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Die friesische Volksgruppe im Bundesland Schleswig-Holstein Steensen, Thomas

Veröffentlichungsversion / Published Version Zeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Steensen, T. (2003). Die friesische Volksgruppe im Bundesland Schleswig-Holstein. Europa Regional, 11.2003(1), 12-16. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-48132-3

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THOMAS STEENSEN

Einführung Ripen Der friesische Küstenraum Seit mehr als tausend Jahren leben Frie- DÄNEMARK sen in Schleswig-Holstein. Sie stam- Wiedau men aus dem alten friesischen Sied- Nord- lungsgebiet, das von Nordholland bis zur Weser reichte. Nordsee friesland Schleswig Die Grenzen ihres Siedlungsraumes haben sich im Laufe von einigen Jahr- (ehemaliges) friesisches Siedlungsgebiet r ide hunderten verändert und lassen sich heutiges friesisches Sprachgebiet Helgoland E aus naturräumlicher Sicht allein nur schwer festlegen (Abb. 1). Die Auffas- 025 50 75 100 km Maßstab 1:4000000 sung, sie beschränkten sich lediglich Wursten Hamburg auf die Marschen im nördlichen Schles- Ostfriesland

Jeverland Elbe s r wig-Holstein, ist nicht richtig. In einer e w Groningen u

Friesland a Butjadingen ersten Phase, im 8. Jahrhundert, besie- L Saterland deln sie von Süden kommend die Geest- Bremen inseln , und Föhr sowie NIEDERLANDE Helgoland. In einer zweiten Phase, um 1000 n. Chr., dringen sie in die Utlande Ijssel

(Außenland) vor, ein Marschen- und Amsterdam DEUTSCHLAND Sumpfgebiet mit zahlreichen Hoch- We ser mooren im heutigen nordfriesischen Lek Rhein Ems Wattenmeer, und besiedeln danach Waal Maas auch das östlich angrenzende Geest- IfL 2003 Karteninhalt: Th.Steensen randgebiet, z. B. , , Kartografie: P.Mund Risum, Lindholm, Niebüll. Der in Besitz genommene Küsten- Abb. 1: Der friesische Küstenraum streifen im Nordwesten des heutigen Quelle: Nordfriisk Instituut Bundeslandes Schleswig-Holstein wur- de zunächst als Klein-Friesland ( minor) und sodann als fend, wenn man feststellt, dass die Nord- Vor allem in den fruchtbaren Marsch- bezeichnet. friesen auf den Inseln und des gebieten prägte durch die Jahrhunder- Wegen des ansteigenden Meeres- Wattenmeeres, in der eingedeichten te die Landwirtschaft das Leben der spiegels und wahrscheinlich auch we- Marsch und den angrenzenden Rand- Nordfriesen. Für die Bewohner der gen zunehmender Häufigkeit von gebieten der Geest zwischen und Inseln Amrum, Föhr und Sylt sowie der Sturmfluten begannen die Nordfriesen Wiedau leben. Halligen war zeitweise die Seefahrt im 11. Jahrhundert mit der Eindeichung Bestimmendes Element der nord- beherrschend, im 17. und 18. Jahrhun- einzelner höher gelegener Marschflä- friesischen Geschichte ist das Meer. dert vor allem Walfang und Robben- chen. Zuvor hatte man sich durch Warf- Landgewinn durch Eindeichungen und schlag. Heute hat der seit dem 19. Jahr- ten, aufgeworfene Hügel aus Klei (Mee- Landverlust durch schwere Sturmflu- hundert aufkommende Fremdenver- resschlick), auf denen die Häuser er- ten, besonders die großen „Mandrän- kehr die Landwirtschaft als wichtigste richtet wurden, gegen Sturmfluten ge- ken“ von 1362 und 1634, waren ent- Erwerbsquelle in der strukturschwa- schützt. Der heutige Kreis Nordfries- scheidender für die Entwicklung Nord- chen, aber landschaftlich besonders land, zusammengelegt im Rahmen der frieslands als