Menschen zur Wendezeit in Thüringen

MATERIALIEN Heft 103 Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien Menschen zur Wendezeit in Thüringen

MATERIALIEN Heft 103

Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien Fotonachweis:

Umschlag: Behelfsmäßiger Grenzübergang Höhnbach bei Sonneberg, November 1989; Fotos Frank Röhrer, Erfurt; Montage Wolfgang Rauprich, Ilmenau.

Bilderseiten: Alle Fotos auf den Bilderseiten sowie Foto auf S. 29 wurden von Frank Röhrer angefertigt.

Familienfoto René Wolff: Volker Brix

Die Reihe Materialien” wird vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung “ und Medien im Auftrag des Thüringer Kultusministeriums herausgegeben, sie stellt jedoch keine verbindliche, amtliche Verlautbarung des Kultusministeriums dar.

2004 ISSN: 0944-44-8705 Herausgeber: Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, ThILLM Bad Berka Heinrich-Heine-Allee 2-4 Postfach 52 99438 Bad Berka Telefon:03 64 58/56-0 Telefax:03 64 58/56-3 00

Redaktion: Ursula Gödde, ThILLM Bad Berka

Inhalt: Ursula Gödde, ThILLM Bad Berka; Rainer Morgenroth, ThILLM Bad Berka; Dr. Steffen Raßloff, Universität Erfurt Dr. Juliane Rauprich, Kommunikations- und Pressebüro Wolfgang Rauprich, Ilmenau

Layout und Gestaltung: Kommunikations- und Pressebüro Wolfgang Rauprich An der Schloßmauer 8, 98693 Ilmenau

Druck: Satz + Druck Centrum Saalfeld GmbH Am Cröstener Weg 4, 07318 Saalfeld

Dem Freistaat Thüringen, vertreten durch das ThILLM, sind alle Rechte der Veröffentlichung, Ver- breitung, Übersetzung und auch die Einspeicherung und Ausgabe in Datenbanken vorbehalten. Die Herstellung von Kopien in Auszügen zur Verwendung an Thüringer Bildungseinrichtungen, insbesondere für Unterrichtszwecke, ist gestattet.

Die Publikation wird gegen eine Schutzgebühr von 5,- abgegeben.

2 Inhalt

Grußwort des Thüringer Ministerpräsidenten, 5

Vorwort des Direktors des ThILMM, Bernd Schreier 7

Biographien 9

Dieter Althaus 9 Friedrich Balbierer 14 Hans-Ulrich Batzke 19 Karl-Heinz Bauchspieß 24 Matthias Büchner 28 Niels Lund Chrestensen 33 Hans-Jürgen Döring 37 Alfred Erck 42 Heino Falcke 47 Gerd Fischer 52 Michael Gabel 57 Siegfried Geißler 64 Eckhard Giese 70 Lutz Gode 76 Jens Goebel 81 Gerda Groh 86 Grundschullehrerin 89 Horst Gütter 92 Ursula Höppel 96 Heinrich Kern 102 Birgit Klaubert 108 Fred Klemm 114 Egon Kühn 118 Werner Leich 122 129 Jens Müller 133 Ute Oberhoffner 137 José Manuel Paca 143 Siegfried Pause 148 Renate R. 153 Jörg Roscher 156 Udo Scheer 160 162 Reinhard Schramm 168

3 Andrea Schulz 173 Cornelia Sirch 177 Bernd Stiller 183 Aline Thielmann 187 Constanze Wagner 192 Volker, Gertraude und Michael Wähler 196 Joachim Wanke 203 Manfred Weißbecker 206 René Wolff 212 Bernd Zeuner 215

1989/90 – Ein historischer und persönlicher Wendepunkt 220

Chronologie der Ereignisse 229

Überlegungen zum Einsatz des vorliegenden Heftes im Unterricht 231

Literaturempfehlungen 235

Personenregister 238

Einladung 240

4 Grußwort des Thüringer Ministerpräsidenten Dieter Althaus

„Der schönste, reichste, beste und wahrste Ro- man, den ich je gelesen, ist die Geschichte“, be- kannte Jean Paul. In der Tat: Geschichte ist span- nende, lehrreiche Lektüre. Wer sich mit ihr be- schäftigt, lernt die Probleme der Gegenwart bes- ser verstehen. Das Thüringer Institut für Lehrer- fortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien eröffnet mit der vorliegenden Publikation eine besonders spannende Perspektive auf unsere jüngste Geschichte: Unter dem Titel „Menschen zur Wendezeit in Thüringen“ kommen Menschen zu Wort, die die friedliche Revolution von 1989 hautnah erlebten – zum Beispiel als Landwirt, als Lehrer oder als Bischof. Auch ich bin der Bitte der Herausgeber gerne nachgekommen und habe meine Erlebnisse und Erfahrungen niederge- schrieben. „Menschen zur Wendezeit in Thüringen“ rich- tet den Blick darauf, wie der Einzelne den rasan- ten Wandel dieses historischen Herbstes erlebt hat – von den ersten stillen Protesten hinter ver- schlossenen Türen bis hin zur Erstürmung der Stasi-Zentralen: Welche Unsicherheit und Angst die Menschen spürten, als sie es wagten, gegen den Staat aufzubegehren. Und welche Erwartungen und Hoffnungen sie bewegten, als sie an den Runden Tischen für Demokratie, Recht und Freiheit stritten. Wir haben schließlich mehr erreicht, als sich damals die meisten vorstellen konnten: Die Wie- dervereinigung Deutschlands, das Ende des Kalten Krieges und die Demokratisierung Mittel- und Osteuropas sind Wirklichkeit geworden. Dennoch ist auch richtig: Nicht jede Hoffnung, nicht jeder Wunsch hat sich mit der „Wende“ erfüllt – auch das macht die Veröffentlichung „Menschen zur Wendezeit in Thüringen“ sichtbar. Mit der Wiedervereinigung hat in den jungen Ländern ein schmerzhafter Aufholprozess be- gonnen, der die Menschen herausfordert. 40 Jahre sozialistische Misswirtschaft haben marode Betriebe, triste Städte und in mancher Region eine ökologische Katastrophe hinterlassen. Auch in den kommenden Jahren wird die Bewältigung dieser Hypotheken keine leichte Aufgabe sein. Aber die bisherigen Mühen haben sich gelohnt, wir sind heute auf einem guten Weg. Die Lan- desregierung bekennt sich dazu, diesen Prozess weiterhin zu fördern und zu unterstützen. Von dem französischen Schriftsteller Marcel Proust stammt das Zitat: „Gemeinsame Erinne- rungen sind manchmal die besten Friedensstifter.“ Die Erinnerungen an den Herbst 1989 ge- hören uns allen, sie sind ein Stück gemeinsamer deutscher Geschichte. Sie sind für uns zugleich

5 die Aufforderung, nie zu vergessen, wie und warum es zur Teilung kam und wie sie überwunden wurde. Mein Dank gilt dem Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Me- dien, das mit dem Buch „Menschen zur Wendezeit in Thüringen“ dazu beiträgt, gerade jungen Menschen die Ereignisse von 1989 nahe zu bringen. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich eine anregende und aufschlussreiche Lektüre!

Dieter Althaus Im September 2004

6 Einführende Bemerkungen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser,

Menschen sind Akteure auf der Bühne des Lebens. Wenn sich von einem Akt zum anderen das Bühnenbild ändert, das Sze- nario der Inszenierung sich wandelt und andere Rollentexte zur Grundlage gemacht werden – wie handeln dann die Ak- teure? Was ändert sich? Was bleibt? Was erhält nur einen neuen Anstrich? Wie erleben Akteure diese Situation der Ver- änderung? Wie denken sie über sich? Zu welchen Wertungen kommen Sie? Das Leben neu zu bestimmen und zu leben, in einer Phase der grundlegenden gesellschaftspolitischen Wende des Jahres 1989, ist eine große Herausforderung für jeden einzelnen gewesen und ist es noch. Besonders schwierig ist es, in zeitlicher Nähe, im laufenden Prozess, ehrlich über sich nachzudenken und nachzufühlen, in eine gewisse Distanz von sich zu gehen und dann etwas über sich in Sprache zu fassen und zu Papier zu bringen. Und für die Leserinnen und Leser die subjektive Ehrlichkeit fühl- bar und verstehbar zu machen. Es ist daher keine Pflichtübung, sondern mein besonderes Anliegen, mich bei allen Autorin- nen und Autoren der Texte herzlich zu bedanken, für Ihre Anstrengungen und Ihre Bereitschaft, viel von sich und dem eigenen Leben preiszugeben und ein Bild zu entwickeln, das nacherlebbar ist. Das Vorhaben ist Bestandteil einer grundlegenden Arbeitslinie des ThILLM, die Auseinander- setzung mit der jüngeren und jüngsten Geschichte durch die Schule zu fördern und einen Beitrag gegen das Vergessen zu leisten. Es ist wichtig für Schüler und Lehrer zu sehen, dass man sich öffentlich klar positionieren, sei- ne subjektive Wahrheit sagen und zu ihr stehen kann. Die einzelnen Beiträge verdeutlichen, dass das Leben nicht einfach in wenige Kategorien zusammenzufassen ist, beschriftet und abgelegt werden kann. Jedes Leben ist einzigartig und wertvoll, und es ist gerechtfertigt, es in seinen ein- zelnen Abschnitten festzuhalten und darzustellen. Naturgemäß ist die Auswahl der Autoren zah- lenmäßig begrenzt; noch viele andere hätten wichtige und eindrucksvolle Zeitzeugnisse und Einschätzungen verfassen können. Für die Schule können die Beiträge nicht nur eine Anregung zum Nachlesen sein, sondern auch Aufforderung zum Nachdenken über sich selbst. Die Veröffentlichung soll Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler ermutigen, sich mit dem „woher“ genauso wie mit dem „wohin“ des eigenen Lebens in der Gesellschaft aus- einander zu setzen. Wer in die Zukunft gehen will, muss wissen, woher er kommt; wer verantwort- lich und selbstbewusst nach vorn gehen will, muss sich mit der eigenen, mit der persönlichen Geschichte, mit seinen Entscheidungen, dafür oder dagegen, auch mit seinen Kompromissen und Widersprüchlichkeiten auseinandersetzen. Nur dann wird er klar, realistisch und bescheiden

7 handeln, kein Getriebener von Entwicklungen sein, Selbstbewusstsein und Selbständigkeit in ihrem Wert spüren. Es geht bei der Arbeitslinie des ThILLM aber nicht nur um die Dimension der Auseinander- setzung mit der jüngeren und jüngsten Geschichte, zu der zahlreiche Veröffentlichungen, etwa zum Volksaufstand 1953; zum Aufbau der innerdeutschen Grenze 1961 und den Folgen der Zwangsvertreibung; zu den Aktivitäten der Staatssicherheitsbehörden der DDR auch in der Schule – beigetragen haben. Es geht bei den vergangenen und jetzigen Vorhaben besonders um die Betonung der Oral History, der erzählten Geschichte, und der Rolle von Zeitzeugen. Nicht nur die Auseinandersetzung mit Texten, sondern mit wirklichen Menschen ist für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen von entscheidender, von prägender Bedeutung. Es ist wichtig für die Kinder und Jugendlichen, Menschen kennen zu lernen, die bereit sind, über ihre Geschichte und damit über ihr Leben zu sprechen und die sichtbar machen, dass per- sönliche Entscheidungen getroffen werden können, dass man handeln kann und nicht abwarten muss, was andere mit einem tun. Gerade eine Veröffentlichung, die sich mit den Biographien zur„ Wende” auseinandersetzt, regt die Arbeit mit Zeitzeugen an. Die„ Wende” ist noch ein laufender Prozess, sie hat die Biogra- phien praktisch aller heute Lebenden unmittelbar und mittelbar geprägt und bestimmt die Hand- lungen in der Gegenwart. Sie hat zu Entscheidungen an persönlichen Wegscheiden veranlasst und zu Lebenslinien und Perspektiven geführt, die unterschiedlicher kaum sein können. Die Aus- einandersetzung mit den Personen als Zeitzeugen ist also nicht nur Beschäftigung mit der Ver- gangenheit, sondern zugleich mit Gegenwart und Zukunft. Ich hoffe, dass die in der Veröffentlichung vorgenommenen Ergänzungen der Biographien durch einige Materialien, wie etwa der Hinweis auf die Lehrplanbezüge und die didaktischen Möglichkeiten der Oral History, auch ein kurzer historischer Abriss sowie Literaturangaben den Eingang in die schulische Alltagsarbeit erleichtern und Anstöße zur Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Schülers geben können. Vielleicht sind die Biographien auch ein Anreiz, für sein eigenes Leben die „Wendesituationen“ aufmerksam wahrzunehmen, auch wenn die persönli- chen Entscheidungssituationen und Wegscheiden nicht immer mit solchen weltgeschichtlichen Dimensionen, wie mit dem Jahr 1989 symbolisiert, gleichzusetzen sind. Die herzlichen Grüße an Sie verbinde ich daher mit vielen Hoffnungen für Ihr Interesse beim Lesen, vor allem aber für eine kreative Nutzung in der Schule.

Bernd Schreier Direktor ThILLM

8 Dieter Althaus Positive Erfahrungen weitergeben

an staatlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit auf Dieter Althaus: der einen Seite, und dem, was in unserem Le- Geboren am 29. Juni 1958 in Heili- ben wichtig war, durchaus erhebliche Unter- genstadt, katholisch, verheiratet, schiede bestehen konnten. zwei Kinder. Von 1979 bis 1983 stu- dierte er an der Pädagogischen Hoch- schule Erfurt in der Fachrichtung Gratwanderungen in der Physik und Mathematik. Er war von DDR-Gesellschaft 1983 bis zum 31. Dezember 1989 Leh- rer an der POS Geismar, von 1987 an stellvertretender Direktor der Ich bin getauft worden und zur Ersten Heiligen Schule. 1985 wurde er Mitglied der Kommunion und zur Firmung gegangen. Für CDU. uns war und ist der Besuch des Gottesdienstes Mit dem 1. Januar 1990 wurde Dieter Sonntag für Sonntag selbstverständlich. Auch Althaus Kreisschulrat des Kreises Heiligenstadt. Zur Landtagswahl im andere wichtige, traditionsreiche katholische Oktober 1990 wurde er in den Thü- Feste und Feiertage wurden bei uns gefeiert. ringer gewählt. Von 1992 bis Es gehörte demzufolge zur schwierig zu le- 1999 war er Kultusminister, danach Vorsitzender der CDU-Fraktion im benden, aber durchzustehenden Normalität, Thüringer Landtag. Seit 2003 ist er dass meine Eltern mit Blick auf das politisch Ministerpräsident Thüringens. verordnete gesellschaftliche Leben selbstver- ständlich bestimmte Grenzen gezogen ha- Eine „Wende”-Biographie? Was ist eine „Wen- ben. de”-Biographie? Eventuell eine Biographie, So bin ich nicht zur Jugendweihe gegan- die mitten im Leben eine abrupte, so nicht vor- gen, obwohl weit über 70 Prozent meiner hersebare Wendung erfahren hat? Wenn das Klasse daran teilgenommen haben. Ich habe so ist, gibt es sicher mehrere Arten von „Wen- mich auch nicht zu drei Jahren Wehrdienst de”-Biographien, die zum Beispiel durch plötz- verpflichten lassen, obwohl angedroht wurde, liche persönliche oder berufliche Veränderun- dass sonst meine Studienaussichten deutlich gen zustande kommen. Meine oder unsere schlechter sein würden. Für mich und meine „Wende”-Biographie hat eine andere Ursache. Eltern waren es immer Gratwanderungen. Man Sie ist begründet mit der fundamentalen, von musste doch immer mit Einschränkungen in vielen erhofften, aber letztlich doch nicht so der persönlichen Lebensperspektive rechnen. schnell erwarteten gesellschaftlichen Verände- Meine Eltern haben nach dem Krieg, mit rung, dem Zusammenbruch der DDR. dem Entstehen der DDR, sehr aktiv die CDU Ich bin 1958 in Heiligenstadt geboren, begleitet und unterstützt, weil sie immer an mitten im katholischen Eichsfeld. Meine El- eine gesellschaftliche Alternative, die aus dem tern sind aktive Katholiken und haben dieses Christlichen heraus möglich sein musste, ge- Katholisch-Sein auch immer gelebt und an glaubt haben. Möglichst viel dieser gesell- ihre Familie weitergegeben. Sie stammen selbst schaftlichen Alternative sollte im Alltag sicht- aus Familien, in denen der Glaube aktiv ge- bar bleiben. Dass dieses Engagement von der lebt und weitergegeben wurde. So habe ich SED auch instrumentalisiert und im „Demo- schon früh erfahren, dass zwischen dem, was kratischen Block“, der sogenannten Natio-

9 nalen Front, vereinnahmt wurde, war eine bit- Vertrautheit und damit Heimat in der Fremde, tere Realität. So wurde manches ehrliche und in einem System, mit dem wir uns nicht iden- mutige Engagement missbraucht, wobei es tifizieren konnten und wollten. Das aktive Zu- natürlich auch Mitläufer und Karrieristen gab. sammenwirken mit den evangelischen Stu- Am Ende meiner Schulzeit habe ich 1977 dentengemeinden war sehr ertragreich. mein Abitur abgelegt. Mein besonderes Inte- Zum Ende meines Studiums bekam ich ein resse galt den Naturwissenschaften. Da Leh- Angebot, das mich erneut vor eine schwierige rer gesucht wurden, habe ich mich erfolgreich Frage stellte: Sollte ich ein Promotionsstudium in Erfurt zum Lehrerstudium für Physik und in Theoretischer Physik anschließen? Die Ver- Mathematik beworben. suchung war groß und ich hätte es gerne ge- tan. „Wenn ja, dann müssen Sie aber in die Standhaft gegenüber SED eintreten“, lautete die Forderung. Das aber staatlichen Forderungen wollte ich nicht. So kam das Forschungsstu- dium nicht zustande und ich wurde Lehrer an Das Studium der Naturwissenschaften hat mir der Polytechnischen Oberschule in Geismar große Freude gemacht, insbesondere die im Eichsfeld. Ich unterrichtete Physik, Mathe- Theoretische Physik hatte es mir angetan. matik, Astronomie und später noch Informa- Auch während des Studiums wurden wir mit tik, und ich war gerne Lehrer in diesen Fä- staatlichen Forderungen konfrontiert, deren chern. wir uns erwehren wollten. Gegenüber der in- Aber auch in der Schule war tagtäglich der tensiven und bisweilen aggressiven Werbung Widerspruch zwischen dem, was wir wollten für die sogenannte Reserveoffizierslaufbahn und dem, was an offizieller SED-Parteistra- zum Beispiel galt es standhaft zu bleiben. Ge- tegie vorgegeben war, offensichtlich und nicht holfen hat mir und meinen Freunden damals immer einfach durchzustehen. Gerade in ei- die intensive Verwurzelung in der Katholischen ner Schule, die wie Geismar mitten im Grenz- Studentengemeinde. In der ganzen ehemali- gebiet lag, waren die Widersprüche und das gen DDR gab es ein tragfähiges Netzwerk Verschweigen oft schwer zu ertragen. Ab Mitte dieser Gemeinden. Sie gaben uns ein Stück der 1980er-Jahre wurde aber immer klarer:

10 Die DDR kann so nicht weiter existieren. Sie wollten, wie es die SED vorgab. Und so ver- war zerrissen zwischen dem gesellschaftspo- ständigten wir uns im Oktober 1989 zu de- litischen Anspruch und der Realität. Dazu un- monstrieren. Aus einer kleinen Demonstra- ser Wunsch nach Freiheit, frei zu denken, frei tion, ja fast einer Prozession von etwa 600 zu reden und sich frei zu bewegen. Dieser kol- Menschen am ersten Montag, wurde inner- lidierte täglich mit der umfassenden Unfrei- halb von zwei Wochen eine Demonstration heit, die wir im Grenzgebiet natürlich hautnah von fast zwanzigtausend Menschen. Und schon verspürten. Die Unzufriedenheit wuchs latent. bald wurden nicht nur Worte gewechselt, es folgten Taten: Schon im Dezember 1989 wur- Bereits 1988 Wette auf den de ich gefragt, ob ich nicht – nach meinem Untergang der DDR Engagement in der Arbeitsgruppe „Bildung“ des Runden Tisches – besondere Verantwor- Jeder, der mit der Wirtschaft zu tun hatte – ich tung übernehmen und Schulrat werden woll- war eng mit dem Handwerk verbunden – spürte te, selbstverständlich sofort, das hieß zum 1. auch, dass die ökonomischen Fundamente des Januar 1990. Etwas verändern – das hatten Staates nicht nur zu bröckeln begannen, son- wir uns vorgenommen. Die Grenze war inzwi- dern schon weitgehend hohl waren. Die DDR schen offen und wir wollten wieder ein Deutsch- war ökonomisch am Ende. land werden. Wir waren wieder dort, wo un- Ich habe übrigens Weihnachten 1988 eine sere Eltern und Großeltern wie selbstverständ- Wette abgeschlossen, dass in den nächsten lich ebenfalls zu Hause waren: in Duderstadt, Jahren die DDR untergehen würde. Unver- in Göttingen und in Kassel. ständnis war die Reaktion. Aber ich erlebte zunehmend, dass beispielsweise auch viele Wir versuchten, eine neue, Schüler nicht mehr mit einer gespaltenen Iden- demokratische Schule zu gestalten tität leben wollten. Das, was sie am Abend im Westfernsehen sahen, teilten sie offen in der Warum also nicht Schulrat werden? Ich sagte: Schule mit. So war es für mich eigentlich nicht „Ja”. Vielleicht weil ich erst einunddreißig verwunderlich, dass der Sommer 1989 so Jahre war, ging ich die Aufgabe beherzt an. Im kam, wie er kam. Am Ende aber war die Nachhinein bin ich selbst darüber erstaunt, „Wende” für mich doch ein Wunder und das wieviel wir in dieser Zeit an fundamentalen bleibt sie bis heute. Veränderungen vorgenommen haben: Schul- Junge Leute, die in Ungarn waren, nah- leiter wurden neu berufen und Lehrpläne au- men sich die Freiheit, in die Freiheit zu gehen, ßer Kraft gesetzt. Die Pioniere, die FDJ, der weil zwischen Österreich und Ungarn diese Staatsbürgerkundeunterricht, die Jugendwei- künstliche Grenze aufgeschnitten wurde. In he und vieles andere wurden aus der Schule den Botschaften von Prag, Budapest und War- verbannt. Wir versuchten, eine neue, demo- schau suchten Deutsche Zuflucht vor der DDR, kratische Schule zu gestalten, mit viel Enthu- um dann in den Westen zu gelangen. siasmus und Improvisation. Zum 40. Jahrestag der DDR, am 7. Ok- Das war nun in der Tat eine Wende auch in tober 1989, war die Luft schließlich endgültig meiner beruflichen Biographie. Mit einem Mal raus. Die Bürgerrechtsbewegung hatte lange war alles anders: Statt Eingegrenztheit und vorbereitet, was dann plötzlich hervorbrach. Unfreiheit zu ertragen, statt in einer Schule zu Die Massendemonstrationen und die War- lehren, die im Grunde den Auftrag hatte, zu nung von Gorbatschow an Honecker: „Wer zu indoktrinieren und zu instrumentalisieren, nun spät kommt, den bestraft das Leben“, setzten eine Schule gestalten zu können, in der Frei- klare Zeichen. Meine Freunde und ich – wir heit und Eigenverantwortung gelebt werden verspürten den Drang, in Heiligenstadt, im konnten. Eichsfeld, also nahe der Grenze, deutlich zu Wenn ich die Demonstrationsrufe vom zeigen, dass auch wir nicht mehr so leben Herbst 1989 Revue passieren lasse – „Wir sind

11 das Volk“, „Wir sind ein Volk“ – dann glaube schen mit so vielen Veränderungen verbun- ich, der Wandel des Inhalts ist auch Ausdruck den war. Der Gestaltungsauftrag für die Politik des gewachsenen Selbstbewusstseins gewe- war enorm. Selbstverständlich haben wir da- sen! Keiner von denen, die in meinem Umfeld bei auch Fehler gemacht – auch ich persön- Mitverantwortung getragen haben, die mitde- lich – aber wir haben auch vieles richtig ge- monstriert haben, wollten noch einen Dritten macht. Wir haben Freude gehabt, neue Wege Weg der DDR. Wir wollten die Veränderungen zu gehen und haben sie noch heute. umfassend, d.h. die Wiedervereinigung un- seres Vaterlandes. Durch die Wende vom Wir wollten die Chancen der „Wende” Lehrer zum Politiker geworden nutzen. Allerdings befürchteten wir, dass mit der Volkskammerwahl am 18. März 1990 die Ich bin über die „Wende” vom Lehrer für Physik Perspektive für die Wiedervereinigung unseres und Mathematik zu einem Politiker geworden, Vaterlandes schwinden könnte. Deshalb orga- ohne dass ich Ende 1989 oder Anfang 1990 nisierten wir in unserer Heimat Demonstra- auch nur im Ansatz an diese berufliche Ver- tionen und Aktionen für die schnelle Einheit. änderung gedacht hätte. Die „Wende” war die Wir sprachen unter anderem mit dem damali- Chance, mich mit jungen Jahren auf Neues gen niedersächsischen Ministerpräsidenten einzustellen. Es war in mancher Hinsicht ein Ernst Albrecht, ob wir, wenn die Volkskammer- Wagnis, aber, sich auf Verantwortung für die wahl nicht so ausgehen würde, wie wir es Freiheit und die Demokratie einzulassen, das erhofften, das Eichsfeld an Niedersachsen an- kann nur richtig sein. Politik lebt einerseits vom gliedern könnten. Selbstverständlich lautete pragmatischen Blick auf die Alltagsrealität, die Antwort: „Ja“. Damit stieg die Motivation, aber andererseits von einer langfristigen, er- für diese Wahl und für den Weg zur Wieder- gebnisorientierten Ausrichtung. Ich habe glück- vereinigung zu kämpfen. licherweise immer ein Stück Gelassenheit be- halten, die mir Kraft gibt. Meine Heimat und Die DDR brach in rasantem mein Glaube gaben und geben mir Orientie- Tempo zusammen rung. Dabei leiten mich die Prinzipien Men- schenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidari- Dann aber kam alles noch viel schneller. Die tät sowie Subsidiarität. Und das christliche DDR brach im rasanten Tempo wirtschaftlich Menschenbild gibt die Orientierung vor. zusammen und die neue, frei gewählte Volks- Mein Privatleben hat sich seit der „Wende” kammer hatte nur noch eine Aufgabe: diese fundamental verändert. Statt der Beschaulich- zusammenbrechende DDR in einem zügigen keit und der Gemeinsamkeit in der Familie und einigermaßen kontrollierten Übergang in und mit Freunden, die uns ermöglicht hatte, in die Wiedervereinigung zu führen. einer Art verordneter Zwangsgemeinschaft Genau in dieser Zeit war ich Schulrat und die kleinen Freiheiten zu leben und Freuden zu mit der Kommunalwahl im Mai 1990 zusätz- erleben, stand nun die Politik im Vordergrund. lich auch Dezernent für Schule, Jugend und Ich war kaum mehr zu Hause. Da meine Kin- Kultur. Gleichzeitig übernahm ich mit der Ar- der 1983 und 1987 geboren sind, damals al- beitsgruppe Bildung des Politisch Beratenden so drei und sieben Jahre alt waren, haben sie Ausschusses in Erfurt eine Aufgabe für das zu- einen großen Teil ihrer Kindheit ohne ihren Va- künftige Land Thüringen. ter verbracht und ich ohne sie. Deshalb haben Dann habe ich für den Thüringer Landtag meine Frau und ich unser Familienleben im- kandidiert und ein Mandat erhalten. Auch mer so intensiv und umfassend wie möglich dort waren fundamentale Aufgaben zu lösen. gestaltet. Trotz des knappen Zeitbudgets war Wir standen plötzlich vor der gewaltigen Her- und ist es auch heute mein wichtigstes Anlie- ausforderung einen Systemumbruch bewälti- gen, die Bindung zu meiner Familie, zu mei- gen zu müssen, der für jeden einzelnen Men- nen Freunden und meiner Heimat zu erhalten.

