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[Hrsg.]: North East Antifascists [NEA] Antifa Westberlin (AWB) Impressum

Erschienen Medien- und Berlin | 2019 (1. Auflage) Vertriebspartnerschaften

V.i.S.d.P. Ina Konnopke Friedrichstraße 208 10969 Berlin

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Vorwort...... S. 1

Die DDR und der neue Faschismus (I)...... S. 5

Der Ausverkauf der DDR durch die Treuhandanstalt...... S.15

Mythos „Friedliche Revolution“...... S. 25

Hegemonialstreben und Ostpolitik der BRD 1949-1990...... S. 31

Die „Deutsche Frage“: BRD-Imperialismus in Europa...... S. 38

Deutsch-Türkische Untiefen...... S. 43 . Das Geschäft mit der Flucht...... S. 52

Antikommunistische Kontinuitäten in der BRD...... S. 65

Nie wieder Deutschland!...... S. 72

Die deutsche Nation und das Pogrom...... S. 79

Die DDR und der neue Faschismus (II)...... S. 86

Vorwort

Der Kollaps der realsozialistischen DDR unvermittelte Bruch mit ihrem gesamten bis- 1990 traf die damalige antikapitalistische Linke, herigen Leben, der ihnen statt Anarchie und sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland, Befreiung Arbeitslosigkeit, westchauvinistische völlig unvorbereitet. Die daraus folgende Diffamierungen und Perspektivlosigkeit brachte. Ohnmacht hält bis heute an. Eine offene und solidarisch-kritische Auseinandersetzung zum In dieser polarisierten Debatte scheint es Thema DDR und Sowjetkommunismus findet kaum ein Interesse an Differenzierung zu ge- abseits von häufig unsachlichen Polemiken ben. So fällt eine Kritik an der sozialistischen kaum statt. Zu verhärtet scheinen die Fronten, DDR oft in antikommunistische Ressentiments zu schmerzhaft die Erinnerungen, vor allem zurück, die teilweise sogar noch die historische bei denjenigen, die sowohl das Leben in der und aktuelle Propaganda der BRD-Eliten un- DDR, wie auch die Umbruchszeit 1989/90 terbietet. Die Folge ist, dass eine selbsterklär- miterlebten. Sowohl die antikapitalistische, te antikapitalistische, kritische Linke in diesem linke Opposition innerhalb der DDR, wie auch Diskurs allzuhäufig in den Abgesang auf den parteitreue Kommunist*innen standen am Ende Sozialismus einstimmt, und damit den heu- auf der Verlierer*innenseite, ebenso wie weite tigen gesamtdeutschen Herrschenden in die Teile der DDR-Bevölkerung. Hände spielt. Währenddessen wird in traditi-

Bis heute spalten sich die Lager zwischen onskommunistischen Strömungen jede Form (Post-)Autonomen, Punks und Anarchist*innen von Kritik an der DDR allzu oft als per se anti- auf der einen Seite und traditionslinken, mar- kommunistisch diffamiert, um sich nicht mit xistischen Organisationen in kaum einem dem historischen Scheitern auseinandersetzen Punkt so sehr, wie in der Rückbetrachtung auf zu müssen. 1989/90 und die Realität des Sozialismus in der DDR. Genau diesen, wenig solidarischen Debat- Wir fordern mit dieser Broschüre eine tenstand zeigten die in den vergangenen Jahren Debatte innerhalb der bundesweiten antika- veröffentlichten, sich inhaltlich aber diametral pitalistischen Linken ein, die es schafft, den gegenüber stehenden Rote Hilfe Zeitungs-Aus- historischen Sozialismus, und das heißt auch gaben „Siegerjustiz“ (RHZ 04/2016) und „Wenn die DDR, innerhalb ihres historischen Kontextes wir brüderlich uns einen...“ (RHZ 01/2019) auf. zu thematisieren und auch zu kritisieren. Es Was für die einen zum Mythos eines „Sommers kann uns dabei aber nicht darum gehen, das der Anarchie“ wurde, war für die anderen der antikommunistische Narrativ der BRD zu über- 1 nehmen oder gar noch zu unterbieten, sondern Im Einstiegstext Die DDR und der neue darum eine eigene, linke Geschichtsschreibung Faschismus I kritisiert Geronimo Marulanda und damit progressive Perspektiven insgesamt vom re:volt magazine die Geschichtslosigkeit zu stärken. Diese kritische und solidarische der deutschen radikalen Linken. Er plädiert für Auseinandersetzung mit unserer Bewegungs- eine kritisch-solidarische Auseinandersetzung Geschichte als antikapitalistische Linke halten um die DDR, die ihre historische Realität eben wir für unerlässlich, um aus begangenen Feh- auch in ihrem historischen Kontext diskutiert. lern, und den komplexen historischen Situati- Es gehe dabei nicht nur darum, politische Fehler onen, in denen sie begangen wurden, zu lernen. und Versäumnisse der Kommunist*innen Nur so können wir zu einer Analyse der heu- herauszuarbeiten, sondern auch darum die tigen Verhältnisse kommen, die die gemach- Errungenschaften anzuerkennen, die unter ten Erfahrungen in politische Praxis einfließen ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen lässt. Heute muss die im Gewand der Europä- erreicht werden konnten. Eine kritisch- ischen Union wieder auferstandene Großmacht solidarische Haltung zur DDR-Geschichte, und Deutschland, anknüpfend an Karl Liebknecht damit die Anerkennung der Lebensleistung (KPD), der Hauptfeind revolutionärer, antikapi- der ostdeutschen Bevölkerung, sei Grundlage talistischer Politik sein. Eine Analyse des Sozi- dafür, einen wirkungsvollen Antifaschismus in alismus der DDR und des historischen Verlaufs Ostdeutschland entfalten zu können. ihrer Annexion und Unterwerfung muss deshalb stets von einer Kritik an der kapitalistischen und antikommunistischen BRD und dem auch nach zwei verlorenen Weltkriegen ungebrochenen »Heute muss die im Gewand der Streben nach der Weltmacht begleitet werden. Europäischen Union wieder aufer- In der vorliegenden Broschüre findet sich standene Großmacht Deutschland der Versuch der Eröffnung einer Debatte. Die (...) der Hauptfeind revolutionärer, Artikel sind dabei jedoch als Zwischenstand der Diskussionen unserer politischen Zusam- antikapitalistischer Politik sein.« menhänge zu begreifen. Eine weitergehende Auseinandersetzung und gesamtlinke Debatte in puncto historischem Sozialismus und einer möglichen heutigen Umsetzbarkeit kann die In Mythos friedliche Revolution greift die An- Broschüre in keinem Fall ersetzen. Wir hoffen, tifa Westberlin das herrschende, geschichtspoli- dass wir einige Ansätze für eine konstruktive tische Narrativ der BRD-Eliten zu den Montags- innerlinke Debatte zur Sache beitragen konn- demonstrationen und den folgenden Ereignissen ten und damit eine Annäherung zwischen den 1989/90 an und beschreibt, wieso gerade die- polarisierten Lagern auf gemeinsamer Diskus- ser Staatsgründungsmythos der BRD-Eliten so sionsgrundlage bieten können. Wir freuen uns wichtig für die Legitimierung eines gesamtdeut- daher über weitere Debattenbeiträge und auch schen, bürgerlichen Nationalstaats ist. Die Dele- kritische Rückmeldungen. gitimierung des Sozialismus in der DDR sei dabei ein weiteres zentrales Moment dieser Erzählung. Um von den Narrativen der Geschichtssch- reiber*innen der BRD Abstand zu nehmen, haben Die Treuhand sollte in der Abwicklung der wir versucht, einige Begriffe nicht oder nur mit DDR-Gesellschaft und Wirtschaft eines der sehr viel Vorsicht zu verwenden (zum Beispiel wichtigsten Werkzeuge des westdeutschen „Wiedervereinigung“). Unseren Autor*innen haben Großkapitals werden. Den Verlauf der kapitali- wir freigestellt, ob sie mit Sternchen oder Unterstrich stischer Transformation behandelt der Artikel gendern wollen. Der Ausverkauf der DDR durch die Treuhandanstalt. Erwähnung findet dabei auch der fast in Verges-

22 senheit geratene Widerstand der ostdeut- schen Bevölkerung gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch das westdeutsche Großkapital.

Die westdeutschen Eliten zeigten ihre imperialistischen Großmachtsambitionen und rücksichtslose Enthemmungen in Form von zerstörerischen Landnahmepolitiken aber nicht erst auf dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR der 1990er Jahre, sondern schon weit davor. In Hegemonialstreben und Ostpolitik der BRD von 1949-1990 wird ein historischer Überblick über die außenpolitischen Konzeptionen zur Wiederherstellung einer verloren geglaubten deutschen Hegemonie gegeben. Im Zentrum steht dabei die Phase von der Staatsgründung der BRD bis zu Annexion der DDR.

Heute entfaltet der wiederauferstandene BRD-Imperialismus sein ganzes destruktives Potential. Einerseits gegenüber den euro- päischen Nachbarländern, insbesondere den südeuropäischen, die seit dem Einsetzen der globalen Krise des Kapitalismus in der Europäischen Union 2008 in ein de facto Abhängigkeitsverhältnis versetzt und partiell ihrer Souveränität beraubt wurden. Aber auch gegenüber dem zwischen-imperialistischen Rivalen Frankreich, wie Jörg Kronauer in dem Artikel „Die deutsche Frage“: BRD-Imperialismus in Europa beschreibt. Anderseits zeigt sich die deutsche Hegemonialstrategie in keinem Land deutlicher und auch widersprüchlicher als in der Türkei, wie Alp Kayserilioğlu vom re:volt magazine in Deutsch-türkische Untiefen aufzeigt. So unterschiedlich die genannten Beispiele und ihre Folgen sind, zeigen sie deutlich, wie stark die Außenpolitik der BRD durch ihr Hegemonialstreben geleitet ist. Ausschnitt aus: „Antifaschistische Aktion“ © Bernd Langer (Kunst und Kampf) Eine besondere Rolle in der Beziehung zwischen der Türkei und Deutschland spielt der Umgang mit Geflüchteten. Johanna Bröse Treffend wird herauspointiert, wie heuch- vom re:volt magazine beschreibt, wie mörde- lerisch die BRD-Eliten einerseits Flucht, risch und gleichzeitig profitgetrieben Das Ge- Fluchthelfer*innen und den Mauerbau zur anti- schäft mit der Flucht funktioniert, und welche kommunistischen Mobilisierung instrumentali- Rolle die außen- und migrationspolitische sieren, während andererseits Fluchtrouten mit Haltung der Bundesrepublik dabei einnimmt. Abkommen zur Rückführung und Grenzschlie-

3 ßungen verunmöglicht werden und kalkuliert die für eine heutige offensive und revolutionäre unsichtbare Mauer des Mittelmeers bleibt, an antifaschistische Handlungsfähigkeit an. der die Menschen zu Zehntausenden ertrinken. Vielmehr sei das Problem der neo-faschistischen Hegemonie Resultat eines erfolgreich Dass diese Form des Antikommunismus verlaufenen braunen Aufbaus, der durch die kein neues Phänomen in der Geschichte und reaktionärsten Teile der BRD-Eliten gezielt Realität der BRD-Politik ist, wird im Beitrag An- durch V-Männer begleitet wurde, wie die NSU- tikommunistische Kontinuitäten in der BRD: Von Aktenbestände heute nachweisen. der Staatsgründung, über die Annektion der DDR, bis heute beschrieben. Der Autor spannt da- Deutschland ist Brandstifter-Kampagne bei den Bogen von der Hallstein-Doktrin eines North East Antifascists [NEA] (CDU), über die antikommuni- stische Geschichtspolitik eines Hubertus Knabe, Antifa Westberlin (AWB) bis hin zur Frage, wie tief der Antikommunis- mus eigentlich auch in der heutigen radikalen Berlin / Oktober 2019 Linken verhaftet ist. In „Nie wieder Deutschland!“ - Die Annexion der DDR, der II. Golfkrieg und die Ge- burtsstunde der sogenannten Antideutschen wird daran anschließend der Versuch unternommen, die Geschichte einer mittlerweile ohne Zwei- fel als antikommunistisch zu bezeichnenden, neoliberalen und im politischen Establishment angekommenen Strömung der deutschen radi- kalen Linken nachzuvollziehen.

Der Text Die Nation und das Pogrom, der erstmals in der ZAG 62/2012 von der Kampagne „Rassismus tötet!“ herausgegeben und nun von der Antifa Westberlin gekürzt und überarbeitet wurde, soll in dieser Broschüre erneut seinen Platz finden. Er stellt die These auf, dass die Gründung aller deutschen Staaten, außer der DDR, durch antisemitische oder rassistische Pogrome begleitet wurde: von der März-Revolution 1848, die mit den so genannten Hepp-Hepp- Pogromen einher ging, bis zur Annexion der DDR und den Pogromen von Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992), die das Bild des vermeintlich „rechten Ostdeutschen“ bis heute prägen. Dass die heute starke Präsenz neo-faschistischer Gruppen und Personen auf dem ehemaligen Gebiet der DDR jedoch kein historischer Zufall ist, noch einer vermeintlichen sozialpsychologischen DDR-Prägung oder einer vermeintlich völkischen Konservierung entspringt beschreibt Geronimo Marulanda abschließend in Die DDR und der neue Faschismus II und schließt damit an sein an den Anfang gestelltes Plädoyer für eine Geschichtsschreibung von links und

4 Die DDR und der Neue Faschismus (I) Ein Plädoyer für eine kritisch-solidarische Debatte von Geronimo Marulanda (re:volt magazine)

Warum kommt ein zumeist westdeutscher einerseits und „Wenn wir brüderlich uns Antifa-Diskurs in der Auseinandersetzung um den einen...“ (RHZ 1/2019) [2] andererseits zeigt. Rechtsruck in Ostdeutschland weder positiv bei Sei es nun im Bezug zur konkreten historischen Ostlinken, noch bei weiteren Teilen der Bevölkerung Situation, in der der ostdeutsche, sozialistische an? Das könnte auch daran liegen, dass die Linke Staat entstand, und in dessen weltpolitischer konsequent eine kritisch-solidarische Auseinander- Konstellation er sich bewegen musste. Sei es setzung zum Realsozialismus in der ehemaligen zu den fortschrittlichen, wie defizitären und DDR verweigert. Einher damit geht ein Unsichtbar- repressiven Formen, die er historisch annahm machen, oder sogar eine Abwertung der Biogra- und auch zwangsläufig annehmen musste. fien eines Großteils der ostdeutschen Bevölkerung. Über die Notwendigkeit der gemeinsamen Diskus- Selten kommt eine Debatte zu diesen Fra- sion von Antifaschismus, kritischer Geschichtspoli- gen ohne den Vorwurf des Antikommunismus tik und Antiimperialismus gegen das Projekt Groß- durch Traditionskommunist*innen einerseits deutschland der westdeutschen Eliten. oder die komplette Delegitimierung als von vornerein zum Scheitern verurteiltes Projekt Geht es um die DDR, scheiden sich in der - oder gar als linker Totalitarismus - seitens un- deutschen Linken die Geister. Auch 30 Jahre dogmatischer Linker andererseits aus. Dieser nach dem Kollaps des Sozialismus werden feindselig geführte Debattenstand zieht sich bis Diskussionen um die Frage des Charakters des weit hinein in andere Kampffelder der Linken. ostdeutschen Staates unsachlich und feindselig So auch bis in die Debatte um den Rechtsruck, geführt, wie die Debatte um die Ausgaben der der in den so genannten neuen Bundesländern Rote Hilfe Zeitung „Siegerjustiz“ (RHZ 4/2016) [1] seit Jahren immer schärfere Formen annimmt.

5 Der moderne verunmöglicht. In diesen kritischen, aber häu- fig eindimensionalen Erzählungen zeigen sich Antikommunismus im regelmäßig die Probleme einer Bewegung, die historisch zu Recht eine im Traditionskom- linksliberalen Gewand munismus oftmals ökonomistisch verkürzte Faschismusdefinition kritisierte. Allerdings Die Erklärungsmuster für die Wahlerfolge mündete die Aufnahme weiterer (sozialpsy- der AfD, die in Brandenburg eine Kampagne mit chologischer, ideologiekritischer und anderer) dem Namen „Wende 2.0 – Vollende die Wende“ Perspektiven nicht in der Schärfung des (mate- mit Slogans wie „Freiheit statt Sozialismus“ rialistischen) Analysewerkzeugs, sondern endet lanciert hat, bleiben oftmals dürftig. So heute oftmals in der Entsorgung jeglichen kri- sollen beispielsweise laut dem linksliberalen tischen Gehalts. [7] Historiker Harry Waibel der Autoritarismus der DDR-Gesellschaft und die Politik der SED [3] Die Folge ist eine de facto Deckungsgleich- die psychosoziale Disposition für faschistisches heit mit bürgerlichen Extremismustheorien, die Gedankengut hervorgebracht haben. Besonders den Sozialismus in der DDR als zweite deutsche radikalisiert bringt diesen Standpunkt der Jungle Diktatur, beziehungsweise in Abstraktion ihres World-Autor Mario Möller auf den Punkt, der Inhalts, als wesensgleich zum NS-Faschismus den NSU als originäres Erbe der DDR bezeichnet konstruiert. [4]. Dazu rächt sich die unsolidarische Aus- Jochen Hippler wiederum identifiziert in klammerung der DDR-Geschichte als reale der linken Online-Zeitschrift trend im Jahre historische Erfahrung und Bezugspunkt einer 2005 eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen kommunistischen Linken. Damit wird nicht nur Faschismus und DDR-Sozialismus, da „(…) die Perspektive der hiesigen kommunistischen die kommunistische Kaderpartei (...) nicht die Entwicklung demokratischer Tugenden, sondern (...) ein System neuer Privilegien zur Belohnung von Maulheldentum, Untertanengeist und »Im linken Gewand kippt ein und Parteidisziplin“ geschaffen habe. „Das kritischer Diskurs zur DDR in Führerprinzip, das sich für die Deutschen als Herrschaftsideologie, wenn er verhängnisvoll erwiesen hatte, erlebte unter anderem Vorzeichen eine Renaissance“, meint deckungsgleich mit den (...) Eliten der Autor. [5] des neuen großdeutschen Projekts

Diese exemplarischen Argumentationen argumentiert.« von Links zeigen, wie eine begründete kritische Haltung und Einforderung der Auseinandersetzung gegenüber Aspekten des Sozialismus in der DDR häufig der Bewegung, sondern darüber hinaus der Denunzierung der DDR als Ganzes dient und Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung, die damit in der Kontinuität des westdeutschen nicht im Dauerkonflikt mit dem sozialistischen Antikommunismus [6] steht. Die heutige Staat stand, im Diskurs unsichtbar. Im linken neofaschistische Bewegung wird von den Gewand kippt ein kritischer Diskurs zur DDR in genannten Autoren* schlussendlich in direkte Herrschaftsideologie, wenn er deckungsgleich Kontinuität zum Sozialismus der DDR gestellt, mit den westdeutschen Eliten des neuen wie auch die DDR als Konservatorium des NS- großdeutschen Projekts argumentiert, nur Faschismus gilt. Eine solidarische Diskussion zu unter linkem Label. Dass dieser, im Grunde sehr ihrem Erbe ist mit derlei zugespitzten Thesen westdeutsch geprägte, antifaschistische Diskurs 6 auf taube Ohren stößt, bei einer Bevölkerung, die dem Sozialismus nicht mehrheitlich ab- lehnend gegenübersteht, da er die Biografien und auch positive Erfahrungen und Errungen- schaften in der DDR einfach negiert, ist kaum verwunderlich. [8] Trotz des offensichtlichen Scheiterns des linksliberalen, weltoffenen Dis- kurses, weigert sich eine Linke in ihrer Breite weiterhin, eine kritisch-solidarische und damit vorwärtsweisende Diskussion zum real existie- renden sozialistischen Projekt und auch zur ost- deutschen Frage anzugehen. Keine Vergangenheit keine Zukunft

Tatsächlich sind viele der heute von Kritiker*innen des realsozialistischen Projekts hervorgebrachten Argumente nicht von der Hand zu weisen und wären in eine kritische Re- flektion mit einzubeziehen.

1) Dass beispielsweise auch die DDR auf die Mitarbeit postfaschistischer Genoss*innen beim Aufbau des Sozialismus angewiesen war, ist dokumentiert. Aber auch, Dass dies (insbesondere auf Führungsebene) in geringerem Umfang geschah und aus historischer Kontinuität heraus zwangsläufig so sein musste. [9]

2) Dass es daher auch in der DDR, wenn auch abseits der Chefetagen, zur Konservierung chauvinistischer Einstellungen kam, wie zum Beispiel in der Blockpartei NDPD - aber auch in der SED -, ist ein gesamtdeutsches, geteiltes Problem. In Westdeutschland fand sich dieses Klientel in der FDP oder CDU und besonders in der CSU wieder. [10]

3) Dass es daher auch in der DDR zu pogrom- artigen Ausfällen und rassistisch motivierten Übergriffen kam, die allzu häufig mit unzu- reichender öffentlicher Thematisierung ein- hergingen, ist dokumentiert. [11]

7 4) Dass es, bedingt durch die weltpolitische Die Abwehrhaltung des Situation des Kalten Kriegs, wie auch aus Skepsis gegenüber der eigenen post-faschi- Traditionskommunismus stischen Bevölkerung, massive Defizite im Bereich der politischen und kulturellen Frei- heiten gab, aus denen nur eine stark regle- Die problematischen und kritikwürdigen mentierte sozialistisch-demokratische Kul- Aspekte des ostdeutschen Sozialismus dürfen tur entspringen konnte, ist dokumentiert. in einer Debatte um kritische Aufarbeitung, [12] wie auch um historische Kontextualisierung, nicht verschwiegen werden. Sie verweisen auf 5) Dass sich spätestens Ende der 70er in der aufgebrochene Widersprüche im sozialistischen DDR unter den Augen der Führung des MfS, Aufbauprozess, die für uns Kommunist*innen der FDJ und der SED eine neofaschistische Ausgangspunkt einer kritischen Überprüfung Subkultur ausbildete, die insbesondere von - und nicht der projektiven Abwehr - sein der FDJ-Basis erkannt, aber lange Zeit für sollten. Es handelt sich um Widersprüche, mit schlicht inexistent erklärt wurde. [13] denen sich in Abwesenheit eines gleichzeitigen, weltweiten Ausbruchs der Weltrevolution auch 6) Die überzogene Repression gegenüber der kommende sozialistische Aufbau-Versuch anderen linken Strömungen, seien es herumschlagen wird müssen. dissidente Marxist*innen, unangepasste Subkulturen und Andere, die eine Kritik an Eine sinnvoll geführte, sachliche und gesellschaftlichen Verhältnissen äußerten. historisch-materialistische Aufarbeitung und Dies führte bis zum Ruin ganzer Biografien das Herausarbeiten zentraler Problem- und durch öffentliche Demütigung (Zersetzung), Fragestellungen wird also integral sein, soll anhaltende Bespitzelung und schärferen unser nächster Anlauf souveräner verlaufen. Formen der Repression durch den MfS. [14] Hier sind insbesondere jene Traditions- kommunist*innen [16] in unseren Reihen zu 7) Und schließlich die Tatsache, dass im kritisieren, die angesichts des oben skizzierten Bevölkerungsschnitt im Vergleich kleine Antikommunismus in der Linken, in projektive Demonstrationen (zu Hochzeiten: 500.000, Abwehrhaltungen verfallen. bei 16 Millionen Einwohnern) de facto in der Lage waren, das System zu erschüttern. Eine Allerdings, jede kritische Erkenntnis Tatsache, die auf eine grassierende Fragilität zur DDR-Geschichte, und sei diese am Ende des politischen Systems hinweist, welches tatsächlich durch den politischen Gegner, Widersprüche nicht mehr integrieren konnte. das heißt antikommunistische Intellektuelle, [15] hervorgebracht, unter dem Vorwurf des Antikommunismus und innerkommunistische All diese kritischen Erkenntnisse könnten Kritik unter dem Kampfbegriff des Revisionismus heute fruchtbar sein in einer innerlinken allumfassend abzukanzeln, wird der Komplexität Diskussion um Erfolge, Fehler und historisch des Themas einfach nicht gerecht und offenbart bedingte Notwendigkeiten beim ersten nur die eigene organisatorische, wie auch sozialistischen Aufbauversuch in Deutschland. ideologische Schwäche als vermeintliche Gralshüter*innen der reinen Lehre. Dies wäre um so wichtiger, da der histo- rische Gegner der DDR, der antikommunistische Abzulehnen sind daher Ansätze der Westblock, nicht verschwunden ist. Mobilisierung einer Agententheorie, nach der das Übel alleine von außen kam, aber auch eine Seine Kontinuität wird auch zukünftig der idealistisch argumentierende Ideologiekritik und Feind jedes sozialistischen Versuchs sein. Scholastik, die den Revisionismus der SED [17]

8 zum alleinig schuldigen Moment erklärt. Es Eine solidarische sollten die Klassenwidersprüche und damit die Ökonomie der DDR, sowie die demokratischen, Debatte muss her kulturellen und nationalen Widersprüche, die eben auch im Sozialismus als niederer Form des Kommunismus weiterexistieren mussten, im So ärgerlich also das Fehlen einer historisch- Mittelpunkt der Betrachtung stehen. materialistischen Auseinandersetzung mit den Fehlern der DDR durch Traditionskommunist* Nicht zuletzt aufgrund dieser in der innen ist: Hegemonial sind diese Positionen in kommunistischen Bewegung selbst nur sehr der Linken nicht. 30 Jahre nach dem Niedergang mangelhaft geführten Aufarbeitungsdebatte des Sozialismus kann konstatiert werden, dass resultiert, dass die in Kontinuität des westdeut- ein antikommunistisches Narrativ innerhalb der schen Antikommunismus argumentierenden deutschen Linken hegemonial geworden ist, was Linksliberalen als einziger kritischer Pol in der sich unter anderem in umfassender Entsorgung linken Debatte wahrgenommen werden, ein und Delegitimierung der DDR als historisch Monopol für DDR-Kritik für sich reklamieren irgendwie geartetem Bezugspunkt äußert. können und schließlich notwendige Selbstkritik in totalitarismustheoretisch argumentierenden Genau in dieser umfassenden Ablehnung Antikommunismus überführen. der Existenz der DDR als antifaschistischer Konsequenz aus dem faschistischen Raub- und Vernichtungskrieg, dem zweiten Versuch der deutschen Eliten die Weltherrschaft zu erringen, »Es sollten die Klassen- liegt der Antikommunismus des weiter gefassten linken Diskurses. Hier geht es nämlich nicht widersprüche (...) die demo- mehr um aus ihrem historischen Kontext und kratischen, Kulturellen und den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen nationalen Widersprüche (...), heraus zu erklärende Fehler, mit dem Ziel einer solidarisch-kritischen Aufarbeitung, bei der im Mittelpunkt der Betrach- Verteidigung des sozialistischen Staats aus tung stehen.« seinem historischen Kontext heraus. Es geht vielmehr um dessen geschichtliche Entsorgung. Der moderne Antikommunismus liegt daher in der Markierung der DDR als innerlinken Feind,

9 der so schnell es geht vergessen gemacht Sei es die komplette Enteignung ranghoher werden muss, anstatt deren historische NSDAP-Unterstützer*innen. Sei es der hohe Legitimität angesichts von wiederkehrendem Stand an sozialer Sicherheit, des Erziehungs- faschistischem Terror, Imperialismus und Krieg und Bildungssystems, der Emanzipation der zu verteidigen und ihre Fehler aufzuarbeiten. Frau oder der Legalisierung der männlichen Homosexualität, wenn sie auch wegen ge- Diese Form des linken Antikommunis- sellschaftlichen Stigmata verborgen gelebt mus bedient im Prinzip das Narrativ des „rot- werden musste. Oder sei es eben auch die lackierten Faschisten“ (Kurt Schumacher, SPD) Tatsache, dass diese 40 Jahre einer der we- [18]. Er begründet sich stets mit Argumenta- nigen Abschnitte deutscher Geschichte dar- tionsmustern unterschiedlicher Couleur, die stellen, in denen kein Krieg von deutschem der Totalitarismus- und Extremismustheorie äh- Boden ausging. neln, bis hin zu teils offener Gleichsetzung mit dem NS-Faschismus. Aus einer historisch ma- 3) Die Fragestellung um die objektiven öko- terialistischen Perspektive, die zu Recht von nomischen Möglichkeiten einer Planwirt- Kritiker*innen [19] der jüngsten Rote Hilfe-Aus- schaft zum damaligen Stand der Technik, wie gabe eingefordert wird, würden dahingegen fol- auch Verfehlungen in der Wirtschaftspolitik gende Feststellungen und Fragestellungen eine des Ostblocks im Allgemeinen. Da wären marxistische, und damit revolutionär linke De- zum Beispiel bereits die Anreizsysteme, oder batte zur DDR voranbringen, die nicht ins Fahr- die Fortsetzung der fordistischen Produkti- wasser des Antikommunismus oder der unkri- onsweise in ihrem historischen Kontext zu tischen DDR-Jubelei gerät: betrachten.

1) Die Anerkennung der Grenzen des Die Frage ist zu stellen, warum die DDR solch historisch Möglichen beim Aufbau des massive Probleme hatte, Fachkräfte zu hal- Sozialismus in der DDR zum einen ten – eine der Hauptursachen für den Mau- durch die weltpolitische Konstellation erbau. Aus den historischen Bedingungen der andauernden Aggression durch den verständlich oder Anfang vom Ende des So- Westblock, aber auch der Abhängigkeit von zialismus? Wie kann ein sozialistischer Auf- Moskau als deutsche Kommunist*innen. bau funktionieren, der nicht an diese ökono- Zum anderen durch die Kontinuität des NS- mischen Grenzen stoßen soll? Faschismus in der Bevölkerung, mit der der sozialistische Aufbau vollzogen werden musste. An dieser Bewertung hängt auch die uralte Fragestellung vom „Sozialismus in »Wie ist ein sozialistischer Auf- einem Land“ (Stalin), d.h. das Eingeständnis, bau denkbar, der angesichts einer dass keine gleichzeitig überall auftauchende Weltrevolution kommen wird, oder des allzeit drohenden Aggression (...) konsequentem Internationalismus (Trotzki) nicht in einen restriktiven Polizei- [20] und Verzicht auf diese Perspektive. staat umschlägt, sondern Formen 2) Die Anerkennung des aus diesem denkbar sozialistischeR Demokratie stärkt schlechten Kontext heraus Erreichten, das (...)?« heißt der historischen Errungenschaften. Sei es allein die Existenz eines sozialistischen Staates, der die Wiederaufrichtung eines deutschen Imperiums durch die post- 4) Die aus den Eigendynamiken einer faschi- faschistischen westdeutschen Eliten im stischen Kontinuität, der Frontstellung gegen dritten Anlauf nahezu 40 Jahre verhinderte. den Westen und dessen nachgewiesener

10 Agent*innen- und Sabotagetätigkeit [21], wie auch historisch problematisch gewor- dener ideologischer Annahmen eines Sta- linschen Marxismus-Leninismus [22] fol- gende Repression durch den MfS und die Polizeiorgane. Die Dialektik aus notwendiger Selbstverteidigung gegen westliche Desta- bilisierungsagitation, aber auch massive Wühlarbeit gegen nicht DDR-feindliche linke Dissident*innen mit berechtigtem Reforman- liegen. Ergo das Verhältnis von notwendiger Selbstverteidigung und Einschränkung be- ziehungsweise Behinderung einer sozialis- tischen Demokratie. Wie ist der Aufbau eines Sozialismus denkbar, der angesichts einer allzeit drohenden Aggression gegen eine Re- volution nicht in einen restriktiven Polizei- staat umschlägt, sondern Formen der sozia- listischen Demokratie stärkt und gleichzeitig selbstverteidigungsfähig ist?

5) Die Stellung und Verfasstheit einer revo- lutionären Organisation in der Gesellschaft, die die Revolution organisiert, den Aufbau des Sozialismus begleitet und vorantreibt, wäre vor diesem Hintergrund eine Up-To- Date Diskussion. Diese Debatte dreht sich heute um die Fragestellung nach der Rolle revolutionärer Organisierungsprozesse in sozialen Bewegungen, den Stadtteilen und den Betrieben. Warf die Identität von Partei und proletarischem Staat in der DDR zentra- le Problemstellungen auf? Wie wäre dieses Verhältnis anders zu denken gewesen? Wie hätte ein „Absterben des Staates“ (Lenin) durch Aufbau von Selbstverwaltungsstruk- turen (Sowjets) in Gang gesetzt werden können? Welche Organisierungsstruktur braucht eine revolutionäre Organisierung?

6) Was sagt uns das Wiederaufkommen ne- ofaschistischer Tendenzen zu Anfang der 80er Jahre über die materiellen Vorausset- zungen in der DDR? Wie war das Verhält- nis der gesellschaftlichen Klassen dort ge- artet? Handelte es sich gar um eine neue (nicht-kapitalistische) Klassengesellschaft? Welche Form der Herrschaft nahm die Dikta- tur des Proletariats also real an und warum?

11 An diesen Fragestellungen hängt schlus- Ohne solidarische DDR- sendlich die Frage nach einer möglichen Herr- schaft der Bürokratie (Leo Trotzki) oder einer Aufarbeitung kein Restauration des Kapitalismus (Mao Tse-Tung) bereits vor 1989. Ebenso wie die Frage der Antifaschismus Fortsetzung des Klassenkampfs im Sozialismus und dessen Gestalt. Eine offene und solidarische Debatte um diese Fragen und die Überwindung der Hier wären dann aus meiner Sicht einige, unsolidarischen Polemik wäre ein ganz wenn auch nicht alle Fragen und Feststellungen gewaltiger Schritt nach vorne für die deutsche aufgeworfen. Nicht abstrakte Ideologiekritik Debatte. Eine solche auf einen kritisch am historischen Gegenstand vorbei wird uns solidarischen Bezug zielende Debatte fehlt der bei der Beantwortung einer so gearteten deutschen Linken derzeit jedoch im Ganzen. Diskussion weiter voran bringen. Sondern Dass sie dringend Not täte, zeigt das Abgleiten die Entwicklung zentraler Fragestellungen des Antifa-Diskurses in Totalitarismus- und anhand des historischen Kontexts, die für eine Extremismustheorie. Immerhin: Im Zuge der kommunistische Bewegung auch heute nach Debatte um Neue Klassenpolitik und auch die wie vor Gültigkeit besitzen. Wir sollten uns durch die Initiative Aufbau Ost vorangebrachte dabei vorbehaltslos des Werkzeugkastens, den ostdeutsche Klassenfrage werden die Anfänge uns die historische kommunistische Bewegung für ein klassentheoretisches Verständnis des hinterlassen hat, bedienen, um folgende für uns Rechtsrucks im Osten Deutschlands abseits heute aktuelle Fragen zu beantworten: von bürgerlichen Demokratieideologien gelegt. Jedoch bleiben beide Ansätze zum einen Wie sind die objektiven Bedingungen für ei- unvollständig, wenn eine solidarisch-kritische nen sozialistischen Aufbau heute? Brauchen wir Geschichtsdebatte unterbleibt, die den Verlust eine revolutionäre Organisation oder Partei und einer historischen Realität thematisiert, die welchen Anforderungen muss sie genügen? Wie jene vieler Menschen im Osten Deutschlands steht sie zu den neuen sozialen Bewegungen, ist und an die eine Linke anknüpfen kann. wie zu den Möglichkeiten des Internets? Wie Zum anderen aber auch, wenn der Prozess gestalten wir eine sozialistische Ökonomie? der Deindustrialisierung und Faschisierung Brauchen wir Repression gegen rechtsradikale Ostdeutschlands nicht im Kontext des Wieder- innere Gegner*innen und Angriffe von außen? auferstehens gesamtdeutscher Größenideen Wenn ja, wie soll diese organisiert sein? Wie ist 1989 und deren realpolitischer Umsetzung das Verhältnis zwischen revolutionärer Organi- durch sämtliche Bundesregierungen danach sation und Gesellschaft geartet? Wie kann eine gesehen wird. bürokratische Entkopplung von den Massen verhindert werden? Kurzum: Der Rechtsruck ist nicht auf ein ideologisches Phänomen der vermeintlichen Kontinuität im Autoritarismus zu verkürzen. In den Erzählungen der AfD-Wähler*innen »Nicht abstrakte Ideologiekritik im Osten geht es häufig um Verlust, um die am historischen Gegenstand vorbei Angst, noch mehr zu verlieren, um den Stolz wird uns bei der Beantwortung ei- etwas aufgebaut zu haben, was durch die Wende verloren ging oder um eine historische ner so gearteten Diskussion weiter Demütigung durch den Westen. Dieses voran bringen (...)« Narrativ nicht adäquat aufzunehmen, sondern stattdessen westdeutsch chauvinistische Erklärungsmuster zu bedienen, rächt sich für die Linke zur Zeit sträflich. Die Analyse bleibt 12 auf der Diskriminierungsebene verhaftet und Ein Großteil der Linken - insbesondere der mündet folglich in falsche Erklärungen. Seien Hauptstadtlinken - beteiligt sich unreflektiert es Erklärungsmuster, wie eine angebliche völ- mit Vernichtungs- und Maueraufbaufantasien kische Konservierung des NS-Staats in der DDR, oder #Säxit-Scherzen an diesem liberalen demokratische Rückständigkeit, vermeintliche Bil- herrschenden Diskurs. Wen wundert es da noch, dungsdefizite abgehängter Ostdeutscher und/oder dass diese zumeist im Geleit westdeutscher Anschluss an vermeintliche totalitäre Denk- Medien auch und vor allem von links kommenden muster des DDR-Staats. Diese Erklärungen Stigmatisierungen zu beinahe schon ostdeutsch- markieren eine gesamte Bevölkerung zur nationalistischen Abwehrhaltungen gegen links rückständigen Gegnerin, ethnisieren die Ost- und damit zur Hinwendung nach rechts führen? deutschen zu rückständigen Staatssubjekten.