kriegerische Schlachten. reizvollen Region Nordfriesland ver- Gebietsreform von 1970 aus den Krei- Die Dramatik des Geschehens hat der drängt. Wie schon in früheren Jahrhun- sen Südtondern, Husum und , Husumer Dichter Theodor Storm in derten zahlreiche Nordfriesen auswan- kann nicht gleichgesetzt werden mit seiner 1888 entstandenen Novelle „Der derten, großenteils nach Amerika, so dem Siedlungsraum der Nordfriesen. Schimmelreiter“ eingefangen. Sie gilt verlassen auch heute vor allem junge, Eine eindeutige Abgrenzung ist nicht vielen als „Nationalepos“ der Nord- gut ausgebildete Menschen ihre Hei- möglich, aber es ist sicherlich zutref- friesen. mat. Andererseits richten sich viele

12 EUROPA REGIONAL 11(2003)1 Auswärtige ihren Zweit- oder Alters- der germanischen Sprachenfamilie ein. Das friesische Sprachgebiet in wohnsitz in Nordfriesland ein. Friesisch gliedert sich in drei Zweige: Nordfriesland Einen friesischen Nationalstaat hat • Westfriesisch ist in der Provinz es nie gegeben. Dieses unterscheidet Friesland der Niederlande verbrei- die Nordfriesen von den beiden ande- tet und zählt etwa 400 000 Sprecher. DÄNEMARK ren Minderheiten im deutsch-däni- • Ostfriesisch ist im eigentlichen schen Grenzland, den Dänen in Süd- Kernland ausgestorben, hat sich S und den Deutschen in Nordschleswig, aber außerhalb Ostfrieslands in der W Grenze des die sich jeweils auf den Nachbarstaat oldenburgischen Gemeinde Sater- Niebüll Kreises Nordfries- beziehen können und von dort auch land erhalten und ist für knapp B land K Unterstützung erhalten. In Deutsch- 2 000 Menschen die Muttersprache. F land sind die Nordfriesen in dieser Hin- • Nordfriesisch wird an der Nordwest- N A HF sicht mit den Sorben in der Lausitz küste des Bundeslandes Schleswig- Bredstedt vergleichbar, im europäischen Rahmen Holstein sowie auf der Insel Helgo- M zum Beispiel mit den Bretonen in Frank- land von weniger als 10 000 Men- S Niederdeutsch reich oder den Samen in Nordskandina- schen gesprochen. H seit dem 18. Jh. Niederdeutsch Husum vien. An der Zusammenarbeit der Min- Die Unterschiede zwischen dem West- nach der Sturmflut von 1634 derheiten und Volksgruppen auf euro- und dem Nordfriesischen sind so er- Niederdeutsch päischer Ebene beteiligen sich die Nord- heblich, dass man sie fast als zwei ver- seit dem 17. Jh. Historische Grenze friesen seit langem, insbesondere in der schiedene Sprachen betrachten muss. der friesischen Föderalistischen Union Europäischer Eine gegenseitige Verständigung auf Besiedlung Festlandsfriesisch 010 20 km Volksgruppen (FUEV) und dem Büro Friesisch ist nicht möglich, wenn man Wiedingharder W Maßstab 1:1200000 für weniger verbreitete Sprachen (Eu- sich nicht näher mit der Sprache des B Bökingharder ropean Bureau für Lesser Used Lan- jeweils anderen beschäftigt hat. K Karrharder Inselfriesisch N Nordergoesharder S Syltring guages, EBLUL). In Nordfriesland unterscheidet man, M Mittelgoesharder A-F Föhring-Amring S Südergoesharder H Helgoländisch Erst 1970 wurden mit der Bildung jeweils von Nord nach Süd, folgende (um 1980 ausgestorben) IfL 2003 HF Halligfriesisch Karteninhalt: Th.Steensen des Kreises Nordfriesland alle nord- Hauptdialekte (die sich teilweise Kartografie: P.Mund friesischen Gebiete – mit Ausnahme wiederum in verschiedene Unterdia- der zum Kreis gehörigen lekte aufgliedern) (Abb. 2): Abb. 2: Das nordfriesische Sprachgebiet Insel Helgoland – in einem