12 Ich bin dankbar, dass ich einer Generation der Wille zur Freiheit, so war es dann der angehöre, die zum ersten Mal in der Ge- Wille, die Wie-dervereinigung zu gestalten. schichte der letzten Jahrzehnte die Möglich- Heute ist es der Wille, dieses Deutschland so keit hat, in Freiheit und Frieden, in Demokra- zu verändern, dass wir unsere Chancen in der tie, Rechtsstaatlichkeit und in sozialer Markt- Mitte Europas für Wohlstand und soziale wirtschaft, in einem wiedervereinigten Deutsch- Gerechtigkeit besser nutzen. land und in einem geeinigten Europa zu ge- Die Stärkung unserer Leistungsfähigkeit ist stalten. Meine „Wende”-Biographie ist eine dafür entscheidend. Wir werden diesen Weg Biographie der positiven Erfahrungen. Diese erfolgreich gehen – dessen bin ich mir sicher – positive Erfahrung möchte ich gerne weiter- wenn wir unsere Chancen mit Optimismus, geben. Wir haben das, was wir möglich ma- Mut, Gelassenheit und auch Dankbarkeit chen konnten, gestaltet. War es am Anfang nutzen.

13 Friedrich Balbierer Wir hatten viel zu wenig Ahnung von der Marktwirtschaft

den Rumänen abgezwungene Rückgabe der Friedrich Balbierer: Ländereien und Immobilien – die soziale Situ- Geboren im Mai 1949 im siebenbürgi- ation auch von uns verbesserte sich. schen Seiden, in Rumänien. Seine 1951 wurde ich dann in eine Zehn-Klas- Eltern waren dort Weinbauern, erst selbständig, später in der Koope- sen-Schule eingeschult, an der ich 1961 den rative. Abschluss machte. Mein sehnlichster Berufs- 1963 wanderte seine Familie nach wunsch war es, Pilot werden zu können. Die Deutschland aus und kam nach Il- Aufnahmeprüfung in Simeria an der Flieger- menau, wo bereits Verwandte lebten. Friedrich Balbierer arbeiete in schule hatte ich bestanden. Nach sieben Mo- seinem Beruf als Ofenbauer, legte naten Ausbildung aber kam ein großer Rück- die Meisterprüfung ab und unternahm schlag: Ich wurde exmatrikuliert, weil ich im bereits ab 1977 den Schritt in die Aufnahmeantrag verschwiegen hatte, dass Selbständigkeit. 1989 hatte seine Firma zwölf Mitarbeiter. Er gründe- meine Großmutter in Bayern lebt. Nun musste te einen Rumänienhilfeverein, wurde ich umsatteln und begann eine Lehre als Bau- Stadtrat in Ilmenau für die CDU und konstrukteur in der Bauschule in Blaj, die ich ist bis heute Vorsitzender des Bau- ausschusses. 2000 ging seine Firma 1963 abschließen konnte. 1960 hatten mei- in Insolvenz. Er arbeitet heute als ne Eltern die Ausreise nach Deutschland be- Bauarbeiter. antragt, die 1963 genehmigt wurde. Also ver- ließen wir dann im Oktober dieses Jahres Ru- mänien und gingen nach Ilmenau. Hier lebte Bearbeitet von schon eine Tante. Ab November 1963 bis Dr. Juliane Rauprich 1975 arbeitete ich als Ofenbauer bei einer privaten Firma, die 1977 dann zum VEB Geboren wurde ich am 19. Mai 1945 im „Raumheizung Ilmenau“ wurde. In diesen siebenbürgischen Seiden. Meine Eltern waren Jahren legte ich meine Meisterprüfung als Weinbauern. Bis 1953 betrieben sie den Ofenbauer und Fliesenleger ab. 1966 habe Weinbau privat, dann bis 1962 in der Kol- ich geheiratet und bin heute Vater von zwei lektive. Mein älterer Bruder wurde 1941 ge- Töchtern und einem Sohn und auch schon boren, mein jüngerer 1951. Bis 1944 war länger Großvater. mein Vater im Krieg, kam dann als Kriegsge- fangener nach Russland. Erst 1950 konnte er Ab 1977 eine selbständige zur Familie zurück kehren. Meine Brüder und Existenz aufgebaut ich wurden also von der Mutter und von den Großeltern versorgt und erzogen. 1975 beantragte ich die Genehmigung zur 1949 war ein folgenschweres Jahr, wurden Führung eines selbständigen Betriebes, die damals doch die Siebenbürgen-Deutschen ich jedoch als „Staatenloser“ nicht erhielt. durch die Rumänen enteignet. Lediglich eine Das war der Grund für mich, die DDR- Bewirtschaftung für den Eigenbedarf war Staatsbürgerschaft zu beantragen. Ab 1. Mai noch erlaubt. Als jedoch die Kriegsgefange- 1977 war ich endlich selbständig und hatte nen 1950 zurückkehrten, erfolgte eine von mein eigenes Geschäft. Das habe ich dann

14 bis zum 24. Januar 2000 geleitet. Damals erledigten wir vor allem Aufträge aus dem so genannten „Bevölkerungsbedarf“, aber auch Aufträge für den Rat des Kreises Ilmenau. Nach und nach konnte ich das alte Ge- schäftshaus Am Rasen um- und ausbauen. Eine Werkstatt, ein Büro und später auch eine Wohnung entstanden. Im ersten Jahr meiner Selbständigkeit musste ich allein in meiner Firma arbeiten, da Arbeitskräfte nur aus der „nicht arbeitenden Bevölkerung“ – sprich Rent- ner – eingestellt werden durften. Ab September 1978 durfte ich dann wenigstens zwei Lehr- linge ausbilden. 1980 gelang es mir sogar, zwei gelernte Ofenbauer einzustellen. Dazu kamen 1982 noch zwei Arbeiter, die ich im Rahmen der Erwachsenenqualifizierung der DDR zum Ofenbauer ausbilden bzw. umschu- len konnte. In den Jahren zwischen 1984 und 1989 habe ich jährlich einen Lehrling ausgebildet. ternaktiven in den Klassen meiner Kinder. Und 1989 hatte meine Firma zwölf Mitarbeiter und dann gehörte ich auch von 1964 bis 1989 meine „mithelfende Ehefrau“, wie das hieß. der Freiwilligen Feuerwehr Ilmenau an. Wir haben für staatliche Organe gearbeitet, Die wachsende Krise in der DDR habe ich für die Gebäudewirtschaft und die Arbeiter- eigentlich mit Skepsis wahrgenommen. Im wohnungsgenossenschaft, auch für die Na- Grunde war meine berufliche Arbeit weniger tionale Volksarmee. Dadurch wurde Material beeinträchtigt, obwohl auch bei uns der Man- höher kontingentiert, so dass auch im Privat- gel an Material immer spürbarer wurde. Aber bereich für Bürger Arbeiten ausgeführt wer- meine Aufträge wurden ja von staatlicher den konnten. Die Arbeit insgesamt war trotz Seite gesteuert, da wirkte sich die allgemeine schwieriger Materiallage gesichert und somit Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage auch das Einkommen, denn abgeschlossene nicht so direkt auf mein Unternehmen aus. Aufträge wurden auch sofort entlohnt. Erst am 6. Oktober 1989 wurde ich erst- mals tiefer gehend mit der DDR-Staatsmacht Den Werbungen der SED über eine konfrontiert. Ein Mitarbeiter von mir und auch Blockpartei entkommen mein Sohn waren nach einem Disco-Besuch wegen angeblicher „staatsfeindlicher Demo“ Seit ich nun selbständig war, wurde ich mehr- von Stasi-Beamten festgenommen, verhört fach für die SED geworben. Eine Mitglied- und fünf Tage in Untersuchungshaft in Unter- schaft hätte aber meiner Haltung zum SED- maßfeld genommen worden. Das hatte ja Staat in keiner Weise entsprochen. Also wurde damals eine ganze Reihe Jugendlicher in ich, der Not gehorchend, 1979 Mitglied der Ilmenau betroffen und viel ins Rollen ge- Blockpartei Nationaldemokratische Partei bracht. Ich kann mich erinnern, dass ich Deutschlands. Auf diese Mitgliedschaft be- äußerst empört über die Vorgehensweise der schränkte sich in jenen Jahren meine politi- Polizei und der „Sicherheitskräfte“ war, über sche Tätigkeit, denn irgendwie dachte ich, es deren Gewalttätigkeit! Nun war mir völlig klar, sei ja doch nichts zu ändern am Lauf der dass dieser Staat mit Gewalt, Zwang und Dinge. Gesellschaftlich tätig, wie es damals Unterdrückung von persönlichen Auffassun- hieß, war ich allerdings in den jeweiligen El- gen nicht mehr lange so existieren wird, zumal

15 ja die Ereignisse in Ungarn und der Tsche- dann regulär Mitglied der CDU geworden. choslowakei bereits wegweisend waren. Eigentlich hatte ich damit geliebäugelt, so Doch noch einmal kurz zurück in den Jahren. richtig in die Kommunalpolitik einzusteigen. 1987 durfte ich meine erste Reise in die BRD Aber das verwarf ich wieder. Denn irgendwie machen – Anlass war eine Familienfeier. Da- standen schon damals die Forderungen nach bei habe ich eine Handwerkermesse in Mün- Arbeitsplatzbeschaffung, gerade in Zeiten, wo chen besuchen können. Über diesen Ent- es so viele junge Leute gen Westen zog. Auch wicklungsstand war mein Erstaunen riesig! hatte sich die Arbeitslosigkeit ja irgendwie Klar, mich hat der Erfahrungsaustausch mit schon abgezeichnet. Da wollte ich mit meiner den dortigen Berufsgenossen zu dem Wunsch Firma gewissermaßen gegensteuern. Die po- angeregt, berufliche Träume nun auch ver- litischen Wahlfunktionen als Stadtrat und Vor- wirklichen zu können, Erleichterungsmöglich- sitzender des Bauausschusses habe ich bis keiten bei der Arbeit anzustreben. Immer heute inne. stärker wurde der Wunsch, meine Tätigkeit Privat will ich noch betonen, dass meine selbst frei organisieren zu dürfen. Befürchtet Beziehungen zur alten Heimat nach Rumä- hatte ich zu dieser Zeit nur, dass das in der nien nie abgerissen sind nach der Ausreise. DDR nicht zu realisieren sei. Ende 1989 noch startete ich einen Hilfeaufruf für Rumänien; erste Hilfstransporte kamen zu- Handwerksmeister engagieren stande, die bis heute nicht abgerissen sind. sich in der örtlichen Politik 1992 dann habe ich den Rumänienhilfeverein e.V. gegründet, wurde Vorsitzender. Wir ha- Mit der Wende 1989/90 aber verband sich ben anspruchsvolle Projekte verwirklicht: In nun für mich die Überzeugung, dass Fleiß be- Laseln wurde ein Altenpflegeheim gebaut lohnt wird. Schon im November 1989 fanden bzw. unterstützt; in Blaj konnte ein Kinderheim sich hier verschiedene Handwerksmeister zu- ausgestattet werden; in Tirnaveni wurde die sammen zwecks Umstrukturierung der Hand- Psychiatrie im Kreiskrankenhaus mit Inventar werkskammer. Wir haben unsere Ideen und bestückt; in Seiden haben wir die Renovierung Forderungen damals in einem Offenen Brief der Kirche unterstützen können; beim Neubau formuliert. Es gab schon bald einen Erfah- einer Kirche in Aiud wurde geholfen; ein rungsaustausch mit westdeutschen Hand- Altersheim in Moldavien wurde ausgestattet. werksmeistern, u. a. über die Arbeit in den dortigen Handwerkskammern. Es wurden Hilfe für bedürftige Menschen wirtschaftliche Beratungen organisiert, Lothar in Rumänien Späth beispielsweise war schon damals hier vor Ort. Ein Rechtsanwalt-Büro aus Homburg Und dann wurden und werden noch be- im Saarland, eine Partnerstadt Ilmenaus, half dürftige Menschen auf privater Basis unter- uns bei der Aufklärung über rechtliche Mög- stützt – mit Brillen, Rollstühlen, Ausstattung lichkeiten. von Zahnarztpraxen u. a. Auch einen Kinder- Ich war gewillt, in der örtlichen Politik mit- spielplatz in Aiud haben wir aufgebaut und zuarbeiten. Etwas bewegen wollte ich. Des- eingerichtet. Einem schwer verletzten Kind aus halb ließ ich mich als parteiloser Kandidat für Rumänien wurde am hiesigen Kreiskranken- den Stadtrat und für den Kreistag aufstellen haus eine Handprothese per Operation an- für die CDU. 1990 wurde ich dann auch als gepasst. Zu alle dem waren viel Kraft, viel Zeit Stadtrat gewählt, wurde Vorsitzender des Bau- und eine ganze Menge Eigeninitiative nötig. ausschusses. Auch in den Kreistag war ich Vom Land Thüringen hat unser Verein aller- eigentlich gewählt worden. Aber meinen Be- dings auch nicht unerhebliche Fördermittel trieb wollte ich gerade jetzt, wo so vieles mög- bekommen. lich erschien, nicht vernachlässigen und so Mein eigenes Geschäft lief in dieser Zeit nahm ich diese Wahl nicht an. 1992 bin ich weiter. Am 1. Januar 1991 habe ich mit einem

16 Unternehmen aus dem fränkischen Burgkun- ohne mein Wissen bei der Sparkasse aus der stadt eine GmbH gegründet. Eines unserer unbegrenzten Bürgschaft hat heraus nehmen Ziele war es, ein Fliesen-Natursteinhaus in Il- lassen. Für mich war und ist völlig unklar und menau im ersten nach der Wende neu er- auch unverständlich, dass mich die Sparkasse schlossenen Gewerbegebiet zu errichten. Ich nicht darüber informiert hat. Schließlich galt war damals Geschäftsführer der Firma. Vor ich nun als alleiniger Verantwortlicher. Mein Ort habe ich, neben meinem kleinen Betrieb, Partner aus Franken hat meine Gutgläubig- den Bau des Natursteinhauses geführt und keit, mein Vertrauen und meine Unwissenheit gestaltet. Im Mai 1993 war dann die feierliche ausgenutzt. Ich sah mich veranlasst, nach die- Eröffnung. Man muss bedenken, dass es sich sem Schlag, den Gesellschaftervertrag erneut um einen Bauumfang von 4,5 Millionen DM einer Prüfung zu unterziehen. Dabei habe ich handelte. Meine damalige Ehefrau und meine dann noch mehr Ungereimtheiten entdeckt zwei Töchter haben mitgearbeitet dort. Ja, in und entschied mich, aus dem Unternehmen dieser Zeit bin ich eigentlich zum ersten Mal auszusteigen. Meine finanziellen Einbußen so richtig mit der Moral der „Wessis“ bekannt waren natürlich erheblich! Meine Anteile ha- geworden. Es galt damals die Bedingung, be ich aber in der Firma gelassen, um meine dass meine Töchter nur beschäftigt werden, andere Tochter vor der Entlassung zu schüt- wenn sie nicht schwanger würden und damit zen. Von Glück kann ich im Nachgang sagen, für den Betrieb ausfielen. Meine eine Tochter dass ich den Forderungen des fränkischen wurde schwanger – und entlassen! Partners nicht nachgekommen bin, meinen Das Fliesenhaus aber wurde in Ilmenau kleine Betrieb in das Unternehmen einzubrin- und in der Umgebung gut angenommen. Im gen, der zu dieser Zeit immerhin um die 30 Laufe der Zeit jedoch kam es zu verstärkten Mitarbeiter hatte. Ich habe mich nun wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und intensiver meinem Geschäft gewidmet. dem fränkischen Partner. Der wollte nur den Verkauf – ich wollte Arbeitsplätze und somit Durch Insolvenzen großer Betriebe auch Produktionsarbeiten ausführen. Heute in Mitleidenschaft gezogen weiß ich, dass er als Bundesbürger erfah- rungsgemäß Bedenken hatte wegen der Zah- Nach und nach stellten sich immer mehr lungs(un)moral der Kunden. Das Risiko wollte Schwierigkeiten auch in meinem Betrieb ein. er nicht eingehen. Rechnungen von Kunden wurden nicht begli- chen; als Subunternehmer erlitt ich finanzielle Auseinandersetzungen mit dem Tiefschläge, da Großunternehmen in Insol- Geschäftspartner aus Oberfranken venz gingen. Das zog natürlich auch mich und mein Geschäft in Mitleidenschaft. Zuneh- Bei mir gilt Aufrichtigkeit viel, das war ich so mend musste ich auf private Rücklagen zurück gewohnt. Deswegen wollte ich schon der greifen. Dazu kam, dass laut bundesdeut- Maßgabe entsprechen, Arbeitsplätze zu schaf- scher Gesetze die Materialbeschaffung zu- fen. Denn aus diesem Grund waren uns nächst vom Handwerker selbst bestritten wer- Fördergelder bewilligt worden. Die Ausein- den musste. Das hieß: Kredit aufnehmen, andersetzungen zwischen meinem Partner Verschuldung bei Banken und/oder Spar- und mir nahmen deswegen zu. Zahlungsein- kasse. gänge kamen nun tatsächlich oft nicht termin- War der Auftrag dann ausgeführt, wurde gemäß, was ich aus den DDR-Zeiten nicht nicht selten nicht bezahlt. Entweder konnte kannte. Das war gewissermaßen meine erste das Bauunternehmen, wo ich Subunterneh- große Enttäuschung, die erste gravierende mer war, nicht zahlen, oder so manches war negative Erfahrung im bundesdeutschen Staat. ganz und gar insolvent. Dazu kam das Ge- Meine zweite große Enttäuschung bestand währleistungsgesetz – also Bankbürgschaft. darin, als sich mein Geschäftspartner dann Wieder Verschuldung. Und obwohl die Arbeit

17 von mir und meiner Firma geleistet worden hinsichtlich der Bezahlung von erbrachten war, wuchs die finanzielle Not. Auch das An- Leistungen dringend angeraten! Ich war bis rufen eines Runden Tisches 1997 hat mir nicht dahin immer der Meinung: Wenn ich fleißig geholfen. Von einem Rechtsanwalt aus einem bin, wenn ich bis zum Umfallen arbeite, dann alten Bundesland wurde ich auch noch falsch habe ich auch Erfolg. Irrtum!!! Bei aller beraten. Dabei habe ich damals immer noch Misere, die ich inzwischen erleben musste, geglaubt, durch fleißige Arbeit von früh bis habe ich meine Einstellung bei einer großen spät die Misere abwenden zu können. Alle hiesigen Baufirma als positiv empfunden. De- persönlichen Versicherungen nebst meines nen war ich durch meine Arbeit und durch Wohnhauses habe ich verpfändet! Und immer meinen Betrieb schon bekannt. Allerdings ist noch gehofft auf Besserung. es eine enorme Umstellung für mich, der ich eigentlich seit 1964 eine eigenverantwortli- Mit der Insolvenz war auch das che Tätigkeit ausgeübt hatte, nun mit 55 Jah- Privatleben zerstört ren als quasi abhängig Beschäftigter mein Brot durch schwere körperliche Arbeit im Stra- Trotzdem kam im Januar 2000 die Insolvenz. ßenbau verdienen zu müssen. Von den ge- Im Ergebnis muss ich sagen: Mein Privatleben sundheitlichen Problemen, ja Schäden mag war zerstört, die Ehe ist gescheitert. Meine da- ich gar nicht reden hier. malige Ehefrau hatte ich aus der Haftung für Trotzdem: Die Wiedervereinigung Deutsch- den Betrieb heraus genommen. Nun stand ich lands war richtig! Sie ist, so sehe ich das heute, alleine da. viel zu schnell gegangen für uns hier im Wenn ich das heute so schildere, dann Osten. Eine tatsächliche und bitter nötige sind schon einige meiner negativen Erfah- Hilfe für uns hier wäre eine umfassende und rungen nach der Wende genannt worden. offene Aufklärung gewesen. Wir hatten doch Dazu kommt meine Erfahrung, dass Recht ha- viel zu wenig Ahnung von der Marktwirtschaft. ben und Recht bekommen wirklich zweierlei Woher denn auch?! Klar, heute bin ich klüger. sind. Bitter war und ist es schon, dass das Und viel skeptischer. Ich habe das Hinter- Vertrauen auf die Ehrlichkeit, die Hilfe, die fragen gelernt. Vielleicht ist ein Grund für die Unterstützung seitens des westdeutschen Part- ganze Situation heute die Inkompetenz der ners enttäuscht wurde. Da war eigentlich nur Verhandlungspartner der DDR-Seite. Wahr- Eigennutz. Das ging aber durchaus nicht nur scheinlich waren die genauso unwissend – mir so – das altehrwürdige „Henneberg“- und wir ehemalige DDR-Bürger müssen das Porzellanwerk ist zu nennen, das Glaswerk... büßen. Es ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass Aber natürlich gab und gibt es auch für so manches westdeutsche Unternehmen un- mich positive Aspekte und Erfahrungen mit sere Unwissenheit hier ausgenutzt hat. Da und seit der Wende. Die Qualität der Arbeit wurden dann die Fördergelder eingestrichen, und des Lebens hat sich schon erheblich ohne dass ein wirkliches Interesse am „Auf- gebessert. Man kann, wenn man den Mut hat, schwung Ost“ existiert hätte. Vielen ging es eigenverantwortlich und kreativ arbeiten. doch hauptsächlich um die eigene Sanierung. Beim Umsetzen von Aufträgen beispielsweise. Aber auch die Unterstützung, die mittel- Und ich kann bei der Entwicklung unserer ständische Unternehmen hier von staatlicher Stadt auf ein Mitsprache- und Mitgestal- Seite aus bekommen haben, ließ zu wünschen tungsrecht aufbauen. Das Gedeihen unserer übrig. So war und ist eine Gesetzesänderung Stadt, das macht mir schon Freude.

18 Hans-Ulrich Batzke Die Wende war das Beste, was uns Deutschen passieren konnte

Frankfurt an der Oder. Tiefstes Preußen. 1945 Hans-Ulrich Batzke: schafften die Russen an genau dieser Stelle Geboren 1941, verbrachte er mit sei- den Oderdurchbruch, wir flüchteten und ka- ner Familie die ersten Kindheits- men auf Umwegen schließlich nach Rudol- jahre in Lebus, einem kleinen Ort bei Frankfurt an der Oder. stadt.” Die Familie flüchtete vor der Roten Hier besuchte er dann die Grundschule Armee, die genau dort den Oder- und fand in seiner neuen Umgebung schnell durchbruch schaffte und gelangte Anschluss. Später ging er auf das Internat in nach Rudolstadt. Hans-Ulrich Batzke ging dort zur Schule. In Leipzig Keilhau. „Dort war ich bis zur achten Klasse- studierte er Bauwesen, spezialsier- da fing ich dann an zu denken!” Diese auf das te sich dann auf Stahlbau. Bereits Heranziehen von Parteinachwüchslingen aus- wärend des Studiums widerstand er gerichtete Schule missfiel ihm immer mehr – den Werbungsversuchen des MfS, spä- ter der SED. In der Wendezeit wurde er wechselte die Schule. 1960 beendete er Batzke in Rudolstadt sehr aktiv und seine Schulzeit an der EOS Rudolstadt mit schloss sich dem Demokratischen dem Abitur und bewarb sich für ein Studium Aufbruch an. Mit weiteren Partnern gelang ihm die erfolgreiche Pri- des Bauwesens in Leipzig. Seine Bewerbung vatisierung einer Stahlbaufirma, wurde akzeptiert, allerdings war daran die die bis heute am Markt ist. Ableistung eines „Ehrenwehrdienstes” ge- knüpft. Eigentlich wäre Herr Batzke der im selben Jahr des Mauerbaus eingeführten Das Gespräch führten die Schülerinnen Wehrpflicht gerade noch entgangen, doch Daniela Seiffert und Claudia Zeller ein solches Studium wäre nicht möglich ge- wesen. Als die Nachricht vom Mauerbau Eine Einladung zum Kaffeetrinken schlägt nie- kam, befand sich Herr B. gerade in einem mand gerne aus. Wir natürlich auch nicht und Panzer der Unterwasserspezialeinheit. Die so standen wir eines Nachmittags im Schloss- Einheit musste vier Tage ausharren. Die Ein- garten der Heidecksburg, auf unseren Inter- heit war von der Außenwelt vollkommen iso- viewpartner Herrn Hans-Ulrich Batzke war- liert. Das Einzige, was sie wussten: Es könnte tend. Er erschien pünktlich, in rotem Hemd zum Krieg kommen. Damals konnte er die und voller Tatendrang. „Ich habe mich auch Tragweite dieses Ereignisses noch nicht er- gar nicht vorbereitet”, gab er gleich offen zu. ahnen. Nichtsdestotrotz war die Errichtung Um aus seinem eigenen Leben zu erzählen, der Mauer für ihn „entsetzlich”. Nach seinem bedarf es ja auch keiner Vorbereitung. Als der abgeleisteten Dienst als Soldat der NVA stand Kellner unsere Bestellung aufgenommen hat- seinem Studium 1962 nichts mehr im Wege. te, setzte sich Herr Batzke bequem hin, wartete „Schon in meiner Schulzeit waren meine gespannt auf unsere Fragen, und fing dann, Freunde wie eine Art Nische in den ansonsten nach kurzem Nachdenken, an zu erzählen. totalitären Strukturen. Auch während des Stu- „Ich kam in der Kneipe meiner Eltern zur diums änderte sich das nicht. In dieser Zeit Welt- ,Zum Oderblick’. Damals, 1941, lebten habe ich die besten Freunde überhaupt ge- wir in Lebus, einem kleinen Ort nördlich von funden, mit denen ich auch heute noch in sehr

