Manfred Treml Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864)

Der Weg in das „neue Bayern“ einmarschierten, brachte man ihnen wenig freund- schaftliche Gefühle entgegen, weil man mit dem Der moderne bayerische Staat des 19. Jahrhunderts übermächtigen Nachbarn im gesamten 18. Jahrhun- war geprägt vom Geist der Aufklärung und von den dert schlechte Erfahrungen gemacht hatte.3 Folgen der Französischen Revolution; geformt aber wurde er durch den Ein­fluss Napoleons und vor al- Nach kam zunächst ein britisches Sub- lem durch die starke Hand des führenden Politikers sidiencorps, das am 6. Juli 1800 in der Stadt eintraf dieser Jahre, Maximilian Joseph Freiherr von Mont- und für insgesamt sechs Monate allein täglich 2.000 gelas, der in einer „Revolution von oben“ das neue Portionen Brot verzehrte. Dazu kamen Abgaben Staatswesen schuf. für Fourage, Strohlieferungen, Schanzarbeiten und Lastfuhren zu Schiff und zu Land – insgesamt Las- Bei Ausbruch der Französischen Revolution im Jah- ten, die zu schultern den Bürgern der Stadt viel ab- re 1789 befand sich in Pfalz-Bayern die Regierung verlangte. Der damals auch für Rosenheim zustän- Kurfürst Karl Theodors bereits mitten in einer in- dige Landrichter von Aibling protestierte in einer nen- und außenpolitischen Krise. Als Max Joseph Vorstellung an das Ober-Marsch-Commissariat 1799 die Herrschaft übernahm, war die politische Burghausen-Kraiburg und erklärte, er zöge es vor, Situation Bayerns prekär: Die linksrheinische Pfalz „sich lieber selbst in das Zuchthaus befördert zu war von Frankreich besetzt, die rechtsrheini­sche wissen, als die Unterthanen ganz ausschinden zu bedroht; in Bayern selbst standen über 100.000 ös- sehen.“4 terreichische Soldaten, die jederzeit zur Annexions- armee werden konnten. Die Entscheidung für ein Doch mit den Siegen Napoleons und dem Einmarsch Bündnis mit Österreich, England und Russland war der Franzosen in München wurden die Verhältnis- daher im zweiten Koali­tionskrieg gegen Frankreich se noch bedrückender. Nach einem kurzzeitigen (1799–1801) eine Frage des Überlebens.1 Waffenstillstand, der mit riesigen Kontributionen in Höhe von 3,6 Millionen Gulden erkauft wurde, ver- In Rosenheim – damals gemäß der Volkszählung lagerte sich das Kriegsgeschehen in den Rosenheimer des Jahres 1794 mit 1.622 Einwohnern nach Tölz Raum. Noch ein erstes Gefecht vor den Toren, und der zweitgrößte Markt Altbayerns und größer als so schon fielen die französischen Truppen plündernd manche Stadt im Kurfürstentum Bayern2 – kündigte in den Markt ein und bescherten den Bürgern einen sich die neue Zeit freilich zunächst mit wechselnder unruhigen Dezember. Am 3. Dezember 1800 verlo- Militärpräsenz, Einquartierungen und Plünderun- ren Erzherzog Johann von Österreich und der bay- gen an. Freund und Feind wechselten in wenigen erische Feldmarschall Wrede bei Hohenlinden die Jahren mehrmals und manchmal waren die Truppen alles entscheidende Schlacht gegen die französischen befreundeter Nationen nicht weniger verheerend als Truppen unter General Moreau. Die Bayern allein die feindlichen Regimenter. Als 1798 die Österrei- hatten 5.000 Tote, Verwundete und Gefangene zu cher als Bündnispartner gegen Frankreich in Bayern beklagen. Die Österreicher verbrannten auf dem

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 169 Rückzug vor den von Aibling her anmarschieren- Im Frieden von Lunéville stimmte der Kaiser der den französischen Soldaten noch die Innbrücke, ehe endgültigen Abtretung der linksrheinischen Gebiete am Weihnachtstag endlich ein Waffenstillstand vor- zu. Durch eine gezielte Indiskretion wurde bekannt, läufige Ruhe schuf, dem schließlich im Februar 1801 dass sich Österreich während die­ser Verhandlungen der folgenreiche Friede von Lunéville folgte. erneut um eine Abtretung Bayerns bemüht hatte. Die Folge war ein bayerisch-französisches Abkommen Im April dieses Jahres kehrte der bayerische Kur- im Jahre 1801, in dem Frankreich einen Länderaus- fürst Max Joseph aus seinem Bayreuther Exil wie- gleich für die annektierten linksrheinischen Gebie- der nach München zurück und Rosenheim erhielt te in Aussicht stellte. Damit begann die allmähli­che nun den Stab eines bayerischen Feldjägerregiments Hinwendung Bayerns zum französischen Partner, mit ca. 80 Mann zur Einquartierung, was wiederum die Montgelas aus Vor­sicht gegenüber Österreich erheblich zu Buche schlug und Anlass zu einer Peti- und mit dem sicheren Gespür für die überlegene- tion an den Kurfürsten bot, in der man die trostlose re Kraft in Europa betrieb. 1805 schloss Bayern im Lage des Marktes in düstersten Farben schilderte: Vertrag von Bogenhausen ein geheimes Schutz- und Trutzbündnis mit Napoleon, das der ängstliche „Gnädigster Herr! Wir wollen gern thun, was wir bayeri­sche Monarch erst ratifizierte, nachdem schon können; aber zur Unmöglichkeit wird niemand an- französische Truppen in Bayern einmarschiert wa- gehalten. Es sind unser 160 Bürger, wovon der drit- ren. Im dritten Koalitionskrieg war Bayern auf der te Theil absolute quartierunfähig, ja vielmehr selbst Seite Na­poleons und damit des Siegers. Das unter- desselben benöthigt ist; so sind auch die übrigen 2 legene Österreich verlor im Frieden von Pressburg Drittel erschöpft und ausgesaugt, welche doch bei nicht nur ein Achtel seines Gebietes, sondern muss- der großen Anzahl Feldjäger und bei der Unthun- te auch 1806 die Erhebung Bayerns und Württem- lichkeit, das Quartier den ganz erarmten einzulegen, bergs zu Königreichen akzeptieren. dasselbe für beständig tragen sollen! Und da sogar andere durch die Kriegsdrangsale minder beschädig- Rosenheim aber erlebte wieder Truppendurchzüge: te Ortschaften z. B. die ungleich größere Stadt Was- Am 1. Oktober 1805 zogen 1.400 feindliche Öster- serburg nicht so stark wie wir belegt sind, so bitten reicher ein, die allerdings nach vier Wochen von den unterthänigst gehorsamst, Euere Kurf. Durchlaucht Bayern vertrieben wurden. Diese aber blieben im [möchten] geruhen, nicht nur den Staab des Feld- Land und erhöhten die Kriegsschulden um weitere jäger-Regiments von Rosenheim zu entfernen, son- 12.743 Gulden. Am Ende des Jahres 1805 zählte man dern auch das Quartier selbst, wenn wir doch eines 10.627 Mann Einquartierung.7 Am 19. Januar 1806 tragen müssen, auf eine leidliche Anzahl gnädigst zogen französische und bayerische Truppen durch herab zu moderieren.“5 die Region, die für drei Tage 74.000 Pfund Fleisch, 150.000 Maß Bier, 75.000 Rationen Brot, 480 Schef- Allein die Kriegsschulden des Marktes betrugen nun fel Hafer, 12.000 Bund Heu und 15.000 Bund Stroh 33.572 Gulden; nicht weniger als 180.000 Gulden forderten,8 im Februar und März waren weitere Privatvermögen waren verloren gegangen, sodass französische Truppendurchzüge zu verzeichnen. das gesamte Restvermögen nur noch 187.000 Gul- Die Einquartierungen setzten sich bis 1807 fort. Ins- den betrug. Das Gemeindevermögen belief sich nur gesamt waren 29.811 Soldaten im Markt gewesen, noch auf 24.000 Gulden und alle Versuche, durch für die 39.739 Gulden Quartiergeld zu verrechnen Einführung eines Bierpfennigs, eines Getreidegro- waren.9 schens und eines Viehaufschlags mehr Geld in die Kasse zu bringen, schlugen fehl, weil die Regierung Zur Abwehr der österreichischen und Tiroler Trup- aus Angst vor der Volksstimmung dazu keine Ge- pen wurde sogar ein Gebirgsschützenkorps aus den nehmigung erteilt hatte.6 Landgerichten Aibling, Miesbach, Tölz, Weilheim,

170 Manfred Treml Schongau und Werdenfels zusammengestellt. In der Vieh wegzutreiben, und eure Weiber und Töchter Bekanntmachung vom 17. Oktober 1805 hieß es: zu misshandeln. Dieser Ueberfall muß abgehalten, und wenn er erscheint, so zurückgetrieben werden, „Treue Bewohner der baierischen Gebirge! Ihr daß sie bereuen müssen, eure Gränzen betreten zu wisst, wie der Churfürst gezwungen worden ist, haben. Man wird euch mit Mannschaft unterstüt- sich gegen den ungerechten Angriff Oesterreichs zen. Aber ihr selbst seyd am ersten im Stande, euch mit den Waffen zu vertheidigen, und seine Truppen zu vertheidigen. Ihr kennt die Wege und Stege, ihr mit den französischen zu vereinigen. In dieser Lage seyd treffliche Schützen, ihr seyd herzhafte, bra- muß Alles zusammenhelfen, um den Feind aus dem ve Männer. Sammelt euch also unter euren Rotten, Vaterlande zu vertreiben. Schon sammelt sich der unter euren Hauptmannschaften! Erfahrne Anfüh- Tyroler Landsturm, um euch in den friedlichen Ge- rer stellen sich an eure Spitze. Ergreifet die Waffen! birgen zu überfallen, eure Häuser zu plündern, euer Euer Vaterland wird bald ganz befreyet seyn.“10

Kampf zwischen Franzosen und Kaiserlichen bei den Stephanskirchener Höhen am 9. Dezember 1800, Kopie nach einer zeitgenössischen Vorlage, Öl auf Leinwand von Michael Licklederer, 1901.

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 171 Diesem rhetorisch-propagandistischen Auftakt entscheidende Bedeutung, diente aber zur Legiti- schlos­­­sen sich organisatorische Hinweise an, die mation für eine bis heute anhaltende selbstbewusste mit der Androhung von Arreststrafen bei Verstö- Traditionspflege. ßen und dem Versprechen von Belohnungen und Auszeichnungen bei besonderer Tapferkeit und Ge- Im Bündnis mit Napoleon vergrößerte Bayern sein schicklichkeit endeten. Territorium erheblich und erfuhr eine gewaltige Um- gestaltung auch im Inneren. Als der Stern des Kai- Mit der Tiroler Erhebung gegen die bayerische sers der Franzosen im Sinken war, steuerte Montge- Herrschaft hatte Rosenheim nun auch eine ausge- las rechtzeitig um und führte sein Land wiederum sprochen unruhige Grenze in nächster Nähe.11 Ins- ins siegreiche Lager. Der Russlandfeld­zug des Jahres besondere die brutale Eroberung von Reichenhall 1812, der für Napoleon und seine Verbündeten in durch Truppen aus Tirol und Österreich im April einem Fiasko endete und etwa 30.000 bayerischen 1809 löste heftigen Protest aus: Soldaten den Tod brachte, führte den Umschwung herbei. In Geheimverhandlungen bereiteten Mont- „Diese Scenen waren nicht bloß empfindlich für gelas und Feldmarschall Wrede den Bündniswechsel den Menschenfreund, sondern empörend für jedes vor. Am 8. Oktober 1813 wurde in Ried der Bünd- rechtliche Gefühl. Es ist Schande für die Mensch- nisvertrag mit Österreich geschlossen, in dem sich heit, ihre Leidenschaften in solche Lasterthaten Bayern vom Rheinbund lossagte und seine Armee ausarten zu sehen.“12 Und weiter heißt es: „Die dem österreichischen Ober­kommando unterstellte. merkwürdige Geschichte des Aufenthalts der k. k. Im Gegenzug dafür erhielt Bayern seine ungeschmä­ österreichischen Truppen in Reichenhall konzent- lerte Souveränität zugesichert und einen territorialen rirt sich demnach in folgende, für die Nachwelt ganz Besitzstand im bisherigen Umfang garantiert. unvergeßliche Punkte: sie kamen, aßen, tranken, lo- gen und wurden in die Wälder versprengt.“13 Zwischen Oktober 1813 und März 1814 zogen wiederum Truppen durch den Markt Rosenheim, Aufgrund dieser Ereignisse erweiterte der König am diesmal österreichische Reservetruppen, immerhin 7. Mai das Gebirgsschützenkorps,14 um damit Kräfte in einer Gesamtzahl von 17.447 Personen. Diese gegen die rebellischen Tiroler zu mobilisieren. Drei erhielten, wie Hefner akribisch festhielt,15 26.032 Abteilungen wurden nun eingerichtet: die erste aus Mundportionen und verursachten Kosten von den Gerichten Reichenhall, und Trost- 17.354 Gulden und 54 Kreuzern. Außerdem erhiel- berg unter Leitung der Forstinspektion Traunstein, ten sie 169 Vorspannen, 13 reitende Boten, 4 Schif- die zweite aus den Gerichten Rosenheim, Miesbach, fer bis Wasserburg sowie 667 Zentner Heu und 143 Tölz und unter Leitung der Forst- Zentner Stroh. inspektion Rosenheim, die dritte aus den Gerichten Werdenfels, Weilheim und Schongau unter der Lei- So hatten die Menschen der Region unruhige Jahre tung der Forstinspektion Garmisch. An das Bürger- durchgestanden, ehe endlich der Wiener Kongress militär appellierte man, sich den Gebirgsschützen 1815 diese wechselhaften Kriegszeiten beendete. anzuschließen. Falls sich nicht genügend Freiwillige meldeten, sollte durch Losverfahren ergänzt wer- Säkularisation16 und kirchliche Entwicklung den. Immerhin hatte die erste Abteilung 500, die beiden anderen je 1.000 Schützen zu stellen, sodass Die Frage der Kompensation für die linksrheinischen unter Einbeziehung der Reserve 7.500 Mann zur Gebiete war für Staaten wie Bayern von erheblicher Verfügung stehen mussten. Dieses letzte große mi- Bedeutung. Das besondere Bemühen Bayerns um litärisch ernsthafte Aufgebot der Gebirgsschützen die Aufhebung auch der nicht reichsunmittelbaren­ hatte zwar für den bayerischen Kriegserfolg keine Klöster war schließlich ebenfalls von Erfolg gekrönt.