Verwal- Inselnordfriesisch: Quelle: Nordfriisk Instituut tungsbezirk zusammengefasst. Von den • Syltring (sölring) rund 160 000 Einwohnern des Kreises • Föhring-Amring (fering-öömrang) Menschen. Die drei inselnordfriesi- Nordfriesland wird sich aber kaum (Foto 1) schen Hauptdialekte weisen teils er- mehr als schätzungsweise ein Drittel • Helgoländisch (halunder) hebliche Unterschiede auf, sind aber als Friesen bezeichnen. Das Kreisge- Festlandsnordfriesisch: bei aller Verschiedenheit untereinan- biet greift im Osten über den ursprüng- • Wiedingharder (freesk) der enger verwandt als mit dem Fest- lichen friesischen Siedlungsbereich hi- • Bökingharder (frasch) landsnordfriesischen. Dieses bildet eher naus, und in der Geschichte gab es • Karrharder (fräisch) immer wieder stärkere Zuwanderun- • Nordergoesharder (fräisch, freesch) gen, so durch Flüchtlinge und Vertrie- • Mittelgoesharder (freesch) bene nach 1945. • Halligfriesisch (freesk) Weitere Dialekte sind heute ausgestor- Die friesische Sprache ben. Das Eiderstedter Friesisch wurde Die friesische Sprache ist das wichtigs- bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts te Identitätsmerkmal der Nordfriesen. durch das Niederdeutsche verdrängt. „Ich kenne keine Sprache, die Spra- Das Friesische der großen Insel , chen der kaukasischen Gebirgsvölker das dem Halligfriesischen glich, ging vielleicht ausgenommen, welche so vie- mit und nach der Sturmflut von 1634 le ganz verschiedene Dialekte hätte. unter. Erst um 1980 starb das um Hatt- Es liegt etwas Eigenes, Hochtönendes, stedt gesprochene Südergoesharder Kräftiges und Energisches in dieser Friesisch aus. Nur noch ganz vereinzelt friesischen Sprache.“ So charakterisier- gesprochen werden in der Gegenwart te der Schriftsteller Johann Georg Kohl die Dialekte der , der „Mit- das Nordfriesische in seiner 1846 er- telgoesharde“ und der Halligen. Sie schienenen Reisebeschreibung „Die dürften bald verklungen sein. Marschen und Inseln der Herzogthü- „Hochburgen“ des Friesischen sind mer Schleswig und Holstein“. die Gemeinde Risum-Lindholm auf Tatsächlich ist die dialektale Vielfalt dem Festland, vor allem aber der Wes- ein wesentliches Merkmal des Friesi- ten von Föhr. Hier ist das Fering, vom Foto 1: Friesischer Grabstein in Nebel schen. Es nimmt aufgrund dieses Tat- Kleinkind bis zum Greis, nach wie vor auf der Insel Amrum bestandes eine einzigartige Stellung in die Sprache des Alltags für die meisten Foto: Thomas STEENSEN 1989

13 ein Kontinuum, weist also in der Regel langt, und mit einer friesischen Bibel- sche Verneinung ikke, ej wurde als ai, ei, nur graduelle Abweichungen auf. Dass übersetzung scheint nicht einmal be- ek für ‚nicht‘ in die meisten nordfriesi- für einen Gegenstand in den verschie- gonnen worden zu sein. So wurde auch schen Dialekte aufgenommen. ‚Junge‘ denen Dialekten völlig unterschiedli- Niederdeutsch die Kirchen- und Schul- ist zum Beispiel im Dänischen dreng, che Wörter benutzt werden, kommt sprache in Nordfriesland, bis es um auf Föhr und in der Bökingharde jeweils nur selten vor. Eine solche Ausnahme 1650 vom Hochdeutschen abgelöst dring. Selbstverständlich sind bereits bilden die friesischen Entsprechungen wurde. Erst vom beginnenden 19. Jahr- seit langem alle nordfriesischen Dia- für ‚Tisch‘, der in der Bökingharde hundert an wird Nordfriesisch häufiger lekte den über Medien, Schule usw. scheew, auf Föhr und Amrum boosel, schriftlich