf Lambsdorff: Ohne Zinsen ist das aus der Kasse genommen worden. (Zuruf von der CDU/CSU: Na so was! — Wei tere Zurufe von der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Bun- desminister Dr. Blüm. Es ist auch nicht wieder reingelegt worden, schon gar nicht mit Zinsen. So, und jetzt kommt doch ein Punkt: Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- (Dr. Rose [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Hö nung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! hepunkt!) Ich wollte noch ein paar Sätze zu den Bemerkungen Wenn eine neue Partei antritt — für wen tritt sie denn des Kanzlerkandidaten Lafontaine sagen. an? — Ich finde, er hat den Wahlkampf konsequent ge- (Glos [CDU/CSU]: Für Trude Unruh!) führt. Er hat ihn so beendet, wie er ihn begonnen hat: 18926 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Bundesminister Dr. Blüm mit Angst, Neid, Verdächtigungen und Verdrehun- senkung würde die Rücklage im nächsten Jahr auf gen. 42 Milliarden DM steigen; das wären drei Monatsaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — gaben. Da entsteht die Frage, ob man nicht einen Pro-- zentpunkt des Beitrags an die Beitragszahler zurück- Widerspruch bei der SPD) geben kann. Das ist kein Griff in die Rentenkasse; Der historischen Stunde, den historischen Themen ist (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Doch! — Wei- er nicht gerecht geworden. terer Zuruf von der SPD: Sagt doch einmal (Zustimmung bei der CDU/CSU) die Wahrheit!) Freiheit, Einheit, Frieden — dazu hat er auch heute das ist ein ausgewogenes Konzept. nachmittag nichts zu sagen gewußt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Widerspruch bei der SPD) Er gebärdet sich als der Chefbuchhalter einer Einheit, — Schreien Sie doch nicht pausenlos! Sie haben doch mit der er sich nie befreunden konnte. im Juni diesen Vorschlag gemacht. Man wird sich doch an Vorschläge anhängen dürfen, die Sie selber Aber, meine Damen und Herren, ich will Ihnen noch gemacht haben. einmal etwas zu diesen ganzen Kosten-Debatten sa- gen: In der ehemaligen DDR haben sie alles berechnet (Zuruf von der SPD: Man muß aber doch die — und nichts hat gestimmt. ganze Wahrheit sagen und nicht nur die halbe!) (Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Meine Damen und Herren, wenn es um den Griff in hat so gut wie nichts berechnet — und die Rentenkasse geht: In Kürzungen des Bundeszu- trotzdem hat die Soziale Marktwirtschaft geklappt. schusses ist die SPD deutscher Meister. Die größte (Beifall bei der CDU/CSU) Kürzung des Bundeszuschusses, 3,5 Milliarden DM im Jahre 1981, war ein Griff in die Rentenkasse. Das ist der Unterschied! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bleibe dabei: Mir kommt es so vor, wie wenn bei einem großen Hochzeitsfest ein alter, verknöcherter Onkel dauernd sagt: Aber die Kinder werden teuer! — Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Minister Blüm, ge- Mein Gott, wir freuen uns über die deutsche Einheit, statten Sie eine Zwischenfrage? und wir werden es auch schaffen, die deutsche Einheit zu finanzieren. Daran wird sie nicht scheitern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- nung: Nein, ich stelle im Zusammenhang dar. Und jetzt zur Rente — deswegen habe ich mich ge- meldet — : Griff in die Rentenkasse wegen einer dis- Von 1970 an wurde mit fast 6 Milliarden DM in die kutierten Beitragssenkung. Sie, Ihre Fraktion, haben Rentenkasse gegriffen. Nein, meine Damen und Her- doch am 5. Juni eine Beitragssenkung vorgeschla- ren, das ist eine Politik „Haltet den Dieb!" , die von den gen. eigenen Schwächen ablenken will. Ich sage den Rentnern: Sie können sich auf uns ver- (Beifall bei der FDP) lassen. Was hat der Kanzlerkandidat damals dazu gesagt? Ich (Zuruf von der SPD: Das glaubt Ihnen doch war damals vorsichtiger und habe gemeint: Erst muß keiner mehr!) die Entwicklung abgewartet werden. Wir haben Ihre Rente wieder sicher gemacht. So, wie Beitragssenkungen gibt es aber doch nicht zum er- unser Rentensystem in Westdeutschland funktioniert sten Mal in der Rentenversicherung. Sie selbst haben hat, soll es auch in den neuen fünf Bundesländern 1980 eine durchgeführt. funktionieren. Wir haben die Rente bereits mit der (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Eine Verschie Sozialunion um 30 % angehoben. Sie wird ab 1. Ja- bung, aber keine Senkung!) nuar noch mal um 15 % erhöht. Wären die Renten nicht im Verhältnis 1 : 1, was Ihr Kanzlerkandidat kri- Ich wende mich an die Rentner. Beitragssenkungen tisiert hat, sondern im Verhältnis 2 : 1 umgestellt wor- gefährden nicht die Rentensicherung. Die Höhe des den, hätten Sie bei einer fünfprozentigen Rentenerhö- Beitragssatzes entscheidet nicht über die Höhe der hung zehn Jahre warten müssen, um da zu sein, wo Renten. Liebe Rentner, laßt euch nicht von den Angst- wir heute sind. machern vor den Karren spannen! Wir haben Eure Rente wieder sicher gemacht. Nein, Lafontaine eignet sich nicht für eine solide Rentenpolitik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- Wie kann ich mir von der SPD etwas vorwerfen las- neten der FDP) sen? Was war denn die Rentenpolitik der SPD? Es war eine Rutschpartie der Rücklagen: Von 44 Milliarden Mit Lafontaine ist weder die Einheit noch Sozialpolitik DM im Jahre 1974 waren Sie im Jahre 1982 bei zu machen. Wir wenden das Elend des Sozialismus zu 20,5 Milliarden DM angekommen. Jetzt steigen die Wohlstand in ganz Deutschland. Dazu lade ich ein. Rücklagen. Die Rutschbahn-Meister machen uns Vor- Der neue Weg Lafontaines ist die alte Sackgasse. würfe, die wir die Rücklagen erhöhen. Wir sind jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — bei 33 Milliarden DM angekommen. Ohne Beitrags- Widerspruch bei der SPD) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18927

