SPD – 05. WP Fraktionssitzung: 23. 09. 1968

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23. September 1968: Fraktionssitzung

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 100

Überschrift: »Protokoll über die Fraktionssitzung am Montag, 23. 9. 1968, 17 Uhr im Fraktionssitzungssaal«. Dauer: 17.00–20.40 Uhr. Anwesend: 146. Vorsitz: Schmidt. Bun- desregierung: Brandt, Heinemann, Strobel. PStS: Arndt, Jahn. Protokoll: Laabs. Datum der Niederschrift: nicht bekannt.

Sitzungsverlauf: A. Informationen B. Mittelfristige Finanzplanung und Finanzreform (BE: Möller) C. Parlamentsinitiativen der Fraktion bis Sommer 1969 (BE: ) D. Neue Termine E. Verschiedenes

Im Namen der Fraktion wünscht er [Helmut Schmidt] der erkrankten schnelle Genesung. Die Genossen Hamacher, Dr. Hubert und Steinhoff werden nach überstandener Krankheit in der Fraktionsmitte begrüßt. Der Assistent Hartmut Soell scheidet am 31. Oktober 1968 aus, um sich zu habilitieren. Für ihn tritt der Assistent Paul Friedrich als neuer Mitarbeiter in die Fraktion ein.1 Wegen ihrer Geburtstage werden die Genossen Kreutzmann, Alwin Brück, Helene Wessel, Reischl, Beuster, Herklotz, Urban, Strohmayr, Stephan und Saxowski beglück- wünscht.

Tagesordnungspunkt 1:2 Informationen Rolf Meinecke fragt, welche Organisationen im Hinblick auf Biafra3 als spendenwürdig und seriös anzusehen seien? Welche Auffassung man zur Haltung Englands gegenüber Biafra zum Ausdruck bringen kann?4 antwortet, daß als Organisationen das Rote Kreuz und die beiden Orga- nisationen der Kirchen in Betracht kommen. Nigerianer betrachten den Streit als innere Angelegenheit. Eine einstimmige Auffassung zu dieser Frage ist im Ministerrat der Westeuropäischen Union daran gescheitert, daß England Eigeninteressen zeigte und Frankreich keine Möglichkeit für eine einstimmige Auffassung dazu gesehen hat. Bei der Betrachtung der englischen Haltung muß berücksichtigt werden, daß die Russen

1 Friedrich war persönlicher Assistent des Fraktionsvorsitzenden. 2 TO liegt dem Protokoll bei. 3 Bereits am 28. Mai 1967 hatte der nigerianische Staatschef Yakubu Gowon wegen Abspaltungsten- denzen im Osten des Landes den Ausnahmezustand verhängt und die Generalmobilmachung der Armee angeordnet. Zwei Tage später erklärte der Militärgouverneur der überwiegend vom Stamm der Ibos bewohnten Ostregion, Ojukwu, deren Unabhängigkeit unter dem Namen »Republik Biafra«. Die Kämpfe zwischen den Truppen der Zentralregion und den Aufständischen weiteten sich in der Folge zu einem Bürgerkrieg aus; es kam zu massiven Vertreibungen von Ibos in ihr Stammland, Hungers- nöten und Massensterben; vgl. v. a. die Diskussionen im Auswärtigen Ausschuß: AUSWÄRTIGER AUS- SCHUSS 1965–1969, Dok. 48, 53, 65–67. 4 Großbritannien hatte sich bislang neutral verhalten. Es war einerseits auf die Erdölvorkommen in Biafra angewiesen, verfolgte aber auch industrielle Interessen im nigerianischen Bundesgebiet.

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einen beherrschenden Einfluß in Nigeria gewinnen könnten, wenn sich England daraus zurückzieht.5 Im übrigen ist unsere Forderung nach einer Einstellung der Waffenliefe- rung von englischer Seite weitgehend Gehör geschenkt worden.6 Fellermaier fragt nach dem Abschluß des Assoziierungsabkommens Nigerias mit der EWG.7 Gerhard Jahn antwortet: Diese Frage sei sehr zurückhaltend behandelt wor- den. Es [bestehe] jedoch durchaus die Neigung zur Unterzeichnung. erinnert an den Vorschlag von , einen Kommissar für Menschenrechte einzusetzen. Gustav Heinemann stellt richtig, daß dieser Vorschlag nicht sein persönlicher sei, sondern daß er bei einer Sitzung der Vereinten Nationen in Teheran diesen Vorschlag namens der Bundesregierung vorgetragen habe.8 Willy Müller (Worms) fragt nach den innerhalb der Ernährungswirtschaft aufgetrete- nen Befürchtungen zur DM-Aufwertung, die sich darauf stützen, daß die Einfuhrstelle für Getreide und Futtermittel eine Währungsklausel eingeführt habe. Klaus Dieter Arndt beruft sich auf die Erklärung von und stellt in Aus- sicht, die genannten Verträge zu überprüfen und Willy Müller direkt darauf zu antwor- ten. Auf eine Zusatzfrage hin erklärt Klaus Dieter Arndt, daß jede Änderung der Wäh- rung im übrigen einer Zustimmung der EWG bedarf. Helmut Schmidt hebt hervor, daß uns wegen der hohen Exportüberschüsse und der niedrigen Importraten Vorwürfe gemacht werden, daß aber eine Ausgleichung allein durch besondere Anreize des innerstaatlichen Konsums gemacht werden kann. Klaus Dieter Arndt bestätigt diese Auffassung, wonach nur eine Stärkung der Binnen- kaufkraft und zugleich Erweiterung der Wettbewerbspolitik die Importrate steigern kann. Karl-Heinz [Hans] Kern fragt nach der Bezeichnung »Direktor des Deutschen Bun- destages«.9 Schoettle beruft sich darauf, daß dieses so im Haushalt stehe. Hugo Collet fragt nach den Hintergründen über die Behauptungen zum Ausscheiden von .10 erklärt, daß Blachstein seiner Arbeit in Belgrad gut nachgehe und seine Ärzte hätten entgegen früheren Ratschlägen nunmehr Befürchtungen hinsichtlich seiner Gesundheit geäußert. Er drückt die Hoffnung aus, daß der Gesundheitszustand von Peter Blachstein günstiger sei als von den Ärzten angenommen wird und wünscht, daß in dieser Frage keine weiteren Gerüchte aufkommen mögen.