Quellen & Anmerkungen

[1] Rote Hilfe ev. [Hrsg.]: Siegerjustiz – Verfolgung und nerzeit zur Delegitimierung der DDR konzipiert wurde, Delegitimierung eines sozialistischen Versuchs seit 1990. zeigen auszugsweise Biografien. Schubert, Karl-Heinz, Rote Hilfe Zeitung 42. Jg., 04/2016. In: trend Onlinezeitung 07/08/2009. Braunbuch DDR. Fakten, an denen man als Linker nicht vorbeikommt. Zu- [2] Rote Hilfe ev. [Hrsg.]: „Wenn wir brüderlich uns einen...“. griff am 16.09.2019 unter http://www.trend.infopartisan. Repression gegen linke Oppositionelle in der DDR. Rote net/trd7809/t157809.html. Hilfe Zeitung 45. Jg., 01/2019. [10] „Deutschland muß leben! Deswegen fordern wir [3] Waibel, Harry: Die braune Saat - Antisemitismus und nationalen Demokraten: Die Amerikaner nach Ameri- Neonazismus in der DDR. Schmetterling Verlag 2017 ka! Deutschland den Deutschen! Die Bundesrepublik ist ein Kind des nationalen Verrats.“ - Wahlprogramm der [4] Möller, Mario, 01.03.2012: Gemeinschaft über NDPD 1951. In: Lausberg, Michael, 27.10.2016: Ent- alles. Zugriff am 16.09.2019 unter https://jungle.world/ nazifizierung in der DDR. Zugriff am 16.09.2019 unter artikel/2012/09/gemeinschaft-ueber-alles. http://www.scharf-links.de/46.0.html?&tx_ttnews[tt_ news]=58071&tx_ttnews[cat]=27&cHash=9709de4cd [5] Hippler, Jochen, In: trend Onlinezeitung 02/05: Die d. rechtsradikale Szene in der DDR. Zugriff am 16.09.2019 unter http://www.trend.infopartisan.net/trd0205/ [11] Vgl. die Auswertung der MfS-Aktenbestände zur t410205.html. Sache durch den Journalisten Rainer Erices. Hier hält das MfS die Sprechchöre fest: „Schlagt die Algerier tot, jagt [6] Vgl. Hallstein-Doktrin, in der die BRD den sie heim, sie sollen sich wieder in den Busch scheren“. Alleinvertretungsanspruch proklamierte. Die DDR galt Erices, Rainer, 15.11.2017: Pogromstimmung in . als grundsätzlich illegitimer Staat. Die Hallstein-Doktrin „Gebt sie uns heraus, wir wollen sie hängen“. Zugriff am ist das Kernstück des westdeutschen Antikommunismus 16.09.2019 unter https://www.mdr.de/thueringen/mit- – bis heute. te-west-thueringen/erfurt/alltagsrassismus-in-der-ddr- 100.html. [7] Sommer, Michael / Witt-Stahl, Susann, In: trend On- linezeitung 11/2012: Antifa ohne Antikapitalismus? Die [12] Der Kulturkonservatismus der DDR-Führung und die Einsicht, daß Antifaschismus und Antikapitalismus zu- Feindseligkeit gegenüber Entwicklungen, die man nicht sammengehören, droht verlorenzugehen. Zugriff am kontrollieren konnte, sind sprichwörtlich in deren Reden 16.09.2019 unter http://www.trend.infopartisan.net/ enthalten. Beispielhaft zur Beat-Musik. trd1112/t321112.html. sammengehören, droht verlo- Ähnlich seine Nachfolger, die die entstehenden Jugend- renzugehen. kulturen, anstatt deren Entstehen als Aufbrechen von Widersprüchen zu begreifen, vollkommen undialektisch [8] Schmidt, Matthias, 24.02.2016: Der Sozialismus als Degeneration ansahen. Siehe auch die Vorfälle um die hat einen besseren Ruf als der Kapitalismus. Zugriff am Jugendunruhen von 1977, ein frühes Anzeichen der Un- 16.09.2019 unter https://yougov.de/news/2016/02/24/ zufriedenheit mit der Politik der SED. der-sozialismus-hat-deutschland-einen-besseren-ruf/. [13] Schumann, Frank, 17.06.2007: Extreme Rechte in [9] Warum das antikommunistische Braunbuch DDR in der DDR. Zugriff am 16.09.2019 unter https://www.anti- diesem Zusammenhang wichtig ist, auch wenn es sei- fainfoblatt.de/artikel/extreme-rechte-der-ddr.

13 [14] Dass es sogar die Hoxhaist*innen der KPD/ML traf, und das Redaktionskollektiv der Roten Hilfe. Zugriff am die der DDR eine Abkehr vom wahren Sozialismus der 16.09.2019 unter http://www.trend.infopartisan.net/ Stalin-Zeit vorwarfen, zeigen die Publikationen im trend- trd0319/t400319.html. Online-Magazin. Redaktion trend Onlinezeitung [Hrsg.], In: trend Onlinezeitung 04/2019: Repressionen gegen [20] Eine gute Zusammenfassung der Kontroverse, die revolutionäre Linke. Die Verfolgung und Zerschlagung der natürlich nicht abseits von Machtkämpfen ablief, sich KPD (ML) in der DDR. Zugriff am 16.09.2019 unter http:// aber auch nicht auf diese beschränken lässt bei: Losurdo, www.trend.infopartisan.net/trd0419/t040419.html. Domenico: Stalin - Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. Köln 2013 [15] Tabelle mit der (numerischen) Entwicklung der Montagsdemonstrationen. Hartl, Robert, 04.09.2014: [21] Beispielhaft: Aust, Waltraud, In: trend Onlinezeitung Montagsdemonstrationen in Leipzig 1989. Zugriff 06/2013. Das Volk hat das Vertrauen der Regierung am 16.09.2019 unter http://www.wissen-weblog.de/ verscherzt. Der 17. Juni 1953 aus der Sicht einer montagsdemonstrationen-in-leipzig-1989.html. Kommunistin. Zugriff am 16.09.2019 unter http://www. trend.infopartisan.net/trd0613/t050613.html. [16] Die Reaktionen von Traditionskommunist*innen auf die Rote Hilfe-Zeitungsausgabe „Wenn wir brüderlich [22] Herausstechendes Charakteristikum ist ein extremer uns einen...“ (RHZ 1/2019) fiel derart aus: Anstatt Ökonomismus. Der sozialistische Aufbau wird de facto den Fehdehandschuh aufzunehmen und Kritik wie gänzlich unter die Entwicklung der Produktivkräfte Selbstkritik im kommunistischen Sinne zu leisten, wird subsumiert. Sozialistische Demokratie in Form von alles an (teilweise auch berechtigter) Kritik entsorgt. beispielsweise Arbeiter*innenselbstverwaltung oder Beispielhaft: Hartmann, Klaus, 14.03.2019: Rote Hilfe für kultureller Freiheit abseits staatlicher Kulturpolitik, die Schwarzen. Zugriff am 16.09.2019 unter http://www. kommt hier nicht mehr als Kategorie vor. Damit geht k-p-d-online.de/index.php/aktuell/inland/717-rote- die irrige und antidemokratische Annahme einher, dass hilfe-fuer-die-schwarzen. kritische Artikulationen der Klasse im Sozialismus von Überresten des Klassenfeindes oder imperialistischer [17] Natürlich gab es Agent*innentätigkeit des Westens Intervention ausgehen müssen. Die sich in diesen und eine Strategie der Zersetzung der KPs. Auch diese Kämpfen äußernden Widersprüche des sozialistischen Dimension muss daher Berücksichtigung und ihre Aufbaus, zum Beispiel eine Bürokratisierung der Partei Aufarbeitung Würdigung finden. Mit diesem Argument und deren Entfremdung von den Massen mit der Folge aber innere Widersprüche, die 1989 eben abseits davon des links überholt Werdens, wird von Waltraud Aust in zentral waren, zu negieren und unsichtbar zu machen, ihrem Bericht zum Aufstand 1956 beschrieben. Dass leistet unserer Sache einen Bärendienst. Dahinter steht dieser auch (!) vom Westen unterstützt wurde und keine ein ideologischer Fehler: Der hier in Reinform auftretende fortschrittliche Form annahm, spricht nicht gegen die Stalinsche Marxismus-Leninismus geht davon aus, Analyse als aufbrechender Widerspruch. Diese nicht dass der Klassenwiderspruch sich mit dem Aufbau des vorzunehmen ist sträflich und rächt sich. Sozialismus auf die internationale Konfrontation gen imperialistische Staaten verschiebt. Das kann so weit gehen, dass behauptet wird, es gäbe gar keine Klassen mehr im Sozialismus. Logischerweise kann diesem Gedanken folgend die Konterrevolution nur noch von außen durch Kollaborateur*innen und/oder von außen beeinflussten Agent*innen im Innern (Revisionist*innen) kommen.

[18] Eine schon seit der Weimarer Republik gängige Bezeichnung der KPD durch SPD-Anhänger*innen. Das Symbol militanter Sozialdemokrat*innen von der Ei- sernen Front zeigte daher auch drei Pfeile gegen drei ver- meintlich wesensgleiche antidemokratische Tendenzen (Faschismus, Monarchismus, Kommunismus).

[19] Ohne hinter der Gesamtposition zu stehen, verweist der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele hier zu Recht darauf, dass man Fehlentwicklungen nicht außerhalb ihres historischen Kontextes sehen darf. Leider lässt die DKP derzeit eine eigene historisch-materialistische Aufarbeitung missen. Bauer, Hans / Köbele, Patrick,13.03.2019: Offener Brief an den Bundesvorstand 14 Der Ausverkauf der DDR durch die Treuhandanstalt von North East Antifascists [NEA]

„Durch eine gemeinsame Anstrengung wird umbenannt hatte, bereits aufgegeben worden es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und und einige vormalige Oppositionsgruppen Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und wurden an der Regierung beteiligt. Am 18. Thüringen schon bald wieder in blühende Land- März sollte eine vorgezogene Wahl zur schaften zu verwandeln, in denen es sich zu le- Volkskammer stattfinden, ansonsten war aber ben und zu arbeiten lohnt.“ - so die bekannten noch recht unklar, wohin die Reise gehen sollte. Worte von Bundeskanzler in einer Auch insbesondere der Anschluss an die BRD Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens war keineswegs ausgemacht. Im Gegenteil der Währungs- und Wirtschaftsunion am 1. Juli vertraten auch weite Teile jener aktiven 1990. [1] Und in der Tat, neue blühende Land- Oppositionsgruppen, die nicht an eine der schaften gab es schon bald. Allerdings eher auf- Westparteien angebunden waren, die Idee eines grund einer starken Bevölkerungsabwanderung reformierten, demokratischen Sozialismus - und deshalb, weil sich die Natur stillgelegte In- auch wenn häufig nicht ganz klar war, was damit dustrielandschaften zurückerobert hat. Das genau gemeint ist. Vor diesem Hintergrund Ende der DDR bewirkte eine beispiellose Dein- wurde beim sogenannten runden Tisch, der dustrialisierung. In den Jahren 1990 und 1991 die Regierung und verschiedene Parteien und sank die Wirtschaftsleistung in Ostdeutschland Gruppen umfasste, auch darüber geredet, was um 30%, die Industrieproduktion sogar um 60%. denn mit den volkseigenen Betrieben (VEB) [2] Das schlägt sich auch in den Arbeitslosen- und Kombinaten passieren sollte. Im Jahr 1989 zahlen nieder – während in der DDR das Recht waren über 99% Industriebetriebe und zumindest auf Arbeit Verfassungsrang hatte, lag die offizi- 1/3 der landwirtschaftlichen Nutzfläche, der elle Arbeitslosenquote 1992 bereits bei 14,4% - Rest war in Form von Genossenschaften bis ins Jahr 2000 stieg sie sogar auf 18,5%. Zum organisiert, direkt in staatlicher Hand. Rund gleichen Zeitpunkt lag die Arbeitslosigkeit im 8500 volkseigene Betriebe und Kombinate gab Westen „nur“ bei 8,4%. [3] es, ein Großteil der DDR-Bevölkerung arbeitete dort. [4] Der Beginn der Treuhand Der erste Vorschlag zur Gründung einer Treuhandanstalt kam von einer Gruppe namens Freies Forschungskollegium Selbstorganisation Was war passiert? Um zu verstehen, wie für die Wissensanalyse an Knotenpunkten und der Wandel von sozialistischer Planwirtschaft wurde von Demokratie Jetzt am 12. Februar zu kapitalistischer Marktwirtschaft vonstatten 1990 in den Runden Tisch eingebracht. Diese ging, lohnt sich vor allem der Blick auf jene Treuhand sollte dazu dienen, die Wahrung Institution, welche die Abwicklung der der Rechte der DDR-Bürger*innen am ehemaligen Staatsbetriebe zu verantworten Volkseigentum sicherzustellen. Das Mittel dazu hatte: Die Treuhandanstalt. Ihre Geschichte sollten Anteilsscheine an den VEB sein, welche beginnt im Februar 1990. Zu diesem Zeitpunkt in gleichen Teilen an alle DDR-Bürger*innen war der Alleinvertretungsanspruch der SED, die ausgegeben würden. Damit war zwar das Ziel sich in Partei des demokratischen Sozialismus einer Privatisierung und die Führung der Betriebe 15 unter kapitalistischen Grundsätzen verbunden die Aufgabe, alle Betriebe schnellstmöglich zu - bemerkenswert ist hierbei allerdings, dass privatisieren und zu verkaufen. Wo ihnen der das Adjektiv „volkseigen“ wörtlich genommen Verkauf nicht oder nicht schnell genug gelang, wurde und eine wilde Privatisierung an Einzelne sollten die Betriebe liquidiert, also geschlossen und damit die Enteignung der DDR-Bevölkerung werden. Letzteres war natürlich auch nach verhindert werden sollte. [5] Als der Ministerrat dem Kauf durch die neuen Eigentümer*innen der DDR am 1. März tatsächlich die Gründung ei- möglich, eine grundsätzliche Bestandsgarantie ner Treuhandanstalt beschloss, wurden Anteils- gab es nicht. Mit dem Argument, man wolle scheine zwar nicht mehr als Ziel definiert. Jedoch keine Altkader in der Verwaltung, wurde die hatte die erste Treuhand zunächst auch nur das Leitungsebene schon bald fast vollständig Ziel, das Volkseigentum zu verwalten und zu mit Managern aus dem Westen besetzt. Seit wahren, nicht aber es schnell abzuwickeln. [6] Juli 1990 kamen auch alle Präsidenten der Treuhandanstalt aus dem Westen. [8] Das änderte sich nach der Volkskammer- wahl am 18. März 1990. Diese gewann die CDU mithilfe massiver Wahlkampfhilfe aus dem We- Das Agieren sten. Sie hatte bereits im Vorfeld Wahlkampf mit dem Slogan „Nie wieder Sozialismus“ gemacht der Treuhand – eine Kritik und strebte einen schnellstmöglichen Beitritt zur BRD, und damit verbunden auch die vollständige Übernahme dessen Wirtschaftsmodells an. Die Dabei weckten die ostdeutschen Betriebe Abwicklung des Staates DDR nahm nun rasant durchaus Begehrlichkeiten beim westdeut- an Fahrt auf: Zeitgleich mit dem Einigungsver- schen Kapital. Auch wenn schon zu Beginn der trag wurde am 1. Juli 1990 das Treuhandgesetz Mythos genährt wurde, die DDR sei völlig abge- verabschiedet. Hier war nun keine Rede mehr wirtschaftet und kurz vor der Zahlungsunfähig- von einem Erhalt des Volkseigentums. Vielmehr keit gewesen, kursierten doch am Anfang recht war es das Ziel, „die unternehmerische Tätig- hohe Zahlen für den Wert der DDR-Wirtschaft: keit des Staates durch Privatisierung so rasch Im Jahr 1990 erklärte der Treuhand-Präsident und so weit wie möglich zurückzuführen“. [7] Detlev Rohwedder noch auf einer Werbever- Die ehemaligen VEBs wurden in Kapitalgesell- anstaltung, „der ganze Salat“ sei 600 Milliar- schaften umgewandelt und größere Kombinate den DM wert, die Kosten der Einheit könnten häufig aufgespalten. Die neue Treuhand hatte durch die Verkaufserlöse getragen werden. [9] 16 Dies stellte sich als grob falsche Einschätzung möglich. Allerdings ist die Entwicklung der ost- heraus: Der Abschlussbilanz der Treuhand war deutschen Wirtschaft nach 1990 nicht nur mit nicht nur weit niedriger, sondern sogar negativ: der kapitalistischen Restauration als solcher Zum Ende des Jahres 1994 hatte sie 270 zu erklären – sondern wesentlich auch damit, Milliarden DM Verlust gemacht. 53% der Betriebe wie sie durchgeführt wurde. Hierbei gab es waren zu diesem Zeitpunkt durch Verkauf mehrere Faktoren, die sich negativ auswirkten. privatisiert worden, 13% an Eigentümer*innen gegeben, die aufgrund von Enteignung in der Ein erster Punkt ist Auswirkung der DDR Ansprüche erhoben. Ganze 30% wurden Währungsunion. Die DDR-Mark war in den stillgelegt. Nur 2,5% wurden an Kommunen Westen nicht frei konvertierbar, daher ist ihr übergeben und lediglich 1,5% der Betriebe genauer Wert in einem kapitalistischen Kontext befand sich zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz schwer einzuschätzen. Für den Handel mit der Treuhand. [10] Damit war die Treuhand auch dem sozialistischen Ausland war sie eben- nach kapitalistischen Maßstäben gescheitert, falls nicht maßgeblich. Bezüglich der Kaufkraft nimmt man an, dass ihr Ziel ein möglichst großer der DDR-Bevölkerung war sie eventuell sogar Erfolg bei Verkauf und Erhalt der ostdeutschen als leicht höherwertig einzuschätzen, da Wirtschaft gewesen sei. Grundnahrungsmittel, Mieten und Dienst- leistungen sehr günstig waren. In Bezug auf Produktion und Export galt dies aber nicht. [11] So wurde mit dem Jahresbeginn 1990 » Allerdings ist die Entwicklung auch zunächst ein Umtauschkurs von 1:5 zur D-Mark festgelegt. Doch bereits am 1. Juli der ostdeutschen Wirtschaft nach wurde die Währungsunion vollzogen und der 1990 nicht nur mit der kapitali- Umtauschkurs auf 1:1 (unter anderem Löhne, stischen Restauration als solcher Mieten, Bankguthaben) beziehungsweise 2:1 festgelegt. [12] Auch wenn dies aus Sicht der zu erklären – sondern wesentlich Arbeiter*innen zunächst positiv erschienen auch damit, wie sie durchgeführt sein mag – für die ostdeutschen Betriebe, die wurde.« nun in offene Konkurrenz mit westdeutschen Unternehmen treten sollten, war es fatal. Nicht nur fiel der günstige Handel mit den sozialistischen Staaten im Osten weg, auch Diese Entwicklung ist nicht einfach damit zu bezüglich des Exports in den Westen war die begründen, dass zu hoch geschätzt und zu viel Konkurrenzfähigkeit durch die überbewertete versprochen wurde, was nicht eingehalten wer- Währung verringert. Außerdem drängten den konnte. Zwar bringt die kapitalistische Wirt- Westfirmen massiv auf den Binnenmarkt schaftsordnung grundsätzlich mit sich, dass die der ehemaligen DDR, der zuvor der menschliche Arbeitskraft, welche Grundlage für „Hauptabsatzmarkt“ war. [13] die Wertschöpfung ist, von den Kapitalist*innen vor allem als Kostenfaktor gesehen wird. Auch Auch die Zerschlagung der Großbetriebe führt die Konkurrenz dazu, dass einzelne Un- und Kombinate spielte eine Rolle. Wie bereits ternehmen Konkurs gehen können oder ihre erwähnt, konnten und wurden diese oft in ihre Produktion ins Ausland verlagern, da sie dort einzelnen Sparten oder gar einzelne Betriebe günstigere Bedingungen vorfinden. Stellenab- aufgespalten, um für potentielle Käufer*innen, bau und Betriebsschließungen, die zur Arbeits- welche sie in ihre Produktionskette oder ihr losigkeit der Beschäftigten führen, gab und gibt Portfolio eingliedern können, attraktiver zu es auch im Westen. Dies grundsätzlich zu ver- sein. Dies führte allerdings auch dazu, dass hindern ist innerhalb des kapitalistischen Sy- Synergieeffekte verloren gingen und einige Teile stems aus seiner Funktionsweise heraus nicht nun nicht konkurrenzfähig waren oder nicht 17 verkauft werden konnten. Dies betraf auch den Kauf ohne übermäßige Ausgaben der lä- die Forschungsabteilungen, die fast immer an stigen neuen Konkurrenz im Osten erwehren. Großbetriebe gekoppelt waren. Dasselbe galt Auch wenn die Ermittlung eines Ertragswerts für soziale Einrichtungen wie Erholungsstätten, beim Verkauf von kapitalistischen Unterneh- Kindergärten, Ausbildungs- und Kulturzentren, men durchaus üblich ist, lässt sich dies nicht die häufig an die Kombinate gekoppelt waren. einfach auf die Privatisierung der ehemaligen Diese Zerschlagung von Großbetrieben und die Staatsbetriebe übertragen, die überhaupt we- damit einher gehende Liquidierung von For- nig Chance hatten, sich in der Konkurrenz zu schungskapazitäten war in ihrem Ausmaß ein- bewähren. Hierfür gibt es keine Blaupause, in- zigartig für die ehemaligen Warschauer Pakt sofern ist das Handeln der Treuhand hier als – Staaten und spielte eine wesentliche Rolle bei explizite politische Entscheidung zu werten. den vielen Schließungen. [14] Das Kleinrechnen beim Verkauf hatte Sy- Ein weiterer Punkt war die Ermittlung des stem und lässt sich an zahlreichen Einzelfällen angestrebten Verkaufspreises. Dieser berech- belegen. Ein besonders drastisches Beispiel ist nete sich seit Mitte 1991 nicht mehr ausschließ- der Verkauf des VEB Wärmeanlagenbau, die vom lich über den sogenannten Substanzwert, das Schweizer Unternehmen Chematec für zwei Mil- heißt Vermögen, Maschinen, Grundstücke und lionen D-Mark gekauft wird. Später schätzen Ex- Immobilien. Stattdessen wurde zusätzlich ein perten den Wert auf rund 68 Millionen Mark. [16] Ertragswert berechnet, der den zu erwartenden Gewinn der nächsten drei Jahre ausdrücken Allgemein war die Situation für die verschie- sollte. Da sich dieser aus dem Gewinn zum denen Wirtschaftszweige unterschiedlich. Tat- Verkaufszeitpunkt und der Fortschreibung des sächlich waren die Industriebetriebe beispiels- aktuellen Unternehmenskonzepts berechnete, weise des Maschinenbaus zunächst weniger war es im Wesentlichen ein fiktiver Wert. Als interessant für die potentiellen Käufer*innen Untergrenze wurde der Preis einer Liquidation aus dem Westen, auch wenn diese am ehesten des Unternehmens festgelegt. [15] Dies führte bereits konkurrenzfähig und vor dem Ende der in der Konsequenz zu häufig sehr niedrigen Ver- DDR auf den Export ausgerichtet waren. Viel- kaufspreisen, welche den Substanzwert unter- mehr war das westdeutsche Kapital daran inte- bieten konnten. Einige vor allem westdeutsche ressiert, keine neue Konkurrenz zu bekommen. Unternehmen konnten sich Filetstücke zum Auch wenn sich einige Filetstücke gesichert Schnäppchenpreis aneignen oder sich durch werden konnten, kam eine Liquidierung häufig

18 nicht ungelegen. In der Regel ging es den kau- gen hätten, dass von eine*r externen fenden Unternehmen nicht um eine Sanierung Gutachter*in geprüft werden muss. Allerdings der Ostbetriebe als eigenständige und zusam- wurde dies in der Praxis nicht immer mit der menhängende Einheiten, sondern maximal um notwendigen Sorgfalt betrieben oder gar ganz die Eingliederung einzelner Standorte in den ei- darauf verzichtet. [19] Wenn dies herauskam, genen Produktionsprozess. war es häufig bereits zu spät, um die den Be- trieb und die mit ihm verbundenen Vermögens- Wesentlich schneller verkauft wurden Un- werte noch zu retten. ternehmen der Lebensmittel- und Verbrauchs- warenindustrie. Hier bestand das Interesse vor Ein Beispiel ist der Bereich der Treuhandnie- allem darin, auf dem regionalen Markt präsente derlassung Halle. Dieser hatte bereits im Sep- Marken zu besitzen, und damit den ostdeut- tember 1992 alle in seinem Bereich liegenden schen Binnenmarkt schnell und ohne lange Betriebe privatisiert und war damit Spitzenreiter Transportwege zu beherrschen. [17] in Sachen Abwicklung der DDR-Betriebe. Dafür wurde er vom Vorstand der Treuhand sowie der Vielleicht ist aufgefallen, dass bisher haupt- Presse zunächst hoch gelobt. Doch bald stell- sächlich von westdeutschen Unternehmen die te sich heraus, dass diese Geschwindigkeit mit Rede war. Das hat seinen Grund: Das ehema- unsauberen Geschäften erkauft war: So wur- lige Volkseigentum ist zu 85% an westdeutsche den viele ehemalige volkseigene Betriebe ohne und zu 10% an ausländische Investor*innen reguläres Verfahren und ohne Beachtung von gegangen, was auch an einer gezielten Bevor- Konkurrenzangeboten an persönliche Kontakte zugung westdeutscher Interessent*innen sei- von Treuhandmitarbeitende verkauft. Ein Bei- tens der Treuhand lag. Lediglich 5% ist an Ost- spiel ist der Verkauf des Datenverarbeitungs- deutsche verkauft worden. [18] Grundlage war zentrum Halle, welches als gut aufgestellt galt. hierbei in der Regel der vergünstigte Verkauf Allein die Grundstücke und das Barvermögen an Manager*innen in den neuen Unternehmen überstiegen den Kaufpreis um das Zehnfache. („Management Buy Out“). Dies setzte allerdings Später wurde das Unternehmen gewinnträchtig voraus, dass die ostdeutschen Betriebe von sich weiterverkauft. aus liquide waren und Sanierungen selbst stem- men konnten, was sich ohne externen Kapital- Derartige Beispiele gibt es allein in Halle zufluss meist schwierig gestaltete. Somit ist die mehrere. Dabei spielte persönlich korruptes faktische Enteignung des ostdeutschen Volksei- Verhalten der Zuständigen in der Treuhand gentums durch westdeutsche Kapitalist*innen, eine Rolle, wobei es eine gewisse Dunkelziffer die Angst der ersten Treuhand-Gründer*innen, gibt. Bekannt geworden ist ein Fall, in dem auch an den Zahlen abzulesen. der zuständige Privatisierungsdirektor in der Treuhandniederlassung Halle Bestechungs- Hauptsache schnell »Somit ist die faktische Ent- In der Tätigkeit der Treuhand kam es auch häu- eignung des ostdeutschen Volks- figer zu Korruption und zu Geschäften, die ohne auch nur oberflächlicher Prüfung von Bonität eigentums durch westdeutsche und Sanierungswillen der Käufer stattfanden. Kapitalist*innen (...) auch an den Dies war zwar illegal und wurde im Nachrei- Zahlen abzulesen.« chen auch teilweise angeklagt. So war in den, im November 1990 verabschiedeten, inter- nen Richtlinien vorgeschrieben, dass mögliche Investor*innen ein Sanierungskonzept vorzule- 19 gelder erhalten hatte, die ihm vom westdeut- schen Käufer aus dem Vermögen des privati- sierten Unternehmens gezahlt wurde. Bekannt geworden ist dies nur, weil der Käufer später In- solvenz anmelden musste und seine Investiti- onen daraufhin näher untersucht wurden. [20]

Der Schaden, den die Treuhand hier erlitt, ging in die Milliardenhöhe, wie neuere Unter- suchungen zeigen. Dennoch wurden nur weni- ge Anklagen erhoben und sofern dies geschah, gingen viele Täter*innen straffrei aus. [21] Insgesamt wurde der Bekämpfung von krimi- nellen Geschäften keine Priorität eingeräumt. Sowohl jene Stellen in der Treuhand, die für eine Überprüfung zuständig waren als auch die Ermittlungsbehörden wurden mit zu wenigen Mitarbeiter*innen ausgestattet, viele kleinere Ermittlungsverfahren wegen Personalmangel eingestellt. [22] Dazu trug auch bei, dass im November 1990 eine Haftungsfreistellung auch bei grober Fahrlässigkeit in Bezug auf die Ver- träge festgelegt wurde. Das galt explizit bis zum 30. Juni 1991, bei leichter Fahrlässigkeit bis zum 30. Juni 1992. [23] Damit wurden juristische Bedenken der Mitarbeiter*innen zu Beginn ausgeräumt. Insgesamt lautete das Motto: Die schnelle und vollständige Privatisierung ist am wichtigsten, Bedenken und Überprüfung sind bestenfalls nachrangig. Widerstand

Allerdings gab es auch Widerstand von Seiten der Arbeiter*innen gegen Schließung und Stellenabbau in privatisierten Betrieben. Einer der bekanntesten Fälle ist der Hungerstreik der Bergarbeiter*innen im Kaliwerk Bischof- ferode. Die Geschichte der ostdeutschen Kalibergwerke ist ein typisches Beispiel dafür, wie die Privatisierung einen vorher durchaus konkurrenzfähigen Wirtschaftszweig zugrunde richtete. Die im Kombinat Kali zusammengefassten Bergwerke exportierten für den Weltmarkt und waren hierbei vor dem Ende der DDR an dritter Stelle der größten Exporteure, die BRD war auf Platz vier. 32.000 20 Beschäftigte arbeiteten an neun Standorten, Menschen teilnahmen und in ganz Deutschland fast alle davon in Thüringen. Die Treuhand wurden Unterschriften gesammelt. [27] „Bi- gründete nun die Mitteldeutsche Kali AG. Schon schofferode ist überall“ war das Motto – und in bald wurden erste Standorte geschlossen, unter der Tat handelte es sich nicht nur um den Pro- anderem in Roßleben, obwohl dort noch Salze test gegen eine einzelne Betriebsschließung, für die nächsten 100 Jahre vorrätig waren. Ende sondern er hatte Symbolcharakter für viele ähn- 1992 waren nur noch vier Bergwerke übrig. liche Fälle. Dies bezeugt auch die Solidarität von [24] Zu diesem Zeitpunkt wurde die Fusion außen: in Form von Geld, Sachspenden und der der ostdeutschen Kaliwerke, welche sich zu Beteiligung an Demonstrationen. Noch größe- diesem Zeitpunkt noch zu 100% im Besitz der re Aufmerksamkeit bekam der Fall, als nach der Treuhand befanden, mit der westdeutschen Zustimmung der Fusion durch den Kali und Salz AG geplant, in zunächst geheimen im Juli Bergleute beschlossen, in den Hunger- Verhandlungen. Die Kali und Salz AG befand sich streik zu treten. Zeitweise 40 Hungerstreikende im Besitz des Chemiekonzerns BASF, dessen waren es, darunter auch Sympathisant*innen. Standorte rote Zahlen schrieben und der deshalb Die mediale Berichterstattung hierüber machte ein Interesse daran hatte, die Konkurrenz im Bischofferode überregional bekannt und führte Osten auszuschalten. Das erklärt, warum es zu einer Welle der Solidarität. [28] sich um eine höchst ungleiche Fusion handelte: Von den verbliebenen vier Standorten im Osten Genutzt hat es ihnen nichts. Am 31. sollten noch zwei, unter anderem Bischofferode, Dezember wird die Grube geschlossen. Auch geschlossen werden, von den sieben Standorten die zwischenzeitliche Hoffnung, der Standort im Westen nur einer. [25] könnte separat verkauft werden, hatte sich zerschlagen. Obwohl es mit Johannes Peine Doch die rund 750 Bergleute wehrten sogar einen Unternehmer gab, der zu einem sich: Nach dem Bekanntwerden der drohenden Seperatkauf bereit gewesen wäre, war dies Schließung besetzten sie das Werk am 7. April nicht erwünscht. Der Fusionsvertrag erhielt 1993. Dabei wurde weiter gearbeitet, aber einen Passus, welcher der Kali und Salz AG ein Wachen organisiert, damit das Werk nicht Monopol in Deutschland zusicherte, auch die EU- über Nacht schließen konnte. [26] Außerdem Wettbewerbsbehörde stimmte dem am Ende wurden Demonstrationen und Kundgebungen zu. [29] Doch auch wenn dieser Kampf verloren organisiert, an denen teilweise bis zu 15.000 ging, so war er doch ein Symbol dafür, dass der

21 Kahlschlag nicht überall einfach hingenommen lichst schnelle Abwicklung ausgerichtet. [31] wurde. Auch zeigte er auf, dass es sich bei einer Eine drastische Reaktion auf die Politik der solchen Schließung mitnichten um ein Naturge- Treuhand erfolgte am 1. April 1991. An diesem setz oder zumindest einen zwangsläufigen Ne- Tag wurde der Präsident Detlev Rohwedder in beneffekt der Privatisierung handelte, sondern seinem Haus in Düsseldorf erschossen. Zu dem dass sie auch im Einzelfall politisch gewollt und Anschlag bekannte sich die RAF und begründete verantwortet war. ihn unter anderem mit der Schließung der DDR- Betriebe. [32] Anzumerken ist an dieser Stelle noch, dass der Widerstand häufig außerhalb von Gewerk- schaften stattfand. Dabei ist nochmal zwischen Fazit den ostdeutschen Nachfolgegesellschaften des FDGB, die sich bis 1991 dem DGB anschlos- sen, und der bundesweiten Gewerkschaft mit Zum 1. Januar 1995 wurde die Treuhandan- westdeutscher Führung zu unterscheiden. In stalt in Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Bischofferode spielte die IG Bergbau/Energie Sonderaufgaben (BvS) umbenannt. Zu diesem tatsächlich auch eine eher unrühmliche Rolle, in- Zeitpunkt, nicht einmal fünf Jahre nach Beginn dem sie die Fusion mit dem Ziel stütze, vor allem ihrer Tätigkeit, waren 98,5% der ostdeutschen Westarbeitsplätze zu erhalten. [30] Es hatte Wirtschaft entweder verkauft oder liquidiert. damit eine Spaltung gegriffen, die den Bossen Ihre Tätigkeit, die zu einer weitgehenden Dei- und auch der Treuhand natürlich zugute kam. ndustrialisierung und dem Arbeitsplatzverlust von Millionen von Menschen führte, hat bis heu- Eine größere Rolle spielten häufig Be- te Auswirkungen auf das Leben in Ostdeutsch- triebsräte. Diese arbeiteten auch betriebs- und land. Die Behauptung, die DDR wäre pleite branchenübergreifend zusammen. So kam gewesen und ihr Handeln damit unabdingbar, es im November 1992 zu einer Konferenz der muss zurückgewiesen werden. Zum einen ist ostdeutschen Betriebs- und Personalräte. die kapitalistische Restauration kein Naturge- Forderungen waren unter anderem die Sanie- setz und in ihrer forcierten Geschwindigkeit vor rung der Treuhandbetriebe vor ihrem Verkauf, allem westdeutschen Wirtschaftsinteressen zu eine Mitbestimmung der Beschäftigten und verdanken. Zum anderen war die DDR keines- eine paritätische Besetzung des Verwaltungs- falls pleite, jedenfalls nicht, wenn man darunter rats der Treuhand mit Vertreter*innen der Be- die Zahlungsunfähigkeit versteht. Die Kredite schäftigten. Außerdem wurde sich auch gegen aus dem Westen konnten vollständig zurückge- Rassismus und Neonazismus ausgesprochen. zahlt werden. [33] Lokale Gewerkschaften unterstützen diese Forderungen, die DGB-Spitze nicht. So war die Pleite war Ostdeutschland vielmehr nach Betriebsrätebewegung zwar in Einzelfällen er- dem Ende der DDR und dies ist wesentlich folgreich, die Prozesse der Treuhand blieben dem Handeln der Bonner Politik und der ihr aber weiterhin undemokratisch und auf mög- unterstellten Treuhandanstalt zu verdanken. Auch wenn einige Betriebe in der kapitalistischen Konkurrenz nicht ohne weiteres konkurrenzfähig waren, so hätte eine Sanierung mit dem »Die Behauptung, die DDR wäre vorrangigen Ziel, die Substanz zu erhalten, vieles retten können. Doch der Druck einer möglichst pleite gewesen (...) muss zurück- schnellen Privatisierung und Abwicklung, die gewiesen werden. (...) Pleite war der Treuhand auferlegt wurde und wesentlich Ostdeutschland vielmehr nach dem dem Interesse des westdeutschen Großkapitals entsprach, verhinderte dies. So konnten sich Ende der DDR.« einige bereichern, während ein großer Teil der

22 Arbeiter*innen das Nachsehen hatte. Die ver- Klassengesellschaft nie für alle galt - sind aus- sprochenen blühenden Landschaften – ein Ver- geblieben. sprechen, dass auch in der westdeutschen

Quellen & Anmerkungen schafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik [1] Kohl, Helmut 3. 7. 1990: Fernsehansprache von Deutschland und der Deutschen Demokratischen Repu- Bundeskanzler Kohl anlässlich des Inkrafttretens der blik, Zugriff am 17.9.2019 unter https://www.gesetze- Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, Zugriff am im-internet.de/wwsuvtr/BJNR205370990.html 17.9.2019 unter https://www.helmut-kohl.de/index. php?msg=555 [13] Steinitz: Die Treuhandanstalt und der wirtschaftliche Absturz Ostdeutschlands, S. 26 [2] Ehlert, Ringo, 2010/2013: Die Deindustrialisierung und die demographische Katastrophe – Auswirkungen [14] Ehlert, Ringo, 2010/2013: Die Deindustrialisierung der Annexion der DDR auf Region und Menschen in Ost- und die demographische Katastrophe – Auswirkungen deutschland, Zugriff am 17.9.2019 unter http://www. der Annexion der DDR auf Region und Menschen in Ost- gegen-den-hauptfeind.de/texte/2010/deindustrialisie- deutschland, Zugriff am 17.9.2019 unter http://www.ge- rung/ gen-den-hauptfeind.de/texte/2010/deindustrialisierung

[3] Bundesagentur für Arbeit (Hg.): 8.2019: Arbeitslo- [15] Sigmund, Uwe: Privatisierungspolitik in Ostdeutsch- sigkeit im Zeitverlauf, Zugriff am 17.9.2019 unter htt- land. Eine politökonomische Analyse der Treuhandanstalt, ps://statistik.arbeitsagentur.de/nn_31892/SiteGlobals/ Wiesbaden 2001, S. 142 – 143 Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche_Form.html?view =processForm&pageLocale=de&topicId=17722 [16] Rahmann, Tim, 16. 9. 2011: Wie die Treuhand bei der DDR-Abwicklung versagte, Wirtschaftswoche, Zugriff am [4] Steinitz, Klaus: Die Treuhandanstalt und der wirt- 17.9.2019 unter https://www.wiwo.de/politik/deutsch- schaftliche Absturz Ostdeutschlands, in: Ulla Plener (Hg.): land/rueckblick-wie-die-treuhand-bei-der-ddr-abwick- Die Treuhand – der Widerstand in den Betrieben der DDR lung-versagte/5220338-all.html – die Gewerkschaften (1990 – 1994), Berlin 2011, S. 16 [17] Steinitz: Die Treuhandanstalt und der wirtschaftliche [5] Kemmler, Marc: Die Entstehung der Treuhandanstalt. Absturz Ostdeutschlands, S. 17 Von der Wahrung zur Privatisierung des DDR-Volkseigen- tums, Frankfurt 1994, S. 69ff. [18] Mitteldeutscher Rundfunk, 3.7.2018: Den ganzen „Salat“ loswerden. Wie die Treuhand den Osten verkaufte, [6] Ebenda, S. 94ff. Zugriff am 17.9.2019 unter https://www.mdr.de/zeitrei- se/treuhand110.html [7] Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens, Zugriff am 17.9.2019 unter [19] Karliczek, Kari-Maria: Darstellung der untersuchten http://www.gesetze-im-internet.de/treuhg/eingangsfor- Fälle, in: Klaus Boers, Ursula Nelles, Hans Theile (Hg.): mel.html Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR- Betriebe, Baden-Baden 2010, S. 161 [8] Böick, Marcus: Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfah- rung. 1990 – 1994, Göttingen 2018, S. 286 – 293 [20] Ebenda, S. 174f.