19 engem Kontakt stehe. Wir gründeten eine Stu- wissend, dass er der Aufforderung niemals dentenverbindung, die wir als Heimat ansa- nachkommen würde. Am Ende zwang man hen, in der wir nicht anfechtbar waren. Wir ihn, ein Schweigegelübde zu unterschreiben. versuchten in diesem Umfeld Mensch zu blei- Dieses Treffen hatte offiziell niemals stattge- ben!” Herr B. bezeichnet sich selbst als einen funden. Herr B. aber ließ sich nicht einschüch- „stillen Oppositionellen”, der sich mit dem tern: „Sofort nach dem Gespräch ging ich zu damals herrschenden Regime nicht iden- meinen Freunden und erzählte ihnen alles. tifizieren konnte. Doch bald sollte er sehr viel Das war das einzig Richtige. Ich wurde nicht mehr als ihm lieb war mit diesem zu tun weiter belästigt. Später fand ich heraus, dass bekommen. in meinen Stasi-Unterlagen vermerkt war, dass ich absolut ungeeignet für jegliche Spionage- Von der Stasi im fensterlosen tätigkeiten sei.” Raum empfangen Nach sechs Jahren beendete er sein Studium und arbeitete in der Industriebauprojektie- „Unter meinen Kommilitonen war ich, sagen rung in Jena – bis 1976. In diesem Jahr bot wir mal, recht beliebt. Und auch sonst war ich man ihm eine Leitungsposition an, die aller- an dieser Uni kein Unbekannter. Rückblickend dings den Eintritt in die SED voraussetzte. Herr hätte ich eigentlich ahnen müssen, dass ich so B. lehnte selbstverständlich ab und musste mit meiner Haltung die Staatssicherheit (Stasi) nun mit den Folgen leben. Zwar wurde ihm auf mich aufmerksam machen würde.” Und nicht gekündigt, doch die interessanten Auf- so kam es dann auch. Zur angeblichen Klä- träge wurden ihm vorenthalten. Dieser beruf- rung von Personalfragen bestellte man Herrn liche Rückschlag veranlasste ihn dazu, seine B. zur Polizeistelle Leipzig. Als er diesen Termin Stellung in Jena aufzugeben und nach Rudol- nicht wahrnahm, stattete ihm der Abschnitts- stadt zu kommen. Hier wurde er Leiter im bevollmächtigte Leipzig seinen Besuch ab und technischen Büro des VEB Stahlbau Rudol- teilte ihm mit, dass er seinen nächsten Termin stadt. bitte pünktlich wahrnehmen sollte. Dieser auf- gebaute Druck veranlasste Herrn B., den Ter- Protestmärsche in Rudolstadt min diesmal einzuhalten. aktiv mitgestaltet „Als ich an der mir zugewiesenen Tür klopf- te, wurde sie von zwei Männern geöffnet, ei- In der „Wendezeit” war er politisch sehr aktiv. „In ner der beiden zog mich in den fensterlosen Leipzig nahm ich an den Montagsdemonstra- Raum hinein. Die Tür wurde abgeschlossen, tionen teil. Wir trugen Turnschuhe, damit wir eine Türklinke fehlte. Die Beamten trugen kei- notfalls schnell wegrennen konnten.” Auch als ne Namensschilder. Plötzlich war ich eiskalt es hieß, dass Schießbefehl erteilt worden sei, und ganz ruhig.” Es ging ganz und gar nicht ging Herr Batzke auf die Straße, allerdings mit um die Klärung von Personalfragen. Die bei- einem mulmigen Gefühl im Bauch. Zurück in den Beamten stellten sich als Mitarbeiter der Rudolstadt, gestaltete er die Protestmärsche Stasi vor und begannen, auf ihn einzureden, aktiv mit. Er erinnert sich an Gottesdienste, die er solle sich als inoffizieller Mitarbeiter (IM) in der Stadtkirche abgehalten wurden, als verpflichten. Einstimmung auf den darauf folgenden Sein Aufgabenbereich sollte die Überwa- Marsch zur Lutherkirche. „Immer war die Stasi chung von ausländischen Mitstudenten um- präsent. Aber man konnte sie ganz leicht fassen. Ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, enttarnen. Sie kamen oftmals zu zweit und fingen sie an, ihm alle Einzelheiten seines saßen stocksteif auf den Bänken, fühlten sich letzten Lebensjahres aufzuzählen. Alte Knei- in ihrer Haut sichtlich unwohl.” An eine Szene pengeschichten, Freunde, gesungene Lieder, während eines Marschs erinnert er sich ganz Besuche, die ganze Palette, nichts wurde aus- besonders intensiv. „Wir zogen gerade am gespart. Er bat um Überlegungszeit, wohl Rudolstädter Postgebäude vorbei. Dort stand

20 ein Volkspolizist, der den Demonstrantenzug auch, dass er 1988 zusammen mit seiner Frau begleitete, mit Maschinengewehr über der in den Westen fahren durfte, denn nun war Schulter. Ich ging einfach zu ihm hin und Herr B. allseits bekannt als „Unruhestifter”. drückte ihm eine Kerze in die Hand.” Als sich „Ich belauschte zufällig ein Gespräch zwi- die Demonstranten nach einer an der Luther- schen dem Polizeichef und einem Mitarbeiter kirche gehaltenen „Brandrede” spontan dazu der Stasi. Sie sprachen darüber, dass mir die entschlossen, bis zum SED-Gebäude weiter Ausreise zu genehmigen sei, da ich sonst zu ziehen, drohte dort die Situation zu eskalie- ,unangenehm’ werden könne.” In diesem klei- ren. „Wir verdienen euer Geld”, skandierten nen Zwischenfall sieht Herr Batzke einen Be- die Demonstranten. „Die Stimmung war an- weis dafür, wie sich der Zusammenbruch der gespannt, die Menge aufgebracht. Einige DDR schrittweise ankündigte. „Das Regime hatten schon Steine in der Hand. Da kam hatte dem Druck der Bevölkerung immer we- meinen Freunden und mir plötzlich die Idee, niger entgegenzusetzten und machte Stück für die Nationalhymne der DDR zu singen.” Das Stück immer mehr Zugeständnisse. 1987 fuhr Erlebnis, vor dem SED-Gebäude lauthals „Auf- ich noch alleine. Ein Jahr später durfte meine erstanden aus Ruinen” zu singen, bezeichnete Frau ohne große Diskussionen mit.” Herr Batzke als „einmalig”. Damit war die Si- In dieser Zeit suchte Herr B. nach Möglich- tuation entschärft, und die Polizei hatte keine keiten, aktiv an der politischen Umgestaltung Möglichkeit, die Versammlung aufzulösen. teilhaben zu können. Er informierte sich um- fassend über die oppositionellen Gruppie- Die Reise zur Beerdigung seines rungen, die in den westlichen Bundesländern Bruders im Westen verwehrt über Partnerorganisationen verfügten und auch über neu gegründete Bündnisse. „Ich Zwei Jahre vor dem Zerfall der DDR, 1987, war nicht sicher, wohin ich gehörte und prägte sich ein weiteres negatives Erlebnis mit zögerte, mich einer bestimmten Bewegung der Staatsgewalt in sein Gedächtnis ein. Sein anzuschließen. Am liebsten hätte ich alle un- Stiefbruder, der zu dieser Zeit im Westen ge- terstützt, aber das ging ja schlecht.” Schließ- lebt hatte, war gestorben, und man geneh- lich wurde er Ende 1989 Mitglied im Demo- migte Herrn Batzke nicht, an dessen Beer- kratischen Aufbruch (DA), da er diese Grup- digung teilzunehmen. Aber bei so einer An- pierung für richtungweisend hielt, ihnen die gelegenheit „klein bei” zu geben kam ihm Unterstützung guter Leute sicher war. Er über- nicht in den Sinn. Mit seinem Anliegen ging er zeugte auch seinen Bekannten Herrn Stiller kurz darauf zur Polizeistelle, wo man ihm al- und den jetzigen Bürgermeister Dr. Hartmut lerdings erklärte, dass dies eine Entscheidung Franz, sich dem DA anzuschließen. der Staatssicherheit sei. Dort angekommen, wurde er in ein Zimmer Das war der Tag, dem alle gebeten, in dem man ihn ganze zwei Stunden entgegenfieberten warten ließ, um ihm dann schließlich mitzu- teilen: „Sie fahren nicht!”. „Das konnte ich Allerdings war es der Stasi schon kurz nach einfach nicht verstehen. Ich bin dann aber- Gründung des DA gelungen, dessen Füh- mals zum Polizeichef gegangen und habe rungspositionen durch Stasimitarbeiter zu be- damit gedroht, mich auf den Markt mit einem setzen. Davon zeigte sich Herr B. entsetzt und Plakat, auf dem mein Ausreiseantrag steht, zu völlig überrascht, vor allem von der Schnel- stellen. Wahrscheinlich hat das dann gewirkt, ligkeit und Effizienz, mit der die Stasi arbeitete. denn ich wurde danach zur Stasi gebeten. Doch auch diese „Personalprobleme” wurden Hier stellte mir der dortige Chef ein paar Fra- durch den Fall der Mauer gelöst. Herr B. war gen, die ich wie es schien recht gut beant- nun kein stiller Oppositioneller mehr, sondern wortet haben muss, denn bald darauf wurde ein engagierter Wahlkämpfer Dann fiel die mein Antrag bewilligt.” Und so kam es dann Mauer… „Das war der Tag, dem wir alle

21 entgegenfieberten. Ein lang ersehnter Traum fang ist schwer – das trifft auch hier zu, denn war in Erfüllung gegangen. Mich packte eine als ein ostdeutsches Unternehmen hatte man unbeschreibliche Euphorie! Wir waren zu die- im Westen keine großen Chancen. Doch mit sem Zeitpunkt in einer Jagdhütte im Thüringer der Zeit machte sich der Stahlbau Rudolstadt Wald und haben von der Neuigkeit erst am durch neue Ideen, Qualität und Kompetenz Morgen des 10. November 1989 erfahren einen Namen. Der Aufstieg des Unterneh- und entschlossen uns spontan, gen Westen mens in die erste Liga des Stahlbaus in Ge- aufzubrechen. Insgesamt waren wir neun Leu- samtdeutschland ermöglichte, die damalige te, alle voller Hoffnung auf ein nun voll- Mitarbeiterzahl von 60 auf 125 zu erhöhen. kommen neues Leben. Als wir schließlich in Auch werden derzeit elf Lehrlinge ausgebildet. der BRD angekommen waren, haben wir als „Wir sind also ein sehr vorbildliches Unterneh- erstes das bei uns verbotene Deutschlandlied men.” Zu ihren Aufträgen gehören bundes- gesungen. Doch ein Grenzsoldat musste uns weit etliche Tankstellen und Raststätten, aber leider enttäuschen – wir waren immer noch in auch regionale Bahnhöfe, Autohäuser oder der DDR! An der richtigen Grenze angekom- das Schloßcafé auf der Heidecksburg in men, fanden wir ein unglaubliches Durchein- Rudolstadt. In der Stahlbaubranche Deutsch- ander und Getümmel vor. Jeder wollte sei- lands ist der Stahlbau Rudolstadt als innova- nen Ossi haben! Wir folgten einer Einladung tives Musterunternehmen bekannt. Herr Batz- nach Bayreuth, wo wir dann ein Schild mit der ke erklärt diesen Aufstieg so: „Viele Westdeut- Aufschrift ,Studentenverbindung’ entdeckten. sche Unternehmen sind ja traditionelle Fami- Dort feierten wir bis zum Morgengrauen die lienbetriebe, denen es schwer fällt, sich auf Wiedervereinigung Deutschlands. Es war die die veränderte Marktsituation einzustellen. Wir schönste Nacht meines Lebens!” mussten unseren Betrieb nicht langwierig um- gestalten, uns bot sich die einmalige Möglich- Die manchmal etwas unbeholfene keit, den Betrieb von Anfang an transparent Besetzung der Schlüsselstellen und modern zu strukturieren. Der Stahlbau Rudolstadt hat also, getreu dem alten DDR- Dem politischen Engagement stand nun Motto, westdeutsche Unternehmen ‚überholt nichts mehr im Wege. Hautnah erlebte er die ohne sie einzuholen’ – das allerdings erst in manchmal etwas unbeholfene Besetzung der der Marktwirtschaft.” Heute hält Herr Batzke Schlüsselstellen des Landkreises mit. „Wir bundesweit Vorträge über moderne Arbeits- hatten eine Sitzung im ehemaligen Stasi- abläufe und sitzt im Vorstand des Deutschen Gebäude. Es ging um die Vergabe des Po- Stahlbauverbandes. stens des Landrats. Herr Dr. Thomas, der während der gesamten Diskussion schon Alte Freundschaften auch über ganz aufgeregt wirkte, antwortete mit einem die Wende hinweg bewahrt schlichten und erleichterten ,Ja’, als die , Frage, ob er denn Landrat werden wolle, an „Die ,Wende war das Beste, was uns Deut- ihn gerichtet wurde.” Seit der ersten Kom- schen passieren konnte.” Diesen Satz wie- munalwahl 1990 sass Herr Batzke im Stadt- derholte Herr Batzke während unseres Ge- parlament, später im Stadtrat, und fungierte sprächs oft und gerne. Sein Leben verlief auch bis 1999 als Vorsitzender des Wirtschaftsaus- nach der „Wende” in geordneten Bahnen, und schusses. er konnte seinen Freundeskreis bewahren. Auch wirtschaftlich änderte sich einiges für Noch immer trifft er sich regelmäßig mit ihn. 1990 kaufte er mit zwei Freunden der ihnen, um „wie in alten Zeiten” auf Hiddensee Treuhand den VEB Stahlbau ab und gründete zu zelten oder gemeinsam in den Skiurlaub zu die Stahlbau GmbH Rudolstadt. Dieses Unter- fahren. In diesen engen Freundschaften sieht nehmen existiert auch heute noch, allerdings er auch einen bedeutenden Unterschied zum nur noch mit zwei Geschäftsführern. Aller An- Westen. „Die Westdeutschen waren nie in so

22 einer Drucksituation”, konnten daher nie so und der Reformen müsse aber europaweit enge Freundschaften aufzubauen. Darum ablaufen, allerdings immer im Einklang mit beneiden uns die Wessis heute.” Trotzdem ist der Demokratie. „Ein bisschen Diktatur macht Herr Batzke ein Systemkritiker geblieben. vieles leichter, mögen zwar manche denken – „Meine Ideale erfüllten sich nicht, das System aber das geht nicht”, so sein abschließender der BRD war nicht so funktionierend, wie ich Gedanke. es erwartet hatte. Die DDR wünsche ich mir Inzwischen sind die Eisbecher und Kaffee- aber auf gar keinen Fall wieder.” Die Nach- tassen leer, die Mägen und Köpfe dafür voll. teile einer Demokratie müsse man eben hin- Herr Batzke ist glücklich, mal wieder in alten nehmen. In Bürokratie und Justiz sind seiner Erinnerungen geschwelgt zu haben. Denn das Meinung nach tiefgreifende Veränderungen tut er gerne. Herr Batzke hat seinen Weg ge- notwendig. Dieser Prozess des Umdenkens funden, damals wie heute auch.

23 Karl-Heinz Bauchspieß: „Was ich immer werden wollte...”

aber umtriebig, bodenständig und geradlinig Karl Heinz Bauchspieß: und mit Leib und Seele Bauer. Deshalb will ich Geboren 1941 in Heilsberg bei Remda seine Biographie. Ich weiß auch, große Worte in einer Landwirtsfamilie. Heute ist er als so genannter Wiederein- mag und gebraucht er nicht, schon gar nicht, richter, also selbständiger Land- wenn es um ihn geht. Aber ich kriege einen wirt tätig. Termin, etwas unbestimmt Abends, und Diesen Traum hat er sich 1991 end- wenn das Wetter passt, und nicht zu lange . lich verwirklichen können. Mit zwölf Hektar, jener Fläche, die Ich bleibe hartnäckig und schließlich klappt seine Familie 1956 in die LPG ein- es. Ich sitze ihm spätabends gegenüber, er ist bringen musste, begann Karl-Heinz etwas abgespannt, aber ich spüre, es ist ihm Bauchspieß. Heute bewirtschaftet er ganz recht, mal zu verschnaufen und zurück- 97 Hektar Land. Eine Ferkelproduk- tion ist eines seiner wichtigsten zublicken. Meinen Fragen folgend steuert er wirtschaftlichen Standbeine. Mit wesentliche Stationen seines Lebensweges an. erheblichen Investitionen errich- *** tete Bauchspieß ein neues Schlacht- haus sowie einen Hofladen und nahm Geboren wurde ich 1941 hier in Heilsberg in damit die Weiterverarbeitung, eben- einer Landwirtsfamilie. Der Hof war mit zwölf so die Vermarktung seiner Produkte Hektar nicht groß, aber er hat die Familie er- in eigene Regie. nährt. Mein Vater ist im Krieg gefallen. Meine Mutter hat den Hof zuerst allein und später mit meinem großen Bruder bis 1956 weiterge- Das Gespräch führte führt, so gut es eben ging in diesen schwieri- Rainer Morgenroth gen Zeiten nach dem Krieg. Schwer blieb es dann auch in der DDR, mit Anbauauflagen, Zeit hätte er eigentlich nie, und für so was Ablieferungssoll, eingeschränkten Lebensmit- schon gar nicht, meinte mein Schulkamerad telkarten und Bezugsscheinen sowie zu wenig aus gemeinsamer Zentralschulzeit in Remda, Geld für Maschinen und Geräte, die es sowie- als ich mein Anliegen vortrug. Verständlich, es so kaum oder nur schwarz gab. ist Juni, da gehen Heumachen und Silieren 1955 wurde in Heilsberg eine LPG Typ 3 vor, zumal das Wetter in diesem Jahr verrückt gegründet und 1956 sind Mutter und Bruder spielt. Daneben muss er schlachten, wursten, dieser beigetreten. Allein hatte das Wirtschaf- Spanferkel zubereiten. Das ist das zweite Stand- ten zu dieser Zeit keinen Sinn mehr. Dazu kam bein der Wiedereinrichterfamilie Bauchspieß, der ständige Druck staatlicher Organe, die wie ein bescheidenes Schild am Hoftor ver- den Eintritt forderten. Im gleichen Jahr be- rät. Von eben diesem Hoftor aus verfolge ich gann auch meine landwirtschaftliche Lehre in ihn durch sein Reich: der Hof, das neue dieser LPG. Diese Berufswahl war für mich Schlachthaus, die Wurstküche, der Hofladen, selbstverständlich. Seit früher Kindheit war ich der Backofen und die Hausküche. Ich rede auf unserem Hof in alle Arbeit eingebunden auf ihn ein, er hört mit halbem Ohr zu. Er fragt und wollte nun selbst Bauer werden. kurz und manchmal poltrig nach. Das hält Ich war christlich und bodenständig erzo- mich nicht ab, so kenne ich ihn. Er ist wortkarg

24 gen worden und fühlte mich in meinem Hei- men. Die Idee der Direktvermarktung hat ihre matdorf wohl. Meine Lehre dauerte von 1956 Wurzeln noch in der DDR-Zeit und hat mit bis 1958. Seither arbeite ich bis heute in der meiner damaligen Arbeit zu tun. Nach dem Landwirtschaft, bis 1990 als Genossen- Wehrdienst kam ich in unsere LPG zurück und schaftsmitglied und seit 1991 bin ich endlich arbeitete hier bis 1972, zuerst im Feldbau, was ich immer werden wollte, ein selbständi- dann in der Tierproduktion. Ab 1972 wech- ger Bauer. selte ich in die Zwischengenossenschaftliche Bis hierher war es ein langer und schwie- Einrichtung (ZG) Sauenzuchtanlage Rem- riger Weg. Zu verdanken habe ich das der da. Das war nicht meine schlechteste Zeit, politischen Wende 1989 und der deutschen denn hier lernte ich erstmals geregelte Ar- Wiedervereinigung 1990. Das zu erleben wä- beitszeit, festes Gehalt und sehr gute soziale re mir vorher höchstens im Traum eingefallen. Betreuung kennen, zum Beispiel gute Verpfle- Denn politisch interessiert war ich ohnehin nie gung in eigener Betriebsküche für geringen Ei- besonders. Ich wurde, wie gesagt, christlich er- genbetrag. Man kam und ging in Straßen- zogen und natürlich kleidung, hatte Urlaub konfirmiert. Das war und vieles andere mehr. da-mals auf dem Dorf Dort ging ich auf Arbeit, noch zu Hause war ich aber selbstverständlich, ob- Bauer klein aber mein! wohl man Pionier oder Es gab näm-lich damals in der Lehre FDJ-ler war. die Möglich-keit der Einer Partei oder Orga- individuellen nisation bin ich niemals Hauswirtschaft , jedoch beigetreten. Der DDR ohne eigenes Land. Da- dienen musste ich nur für gab es Deputat an als Wehrpflichtiger Futtermitteln. Außerdem 1965 bis 1966. Ich wur- wurde jeder verfügbare de mit 24 Jahren ein- Quadratmeter gepachtet gezogen, obwohl ich und bebaut. Jeder ver- 1964 meine Frau Doris fügbare Straßenrand wur- heiratete hatte. Wir wur- de gemäht, jede Split- den kirchlich getraut und terfläche genutzt. Die da- unsere beiden Kinder, die zu gehörigen Geräte 1966 und 1971 zur oder einen Traktor muss- Welt kamen, sind ge- te man sich schon selber tauft. Ihre Erziehung besorgen. übernahm hauptsäch- Ohne Beziehungen lich meine Frau, aber beide Söhne betrieben oder auch Tauschange-bote ging nichts! Erst mit mir unsere individu-elle Kleinwirtschaft hat-te ich über meinen Schwa-ger einen alten und hatten frühzeitig ihre eigene Schlepper Pionier ergattert vom Schrott. Kleintierhaltung. Sie sind also in meine Art Dann hatte ich einen moderneren geschlagen. Ich will damit sagen, gearbei-tet Geräteträger 09 in Aussicht. Dessen hat immer die ganze Familie. Besitzer wollte ihn aber nur gegen eine Meine Frau hatte in Saalfeld Schneiderin Gefriertruhe abgeben. Woher die nehmen? gelernt, arbeitete ab 1972 zwölf Jahre mit mir Endlich hatte ich eine, aber ohne Garantie. in der ZG und danach fünf Jahre beim GHG Die wollte mein Geschäftspartner aber nicht. (Großhandelsgenossenschaft). Seit 1991 führt Meine Tante in Westberlin musste sie mit mir unseren Hof und hat die Vermark- einspringen. Über Genex wurde eine West- tung und den Hofladen in ihre Regie genom- geld-Kühltruhe für einen schrottreifen, abge-

25 schriebenen Ost-Traktor eingetauscht. Not würde es so nicht weitergehen. Und erste machte eben erfinderisch. Die Mangelwirt- Anzeichen dafür waren bald spürbar. In der schaft begleitete uns 30 Jahre. Meckern war ZG gab es die ersten Abschiebungen in den an der Tagesordnung, und wenn man meinte, Vorruhestand, danach wurden die Betriebs- das geht so nicht weiter, es ging doch irgend- schlosser entlassen und Rückversetzungen in wie. So kam man eben auch auf seltsamen die LPG erfolgten. Aber auch dort gab es Wegen zu einem Traktor. Ich brauchte ihn schon Auflösungserscheinungen, manche Mit- dringend. Schweine, Schafe, Hühner wollten glieder diskutierten schon offen über Boden- versorgt werden. und Inventarauslösung. Dann gab es noch ein In dieser Zeit (1980er Jahre)schuf ich mir Gerücht. Die Heilsberger sollten aus der einen guten Ruf mit einem Nebengeschäft, Groß-LPG (KAP) ausgelöst werden und die das heute mein zweites wirtschaftliches Stand- Flur käme zu einem Großprojekt ein Araber bein geworden ist die Spanferkelproduktion. wolle in einen Reiterhof und Pferdezucht in- Und das kam so: Auf unserem Hof war ein vestieren, und alle können ihre Flächen ge- intakter Backofen verblieben. In diesem hatte winnbringend verpachten oder verkaufen. ich für Festlichkeiten in meinem Betrieb öfter Spanferkel zubereitet. Freunde, Bekannte oder Eine Entscheidung musste Arbeitskollegen wollten nun häufig für Fami- gefällt werden lienfeiern auch privat Spanferkel. Damals konn- te ich gar nicht alle Wünsche befriedigen. Eine Entscheidung mußte her, denn ich wurde Heute ist das ein wichtiger Teil meines Ver- in die Fleischvermarktung der LPG nach marktungskonzeptes. Sundremda versetzt; ein erstes Signal für meine baldige Entlassung? In dieser Zeit wur- Die Wende als Urlaubsüberraschung de bereits meine Frau entlassen und arbeits- los. In der LPG ging die Rede um, wer Rück- Aber das war alles noch vor der Wende. Die gabe seines Bodens und Inventars beantragt, hat mein Leben völlig verändert. Vorbereitet wird entlassen. Und ich hatte diesen Antrag war ich darauf eigentlich überhaupt nicht. gestellt. Meine Frau erklärte mich für verrückt, Wer konnte schon damit rechnen, dass die als ich die Absicht der Wiedereinrichtung äu- DDR so untergeht, die Russen abziehen und ßerte. Mit zwölf Hektar, ohne Technik, wie wieder ein geeintes Deutschland entsteht. Für sollte das gehen. Bei Informationsfahrten in mich war die Wende eine Urlaubsüberra- den Westen , wo wir uns auch nach ge- schung. Zu unserer Silberhochzeit hatten wir brauchten Maschinen umsahen für neue einen Urlaubsplatz in Saaldorf bei Loben- war kein Geld da ernteten wir beim Nennen stein bekommen. Dort überraschte uns die unserer Betriebsgröße nur mitleidiges Lä- Nachricht von Grenzöffnung und Mauerfall. cheln: Solche müssen bei uns aufhören, und Und wir waren ganz nahe an der Grenze, ihr wollt bei Null anfangen! doch es gab keinen nahen Übergang. Wir hät- Aber der Gedanke setzte sich fest. Ich woll- ten über Hof fahren müssen mit stundenlan- te endlich mein eigener Herr auf eigenem Hof gem Staurisiko. Das haben wir nach einem sein. Ein Glück, dass ich nicht wusste, was da kurzen Versuch sein lassen. Den kostbaren Ur- auf mich zukam. Ich habe viel Lehrgeld ge- laub wollten wir uns nicht im Stau verderben zahlt, aber wir haben es gemeinsam ge- und sind viel später erstmals ohne Antrag in schafft. Die schlaflosen Nächte, täglichen Sor- den Westen gefahren. Außerdem stand in gen und endlosen Arbeitstage! Manche Alten den Wendemonaten für uns schon Wichtige- verglichen die Umbruchsmonate und ihre res als Reisen zur Diskussion. Neben aller Rechtsunsicherheit mit der Zeit nach dem Krie- Freude über das Geschehene und neben al- ge. So erhielt ich zum Beispiel bei der Inven- len Erwartungen gab es schon erste Unsi- tarrückgabe für ein in die LPG eingebrachtes cherheiten. Wir wussten, in der Landwirtschaft Pferd einen alten Traktorhänger und ein Was-

26 serfass. Entmutigen konnten mich solche Din- gehen. Das ist das schönste Geschenk der ge nicht. Hauptproblem war der geringe Land- Wende. Sicher, die Arbeit ist härter geworden besitz von zwölf Hektar. Wir pachteten zuerst und der Zusammenhalt der Menschen ist zu- acht Hektar zu und begannen 1991 mit 20 rückgegangen. Da und dort gibt es Neid oder Hektar, heute sind es 97. An Vieh bekam ich Missgunst. Aber was meine Familie sich in bei der Inventarrückgabe fünf Kühe und zwei rund zehn Jahren geschafft hat, war in 30 Färsen sowie fünf tragende Sauen, letztere Jahren vorher nicht möglich. Das macht uns waren für meine Spanferkelproduktion und schon stolz. Sicher gibt es auch immer neue Wurstvermarktung eine wichtige Grundlage. Herausforderungen und auch Stolpersteine. Zum Beispiel wurde uns seitens der Hy- Fehlende Erfahrungen gieneinspektion 2001 eröffnet, unser Vermark- kosteten Lehrgeld tungs- und Spanferkelprogramm könne nur mit einem neuen Schlachthaus fortgeführt Dass ich Lehrgeld wegen fehlender Erfahrung werden. Zum Glück gab es für diese unerwar- und mangelnder Beratung zahlen musste, tete Investition ein Förderprogramm, hatten habe ich schon angedeutet. Aus heutiger wir doch gerade auf dieses Vermarktungskon- Sicht würde ich manches anders machen. Ich zept gebaut, und auch meine Frau ihre ganze hätte die Wiedereinrichtung noch eher starten Kraft hineingesteckt. Und 2001 stand das müssen, dann hätte ich noch einige Förder- neue Schlachthaus mit Hofladen. programme nutzen können, die frühzeitig ausliefen, zum Beispiel die Grünlandzuschüs- Der Sohn kann einen se. Auch beim Wiedereinrichtungsplan gab es gesunden Hof übernehmen einen Fehler. Das Landwirtschaftsamt hatte beispielsweise darin das Überbrückungsgeld Jetzt läuft der Betrieb, die Zinslast ist erträglich vernachlässigt. und ich kann ans Altenteil denken, meine Frau Mit Steuerberater wäre das sicher nicht ist ja schon in Rente. Aber ihre Hände werden passiert. Aber der hätte Geld gekostet, doch noch jeden lieben langen Tag gebraucht. Und das brauchte der Hof, Mark für Mark. Denn lang sind die Arbeitstage bei uns und werden neben dem entsprechenden Flächennachweis es bleiben. Probleme wird es auch immer wie- waren schwarze Zahlen Grundbedingung der geben, da muss man durch. für die Wiedereinrichtung. Zum Glück kam Das weiß mein Sohn und Hoferbe auch. ich noch vor der Altersgrenze von 55 Jahren in Nach einem zweijährigen Versuch, sich mit den Haupterwerb. Sonst wären auch da noch einem Gespann als Lohnunternehmer für den Fördermittel entgangen. Der Papierkram war Forst (Holzrücker) selbständig zu machen, ist für mich ungewohnt, plötzlich braucht man er in unseren Betrieb eingestiegen, nachdem einen Steuerberater, Anwälte für Verträge, klar war, die Forstsache hat keine Zukunft. Er Beratungen für Versicherungen und Rente. ist also anders als ich in die Marktwirtschaft Das war alles neu. Aber wie gesagt, es ist ge- hineingewachsen, hatte mehr Zeit. Er kann schafft. Ich bin mein eigener Herr, was ich einen gesunden Hof übernehmen und sich schaffe, gehört mir, ich kann frei damit um- Dank der Wende als freier Bauer behaupten