5 Die UdSSR lieferte Kampflugzeuge an Nigeria, vgl. AdG 1967, S. 13358. 6 Großbritannien lieferte nach wie vor bestimmte »traditionelle« Waffen (z. B. Gewehre, jedoch keine Flugzeuge oder Bomben) an die nigerianische Regierung, vgl. AdG 1968, S. 14180. 7 Am 16. Juli 1966 war in Lagos das Assoziierungsabkommen zwischen der EWG und Nigeria unter- zeichnet worden, wurde aber nicht von allen EWG-Staaten ratifiziert. 8 Auf der Internationalen Menschenrechtskonferenz in Teheran vom 22. bis 24. April 1968 führte Justizminister Heinemann die deutsche Delegation an. In seiner Rede wies er auf die positiven Erfah- rungen im Europarat hinsichtlich der Wirksamkeit des Menschenrechtsschutzes hin. »Meine Regie- rung hat es […] bedauert, daß der Gedanke eines Hochkommissars für die Menschenrechte noch nicht verwirklicht werden konnte. Wir sind überzeugt, daß eine solche zentrale Stelle, die alle Ent- wicklungen auf menschenrechtlichem Gebiet verfolgt und in eindrucksvollen Berichten der Weltöf- fentlichkeit darlegt, von unschätzbarem Wert wäre.« Für den Wortlaut der Rede vgl. SPD-PRESSE- MITTEILUNGEN, Nr. 189/68 b vom 23. April 1968. 9 Die korrekte Bezeichnung lautete »Direktor beim Deutschen «. 10 Blachstein hatte am 16. August bekanntgegeben, daß er Mitte 1969 aus dem diplomatischen Dienst ausscheiden und nach nur wenigen Monaten im Amt von seinem Botschafterposten in Belgrad nach Deutschland zurückkehren wolle. Er begründete dies mit gesundheitlichen Problemen aufgrund des schlechten Klimas der jugoslawischen Hauptstadt. AdG 1968, S. 14118.

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Heinz Westphal wünscht Auskunft über die Teilaufhebung der Sperre für die NATO- Hilfe an Griechenland, insbesondere ob unsere Genossen zugestimmt haben.11 Gerhard Jahn erklärt, daß der Betrag von 9 oder 9,5 Mio. DM lediglich alte getätigte Lie- ferungen betraf und für deutsche Lieferfirmen zur Auszahlung kam. Darüber hinaus seien alle Beträge weiterhin gestoppt. Willi Michels erhebt Kritik an den Annoncen der Bundesregierung, in denen Kiesinger im Bild herausgestellt werde.12 Willy Brandt erklärt, daß sich zwar das Bundespresse- amt damit allein zuständig befasse, daß aber demnächst deshalb darüber im Kabinett gesprochen werde. Alwin Brück fragt, ob Conrad Ahlers noch unser Mann im Amt sei.13 Willy Brandt erklärt, daß Gespräche über die Teheraner14 Erklärung geführt worden seien und sich dabei herausgestellt habe, daß alles auf Mißverständnissen beruhe. Klaus Dieter Arndt bestätigt die Auffassung, daß Ahlers damit nichts zu tun habe. Wolfgang Schwabe bemängelt, daß nur fünf Ausschüsse nach Berlin gehen.15 Helmut Schmidt hebt hervor, daß den Ausschüssen hinsichtlich des Tagungsortes eine freie Entscheidung zustehe. Tagesordnungspunkt 2: Mittelfristige Finanzplanung und Finanzreform Alex Möller berichtet, daß in einer Klausurtagung des Finanzausschusses herausgefun- den werden soll, ob und inwieweit Möglichkeiten einer Vereinbarung in der Finanzre- form und der Gemeindefinanzreform auf der Basis unserer Beschlüsse gegeben sind. Er hebt hervor, daß die Fraktionsentscheidungen in Übereinstimmung mit den Parteitags- entschließungen stehen und diese Beschlüsse nach wie vor für uns alle bindend seien. Nach Auffassung von Alex Möller seien deshalb alle Mitglieder der SPD, die in den Ausschüssen darüber abstimmen müssen, an diese Beschlüsse gebunden. Das gilt insbe- sondere im Hinblick auf den Steuerverbund,16 der als eine unerläßliche Voraussetzung für ein gesundes Verhältnis zwischen den Ländern, den Gemeinden und dem Bund bestehen muß. Er weist darauf hin, daß nun auch die Länder ein Gemeindefinanzgesetz vorlegen und sich dieses Gesetz nicht in allen Punkten mit unseren Beschlüssen deckt.17

11 Am 27. August hatte der Auswärtige Ausschuß mit 23 zu 1 Stimmen bei 6 Enthaltungen beschlossen, 10 Mio. DM der zweiten und dritten Tranche der NATO-Verteidigungshilfe für Griechenland zu entsperren. Das Geld diente der Bezahlung deutscher Firmen für bereits erbrachte Leistungen. Dieser Vorschlag war zuvor laut PStS Jahn in einem Koalitionsgespräch erörtert worden, vgl. AUSWÄRTIGER AUSSCHUSS 1965–1969, Dok. 68, TOP 2.