verwendet. Heute umfasst einströmenden hochdeutschen Einflüs- auf Sylt staal, auf Helgoland taffel ge- die nordfriesische Literatur einige hun- sen ausgesetzt. nannt wird. dert Bücher und mehrere tausend Bei- Die Vielzahl der nordfriesischen Welche Ursachen haben die außer- träge in Zeitschriften und Zeitungen. Dialekte wird nicht selten als besonders gewöhnliche nordfriesische Dialekt- Immer wieder einmal taucht der schwierig und der Sprachförderung vielfalt herbeigeführt? Als drei wesent- Gedanke auf, man solle aus den ver- abträglich bezeichnet. Dies trifft zwei- liche Faktoren seien genannt: schiedenen Dialekten ein „Standard- fellos zu. Wenn Bücher in fünf oder 1. Die Zweiteilung ins Insel- und nordfriesisch“ entwickeln, um so die sechs Dialekten gedruckt werden, die Festlandsfriesische besteht schon Möglichkeiten der Sprachförderung zu jeweils nur von ein paar hundert bis gut von Anfang an. Die Friesen kamen vergrößern und die Chance des Sprach- zweitausend Menschen gesprochen nämlich in zwei Schüben aus ih- erhalts zu verbessern. Dieser Gedanke werden, dann sind die Probleme un- rem ursprünglichen Siedlungsge- übt auf den ersten Blick einen starken übersehbar. Andererseits hat aber auch biet an der südlichen Nordseeküs- Reiz aus. Eine solche Konstruktion die Kleinheit des jeweiligen Dialekts te hierher. Zunächst wurden ab würde jedoch nach aller Wahrschein- zu einem besonderen Engagement in dem siebten Jahrhundert vor allem lichkeit kaum die Rettung bringen. Ein der ehrenamtlichen Sprachpflege ge- die Inseln Sylt, Föhr, Amrum und Haupthindernis stellt die starke Iden- führt. Viele Nordfriesen haben sich in Helgoland sowie das westliche Ei- tifikation mit dem eigenen Dialekt dar. den vergangenen 200 Jahren für das derstedt besiedelt. Vom elften Jahr- Die Insulaner bezeichnen ihre Sprache Schicksal ihrer Sprache geradezu mit- hundert an nahmen die Friesen sys- nicht einmal als Friesisch, sondern nach verantwortlich und zu eigenem Han- tematisch auch das Festland in Be- dem jeweiligen Inselnamen. Wohl kaum deln aufgerufen gefühlt. So hat die sitz und machten das sumpfige würde man neben dem zumeist ohnehin sprachliche Vielfalt Eigeninitiative und Land urbar. bedrohten eigenen Dialekt noch ein Eigenverantwortlichkeit gestärkt. 2. Es gab kein nordfriesisches Staats- anderes Friesisch erlernen. Streit und „Small is beautiful.“ Diese Feststellung wesen, das vereinheitlichend hätte Querelen dürften unvermeidlich sein. Ernst Friedrich Schuhmachers gilt für wirken können. Ebenso fehlte ein Statt dessen erscheint es sinnvoll, was Nordfriesland in besonderer Weise. auf die ganze Region ausstrahlen- auch größtenteils praktiziert wird, die In der Mitte des 19. Jahrhunderts des politisches, wirtschaftliches und verschiedenen Dialekte schriftsprach- wurde die Sprecherzahl mit 30 000 an- kulturelles Zentrum. lich nach einheitlichen Richtlinien zu gegeben, am Beginn des 21. Jahrhun- 3. Die einzelnen nordfriesischen Har- normieren. Darüber hinaus sollten derts sprechen höchstens 10 000 Men- den (alte Gerichts- und Verwal- insbesondere bei Neuschöpfungen schen Nordfriesisch. Die Gründe für tungsbezirke) waren größtenteils weitgehend einheitliche Wörter ver- den Rückgang gleichen denen bei an- durch Meeresarme oder sumpfige wendet werden. Sprachbewusste Frie- deren europäischen Kleinsprachen. Seit Niederungen voneinander getrennt sen sprechen seit langem im