27 Matthias Büchner: „Kunst ist frei”

gewesen. Und inzwischen hat er, der bisher Matthias Büchner: eifrige Sammler, gelernt loszulassen. Dinge Geboren 1953 in Zella-Mehlis. Dort bedeuten ihm nicht mehr viel. Er wird nach besuchte er die Schule, lernte in Erfurt Gärtner. Seine künstleri- Erfurt umziehen, ein neuer Abschnitt seines schen Anregungen bekam er von der Lebens muss anfangen. Nur seine alten Bü- Mutter, vom Vater die pazifistische cher kann er nicht loslassen, sie ziehen mit Prägung. um. Er meint, wenn er kein Studienverbot in Matthias Büchner war schon früh un- der DDR bekommen hätte (weil er den Wehr- bequem und wurde bereits als Ju- gendlicher zum Staatsfeind der DDR dienst verweigerte), wäre sein Leben viel- erklärt. Eine Arbeitserlaubnis als leicht anders verlaufen. Er wäre vielleicht Bib- Maler und Grafiker verwehrte man liothekar geworden und hätte seine Liebe zu ihm, diesen Beruf kann er erst jetzt ausüben. In der Zeit des Umbruchs in alten Büchern ausgelebt. der DDR (Büchner lehnt den Begriff „Wende” ab) wurde er zur Leitfigur Immer selbst nach eigener im NEUEN FORUM, bei der Stasi-Auf- Meinung entscheiden lösung und beim Neubeginn. Matthias Büchner blieb unbequem, im neuen Thüringer Landtag und im Alltag der Matthias Büchner wurde 1953 in Zella-Mehlis neuen Bundesländer. geboren. Dort ging er bis zur 10. Klasse zur Schule. Von seiner Mutter, die vor einem Jahr nach langem Krebsleiden gestorben ist, be- Das Gespräch führte kam er künstlerische Anregungen. Sie arbei- Ursula Gödde tete als Porzellanmalerin, und er lernte, auch Details beim Malen zu gestalten. Seinen Vater, Matthias Büchner betritt den Raum der Gast- der schon länger tot ist, vermisst er noch im- stätte, in der das Interview stattfinden soll. Ich mer. Durch ihn wurde er pazifistisch erzogen. kenne ihn nicht, erkenne ihn aber sofort: das Sein Vater war Mitglied der NSDAP gewesen Denkmal B mit dem Rauschebart als Kenn- und fühlte sich nach dem Krieg durch dieses zeichen. Inzwischen hat der Bart graue Fäden Engagement verführt und ausgenutzt. Er im Schwarz. In letzter Zeit musste er schwere wollte nie wieder in eine Partei. Obwohl sein Schicksalsschläge hinnehmen, er wirkt müde, Vater wenig Zeit für ihn hatte, wirkte er prä- erschöpft. Ein Kamerateam dreht im Augen- gend auf Matthias. Er vermittelte ihm das Ge- blick einen Film über sein Leben, auch das fühl, ernst genommen zu werden. So hatte sein strengt an. Gestern malte er nach langer Zeit Vater ihn einmal wegen etwas bestraft, das er wieder und es gelang. Die Umstände waren nicht getan hatte. Seine Unschuld stellte sich außergewöhnlich: er malte auf eine Glasplat- heraus, und sein Vater entschuldigte sich bei te und wurde dabei durch diese hindurch ihm wie bei einem Erwachsenen. Er sagte gefilmt. Das Bild gibt es nicht mehr, es ist in auch allen anderen an dem Vorfall Betei- der Nacht bei einem heftigen Gewitter zer- ligten, dass er seinen Sohn zu Unrecht bestraft sprungen. Matthias Büchner ist eigentlich froh hatte. Sein Vater bestärkte ihn darin, sich im- darüber, die Farben wären doch nicht richtig mer selbst, nach seiner eigenen Meinung zu

28 entscheiden. Gleichzeitig wusste er, dass sein dium am kirchlichen Oberseminar in Potsdam Vater seine Entscheidungen respektierte und musste er ebenfalls vorzeitig beenden. Im Rah- hinter ihm stand. Das gab ihm Kraft. (Matthias men der Erwachsenenqualifizierung erlangte Büchner hat einen 14-jährigen Sohn und er im VEB Erfurter Blumensamen den Fachar- hofft, dass er all dies so weitergeben kann. Er beiterabschluß als Gärtner. Seit 1979 geht er ist sich aber auch bewusst, dass er in der Zeit keiner beruflichen Tätigkeit nach und be- nach 1989 sehr wenig Zeit für ihn hatte.) zeichnet sich als freischaffender Künstler. Die Eltern von Matthias Büchner waren Beim VEB Erfurt Samen- und Pflanzenzucht nicht DDR-konform. Auch das prägte ihn. war er Arbeitsplatzgestalter . Eigentlich fand Schon als Kind hat er sich über Lügen in der er die Idee gut, Arbeitsplätze mit Pflanzen zu Schule aufgeregt. Er merkte, dass man in gestalten. Aber da er wegen seiner negati- zwei Zungen reden musste: eine für die Schu- ven Vergangenheit gepiesackt wurde, kün- le, eine für zu Hause. Bestimmte Parolen digte er 1978 voller Zorn. Auf dem Amt für konnte er aber nicht verstehen, z.B. Ohne Gott Arbeit erklärte man ihm: Für Sie gibt es in der und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein . DDR keine Arbeitsstelle. Man wollte, dass er Er bat seinen Vater, ihm dies zu erklären, doch einen Antrag auf Ausreise stellte. Aber er der konnte das natürlich auch nicht. wollte bleiben. Ein Freund von ihm, der auch gedrängt wurde, einen Ausreiseantrag zu stel- „Bleibe im Lande und len, heftete einen Zettel an seine Tür: Bleibe wehre dich täglich.“ im Lande und wehre dich täglich. Auf der einen Seite hat Matthias Büchner Im Gegensatz zu vielen anderen hat er schon sich dem DDR-Staat verweigert, auf der an- damals ausgesprochen, was ihn störte. Damit deren Seite wollte er nicht, dass dieser über ist er auf die Nase gefallen. Zum weiteren ihn triumphiert und er weicht. Seine Totalver- Werdegang ein Zitat aus seiner Stasiakte: B. weigerung begann 1968. Er war sportlich er- Matthias erreichte den Abschluss der 10. folgreich, in seiner Altersklasse Vizemeister im Klasse und brach aus gesundheitlichen Grün- Sportgewehrschießen. Da er sich positiv und den eine Lehre im VEB WBK Suhl ab. Ein Stu- begeistert über den Prager Frühling äußerte,

Matthias Büchner sprach zur Demonstration im Hernbst 89 von den Erfurter Domstufen

29 war seine Sportkarriere beendet. Er ging in die nen. Er beteiligte sich z.B. an den Mahnwa- Opposition, zunächst innerlich, später dann chen und ,Bittgottesdiensten in der Haupt- zunehmend auch nach außen hin. Trotzdem stadt der DDR. Inoffiziell wude bekannt, dass fühlte er sich auf dem Gebiet der DDR zu Hau- B. die Berliner Kirche von unten als Füh- se. Das zeigte sich auch, als er Ende der rungsorgan einschätzt, welches in der Lage 1970er Jahre zusammen mit 34 anderen wäre, alle oppositionellen Gruppen, die ge- DDR-Bürgern verhaftet wurde und ins Staats- genwärtig uneffektiv und zersplittert arbeiten, sicherheitsgefängnis in Warschau kam. (Im darunter die sog. Offene Arbeit in Erfurt, Nachhinein sieht er es als Test der Sicher- zusammenzuführen und zu lenken, um eine heitssysteme gegen unliebsame Elemente.) höhere Wirksamkeit zu erreichen. Sie wurden im Gefängnis misshandelt. Er Wie gefährlich nichtkonforme Künstlerkrei- wollte mit einem Angehörigen der DDR-Bot- se in der Stadt Erfurt eingestuft wurden, ver- schaft sprechen um sich zu beschweren. Ein deutlicht eine Anfrage, die nach der Stasi- Angestellter kam, sah ihn an und meinte: So besetzung an Matthias Büchner gestellt wur- wie Sie aussehen, sollten Sie auch nicht ins de. Eine Frau wollte wissen, warum ausge- Ausland fahren. Er erhielt keine Hilfe. rechnet ihr gekündigt wurde, ob das mit ihrer langjährigen Opposition zu tun habe. Büch- Keine Arbeitserlaubnis ner, damals in der Untersuchungskommission als Maler und Grafiker tätig, stieg mit dem Staatsanwalt in den Keller der ehemaligen Stasizentrale. Es hatte mit Matthias Büchner versuchte, als Maler und ihrer Opposition zu tun doch ganz anders, Graphiker seinen Lebensunterhalt zu verdie- als sie dachte. Sie kannte viele unter den nen. Da er aber in der DDR keine Arbeitser- Künstlern aus der Stadt, hatte sich aber gewei- laubnis bekam, bekam er auch keine Steuer- gert, für das MfS zu arbeiten und Informa- nummer. Das wiederum bedeutete, dass Auf- tionen über diese zu liefern. Man versuchte es traggeber nicht offiziell mit ihm abrechnen im Guten: Man gab ihr eine Stelle, die sie konnten, der Verband Bildender Künstler durf- zwar wollte, die sie aber überforderte. Sie ar- te ihn nicht aufnehmen. Er musste also seine beitete trotzdem nicht für das MfS. Man drohte Bilder verschenken und bekam dafür (Geld-) ihr, aber es half nicht. Drei IM (Inoffizielle Mit- Gegengeschenke. arbeiter) fanden heraus, wie ihr Traummann In Berlin gab es ein Kollegium bildender aussehen könnte. Ein passender Stasimann Künstler, das nach dem Genossenschafts- wurde gefunden, der sie ansprach und sich prinzip aufgebaut war. Er wurde aufgenom- mit ihr verabredete. Sie verliebte sich in ihn, men und hatte aufgrund einer Gesetzes- wurde schwanger und sie heirateten. Zwei lücke endlich eine Steuernummer. Viel half Kinder aus der Ehe tragen den Tarnnamen das aber auch nicht, denn wenn seine Auf- ihres Vaters. traggeber feststellten, dass er eine uner- Aus diesem Bett kam ein Gutteil der Infor- wünschte Person war, zahlten sie teilweise mationen über die Erfurter Abweichler, stellte nicht. Das Kollegium Bildender Künstler wurde Büchner im Nachhinein fest. Weil die Frau später aufgelöst, die Gesetzeslücke war ge- vom MfS gefördert worden war, wurde sie schlossen. entlassen. Als sie zu uns kam, arbeitslos und Das MfS hatte ihn inzwischen mit Dutzen- ziemlich verzweifelt, sagte sie: Zum Glück ha- den von Spitzeln im Visier und setzte ihn stän- be ich meinen Mann und die Kinder. Büch- digen Schikanen aus. Die Einschätzung Büch- ner sagte nichts über die Erkenntnisse, und ners durch die Stasi dokumentiert der folgen- auch der Staatsanwalt sah sich am Rande des de Auszug aus seinen Akten: B. bezieht eine Rechts angekommen. feindlich-negative politische Einstellung zu den Als sich 1989 auch in Erfurt das NEUE FO- gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR RUM formierte, wurde Matthias Büchner zu ei- und ist dem politischen Untergrund zuzuord- ner Leitfigur der Opposition, vor allem wegen

30 seines selbstbewussten Auftretens bei ersten Andreasstraße schon heller Aufruhr. Die Demonstrationen. Diese gab es in Erfurt erst Gruppe Frauen für Veränderung hatte De- Ende Oktober, als anderswo die Straße schon monstranten mobilisiert, die Einlass forderten. kochte. Büchner und seine Freunde fürchte- Büchner erzählt: Stasichef Josef Schwarz soll ten Blutvergießen und dass das Land im Cha- erstmal eine Flasche Cognac getrunken ha- os untergehen würde. Im Nachhinein meint ben. Dann rief er beim Bezirksstaatsanwalt er, sie wären vielleicht zu vorsichtig gewesen. Sander an, fragte: ,Soll ich schießen lassen oder nicht? Sander sagte mutig: ,Josef, Die erste Erstürmung einer sammle alle Waffen ein und lass die Leute Stasidienststelle rein. Für dieses Mal haben wir verloren. Viel- leicht haben wir es Sander zu verdanken, dass Dafür wurde am 4. Dezember 1989 in Erfurt es nicht knallte. Wäre Blut geflossen, hätte es Zeitgeschichte geschrieben: es fand hier die im ganzen Land Gewalt gegeben. erste Erstürmung einer Stasidienststelle statt. Am Nachmittag war das Gebäude in der Büchner erinnert sich: Am Vorabend traf sich Hand der Bürger. Nach diesem Signal aus die Führung des NEUEN FORUM in Grünheide Erfurt wurden in den folgenden Stunden und bei Berlin. Wir saßen im Dorfkrug, einst Tagen fast alle Stasigebäude in der DDR ge- Stammkneipe von Robert Havemann, und stürmt, zuletzt am 15. Januar 1990 Mielkes hörten dort die Nachricht von der Flucht Hauptquartier in Berlin. In Erfurt waren für Schalck-Golodkowskis. Uns wurde klar, dass einige Monate das NEUE FORUM und sein wir schnell handeln mussten, um zu verhin- Sprecher Matthias Büchner die Mächtigen. dern, dass die Stasi Devisen ins Ausland ver- Viele zitterten vor ihm, weil er und sein Freun- schiebt und Akten vernichtet. Im ganzen Land de nicht zögerten, viele der Verbrechen aus brannten bereits die Aktenvernichtungsöfen. den Stasiakten umgehend öffentlich zu ma- Freunde zogen zur Tagung der Kultur- hen. schaffenden im Palast der Republik, wiegelten die Versammlung auf. Gemeinsam zogen sie Nur vier Jahre im neuen zur FDGB-Zentrale, von wo ebenfalls rau- Thüringer Landtag chende Schornsteine gemeldet wurden. Über- raschenderweise spielte die Staatsanwalt- Im neuen Thüringer Landtag saßen Büchner schaft mit, und als sie in einem Gewerk- und sein Freund Siegfried Geißler (Komponist schaftstresor Millionen D-Mark fanden, war und Alterspräsident des ersten Thüringer das die eigentliche Initialzündung. Landtages) als Vertreter des NEUEN FORUM Per Telefonübermittelten sie folgenden Text nur vier Jahre, 1994 bereits scheiterte die Par- in alle Bezirke der DDR: Absetzbewe-gungen tei an der Fünfprozenthürde. Sie wirkten an und Verschleierungsversuche müs-sen der Verfassung mit, die im Artikel 27 Absatz 1 verhindert werden! Bürgerinnen und Bür-ger! feststellt: Kunst ist frei. Das war für beide, die Ihr wisst, in welchen Betrieben, Banken und in der DDR als Künstler tätig gewesen waren Institutionen die Möglichkeiten für solche bzw. versuchten, es zu sein, sehr wichtig. Praktiken gegeben sind. Beschließt, wenn nö- Büchner wäre gerne im Landtag geblieben: tig, gemeinsame Kontrollmaßnahmen und Es gab noch ein paar Werke, die in unserem sorgt für deren Öffentlichkeit! Nach wie vor Zweimannbetrieb (Geißler und ich) hätten ge- gilt: KEINE GEWALT! macht werden müssen. Matthias Büchner rief Manfred Ruge (heu- Matthias Büchner ist ein politischer te Oberbürgermeister Erfurts) an und dik- Mensch geblieben. In der Zeit von 1989 bis tierte seiner Frau den Aufruf. Noch in der 1994 initiierte er viele Dinge. Wenn man die Nacht wurden 4000 Kopien hergestellt. Als Liste liest, kann man sich kaum vorstellen, Büchner am nächstem Morgen in Erfurt an- dass jemand soviel Energie, so viele Ideen kam, herrschte an der Stasidienststelle in der haben kann. Und jetzt: Es ist an der Zeit, das

31 Grundgesetz ebenso zu aktualisieren wie Thü- Diäten bei Abgeordneten eingereicht hatten, ringens Verfassung. Daran würde ich gerne war erfolgreich. (Die Unterlagen zur Klage fül- mitarbeiten, Stichwort Bürgerdemokratie. Er len 57 Aktenordner, seine Stasiunterlagen 23 ist der Überzeugung, dass die Mächtigen Bände.) Inzwischen muss er sein Elternhaus darüber hinaus ernsthaft kontrolliert werden aufgeben. Wieder ist ein Lebensabschnitt be- müssen. endet. Rückblickend ist er dankbar, dass er bei Matthias Büchner arbeitet vorwiegend historisch wichtigen Prozessen dabei sein wieder als Künstler. Am 9.9.1999 um 9.09 durfte und etwas bewegen konnte. Er sieht es Uhr eröffnete er sein Atelier im seinem um- mit einem weinenden und einem lachenden gebauten Elternhaus in Zella-Mehlis. Zuerst Auge: Das weinende Auge er hätte es gerne bekam er Aufträge und konnte davon leben. selbst weitergetrieben. Das lachende Auge Aber dann wurde er wieder unbequem. Die es geht trotz allem weiter. Ist das nicht der, der Klage, die er und sein Freund Geißler beim genau weiß, dass es nicht geht und es trotz- Bundesverfassungsgericht wegen doppelter dem tut? (Konfuzius)

32 Niels Lund Chrestensen Es gibt aber auch eine Verantwortung für das Allgemeinwohl

Herkunft , wie das damals abfällig benannt Niels Lund Chrestensen: wurde, verwehrte mir die Zulassung zur Abi- Geboren im August 1940 in Erfurt, turausbildung. So begann ich 1954 eine drei- absolvierte er zunächst eine Gärt- jährige Gärtnerlehre. Das allerdings geschah nerlehre. Er konnte später über den bemerkenswerten Umweg über Groß- nicht in unserer eigenen Firma. Meine Ausbil- britannien das Abitur nachholen, dung durchlief ich bis 1957 in der ebenfalls das ihm in der DDR verwehrt wurde, renommierten Erfurter Samenzuchtfirma F. C. und Gartenbau studieren. Heinemann. Es folgten dann bis 1959 weitere Nach der Enteignung des Fami- lienunternehmens 1972 arbeitete er Ausbildungsstationen auf dem Gebiet der weiter verantwortlich in dem Be- Blumen- und Gemüsesamenzucht in verschie- trieb. Nach der Wende ging Niels denen in- und ausländischen Saatzuchtunter- Lund Chrestensen mit seiner Familie nehmen. Mein Abitur übrigens habe ich trotz- die Reprivatisierung des Unterneh- mens an, mit einer erfolgreichen Ent- dem noch abgelegt: in England, in der wicklung bis heute. Niels Lund Chre- Abendschule! Das war möglich, weil es mir stensen ist neben seiner Tätigkeit gelungen war, auf Grund des rechtlichen als Unternehmer seit 1990 Präsident der Industrie- und Handelskammer Er- Status der alten Bundesrepublik, anlässlich furt sowie in einer Vielzahl von eines Verwandtenbesuches dort einen bun- Ehrenämtern engagiert. desdeutschen Pass ausgestellt zu bekommen. Den hatte ich dann jeweils in der Bürgermei- sterei zu hinterlegen. Bearbeitet von Von 1959 bis 1962 studierte ich dann am Dr. Juliane Rauprich Leicester College for Technology and Com- merce. Danach ging es zurück in die Heimat, Geboren wurde ich am 9. August 1940 in wo sich bis 1967 ein fünfjähriges Gartenbau- Erfurt. Mein Großvater, dessen Namen ich studium an der Humboldt-Universität zu Ber- trage, hatte unseren traditionsreichen Samen- lin anschloss. Im Ergebnis war ich Diplom- und Pflanzenzuchtbetrieb 1867 hier in der Gärtner. heutigen Landeshauptstadt Thüringens ge- gründet. Er war 1864 aus Dänemark einge- Nach dem Studium in den wandert. Wenn ich heute in der Unterneh- väterlichen Betrieb eingetreten mensgeschichte zurückblicke, dann fällt mir sofort die zeitige internationale Orientierung Folgerichtig, so könnte man es jedenfalls sa- meines Vorfahren auf. Zum Beispiel wurde gen, bin ich nun 1967 in den väterlichen schon im Jahr 1896 in London ein Verkaufs- Saatzuchtbetrieb hier in Erfurt eingetreten und büro unserer damaligen Kunst- und Han- wurde verantwortlich für Züchtungs- und Pro- delsgärtnerei erfolgreich etabliert. duktionsaufgaben. Vorher, am 4. Januar Meine eigene Familie umfasst neben mei- 1964, habe ich in Erfurt bei 17 Grad unter ner Ehefrau drei Kinder und drei Enkel. In den Null und Kahlfrost geheiratet. Meine Frau Eri- Jahren 1947 bis 1954 habe ich die Grund- ka war ebenso wie ich selbst noch zum Stu- schule in Erfurt besucht. Meine bürgerliche dium an der Humboldt-Universität zu Berlin;

33 die Hochzeit wurde damals traditionsgemäß von meinen Schwiegereltern ausgerichtet. Wir hatten zwar noch keine Wohnung, bekamen aber das Schlafzimmer geschenkt. Erika ist gelernte Gärtnerin und Meisterfloristin. Nach der Wende war sie zwei Wahlperioden Vize- präsidentin im Fachverband der Floristen. Im März 1972 wurde auch unser Betrieb in der DDR enteignet. Er wurde so genanntes Staatseigentum . Ich bin trotzdem im Betrieb geblieben, war verantwortlich für die Blumen- samenzucht und -vermehrung. So ist es mir gelungen, durch meine Tätigkeit einen gewis- sen Einfluss auf die Geschicke unseres Betrie- bes zu behalten. Der ehemalige Privatbetrieb, der einen klangvollen nationalen und interna- tionalen Namen hatte, ging so auch in der sozialistischen Produktion nicht unter. Es war fast 20 Jahre später, am 26. Juni 1990, als endlich die Reprivatisierung des damaligen VEB Erfurter Blumensamen in die N. L. Chrestensen, Erfurter Samen- und Pflanzenzucht GmbH vonstatten gehen konn- Niels Lund Chrestensen mit seiner Familie im Jahr im Jahr 1986 te. Geschäftsführer bin ich gemeinsam mit Dr. Cornel Chrestensen, meinem 1942 gebore- das alles wirklich friedlich verlaufen würde. nen Bruder. Er ist seit dem Jahr 2002 General- Und diese Angst war ja angesichts der Fern- bevollmächtigter unseres Unternehmens. Un- sehbilder Anfang Juni des Jahres 89 aus Chi- sere Firma übrigens wurde als eine der ersten na von der blutigen Niederschlagung der Stu- drei Firmen in Thüringen reprivatisiert. denten auf dem Tian'anmen-Platz mit sehr vielen toten Studenten auch nicht ganz unbe- Der Unmut der Menschen konnte gründet. Erinnern kann ich mich auch an den 1989 nicht mehr überspielt werden Verwandtenbesuch in Dänemark im Septem- ber 1989. Da gaben uns sogar die Grenzpoli- An die Jahre in der DDR, besonders an die zisten bei unserer Rückkehr spöttisch den Tip, Endzeit , erinnere ich mich schon noch leb- wir sollten lieber dort bleiben... haft. Geht man ins Jahr 1989 zurück, dann ist An den Demonstrationen in Erfurt auf dem mir besonders intensiv in Erinnerung, dass die Domplatz haben wir teilgenommen. Die allenthalben zunehmenden Materialschwie- Grenzöffnung selbst wurde dann euphorisch rigkeiten in den Volkseigenen Betrieben mit aufgenommen. An dem Samstag danach hat- überbordender Ideologie vernebelt werden ten wir zufällig eine Betriebsfeier. Die war um sollten. Allerdings konnte der allgemein spür- 20 Uhr menschenleer! Alle fuhren in die alten bare Unmut der Menschen damit nicht mehr Bundesländer. Vor Eisenach gab es erstmals überspielt werden. Die Stimmung, die im Land acht Kilometer Stau. Von nun an fuhren wir zu spüren war, ist mir als durchaus unheimlich jedes Wochenende in die alten Länder, wur- in Erinnerung geblieben: Die vielen Ausrei- den von Verwandten und Freunden herzlich senden im Bekannten-, Freundes- und Ar- aufgenommen. Wir haben uns extra einen Re- beitskreis machten einen unsicher darüber, servetank in das Auto einbauen lassen, um was denn noch werden soll?! Dazu kam die preisgünstigeres DDR-Benzin in ausreichen- Angst, die sich dahingehend breit machte, ob dem Maß tanken zu können. In diesem Jahr

34 einmal Westverwandtschaft hatten. Verän- dert hat sich sehr viel in dieser aufregenden Zeit. Zunächst zum beruflichen Aspekt. Seit Mitte Dezember 1989 wurde die Zu- kunft unseres 1972 enteigneten Betriebes in meiner Familie diskutiert. Mein 84-jähriger Vater hatte 1972 vorausschauend hand- schriftlich eine Erbschaftsübertragung der N. L. Chrestensen KG vorgenommen. Im ersten Quartal 1990 jedoch wurden durch den VEB-Kombinatsdirektor entgegen der ge- planten Reprivatisierung Grundstücksver- käufe gestartet. Unsere Beschwerde gegen dieses Vorgehen bei Lothar de Maizière war zum Glück erfolgreich. Dann ist es, wie schon gesagt, am 30. Juni 1990 zur Reprivati- sierung unseres Betriebes mit allen Schulden und mit 689 Mitarbeitern gekommen. Man muss nun wissen, dass 18 Jahre lang im VEB Erfurter Blumensamen keine Werterhaltung habe ich zum ersten Mal meinen privaten und keine Investition erfolgt waren. Trotzdem Garten nicht winterfest gemacht wir waren waren wir sehr optimistisch und haben uns so- ja jedes Wochenende in Richtung alte Bun- gar (!) 1.250 DM Gehalt zugestanden. Im desländer unterwegs. Oktober 1990 erfolgte dann endlich die Es ist schon interessant, wenn ich mich an rechtliche Gleichstellung der Reprivatisierung meine Erwartungen und Hoffnungen, aber mit der Privatisierung. Das verschaffte uns nun eben auch an Befürchtungen jener Zeit erin- eine Bilanzberichtigung und gleiche Startbe- nere. Unsere Silvesterfeier mit Freunden war dingungen. um die Jahreswende 1989/90 schon auch Allerdings dauerte die vollständige Klä- mit gewissen Beklemmungen hinsichtlich un- rung der mit der Reprivatisierung zusammen- serer Zukunft verbunden. Allerdings hatte man hängenden Fragen noch bis zum Ende des insgesamt gesehen gar nicht viel Zeit zum Jahres 1994. Dabei wäre der Betrieb beinahe Nachdenken. Schon Mitte Dezember 1989 auf der Strecke geblieben mit sehr großen hatten wir den ersten privaten Kundenbe- Anstrengungen haben wir das abwenden such in Holland unternommen. können und alles geschafft. Um ein Beispiel Auch in politischer Hinsicht habe ich mich für die angefallenen Probleme anzuführen: in zeitig engagiert, nahm am Runden Tisch im die GUS hatten wir Waren im Wert von Erfurter Rathaus teil und konnte so kommu- 980.000 DM exportiert. Davon sahen wir nalpolitische Entscheidungen und Abläufe zunächst keinen Pfennig. Erst nach langem mitgestalten. Außerdem war ich 1992 Mit- Kampf erhielten wir dann im Jahr 2000 glied der Bundeskanzlerrunde Aufbau Ost schließlich 68.000 DM. bei Helmut Kohl geworden, der ich bis 1995 1995 haben wir unseren Geschäftsneu- angehörte. Die Vorfahrt mit meinem VW vor bau errichtet. Er steht für unsere Erfolge hin- dem Bundeskanzleramt war angesichts der sichtlich einer Expansion und auch im Ex- übrigen schwarzen Nobelkarossen übrigens portgeschäft. Auch unser Privatleben ist natür- recht amüsant. lich nicht unberührt von diesen großen gesell- Ein Gedanke von damals sitzt bis heute in schaftlichen Veränderungen und Umwälzun- mir fest. Und zwar ist das meine Feststellung gen geblieben. Es wurde vielfältiger und es von damals, dass viele SED-Mitglieder auf wurde noch anstrengender durch die umfang-