[9] Der Spiegel, 29.10.1990: Dann ist der Ofen aus, in: [21] Mitteldeutscher Rundfunk, 10.7.2018: Goldrausch - Der Spiegel 44/1990,, Zugriff am 17.9.2019 unter https:// Die Geschichte der Treuhand, Zugriff am 17.9.2019 unter www.spiegel.de/spiegel/print/d-13503130.html https://www.mdr.de/zeitreise/goldrausch118.html

[10] Böick, Marcus, 24.1.2019: Treuhand. Krieg der Zah- [22] Boers, Klaus et. al: Wirtschaftskriminalität und die len, Katapult Magazin, Zugriff am 17.9.2019 unter htt- Privatisierung der DDR-Betriebe: Wesentliche Befunde ps://mobile.katapult-magazin.de/index.php?mpage=a&l= und weiterführende Überlegungen, in: Klaus Boers, Ur- 0&artID=821 sula Nelles, Hans Theile (Hg.): Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Baden-Baden 2010, [11] Steinitz: Die Treuhandanstalt und der wirtschaftliche S. 664 Absturz Ostdeutschlands [23] Teichert, Olav: Die Treuhandanstalt im politischen (12] Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirt- und wirtschaftlichen Vereinigungsprozess Deutschlands, 23 Kassel 2001, S. 64

[24] Jüttemann, Gerhard: Allgemeines und Privates vom Kampf in Bischofferode, in: Plener Ulla (Hg.): Die Treu- hand – der Widerstand in den Betrieben der DDR – die Gewerkschaften (1990 – 1994), Berlin 2011, S. 85

[25] Ebenda, S. 86

[26] Von Lüpke, Marc, 18.12.2013: Grubenschließung nach der Wende, Aufstand im Kalibergwerk, Zugriff am 17.9.2019 unter https://www.spiegel.de/geschichte/pro- test-gegen-die-schliessung-der-kali-grube-bischoffero- de-1993-a-951339.html

[27] Heck,Beatrix: Untergang des Kaliwerkes, Zugriff am 17.9.2019 unter http://www.bischofferode.de/unter- gang-des-kaliwerk.html

[28] Ebenda

[29] Schneider, Dirk: Bischofferode. Das Treuhand-Dra- ma, Mitteldeutscher Rundfunk, Zugriff am 17.9.2019 un- ter https://reportage.mdr.de/bischofferode#10848

[30] Jüttemann: Allgemeines und Privates vom Kampf in Bischofferode, S. 86

[31] Geitmann, Peter: Die Treuhandanstalt als Regie- rungsinstrument: gegen Betriebsverfassungsgesetz und Widerstand der Betriebsräte erfolgreich. Das Beispiel Deutsche Seereederei Rostock, in: Ulla Plener (Hg.): Die Treuhand – der Widerstand in den Betrieben der DDR – die Gewerkschaften (1990 – 1994), Berlin 2011, S. 44 – 47

[32] Kemmler 1994, S. 337 – 338

[33] Blessing, Klaus / Walter Siegert, 10. 09. 2019 : Mo- ralisch bankrott, aber nicht pleite, Die „Schuldenlüge“ über die DDR ist bestätigt, Zugriff am 17.9.2019 unter https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft/moralisch- bankrott--aber-nicht-pleite-die--schuldenluege--ue- ber-die-ddr-ist-bestaetigt-33142474

24 Mythos: „Friedliche Revolution“ von Antifa Westberlin (AWB)

Das Jahr 2019 ist ein weiteres politisch- Diese fatale Gleichsetzung des faschi- medial inszeniertes Gedenkjahr. Land auf-, stischen Deutschlands mit dem staatssozialis- Land abwärts finden Veranstaltungen statt, die tischen Versuch DDR dient dem Zweck, sich der sich dem Thema des sogenannten Mauerfalls Verantwortung über die Verbrechen des deut- 1989 widmen. In Berlin werden über hundert schen Faschismus zu entziehen und die Deut- Veranstaltungen an sieben Originalschauplätzen schen zu „Opfern zweier Diktaturen“ zu verklären. der Wendeereignisse stattfinden. Bürger_innen werden eingeladen an den „Sturz des SED- Selten wurden Demonstrationen wie die Regimes, an die Courage der Menschen, die Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 von sich gegen die Diktatur stellten sowie an den den herrschenden Eliten der BRD so positiv be- demokratischen Aufbruch in eine neue Zeit“ zu schrieben. Bis heute werden im hegemonialen gedenken [1]. Geschichtsbewusstsein der BRD die Wahrneh- mung demokratischer Rechte gegen den „Un- Die Ereignisse rund um den 9.November rechtsstaat“ DDR ins Felde geführt. Bis heute 1989 werden seither als „friedliche Revolution“ wird der nationalistische Charakter der Mon- deklariert. Mit der sogenannten „friedlichen Re- tagsdemonstrationen, ebenso wie der Rassis- volution“ wurde ein Narrativ geschaffen, das ein mus und Antisemitismus, welcher ab Dezem- demokratisches und geläutertes Deutschland ber 1989 von der Mehrheit der DDR-Opposition darstellen soll. Klassenkonflikte werden dabei mindestens hingenommen wurde, nur selten negiert und ein vermeintlich guter Patriotismus beleuchtet. Die kurze Zeitspanne zwischen No- soll ein imaginiertes „Wir“ zusammenhalten. vember und Dezember 1989, in der aus „Wir Die Gründung der neuen BRD 1990 im Zuge des sind das Volk“ die Parole „Wir sind ein Volk!“ Mauerfalls hat einen Staatsgründungsmythos und später „Deutschland einig Vaterland“ wur- hervorgebracht, welcher auf der Erzählung be- de, verdeutlicht die Verdrängung herrschafts- ruht, zwei „Diktaturen“ - das NS-Regime, sowie kritischer Inhalte zugunsten einer nationalis- die DDR - hinter sich gelassen zu haben. tischen Grundstimmung im Protest gegen den autoritären DDR-Staat [2].

Durchgesetzt haben sich jene, die aus »Diese fatale Gleichsetzung des antikommunistischen Überzeugungen das Ende der DDR und zurück zu Großdeutschland faschistischen Deutschlands mit wollten. Die progressiven Teile der DDR- dem staatssozialistischen Versuch Opposition, welche den Sozialismus und die DDR dient dem Zweck, sich der Ver- DDR reformieren wollten, wurden aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Genoss_ antwortung über die (...) Verbre- innen, die auf den Montagsdemonstrationen chen des deutschen Faschismus zu den Kapitalismus kritisierten und aus einer humanistischen Überzeugung 1989 auf die entziehen.« Straße gingen, wurden als „-Agenten“ antikommunistisch beleidigt und diffamiert [3].

25 Die Ereignisse im Herbst 1989 sind nur in Medien verbreitet und finden in dem nationalis- Bezug auf die ausbleibende Gewaltanwendung tisch aufgeheiztem Klima im Jahr 1990 auch auf von Volkspolizei und Staatssicherheit als dem Cover des Spiegel Ausdruck: , „friedlich“ zu bezeichnen. Die Geschehnisse als abgebildet mit Schiebermütze und der Über- „Revolution“ zu bezeichnen ist dann aber doch schrift „Der Drahtzieher“ [4]. etwas zu viel des Guten. Heute wissen wir, dass 30 Jahre nach dem Fall der Mauer eine Spätestens ab März 1990 waren reakti- Annexion der DDR durch die BRD mit einem onäre und faschistische Inhalte auf den Mon- politischen und wirtschaftlichen Systemwechsel tagsdemonstrationen in Leipzig weit verbreitet. vollzogen wurde, von politischen Eliten gegen So konnten Parteien wie die NPD und Die Re- das ursprüngliche Anliegen einer wirklichen publikaner unwidersprochen mit Transparenten Demokratiebewegung von unten. Dass es für alle sichtbar an den Versammlungen teilneh- wenig friedlich zuging, dokumentieren die men. Zu diesem Zeitpunkt dominierten Parolen Auseinandersetzungen zwischen sozial,- und wie „Rote raus!“. Linke Oppositionelle wurden friedensbewegten Menschen und Neonazis, aufgrund des bahnbrechenden Nationalismus die aus antikommunistischer Motivation auf den Kundgebungen zunehmend in die Enge die Gunst der Stunde nutzten und sich den getrieben, verließen diese oder verstummten Demonstrationen anschlossen. nach und nach [5].

So kam es in Leipzig und Dresden zu ge- Demonstrationen mit bis zu 70.000 Men- waltsamen Auseinandersetzungen. Alternative schen waren der Höhepunkt im Protestverlauf Jugendliche, Punks oder bekennende Kommu- auf Montagsdemonstrationen in Leipzig 1989. nist_innen wurden geschlagen und rassistisch Wer glaubt, diese hätten den Fall der Mauer und antisemitisch beleidigt. Die Verschwörungs- oder gar das Ende der DDR gebracht, irrt sich. theorie der jüdisch-bolschewistischen Weltver- In Relation zu den insgesamt 17 Millionen DDR- schwörung war auch unter DDR-Bürger_innen Bürger_innen waren die Montagsdemonstra- weit verbreitet. Diese antisemitischen Klischees tionen marginal. Von einer Revolution im Sinne werden nicht nur auf den Montagsdemonstrati- einer Mobilisierung von fortschrittlichen Kräften onen, sondern wurden auch von westdeutschen kann nicht die Rede sein, schließlich hatten die 26 wenigen Teilnehmer_innen auch keine ein- ausgerufene „geistig-moralische Wende“. Die heitliche Vorstellung für eine gesellschaftliche Annexion der DDR lässt sich nicht als Revolu- Transformation. tion bezeichnen, da der Begriff in seiner Wort- schöpfung auf eine Erneuerung und Weiterent- wicklung hindeutet. Beides war nicht gegeben. Eine Erneuerung und Verbesserung gab es nach 1989/90 für die politische und wirtschaftliche »Spätestens ab März 1990 waren Elite der BRD, nicht jedoch für die Protestbe- (...) faschistische Inhalte auf den wegung, die zumindest zu Beginn vor allem von Montagsdemonstrationen (...) weit sozialen, ökologischen und friedenspolitischen verbreitet. (...) Zu diesem Zeitpunkt Absichten dominiert wurde. dominierten Parolen wie „Rote Dies bezeichnet ein Versuch von rechts- konservativen Kreisen eine Antwort auf die raus!“.« 68er-Bewegung zu finden und die deutsche Geschichte für ihre Zwecke umzuschreiben. Das bedeutete nichts anderes, als sich der Ver- antwortung für Auschwitz sukzessive zu ent- In der offiziellen Geschichtsschreibung ledigen. Da kamen die Ereignisse 1989 gera- der BRD findet sich nur selten Aufklärung über de recht, da jetzt in moralischer Überlegenheit die tatsächlichen Hintergründe, welche zum „bürgerliche Freiheit“ exportiert werden konnte Fall der Mauer geführt haben. So werden die und ein großdeutscher Staat entstanden war, Ausreisebewegung, die Destabilisierung des der macht- und wirtschaftspolitisch auch am in- Ostblocks durch und , ternationalen Kapitalmarkt mitmischen konnte. sowie die Grenzöffnung Ungarns in diesem Kontext oft ausgespart. Doch insbesondere diese Entwicklungen haben ein Machtvakuum entstehen lassen und dann den Mauerfall ermöglicht. In der Geschichtsschreibung der BRD bleibt dies meist außen vor, da dies den Staatsgründungsmythos und damit den positiven Bezug auf den heutigen deutschen Staat und die Nation unterlaufen würde. Die Erzählung vom unbeugsamen Volk, welches die DDR zu Fall gebracht hat und die Zusammenführung mit der BRD wollte, ist zentral für die deutsche Staatspolitik - damals wie heute.

Mit einem größeren zeitlichen Abstand lassen sich die Vorgänge von 1989/90 besser einordnen. Dass sie auf eine Annexion der DDR durch die BRD hinausliefen, stellt kaum noch jemand in Frage. Der DDR wurde das politische System der BRD übergestülpt. Für die Menschen in der ehemaligen DDR bedeutete dies eine soziale Destabilisierung und die Entwertung ihrer Biografien, für die BRD hingegen eine Restauration ihres verstaubten politischen Klimas, das immer noch geprägt war durch die 1982 von Kohl

27 Die Annexion der DDR lässt sich nicht als zusammen [6]. Das sinnstiftende Element der Revolution bezeichnen, da der Begriff in seiner Freiheit unter kapitalistischen Voraussetzungen Wortschöpfung auf eine Erneuerung und stellt jedoch nur eine Freiheit für wenige dar. Die Weiterentwicklung hindeutet. Beides war nicht Mythenbildung um den sogenannten Mauerfall gegeben. Eine Erneuerung und Verbesserung ist zum Herrschaftsprojekt einer politischen Eli- gab es nach 1989/90 für die politische und te geworden. Doch ob der sogenannte Mauerfall wirtschaftliche Elite der BRD, nicht jedoch 1989 überhaupt zum Staatsgründungsmythos für die Protestbewegung, die zumindest zu taugt, ist fraglich. Da sich nur wenige darauf po- Beginn vor allem für soziale, ökologische und sitiv berufen können, hat die hegemoniale Wen- friedenspolitische Absichten dominiert wurde. deerzählung Risse bekommen.

Das wurden spätestens sichtbar, nach- Der „Mauerfall“ dem die AfD in ostdeutschen Bundesländern von mehr als einem Drittel der dort lebenden als sinnstiftender Mythos Menschen gewählt wurde. Hier kommt die Kon- kurrenz in der Klassengesellschaft zum tragen, welche in verschärfter Form rassistisch und so- Im vorherrschenden Tenor der Mainstream- zialchauvinistisch sichtbar gemacht wird. Dass Medien werden wir gewöhnlich eine differen- die AfD mit dem Slogan „Vollende die Wende“ ziere Darstellung der Ereignisse vermissen. Im im Brandenburger Landtagswahlkampf für sich kollektiven Gedächtnis darf offensichtlich nur warb, kann als folgerichtiger Slogan gewertet für die dominante Deutung von „Freiheit“ vs. werden, weil damit ein Teil der Montagsdemon- „Diktatur“ Platz sein. Dass der Ruf nach Freiheit strant_innen vom Herbst 1989 ebenso ange- mit einer falsche Freiheit beantwortet wurde, sprochen wird, wie die Menschen die seit 2014 die den Menschen in Ostdeutschland lediglich Montags bei den PEGIDA Demonstrationen teil- bürgerliche Freiheit in Form der kapitalistischen nehmen, die sich in einer Tradition mit den Er- Verwertungslogik mit alle ihren Konsumange- steren wähnen. boten übertrug, dürfte nach 30 Jahren offen- sichtlich sein. Für die Arbeiter_innenklasse in Nationalismus und Rassismus waren bei der ehemaligen DDR und die Lohnabhängigen in den Montagsdemonstrationen 1989 allgegen- der BRD hat sich die Arbeitsform dahingehend wärtig. Die nationalistische Stimmung erreichte geändert, dass es mehr individuelle Arbeitsver- mit den Pogromen von Hoyerswerda und Ro- hältnisse mit mehr Konsum-Angeboten gibt. stock-Lichtenhagen ihren traurigen Höhepunkt. Die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse sind Die rechte Protestgeneration von 1989 ist wie- auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer unver- der aktiv und wird aus guten Gründen als „Ge- ändert. Wer glaubte, dass blühende Landschaften neration Hoyerswerda“ beschrieben [7]. den „grauen Arbeitsalltag“ ersetzen könnten, wurde enttäuscht. Und dies wird sich nicht än- dern, solange die Produktion, sei es in Form von diversen Dienstleistungen, ihrem Zweck nach- »Dass die AfD mit dem Slogan kommt: der Verwertung des Kapitals. ,Vollende die Wende‘ für sich warb, Die Mythologisierung von Ereignissen dient kann als folgerichtiger Slogan dazu, komplexe gesellschaftliche Verhältnisse vereinfacht darzustellen, und ein sinnstiftendes gewertet werden (...) Die rechte Moment zu schaffen, mit dem sich Menschen Protestgeneration von 1989 ist identifizieren können. Diese Identifikation mit wieder aktiv (...)« dem historischen Ereignis wirkt stabilisierend in das Innere einer Nation hinein und hält diese

28 Mythenbildung „Mythen könnten heute dabei helfen, die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen, als Selbstvergewisserung „Mythen versichern uns also unserer Leistungs- fähigkeit.“ Solange Deutschland seit den 50er- Jahren auf wachsenden Wohlstand aufbaute, Der Sinn von Staatsgründungsmythen habe man vielleicht auf Mythen verzichten kön- dient der Nation. Ohne Nation ist der Staat nicht nen. „In der jetzigen Situation, wo ganz ande- zu denken und so soll die Nation das Handeln re Herausforderungen sind und man das My- des bürgerlichen Staates und dessen Regierung thendefizit nicht ohne Weiteres kompensieren begründen und rechtfertigen. kann, in dem man sagt, im nächsten Jahr werdet ihr wieder drei Prozent mehr in der Tasche ha- Konkret umgesetzt wird dies zum Beispiel ben, in dieser Situation sind wir wachsend auf vom staatstragenden Politikwissenschaftler solche Großerzählungen angewiesen.“ [8] Herfried Münkler, Mitglied im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS). Das Zitat von Münkler unterstreicht, dass Der bekennende Merkel-Fan forderte bereits im die Nation untrennbar mit der kapitalistischen Jahr 2009, dass der sogenannte Mauerfall 1989 Verwertung verbunden ist. Die Tradierung von zum sinnstiftenden Mythos für die deutsche nationalen Mythen funktioniert, wie dieses Nation werden müsse. Er offenbart dabei die Beispiel aufzeigt, auch über die Wissenschaft systemstabilisierende Funktion des Mythos 89 und Bildung. Für ein sinnstiftendes erinnerungs- für die Leistungsbereitschaft im Kapitalismus: politisches Event braucht es Veranstaltungen wie jene zum 30. Jahrestag. Diese Jahrestage „Der Oktober ‚89, der wird eigentlich immer, wenn beteiligen die Bevölkerung an einem erinner- er zumal über die audiovisuellen Medien reinszeniert wird, ungspolitischen Ritual, welches den Mythos in einer Weise das kollektive Gedächtnis der Deutschen „Friedliche Revolution“ generiert. bespielen. Insofern kann man vielleicht sagen, er wird eine subversive Kraft entwickeln und vielleicht dann auch einmal offizialisiert werden.

29 Für uns, als Teil der radikalen Linken, gibt es am 9. November nichts zu Feiern. Mit dem Staats- gründungsmythos „Friedliche Revolution“ wird versucht, die deutsche Nation zu normalisieren »Für uns als Teil der radikalen und als eine Geschichte der „Extreme“ abzuhan- Linken gibt es am 9. November nichts deln. Die Geschichte des deutschen Faschismus und des Rassismus, der bis heute tödliche Re- zu Feiern. Mit dem Staatsgründungs- alität ist, wird dabei ausgeblendet. Die Erin- mythos ,Friedliche Revolution‘ wird nerung an die Reichspogromnacht am 9. No- vember verblasst und wird durch die Erzählung versucht die deutsche Nation zu einer geläuterten Nation in den Hintergrund ge- normalisieren (...) « stellt. Eine differenzierte Auseinandersetzung zum Ende der DDR werden wir am 30. Jahres- tags des Mauerfalls von Seiten des Staates wohl kaum erleben, auch wenn der Ruf nach einer Auseinandersetzung mit der Treuhand und de- ren verheerende Folgen für die Menschen lau- ter geworden ist. Die negativen Folgen werden nicht Teil der offiziellen Wendeerzählung. Doch die deutsche Realität ist nicht friedlich. Sie ist verlogen und mörderisch. Quellen & Anmerkungen

[1] Kulturprojekte Berlin 2019, Zugriff am 03.09.2019 unter www.kulturprojekte.berlin/projekt/30-jahre-fried- liche-revolution-mauerfall/.

[2] Heider, Ulrike: Die Banane und das Vaterland. Ein Fundstück aus der Zeit des Mauerfalls in Hanloser, Ger- hard (Hg.):.Kritik Berlin, 2014, S.249

[3] Vgl. Gandler in Zwahr, Helmut: Leipzig und die Revolu- tion in der DDR, Göttingen, 1992, S.111

[4] Vgl. Spiegel 3/90. Zugriff am 04.09.2019 unter htt- ps://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1990-3.html.

[5] Vgl. Ditfurth, Jutta: Kaltland-eine Sammlung, Berlin, 2011, S.27

[6] Vgl. Schmidt, Rudi 30.04.2009: 1968 West und 1989 Ost. Von den Mythen jüngster deutscher Umbrüche.Was bleibt den Nachgeborenen? Zugriff am 05.09.2019 unter https://www.linksnet.de/artikel/24441.

[7] Der 2016 veröffentlichte Sammelband „Generation Hoyerswerda“ von Spangenberg und Kleffner beschreibt unter anderem das Zusammenwirken der 2014 entstan- denen neuen sozialen Bewegung von Rechts.

[8] Münkler, Herfried 15.03.2009: Lesart spezial. Zugriff am 04.09.2019 unter https://www.deutschlandfunk- kultur.de/lesart-spezial.1270.de.html?dram:article_ id=191081. 30 Hegemonialstreben und Ostpolitik der BRD 1949-1990 von North East Antifascists [NEA] Mit dem Sieg der Anti-Hitler-Allianz über Politik der Integration das Dritte Reich am 9.Mai 1945 entstand ein staatenloses Gebiet, welches von der Allianz zur Souveränität in 4 Zonen aufgeteilt [1] wurde, um dort im Besatzungsstatut ein Deutschland aufzubauen, von dem nie mehr Krieg und Terror ausgehen Mit Gründung der BRD begann von den sollten. Das heißt, es sollte kein imperialistisches westdeutschen Eliten wieder ein Großmacht- Deutschland mehr geben. streben auszugehen. Dieses Mal erneut durch- durch die Wirtschaftseliten. Allen voran die Durch die klare antikommunistische Linie Montan- und Chemieindustrie, welche als der USA [2] ging die Anti-Hitler Allianz zu Ende, Schlüsselindustrien der damaligen Zeit anzuse- woraufhin eine gemeinsame Kommandantur hen sind. So machte Frankreich nach dem Ersten aller Siegermächte nicht mehr möglich war und Weltkrieg schon diese Industrien als Kriegsför- die Sowjetunion aus dem gemeinsamen Büro derer aus und sanktionierte sie. Auch nach dem auszog. Die Aufteilung in Besatzungszonen und Zweiten Weltkrieg wurde die Montanindustrie der Antikommunismus der USA mündeten in als essentiell erkannt und von den westlichen einer Frontstellung im aufgeteilten Deutschland, Alliierten mit starken Beschränkungen bei der welche heute als Kalter Krieg bekannt ist. Produktion und dem Verkauf belegt. Seit 1946 hatten die USA jedoch ein Interesse daran, mit- Als sich am 1. Juli 1949 die BRD und am hilfe der wirtschaftlich starken Montanindustrie 7. Oktober die DDR offiziell gründeten, gab es Westdeutschlands den Wiederaufbau Westeu- zwei deutsche Teilstaaten, welche unterschied- ropas zu befördern. [5] licher nicht hätten sein können: In den Zonen der Westalliierten war es die kapitalistische und Obwohl oder gerade weil die beiden groß- bourgeoise BRD und in der Sowjetzone die so- en Wirtschaftsindustrien Westdeutschlands zialistische antifaschistische DDR. Gegenstand von den Alliierten mit starken Beschränkungen dieses Artikels ist das Hegemonialstreben der belegt wurden, versuchte die westdeutsche BRD, welches unter anderem dazu führte, dass Kapitalelite die wirtschaftliche Kraft insbeson- die DDR am 3. Oktober 1990 dem Staatsgebiet dere dieser Schlüsselindustrien in den Westen der BRD zugeführt wurde. zu integrieren. Auch Adenauer als bekennender Antikommunist war für eine Westintegration. Das Hegemonialstreben deutscher Eliten Adenauer und die Wirtschaftseliten gedachten ist kein neues Phänomen, sondern kann bis zur über die Verflechtung der Wirtschaft der BRD Gründung des deutschen Kaiserreichs (1871) mit den anderen Demokratien einen europä- zurückverfolgt werden. [3] Den Grundstein für ischen Staatenblock zu schaffen, welcher an die eine bourgeoise Orientierung der drei westlichen NATO angebunden sein sollte. [6] Besatzungszonen bildeten die USA mit ihrer Politik, Deutschland (BRD) als Juniorpartner Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, auszubauen. [4] dass 1951 die Montanunion (Europäische Ge-

31 meinschaft für Kohle und Stahl = EGKS) unter Federführung der BRD entstand. Die Bonner Republik sollte sowohl wirtschaftlich, als auch politisch beruhigt werden. Mit der EGKS war ein Teilziel zur Anbindung an das westliche Bündnis erreicht worden.

Nun war die BRD in Sachen Montanindustrie von den Beschränkungen befreit und konnte ihre ökonomische Macht vollends zur Geltung bringen und in (West-)Europa dadurch eine führende Stellung einnehmen. Um aber die volle Souveränität zu erlangen, fehlte der jungen Bonner Republik die militärische Integration in das westliche Bündnis.

Um diese zu schaffen, nutzte Adenauer den Antikommunismus der USA. So sprach Adenauer immer nur vom deutschen Osten und der Gefahr eines militärischen Überfalls durch die sowjetische Armee. Um den Aufbau des Militärs in Deutschland voranzutreiben, versuchte die Bonner Republik eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu schaffen.

Die EVG sollte, ebenso wie die EGKS eine supranationale Organisation werden. Charakte- ristisch für die Beanspruchung der Führungsrol- le in Europa äußerte Adenauer 1952 sinngemäß, dass die militärische Schwäche Frankreichs zu einem Übergewicht der BRD in der EVG führen werde. [7] Es sollte also ein ökonomisches und militärisch einiges Europa geschaffen werden, welches in antikommunistischer Tradition die Sowjetunion als den Hauptfeind ansah, na- türlich unter Führung der BRD. So negierte die BRD den Anspruch der DDR, ebenfalls Vertreter Deutschlands zu sein.

Adenauer wusste aber, dass eine mög- liche Einheit (Gesamt-)Deutschlands von den Westalliierten nur anerkannt würde, wenn die DDR von der Sowjetunion losgelöst und der dortige Sozialismus abgeschafft würde – hier- zu müsste aber folgerichtig eine Eingliederung Ostdeutschlands in das kapitalistische West- deutschland stattfinden. Dies ginge nur über die Westintegration in sämtliche Bündnissy- steme, welche auf Profitmaximierung zielten.

32 gefordert wurde, so muss bedacht werden, dass gerade Adenauer nur eine Wiedervereini- gung nach westlichen Vorstellungen wollte, das »Es sollte also ein ökonomisches heißt freie Wahlen in der SBZ/DDR. Die Macht- und militärisch einiges Europa ge- habenden unterstellten der DDR, eine Führung durch eine Arbeiter*innenpartei wäre nicht von schaffen werden, welches (...) die der Mehrheit der Menschen in der SBZ/DDR ge- Sowjetunion als den Hauptfeind an- wollt gewesen. sah, natürlich unter Führung der Die BRD drängte ebenfalls darauf, dass sich BRD. « Großbritannien der Westeuropäischen Union (WEU) anschließen solle und der Handelsgren- zen abbauenden supranationalen Organisation der EFTA (Europäische Freihandelszone) beitrat. Ein weiterer wichtiger Schritt waren die Dies gelang ihr in den 1960er Jahren – der Beitritt Pariser Verträge von 1954, denn diese besagten Großbritanniens zur EWG erfolgte allerdings erst die Aufnahme in die europäische NATO. Dass in den 1970er Jahren. Die dauerhafte Anbindung die BRD auf die Produktion von ABC- und an die USA als Schutzmacht sorgte schließlich schwere Waffen verzichtete, um vollständig Anfang der 1960er Jahre zu Konflikten mit der in die NATO aufgenommen zu werden, wurde De-Gaulle-Regierung Frankreichs, die das eu- großzügig hingenommen. Dies bedeutete mehr ropäische NATO-Bündnis anführen wollte, ohne Kompetenzen im außenpolitischen Bereich, die USA einzubinden und damit auch den Macht- sowie sicheren Rückhalt durch die USA und bereich der BRD einzuschränken. Durch den au- Großbritannien. Dieser Rückhalt war wichtig, ßenpolitischen Konflikt mit Frankreich verlor die um Mitte der 1950er Jahre die Hallstein-Doktrin CDU an Einfluss innerhalb der Bonner Republik. [8] für die Außenpolitik der BRD zu schaffen. Es kam erstmals zu einer Koalition aus CDU All dies, um die DDR als deutschen Staat zu und SPD. Daraus entsprang auch eine Verände- diskreditieren und die BRD als den Kernstaat rung der Deutschland- bzw. Ostpolitik der BRD. zu definieren, dem es zustehe, die Vertretung Deutschlands zu sein. Hier sollten Staaten am Rande des sozialistischen Lagers unter Druck gesetzt werden, denn gerade im Südosten des Entspannungspolitik Und europäischen Festlands waren Märkte, welche neue Deutschlandpolitik für die deutsche Außenhandelspolitik sinnvoll erschienen, um den Machtbereich ausbauen zu können. Weil die BRD sich selbst als alleinigen Mit dem Wechsel der Regierung zur SPD Vertreter Deutschlands sah, wollte sie, dass änderte sich deren Position zur DDR. Hatte andere Staaten auf der Welt nicht autonom Adenauer stets betont, es gäbe nur einen deut- entscheiden konnten, dass die DDR als Staat schen Staat, widersprach dieser anerkannt wird und es eine Zwei-Staaten- Einstellung. Beide Staaten waren mittlerweile Lösung für Deutschland auf Dauer gäbe. gefestigt, der Mauerbau 1961 schuf die Not- wendigkeit, diplomatische Beziehungen zum Die Wiedervereinigung war stets politische sozialistischen Ostblock aufzubauen. Denn Kernkomponente der Adenauerschen Poli- es drohte die Gefahr, dass (West-)Berlin sich tik, denn auch das Gebiet der DDR hatte aus entweder der DDR anschließen müsste oder wirtschaftlicher Sicht Vieles zu bieten, um an verhungere, da die Transitbrücke [9] unterbro- Macht in der NATO-Gemeinschaft zu gewinnen. chen wurde. Obwohl Willy Brandt von zwei Teil- Auch wenn eine Wiedervereinigung von den po- staaten sprach, was eine de facto Anerkennung litisch Machthabenden immer wieder in Reden bedeutete, führte dies nicht zu einer staats-

33 rechtlichen Anerkennung durch die BRD. Daraus Neben den Handelspolitischen Entschei- ergab sich für die Bundesrepublik nicht eine au- dungen setzte die BRD auch auf Abkommen mit ßenpolitische, sondern innerdeutsch orientierte Osteuropa, die den Verzicht auf Gewaltlosigkeit, Politik. Ein Wandel eben dieser strengen Ost- sowie die Herstellung von Atomwaffen vorsa- politik der Adenauerschen Ära hin zur Entspan- hen. Die sogenannte Friedensnote aus dem nungspolitik erkennt man im Jahr 1963, als das Jahr 1966 schloss alle Osteuropäischen und Passierscheinabkommen geschlossen wurde. sozialistischen Staaten ein, mit Ausnahme der Allerdings war ein Dialog mit der DDR zu diesem DDR – auch hier kam es erneut zu ihrer Negie- Zeitpunkt noch nicht möglich, da die Unionspar- rung. Es zeigen sich darin die zwei wesentlichen teien auf dem Kurs Adenauers beharrten und Konzepte der neuen Ostpolitik der 1960er und die DDR nicht als Staat akzeptierten. 1970er Jahre. Kiesinger sagte dazu:

Deshalb wurde die Hallstein-Doktrin Mitte „(...) [E]in wiedervereinigtes Deutschland hat eine kri- der 1960er Jahre gelockert und Verhandlungen tische Größenordnung: Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um mit Staaten im östlichen Europa geführt. sich herum selbst im Gleichgewicht zu halten. Es ist daher in Durch Abgabe von Krediten, Technologie der Tat nur schwer vorstellbar, dass sich ganz Deutschland und weiteren Austausch sollte Druck auf die bei einer Fortdauer der gegenwärtigen politischen Struktur in DDR und die Sowjetunion ausgeübt werden, Europa der einen oder der anderen Seite ohne weiteres zuge- damit eine Wiedervereinigung auf Basis des sellen könnte. Eben darum kann man das Zusammenwach- sen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen bundesrepublikanischen Willens gelänge. in den Prozess der Überwindung des Ost-West-Konflikts in Dass die westdeutsche, wirtschaftliche Elite Europa“. [10] die Ansichten der Regierung der BRD teilte und unterstützte, zeigt, wie sehr hier mit Hier zeigt sich, dass die BRD eine Wieder- Hilfe von Hegemonialinteressen die deutsche vereinigung nur dann forcieren wollte, wenn es Elite die Isolierung der DDR vorantrieb und eine Entspannung zu den anderen Mitgliedern das sozialistische Lager mit kapitalistischen des Warschauer Paktes gäbe. Ein weiterer He- Versprechungen zu zersetzen versuchte. Alles gemonialer Schritt in der Ostpolitik der BRD war mit dem Ziel, die DDR in die BRD zu überführen. die Anerkennung der Oder-Neiße Grenze [11] 34 – den Vertriebenenverbänden in der BRD wurde damit verdeutlicht, dass keine deutschen Ge- biete von Polen zurückgefordert werden wür- den. Als Zeichen der Anerkennung der Grenze »So wurde die DDR zwar (...) als sind der Besuch Willy Brandts in Polen mit sei- Handelspartner gesehen, nicht nem berühmten Kniefall, sowie der Abschluss des Grundlagenvertrages von 1972, anzuse- aber als eigenständiger Staat. Die hen. bundesdeutsche Losung blieb wei- terhin: ,Einheit durch Freiheit‘.« Bis Ende der 1970er Jahre führte die BRD die Politik der Entspannung fort, um einerseits mehr Einfluss auf sozialistische Staaten zu ge- winnen, die Macht der Sowjetunion zu beschnei- den und somit einen möglichens Überschwap- voran. Auch wenn am Anfang der 1980er Jahre pen des Sozialismus auf die BRD zu verringern. die Friedensbewegung dagegen mobilisierte Durch die Ölkrise 1973 schuf die BRD mithilfe und die Linken in der Sozialdemokratie davon Frankreichs die Plattform wirtschaftlicher Zu- abrücken wollten, hielt die neue Regierung der sammenkunft – heute G7 bzw. G8. Ebenfalls BRD an dem Beschluss fest. Das Festhalten nach 1974 wurde unter Beteiligung der BRD der an der transatlantischen Sicherheitsallianz, Europarat gegründet, ein europäisches Parla- gemeint ist die NATO, sei der „Kernpunkt der ment und das erste europäische Währungssy- Staatsräson“ [13]. Zu dieser Staatsräson stem geschaffen – allesamt Vorläufer der EU. gehörte ebenfalls die angebliche Friedenspolitik mit den sozialistischen Staaten – nach wie vor Diese Politik wurde Ende der 1970er ohne DDR – beizubehalten. Jahre infrage gestellt, als eine Verschiebung der Spannungen zwischen den USA und der Um jedoch Druck und Einfluss ausüben zu Sowjetunion auf die Staaten des Trikonts können, beschloss die BRD 1983 die Stationie- geschah. Die Ostpolitik der BRD wurde nunmehr rung von Lang- und Mittelstreckenwaffen der auch weltpolitisch gesehen. NATO auf ihrem Staatsgebiet. Hier wurden kri- tische Stimmen der Öffentlichkeit innerhalb der BRD einfach ignoriert. Grund war das Bedürfnis Kontinuität unter der BRD der NATO ihre Bündnistreue zu versi- chern. Die NATO brauchte die Kohl-Regierung Kohl bis zur Wende und die wirtschaftlichen Eliten, um weiterhin aktiv an der Zersetzung des sozialistischen La- gers zu arbeiten, um durch neue Absatzmärkte Der Status Quo war Ende der 1970er Jahre in Osteuropa wirtschaftliche Vorteile innerhalb wackelig geworden, denn sowohl die USA, als Europas zu erlangen. Denn die CDU/CSU war auch die Sowjetunion versuchten, Macht im nie Freundin der Entspannungspolitik. Doch die globalen Süden zu erlangen. Zeitgleich nahm Kohl’sche Regierung betonte stets, dass ge- die Aufrüstung im atomaren Bereich zu. Mit schlossene Verträge einzuhalten seien. der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler der BRD, wurde die Politik der Entspannung und So wurde die DDR zwar mittlerweile als Handelspolitik mit den sozialistischen Staaten Handelspartner gesehen, nicht aber als eigen- nicht geändert. Es wurde gar eine Kontinuität ständiger Staat. Die bundesdeutsche Losung hergestellt. Diese bestand in der Personalie blieb weiterhin: „Einheit durch Freiheit“. Um des Außenpolitikers Hans-Dietrich Genscher. der DDR eine Westanbindung zu ‚verschönern‘, Gemeinsam mit trieb Genscher gestattete die BRD 1983 und 1984 Kredite in bekanntlich den NATO-Doppelbeschluss [12] Milliardenhöhe [14]. Diese Kredite zum Aufbau

35 der Wirtschaft wurden nur unter der Bedingung litik den Führungsstil der Kommunistischen Par- vergeben, dass die DDR eine Lockerung der teien angriffen. Bei den Montagsdemonstrati- Zügel seitens der SED-Politik zusagte. Hier onen in der DDR wurde nicht zwangsläufig eine wurde die DDR gezwungen, eine ihrerseits Vereinigung beider deutscher Staaten gefordert, notwendige Aufrechterhaltung von Kontrollen auch wenn es diese Stimmen durchaus gab. an der innerdeutschen Grenze zu lockern, mehr Vielmehr ging es Vielen darum, den Sozialismus Ausreisegenehmigungen zu erteilen und auch in der DDR zu reformieren. So war es 1990 ein die Mindesthöhe des Umtauschs von DM zur Leichtes seitens der BRD, die Sowjetunion da- Mark der DDR zu reduzieren. Der Grund war von zu überzeugen, dass die DDR am Ende sei einzigig und allein, dass die (West-)Deutschen und diese sich der BRD anzuschließen habe. sich dem Kurs der weiteren hegemonialen und entbürokratisierenden Bestrebung [15] annahmen, um die deutsche und nationale Frage ins Bewusstsein heben zu können. Auch hier zielte alles auf die Beseitigung der DDR und den Anspruch der BRD, alleiniger rechtmäßiger Nachfolger des NS-Staates zu sein.

Der erste Empfang eines DDR-Staatsober- hauptes 1987 wurde zwar von Kohl mit allen protokollarischen Ehren für Staatsgäste be- gangen, Kohl aber machte unmissverständlich und deutlich den Alleinvertretungs-Anspruch bei seiner Rede im Godesberger Redoute klar: „Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeu- gung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Frei- heit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem Verfassungsauftrag, und wir haben keinen Zweifel, dass dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Men- schen in Deutschland entspricht“. [16]

In den Jahren 1988 und 1989 widersprach die BRD zwar förmlich der Idee eines mitteleu- ropäischen Sicherheitssystems, bekannte sich aber weiterhin zur NATO. Gleichzeitig suchte sie weiterhin Kontakt zur Sowjetunion, wo jetzt Michail Gorbatschow Vorsitzender der KPdSU war. Eines der wichtigsten Verhandlungser- gebnisse der BRD war es, dass die Sowjetuni- on die Sinatra-Doktrin erließ. [17] So ist nicht verwunderlich, dass durch die Jahrzehntelange Zersetzungstaktik im Bereich der Handels- und Außenpolitik der BRD gegenüber sozialistischen Staaten, diese enorm unter Druck gerieten, da sowohl die westlichen Medien, als auch die Po-

36 Fazit Angefangen mit einer Politik der syste- matischen Delegitimation in den 1950er Jah- ren, über die Entspannungspolitik und Einbin- Seit Gründung der BRD und DDR im Jahr dung sozialistischer Staaten (1965-1982) in 1949 arbeiteten sowohl die BRD-Regierungen, den Handel mit der BRD versuchte diese, so- als auch die westdeutschen wirtschaftlichen Eli- wohl die Sowjetunion dazu zu bewegen, die ten daran, die BRD als den deutschen Kernstaat DDR fallen zu lassen und abzutreten, als auch zu definieren und eine andere Möglichkeit, als die DDR selbst in wirtschaftliche Abhängigkeit die der Westanbindung auszuschließen. Eben- zu bringen. Abschließend darf nicht die Episo- falls wurde von vornherein versucht, den Auf- de der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (1982- bau eines sozialistischen Staates – gemeint ist 1990) vergessen werden, welche eine weitere die DDR – zu unterbinden und gegebenenfalls Westintegration beförderte, aber gleichzeitig in die Isolation zu treiben. Das alles mit dem eine Vermittlerrolle übernahm, um die BRD Ziel, die DDR-Gebiete unter Kontrolle der BRD zu stärken, die Sowjetunion und den War- und des kapitalistischen Systems zu bringen. schauer Pakt aber nachhaltig zu schwächen.