Präsidentin Dr. Süssmuth: Zu einer Kurzinterven- Präsidentin Dr. Süssmuth: Es erfolgt die Antwort tion hat der Abgeordnete Dreßler das Wort. des Herrn Bundesministers. (Pfeffermann [CDU/CSU]: Wieviel Kurzin - terventionen machen die heute eigentlich?) Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- nung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe im Mai die Wahrheit gesagt, und ich sage sie (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Dreßler im November auch: Die Anschubfinanzierung er- Herren! Mit diesen Feststellungen, die der Bundesar- folgte aus Steuermitteln. beitsminister heute wieder gemacht hat, hat er bereits im April versucht, in Nordrhein-Westfalen Stimmung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu machen. Er landete bei 36 %. Eine Beitragssenkung ist kein Griff in die Renten- (Zuruf von der CDU/CSU: Ihr wärt froh, kasse. Ich zitiere jetzt den Hauptgeschäftsführer des wenn ihr die kriegen würdet!) Verbands der Deutschen Rentenversicherungsträger, Herrn Kolb: „Die Beiträge werden dort erhöht, wo Deshalb folgende drei Feststellungen: höhere Kosten anfallen, und dort gesenkt, wo höhere Erstens. Oskar Lafontaine hat seinen Wahlkampf so Rücklagen dies gestatten. Dies ist systemgerecht. " begonnen, wie er ihn beenden wird: mit harten Fak- Ich schließe mich dem an. Damals war das richtig, ten, einem soliden Programm zur Lösung der Pro- und heute ist es auch richtig. bleme und dem Mut, vor der Wahl die Wahrheit zu sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD) Zweitens. Ein Bundessozialminister ist auch so et- Präsidentin Dr. Süssmuth: Nun eine Kurzinterven- was wie ein treuhänderischer Verwalter von Sozial- tion von Herrn Cronenberg. versicherungsbeiträgen. Drittens. Diese treuhänderische Verwaltung hat Cronenberg (Arnsberg) (FDP): Frau Präsidentin! den Bundesarbeitsminister am 17. Mai 1990 mit fol- Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Ver- gender Presseerklärung seines Hauses vor die Öffent- ständnis dafür, wenn Wahlkampf gemacht wird. Aber lichkeit treten lassen — ich zitiere — : ich habe kein Verständnis dafür, wenn das auf dem Die Anschubhilfe für den Aufbau einer vergleich- Buckel der Rentner ausgetragen wird, indem man baren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine ge- Verwirrung stiftet. samtstaatliche Aufgabe und darf nicht den Bei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie tragszahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet bei der SPD) werden. Hier wird bewußt Verwirrung gestiftet. Tatsache ist, (Hört! Hört! bei der SPD) daß die Sozialdemokraten einen Antrag gestellt ha- Herr Blüm erklärte weiter: ben, die Rentenversicherungsbeiträge um 0,7 % zu Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln. Diesen senken. Tatsache ist, daß dieses konsequent war ent- Standpunkt habe ich immer vertreten, und es gibt sprechend dem, was wir gemeinsam zur Rentenstruk- keinen Zweifel, daß dies die Position der gesam- turreform vereinbart hatten, nämlich die Beiträge ten Bundesregierung und der Koalition in Bonn dann zu senken, wenn keine Notwendigkeit mehr für ist. solche hohen Beiträge vorhanden ist. Insofern war die Entscheidung richtig und konsequent. Nachdem sich Das war am 17. Mai. die Beschäftigungssituation so verbessert hat, konnte Daraufhin hat die SPD, weil sie ihm schon damals man noch um 0,3 % über den sozialdemokratischen mißtraute, eine Senkung der Rentenversicherungs- Antrag hinausgehen und die Beitragssenkung auf 1 beiträge verlangt, damit der Juckreiz von Herrn Blüm erhöhen. Ich meine, das sollte hier jetzt nicht zerredet und Herrn Waigel, in die Kassen zu greifen, nicht jetzt werden. Dies war das Ergebnis der gemeinsamen im November zu entsprechenden Handlungen führt. Rentenstrukturreform. Damals hat er uns beschimpft, weil wir die Senkung Diese Entlastung der Beitragszahler in der Renten- verlangt haben. Heute senkt er hier die Beiträge, hebt versicherung sollte von den Sozialdemokraten be- aber die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung an grüßt werden. und macht damit die bis 1998 vorgesehene Beitrags- (Dreßler [SPD]: Das ist ein Verschiebebahn- satzstabilität in der Rentenversicherung bis 1993 auf hof!) dem Verkürzungsweg unsicher. Die Beitragszahler in der Rentenversicherung müssen ab 1993 die Zeche Es ist nicht so, daß aus einer Kasse, nämlich der Ren- zahlen, die Sie heute mit diesem Beschluß hier ver- tenversicherungskasse, auch nur eine müde Mark ge- kündet haben. nommen wird. (Beifall bei der SPD) (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Aber aus den Bei- trägen!) Herr Blüm, Sie haben im Mai ausweislich dieses Papiers aus Ihrem Hause die Unwahrheit gesagt. Es ist Unsinn, wenn das hier behauptet wird. Warum sollte man jemandem, der das im Mai getan (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hat, im November, nur wenige Monate später, Tatsache ist, daß die Finanzierung der Arbeitslo- trauen? senversicherung systemgerecht durch Beiträge er- (Beifall bei der SPD) folgt. Auch dieses ist vernünftig und richtig. 