mündli- der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde und hatten verhältnismäßig wenig chen Verkehr auch mit Friesen aus an- das abgelegene Nordfriesland durch Verbindung miteinander. Sie ent- deren Gebieten ihren jeweiligen Dia- den Bau von Straßen und Eisenbahn- wickelten sich in vieler, vor allem lekt. linien für den Verkehr erschlossen. Der auch in sprachlicher Hinsicht weit- Friesisch zählt gemeinsam mit dem Fremdenverkehr, der 1819 sehr klein gehend unabhängig. Man identifi- Nieder- und Hochdeutschen, dem Nie- begonnen hatte, gewann an Bedeutung. zierte sich stark mit der eigenen derländischen und dem Englischen zur In den florierenden Tourismusorten Harde, der eigenen Insel und auch westgermanischen Sprachengruppe. Wyk auf Föhr, Westerland auf Sylt und mit dem eigenen Dialekt, den man Mit dem Angelsächsischen gehört es Wittdün auf Amrum hatte Friesisch jeweils für „das eigentliche“, „das zum Nordseegermanischen (Ingwäo- einen schweren Stand und bald kaum reinste“ Friesisch hielt. nisch). In zahlreichen Wörtern zeigen noch Platz. Das industrielle Zeitalter Während das „Altfriesische“ in West- sich noch heute Ähnlichkeiten mit der brachte zwar kaum Industriebetriebe und Ostfriesland zwischen dem 13. und englischen Sprache. ‚Schlüssel‘ zum in die Region, führte aber dennoch zu 16. Jahrhundert in zahlreichen Texten Beispiel heißt auf englisch key, auf Föhr umwälzenden Veränderungen in schnel- überliefert ist, datiert das erste, recht kai, in der Bökingharde koie; ‚Ärmel‘ ler Folge. Die traditionellen Erwerbs- isoliert dastehende Sprachdenkmal des englisch sleeve, Föhr sliaw, Bökinghar- zweige Landwirtschaft, Handwerk, See- Nordfriesischen erst von etwa 1600. Es de sliiw. Die sprachliche Sonderstel- fahrt wurden an den Rand gedrängt handelt sich um eine Übersetzung des lung des Nordfriesischen wurde durch und revolutioniert. Für diese Bereiche Kleinen Katechismus Martin Luthers. einen erheblichen dänisch-jütischen verfügte das Friesische über einen gro- Die Reformation war in niederdeut- Einfluss verstärkt, der auch den zentra- ßen Wortschatz mit hoher Spezialisie- scher Sprache nach Nordfriesland ge- len Wortschatz betraf. Selbst die däni- rung. Die jetzt neu aufkommenden Le-

14 EUROPA REGIONAL 11(2003)1 bensbereiche dagegen waren hoch- Die rund 600 Mitglieder zählende Fri- An den Universitäten Kiel und Flens- deutsch bestimmt, etwa die entstehen- isk Foriining (bis 2003 Foriining for burg kann Friesisch – vor allem natür- den größeren Verwaltungen, Behörden, nationale Friiske, gegründet 1923 als lich Nordfriesisch – studiert werden. In militärischen Einrichtungen. Medien Friesisch-schleswigscher Verein) be- Kiel besteht seit 1950 die Nordfriesi- und Kommunikation nahmen enorm müht sich vor allem um die Förderung sche Wörterbuchstelle, die lexikalische an Bedeutung zu, zunächst die Zeitun- der friesischen Sprache in möglichst Werke für den wissenschaftlichen und gen, seit den 1920er Jahren das Radio, vielen Lebensbereichen. Die Foriining praktischen Gebrauch sowie friesische seit den 1950ern das Fernsehen und arbeitet mit der dänischen Minderheit Lehrbücher und Sprachkurse heraus- schließlich der Computer mit dem In- zusammen und lässt sich politisch vom gegeben hat. Geleitet wird sie von dem ternet. Die ursprüngliche Sprache der Südschleswigschen Wählerverband Inhaber der 1978 eingerichteten Pro- Region spielte hierin keine oder nur (SSW) vertreten. fessur für Friesisch. Das Friesische Se- eine sehr kleine Rolle. Die Mobilität Der früher ausgetragene leiden- minar an der Universität nahm zu. Viele Menschen wanderten schaftliche Streit zwischen beiden dient vor allem der Ausbildung von ab, zunächst vielfach nach Übersee, Gruppen ist mittlerweile einer engen Friesischlehrkräften. Die Lehre wird dann großenteils in deutsche Groß- Zusammenarbeit gewichen. Dazu hat in enger Zusammenarbeit mit dem städte, weil sie in Nordfriesland keine unter anderem die Verbindung in der Nordfriisk Instituut in Bredstedt ge- befriedigenden Ausbildungs- oder Ar- nordfriesischen Sektion des Friesenra- währleistet. beitsplätze fanden. Der Fremdenver- tes beigetragen, die ansatzweise auch kehr führte hingegen viele Menschen als übergreifendes Gremium für die Förderung der friesischen Sprache von außerhalb ins Land. Die deutsche friesischen Vereinigungen Nordfries- Über ein eigenes Schulwesen verfügen Niederlage im Zweiten Weltkrieg sorg- lands wirkt. Der Gesamtfriesenrat (heu- die Nordfriesen – im Unterschied etwa te für einen Zustrom von vielen tau- tiger Name: Interfriesischer Rat) mit zur dänischen Minderheit in Süd- und send Flüchtlingen aus den Ostgebie- Delegierten aus Nord-, Ost- und West- zur deutschen Minderheit in Nord- ten, die von der kleinen friesischen friesland wurde als ein grenzüber- schleswig – nicht. Stattdessen wird an Sprachgemeinschaft nur zu einem klei- schreitendes Gremium 1930 und er- den staatlichen Schulen sowie an ein- nen Teil integriert werden konnten. neut 1956 gegründet, um die „interfrie- zelnen Schulen der dänischen Minder- sischen“ Verbindungen zu fördern. Alle heit auch Friesisch unterrichtet (Foto 2). Die friesische Bewegung drei Jahre treffen sich Teilnehmer aus Seit den siebziger Jahren konnte dies, Die seit dem 19. Jahrhundert aufkom- den drei Frieslanden zu gemeinsamen wie zuvor schon einmal in den 1920ern, mende friesische Bewegung hat es sich Friesenkongressen; auch Landwirte, fast flächendeckend an allen Grund- zum Ziel gesetzt, friesische Sprache Kommunalpolitiker, Wissenschaftler und Hauptschulen im friesischen und Kultur zu bewahren und fortzuent- und andere Gruppen kommen zu inter- Sprachgebiet erreicht werden. Aller- wickeln. Lange Zeit wurden diese Be- friesischen Tagungen zusammen. Die dings werden in der Regel nur vom strebungen jedoch von der übermäch- Verhältnisse in der Provinz Friesland dritten bis sechsten Schuljahr zwei Wo- tigen nationalen Auseinandersetzung der Niederlande („Westfriesland“), wo chenstunden erteilt, und zwar auf frei- zwischen Deutsch und Dänisch im al- das Friesische als zweite Reichsspra- williger Grundlage. Im Schuljahr 2002/ ten Herzogtum Schleswig überlagert che anerkannt ist, nahmen sich Nord- 2003 besuchen an insgesamt 25 Schu- und überschattet. Verschiedene friesi- friesen wiederholt zum Vorbild. sche Vereine und Institutionen haben Als zentrale wissenschaftliche Ein- sich herausgebildet. richtung in Nordfriesland für die Pflege, Der Nordfriesische Verein, 1902 als Förderung und Erforschung der friesi- erster Heimatverein für ganz Nord- schen Sprache, Geschichte und Kultur friesland gegründet, umfasst mit den dient seit 1965 das Nordfriisk Instituut ihm angeschlossenen Vereinigungen in Bredstedt. Es wird von dem etwa heute etwa 4 800 Mitglieder. Er hat 850 Mitglieder zählenden Verein Nord- sich korporativ dem Schleswig-Hol- friesisches