172 Manfred Treml Noch ehe der Reichsdeputationshauptschluss­ 1803 setzte kurfürstliche Spezial-Kommission ans Werk. die reichsrechtliche Genehmigung erteilte, ging Max Zunächst wurden in ganz Bayern Kommissionen Jo­seph an die seit 1799 geplante Aufhebung der bay- zur Untersuchung des Klostervermögens eingesetzt. erischen Klöster, die als Landstände allerdings unter In Rosenheim bestand diese Kommission aus dem reichsrechtlichem Schutz standen. Die Bettelorden, Landrichter Schmid aus Aibling und dem Aktuar die diesen Schutz nicht genossen, löste man bereits Fischbacher als Schreiber, dessen detaillierte Proto- vorher auf. kolle den Aufhebungsvorgang minutiös nachvoll- ziehbar machen. Dass fiskalische Überlegungen sich deutlich mit der kirchenfeindlichen Grundstimmung verbanden, Neben der Übersicht über die Vermögensverhältnis- zeig­te schon die Anordnung vom 1. Januar 1801, se verschaffte sich die Kommission auch Informati- dass alles „ was […] Gold, Silber, Edelstein und an- onen über die Reichweite und Bedeutung der seel- dern Kirchenschätzen und zwar auch an Gefäßen sorgerlichen Tätigkeit der Mönche. Dabei scheint und Paramenten vorhanden ist“17 binnen acht Tagen immer wieder ein Gegensatz und ein Konkurrenz- zu erfassen sei. Ausdrücklich wurde ein strafbewehr- verhältnis zu den Weltgeistlichen und den Mönchen tes Verkaufsverbot angeordnet, das allerdings die der Prälatenklöster auf, die der von den Bettelorden Rosenheimer Bürger zu unterlaufen versuchten.18 gepflegten Volksfrömmigkeit skeptisch gegenüber- standen. Auch in Rosenheim wirkte sich der aufgeklärte Geist des neuen Jahrhunderts massiv aus. Vor allem traf es „Kein Volk ist schwerer zu beherrschen als das hier die in der Bevölkerung beliebten Kapuziner,19 bayerische, welches unter dem Einfluss fanatischer deren Kloster einst von dem bürgerlichen Handels- Bettelmönche steht“,20 klagte 1802 der Münchner herrn und Ratsmitglied Papin gestiftet und mit Hil- Pfarrer Dornhofer. Auch der Rosenheimer Pfarrer fe des bayerischen Herzogs Maximilian I. im Jahre Rieder hielt die Kapuziner für entbehrlich, bat aber 1606 eingerichtet worden war. Das Kloster hatte den Landrichter zugleich, diese seine Meinung nicht sich rasch entwickelt und diente zeitweilig sogar als öffentlich werden zu lassen. Andere, wie der Aiblin- Ausbildungsort für den Nachwuchs der Kapuzi- ger Pfarrer, erstatteten diensteifrig Bericht, „daß nerprovinz. Als Prediger und Seelsorger, als Lehrer die Kapuziner von der aiblingischen Kanzel schon und Beichtväter agierten die Kapuziner volksnah. entfernt sind“, und bezeichneten sie als „schädliche Schlecht allerdings war die materielle Situation die- und unschickliche Aushelfer, welche vom Geist der ses und anderer Klöster, die daher auch auf milde Weisheit und Tugend nicht belehrt sind“.21 Gaben und Almosen angewiesen waren. Genau dies aber trug ihnen die meiste Kritik der aufgeklärten Nachdem die unliebsame Konkurrenz bald weit- Zeitgenossen ein, die Betteln als entwürdigend und gehend aus der Seelsorge verdrängt war, ging es im als nicht angemessen betrachteten. So wurden die nächsten Schritt an die Klöster selbst. Das Rosenhei- Franziskaner und Kapuziner zum beliebtesten An- mer Kloster war dazu ausersehen, als sogenanntes griffsobjekt eines antiklösterlichen Zeitgeistes, der „Aussterbekloster“ zu dienen, und sollte die übrig sie als ungebildet, plump und roh darstellte und ih- gebliebenen Mönche des Münchner Kapuziner- ren Einfluss auf das Volk als schädlich ansah. klosters aufnehmen. Nachdem die „Ausländer“ des Landes verwiesen und viele Laienbrüder auf größe- Ein kurfürstliches Dekret vom 25. Januar 1802 schuf re Abteien der Prälatenorden verteilt worden waren, die rechtlichen Grundlagen für eine allmähliche erfuhren die restlichen Mönche am späten Abend Reduzierung der Bettelordensklöster und enthielt von ihrer Verlegung und hatten schließlich um drei zahlreiche rigide Maßnahmen, um dieses Ziel zu Uhr morgens nach Rosenheim zu reisen, wo sie am erreichen. Bald schon machte sich eine dafür einge- 27. März 1802 abends eintrafen.

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 173 Dieses Zentralkloster, in dem die Lebensumstände lässt die Leinwant nicht, und die Frau Forstmai- der 36 Patres und Laienbrüder äußerst beschränkt er braucht unbedingt die 6 Ellen Wachstuch, der und staatlich reguliert waren, wurde am 16. Okto- Herr Bürgermeister die 12 Pfd. Leder; die Ellmai- ber 1803 durch ein kurfürstliches Dekret endgültig erin kann ihr Hauswesen nicht erhalten ohne die 7 aufgehoben, die noch vorhandenen Mönche sollten Speitrücherl und die Zehetmayerin muß den grünen auf andere Klöster verteilt werden. Bis zum 1. No- Hoffnungsvorhang vom Ofen haben. […] Alle hat vember musste das Kloster geräumt sein, danach die Habgier gepackt; nur wenige sind klug oder ge- erfolgte die Schätzung der Klostereinrichtung und mütvoll. […] Der aber, der für das Öl-Porträt des die öffentliche Versteigerung des Besitzes – ein Vor- Kloster-Erbauers, der für den ‚geflickten Papin‘ 3 fl. gang freilich, der sich insgesamt bis Mai 1805 hinzog hatte, war nicht der Ortspfarrer, nicht der geistliche und lediglich einen Gesamterlös von ca. 5.300 Gul- Vater des Klosters, sondern Sattler Reheis. Spricht den erbrachte. Das vorhandene Silber wurde nach es nicht wie ein besonderer Segen an, daß gerade die München geschafft, etwa 300 Bücher wurden für aus der Pietät gemachten Erwerbungen sich bis auf die Hofbibliothek ausgewählt, Einrichtungsgegen- uns gefristet haben.“22 stände, Gerätschaften und Paramenten, Gebäude und Garten 1804 in mehreren Versteigerungen ver- Die endgültige Abrechnung der beteiligten Rosen- äußert. Die restlichen 2.700 Bücher, die als wertlos heimer Beamten zog sich bis 1808 hin. Im gleichen oder gar als schädlich galten, kaufte der Münchner Jahr wurde die Klosterkirche abgerissen, um für „Pappendeckelfabricant“ Kaut, der im Mai 1805 den den Neubau der Saline Platz zu schaffen. Der kir- Empfang von 28 Zentnern zum Preis von 18 Gulden chenfeindliche Geist traf noch eine Reihe anderer und 40 Kreuzern quittierte. Kirchen und Kapellen, die nun als „entbehrlich und überflüssig“ galten. So wurden etwa seit 1804 St. Eli- Ludwig Eid beschreibt eine dieser Versteigerungen sabeth, Loreto, St. Sebastian, die Roßacker-Kapel- sehr anschaulich und nicht ohne Seitenhiebe auf die le, St. Michael, St. Salvator, die Weidacher-Kapelle gewinnsüchtige Rosenheimer Gesellschaft: „Aber und St. Martin gesperrt. 1807 und 1808 wurden die als jetzt die Versteigerung beginnt, da vergisst man Kapellen St. Magdalena und St. Johann Nepomuk, alles, Vorsätze und Tadel. Pfarrer Rieder steigert Kloster und Kirche St. Elisabeth und die Fried- Gläser Bouteillen und Taferl, der Weber am Moos hofskirche St. Salvator abgebrochen, der Friedhof

Altes Rosenheimer Kapuzinerkloster, Ausschnitt aus dem Kupferstich von Johann Nepomuk Maag, 1799.

174 Manfred Treml wurde aufgehoben. Am 1. Januar 1808 erwarb die war aber zugleich die Voraussetzung für die Entste- Königliche Generaladministration der Salinen das hung des modernen Rechts- und Verfassungsstaates. gesamte Areal. Beim Abriss der Salvatorkapelle ging Sie war ein gewaltiger Kulturbruch, zum Teil beglei- die gesamte Einrichtung verloren; zudem wurden tet von barbarischem Umgang mit Kunstwerken, vom Friedhof die Kreuze entwendet.23 Die Roßa- Büchern, Archivalien und vor allem auch Gebäuden, cker-Kapelle überlebte nur, weil der damalige Be- aber zugleich auch Ausgangspunkt für ein Kultur- sitzer des Flötzingerkellers, der Bierbräu Sebastian staatsbewusstsein, das heute integrativer Bestandteil Zollner, sie als sein Privateigentum ausgab, sodass der Bayerischen Verfassung ist. Die unmittelbaren sie der Landrichter nur sperren ließ.24 fiskalischen Erfolge, das eigentliche zweckrationa- le Antriebsmoment des vom Bankrott bedrohten Massiv waren auch die Eingriffe in die Lebenswelt bayerischen Staates, blieben aus, die kulturerhal- des gläubigen Volkes. Die Christmette wurde von tenden Verpflichtungen dagegen trägt Bayern bis der Nacht auf den Morgen verlegt, Feiertage wur- heute, sehr zum Nutzen seiner unverwechselbaren den abgeschafft, Bittgänge nach Loreto, die Schiffs- Kulturlandschaft. Angesichts dieser Ambivalenzen wallfahrt nach Altötting und viele Andachten verbo- wird das Urteil der Historiker auch weiterhin kon- ten. Kirchweih legte man einheitlich auf den dritten trovers bleiben,27 mit Sicherheit aber war vor allem Sonntag im Oktober fest.25 Diese ganz der aufge- die rigorose, mehr von ideologischer Blindheit als klärten Vernunft geschuldete Reglementierung einer von nüchterner Opportunität bestimmte Auflösung tief verwurzelten Volksfrömmigkeit ist oft weit über der Klöster „kein Ruhmesblatt für Bayern“28. das vernünftige Ziel hinausgeschossen und hat sich nicht selten in Widerspruch zum eigenen Toleranz- Die Kirche hatte durch die Säkularisation weltli- gebot gesetzt. che Herrschaftsrechte und Vermögen verloren und war zum Kostgänger des Staates geworden. Nach Wenig untersucht sind zudem die harten sozialen der Aufhebung der geistlichen Fürstentümer und Folgen, die nicht nur Mönche und Geistliche, son- der Prälatenklöster war nicht nur der erste Stand dern auch viele kleine Leute trafen, die wirtschaftlich der einstigen Landschaftsverordnung verschwun- von Klöstern abhängig waren. Der Brauereipächter den, sondern auch ein jahr­hundertealtes System auf der Insel Frauenwörth etwa schrieb am 12. Sep- von Herrschaft, Wirtschaft, Bildung und Kultur tember 1804: zer­schlagen, für das zunächst kein Ersatz vorhan- den war. „Die traurige Lage, in welcher sich 41 Familien auf der Fraueninsel befinden, ist eine der schrecklichs- So hatte sich die Kirche insgesamt neu zu orientie- ten, die man sich denken kann. Diese Leute waren ren.29 Auf der Grundlage des Konkordats zwischen fast alle vom Kloster genährt – Professionisten aller dem Königreich Bayern und dem Heiligen Stuhl aus Art hatten fast beständig Arbeit für selbes; jetzt ist dem Jahre 1817 gelang ihr das auch im Rosenheimer das alles vorbey, kümmerlich trotzen sie dem halben Raum erstaunlich gut. Mit der Neuformierung des oder viertel Tagwerk Erde, welches ihnen bei Auf- Erzbistums München- und der Ernennung hebung des Klosters zur Entschädigung gegeben von Lothar Anselm Freiherr von Gebsattel zum wurde, etliche Metzen Getreide ab, und damit sollen ersten Erzbischof endete nicht nur die seit 1803 an- sie das ganze Jahr leben können.“26 dauernde bischofslose Zeit, sondern war auch eine tragfähige institutionelle Grundlage geschaffen. Das Die Säkularisation hatte in ihrer Gesamtheit nicht Erzbistum gliederte sich seit 1821 in insgesamt 36 nur kulturelle und soziale, sondern auch wirtschaft- Dekanate, wobei der Markt Rosenheim zum Deka- liche und territoriale Folgen, die Bayern massiv ver- nat Aibling gehörte, als dessen Dekan der langjähri- änderten. Sie stellte einen klaren Rechtsbruch dar, ge Rosenheimer Stadtpfarrer Dr. Karl Georg Rieder

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 175 amtierte.30 Seine besondere Leistung bestand darin, geordneten des ersten Bayerischen Landtags. Lud- dass er in einer von 1791 bis 1831 währenden Amts- wig I. verlieh ihm für diese und andere Leistungen zeit die Kontinuität wahrte und zugleich von der al- den Ludwigs-Orden, die Stadt hat 1882 nach ihm ten in die neue Zeit führte. eine Straße benannt. Am 17. Juli 1831 ist er im 78. Lebensjahr gestorben und auf dem 1810 neu eröff- Aus der inkorporierten Pfarrei Buch am Erlbach neten Marktfriedhof bei St. Sebastian bestattet wor- der Frauenchiemseer Hofmark stammend, war er den. Landrichter Klöckel hat ihm in einem Begleit- zunächst als Hilfspriester und Pfarrvikar in Pfaffen- schreiben zu seiner 1815 erschienenen Schrift über hofen tätig, ehe er am 14. August 1791 vom letzten Rosenheim ein Lob ausgesprochen, das eine gewis- Bischof von Freising, Joseph Konrad von Schroffen- se aufklärerische Seelenverwandtschaft erkennen berg, die Pfarrei Rosenheim verliehen bekam. Zu- lässt: „Es ist jener Ort beschrieben, der ein Viertel gleich wurde er Dekan des Ruraldekanats Aibling, Jahrhundert unter Ihrer Pflege stehet, von dem Sie wenig später Rosenheimer Schulinspektor und 1795 nun auch die Zierde sind. Sie lebten während des Mitglied der geistlichen Regierung, vergleichbar Kampfes zwischen Licht und Dunkel, zwischen dem heutigen Ordinariat. Mit der Gründung eines Über- und Unglauben und so führten Sie den Pfleg- Ministeriums für geistliche Angelegenheiten durch ling durch die Zeiten wohlbewacht. Nicht lehre Sät- Montgelas im Jahre 1799 sah sich Pfarrer Rieder ze in die Massen werfen, sondern durch Lehren das vor eine völlig neue Situation gestellt und mit dem Gewissen und die Kenntnisse wecken und vervoll- Staatskirchentum des modernen Staates konfron- kommnen, das war Ihr Handeln. Und damit gehen tiert. Er musste die Säkularisation mit all ihren Fol- Sie zur Nachwelt über.“33 gen hinnehmen und bemühte sich um Abmilderung wenigstens der menschlichen Belastungen. Deshalb Rieders Nachfolger, der Schwabe Albert Hofmann, wohl hat er die Apothekerin des Stiftes Frauen­ der bis 1845 lebte, war mehr der Typus des stillen wörth, Maria Xaveria von Egger, in seinen Haus- Gelehrten. Immerhin plante er als Beauftragter des stand mit aufgenommen und ihr ermöglicht, „abge- Historischen Vereins für Oberbayern bereits einen sondert von dem Geräusche der Welt und befreyt Filialverein in Rosenheim und sammelte von 1838 von den beunruhigenden Nahrungssorgen ruhig bis 1844 sogar schon Material für eine Ortsgeschich- und zufrieden zu leben“31. te Rosenheims. 1882 wurde auch nach ihm eine Stra- ße benannt.34 Als Distrikts-Schulinspektor hatte er auch viele der staatlichen Maßnahmen dieser Jahre mit zu vertre- Nach dem Ende der Montgelas-Ära im Jahre 1817 ten; nicht zuletzt unterstand ihm seit 1815 die neu kamen die alten Formen der Volksfrömmigkeit bald errichtete Lateinschule, die bis 1837 unter Führung wieder zu ihrem Recht. Mit Visitationen allerdings des pensionierten Herrenchiemseer Augustiner- sorgte die kirchliche Obrigkeit für Zucht und Ord- Chorherrn Gregor Perndorfer stand.32 nung, insbesondere was das Auftreten von Priestern und Ordensleuten in der Öffentlichkeit, den Besuch Aufgrund mehrerer Stiftungen war die Versorgung von Gasthäusern und das Alter der Haushälterin- mit Priestern in Rosenheim trotz des Wegfalls der nen betraf. Bildungsanregungen gingen vom 1831 Kapuziner stets zufriedenstellend, wobei mancher gegründeten katholischen Bücherverein aus, den ehemalige Ordensmann hier eine Sicherung seiner Pfarrer Rieder noch in seinem letzten Lebensjahr Lebensverhältnisse fand. Unterstützung gewähr- wirkungsvoll unterstützt hatte. te Pfarrer Rieder auch den zahlreichen Aktivitäten für den Neuaufbau und die verbesserte Ausstattung Nach der Jahrhundertmitte entwickelten sich auch in von Kirchen und Kapellen in seinem Dekanat. 1819 Rosenheim neue Formen der Vereinsseelsorge und gehörte er sogar zu den vom Klerus gewählten Ab- zugleich des Laienkatholizismus, etwa 1855 durch