18928 Deutscher Bundestag — 11. Wahlpe riode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Cronenberg (Arnsberg) In diesem Sinne bitte ich, doch den Unsinn sein zu ferenziertes Medienecho. Es ist nun mal ein grober lassen, hier von einem Verschiebebahnhof zu reden, handwerklicher Fehler, den Bürgerinnen und Bürgern da doch systemgerecht gehandelt wird. über Monate einzureden, die Deutsche Einheit werde- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht durch Steuererhöhungen finanziert, obwohl man vom Gegenteil ausgehen mußte, und dann knapp 14 Tage vor dem Wahltermin laut über eine Erhöhung Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Abgeordneter Hoss der Abgaben eben dieser Bürgerinnen und Bürger als letzter zur Inte rvention. nachzudenken, obwohl diese Informationen schon seit mindestens drei Monaten vorgelegen haben müs- Hoss (GRÜNE/Bündnis 90): Frau Präsidentin! sen. Meine Damen und Herren! Wenn wir die Sache aus Wenn man die Bürger schon belügt, dann kann man dem Wahlkampf heraushalten wollen, möchte ich Ihre doch nicht 14 Tage vor dem Wahltermin anfangen, die Aufmerksamkeit auf diejenigen Rentner lenken, die Wahrheit auszuplaudern. Handwerklich, wie schon bei der ganzen Rentenfrage am schlechtesten daste- dargestellt, nicht lege artis. Der Bundeskanzler hätte hen. Zu sehen ist das an der Rentenerhöhung, die für nach seiner bisherigen Logik in der Tat besser daran die Rentner in der ehemaligen DDR hier in diesem getan, mit dieser Information bis nach den Wahlen zu Bundestag beschlossen worden ist. Dabei ist man warten. Hier brach offensichtlich das Naturell unseres zweigleisig verfahren: Man hat diejenigen Rentner, Kanzlers, der alte und in vielen Situationen erprobte die die geringsten Renten bekommen, die dafür als Tolpatschstil, durch. Ausgleich einen Sozialzuschlag erhalten, von der Er- höhung dieses Sozialzuschlags ausgenommen. Wenn Tolpatschig ist allerdings in keinster Weise, daß er ich von dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit ausgehe, sich auch heute der direkten Auseinandersetzung mit finde ich dieses Vorgehen unerhört. dem Kanzlerkandidaten Lafontaine entzogen hat. Daß sich in der Rentenkasse Geld angesammelt hat, Eine weitere Notlüge soll dem Wahlvolk die bittere wird ja nicht bestritten, Herr Blüm. Es geht um die Pille erleichtern: Nein, keine Steuern, sondern Abga- Frage: Wofür wird das Geld verwendet? ben wird's geben. Eine laienhafte Sprachregelung! (Zustimmung bei den GRÜNEN/Bünd Vielleicht hat der Bundeskanzler tatsächlich nicht ge- nis 90) wußt, daß die Steuer zu den klassischen Abgabenar- ten zählt. Schon ein kurzer Blick in den Duden hätte Sie verwenden das Geld dafür, einerseits in der Ren- ihm aber die unnötigen Belehrungen seitens der ver- tenversicherung den Beitrag zu senken, während Sie schiedenen Pressekommentatoren ob seiner nicht gleichzeitig den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung erhöhen. Ich meine, der Schwindel besteht darin, daß sonderlich durchdachten Äußerung erspart. dieses Geld nicht dazu verwendet wird, den Rentnern Der Bundeskanzler wird auch nicht ernsthaft erwar- mit geringen Renten das zu geben, was ihnen zu- ten, daß die mitdenkenden Staatsbürger annehmen, steht. daß er erst am vergangenen Wochenende plötzlich (Zustimmung bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und für ihn völlig unerwartet über die desolate Fi- und der SPD) nanzlage informiert wurde. Diese Informationen ha- ben ihm spätestens Anfang September dieses Jahres Herr Blüm, da Sie sich immer mit dem Mäntelchen vorgelegen oder vorliegen müssen. des Sozialen ausstaffieren, hätte ich von Ihnen erwar- tet, daß Sie gerade an diese Menschen denken, die es Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern: am nötigsten brauchen, nicht an Ihre Rechenkunst- Der Zeitplan des Bundestags sah vor, in der ersten stückchen und Taschenspielertricks. Sitzungwoche nach der Sommerpause, also Anfang (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und September, die Beratung des Bundeshaushalts 1991 der SPD) durchzuführen. Aber auch wenn der Bundeskanzler jetzt endlich Präsidentin Dr. Süssmuth: Als letzter Redner in der öffentlich eingesteht, daß über Abgabenerhöhungen heutigen Debatte hat das Wort der Abgeordnete Wüp- und damit natürlich auch Steuererhöhungen zu reden pesahl. sein wird, befreit ihn dies nicht vom Vorwurf der Steu- erlüge. Wer seit Monaten bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit verspricht, es werde zur Wüppesahl (fraktionslos): Sehr geehrte Frau Präsi- Finanzierung der deutschen Einheit keine Steuerer- dentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- höhung geben, gleichzeitig aber offen läßt, ob bzw. gen! Das einzige, was für den 2. Dezember sicher und inwieweit die Steuern aus anderen Gründen angeho- heute schon prognostizierbar ist, ist ben werden, muß angesichts der Tatsache, daß es der (Bohl [CDU/CSU]: Das Sie nicht mehr ge Bundesregierung ohnehin nicht möglich sein wird, wählt werden!) nachzuweisen, welche Ausgaben durch die beabsich- daß der Anteil der Nichtwähler noch mal erheblich tigten Steuererhöhungen gedeckt werden, sich den angewachsen sein wird, nicht zuletzt durch den heu- Vorwurf der Lüge gefallen lassen. tigen Debattenbeitrag als Grundlage für solch ein Die Bundesregierung und die sie tragenden Frak- Wählerverhalten. tionen haben bei ihrer Logik allerdings nicht berück- Mit der Ankündigung, es werde in der nächsten sichtigt, daß die führenden Wirtschaftsinstitute schon Legislaturperiode nötig sein, über eine Erhöhung der frühzeitig darauf hingewiesen haben, daß eine vorei- Abgaben zu reden, erntete der Bundeskanzler die lige und überstürzte Vereinigung der beiden deut- ungeteilte Häme des Grafen Lambsdorff und ein dif schen Staaten zu weit höheren Kosten führen wird als Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18929