12 Vgl. dazu »Große Lage«, DER SPIEGEL, Nr. 42 vom 14. Oktober 1968, hier S. 47 ff. 13 Wegen Kritik des SPD-Bundesgeschäftsführers Wischnewski an der Arbeitsweise des Bundespresse- amts hatte der stellvertretende Pressesprecher der Bundesregierung, Conrad Ahlers, der Bundeskanz- ler Kiesinger vom 9. bis 12. September 1968 auf seiner Reise in den Iran begleitete, von Teheran aus angeblich gemeldet, von einer Begünstigung der Union durch das Bundespresseamt könne keine Re- de sein, man müsse sich eher gewisser Pressionen von SPD-Seite erwehren. Vgl. »Diehl an Ahlers: ›Feuer einstellen‹«, FAZ vom 14. September 1968; »Knick in der Gondel«, DER SPIEGEL, Nr. 39 vom 23. September 1968 sowie SPD-PRESSEMITTEILUNGEN, Nr. 413 vom 12. September 1968. 14 In der Vorlage irrtümlich »Athener«. Siehe auch den die Korrekturen erläuternden Vermerk Wolf- gang Gaeblers vom 7. Oktober 1968, der dem Protokoll beigefügt ist. 15 Laut Zeitungsmeldung tagten sieben Ausschüsse in der Woche vom 30. September bis 4. Oktober in Berlin: der Postausschuß, die Ausschüsse für Gesamtdeutsche Fragen, Ernährung, Auswärtiges, Inne- res, Sozialpolitik und Entwicklungshilfe. FAZ vom 2. Oktober 1968. 16 Gemeint war, daß in Zukunft nicht nur Einkommen- und Körperschaftsteuer, sondern auch Mehr- wert- und Einfuhrumsatzsteuer Bund und Ländern gemeinsam zufließen sollten. 17 Es handelt sich um den »Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Gemeindefinanzen«, den die Konferenz der Länderfinanzminister am 13. September 1968 vorgelegt hatte. PA 4000 V/323/324 Bd. A 3, 19, Anlage 3.

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Wir haben eine Erhöhung der Gemeindefinanzmasse um etwa 2 Milliarden in Nürnberg gefordert, während die Forderungen der kommunalen Spitzenverbände 4 Milliarden betragen. Ein Hauptanliegen der Finanzreform muß in der ausreichenden Sicherstellung der Gemeindefinanzmasse gesehen werden. Die meisten Investitionen für die Zukunft des Volkes erfolgen in den Gemeinden, und was wir den Gemeinden bei immer weiter herabsinkendem Anteil an dem gesamten Steueraufkommen in Zukunft verweigern, verweigern wir der Entwicklung unseres Staatswesens. Er hebt hervor, daß es deshalb unmöglich ist, irgendetwas an der Gewerbesteuer zu ändern. Auch alle Hinweise, daß das im Rahmen der Harmonisierung der EWG notwendig sei, sind verfehlt, insbeson- dere in Bezug auf die Einführung einer neuen Kapitalsteuer in Frankreich, das sich in keiner Weise um die steuerliche Situation in den anderen Ländern dabei kümmerte. Alex Möller bittet noch einmal darum, daß man sich bei den Arbeiten in den Ausschüs- sen an die Parteitagsbeschlüsse und an die Fraktionsbeschlüsse halten möge, und daß man bei einer kontroversen Entscheidung erst vorher die Fraktion dazu verständigt. Hinsichtlich der Verstärkung der kommunalen Finanzmasse weist Alex Möller auf die besondere Leistung der SPD-Bundestagsfraktion im Rahmen der Koalition hin, die bei einem Beteiligungsverhältnis des Bundes von 39 % im Jahre 1966 durch unseren Einfluß auf 37 % herabgesetzt worden seien und nunmehr weiterhin um 2 % geändert wurden, ohne daß darüber ein besonderer Streit anhob. Die erste entscheidende Hilfe für die Gemeinden kam durch die Zurverfügungstellung eines Anteils von 3 Pfennig an der Mineralölsteuer, die insgesamt einen Betrag von 660 Mio. DM ausmachte. Das werden im Jahre 1969 800 Millionen sein; das wächst im Jahre 1971 auf 975 Millionen an. Diese entscheidende Hilfe für die Gemeinden ist allein auf unsere Mitwirkung in der Bundesregierung zurückzuführen.

Alex Möller hebt hervor, daß die Ergänzungsabgabe von 3 % im kommenden Jahr im- merhin 800 Millionen erbringt. Auch diese Abgabe ist allein auf die sozialdemokrati- schen Forderungen zurückzuführen. Die mittelfristige Finanzplanung des Bundes hat für das Jahr 1970 noch einmal 500 Millionen zur Verfügung gestellt, wobei sich die Länder mit einem Betrag von 250 Mil- lionen beteiligen müssen. Möller bezweifelt, daß die Länder sich dazu bereitfinden werden. Zuletzt richtet Alex Möller eine Bitte an die Genossen, daß sie in den Ländern darauf hinwirken mögen, daß diese die Gemeinden nicht mit den an diese weiterzuge- benden Beträge bemogeln mögen. Zum Bericht über die mittelfristige Finanzplanung wird auf die Anlage II verwiesen.18

In bezug auf die Ausbildungsförderung, die unter 3 b ausgewiesen wird, erklärt Alex Möller: Heck habe anfangs für den SPD-Gesetzentwurf zur Ausbildungsförderung 5 Mia. DM Kosten behauptet. In einem späteren Schreiben habe Barzel an Helmut Schmidt erklärt, daß nach den Schätzungen des Statistischen Bundesamtes dieser Gesetzentwurf 3 Milliarden betrage. In einem weiteren Brief von Heck an Alex Möller schreibt dieser ebenfalls den Betrag von 3 Mia. Inzwischen wurde bekannt, daß das Statistische Bun- desamt für einen Entwurf des Familienministeriums zur Ausbildungsförderung einen Kostenbetrag von 2,7 Mia. DM errechnet habe.