Institut getragen, der 1948 steinischen Heimatbund angeschlossen. gegründet wurde. Das Institut unterhält Weit verbreitet ist der seit 1958 er- u. a. eine Fachbibliothek und ein Ar- scheinende Heimatkalender „Zwischen chiv, gibt die Vierteljahresschriften Eider und Wiedau“. „NORDFRIESLAND“ und „Der Mau- Die örtlichen friesischen Vereine eranker“, das „Nordfriesische Jahrbuch“ leisten mit großem Engagement eine sowie Bücher in deutscher und friesi- vielfältige kulturelle Arbeit. Sie bieten scher Sprache heraus, bietet Kurse, Vor- friesische Sprachkurse an, bemühen tragsveranstaltungen, Seminare, Fach- sich um friesisches Theaterspiel, unter- tagungen und Arbeitsgruppen zu ver- halten Tanz- und Trachtengruppen, rich- schiedenen Themen an. Neben Mit- ten zum Teil das „Biikebrennen“ aus, gliedsbeiträgen und Verkaufserlösen das jeweils am 21. Februar gefeierte wird die Arbeit vor allem durch Zu- „Nationalfest“ der Nordfriesen, setzen schüsse des Landes Schleswig-Holstein Foto 2: Friesischer Schulunterricht an der sich für Natur- und Denkmalschutz ein sowie des Kreises Nordfriesland und Grundschule in Niebüll und vieles mehr. der dänischen Minderheit finanziert. Foto: Manfred WISSEL 1993

15 len – darunter drei von der dänischen reich werden seit einigen Jahren wieder Friesisch weist Nordfriesland auf engs- Minderheit getragene Privatschulen – gelegentlich Gottesdienste auf Friesisch tem Raum eine faszinierende sprachli- 1 473 Schülerinnen und Schüler bei 29 gehalten. Im Jahre 2000 erschien ein che Vielfalt auf, wie sie in Europa nicht Lehrpersonen in wöchentlich 154 Stun- umfangreiches Gesangbuch. häufig zu finden ist. Die nordfriesische den den Friesischunterricht. Einzig an Sprachgemeinschaft gehört zu den der „Risum skole/Risem Schölj“ in der Die friesische Volksgruppe in der kleinsten des alten Kontinents. Dank Gemeinde Risum-Lindholm wird Frie- Politik der in den letzten Jahrzehnten ver- sisch gemeinsam mit Dänisch und Die politischen Rahmenbedingungen stärkten Förderung von staatlicher Sei- Deutsch auch als Unterrichtssprache für die friesische Arbeit haben sich in te und dank der erneuten Hinwendung eingesetzt. Zunehmend berücksichtigt den letzten Jahren erheblich verbes- vieler Nordfriesen zu ihrer eigenen wird die friesische Sprache auch in Kin- sert bzw. sind überhaupt erst geschaf- Sprache und Kultur besteht Hoffnung, dergärten. fen worden. 1988 wurde auf einstimmi- dass das nordfriesische Steinchen im In den Medien ist Friesisch nur spär- gen Landtagsbeschluss ein „Gremium Mosaik der kulturellen Vielfalt auch in lich vertreten. Verfügen die beiden an- für Fragen der friesischen Bevölke- Zukunft nicht fehlen wird. deren Minderheiten des deutsch-däni- rungsgruppe im Lande Schleswig- schen Grenzlandes jeweils über eine Holstein“ unter dem Vorsitz der Land- eigene Tageszeitung, so findet sich in tagspräsidenten eingesetzt. Die Min- Literatur den in Nordfriesland verbreiteten Lo- derheiten- und Grenzlandbeauftragten ÅRHAMMAR, N. (1990/91): Sterben und kalblättern des Schleswig-Holstei- der Ministerpräsidentin – zunächst Kurt Überleben von Minderheitensprachen nischen Zeitungsverlages etwa einmal Hamer, seit 1991 Kurt Schulz und seit am Beispiel des Nordfriesischen. In: Nordfriesisches Jahrbuch 26/27, S. 7 - 22. monatlich eine Zeitungsseite mit frie- 2000 Renate Schnack – sind auch für BANTELMANN, A., R. KUSCHERT, A. PANTEN sischen und plattdeutschen