Wüppesahl ein behutsames Zusammenwachsen. Eine langsa- Bereits während der Sondersitzung in der Sommer- mere Gangart hätte hier eine billigere Finanzsituation pause hätte die Bundesregierung dem Deutschen mit sich gebracht. Bundestag von dieser Stelle aus Rede und Antwort zur finanziellen Situation der Bundesrepublik Deutsch- Halten wir an dieser Stelle eine Rückschau auf die land im Jahre 1991 stehen müssen, und sie hätte es Äußerungen, die über die Kosten der deutschen Ein- auch können. heit gemacht wurden: Ende des vergangenen Jahres war von der Regierung zu hören, die Kosten der Ein- Wie verhält sich aber die SPD bei dieser grundle- heit ließen sich aus der Portokasse bestreiten. Man genden Diskussion? Von mir wurde noch in der letz- muß sich das noch mal vergegenwärtigen: Aus der ten Woche, am 15. November, kritisiert, daß der von Portokasse! der Bundesregierung als Kassensturz angekündigte, Im Frühjahr dieses Jahres wurden die Kosten mit vorgelegte Eckdatenentwurf des Haushaltes 91 einen dem Hinweis, die DDR sei schließlich kleiner als schlechten Referentenentwurf des Bundesfinanzmini- Nordrhein-Westfalen, verniedlicht. Nur wenig später sters darstellt. Statt meinem Tagesordnungsaufset- versuchte die Bundesregierung, die Akzeptanz der zungsantrag zur Sondersitzung vor einer Woche zuzu- Einheit mit dem Hinweis zu erhöhen, daß die EG stimmen und schon zum damaligen Zeitpunkt eine keine und die Bundesländer nur sehr beschränkt Fi- Debatte über die finanziellen Kosten der deutschen nanzmittel zur deutschen Einheit werden beitragen Einheit für die Gebietskörperschaften und die Bürge- müssen. Heute sollen die Bundesländer zusätzlich rinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland zahlen. Die Salamitaktik ist offensichtlich, obwohl zu führen, hatte die SPD nichts Besseres zu tun, als man von Anfang an gewußt hat, daß die Kosten im- gemeinsam mit den Regierungsfraktionen diesen An- mens sein werden. trag vom Tisch zu wischen. Dies war eine Einschät- zung, die heute auch die SPD teilt. Welch ein Sinnes- Im späten Frühjahr begann endlich die SPD in der wandel innerhalb von acht Tagen! Person des jetzigen Kanzlerkandidaten Oskar Lafon- taine, der Bundesregierung konkrete Fragen nach (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Dummes den Kosten der Einheit zu stellen. Von der Bundesre- Zeug!) gierung war lediglich die Frage zu hören, ob die SPD die Einheit an den Kosten scheitern lassen wolle. Das Daß die SPD in der Sondersitzung noch am 15. No- allerdings reichte bereits bei dieser SPD, sie gleich vember kein Interesse zeigte, die Kosten der deut- mehrere Schritte rückwärts gehen zu lassen: Man schen Einheit zu diskutieren und zum selben Thema wolle die deutsche Einheit nicht behindern. am 17. November eine Sondersitzung beantragt, zwei Tage später also, zeigt, in welcher Verfassung sich In diesen Zusammenhang ist es sicherlich der tak- diese Partei derzeit befindet. Da nimmt es auch nicht tisch größte Fehler der SPD gewesen, daß sie sich dar- wunder, wenn aus Ihren eigenen Reihen die Kronzeu- auf eingelassen hat, den Wahltag auf den 2. Dezem- gen von der Regierung süffisant bemüht werden kön- ber zu legen und nicht in Verbindung mit ihrer Zu- nen, wie Hans Apel oder Helmut Schmidt. stimmung zum Einigungsvertrag den 13. Januar aus- gewählt hat. Denn wenn der Bundeskanzler unter Auch sei daran erinnert, daß diese SPD allen von der dem öffentlichen Druck zwei Wochen vor dem 2. De- Bundesregierung mit der damaligen DDR ausgehan- zember zusammenbricht und ankündigt, es wird Ab- delten Staatsverträgen zugestimmt und daß die SPD gaben- und Steuererhöhungen geben müssen, dann wider ihren Möglichkeiten das Tempo der Beratun- ist sicherlich klar, daß dieser fünfwöchige Zeitgewinn gen dieser Staatsverträge durch den Deutschen Bun- — Wahltermin 13. Januar — nicht nur deshalb die destag nicht auf ein vernünftiges Maß reduziert hat. Wahlchancen des Kanzlerkandidaten Lafontaine er- Ein weiteres interessantes Thema ist die Verwen- höht hätte, sondern vor allen Dingen auch, weil die dung der Erlöse der Treuhandanstalt. Im sogenannten ganzen Puffermaßnahmen im sozialen Bereich in der Einigungsvertrag wurde festgelegt — Interessierte DDR, Warteschleifen im öffentlichen Dienst etc., bei können dies in Art. 25 Abs. 3 nachlesen —, daß die Großentlassungen ab 1. Januar nächsten Jahres, voll Erlöse der Treuhandanstalt vorrangig für die Struktur- zur Geltung gekommen wären. Diese Tatsachen hät- anpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des ten sich natürlich in das Wahlverhalten umgeschla- Staatshaushalts der DDR zu nutzen sind. Diese Rege- gen. lung wirft eine Reihe von Fragen auf: Was ist unter In der Sommerpause gab es die ersten Bet riebsun- dem Begriff „vorrangig" zu verstehen? Wie wird über- fälle der Bundesregierung. Kohl ließ am sonnigen prüft, ob die Erlöse der Treuhandanstalt — bekannter- Wolfgangsee in einem Interview die Möglichkeit von maßen ist die Bundesregierung faktisch die Treu- Steuererhöhungen durchblicken. Die Sprachregelung hand — vorrangig für diese Ziele verwendet werden? lautet jetzt plötzlich seit einigen Wochen: keine Steu- Ist die Bundesregierung überhaupt verpflichtet, die- ererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Ein- sen Beweis zu führen? Steht dem nicht sogar der in § 8 heit. Allerdings legte sich Helmut Kohl auf einigen Satz 1 Bundeshaushaltsordnung definierte Grundsatz Wahlveranstaltungen, so in dem einstündigen Fern- der Gesamtdeckung entgegen? Der Bundeskanzler sehinterview der ARD vor neun Tagen, doch fest, daß und auch der Bundesfinanzminister haben in der Eile es keine Steuererhöhungen geben werde. der Erarbeitung und der Verabschiedung dieses Ver- tragswerkes bedauerlicherweise versäumt, eine den (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wie § 8 Satz 2 und § 17 Abs. 3 Bundeshaushaltsordnung fanden Sie ihn?) entsprechende Ausnahmeregelung zu schaffen, oder Ein weiterer Grund, weshalb man von Steuerlüge wei- bewußt die definitive Zweckbindung dieser Mittel ter sprechen muß. nicht im dritten Staatsvertrag verankert. 