Zur Kriegsopferversorgung im Punkt 3 f erklärt Alex Möller, daß er in der Debatte im Plenum beantragen werde, daß der Bericht über eine Dynamisierung der Versorgung nicht im Jahre 1970, sondern bereits zum 30. April 1969 vorgelegt werden soll. Im übri- gen sei eine vorzeitige Anhebung der Kriegsopferversorgung finanziell nicht zu ermög-

18 Die von Alex Möller erstellte Übersicht über die einzelnen Punkte der MifriFi liegt dem Protokoll bei. Vgl. auch INFORMATIONEN, Nr. 432 vom 23. September 1968, die dem Protokoll beigefügt sind.

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lichen und auch nicht unbedingt notwendig, denn nach den Mitteilungen im Bulletin seien die Verbraucherpreise im Niveau gegenüber 1967 nur um 0,9 % gestiegen. Zum Schluß kommt Alex Möller auf die Einsetzung einer Steuerreformkommission durch den Bundesfinanzminister19 zu sprechen, für die Mitglieder genannt worden seien, die durchaus nicht unseren Wünschen entsprechen, und daß insbesondere keine Beteiligung der Verbraucherverbände sowie der Länder und kommunalen Spitzenver- bände in dieser Kommission vorgesehen sei.20 Lediglich der DGB habe jetzt zwei Ver- treter in diese Kommission entsenden können. Alex Möller vertrat die Auffassung, daß die Arbeiten der Kommission von so entscheidender Tragweite für die Gesamtpolitik seien, daß die Einsetzung dieser Kommission eine Entscheidung des gesamten Kabinetts sein müsse. In der sich anschließenden Aussprache wird diese Auffassung von den Genossen Max Seidel, Lenders und auch von Helmut Schmidt unterstützt, der erklärte, daß sich der Fraktionsvorstand und die Kabinettskollegen darüber ebenfalls einig seien und man inzwischen dazu beim Bundeskanzler interveniert habe.21

Tagesordnungspunkt 3: Parlamentsinitiativen der Fraktion bis Sommer 1969 In einer Vorbemerkung erklärt Helmut Schmidt: 1. Unsere Zielsetzung müsse noch klarer gemacht werden insbesondere auf den Gebie- ten der gesellschaftspolitischen Reformen, mit besonderem Blickpunkt auf den Arbeit- nehmer, 2. es nicht erstrebenswert sei, durch eine Vielzahl von Initiativen sich besonders viel unerledigte Sachen einzuhandeln, 3. deshalb jede Initiative danach abgewägt werden muß, ob sie im Hinblick auf sichtba- re Konflikte mit dem Koalitionspartner notwendig sei, 4. der volkswirtschaftliche Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung mit einem Wachs- tum von nominal 6 % und real 4 % als endgültige Entscheidung anzusehen sei. Alles weitere darüber hinaus und darunter sei unglaubwürdig. Der Fraktionsvorstand macht folgende Vorschläge22: Der Arbeitskreis I23 wird die entscheidenden Akzente in dieser Woche setzen und darüber hinaus keine weiteren Initiativen empfehlen oder vorsehen. Der Arbeitskreis II24 wird

19 Franz Josef Strauß. 20 SPD-Antrag zur »Einsetzung einer unabhängigen Sachverständigenkommission zur Vorbereitung einer Reform der direkten und indirekten Steuern«, BT ANL. 115, Drs. V/2164. Die zwölfköpfige Steuerreformkommission wurde geleitet vom Präsidenten der Bayerischen Staatsbank und früheren bayerischen Finanzminister Rudolf Eberhard. Zur Zusammensetzung vgl. »Steuerreform-Kom- mission benannt«, FAZ vom 7. Oktober 1968, zur Kritik der SPD an der Zusammensetzung vgl. »Koalitionsstreit über Kommission zur Steuerreform«, FAZ vom 10. Oktober 1968 und SPD- Fraktionssitzung am 15. Oktober 1968, Anm. 6. 21 Alex Möller kritisierte am 24. September in einem Brief an den Bundeskanzler die unausgewogene Zusammensetzung durch den Verzicht auf Vertreter der Gewerkschaften, der Verbraucherverbände und der Länder und kommunalen Spitzenverbände, AdsD, HSA, 5366. 22 Vgl. dazu das Protokoll der Sitzung vom 23. September 1968, AdsD, SPD-BTF 5. WP, 228. Dem Protokoll liegt ein vertrauliches zwölfseitiges Papier bei, in dem die Vorschläge im Detail ausgeführt sind, das aber ausdrücklich nicht der Fraktion bekannt gegeben werden sollte. 23 Außenpolitik und gesamtdeutsche Fragen. 24 Innenpolitik.