Texten. Im friesische Angelegenheiten zuständig. u. T. STEENSEN (1996): Geschichte Nord- Rundfunk wird das Nordfriesische so Als ein „Markstein“ wurde von frie- frieslands. Hrsgg. vom Nordfriisk Insti- geringfügig berücksichtigt wie kaum sischer Seite der 1990 neu gefasste Ar- tuut, 2. Aufl., Heide. eine andere Sprache in Europa. Die tikel 5 („Nationale Minderheiten und FEITSMA, A., W. J. ALBERTS u. B. SJÖLIN (1987): Welle Nord des Norddeutschen Rund- Volksgruppen“) in der Verfassung von Die Friesen und ihre Sprache, Bonn. funks (NDR) bringt nur einmal wö- Schleswig-Holstein gewertet. Erstmals KUNZ, H., F. PINGEL u. T. STEENSEN (1998): chentlich etwa drei Minuten. Im NDR- wird darin neben der dänischen Min- Nordfriesland von A bis Z. 100 Begriffe in Wort und Bild, Bräist/Bredstedt. Fernsehen sind einige kurze friesisch- derheit auch der friesischen Volksgrup- MUNSKE, H. H. (2001): Handbuch des Frie- sprachige Berichte mit deutschen Un- pe „Anspruch auf Schutz und Förde- sischen/Handbook of Frisian Studies, tertiteln gesendet worden. Im Internet rung“ zugesprochen. Für die Nordfrie- Tübingen. können nordfriesische Rundfunkbei- sen, deren Existenz und Status bis dahin STEENSEN, T. (1994): The in Schles- träge des NDR und des „ferian för en in keiner Weise abgesichert war, kommt wig-Holstein, Bräist/Bredstedt. nuurdfresk radio“ (ffnr) abgerufen wer- dieser Bestimmung eine geradezu fun- STEENSEN, T. (1996): Friesische Sprache und den. damentale Bedeutung zu. Die friesi- friesische Bewegung, 3. Aufl., Husum. Im öffentlichen Leben wird der frie- schen Vereinigungen setzen sich für STEENSEN, T. (Hrsg.) (2000): Das große Nordfriesland-Buch, Hamburg. sischen Sprache seit einigen Jahren eine ähnliche Bestimmung im Grund- WILTS, O. u. M. FORT (1996): Friesisch zwi- mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Seit gesetz ein. Im Jahre 2000 sagte die schen Meer und Moor. Europäische Spra- dies 1997 erlaubt wurde, haben mehre- Bundesregierung eine laufende Pro- chen 3, Brüssel. re Gemeinden ihre Ortstafeln zwei- jektförderung zu. Von großer Bedeu- www.nordfriiskinstituut.de sprachig deutsch-friesisch gestaltet tung ist, dass die friesische Volksgrup- (Foto 3). In vielen Orten gibt es schon pe und ihre Sprache auch in wichtigen lange friesische Straßenschilder. Man- Vertragswerken des Europarats berück- che Standesämter ermöglichen es sichtigt werden, und zwar im Rahmen- Hochzeitspaaren, sich auf Friesisch übereinkommen zum Schutz nationa- trauen zu lassen. Im kirchlichen Be- ler Minderheiten (für Deutschland in Kraft seit 1998) und in der Europäi- schen Charta der Regional- oder Min- derheitensprachen (in Kraft seit 1999). Vielfalt auf kleinstem Raum ist kenn- zeichnend für Nordfriesland. Dies gilt für seine einzigartige Natur und Land- schaft mit dem 1985 zum Nationalpark erklärten Wattenmeer, mit Inseln und Halligen, Marsch und Geest ebenso wie für Geschichte und Kultur, die ver- Prof. Dr. THOMAS STEENSEN schiedenen Hausformen etwa, die hier Nordfriisk Instituut/Nordfriesisches aufeinander treffen, und nicht zuletzt Foto 3: Seit 1997 können Gemeinden in Institut Nordfriesland die Ortstafeln die Sprachverhältnisse. Durch den Zu- Süderstr. 30 zweisprachig deutsch-friesisch gestalten. sammenklang von Hoch- und Nieder- D-25821 Bräist/Bredstedt, NF Foto: Thomas STEENSEN 1998 deutsch, Hoch- und Plattdänisch sowie

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