18930 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Wüppesahl Welche Maßnahmen für die Strukturanpassung der Ich rufe zunächst den Abgeordneten Herrn Ullmann Wirtschaft sind denn hier gemeint? Bedeutet diese für eine Erklärung außerhalb der Tagesordnung nach Formulierung, daß aus den Erlösen der Treuhandan- § 32 der Geschäftsordnung auf. - stalt — hierbei handelt es sich um das volkseigene Vermögen der Bevölkerung der neuen fünf Bundes- Dr. Ullmann (GRÜNE/Bündnis 90): Frau Präsiden- länder — die Subventionen und die Steuergeschenke tin! Meine Damen und Herren! In der 230. Bundes- an die altdeutschen Großunternehmen finanziert wer- tagssitzung am 24. Oktober 1990 habe ich folgendes den sollen? Hat die Bundesregierung dies als Anfor- gesagt: derung zu verstehen, den Staatshaushalt erst durch Überschuldung zu ruinieren, damit dieser dann aus Ich bin einfach über die Art und Weise erschrok- den Erlösen der Treuhandanstalt wieder saniert wer- ken, wie Herrn Seifert heute von Staatssekretär den kann? Ist sich die Bundesregierung eigentlich Wimmer geantwortet worden ist. Wenn wir die- darüber im klaren, wie fragwürdig die Behandlung sen Stil unter uns nicht abschaffen, dann werden des Haushalts für 1991 unter verfassungsrechtlichen wir auch das Mißtrauen, das ich gerne aus mei- Maßstäben ist? Ich bezweifle dies sehr. nem Herzen los sein möchte, nicht loswerden können. Ich bitte sehr darum, daß wir diesen Stil Zusätzlich stellt sich natürlich die Frage, inwieweit beseitigen. sich die beabsichtigte oder zum Teil bereits im Gang befindliche Verschleuderung und Verscherbelung Herr Staatssekretär Wimmer hat mich b rieflich wis- des Volkseigentums der Bürgerinnen und Bürger der sen lassen, daß er sich gegen solche Vorwürfe ver- ehemaligen DDR von dem so sehr kritisierten und wahre, da es zwischen ihm und dem Kollegen Dr. Sei- sogar als kriminell titulierten Finanzgebaren der PDS fert keinen Wortwechsel gegeben habe. Er bitte mich unterscheidet. um Richtigstellung meiner Aussage. Ich komme dieser Bitte hiermit nach und erkläre folgendes: Präsidentin Dr. Süssmuth: Ihre Redezeit ist been- Erstens. Die Nennung von Herrn Staatssekretär det, Herr Wüppesahl. Wimmer in meinem Redebeitrag beruht auf einem durch eine Fehlinformation veranlaßten Irrtum. Ich bedaure diesen Irrtum und möchte mich bei Herrn Wüppesahl (fraktionslos): Ich wünsche mir jeden- Wimmer entschuldigen. falls für eine bessere Umsetzung der Werte unseres Zweitens. Ich kann den Wunsch verstehen, in die- Grundgesetzes die Ablösung dieser Regierung, so we- sem Zusammenhang öffentlich nicht genannt zu wer- nig optimistisch ich auch einem Bundeskanzler Lafon- den; denn die in meinem Redebeitrag geäußerte Kri- taine entgegensehen würde. tik muß ich vollinhaltlich aufrechterhalten, freilich mit Ich danke für die Aufmerksamkeit. der Bemerkung, daß ihr Adressat laut Protokoll der (Zurufe von der CDU/CSU: Der PDS-Kandi genannten Sitzung der Herr Parlamentarische Staats- dat! — Das ist der Mann, den nicht mal die sekretär Vogt beim Bundesminister für Arbeit und PDS gewollt hat!) Sozialordnung ist. — Ich danke Ihnen. (Beifall bei den GRÜNEN/Bündnis 90 und bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der Präsidentin Dr. Süssmuth: Meine Damen und Her- CDU/CSU: Das mußte aber gesagt wer- ren, ich schließe die Aussprache und komme zu den den!) Entschließungsanträgen. Die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD Präsidentin Dr. Süssmuth: Zu einer Erklärung, auf Drucksache 11/8463 und der Fraktion DIE GRÜ- ebenfalls nach § 32 der Geschäftsordnung, Herr Pro- NEN/Bündnis 90 auf Drucksache 11/8469 sollen an fessor Heuer! den Finanzausschuß und den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Dr. Heuer (Gruppe der PDS): Frau Präsidentin! (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE/Bünd Meine Damen und Herren! Ich möchte zu einem Er- nis 90] : Das ist doch ein Hohn! Die tagen lebnis vom gestrigen Tage, das mich erschüttert hat, nicht mehr!) eine persönliche Erklärung abgeben. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Am Abend fand auf dem Augustusplatz in Dresden schlossen. eine Wahlversammlung der PDS in Anwesenheit von Ich teile Ihnen mit, daß die heute morgen zusätzlich statt. Eine Gruppe von 50 bis 100 Perso- auf die Tagesordnung gesetzte Beratung des Antrags nen rief minutenlang: Jude raus! — Ich hoffe, daß das der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Druck- Haus mit mir der Auffassung ist, daß eine solche Form sache 11/8468 betreffend Entsendung von Beobach- politischer Auseinandersetzung immer unwürdig war, tern in das Europäische Parlament interfraktionell ein- nach Auschwitz aber in Deutschland unerträglich ist vernehmlich abgesetzt worden ist. und von uns allen verurteilt werden sollte. Ich möchte Sie jetzt bitten, noch ein paar Minuten (Beifall bei der Gruppe der PDS und bei Ab- auszuharren, a) weil es zwei Erklärungen außerhalb geordneten aller Fraktionen — Pfeffermann der Tagesordnung gibt und b) weil ich gern jene Ab- [CDU/CSU]: Was hat denn das mit dem Bun- geordneten, die nicht wieder kandidieren, trotz dieser destag zu tun? — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Wir Debatte heute so verabschieden möchte, daß es seine nehmen demnächst zu jeder Wahlversamm- Form hat. lung hier Stellung und geben persönliche Er- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18931