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1. im Presserecht noch weitere Prüfungen vornehmen und sich dazu eine Initiative vorbehalten,25 2. keine Initiative bei der Kompetenzverschiebung in der Hochschulgesetzgebung vor- schlagen,26 3. die Frage der Änderung des aktiven Wahlalters und der Wahlrechtsänderung erst nach der Parteiratssitzung Ende Oktober beraten.27 Der Arbeitskreis III28 wird 1. alle Ausführungsgesetze zum Leberplan forcieren 2. zur Vermögenspolitik29 keine Initiativen der Fraktion vorschlagen. Es besteht die Mög- lichkeit, daß vom Kabinett noch eine kleine Lösung im Hinblick auf die Sparförderung, insbesondere für kleine Einkommen zu erwarten ist. Auch von seiten des Wirtschafts- ministeriums wird noch etwas dazu im Rahmen der konzertierten Aktion kommen. 3. zur Lohnfortzahlung30 wird keine Initiative empfohlen. Sowohl Katzer und auch Schiller haben sich dazu positiv ausgedrückt, und es wird eine schiedliche Lösung im Kabinett erwartet. Eine eigene Initiative würde Katzer todsicher in eine Frontstellung zum Arbeitgeberflügel bringen, was uns nicht dienlich sein kann, weil es uns auf eine Verabschiedung dieses Gesetzes ankommen muß und nicht allein darauf, daß wir einen Gesetzesvorschlag eingebracht haben, der aber dann vom Kabinett abgelehnt wird, bzw. im Ausschuß liegen bleibt. Helmut Schmidt brachte zum Ausdruck, daß die Lohnfortzahlung den Arbeitnehmern keine besonderen Leistungsverbesserungen bringen wird, daß aber insbesondere die Renten- und Krankenversicherungsträger finanziell dadurch besser gestellt werden und er äußerte die Hoffnung, daß dadurch auch die Krankenversicherungsbeiträge gesenkt werden könnten. Helmut Schmidt verweist noch einmal darauf, daß der ungeheure Aufschwung der Wirtschaft selbstverständlich auch die Auffassung nährt, daß auf der Seite der Arbeit- nehmer nun etwas mehr getan werden muß als es nach der ersten mittelfristigen Finanz- planung möglich war. Zum Städtebauförderungsgesetz erwartet Helmut Schmidt in der nächsten Woche eine Entscheidung des Kabinetts, nachdem noch einmal eine Überprüfung seines eigenen Standpunktes vorgenommen hat.31 Deshalb wird auch zum Städte-

25 Der Fraktionsvorstand wollte zuerst die Ergebnisse der von ihm eingesetzten Kommission abwarten, vgl. SPD-Fraktionssitzung am 25. Juni 1968 mit Anm. 17. 26 Gemeint war eine Kompetenzverschiebung zugunsten des Bundes. 27 Die gemeinsame Sitzung von Parteivorstand, Parteirat und Kontrollkommission fand am 1./2. No- vember 1968 in Berlin statt. Eine Änderung des Wahlrechts für die Bundestagswahl 1969 hielt man für nicht mehr möglich, auf einem außerordentlichen Parteitag vom 16. bis 18. April 1969 sollten al- lerdings die Vorschläge zum Wahlrecht diskutiert werden. Vgl. SPD-PRESSEMITTEILUNGEN, Nr. 494/68 c vom 1. November 1968. 28 Wirtschaftspolitik. 29 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 22. Oktober 1968, Anm. 12 und SPD-Fraktionssitzung am 14. Januar 1969, TOP 10. 30 Zur Behandlung der Lohnfortzahlung vgl. die SPD-Fraktionssitzung am 3. Dezember 1968; SPD- Fraktionssitzung am 25. Februar 1969; SPD-Fraktionssitzung am 18. März 1969; SPD-Fraktions- sitzung am 10. Juni 1969; SPD-Fraktionssitzung am 11. Juni 1969 (Teil 1); SPD-Fraktionssitzung am 11. Juni 1969 (Teil 2); SPD-Fraktionssitzung am 12. Juni 1969. 31 BT ANL. 125, Drs. V/3505. Noch am 25. September hatten sich die Unionsminister im Kabinett aus verfassungsrechtlichen Gründen gegen den Entwurf ausgesprochen. In der Sitzung vom 2. Oktober wurde er jedoch, nachdem Lauritzen den Entwurf in einigen Punkten modifiziert hatte, verabschie- det, vgl. »Modernisierung von Altbauwohnungen mit Bundeshilfe«, FAZ vom 3. Oktober 1968.

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bauförderungsgesetz keine Initiative empfohlen, weil dieses Gesetz nur gedeihen kann, wenn es vom Kabinett heraus eingebracht wird. Zum Zonenrandstrukturproblem und zu übrigen Strukturproblemen verweist Helmut Schmidt auf die Darlegungen von Hans-Jürgen Junghans und anderen Genossen, wo- nach auf diesem Felde wesentliches geschehen ist. Auf diesem Gebiet muß jedoch noch eine Initiative, und zwar in Form einer Debatte zum Strukturproblem der Saar vorge- nommen werden.32 Diese Debatte würde nur vor den Kommunalwahlen an der Saar33 abgehalten werden, wenn die Genossen von der Saar dieses für zweckmäßig halten.