Quellen & Anmerkungen

[1] In den Grenzen von 1937, das heißt ohne die soge- [9] Gründe für mögliche Unterbrechung sind „Grenzkon- nannten Ostgebiete. trollen“, Abschneidung der Versorgungswege über Land und Wasser, sowie Einschränkungen des Luftverkehrs. [2] Ein strikter Antikommunismus prägte die Politik der McCarthy Ära ab 1947. [10] Zit. nach Bender, Peter (1972): Die Ostpolitik Willy Brandts, S.34. [3] Vgl. hierzu Sandkühler, Thomas (2002); Europäische Integration: Deutsche Hegemonialpolitik Gegenüber [11] Dies bedeutete die Anerkennung Polens als souve- Westeuropa 1920 - 1960; in: Beiträge zur Geschichte des ränen Staat. Nationalsozialismus Band 18. [12] Dieser regelte die Stationierung von Waffen auf dem [4] Vgl. Pfetsch, Frank R. (1981): Die Außenpolitik der Gebiet der BRD und Verhandlungen zur Abrüstung zwi- Bundesrepublik 1949-1980, S. 126. schen Sowjetunion und USA.

[5] Grund hierfür ist, dass die wirtschaftliche Leistung der [13] Kronenberg,Volker, 07.12.2009: Grundzüge deut- USA am Limit ist und nicht alle wichtigen Güter für Europa scher Außenpolitik 1949-1990. Zugriff am 30.09.2019 herstellen kann. unter https://www.bpb.de/izpb/7892/grundzuege-deut- scher-aussenpolitik-1949-1990?p=all [6] Vgl. Ersil, Wilhelm. Hrsg. vom Inst. für Internat. Bezie- hungen an d. DASR, Potsdam-Babelsberg (1972): BRD- [14] Auch Bekannt als Milliardenkredite. Politik im Spannungsfeld imperialistischer Widersprüche, S.19. [15] Schaffung von supranationalen Gremien innerhalb Europas. EVG, EGKS etc. [7] Vgl. Ersil, Wilhelm; Hrsg. vom Inst. für Internat. Bezie- [16] Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Be- hungen an d. DASR, Potsdam-Babelsberg (1972): BRD- ziehungen: Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III, Band 5 Politik im Spannungsfeld imperialistischer Widersprüche, (1987). Bonn 1988. S. 194-199. S.19. [17] Die Vereinbarung regelte, dass jeder Staat im War- [8] Diese regelte den Abbruch diplomatischer Bezie- schauer Pakt selbstständig über dessen weitere politische hungen oder Repression gegen dritte Staaten, die diplo- und wirtschaftliche Entwicklung entscheiden konnte. matische Beziehungen zur DDR aufnehmen wollten oder pflegten.

37 Die „deutsche Frage“: BRD-Imperialismus iN Europa von Jörg Kronauer (German Foreign Policy)

„Die neue deutsche Frage“: Unter diesem den Systemfeind im Osten in der allgemeinen Titel beleuchtete Robert Kagan, ein prominenter Wahrnehmung deutlich im Vordergrund gestan- US-Neocon, im April 2019 in der US-Zeitschrift den haben; in historischer Perspektive lässt sich Foreign Affairs die aktuelle Entwicklung in Eur- jedoch konstatieren, dass die EWG der Kern für opa. Auf dem alten Kontinent sei eine Lage ent- etwas war, was die deutsche Politik bereits seit standen, urteilte der außenpolitisch einfluss- mehr als einem Jahrhundert angestrebt hatte reiche Publizist, die zumindest in ökonomischer - die ökonomische Integration großer Teile des Hinsicht deutlich sichtbare Parallelen zum Eu- europäischen Kontinents. ropa nach der Reichseinigung des Jahres 1871 zeige. Sei damals mit dem Deutschen Reich eine Schon in den 1840er Jahren hatte der viel- Macht entstanden, die stärker als alle anderen zitierte „Vater der deutschen Nationalökono- gewesen sei und sich nicht habe ausbalancieren mie“, Friedrich List, dafür geworben, die konti- lassen, so könne man heute auf ökonomischer nentaleuropäischen Länder wirtschaftlich eng Ebene eine vergleichbare Entwicklung diagnos- miteinander zu verbinden, um die Expansions- tizieren: In der Eurokrise sei die wirtschaftliche chancen des deutschen Kapitals zu verbes- Dominanz der Bundesrepublik, gegen die sich sern, sowie auf lange Sicht einen Machtblock heute kein anderes Land behaupten könne, völ- zu schaffen, der es zunächst mit dem britischen lig offen zutage getreten. Berlin habe damals Weltreich, perspektivisch dann auch mit den „dem Rest Europas“ seine Austeritätspolitik damals erst aufstrebenden Vereinigten Staa- „aufgezwungen“ und sich damit viele Feinde ten aufnehmen könne. Zu den Kriegszielen des gemacht; gelegentlich sei jenseits der deut- Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg gehörte schen Grenzen offen „über eine gemeinsame später, so formulierte es Reichskanzler The- antideutsche Front“ debattiert worden. Die lan- obald von Bethmann Hollweg 1914 in seinem ge erledigt geglaubte „deutsche Frage“ - sie sei, vielzitierten „Septemberprogramm“, „die Grün- warnte Kagan, wieder ein heiß diskutiertes The- dung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsver- ma in der EU. bandes“. Im NS-Reich spielten Pläne für einen europäischen Wirtschafts- und Machtblock Offiziell wird in der EU und besonders in Deutschland die kontinentale Integration bis heute als außerordentlicher Fortschritt geprie- sen. Für die Bundesrepublik ist sie das in der »Dabei hatten die bundesdeut- Tat. Bereits die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit der Unter- schen Eliten schon recht früh das zeichnung der Römischen Verträge am 25. März ehrgeizige Ziel im Blick, sich über 1957 ist für die noch junge Bundesrepublik ein die europäische Integration weltpo- besonderer Glücksfall gewesen - und zwar aus strategischen Gründen. Zum damaligen Zeit- litisch zu betätigen.« punkt mögen der Ausbau der Zusammenarbeit mit den erst kurz zuvor okkupierten Nachbar- ländern und der enge Zusammenschluss gegen 38 ebenfalls eine wichtige Rolle.

Mit der EWG-Gründung wurde der Bundes- republik die lange ersehnte kontinentale Inte- gration wenn schon nicht in die Wiege, so doch immerhin auf den Kindergeburtstagstisch ge- legt. Von nun an konnte Bonn Schritt für Schritt daran gehen, seine wirtschaftliche wie auch politische Macht in dem neuen Staatenkartell zu konsolidieren. Dabei hatten die bundesdeut- schen Eliten schon recht früh das ehrgeizige Ziel im Blick, sich über die europäische Integration weltpolitisch zu betätigen. Nur ein „vereinigtes Europa“ könne „die Position einer eigenstän- digen Macht zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion einnehmen“, schrieb im Jahr 1966 der vormalige Bonner Verteidigungs- und künftige Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß, der bei dieser Gelegenheit auch für „ein europäisches Atomwaffenpotenzial“ plädierte. Nicht zufällig setzte sich Strauß dafür ein, in der EWG einen Luft- und Raumfahrtkonzern zu schaffen, der fähig war, mit US-Firmen zu konkurrieren: Ohne ein Spitzenunternehmen in dieser zentralen Branche schien ein Aufstieg zur Weltmacht undenkbar. Am Ende der Bemü- hungen des CSU-Politikers stand Airbus - aus der Perspektiver bundesdeutscher Strategen ein wichtiger Erfolg.

War die alte Bundesrepublik in der EWG und dann in der EG (Europäische Gemeinschaft) auf wirtschaftlichem Gebiet schon bald füh- rend, so verschoben sich im Jahr 1990 auch die politischen Kräfteverhältnisse klar zu ihren Gunsten. Die Übernahme der DDR vergrößerte Territorium und Bevölkerung der Bundesrepu- blik und verstärkte damit ihr politisches und ökonomisches Gewicht. Vor allem aber öffnete sie die Länder Ost- und Südosteuropas dem Zugriff deutscher Konzerne. Binnen kaum eines Jahrzehnts stieg die Bundesrepublik zum größ- ten Investor und zum größten Handelspartner der meisten Staaten Ost- und Südosteuropas auf. Die Nutzung besonders der Visegrad-Staa- ten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) als Standorte zur Niedriglohnproduktion kam nicht nur, aber doch vor allem der deutschen Wirt- schaft zugute, insbesondere auch nach der Ost-

39 erweiterung der EU. Ihre bereits zuvor BRD-Bemühungen um die „Neuordnung“ Süd- führende ökonomische Stellung in der Union osteuropas einigen Widerstand hätte entgegen- hat die deutsche Industrie damit noch weiter setzen können. Vorteilhaft war auch, dass aus zementiert. der Erbmasse Jugoslawiens vor allem mit Kroa- tien ein traditioneller Verbündeter Deutschlands Politisch folgenreich für die Binnenverhält- als eigenständiger Staat hervorging, während nisse in der EU sind in den 1990er Jahren die Serbien - traditionell eher Russland und Fran- Kriege im zerfallenden Jugoslawien gewesen. kreich nahestehend - massiv an Einfluss verlor. Die zentrifugalen Kräfte, die den Staat in den Im Verlauf der 1990er Jahre ist es Bonn nicht Zusammenbruch trieben, hatten diverse inne- zuletzt gelungen, die EU insgesamt in Südost- re Ursachen, darunter nicht zuletzt das öko- europa außenpolitisch auf seine Linie festzule- nomische Gefälle zwischen den verschiedenen gen; Widerstände in Großbritannien und Frank- Landesteilen. Sie sind allerdings stets von au- reich gegen die enge Kooperation mit Kroatien ßen befeuert worden, und zwar vor allem aus und die harte Konfrontation mit Serbien hat es der Bundesrepublik. Die Unterstützung aus erbittert bekämpft und letztlich besiegt. Die Bonn für kroatische Nationalisten etwa, die sich Bundesrepublik ging aus den Machtkämpfen bald zu harten Separatisten entwickelten, reicht gestärkt hervor, Frankreich und Großbritannien letztlich bis in die 1960er Jahre zurück. In den wurden durch sie hingegen auf dem europä- 1990er Jahren konnten sich sogar politische ischen Kontinent geschwächt. Nachfahren der alten Ustascha-Faschisten bei ihren Bemühungen, Kroatien von Serbien ab- Nicht, dass damit die außenpolitischen zuspalten, auf konsequente Hilfe der Bundes- Machtkämpfe zwischen den Hauptmächten regierung verlassen. Das Ende Jugoslawiens der EU beendet gewesen wären - im Gegenteil. war für Bonn nicht nur deswegen nützlich, weil Frankreich etwa hat immer wieder versucht, damit ein ökonomisch vergleichsweise starker nach seiner Niederlage in Südosteuropa die Staat von der Landkarte verschwand, der den Außenaktivitäten der Union in Richtung auf 40 seine Ex-Kolonien in Afrika, die Françafrique, Union scheiterte: Sie konnten ihre Produktions- umzuleiten. Diesem Ziel dienten die Bemü- kosten massiv senken und sich damit einen kla- hungen von Präsident Nicolas Sarkozy um die ren Konkurrenzvorteil verschaffen. In anderen im Juli 2008 gegründete „Union für den Mit- Ländern, etwa in Italien und Frankreich, schei- telmeerraum“, die freilich systematisch von terte dies am entschlossenen Widerstand der der Bundesrepublik sabotiert wurden. Schon Lohnabhängigen. bald erfassten die innereuropäischen Rivali- täten auch die Militarisierung der EU. Die ersten Die Folge: Deutsche Unternehmen weiteten großen EU-Militäreinsätze außerhalb Europas ihre Exporte etwa nach Frankreich beträchtlich fanden 2003 und 2006 in der Demokratischen aus, während die dortige Wirtschaft zurück- Republik Kongo statt; das Land war zwar einst fiel und zu kriseln begann. Mit der Eurokrise belgische Kolonie, zählt aber als frankophones spitzte sich die Lage seit 2010 dramatisch zu. Land dennoch zum unmittelbaren französischen Im Konflikt darum, wie man die Krise bekämp- Interessengebiet. fen solle, setzte sich rasch die Bundesrepublik durch, deren Austeritätspolitik jetzt für alle Eu- Das ist wohl auch der Grund dafür gewesen, rostaaten verpflichtend wurde. Die Austerität dass die Bundesrepublik in beiden Fällen - er- hat die wirtschaftliche Entwicklung in Frank- folgreich - darauf drang, den jeweiligen Einsatz reich und Italien erheblich geschädigt. Zu der pünktlich nach einem halben Jahr zu beenden; dramatischen Entwicklung für die Bevölkerung, für westliche Interventionen ist das, vorsichtig die sich aus den Kürzungen ergab, kam noch formuliert, ungewöhnlich. Innereuropäischer hinzu, dass etwa Frankreich und Italien macht- Streit darüber, in wessen Interessensphäre man politisch immer noch weiter hinter Deutschland intervenieren solle, ist letztlich auch die Ursa- zurückfielen. Bereits Anfang 2011 hieß es in che dafür gewesen, dass die seit 2007 in vollem einem programmatischen Beitrag in der Zeit- Umfang einsatzbereiten EU-Battlegroups bis schrift „Internationale Politik“, dem führenden heute nicht eingesetzt wurden. Selbst die aktu- Außenpolitik-Fachblatt der Bundesrepublik, die elle Militarisierung der Union geschieht auf zwei deutsche Kanzlerin sei im Verlauf der Eurokrise Pfaden: Berlin betätigt sich führend bei PESCO, zur „EU-Kanzlerin“ geworden; Frankreichs Prä- einem Projekt, das die Streitkräfte der Mitglied- sidenten komme hingegen allenfalls „die Rolle staaten durch gemeinsame Projekte an der mi- des Vizekanzlers“ zu. litärischen Basis verzahnt und nach aktuellen Planungen ab etwa 2030 einsatzbereite Streit- kräfte hervorbringen wird; Paris wiederum setzt auf die Initiative européenne d‘intervention, die »Die „deutsche Frage“ (...) über vorsieht, ohne umfangreiche Vorbereitungen an sie wird nicht nur erneut disku- der militärischen Basis gemeinsame Lageana- lysen und Einsatzpläne auszuarbeiten - und bei tiert, sie löst längst auch wieder Bedarf umstandslos in den Einsatz zu ziehen: erbitterte Kämpfe aus. Freilich - learning by doing, sozusagen. noch - im Rahmen der EU.« In den teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Hauptmächten der EU hat Deutschland einen wichtigen Vorteil, den es der rot-grünen Agenda 2010 und der Eurokrise Hat die Bundesrepublik ihre wirtschaft- verdankt. Die Agenda 2010 hat dazu geführt, liche Dominanz damit auch in eine politische dass in der Bundesrepublik als einzigem EU- Vormacht transformieren können, so geben Land in den 2000er Jahren die Reallöhne sanken. sich damit zahlreiche andere EU-Staaten nicht Umgekehrt gelang deutschen Konzernen damit, zufrieden. So hat Frankreichs Präsident Emma- woran die Industrie aus anderen Staaten der nuel Macron nach einem gegenüber Berlin sehr

41 kooperativen Beginn seiner Präsidentschaft weise nicht mehr angemessen berücksichtigt Anfang 2019 begonnen, energisch für die fanden, steckt in einem gewaltigen Konflikt um Durchsetzung französischer Interessen in der den Austritt aus der Union. Auch einige kleinere EU zu kämpfen - insbesondere auch gegen wi- Staaten, die sich von den großen Mächten über- derstrebende deutsche Strategien. Ein Pauken- gangen sehen, treten immer widerspenstiger schlag war, dass Macron im Februar 2019 der auf - Polen und Ungarn vor allem. Teile der italie- Pipeline Nord Stream 2, einem zentralen Pro- nischen Eliten widersetzen sich deutschen Kon- jekt der deutschen Energiepolitik, in den EU- zepten erbittert. Die „deutsche Frage“, von der Gremien Frankreichs Unterstützung entzog. Kagan schrieb - über sie wird nicht nur erneut Der Machtkampf zwischen Berlin und Paris ist diskutiert, sie löst längst auch wieder erbitterte seitdem wieder in vollem Gang. Großbritannien, Kämpfe aus. Freilich - noch - im Rahmen der EU. dessen Eliten ihre Interessen in Brüssel teil-

42 Deutsch-türkische Untiefen Zur strategischen Zusammenarbeit des BRD-Imperialismus mit der Türkei und ihre Widersprüche von Alp Kayserilioğlu (re:volt magazine)

Noch vorletztes Jahr lieferten sich die tür- Mitglieder und Minister*innen in der von ihnen kische Regierung und die EU spektakuläre gewohnten Manier. Und so ging es eine Zeit lang Wortgefechte. Anlass waren die Absagen von munter weiter. Wahlauftritten für AKP-Minister*innen und an- dere hochrangige AKP-Mitglieder in den Nie- derlanden und in Deutschland seitens der je- Die Propaganda weiligen staatlichen Institutionen. Daraufhin hielt es Erdoğan für nötig, der Niederlande eine und Taten des Führers „neonazistische Gesinnung“, Staatsterrorismus und Beteiligung an Völkermord vorzuwerfen, Merkel hielt er entgegen: „Du benutzt gerade Diese letztlich weitestgehend auf verbaler Nazi-Methoden“. Den Niederlanden wurde mit Ebene gebliebene Auseinandersetzung zwi- Sanktionen gedroht, die AKP-Jugend erstach schen der Türkei und der EU war nichts Neues. unter „faschistisches Holland!“-Rufen Orangen Ihr Beginn lässt sich auf spätestens 2013 datie- mit Buttermessern und trank rachedürstend ren. Wie bekannt, gingen damals mit dem Juni- den mit wahrlich beeindruckender Kraft aus- oder Gezi-Aufstand Millionen von Menschen gepressten Saft [1], die Revolverpresse titelte: gegen das autoritäre Regime in der Türkei auf „Ihr kämpft umsonst. Eure Macht reicht nicht, die Straßen. Die AKP-Herrschaft geriet ordent- um die Türkei aufzuhalten“. [2] lich ins Wanken, ihr gesamter Zauber, ihr Glanz und ihre Überzeugungskraft verflogen wie ein Die Reaktionen auf europäischer Seite wa- vorübergehendes Schattenspiel. Es zeigte sich ren ungleich schärfer, als bisher gewohnt: Der offen das hässliche Gesicht (und die Keule) der niederländische Premier Rutte lehnte rigoros Gewaltherrschaft. Die Ereignisse der darauffol- eine Entschuldigung und die Aufnahme von genden Jahre zeigten zur Genüge, dass die AKP Verhandlungen bei Fortsetzung der Beleidi- die türkische Gesellschaft nicht mehr mit de- gungen von seitens der Türkei ab, Gabriel und mokratischen Mitteln führen konnte, und dass Steinmeier forderten ein sofortiges Ende der ihr die durch demokratische Mittel hervorge- unsäglichen Nazi-Vergleiche, Merkel kündigte brachte Legitimation wegbrach. weitere Auftrittsverbote an. Dänemark sagte einen Auftritt des türkischen Premiers Yıldırım Das Ende der AKP-Herrschaft war abseh- ab, der EU-Kommissar für Europäische Nach- bar, sollten weiterhin die Spielregeln der Demo- barschaftspolitik und Erweiterungsverhand- kratie gelten. Ergo wurden diese von Seiten der lungen Johannes Hahn strich einen Teil der EU- AKP abgeschafft. Im zumeist kurdischen Süd- Fonds für die Türkei und äußerte Zweifel an der osten der Türkei wurde ein unglaublich brutaler Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit Vernichtungskrieg gegenüber der kurdischen der Türkei. Bevölkerung und kurdischen Militanten entfes- selt. Am Ende waren über ein Dutzend Städte Auf diese Reaktionen der europäischen großteils dem Erdboden gleichgemacht. Eine Seite reagierten wiederum hochrangige AKP- Furie der Repression und eine rasante Schlie-

43 ßung des öffentlichen Raumes für oppositi- Strategische onelle Politik und Meinung, also eine Faschi- sierung, setzten ein. Und spätestens seit dem Zusammenarbeit... gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 wird ganz offen nach dem Schmittschen Para- digma regiert: „Souverän ist, wer über den Aus- In den zwei Jahren seit dem medialen nahmezustand entscheidet.“ Und zum absolu- und spektakulären Hochkochen des Türkei-EU- ten Souverän, dazu hält sich Erdoğan berufen, Konfliktes ist nicht viel übriggeblieben, außer der von seinen Anhängern mittlerweile offen der ab und an geäußerten ‚Besorgnis‘ über als FÜHRER, REIS im Türkischen, verehrt wird die erodierenden Demokratiestandards in der (Großschreibung im Original). Türkei. Zwischenzeitlich hat Sigmar Gabriel in unterwürfiger Manier Tee getrunken mit Auf der diskursiven Ebene der politischen seinem türkischen Amtskollegen Çavuşoğlu, der Propaganda wurden die mittlerweile klas- damalige Ministerpräsident der Türkei, Yıldırım, sischen Begriffe moderner Feindbildung lanciert: hat die Normalisierungen der Beziehungen zur Der Terrorismus, die Zinslobby, die Auslands- BRD nach einem Treffen mit Merkel angekündigt mächte, die dunklen Kräfte und andere ähn- und Erdoğan ist doch wieder in Deutschland liche Begriffe. Das bundesdeutsche Feindstraf- aufgetreten, hat sich mit Merkel getroffen und recht und der US-amerikanische lächelnd vor Kameras Hände geschüttelt trotz hatten ja vorgemacht, wie man den Gebrauch „tiefgehender Differenzen“. solcher Begriffe institutionalisieren und damit Angriffskriege und rechtliche Ungleichbehand- Warum aber ist die EU und insbesondere lung rechtfertigen konnte. Je nach politischer Deutschland so zaghaft im Umgang mit der Konjunktur fielen, auf die Außenpolitik bezogen, Türkei, wenn die Türkei doch angeblich alle mal , mal Russland und vor allem recht oft demokratischen Werte mit den Füßen tritt? die Bundesrepublik in die Kategorie der dunklen Kräfte/Auslandsmächte. Mal hieß es, Deutsch- Es gibt sehr reale Interessen seitens land habe Gezi angefacht, das nächste Mal hieß europäischer Staaten und insbesondere der es, Deutschland beschütze Terroristen, die der BRD an einer Zusammenarbeit mit der Türkei. Türkei schädigen würden. Nun hieß es zur Ab- Und bisher entsprach das Handeln der Türkei wechslung, Deutschland würde „Nazi-Metho- beziehungsweise der türkischen Regierung den“ anwenden. Aus europäischer Perspektive auch weitestgehend diesen Interessen. Wenn stellten hingegen die Ereignisse ab 2013 und man sich Publikationen und Äußerungen vor allem seit 2016 gewissermaßen endgültig deutscher Eliten in Wirtschaft und Politik klar, dass die Türkei nicht wirklich zu Europa ge- anschaut – zum Beispiel in Publikationen der hörte, zumindest die europäischen Werte nicht SWP und der KAS oder vonseiten der DIHK genügend vertrete, ja sogar mit Füßen trete. – kann man resümierend festhalten: Die Türkei wird als langfristig erfolgsversprechender Investitionsort und Exportmarkt gesehen, von dem Deutschland als Handelspartner » Es gibt sehr reale Interessen Nummer Eins insbesondere durch Milliarden- Investitionen im Verkehrs- und Energiesektor (...) der BRD an einer Zusammenarbeit profitieren könne (KAS). [3] Die deutsche mit der Türkei. Und bisher entsprach Wirtschaft ist in der Tat seit den 1970ern in der das Handeln der Türkei (...) auch Türkei aktiv und mittlerweile operieren dort über 6000 deutsche Firmen und erfreuen sich der weitestgehend diesen Interessen. « wirtschaftsfreundlichen Politik der AKP – „ein klarer Beweis unseres starken Interesses an einem guten Verhältnis unserer beider Länder“,

44 so DIHK-Chef Martin Wansleben 2017. [4] Die So 1902 der deutsche Kolonialstratege sich verschlechternden Beziehungen auf ober- Paul Rohrbach in seinem Buch Die Baghdad- flächlicher politischer Ebene standen trotz der Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung. [7] Erwähnung von deutschen Unternehmen auf Osmanischer Kriegseintritt unter deutschem einer semi-offiziellen Terrorliste nicht im Wege, Oberkommando und deutsche Toleranz und in als Siemens gemeinsam mit türkischen Partnern Teilen aktive Zuarbeit beim Armenischen Geno- einen der größten Aufträge für Windenergie mit zid folgten. [8] einem Investitionsumfang von einer Milliarde US-Dollar gewann. [5] Im Jahr darauf profitierte Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher erneut Siemens von einer geschichtsträchtigen der CDU/CSU, hält in der oben zitierten KAS- Kontinuität: Bundeswirtschaftsminister Altmai- Broschüre – bei weitem nicht mehr so unver- er (CDU) reiste extra in die Türkei, um den Auf- blümt wie einst, sondern zivilisierter, das heißt trag für die Modernisierung der zu Zeiten der verschleierter – fest, dass 100-jährige poli- Baghdad-Bahn gebauten Eisenbahnschienen tische und wirtschaftliche Banden die Türkei und mit einem Investitionsumfang von sagenhaften Deutschland zusammenhielten, und dass die 35 Milliarden Euro für Siemens zu garantieren. Türkei ein zentraler Akteur und Stabilitätsanker [6] Schon vor über hundert Jahren war Siemens sowie „unser verlässlichster Partner in der Re- am Bau der Baghdad-Bahn mit tatkräftiger Un- gion“ nach Israel sei, sowie die Diversifizierung terstützung von Kaiser Wilhelm II. beteiligt, alles der Energielieferungen an Deutschland ermög- im damals noch sehr unverblümt geäußerten liche. [9] Die Türkei ist also aus europäischer Interesse des deutschen Imperialismus: Perspektive eine „Brücke in den Nahen Osten, in den Kaukasus und indirekt auch nach Zentrala- „Einzig und allein eine politisch und militärisch starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu sorgen, dass die großen sien“ [10]. Die NATO und die EU sind dabei die Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris zwei hauptsächlichen internationalen Instituti- für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Ver- onen, die die Türkei an den Westen binden, so besserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten, auch wirk- ganz richtig der außenpolitische Hauptstadtkor- lich mit einiger Sicherheit in die Sphäre der realen Existenz respondent von Die Zeit, Michael Thumann. [11] übergehen können. Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird“ 45 Bei dieser Interessenlage und einer solchen mehrte Razzien bei kurdischen Organisationen strategischen Zusammenarbeit ist man natür- wie Civaka Azad und NAV-DEM, eine Zunah- lich auch gern zu Zugeständnissen bereit, wo es me der PKK-Verfahren um das Dreifache in- um Demokratie, Menschenrechte und ähnliche nerhalb eines Jahres [16], Fahnenverbote auch profane Dinge geht. Der Bundesinnenminister für die der YPG sowie letztlich die Verbote des de Maizière verewigte sich in dieser Angelegen- Mezopotamien Verlages und Mir-Musik, um nur heit am 25. Januar 2016 mit folgenden Worten: die krassesten Beispiele aufzuzählen. Gleich- „Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei zeitig befinden sich Tausende Regime-Spitzel von morgens bis abends kritisieren, denen rate in der BRD, werden Todeslisten oppositioneller ich mal, jetzt das nicht fortzusetzen. Wir haben Politiker*innen angestellt und Mordtaten ge- einen Interessensausgleich mit der Türkei vor plant. [17] Auch die Rüstungsgüterexporte uns. Wir haben Interessen, die Türkei hat Inte- schnellten, entgegen aller Lügen Sigmar Gabri- ressen. Das ist ein wichtiger Punkt“. [12] Der els, in die Höhe: Im Jahre 2018 war die Türkei Türkei-Korrespondent der FAZ, Michael Mar- mit Abstand an erster Stelle, was deutsche tens, brachte die Konsequenzen einer solchen Waffenexporte angeht, und diese machten fast Haltung in einem Artikel vom 8. November 33 Prozent der gesamten bundesdeutschen 2016 viel direkter und ehrlicher auf den Punkt: Waffenexporte aus. [18] „Selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft Auch dies weist Kontinuität auf: Schon in und systematisch Oppositionelle gefoltert und den 1980ern und 1990ern bekam die Türkei Menschenrechte missachtet werden, wäre es ganze 397 Leopard-1-Panzer; allein in den Jah- notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner ren von 2006 bis 2011 hingegen 354 Leopard- festzuhalten“. [13] Darauf, dass auch dies eine 2-Panzer, womit die türkische Armee derzeit historische Tradition hat, verwies der oben er- mehr Leopard-2-Panzer besitzt, als die Bun- wähnte Thumann: „Die NATO hat der Putsch- deswehr, wobei diese Panzerlieferungen expli- Türkei 1960, 1971, 1980 und 1998 nicht die Tür zit von Artikel 5 des NATO-Vertrages – Einsatz gewiesen [...] und sie muss heute wegen Erdo- nur zur kollektiven Verteidigung – ausgenom- gan nicht die Nerven verlieren.“ [14] men wurden. [19] Konsequenterweise waren diese Panzer beim Angriff auf Afrin im Frühjahr Es sind aber nicht nur Zugeständnisse, 2018 im Einsatz – einem Angriff, den sogar der die an eine sich faschisierende Türkei gemacht Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im werden. Es findet auch schlicht die Fortsetzung März 2018 als nicht dem Völkerrecht entspre- strategischer Zusammenarbeit im sicherheits- chend einstufte. [20] Derselbe Wissenschaft- dienstlichen und militärischen Bereich statt; liche Dienst fügte Ende 2018 in einem separaten diese wurde von den Wortgeplänkeln auf po- Gutachten hinzu, dass die Präsenz der Türkei in litischer Ebene überhaupt nicht nachteilig be- Syrien „die Kriterien einer militärischen Besat- rührt - im Gegenteil: sie verstärkte sich. Das zung“ erfülle. [21] Vorgehen der BRD gegen die PKK oder ver- meintliche PKK-Unterstützer*innen ist, entge- gen der Propaganda des Regimes in der Türkei, schon seit dem PKK-Verbot 1993 kontinuierlich »Erdoğan und die AKP wissen (...) beinhart, wie sogar ein FAZ-Artikel festhält: Seit 1992/93 wurden 52 „der PKK zurechenbare“ dass sich die (...) Mächte in Europa Organisationen in der BRD verboten, 90 „PKK- für Demokratie, Menschenrechte Funktionäre“ verurteilt und seit 2011 nach ei- (...) nur dann interessieren, wenn ner Gesetzesverschärfung noch einmal 180 Ermittlungsverfahren gegen 241 Beschuldigte es ihnen wirtschaftlich und geo- aufgenommen. [15] Unter Innenminister See- strategisch etwas bringT.« hofer wurde dem nur die Krone aufgesetzt: ver-

46 … und ihre Widersprüche

Erdoğan und die AKP wissen nur zu gut, dass es diese sehr realen europäischen Interessen an der Türkei gibt und dass sich die etablierten Mächte in Europa für Demokratie, Menschenrechte und dergleichen offensichtlich nur dann interessieren, wenn es ihnen wirtschaftlich und geostrategisch etwas bringt. Solange Stabilität herrscht und Erdoğan im weitesten Sinne des Wortes mit den europäischen Interessen konform geht, lässt man ihm freie Hand. Die rote Linie für EU und insbesondere Deutschland ist genau dann erreicht, wenn jenen Interessen geschadet wird.

Auf keinen Fall können westliche Groß- mächte, so sie denn noch etwas auf ihre eige- nen weltpolitischen Machtambitionen geben, tolerieren, dass von türkischer Seite versucht wird, ein Programm zu verfolgen, das zuerst der einstige Außenminister, später Premiermi- nister und derzeitige Renegat Ahmet Davutoğlu Anfang der 2000er Jahre entwarf. Davutoğlu glaubte, wie so viele andere, dass nach dem Ende der Sowjetunion ein Machtvakuum in der Weltordnung entstanden sei, welches die USA durch einen Alleinherrschaftsanspruch auszu- füllen versuchten. Da dies nicht geklappt habe, sei die Welt nun in einem Übergang hin zu einer multipolaren Ordnung begriffen. Länder wie die Türkei könnten in dieser Übergangsperiode auf- grund ihrer strategischen Tiefe (historische, geo- Die Bundesregierung hingegen zeigte graphische und kulturelle Ressourcen) zu einer sich besorgt, sprach aber gleichzeitig von Regionalmacht, ja gar zur Weltmacht aufstei- „legitime[n] türkische[n] Sicherheitsinteressen“. gen. Die ehemals wegen Putschplänen gegen [22] Trotz alldem hat die deutsche Rheinmetall, die AKP inhaftierten ultranationalistischen Mi- gemeinsam mit dem türkischen Waffenher- litärs, mit denen sich die AKP im Kampf gegen steller BMC und einem malaysischen Partner die neuen Putschmilitärs verbünden musste, und tatkräftiger Unterstützung der Bundesre- beschreiben die dabei idealerweise zu verfol- gierung, ein Waffengroßunternehmen mit dem gende geostrategische Taktik mit solch impo- Namen Rheinmetall BMC Defence Industry (RBSS) santen Begriffen wie „dynamisches Gleichge- mit Sitz in Ankara gegründet, das laut internen wicht“ [24]: Papieren einst beabsichtigte, bis zu 1000 Pan- zer zu einem Preis von sieben Milliarden Euro Die Türkei könne eine relative Autonomie zu bauen – wobei das ganze Unternehmen in und Bestimmungsmacht im geostrategisch- Mysterien eingehüllt ist. [23] en Machtgefüge erlangen, indem sie sich im 47 Gleichgewicht zwischen den Interessen von ra geteilt wird“. [25] Er empfiehlt deshalb Zuge- Russland und der USA bewege, somit von kei- ständnisse. Diese haben jedoch, wie oben aus- ner der beiden Parteien abhängig sei, sondern geführt, ihre Grenze am Eigeninteresse der EU im Gegenteil beide Parteien gegeneinander für als globalem Machtakteur und der BRD als deren die eigene Autonomie ausspiele. Letztlich hat Hauptmotor. Erdoğan und das derzeitige Regime auch diese Haltung eine hundertjährige Tradi- in der Türkei hingegen können nicht mehr so ein- tion: Noch wenige Tage vor dem Kriegseintritt fach wie früher garantieren, dass sie diesen In- des Osmanischen Reiches auf Seiten Deutsch- teressen entsprechend handeln. Dafür sind sie lands in den Ersten Weltkrieg verhandelte die einerseits zu sehr in die Ecke gedrängt; ande- jungtürkische Führung mit Russland. rerseits beschert ihnen erfolgreiche aggressive Außenpolitik große Zustimmung im Inland und Zwar sprechen die Fakten eine ande- bei den Eliten des Landes und entspricht bei Er- re Sprache, als das beabsichtigte dynamische folg tatsächlich den Interessen derselben. Auch Gleichgewicht herzustellen: Das türkische Mi- Seufert weiß oder ahnt natürlich, genauso wie litär ist vollständig in die NATO integriert und der oben erwähnte Davutoğlu aus türkisch-im- von ihr abhängig, 80 Prozent des Auslandsdi- perialistischer Perspektive, dass das erratische rektinvestitionsbestands in der Türkei kommen und aufmüpfige Verhalten der Türkei nicht allein aus der EU und die meisten Exporte der Türkei der Konjunktur nach dem gescheiterten Militär- gehen in die EU. Sprich, die Türkei ist derart in putsch 2016 entspringt, sondern seinen Grund die westliche Ordnung integriert, dass sich von in der veränderten Konstellation innerhalb des einem dynamischen Gleichgewicht nicht re- imperialistischen Weltsystems nach dem Ende den lässt; eine Loslösung vom Westen scheint der Sowjetunion hat: „Das Ende des Kalten dementsprechend nicht im nationalen Interesse Krieges hat der Türkei nicht nur in Zentralasien der Herrschenden in der Türkei zu liegen. „Doch und auf dem Balkan neue Aktionsräume eröff- kann sich“, so Günther Seufert von der SWP, net, sondern auch im Nahen Osten. Seit dieser „der Westen nicht darauf verlassen, dass eine Zeit sucht die Türkei einerseits ihre Stellung im solche Sicht der türkischen Interessen in Anka- Nahen Osten zu stärken. Andererseits fürchtet

48 das Land die Folgen amerikanischer Nahost- Die Widersprüche zwischen der BRD und der politik, die aus seiner Perspektive die Destabi- Türkei gründen also in Widersprüchen zwischen lisierung nahöstlicher Staaten zur Folge hat und einer größeren imperialistischen Macht und dadurch den Kurden des Irak, Syriens und damit einer kleineren, in der Region subimperialistisch auch denen der Türkei Freiräume schafft“. [26] agierenden Macht, die zudem innenpolitische Die Hinwendung zu Russland und Iran sieht Probleme teils per außenpolitischer Offensive Seufert darin begründet, die fehlgeschlagenen in den Griff zu bekommen versucht. außenpolitischen Offensiven in Ägypten, Tune- sien und Syrien mit Beginn des Arabischen Früh- Weil es diese Widersprüche gibt, wird auf lings 2011 zumindest in einen Teilerfolg bezüg- der Oberfläche der Politik – das heißt ohne ir- lich der Verhinderung eines kurdischen Staates gendetwas an der strategischen Zusammenar- im Norden Syriens umzumünzen. [27] beit zu ändern – auch die Erdoğan-Kritik seitens der BRD aufrechterhalten, werden verfolgte Ist also die Türkei – noch – unentwirrbar Akademiker*innen mit offenen Armen auf- in das westlich-imperialistische System einge- genommen und sogar mutmaßliche Gülen- bunden, so auch umgekehrt: Bei einer strate- Anhänger*innen toleriert. Diese eher auf der gischen Hinwendung der Türkei hin zu Russland unmittelbaren Oberfläche des Politischen ver- – so unwahrscheinlich das heute noch klingen ankerte Herangehensweise dient der BRD nicht mag – würde sich „das globale Machtgleichge- nur dazu, sich auf oberflächliche Art die Weste wicht verändern“; „[o]hne oder gar gegen Anka- rein zu halten – denn immerhin kritisiere man ja ra“ kann Europa im Nahen Osten kaum agieren. den bösen Diktator. [28] Gerade deshalb ist es den politischen Eliten in Deutschland bis hinauf zu Bundeskanzlerin Sie wird von der BRD selbstverständlich Merkel [29] so wichtig, die Widersprüche bei- auch als Instrument dazu genutzt, einerseits der Länder nicht zu sehr eskalieren zu lassen. das derzeitige Regime in der Türkei in Andererseits bleibt auch die Aufmüpfigkeit und bundesdeutschem Interesse und im Sinne der Abwendung der Türkei vom Westen aus eben westlich orientierten Verbündeten innerhalb der denselben Gründen der strategischen Zusam- Türkei zu disziplinieren; andererseits auch dazu, menarbeit beschränkt: Erst kürzlich wurden Teile der Eliten-internen Opposition, ob nun links wieder Militärs gesäubert, die keine Zusammen- oder rechts, staatlich oder zivilgesellschaftlich arbeit mit den USA in Syrien wollten, da dies für sich nutzbar zu machen – im Hier und eine Invasion in Rojava erst einmal verunmög- Heute, für das eigene Image wie auch für die lichen würde; und erst daraufhin wurde ein sehr Disziplinierung des Regimes in der Türkei, aber vages Einverständnis zwischen der Türkei und auch in Hinblick auf eine mögliche post-Erdoğan den USA bezüglich der Errichtung einer Sicher- Türkei. heitszone in Nordsyrien beschlossen, obwohl die Türkei noch Anfang August kurz davor stand, Aus anderen konkreten Gründen – aus in- eine Großoffensive in Rojava zu beginnen. [30] nenpolitischem Interesse und aus subimperia- listischer Perspektive heraus – aber prinzipiell mit derselben Motivation, wird die Frontstel- lung gegenüber BRD, EU, NATO und allgemein » Die Widersprüche zwischen der dem Westen gegenüber vom Regime in der BRD und der Türkei gründen also in Türkei aufrechterhalten. Revolutionäre Linke, insbesondere diejenigen antiimperialistischer Widersprüchen zwischen einer grö- Einstellung, sollten sich über die Interessenlage ßeren imperialistischen Macht und zwischen der BRD und der Türkei sowie der Na- tur ihrer Widersprüche keine Illusionen machen einer kleineren(...)« und stattdessen eine eigenständige Position entwickeln.