35 reiche Arbeit im Betrieb. Dazu kam mein sehr gagement nach 1989 ist mir unter den neuen vielschichtiges ehrenamtliches Engagement, Bedingungen auch ein viel größeres persönli- insbesondere als Präsident der Industrie- und ches Anliegen geworden. Es ist klar, dass man Handelskammer Erfurt. für sein eigenes Unternehmen die Verantwor- tung trägt und tragen muss. Es gibt aber auch Zum Präsidenten der Industrie-und eine Verantwortung für das Allgemeinwohl! Handelskammer gewählt So war und ist mein Betrieb auch stets auf Familienfreundlichkeit ausgerichtet. In diese Funktion wurde ich schon im De- Meine beiden Töchter sind verheiratet, ich zember 1990 gewählt und hatte damit von habe Enkelkinder bekommen. Der familiäre Beginn an Einfluss und die Mitwirkungsmög- Rückhalt, insbesondere durch meine Frau lichkeit bei der Entwicklung und Ausrichtung Erika, ist für mich außerordentlich wichtig! der Kammer. Hier ist es ganz besonders das Sonst könnte ich das alles auch gar nicht lei- Thema der Ausbildung, das mir persönlich sten. Sehr wichtig ist für mich ferner die ge- sehr am Herzen liegt. Für diesen Bereich en- klärte Unternehmensnachfolge durch meinen gagiere ich mich in der Kammer, deren Prä- Sohn Frederick. Als glückliche Fügung möch- sident ich in der vierten Amtsperiode bin, be- te ich hier noch betonen, dass ich immer ge- sonders. Im Erfurter Gastro-Berufsbildungs- sund war, keinen Unfall hatte. Auch das darf werk e. V. habe ich den Vereinsvorsitz inne; in nicht vergessen werden. meinem eigenen Betrieb werden um die 20 Wie sieht nun mein vorläufiges Fazit 15 Lehrlinge ausgebildet. Damit nicht genug: Ich Jahre nach den Umwälzungen 1989/90 aus? bin Mitglied der Zukunftskommission des Mi- Ganz egal, ob sich alle Erwartungen und Hoff- nisterpräsidenten Thüringens, Mitglied im nungen, die man so gehegt hat, erfüllt haben, Beirat Südost der Dresdner Bank, des Verwal- bleibt zunächst festzustellen, dass die Wie- tungsrates der Aufbaubank Thüringen, des dervereinigung Deutschlands gut und richtig Aufsichtsrates der Deutschen Bahn AG, des war! Meine eigene Entwicklung ist dazu zur Aufsichtsrats der FW Kölleda AG, im Kura- vollsten Zufriedenheit verlaufen. Es wäre torium Deutsches Gartenbaumuseum Er- schön, könnte ich das auch für die gesell- furt , in der Arbeitsgruppe Aufbau Ost der schaftliche Situation insgesamt sagen. Das al- Bündnisgespräche zu Arbeit, Wettbewerb und lerdings geht nicht. Ausbildung. Dazu kommt der Vorsitz der Thü- Natürlich war auch mir klar, dass es keine ringer Stiftung für Bildung und berufliche Anpassung von heute auf morgen geben Qualifizierung und der stellvertretende Vorsitz kann, dass der Weg ziemlich lang sein wird. im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesan- Aber man hat doch einige Chancen verpasst. stalt für Züchtungsforschung an Kulturpflan- Wenn ich nur an das Thema Föderalismus zen. denke, wo es meines Erachtens gleich mit der Seit Februar 1996 bin ich auch Vorstands- Wiedervereinigung Lösungen hätte geben mitglied der Deutschen Industrie- und Han- müssen. Auch zahlreiche andere Reformen, delskammer, seit Februar 1997 deren Vize- die heute auf den Nägeln brennen, hätte man präsident. Hier geht es in erster Linie um die gleich anpacken sollen. Bei Themen, zum Interessenvertretung des Mittelstandes insge- Beispiel Sonderwirtschaftszone oder Dein- samt in Deutschland. Außerdem hat unsere dustrialisierung hat man zunächst immer ge- Firma eine sehr gut funktionierende Partner- glaubt, damals habe keiner Patentrezepte ge- schaft zur Erfurter Europaschule . Angesichts habt und haben können. Nun aber hört man dieser Fülle an Aufgaben will ich aber zu- immer öfter, dass es schon damals bessere gleich betonen, dass das Mehr an Arbeit häu- und volkswirtschaftlich tragbarere Vorschläge fig auch durch die Befriedigung aufgewogen gegeben habe. Die seien nur politisch nicht wird die ich erlebe, wenn ich mitgestalten gewollt gewesen. Das ist dann für unser kann. Dieses größer gewordene soziale En- vereintes Land doch ziemlich tragisch.

36 Hans-Jürgen Döring Mehr Verantwortung zu übernehmen war in der DDR für mich nicht möglich

mit. Fünf Polizisten, um vier Personen zu be- Hans-Jürgen Döring wachen! Als der Wagen losfuhr, lief ihr Hund Geboren 1951 in Magdeburg, ist er in Waldi hinterher, den sie nie wieder sahen. Der einem kleinen Ort in der Nähe des Vater kam ins Gefängnis, die Mutter in Unter- früheren Grenzübergangs Marienborn aufgewachsen. suchungshaft, sein Bruder und er in zwei un- Nach dem Abitur folgte ein Studium terschiedliche Kinderheime, bis die Großel- an der Pädagogischen Hochschule tern sie zu sich holten. Magdeburg. Hans-Jürgen Döring wurde Nach der Entlassung aus dem Gefängnis Lehrer in Hundeshagen im Eichsfeld. Mit dem Schriftsteller Jürgen Fuchs war sein Vater Arbeiter in der Besenkolonne verband ihn enge Freundschaft, er im Kohletagebau. Später dann wurde er Lok- schrieb selbst Gedichte. Mit der Wen- führer für Elektroloks. Seine Mutter leitete das dezeit begann Dörings politisches örtliche Postamt. Nie sprachen die Eltern mit Engagement. Er wurde Mitbegründer der SDP im Eichfeld. Nach der Ver- ihren Kindern über die Zeit der Inhaftierung. einigung mit der SPD wurde er in den Dennoch prägte Hans-Jürgen Döring dieses Landesvorstand gewählt. Zur Land- Erlebnis; die Angst vor Macht und Willkür ver- tagswahl 1990 kandidierte er für die SPD und gehört seither dem Thüringer lor er nie mehr. Landtag als bildungs- und kultur- Noch zwei weitere Erinnerungen hinterlie- politischer Sprecher der SPD an. ßen einen starken Eindruck in ihm: Marien- born war Grenzstation. Hier hielten alle von Drüben kommenden Züge. Eines Tages Das Gespräch führte wurde er als Jungpionier zusammen mit vielen Ursula Gödde anderen zu diesem Bahnhof gebracht. Ehe- malige französische Buchenwaldhäftlinge in Hans-Jürgen Döring wurde 1951 in Magde- gestreiften Hosen, Jacken und mit Mütze stie- burg geboren. Aufgewachsen ist er in Harbke, gen aus. Es fand ein gemeinsamer Appell statt: einem kleinen Ort im jetzigen Sachsen-An- ehemalige KZ-Häftlinge und Jungpioniere. halt, im Grenzgebiet nahe Marienborn. In den Die Kinder durften dann noch in den Wagen 1950er Jahren war sein Vater Instrukteur im des damaligen Chefs der Kommunistischen Handel, verantwortlich für ein Gebiet ähnlich Partei Frankreichs, Maurice Thorez. Er hatte einem heutigen Landkreis. Die Mutter betrieb einen Früchtekorb mit exotischen Früchten, einen kleinen Lebensmittelladen. Marienborn und sie durften sich hiervon nehmen. Jemand war ein Stützpunkt der sowjetischen Streitkräf- fragte, warum denn keine Ba-nanen dabei te. Manchmal kamen Offiziere in den Kon- seien. Thorez versprach, auf dem Rückweg sum, sein Vater musste Schnaps herausrücken Bananen mitzubringen. Er hielt sein Wort, sie auch ohne Bezahlung. Bei einer Revision fehl- bekamen die Bananen. ten ca. 300 Mark in der Kasse. Eine Tante Dörings wohnte jenseits der Die Familie war im Harz im Urlaub. Plötz- Grenze. Sie schickte oft Westpakete . Wenn lich tauchte ein LKW mit einer Plane auf, fünf er mit seinen Eltern auf den Dachboden stieg, Polizisten stiegen aus und die Eltern wurden dann konnte er die Tante nach Verabredung verhaftet. Auch sein Bruder und er mussten durch das Fernglas auf einem Hügel stehen

37 und winken sehen. Diese Erinnerungen präg- tion der Truppen des Warschauer Pakts und ten ihn: die Willkür der Verhaftung, die Verhei- wollte sie verteilen. Er kam sich nicht als Revo- ßungen des Kommunismus, verkörpert durch luzzer vor, er meinte damals, es sei doch gut den Besuch der ehemaligen Buchenwaldhäft- und eigentlich nichts Schlimmes, wenn er sei- linge als ein Symbol der Befreiung und schließ- ne Mitschüler durch seine Kenntnis der Ereig- lich die Erfahrung der Trennung, die seine nisse aufrütteln wollte. Sein Deutschlehrer Tante zu einer Person machte, die nur durch machte ihm klar, dass dies als Strafe den das Fernglas zu sehen war. Hans-Jürgen Schulausschluss nach sich ziehen würde. Er Döring konnte während seiner Schulzeit nie verteilte seine Resolution nicht, sondern persi- Freunde mit nach Hause nehmen: Harbke war flierte bei der nächsten Gelegenheit ein Lied, Sperrgebiet. Seine Freunde hatten keinen Pas- das ursprünglich die ehemaligen Nazis im ka- sierschein. pitalistischen Westen meinte:

Resolution gegen Intervention des Biedermeier, Biedermeier, Warschauer Pakts nicht verteilt warst dabei bei die Parteier, hast mit deiner Fahn gewunken, Bis zu seinem 15. Lebensjahr war Hans-Jür- hast aus deinem Hals gestunken. gen Döring politisch nicht interessiert. Trotz Biedermeier, Biedermeier, der ihn prägenden Erfahrungen erlebte er warst dabei bei die Parteier. eine insgesamt unbeschwerte Kindheit. 1968 lernte er während eines Urlaubs an der Ost- Biedermeier, Biedermeier, see tschechische Studenten kennen, die sich bist dabei bei die Parteier, begeistert über die Entwicklung in ihrem Land tust mit deiner Fahne winken, äußerten. Bei einem Besuch der Verwandten tust aus deinem Halse stinken. in Katowice konnte er österreichischen Rund- Biedermeier, Biedermeier, funk hören und die Entwicklung des Prager bist dabei bei die Parteier. Frühlings verfolgen. Zurück im Internat ver- fasste er eine Resolution gegen die Interven- Er und seine Freunde trugen das Lied vor, und

38 alle verstanden die Anspielung. Sie durften Jürgen Döring bewarb sich für den Bezirk Er- nicht mehr auftreten. Wegen zu langer Haare furt, für Erfurt Land. Er kam zwar 1974 zusam- wurde er nicht zum Abitur zugelassen. Er men mit seiner Frau in den Bezirk Erfurt, aber fragte beim Kreisgericht nach, auf welcher ins Eichsfeld, nach Hundeshagen. Beide Rechtsgrundlage der Schulleiter ihn nicht zu- kamen an die POS. Neben den Wohnverhält- gelassen habe. Am nächsten Tag durfte er zur nissen, die sehr primitiv waren Plumpsklo, Prüfung antreten. Thema: Über die Freiheit. kein fließendes Wasser stellte sich als Bela- Er bekam nur ein genügend . stung heraus, dass der Schulleiter sehr system- konform war und Döring ständig mit ihm Kon- Zum Lyrikseminar nach flikte auszutragen hatte. Schwerin eingeladen Dennoch gab es gewisse Freiräume. Hans-Jürgen Döring unterrichtete Sport in Hans-Jürgen Döring beschäftigte sich mit Ly- den Klassen eins bis zehn, daneben Deutsch rik, schrieb Texte zu Liedern. In der Jugend- und auch Musik in der Unterstufe. Da er dafür zeitung Junge Welt gab es eine Lyrikecke, keine Ausbildung hatte, konnte er sich ange- für die man Gedichte einschicken konnte. Er blich nicht an den Lehrplan halten: er kannte tat dies und wurde zu einem Seminar nach die geforderten Pionierlieder nicht, konnte Schwerin eingeladen. Danach folgten weitere keine Noten lesen, so dass er sie sich auch Einladungen zu Literaturwerkstätten durch nicht aneignen konnte. So sang er eben mit den Schriftstellerverband. Bei diesen lernte er den Kindern z.B. Lieder von Gerhard Schöne. Jürgen Fuchs kennen. Im Vorfeld der Weltfest- Als sich Döring ein Bein gebrochen hatte, spiele der Jugend 1973 wurden junge Literaten musste er Englisch unterrichten er und der vom Zentralrat der FDJ eingeladen. Sie sollten Englischlehrer tauschten Fächer. Des Engli- linientreue Gedichte und Friedenslieder ver- schen nicht sehr mächtig, er hatte auf der EOS fassen. Jürgen Fuchs, Uwe Klabunde und Latein gelernt und in der POS nur ein Jahr Hans-Jürgen Döring weigerten sich. Darauf- Englisch, erklärte ihm seine Frau die Stunde, hin wurden sie nie wieder eingeladen. die er am nächsten Tag zu halten hatte. Irgend- Die Weltfestspiele besuchte Hans-Jürgen wie funktionierte das, auch wenn er den Döring trotzdem als Sportstudent der PH Schülern an Wissen kaum voraus war. Später Magdeburg. Er verletzte sich und konnte nicht hat ihm diese Zeit genutzt. Als er in den USA mehr aktiv teilnehmen. Aber er durfte bleiben, war, konnte er sich verständigen. da er als Sportstudent kulturell aktiv war und so die Kultur vertrat. Als Gast, mitgenom- Nachrichten von Jürgen Fuchs men von Jürgen Fuchs, lernte er Wolf Bier- über die Cousine vermittelt mann und Robert Havemann kennen. Es war beeindruckend für ihn, aber er war als Zaun- Nachdem Jürgen Fuchs aus der DDR ausge- gast nur passiver Zuhörer, wurde nicht in die wiesen worden war, nahm Hans-Jürgen Dö- Gespräche einbezogen. ring über die Tochter der früher an der Grenze Während des Studiums in Magdeburg zum wohnenden Tante Kontakt zu ihm auf. Die Diplomlehrer Sport und Deutsch hatte Hans- Cousine wohnte in Braunschweig, flog Jürgen Döring einen Sonderstatus als Kultur- manchmal nach Berlin und traf dann dort fuzzi . Er organisierte Lyrikveranstaltungen im Jürgen Fuchs. Hans-Jürgen Döring besuchte Studentenklub. Manchmal wurde er auch von dann Verwandte in der DDR, die auch seine Prüfungen befreit, da er in Sachen Kultur ein- Cousine besuchte. So erhielt er Nachrichten gebunden war. von Jürgen Fuchs. Einmal klappte das Treffen Nach dem Examen wollte er als Lehrer nicht und seine Cousine schickte einen Brief: nach Jena. Jürgen Fuchs hatte ihm die Stadt Lieber Hans-Jürgen! als einen Ort geschildert, an dem er anderen Nur ein paar Zeilen für dich. Ich habe an kritischen Menschen begegnen könne. Hans- Jürgen F.geschrieben. Er ist in Berlin und lässt

39 Dir sagen, es sei noch nichts entschieden für auch unter seiner Außenseiterposition. In die- alle Zeiten und falls es für Dich überhaupt ser Zeit schrieb er wieder Gedichte und Lieder. eine Frage ist Du sollst auf jeden Fall in der Schreiben war für ihn das Ventil, um nicht in DDR bleiben. Wie ich von Deinem Vater hör- der Auseinandersetzung mit der Politik zu ver- te, bleibst Du noch in Hundeshagen. Das ist zweifeln. schade für Dich, aber verständlich. Als sein Schulleiter wegen längerer Krank- Diesen Brief verlor er in der Kaufhalle. Eine heit vertreten werden musste, wurde Döring alte Frau fand ihn, lieferte ihn bei der Stasi ab, mit der Vertretung beauftragt und war später und die sieben Jahre dauernde Operative auch selbst stellvertretender Schulleiter. Er tat Personenkontrolle des Subjekts Kreide be- sich schwer mit diesem Amt und seinen Zwän- gann. Er erfuhr durch Zufälle davon. Ein gen und war froh, als er aus gesundheit- Freund erzählte ihm, im angetrunkenen Zu- lichen Gründen diesen Posten aufgeben und stand, dass die Stasi bei seinem Vater gewe- wieder Lehrer an der Schule sein konnte. sen sei und auch ihn ausgefragt habe, da Dö- 1985 betrat dann Gorbatschow die politische ring einen belastenden Brief verloren habe. Bühne. Döring merkte, dass hier etwas pas- Einige Zeit nach dem Briefverlust stand ein sierte, abonnierte das Neue Deutschland , Auto zwei Tage lang zur Beobachtung vor sei- das zuerst authentische Texte von Gorbat- ner Wohnung. Als er bei den Insassen nach- schow druckte. Daneben las er sowjetische Zei- fragte, was sie denn wollten, wurde ihm ge- tungen, zum Beispiel auch die Zeitschrift, sagt, das gehe ihn nichts an. Neues Leben . In dieser waren Augenzeu- Eines Tages kam ein Postbeamter extra aus genberichte von Deportationen unter Stalin Erfurt angereist, um ihm einen geöffneten abgedruckt, bis dahin ein unerwähntes Brief persönlich zu bringen. Er fasste es als Kapitel der Geschichte. Darüberhinaus las er Drohung auf. in der Zeitschrift Probleme des Friedens und Diese Vorfälle lösten bei ihm Angst aus. Er war des Sozialismuss über die theoretischen nicht nur für sich selbst verantwortlich, son- Grundlagen der Perestroika. dern auch für seine Familie. Trotzdem konnte er sich nicht anpassen. Aus seinen Stasiakten Perestroika auf der Wandzeitung erfuhr er später, dass zwei Kreis-dienststellen der Schule in Hundeshagen sich gestritten hatten, wer nun den Fall Döring bearbeiten sollte. Er sollte eigentlich vorgela- In dieser Zeit wurde er Kulturobmann in der den werden mit dem Ziel der Erpressung Gewerkschaft. Er war verantwortlich für die in- wegen mehrerer Wohnorte. Er hatte nicht haltliche Gestaltung der Wandzeitung in der gewusst, dass das strafbar war, hatte sich Schule. Döring schnitt Artikel aus deutsch- weder bei seinen Eltern noch in Magdeburg sprachigen sowjetischen Zeitungen aus und abgemeldet. Es war geplant, ihn zum IM zu heftete sie an. Manchmal übersetzte auch seine machen, auszuweisen und nach Berlin zu Frau einen Artikel aus der Prawda , den er schicken, um ihn dort Jürgen Fuchs ausspio- dann hinzufügte. Diese Wandzeitung war ein nieren zu lassen. Wegen der Querelen unter Anziehungspunkt für die Lehrer der Schule. den Behörden blieb er in diesem Fall unbehel- 1989 erfuhr Hans-Jürgen Döring von De- ligt. monstrationen in Leipzig und wollte unbedingt an diesen teilnehmen. Es gab einen direkten Immer abseits stehen in der Zug von Leinfelde nach Leipzig, den auch vie- DDR-Gesellschaft le andere nahmen. Am Bahnhof in Leipzig konnte er bei einer Kontrolle nicht nachwei- Hans-Jürgen Döring stand immer abseits in sen, dass er zu Verwandtenbesuchen gekom- der DDR-Gesellschaft. Zwar hatte er sich da- men war (zu diesem Zeitpunkt der einzig lega- mit abgefunden, bis zu seinem Ruhestand le Reisegrund), und so musste er wieder um- Lehrer in Hundeshagen zu sein, aber er litt kehren. Im Januar 1990 gründete Hans-

40 Jürgen Döring gemeinsam mit einigen Gleich- abschieden, um die DDR-Gesetze zu ersetzen. gesinnten die SDP Eichsfeld in Heiligenstadt, Andererseits lag darin die Chance, Ideen und Das war hier kein leichtes Unterfangen. Zu Vorstellungen einzubringen. In den - DDR-Zeiten war die Ost-CDU in diesem Ge- ausschüssen standen die Inhalte im Mittel- biet fast so stark wie die SED, jetzt hatte die punkt, die Arbeit war noch nicht geprägt von CDU die Macht. den Ritualen der westdeutschen Demokratie. Hans-Jürgen Döring sah in der SDP einen Ein SPD-Entwurf zum ersten Thüringer Schul- Gegenpol zur CDU. Er wurde Pressesprecher gesetz entstand in eineinhalb Wochen Heim- der Partei. Als er einen Ortsverband in Dingel- arbeit durch Hans-Jürgen Döring. Der Ent- städt gründen wollte, misslang dies, weil po- wurf wurde in den Landtag eingebracht, wo- tentielle Mitglieder als rote Socken be- rauf die CDU schnellstmöglich einen eigenen schimpft wurden und teilweise Morddrohun- Entwurf erarbeitete. Anders als heute wurden gen erhielten. Wie absurd solche Anschuldi- damals auch Oppositionsanträge im Parla- gungen waren, zeigt sich besonders an einem ment angenommen und in den Gesetzestext Beispiel: der Sohn des evangelischen Pfarrers, eingearbeitet, bemerkte Hans-Jürgen Döring. der als Einziger nicht an der Jugendweihe teil- Seine größte politische und persönliche genommen und auch nicht zu den Pionieren Niederlage erlebte Döring, als der Kali- gehört hatte, wurde wegen seiner Nähe zur Betrieb Bischofferode trotz aller Proteste ge- SDP ebenfalls als rote Socke beschimpft. schlossen wurde. Er hatte sich sehr für den Erhalt engagiert und musste nun erleben, Die Zeit, in der SPD Verantwortung dass die parlamentarische Demokratie an zu übernehmen Grenzen stößt, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht. Hans-Jürgen Döring, der immer aus gutem Hans-Jürgen Döring ist seit 1990 Mitglied Grund abseits gestanden hatte, wollte nun des Thüringer Landtages. Als SPD-Kreisvor- Verantwortung übernehmen und sah dafür sitzender und Mitglied des Kreistages Eichsfeld seinen Platz in der SPD. Nach dem Vereini- ist er auch in seinem Heimatkreis politisch ak- gungsparteitag von SDP und SPD in Leipzig tiv. Ausgleich zur politischen Arbeit ist für ihn wurde er Vorsitzender des Kreisverbandes Wor- seine literarische Tätigkeit. Nur zu selten kommt bis. Bei der Kandidatenaufstellung zur ersten er dazu, Gedichte zu schreiben. Denn hierfür freien Volkskammerwahl erhielt er einen braucht er, der immer einige Zeit erst mit dem Listenplatz ohne realistische Chance. Auch Gedichtsstoff leben muss, Zeit. Er ist Mit- bei der Aufstellung der Liste für die Wahl zum glied eines literarischen Quintetts, mit dem er, ersten Thüringer Landtag landete er nur auf so es seine Zeit erlaubt, auf Lesereise geht. Platz 82. Doch dann hielt er auf dem Parteitag Hans-Jürgen Döring bezeichnet sich als eine gute Rede und kam daraufhin nach ei- Wendegewinner . Nun kann er seine Mei- nem Änderungsantrag auf Platz 12. nung frei äußern, kann Mehrheiten suchen, Zu diesem Zeitpunkt war ihm noch nicht um Ideen zu verwirklichen. Der Runde Tisch klar, dass die Mitgliedschaft im Landtag ein war für ihn ein Erlebnis in Demokratie. Die Vollzeitjob ist. Erst im Laufe der Wahlvorberei- kirchlichen Vertreter praktizierten damals als tung erkannte er, auf was er sich eingelassen Moderatoren Demokratie in Reinform. Im po- hatte. litischen Alltag ist das nicht immer so, aber er Hans-Jürgen Döring wurde gewählt. Diese glaubt daran, dass man Dinge in einer Demo- erste Legislaturperiode des Landtags war ge- kratie verändern kann, wenn man Mehrheiten prägt durch den Zwang, neue Gesetze zu ver- gewinnt.