Vorschläge dazu müssen von den Genossen spätestens bis zum 2. 10. 68 der Fraktion vorgelegt werden. Nicht als Initiative der Fraktion, sondern zur Verbesserung der Übersicht der eigenen Genossen über die agrarstruktur- und finanzpolitischen Probleme wird vorgeschlagen, eine kleine Kommission aus den Genossen Martin Schmidt, Heinz Frehsee, Kurlbaum, Apel, Westphal einzusetzen, die einen Bericht über die Zusammenhänge und über die Aussichten der Fraktion geben sollen. Der Bericht soll kurz sein.34 Für den Arbeitskreis Sozialpolitik verweist Helmut Schmidt auf die Initiative zum Be- rufsausbildungsgesetz, das im Ausschuß beraten wird und auf den Gesetzentwurf des Ausbildungsförderungsgesetzes. Es bestehen dazu inzwischen vier Gesetzentwürfe, von der SPD, der FDP, der CDU, die ihn nicht eingebracht [haben] und vom Familien- ministerium, der ebenfalls nicht eingebracht worden ist. Sämtliche Entwürfe kosten viel Geld und überschreiten die Planungen des Bundes. In der nächsten Woche soll im Arbeitskreis entschieden werden, wie unser Gesetzent- wurf zur Ausbildungsförderung in Übereinstimmung mit der mittelfristigen Finanz- planung gebracht werden kann. Es wird empfohlen, keine Initiativen dazu zu ergreifen. Unter dem Begriff Unternehmens-Verfassung hebt Helmut Schmidt vier Entwürfe hervor, die aller Voraussicht nach Ende Oktober oder Anfang November in einer Sit- zung in der Fraktion beraten werden sollen.35 Das sind 1. das 2. Mitbestimmungssicherungsgesetz,36 2. das Gesetz über die Beschränkung von Aufsichtsratstantiemen,37 das in der Fraktion möglicherweise unterschiedliche Auffassungen bekommt, 3. das Betriebsverfassungsgesetz unter Einschluß des Minderheitenrechts38 und 4. der Entwurf zur qualifizierten Mitbestimmung,39 von dem ebenfalls Schwierigkeiten in der eigenen Fraktion zu erwarten sind.

32 Die Große Anfrage der SPD (BT ANL. 123, Drs. V/3278) mit anschließender Debatte zu den Struk- turproblemen des Saarlandes fand erst am 18. Juni 1969 statt, BT STEN. BER. 70, S. 13378–13403. 33 Im Saarland fanden am 20. Oktober 1968 Kommunalwahlen statt. 34 Der Bericht der ad-hoc-Arbeitsgruppe Agrarpolitik »Agrarpolitische Bestandsaufnahme und Re- formvorschläge« liegt dem Fraktionsprotokoll vom 3. Dezember 1968 als Anlage bei. Zur Debatte des Berichts in der Fraktion vgl. SPD-Fraktionssitzung am 14. Januar 1969, TOP 13.

35 Vgl. dazu SPD-Fraktionssitzung am 25. November 1968. Die 1. Lesung der Gesetze (s. u.) fand am 22. Januar 1969 statt. 36 SPD-Gesetzentwurf »zur Erhaltung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie«, BT ANL. 126, Drs. V/3660. 37 SPD-Gesetzentwurf zur Änderung des Aktiengesetzes, ebd., Drs. V/3659. 38 SPD-Gesetzentwurf zur Neuregelung der Betriebsverfassung, ebd., Drs. V/3658. 39 SPD-Gesetzentwurf über die Unternehmensverfassung in Großunternehmen und Konzernen, ebd., Drs. V/3657.

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Alle vier Entwürfe entsprechen den Initiativen, durch die sichtbare Abhebungen vom Koalitionspartner herbeigeführt werden sollen. Als weitere Initiative wird das 3. Rentenversicherungsänderungsgesetz40 noch im Aus- schuß beraten. Zur Lohnfortzahlung soll wie gesagt keine Initiative ergriffen werden. Zur Gesundheitspolitik soll ebenfalls keine Initiative ergriffen werden. Zum Arbeitskreis öffentliche Finanzwirtschaft verweist Helmut Schmidt auf die Aus- führungen von Alex Möller, nach denen ebenfalls keine Initiativen vorgesehen sind. Auch der Arbeitskreis Rechtswesen sieht keine Initiativen vor, weil alle Vorschläge vom Kabinett ausgehen werden. Im Arbeitskreis Sicherheitsfragen werden die Initiativen in der nächsten Sitzung der Fraktion geklärt. Sie betreffen insbesondere die finanzielle Besserstellung der Unterof- fiziere und der langdienenden Bundeswehrsoldaten. In der sich anschließenden Aussprache erklärt Willy Brandt: Zur Bundespräsidenten- wahl hat der Parteivorstand eine 7er-Kommission eingesetzt, die einen Vorschlag für einen sozialdemokratischen Kandidaten machen soll.41 Die Kommission besteht aus zwei Mitgliedern der Landtage, zwei Mitgliedern der Bundestagsfraktion und drei Mit- gliedern des Präsidiums. Das sind die zwei Vorsitzenden der größten Landtagsfraktio- nen Johannes Rau NRW und Volkmar Gabert Bayern, Helmut Schmidt und Alex Möl- ler Bundestagsfraktion und , Alfred Nau und Willy Brandt vom Präsi- dium. Zur Wahlrechtsreform haben 8 Bezirke einen außerordentlichen Parteitag beantragt.42 Selbst wenn die 9 Bezirke zusammenkommen würden, hat der Parteivorstand erwogen, eventuell sowieso im Frühjahr einen Parteitag im Hinblick auf die Bundestagswahl abzuhalten. Er weist darauf hin, daß eine zu späte Regelung möglicherweise als ein Eingriff in einen laufenden demokratischen Prozeß angesehen werden könnte, und es ist außerdem der Zweifel laut geworden, ob dieser 3er-Wahlrechtsvorschlag nach dem Grundgesetz verfassungskonform sei. Von seiten des Justizministeriums sind entsprechende Einwände gegen das Dreier- Wahlrecht vorgetragen worden,43 was dem Bundeskanzler44 zur Kenntnis gebracht worden sei. Schwierigkeiten hinsichtlich der Überprüfung der Vorschläge zum 3er- Wahlrecht hätten sich insbesondere durch die Verzögerung der Prüfungen im Innenmi- nisterium ergeben, und es muß auch hervorgehoben werden, daß inzwischen drei Sach- verständige eine Überprüfung abgelehnt haben und erst ein vierter im Laufe des Monats sein Gutachten einbringen will. Willy Brandt erklärte zu den Vorschlägen des Fraktionsvorstandes, daß insbesondere im Hinblick auf den Arbeitnehmer die Lohnfortzahlung zum zentralen Punkt gemacht