176 Manfred Treml Gründung eines „Katholischen Gesellenvereins“. protestantischen Gesamtgemeinde in dem Königrei- Dazu gesellten sich neue Orden mit sozialen Ziel- che.“ Ein Oberkonsistorium in München übernahm setzungen: 1851 kamen die Armen Schulschwestern nun die Geschäftsführung, dem das für Ober- und in den Markt, um den Volksschulunterricht und eine Niederbayern direkt zuständige Dekanat München Kinderbewahranstalt zu übernehmen; 1862 folg- unterstellt war. ten die Mallersdorfer Schwestern, die in der Kran- kenpflege wirkten. Vor allem aber gelang es, dem Dass vor den Toren Rosenheims die erste protestan- Wunsch von Magistrat und Bürgerschaft folgend, tische Gemeinde Oberbayerns entstand, hing mit die Kapuziner wieder zurückzuholen.35 1854 bis der Ansiedlung von 60 Pfälzer Familien zusammen, 1856 wurde das neue Kloster errichtet, die alte Se- die sich auf Wunsch des Königs zur Kultivierung des bastianskirche zur Klosterkirche umgebaut und „am Moores an einem Ort ansiedelten, den sie nach der 28. Oktober 1856 (am selben Tage an dem 53 Jahre Königin benannten. Dieses „Carolinenfeld“ hielt zuvor die Väter aus Rosenheim vertrieben worden schwere Erfahrungen und harte Zeiten für die dort waren) zogen 4 Väter und 3 Laienbrüder Kapuzi- lebenden und arbeitenden Reformierten und Luthe- ner unter Vorantragung des Kreuzes und dem Ge- raner und ihre Feldprediger und Pfarrer bereit. Die bet des hl. Rosenkranzes von der Pfarrkirche aus in evangelische Gemeinde von Großkarolinenfeld war das neuerbaute Kloster, […]. So wurde ein Unrecht auch für die wenigen Rosenheimer Protestanten zu- vergangener Zeiten durch eine edle That der Gegen- ständig, deren Zahl sich 1810 nach dem Bau der Sa- wart gesühnt, und es bleibt uns nur der Wunsch, daß line vergrößerte.37 Im Jahre 1833 sind für den Markt der Segen Gottes über dem Werk bleiben möge.“36 Rosenheim immerhin mehrere Familien mit insge- samt 30 Seelen in den Kirchenbüchern von Großka- Mehr noch als die katholische Kirche wurde der rolinenfeld vermerkt.38 Protestantismus einem rigiden Staatskirchentum unterworfen.­ Immerhin galt aufgrund des Toleranz- Bereits 1822 erhielt die Gemeinde eine eigene Kir- reskripts von 1801 die Ansiedlungsfreiheit für Pro- che – die erste in Oberbayern –, deren Ausstattung testanten in dem bis 1777 streng katholischen Kur- eher nüchtern war, weil die seit dem gleichen Jahr fürstentum, dessen Herrscher einst die Vorkämpfer in der Rheinischen Union zusammengeschlosse- der Gegenreformation gewesen waren. Die terri- nen Lutheraner und Reformierten hier gemeinsam torialen Erweiterungen im Verlauf der Napoleoni- Gottesdienst hielten. Die erste Orgel, die der König schen Ära brachten Bayern erhebliche Landgewinne stiftete, stammte aus dem säkularisierten Kloster Te- und mit diesen auch viele evangelische Christen, die gernsee. nach religiöser Parität verlangten. 1809 wurde im Religionsedikt die evangelische Kirche zur Körper- Die fortschreitende Industrialisierung und vor allem schaft des öffentlichen Rechts erklärt und der ka- der Bau der Eisenbahnlinie führten zu einer weite- tholischen Kirche gleichgestellt. Allerdings galt für ren Zuwanderung von Evangelischen. So entstand sie weiterhin der königliche Summepiskopat, nach in Kolbermoor eine kleine evangelische Gemeinde, dem der Monarch auch in geistlichen Angelegenhei- als dort die Spinnerei ihren Betrieb aufnahm, spä- ten als Oberhaupt der Kirche fungierte. Pfarrer und ter wurde sogar ein Betsaal auf dem Betriebsgelände Bedienstete wurden wie staatliche Beamte besoldet, eingerichtet, der vom Pfarrer von Großkarolinen- auf die innere Organisation und die Berufung der feld mitversorgt wurde. Führungskräfte nahm der Staat in nicht geringem Maße Einfluss. Als konfessionelles Grundgesetz Für Rosenheim, wo es zu diesem Zeitpunkt etwa galt schließlich das der Verfassung von 1818 beige- 100 Evangelische gab, ist für 1856 ein erster Gottes- fügte Religionsedikt mit seinem zweiten Anhang dienst in der Wohnung des Schneidermeisters Klep- „Edikt über die kirchlichen Angelegenheiten der per bezeugt, der sich auch um die Errichtung eines

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 177 Bethauses und die Gründung eines Vikariats be- Das alte Landgericht Rosenheim, das um 1800 mühte, damit beim Oberkonsistorium in München 10.602 Einwohner hatte,39 wurde am 16./17. Septem- aber keinen Erfolg hatte. Immerhin stellte der Ro- ber 1803 aufgelöst und zunächst dem Landgericht senheimer Magistrat 1860 einen Raum im Rathaus Aibling bzw. dem neu gebildeten Landgericht Fisch- am Max-Josefs-Platz als Betsaal zur Verfügung, in bach, dem Nachfolger des Gerichts Auerburg, ange- dem Reiseprediger zunächst drei bis vier Mal im gliedert.40 Die Sitze des Landgerichts lagen dement- Jahr Gottesdienste abhielten. Der Bau einer eigenen sprechend auch in diesen beiden Orten. Schon 1807, Kirche allerdings ließ noch lange auf sich warten. als sich durch die Angliederung Tirols an Bayern die Erst am 3. Oktober 1886 wurde sie eingeweiht. territorialen Verhältnisse änderten, wurde diese Re- gelung zugunsten Rosenheims abgewandelt, das nun Reformen in Staat und Markt das Landgericht erhielt, während das Aiblinger Ge- richt aufgelöst und erst 1838 wieder errichtet wurde. Das heutige Staatsbayern, das von Das Amt Auerburg wurde 1809 dem ehemals tiroli- bis Aschaffenburg, von Kempten bis Hof reicht, ist schen Landgericht Kufstein zugeteilt, kam aber 1814 in wenigen Jahren entstanden. Zunächst war es ein nach dem Verlust Tirols endgültig an das königliche Konglomerat aus über 70 Territorien, die sich im Landgericht Rosenheim zurück. Rechtswesen, den Staats­traditionen, in Größe und Finanzkraft und vielen anderen Bereichen erheblich Besonders kompliziert waren die Verhältnisse in Be- voneinander unterschieden. Die kriegerischen Jahre zug auf die Adelsherrschaft Hohenaschau-Wilden- der Napoleonischen Zeit ließen kein gemächliches wart mit ihrem Markt- und Gerichtsort Prien, die Wachsen zu, sondern konfrontierten die Menschen zwar „das Besteuerungsrecht gegenüber ihren eige- mit rasanten Veränderungen. Nicht zufällig stand nen Grunduntertanen und die eigene Steuerfreiheit“ im Zentrum dieser vielfältigen Maßnahmen die Ver­ verlor, aber „die Ausübung der Gerichtsbarkeit be- waltungsreform, die neue Strukturen schuf und mit halten“41 konnte. Dieses 1813 eingerichtete „Kgl. Rationalisierung, Zentrali­sierung und Bürokratisie- Bayerische Graf Preysingsche Herrschaftsgericht“, rung das Land erfasste. das im Rang einem Landgericht gleichgestellt war, wurde zwar 1827 von der Regierung aufgelöst, der Zu diesem Zwecke wurde das Land 1808 nach dem alte Gerichtsbezirk aber blieb bis 1848 bestehen, als französischen Vorbild der Departements in 15 Krei- im Gefolge der Revolution alle Patrimonialgerichte se eingeteilt, die nach statistischen und organisatori- endgültig ihr Ende fanden. Als „Kgl. Gerichts- und schen Gesichtspunkten gebildet und nach dem Lauf Polizeibehörde Prien“ übernahm es nun der Staat, von Flüssen der jeweiligen Region benannt wurden. der es 1853 in das Kgl. Landgericht Prien II. Klas- Sie sind nach einer Reduzierung auf zunächst neun se umwandelte und 1862 gemeinsam mit dem Ge- und dann acht Kreise die Vorläufer der späteren richtsbezirk Aibling in das neu errichtete Bezirks­ Regierungs­bezirke geworden. Auf der unteren Ebe- amt Rosenheim integrierte. 1943 wurde das Gericht ne wurde das Land in Landgerichts­sprengel aufge- in Prien zu einer Zweigstelle des Amtsgerichts Ro- teilt, die in ihren regionalen Aufgliederungen mit senheim, 1959 schließlich ganz aufgehoben. den heutigen Landkrei­sen vergleichbar sind. Wäh- rend bei den Mittelbehörden Verwaltung und Justiz Neu eingeteilt wurden auch – auf der Basis syste- bereits klar getrennt waren, blieben in den Landge- matischer Steuervermessung – die Steuerdistrik- richten beide Bereiche bis 1862 verbunden. Daneben te, die mit den neu zu bildenden Gemeinden zur bestanden als im Grunde systemfremde Sonderge­ Erleichterung der Steuerveranlagung und -erhebung walten die adeligen Patrimonialgerichte weiter, Orts- möglichst deckungsgleich sein sollten. Auf dem gerichte mit niederer Ge­richtsbarkeit, die erst 1848 Gebiet des alten Landgerichts Rosenheim wurden im Gefolge der Revolution abgeschafft wurden. insgesamt 15 Steuerdistrikte und 21 Gemeinden

178 Manfred Treml Karte des Landgerichts Rosenheim, Lithografie, 1815.

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 179 gebildet. Allerdings kam das Landgericht mit dieser volles Amt auszuüben, das in diesen kriegerischen Arbeit sehr langsam voran, sodass erst im Juni 1812 und unruhigen Jahren ein besonderes Maß an Kraft der Organisationsantrag für Rosenheim dem König und Standhaftigkeit verlangte. Bewundernswert ist vorgelegt werden konnte. Die Landgemeinden wur- die Tatsache, dass Klöckel dennoch die Zeit fand, den noch später gebildet, zum Teil bereits nach den seinen Forschungen nachzugehen, und mit dem verbesserten Möglichkeiten des Gemeindeedikts Band „Rosenheim mit seiner Heilquelle“ eine bis von 1818; endgültig abgeschlossen war die Gemein- heute wertvolle historisch-statistische Darstellung debildung im Jahre 1819. des Marktes um 1815 vorlegte.43 Sein beruflicher Weg freilich endete unglücklich, weil man ihn we- Von 1808 an gehörte das Landgericht Rosenheim gen Unordnung in den Rechnungsgeschäften 1816 zum Salzachkreis mit der Hauptstadt Burghausen, in vorläufigen Ruhestand schickte und ihm sogar ab 1810 zu dem 1837 in „Oberbayern“ umbenann- sein Ruhegehalt um ein Drittel kürzte.44 Zum Ver- ten Isarkreis mit der Hauptstadt München, bei dem hängnis wurde ihm der Bau des neuen Friedhofs, es in der Folgezeit verblieb. für dessen ungeklärte Abrechnung er jetzt gerade- stehen musste. Alle prügelten nun auf ihn ein, die Im Verlauf der Revolution von 1848 wurde die Gemeinde, die Regierung und sogar sein ehemaliger Trennung von Justiz und Verwaltung auch auf den Mitarbeiter Fischbacher übten sich in Kritik am frü- unteren Behördenebenen beschlossen; 14 Jahre spä- heren Landrichter.45 Zwei Jahre später drängte die ter wurde dieser Gesetzesauftrag endlich umgesetzt. Regierung des Isarkreises nachdrücklich nochmals Das neue Bezirksamt Rosenheim umfasste nun die auf Fortsetzung der Schuldsache des Landrichters Gerichtsbezirke Aibling, Rosenheim und Prien mit Klöckel wegen einer Schuld von 632 Gulden und insgesamt 45.233 Einwohnern. 40 Kreuzern an die Gemeinde Rosenheim.46 So sind Klöckels Münchner Jahre von 1818 bis zu seinem Seit 1802 amtierte als Landrichter und Kastner Jo- Tod 1833 überschattet von Finanzproblemen und seph Franz Wetzstein, dem 1807 als Landrichter dem fast krankhaften Versuch, seine verletzte Ehre Joseph von Klöckel42 nachfolgte. Der seit 1802 als wiederherzustellen. Der Sprachwissenschaftler und Landgerichtsschreiber dienende Raimund Stecher Bibliothekar Johann Andreas Schmeller hat sei- stieg 1807 zum Rentbeamten auf. Gerade Klöckel nen Nachlass gesichert, der heute in der Münchner war ein Repräsentant der neuen Beamtenschicht, Staatsbibliothek aufbewahrt wird und vom For- die – durchdrungen vom Geist der Aufklärung und scherdrang eines Mannes zeugt, der sich um Rosen- von wissenschaftlichen Interessen getrieben – ein heim verdient gemacht hat. in ihrem Verständnis modernes Bayern zu schaffen bemüht war. In Pöttmes bei Aichach 1773 geboren, Ein für Rosenheim bedeutsamer Beamter war auch wurde er nach Schule und Studium in Ingolstadt Friedrich Wilhelm Doppelmayr, der seine Laufbahn schon 1797 zum Fürstlich Berchtesgadenschen als Stadtgerichtsaktuar seiner Vaterstadt Nördlin- Hofkammerrat ernannt. Aufgrund von kleineren gen begann, um dann von 1805 bis 1816 als Land- Veröffentlichungen wurde er 1801 in die Histori- gerichtsassessor in Rosenheim zu wirken. Nach sche Klasse der Akademie der Wissenschaften auf- zwei Jahren im gleichen Amt in Starnberg kehrte er genommen. Doch mit der Säkularisation endete schließlich nach Nördlingen zurück, wo er zunächst dieser erste, erfolgversprechende Teil seiner Kar- „rechtskundiger Rat“ und von 1831 bis zu seinem riere abrupt. 1805 in den vorläufigen Ruhestand Tode 1845 Bürgermeister war. Für Rosenheim ist geschickt, wurde er schon 1806 als königlicher der zeichnerisch begabte Jurist zum „Bildberichter- Landrichter wieder in Dienst genommen und hatte statter“ für das frühe 19. Jahrhundert geworden.47 In nun in den Landgerichten Aibling und Rosenheim zahlreichen Zeichnungen und Aquarellen hat er ei- in einer Zeit des Umbruchs ein verantwortungs- nen wertvollen Bildbestand zur Geschichte Rosen-

180 Manfred Treml heims und seines Umlands geschaffen, den heute das ernannt und nicht mehr von den Bürgern gewählt. Stadtarchiv Rosenheim aufbewahrt. In den Jahren 1800, 1801 und 1802 bestätigte man noch weitgehend das alte Personal und verteilte so- Der moderne Monopolstaat, den zu schaffen Mont- gar Lob für dessen Tatkraft in schwierigen kriegeri- gelas gewillt war, vertrug keine Sondergewalten, schen Zeiten.50 Doch schon kurz darauf erhielt der auch nicht auf der untersten Ebene der Gemeinden, Bürgermeister eine Rüge des Landrichters mit Straf- wo das genossenschaftliche Prinzip der Selbst- und androhung wegen verspäteter Meldung einer Rats- Mitverwaltung eine lange Tradition hatte. ergänzungswahl.51 Wenige Monate später bat Bür- germeister Matthias Sagstetter nach 35 Amtsjahren Von 1802 bis zum Gemeindeedikt von 1808 wurde um Befreiung vom Amt,52 ihm folgten bald weitere die Selbstverwaltung der Städte und Märkte Schritt Ratsmitglieder und am 19. Juni Bürgermeister Jakob für Schritt beseitigt. Gerichtsbarkeit, Polizei, Steu- Ruedorffer, der sein Amt aber bis zur nächsten Wahl ererhebung, Verwaltung des Gemeinde- und Stif- im folgenden Jahr weiter ausüben musste. tungsvermögens und die meisten der anderen tra- dierten Rechte wurden verstaatlicht. Jede wichtigere Die Ratswahl von 1803 freilich stand unter keinem Amtshandlung der kommunalen Organe musste guten Stern. Durch kurfürstliche Regierungsverfü- nun vom zuständigen Landrichter oder durch eine im Innenministerium angesiedelte Stelle geprüft und genehmigt werden. Da diese extreme Zentralisierung letztlich nicht praktikabel war, wurden schon 1813 erste Maßnahmen einer Dezentralisierung durchge- führt. Wirkliche Abhilfe brachte jedoch erst das Ge- meindeedikt von 1818, das die gemeindliche Selbst- verwaltung wiederherstellte. Von nun an wurden die Gemeindeorgane wie früher von den Bürgern gewählt und die Gemeinden verfügten wieder über einen umfassenden eigenen Wirkungskreis. Unter- worfen blieben sie freilich weiterhin einer straffen staatlichen Aufsicht, deren Befugnisse und Grenzen nicht ausreichend definiert waren.48

Die vorübergehende Verstaatlichung der kommu- nalen Verwaltung in Bayern, die 1808 abgeschlossen war, markierte auch in Rosenheim genau dreihun- dert Jahre nach dem Erlass der alten Ratswahlord- nung das endgültige Ende des Alten Reiches und seiner Kommunalverfassung und angesichts des de- fizitären Haushalts auch einen wirtschaftlichen Tief- punkt in der Geschichte des Marktes Rosenheim.49

Rat und Zünfte des Marktes wurden weitestgehend entmachtet, die gesamte Verwaltung stand unter „Staatskuratel“. Bürgermeister, Innerer und Äuße- rer Rat und Gemeindeausschuss wurden auf Vor- Rathaus am Max-Josefs-Platz mit der Schranne, vor schlag des Munizipalrates vom Generalkommissär 1878.