41 Alfred Erck Wir spielen jetzt ein völlig anderes Spiel...

ist. Weil meine Diplomarbeit, die sich mit dem Professor em. Dr. phil. habil. Übergang des philosophischen Denkens von Alfred Erck: Hegel zu Marx befasste, zwar als recht intelli- Geboren 1936 in Meiningen und seiner gent, aber keineswegs mit marxistischen Posi- Heimatstadt stets treu geblieben. tionen konform bewertet worden ist, wurde ich 1953 Studium der Philosophie in 1958 zu den weiteren Staatsexamensprüfun- Jena. 1958 zum Staatsexamen nicht zugelassen, musste er sich vorüber- gen nicht mehr zugelassen und musste die gehend als Hilfsarbeiter seinen Le- Universität verlassen. bensunterhalt verdienen. An der TH Ilmenau wurde ihm die Chance gebo- ten, im marxistisch-leninistischen Auf eine zweite Chance Grundlagenstudium als Assistent zu vertrauend arbeiten. Nach einem Zusatzstudium Kulturtheorie/Ästhetik wurde Al- fred Erck 1975 als Professor an die Brecht als mein eigentliches Vorbild anse- TH Ilmenau berufen. Nach der Wende hend und auch vermeinend, dass der Sozialis- wurde sein Wissenschaftsbereich ab- mus sich notwendiger Weise über ganz Euro- gewickelt. Er hält weiter Vorlesun- pa ausbreiten würde, blieb ich in der DDR und gen im Studium Generale an der TU Ilmenau. In Meiningen ist er ehren- arbeitete als Hilfsarbeiter in einem VEB auf amtlich stark engagiert. eine zweite Chance vertrauend. Diese kam, denn die Jenaer Universität hatte an die da- Dem Jahrgang 1934 angehörend, ist man malige Hochschule für Elektrotechnik in Ilme- durch das Erlebnis von Kriegs- und Nach- nau einen Absolventen für marxistisch-lenini- kriegszeit geprägt worden. In Meiningen zur stische Philosophie zu liefern , über den man Welt gekommen, fühlt man sich in besonderer aber nicht verfügte. Zwecks Planerfüllung Weise mit dieser Kulturstadt verbunden. Nach wagte man den Versuch mit mir. Nun ging dem Abitur im mathematisch-naturwissen- alles ganz rasch: Kandidat der SED, Diplom, schaftlichen Zweig wurde 1953 an der Uni- Assistenz. Meine Tätigkeit als Assistent und versität Jena ein Studium der Philosophie mit später als Dozent im marxistisch-leninisti- dem Berufsziel Verlagslektor aufgenommen. schen Grundlagenstudium an der TH Ilmenau Infolgedessen sind auch viele Vorlesungen habe ich zunächst als eine Art von Befreiung und Seminare der Germanistik/Literaturwis- erlebt. senschaft und der Psychologie besucht wor- Fortan wurde ich nicht mehr ständig da- den. Anfänglich von zwei bürgerlichen und rauf hingewiesen, dass ich mit meinen Ansich- einem marxistischen Professor der Philoso- ten wieder einmal etwas nicht begriffen hätte, phie belehrt, setzte sich während der folgen- somit noch viel zu lernen habe. Ich war ange- den Jahre die marxistisch-leninistische Welt- nommen worden, war schon bald bei nicht we- anschauung in diesem Studienfach durch. nigen Studenten wegen einer gewissen Origi- Um auch die konträren philosophischen und nalität meiner Lehrveranstaltungen, auch als literarischen Strömungen zu begreifen, grün- ein umgänglicher Diskussionspartner gefragt. deten wir Studenten eine Philosophische Der vertrauensvolle Umgang mit Naturwis- Gesellschaft , die beizeiten verboten worden senschaftlern und Ingenieuren hat mir viel

42 bedeutet, auch gegeben. Die Theorie des Marxismus hielt ich damals für sehr wohl ge- eignet, die Welt als Ganzes zu interpretieren, sogar zum Besseren hin zu verändern.

Zum Professor für Kulturtheorie und Ästhetik berufen

Die Tätigkeit im Grundlagenstudium habe ich allerdings von Anfang an nur als ein Durch- gangsstadium angesehen. Beizeiten nahm ich eine Art von postgradualem Studium der Kul- turtheorie und Ästhetik an der Universität Leip- zig auf, wurde dort mit einer Arbeit über Brechts Leben des Galilei zum Doktor phil. promoviert und habilitierte mich später mit einer Schrift über ästhetische Faktoren im Schöpfertum von Mathematikern, Naturwis- senschaftlern und Ingenieuren. 1975 bin ich zum Professor für Kulturtheorie und Ästhetik an die Ilmenauer Hochschule berufen wor- den. Diesem neu begründeten Wissenschafts- Professor Alfred Erck in der 1980er Jahren, als bereich wurde später noch das Fach Technik- er an der TH Ilmenau tätig war. geschichte hinzugesellt. Hochgespannte For- schungsarbeiten zu den Beziehungen zwi- tete: Man muss die DDR erhalten, um sie zu schen der Kreativität von Naturwissenschaft- verändern, aber man muss sie auch wirklich lern und dem Kulturell-Ästhetischen sind be- verändern, um sie erhalten zu können. Doch gonnen worden. weder die Strukturen der DDR ließen sich Meine geistige Heimat hatte ich schon grundlegend umgestalten, noch war die bald im Kulturbund gefunden; viele seiner politische Führungsmannschaft intellektuell Zielstellungen entsprachen meinen eigenen fähig, einen tief greifenden Wandel der Ge- Überlegungen, und die meisten Menschen, sellschaft anzustreben. So nahmen die Dinge die ich in allen Wirkungsbereichen der Orga- ihren Lauf. Man selbst war aus verschiedenen nisation kennen lernte, sind klug, fleißig und Gründen mit der DDR verbunden: Man opferbereit gewesen. Als Bezirksvorsitzender glaubte daran, dass höchstens der So- in Suhl, schließlich als Mitglied des Präsidiums zialismus die Chance dafür böte, die globalen des Kulturbundes lernte ich einen Großteil der Probleme der Menschheit zu bewältigen. Man geistigen Elite der DDR kennen und auch war sich auch sicher, dass die Sowjetunion schätzen. letztlich die Geschicke der DDR bestimme und Während der 1980er Jahre verfolgte man eine Wiedervereinigung Deutschlands mit al- mit ständig wachsender Sorge, dass einem len Mitteln verhindern würde. Man hoffte, gute Freunde mit Einblicken in wichtige Sphä- dass der Sozialismus durch die Anpassung der ren von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft an die Erfordernisse von Wissen- Kultur davon berichteten, in welchen Schwie- schaft und Technik (technische Informations- rigkeiten sich die DDR befände. Ihre Informa- verarbeitung) und durch die Auswechslung tionen deckten sich mit eigenen Eindrücken der politischen Führungsmannschaft jene Re- und Erkenntnissen. Ich selbst habe mich inner- formen zu Wege brächte, die seine ersprieß- lich zu positionieren versucht, indem ich nach liche Fortexistenz sicherten. Die Flucht von der Formel zu denken und zu handeln trach- Menschen aus der DDR wurde von allem

43 Anfang an als Katastrophe angesehen; denn der Übergangsphase als eine politische ein jeder, den man nicht für sich gewonnen Lobby dieser Menschengruppe agieren mö- hatte, bedeutete gleichsam auch eine persön- ge. Derartige Bestrebungen scheiterten schon liche Niederlage. ganz frühzeitig am Widerstand jener Mitglie- der der Kulturbundführung, die ehedem in der Wie lächerlich sich der Abtritt der CDU, LDPD usw. ihr politisches Zuhause ge- alten Machteliten gestaltete funden hatten. Beim Runden Tisch des Bezirkes, an dem Als die Grenzen zur Bundesrepublik geöffnet Sieger wie Verlierer der Wende zunächst per worden waren, um wie bei einem Ventil Du um vernünftig-friedliche Lösungen ran- Druck aus dem Land zu nehmen, in dem Au- gen, zog nach den Ergebnissen der Märzwahl genblick ist mir bewusst gewesen, dass damit 1990 ein harscher Geist ein die mutigen Strei- das Ende der DDR besiegelt war was immer ter vom NEUEN FORUM, von Demokratie Jetzt durch das Volk auch reformiert werden wür- usw. wollten sich nicht damit abfinden, dass de. Ich saß in meinem Sessel vor dem Fern- die CDU im Ganzen und manche ihrer seher und fühlte mich wie ein Feldherr, der die Exponenten auf einmal das Sagen haben soll- kriegsentscheidende Schlacht verloren hatte. ten und sie einfach an die Wand drängten. Wie lächerlich sich letztendlich der Abtritt der Volkes Stimme erschien auch mir grausam alten Machteliten gestaltete, hat mich eigent- und suspekt zugleich. Hatte ich schon sehr lich nur noch in meiner Auffassung bestätigt, bald begriffen, dass ich mich in politischer dass da reineweg nichts mehr zu erhalten, zu Hinsicht unter die Verlierer der geschicht- retten war. Eigentlich schon im November lichen Vorgänge einreihen musste, so bedurf- 1989 war ich auch zu der Einsicht gelangt, te es eines etwas längeren Zeitraumes, um dass die DDR zu Recht untergegangen ist. einzusehen, dass mir auch ein sinnvolles be- Denn sie hatte jene große Produktivität der rufliches Fortwirken nicht mehr erlaubt sein Gesellschaft (wie sie sich Brecht erhoffte) nicht würde. Trotz der vielfältigen Evaluierungen ausgelöst, keine Effizienz der Wirtschaft er- die letztendlich bloß auf Scheingefechte hin- reicht, nicht die Kreativität aller (oder zumin- ausliefen bin auch ich schließlich abge - dest der Eliten) entfaltet. Demgegenüber er- wickelt worden. Mit knapp 60 Jahren war schienen mir damals die Defizite in Sachen das deshalb schwerwiegend, weil tiefe Exi- Demokratie, bei der Umsetzung der Men- stenzängste von mir Besitz ergriffen haben schenrechte als sekundär. Wer den Innova- und mich nie wieder verließen. Ich habe seit- tionsschub der neuesten Technologien zu her auch stets das Gefühl, nur noch halb so meistern nicht fähig ist, geht zugrunde. viel zu leisten, wert zu sein, als ehedem. Le- Die politischen und geistigen Umbrüche in benserhaltend hat sich für mich erwiesen, der untergehenden DDR verspürte ich am dass meine Frau, die Kinder, einige wenn deutlichsten als Kulturbundfunktionär, am Run- auch wenige Freunde mir in schwierigen den Tisch des Bezirkes Suhl (nur mit beraten- Zeiten die Treue gehalten und mir Mut gege- der Stimme), sowie bei gelegentlichen Diskus- ben haben. Wer in gravierenden Umbrüchen sionszirkeln, die von Gesprächen mit den Pro- allein ist, geht an und in ihnen zugrunde. fessoren des katholischen Seminars im Erfur- Schadenfreude angesichts der vielen Feh- ter Augustiner Kloster bis zu privaten Ver- ler, die m. E. bei der Wiedervereinigung sammlungen mit Exponenten aller politischen Deutschlands, der Transformierung der sozia- Parteien in meinem Wohnzimmer reichten. listischen Planwirtschaft in die freie Markt- Weil ich zu der Auffassung gelangt war, dass wirtschaft gemacht worden sind, habe ich sel- es den meisten Angehörigen der DDR-Intelli- ten verspürt. Entschieden größer war eigent- genz binnen Kurzem ziemlich schlecht erge- lich mein Ärger darüber, dass die Deutschen hen werde, plädierte ich einige Zeit lang da- jene Chancen verpasst haben, die sich da- für, dass der Kulturbund zumindest während mals boten, um einen großen gemeinsamen

44 abhängt) bis zu einem gewissen Maße arti- fiziell umzugehen, sie mit einer Welt der Zei- chen und Symbole zu besetzen, rein intellektu- ell in ihr zu verkehren. Einmal mit derartigen Erwägungen beschäftigt, erschienen mir die sich zuspitzende Situation und dann der Un- tergang der DDR wie die Verabschiedung meiner sozialistischen Ideale entschieden leich- ter zu ertragen. Deshalb hat es mich dann nicht mehr allzu sehr verwundert, als ich Anfang der 1990er Jahre einem Rundfunk- reporter am Ende eines Interviews auf dessen Frage, was ich von der DDR gerne ins wieder- vereinigte Deutschland hinüber gerettet hätte, antwortete: Eigentlich nichts. Erklärend füg- te ich hinzu: Wir spielen jetzt ein völlig ande- res Spiel, mit gänzlich veränderten Regeln. Da bringt es nichts, mit anderen Methoden Erfolg haben zu wollen. Aber , so fügte ich hinzu, es Professor Alfred Erck in der 1990er Jahren. handelt sich im Osten noch um die alten Spie- ler, die sollte man möglichst unbeschädigt an Aufbruch zu wagen, gesellschaftliche Wand- dem neuen Spiel teilhaben lassen; sie können lungen in die Wege zu leiten. Lieber hat der ohnehin kaum etwas einsetzen und beherr- Westen den Osten alimentiert. schen die Spielregeln überhaupt nicht. Ich mag es nicht, wenn die Dinge, in die man selbst involviert ist, schlecht laufen. Dass „Weiß dieses Volk wirklich, man für meine Kenntnisse und Erfahrungen was es will?” wenig Verwendung hatte, sich meiner höch- stens als Ghostwriter bediente, tat ich vor mir Die Losung Wir sind das Volk hat der Brecht- selbst zumeist mit der Bemerkung ab dafür Schüler sehr wohl akzeptiert sich dabei aller- hast du eben verloren. Wenn ich sehe, wer dings die Frage vorlegend: Weiß dieses Volk nach der Wende alles in der DDR schwer ge- wirklich, was es will? Was es allerdings nicht litten haben, gar im Widerstand gewesen sein mehr ertragen wollte, war nur allzu klar. Als will, so löst ein solches Verhalten recht ge- man dann plakatierte Wir sind ein Volk , da mischte Gefühle bei mir aus: Einerseits möchte rezitierte ich für mich, was zu dem Thema ich Hohn und Spott über diese Leute aus- Übernahme einer Stadt durch eine andere gießen. Andererseits weiß ich nur zu genau, wie mein Machiavelli dereinst geschrieben schwer man sich damit tut, sich veränderten hatte... Konditionen anzupassen, wie rasch man da- Erst einmal befähigt, die realen Vorgänge bei sein Gesicht verlieren kann. auch unter einem spielerischen Aspekt zu se- Wenn ich es recht bedenke, so begann ich hen, boten sich meinem Geiste auch erfreu- mich schon lange vor 1989 gedanklich da- liche Möglichkeiten dar: Die Einheit Deutsch- rauf einzurichten, dass das Leben nicht allein lands erschien mir unter diesem Blickwinkel verdammter Ernst ist, sondern in gewisser Hin- betrachtet als so unangenehm nicht. Ich ha- sicht auch ein Spiel darstellt, ein wenig abgeho- be stets an den deutschen Landen gehangen, ben von der Realität betrieben werden kann. ihre Kultur sehr geliebt, mich sogar in seine so Man vermag mit tatsächlichen Vorgängen schwierige Geschichte eingelebt. Mich hat es und mit möglichen Entwicklungen (von denen stets physisch krank gemacht, wenn Deutsch- man weiß, dass das eigene Schicksal davon land nicht richtig funktioniert hat, wenn wir

45 Deutschen versagten. Mit einer solchen Mei- geschaffen hatte, in einem unbeobachteten nung war ich im Freundeskreis zumeist ein Augenblick ganz zart über den Schenkel zu Außenseiter. Allerdings habe ich auch mit Sor- tasten. Das waren ganz große Momente in ge beobachtet, dass dann, wenn alle Deut- meinem Leben. schen in einem Staat zusammengefasst wa- Untätigkeit bedeutet für mich physischen ren, Konflikte und Kriege die Folge gewesen und psychischen Untergang. Seinen Tagesab- sind; es gibt einfach zu viele Deutsche in Eu- lauf dicht mit dringlichen Arbeiten zu beset- ropa. Da haben sich dann die anderen Natio- zen, hilft auch gegen selbstzerstörerisches nen gegen uns zusammen getan. Dass sich Nachdenken über die Wechselfälle der Ge- dies ändern würde, konnte ich mir bis weit in schichte und des eigenen Schicksals. Mitwir- die 1990er Jahre nicht wirklich vorstellen. ken in politischen Parteien kam für mich nach der Wende nicht mehr in Frage; ein Mal in Gleichmacherei habe ich allerdings einer Partei war genau ein Mal zuviel. Intellek- gehasst tuelle sollten sich m. E. an keine Partei binden, wenn sie ihre geistige Freiheit und ihre persön- Ich bin kein Mensch, der für sein Wohlerge- liche Integrität nicht verlieren wollen. Das sich hen vieler materieller Güter bedarf. Deshalb konstituierende Vereinsleben bot mir hinge- erschien mir die Mangelwirtschaft der DDR gen mancherlei Möglichkeiten, mich auch fer- auch nicht sonderlich ärgerlich. Ein be- nerhin in der kulturellen Sphäre zu betätigen. scheidener Wohlstand für alle war mir man- Ehrenamtliches Wirken eigentlich noch im- ches Opfer wert. Gleichmacherei allerdings mer in recht großem Stil füllt inzwischen ei- habe ich gehasst. Natürlich wusste ich es zu nen Großteil meiner Zeit aus. Dort, wo es nicht schätzen, als ich französischen Käse und um Karriere oder Geldmachen geht, da be- Dornfelder Rotwein genießen konnte, wann gegnet man noch immer den angenehmsten immer ich es wollte. Erkennen zu müssen, Menschen. dass die Bundesrepublik keine Leistungsge- Die Tatsache, dass der Wissenschaftsbe- sellschaft darstellt, hat mir hingegen schwer zu reich Kulturtheorie/Ästhetik an der Ilmenauer schaffen gemacht. Universität abgewickelt wurde, hatte insofern Ich habe auch kaum an Fernweh gelitten. sein Gutes für mich, im Lehrauftrag darf ich Meiningen ist mir stets eine ganze Welt ge- weiterhin einige Vorlesungen halten, ohne wesen, dazu meine Familie. Die Reiselust hat von einem Lehrstuhlinhaber darin behindert mich selten umgetrieben. (Zugegeben, ich zu werden. Auch wenn man dabei so gut wie war zu DDR-Zeiten ein Reisekader , bin also nichts verdient, sind es doch überaus glück- nach München und Nürnberg, nach Vietnam liche Stunden, in denen es einem vergönnt ist, und Jugoslawien, in die sozialistischen Bru- mit jungen Menschen zusammen zu sein. derländer als RGW-Koordinator für For- Jene Bücher, die ich mir ehedem vorge- schungen zur ästhetischen Erziehung der Stu- nommen hatte, ab dem 65. Lebensjahr zu denten selbstredend des Öfteren gefahren.) schreiben, konnten schon fünf Jahre früher Natürlich war ich im Januar 1990 im alten verfasst werden. Natürlich, die Lehrtätigkeit, Louvre tief berührt, als ich bemerken musste, die Publizistik, die hoffentlich nützliche ehren- dass das Antlitz der Maria auf Leonardos Bild amtliche Tätigkeit bewegen sich auf einem Heilige Anna selbdritt von unvergleichlicher entschieden niedrigerem geistigen Level als Schönheit ist weitaus anrührender als der ich es zuvor gewohnt war. Also fühlt man sich Kopf der Anna, den ich bislang in meinen Vor- zumeist unterfordert (und flucht gelegentlich lesungen als so bewunderungswürdig heraus- auf eine Gesellschaft, die geistiges Kapital so gestrichen hatte. Auch konnte ich der Versu- gering schätzt). Doch solange man einiger- chung nicht widerstehen, einem jener Skla- maßen vernünftig denken kann, lohnt sich das ven, die Michelangelo für sein Julius-Grab Leben noch.

46 Heino Falcke Ohne Zögern für die Fortführung des kirchlichen Amtes entschieden

re hineingezogen, promovierte und habili- Propst Dr. Dr. Heino Falcke: tierte an der Universität Rostock, entschied Geboren 1929 in Ostpreußen als Sohn mich jedoch gegen eine Professur, weil ich mir eines Gymnasialdirektors, gelang den akrobatischen Akt, als Angestellter eines ihm mit seiner Mutter 1945 die Flucht aus Königsberg. atheistischen Weltanschauungsstaates evan- Die Familie ließ sich in der Altmark gelische Theologie zu lehren, nicht zutraute. nieder. Heino Falcke wurde ein Ich erlebte das Glück, verheiratet zu sein und engagierter Christ, studierte in der nach und nach fünf Kinder zu haben. In einem Bundesrepublik und in der Schweiz evangelische Theologie im Geist der Gemeindepfarramt hatten wir erfahrungs- Bekennenden Kirche. Nach Tätig- dichte und zum Teil aufregende Jahre, bis ich keiten als Gemeindepfarrer und Di- 1963 zum Direktor eines theologischen Semi- rektor eines theologischen Semi- nars berufen wurde. Die Jahre nach dem nars, wurde er 1973 als Propst in Erfurt berufen. Im permanenten Kon- Mauerbau waren für die evangelische Kirche flikt mit der DDR-Obrigkeit, war die Zeit, in der sie Klarheit über ihren Weg in Heino Falcke nicht nur innerkirch- der DDR-Gesellschaft finden musste, und die lich Impulsgeber in der Vorwende- zeit. Er ist Mitbegründer des Demo- theologische Jugend war zugleich mitbewegt kratischen Aufbruch und war Mode- von der Jugendrevolte in Westeuropa. 1968 rator am Runden Tisch in Thüringen. wurde ihr symbolisches Datum und in Prag zu- gleich das vorläufige Aus für eine Humanisie- Meine Kindheitsprägungen habe ich in West- rung des Staatssozialismus. Ich hatte die Chan- und Ostpreußen erfahren, wo ich in der Fa- ce, in diesen entscheidungsträchtigen Jahren milie eines Gymnasialdirektors 1929 gebo- mit Lehren und Lernen beauftragt zu sein. Da- ren wurde und aufwuchs. Im Januar 1945 ge- von konnte ich zehren, als ich 1973 als Propst lang meiner Mutter und mir noch die Flucht (das ist so etwas wie ein Regionalbischof) des aus Königsberg in die Altmark, wo die Falckes Propstsprengels Erfurt berufen wurde. auf vier Bauernhöfen saßen (von denen es 1950 keinen mehr gab). In einer lebendigen Aufregung beim Staat, gespaltene „Jungen Gemeinde“, die ein Pfarrer aus der Reaktionen der Kirchenleitungen Schule Dietrich Bonhoeffers inspirierte, wurde ich aus einem distanzierten zu einem enga- Kurz vorher hatte ich durch einen program- gierten Christen. In der Bundesrepublik und in matischen Hauptvortrag bei der Synode des der Schweiz studierte ich evangelische Theo- Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR logie bei Professoren, die uns den Geist der Aufregung beim Staat, gespaltene Reaktionen „Bekennenden Kirche“ der Nazizeit vermittel- bei den Kirchenleitungen und intensives In- ten. teresse bei vielen suchenden Christen erregt. 1952 trat ich in den Dienst der Magdebur- Ich war der Meinung, dass die Kirche ent- ger Landeskirche und wurde sogleich in den schlossen Kirche in der DDR-Gesellschaft sein, Kampf um die Junge Gemeinde verwickelt, die sie als ihr Auftragsfeld und ihre Dienstchance der DDR-Staat liquidieren wollte. Sehr bald bejahen müsse, dies aber nur könne, wenn sie wurde ich in Aufgaben der theologischen Leh- zugleich durch öffentliche Kritik, Vorschläge

47 und Vorbild an der Veränderung und Huma- nisierung dieser Gesellschaft arbeitet. Staat und Stasi galt ich fortan als Staatsfeind, meine landeskirchliche Synode aber delegierte mich in die „Konferenz der Kirchenleitungen“, und dort wurde ich bald der Vorsitzende des „Aus- schusses für Kirche und Gesellschaft“. Der Friedensdienst der Christenheit im eskalieren- den Ost-West-Konflikt, die ökologische Ver- antwortung in der Industriegesellschaft, die in der DDR mit veralteter Technik besonders de- saströs wirtschaftete, und immer stärker die Würde des Menschen, die bei uns durch die SED-Diktatur und global durch den wachsen- den Nord-Süd-Konflikt verletzt wurde – das waren unsere Themen. Es waren auch die Themen des ökumenischen „Weltrates der Kirchen“, in dem ich nach Aufhebung meiner Reisesperre 1976 in wachsendem Maße mit- arbeitete. In Thüringen brachten vor allem die jähr- die erstarrten politischen Fronten in Bewe- lichen „Friedensdekaden“ und die Kirchenta- gung. Manches, was wir vom christlichen ge diese Themen in eine über die Gemeinde- Glauben her gefordert hatten, hörten wir nun grenzen hinausreichende Öffentlichkeit, und aus seinem Munde als politikfähiges Konzept. als Vorsitzender des Leitungsgremiums hatte Seit 1987 war klar, dass sich die DDR-Geron- ich da manches harte Gespräch mit dem „Rat tokratie gegen die Perestroika sperrt und in des Bezirkes Erfurt“ zu bestehen. Auf DDR-Ebe- den kritischen Milieus der DDR-Gesellschaft ne waren es die Synoden der Landeskirchen gab es so etwas wie einen anwachsenden und des Kirchenbundes, die diese Fragen Veränderungsstau. Ökumenisch offene und öffentlich und kritisch diskutierten. In den acht- politisch wache kirchliche Gruppen nahmen ziger Jahren durchbrachen vor allem die ge- ihn wahr und nahmen ihn auf. sellschaftskritischen Gruppen durch Aktionen Ich war beteiligt an der Initiative, eine „Öku- zivilen Ungehorsams die Verdrängung oder menische Versammlung der Christen und Kir- ideologische Frisierung dieser Probleme. Die- chen in der DDR für Gerechtigkeit, Friede und se Gruppen sammelten sich im Fluktuations- Bewahrung der Schöpfung“ einzuberufen. raum zwischen Gesellschaft und Kirchen, die Der Aufruf fand ein lebhaftes Echo weit über ja die einzige staatsfreie Institution waren, in Kirchengrenzen hinaus. Alle christlichen Kir- der sich gesellschaftskritische Freiheit bilden chen arbeiteten schließlich mit, ihre Delegier- und artikulieren konnte. Für die Institution Kir- ten traten von Februar 1988 bis Ende April che wurde das jedoch oft höchst unbequem. 1989 zu drei Versammlungen in Dresden und Ich selbst verstand mich als Vermittler und In- Magdeburg zusammen. Die Texte, die sie er- terpret zwischen Kirchenleitungen und Grup- arbeiteten, wurden von der Berliner Bischofs- pen. konferenz und der Synode des Kirchenbundes in aller Form übernommen. In einem Bericht Gorbatschow brachte Bewegung in der Stasi konnte man später lesen, es handle die erstarrten politischen Fronten sich bei diesen Texten um „den aktuellsten komplexen Forderungskatalog hinsichtlich ge- Mitte der achtziger Jahre brachte M. Gorbat- sellschaftspolitischer Veränderung der DDR“. schows Entspannungs-und Perestroika-Politik Für mich war diese ökumenische Versamm-

48 lung ein Höhepunkt meiner gesamten Arbeit spontane Demonstration auf dem Domplatz. für die politische Verantwortung der Kirche. Bei den Friedensgebeten war die Devise aus- Sie brachte einen Durchbruch nach vorn in gegeben worden, wir gehen mit Kerzen bis auf der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen den Domplatz und zerstreuen uns dort. Aber und sie wurde zum Auftakt der Herbstrevolu- die Menge blieb dort stehen. Es gab kein tion. Mikro, keinen Moderator, keine Redner. Das Volk gestaltete die Demo mit Sprechchören, Den Demokratischen Aufbruch die in kleinen Gruppen entstanden und schnell in Berlin gegründet von der ganzen Menge aufgegriffen wurden. Zum Schluss skandierten die Bürger auf den Am 1. Oktober gründeten wir in Berlin den De- Domstufen: „Nächste Woche, selbe Zeit, wie- mokratischen Aufbruch teils in der Wohnung der hier!“ Die Menge auf dem Platz antworte- meiner Kinder, der Neuberts, teils im Panko- te: „Wir sind da!” Das Volk sprach sich frei, wer Gemeindehaus, weil es der Sicherheits- und so erlebten wir die Oktoberrevolution als polizei gelungen war, uns zu trennen. Mein die Selbstbefreiung des Volkes. Sohn Martin gründete mit anderen den DA in Auf den Domstufen habe ich nur einmal Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt, und gesprochen. Das war jetzt die Plattform derer, mein Sohn Gotthard demonstrierte in Halber- die vorher stumm gehalten worden waren. stadt. Ende Oktober wurde in der Erfurter Au- Die Friedensdekade im November, die ich jähr- gustinerkirche, der Kirche des evangelischen lich mit einer größeren Rede eröffnete, nutzte Propstes, die neue Partei für Thüringen ge- ich, um meine Interpretation des Geschehens gründet. Ihr Programm, wie die anderen neu- zu geben, um vor den taktischen Schachzü- en Parteiprogramme auch, nahm deutlich die gen der SED zu ihrem Machterhalt zu warnen inhaltlichen Impulse der ökumenischen Ver- und die Orientierungen der Ökumenischen sammlung auf. Sie fassten die Ost und West Versammlung zu aktualisieren. umgreifende Krise der Moderne ins Auge. De- mokratisch, sozial und ökologisch wollten wir Im Gefühl, einen weltgeschichtlichen sein. Wir Oktoberrevolutionäre meinten, die Augenblick zu erleben Aufhebung der SED-Diktatur mache nur Sinn, wenn sie in solch eine Transformation der Ge- Den Fall der Mauer haben wir mit großem sellschaften zur Zukunftsfähigkeit münde. Glücksgefühl erlebt. Schließlich hatte meine Aber schon als ich im Oktober Gemeinden Frau ihre ganze und ich fast meine ganze Ver- meiner Propstei bereiste, um in ihnen den De- wandtschaft im Westen. Nun wussten wir, dass mokratischen Aufbruch vorzustellen, konnte die Behinderungen beim Ausbildungsweg un- ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass serer Söhne und der Telefonterror gegen mei- diese umfassende Zielsetzung nur schwer ver- ne Frau bei meinen vielen Abwesenheiten auf- mittelbar und schwerlich mehrheitsfähig war. hören würde. Noch heute erscheint es mir als Das war sie nicht einmal im Demokratischen Wunder, bei Eisenach in Auto oder Bahn ein- Aufbruch selbst, wie ich bei dem ersten DDR- fach so über die frühere Grenze fahren zu kön- weiten Parteitag des DA im Dezember in Leip- nen. Spätestens am 9. November kam uns zig erlebte. Es fiel mir nicht leicht, das zu ak- deutlich das Gefühl, einen weltgeschicht- zeptieren. Aber wir wollten Demokratie und lichen Augenblick zu erleben, und sieben Jah- da galt es, Mehrheitsmeinungen, die so schnell re später fand dieses Gefühl im südafrikani- nicht zu verändern waren, zu akzeptieren. Jetzt schen Busch seine Bestätigung. Als wir uns bewegte die Vereinigung mit der Bundesrepu- dort einem Afrikaner als Deutsche vorstellten, blik und die Teilhabe an diesem ökonomisch- reagierte er: „Oh i see, the wall is broken!“ In politischen Erfolgsmodell die Massen. Erfurt feierten wir den Fall der Mauer einen Mein stärkstes Erlebnis im revolutionären Tag später auf dem Domplatz beim Martins- Oktober war die erste völlig ungeplante und fest, dem die Vorbereitungsgruppe Monate