49 Quellen & Anmerkungen

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[10] Hähnlein, Rayk / Kaim, Markus / Seufert, Günther, [20] Zeit, 08.03.2018: Zweifel an Rechtmäßigkeit von Juli2018: What if Turkey left Nato?, in: Magdalena Kirch- türkischer Offensive. Zugriff am 26.09.2019 unter htt- ner (ed.), Hub or Spoke? NATO’s Role in Allied Projecting ps://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/militaerof- Stability Efforts on the Southern Flank, IPC – Istanbul Po- fensive-afrin-tuerkei-bundestag-voelkerrecht. 50 [21] Zeit, 26.12.2018: Bundestagsgutachten sieht Türkei halb ergänze ich: So schwierig das alles derzeit auch ist, als Besatzungsmacht. Zugriff am 26.09.2019 unter htt- so unzumutbar manches ist: Unser außen-, sicherheits- ps://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-12/bundes- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass die tagsgutachten-besatzungsmacht-tuerkei-syrien. Türkei, immerhin ein NATO-Partner, sich noch weiter von uns entfernt.“, Regierungserklärung Bundeskanzlerin An- [22] Welt, 24.01.2018: Bundesregierung sieht „legitime gela Merkel. Zugriff am 26.09.2019 unter https://www. Sicherheitsinteressen“ der Türkei. Zugriff am 26.09.2019 bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/regierungserkla- unter https://www.welt.de/politik/ausland/arti- erung-von-bundeskanzlerin-merkel-806392. cle172805011/Syrien-Einsatz-Bundesregierung-sieht- legitime-Sicherheitsinteressen-der-Tuerkei.html. [30] Gürcan, Metin, 13.08.2019: Deciphering the cryptic safe-zone deal between Turkey, US“, al-Monitor. Zugriff [23] Tillack, Hans-Martin / Bettoni, Margherita, am 26.09.2019 unter https://www.al-monitor.com/ 11.08.2017: Was hat Rheinmetall in der Türkei zu ver- pulse/originals/2019/08/turkey-united-states-syria- bergen?, correctiv. Zugriff am 26.09.2019 unter: https:// safe-zone-deal-divided-public.html. correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2017/08/11/was- hat-rheinmetall-in-der-tuerkei-zu-verbergen; Tillack, Hans-Martin, 11.01.2019: Rheinmetall will doch keine Panzer für Erdogan bauen, stern. Zugriff am 26.09.2019 unter: https://www.stern.de/politik/deutschland/rhein- metall-will-doch-keine-panzer-fuer-erdogan-bauen- 8526166.html.

[24] Für ein neueres Beispiel vgl. das Interview mit dem ehemals inhaftierten Admiral Cem Gürdeniz, 25.07.2016: Balyoz‘da darbe suçlamasıyla hapsedilen tümamiral: Bu aslında bir darbe değil, içsavaş tetikleme provasıydı, t24. Zugriff am 26.09.2019 unter: https://t24.com.tr/ha- ber/emekli-tumamiral-cem-gurdeniz-tanki-durdurana- sahip-cikarim,351771.

[25] Seufert, Günter, Januar 2017: Noch mehr Distanz zum Westen. Warum sich Ankara nach Moskau orien- tiert“, SWP-Aktuell 6. Zugriff am 26.09.2019 unter htt- ps://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/ aktuell/2017A06_srt.pdf.

[26] Seufert, Günter, 15.08.2018: Die alte Freundschaft ist vorbei, Zeit. Zugriff am 26.09.2019 unter https:// www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/tuerkisch-ame- rikanische-beziehung-reccep-tayyip-erdogan-donald- trump-usa--mitgliedschaft/komplettansicht.

[27] Seufert, Günter, 15. August 2018: Die alte Freund- schaft ist vorbei, Zeit. Zugriff am 26.09.2019 unter https:// www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/tuerkisch-ame- rikanische-beziehung-reccep-tayyip-erdogan-donald- trump-usa-nato-mitgliedschaft/komplettansicht.

[28] Seufert, Günter: Die alte Freundschaft ist vorbei, a. a. O.

[29] Vgl. Regierungserklärung, 9.03.2017: „Es gibt also einerseits umfassende gemeinsame europäisch-tür- kische Interessen. Es gibt andererseits – wir spüren das in diesen Tagen einmal mehr überdeutlich – tiefgreifende Differenzen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, zwischen Deutschland und der Türkei. […] Und des- 51 Das Geschäft mit der Flucht von Johanna Bröse (re:volt magazine)

Carola Rackete, Pia Klemp, Claus-Peter Border Monitoring hat im Frühsommer 2019 Reisch – die Namen einiger Kapitän_innen, de- Zahlen [1] zu den Verfahren auf der griechischen ren Boote und Crewmitglieder in den letzten Insel Lesbos veröffentlicht. Anhand der Jahren zehntausende Menschen auf dem Mit- Beobachtung von 41 Prozessen kommen sie zu telmeer versorgten, kennt hierzulande fast je- folgenden Ergebnissen: Ein Gerichtsverfahren der_r. Gegen sie wurden, zumeist seitens des dauert im Durchschnitt 28 Minuten, die italienischen Staats, Verfahren wegen „Beihilfe durchschnittliche Verurteilung beträgt 44 Jahre zur illegalen Einwanderung“ eingeleitet. Ne- Gefängnis und über 370.000 Euro Strafe. Da ist ben einer zu erwartenden Wand an Hass und Jamil, der aus flüchtete. Er wurde zu Drohungen von rechts erhalten die Angeklag- 90 Jahren Haft verurteilt, von denen er 25 Jahre ten politische und finanzielle Unterstützung. absitzen soll. Hinzu kommt eine Strafzahlung Was dabei unbeachtet bleibt: Migrant_innen von 13 .000 Euro. Jamil wurde festgenommen, aus nicht-EU-Ländern sind nicht nur Opfer der weil er ein Boot mit Flüchtenden in Richtung europäischen Migrationspolitik, sondern wer- Lesbos lenkte. Um die Überfahrt für seine Frau den auch als Fluchthelfer_innen massiv krimi- und ihn überhaupt bezahlen zu können, hatte nalisiert. Während bislang kaum europäische er die Anfrage der Schmuggler angenommen, Angeklagte rechtskräftig verurteilt wurden, während der Überfahrt hinter der Pinne zu werden wöchentlich Gerichtsprozesse gegen stehen – nicht wissend, dass dies eine Straftat Personen aus anderen Ländern geführt, die we- darstellt. Während seine Frau zwischenzeitlich gen Schmuggel angeklagt sind. Diese werden in Deutschland ist, wurde sein Gerichtsappeal zu Höchststrafen verurteilt. Die Organisation erneut abgewiesen. Rûnbîr Serkepkanî von

52 der Organisation CPT-Lesvos beschreibt: „Die mit großem Aufwand zu verhindern. Die Regie- meisten von ihnen sind arm, sie sind Studenten, rungen und Bündnisse, die diese Unterschei- sie sind Migranten, die es sich nicht leisten dung betreiben, verfolgen damit offensichtlich konnten, die Reise zu den Ägäischen Inseln spezifische Eigeninteressen. Darunter fällt die zu bezahlen.“ Verurteilt werden – wie Jamil Bestrebung nach Einfluss darauf, wer das Recht – zumeist diejenigen, die sich bereit erklärt hat, zu migrieren – oder passender: wer an wel- haben (oder per Zwang dazu gebracht wurden), cher Stelle des Planeten von größtmöglichem die Lenkpinne der Schlauchboote zu halten. ökonomischem oder strategischem Nutzen ist. Für manche Anklagen genügt es aber auch, diejenigen zu sein, die per Telefon Hilfe rufen, Der Blick auf die erweiterten Migrations- wenn das Boot kentert. gründe von Menschen, die fast immer von Krieg, Konflikten, Überausbeutung und Gewalt, existenzieller Armut, Perspektivlosigkeit, Um- weltzerstörung und so weiter geprägt sind, fällt Im bundesdeutschen dabei unter den Tisch. Nach Zahlen des UNHCR Labor perfektioniert befinden sich derzeit rund 70,8 Millionen Men- schen auf der Flucht, davon über 40 Millionen Binnenvertriebene (die im Land selbst migrie- Menschen migrieren - schon immer. Wan- ren), und über 25 Millionen Personen, die sich derungsbewegungen sind ein zentraler Be- über Staatsgrenzen hinweg bewegen. 80 Pro- standteil der menschlichen Geschichte. Ein Bei- zent der Refugees bleiben in den unmittelbaren spiel: Zwischen 1850 und 1920 emigrierten 70 Nachbarländern, nur wenige Prozent begeben Millionen Menschen aus Europa. Das entsprach sich überhaupt auf die Reise nach Europa. ungefähr 17 Prozent der Bevölkerung Europas im Jahre 1900. Einige Menschen wählten die Es ist offensichtlich: Migrationsbewegungen Landroute, ließen sich im asiatischen Teil des haben in den vergangenen Jahren aufgrund der damaligen russischen Zarenreichs nieder. Der Kriege und Krisen in Syrien, im Irak, in Mali, in Großteil bewegte sich allerdings in Richtung Libyen, in Afghanistan etc. zugenommen. Krisen Nordamerika, viele davon aus prekären öko- und Konflikte, die oft genug durch die imperia- nomischen Gründen oder aufgrund von Verfol- listische Konkurrenz und das Wettrennen um gung. Märkte und Handelsrouten befeuert wurden. Dass Menschen dennoch der Vorwurf gemacht Es waren also vielfach die Armen, die Über- wird, aus „wirtschaftlichen“ Gründen zu fliehen, flüssiggemachten der kapitalistischen Industri- müsste schon allein von dieser Warte aus völlig alisierung in dieser Zeit, die den Weg über Land absurd erscheinen: Millionen ausgebeutete Ar- oder Meer antraten. „Würden heute anteilig so beiter_innen des globalen Südens, die für west- viele Menschen des Globalen Südens nach Euro- pa migrieren wie damals aus Europa, wären das 800 (!) Millionen Menschen“, fasst ein Artikel im re:volt magazine pointiert zusammen. Während »(...) die allermeisten Gründe, heutzutage kurz- oder mittelfristige Wande- rungsbewegungen privilegierter Migrant_innen ein Land zu verlassen und nach bes- (damit sind Menschen gemeint, die ohne VISA- seren Lebensbedingungen Ausschau Anträge [2] in die allermeisten Länder reisen zu halten, sind also im Kern des können, etwa deutsche Staatsbürger_innen) als selbstverständlich wahrgenommen und imperialistischen Weltsystems zu vielfach begrüßt werden, wird gleichzeitig ver- finden.« sucht, Migration aus anderen Teilen der Welt als „irregulär“ oder „gefährlich“ darzustellen und

53 liche Großkonzerne ihre Gesundheit ruinieren; päischen Kommissionen diskutiert und weiter- die Unmöglichkeit, mit den Produktivitätsvor- entwickelt wurden. So wurde in der BRD etwa teilen und den Subventionsketten der west- zu Beginn der 1990er Jahre der „Asylkompro- lichen Länder konkurrieren zu können, das im- miss“ – ein Gesetzespaket mit Grundgesetzän- mer weiter intensivierte Landgrabbing großer derung zur Verschärfung von Asylbedingungen Konzerne aus den imperialistischen Zentren – verabschiedet. und so weiter: die allermeisten Gründe, ein Land zu verlassen und nach besseren Lebensbedin- Das Paket etablierte die Drittstaatenklausel gungen Ausschau zu halten, sind also im Kern und ebnete den Weg für die bald darauffolgenden des imperialistischen Weltsystems zu finden. gesamteuropäischen Dublin-Regelungen zur weiteren Einschränkung der Bewegungsfreiheit Daran, dass die Menschen, die migrieren, von nichteuropäischen Migrant_innen. Dublin- kaum Möglichkeiten haben, die erhofften bes- Abkommen und Co. sorgten infolge dafür, dass seren Perspektiven zu finden, haben die Mit- die meisten Flüchtenden in Außengrenzen- gliedsstaaten der Europäischen Union, allen Staaten wie Griechenland und Italien bleiben voran Deutschland, in den vergangenen Jahr- mussten. Seitdem die Migrationszahlen in der zehnten einen wichtigen Anteil geleistet. Es BRD wieder steigen, mischt die Bundesregie- gelang auf der Ebene der Normalisierung und rung ganz vorne bei der EU-weiten Grenz- und Implementierung des restriktiven Migrations- Migrationspolitik mit; auch, was die ideolo- managements in den kapitalistischen Zentren. gischen Grenzziehungen zwischen einem „Eur- Oftmals fungierte die Bundesrepublik als Labo- opa der Werte“ und dem „Dort“, dem „Jenseits ratorium für Pläne, die gemeinsam in den euro- der Grenze“ angeht.

54 Schutz der Außengrenzen Die Kooperation mit der libyschen Küsten- wache hat zudem zur Internierung [6] zehn- tausender geflüchteter Menschen in Lagern An den Außengrenzen errichtet Europa, geführt, in denen sie Missbrauch, Folter und unter kräftigem Antrieb von Deutschland, im- Ausbeutung erfahren. Die Menschenrechtsan- mer schwerer überwindbare Sperrzäune und wälte Omer Shatz und Juan Branco schätzen Grenzanlagen. Dass Menschen am Betreten an- die Zahl auf diese Weise internierter Personen derer Länder gehindert werden dürfen, darüber allein für die Jahre 2016 bis 2018 auf mehr als besteht völkerrechtlich Einigkeit. Gewichtige 40.000. [7] Diese Entwicklung hat die Bundes- Gründe für Flucht und Migration bügeln die da- regierung auch mit der Absage an Seerettungs- für Verantwortlichen, wie 2013 der ehemalige Programme wie „Mare Nostrum“ und der Unter- Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), in stützung der libyschen Küstenwache forciert. In einem Interview [4] weg: „Wir haben Gesetze, voller Kenntnis der mörderischen Folgen. die klipp und klar sagen, dass diejenigen, die kein Recht haben, keinen Anspruch, hierherzu- Der maritime Raum zwischen Griechenland kommen, auch nicht hierherkommen dürfen.“ und der Türkei wird ebenfalls stark überwacht. Hier setzen in den letzten Jahren zahlreiche Wenig verwunderlich: Die Menschen versu- Menschen über, viele davon aus Syrien. Seit chen es dennoch. Von Westafrika aus mit kleinen dem als „EU-Türkei-Deal“ bekanntgewordenen Booten zu den kanarischen Inseln, über die me- Abkommen, welches vor allem von Angela Mer- terhohen Zäune rund um die spanischen Enkla- kel und ihrem damaligen Gesprächspartner Ah- ven Mellila und Ceuta, durch die kalten Wälder met Davutoğlu eingetütet wurde, gingen die der Balkanroute, über das Mittelmeer in Rich- Zahlen fast vollständig zurück. Teil des millio- tung Italien oder hin zu den griechischen Inseln nenschweren Deals war die Vereinbarung, dass - welcher Teil der europäischen Außengrenzen die Türkei ein Kontingent der bereits auf Lesbos von Fliehenden und mit, neben, hinter ihnen von angekommenen Refugees wieder zurückneh- ihren hochgerüsteten Häschern besonders Be- men solle; im Gegenzug dürfe dieselbe Anzahl achtung findet, ist starken Konjunkturen unter- handselektierter Asylantragssteller_innen aus worfen. Vor allem hängt es daran, wieviel Geld der Türkei in die EU einreisen. die EU wie schnell in die Hand nimmt, um die Bewegung flächendeckend zurückzudrängen. Es gleicht seitdem einem Schmierenthe- ater, dass sich EU und Türkei immer wieder War die mittlere Mittelmeerroute noch bis wechselseitig den Deal aufkündigen wollen [8]. zum Zerfall Libyens recht wenig genutzt, nahm Er ist ein öffentlichkeitswirksamer Pappkame- sie nach 2013 rasch Fahrt auf: Das Schmuggel- rad, der beiden Seiten nützt. Für die Partien ist Geschäft mit Migrant_innen war für libysche und bleibt diese Partnerschaft gewinnbringend Milizen lange Zeit eine der wichtigsten Einnah- mequellen, tausende Menschen wurden so über das Meer gelotst. Im Sommer 2017 änderte sich die Strategie, in die auch die libysche Regierung »Es gleicht seitdem einem Sch- eingebunden war. Beigetragen dazu haben Druck mierentheater, dass sich EU und durch die EU und UN-Sanktionen. Vor allem aber Türkei immer wieder wechselseitig die lukrativen Angebote: Aus dem EU-Hilfsfond wurden beispielsweise 46 Millionen Euro [5] den Deal aufkündigen wollen (...). Er an Tripolis weitergereicht – direkt zum Aus- ist ein (...) Pappkamerad, der beiden bau des Grenzschutzes. Zwei Jahre später wird die Route von Tripolis aus kaum mehr genutzt, Seiten nützt.« die Schmuggler haben sich auf weiter ent- fernte und gefährlichere Startpunkte verlagert. 55 – die Drohgebärden sind Ablenkungsmanöver, die die jeweils kritische oder liberale Öffentlichkeit besänftigen sollen. Ein interner Bericht der EU- Kommission, der jüngst öffentlich wurde [9], for- dert indes eine radikalere Abschiebung von Men- schen aus den griechischen Lagern in die Türkei.

Tote vor den Toren

Das durch ein unabhängiges Journalist_ innenkollektiv ins Leben gerufene Projekt The Migrants‘ Files fand vor wenigen Jahren medial große Beachtung: Es veröffentlichte die bisher umfassendste Studie zur Anzahl von Todesfällen und Vermisstenmeldungen von Migrant_innen auf dem Weg nach Europa. Die detaillierte Datenbank zählt über 30.000 Einträge und umfasst den Zeitraum vom 1. Januar 2000 bis Mitte 2016. Innerhalb weniger Jahre starben also über 30.000 Migrant_innen bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen oder dort zu bleiben. Leider wurde das wichtige Projekt danach nicht weiterfinanziert, weshalb es für alle weiteren Jahre nur unvollständige Daten gibt. Der Liste können also nochmals tausende Menschen hinzugerechnet werden, die bis heute den Tod fanden. Die Toten sind keiner „Schlepperbande“ und keinem „tragischen Unglück“ geschuldet, sondern Resultate einer bewusst gestalteten Politik.

Noch tödlicher als die Mittelmeer-Route ist die Sahara. Es ist kaum zu ermitteln, wie viele Menschen genau auf ihrem Weg durch die Wüste jährlich ums Leben kommen, sie werden auch nicht in der Studie erfasst. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass es mindestens doppelt so viele sind wie im Mittelmeer – sie schätzt die Anzahl der in der Wüste verstorbenen auf über 30.000, alleine in den Jahren 2014 bis 2018. [10] Die Subsahara kam in den letzten Jahren ebenfalls zunehmend in den Blick der EU-Grenzschützer – mit verheerenden Folgen für die Flüchtenden.

56 Dass das EU-Projekt kein explizit demo- gungen in den Refugee-Camps Herr zu werden. kratisches, sondern vielmehr ein auf ökono- Aber: Es geht vielmehr um den Verkauf von Si- mischen und geostrategischen Interessen ba- cherheitstechnologie und nicht zuletzt auch sierendes Projekt ist, dürfte klar sein. Ihm ist die ganz offen um die Bekämpfung von „irregulärer Externalisierung der Grenzen von Anfang einge- Migration“. Dazu werden auch Soldaten und Si- schrieben. Bei den europäischen Bestrebungen, cherheitsbeamte in die Regionen geschickt, um Grenzsicherung und Migrationsmanagement den polizeilichen Strukturen vor Ort „effektive in Drittstaaten zu verlagern, geht Deutsch- Grenzkontrollen“ beizubringen. In Tunesien bil- land als Brandstifter voran. „Wir übernehmen den deutsche Bundespolizist_innen Grenzpa- Verantwortung in der Welt, und das mit einem trouillen aus, die Bundeswehr sendet Schnell- vernetzten Handlungsansatz: Außenpolitik, Si- boote und gepanzerte Lastwagen. 2017 lieferte cherheit und Entwicklung. (…) Entwicklungspo- Deutschland mobile Überwachungssysteme mit litik hat in der heutigen Zeit einen vollkommen Bodenaufklärung, zuvor waren es schon Nacht- neuen Stellenwert bekommen“, so Bundesent- überwachungssysteme, Wärmebildkameras, wicklungsminister Müller im vergangenen Jahr optische Sensoren und Radarvorrichtungen von im Bundestag. [11] In der afrikanischen Sahel- Airbus. [12] Bezahlt wird die Hightech-Grenze zone soll weiterhin Einfluss auf die „illegale Mi- gration“ nach Europa genommen werden. Dazu verstärkte Deutschland etwa seinen 2013 be- gonnenen militärischen Einsatz in Westafrika »Auch das Geld der EU fließt und sagte den beteiligten Staaten weitere Mit- tel zu. dorthin, wo (...) Migrations-bewe- gungen zum Anhalten gebracht Auch das Geld der EU fließt dorthin, wo am werden können. 3000 Millionen effektivsten Migrationsbewegungen zum An- halten gebracht werden können. 3000 Millionen Euro wurden im Jahr 2016 bereitge- Euro wurden im Jahr 2016 bereitgestellt, so viel stellt, so viel wie niemals zuvor.« wie niemals zuvor. Für die Vergabe zentral: die Bereitschaft der Länder, als willfährige Türste- her Europas im repressiven Migrationsregime zu fungieren. Einen großen Anteil erhielten die von der deutschen Bundesregierung (im Jahr für Migrationsbewegungen zentralen Länder 2017 etwa 34 Millionen Euro). Im Dezember wie Libyen (126 Millionen) und Senegal (162 2016 beschloss das deutsche Bundeskabinett, Millionen), aber auch Niger (167 Millionen), Mali sich an der EU-Mission SAHEL-CAP („zur (152 Millionen) oder der Sudan (106 Millionen). Bekämpfung von Drogen-, Waffen- und Die EU nutzt die militärische, politische und Menschenschmuggel“) im Niger zu beteiligen. ökonomische Abhängigkeit der Länder dazu, Seither werden jährlich (Bundes)Polizist_ um Mitarbeit bei der Migrationskontrolle zu er- innen nach Niger geschickt – dem wichtigsten zwingen. Transitland für afrikanische Flüchtende auf dem Weg nach Europa. Ziel ist der „Aufbau Zum Beispiel Sudan: Die Lage hier ist seit und Erhalt von Sicherheitsstrukturen“ sowie Jahren höchst instabil. Menschen fliehen von der Ausbau von „Kapazitäten im Grenz- und dort aus guten Gründen, gleichzeitig ist das Land Migrationsmanagement“ [13]. Das Interpol- Transitland für Fliehende aus Eritrea, dem Süd- Projekt Adwenpa II [14] wurde ebenfalls von der sudan oder Somalia. Die jüngst beschlossene Bundesregierung finanziert. Von 2016 bis 2018 Entwicklungshilfe über 28 Millionen Euro (da- wurden dabei in 14 westafrikanischen Staaten von alleine 26 Millionen direkt aus Deutschland) Grenzkontrolleur_innen ausgebildet. Interpol soll natürlich die Infrastrukturen vor Ort stärken schulte in Mali, Marokko, Mauretanien, Niger, - man bemühe sich, den desaströsen Bedin- Tunesien, Burkina Faso und Tschad – finanziert 57 den sollen, scheiterten bislang. Nicht zuletzt, weil sich die Afrikanische Union (AU) dagegen wehrt, wie aus einem Papier von Februar 2019 hervor- geht: Darin wendet sie sich gegen die Pläne der EU, auf afrikanischem Boden „De-facto-Haft- anstalten“ einzurichten, in denen die Rechte der Inhaftierten mit Füßen getreten werden. [15]

Neue und gestärkte Bündnisse

370 Mitarbeiter_innen und ein Jahres- budget von 142 Millionen Euro, so sahen die Bedingungen für die „Europäische Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengren- zen“ (Frontex) vor vier Jahren aus, zu dem Zeit- punkt, an dem die genannte Studie entstand. Heute sind es 1.500 Mitarbeitende und 330 Millionen Euro Budget, im Jahr 2020 soll es so- gar 420 Millionen Euro betragen. Getragen wird Frontex von den Ländern der EU sowie Norwe- gen, Island, Liechtenstein und der Schweiz. Für den kommenden mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 schlug die Europäische Kommis- sion im Herbst 2018 vor, für ein aktualisiertes Mandat von Frontex eine ständige Reserve von 10.000 Grenzschutzbeamten zu schaffen und die Mittel für Migration und Grenzmanagement auf 34,9 Milliarden Euro beinahe zu verdreifa- chen (gegenüber knapp 13 Milliarden Euro im laufenden Zeitraum). [16]

Dies solle dazu dienen, „gezielt auf die zunehmenden Herausforderungen in den Be- von Deutschland. Neun Hightech-Grenzstati- reichen Migration, Mobilität und Sicherheit zu onen zwischen Niger und Nigeria gab es gleich reagieren […] und eine wirksamere Migrati- mit dazu. Davon bezahlte das Auswärtige Amt onspolitik [zu] ermöglichen.“ Hier werden ge- drei, die Europäische Union die übrigen sechs. stärkte Mandate für Frontex im Bereich der In vielen afrikanischen Ländern wie Mali wurden Rückführung und der Zusammenarbeit mit Grenzübertritte massiv erschwert, ebenfalls auf Drittländern genannt. Im Februar 2019 ei- „Bitte“ der EU. nigten sich die EU-Botschafter_innen, den Vor- schlag als Grundlage für die Verhandlungen mit Allerdings: Die Pläne der EU, in afrika- dem Europäischen Parlament aufzunehmen. nischen Ländern Lager zu errichten, in denen Migrant_innen noch vor dem Erreichen europä- Wichtige Entscheidungen für die Arbeit von ischen Bodens geprüft (und abgewiesen) wer- Frontex werden im Übrigen im Verwaltungsrat 58 der Agentur getroffen. Die stellvertretende Lei- Bekämpfung der Fluchtursachen als wirkliche tung hat Ralf Göbel inne, ein früherer Vizeprä- Existenzfragen für Europa. […] Das heißt, die eu- sident des Bundespolizeipräsidiums. Auch der ropäische Grenzpolizei muss das Recht haben, Leiter der Frontex-Operativabteilung Klaus Rös- an den Außengrenzen eigenständig zu agieren. ler ist Deutscher. Im August 2019 konfrontierte […] Wir brauchen einen intelligenten Ansatz auf ein Rechercheteam Frontex damit, an den EU- mehreren Ebenen. Unsere Datensysteme müs- Außengrenzen Menschenrechtsverletzungen sen in ganz Europa vernetzt werden, damit wir durch nationale Grenzpolizist_innen zugelas- wissen, wer sich bei uns aufhält.“ Migrationspo- sen zu haben oder gar selbst daran beteiligt litik wird zu Grenzpolitik und zu einer treibenden gewesen zu sein. [17] Man prüfe den Vorwurf, Kraft der europäischen Identität, powered by heißt es von Seiten der EU-Kommission. Im Germany. [20] gleichen Atemzug wird aber seitens der Agen- tur der Vorwurf „kategorisch“ ausgeschlossen, Die Absicherung der eigenen Interessens- die eigenen Beamten seien im Grenzeinsatz an politik, auch auf militärischem Wege, ist ein „Verletzungen von Grundrechten“ beteiligt. Es bewährtes Mittel, welches dem Imperialismus habe sich über die Frontex-Beschwerdestel- inhärent ist, ebenso wie der Rückgriff auf ter- len schließlich keine_r diesbezüglich gemeldet. ritorial ausgreifende Krisenbewältigungsstra- tegien. Dies dient nicht den vorgeblich mora- lisch-ethischen Begründungsmustern, sondern grundsätzlich immer der Absicherung von Ver- »Die Absicherung der eigenen wertungsbedingungen, der Expansion, der Un- Interessenspolitik, auch auf mili- terjochung. tärischem Wege, ist ein bewährtes Mittel, welches dem Imperialismus And the money goes to… inhärent ist, ebenso wie der Rück- griff auf territorial ausgreifende Das bereits genannte Journalist_innenkol- Krisenbewältigungsstrategien.« lektiv lancierte im Übrigen noch ein weiteres Recherche-Projekt: The Money Trails. [21] Darin zeichnete das Team Geldströme nach, welche bei dem Geschäft mit Geflüchteten durch öf- Bezüglich einer neuen EU-Militärunion wird fentliche und private Hände fließen. Es hat mo- nicht zuletzt die Ständige Strukturierte Zusam- natelang Dokumente analysiert und mit zahl- menarbeit (Permanent Structured Cooperation, reichen Vetreter_innen von Politik, NGOs und PESCO) der EU-Mitgliedsstaaten immer zen- Privatunternehmen, aber auch mit Geflüchteten, traler, die Anfang 2018 an den Start ging. [18] „Schleppern“ und Grenzbeamten gesprochen. Faktisch kann die PESCO als eine von Deutsch- Das Ziel: „Manche der ökonomischen Profiteure land und Frankreich dominierte Reorganisation der Abschottungspolitik Europas aufzudecken.“ der EU-Militärpolitik angesehen werden, die Die Recherchen zeigen: Das Geschäft mit den durch eine Aufstockung der Verteidigungshaus- Geflüchteten nach Europa generierte seit dem halte der teilnehmenden Staaten sowie eine Jahr 2000 mindestens 1,6 Milliarden Euro Um- Förderung der EU-Rüstungsindustrie und der satz. Davon ging ein Großteil an organisierte Rüstungsexporte finanziert wird. Der Vertrag „Schlepper“-Netzwerke, die damit Profite erzie- von Lissabon mit seinen Artikeln für militärische len wollen; aber auch an Einzelpersonen, denen Zusammenarbeit und gemeinsame Sicherheits- es konkret um Hilfestellung ging. Interessant ist und Verteidigungspolitik macht es möglich. [19] aber auch die andere Seite: Zeitgleich wandte Angela Merkel dazu: „Nun sehe ich die Themen die Europäische Union mindestens genauso viel Grenzsicherung, gemeinsame Asylpolitik und Geld auf [22], um die Menschen von den EU- 59 Außengrenzen fernzuhalten: „für jeden Euro, setzte der Konzern rund 6,1 Milliarden Euro um. den ein Flüchtling ausgibt, um nach Europa zu Die Geschäftsentwicklung des Unternehmens- gelangen, (geben) die Behörden Europas einen bereichs Defence, so wird auf der Webseite des Euro aus (…), um ihn davon abzuhalten“. Konzerns stolz berichtet, zeige sich „zunehmend geprägt von der deutlich gestiegenen Nachfra- Von den Maßnahmen der restriktiven Mi- ge im militärischen Sektor und von Rheinme- grationspolitik profitieren Konzerne wie Rhein- talls erfolgreicher Positionierung in wichtigen metall, Airbus, Finmeccanica und Thales oder Märkten rund um den Globus.“ Der Rüstungs- Technologiefirmen wie Saab, Siemens oder konzern stellt unter anderem Kettenfahrzeuge, Diehl. Oft tauchen sie als Tochterunternehmen Panzer (auch den Leopard II), Waffen und Muni- in den Unterlagen auf. Sie stellen für die „Grenz- tion her und ist – ganz zufällig – auch im High- schützer“ Equipment wie Drohnen, Schnell- Tech-Zäune-Business und in der Grenzsiche- boote, Nachtsichtgeräte und Jeeps bereit. wei- rungstechnologie sehr gewichtig aufgestellt. tere hunderte Millionen Euro fließen in Projekte 2017 schon recherchierten Taz-Mitarbeitende der Sicherheitsforschung und -Entwicklung. und weitere Journalist_innen für das Recher- Die erwähnte Vernetzung von Außen-, Ver- cheprojekt Schengen für Europa, Zäune für Afri- teidigungs- und Entwicklungspolitik ist längst ka. Daraus wird ersichtlich: EU-Gelder aus dem schon Realität. Es ist kein Zufall, dass der ehe- Entwicklungshilfe-Fond finanzieren vor allem malige Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), Projekte von deutschen und europäischen Rü- Mitglied des Bundessicherheitsrats, nach dem stungskonzernen. Ausscheiden seiner Partei aus dem Bundestag als Cheflobbiyst bei der Rheinmetall AG ein- Ganz vorne dabei ist die Rheinmetall AG. stieg. Die Rheinmetall AG ist nicht nur irgendein Andere deutsche Firmen wie Veridos, das Ge- Rüstungskonzern - er ist Europas Größter und meinschaftsunternehmen der Bundesdrucke- der drittgrößte weltweit. Im Geschäftsjahr 2018 rei und der IT-Firma Giesecke + Devrient, die 60 auf Biometrie, Kontrollschleusen und „Identi- Fluchthelfer von Nebenan fikationslösungen“ spezialisiert sind, haben in den letzten drei Jahren Aufträge in Milliarden- höhe erhalten. Lösungen der Migrations-„Pro- Terroristische Bedrohungen, Migrations- blematik“ von Marokko bis Südafrika. Meist druck - EU-Kommission, FRONTEX und In- ohne Ausschreibung und ohne parlamenta- nenminister werden nicht müde, davon zu rische Kontrolle. Die Bundesdruckerei bestätigt sprechen, dass die Eindämmung kriminellen in der taz-Recherche, dass sie auch für Libyens Menschenhandels eine Notwendigkeit sei, um Übergangsregierung Rohpässe herstelle. Leben zu retten und Menschen zu schützen. Ei- nen Atemzug weiter sind sie bei der Fluchthilfe Eine Reihe von Forschungsprojekten an angelangt, als sei es dasselbe Thema. Um es europäischen Universitäten und Forschungs- ganz deutlich zu sagen: Menschenhandel und einrichtungen widmen sich unterschiedlichen Schmuggel können sich zwar in einigen Fällen Aspekten der Flüchtlingsabwehr. Auf die EU- überschneiden, tatsächlich handelt es sich je- Forschungsagenda kamen sie auf Empfehlung doch um zwei völlig unterschiedliche Themen. einer Arbeitsgruppe, die die EU-Kommission 2003 startete. 39 der Forschungsprojekte, die Menschenhandel ist ein erzwungener zwischen 2002 und 2013 von der EU oder der Transfer von Menschen, der mit Entführung, europäischen Weltraumagentur ESA gefördert Ausbeutung und moderner Sklaverei verbunden wurden, hatten mit Migration, Grenzschutz ist, während Menschenschmuggel, also oder -überwachung zu tun. Mitglieder der Ar- Fluchthilfe, eine Reaktion auf die restriktive beitsgruppe waren neben Parlamentarier_in- Grenzpolitik darstellt, die den Flüchtenden nen und EU-Kommissar_innen auch Waffen- das legale Überschreiten von Grenzen zu ihren produzenten. Gerne werden die Projekte als eigenen Bedingungen unmöglich macht. Für zivile Grundlagenforschung ausgeben, wie etwa die Mehrheit der Weltbevölkerung gibt es keine an der Uni Bremen. sicheren Passagen und keine legale Möglichkeit, in ein EU-Land einzureisen, Asyl zu suchen oder Die Liste der wehrtechnischen Auftragge- gar ein Arbeitsvisum zu erhalten. Die Menschen ber in der Geschichte der „zivilen“ Forschung sind gezwungen, sich auf illegalisierte, oftmals dort ist lang: vertreten ist Rheinmetall, aber tödliche Wege zu begeben und haben keine auch Astrium (später Airbus Defense and Space) andere Wahl, als die Dienste von Vermittlern oder das US-Außenministerium. Selbst das Bil- in Anspruch zu nehmen, die in vielen Fällen zu dungsministerium fördert „zivile“ Forschungs- teuer und zu riskant sind. Die Zerstörung von projekte mit Rüstungsunternehmen, wie 2017 Schmuggelnetzen rettet keine Leben, sondern herauskam: EADS, ThyssenKrupp und weitere geht auf Kosten der Sicherheit derjenigen, die erhielten in den Jahren 2015-2017 13 Millionen man damit vorgeblich schützen will. Damit ist Euro aus dem Bildungsbudget. Deutschland nicht nur Brandstifter, sondern auch Mörder. Während Politiker_innen und Medien die „kriminellen Schleuser“ für das Leiden und Sterben an den Grenzen Europas verantwortlich »Menschenhandel und Schmug- machen, lenkt dies die Aufmerksamkeit von der gel können sich zwar in einigen Tatsache ab, dass der Schmuggel eine Reaktion auf die Militarisierung der Grenzkontrollen ist Fällen überschneiden, tatsächlich und nicht die Ursache irregulärer Migration. handelt es sich jedoch um zwei völ- lig unterschiedliche Themen.« Zuletzt: Aktuell werden allerorts der „Mauerfall“ und die „Deutsche Einheit“ be- schworen - die DDR darf dabei entweder als glücklicherweise überwundener Unrechtsstaat 61 oder als Petrischale der erstarkenden rech- deutschen Zeitung. [24] Bei aller Zustimmung ten, faschistischen Kräfte im Land herhalten. macht es sich Prantl mit dieser Einschätzung zu leicht: Jene, die daran beteiligt waren, Menschen über die deutsch-deutsche Grenze zu bringen, Die EU tötet nicht nur durch „Unterlassen“ gelten bis heute als Held_innen ohne Wenn und an den Grenzen. Sie tut weit mehr als das. Und Aber. Fluchthelfer_in - das war etwas Ehren- sie sorgt dafür, dass Geschäfte mit Geflüchte- volles. Sie wurden, wie 2012 im Falle Burkhart ten und Fluchtgründen nicht weniger werden. Veigels, für das „Engagement für die Freiheit“ Aus den Ländern, in denen EU-Mitgliedsstaaten mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet Kriege führen oder an Einsätzen beteiligt sind, - während Menschen wie Jamil für Jahre ins Ge- sind die meisten Menschen auf der Flucht: Im fängnis müssen. „Fluchthelfer“ Veigel hat damals Jahr 2018 waren es aus Syrien 6,7 Millionen mit seiner Arbeit Geld verdient – bis zu 18.000 Menschen, aus Afghanistan 2,7 Millionen und DM –, sogar Verträge dafür aufgesetzt. In einem aus dem Südsudan 2,3 Millionen. Auch die un- Das Erste Panorama-Bericht [23] begründet erbittliche Ausbeutung der menschlichen und er: „Es kommt darauf an, dass man seinen Job natürlichen Ressourcen der Länder des glo- gut macht. Ein guter Arzt, ein guter Rechtsan- balen Südens ist ein wesentlicher Grund für walt nimmt auch Geld von Menschen, die in Not Flucht und Zerstörung der Lebensgrundlagen sind.“ Er kritisiert, dass heute Fluchthelfer_in- der Bevölkerung. Die EU macht es sich zu leicht, nen durchweg als „Schlepper“ und „Schleuser“ den Schleusern Schuld an allem Elend an den verfolgt und kriminalisiert werden: „Es ist doch Grenzen zu geben. Sie als die Gewinner dieser eine ehrenvolle Sache, einem Menschen in Not tödlichen Flüchtlingsmaschinerie zu begreifen, zu helfen. Da kann mich doch kein Gesetz daran heißt, willentlich zu übersehen, wer die eigent- hindern!“ Die Bundesregierung sieht das zwi- lichen Profiteure des Elends sind. schenzeitlich anders. Sie stört sich nicht an dem Widerspruch zwischen der Kriminalisierung il- legal Eingewanderter sowie ihrer „Schlepper- banden“ und der Glorifizierung von Fluchthel- »Die EU tötet nicht nur durch fer_innen in den 1960er und 1970er Jahren. ,Unterlassen‘ an den Grenzen. Woher das kommt? Der Antikommunismus Sie tut weit mehr als das. Und sie hat die Veigels der Welt zu Held_innen gemacht. sorgt dafür, dass Geschäfte mit Jede_r erfolgreich „den Roten“ Entrissene war ein kleiner Sieg über das sozialistische System. Geflüchteten und Fluchtgründen Heute gibt es diese ideologische Klammer für nicht weniger werden. « Deutschland und die Europäische Union (EU) nicht mehr. Im Gegenteil: Fluchthilfe heute for- dert die neoliberale Ordnung der Ungleichheit heraus, sie verschafft Schlupflöcher in einem globalen System, in dem Grenzen den klaren Zweck erfüllen, die Profiteure und Verursacher der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse vor den „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fa- non) abzuschotten.