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 181 gung wurde schon vorher Seraphin Greiderer aus Auge des Forschens entzogen. Es geschiehet daher dem Rat entlassen, interner Streit verschärfte die Si- das Ansuchen eine zweckmäßigere Art zu wählen, tuation, sodass zwei Bürger in einem Schreiben an und diese würde darin bestehen, wenn zur linker das Landgericht gegen die Bürgermeisterwahl pro- Seite der Thür an der Hausfronte (:sohin außer den testierten.53 1803 übernahm schließlich der Landge- Bogen Gang:) das Numer zugeheftet wird: und die- richtsschreiber Stecher, der sich als Klosteraufhe- ses sollte der Einheit wegen auf Blech in Oktavform bungskommissar mit besonderem Eifer hervortat, geschehen, welches Blech zur Grund Farbe schwarz das Regiment im Markt. und mit gelber Einfassung bestrichen ist, worauf sich die weißen Numern am besten hervorheben.“56 Am 11. Mai 1807 bat Bürgermeister Bernhard Hu- ber, der in den Vorjahren mehrmals bestätigt wor- Noch aufschlussreicher ist die Auseinandersetzung den war, um Entlassung aus seinem Amt, 1808 aber um den neuen Friedhof in Rosenheim, bei der tra- wurde er als Königlicher Amtsbürgermeister bestä- diertes kirchliches Denken und moderner aufge- tigt, der allerdings unter der unmittelbaren Aufsicht klärter Geist besonders heftig aufeinanderprallten.57 des Königlichen Provisorischen Kommunaladmi- Klöckel zog die Errichtung des neuen Friedhofs nistrators Joseph Fischbacher stand. 1813 übernahm ganz an sich und beschränkte die Mitwirkung der sogar Landrichter Klöckel selbst das Bürgermeis- Bürgerschaft nur auf ein dreiköpfiges Komitee, das teramt, 1814 bis 1817 amtierte Seraphin Rauch, der er schließlich wieder auflöste, weil es sich nicht als dann auch von 1818 bis 1823 dieses Amt nach der gefügig genug erwies. Den Standort, die Architek- neuen Gemeindeverfassung innehatte.54 tur, die bauliche Symbolik – alles versuchte er zu beeinflussen, um möglichst viele Bezüge zum alten Hefner beschreibt diesen Vorgang der Entmach- Glauben zu kappen. Der Landrichter zeichnete sich tung der Gemeinde sehr anschaulich: „Das k. Land- durch massives Vorgehen gegen die bereits errich- gericht Rosenheim benachrichtigt den Magistrat, teten oder geplanten Baulichkeiten aus, um jeder daß es am 8. Oktober 1808 die Gerichtsbarkeit des religiösen Symbolik vorzubeugen und den Friedhof Marktes antreten wolle. Der Magistrat habe sich dem Geist der Zeit entsprechend nur als Institution zu diesem Zwecke in gedachtem Tage Morgens 8 der Gesundheitsfürsorge gelten zu lassen. Uhr in der Marktschreiberei zu versammeln. Hier wurden nun alle Depositen, Gerichts-, Polizei- und Mit dem Gemeindeedikt von 1818 wurde dieser Zu- Verwaltungs-Akten übergeben, jedoch ersucht, sie stand extremer Abhängigkeit beendet. Rosenheim noch bis auf weiteres in der Marktskanzlei deponirt erhielt nun eine magistratische Verfassung, wie sie zu lassen. Die wirkliche Auslieferung geschah beim Städten und Märkten III. Klasse in Bayern zukam. Anrücken der österreichischen Truppen, 5. April An der Spitze der Verwaltung stand ein Magistrat 1809. Die Amtsschreiben trugen von nun an die von neun Mitgliedern, der aus seiner Mitte auf sechs Aufschrift ‚An die königliche provisorische Kom- Jahre den Bürgermeister wählte. Dazu kamen 24 Be- munal-Administration zu Rosenheim‘.“55 vollmächtigte und für alle Mitglieder beider Gremi- en mit Ausnahme des Bürgermeisters Ersatzmänner. Wie detailliert die staatlichen Eingriffe waren, mö- gen zwei Beispiele verdeutlichen: Am 10. Oktober Als Magistratsräte wurden 1818 gewählt: Seraphin 1807 kritisierte Landrichter Klöckel die von der Bür- Rauch, Lebzelter, zugleich Bürgermeister; Michael gerschaft beschlossenen Nummerierung der Häuser Ruedorfer, Lebzelter58; Mathias Greiderer, Handels- mit folgenden Worten: mann; Georg Rieder, Apotheker59; Anton Stacheter, Tuchmacher; Joseph Plest, Eisenhändler; Joseph „Die Numern befinden sich an den Hausthüren; die- Reheis, Sattler; Andrä Dettendorfer, Lederer; Jo- se sind den ganzen Tag über offen, sohin jene dem seph Buchberger, Handelsmann.

182 Manfred Treml Bei den Bevollmächtigten dominierten die Brauer wurden. Gegen den Widerstand der Bevölkerung, (6) und Wirte (4), dazu kamen Vertreter des Han- die ihre Kinder als Arbeitskräfte einzusetzen ge- dels und Handwerks (Fragner [= Einzelhändler], wohnt war und auch Vorbehalte gegenüber der auf- Kürschner, Seifensieder, Weißgerber, Nagelschmied, klärerischen, oft antikirchlichen Tendenz der Bil- Buchbinder, Maurer, Weber, Metzger, Koch, Bä- dungsinhalte hatte, setzte vor allem Pfarrer Rieder cker), ein Kaufmann, ein Chirurg und der Postexpe- seine Autorität ein, um die Elementarschule für die ditor Jakob Amann.60 sechs- bis zwölfjährigen einzuführen und qualitativ zu steigern. Die Unterbringung der Knaben- und Der 33-köpfige Magistrat konnte sich auf acht hö- der Mädchenschule war allerdings für Jahrzehnte here und 43 niedere Bedienstete für die verschie- nicht erfreulich. Auch die 1815 neu eingerichtete denen Verwaltungsbereiche stützen, sodass die Lateinschule, die auf eine Tradition des 16. bis 18. gesamte Verwaltung des Marktes 84 Personen um- Jahrhunderts zurückgreifen konnte, war stark vom fasste.61 Moderne Organisationsformen fanden auch Wirken und der Persönlichkeit des ehemaligen Her- Eingang in das Bildungssystem, wo mit der allge- renchiemseer Mönchs Gregor Perndorfer abhängig. meinen Schulpflicht seit 1802 und dem Aufbau ei- Nach dessen Tod im Jahre 1838 wurde sie zwar neu ner Schulver­waltung entscheidende Schritte getan errichtet und erhielt im Rathaus sogar zwei Zimmer, nach dem Schuljahr 1855/56 aber musste sie mangels Nachfrage endgültig geschlossen werden. Erst im Gefolge der Eisenbahnverbindung und der Stadter- hebung entwickelte sich Rosenheim schließlich zur Schulstadt, wobei der Neubau der „Königsschule“ im Jahre 1867 mit ihrer Knabenschule, der gewerbli- chen Fortbildungsschule und der Präparandenschu- le einen markanten Auftakt bildete.62

Auch von den Reformen im Militärwesen,63 das sich durch Einführung der allgemeinen Dienstpflicht und die ausschließliche Verwendung von Landes- kindern im Jahre 1805 grundlegend wandelte, war Rosenheim betroffen. Offensichtlich ließen Orga- nisationsvermögen, Ausbildungsstand und Bereit- schaft zum Waffendienst zu wünschen übrig, was angesichts der kriegerischen Zeiten nicht verwun- dern kann, zumal die Erfassung keineswegs einheit- lich und gerecht war: „Ausgenommen blieben aller- dings u. a. Adelige, siegelmäßige Beamte und deren Söhne, die Söhne von Offizieren sowie praktisch das ganze Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, z. T. einschließlich der Söhne, ferner die Bergarbei- ter und ein Teil der Handwerker. Die Dienstzeit be- trug 8, seit 1809 6 Jahre, Kriegsjahre zählten doppelt. Loskauf und Stellvertretung wurden verboten. Im Bierbrauer Bernhard Plest (gest. 1815), Komman- Grunde mussten nur Kleinbürger, Bauern und An- dant der zweiten Kavallerie-Kompanie der National- gehörige unterbürgerlicher Schichten ihre Söhne garde, Porträt, Öl auf Leinwand, um 1807. tatsächlich stellen.“64

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 183 Durch eine Verordnung wurden 1812 zwar diese den in Rechten oder Einkommen getroffen, uralte Ausnahmen von der allgemeinen Wehrpflicht abge- Besitz- und Prestigegarantien fielen und nicht nur schafft, gleichzeitig wurde aber wieder eine Stellver- Leitfiguren der Oberschicht, sondern Herrschafts- tretung durch finanzielle Zahlung ermöglicht. vertreter aller Ebenen verloren ihren Status. Das Netz der territorialen Kultur, geknüpft um den Nicht ohne Schwierigkeiten organisierte die Gene- Hof, von dessen Stil bis in die dörflichen Bräuche rallandesdirektion 1807 das geforderte Bürgermili- und Gegenstände beeinflußt, zerriß in wichtigen tär65 und zog im Juni des folgenden Jahres eine Zwi- Vermittlungssträngen.“71 schenbilanz, die durchaus Schwachstellen aufwies.66 In Rosenheim übernahmen Bürgermeister und Räte Salzstadt Rosenheim: Saline und Bad offensichtlich die Führungspositionen, um die drän- gende Obrigkeit zufriedenzustellen.67 Mitten in den unruhigen Jahren des Krieges und des Umbruchs wurde eine Entscheidung getroffen, die 1818 umfasste die aus dem für einige Jahre als „Na- Rosenheim zu einer der bedeutendsten Salzstädte tionalgarde“ firmierenden Bürgermilitär hervorge- Bayerns aufsteigen ließ.72 gangene Landwehr in Rosenheim „2 Compagnien oder 1 Division (120 Mann mit Feuergewehren), 1 Schon seit dem Mittelalter war das Salz ein begehr- Zug Schützen, 18–20 Mann Cavallerie, 17 Mann tür- tes Handelsgut, von dem auch Rosenheim – über kisches MusikChor, 1 Major, 2 Hauptleute, 2 Ober- Jahrhunderte in heftiger Konkurrenz zu Wasser- Lieutnants, 1 Quartiermeister, 2 Unter-Lieutnants, burg – profitiert hatte. Seit 1792 aber ging es um 1 Fändrich, 2 Feldwebeln, 2 Profosen, 2 Sergeanten, die Einrichtung einer dritten Saline, nachdem für 1 Fourier, 14 Corporals“68. In den folgenden Jahr- die Salinen in Reichenhall und Traunstein das Holz zehnten entwickelte sich die Landwehr mit ihrer immer knapper wurde, und nicht zufällig fiel der prächtigen Uniform mehr und mehr zur repräsen- Blick dabei auf Rosenheim. Mangfall und Schlierach tativen Truppe, die bei Einweihungsfeiern, könig- schienen für die Trift geeignet und die großen Te- lichen Geburtstagsfeiern und anderen festlichen gernseer Klosterwaldungen, die den begehrten Anlässen für prunkvolle Paraden geeignet war, ihre Rohstoff Holz in Fülle boten, kamen mit der Säku- militärische Funktion aber längst verloren hatte.69 larisation in Staatsbesitz. Als mit dem Frieden von Bogenhausen 1805 Berchtesgaden und Salzburg als Die Umbrüche dieser Jahre erfassten nahezu alle Salzhandelspartner ausschieden, stieg das politische Lebensbereiche und die Folgen all dieser Verän- Interesse an einer verstärkten Eigenproduktion bei derungen wirkten sich auch auf die Menschen aus. der Regierung so an, dass König Max I. Joseph am Zwischen Verstörung und Unruhe schwankten viele 6. Mai 1807 den Auftrag zum Bau von Soleleitung von ihnen. Der politische Umbruch, der zum Teil und Saline erteilte. Der Markt Rosenheim kam der mehrfache Herrschaftswechsel mit all den Unsi- staatlichen Salinenadministration auch mit dem cherheiten förderte Identitätsprobleme, die perma- Grundstück entgegen, war doch erst vor Kurzem nente Wirt­schaftsschwäche und der Nahrungsman- ein günstig gelegenes Areal frei geworden: dasjenige gel beeinträchtigten auch die Physis der Menschen.70 des aufgelösten und abgerissenen Kapuzinerklosters „Nicht nur, daß mit dem Alten Reich in den säku- samt Kirche und des inzwischen verlegten Fried- larisierten und mediatisierten Territorien das politi- hofs, das man nur aus Privatbesitz zurückerwerben sche Bezugssystem zerbrach, dessen Personen und musste. Institu­tionen trotz aufgeklärter Kritik zumindest für die breite Bevölkerung noch ordnungsleitend­ So ist Rosenheim als doppelter Säkularisationsge- waren. Autoritäten und Werte, Privilegien und Äm- winnler in diese für seine weitere Entwicklung ganz ter verschwanden, Angehörige aller Schichten wur- entscheidende Unternehmung eingetreten, mit einer

184 Manfred Treml Standortpolitik, die auch den Weg für die späte- sen und am 7. August das erste Salz aus der Rosen- re Entwicklung zur Eisenbahnstadt und zum Ver- heimer Saline gezogen worden. kehrsknotenpunkt vorbereiten half. In der Anfangsphase brachte die auf 250.000 Zentner Als technische Meisterleistung wurde zwischen ausgelegte und damit zweitgrößte bayerische Saline 1808 und 1810 die 80 Kilometer lange Soleleitung für Rosenheim allerdings unerwartete Verluste, weil gebaut, die das salzhaltige Wasser von Reichenhall der prognostizierte Absatz nicht realisiert werden zur Saline in Rosenheim befördern sollte. Neu ange- konnte und zugleich die gewohnten Einnahmen aus legt werden musste ein „Holzgarten“, ein gewaltiger dem Salzhandel nun wegfielen. Langfristig jedoch Lagerplatz für das auf der Mangfall herbeigetriftete stieg der Salzbedarf in dem sich rasch vergrößernden Holz, der im Überschwemmungsgebiet der Mang- Bayern erheblich an und brachte auch die Rosenhei- fall und damit größtenteils auf dem Gebiet der Ge- mer Saline bald in die Gewinnzone. Die Rentabilität meinde Roßacker lag.73 Nach gut einem Jahr Bauzeit erhöhte sich noch, als die Salinenverwaltung nach wurde die Saline, die aus einem Hauptsudhaus und einigen Heizversuchen in den Jahren 1850 bis 1854 vier Salzpfannen bestand, am 24. September 1810 auch den Torfabbau weitgehend in eigener Regie durch Minister Montgelas höchstselbst eröffnet. übernahm und schließlich seit dem Sudjahr 1859/60 Vorher war schon die erste Sole vom Hochbehälter alle vier Pfannen mit Torf befeuerte. Mit der 31. am Schloßberg in die Reserven am Sudhaus geflos- Sud (1866/67) beendete das Salzamt offiziell die

Sudhaus der Rosenheimer Saline mit Beamtenstock, lavierte Federzeichnung von Friedrich Wilhelm Doppel- mayr, 1815.