Dr. Heuer klärungen ab! — Bohl [CDU/CSU]: Dann Viele, die dem Bundestag angehört haben, werden bringen wir jede Verunglimpfung des Bun nicht mehr zu den Mitgliedern des 12. Bundestages deskanzlers hier zur Sprache! — Pfeffermann zählen. 161 Mitglieder kandidieren am 2. Dezember- [CDU/CSU]: Mit dem Bundestag hat das nur nicht mehr. Ich kann hier nicht alle persönlich würdi- zu tun, daß der Herr Gysi heute hier geredet gen, sondern tue dies bei einigen stellvertretend für hat! — Unruhe) alle. Ich nenne als Mitglied, das dem Bundestag seit 1949 ununterbrochen angehörte, Richard Stücklen, der uns verläßt. Präsidentin Dr. Süssmuth: Ich darf sagen: Auch hier (Beifall) ist noch zu lernen. Es ist eine Erklärung nach § 32 der Neben einem Regierungsamt hat er als Präsident und Geschäftsordnung angemeldet worden, und die ha- als Vizepräsident für unser Haus gewirkt. Wir schul- ben wir zunächst zu hören. den ihm Dank und sagen ihm dies heute noch einmal Ich möchte am Ende der heutigen Sitzung einige ausdrücklich. Worte an Sie richten. Ich gehe zunächst einmal davon Ebenso verläßt uns ein Stück Urgestein dieses Par- aus, daß dies ja wohl — nach dem, was ich höre — die laments, , die als Präsidentin, als letzte Sitzung in dieser Wahlperiode ist. Vizepräsidentin und in vielen anderen Funktionen (Heiterkeit — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Da dieses Haus entscheidend mitgetragen hat. Unseren bin ich bei der SPD nicht sicher! — Frau ganz, ganz herzlichen Dank an Sie, Frau Renger. Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Bei der (Beifall) SPD weiß man das nie!) Ich möchte zunächst einmal feststellen: Auch wenn Mit verläßt uns ein weiterer aus heute die Debatte ihren Inhalt und ihren Verlauf dem Kreis der ehemaligen Bundestagspräsidenten. Ich möchte ihm für seine Arbeit hier danken und ihm wahlkampfbedingt genommen hat, haben wir gerade am Ende dieser Wahlperiode allen Grund, sie als eine für die vor ihm liegende Aufgabe alles Gute wün- ganz außergewöhnliche zu sehen; denn es gibt, wenn schen. es um den Kernpunkt der deutschen Frage, die Über- (Beifall) windung der Teilung, die wiedergewonnene Freiheit scheidet als amtierender Vizepräsi- und Einheit geht, nichts Vergleichbares seit 1949. dent aus. Auch ihm möchte ich für seine verantwor- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der tungsvolle Arbeit im Dienst unseres Parlaments herz- SPD) lich danken. Insofern war dies eine ganz außergewöhnliche Wahl- (Beifall) periode. Außergewöhnlich war sie auch in vielen Diesen Dank möchte ich unserem früheren Vizeprä- außen- und innenpolitischen Debatten und Entschei- sidenten — danach dann Minister — Heinrich Winde- dungen. Es geschahen Dinge, die niemand von uns für len ganz ausdrücklich ebenso aussprechen. möglich gehalten hätte, ob es der erste und der zweite Einigungsvertrag war oder der Nicht-Angriffspakt mit (Beifall) der Sowjetunion oder die Unterzeichnung des Für die amtierenden Präsidenten sind unerläßlich deutsch-polnischen Grenzvertrages, die Schriftführer und Schriftführerinnen, die hier, (Beifall des Abgeordneten Dr. Lippelt [Han meist unsichtbar und doch sichtbar, wirken. nover] [GRÜNE/Bündnis 90]) (Widerspruch) dem die Parlamentserklärungen vorausgegangen — Was sie tun, ist meist unsichtbar, als Personen sind sind. Ich denke, auch unter Einschluß der großen sie sichtbar. — Stellvertretend für alle möchte ich ei- Dinge im Bereich der Steuer-, der Gesundheits-, der nen herausheben, den dienstältesten, Max Amling, Renten- und der Postreform — so kontrovers hier auch der heute zum letztenmal amtiert hat. Ich möchte ihm diskutiert worden ist — , daß hier unsägliche Arbeit im Namen aller stellvertretend für seine Hilfe und die geleistet worden ist. Manches, was hier im Streit nicht Hilfe seiner Kolleginnen und Kollegen besonders dan- sichtbar ist, wäre nicht möglich gewesen, wenn es ken. nicht auch untereinander so viel Konsens gegeben hätte. Ohne den Konsens in Vereinbarungen zwi- (Beifall) schen den Geschäftsführern und den Fraktionen wäre Ausscheiden werden die Ausschußvorsitzenden vieles nicht möglich gewesen, was wir in wirklich kür- — ich kann ihm nicht in platt- zester Zeit hier gemeinsam geleistet haben. deutsch danken —, Hans-Günther Hoppe, Hermann (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Ein Lob den Josef Unland und Frau Heike Wilms-Kegel. Auch Ih- Geschäftsführern! — Beifall bei der CDU/ nen unseren Dank für die im Ausschußvorsitz gelei- CSU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN/ stete Arbeit. Bündnis 90) (Beifall) — Ja, auch das. Ich denke, es ist in allen Fraktionen so, Unter denen, die dem nächsten Bundestag nicht daß wir um die Stärke der Geschäftsführer wissen, mehr angehören werden, sind eine Reihe von Kolle- aber es gilt, sie auch dort zu loben, wo sie zu loben gen, die auf 25 Jahre und mehr Mitgliedschaft im sind. Deutschen Bundestag zurückblicken können. Zu ih- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der nen zählen Dr. , Dr. Hans Apel, Al- SPD) win Brück, Hermann Buschfort, Dr. , 18932 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990

Präsidentin Dr. Süssmuth Dr. , Ernst Haar, Dr. Hansjörg Hä- Ich denke, wie der Dank den Abgeordneten gilt, so fele, Dr. Anton Stark, Hans-Jürgen Wischnewski, gilt er auch — ich sage das auch für die Ressorts — Dr. und . Wenn ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Frak- als letztes den Namen von nenne, dann tionen und in der Bundestagsverwaltung. mit der Absicht, ihm nochmals besonders für sehr viel Konsensfindung in den letzten Jahren zu danken. Es (Beifall) wäre sonst wirklich vieles nicht möglich gewesen. Vor Ihnen sitzen die Stenographen, (Beifall) (Beifall) Ihnen allen und den vielen Kolleginnen und Kolle- die in dieser Wahlperiode Unglaubliches leisten muß- gen, die ich nicht nennen konnte und die in den ver- ten. Ihnen gilt unser besonderer Dank. schiedenen Ausschüssen ungeheure Arbeit geleistet haben — draußen ist zum Teil nicht mehr deutlich, Die Sitzung ist beendet. Wir schauen auf eine gute daß die Ausschüsse zum Teil nicht mehr wußten, wie Zeit zurück. Ich hoffe, daß auch die nächste Wahlpe- sie überhaupt durchkommen sollten, ich denke nur an riode eine gute für uns wird. — Herzlichen Dank. den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung —, möchte ich im Namen des Hauses ganz herzlich dan- (Beifall) ken und sie mit unseren besten Wünschen beglei- ten. (Schluß der Sitzung: 16.54 Uhr)