„Diese Union tötet; sie tötet durch Unter- lassen, durch unterlassene Hilfeleistung.“ So kommentierte Heribert Prantl 2015 die Flücht- lingspolitik der Europäischen Union in der Süd-

62 Quellen & Anmerkungen

[1] dm-aegean-Redaktion [Hrsg.], 15.07.2019: The war against smuggling. Incarcerating the marginalized. Zugriff am 26.09.2019 unter https://dm-aegean.bordermoni- toring.eu/2019/07/15/the-war-against-smuggling-in- carcerating-the-marginalized/?preview=true&_thumb- nail_id=1454.

[2] Kayserilioğlu, Alp, 12.08.2018: Weder Chauvinismus, noch Humanismus. Zur linken Migrationsdebatte. https:// revoltmag.org/articles/weder-chauvinismus-noch-hu- manismus-zur-linken-migrationsdebatte/.

[3] Rosa Luxemburg Stiftung Berlin [Hrsg.]: Atlas of Mi- gration 2019. Zugriff am 26.09.2019 unter https://www. rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikati- onen/atlasofmigration2019_web_190614__1_.pdf.

[4] Zit. nach Buchen, Stefan, 12.09.2013: Wie aus Men- schenrettern Kriminelle werden, https://daserste.ndr.de/panorama/Wie-aus-Menschen- rettern-Kriminelle-werden-,syrien481.html.

[5] Europäische Komission [Hrsg.], 28.07.2017: EU-Hilfs- fonds für Afrika: 46 Millionen Euro für den Grenzschutz in Libyen. Zugriff am 26.09.2019 unter https://ec.europa. eu/germany/news/eu-hilfsfonds-für-afrika-46-millio- nen-euro-für-den-grenzschutz-libyen_de. fung in Subsahara-Afrika. Zugriff am 26.09.2019 unter https://www.kas.de/web/auslandsinformationen/arti- [6] Global Detention Project [Hrsg.]: Libya Immigration kel/detail/-/content/fluchtursachenbekaempfung-in- Detention. Zugriff am 26.09.2019 unter subsahara-afrika. https://www.globaldetentionproject.org/countries/afri- ca/libya. [12] Dernbach, Andrea, 15.12.2017: Deutschland baut weiter an Tunesiens Grenze. Zugriff am 26.09.2019 unter [7] German Foreign Policy [Hrsg.], 04.06.2019: Die töd- https://www.tagesspiegel.de/politik/migration-deutsch- lichste Migrationsroute der Welt. Zugriff am 26.09.2019 land-baut-weiter-an-tunesiens-grenze/20715140.html. unter https://www.german-foreign-policy.com/news/de- tail/7956/. [13] Vgl. Bundespolizeibericht 2018. Zugriff am 26.09.2019 unter https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ [8] ZEIT Online, 05.09.2019: Recep Tayyip Erdoğan droht downloads/DE/veroeffentlichungen/2019/bundespoli- EU mit Grenzöffnung. Zugriff am 26.09.2019 unter htt- zei-bericht2018.pdf?__blob=publicationFile&v=2. ps://www.zeit.de/politik/2019-09/tuerkei-recep-tayyip- erdogan-fluechtlinge-migranten-europa. [14] Jakob, Christian: Nervöse Aktivität zur Abwehr. Zu- griff am 26.09.2019 unter https://migration-control.taz. [9] ZEIT Online, 05.09.2019: EU-Kommission drängt de/#de/countries/deutschland. Griechenland zu mehr Abschiebungen. Zugriff am 26.09.2019 unter https://www.zeit.de/politik/ [15] Boffey, Daniel, 24.02.2019: African Union seeks ausland/2019-09/fluechtlingspolitik-abschiebungen- to kill EU plan to process migrants in Africa. Zugriff griechenland-eu-kommission-tuerkei. am 26.09.2019 unter https://www.theguardian.com/ world/2019/feb/24/african-union-seeks-to-kill-eu- [10] Heisterkamp, Lucia, 30.08.2019: Wie private Ret- plan-to-process-migrants-in-africa. ter versuchen, Migranten aus der Todeszone zu holen. Zugriff am 26.09.2019 unter https://www.spiegel.de/ [16] Vgl. PM EU-Rat, 20.02.2019: Europäische Grenz- politik/ausland/alarmphone-sahara-wie-private-retter- und Küstenwache: Rat einigt sich auf Verhandlungsposi- versuchen-migranten-aus-der-todeszone-zu-holen-a- tion. Zugriff am 26.09.2019 unter https://www.consilium. 1282608.html. europa.eu/de/press/press-releases/2019/02/20/euro- pean-border-and-coast-guard-council-agrees-negotia- [11] Molt, Peter, 25.09.2018: Fluchtursachenbekämp- ting-position/. 63 [17] Vgl. Semsrott, Arne u.a., 04.08.2019: Frontex: die [21] Research Network, 18.06.2015: Follow the money Überwacher überwachen. Zugriff am 26.09.2019 unter – some of it – into the sub-economy spawned by mi- https://correctiv.org/top-stories/2019/08/04/frontex- gration. Zugriff am 26.09.2019 unter http://www.themi- transparenz/. grantsfiles.com/#/the-money-trails.

[18] Zugriff am 26.09.2019 unter https://eeas.europa.eu/ [22] Grossenbacher, Timo u.a., 18.06.2015: Unterneh- sites/eeas/files/pesco_factsheet_05-03-2018.pdf. men profitieren von Aufrüstung gegen Flüchtlinge. Zugriff am 26.09.2019 unter http://www.srf.ch/news/internati- [19] Vgl. Vertragstext. Zugriff am 26.09.2019 unter onal/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen- http://www.lisbon-treaty.org/wcm/the-lisbon- fluechtlinge. treaty/treaty-on-european-union-and-comments/ title-5-general-provisions-on-the-unions-external- [23] Vgl. und zit. nach Buchen, Stefan, 06.11.2014: action-and-specific-provisions/chapter-2-specific- Fluchthelfer: Gestern Helden, heute Kriminelle. Zugriff provisions-on-the-common-foreign-and-security-policy/ am 26.09.2019 unter https://daserste.ndr.de/panorama/ section-2-provisions-on-the-common-security-and- archiv/2014/Fluchthelfer-Gestern-Helden-heute-Krimin defence-policy/133-article-46.html. elle,fluechtlinge1080.html.

[20] Zugriff am 26.09.2019 unter https://www. [24] Zit. nach Prantl, Heribert, 18.04.2015: Wie die EU bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/europa-muss- Flüchtlinge tötet. Zugriff am 26.09.2019 unter http:// handlungsfaehig-sein-1141498. www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingspolitik-du- sollst-nicht-toeten-1.2439653.

64 Antikommunistische Kontinuitäten in der BRD Von der Staatsgründung, über die DDR-AnneXion bis heute von North East Antifascists [NEA]

Der folgende Text stellt einen Versuch dar, wie sie vor allem von Anarchist*innen und Räte- die Kontinuität des Antikommunismus in der Ge- kommunist*innen formuliert wurde und wird. schichte der Bundesrepublik Deutschland, von der Um dies gleich vorweg zu nehmen: Nicht jede Staatsgründung 1949 bis heute, nach zu zeichnen. Kritik an jedem tatsächlichen oder vermeindlich Der Fokus liegt dabei auf der Zeit nach dem Mau- sozialistischen Staat oder jeder tatsächlichen erfall 1989 bzw. der folgenden Annexion der DDR oder vermeindlichen kommunistischen Partei 1990. Hierbei werden sowohl die politischen bzw. bzw. Organisation ist als antikommunistisch gesellschaftlichen Träger des Antikommunismus, anzusehen und auf dieser Grundlage aus revo- als auch seine Rolle und sein tiefgreifender Ein- lutionärer Perspektive sofort zurück zu weisen. fluss, bis hinein in die radikale Linke in Deutschland, dargestellt. Doch zunächst der Versuch einer Defi- Jedoch bewegt sich solch eine Kritik teilwei- nition – was bedeutet Antikommunismus aus einer se auf einem schmalen Grad und droht in anti- revolutionären Perspektive? kommunistische Ressentiments, oder auf einen verfestigten antikommunistischen Standpunkt abzurutschen. Hier ist es wichtig zu differenzie- Antikommunismus: ren zwischen gerechtfertigter Kritik an Staaten, Organisationen und politischen Positionen und Eine bürgerliche Ideologie einem Antikommunismus, welcher letztlich nur den Herrschenden nützt.

Ausgehend von einer Verortung als revolu- Antikommunismus ist hier zu verstehen als tionäre Linke kann der Antikommunismus von eine bürgerliche Ideologie, welche, zum Teil unter uns nicht in einem staats- und demokratieapolo- getischen Sinne als notwendige Abwehrhaltung der bürgerlichen Demokratie gegenüber einer „undemokratischen“ und „totalitären“ kom- »Antikommunismus ist (...) eine munistischen Ideologie begriffen werden. Die- se Haltung ist unter bürgerlichen Autor*innen, bürgerliche Ideologie, welche (...) Wissenschaftler*innen, Politiker*Innen und unter dem Deckmantel (...) der indi- sonstigen Ideolog*innen der Herrschaft der viduellen Freiheitsrechte (...) einen Bourgeoisie, bis tief hinein in die Sozialdemo- kratie, bereits seit Jahrzehnten die am meisten ideologischen Schutzschild für (...) verbreitete Erklärung und Verteidigung der Ide- kapitalistische Besitzverhältnisse ologie des Antikommunismus. bildet « Antikommunismus bedeutet hier auch nicht die oftmals gerechtfertigte Kritik an den (bür- gerlichen) Auswüchsen des Staatssozialismus,

65 dem Deckmantel des Schutzes der Demokratie bleibt jedoch nicht auf einer theoretischen bzw. und der individuellen Freiheitsrechte und zum diskursiven Ebene stehen: Er bildet den ideolo- Teil offen, einen ideologischen Schutzschild für gischen Hintergrund, sowie die Rechtfertigung die Herrschaft der Bourgeoisie und kapitali- für die Verfolgung, die Zerstörung von Existenzen stische Besitzverhältnisse bildet. und auch dem Mord an tatsächlichen oder auch nur mutmaßlichen Kommunist*innen: Angriffsziele für die Breitseiten dieses antikommunistischen „Iron Dome“ sind sowohl Von den historischen faschistischen Regi- die Theorien der sogenannten „Klassiker“ der men Deutschlands und Italiens, über die Kom- proletarischen Bewegung (Marx, Engels, Lenin, pradorenstaaten des Trikonts (Hunderttausen- Luxemburg und Andere), als auch Parteien de ermordete Kommunist*innen in Indonesien und Organisationen von der damaligen KPD unter Suharto, die Massenhinrichtungen der bis zu heutigen Neo-K-Gruppen sowie vor Pinochet-Regierung in Chile, das Gefängnis- allem auch die Staaten des sogenannten „real massaker in Peru 1986 oder die als Kampf- existierenden Sozialismus“ von der Sowjetunion, handlungen getarnten Massaker an Gueriller@ der DDR bis hin zu China, Kuba oder Nordkorea. s in Indien – es gäbe noch unzählige weitere Beispiele), die USA in der „Mc-Carthy-Ära“ der Die bestehenden, zum Teil äußerst gravie- 50er Jahre und auch darüber hinaus, bis hin zur renden, Unterschiede und Konflikte zwischen Bundesrepublik Deutschland. verschiedenen Ideologien, Organisationen und Staaten werden dabei bis zur Unkenntlichkeit Wo liegen nun also die Wurzeln des An- in einem oft diffusen antikommunistischen Brei tikommunismus im konkreten Fall der BRD? verrührt. Der Antikommunismus, als Ideologie 66 Seine Wurzeln in der BRD So wurde zur Abwehr der „roten Gefahr“ unter Führung des ehemaligen Wehrmachtge- nerals Reinhard Gehlen ein Geheimdienstap- Die BRD wurde 1949 vor dem Hintergrund parat aufgebaut, in welchen in den folgenden einer Teilung Europas und Deutschlands in einen Jahrzehnten alte und neue Faschisten integriert kapitalistischen Block im Westen, damals unter wurden (Stichwort Gladio). Diese Strukturen Führung Frankreichs, Großbritanniens und vor sollten im Falle einer militärischen Konfrontation allem der USA, und einem sozialistischen Block mit dem sozialistischen Block als informell ope- im Osten, unter politischer und ideologischer rierende militärische Kräfte der NATO dienen. Führung der Sowjetunion, gegründet. Die Gründung der BRD erfolgte nur einen Monat Parallel zum Aufbau von Strukturen des nach der Gründung der NATO, dem „westlichen“ Tiefen Staates, wurde auch auf offizieller po- militärischen Bündnis unter Führung der USA. litischer Ebene ein glühender Antikommunis- Auch wenn der Beitritt der BRD zur NATO mus hochgehalten. Dieser vereinte nicht nur erst 1955 folgte, stand sie von Beginn an fest das christlich-konservative Bürgertum (ent- an der Seite der USA und ihrer Verbündeten. gegen aller Bekundungen der Herrschenden Bedingt durch ihre Lage, direkt an der Grenze in der BRD gegen jegliche Art von „Totalitaris- zum sozialistischen Block, ist sie schon zu mus“ zu stehen) mit den übrig gebliebenen Eli- diesem Zeitpunkt als Frontstaat der NATO zu ten des NS-Staates und den nachrückenden verstehen. neuen Faschisten, sondern umfasste auch das liberale Bürgertum sowie die Sozialdemokratie Die führenden politischen Kräfte der frü- (Willy Brandt: „Man kann heute nicht Demo- hen Bundesrepublik, allen voran die CDU un- krat sein, ohne Antikommunist zu sein“). [1] ter Konrad Adenauer, trieben die Westbin- dung der BRD unermüdlich voran. Einher mit dieser schnellen Eingliederung in den NATO- Block ging eine Übernahme der antikommuni- »Zum Anderen stellt der An- stischen Doktrin der NATO-Staaten. Mit dem tikommunismus einen wichtigen Sieg über das faschistische Deutschland, wel- cher ohne die Siege der Sowjetunion im Groß- Eckpfeiler für den Gründungsmy- en Vaterländischen Krieg und den Kampf der thos der Bundesrepublik als das europäischen Partisan*innen (zu großen Teilen (...) demokratische Deutschland, in Kommunist*innen, Sozialist*innen und auch Anarchist*innen) nicht zu erringen gewesen Abgrenzung (...) vom alten faschi- wäre, verschob sich der Fokus der Herrschenden stischen Staat, (...) aber auch vor in den westlichen imperialistischen Staaten auf den Kampf gegen den Kommunismus – vor allem von der DDR« allem gegen die Sowjetunion, als zu diesem Zeitpunkt größten und einflussreichsten sozia- listischen Staat. Die antikommunistische Staatsdoktrin der In der BRD ging die antikommunistische BRD diente als Begründung 1955 den Staat mit NATO-Doktrin einher mit dem glühenden An- Gründung der Bundeswehr, trotz erheblicher tikommunismus der ehemaligen politischen gesellschaftlicher Widerstände, zu remilitari- und wirtschaftlichen Eliten des faschistischen sieren und auch in diesem Fall mit ehemaligen Staates. Diese wurden, bis auf wenige Haupt- Angehörigen der Wehrmacht zu bestücken. täter, nahtlos in das sich wieder errichtende Eindrücklich ist vor allem auch das direkte Vor- politische und wirtschaftliche System des neu- gehen gegen die Kommunist*innen in der BRD. en kapitalistischen Deutschland eingegliedert. So wurde Mitgliedern der KPD die Zahlung von 67 Entschädigung als Opfer des NS-Regimes ver- Zusammenfassend kann der Antikommu- wehrt, die Partei schließlich 1956 verboten und nismus in der frühen Bundesrepublik zum ei- ihre Mitglieder mit Repression überzogen.[2] nen als gesellschaftlicher Kitt – von alten und neuen Faschisten, konservativem und liberalem Die DDR, ebenfalls 1949 als erster sozialis- Bürgertum, Kirchenkreisen, bis hinein in die tischer Staat auf deutschem Boden gegründet, Arbeiter*innenklasse in Form der von der SPD war, neben der Sowjetunion, Hauptzielschei- repräsentierten Sozialdemokratie betrachtet be des Antikommunismus in der Bundesrepu- werden. blik. So wurde sie erst mit dem „Grundlagen- vertrag“ 1972 überhaupt als souveräner Staat Zum Anderen stellt der Antikommunismus anerkannt. Bis 1969 wurde auf Grundlage der einen wichtigen Eckpfeiler für den Gründungs- „Hallstein-Doktrin“ selbst die Anerkennung der mythos der Bundesrepublik als das einzige de- Souveränität der DDR von Seiten anderer Staa- mokratische Deutschland, in Abgrenzung zum ten scharf verurteilt. Mit dem Verweis auf So- einen vom alten faschistischen Staat, zum an- wjetunion und DDR wurde jede Form von linker, deren aber auch vor allem von der DDR und durchaus nicht nur revolutionärer, Politik als von damit einhergehend dem gesamten sozialis- außen kommend und mit aller Härte zu bekämp- tischen Block und jeder Form von linker oder fen erklärt: „Alle Wege des Marxismus führen revolutionärer Politik, die mit diesem assoziiert nach Moskau!“ (CDU/CSU -Wahlslogan 1953). wurde.

68 Die AnneXion ja eigentlich nur gezwungenermaßen und mit anzuerkennendem militärischem Gehorsam die der DDR und der Kriege des deutschen Faschismus geführt habe. Ein eindrückliches Symbol für die Ausradierung moderne Antikommunismus der antifaschistischen Grundsätze der DDR durch die „Sieger der Geschichte“ ist die Löschung der ewigen Flamme zu Ehren der Welche Rolle spielte nun die Annexion der Opfer des Faschismus in der Schinkelwache DDR für die Entwicklung der antikommuni- unter den Linden in Berlin. [3] stischen Doktrin der BRD? Einhergehend mit der politischen, gesellschaftlichen und ökono- Dazu ermöglichte es die BRD, dass deut- mischen Annexion der DDR, wurden zunächst sche Konzerne wie Volkswagen, ehemalige die Repräsentant*innen des übernommen Zwangsarbeiter*innen aus der Zeit des NS Staates aus ihren Positionen entfernt und mit mit lächerlich geringen Entschädigungszah- Repression überzogen, vor allem politische lungen abspeisen konnten und danach von je- Verantwortungsträger*innen und Angehörige der finanziellen Schuld befreit waren, was dazu der bewaffneten Organe der DDR. Praktiziert führt, dass viele der wenigen noch lebenden wurde eine Form der „Siegerjustiz“ über den Zwangsarbeiter*innen, bis heute auf einen, zu- nun bezwungenen Feind. Dies ging einher mit mindest finanziellen Ausgleich, für das ihnen einem ideologischen Frontalangriff von Seiten angetane Unrecht warten müssen. der sich im Siegestummel der „deutschen Ein- heit“ befindenden politischen, wissenschaft- Die Symbole der DDR wurden in den Jahren lichen und kulturellen Repräsentant*innen der nach der Annexion immer weiter ausgemerzt. Bundesrepublik. Als Teil des von dem US-Poli- Es ging nicht um eine kritische Auseinanderset- tologen Francis Fukuyama geprägten Narrativs zung. Stattdessen ging es um das Ausradieren vom „Ende der Geschichte“, nach welchem sich der sichtbaren Symbole des ehemaligen sozia- der Kapitalismus mit dem Untergang der UdSSR listischen Staates. Straßen und Plätze wurden endgültig durchgesetzt habe, wurde erklärt, in ganz Ost-Deutschland umbenannt, Denkmä- dass die DDR gescheitert, sei, da der Kapita- ler wie das Lenindenkmal auf dem Leninplatz, lismus und die bürgerliche Demokratie schlicht dem heutigen Platz der vereinten Nationen das bessere System wären. Der Kommunismus in Berlin-Friedrichshain, wurden geschliffen. habe einfach „nicht funktioniert“, die demokra- Bekannte Akteure des staatlichen Antikom- tische Bundesrepublik habe sich gegenüber der munismus in der BRD nach 1990 sind die Hi- „zweiten Diktatur auf deutschem Boden“ (die storiker Jörg Baberowski und Hubertus Knabe. Relativierung des NS, welche durch dieses tota- litarismustheoretische Narrativ, betrieben wird, dürfte offensichtlich sein) endlich durchgesetzt.

Die antifaschistische Staatsdoktrin der » Die Symbole der DDR wurden DDR wurde nahezu vollständig abgewickelt: Die (...) nach der AnneXion immer wei- in der DDR geehrten Widerstandskämpfer ge- ter ausgemerzt. es ging nicht um gen den Faschismus aus der kommunistischen bzw. Arbeiterbewegung wurden und werden eine kritische Auseinandersetzung. unsichtbar gemacht oder zu Nebendarstellern Stattdessen (...) um das Ausradie- neben als Widerstandskämpfern verklärten rein gewaschenen Wehrmachtsverbrechern ren der (...) Symbole des ehemaligen und Reaktionären wie Stauffenberg oder bür- sozialistischen Staates. « gerlich-pazifistischen Gegnern des Faschismus wie der Weissen Rose. Die Täter hätten in SS und NSDAP gesessen, während die Wehrmacht 69 Baberowski, welcher unter anderem an der der „beiden deutschen Diktaturen“. Sein Fach- Humboldt-Universität in Berlin den Lehrstuhl für gebiet ist hierbei die bürgerliche „Aufarbeitung“ „Osteuropäische Geschichte“ besetzt. In seinen der DDR-Geschichte, welche hier vor allem eine Vorlesungen und Publikationen attackiert der Delegitimierung und Dämonisierung ist. Diese glühende Antikommunist vor allem die Sowjet- „Aufarbeitung“ geschieht in der Gedenkstät- union unter der Stalin. Dies geschieht jedoch te Hohenschönhausen in äußerst reißerischer nicht aus einer gerechtfertigten Position der und unwissenschaftlicher Art und Weise. Von Ablehnung der Entstehung einer neuen, „roten“ ernsthafter kritischer Auseinandersetzung kei- Bourgeoisie und der Angriffe auf die von den ne Spur. Stattdessen werden Schulklassen und Arbeiter*innen und Bäuer*innen erkämpften Er- Rentnergruppen aus der ganzen Bundesrepu- rungenschaften der Oktoberrevolution, sondern blik und darüber hinaus vor die Türen des ehe- in Form eines Frontalangriffs auf den Kommu- maligen Gefängnisses gekarrt, um sich dann nismus und jene, die für ihn kämpfen, indem sie selbst einmal in eine Verhörzelle der Staatssi- als „totalitär“ und „gewaltvoll“ charakterisiert cherheit stecken zu lassen. Alles mit dem woh- werden. So hat die Wehrmacht in ihrem Ver- ligen Schauer eines längst vergangenen und nichtungskrieg in den Augen Baberowskis nur endlich besiegten Schreckens. Dazu können auf die Aggresivität der Roten Armee reagiert, dann auch heutige „Linksextremist*innen“ in ganz in der Tradition von Reaktionären wie dem ihren „Schandtaten“ beobachtet werden. Ganz rechten Historiker Ernst Nolte. Dass Baberow- modern und multivisuell mit der VR-Experience ski auch in seiner Haltung zu Geflüchteten AfD- G20 in Hamburg. Linke und revolutionäre Poli- nahe Positionen vertritt, überrascht vor die- tik als Ganzes und nicht die tatsächlichen Fehler sem Hintergrund nur wenig. Hubertus Knabe, der DDR und ihrer Organe sollen hier angegrif- der mittlerweile nur noch ehemalige Leiter der fen und „aufgearbeitet“ werden. „Stasi-Gedenkstätte“ in Berlin-Hohenschön- hausen, ist ebenfalls glühender Verfechter der Zusammenfassend lässt sich hier sagen, totalitarismus-theoretischen Vergleichbarkeit dass mit der Annektion der DDR dem antikom- 70 munistischen Gründungsmythos der BRD ein weiteres Kapitel hinzugefügt wurde. Die BRD habe sich als der erfolgreichere deutsche Staat durchgesetzt und die DDR habe gezeigt, » Anstatt Fehler (...) des ,real dass der Kommunismus nicht funktioniere. existierenden Sozialismus‘ als Teil Das siegreiche, demokratische Deutschland war nun bereit seinen, in den Augen des deut- der eigenen Bewegungsgeschichte schen Kapitals, rechtmäßigen Platz als eigen- zu begreifen (...), findet (...) eine un- ständige imperialistische Kraft einzunehmen. kritische Wiedergabe bürgerlicher Quellen und eine Übernahme von (...) Antikommunismus antikommunistischen Positionen und die radikale Linke statt «

Wie sieht es nun mit dem Einfluss des An- tikommunismus auf die radikale Linke aus? Bis weit in die radikale Linke hinein, lässt sich eine Quellen & Anmerkungen reflexhafte Ablehnung des Staatssozialismus [1] Grebing, Helga: Ideengeschichte des Sozialismus in feststellen. Anstatt Fehler und Abweichungen Deutschland, Teil II. In: Grebing, Helga [Hrsg.]: Geschich- gerade in den Staaten des „real existierenden te der sozialen Ideen in Deutschland: Sozialismus - Ka- Sozialismus“ als Teil der eigenen Bewegungsge- tholische Soziallehre - Protestantische Sozialethik. Ein schichte zu begreifen, sich die eigene Geschichte Handbuch, Wiesbaden, 2005, Seite 384. anzueignen und zu einer Grundlage und Waffe [2] Siehe Creuzberger, Stefan / Hoffmann, Dierk [Hrsg.]: für den eigenen Kampf zu machen, findet statt- „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“. dessen vielfach eine unkritische Wiedergabe Antikommunismus und politische Kultur in der frühen bürgerlicher Quellen und eine Übernahme von Bundesrepublik. München, 2014. staatstragenden, antikommunistischen Positi- onen statt. [3] Eindrücklich dargestellt in einer Kurzdokumen- tation der „Autonomen Gruppen Ostberlin“ Zugriff am 29.09.2019 unter https://www.youtube.com/ Bedeutende Teile der eigenen Bewegungs- watch?v=aWPXNRMzt6c. geschichte werden auf diese Weise negiert, als ob die Aufarbeitung vergangener Fehler kein Teil des eigenen zu führenden Kampfes wäre. Auch die Errungenschaften existierender sozia- Weiterführende Literatur listischer Staaten wie der Sowjetunion oder der DDR werden hierbei zum Teil völlig ausgeblen- Brückner, Peter / Krovoza, Alfred: Staatsfeinde. Inner- det. staatliche Feinderklärung in der BRD, Berlin 1972 jour fixe initiative berlin (Hg.): Antikommunismus. Struk- Findet hier kein Umdenken innerhalb der tur einer antiemanzipatorischen Ideologie, Berlin 2017 radikalen Linken statt, wird dies dazu füh- ren, dass sich die Linke, im besten Falle unbe- Korte, Jan: Instrument Antikommunismus. Der Sonderfall wusst, auf ideologischer Ebene zum Helfer des Bundesrepublik, Berlin 2009 zu bekämpfenden bundesdeutschen Staates Stern, Leo: Der Antikommunismus als politische Haupt- und seiner antikommunistischen Staatsdok- doktrin des deutschen Imperialismus, Berlin 1963 trin macht. Es liegt also an uns, die eigene Bewegungsgeschichte (wieder) anzueignen und gegen bürgerliche Angriffe zu verteidigen! 71 Nie wieder Deutschland! Die AnneXion der DDR, der II. Golfkrieg und die Geburtsstunde der sogenannten Antideutschen von North East Antifascists [NEA]

Der Zusammenbruch der DDR traf die Linke, vorhandene Ökonomie zerschlagen wollen. (…) Dagegen be- stand die andere prinzipielle Haltung darin, den Vereinigungs- sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland, völ- prozess als solchen abzulehnen und den Standpunkt zu ver- lig unvorbereitet. Nicht nur die staatskommuni- treten, eine „bessere Wiedervereinigung“ sei nicht vorstellbar stischen Parteien, wie die DKP, die in der DDR ih- und/oder wünschenswert. Der Aspekt vom Kapitalismus, der ren natürlichen politischen Bezugsrahmen sahen, sich als Sieger der Geschichte präsentiert, und dessen Prota- wurden von den Ereignissen überrollt. Auch Auto- gonisten nun ungehemmt ihre wirtschaftliche Macht ausdeh- nen würden, wurde zwar nicht bestritten. (…) Skandalisiert nome, Friedensbewegte, Atomkraftgegner*innen, wurde aber, dass gerade kein dem Kapital entgegenstehen- Antifaschist*innen und viele andere befanden sich des soziales Interesse artikuliert wurde. Als klassenübergrei- in einer Art Schockstarre. fender Kitt wurde im Wesentlichen die Dynamik des speziell deutschen Nationalismus betrachtet. Das Wörtchen „wieder“ im herrschenden Diskurs von der „Wiedervereinigung“ be- zeichneten KritikerInnen als besonders warnenden Hinweis, Der Kommunistische Bund da es die Intention einer Wiederherstellung der zwischen 1871 und 1945 bestehenden Verhältnisse andeute.“ [1]

Der Kommunistische Bund (nachfolgend: Die Diskussion wurde im KB vor allem KB) war in der folgenden Diskussion innerhalb zwischen Knut Mellenthin (heute Autor bei der der westdeutschen Linken richtungsweisend, da Jungen Welt) als Vertreter der ersteren „klassen- aus seiner Spaltungsgeschichte die ersten soge- kämpferischen“ Position und Jürgen Elsässer nannten und selbsternannten „Antideutschen“ (heute Chefredakteur der AfD-nahen Compact, hervorkamen. Der Kommunistische Bund war regelmäßiger Redner bei Pegida, AfD etc.), Det- eine ehemals am Maoismus orientierte K-Grup- lef zum Winkel (heute Autor bei telepolis, Jungle pe, die zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs World) und Matthias Küntzel (heute Autor bei des Realsozialismus jedoch schon länger eine MENA-Watch, Achse des Guten etc) als Vertreter Entwicklung hin zur „undogmatischen Linken“ der letzteren, antinationalistischen Position ge- gemacht hatte. Der KB stand der Zeitschrift führt. Diese Position wurde ausgeführt in einem konkret, sowie der Zeitung ak (damals Arbeiter- von Jürgen Elsässer geschriebenen Text „Wes- kampf, heute analyse & kritik) nahe. Bernhard halb die Linke anti-deutsch sein muss“ (ak, Fe- Schmid, der damals Teil des KB war, beschreibt bruar 1990, veröffentlicht unter Pseudonym als die Positionen, die intern zur Annexion der DDR Jürgen Stuttgart), in dem die Selbstbezeichnung durch die BRD diskutiert worden sind, folgen- „antideutsch“ das erste Mal in diesem Kontext dermaßen: benutzt wurde.

„Die eine Position beklagte die Form, welche der Wie- Bei einer bundesweiten Diskussionstagung dervereinigungsprozess annimmt, als pure Einverleibung der des KB im Januar 1990 eskalierte die Diskussi- DDR durch die sich vergrößernde Bundesrepublik, anstatt eine neue Verfassung für den „gemeinsamen Staat“ aus- on und der KB spaltete sich. In der Mehrheits- zuarbeiten. Sie lehnte die gesellschaftspolitischen Ziele, die fraktion sammelten sich Vertreter*innen der ihm gegeben werden, ab. Ein Siegeszug der Konzerne wur- ersteren, klassenkämpferischen Position, wäh- de konstatiert, die nun die ehemalige DDR zu einem billigen rend sich in der Minderheitsfraktion die letztere, Arbeitskräftereservoir und Absatzmarkt machen und die antinationalistische Strömung wiederfand. In-

72 nerhalb dieser Diskussion warf Knut Mellenthin teil. Die zweite und letzte Großdemo der RL der Minderheitsfraktion vor, dass man mit ihrer fand am 3. November 1990 in Berlin statt. Die Position auch gleich auf die Bahamas auswan- Berliner Demonstration wurde unter dem Mot- dern könne, da sie offensichtlich jegliche Hoff- to „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ nung auf eine Veränderung der gesellschaft- – angelehnt an das Gedicht „Todesfuge“ von lichen Zustände im deutschsprachigen Raum Paul Celan – veranstaltet. Es nahmen nur noch aufgegeben hätten. Daran angelehnt benannte 8.000 Menschen teil. Genau einen Monat zu- die Minderheitenfraktion, die sich abspaltete vor, am neu geschaffenen „Tag der Deutschen und fortan Gruppe K hieß, ihr 1992 gegründetes, Einheit“, hatten vor allem autonome Gruppen in heute berühmt-berüchtigtes Zeitungsorgan Ba- Berlin zu einer Demo unter dem Motto „Halt’s hamas. [2] Maul, Deutschland. Es reicht“ im Rahmen der „Aktionstage für den Wiederzusammenbruch“ aufgerufen, an der etwa 15.000 bis 20.000 „Nie wieder Deutschland!“ Menschen teilnahmen. [4]

Als Reaktion auf die sich überschlagenden Ereignisse organisierte die Radikale Linke (RL) »Als Reaktion (...) organisierte [3] im Sinne der hier nachgezeichneten zwei- die Radikale Linke (RL)(...) am 12. Mai ten, antinationalistischen Position am 12. Mai 1990 eine Demonstration in Frankfurt am Main 1990 eine Demonstration (...) unter unter dem Motto „Nie wieder Deutschland!“ ge- dem Motto „Nie wieder Deutsch- gen die Annexion der DDR, den aufstrebenden Nationalismus und der Schreckensidee, es land!“ gegen die (...) Schreckensi- würde sich ein sogenanntes 4. Reich bilden; dee, es würde sich ein sogenanntes also der speziell deutsche Faschismus wieder 4. Reich bilden (...)« aufleben würde. Circa 15.000 bis 20.000 Men- schen aus den unterschiedlichsten Spektren der radikalen und liberalen Linken nahmen daran

73 Der II. Golfkrieg und der Waffenindustrie vorzugehen und – um das Unrecht gegenüber Israel und allen ermordeten die (anti-)deutsche Linke Jüd*innen Europas wieder auszumerzen – sich mindestens stärker am Krieg zu beteiligen, oder besser gleich die Bundeswehr in Israel zu sta- Doch noch vor dem 3. Oktober 1990 und tionieren. Darum hatte freilich kein*e einzige*r der offiziellen Wiedervereinigung wurde die oh- israelische*r Politiker*in gebeten. nehin schon verunsicherte deutsche Linke, die sich auf einer hilflosen Sinnsuche befand, von weiteren Ereignissen überrollt. Die Situation im Irak eskalierte. Am 3. August stand die irakische Das 4. Reich Armee im kleinen, aber erdölreichen Kuwait. Die kommt über Bagdad? US-Army sammelte daraufhin Truppen in der Region und drohte dem Irak mit militärischer In- tervention. Am 17. Januar begann das sechswö- „Krieg! Der Hitler von Bagdad überfällt chige Flächenbombardement des Irak durch die wehrloses Volk im Morgengrauen“ titelt die USA, 150.000 Zivilist*innen starben. Im März Bild am 3. August 1990. [5] Im Feuilleton 1991 revoltierten Kurd*innen und Schiit*innen wurde Hussein zum „Wüstenhitler“ und Wolf gegen die durch die militärische Niederlage ge- Biermann stellte in der Zeit im Artikel „Damit schwächte Regierung Saddam Husseins. Ent- wir uns richtig missverstehen: Ich bin für diesen gegen vorherige Zusagen von Seiten der USA Krieg“ die Fragen „Soll man einen Hitler machen schützten und unterstützten ihre westlichen lassen?“ und „Wollt ihr den totalen Frieden?“. Aliierten sie nicht. Bei der brutalen Niederschla- Auch 1941 seien in den USA schließlich gung des Aufstands durch den Irak starben er- auch nur amerikanische Faschist*innen und neut 150.000 Personen, vor allem Schiit*innen Kommunist*innen gegen die Beteiligung am und nordirakische Kurd*innen. Krieg gegen das faschistische Deutsche Reich gewesen. [6] Schnell war klar: Wer gegen einen Schon in den ersten Kriegstagen hatte der Krieg im Irak ist, will ein zweites Auschwitz. Irak SCUD-Raketen (produziert vom deutschen Thyssen Konzern) gegen Saudi-Arabien und Is- Dieser Diskurs fand ähnlich auch in der neu rael abgefeuert. Um eine mögliche arabische geborenen, antideutschen Linken statt. Dabei Einheit nicht zu gefährden, konzentrierte sich gab es auch strategische Überlegungen: Man der Irak mit seinen Drohungen danach vor allem handelte in in größtmöglicher Abgrenzung zur auf Israel und drohte an, die Raketen das näch- alten Friedensbewegung, die schon in den frü- ste Mal mit Giftgas zu bestücken. Mittlerweile ist hen 80er Jahren innerhalb der Linken immer wie- bekannt, dass der Irak nicht die technischen und der aufgrund deutschnationaler und verschwö- militärischen Möglichkeiten dazu gehabt hätte. rungstheoretischer Tendenzen angegriffen und Trotzdem verbrachten viele Israelis Tage und scharf kritisiert wurde. [7] Die Frage des linken Nächte mit Gasmasken in Schutzbunkern. So Antisemitismus und Antizionismus war daran wurde das Bild von „Auschwitz im Wüstensand“, mehr als anschlussfähig. Tatsächlich war diese das in Bezug auf Lybien 1989 etabliert wurde, re- Diskussion aber ebenso wenig neu, wie die Kri- aktiviert. Bei Demonstrationen gegen die deut- tik an der alten Friedensbewegung. Der KB di- schen Waffenlieferungen nutzte die israelische stanzierte sich beispielsweise schon 1988 vom Bevölkerung zurecht historische Bilder und Ver- „Aktionsbündnis Palästina“ und verabschiedete gleiche mit dem Holocaust, vor allem hinsicht- sich in seinem Buch „Ein unvermeidlicher Streit. lich der Waffenlieferungen deutscher Konzerne. Deutsche Linke zwischen Israel und Palästina“ Sogleich gab es Forderungen auf parteipoli- von einer marxistischen Imperialismusanalyse. tischer Ebene im ja wieder-gut-werden-wollenden Auch im autonomen Spektrum wurde diese Kri- Deutschland, gegen die „schwarzen Schafe in tik an der Palästinasolidarität und am Antizio-

74 nismus mehrfach vorgebracht. So findet man sation“. Laut der Analyse stand der Islam (und zum Beispiel in der Interim der späten 80er Jahre damit auch alle Muslim*a) an sich dem entge- immer wieder Texte, die die damals von weiten gen und war damit quasi faschistisch. Daraus Teilen der Linken getragene Palästinasolidariät entstand das Konstrukt des „Islamfaschismus“. in Frage stellten und den Vorwurf erhoben, dass der Antizionismus per se eine linke Ausformung des Antisemitismus sei. Spaltung und Scheitern Mit der Diskussion um den neuen „Wü- stenhitler“ Hussein und den speziell linken und Im Frühsommer 1991, kurz nach dem Ende speziell islamischen „eliminatorischen Antise- des Krieges im Irak, kam es auch in der ehema- mitismus“ wurde innerhalb der radikalen Linken ligen KB-Minderheit Gruppe K zum erneuten eine neue Faschismustheorie eröffnet: Die Ana- Bruch während der Rückbetrachtung des Irak- lyse des Faschismus entsprang nun nicht mehr kriegs. Das gleiche Schicksal ereilte auch das der Frage nach der Krise des Kapitalismus, der Bündnis „Radikale Linke“, das seit dem Ende Bündnistheorie oder der Agententheorie, son- des II. Golfkrieges faktisch aufgehört hatte zu dern den Fragen des „Antimodernismus“ und arbeiten. der vermeintlich bedrohten „westlichen Zivili- 1995 zersplitterte die Gruppe K dann voll- ends. Es gab einen Berliner Splitter, der sich auf die Veröffentlichung der Bahamas konzentrieren »Die Analyse des Faschismus ent- wollte. In ihrer Auflösungserklärung analysierten sie, dass „derzeit eine andere kommunistische sprang nun nicht mehr der Frage Politik, als die der inhaltlichen Intervention nicht nach der Krise des Kapitalismus (...), möglich und sinnvoll erscheint“. Einer von ins- sondern den Fragen (...) der ver- gesamt zwei Hamburger Splittern gründete sich als „gruppe demontage“ neu und wand- meintlich bedrohten ,westlichen te sich einem autonomen, antinationalen und Zivilisation‘« kritischen internationalistischen Spektrum zu.