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 185 Salzherstellung mit Holzbefeuerung und stellte da- Die zugezogenen Salinenarbeiter erhöhten nicht nur mit für Jahrzehnte auf die erheblich billigere Torfbe- die Bevölkerungszahl um 8 Prozent, sondern trieben feuerung um.74 1859, im Jahr der größten Investition auch aufgrund ihrer guten Bezahlung die Mietpreise seit der Erbauung der Saline, erweiterte man diese nach oben. Konflikte gab es in den Anfangsjahren um eine weitere Sudpfanne sowie um einige Neben- auch wegen der Weigerung der Salinenbeschäftigten, gebäude und stattete sie mit 40 Meter hohen Kami- bestimmte Abgaben an die Gemeinde zu entrichten nen aus. Eine sechste Sudpfanne folgte 1869. oder auch zwischen den Meistern des Marktes und den Salinenhandwerkern wegen der Lehrlingsaus- Die Saline bildete mit ihren Werkstätten und ihren bildung. In der Blütezeit der Saline ab Mitte des Wohn- und Bürogebäuden eine Welt für sich. Sie ver- Jahrhunderts waren diese Anfangsschwierigkeiten, fügte über eigenständige soziale Einrichtungen, ei- die aus einer neuen technologischen Entwicklung nen eigenen Arzt und eine eigene Altersversorgung. resultierten, freilich längst vergessen.

Badebetrieb in Rosenheim, Steinstich von Peter Herwegen, 1847.

186 Manfred Treml Als Nebenprodukt mit segensreicher Wirkung ist der für 600 Personen geplanten Auslastungsgrenze, auch die Einführung einer planmäßigen Wasserwirt- vor allem auch nachdem in den 1840er-Jahren in schaft zu erwähnen, durch die Sumpfland kultiviert, Reichenhall, Traunstein und Aibling konkurrieren- neues Uferland für Gärten und Alleen gewonnen de Bäder errichtet worden waren. Dennoch wurde und durch deren Flussregulierung auch die Hoch- Rosenheim im „Geographischen Handlexikon des wässer eingedämmt werden konnten. Nachweislich Königreiches Bayern“ von 1851 „unter den vorzüg- sind auch Fieberkrankheiten zurückgegangen und lichsten Bädern“ aufgeführt.81 Nach einem Besit- die Sterblichkeitsziffer konnte reduziert werden.75 zerwechsel im Jahre 1857 und einem Besuch durch Gesundheitsfördernde Wirkungen schrieben die König Max II. im folgenden Jahre nahm die Popu- Zeitgenossen den durch das Sieden der Sole in die larität des Bades erheblich zu, das im Jahre 1864 im- Luft gelangenden „Salztheilen“ zu, die angeblich merhin 482 Kurgäste beherbergte und 4.750 Bäder der Lungentuberkulose vorbeugten.76 verabreichte. In einem Reiseführer dieser Zeit wird es geradezu gepriesen: Alles in allem hat die Saline Wirtschaftsentwicklung und Stadtbild Rosenheims im 19. und in den ersten „Die ganz frei stehenden Gebäulichkeiten der An- Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entscheidend ge- stalt sind von herrlichen englischen Gartenanlagen prägt und hätte daher in der Erinnerungspflege der mit Trinkbrunnen und von prächtigen Wiesen und Stadt durchaus einen würdigeren Platz verdient.77 Laubengängen umgeben, von keiner Nachbarschaft Der Lobpreis des Zeitgenossen Klöckel jedenfalls belästigt und befinden sich in nächster Nähe der Lo- war überwältigend und verpflichtend: retto-Kapelle und etwas weiter entfernt das Kapuzi- nerkloster. Das Wohn- und Nebengebäude enthält „Und sieh! Der Wille unseres allgeliebtesten Kö- nebst einem im 2. Stock befindlichem, mit einem nigs schenkte diesem Orte, dieser Gegend die Sa- Klavier versehenen großen Saal und einem Belvede- line. Eine neue Periode ist gegeben, der Verkehr ist re mit schönster Aussicht 53 Gäste- und Fremden- belebt, die Aussicht ist heiter. Bürger Rosenheims! zimmer.“82 Vergesset dies nie! Saget es euern Kindern und En- keln, daß der Himmel über euer Haupt sich öff- Rosenheims Biedermeierzeit (1815–1850) nete; daß vieles von dem, was ihr ihnen zum Erbe geben könnet, durch dieses glückliche Ereigniß ge- Die Jahre, die nach Ludwig Eid „aufwärts zur zwei- schah.“78 ten Blütezeit“83 Rosenheims führten, sind von Be- schaulichkeit und biedermeierlicher Gemütlichkeit Vergessen ist leider auch die durchaus ansehnliche erfüllt. „Noch war der Lebenskreis der Bürger eng Geschichte Rosenheims als Badestadt, die mit der begrenzt, die Zustände waren noch geschlossen, die Verfügbarkeit der Sole in Zusammenhang stand.79 Sitten und Lebensgewohnheiten einfach und kind- Anknüpfend an die Tradition eines seit dem 17. Jahr- froh; ruhig verlief abseits von den Welthändeln das hundert bestehenden schwefeligen Mineralbades80 Leben der Menschen […].“84 regte der Landgerichts- und Salinenarzt Dr. Martin Schmid die Errichtung eines zusätzlichen Solebades Lage und Gesicht der Stadt waren berückend, wie an und erhielt am 28. Januar 1821 durch königliches ein bayerischer Leutnant seinem Tagebuch an- Reskript die Genehmigung dazu. Nach Entwürfen vertraute. Er gehörte einem der letzten Truppen- des kgl. Leibarztes Ritter von Loé und des Oberbau- kontingente an, die durch Rosenheim zogen, ehe rats Leo von Klenze wurde neben dem bestehenden die Napoleonische Ära endlich beendet war und Badhaus ein zweistöckiges Gebäude für Solebäder für Jahrzehnte Frieden einkehrte. Am 4. Juni 1814 errichtet. Der Besuch hielt sich bedauerlicherwei- schrieb er: „In dem durch die Salinen berühmten se zunächst sehr in Grenzen und blieb weit unter Rosenheim wurde ich bei einem Bräuer und mit mir

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 187 ein österreichischer Rittmeister einquartiert. Der „Zur Dienerschaft gehören und werden vom Ma- größte und schönste Markt in Bayern. Die Lage ist gistrate bezahlt: Der Marktschreiber, ein Hülfs- göttlich schön.“85 schreiber, der Magistratsdiener, der Polizeidiener, der Zimmermeister, die 5 Aufleger, die 3 Thorwäch- Voll des Lobes war auch der Kreisdirektor Joseph ter, die zwei Thurm- oder Feuerwächter, und ein von Obernberg in seinen „Reisen durch das König- Tambour oder Ausrufer der öffentlichen Erlasse. reich Baiern“ von 1815: „Das Ganze bildet eine sehr Außer diesen werden noch bezahlt: Die Fleisch-, wohlgebaute Ortschaft, welche sich nach ihrem An- Brod- und Bier-Beschauer, die Feuerbeschau, der sehen unter die Landstädte reihet, und vielen der- Thierarzt, der Uhrmacher für das Uhraufziehen, die selben den Vorzug der Schönheit siegreich anstrei- 2 Professoren, die 4 Lehrer, die 2 Hebammen, der tet.“86 Organist, der Turnermeister, der Zeichnungslehrer und die weibliche Arbeits-Lehrerin für ärmere Kin- Zwischen der Beschreibung Klöckels aus demsel- der.“92 ben Jahre87 und der Grafs von 184988 änderte sich im äußeren Bild des Marktes wenig. Der alte Markt Die Gemeinde vergrößerte sich im Jahre 1837 durch mit seinen Toren, Brunnen, Kirchen und Kapellen die endgültige Eingemeindung der alten Landge- beeindruckte durch seine stattlichen Häuser, die ita- meinde Roßacker erheblich93 und gewann vor allem lienisch anmutenden Bogenarkaden und die schmu- Raum für die weitere Stadtentwicklung und für ge- cken Gassen.89 Durch das Mittertor gelangte man werbliche Ansiedlungen. Dort befanden sich auch vom inneren zum äußeren Markt, der von einem die meisten Bierkeller, deren Besuch zu den belieb- Wall umgeben war, an den sich Obst- und Gemü- testen geselligen Vergnügungen der Bevölkerung segärten anschlossen. Der neuere Markt schließlich zählte.94 war durch den Aufbau der Saline entstanden als eine Art frühes Industrieviertel, dem sich in der Folge- Geselligkeit wurde ohnehin großgeschrieben,95 auf zeit auch andere Gewerbe zugesellten. „Gärten, Landpartien zu den Bierkellern, den sechs Gesell- Alleen, Anlagen, Ruhe, Behaglichkeit, beschauliche schaftsinseln im Wasserhof des Salinen-Holzgartens, ‚Einfachheit und stille Schönheit‘ wollte das bie- wo man philanthropisch-aufgeklärte Gartengestal- dermeierliche Bad Rosenheim“, beschreibt Eid die tung mit geselligem Freundschaftskult verband96, Grundstimmung dieser Zeit.90 oder in der 1808 gegründeten Gesellschaft „Harmo- nie“, die den gehobenen Bürgergeschmack mit Lese- Ein betont bürgerliches Element brachten die zahl- angeboten, Konversation, Tanz und geselligem Spiel reichen Behörden und Ämter in den Ort.91 Neben wie Billard bediente.97 1845 gründete der Lehrer dem Landgericht hatten das Herrschaftsgericht Ho- Koppenstätter noch eine Liedertafel; ein Burschen- henaschau und einige weitere adelige Patrimonialge- Verein, in dem Gesellen verschiedener Handwerke richte bis 1848 ihren Sitz hier. Dazu kamen das Kö- Mitglieder waren, organisierte lustige Trinkrunden nigliche Hauptsalzamt mit dem ihm zugeordneten und unterstützte zugleich hilfsbedürftige Mitglie- Salinen-Forstamt, eine Königliche Bau-Inspektion, der. Ein 17 Jahre bestehender und dann aufgehobe- ein Oberzollamt, ein Königliches Pfarramt, eine ner „Killer-Verein“, benannt nach dem Namen des königliche Post-Expedition und ein Landwehr-Ba- Stammgasthauses Torbräu mit dem Besitzer Ge- taillons-Kommando. Den Magistrat mit dem Bür- org Killer, dem vor allem Bürgersöhne angehörten, germeister, acht Räten und 24 Bevollmächtigten wurde 1848 erneut ins Leben gerufen. Gut besucht unterstützten zahlreiche magistratische Ämter, die waren auch regelmäßige Stammtische, sogenannte auch die differenzierte Struktur der Daseinsvorsor- „Compagnie-Tage“98, wo man sich an bestimmten ge gut erkennen lassen. Graf zählt sie in seiner Be- Abenden in jeweils festgelegten Wirtshäusern traf schreibung für 1849 auf: und sich dort vergnügte. „Jeder Gast geht nach sei-

188 Manfred Treml ner Willkür und Gutbefinden nach Hause, denn die wirt Amann wurden Landwehr und einfacheres Polizeistunden werden hier wenig oder gar nicht be- Volk verköstigt und beim Brauer Reiffenstuhl gar achtet“, schreibt Graf.99 25 Arme gespeist und mit Geld beschenkt. Abends erschallten im festlich beleuchteten Markt der Ge- Zugleich aber betonte er das „treue Festhalten seiner sang der Schuljugend und die Musik des Landwehr- [Rosenheims] Bewohner an der reinen katholischen korps, deren Ende wiederum ein Zapfenstreich bil- Lehre“100. „Die Rosenheimer beten gerne, und las- dete. Ab neun Uhr schließlich ging man zum Tanze, sen sich nicht leicht von einer öffentlichen Andacht die Oberschicht in die „Harmonie“, die anderen in abhalten“101, heißt es da. Mild und freigebig, freund- Amanns Badhaussaal oder in eines der vielen ande- lich und gefällig seien sie und voller „Liebe zur Ein- ren Bräu- und Wirtshäuser. Die „Harmonie“ veran- tracht und Ruhe. […] Nur der Wohlstand macht sie staltete sogar am folgenden Abend noch einen wei- manchmal hoffärtig, stolz und übermüthig.“102 Die teren besonderen Ball.103 Grundlage für diese verwurzelte Religiosität war offensichtlich die gute Ausstattung des Marktes mit Die Erwählung Ottos, des Sohnes Ludwigs I., zum Priestern, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen König von Griechenland bot ebenfalls reiche Mög- Stiftungen. lichkeiten zur Pflege eines betonten Königskultes. Im Februar 1833 rief Landrichter Bisani in der Zei- Dementsprechend ruhig und traditionsbezogen tung zur Sammlung für ein Denkmal bei Aibling verlief auch das politische Leben dieser Jahrzehnte. auf, das an die Verabschiedung Ottos von seiner Während in den neubayerischen Gebieten Frankens Mutter erinnern sollte. Der pathetische Ton dieses und der Pfalz revolutionäre Bürgerfeste in Gaibach Aufrufes verrät manches über den Untertanengeist und Hambach die Regierung in Schrecken versetz- von Spitzenbeamten in diesen Jahrzehnten: ten, blieben die altbayerischen Gebiete an Thron und Altar orientiert und lehnten die politischen „[…] endlich die schwere, schmerzvolle Trennung Forderungen des Liberalismus weitgehend ab. von dem hochherzigen und allgeliebten Königssoh- ne Otto auf dem einsamen Wege außerhalb Aibling Man feierte in ritualisierten Formen die Geburtsta- bei der Mangfallbrücke; – welch’ ächter Bayer wird ge des königlichen Paares oder die Thronjubiläen nicht solche Beweise der Liebe und Königlichen des Monarchen, so etwa am 16. Februar 1824 das Huld aus Rührung und dankbarer Anerkennung 25. Thronjubiläum von Max I. Joseph. In Rosen- durch ein bleibendes Monument der Nachwelt auf- heim wurde am Vortage begonnen mit einem vor- bewahrt wissen wollen?“104 mittäglichen Gottesdienst, bei dem für die Armen geopfert wurde. Abends spielte die Musik des In Rosenheim blieb der Aufruf nicht ungehört; am Landwehrkorps auf. Mit einem Zapfenstreich und 19. Mai 1833 berichtete das „Wochenblatt“, dass 25 Böllerschüssen endete der Abend. Der eigent- Magistrat und Bürger eine Summe von 104 Gulden liche Festtag begann mit Böllerschüssen und Glo- und 16 Kreuzern für das Denkmal aufgebracht hat- ckengeläute. Um neun Uhr versammelte sich al- ten.105 les, was Rang und Namen hatte, paradiert von der Landwehr, in der Pfarrkirche zum festlichen Got- Am 1. Juni 1834 wurde die feierliche Grundsteinle- tesdienst mit Hochamt und Te Deum, das von 25 gung zur Otto-Kapelle bei Kiefersfelden begangen, Böllerschüssen begleitet wurde. Danach verteilte eine weitere Gelegenheit für den Landrichter, seine man die gesammelten Spenden vor dem Rathaus an monarchische Gesinnung aller Welt zu verkünden. die Ortsarmen. Geistlichkeit, Magistrat, Landwehr- Seine im Druck erschienene Festrede stand unter offiziere und andere Honoratioren nahmen beim dem Motto: „König und Vaterland! Ist das Lo- Weinwirt Greiderer ihr Gastmahl ein, beim Wein- sungswort jedes Bayern, dem er mit Freuden Gut