49 zuvor das Motto „Trennende Zäune überwin- der dann aber auch einige intelligente Fragen den“ („Mauern“ hatte die politische Zensur kamen. Bei einer Sitzung des Runden Tisches, verboten!), gegeben hatte! Wir ahnten noch die ich zu leiten hatte, besuchte uns eine Dele- nicht, mit welchen Geschwind- und Riesen- gation der hessischen Landesregierung, der schritten die Ost-West-Teilung Europas über- auch Herr Kanther angehörte. Hilfsprogram- wunden werden würde, welche schweren Pro- me des Landes Hessen wurden besprochen. bleme aber auch mit dem schnellen Beitritt zur Nach den Wahlen im März 1990 wurde Bundesrepublik wirtschaftlich, politisch und auch ich angefragt, ob ich (außerhalb von mental auf uns Ostdeutsche zukommen wür- Thüringen) ein politisches Amt übernehmen den. wolle. Ich entschied mich ohne Zögern für die Morgens am 4. Dezember rief eine Ärztin bei Fortführung meines kirchlichen Amtes, das uns an, mit der meine Frau in der Gruppe mich jetzt noch einmal ganz neu forderte. „Frauen für Veränderung“ zusammenarbei- tete: Die Stasi in der Andreasstrasse verbrennt Die schwierigsten Jahre der Akten, man sieht es am Rauch aus den Schorn- ganzen Dienstzeit steinen. Wir starteten eine Telefonkette, um möglichst viele am Eingang zur Stasi zu ver- Die letzten fünf Jahre meines Dienstes gehör- sammeln. Dort wurde meine Frau zur Spre- ten zu den schwierigsten meiner ganzen Dienst- cherin gewählt und so kam es zur ersten Be- zeit. Die deutsche Vereinigung brachte sturz- setzung einer Stasibehörde in der DDR. bachartige Veränderungen auch für die Kir- chen. Kirchen aber sind als religiöse Institutio- Die Kirchen übernahmen die nen seit je Anwälte der Langsamkeit, denn die Moderation des Runden Tisches fromme Seele geht zu Fuß. Im Februar 1990 verfasste ich mit einigen theologischen Freun- Ebenfalls im Dezember begann in Berlin die den aus Ost und West eine „Berliner Erklä- Arbeit des zentralen Runden Tisches, dem rung”, in der wir die Kirchenleitungen baten, regionale und lokale Runde Tische folgten. Es den kirchlichen Transformationsprozessen galt, den politischen Umbruchsprozess zu ge- mehr Zeit einzuräumen. Heute sehen wir ja stalten und die Republik durch den Winter zu rückblickend, dass das forcierte Tempo des bringen. Auch im Bezirk Erfurt übernahmen politisch-wirtschaftlichen Umbruchs wohl un- die Kirchen die Moderation, so dass ich im vermeidbar war, zugleich jedoch innenpoli- Wechsel mit Oberkirchenrat Schäfer in Wei- tisch überaus problemverschärfend wirkte. mar und dem katholischen Generalvikar die Unsere Kirchen hatten sich aus der zentra- Sitzungen zu leiten hatte. Der Vorsitzende des listischen Einheitsgesellschaft kommend in die Rates des Bezirkes, der mich im Februar noch pluralen Öffentlichkeiten der Bundesrepublik zu einer scharfen Vermahnung geladen hatte, hinein zu wagen und hinein zu finden. Früher saß nun in der zweiten Reihe und stand auf, eher marginalisiert wurden sie jetzt mit Öf- wenn ich ihm das Wort erteilte. Ich spürte, wie fentlichkeitsaufgaben überlastet. Der Minder- bitter ihm dieser Rollenwechsel wurde. Ob er heitsstatus der Kirchen stand in schreiendem spürte, wie peinlich mir dies war und dass ich Widerspruch zu den neuen Arbeitsmöglich- es überhaupt nicht genoss? Es hat mich sehr keiten und Herausforderungen. Erst jetzt, als berührt, als ich hörte, dass Herr Swatek bald der ideologische Druck des politischen Regi- darauf erkrankt und gestorben war. mes verschwand, zeigte sich die nachhaltige Auch der Standortälteste der NVA, ein Ge- Säkularisiertheit der Post-DDR-Gesellschaft, neral, wurde zum Runden Tisch gebeten. Er lud und die Größe des kirchlichen Auftrags, das mich zu einem Vortrag über die kirchliche Frie- Evangelium „allem Volk” zu verkünden. Hatte densarbeit vor seinem Offizierschor ein. Nie- die evangelische Kirche in der Herbstrevo- mals zuvor und danach stand ich einer derart lution eine hohe Autorität bei der Bevölkerung, disziplinierten Zuhörerschaft gegenüber, von so wurde sie jetzt durch die – wie wir heute

50 wissen – weit überzogenen Stasi-Enthüllungen gannen unten im Schacht mit einem Hunger- verunsichert und auch gezielt diskreditiert. streik. Die Kumpel baten mich, zusammen mit Auch ich erlebte durch die Enttarnung einiger dem katholischen Pfarrer auf dem Schacht- auf mich und meine Familie angesetzter „IM“' gelände einen Gottesdienst zu halten. Der Enttäuschungen. Schließlich gerieten die Kir- katholische Bruder brachte vom Dorfbäcker chen in große finanzielle Schwierigkeiten, die ein riesiges rundes Brot mit, in das ein Kreuz sie zu radikalen Kürzungen in den Stellenplä- eingekerbt war. Ich predigte und dann bra- nen zwangen und in verstärkte Abhängigkeit chen wir miteinander das Brot und gingen von den Westkirchen brachten. In diesen Wand- durch die große Menge der Kumpel und ihrer lungsprozessen mit den Mitarbeitern und Ge- Familien, um es auszuteilen. Die Gesichter meinden meines Propstsprengels den aktu- sehe ich noch heute vor mir. Ich hatte das ellen Auftrag der Kirche zu entdecken und die Gefühl, ganz und gar bei der Sache zu sein, neuen Schritte zu lernen, das hielt mich in den für die es die Kirche gibt: In die Angst um das Jahren nach der Wende in Atem. tägliche Brot das Wort der Hoffnung und das Ich möchte meinen Bericht mit einem Er- Brot des Lebens austeilen. Und das in öku- eignis schließen, dem vielleicht typische Be- menischer Gemeinschaft mit vielen katholi- deutung zukommt. Im Jahr 1993 war der schen Christinnen und Christen und mit einem Kalischacht Bischofferode durch „Abwick- katholischen Priester! Und das auf dem Ge- lung“ bedroht. Die ganze Region am Rande lände des Kalischachtes, was früher verboten des Eichsfelds geriet in tiefe Erregung zwi- worden wäre, wozu wir aber jetzt die neue schen Aggression und Depression. Einige be- Freiheit hatten!

51 Gerd Fischer Gegessen wird immer

milie, sein Dorf, seine Arbeit füllen ihn ganz Gerd Fischer: aus. Sie geben ihm die Selbstsicherheit und Geboren 1944, wollte er Bauer werden die Kraft, sich den alltäglichen Problemen zu wie seine Eltern auch. stellen und sie zu meistern. Dies ist ihm bisher So verließ Gerd Fischer nach der 8. gelungen. Darüber verliert er kaum ein Wort, Klasse die Schule. Zwei Ausbil- dungsjahre lernte er noch zu Hause, aber ich empfinde, wie verhaltener Stolz in sei- das dritte Jahr bereits in der LPG. ner Stimme schwingt, wenn er freimütig und Nach dem Berufsabschluss wurde er in sachlich über die Umbruchsituation der Wen- die diese übernommen. Er qualifi- zierte sich zum Meister der Land- de und die Schwierigkeiten um die Erhaltung wirtschaft und wurde 1974 Brigade- seines Betriebes spricht. Hören wir ihm ein- leiter. 1990 wurde er Bürger- fach zu meister, weil niemand sonst dieses *** Amt in der Umbruchzeit übernehmen wollte. Im selben Jahr erfolgte die Die Berufswahl ergab Liquidation der Groß-LPG. Danach sich von ganz allein wirkte er maßgeblich an der Gründung einer Agrar-GmbH mit. Er wurde Bei- ratsvorsitzender im Angestellten- Geboren wurde ich im Kriegsjahr 1944. Mei- verhältnis. Die Tätigkeit übt er bis nen Vater habe ich nie kennengelernt. Er wur- heute aus. de seit der Schlacht am Kursker Bogen als vermisst gemeldet und kehrte nie zurück. Mei- ne Mutter musste unseren Hof verpachten, Das Gespräch führte weil sie ihn nicht allein weiterführen konnte. Rainer Morgenroth So wurde sie Landarbeiterin auf dem so ge- nannten Edelhof und ich wuchs bei den Groß- Gegessen wird immer entgegnet Gerd Fi- eltern auf. Nach dem Krieg ging meine Mutter scher, als ich ihn nach Umbruch, Problemen eine neue Ehe ein und führte gemeinsam mit und Perspektiven der Landwirtschaft in Thü- meinem Stiefvater unseren Hof wieder als ringen frage. Hinter diesen lakonisch hinge- bäuerlichen Betrieb bis 1960. In diesem Jahr worfenen drei Wörtern verbirgt sich ein Pro- traten sie in die LPG Typ 1 ein. gramm, ein ganzer Lebensentwurf, wie ich im In dieser Zeit war auch bereits die Entschei- Verlaufe unserer Gespräche erkenne. Es ist dung über meinen Lebensweg gefallen. Ich das Credo eines Bauern, ohne Pathos, be- war christlich erzogen, wurde 1958 konfir- stimmt und geradlinig, knapp und klar. Und miert und verließ mit Abschluss der Klasse 8 genau diese Eigenschaften widerspiegeln sich die Schule. Wie die meisten Bauernkinder war allenthalben in seiner Biographie. auch ich schon frühzeitig und selbstverständ- Geradlinig hat er seine Lebensziele ver- lich in die Arbeit auf dem Hof einbezogen folgt, wollte immer Bauer werden und sein. worden. Lohnarbeitskräfte konnten sich Bau- Die Landwirtschaft und sein Heimatdorf ha- ern unserer Größe nicht leisten. Deshalb ar- ben ihn seit früher Kindheit geprägt. In die- beiteten die Kinder mit, die Schule musste ne- sem Umfeld hat er sein Leben eingerichtet, benbei geschafft werden. So habe ich schon fühlt er sich wohl und geborgen. Seine Fa- ab dem 12. Lebensjahr ein Gespann geführt.

52 Die Berufswahl ergab sich dadurch von ganz mich von 1969 bis 1971 auf einem Großge- allein. Mit der Arbeit war ich vertraut und tat rät bewähren. Das war ein Versuchsschwad- sie gern. Auf dem Dorf fühlte ich mich wohl, und mäher, der in Neustadt/Orla entwickelt wur- da war der Hof, den ich einmal übernehmen de. Die dritte Maschine der Null-Serie durfte würde. Letzteres sollte nicht in Erfüllung ge- ich im Langzeittest fahren, in unmittelbarer hen. Aber die ersten zwei Ausbildungsjahre Zusammenarbeit mit dem Hersteller. lernte ich noch zu Hause, das dritte Lehrjahr und den Berufsabschluss erlebte ich bereits in Nach dem Meisterabschluss der LPG, von der ich 1961 nach der Berufs- Brigadeleiter im Feldbau ausbildung übernommen wurde. Neben der Arbeit in der LPG war ich noch einige Jahre als Nach diesem Einsatz bekam ich die Chance, Milchkontrolleur tätig. 1967 habe ich meine mich zum Meister der Landwirtschaft zu qua- Frau Ruth geheiratet. Wir haben drei inzwi- lifizieren. Diese Gelegenheit nahm ich zwi- schen erwachsene Töchter. Unser gemeinsa- schen 1973 und 1975 wahr. Bereits vor dem mes Ziel war, der Familie eine gesicherte bestandenen Meisterabschluss wurde ich ab Existenz aufzubauen und vor allem die Zu- 1974 als Brigadeleiter im Feldbau eingesetzt. kunft unserer Kinder zu sichern. Durch den Zusammenschluss mehrer LPG hat- Deshalb waren wir stets beide berufstätig. te unser Betrieb 1973 die beachtliche Größe Meine Frau arbeitete von 1969 bis 1989 in von 2600 Hektar erreicht. Die Kooperative einer Zweigstelle des VEB Antennenwerke Bad Abteilung Pflanzenproduktion (KAP) bewirt- Blankenburg, eingerichtet in der BHG Remda. schaftete die Fluren vieler Dörfer, z.B. Remda, Nach Auflösung dieser Produktionsstätte wur- Sundremda, Schaala, Altremda, Kirchremda, de sie arbeitslos, wurde mehrfach über ABM Breitenherda, Tännich, Heilsberg, Eschdorf, kurzfristig in der Gemeinde beschäftigt und Lichstedt, Eichfeld und Keilhau. Da war ich in bezieht derzeit EU-Rente. Ich wollte in der LPG arbeitsorganisatorischer und logistischer Hin- vorwärts kommen und nutzte angebotene sicht voll gefordert. Eine schwere aber auch Qualifizierungsmaßnahmen. So konnte ich befriedigende Aufgabe. Natürlich ließ man

53 mich bei einem solchen Verantwortungsbe- diger Umbruch, für unsere Groß-LPG ein tief- reich politisch nicht ungeschoren. Nach wie- greifender Einbruch. Natürlich habe auch ich derholtem Drängen und sanftem Druck mich gefreut über den Fall der Mauer. Aber ein Leiter müsse sich politisch bekennen trat bei uns auf dem Dorf verlief die damit ein- ich in die SED ein. Eigentlich hielt ich nicht viel setzende Wende ruhiger als in den Städten. von der ständigen ideologischen Überhö- Am Abend der Grenzöffnung war bei uns Kir- hung unserer Arbeit, aber meine Stellung zu mes, so haben wir erst Mitternacht davon erfah- verlieren, hätte mein Selbstwertgefühl arg ren. Die Freude war groß, aber es gab keinen beschädigt. Ich hatte ja schon gesagt, ich war Trubel. Einige Dorfbewohner fuhren seit dem christlich erzogen und konfirmiert. In Schulzeit Spätherbst zu Kundgebungen in die Stadt, und Lehre war ich natürlich Pionier und FDJler. aber im Ort tat sich vorerst politisch nicht viel. Letzteres benützte ich aber vorwiegend für die Nur der Bürgermeister nahm seinen Hut. Plötz- Jugendarbeit im Dorf. Hier ging es zuerst um lich war ich 1990 Bürgermeister. Kein anderer die soziale Gemeinschaft, z.B. bei der Vorbe- im Gemeinderat wollte das machen, aber es reitung der Kirmes oder sonstigen Dorffesten musste doch weitergehen. Auch im Betrieb sowie Verschönerungsarbeiten. Der Kirchge- begannen bald Auflösungserscheinungen. meinde bin ich übrigens immer treu geblieben Anfeindungen zwischen Leitung, Mitgliedern und war dort auch aktiv. Das brachte mir sei- und Arbeitskräften gab es vorerst nicht, da alle tens der Vorgesetzten oft versteckte Spitzen die gleiche Sorge drückte: Wie geht es weiter? ein. Das nahm ich gelassen hin. Da war mir Verwaltungstechnisch gab es einen uner- meine Dorfgemeinschaft wichtiger als sich auf warteten rechtsfreien Raum. Ereignisse und sinnlose Agitation einzulassen. Und diese vor- Verordnungen überstürzten sich. So mussten dergründige Agitation nahm zu, je größer und auch wir meist schnell handeln, um zu überle- sichtbarer die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ben. Wiedereinrichter in Breitenherda und der DDR wurden. Heilsberg forderten ihr eingebrachtes Land und Inventar zuück. Diese Anteilabfindungen wur- Fehlende Technik mit verordneter den durch den Verkauf der Gebäude der KAP Erntehilfe ausgeglichen (Pflanzenproduktion) einvernehmlich mit den Antragstellern geregelt und finanziert. Immer öfter fehlten Ersatzteile, die Maschi- nenreproduktion erfolgte zu langsam. Man- Den Gedanken an die gelnde Technik wurde in Arbeitsspitzen (Ernte) Wiedereinrichtung verworfen durch staatliche Regulation in Form verordne- ter Erntehilfe ausgeglichen. Masseneinsätze Als ich gegenüber meiner Frau den Gedan- durch Schüler, Sowjetarmee und Betriebe ken der Wiedereinrichtung äußerte, hielt sie wurden zu Ernteschlachten hochstilisiert. Die mich für verrückt. Und sie hatte ja Recht. Bei Hilfe fand ich bitter nötig, das Drumherum unserer Hofgröße war das unsinnig. Ich war nicht. Wir mussten etwas tun. Um die Kräfte zu um die Fünfzig, Söhne hatten wir nicht. Es gä- bündeln und den Betrieb zu stärken, wurden be also für einen Familienbetrieb keine Zu- 1989 Tier- und Pflanzenproduktion zusam- kunft. Außerdem war ja die Großraumpro- mengelegt. Die Produktion lief nun besser, duktion durch die Industrie vorgegeben, man aber immer noch nicht effektiv genug. brauchte nur die auf dem Markt angebotenen Und dann kam überraschend die Wende. Maschinengrößen und Preise anzusehen. Wir Anstatt der lang erhofften Besserung oder mussten also versuchen, unsere Genossen- wirtschaftlichen Stabilisierung kam der schaft irgendwie zu retten. Ich blieb zuver- schnellschrittige Zusammenbruch der DDR. sichtlich und sagte mir: Gegessen wird im- Das war für die meisten Bürger wegen des mer . Also braucht man auch landwirt- Mauerfalls, der Reisefreiheit und demokra- schaftliche Produktion. Aber 1990 kam die tischen Gestaltungsmöglichkeiten ein freu- Liquidation der Groß-LPG, nachdem die Kon-

54 zeptionen der Berater aus Westdeutschland wie Schafhaltung. Arbeitsplätze fielen in drei sich als untauglich erwiesen hatten. Viele die- Schüben weg. Wir suchten nach sozial vertret- ser Berater und Scheininvestoren waren einem baren Lösungen, wir mussten von 36 Stellen großen Irrtum unterlegen. Sie glaubten, sich auf acht Stellen herunterfahren. Vorruhe- billig Staatsland unter den Nagel reißen zu standsregelungen und Arbeitsvermittlung wa- können. Aber der Boden war Privateigentum. ren zeitweise meine Hauptaufgaben. Einige So zogen sie enttäuscht ab und wir begannen Leute konnte ich im Kranbau und in Lohn- allein. 1991 gründeten Landeigentümer eine firmen unterbringen eine verrückte Zeit! Agrar GmbH . Anfänglich waren wir 76 Gesellschafter. Zwei Geschäftsführer und ein Man hätte den Menschen mehr Beirat führten den Betrieb. Ich wurde als Bei- Zeit geben müssen ratsvorsitzender im Angestelltenverhältnis ge- wählt und bin es bis heute. Überhaupt finde ich im Rückblick, es ging al- Der Anfang war schwer. So mussten wir les viel zu schnell, zu überhastet. Man hätte 1992 unsere Ernte im Voraus verkaufen, um den Menschen mehr Zeit geben müssen, sich Lohnzahlungen und andere Verpflichtungen einzurichten in der Welt der Marktwirtschaft. abdecken zu können. Aber wir haben es ge- Auf uns bezogen meine ich damit die viel zu schafft, wenn auch zum Teil mit schmerz- kurze Zeit für die Umstellung der Betriebs- lichen Eingriffen. Dazu knüpften wir Kontakte struktur bei ständig wechselnden gesetzlichen zu seriösen westdeutschen Firmen und Part- Regelungen zwischen 1989 und 1991. Ich nern, die uns mit vernünftigen Bedingungen hatte schon betont, dabei entstanden auch über Engpässe hinweghalfen. Das war eine zeitweise rechtsfreie Räume, die das Handeln sehr wohltuende Erfahrung. erschwerten. Auch das Solidargefühl und die Die Marktwirtschaft erforderte Spezialisie- Sozialgemeinschaft des Dorfes haben darun- rung. Die Trennung von unproduktiven Ein- ter erheblich gelitten. Das ist bedauerlich. heiten war zwingend nötig, bei uns z.B. die Letztendlich hat sich meine Zuversicht be- Schweinezucht. Wir konzentrierten uns auf stätigt. Sie wissen schon: Gegessen wird im- Feldbau, Rinderzucht und Milchwirtschaft so- mer . Die meisten Bürger sind gut in der De-

55 mokratie angekommen und können mit der dig. Letzteres ist für mich wichtig, weil ich eben neu gewonnenen politischen Freiheit umge- ein heimatverbundener Mensch bin. Deshalb hen. Unser Betrieb hat nicht nur Bestand, wir wünsche ich mir für die Zukunft bessere schreiben schwarze Zahlen und können inve- Perspektiven für unsere Kinder und vier Enkel, stieren. Im Juni dieses Jahres haben wir z.B. als sie sich jetzt in unserer Region abzeichnen. einen neuen Rinderstall eingeweiht. Die Land- Meine Töchter sind zwar erwachsen, haben wirtschaft hat auch bei uns wieder eine Per- eine abgeschlossene Ausbildung und jetzt zum spektive. Unser Betrieb ist zwar geschrumpft, Glück alle Arbeit. Aber die soziale Sicherheit aber mit 1200 Hektar durchaus konkurrenz- ist nur bedingt gegeben. Es fehlen Krippen- fähig. Wir produzieren umweltgerechter als und Kindergartenplätze, und die Familienun- früher. Eingriffe und Auflagen der EU drücken terstützung reicht insgesamt noch nicht aus. zwar auf Preise und Produktionskapazität, Doch wir hoffen auf eine sichere und fried- aber vor allem die CDU-geführten Länder hel- liche Zukunft für unsere Kinder und die junge fen mit wirksamen Förderprogrammen. Das Generation überhaupt. Das wäre letztendlich gilt auch für Thüringen. das schönste Ergebnis der Wende, welches Auch unsere Dorfgemeinschaft funktio- ich uns allen wünsche. Ich selbst werde bald in niert wieder gut, das Vereinsleben ist leben- den Ruhestand treten.

56 Michael Gabel Aufbruch christlicher Lehrer, Verantwortung neu zu übernehmen

seine Schwächen. Neben der geistigen Aus- Professor Dr. Michael Gabel: einandersetzung mit dem christlichen Glau- Geboren im Januar 1953 in Erfurt. ben und dem Marxismus konnten wir in der Dort besuchte er die Schule bis zum Jugendgruppe offen über alles diskutieren, Abitur. ohne ängstlich nach der Meinung „von oben“ Michael Gabel entschloss sich zu einem Studium der Theologie, das er fragen zu müssen. Zugleich hatten wir in der von 1971 bis 1976 in Erfurt absol- Erfurter Lorenzkirche eine Art Jugendparla- vierte. Nach einem Praktikum wurde ment mit Ausschüssen und lernten so demo- er 1978 zum Priester geweiht und arbeitete im Anschluss als Kaplan in kratische Verfahren. Zugleich gestalteten wir Breitenworbis im Eichsfeld. Es als Pfarrjugend professionell Tanzabende, Fa- folgten die Promotion über den deut- sching und Freizeiten. Mit diesen Erfahrungen schen Philosophen Max Scheler und waren wir der üblichen FDJ-Arbeit überlegen. Tätigkeiten in der Ausbildung jun- ger Männer zu Priestern. Von 1987 Immer wenn in der Schule solche Veranstal- bis 1990 betreute Dr. Michael Gabel tungen organisiert werden mussten, waren wir die akademischen Berufsgruppen im Christen gefragt. Geschmerzt hat mich, dass Bistum Erfurt und organisierte Bil- dungswochenenden. Heute ist er Pro- wir in der Schule gelegentlich von einigen fessor für Katholische Theologie an Lehrern als Christen in die Enge getrieben und der Universität Erfurt. als dumm hingestellt wurden. Andererseits war es mein Mathematiklehrer an der EOS, Geboren wurde ich am 12. Januar 1953 in Archibald Gerlach, der mir heimlich ein Buch Erfurt als erstes von vier Kindern. Von 1959 an eines französischen Theologen zu lesen gab, besuchte ich die POS in Erfurt bis zum Ab- in dem dieser christliche Glaubensaussagen schluss der 8. Klasse. Dann wechselte ich auf mit den modernen Ergebnissen der Biologie die Humboldt-EOS, ein Gymnasium. 1971 und der Evolutionslehre verknüpfte. Von da an legte ich das Abitur mit Auszeichnung ab. Zu wusste ich, dass Gläubige sehr gut mit keiner Zeit bin ich den Pionieren oder der FDJ Naturwissenschaften umgehen können. beigetreten. Weil meine Eltern einfache Ar- Gelegentlich lud mein Mathematiklehrer ka- beiter waren, die Mutter Schneiderin, der Va- tholische und evangelische Christen sowie ter Facharbeiter für Elektronik, wurde mir den- Zeugen Jehovas, die alle sehr gute Mathe- noch der Zugang zur EOS und schließlich matikschüler waren, zu einem Abendge- auch ein Studienplatz für Mathematik an der spräch ein. Dort diskutierten wir nie über Ma- Friedrich-Schiller-Universität gewährt. thematik, sondern immer über Glaubensthe- Wichtig während der Schulzeit war für men. mich die Teilnahme am lebendigen Leben in der katholischen Kirche. Im Religionsunter- Der Entschluss, Priester der katholi- richt wurde jede Woche mit dem Pfarrer erar- schen Kirche zu werden beitet, wie wir in der Schule auf Provokationen gegenüber der Kirche antworten können. In der 12. Klasse entschloss ich mich, Priester Später lernten wir bei ihm die Hintergründe der katholischen Kirche werden zu wollen und des Marxismus kennen, seine Anliegen und Theologie zu studieren. Das Mathematikstu-

57 dium trat ich nicht an. Der einzige Lehrer, der bis 1990 betreute ich die akademischen Be- von meinem Entschluss wusste, und der mich rufsgruppen im Bistum Erfurt und organisierte darin unterstützte, war mein Mathe-Lehrer. In Bildungswochenenden. So kam ich in Kontakt Erfurt studierte ich Theologie von 1971 bis mit der Gruppe katholischer Lehrer und Erzie- 1976. Nach einigen Praktika wurde ich 1978 her. Seit 1990 bin ich in der wissenschaftli- zum Priester geweiht und arbeitete drei Jahre chen Ausbildung von Theologen und Lehrern als Kaplan in Breitenworbis im Eichsfeld. Dort für katholischen Religionsunterricht tätig. Heu- hatte ich jede Woche zweihundert Schüler im te übe ich diese Tätigkeit als Universitätspro- Religionsunterricht und etwa 80 Jugendliche fessor aus. Zu dieser Arbeit gehören neben in Gruppenstunden zu betreuen. Zwei Dinge den Vorlesungen und der Forschung auch gab ich den Schülern mit: Das Wichtigste ist Vorträge. Besonders viel Freude habe ich an die Wahrheitssuche, denn der Glaube braucht Vorträgen in Gymnasien. Ihnen folgt meist ei- vor der Wahrheit keine Angst zu haben. Das ne spannende Diskussionsrunde. zweite war die Überzeugung, dass Glaube nicht dumm macht, sondern große geistige Das Heiligenstädter Lehrertreffen Kräfte freisetzen hilft. im Februar 1990 1981 wurde ich an die Erfurter katholische Hochschule für Theologie gerufen, um meine Als am Samstagabend des 3. Februar 1990 wissenschaftliche Ausbildung in Theologie der Ressort-Minister des Bildungsministeriums fortzusetzen. Gemäß römischer Studienord- der DDR, Volker Abend, im Heiligenstädter nung waren Lizentiat und Promotion das Ziel. Marcel-Callo-Haus fast zweihundert versam- Ich arbeitete über den deutschen Philosophen melte katholische Lehrer und Erzieher aus Max Scheler, der wichtige Erkenntnisse zum Thüringen zum Nachtgebet einlud und selbst Verständnis des Menschen als Person erarbei- die Worte des Gebets sprach, hielten alle den tet hat. Daneben war ich in der Ausbildung Atem an. Man wusste nicht, ob man bloß junger Männer zu Priestern tätig. Von 1987 träumte. Persönlichkeitserziehung und Gebet,

Professor Michael Gabel (Mitte) im Kreis seiner Mitarbeiter der Fakultät im März 1994.