75 In den Jahren zwischen 1991 und 1994 bei Gruppen wie der Autonomen Antifa Nord-Ost schien es jedoch zunächst so, als hätten die (AANO) [9] 2003 bei Aussagen wie: „Karl Marx frühen Antideutschen recht behalten: Die Jah- hat sich im Fall der Vertreibung der Indianer in re der Asyldebatte, der Pogrome und der ras- Nordamerika positiv geäußert. Der Drang der sistischen Morde, für die die Namen der Orte weißen Siedler nach Westen war notwendig, um Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln die feudalen Strukturen aufzubrechen“ [10]. und Solingen immer noch sinnbildlich stehen, schienen ihre These der Faschisierung unter „Nie wieder Faschismus – Immer wieder spezifisch deutschen Merkmalen zu bestäti- Krieg!“ oder alternativ auch „Bomber Harris, gen. Doch spätestens als es staatliche Ambiti- do it again!“ hießen die neuen Losungen. Somit onen gab, den faschistischen Terror (vor allem schaffte man es, drei nicht unmittelbar logisch zugunsten des Wirtschaftsstandorts Deutsch- miteinander verknüpfbare Positionen als ver- land) zu begrenzen, gingen die Analysen nicht meintlich einzig wahren Dreiklang der „(anti)- mehr auf. Die staatsoffiziellen Diskussionen um deutschen“ radikalen Linken zu etablieren: Ge- ein mögliches NPD-Verbot, der Ruf nach dem gen Deutschland zu sein, heißt Israel und jeder „Aufstand der Anständigen“ und die Rationali- israelischen Regierung, mitsamt all ihren Hand- sierung der Migrationspolitik (als Ausgleich für lungen als Lehre aus der Geschichte die bedin- fehlende Arbeitskräfte, z.B. im IT-Bereich) ließen gungslose Solidarität zu versprechen und somit die Analysen und Vorhersagen der „Antideut- (angeschlossen an die rechten Sicherheitsdis- schen“ der frühen 90er Jahre ins Leere laufen. kurse nach 9/11 und der 1. und 2. Intifada) vor allem gegen Muslime, den Islam und (vermeint- lich oder tatsächlich) palästinasolidarische Or- ganisationen und Personen zu verteidigen. Da- Nie wieder Faschismus! runter fallen für heutige „Antideutsche“ viele: Immer wieder Krieg! von der klassischen Friedensbewegung über antiimperialistische und/oder revolutionäre Gruppen, bürgerliche NGOs, die Süddeutsche Zei- Der Ruf nach militärischer Intervention, tung bis hin zur UNO. den man während des Krieges im Irak im „an- tideutschen“ Milieu das erste Mal hörte, blieb dieser Strömung erhalten. Spätestens seit dem 11. September 2001, also seit den Anschlägen auf das World Trade Center, gab es eine weitere Radikalisierung des bellizistischen Diskurses in- nerhalb der „antideutschen“ Szene. In den 00er Jahren galt die Forderung nach einem atomaren Erstschlag auf den Iran in manchen Teilen der radikalen Linken plötzlich als progressiv, oder gar antifaschistisch. Der muslimische Mann an sich wurde zum Hauptfeind erklärt und mit ras- sistischen Markierungen überhäuft: unzivilisiert, sexististisch, brutal und antisemitisch. In den Analysen der „Antideutschen“ kämpften immer die gleichen westlichen Alliierten (USA, Groß- Britannien, Frankreich) gegen die immer glei- chen Faschist*innen (bzw. Islamfaschist*innen) – für die befreite Gesellschaft der dezidiert westlichen Zivilisation. Diese rassistische und euro-chauvinistische Vorstellung äußerte sich

76 Zwischenfazit: 30 Jahre „Abbruch- »Der muslimische Mann an sich unternehmen der Linken“ wurde zum Hauptfeind erklärt und mit rassistischen Markierungen überhäuft: unzivilisiert, sexisti- Das selbsternannte „Abbruchunternehmen stisch, brutal und antisemitisch der Linken“ hatte Erfolg. Denn auch über den Wirkungskreis kleiner, sektenartiger Zirkel, wie (...)« der Bahamas hinaus konnten bellizistische und antimuslimisch-rassistische Positionen in die Breite der heutigen radikalen Linke einfließen. Vor allem in einer Szene von autonomen Anti- der Staatsräson Israels nicht sehr weit von dem fa-Gruppen sind bestimmte Positionen (je nach durchschnittlichen Regierungsprogramm der Region) hegemonial, ohne dass die Gruppen so CDU entfernt, was die Selbstbezeichnung „an- isoliert wären, wie die äußersten Rechtsaus- tideutsch“ endgültig ad absurdum führt. Doch leger der „Antideutschen“. Vereinigungen, wie es gibt auch praktische und personelle Über- das bundesweite „drift-Bündnis“ und die Mo- schneidungen, denn die „Antideutschen“ haben bilisierungen gegen den (ohne Zweifel reakti- schon lange den Marsch durch die Institutionen onären) Al-Quds-Tag in Berlin, sind dafür gute begonnen. In Beratungsstellen, Stiftungen und Beispiele. Redaktionen (vor allem der Springer-Medien, siehe Martin Niewendick/Roni87) sind sie gut Es ist jedoch schon lange keine Auseinan- vertreten. dersetzung innerhalb einer Szene oder einer Bewegung mehr: Personen, die von der latent Der Beschluss des Bundestages, die BDS- bis offen antideutschen und pro-zionistischen Kampagne als antisemitisch zu verurteilen, ge- Stimmung der deutschen radikalen Linken ab- gen den sich vor allem israelische und jüdische weichen, werden immer wieder attackiert und Wissenschaftler*innen ausgesprochen haben werden (sowohl rhetorisch als auch durch die [13], aber auch die Kampagne für eine Auswei- Aktionen, mit denen gegen sie vorgegangen sung Rasmea Odehs im Frühjähr 2019 zeigen, wird) mit Faschist*innen gleichgesetzt. Die- wie stark und wie repressiv die Vernetzung die- se Personen verlieren ihre Lohnarbeit (wie die ser Institutionen zu einer Diskursverschiebung Journalistin Eleonora Roldán Mendívil [11]) und rund um den Antisemitismusbegriff und den werden mithilfe bürgerlicher Medien geoutet. Nah-Ost-Konflikt wirkt. Auch kann eine proaktive Zusammenarbeit mit dem Staatsschutz nachgewiesen werden, wie „Ich kämpfte mit der Polizei gegen Blockupy beispielsweise kürzlich in Magdeburg, als hal- in Frankfurt. Verprügelte die Gutbürger von lensische Linke eine Veranstaltung mit Stephan Stuttgart 21. Da braucht man gar nicht drüber Grigat (der in der Zwischenzeit zum Dozent an reden, wenn die Massen sich erheben, schmeiß’ der Bundeswehr Universität ernannt wurde) ich aus dem Flugzeug eine Brandbombe auf in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit der Dresden”, heißt es in dem Song „Anti Alles Polizei durchführten. [12] Aktion“ der Ikonen des antideutschen HipHops, der Antilopen Gang. Diese Nähe zum Staat und seinen Repressi- onsorganen kann aber kaum mehr überraschen, Auf welcher Seite sie stehen, haben die denn programmatisch sind die „Antideutschen“ „Antideutschen“ also schon lange zugegeben. mit ihren Rufen nach Militärinterventionen und 77 Quellen & Anmerkungen

Viele der Problematiken rund um die „antideutsche“ in: Hanloser, Gerhard [Hrsg.]: Sie warn die Anti-deuts- Ideologie konnten in diesem Text nicht hinreichend chesten der deutschen Linken, 2004, S.39 dargestellt werden. Für mehr Informationen empfehlen wir „Sie warn die Anti-deutschesten der deutschen [7] ebd. , S. 21 Linken“, 2004 Gerard Hanloser (Hg.), »Antifa heißt Luftangriff!«: Regression einer revolutionären Bewegung, [8] In Bezug auf den IS oder das türkische Regime be- 2014 Susann Witt-Stahl, Michael Sommer (Hg.) und den nutzen auch beispielsweise kurdische und kurdistansoli- Reader „Good bye, Lenin! Vom “Abbruchunternehmen der darische Gruppen den Begriff „islamischer Faschismus“, Linken“ von der Marxistischen Aktion Tübingen. allerdings aus einem gänzlich anderem politischen und hi- storischen, nicht eurochauvinistischen oder rassistischen [1] Schmid, Bernhard: Deutschlandreise auf die Baha- Kontext heraus. mas, in: Hanloser, Gerhard [Hrsg.]: Sie warn die Anti- deutschesten der deutschen Linken, 2004, S.26 [9] An dieser Stelle ist es uns wichtig zu erwähnen: Die AANO war keine Vorläuferorganisation der NEA oder ihrer [2] ebd. Vorläuferorganisationen.

[3] Die RL war eine vom KB dominierte Plattform, bei [10] jw-Leserin, 02.02.2003: Radikale Linke und der Krieg. dem auch fundamental-oppositionelle Grüne wie Jutta Eine Positionsbestimmung. Zugriff am 26.09.2019 unter Ditfurth, DKP-Mitglieder wie Georg Fülberth, kritische https://de.indymedia.org/2003/02/40279.shtml. Autonome und linke Intellektuelle sich vereinigten. Sie formierte sich als Bündnis zwischen diesen Kräften in den [11] Bax, Daniel, 18.01.2017: Peinliche Posse bei den Po- 80er Jahren. litologen, taz. Zugriff am 26.09.2019 unter https://taz.de/ Meinungsfreiheit-an-Berliner-Universitaet/!5372052/. [4] Autonome L.U.P.U.S. Gruppe R/M: Doitsch-Stunde. Originalfassung mit autonomen Untertiteln. ID Verlag. In: [12] Antifas Sachsen-Anhalt, 10.04.2019: Polizei – We- Ingrid Strobl, Klaus Viehmann und GenossInnen autono- der Freund noch Helfer? Nicht für die reaktionären aus me l.u.p.u.s.-Gruppe: Drei zu Eins. Edition ID-Archiv 1991 Halle! Kurzbericht aus Magdeburg. Zugriff am 26.09.2019 unter https://de.indymedia.org/node/31229. [5] Rude, Matthias: Nie wieder Faschismus - immer [13] Aufruf von 240 Jüdischen und Israelischen Wissen- wieder Krieg!, in: Sommer, Michael / Witt-Stahl, Susann schaftlern an die Bundesregierung zu BDS und Antisemi- (Hrsg.): »Antifa heißt Luftangriff!«: Regression einer re- tismus, 3.06.2019. Zugriff am 26.09.2019 unter https:// volutionären Bewegung, 2014, S.103 de.scribd.com/document/412474418/Aufruf-von-240- Judischen-und-Israelischen-Wissenschaftlern-an-die- [6] Schmid, Bernhard: Deutschlandreise auf die Bahmas Bundesregierung-zu-BDS-und-Antisemitismus.

78 Die deutsche Nation und das Pogrom Historische Kontinuitäten von Rostock bis heute von der Rassismus Tötet!-Kampagne (Erstveröffentlichung in ZAG – antirassistische Zeitschrift 62/2012)

An das wiedervereinigte Deutschland – wohl auch durch das jämmerliche Bild, das denken bedeutet: An das Pogrom in Rostock im Politik und Polizei bei der Rostocker Gewaltorgie August 1992 zu denken. An Rostock zu denken, boten – bedrohten rechte Gewalttäter_innen bedeutet: An Mannheim, Hoyerswerda, Solingen und deren Mitläufer_innen binnen sieben Ta- und etliche andere feige Anschläge auf das gen in mindestens 40 Fällen Ausländer_innen- Leben nicht-deutscher Menschen zu denken. Wohnheime mit Brandsätzen und Steinen und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei Da das Pogrom von Rostock von vielen – eine flächenbrandartige Gewaltorgie. [2] Politiker_innen als Argument für die faktische Abschaffung des Asylrechts inszeniert [1] Im November 1992 folgte ein Brandan- und instrumentalisiert wurde, nimmt es in schlag auf zwei von türkischen Familien be- der historischen Betrachtung eine exponierte wohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Stellung ein. Zu keinem anderen Zeitpunkt Kleinstadt Mölln. Zwei Kinder und ihre Groß- der gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte mutter starben, neun Menschen wurden teil- arbeiteten Volksmob, Neonazis, die Regierung, weise schwer verletzt. Durch die hohe Kon- die Exekutive in Form der Behörden und der zentration der Gewalt in diesem Zeitabschnitt Polizei, die Judikative und die »vierte Gewalt können wir gut und gerne von einem einzigen, im Staat«, die Medien, so konform Hand in mehrere Jahre andauernden Pogrom sprechen Hand. Zu keinem anderen Zeitpunkt entfaltete (vgl. Pogromdefinition in der Langversion auf das Bündnis zwischen Elite und Mob einen zag-berlin.de). derartigen Wirkungsgrad, so dass eine Änderung des Grundgesetzes möglich wurde. Das Pogrom gibt es schon seit der Antike und es erfuhr in der christlichen, mittelalter- Rostock ist das Ergebnis politischer lichen Gesellschaft eine regelrechte Ritualisie- Weichenstellungen und zugleich der Gipfel einer rung. Im 20. Jahrhundert mündete die Dynamik, nationalistischen Dynamik. Diese Dynamik die mit Pogromen begann, in Konzentrationsla- ermöglichte eine Welle rassistischer Gewalt gern. Spätestens seitdem sollte die Wiederho- und gezielter Anschläge auf Wohnunterkünfte lung von Pogromen endgültig aus den Hand- nicht deutscher Menschen, die Rostock sowohl lungsoptionen einer modernen Zivilgesellschaft repräsentiert als auch verstärkt hat. Die Zahl verschwunden sein. Wie ist es möglich, dass der rassistischen Angriffe erfuhr nach Rostock keine drei Generationen nach der Barbarei des bundesweit Anfang bis Mitte September 1992 Nationalsozialismus die Deutschen in alte Ver- eine besonders hohe Konzentration: In einer haltensmuster vom »Ausmerzen« verfallen? Woche wurden mindestens 48 Übergriffe auf Die folgenden Ausführungen sind der Versuch, Migrant_innen und ihre Unterkünfte gezählt, die vorhergehende Frage genauer zu beant- davon fanden 15 im Westen statt. Ermutigt worten und die Hypothese zu belegen, dass das

79 Pogrom ein zentrales Element der deutschen geplündert und zerstört, Synagogen in Brand Geschichte ist. Bei näherer Betrachtung der gesteckt und jüdische Menschen unter deutschen Geschichte stößt man auf erschre- dem Kampfruf: „Nun auf zur Rache! Unser ckende Kontinuitäten. Das Pogrom ist demnach Kampfgeschrei sei Hepp, Hepp, Hepp! Allen nicht nur eine urchristliche Tradition, die von der Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder entstehenden deutschen Nation übernommen sterben!“misshandelt. worden ist, es scheint sogar so, als habe das Pogrom als Katalysator für die Nationengrün- Viele Deutsche sahen im angestrebten dung gedient. deutschen Nationalstaat schon vor 1848 einen „Organismus“ und verbanden mit diesem biolo- gischen Sprachbild oft Kritik an „Volksschädlin- gen“ und unproduktiven „Schmarotzern“. Diese Die gescheiterte Verachtung bezog sich wie auf die „Wucherer“ deutsche Revolution im Mittelalter weiterhin vor allem auf Juden_ Jüdinnen. Die Mehrheit behandelte Jüdinnen und Juden als Menschen minderen Werts und 1817 riefen Studentenschaften während Rechts und fürchteten den Verlust ihrer eigenen des Wartburgfests, dem Auftakt der zum ständischen Privilegien. Scheitern verurteilten deutschen Revolution, mit dem Ruf „Wehe über die Juden!“ zur Dies wog schwerer als die Aussicht auf Verbrennung von Büchern jüdischer oder mehr demokratische Partizipation. Der bürger- semiphiler Schriftsteller_innen auf. Im August liche Demokratieprozess unterlag besonders im 1819 breitete sich mit den sogenannten »Hep- deutschsprachigen Raum ständigen Rückschlä- Hep-Unruhen« eine gewaltsame, rassistische gen und war nur mit staatlichen Verordnungen Krawallserie von deutschen Großstädten bis durchsetzbar, die zudem traditionelle Diskrimi- Kopenhagen und Amsterdam aus. Während nierungen beibehielten. [3] der Pogrome wurden Häuser und Geschäfte 80 Die Aufklärung als und Schuldenakten wurden dabei immer wie- der Vernichtungsdrohungen laut, sowohl von Vehikel antisemitischer Seiten aufständischer Bauern_Bäuerinnen wie antirevolutionärer Bürger_innen. Beide gaben Einstellungen den Juden_Jüdinnen für Not und Revolution die Schuld. Seit 1879 und verstärkt seit 1918 bil- deten sich in Deutschland und Österreich neue Ideologischen Rückenwind für die Trans- politische Parteien, deren Programme zur „Lö- formation des mittelalterlichen Antisemitis- sung der Judenfrage“ die Vertreibung, teilweise mus in den modernen Antisemitismus lieferten sogar Ausrottung der europäischen Juden for- die Aufklärer, die geistigen Gründungsväter der derten. Beide deutsche „Revolutionen“, 1848 europäischen Demokratie. Namhafte deutsche und 1989, und der Nationalsozialismus haben Staatsphilosophen wie Kant und Hegel frönten vor allem eins gemeinsam: Sie beziehen die gemeinsam mit dem Volk dem wahnhaften An- deutsche Identität aus der sozialen Exklusion tisemitismus. Der Berliner Schriftsteller Fried- der „Fremden“ und „Entarteten“, die durch ras- rich Buchholz bedauerte, dass man die Juden sistische Propaganda des Bürgertums und or- zu seiner Zeit nicht mehr hatte vertreiben kön- ganisierte Pogrome vollzogen wird. nen. Gleichwohl erörterte er, diese Möglichkeit öffentlich ausführlich. In Folge dieser rassi- stischen Hetze hielten die Vertreibungen weiter an. Dazu aktivierten gebildete Frühantisemiten gern »Volkes Stimme«.

„Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. […] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluss und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.“

Ernst Moritz Arndt, deutscher Schriftsteller und Abgeordneter der Frankfurter Nationalver- sammlung, dem ersten frei gewählten Parla- ment für die „deutschen“ Nachfolgestaaten.

Im Verlauf der Märzrevolution 1848/49 kam es besonders in süd- und ostdeutschen Regionen und etwa 80 Städten, darunter Berlin, Köln, Prag und Wien, zu schweren antijüdischen Exzessen. Neben Zerstörung von Kreditbriefen

81 Kontinuitäten so waren die Deutschen vom „herrlichen Keime“, deswegen „rein zu erhalten “vor in der Propagandarhetorik „remdartigen Bestandteilen“, die „giftig“ und „verderblich“, „schmutzig“ sind und „ihre Pest bringen“. „Für uns im Block sind Die Pogrome nach Wartburg und wäh- das auf Deutsch gesagt Dreckschweine. rend der sogenannten Märzrevolution und die Die scheißen und pissen um unseren Block, des Nationalsozialismus weisen frappierende die liegen in jeder Ecke und bumsen auf der Übereinstimmungen zu den Pogromen nach Wiese. Man kann hier nachts überhaupt der deutschen Wiedervereinigung auf. Soziale nicht mehr das Fenster aufmachen. Das Konfliktherde in Verbindung mit historischen stinkt hier an allen Ecken und Enden. (…) Umbrüchen begünstigen eine eliminatorische, Dagegen sind wir. Und dieser Zustand, der irrationale Wut gegen alles andere. Eine vom muss sich hier endlich mal ändern!“ so ein Bürgertum initiierte nationalistische Propagan- Lichtenhagener während des Pogroms in da schürt den Unmut auf den »unaufhörlichen Rostock am 21. August 1992 unter Applaus. Zufluss« durch Fremde, die „zu Deutschland „(…) Aber wie die sich hier bewegen, das hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer geht doch gegen jede deutsche Norm. Pest zu überschwemmen drohen“ und nutzen Da sind wir Deutschen ganz anders. Für ihn für ihre Machtinteressen. Drei Elemente der Sauberkeit, für Ehrlichkeit.“ Passend dazu oben zitierten Hetzschrift aus dem 19. Jahrhun- ein anderer „ordentlicher“ Bürger. Wieder dert zeigen starke Parallelen zur Propaganda erscheint die eigene Gesellschaft und der 1990iger auf (für den direkten Vergleich Kultur als geordnetes Lebensgefüge, jene wird die NS-Propaganda nicht einbezogen): der Migrant_innen wird unter Verwendung alter Stereotype als chaotisch beschrieben. 1) Bildsprache – Kollektivsymbole Extrem auffallend sind die Kontinuitäten in Auf höherer Ebene begegnen wir immer der Bildsprache: der Terminus der „verderb- wieder einer Form der Forderung nach lichen Überschwemmung“ und des „unauf- ethno-biologischer Reinhaltung der Deut- hörlichen Zuflusses„ durch ein „fremdes schen, die sich in den Diskussionen um die Volk“, das nach Deutschland „hinströme“, Erhöhung der Geburtenrate als Ersatz für findet seine Fortsetzung in der Polemik der die Einwanderung widerspiegelt. „Asylantenschwemme“. „Asylanten ver- stopfen alles“war zum Beispiel der diskri- „Wirtschaftsasylanten“: DIHT-Chef fordert minierende Wortlaut eines Titels aus dem mehr Kontrolle. Der Präsident des Deut- Spiegel im Jahr 1990. Auch auf plakativer schen Industrie- und Handelstages (DIHT), Ebene verstand es der Spiegel, Flüchtlinge Hans Peter Stihl, hat eine Begrenzung der als Gruppe zu homogenisieren und auf ent- Zahl von „Wirtschaftsasylanten“ gefordert. menschlichende Weise zu einer einzigen „Wir brauchen eine geregelte Zuwande- „Schwemme“zu stilisieren. Auch die Bou- rung, keinen unkontrollierten Strom von levard- und die Lokalpresse griffen diese Wirtschaftsasylanten“, sagte Stihl der Bild- Bildsprache auf und halfen ebenfalls, schon Zeitung. Bei „echten politischen Asylanten“ Jahre vor den Pogromen, durch die Gene- dürfe es allerdings „keine Begrenzung“ rierung alter „Volkskörper“-Denkmecha- geben. Der DIHT-Präsident appellierte an nismen ein rassistisches Klima zu schüren. alle Firmenchefs in Deutschland, mit aller Härte gegen Rechtsextreme in den Betrie- 2. Forderung nach biologischer Reinheit ben durchzugreifen. „In meiner Firma gilt: Die Biologisierung des Nationenbegriffs Wer am Arbeitsplatz verfassungsfeind- zog hygienische Betrachtungen des eige- liche Symbole zur Schau trägt oder aus- nen und des „fremden Volkes “mit sich; ländische Kollegen belästigt, fliegt sofort

82 raus.“ Unterdessen hat der sozialpolitische machen deutlich, dass eine Ergänzung des Sprecher der CSU-Bundestagsgruppe, Jo- Asylrechts dringend erforderlich ist, weil hannes Singhammer, von der Bundesre- die Bevölkerung durch den ungebremsten gierung eine „aktive Bevölkerungspolitik“ Zustrom von Asylanten überfordert wird.“ zur Hebung der Geburtenrate gefordert. Das Bedürfnis der Deutschen nach dich- Nur so könne der zunehmenden Überal- ten Außengrenzen scheint alt zu sein und terung der Gesellschaft begegnet und das dürfte seine Entsprechung im neuen „Asyl- für die Sozialsysteme bedeutsame Gleich- recht“ gefunden haben. Um das Asylrecht gewicht zwischen den Generationen wie- zum Abschottungsrecht transformieren zu derhergestellt werden, sagte Singhammer können, musste man das liberale, histo- am Dienstag in Berlin. Das Thema müsse risch einmalige und grundgesetzlich ver- im Bundestag ohne Tabus auf die politische ankerte Recht auf Asyl loswerden. Es war Tagesordnung gesetzt werden. Die Zahl der eine humanistische Errungenschaft, die bei Geburten muss nach Ansicht des CSU-Po- der Rückkehr zum Blut-und-Boden-Dünkel litikers in Deutschland langfristig wieder so im Weg stand. weit zunehmen, dass die Zahl der Sterbe- fälle ausgeglichen wird.“ (Tagesspiegel, 22. August 2000) »Eine demokratische Nation 3. Forderung nach dichten Grenzen Der Ruf nach der totalen Abschottung, wollten die Deutschen aus der Wie- dem „unwiderruflichen Gesetz“, das danach ge heben (...) Die Aufstände liefen trachtet, keinen „Vorwand “und keine auf rassistische Gewalt hinaus, die „Ausnahmen“ zuzulassen, wurde schon im 20. Jahrhundert laut. Ministerpräsident deutsche Revolution scheiterte. « Seite (CDU) ließ 1992 anlässlich der Pogrome in Rostock wieder „Volkes Stimme“ reden: „Die Vorfälle der vergangenen Tage

83 Wir sind das Volk?

Das große, deutsche „Wir“, die gemeinsame Identität funktioniert allem Anschein nach nur über die Abgrenzung gegen „die Anderen“. Die ersten Nationalbestrebungen entstanden unter der napoleonischen Besatzung 1792 bis 1815, also unter Fremdherrschaft. Die kulturell und im Dialekt sehr heterogene Bevölkerung fand sich im Kampf gegen die Besetzung in einer gemeinsamen antifranzösischen Definition von „deutsch“ oder „Freiheit“ wieder. Die nach dem napoleonischen Vorbild eingeführte Wehrpflicht ermöglichte der preußischen Armee den Sieg über die französischen Truppen in der entscheidenden Schlacht 1813 in Leipzig. 1848 war die Situation eine andere. Die Franzosen waren nicht mehr da. Eine demokratische Nation wollten die Deutschen aus der Wiege heben – durch eine Revolution nach französischem Vorbild. Die Aufstände liefen auf rassistische Gewalt hinaus, die deutsche Revolution scheiterte.

Sicherlich kann man hier nicht monokausal argumentieren, aber den komplexen Zusam- menhang durch Fragen näher beleuchten: kann man die antijüdischen Gewaltexzesse, die die sogenannte Revolution begleiteten, als „Nati- onwerdung nach innen“ (Dietrich Beyrau) be- zeichnen? Wo sind die Parallelen zur deutschen „Revolution“ 1989/90? Einige Parallelen sind nicht zu übersehen: Das Land stand bis zum Mauerfall ebenfalls unter Besetzung „fremder Herrschaft“ und war geteilt. Während die west- lichen Alliierten ihre Hegemonie eher „mode- rat“ über Marshall-Pläne ausübten, standen die Ostdeutschen unter dem klar fühlbaren Diktat der Sowjetunion. Eine Situation, die den Kondi- tionen im 19. Jahrhundert sehr ähnelt. Wieder verstärkt der Eindruck der Fremdherrschaft das Streben nach der deutschen Einheit, wirkt gera- dezu katalytisch auf nationale Sehnsüchte, die sich schließlich Bahn brechen. Auch die Betrach- tung der Art des überregionalen, zeitgleichen Verlaufs der Pogrome belegt die Analogie zwi- schen den Ereignissen 1848, 1938 und 1992.

84 Resümee Quellen & Anmerkungen Dieser Artikel ist eine stark gekürzte Version. Der vollständige Artikel ist unter http://www.trend. Bei drei deutschen Staatsgründungen be- infopartisan.net/trd0912/t180912.html. zu finden. ziehungsweise Gründungsversuchen waren extremer Nationalismus und rassistische Po- [1] Schmidt, Jochen: Politische Brandstiftung. Warum grome charakteristische Begleiterscheinungen: 1992 in Rostock das Asylbewerberheim in Flammen aufging. 2002. Edition Ost. Bei der gescheiterten Märzrevolution 1848, bei der Gründung des NS-Regimes und bei [2] Spiegel [Hrsg.], 07.09.1992: Eben mal abfackeln, in: der Wiedervereinigung. Somit nimmt das Po- Spiegel 37/1992. Zugriff am 26.09.2019 unter www. grom eine zentrale Stelle in der deutschen Ge- spiegel.de/spiegel/print/d-13690098.html. schichte ein und muss gesondert aufgearbeitet [3] Bein, Alex: Die Judenfrage, Band 2: Anmerkungen, werden. Das wird tunlichst vermieden, indem Exkurse, Register. Deutsche Verlagsanstalt 1980, S. 158. schon das Wort umgangen wird. Die Pogrome während der Märzrevolution sind euphemisie- [4] So geschehen in der medialen Aufarbeitung der rend und zynisch als „Hepp, Hepp-Unruhen“ Pogrome in Rostock, als der rassistische Mob mit den in die deutsche Geschichtsschreibung einge- Hafenstraße- oder Brokdorf- Aktivist_innen gleichgesetzt wurde. gangen. Zynisch, weil der Schlachtruf der ras- sistischen Deutschen, also die Perspektive der Täter_innen schon bei der Benennung dieses Ereignisses immer wieder reproduziert wird. Euphemistisch, weil das Wort „Unruhen“ bei weitem das Ausmaß der Gewalt nicht fassen kann und deswegen krass verharmlosend ist. Genau an diese Wahl des Wortfeldes schließt die Benennung der Pogrome in den 1990igern als „Randale« und Ausschreitungen“ an. Durch die Vermeidung des Wortes fehlt der Ansatz für jegliche Aufarbeitung der Pogrome als solche und sein Gehalt an rassistischen Idio- men. Stattdessen können solche kollektiven Gewaltausbrüche unter der Bezeichnung als „Randale“ unter andere Ereignisse, die als sol- che bezeichnet werden, verbucht werden. [4]

»Durch die Vermeidung des Wortes fehlt der Ansatz für jegli- che Aufarbeitung der Pogrome (...) Stattdessen können (...) Gewaltaus- brüche unter der Bezeichnung als „Randale“ unter andere Ereignisse, die als solche bezeichnet werden, verbucht werden.«

85 Die DDR und der Neue Faschismus (II) Neofaschisten und der tiefe Staat im: Aufbau Braun von Geronimo Marulanda (re:volt magazine)

Im vorangegangen Beitrag wurde darauf gerissen worden, folgte nun die zweite Welle hingewiesen, dass eine kritisch-solidarische Auf- der Repression. Aus den blühenden Landschaften arbeitung des Sozialismus in der DDR fehlt und entwickelten sich Binnen-Migrations-Gebiete deshalb Erklärungsansätze für den Rechtsruck in mit kollabierender sozialer, kultureller und öko- der Linken populär sind, die sich allzu oft mit bür- nomischer Infrastruktur. Gleichzeitig setzte eine gerlichen Positionen überschneiden. Doch fehlt Institutionalisierung des antikommunistischen nicht nur die solidarisch-kritische historische Diskurses ein - mit dem Ziel der nachhaltigen Aufarbeitung. Zu einem Verständnis der Virulenz Delegitimierung des sozialistischen Staats als des Rechtsradikalismus im Osten Deutschlands zweite deutsche Diktatur in direkter Kontinuität mangelt es auch an Verständnis für die Rolle des zum NS-Faschismus. [3] Damit waren auf drei westdeutschen Staates, seiner strategischen Ziel- Ebenen - personell-strukturell, ökonomisch und stellung als gesamtdeutscher Staat und seinem ideologisch - die Weichen auf eine umfassende Verhältnis zum parallel laufenden neofaschis- Delegitimierung gestellt. Einzig im politischen tischen Aufbau. Die Frage des Verhältnisses zwi- Raum hielt sich mit der SED-Nachfolgerpartei schen Abwicklung des Sozialismus, Entwicklung PDS ein gewisser Widerstand und Trotz als po- eines gesamtdeutschen Nationalismus, Wiederein- litischer Ausdruck gegen die, als aufoktroyiert stieg in die Weltpolitik als imperialistische Macht empfundene, westdeutsche Erzählung. Diese und faschistischem Aufbau soll nachfolgend The- Delegitimierung war Voraussetzung für zwei ma sein. Prozesse, die in den darauffolgenden Jahren forciert werden sollten:

Abwicklung der DDR und 1) Ein gesamtdeutsches, von Westdeutsch- land geprägtes, nationales Narrativ musste Nationale Wiedergeburt sich ausbilden, um die Legitimität der An- nexion zu zementieren. Zentral für diese Homogenisierung des Nationsverständ- Mit der Annexion der DDR 1989 begann nisses war die Einsortierung der DDR in die umfassende Demontage des sozialistischen die Verfehlungsgeschichte Deutschlands und Staates. Zunächst wurden sämtliche staatlichen eine gegen diese gestellte, vermeintlich Institutionen von Personen gesäubert, die als demokratische, bundesdeutsche Erzäh- überzeugte Kommunist*innen eingestuft wur- lung des besseren Deutschlands. Das Nar- den und de facto Berufsverbote eingeführt. [1] rativ setzte sich zusammen als vermeint- Die frei gewordenen Stellen besetzten zumeist liche historische Line einigender Momente, vorbildliche westdeutsche Demokrat*innen. [2] angefangen mit der Varusschlacht, über Danach setzte die Abwicklung der DDR-Wirt- die friedliche Revolution bis zum Fußball- schaft über die Treuhand ein. Waren bereits Sommermärchen in der Kampagne „Du bist zuvor Viele aufgrund ihrer politischen Überzeu- Deutschland“. [4] Dazu mussten unlieb- gungen aus ihren Berufs- und Lebensbiografien same Stimmen unsichtbar gemacht wer- 86 den. In der gesamtdeutschen Geschichts- sind. Hinterher ist es immer möglich, sie elegant schreibung zur so genannten friedlichen abzuservieren. Denn mit Hilfstruppen darf man Revolution, die alles war, nur keine Revolu- nicht zimperlich sein“. [9] tion, taucht zum Beispiel die oppositionelle DDR-Linke nicht auf. Zu ungemütlich und unvereinbar waren deren Positionen gegen eine Wiedervereinigung, für eine demokra- tischere DDR auf sozialistischem Funda- Der westdeutsche ment. [5] Faschismus und die Wende

2) Diese nun homogene, gesamtdeutsche nationale Erzählung schuf die Vorausset- Der deutsche Faschismus stellt weder hi- zung zur Wiederanknüpfung an großdeut- storisch noch aktuell eine Bewegung dar, die sche Ideen, den erneuten Anspruch auf vollkommen abseits des bürgerlichen Staates die Zentralmacht in Europa. Die DDR ver- existiert(e). Allein ideologisch richtet sich die hinderte aufgrund ihrer bloßen Existenz rechtsradikale Agenda nicht gegen den deut- als zweiter legitimer deutscher Staat das schen Staat an sich, sondern nur gegen seine der- Wiederauferstehen eines großdeutschen zeitige (parlamentarisch-demokratische) Form. Imperialismus und Nationalismus. Mit ih- Was die Neo-Faschist*innen stört und worin sich rer Annexion griffen die deutschen Eliten ihre Kritik erschöpft, ist, dass die BRD nicht gänz- die jahrelang trotz Hallstein-Doktrin [6] ver- lich so funktioniert, wie ihre Armee. Ergo ist es wehrte und sich nun bietende Gelegenheit für den*die durchschnittliche*n Neofaschist*in auf. Spätestens seit der Regierung Schrö- durchaus opportun, zur selben Zeit im Dienste der/Fischer 1998 befindet sich Deutsch- des Staats zu stehen, und diesen gleichzeitig land erneut auf Weltmachtkurs - nicht trotz, ideologisch anzugreifen. Der bürgerliche Staat sondern wegen der Verantwortung von und bürgerliche Parteien wiederum hatten vor Auschwitz (Joseph Fischer). Die vermeint- und auch nach der faschistischen Herrschaft ein lich geläuterte und mit neuem nationalen pragmatisches und immer auch widersprüch- Narrativ versehene Großmacht dominiert liches Verhältnis zu den nationalen Kräften nun nach über einem Jahrzehnt Merkel-Re- - insbesondere im Kontext des Kalten Kriegs. gierung den Staatenbund EU ökonomisch, wie politisch. [7]

Zur Verankerung dieser neuen, westdeut- schen ideologischen Erzählung, die auf die Zer- »Der bürgerliche Staat und störung der DDR-Geschichtsschreibung als bürgerliche Parteien wiederum alternative Erzählung zielt [8], bedurfte es der Mobilisierung eines gesamtdeutschen Nationa- hatten vor und auch nach der fa- lismus. Die Kohl-Regierung und mit ihr der ge- schistischen Herrschaft ein prag- samte bürgerliche westdeutsche Parteienblock matisches und immer auch wider- nahmen spätestens im Rahmen der Asylrechts- debatte, ganz nach der Devise des ehemaligen sprüchliches Verhältnis zu den CSU-Vorsitzenden Franz-Josef-Strauss, die He- ,nationalen Kräften‘ (...)« rausbildung einer starken neo-faschistischen Szene in Kauf. Strauss bestimmte das Verhält- nis seiner Partei zu den Neo-Faschist*innen der NPD in einem Spiegel- Interview 1970 folgen- Nach 1945 ließ beispielsweise der US- dermaßen: „Man muß sich der nationalen Kräf- amerikanische Geheimdienst CIA mit Kenntnis te bedienen, auch wenn sie noch so reaktionär Konrad Adenauers den hochrangigen Ex-Nazi-