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 189 und Leben weiht.“106 Neben dem Lob der großen steuerte Staatszeitung, in einer Zeit freilich, in der Politik Bayerns galt Bisanis Augenmerk vor allem die bürgerliche Presse in anderen Landesteilen sich der Treue der Untertanen, die sich eben in der Er- zum Leitmedium bürgerlichen Protests und libera- richtung dieses Bauwerks ausdrückte: „Hier soll ein ler Forderungen erhoben hatte. Tempel der Liebe und Frömmigkeit entstehen, aus dessen Mitte noch in der spätesten Zeit der Bay- Wenn sich die Volksstimmung in unerwünschter ern fromme Gebete für den Hochgefeierten zum Weise äußerte, griff die Obrigkeit hart durch. Ge- Himmel emporsteigen.“107 Lob spendete der Land- gen das Haberfeldtreiben, das im Oberland eine län- richter auch allen, die Otto nach Griechenland be- gere Tradition hatte, setzte Landrichter Bisani alle gleitet hatten, wozu bereits im Juli 1833 aufgerufen repressiven Mittel von der Geldstrafe bis zum mi- worden war.108 Sein Schlusswort mündete in die litärischen Einschreiten ein. So hatte die betroffene obligatorische Ergebenheitsadresse an den regie- Gemeinde 50 Gulden an die Armenkasse zu entrich- renden Monarchen Ludwig I., den er als erklärten ten und die Untersuchungskosten zu tragen, im Falle Verfassungsfreund zu Wort kommen ließ, und das von Mitwisserschaft oder vorsätzlichem Verschwei- in Zeiten härtester Pressezensur, strengster „Dem- gen von Teilnehmern wurde ein von der Gemeinde agogenverfolgung“ in Bayern und der reaktionären zu finanzierender Militäreinsatz angedroht.110 Bundesbeschlüsse, die der König selbst angeregt hatte. Die revolutionären Jahre von 1848 und 1849 ließen Rosenheim weitgehend unberührt und haben auch Das Aufspüren und Unterdrücken liberaler poli- aus Mangel an einschlägigen Quellen bisher kaum tischer Meinungsäußerungen gehörte nun auch in Bearbeiter gefunden. Rosenheim zum Hand- werk der Bürokratie. So erhielt Bisani 1833 den Auftrag, auch die La- teinschule wegen „revo- lutionär und unbotmä- ßig gesinnter Elemente“ verschärft zu überwa- chen und notfalls von seinen ausgedehnten Vollmachten Gebrauch zu machen.109

Und auch die Presse machte man sich ge- fügig. Die erste 1833 eingerichtete Zeitung, das „Rosenheimer Wo- chenblatt“, wurde vom Praktikanten beim Kgl. Landgericht Franz Holzer herausgegeben und fungierte als eine Feierliche Grundsteinlegung der Otto-Kapelle Kiefersfelden, Steinstich von von der Regierung ge- J. Rehle, 1834.

190 Manfred Treml Ob ein Haberfeldtreiben, über das die Münchner fasste sich dennoch weiter mit ihm und sogar Staats- „Landbötin“ am 26. November 1848 berichtete, minister von der Pfordten wollte an Amann, der der schon revolutionären Charakter aufwies, ist schwer Regierung als Aufrührer und Demokrat galt, ein zu beurteilen. Immerhin versammelten sich in Ro- Exempel statuieren. Ein bewilligtes Gnadengesuch senheim zwischen Markt und Friedhof an die 500 – wurde vom Minister nicht vollzogen, weil die Stelle nach dem Gendarmeriebericht waren es allerdings des Poststatthalters und Postexpeditors bereits dem nur 100 – teilweise vermummte Menschen aus der Gastwirt und Schiffsmeister Seraphin Greiderer ver- weiteren Umgebung. Es wurden eine dreiviertel sprochen war, der mit Schadenersatzklage drohte.113 Stunde lang Reden gehalten, die Beschwerden gegen Landgericht, Rentamt und einzelne Bewohner des In diesen Jahren der Restauration waren Denunzi- Marktes formulierten. Dann löste sich die Protest- ationen offensichtlich an der Tagesordnung und sie versammlung allerdings friedlich auf und scheint betrafen manchen, der von seinen angeblichen revo- keine weiteren Nachwirkungen gezeitigt zu ha- lutionären Umtrieben nichts wusste: den Salinenin- ben.111 spektor Doblinger, den Salinenbeamten Kollmann, den Badearzt Dr. Halbreiter und immer wieder in Trotz einer gewissen Häufung dieser traditionsrei- allen möglichen Varianten den ehemaligen Posthal- chen, auf die alten Rügeverfahren zurückgehenden ter Amann, der gar als Haupt einer demokratischen Form des Protests gegen die Obrigkeit in den unru- Partei in Rosenheim bezeichnet wurde. In einem higen Zeiten der 48er Revolution sind weder kon- anonymen Spitzelbrief, der ihm die Rolle eines Ver- krete politische Ziele und Forderungen noch eine schwörers und Vermittlers revolutionärer Presseer- übergreifende Organisationsstruktur erkennbar. zeugnisse zuschrieb, heißt es:

Ähnlich war dies auch mit einem für den Rosen- „Gott bewahre Regierung und Land vor einem heimer Jahrmarkt am 30. März 1848 angekündigten Schlage von außen, so geheim und vorsichtig die Lei- Tumult, der den von Revolutionsangst gebeutelten ter dieser Bewegung zu Werke gehen, so leicht kann Landrichter Bisani zu erheblichen Vorsichtsmaß- man den wahren Grund der Sache erraten. Es ist der nahmen veranlasste.112 Als einziger Aufrührer mit Umsturz der jetzigen Ordnung und Einführung der politischem Bewusstsein lässt sich offensichtlich Republik. Möge die Regierung besonders zweifel- nur einer dingfest machen: der Poststatthalter und haft gesinnte Beamte entfernen und beharrlich mit Postexpeditor Franz Xaver Amann, dem 1850 we- der Kraft auftreten, damit das Landvolk nicht ganz gen seiner Gesinnung die Stelle gekündigt wurde. von der schlechten Partei geködert wird.“114 Ihm wurde aufgrund der Anzeige seines Vetters, des Buchbinders Amann, die Verbreitung „schlechter Ganz nebenbei wird damit auch noch Landrichter Schriften“ und „institutionswidriger Gesinnung“ Ebenhöch angeschwärzt, dessen eher moderate Ge- vorgeworfen. Außerdem hatte er im Wirtshaus sinnung manchen ein Dorn im Auge war. Schwinghammer in Rosenheim angeblich geäußert, er habe zur Reichsverfassung geschworen und brau- Spärlich sind leider auch die Spuren über das kon- che keinen König und keine andere Verfassung; und servative und klerikale Lager, das in Rosenheim dabei soll er sogar den anwesenden Gendarmen zu durchaus vertreten war. Der mit Unterstützung Hochrufen auf den Revolutionär Hecker und zu von Klerus und Verwaltung eingerichtete, aber unflätigen Äußerungen über den König angestiftet schon 1849 wieder verbotene „Verein für konstitu- haben. Am 21. Februar 1850 stellte das Kreis- und tionelle Monarchie und religiöse Freiheit“115 wür- Stadtgericht Wasserburg das Verfahren mangels Be- de jedenfalls eine gründliche Untersuchung ver- weisen ein, die Kündigung des Postdienstes aber dienen. Immerhin lässt sich der Autobiografie des wurde nicht zurückgenommen. Die Regierung be- Gymnasialprofessors Wolfgang Markhauser eine

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 191 Schilderung der Wahl des damals erst 32-jährigen Österreichs wünschten, hielten mehrmals in Rosen- Prof. Johannes Nepomuk Sepp, später einer der heim Versammlungen ab, so etwa Dr. Zander, der Führer der Bayerischen Patriotenpartei, zum Abge- Herausgeber des Münchner „Volksboten“, der die ordneten der Paulskirche entnehmen. Von Pang aus antipreußische Polemik besonders betonte, eine kam Sepp im April 1848 auf einem geschmückten Zielrichtung, die in der Patriotenpartei zum rheto- Wagen nach Rosenheim, wo er von seinen Anhän- rischen Standardvokabular gehörte und die Volks- gern mit begeisterten Hochrufen empfangen wur- stimmung vor allem in Altbayern traf. de. Am nächsten Vormittag fand im Rathaussaal die Wahlversammlung statt, bei der Sepp eine einstün- Nach der Niederschlagung der Revolution und dem dige Rede hielt. „Er schalt aus Leibeskräften und in Scheitern der Paulskirche wurden die vorher er- äußerst volltönigen Worten über die deutsche Klein- kämpften Bürgerrechte mit kräftigen Maßnahmen staaterei, über die Regierungen in der Schlafmütze, wieder eingeschränkt. Die Regierung arbeitete mit über manche Regentenuntugenden und über allerlei Zuckerbrot und Peitsche. Sie verstärkte einerseits anderes“116 und wurde schließlich von den zum Teil die Sicherheitsbehörden, verbot die demokratisch- eine Tagesreise weit angereisten Wahlmännern mit republikanische Partei im August 1848 und ging ge- einer Zweidrittelmehrheit gewählt. Die Bürger Ro- gen missliebige Redakteure vor. Andererseits aber senheims ehrten ihren Kandidaten anschließend mit löste sie keinen der demokratischen Vereine wirk- einem Fackelzug.117 lich auf; der König erließ sogar eine Amnestie für politische Verbrechen und Vergehen und versprach Vertreter vor allem der großdeutschen Richtung, Deserteuren Straffreiheit. Offensiv griff Maximilian die sich das künftige Deutschland unter Einschluss II. auch in die Vereinslandschaft­ ein. Am 19. August 1848 wies er seinen In- nenminister an:

„Es ist Zeit, daß etwas geschieht, wirken Sie durch Pfarrer, Lehrer, Beamte, vor­züglich Landrichter, dahin, daß das Gefühl der Liebe zum Vaterlande geho- ben erhalten werde, damit es den Wühlern nicht gelinge, durch Vorschieben der Frank- furter Beschlüsse die bayerische Nationalität zu untergraben. […] Benützen Sie die histo- rischen Vereine.“118

Die Auswirkungen die- ser restaurativen Politik waren auch in Rosen- Max-Josefs-Platz mit Münchener Tor, Bleistiftzeichnung von Joseph Graf, 1850. heim spürbar. So wur-

192 Manfred Treml den Dienstherren und Dienstboten daran erinnert, derschaft eine Genehmigung der Eltern und der dass abgeschaffte Feiertage nicht zu Müßiggang Heimatgemeinde und den Nachweis ausreichen- genutzt werden dürften und dass Dienstboten an der Finanzmittel verlangten. Außerdem musste das solchen Tagen der Besuch von Wirtshäusern unter- bisherige Verhalten Gewähr für „eine ersprießliche sagt sei. Gegen Wirte, die dagegen verstießen, und Wanderschaft“ bieten, ein sehr dehnbarer Paragraf, Dienstboten, die an solchen Tagen die Arbeit ver- mit dem sich nach Belieben reglementieren ließ. An- weigerten, werde „mit nachdrücklichster Strafe“ dernfalls war eine Strafe wegen Bettelns zu erwar- eingeschritten, wie Landrichter Ebenhöch ankün- ten, die auch beim Abweichen von der genehmigten digte.119 Route drohte. Wer einmal wegen ordnungswidrigen Verhaltens in die Heimat zurückverwiesen worden Reglementiert wurden auch die Eisenbahnarbeiter, war, musste dort erst längere Zeit dienen, ehe er eine die in diesen Jahren ohnehin zu sozialen Sorgenkin- neue Genehmigung beantragen konnte.122 dern und manchmal auch zum Bürgerschreck wur- den. Eine ebenfalls vom Landgericht verkündete Maßnahmen ergriff man auch gegen den Brauch des Verordnung vom 2. Dezember 1852 legte die Poli- „Blauen Montags“, den die Handwerksmeister aus zeistunde für diese Bevölkerungsgruppe von Okto- Angst um ihre Arbeitskräfte duldeten. 1858 droh- ber bis März auf acht Uhr, von April bis September te das Landgericht Rosenheim eine Bestrafung an, auf neun Uhr abends fest und wies die Wirte an, nach 1862 wurden 12 Personen zu Arreststrafen verur- diesem Zeitpunkt weder Speisen noch Getränke an teilt.123 sie auszugeben. Außerdem hatten sie den Anteil am Wochenlohn zu berücksichtigen, der im Wirtshaus Als erster Monarch hat sich Max II. allerdings der ausgegeben werden durfte. Zugleich wurde bei den sozialen Frage zugewandt, wobei seine Bemühun- Vermietern die Anzeigepflicht in Erinnerung geru- gen um karitative Vereine eher der Sorge vor dem fen und die Fortführung der Verzeichnisse für die sozialen Unruhepotenzial ent­sprangen als christ- in jeder Gemeinde wohnenden Eisenbahnarbeiter licher Nächstenliebe. Als eine Art defensiver Pro- angemahnt.120 Sogar zusätzliche Gendarmen wur- phylaxe hatte diese frühe Sozialpolitik auch wenig den nach Rosenheim entsandt, um die öffentliche Erfolge zu verbuchen. Ordnung zu sichern. Die Furcht vor den sozialen Folgen war unübersehbar. Im Februar 1853 schrieb Eine Sozialmaßnahme der besonderen Art, vom Kö- das Rosenheimer Landgericht an die Regierung von nig schon 1852 gefordert, trat in Rosenheim mit der Oberbayern: Einrichtung einer „Spar- und Hilfskassa“ am 19. Ap- ril 1856 ins Leben, die „der bedrohlichen Verarmung „Wenn man bedenkt, das nur schlecht gesittete Per- auf jede nur immer mögliche Weise entgegenzuwir- sonen solche Arbeit in der Regel annehmen, so mag ken“124 hatte. In der Vorlage des Landrichters Eben- klar sein, das die Verderbnis auch unter den jun- höch vom 3. Januar 1855 hieß es dementsprechend: gen, die mit solchen Personen in Umgang kommen, schnell und weit verbreitet wird.“121 „Daß Jeder sich ehrlich nähren, Jeder sein eigen Brod essen, Jeder sein eigenes Kleid tragen wolle, Besondere Aufmerksamkeit galt auch den wan- dieses vor allem gilt es zu bewirken. Die Armuth dernden Handwerksgesellen, die schon lange als ist ein störrisches, verwahrlostes Kind, es will ge- revolutionäres Potenzial verdächtigt wurden und leitet, geführt und getragen sein. Man muß ihm die aus deren Reihen sich auch wenig später die Arbei- Bahn brechen. Freude zu nützlicher Tätigkeit, Lust terbewegung rekrutierte. Am 20. Januar 1856 gab zur Arbeitsliebe, für redlichen Erwerb und Sinn für das Königliche Landgericht seine restriktiven An- Häuslichkeit; diese stets frischen Quellen des Er- weisungen weiter, die schon bei Antritt der Wan- denglückes müssen der Armuth eröffnet werden.“125