Berichtigung

235. Sitzung, Seite 18839B, Zeile 10 von unten: Statt „Es wird Überweisung an die zuständigen Aus- schüsse beantragt." ist „Es wird Überweisung an den Auswärtigen Ausschuß beantragt." zu lesen. Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode - 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18933*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage i entschuldigt bis Abgeordnete(r) Fraktion einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Frau Rehm CDU/CSU 22. 11. 90 entschuldigt bis Dr. Schäuble CDU/CSU 22. 11. 90 Abgeordnete(r) Fraktion einschließlich Schmidt (München) SPD 22. 11. 90 Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 22. 11. 90 Dr. Ahrens SPD 22. 11. 90 * Schütz SPD 22. 11. 90 Antretter SPD 22. 11. 90 * Schulz GRÜNE/ 22. 11. 90 Frau Becker-Inglau SPD 22. 11. 90 Bündnis 90 Beckmann FDP 22. 11. 90 Dr. Seifert Gruppe 22. 11. 90 Frau Beer GRÜNE/ 22. 11. 90 der PDS Bündnis 90 Seiters CDU/CSU 22. 11. 90 Bindig SPD 22. 11. 90 Spilker CDU/CSU 22. 11. 90 Frau Birthler GRÜNE/ 22. 11. 90 Frau Trenz GRÜNE/ 22. 11. 90 Bündnis 90 Bündnis 90 Börnsen (Ritterhude) SPD 22. 11. 90 Vosen SPD 22. 11. 90 Borchert CDU/CSU 22. 11. 90 Waltemathe SPD 22. 11. 90 Brunner CDU/CSU 22. 11. 90 Frau Weiler SPD 22. 11. 90 Büchler (Hof) SPD 22. 11. 90 Weinhofer SPD 22. 11. 90 Frau Bulmahn SPD 22. 11. 90 Wiefelspütz SPD 22. 11. 90 Daweke CDU/CSU 22. 11. 90 Wischnewski SPD 22. 11. 90 Dörfler GRÜNE/ 22. 11. 90 Wissmann CDU/CSU 22. 11. 90 Bündnis 90 Dr. Wittmann CDU/CSU 22. 11. 90 Frau Faße SPD 22. 11. 90 Zeitlmann CDU/CSU 22. 11. 90 Francke (Hamburg) CDU/CSU 22. 11. 90 Dr. Zimmermann CDU/CSU 22. 11. 90 Frau Fuchs (Verl) SPD 22. 11. 90 Gattermann FDP 22. 11. 90 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Graf SPD 22. 11. 90 lung des Europarates Gröbl CDU/CSU 22. 11. 90 Grünbeck FDP 22. 11. 90 Dr. Haack SPD 22. 11. 90 Anlage 2 SPD 22. 11. 90 Haack (Extertal) Zu Protokoll gegebene Rede des Abgeordneten Glos 22. 11. 90 Dr. Häfele CDU/CSU (CDU/CSU) GRÜNE/ 22. 11. 90 Häfner zu Tagesordnungspunkt 2 Bündnis 90 Aussprache zur Haltung der Bundesregierung zur FDP 22. 11. 90 Frau Dr. Hamm-Brücher Erhöhung von Steuern und Abgaben Hasenfratz SPD 22. 11. 90 Dr. Haussmann FDP 22. 11. 90 Glos (CDU/CSU): Die CDU/CSU plant keine Frhr. Heereman von Steuererhöhungen, weder eine höhere Mehrwert- Zuydtwyck CDU/CSU 22. 11. 90 steuer noch eine höhere Mineralölsteuer noch eine Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 22. 11. 90 sonstige Steuererhöhung. Es gibt keinen Grund, un- Frau Hürland-Büning CDU/CSU 22. 11. 90 sere langjährig erfolgreiche Politik des knappen öf- Dr. Jobst CDU/CSU 22. 11. 90 fentlichen Geldes und der Verbreiterung des privaten Jung (Düsseldorf) SPD 22. 11. 90 Sektors unter dem Vorzeichen der Angleichung der Frau Kelly GRÜNE/ 22. 11. 90 Lebensverhältnisse in Deutschland aufzugeben. Bündnis 90 Kißlinger SPD 22. 11. 90 Unsere Politik der Senkung der Steuerquote - wir Koschnick SPD 22. 11. 90 haben 1990 mit rund 22,5 Prozent den niedrigsten Kossendey CDU/CSU 22. 11. 90 Stand seit 30 Jahren - hat zum Beispiel entscheidend Kreuzeder GRÜNE/ 22. 11. 90 dazu beigetragen, daß wir - auf dem Gebiet der ehe- Bündnis 90 maligen Bundesrepublik - jetzt in das neunte Jahr Kühbacher SPD 22. 11. 90 ununterbrochenen Wirtschaftswachstums hineinge- Dr. Langner CDU/CSU 22. 11. 90 hen. Maaß CDU/CSU 22. 11. 90 Im Gegensatz zur SPD - die eine 9prozentige Er- Dr. Mertens (Bottrop) SPD 22. 11. 90 gänzungsabgabe, eine Erhöhung der Mineralölsteuer Meyer SPD 22. 11. 90 um 50 Pfennig je Liter sowie zahlreiche sogenannte Dr. Modrow Gruppe 22. 11. 90 Ökosteuern fordert - ist die CDU/CSU der Auffas- der PDS sung, daß Steuererhöhungen das Wirtschaftswachs- Dr. Müller CDU/CSU 22. 11. 90 * tum beeinträchtigen und damit die solideste aller Fi- Platzeck GRÜNE/ 22. 11. 90 nanzierungsquellen verschütten würden. Bündnis 90 Entgegen der Äußerung von Graf Lambsdorff am Dr. Pohlmeier CDU/CSU 22. 11. 90 Sonntag in „Bonn direkt" ist die CDU/CSU in Sachen Reddemann CDU/CSU 22. 11. 90 * Finanz- und Steuerpolitik mindestens so sattelfest wie Regenspurger CDU/CSU 22. 11. 90 die FDP. Anders als die FDP fordern CDU und CSU 18934* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 zum Beispiel keine Vermehrung der Steuervielfalt um kreditaufnahme im Bundeshaushalt erforderlich. Vor eine Klimasteuer. allem 1991 wird es zu Mehrbelastungen kommen, die aber auf der Grundlage der dynamischen Wirtschafts-- Wenn Graf Lambsdorff am vergangenen Wochen- entwicklung in den alten Bundesländern und des bal- ende meinte, feststellen zu müssen, daß die CDU/CSU digen Aufschwungs in den neuen Bundesländern be- in der Finanz- und Steuerpolitik wackelt, dann spricht wältigt werden können. er gegen besseres Wissen, denn die CDU/CSU-Bun- destagsfraktion und insbesondere die Finanz- und Meine Damen und Herren! Der Wiederaufbau des Steuerpolitiker haben nie gewackelt. In dieser hekti- östlichen Teils unseres Vaterlandes ist die größte und schen Wahlkampfzeit ist seine Aussage nur als Profi- wichtigste Investition seit Bestehen der Bundesrepu- lierungsversuch zu werten, die FDP als bessere Steu- blik Deutschland. Auf mittlere Sicht wird der ökono- ererhöhungsverhinderungspartei