40 Gesetzentwurf zur Änderung des Deckungsverfahrens in der Rentenversicherung der Angestellten, Drs. V/896, 2. und 3. Beratung am 2. Juli 1969, BT STEN. BER. 70, S. 13674–13685. 41 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 29. Oktober 1968, TOP 2. 42 Die acht Bezirke waren: Pfalz, Rheinland-Hessen-Nassau, Rheinhessen, Hessen-Süd, Weser-Ems, Baden-Württemberg, Braunschweig und Hamburg. Laut Satzung war ein Quorum von einem Fünf- tel der Parteibezirke, d. h. neun Bezirken, nötig, um einen Sonderparteitag zu beantragen. 43 Handschriftlich korrigiert, siehe Vermerk Gaeblers zu den Korrekturen vom 7. Oktober 1968. Lautet im maschinenschriftlichen Original: »Von seiten des Justizministeriums sind schwerwiegende Ein- wände gegen das relative Mehrheitswahlrecht vorgetragen worden …«. 44 .

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werden muß. Das laufende Jahr läßt hohe Gewinne für die Unternehmer erwarten, so daß alle Anstrengungen gemacht werden müssen, um die soziale Symmetrie im Gleich- gewicht zu halten. Gleichfalls muß die Mitbestimmungsfrage sehr nahe mit der Auf- fassung der Gewerkschaften geregelt werden. Willy Brandt hebt hervor, daß insbeson- dere der Gewerkschaftsrat, der bereits einmal tagt, einen guten Auftakt genommen hat.45 Was die Reformen angeht, so muß die Finanzreform die Gemeindefinanzen mit einbe- ziehen und auch die Verwaltungsreform wird demnächst im Kabinett zur Entscheidung anstehen. Zur Sicherheit unterschied Willy Brandt a) die wirtschaftliche Stabilität b) die innere Sicherheit und kam in diesem Zusammenhang auf die Frankfurter Vorgänge zu sprechen.46 Er appellierte daran, daß die Arbeitnehmer ihren Aufbau nicht in Frage stellen lassen wer- den und stellte in Aussicht zu prüfen, wie die Arbeitnehmer stärker zur Sicherung der inneren Freiheit herangezogen werden können. Trotzdem könne dieses Problem nicht allein unter dem Aspekt der Sicherheit behandelt werden, sondern es müsse stärker differenziert werden. Willy Brandt gibt jedoch zu bedenken, daß durch diese Vorgänge insbesondere auch die Kommunalwahlen für uns zum Nachteil verlaufen können. Zur äußeren Sicherheit muß sich die SPD von den anderen dadurch unterscheiden, daß sie dem einzelnen hilft und ihn beruhigt durch Erklärungen über die Zusammenhänge und ihn nicht in Zweifel und Unruhe durch die Behauptungen über das Interventions- recht der Sowjetunion versetzt.47 In der sich anschließenden Aussprache schlägt Helmut Schmidt zur Parlamentsreform eine Kommission vor, in der federführend Karl Mommer und weitere von ihm gewählte Mitglieder mitarbeiten sollen. Karl Mommer schlägt vor: Edith Krappe, Müller (Mün- chen), Hannsheinz Bauer und Friedrich Schäfer sowie Collet zu benennen und die nächste Sitzung in der anschließenden Woche abzuhalten. Werner Jacobi hegt Zweifel an der Kabinettsentscheidung zum Städtebaugesetz48 und bittet die Minister, die für uns bestehende Wichtigkeit dieses Gesetzesvorhabens her- vorzuheben; sofern das Kabinett diesen Entwurf nicht verabschiedet, müssen in der Fraktion dazu neue Beschlüsse gefaßt werden. Klaus Dieter Arndt stellt die Frage der Erhöhung der Ergänzungsabgabe für noch nicht bewiesen hin. Alex Möller widerspricht Klaus Dieter Arndt, weil es heute besser zur sozialen Symme- trie passen würde, wenn die Ergänzungsabgabe bereits damals höher festgesetzt worden

45 Der Gewerkschaftsrat beim Parteivorstand der SPD traf sich am 14. September 1968 zu seiner konsti- tuierenden Sitzung. Zu Verlauf und Zusammensetzung vgl. das Protokoll, abgedruckt in: DER DEUT- SCHE GEWERKSCHAFTSBUND 1964–1969, Dok. 84. 46 Gemeint sind vermutlich die schweren Auseinandersetzungen zwischen einer Gruppe von Demon- stranten und der Polizei am 22. September vor der Frankfurter Paulskirche anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Präsidenten der Republik Senegal, Léopold Senghor. Als die Demonstranten im Anschluß versuchten, auf das Messegelände zu gelangen, riegelte die Polizei das Gebiet ab und sperrte die Frankfurter Buchmesse für den Publikumsverkehr, was massiven Protest bei Ausstellern und Verlegern hervorrief, vgl. »Heftige Zusammenstöße während der Buchmesse«, FAZ vom 23. September 1968. 47 Die UdSSR leiteten aus den sog. Feindstaatenartikeln 53 und 107 der UN-Charta ein Interventions- recht ab, vgl. SPD-Fraktionssitzung am 11. Februar 1969 mit Anm. 30. 48 Vgl. Anm. 31.