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 193 Dieses bürgerliche Sozialkonzept wurde getragen weitgehend in den alten Strukturen, die von Haz- von einem Ausschuss, dem drei Pfarrer, ein Apo- zi 1801 beschrieben hat: 160 Bürger verfügten über theker und ein Gemeindevorsteher angehörten, so- 210 Realrechte für die Gewerbeausübung und da- wie von einer Verwaltungskommission, die aus dem mit zum Teil über mehrere Berechtigungen. Trotz amtierenden und zwei ehemaligen Bürgermeistern der Veränderung des Zunftrechts und neuer Gesetze bestand. Als erster Sparkassenleiter fungierte der im Jahre 1825, die mehr Gewerbefreiheit und Frei- ehemalige Bürgermeister, Distriktsrat, Landtagsab- zügigkeit erlaubten, trotz des Anschlusses Bayerns geordnete und Apotheker Johann Georg Rieder, der an den Zollverein 1834, mit dem der freie Handel in einem alten Rosenheimer Geschlecht entstammte.126 Deutschland befördert werden sollte, stieg die Zahl der Handwerksrechte in Rosenheim nur unwesent- Wirtschaftliche Entwicklung im lich, obwohl sich seine Bevölkerungszahl inzwi- Industriezeitalter schen verdoppelt hatte.129

Ludwig Eid teilt Rosenheims wirtschaftliche Ent- Nach 1830 fürchtete Ludwig I. die sozialen Folgen wicklung zwischen 1806 und 1906 in drei Perioden einer gezielten Industrialisierungspolitik zuneh- ein, deren erste von 1806 bis 1849 reichte und in der mend und ließ daher entsprechende Maßnahmen nur das Salz zum dominierenden Element, Rosenheim noch zögerlich und halbherzig zu. 1834 revidierte selbst zur Salzstadt wurde.127 Beeinträchtigt von er sogar Teile der libera­len Gesetze von 1825. Ins- erheblichen Kriegsfolgen und eingeschränkt durch gesamt dominierten nun wieder wie im staatlichen den zwar gesetzlich aufgehobenen, aber in der ge- Bereich strenge Aufsicht und ängstliche Fürsorge, sellschaftlichen Praxis weiter wirksamen Zunft- sodass sich für Investitionen und unternehmerische zwang, waren staatliche Maßnahmen einerseits Tätigkeit wenig Anreize boten. In den katholischen und privates Engagement andererseits die Voraus- Regionen Bayerns war die Ablehnung des Indust- setzung für wirtschaftliche Prosperität. Zahlreiche riesystems im Übrigen weitaus massiver als in den Behörden gaben zunächst dem Markt eine zentrale neubayerischen Gebieten, wo die Arbeitsethik des Funktion, die Infrastruktur wurde verbessert durch Protestantismus der neuen Entwicklung entgegen- verschiedene Straßen-, Brücken-, Fluss- und Haus- kam. Typisch für die Angst vor einem unerwünsch- bauten. Dazu gehörte auch die nach sieben Mona- ten Wertewandel, wie sie in der katholischen Bevöl- ten Bauzeit vollendete und am 11. Juli 1811 eröff- kerung vor allem des ländlichen Raumes verbreitet nete Innbrücke, zu deren festlicher Eröffnung sich war, ist der Hirtenbrief­ des Bischofs von Regens- Minister Montgelas persönlich einfand. Nach 24 burg aus dem Jahre 1840: Jahren allerdings musste sie bereits wegen Baufäl- ligkeit einer „Notbrücke“ Platz machen, die dann „An die Stelle der alten deutschen Biederkeit immerhin 30 Jahre Bestand hatte, ehe sie 1865 von und Ehrlichkeit im Handel und Wandel­ sind Ver- einer eisernen Bogenbrücke abgelöst wurde.128 Den schmitztheit und Überlistung des nächsten, Mein- entscheidenden Impuls aber gab 1810 die Errich- eid und Treuebruch; an die Stelle gegenseitiger Lie- tung der Saline, deren ökonomische Schubkraft für be und nachbarlicher Hilfeleistung, sind Neid und Rosenheims Entwicklung nicht überschätzt werden Mißgunst, Verfolgung und Zwietracht getreten, und kann. In ihrem Gefolge entstand eine bescheidene die Sicherheit der Person und des Eigenthums wird erste chemische Industrie. Der Saline verdankte es täglich mehr gefährdet durch ungezügelte Habsucht. Rosenheim, dass es 1821 zum ersten bayerischen […] Auf der Vergessenheit Gottes beruht auch je- Solebad aufstieg. nes aus allen Schranken getretene Streben­ unserer Zeit, mit unersättlicher Selbst- und Gewinnsucht Dennoch verblieb der Markt, dessen Einwohner den materiellen Interessen, d. h. dem Reichtums- bereits zu einem Siebtel Fabrikarbeiter waren, noch götzenthum, wie einst Israel dem goldenen Kalb, zu

194 Manfred Treml huldigen, und in dieser Huldigung gegen die Geset- stützungsfonds für die Industrieförderung und ein ze Gottes wie der Kirche sich jeden Frevel zu er- ei­genes Handelsministerium ein. Allerdings revi- lauben, und mit den heiligsten Angelegenheiten der dierte in der Reaktionsära seit 1850 die Regierung Menschheit zu spielen.“130 manche Maßnahmen wieder und verschärfte 1853 sogar das Gewerbegesetz. Die wirtschaftlich not- Bezeichnenderweise stößt der Bericht der Polizeidi- wendige Einführung der vollständigen Gewerbe­ rektion von Oberbayern in das gleiche Horn, wenn freiheit und ein liberales Heimat-, Niederlassungs- er feststellt, „dass jene Gottesfurcht, jene Achtung und Verheiratungsrecht wurden daher erst unter gegen Vorgesetzte, und jener Gehorsam gegen die Ludwig II. 1868 Gesetz. bestehenden Verordnungen die Bewohner und ins- besondere jene des flachen Landes im Allgemeinen Frühindustrielle Kerne bildeten sich an Orten be- nicht mehr beseele, die man früher bey selben zu reits vorhandener Betriebe, vor allem der seit dem finden gewohnt war, dass vielmehr die jungen Bur- 15. Jahrhundert bestehenden Mühlen und Hämmer. schen namentlich von 18 bis 30 einen Übermuth, eine Gesichert sind für Rosenheim ein Messingwerk und Verachtung alles Würdigen und Heiligen, eine Miß- ein 1803 offensichtlich neu hergestellter Kupfer- achtung der Verordnungen und Jener, die Gesetze hammer, deren Tradition bis ins 18. Jahrhundert zu- in Anwendung bringen, eine gewiße Aufgeregtheit, rückreichte.132 1829 spricht eine anonym erschiene- eine auffallende Frechheit, und einen auffallenden ne „Beschreibung aller Städte und Märkte Bayerns“ Trotz zur Schau tragen, die bey geringen Veranlas- von einer Messingdrahtfabrik und einem Kupfer- sungen in Exzeße auszuarten drohen […].“131 hammer.

Max II. schließlich richtete nach politischen Anstö- 1841 erwarb der Eisenhändler Nikolaus Stum- ßen durch die Revolution bereits 1848 einen Unter- beck133 einen Waffenhammer, der sich in der Nach- barschaft dieser Anla- ge befand und neben Sensen, Sicheln, Äxten und anderen Werkzeu- gen auch Degenklingen und Bajonette fertigte. 1834 hatte er bereits von der Eisenhändlerin Anna Plest das Anwe- sen Max-Josefs-Platz 11 erworben und da- mit einen florierenden Eisenhandel in der Ro- senheimer Innenstadt begründet. Im selben Jahr erhielt er auch das Recht zur Ansässigma- chung in Rosenheim. Die Maschinenfabrik Stumbeck produzier- Bogenbrücke über den Inn (links: Brunnwärterhaus der Saline), lavierte Feder- te in der Folgezeit Ei- zeichnung von Friedrich Wilhelm Doppelmayr, 1816. senteile für die Bahn,

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 195 Wasserturbinen und landwirtschaftliche Maschi- den Einsatz von Dampfschiffen,135 die der Münchner nenteile, ab 1877 verlagerte sich der Schwerpunkt Unternehmer von Maffei zur besseren Auslastung auf Brauereianlagen und dann auf Holzbearbei- seiner Maschinenfabrik zum Einsatz brachte. Als tungsmaschinen. 1931 wurde sie von der konkurrie- erstes von einer Dampfmaschine getriebenes Schiff renden Maschinenfabrik Beilhack übernommen, die landete die „Wasserburg“ am 6. September 1854 in ihrerseits in Bezug zur alten Messingfabrik stand. Rosenheim. Sie war 140 Meter lang und mit den Radkästen 28 Meter breit und verfügte über 60 PS 1857 hatten die Gebrüder Beilhack das Gelände er- Antriebsstärke. Am 4. Juli 1857 erhielt der Schlepp- worben und dort ein Eisen- und Kupferhammer- dampfer „Rosenheim“ eine Flagge vom Magistrat werk mit einer Maschinenfabrik errichtet, die zum der Stadt Rosenheim überreicht. Zwischen 1854 und Ausgangspunkt für ein florierendes, bis 2001 beste- 1858 fanden regelmäßige Personenfahrten zwischen hendes Familienunternehmen in Rosenheim wurde. Rosenheim und Passau statt, die allerdings 1859 aus Errichtet wurde 1830 bei Stephanskirchen auch eine Mangel an Nachfrage wieder eingestellt wurden. Pulverfabrik, die allerdings im 19. Jahrhundert drei- Danach verkehrten nur noch Schleppdampfer, die mal in die Luft geflogen ist, und 1855 schließlich Schienen für den Eisenbahnbau oder Getreide für eine Kunstmühle. die österreichische Armee nach Italien transpor- tierten. Dennoch hatte diese Technik angesichts der 1829 wurde am Standort des früheren Messingwerks starken Abhängigkeit vom Wasserstand und der in- die chemische Fabrik von Umrath und Comp. ge- zwischen massiven Konkurrenz der Eisenbahn kei- gründet, die Salz und Mutterlauge von der Saline, ne Überlebenschance. tierische Abfälle aus München und Schwefelsäure aus Salzburg bezog und daraus das für die Glashüt- Rosenheim als Eisenbahnstadt ten nötige Glaubersalz und außerdem Chlorkalk, Knochenleim, Salmiak, Knochenmehl, Soda u. a. m. Damit sind wir bereits mitten in der zweiten Perio- herstellte. Mit der Seilerwarenfabrik J. A. Huber de der Wirtschaftsentwicklung Rosenheims, die von (1856) und der Baumwollspinnerei in Kolbermoor der Eisenbahn bestimmt war. Mit der dadurch aus- (1860) hielt die Industrialisierung endgültig Einzug. gelösten neuen Dynamik endet für Ludwig Eid die Damit konnten Rosenheim und seine Umgebung Epoche des alten Rosenheim. Ein wenig sentimental gut gerüstet und mit der nötigen Aufgeschlossen- blickt er zurück und beklagt die neue Entwicklung: heit in die nächste Phase einer Wirtschaftsgeschichte eintreten, die von der Dampfmaschine und der Ei- „Da kam der Wirbelwind von 1848 und mit der senbahn bestimmt war. Eisenbahn gerät die schöne reiche grundgelehrte Altertumswissenschaft und der unersättliche Ren- Ein bedeutender Wirtschaftsfaktor war und blieb tentrieb über das oberbayerische Märktlein, bis es die Innschifffahrt, die mit ihren Schiffs- und Trei- für das Auge des flüchtigen Beschauers eine Aller- delzügen das Transportwesen über Jahrhunderte weltsstadt geworden ist.“136 bestimmte.134 Vor allem Gips und Kalk beförderten die Plätten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, später Mit der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürn- transportierten sie auch Materialien für die Bauten berg und Fürth war Bayern 1835 früh ins Indust- in der Donaumonarchie und für den Eisenbahn- riezeitalter eingetreten. Gerade sie war Symbol und und Kanalbau. Von der Schifffahrt lebten nicht nur Schwungrad der Frühindustrialisierung. In Altbayern die Schiffsleute, sondern auch eine ganze Reihe von gehörte Rosenheim zu den Vorreitern, an deren Ent- Gewerben, die bei Herstellung, Transport und Ver- wicklung sich die Bedeutung der Eisenbahn sowohl kauf eingebunden waren. Kurzzeitige Konkurrenz für die Stadtentwicklung als auch für den ökonomi- entstand dieser traditionellen Transportweise durch schen Aufschwung demonstrieren lässt.137 Die Pläne

196 Manfred Treml dazu reichten bis ins Jahr 1835 zurück, eine Zeit, in Ebenso weitblickend benannte von der Pfordten der König Ludwig I. noch mahnende Gedichte gegen auch die militärische Bedeutung der beiden Linien die neue Technologie geschrieben hatte.138 nach Salzburg und Innsbruck, für die Rosenheim der Knotenpunkt werden sollte, nämlich das Inter- Der Einsatz des Münchner Unternehmers und esse Österreichs, über eine direkte Verbindung in die Eisenbahnpioniers von Maffei, dessen Lokomo- Lombardei im Falle „einer allenfallsigen Insurekti- tivfabrik zur gleichen Zeit mit einem staatlichen on in Italien oder einem Kriege mit Frankreich“142 Hypothekendarlehen von 250.000 Gulden und 30 zu verfügen. Entsprechende Einquartierungen lie- wöchentlichen Zuschüssen von jeweils 8.000 Gul- ßen übrigens nicht lange auf sich warten. Schon den vor dem Zusammenbruch gerettet wurde, 1859 wurden 5.438 Mann österreichischer Truppen brachte Bewegung in die Planung. Am 10. Septem- und 695 bayerische Jäger in Rosenheim einquartiert, ber 1848 genehmigte König Max II. die Bildung ei- welche die Bundesfestungen Ulm und Rastatt zu be- ner Privatgesellschaft, des „München-Rosenheim- setzen hatten, und gleichzeitig bildete man ein Ko- Salzburger Eisenbahnvereins“, die allerdings nicht mitee zur Unterstützung der für den Krieg in Italien genügend Aktionäre fand. Deshalb übernahm der auf der Eisenbahn durchreisenden österreichischen Staat im Mai 1852 das gesamte Projekt und führte Armee, das immerhin Aufwendungen in Geld und unter der Regie der Königlich Bayerischen Eisen- Naturalien in Höhe von 3.890 Gulden und 12 Kreu- bahnbau-Sektion die unterbrochenen Bauarbeiten zern aufzubringen hatte.143 1857 fort.139 Dabei ging das staatliche Interesse weit über die bloße regionale Wirtschaftsförderung hin- In Rosenheim, das mit seiner Saline, den beabsich- aus, weil die Maximiliansbahn zwischen München tigten Gütertransporten und der erwarteten Per- und Salzburg letztlich Teil einer großen Transversa- sonenbeförderung von Badegästen, Touristen und le zwischen Wien und Paris sein sollte. Schon 1851 Geschäftsleuten den Konkurrenten Wasserburg hatte man diese grenzüberschreitende Planung so- schon bald aus dem Rennen geworfen hatte, wühl- wie die Strecke nach Kufstein in einem Staatsvertrag te allerdings zunächst der Streit um die Linienfüh- mit Österreich vereinbart, der allerdings 1854 in rung und um den Standort des Bahnhofs die Gemü- Schwierigkeiten geriet. Bayerns Außenminister von ter auf.144 Zunächst plante der Staat 1849 eine zwei der Pfordten begründete das politische Interesse des Kilometer südlich der Altstadt verlaufende Trasse, Königreichs an der Realisierung dieser Planung mit wohingegen sowohl der Rosenheimer Magistrat als aufschlussreichen Worten: auch der an diesem Projekt beteiligte Unternehmer von Maffei wegen der Inn-Dampfschifffahrt den „Für Bayern ist es eine unverkennbare Lebensfra- Bahnhof im Norden des Marktes, nahe der Innlän- ge, dass seinem Ein- und Ausfuhr-Handel bis an de im Bereich der sogenannten Schmucken, sehen die Haupthäfen des mittelländischen Meeres ge- wollten. öffnet werde, weil nur dadurch die unnatürliche Abhängigkeit von dem Norden und die einseitige 1852 rückte ein Standort im Süden in der Nähe der Richtung seiner bisherigen Verkehrsbeziehungen Saline ins Blickfeld, gegen den der Magistrat und aufgehoben und die Vortheile, die eine Handelsbe- private Spekulanten opponierten. Der 1850 wegen ziehung mit Österreich darbietet, genommen wer- seiner politischen Gesinnung entlassene ehemalige den können.“140 Diese großdeutsche Orientierung, Posthalter Franz Xaver Amann richtete gar am 20. die in der bayerischen Politik seit 1848 hohen Stel- Dezember 1853 ein wortreiches Gesuch an Minister lenwert hatte und auch von starken Kräften unter- von der Pfordten, in dem er sein persönliches Ge- stützt wurde,141 endete mit dem Sieg Preußens 1866 winninteresse unverblümt offenlegte und als eine und endgültig mit der Gründung des kleindeut- Art Kompensation für seine Entlassung die Stand- schen Reiches im Jahre 1871. ortentscheidung für die nördliche Trasse forderte:

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 197 „Die Zeit der Entscheidung über das Wohl und Wehe sen, entsprochen werden wird, so wage ich es mich der Gemeinde Rosenheim rückt nun sehr nahe, wel- an Eure Exzellenz mit meinem Anliegen schriftlich che in der Wahl des Platzes für den hiesigen Bahnhof zu wenden, da ich persönlich Eure Exzellenz bey liegt, ob derselbe auf der nördlichen oder südlichen letzten hier seyn, nicht belästigen wollte […]. Auf Seite des hiesigen Marktes zu stehen kommen soll. Grund der mehrfachen Angaben des Magistrats, den Allein, da sehr zu befürchten ist, dass den Ansich- Bahnhof an der nördlichen Seite des Marktes beizu- ten der Techniker, welche, wie es scheint, das Wohl behalten, machte ich mir die freudige Hoffnung auf des größten Teils der Gemeinde nicht ins Auge fas- diese Weise für den unverschuldeten Verlust des hie-

Gesamtansicht des ersten Rosenheimer Bahnhofs, lavierte Bleistiftzeichnung von Friedrich Seidel, 1859.