87 General Reinhard Gehlen den Vorläufer des radikale Rechte in bürgerlichem Gewand in den Bundesnachrichtendiensts (BND) aufbauen. Apparaten wieder [14]. Dieser organisierte bevorzugt mit alten Nazi- Kontakten im Petto in den darauffolgenden Wenig bekannt ist dahingegen, dass bereits Jahrzehnten eine stay behind-Armee mit dem in den 1980er Jahren viele aufkommende neo- Namen Gladio [10], die sich überwiegend faschistische Gruppen und Parteien Arbeits- aus deutschen Neo-Faschisten rekrutierte. pläne für Ostdeutschland entwickelten. Ende Solange die Rechtsradikalen in taktischer der 1970er mobilisierte und organisierte sich Übereinstimmung mit reaktionären politischen eine neue Generation von Neo-Faschist*innen Interessen im Staatsapparat und den Eliten abseits der traditionellen Rechten (bis dahin standen, ließ man sie gewähren, verdunkelte vorrangig repräsentiert von der NPD) in der und vertuschte ihre Taten. Wenn sie über Bundesrepublik. Zentrale Kader der neofaschis- die Stränge schlugen, überzog man sie mit tischen Bewegung in den 1980ern und 1990ern Organisationsverboten und zerschlug einige organisierten sich zuvor in der vom US-Neo-Nazi Strukturen, ließ andere dafür unversehrt Gary Lauck 1972 gegründeten Nazi-Internatio- oder tolerierte bloße Umbenennungen. nale NSDAP-AO. Dieser Organisation entspran- An diesem Verhältnis der grundsätzlichen gen so bedeutende Kader der 1980er/1990er- Staatsnähe und der taktischen Kollaboration Rechten, wie der Österreicher Gottfried Küssel, bei Interessensüberschneidung hat sich neben Michael Kühnen, Christian Worch, Arnulf bis heute wenig geändert, wie wir seit dem Priem, Christian Malcoci und Michael Swierczek. Scheitern des NPD-Verbots 2001-2003 [11], Die politische Agenda des westdeutschen Neo- sowie der Selbstenttarnung des NSU [12] Faschismus lässt sich auf einen aggressiven wissen - und derzeit anhand des Mordfalls Antikommunismus, revanchistische Träume von Lübcke (CDU) erneut erleben [13]. Die Mehrheit der Wiederauferstehung des großdeutschen der neo-faschistischen Strukturen ist von V- Reichs, Militarismus und eliminatorische Frem- Leuten durchsetzt; gleichzeitig finden sich viele denfeindlichkeit beziehungsweise Antisemi- 88 tismus zusammenfassen. Die entsprechenden Publikationen der 1980er Jahre quellen dem- entsprechend über vor solchen Inhalten. Als besondere Schmach wird hier immer wieder die Besatzung durch die imperialistischen Mäch- te USA und Sowjetunion herausgehoben. Der Antisemitismus äußert sich via Holocaustleug- nung, offener Entmenschlichung in Karikaturen oder aber in einer vermeintlichen Kritik an isra- elischer Politik, die unverhohlen gegen Jüdinnen und Juden gerichtet ist. [15] Die Nationalistische Front

Die strasseristische [16] Nationalistische Front (NF) war eine teils aus der NPD- Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN), teils von FAP-Kadern gegründete NS- Kaderorganisation. Dieser Anspruch wurde gegen die rechten Wahlparteien (NPD/DVU) in Stellung gebracht, in Abgrenzung zu einem bewegungsnahen Konzept. In der von der NF herausgegebenen Zeitung Nachrichten aus der Szene (2/88) skizziert diese im Strategieartikel „Langsam aber gewaltig“ folgende, für die radikale Rechte neuen, Komponenten ihrer Organisierung: „Aber eine Wahlpartei ohne Kader erreicht das Ziel ebenso wenig, wie ein Heer ohne Kommandostruktur scheitern muß. Der Kader braucht die große Zahl von Multiplikatoren, die das politische Wollen in breiten Bevölkerungskreisen bekanntmachen (...) Dazu benötigen wir (...) effektive Verteilerstrukturen, straff organisierte und disziplinierte Basisgruppen, nationalistische Zentren, Kader (...) Nur der organisierte Wille bedeutet Macht!“ [17] Die NF entfaltete als eine der ersten westdeutschen neo-faschistischen Gruppen eine Art von Gegenmacht-Konzept mit hegemonietheoretischen Bezügen - damals noch ohne Rekurse auf den kommunistischen Theoretiker Antonio Gramsci. [18] Hinzu kommen dokumentierte Kontakte der Organisation und besonders ihres Führers Andreas Pohl zu ostdeutschen Hooligans und Skinheads zwischen 1983 und 1985 in Ostberlin. [19] 1987 schrieb Pohl selbst in einer 89 Kolumne der NF-nahen Klartext (5/2 Nr.17) von kalen Republikaner (REP) sammelte. Mit der Wi- seinen vergangenen Besuchen: „Schon seit Jah- king-Jugend (WJ) gab es schließlich sogar einen ren besteht zwischen SKINS und Fußballfans Kinder- und Jugendverband, der lange Zeit unter von Hertha BSC und Union Ost Berlin ein festes Einfluss der GdnF stand. Bündnis der Freundschaft, das sich leider, be- dingt durch die Mordmauer, nur in Besuchen Grundsätzlich wusste die GdnF geschickt unsererseits ausdrückt“ [20]. Die Kontakte lie- das im Zuge der Wende entstehende und An- fen also maßgeblich über Westberlin. Bespielt fang der 1990er Jahre offensichtlich werdende wurden dabei sowohl der BFC Dynamo, als staatliche Vakuum zu nutzen. Was in der DDR auch Union Ost-Berlin. Die Kontakte bestanden beispielsweise durch die FDJ geboten wurde, weiterhin, trotz DDR-Einreiseverbot für Pohl erfüllten nun zunehmend an die GdnF ange- ab 1985. Bedenkt man, dass die Entstehung lehnte Jugendgangs. Die Gruppierung erkannte einer rechtslastigen Skinhead- und Hooligan- auch als eine der ersten neo-faschistischen Or- kultur auf das Jahr 1982/83 datiert wird, fällt ganisationen das Potential der rechtsradikalen also die Organisierung dieser Subkultur in so ostdeutschen Skinhead- und Fußballszene [23] genannte Fascho-Gruppen [21] zusammen mit und ihres radikalen Kerns, der so genannten Fa- der Präsenz westdeutscher Nazi-Kader des NF. scho-Gruppen. Dieser erfolgreiche Jugendauf- bau der GdnF verlief in drei Etappen: (1) 1989 - 1991 organisierte die GdnF die rechtsradi- Die GdNF: Eine neue NSDAP kalen Führer der ostdeutschen Hooligan- und Skinheadszene in den städtischen Zentren. Hier ist zum Beispiel die aus der neofaschistischen Die bedeutsamere Organisierung war je- Hooligantruppe Lichtenberger Front entstan- doch die westdeutsche Gesinnungsgemein- dene Nationale Alternative (NA) als Bündnis- schaft der Neuen Front (GdNF) und die ihr ange- partner zu nennen. Diese verfügte bereits über schlossenen Organisationen, unter anderem die ein besetztes Haus in der Berliner Weitlingstra- Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale ße 122 [24], das in den folgenden Jahren zum Aktivisten (ANS/NA, verboten 1983), später die Ausgangspunkt von Organisierung und mili- Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP, ver- tanter Aktion werden sollte. (2) boten 1995). Die Kadergruppe um den Führer Michael Kühnen bestand unter anderem aus dem bis heute aktiven Neofaschisten Christian Worch (heute: die Rechte), dem österreichischen »Der Übergang (...) von einer sehr Neo-Faschisten Gottfried Küssel und dem ost- (...) unorganisierten rechtslastigen deutschen neuheidnischen Rocker Arnulf Priem. Diese Führungsgruppe, die sich explizit auf Adolf Skinhead- und Hooligan-Subkultur Hitler und die NSDAP bezog, gab im Zuge der zu einer konspirativen, strategisch Wende einen „Aufbauplan Ost“ heraus, der über arbeitenden Struktur (...) war (....) mehrere Etappen realisiert wurde. Die Organisa- tion und ihre Vorfeldstrukturen war nachweis- angeleitet (...) durch westdeutsche lich ab 1989, bereits zur Zeit der Montagsde- neo-faschistische Kader« monstrationen, im Gebiet der ehemaligen DDR (Mitteldeutschland im Nazi-Sprech) aktiv [22]. Mit der Deutschen Alternative (DA) verfügte man als weitere Vorfeldstruktur über einen Arm im Osten, der als eine Art Umbrella-Organisa- tion auch Mitglieder und Sympathisant*innen von NPD (im Osten 1990: Mitteldeutsche Na- tionaldemokraten - MND) und der rechtsradi- 90 91 Die Ausbildung von braunen Ringen um Funktionär*innen kamen, weshalb sie schär- die Großstädte, den Aufbau von Strukturen ferer Repression zumeist entgingen. Das Pro- gezielt in ostdeutschen Kleinstädten, zum blem wurde offiziell lange Zeit entpolitisiert Beispiel über rechtsradikale Subkultur-Läden. und geleugnet. Hier liegt eines der großen Schwerpunktregionen waren das Umland Versäumnisse und tatsächliches Versagen des von Berlin (Königs-Wusterhausen, Potsdam, DDR-Staats-Antifaschismus offen zu Tage. [26] Oranienburg), Cottbus (Guben, Hoyerswerda), So war das Entstehen des Bodens, auf dem die Chemnitz, Erfurt (Weimar, Arnstadt) und Halle/ braune Saat Mitte der 1980er Jahre gedeihen Leipzig (3) Ab 1991 das verschärfte öffentliche sollte, verschiedenen Faktoren geschuldet: Agieren, darunter massenweise gewalttätige Übergriffe und Aufmärsche bis hin zu den (1) Der harschen Repression der DDR-Füh- Pogromen in Hoyerswerda (1991) und Rostock- rung gegen die entstehenden Jugendsubkul- Lichtenhagen (1992). turen und Kultur im Allgemeinen, was nicht wenige Jugendliche gegen den Staat auf- brachte, antikommunistisch ausrichtete und An einem Strang im Aufbau empfänglich für neofaschistisches Gedan- in ,MitteldeutschlanD‘ kengut machte. (2) Die in verschiedenen Teilen der DDR- Gesellschaft, genau wie in der BRD, Beide Gruppierungen organisierten bereits weiterlebenden Kontinuitäten des NS- vor 1989 die sich aus der Skinhead-Subkultur im Faschismus, zum Beispiel in der NDPD, in der Osten ausbildende neo-faschistische Subkultur. SED selbst, in Familienbiografien, wie auch (im Nun muss an dieser Stelle die Unterscheidung Vergleich zur BRD aber deutlich geringeren) getroffen werden, dass der Nährboden für die Kontinuitäten in den bewaffneten Organen. NF-Agitation und Organisierung aus der DDR- Gesellschaft selbst entsprang und diese zu- (3) Das Unterbleiben breiter Aufklärungs- sammenläuft mit einer Hegemoniekrise der kampagnen und öffentlicher Thematisierung SED über die Jugend und Jugendkultur. Genauso, dieses ab 1981 immer deutlicher werdenden wie sich Anfang der 1980er eben eine rechtsla- Problems durch die politischen Institutionen. stige Skinhead- und Hooligankultur ausbildete, Darauf aufbauend das Fehlen institutiona- entwickelte sich auch eine eher linke Punk- und lisierter Initiativen der Bevölkerung gegen Hippiebewegung. Beide Alternativbewegungen derartige Entwicklungen, als beispielhaft bekämpften sich vor der Wende und durch die ganz praktisch sichtbares Defizit sozialis- Wendejahre hindurch bis aufs Messer [25], tischer Demokratie in der DDR. fanden sich paradoxerweise aber zur selben Zeit auf den Montagsdemonstrationen wieder (4) Schließlich zeigte hier ein rein auf die Ver- (freilich nicht ohne Gewalt). Der Übergang aber bindung von Faschismus und Herrschaftsin- von einer sehr diffusen, unorganisierten rechts- teressen reduzierter, ökonomistischer Fa- lastigen Skinhead- und Hooligan-Subkultur zu schismusbegriff, so notwendig und wichtig einer konspirativen, strategisch arbeitenden er für eine revolutionäre Linke auch heute Struktur, eben den Fascho-Gruppen, war offen- noch sein muss, seine Grenzen auf, indem sichtlich angeleitet und/oder beeinflusst durch er blind wurde gegenüber ideologischen, wie westdeutsche neo-faschistische Kader des NF. auch sozialpsychologischen (zum Beispiel bi- Diese Strukturen bildeten sich 1986 aus und ografischen) Voraussetzungen faschistischer begannen eine Infiltrationspolitik in NVA, FDJ Bewegungen. Diese verschwinden schließ- und VoPo-Einheiten. Diese wurde begünstigt lich nicht einfach mit dem Aufbau des So- durch die Tatsache, dass nicht wenige der jun- zialismus, sondern setzen sich vielmehr als gen Neo-Faschist*innen aus Familien von DDR- Widersprüche fort.

92 Die westdeutschen Faschist*innen er- sich vor allem an bestimmten ordnungs- und kannten diese Fehler, ebenso wie die west- migrationspolitischen, strategischen Zielen der deutschen Eliten, und nutzten die Schwäche westdeutschen Eliten festmachende Bezie- des sozialistischen Systems auf verschiedene hung vor allem in den 1990er Jahren. Während Weise. Während es den westdeutschen Eliten das nunmehr gesamtdeutsche Kapital über um eine Wiedervereinigung unter westlichem seine bürgerlichen Parteien den Asyldiskurs in Führungsanspruch ging, forderten die Neo-Na- geistiger Brandstiftung münden lässt, wird die zis um Kühnen gleich das alte Reichsgebiet und radikale Rechte in Pogromen und Gewalt aktiv. erweiterten folglich ihr Aktionsgebiet auf Mittel- Natürlich verlaufen die Wechselbeziehungen deutschland. Im Kern traf sich der westdeutsche von radikaler Rechter und wiedererstarktem Revanchismus beider politischer Tendenzen ob- deutschen Imperialismus widersprüchlich. Zu- jektiv, bei subjektiv unterschiedlicher Program- weilen agieren die liberaleren Teile des Staatsap- matik im Antikommunismus, bei dem Wunsch parats repressiv gegenüber rechten Aktivitäten. nach Rückkehr zur Weltmacht, nach dem Unter- Zuweilen wird aber auch aktiv weggeschaut, gang des 40 Jahre anhaltenden sozialistischen wenn Pogrome geschehen [27], Gewalttaten Blockierers. So wurden sämtliche radikal rechten werden verharmlost, Ermittlungen behindert. Parteien noch zur Zeit der Montagsdemonstra- So kommt es schon in den 1990er Jahren dazu, tionen aktiv und fordern einmütig mit den Plä- dass rechtsradikale Umtriebe von Teilen des Ap- nen der westdeutschen Eliten die Einheit. parats schlicht ignoriert werden, andererseits

Deckungsgleichheit Der Interessen

Unabhängig von der (subjektiven) Rolle verschiedener Teile des Staatsapparats bestand der (objektive) Nutzen der rechtsradikalen Aktivität für die westdeutschen Eliten in den Jahren zwischen 1986 und 1994 ganz klar in der folgenden Reihenfolge:

(1) der revanchistischen Forcierung des Un- tergangs der DDR, sowie der Etablierung antikommunistischer, nationalistischer Dis- kurse, dann

(2) im Aufbau eines gesamtdeutschen na- tionalen Narratives, plus chauvinistischem Nationalismus gegen das Zwei-Staaten- Narrativ der DDR als Voraussetzung für neue Verantwortung in der Welt und

(3) der Durchsetzung des Asylkompromisses und damit des ersten massiven Angriffs auf Grundrechte nach der so genannten Wende.

Deutlich wird diese seit Beginn taktische,

93 besonders radikale Strukturen mit Verboten und 1) Interessanterweise war insbesondere Repression überzogen werden. [28] Die durch- die NF mit V-Agenten durchsetzt. Bekannt aus anders gearteten Ziele der faschistischen ist der NF-Kader Norbert Schnelle, der auf Bewegung verschränkten und verschränken der Gehaltsliste des VS Nordrhein-Westfa- sich eben genau dort in den vergangenen 20 len stand und mit seinem Spitzellohn die NF Jahren, wo über die Verstärkung eines gesamt- mitfinanzierte. Ein weiterer aufgeflogener deutschen Nationalismus unter Inkaufnahme V-Mann im NF ist Bernd Schmitt, seinerzeit von Ausländer*innenfeindlichkeit, Gewalt und am Aufbau rechtsterroristischer Verbände Pogrom Schläge gegen die weiterwirkende ide- beteiligt, die den Mordanschlag von Solin- ologische und politische Kontinuität von 40 Jah- gen [30] verübten. Der niedersächsische VS ren Sozialismus gesetzt werden können. Dass wiederum setzte den rechtsradikalen Skin- in diesem Prozess Widersprüche in den Blöcken head Michael Wobbe (Deckname: Artland, auftraten und bis heute auftreten, die zuweilen später: Rehkopf) im NF ein, der dort die repressiv (staatlicherseits) oder terroristisch Rolle des Sicherheitschefs übernahm. Dieser (durch rechtsradikale Gruppen und Personen) fungierte als Reisekader ab 1992 dokumen- ausscheren, ist evident. Schließlich handelt es tiert schwerpunktmäßig in Ostdeutschland. sich bei faschistischen Bewegungen und dem Wobbe verriet sich selbst, indem er sich bürgerlichen Staat trotz ihrer gemeinsamen gegenüber dem BKA als V-Mann zu erken- Verschränkungen um keine monolithischen, nen gab. [31] Und nicht nur der VS war in nach einheitlichem Willen gelenkten Strukturen. der explizit klandestinen NF aktiv. Auch der Die Rolle des Staatsapparats und die Agenden Bundeswehr-Nachrichtendienst MAD plat- des herrschenden politischen Blocks verlau- zierte 1989 den Fallschirmjäger Michael P. fen keinesfalls eindimensional im Sinne eines Der Soldat lieferte militärisches Know How politischen Gesamt-Plans, der von allerlei In- und Material, wurde aber bereits 1990 ab- stitutionen exekutiert wird. Vielmehr ist nach gezogen und erhielt 2002 in den USA Asyl. der Selbstenttarnung des NSU-Komplexes ein [32] Schlussendlich ist der durch den NSU- Netzwerk von Staat und politischen Interes- Prozess bekannt gewordene Thomas Rich- sensgruppen klar zu verorten, welches in ver- ter (alias Corelli) zu nennen, der ebenfalls in schiedenen staatlichen und proto-staatlichen der NF aktiv war, bevor er nach Verbot der Organen eine rechtsoffene Agenda aktiviert und Organisation bei Blood & Honour eingesetzt fördert, die jeweils unterschiedlich stark in den wurde. jeweiligen Institutionen umgesetzt wird. [29] Wir fassen zusammen: Eine vom VS bis in die Führung infiltrierte, Aufbau: Braun mit vermeintlich klandestine Kaderorganisation unterhält seit 1983 dokumentiert Kontakt zu dem Verfassungsschutz Skinheadgruppen in der DDR. Zur gleichen Zeit bilden sich aus dieser Subkultur heraus erste klandestine, faschistische Gruppen, Durch die NSU-Prozesse ist inzwischen vermutlich mit angeleitet durch das NF. Die- noch unvollständiges Material zugänglich, das se neu aufgebauten Gruppen begleiten unter früher verschwörungstheoretisch anmutende anderem inhaltlich und gewalttätig die Mon- Annahmen inzwischen als aktenkundige Reali- tagsdemonstrationen 1989/90 und werden tät ausweist. So kann nach der Auswertung der nach der Annexion der DDR Ausgangspunkt Einsatzgebiete der wenigen im NSU-Prozess von insbesondere von der GdnF und der NF bekannt gewordenen Kader und bereits zuvor selbst bespielten militanten rechtsradikalen bekannt gewordener V-Männer folgendes fest- braunen Ringen um ostdeutsche Großstädte. gehalten werden: Diese wiederum begleiten Pogrome und bege- hen in den 1990ern nahezu täglich Übergriffe.

94 2) Der NSU-Prozess deckt nun weiteres - Thomas Richter (alias Corelli / Einsatzgebiet auf. So wurden im Zuge des Prozesses die Halle): Noch einmal Corelli. Nachdem dieser Namen weiterer V-Männer öffentlich, die V-Mann schon sein Intermezzo in der NF schwerpunktmäßig mit der militanten Basis hatte, wurde er nach Verbot der NF in das des NSU, dem Thüringer Heimatschutz (THS) B&H Netzwerk versetzt. Hier gab er mit VS- und folglich mit Blood & Honour/Combat 18 Finanzierung die Zeitung Nationaler Beobachter (nachfolgend: B&H/C18) verbunden waren heraus und betrieb verschiedene Webseiten. und die in den 1990er bis in die frühen Weiterhin baute er den Nationalen Widerstand 2000er Jahren eingesetzt wurden. B&H/ Halle (NWH) auf. Insgesamt soll er mehrere C18 wiederum war stets der subkulturelle hunderttausend Euro dafür erhalten haben. [33] Arm der NSDAP/AO und somit verbunden mit der GdnF. Unumstrittene Führungsfigur - Thomas Dienel (alias Küche / Einsatzgebiet von Blood & Honour/Combat 18 ist heute Erfurt): Inzwischen untergetauchter Gründer Thorsten Heise, ein ehemaliger Kader der und Führer der Deutsch-Nationalen Partei FAP (ergo GdnF). (DNP) in Thüringen, die mit der GdnF verbunden war. Auch Dienel war medial aktiv und gab die In den GdnF/NSU/C18-Komplex fallen dem- neonazistische Zeitung Mitteldeutsche Stimme nach folgende VS-Aktivitäten und Agenten, heraus. Diese sei laut Dienel komplett vom VS die anhand vierer exemplarischer Figuren für finanziert worden. [34] vier Schwerpunktregionen des braunen Auf- baus, plus einer Person mit überregionaler - Carsten Szczepanski (alias Piatto / Einsatz- Bedeutung vorgestellt werden: gebiet Berlin/Potsdam): Der aus Berlin stam- mende Szczepanski zog nach der Wende nach

95 Königs-Wusterhausen in Brandenburg. Seit turaufbau der GdnF und NF Ende der 1980er 1991 war er V-Mann und baute in den Folge- und Anfang der 1990er auf. jahren eine B&H/C18-nahe Szene auf. Er erhielt laut VS bis zu 50.000 Mark Prämien, mit denen Szczepanski einen an B&H/C18 angeschlos- senen Versandhandel und eine C18-Zeitung mit »Der VS rekrutiert in den dem Namen United Skins herausgab, sowie Kon- zerte, zum Beispiel in Chemnitz, finanzierte. Die 1990er Jahren (...) in den von Neo- Angabe der Höhe der VS-Zuwendungen ist laut Faschist*innen als Schwerpunkt- Anwältinnen der NSU-Opfer zu niedrig angege- zonen deklarierten Gebieten V- ben und unglaubwürdig. [35] Männer (...) Diese sind in aller Regel - Toni Stadler (alias Bartok /Einsatzgebiet Gu- keine kleinen Fische, sondern fe- ben/Cottbus): Stadler betreibt in Guben den rechtsradikalen Szene-Laden Top One und ist derführend (...) am Aufbau ganzer vernetzt mit dem Fanzine Volkswille. Weiterhin regionaler Szenen beteiligt.« ist er als ehemaliger Soldat der Bundeswehr in Reservistenkreisen vernetzt. Laut VS arbeitete Stadler lediglich zwischen 2000 und 2002 für den Dienst. Wahrscheinlicher ist, dass Stadler schon lange vorher Kontakte hatte. So gibt er selbst über die Kooperation mit dem VS an, er Fazit: Mögliche Antworten hätte den Rechtsrock-Handel „niemals in so großem Stil aufgezogen, wenn die Potsdamer mir nicht Straffreiheit zugesagt hätten“. [36] Das Problem des Neo-Faschismus in Ost- deutschland ist nicht von den Annexions- und - Stefan Lange (alias Pinocchio/ Einsatzgebiet den daran anschließenden neuen deutschen Berlin/bundesweit): Stefan Lange war einer der Großmachtplänen seit 1990 zu trennen, sondern ranghohen Führer des seit 2000 verbotenen geht mit diesen strategischen Zielsetzungen B&H/C18-Netzwerks. Laut VS, der zunächst einher. Hier laufen verschiedene Enden zusam- versucht hatte, die V-Mann Tätigkeit von Lan- men. Es bricht für eine ganze Bevölkerung die ge unter den Tisch fallen zu lassen, soll dieser biografische Lebenswelt und gewohnte Sozial- erst seit 2002 für den Dienst gearbeitet haben. struktur zusammen. Hinzu kommen Verarmung Journalist*innen bezweifeln dies und nehmen und der Kollaps ganzer Infrastrukturen in Ost- an, dass Lange ebenfalls in den 1990ern ange- deutschland. Der westdeutsche Neo-Faschis- worben wurde. [37] mus ergreift im Geleit des VS zu den Montags- demonstrationen seine Chance und greift dabei Wir fassen zusammen: auf ein bereits bestelltes Feld organisierter ost- Der VS rekrutiert in den 1990er Jahren im ge- deutscher neo-faschistischer Gruppen zurück. samten ostdeutschen Gebiet und insbesonde- Die radikale Rechte gewinnt in den Montagsde- re in den von Neo-Faschist*innen als Schwer- monstrationen durch massive Gewalt die Hege- punktzonen deklarierten Gebieten V-Männer. monie, die Annexion der DDR wird durchgeführt. Diese sind in aller Regel keine kleinen Fische, Anschließend wirbt der VS-Apparat, der ohnehin sondern federführend an Strukturentwicklung bereits in NF und GdnF aktiv ist, zentrale Per- oder sogar am Aufbau ganzer regionaler Szenen sonen in Schwerpunktregionen an und finan- beteiligt und bevorzugt in medialen beziehungs- ziert deren Publikationen und Szenetreffpunkte. weise institutionellen Schlüsselpositionen tätig Von diesen Schwerpunktregionen gehen der (Versandhandel, Medien, lokale Treffpunkte). Die NSU sowie andere Mord- und Totschlags-Ka- Tätigkeit dieser Personen baut auf dem Struk- meradschaftsgruppen aus. Weitere Punkte, die

96 97 hinzukommen, sind die Kolonisierung des wachsenen neofaschistischen Strukturen und Ostens durch Reichsbürger*innen, Prepper deren Ideologie verloren ist. Diese Gradwande- und NPD-nahe Strukturen und die desaströse rung zu schaffen, ist schwer. Ein Anfang wäre, akzeptierende Jugendarbeit, die für eine de damit aufzuhören, in puncto Debatte um den facto Übernahme von Jugendzentren durch Rechtsruck in das selbe Horn zu blasen, wie die neo-faschistische Kader sorgte. herrschenden Parteien. Hier kann Staatskritik und eine kritisch-solidarische Haltung zur DDR- Alles Zufälle? Mitnichten. Hier verdichtet Geschichte gegen das staatliche Narrativ zur sich das Interesse der reaktionärsten Teile so genannten Wende neue Handlungsmöglich- des westdeutschen Staatsapparats mit der keiten und Diskurse stärken, die der Etablierung neofaschistischen Bewegung. Das Mindeste, einer antifaschistischen, nicht-staatlichen Lin- was angesichts dieser offen zu Tage liegenden ken nutzen. Beteiligungen vermutet werden kann, ist, dass bis weit in das Innenministerium ein Netzwerk reicht, das in den 1990er und 2000er Jahren einen neofaschistischen Aufbau deckte, in dem »Statt den Rechtsruck als Re- offensichtlich ein politischer Nutzen gesehen sultat eines erfolgreichen, staat- wurde. Dieser bestand relativ deutlich darin, dass eine patriotische Jugend, beziehungsweise lich begleiteten Aufbaus zu begrei- eine rechte Hegemonie, in Ostdeutschland fen (...) wird auf die ostdeutsche die sozialistische Hegemonie ablöste und möglichst nachhaltig unschädlich machen Bevölkerung geschimpft.« sollte. Die Wahlerfolge der neofaschistischen AfD sind nun tatsächlich eine „Vollendung der Wende“ und zwar in der Hinsicht, dass nicht nur ganze Landstriche inzwischen braun kolonisiert sind und terrorisiert werden, sondern sich diese rechte Hegemonie inzwischen auch parlamentarisch niederschlägt und die SED/ PDS/LINKE nun auch dort ablöst.

Angesichts dieser Entwicklung erscheint es unklar, warum die antifaschistische Bewegung immer noch nichts aus dem NSU lernen möchte und von ostdeutschen Sozialcharakteren oder konservierten Volksgemeinschaften schwadro- niert (siehe Teil I des Artikels). Statt den Rechts- ruck als Resultat eines erfolgreichen, staatlich begleiteten Aufbaus zu begreifen und sich die Frage zu stellen, mit welchen Interessen dieser verbunden sein könnte - oder was von links ver- säumt wurde - wird auf die ostdeutsche Bevöl- kerung geschimpft. Hier liegen, wie diese Artikel versucht haben, aufzuzeigen, mehrere Denkfeh- ler vor. Ein Antifaschismus in Ostdeutschland darf nicht gegen die Bevölkerung, deren Biogra- fien und Leistungen argumentieren. Gleichzeitig darf nicht außer Acht gelassen werden, dass ein bestimmter Prozentsatz bereits an die ge-

98 Quellen & Anmerkungen

[1] Rote Hilfe ev. [Hrsg.]: Siegerjustiz – Verfolgung und Akt“ gegenüber der Bundesrepublik betrachtet werden Delegitimierung eines sozialistischen Versuchs seit 1990. müsse und reklamierte damit einen Alleinvertretungsan- Rote Hilfe Zeitung 42. Jg., 04/2016. spruch.

[2] Zum Beispiel Helmut Roewer, unter dessen Ägide der [7] Zur Vorgeschichte des Projekts EU im Rahmen Thüringer VS eine ganze Horde V-Männer um den NSU deutscher imperialistischer Europapolitik zum Beispiel bei ein ganzes Jahrzehnt finanzierte. Der V-Mann und Sexu- Wehr, Andreas, 19.11.2016: Geschichte und Wirklichkeit alstraftäter Tino Brandt gab gar an, dass der VS Thüringen der EU. Zugriff am 24.09.2019 unter https://www. einen Großteil des von ihm entwickelten rassistischen andreas-wehr.eu/geschichte-und-wirklichkeit-der- Spiels Pogromly (von: Monopoly) erstanden hat. Roewer eu.html. hatte außerdem Gelder für bis heute unbekannte Quellen veruntreut. [8] Die DDR-Geschichtsschreibung war der marxi- stischen Klassentheorie verpflichtet. Laut dem Histo- [3] Bundesstiftung Aufarbeitung [Hrsg]: Errichtungsge- rischen Materialismus ist Geschichte ein dialektisch ver- setz. Zugriff am 24.09.2019 unter https://www.bundes- laufender Prozess von Klassenkämpfen. Es gilt demnach stiftung-aufarbeitung.de/errichtungsgesetz-1081.html. zwischen herrschaftsförmiger, bürgerlicher Geschichts- schreibung und materialistischer Geschichtsschreibung [4] Archiv der Kampagnenhomepage. Zugriff zu unterscheiden. Der Versuch des Aufbaus eines neuen, am 24.09.2019 unter https://web.archive.org/ demokratischen und friedliebenden Deutschlands musste web/20071218071638/http://www.presseportal.de/ sich logischerweise gegen die imperialistische Tradition story.htx?nr=736253&firmaid=59579 Deutschlands wenden und neue Bezüge herstellen.

[5] Machwas, Nestor, 01.10.2018: Antifa, Vereinigte Lin- [9] Der Spiegel (12/1970) [Hrsg], 16.03.1970: Etwas ke und die innerlinke Opposition in der DDR. Ein Interview dagegenhalten. Zugriff am 24.09.2019 unter https:// mit Dietmar Wolf. Zugriff am 24.09.2019 unter https://re- www.spiegel.de/spiegel/print/d-45197600.html. voltmag.org/articles/antifa-vereinigte-linke-und-die-in- nerlinke-opposition-der-ddr/ [10] Pinkert, Reiko, 09.03.2009: Nato-Geheimar- meen – Terror im Namen der Demokratie. Zugriff am [6] Zwischen 1955 bis 1969 außenpolitische Doktrin der 24.09.2019 unter https://www.antifainfoblatt.de/artikel/ BRD. Sie besagte, dass die Aufnahme diplomatischer Be- nato-geheimarmeen-%E2%80%93%C2%A0terror-im-na- ziehungen zur DDR durch Drittstaaten als „unfreundlicher men-der-demokratie. 99 [11] Das Scheitern des ersten Anlaufs wurde mit einer [21] ebd. „fehlenden Staatsferne“ begründet, das heißt es war un- klar, inwieweit die NPD durch das Wirken des VS über- [22] ebd. haupt so arbeitet und auftritt, wie sie es tut. Die Judika- tive der BRD hat damit im Prinzip zugegeben, dass NPD [23] Michael Kühnen gab bereits zu ANS-Zeiten Weisung, und VS über V-Mann-Einsätze in großen Teilen ununter- sich verstärkt in den Stadien und Fanszenen zu betätigen. scheidbar geworden sind. Der Spiegel [Hrsg.], 31.10.1983: Weg zum Fan, in: Der Spiegel (44/1983). Zugriff am 24.09.2019 unter https:// [12] Neben den in diesem Artikel präsentierten Fakten www.spiegel.de/spiegel/print/d-14024296.html. log der VS im NSU-Prozess nachweislich, verdunkelte Informationen und verweigerte wiederholt die Auskunft. [24] Wolf, Dietmar, 14.02.2017: Das Neo-Nazi-Haus Ganze Akten wurden in der so genannten Aktion Konfetti Weitlingstraße 122 in Berlin-Lichtenberg. Zugriff am vernichtet. Ausführliche Dokumentation liefert Wolf Wet- 24.09.2019 unter https://www.antifa-nazis-ddr.de/berli- zel und NSU-Watch: https://www.nsu-watch.info / htt- ner-hausbesetzerinnen-geschichte-das-neo-nazi-haus- ps://wolfwetzel.wordpress.com/ weitlingstrasse-122-in-berlin-lichtenberg/.

[13] C18 und Thorsten Heise sind seit Jahren straffrei [25] Faschisten in der DDR und antifaschistischer Wider- unterwegs. Ihr Umfeld ist durchsetzt mit V-Männern und stand [Hrsg.], 14.02.2005: Der Naziüberfall auf die Zions- ununterscheidbar von den Diensten. Eine ausführliche Re- kirche. Zugriff am 24.09.2019 unter https://www.antifa- cherche zu B&H/C18 und dem Täterumfeld bieten EXIF- nazis-ddr.de/der-naziueberfall-auf-die-zionskirche/. Recherchegruppen: „Die Kernfrage muss deshalb lauten: Wieso hat der Verfassungsschutz ein Interesse daran, [26] Faschistische Gewalt wurde in den allermeisten Fäl- dass diese Organisation weiter existiert? Die Antwort da- len entpolitisiert und juristisch unter dem Begriff Rowdy- rauf kann nur lauten: Weil er – und andere Geheimdienste tum verfolgt. und evtl. auch Polizeibehörden – es (sic!) mit Spitzeln durchsetzt haben“. Exif-Recherche [Hrsg.], 16.07.2018: [27] Siehe das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Siob- «Combat 18» Reunion. Zugriff am 24.09.2019 unter htt- hán Cleary / Mark Saunders, Großbritanien 1993. The ps://exif-recherche.org/?p=4399. Truth lies in Rostock - Die Wahrheit liegt (lügt) in Rostock. Zugriff am 24.09.2019 unter https://www.youtube.com/ [14] Siehe Hans-Georg Maaßen, CDU-Politiker, der zwi- watch?v=5P21AfG6SPE. schen 2012 und 2018 die Verdunklung und Strafvereite- lung in puncto NSU organisierte. Er ist in seiner politischen [28] Sämtliche im Artikel genannten Organisationen Agenda vom völkischen Flügel der AfD ununterscheidbar. waren früher oder später von Repression betroffen. Die meisten konnten sich jedoch durch Umbenennungen und [15] Aus den 1980er Jahren legen verschiedene Publika- Umstrukturierungen immer wieder weiter betätigen. Ins- tionen Zeugnis darüber ab. Unter anderem: Klartext (JN/ besondere die Kader der GdnF sind bis heute aktiv. Das NF), Nachrichten aus der Szene (NF), Deutscher Beobach- Blood & Honour-Netzwerk besteht beispielsweise als ter (Nationale Offensive), Revolte (NF) und viele mehr. Combat 18 bis heute legal weiter.

[16] Der Strasserismus ist eine Strömung im deutschen [29] Hier wirkte das Netzwerk in der Polizei, dem Verfas- Neo-Faschismus, die sich auf so genannte nationalrevo- sungsschutz und der Sozialen Arbeit. Der Schaden, den die lutionäre Theorien der NSDAP-Mitglieder Otto und Georg so genannte akzeptierende Sozialarbeit als staatlich ge- Strasser beziehen. pushte Praxis in diesem Kontext anrichtete, ist dokumen- tiert in: Rother, Richard: Rechtsextremistische Tendenzen [17] Siehe Nationalistische Front (NF) [Hrsg.]: Langsam unter ostdeutschen Jugendlichen. 1994: „Die Jugendklubs aber gewaltig! - zur Taktik und Strategie der Nationalis- in Ostdeutschland wurden für rechte Jugendliche und tischen Front (NF), in: Nachrichten aus der Szene (2/88). Skinheads geöffnet (…). Zunächst hatte dies den Effekt, daß junge Leute mit linken oder pazifistischen Politikvor- [18] Die rechtsradikale Rezeption des italienischen Kom- stellungen (...) durch zum Teil brutale Gewalt verdrängt munisten wurde erstmals durch den neofaschistischen wurden. Später wurden sogar normale und unpolitische französischen Intellektuellen Alain de Benoist vorgenom- Jugendliche aus einzelnen Klubs (in Schwedt oder Wei- men. Sie ist in der heutigen Neuen Rechten hegemonial. mar etwa) ausgeschlossen, in denen dann rechtsextremi- stische Kameradschaften im engsten Kreise durchführen [19] Siehe Klartext (5/2 Nr.17). konnten“ (Rother, Richard 1994, S.21 ff.).

[20] Antifaschistisches Autorenkollektiv Berlin [Hrsg.]: [30] Der Spiegel [Hrsg.], 30.05.1994: „Das wäre eine Drahtzieher im braunen Netz: Der Wiederaufbau der NS- Bombe“, in: Der Spiegel (22/1994). Zugriff am 24.09.2019 DAP. Edition ID-Archiv 1992 unter https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13684942. html.

100 [31] Zugriff am 24.09.2019 unter https://www.der-rech- im NSU-Umfeld. Zugriff am 24.09.2019 unter https:// te-rand.de/wp-content/uploads/drr_150.pdf. www.nsu-watch.info/2013/04/mindestens-24-spitzel- im-nsu-umfeld/. [32] Schröder, Burkhard, 19.08.2000: Ehemaliger V-Mann des MAD in der Neonazi-Szene veröffentlicht Dokumente [35] Dossier über Carsten Szczepanski bei NSU-Watch des Geheimdienstes im Internet. Zugriff am 24.09.2019 [Hrsg.]. Zugriff am 24.09.2019 unter https://www.nsu- unter https://www.heise.de/tp/features/Ehemaliger-V- watch.info/tag/piatto-carsten-szczepanski/. Mann-des-MAD-in-der-Neonazi-Szene-veroeffentlicht- Dokumente-des-Geheimdienstes-im-3450615.html. [36] Dossier über Toni Stadler bei NSU-Watch BRB [Hrsg.], 01.07.2016. Zugriff am 24.09.2019 unter https:// [33] Dossier über Thomas Richter bei NSU-Watch [Hrsg.]. brandenburg.nsu-watch.info/dossier-toni-stadler/. Zugriff am 24.09.2019 unter https://www.nsu-watch. info/tag/thomas-richter-corelli/. [37] Dossier über Stefan Lange bei NSU-Watch [Hrsg.]. Zugriff am 24.09.2019 unter https://www.nsu-watch. [34] Förster, Andreas, 08.04.2013: Mindestens 24 Spitzel info/tag/stefan-lange-pinocchio/.

Expliziter Dank geht an Wolf Wetzel und die NSU-Watch-Aktivist*innen für ihre unermütliche Aufklärungs- arbeit und die Bereitstellung von Quellen. Der Artikel wurde vor den Enthüllungen um die Nordkreuz-Verbin- dungen und dem rechtsterroristischen Anschlag von Halle verfasst. Der Text ist dem Gedenken an alle Opfer neofaschistischer Gewalt und rechten Terrors gewidmet - Geronimo Marulanda, 17.10.2019.

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