darzustellen. mische Nutzen der deutschen Wiedervereinigung die zusätzlichen Belastungen von heute deutlich überstei- Bedeutend mehr Freude macht uns natürlich, wenn gen. Auch aus diesem Grunde ist eine vorübergehend der wirtschafts- und finanzpolitische Mentor der SPD, höhere Nettokreditaufnahme der bessere Weg als die Professor Karl Schiller, vor zwei Wochen bei der von von der SPD geforderten neuen Steuern und Abga- der SPD verlangten öffentlichen Anhörung zur Finan- ben. zierung der deutschen Einheit bestätigt hat, daß er — Schiller — nicht anders gehandelt hätte als unser Karl Schiller hat der SPD in der öffentlichen Anhö- CSU-Bundesfinanzminister . rung des Haushaltsausschusses am 7. November fol- gendes vorgerechnet: Die Einführung der SPD-Er- Wir von der CDU/CSU verstehen ja, daß ein solches gänzungsabgabe würde gerade diejenigen Steuer- Lob aus der roten Ecke an die schwarze Adresse die pflichtigen treffen, die die höchste Sparquote haben. FDP schmerzen muß. Ist es doch ihr Wirtschaftsmini- Damit würde das Weniger an Kreditaufnahme des ster, der seit langem jegliches Lob schmerzlich ver- Staates auf ein Weniger an Kreditangebot der P riva- mißt. ten treffen und hätte deshalb keinerlei zinsentla- Auf einem anderen Blatt steht die Notwendigkeit, stende Wirkung. die Leistungs- und Innovationskraft der Sozialen Frau Matthäus-Maier sollte noch mal bei Herrn Marktwirtschaft verstärkt in den Dienst der Umwelt Schiller studieren; vielleicht ist er sogar bereit, ihr Pri- zu stellen. Unabhängig von der Finanzierung des An- vatunterricht zu geben. passungsprozesses in den neuen Bundesländern und seiner sozialen Absicherung ist eine breitere Anwen- Noch eine Bemerkung an die Adresse von Graf dung des Verursacherprinzips mit marktwirtschaftli- Lambsdorff: Die privatwirtschaftliche Finanzierung chen Maßnahmen geboten. und Durchführung von Investitionsprojekten soll nach dem Eckwertebeschluß der Bundesregierung, der vor Dazu können auch nichtsteuerliche Sonderabgaben 9 Tagen gefaßt wurde, für eine zusätzliche Entlastung gehören, wenn sie das Ziel verfolgen und auch geeig- der öffentlichen Haushalte sorgen. Soweit geeignete net sind, schädliche Umweltbelastungen zu verrin- Objekte vorhanden sind, die P rivate besser als die gern und bereits eingetretene Schäden zu beseitigen. öffentliche Hand erbringen können, sind die rechtli- Das Aufkommen solcher Sonderabgaben nimmt in chen und sachlichen Voraussetzungen für eine privat- dem Maße ab, in dem das Umweltziel erreicht wird. wirtschaftliche Finanzierung baldmöglichst geschaf- Eine solche Sonderabgabe hat also nichts mit Steuer- fen. erhöhungen zur Aufbesserung der Staatseinnahmen zu tun, meine Damen und Herren von der Opposi- Dies ist die Beschlußlage, die die FDP im Kabinett tion! mitgetragen hat. Es ist deshalb — zurückhaltend for- muliert — unfair, wenn der Vorsitzende der FDP die Steuererhöhungen schmälern die Investitionsbe- Möglichkeit der privaten Finanzierung eines Auto- reitschaft und die Leistungsbereitschaft der Betriebe bahnbaus im östlichen Deutschland durch Gebühren und der Berufstätigen. Sie wirken preistreibend. Da- als ein Marterinstrument bezeichnet und damit den durch wird eine verhängnisvolle Lohn-Preis-Spirale in Regierungsbeschluß konterkariert. Oder weiß Graf Gang gesetzt, die zwar kurzfristig inflationsbedingte Lambsdorff nicht, daß die von ihm bevorzugte Steuermehreinnahmen bringen kann, aber mittelfri- Vignette nach Schweizer Muster nichts anderes ist als stig mit realen Wachstumsverlusten und folglich Steu- eine Pauschalgebühr für die Autobahnbenutzung? erverlusten bezahlt werden muß. Trotz des wahlkampfbedingten Geplänkels werden Die richtige Finanzpolitik im vereinten Deutschland wir in der Koalition unsere bewährte Zusammenarbeit heißt vor allem Ausgabendisziplin. Unabweisbare im Kampf gegen eine zu hohe Steuerbelastung für Mehrausgaben für die Angleichung der Lebensver- Bürger und Unternehmungen fortsetzen. hältnisse in Deutschland müssen mit Ausgabeeinspa- rungen in den öffentlichen Haushalten verbunden Unsere Finanzpolitik hat die Angebotsbedingun- werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt gen der Volkswirtschaft innerhalb von 8 Jahren nach- deshalb den Beschluß der Bundesregierung, den mit- haltig verbessert, den Wohlstand der Bürger erhöht telfristigen Ausgabenanstieg im Bundeshaushalt auf und die Selbstfinanzierungskräfte der Sozialen durchschnittlich 2 Prozent jährlich zu begrenzen. Marktwirtschaft gestärkt. Die glänzende Verfassung unserer Volkswirtschaft auf dem Gebiet der ehemali- Auf Grund der kurzfristig notwendigen Unterstüt- gen Bundesrepublik ist ganz wesentlich ein Ergebnis zung des Anpassungsprozesses in den neuen Bundes- unserer wachstums- und investitionsfreundlichen Fi- ländern ist auch eine vorübergehend höhere Netto nanz- und Steuerpolitik. Deutscher Bundestag — 11. Wahlpe riode — 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990 18935*

Die Bürger und Bürgerinnen unseres Landes haben land, das international zunehmend in die Pflicht ge- keinen Grund, ausgerechnet jetzt die Wirtschafts- und nommen ist, nicht leisten. Finanzpolitik den Sozialisten als Experimentierfeld zu - überlassen. Das SPD-Konzept eines völligen ökologi- schen Umbaus unseres Steuersystems verkennt grundlegende finanzpolitische Zusammenhänge. Anlage 3

Ein Umkrempeln des Steuer- und Abgabesystems Amtliche Mitteilung im Zeichen des Umweltschutzes würde irreparable Störungen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung Die Fraktion DIE GRÜNEN hat mit Schreiben vom 15. November 1990 ihren Entschließungsantrag auf Drucksache 11/8438 zurückge- zur Folge haben. Dies kann sich das vereinte Deutsch zogen.