198 Manfred Treml sigen k. Postdienstes wieder entschädigt zu werden, die Verlegung des hiesigen Bahnhofs von der nörd- da mein Gasthaus am Bahnhof an der nördlichen lichen auf die südliche Seite des Marktes steht mir Seite am nächsten gelegen wäre und ich mittels An- nun in Aussicht meinem gänzlichen Untergang ent- kauf eines an mein Gasthaus anstoßenden Gebäudes gegen sehen zu müssen.“145 in den Stand gesetzt bin, mein Gasthaus, welches ich im Jahre 1845 für die Post schon mit großem Kos- Dieser Antrag machte allerdings in München nicht tenaufwand vergrößerte, so herzustellen, dass selbes den gewünschten Eindruck. Nach dem Besuch ei- für einen Bahnhof gewiß entsprechen würde. Durch ner Kommission und schließlich sogar des Minis- terpräsidenten von der Pfordten selbst entschied der König schließlich auf Antrag der Staatsregie- rung gegen den Wunsch der städtischen Organe am 7. April 1854 für die südliche Trasse, die nur um den Preis eines städtebaulichen Sündenfalls realisiert werden konnte: Das Münchener Tor wurde abgeris- sen.146 Diese planerische Fehlentscheidung, wie man sie aus heutiger Sicht ohne Frage bezeichnen muss, wird angesichts der bereits 1876 erforderlichen Ver- legung des Bahnhofs umso offensichtlicher. Am 24. Oktober 1857 um 12 Uhr erreichte der erste Zug der Königlichen Maximiliansbahn den damals noch pro- visorischen Bahnhof am Roßacker, am 31. Oktober fand die offizielle Eröffnungsfahrt statt. Schon am 5. August des folgenden Jahres fuhr der erste Zug von Rosenheim nach Kufstein. Am 13. November 1858 schließlich konnte der Rosenheimer Bahnhof eröffnet werden, ein Prachtbau, errichtet von einem bedeutenden Bahnhofsarchitekten und ausgestattet wie ein repräsentativer Herrschaftssitz, mit einem gegenüberliegenden Betriebswerk und großzügiger Lokomotivenrotunde.147

Innerörtlich wurden im selben Jahr die sogenann- te „Salzspur“, eine Gleisverbindung vom Bahnhof zur Saline, und ein Gleis zur Innlände errichtet. Im Sommer 1860 konnten schließlich, nachdem mit der mächtigen steinernen Innbrücke ein technisches Meisterwerk gelungen war, die Gleise nach Salzburg vollständig verlegt werden, sodass am 12. August die gesamte Bahnlinie München–Salzburg vom ös- terreichischen Kaiser und vom bayerischen König in Salzburg gemeinsam eröffnet werden konnte.

Rosenheim war nun endgültig zu einem Bahnkno- tenpunkt von europäischem Rang und zur „Eisen- bahnstadt“ geworden, ein Profil, das sich in den

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 199 folgenden Jahrzehnten noch verstärken sollte. Die günstig hat die Einziehung unserer Stadt in das bay- rasante Entwicklung des neuen Verkehrsmittels er- erische Eisenbahnnetz auf die Entwicklung der hei- fasste mit seiner Dynamik nicht nur den Ort, son- mischen industriellen und commercialen Verhältnis- dern die ganze Region. se gewirkt.“150

Das Gesicht des Marktes, sein wirtschaftliches Profil Nicht zufällig wurde in Rosenheim im September und sein Selbstbewusstsein veränderten sich, weite- 1861 das erste Landwirtschaftliche Bezirksfest mit re Industriebetriebe siedelten sich an. Die Landes- Industrieausstellung abgehalten, das eine Tradition hauptstadt war nun auf drei Stunden Fahrzeit he- begründete, in der sich Landwirtschaft, Gewerbe rangerückt und konnte mehrmals täglich besucht und Industrie gemeinsam präsentierten.151 werden. Immerhin sind im Jahre 1858 insgesamt 66.903 Fahrkarten verkauft worden, zwei Jahre spä- Stadterhebung ter waren es bereits über 108.000. Die Einwohner- zahl stieg so rasant an, dass Rosenheim im Verlauf So blieb als letzte Bestätigung dieses Ranges nur eines Jahrhunderts seinen Rang und Stellenwert in noch der formale Akt der Erhebung zur Stadt, der Bayern geradezu nach oben katapultierte: zu diesem Zeitpunkt längst überfällig war.152 Josef Friedrich Lentner bezeichnete in seiner Landesbe- „Rosenheim, vor hundert Jahren ein Markt, Aibling, schreibung von 1849 Rosenheim schon als bedeu- Grafing, Wemding gleich, kleiner als Weilheim, tendsten oberbayerischen Markt mit überwiegend Wasserburg, Aichach, nur halb so groß als Tölz, Rei- städtischem Charakter, als Unterzentrum und Ver- chenhall, Burghausen, etwa ein Drittel nur von In- kehrsmittelpunkt.153 In der 1860 erschienenen Lan- golstadt, hat an Zivilbevölkerung dieses letztere ein- des- und Volkskunde „“ wurde Rosenheim geholt und ist zur drittgrößten, unmittelbaren Stadt sogar „der erste Markt des Königreiches“154 ge- Oberbayerns, zur 29. Stadt Bayerns überhaupt ge- nannt. Diese Einschätzung bestätigt 1861 auch der worden. Von 1.760 Einwohnern im Jahre 1805 sind Gerichtsarzt Dr. Joseph Zetl in seinem Physikats- wir auf 15.403 im Jahre 1905 angewachsen und ha- bericht, in dem er Rosenheim ebenfalls als Zentrum ben uns mit diesem Wachstum den größten Städten mit deutlich städtischer Prägung beschreibt und Bayerns, München und Nürnberg, gleichgehal- ten“148, beschreibt Lud- wig Eid diese Verände- rung sehr anschaulich.

Schon Rosenheims ers- ter Chronist, Otto Titan von Hefner, verband als Zeitgenosse daher völlig zu Recht mit der Eisen- bahn und ihren Folgen „günstige Hoffnungen für die Zukunft des Marktes“149, der zweite, Adolf Stempfle, konn- te bereits die Erfolge benennen: „Ungemein Bevölkerungsentwicklung von Rosenheim 1850–1900.

200 Manfred Treml dafür zahlreiche Belege aus dem Ortsbild und der Am 6. Oktober 1856 unterschrieb deshalb – wieder Bauweise anführt. Auch die bürgerlichen Gewerbe- in der Hoffnung auf das künftige Bezirksgericht – betriebe und erste fabrikmäßige Produktionsstätten Bürgermeister Aicher einen zweiten Antrag, der we- sind ihm Beleg für den städtischen Charakter Rosen- nige Monate später unter Hinweis auf die Ausgaben- heims. Und selbst bei der Kleidung, der Ernährung mehrung erneut abgelehnt wurde. Der Königliche und dem Freizeitverhalten macht er deutliche Un- Notar Kaspar Schlosser setzte schließlich durch eine terschiede zum Land und kleineren Märkten aus.155 aufrüttelnde Rede im Gremium der Gemeindebe- vollmächtigten am 18. Juli 1864 einen einstimmigen Als im Gefolge der Revolution von 1848 die Tren- Beschluss durch, der zum dritten, diesmal erfolgrei- nung von Verwaltung und Justiz auch auf der un- chen Antrag führte. „Ist es zeitgemäß, nützlich und teren Behördenebene beschlossen wurde und damit notwendig, dass der bisherige Markt Rosenheim zur die Errichtung von Bezirksgerichten zu erwarten Stadt erhoben werde?“, so fragte er, und seine Aus- war, bemühte sich der Rosenheimer Magistrat um führungen überzeugten allgemein. Zur Begründung diese Einrichtung und verband damit den Antrag für den Antrag stützte man sich auf die früheren zur Erhebung in den Rang einer Stadt, weil man Ausführungen zur Einwohnerzahl, zum Vermögen, sich damit höhere Chancen versprach.156 Die erste zum historischen Geschehen, zu Kunst und Han- Eingabe vom 30. Juni 1848 hatte im Vorfeld bei den del, zur Saline und zum Badewesen und ergänzte Gemeindebevollmächtigten Bedenken wegen zu er- sie um Hinweise auf die Eisenbahnlinien, die neuen wartender höherer Kosten ausgelöst. Dennoch ging industriellen Betriebe und die neuen Bevölkerungs- das Gesuch an das Ministerium des Inneren weiter, zahlen. Rosenheim stand damit eindeutig an vier- wobei Landrichter Emmerich Bisani die angeführ- ter Stelle in Oberbayern, finanziell wahrscheinlich te Begründung nicht nur bestätigte, sondern noch sogar noch höher. Außerdem konnte Rosenheim zusätzlich auf die bestehende lateinische Schule hin- seine historische Entwicklung nun ebenso fundiert wies. Der Regierung von Oberbayern, die den An- wie detailliert mit einer 1860 veröffentlichten vor- trag zunächst erhielt, genügten allerdings die An- züglichen Chronik belegen, die der Münchner His- gaben vor allem zur Geschichte des Marktes nicht, toriker Otto Titan von Hefner157 im Auftrag des sodass der Marktschreiber Gensperger nun eine Magistrats erarbeitet hatte und von der König Max 30-seitige historische Abhandlung verfassen musste. II. sofort ein persönliches Exemplar erhalten hatte. Da kein Archiv im heutigen Sinne bestand und die Am 13. August 1864 übergab man das Gesuch dem vorhandenen Akten ungeordnet irgendwo lagerten, Königlichen Bezirksamt, das seit 1862 in Rosenheim konnte er sich lediglich auf die Beschreibung Klö- bestand. Schon vier Wochen später erhielt man die ckels von 1815 und den Atlas von Bayern von 1840 Mitteilung, dass König Ludwig II., der seinem im stützen und lieferte dementsprechend eine bun- März verstorbenen Vater inzwischen nachgefolgt te Mischung aus Sage und Geschichte. Inzwischen war, die Erhebung Rosenheims zur Stadt genehmigt regten sich in der Gemeinde erneut Bedenken, die habe. Innerhalb von drei Tagen musste nun eine Fei- der Landrichter an die Regierung von Oberbayern er vorbereitet werden, bei der die Übergabe der Ur- weitergab. Diese empfahl daraufhin die befristete kunde festlich begangen werden sollte. Zurückstellung des Antrags oder die Prüfung der gegenwärtigen finanziellen Belastungen für die Ge- Der 28. September 1864 war der große Tag, an dem meinde. Offensichtlich ist aber dann in den Wirren nach einem feierlichen Gottesdienst in der Stadt- des Jahres 1848, das immerhin revolutionäre Unru- pfarrkirche Bezirksamtmann Franz Christoph dem hen, den Rücktritt König Ludwigs I., zwei Reform- Apotheker Dr. Joseph Georg Rieder, nunmehr Ers- landtage, eine neue Regierung und erhebliche Ver- ter Bürgermeister der neuen Stadt, die Stadterhe- änderungen im konstitutionellen System gebracht bungsurkunde158 überreichte. Anwesend bei dem hatte, Rosenheims Antrag untergegangen. Festakt waren auch Deputationen aus Aibling und

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 201 Urkunde König Ludwigs II. über die Stadterhebung Rosenheims, Pergament, 1864.

202 Manfred Treml Traunstein sowie die Beamten Rosenheims und Of- fiziere der Landwehr.

„Mittags wurden die Armen der Stadt bewirtet, nachmittags veranstalteten die Turner vor dem Wie- sentor ein Schauturnen und die Landwehrmusik konzertierte im alten Bad. Bei einbrechender Dun- kelheit strahlte die ganze Stadt in einem Lichtermeer, berichtet ein Zeitgenosse. Mit einer Festproduktion, welche von der Liedertafel und der Landwehrkapel- le im Saal des Gasthauses ‚Zur alten Post‘ […] gege- ben wurde, schloß der für Rosenheim denkwürdige Tag […].“159

Schon am 12. Dezember des Jahres wurde Rosen- heim durch Ministerialreskript unter die Städte II. Klasse aufgenommen, was allerdings nach dem Ge- meindeedikt mit der Aufstellung eines rechtskundi- gen Bürgermeisters verbunden war. An die obligato- rische Dankadresse an den König schloss sich am 28. Dezember eine Audienz beim König an, bei der Dr. Rieder, der nun dem rechtskundigen Bürgermeister Dr. Friedrich Stoll Platz machen musste, und der Vorsitzende des Gemeindekollegiums, der Bier- brauereibesitzer Thomas Steinbök, nochmals ihren Dank abstatten durften. Nach einem etwas langwie- rigen Prozess, den auch geplante Gesetzesänderun- gen zum Kommunalwesen zusätzlich verzögerten, wurde Rosenheim schließlich am 8. Februar 1870 in die Reihe der Städte aufgenommen, die der Königli- chen Regierung unmittelbar untergeordnet und da- mit kreisfrei gestellt waren. Rosenheim hat, so lässt sich durchaus formulieren, in wenigen Jahrzehnten Karriere gemacht. Dabei haben sich Beharrungsver- mögen und Aufgeschlossenheit die Waage gehalten; wo Traditionswahrung und Modernisierungswille in Widerstreit gerieten, dominierte häufig das öko- nomische Interesse, das auch für die entscheiden- den Impulse dieses halben Jahrhunderts gesorgt hat: den Bau der Saline und die Errichtung der Eisen- bahnverbindungen. Aus beiden technischen Inno- vationen sind für Rosenheim wegbereitende Kräfte erwachsen, die den Ort zur erfolgreichen Salzstadt und zur prosperierenden Eisenbahnstadt bis weit Urkunde König Ludwigs II. über die Stadterhebung Rosenheims, Pergament, 1864. ins 20. Jahrhundert hinein werden ließen.

Vom „neuen Bayern“ zur Stadterhebung (1799–1864) 203