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wäre. Er weist auf seine öffentlichen Ausführungen zur Verteidigungssteuer hin und zieht Zweifel an der Vernünftigkeit der Bewilligung von 1 Milliarde zur Anschaffung von Einheiten zur Ostseeflotille. Müller (München) verlangt eine klare Stellungnahme unserer Partei zu den Frankfurter Vorgängen und insbesondere der Beteiligung von SPD-Mitgliedern an diesen Vorgängen. Hugo Collet fragt, ob ein nächster Parteitag generell im März stattfinden soll und wie hoch sich die Belastung der Arbeitgeber durch Änderung der Versicherungspflichtgren- ze in der Krankenversicherung stellen würde. Willy Brandt erklärt, daß ein Parteitag im Frühjahr im Hinblick auf die Wahlen sinn- voll wäre, und es eine Frage der Fristen sei, wie lange nach dem Antrag ein solcher Par- teitag einberufen werden müsse. Ernst Schellenberg erklärt, daß die Lohnfortzahlung ohne Kopplung mit einem soge- nannten Sozialpaket à la Blank49 durchgeführt werden müsse und daß deshalb keine Änderung der Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung vorgenommen werden dürfe. Arthur Killat hält die Änderung der Pflichtversicherungsgrenze für keine Reform der Krankenversicherung und hebt die Notwendigkeit dieser Korrektur im Hinblick auf die Angestellten hervor. Eugen Glombig schließt sich der Auffassung von Arthur Killat an, hebt jedoch hervor, daß für den Fall, daß das Kabinett keinen eigenen Gesetzentwurf zustandebringt, die Fraktion einen solchen Gesetzentwurf einbringen müsse, und zwar so rechtzeitig, daß der linke Flügel der CDU uns nicht zuvorkommen kann. Er hebt insbesondere die Notwendigkeit der Änderung der Pflichtversicherungsgrenze in der Krankenversiche- rung hervor und bittet zu prüfen, ob die Fraktion hierzu nicht eine Initiative vorschlägt. In der Zusammenfassung erklärt Helmut Schmidt, es sei nicht richtig, wie der »Spiegel« geschrieben habe, daß er in einer Kabinettssitzung die Forderung aufgestellt haben soll, notfalls hart und grausam zu bestrafen.50 Eine solche Äußerung sei von ihm nicht ge- macht worden und er bedauere, daß der ehemals für die SPD arbeitende Journalist Backhaus so etwas geschrieben habe. In der Zusammenfassung der Erörterungen der Vorschläge des Fraktionsvorstandes wird festgestellt: Die Fraktion ist sich darin einig, daß Initiative ergriffen werden soll 1. in einer Sitzung Ende Oktober zu den vier Vorschlägen zur Unternehmensverfas- sung; 2. als Debatte über die Strukturprobleme des Saarlandes. Eine Einbeziehung weiterer Strukturfragen in diese Debatte wird für nicht tunlich angesehen; 3. zur eigenen Orientierung über agrarpolitische Situationen; 4. zur finanziellen Sicherstellung der Unteroffiziere und länger dienenden Bundeswehr- soldaten;

49 Ein 1961 von dem damaligen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, , konzi- piertes Maßnahmenbündel, bestehend aus dem Krankenversicherungsneuregelungsgesetz, dem Lohnfortzahlungsgesetz und dem Bundeskindergeldgesetz, wovon allerdings allein das Kindergeld- gesetz 1964 verwirklicht wurde. Vgl. KABINETTSPROTOKOLLE 1962, 52. Sitzung vom 31. Oktober 1962. 50 Wilhelm Backhaus in dem sehr kritischen Porträt Schmidts, »Eigene und fremde Würde«, DER SPIEGEL, Nr. 38 vom 16. September 1968, S. 38. Schmidt habe während der Studentenunruhen in einer Sitzung des Kabinetts mit den Fraktionsführern erklärt, daß er sich doch zu der Auffassung Machiavellis durchgerungen habe, man müsse in bestimmten Situationen hart und grausam strafen können.

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5. zur Parlamentsreform. Hierzu werden die Vorschläge im Januar erwartet. Der Kom- mission gehören an die Genossen Mommer, Frehsee, Krappe, Bauer, Apel, Müller Mün- chen und Schäfer sowie Hugo Collet. Als Initiative offen gelassen wurde das Presserecht, wozu noch eine nähere Klärung der Materie und des psychologischen taktischen Vorgehens vorgenommen werden soll. Keine Initiativen werden ergriffen 1. zum Städtebauförderungs-Gesetz 2. zur Vermögenspolitik 3. zur Lohnfortzahlung Vom Arbeitskreis und der Fraktion zu entscheiden ist noch eine Initiative zur Pflicht- versicherungsgrenze in der Krankenversicherung. Hierbei muß geprüft werden, ob die Verabschiedung Aussicht haben wird; gegen eine solche Initiative sprach sich Hans Hermsdorf aus. Der Arbeitskreis Sozialpolitik wird mit der Beratung beauftragt. Helmut Schmidt bittet darum, keine öffentlichen Äußerungen zu tun, bevor die Frakti- on dazu entschieden hat. Zur Kriegsopferversorgung wird kein Antrag gestellt.

Tagesordnungspunkt 4 – Neue Termine Siehe Anlage 3.51 Tagesordnungspunkt 5 – Verschiedenes Heinz Frehsee macht auf eine Änderung der Arbeitskreissitzungen aufmerksam. In Zukunft wird der Fraktionsvorstand am Dienstagvormittag und die Fraktion am Diens- tag nachmittag ab 16.00 Uhr tagen. Die Sitzungen für Arbeitskreise sind deshalb unter Berücksichtigung dieser Sitzungen vorzunehmen. Die nächste Fraktionssitzung findet am 24. September 1968 um 15.00 Uhr statt.

51 Anlage fehlt. Auf der Tagesordnung sind als nächste Termine vermerkt: 24. September, 9.30 Uhr Vorstand, 15.00 Uhr Fraktion; 15. Oktober, 9.30 Uhr Vorstand, 16.00 Uhr Fraktion (Woche vom 7.–12. Oktober sitzungsfrei).

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