58 Schule und Kirche, das ging vierzig Jahre schluss der päpstlichen Universität Gregoriana nicht zusammen, nun deutete einer der höch- erworben und arbeitete zugleich an meiner sten Repräsentanten des Bildungssystems der Dissertation im Fach Fundamentaltheologie. DDR selbst den Bau der Verbindungsbrücke Bei den Lehrertreffen stand mir als Mitarbei- an. Für mich ist dieser Augenblick zum Symbol terin eine Heiligenstädter Schulschwester, der Wende und des Beginns einer neuen Zeit Schwester Maria Pia, zur Seite. Die Zusam- geworden. menarbeit mit ihr gestaltete sich äußerst Worum handelte es sich bei dem Heiligen- kooperativ und professionell, kam sie doch städter Treffen, wer waren die Beteiligten? Das schon vor vielen Jahren aus Westfalen und Heiligenstädter Treffen war Bestandteil einer hatte dort das Staatsexamen für den höheren mittlerweile langen Tradition kirchlicher Leh- Schuldienst erworben. rerweiterbildung. Als unmittelbar nach dem Krieg die Diözesen in der Sowjetzone und Hier war nichts vom engen Horizont dann der DDR ihr kirchliches Leben aufbau- der DDR-Bildungspolitik zu spüren ten, gehörte auch die Betreuung der akade- mischen Berufsgruppen zu den Aufgaben Bei den Teilnehmern der Lehrertreffen gab es kirchlicher Seelsorge. Im Bereich des heutigen starke Unterschiede zwischen den Gruppen Bistums Erfurt betreuten die Leiter des Seel- der aktiven und der pensionierten Lehrer. sorgeamtes bzw. die vom Bischof eigens be- Letztere hatten ihre Ausbildung meist noch vor auftragten Priester diese Berufsgruppen. Da- dem Zweiten Weltkrieg erhalten und hatten bei wurden drei Gruppen unterschieden: die die universitäre Ausbildung für den höheren Ärzte und Akademiker an den Hochschulen Schuldienst absolviert. Viele von ihnen konn- und Instituten, die Ingenieure und Techniker ten die bekanntesten Universitäten des und schließlich die Lehrer und Erzieher. Von deutschsprachigen Raumes als Stationen ihrer der letzten Gruppe kam naturgemäß die bei Ausbildung vorweisen. Dementsprechend weitem größte Zahl stets aus dem Eichsfeld klangen in den Gesprächen mit den pensio- mit seiner katholischen Bevölkerungsmehr- nierten Lehrern stets Themen an, die an die heit. Die Treffen fanden stets in Heiligenstadt gleichermaßen christlich-jüdischen wie euro- im kirchlichen Bildungshaus bei den Heiligen- päischen Wurzeln bürgerlicher Bildung klassi- städter Schulschwestern auf dem „Berg“ statt. schen Zuschnitts erinnerten. Zum Teil hatten Für die Lehrer und Erzieher wurden in jedem sie noch jene Professoren gehört, die das gei- Jahr drei Treffen angeboten. Ein Frühjahrs- stige Leben der frühen Jahre der Bundes- und ein Herbsttreffen für die aktiven Lehrer republik bestimmt hatten. Hier war nichts vom und Erzieher, sowie ein meist im Herbst statt- engen Horizont späterer Bildungspolitik der findendes Treffen für die pensionierten Lehrer. DDR zu spüren. Das zweite große Thema, das in diesem Kreis Präfekt am immer wieder anklang, war der Schrecken Priesterseminar Erfurt und die große Enttäuschung in ihrem frühen Berufsleben in der Gründungszeit der DDR. Ich selbst wurde nach meiner Tätigkeit als Diese Jahre waren bei allen zunächst von dem Assistent am Philosophisch-Theologischen Stu- großen Wunsch beseelt, nach der Unzeit der dium Erfurt, aus dem die heutige Katholisch- Nationalsozialisten Schülern endlich eine hu- Theologische Fakultät innerhalb der Uni- mane, demokratische und wenn möglich versität Erfurt hervorging, und meiner Tätig- christliche Erziehung zukommen zu lassen. keit als Präfekt am Priesterseminar Erfurt im Umso größer war dann die Ernüchterung, als Jahr 1987 im Erfurter Seelsorgeamt mit der sie miterleben mussten, wie Funktionäre der Beauftragung der akademischen Berufsgrup- SED und ihnen willfährige Lehrer alle Schalt- pen angestellt. Zu dieser Zeit hatte ich in Erfurt stellen im Bildungssystem besetzten und die das Lizentiat der Theologie mit römischem Ab- Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit

59 mit entschiedener Frontstellung gegenüber lende Vernetzung mit den Studierenden an- christlichen Werten implantierten. Die meisten derer Wissenschaften. Die aktiven Lehrer der Lehrer in Ruhe waren froh, mit dem Ende des DDR kannten als Mitstudenten meist nur an- Schuldienstes nun den Spagat zwischen stets dere Lehramtsstudierende. Nur wenige von bewahrter innerer Bindung an die Werte des ihnen hatten in der DDR den Mut gehabt, sich christlich-humanistischen Menschenbildes den kirchlichen Studentengemeinden an den und dem klugen politischen Taktieren im Hochschulorten anzuschließen und dort Stu- Schulalltag aufgeben zu können. Gelegent- dierende anderer Fächer kennen zu lernen lich bekannten sich auch Pädagogen aus und mit ihnen über aktuelle wissenschafts- diesem Kreis zu ihrer anfänglichen Begei- und kulturpolitische Fragen zu diskutieren. sterung für die sozialistischen Erziehungsidea- Eine liebenswürdige Folge dieser Einengung le und sprachen von dem Prozess ihres all- war der Umstand, viele Pädagogenpaare vor mählichen inneren Rückzugs aus diesem Sy- sich zu haben. In diesem Kreis war eines der stem in das Private. Nicht vergessen werde ich wichtigsten Gesprächsthemen die Absicht, die das Treffen der Lehrer in Ruhe vom 30. Ok- eigene innere Überzeugung, die von christli- tober bis zum 2. November 1989 in Heili- chen Werten geprägt war, auch im Schulalltag genstadt. Alle waren von der Unruhe erfüllt, unter der herrschenden sozialistischen Ideo- die in diesen Wochen das ganze Land ergrif- logie zu bewahren. fen hatte. Ich glaube, es war der erste No- vember, Allerheiligen, als wir mit der ganzen Wie weit konnte man mitgehen, Gruppe geschlossen zur „Demo“ auf den ohne die Ideale zu verraten? Heiligenstädter Friedensplatz gingen. Alle wa- ren von großer Sorge und Unruhe, zugleich Die wichtigste Frage war in diesem Zusam- aber auch von einer merkwürdigen Ent- menhang, wie weit man mitgehen konnte, schlossenheit erfüllt. Irgendwie leuchteten die ohne die Ideale zu verraten und innerlich zu Augen vieler, als sie an diesem Abend ins na- zerbrechen. Viele Teilnehmer dieser Gruppe he Bildungshaus zurückkehrten. gaben als ein Motiv ihrer Berufswahl außer der Freude an der Bildung junger Menschen Jungen Lehrern fehlte Vernetzung das Bemühen an, christliches Gedankengut mit anderen Wissenschaften auch unter den Bedingungen der sozialisti- schen Schule zu bewahren. Dass diesen Ver- Von ganz anderer Art war die Gruppe der suchen enge Grenzen gesetzt waren, wurde aktiven Lehrer und Erzieher, von denen die oft beklagt. Sehr konkret war oft auch das Be- meisten aus dem katholischen Eichsfeld so- mühen, mit großer Klugheit aufbegehrende wohl am Frühjahrs- wie am Herbsttreffen teil- Schüler vor Nachteilen und Strafaktionen aus nahmen. Zu den regelmäßigen Teilnehmern politischen Gründen zu schützen. Eine nicht dieser Treffen gehörten in meiner Zeit Dieter unwichtige Folge dieses Spagats zwischen Althaus aus Heiligenstadt und Rolf Behrend christlicher Identität und bildungspolitischer aus Niederorschel. Beide sind heute als Mini- Realität war das Ausweichen vieler christlicher sterpräsident und Mitglied des Thüringer Land- Lehrer auf „ideologieferne“ Fächer, zu denen tags bzw. als Mitglied des Europäischen Parla- vor allem die Naturwissenschaften und die ments wohlbekannt. Davon war damals noch Mathematik zählten. nichts zu ahnen. Der erste große Unterschied So ergab sich in dieser Gruppe die sicher zu den Lehrern in Ruhe war für diese Gruppe einmalige Zusammensetzung kirchennaher der Ausbildungsort. Nicht mehr die großen Lehrergruppen, in denen die Naturwissen- Universitäten, sondern die Lehrerinstitute und schaftler klar in der Mehrheit waren. Diese Pädagogischen Hochschulen wurden jetzt als fachliche Ausrichtung prägte schon damals Ausbildungsstätten benannt. Die Konsequenz die Diskussion der Glaubensfragen. Wie las- dieses Wechsels im Bildungsort war die feh- sen sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse

60 mit biblischen Aussagen vereinbaren? Schlie- waren nicht zufällig Anfang November 1989 ßen Schöpfungsglaube und Evolution einan- beim Treffen für die aktiven Lehrer als Refe- der aus? So ergaben sich in der DDR ganz an- renten Monsignore Dr. Karl-Heinz Ducke und dere Diskursgestalten der Lehrerweiterbil- Herr Winfried Weinrich zum Thema „Verbin- dung, als dies in der Bundesrepublik üblich dung geschichtlicher Information mit dem war. Eine weitere Folge dieses Umstandes er- Bedenken der gegenwärtigen gesellschaftli- gab sich erst später nach der Wende. Als un- chen Lage“ eingeladen, die gemeinsam in mittelbar nach 1990 Lehrer für katholische Berlin ein Büro für den Kontakt mit unter- Religion gebraucht wurden, meldete sich eine schiedlichen gesellschaftlichen Gruppen bei große Gruppe von katholischen Lehrern mit der ostdeutschen Bischofskonferenz unterhiel- naturwissenschaftlichen Fächern zu den Wei- ten. Herr Weinrich wurde nach der Gründung terbildungskursen, die das Philosophisch- des Freistaates Thüringen zum Leiter des ka- Theologische Studium im Auftrag des Thü- tholischen Büros berufen, durch welches das ringer Kultusministeriums anbot. Die erste Bistum Erfurt seinen ständigen Kontakt mit der Lehrergeneration an katholischen Religions- Landesregierung und der Bundesregierung lehrern im Freistaat Thüringen ist also von unterhält. Monsignore Dr. Ducke wurde in der einer Kombination mit naturwissenschaftli- Wende selbst von den katholischen Bischöfen chen Fächern geprägt. Sie tragen damit in die zum katholischen Vertreter am Runden Tisch Glaubensreflexion wie in das Verständnis der ernannt. Er moderierte in den Tagen der Wen- naturwissenschaftlichen Fächer wechselseitig de das Gespräch zwischen Vertretern der wichtige Impulse ein. Heute ist die Fächer- Staatsregierung und der Bürgerbewegung. ausrichtung bei den Studierenden wieder zur Heute ist Monsignore Ducke Pfarrer der katho- eher üblichen Ausrichtung zurückgekehrt. Re- lischen Gemeinde Jena und kirchlicher Ver- ligionslehrer haben als Kombinationsfach eher treter in verschiedenen öffentlichen Gremien. ein geisteswissenschaftliches Fach, die Kom- Überblickt man die Treffen der kirchlichen bination mit Naturwissenschaften wird wieder Lehrerweiterbildung in Heiligenstadt während selten. Dies ist durchaus auch zu bedauern. der DDR-Zeit, so waren sie zwar vorwiegend den inneren Fragen des Glaubens und der Reformbewegung in der Kirche mit Kirche zugewandt, ließen aber die Tuch- Einfluss auf das Kommen der Wende fühlung zu den offenen gesellschaftlichen Fra- gen nie vermissen. Freilich war der gesell- Vor allem die Erfahrung des Schulalltags, wie schaftspolitische Bezug eher verborgen anwe- das Bedürfnis, praktische Anforderungen und send, sicher auch, um die Teilnehmer vor un- eine christliche Wert- und Glaubenshaltung liebsamen Folgen zu schützen. Das änderte miteinander in Einklang zu bringen, bestimm- sich mit einem Schlag nach den November- ten die Interessen der kirchlichen Lehrerwei- ereignissen 1989 mit den großen Demonstra- terbildung. In meiner Zeit als geistlicher Be- tionen und der Öffnung der Mauer. Für den gleiter der kirchlichen Lehrerausbildung wur- Februar 1990 war das Thema „Alkoholismus den Themen zum Selbstverständnis der Kir- und Aufklärung der Sucht in der Schule“ vor- che, zur Bedeutung des christlichen Lebens gesehen. Doch die Ereignisse überstürzten inmitten des gesellschaftlichen Alltags sowie sich. Als sich für den Mai 1990 Kommunal- zu der großen gesellschaftspolitisch brisanten wahlen abzeichneten, entschloss ich mich zu Bewegung des Prozesses zur Bewahrung der einer Änderung der Thematik und verschickte Schöpfung vorgetragen. Gerade das letzte mit Datum 13. Dezember 1989 über den Run- Thema verkörperte den Aufbruch einer gesell- den Tisch Einladungen für den 3. und 4. schaftspolitisch relevanten Reformbewegung Februar 1990 an alle etablierten Parteien und sowohl innerhalb der Kirchen wie außerhalb, Bewegungen mit der Bitte, Vertreter zum The- einer Reformbewegung, die nicht ohne Ein- ma „Die bildungspolitische Konzeption in den fluss auf das Kommen der Wende war. So Programmen der Parteien, die sich am 6. Mai

61 1990 zur Wahl stellen“ zu entsenden. Von den Magdeburg als Beauftragter der Berliner Parteien sagten im Januar 1990 die CDU Bischofskonferenz und schließlich Frau Mar- (noch Ost), der Demokratische Aufbruch, die lies Blazejewski, Lehrerin aus Leutenberg. Sie SPD, die LDPD und die NDPD zu. Keine Ant- hatte den Kontakt zum Bildungsminister wort kam von der Bauernpartei, der SED und Volker Abend gebahnt und wurde kurze Zeit anderen Gruppierungen. Der Ablauf war so später zum Mitglied des deutschlandweiten gedacht, dass jede Partei in zehn Minuten ihr Zentralkomitees der Deutschen Katholiken Wahlprogramm vorstellen und fünf Minuten berufen. auf Nachfragen antworten sollte. Dabei sollte Damit bleibt als letzter Teilnehmer des Heili- auf die damals wichtigen Begriffe „Sozialis- genstädter Treffens noch der Minister Volker mus“ und „Haus Europa“ eingegangen wer- Abend vorzustellen. Am 1. Januar 1990 trug den. Kulturpolitisch sollten sich die Vertreter die Partei- und Staatsführung der wachsenden zum Menschenbild, zum Träger der Schule, Unruhe im Volk Rechnung und wandelte das zum Lehrer-Schüler-Verhältnis, zum Einfluss Ministerium für Volksbildung, Hoch- und Fach- der Eltern auf die Schulbildung, auf die schuli- schulwesen und das Staatssekretariat für Be- schen Erziehungsziele und zur Bedeutung von rufsbildung um in das Ministerium für Bildung. Geschichte, Kultur und Religion äußern. Volker Abend übernahm als erster von der Nach der allgemeinen Diskussion sollten die CDU nominierte Politiker das Amt des stellver- Parteien die Gelegenheit zu einem kurzen tretenden Ministers für den Bereich Schulen. Schlusswort haben. Volker Abend war selbst parteilos und Mitbe- gründer des NEUEN FORUM gewesen. Die Überwältigendes Echo auf die Anregung von Frau Blazejewski, den Minister neue Themensetzung einzuladen, wurde aufgegriffen. Zu meinem großen Erstaunen sagte der Minister umge- Als die Zustimmung der Parteien zur Teilnah- hend zu. Wenn ich mich recht erinnere, traf er me sicher war, wurden die Lehrer mit neuer während der Abendveranstaltung des Lehrer- Einladung angeschrieben. Die Themenände- tages ein. Er sprach zu seinen Lehrern und ließ rung wurde mit dem „aktuellen Zeitgesche- die Abendveranstaltung schließlich in der Ein- hen“ begründet, dem „in unserem Land Rech- ladung zum gemeinsamen Gebet ausklingen, nung zu tragen ist“. Das Echo war überwälti- einer Geste, die in den Jahren vorher undenk- gend. Während vorher wie nachher die Zahl bar war. der Teilnehmer eher um die 30 Personen pen- delte, meldeten sich diesmal über 200 Lehrer Erstmals Presseerklärung und Erzieher. Deshalb musste das Treffen aus über das Lehrertreffen dem Bildungshaus in das nahe gelegene Mar- cel-Callo-Haus mit seinem großen Saal ver- Erstmals wurde damals auch eine Presseer- legt werden. Teilweise musste den Lehrern, die klärung über das Lehrertreffen herausgegeben. sich zuletzt meldeten, wegen des großen An- In ihr hieß es: „Am dritten und vierten Februar dranges abgesagt werden. 1990 trafen sich 180 Lehrer aus der Berufs- Das Treffen wurde von mir und dem Leiter gruppe katholischer Lehrer im Bereich des bi- des Seelsorgeamtes, Ordinariatsrat Gerhard schöflichen Amtes Erfurt-Meiningen zu ihrem Stöber, geleitet. Von Seiten der Parteien waren jährlichen Treffen. Zu gegenseitiger Ermuti- anwesend Ekkehard Kroner von der CDU, gung trug insbesondere das engagierte Auf- Prof. Dr. Margarete Theuß, NDPD, Frau treten des Stellvertreters des Ministers für Bil- Peukert, LDPD, Pfarrer Capraro für die SPD, dung, Volker Abend, bei. Die Teilnehmer der Susanne Kessler für den Demokratischen Auf- Tagung gingen mit der Hoffnung auseinan- bruch, Frau Ordinariatsrätin Helga Mond- der, dass der eröffnete Spielraum auch für ei- schein für das bischöfliche Referat der Kinder- genständiges Handeln von Lehrern ausge- und Jugendarbeit, Herr Rudolf Förster aus schöpft wird. Im weiteren Verlauf der Tagung

62 bildete sich auch eine Initiativgruppe zur Althaus geleitet. Sie führte zur Gründung des Gründung eines christlichen Lehrerverban- Verbandes christlicher Pädagogen und Er- des.“ zieher am 20. April 1990. Sein Vorsitzender Die Presseerklärung lässt die Aufbruch- wurde Dr. Bernd Uwe Althaus. Dieser Verband stimmung erkennen. Vieles ist seitdem an- heißt heute Christliche Erziehergemeinschaft, ders geworden. Neue Herausforderungen sind Bernd Uwe Althaus ist ihr Vorsitzender bis zum dazu gekommen. Das Lehrertreffen gibt es wei- heutigen Tag. terhin. Seitdem wird es unmittelbar von Dom- Die Tagung der katholischen Lehrer und kapitular Stöber geleitet. Ich selbst habe die Erzieher im Februar 1990 in Heiligenstadt ist, wissenschaftliche Laufbahn ergriffen und leh- wie der kurze und in vielem ergänzungsbe- re heute als Universitätsprofessor für Fun- dürftige Rückblick zeigt, ein wichtiges Thü- damentaltheologie und Religionswissenschaft ringer Ereignis in der Wendezeit gewesen. An an der Katholisch-Theologischen Fakultät der ihn zu erinnern bedeutet nicht, eine einzelne Universität Erfurt. Vom Ministerpräsidenten Person zu würdigen, sondern die Lebensarbeit Dieter Althaus war schon die Rede. Er hat als ganzer Generationen von Lehrern, die unter Kultusminister und Referent in den Folgejah- schwierigen Bedingungen versucht haben, ihrer ren 1992, 1993, 1995 und 1996 an den Leh- Gewissensüberzeugung treu zu bleiben und rertreffen teilgenommen. Frau Blazejewski aus dem christlichen Glauben heraus zu le- vertrat die Thüringer Katholiken beim Zen- ben und Verantwortung zu übernehmen. Dass tralkomitee der Deutschen Katholiken. Die ihre Mühe und ihr Einsatz nicht vergeblich war, Initiative zur Gründung eines christlichen Leh- zeigt die Entwicklung, die damals angestoßen rerverbandes wurde von Herrn Dr. Bernd Uwe wurde.

63 Siegfried Geißler Dirigent, Komponist und erster Alterspräsident des Landtags

durch. Die Vorfahren des Vaters stammten aus Siegfried Geißler: Böhmen und brachten ihr musikalisches Ta- Geboren im März 1929 in Dresden. lent nach Sachsen mit. Begann mit 14 Jahren eine Ausbildung Geißlers Mutter war in jungen Jahren „in an der Orchesterschule des Dresd- ner Konservatoriums in den Fächern Stellung“, d.h. sie musste sich ihren Lebens- Klavier und Horn. unterhalt als Dienstmädchen verdienen. Als Ab 1946 ist Siegfried Geißler an der der Sohn geboren wurde, blieb sie zu Hause. Dresdner Philharmonie und an der Elf Jahre später bekam Siegfried Geißler noch Staatskapelle Dresden als Hornist tätig. Er wird Chefdirigent der Erz- eine Schwester. Von seinem sechsten Lebens- gebirgssinfonie Aue, 1958 Dirigent jahr an war der junge Siegfried an die Musik der Dresdner Philharmonie. Seit 1965 gebunden. „Wir wuchsen in einem ganz nor- ist er der Stadt Suhl verbunden als malen, geordneten Haushalt auf. Ich lernte Leiter des Staatlichen Sinfonieor- chesters Suhl, das ab 1979 zur Suh- mit sechs Jahren Klavier und mit zehn Jahren ler Philharmonie ernannt wurde. In Waldhorn. Ich las viel in meiner Jugend. Ein- der Wendezeit wurde Siegfried Geiß- mal, das steht noch genau vor meinen Augen, ler zu einer Leitfigur im NEUEN FORUM. Er wurde in den ersten hatte meine Mutter den Tisch ordentlich ge- Thüringer Landtag gewählt und war deckt, aber es gab nichts zu essen. Das war dessen Alterspräsident. 1935. Meine Eltern hatten vorher ein Klavier auf Raten gekauft. Kein Geld im Haus! Als ich dann in die Schule kam, war ich ab sofort der Das Gespräch führte ‚Musiker’.“ Dr. Juliane Rauprich Neben Musik standen Mathe, Physik Auch in Thüringen gibt es Menschen, deren und Philosophie hoch im Kurs Namen auf ganz besondere Weise mit jenen Ereignissen verbunden sind, die so kurz wie Es war nicht nur die Musik, die den Jungen in- umstritten „Wende“ genannt werden. Der teressierte. Mathe, Physik, Philosophie stan- Komponist und Dirigent Siegfried Geißler aus den ebenfalls hoch im Kurs. Philosophie wür- Suhl ist solch ein Mann. de er heute sogar studieren. Die Volksschule Siegfried Rudolf Geißler wurde am 26. in Dresden/Tolkewitz besuchte Siegfried März 1929 in Dresden geboren. Der Groß- Geißler von 1935 bis zum März 1945. Pimpf vater väterlicherseits war Klavierlehrer in Dres- und Hitlerjunge sei er auch gewesen. Sein Va- den. Sein Vater wollte auch Musiker werden, ter war bei den Bergsteigern der Sächsischen bekam aber von seinen Eltern zu hören, dass Schweiz und in Musikgruppen tätig, die poli- er etwas „Richtiges“ lernen solle. Als Laborant tisch links geprägt waren. In der Zeit des in einer Dresdner Zuckerfabrikation teilte er Kapp-Putsches hatten sie sich als eine Art das Schicksal vieler Arbeiter Deutschlands in Gegenkraft 1920 formiert. Trotz der politi- der Inflationszeit und mit der Arbeitslosigkeit schen Einstellung trat der Vater 1937 in die von 1920 bis 1933. Später schlug er sich als NSDAP ein, um seine Arbeit zu behalten. Von Straßenbahnschaffner und Omnibusfahrer einer politischen Prägung seitens des Eltern-

64 dieses Heftchen. Ich hatte in der Nazizeit aber auch Hitlers ‚Mein Kampf’ gelesen und kann heute nur entsetzt fragen: Wie konnte eine deutsche Intelligenz auf diese Idiotie herein- fallen?“

Von Speyer zurück in die DDR gegangen

Folgerichtig betätigte sich Geißler politisch zu- nächst 1946 als Mitglied des „Kulturbundes zur geistigen und kulturellen Erneuerung Deutschlands“, 1951 im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, 1953 in der Deutsch- Sowjetische Freundschaft, war 1954 bis 56 Kreistagsabgeordneter des Kulturbundes in Aue/Sachsen. Seine Mitgliedschaft in der SED dauerte von 1956 bis zum 1. September 1989, als er austrat. Beide Daten erzählen sehr viel über den politischen Menschen hauses kann Geißler nicht sprechen, obwohl Geißler! Er hatte auch Leitungsfunktionen in- er heute von sich sagt: „Ich bin Kommunist!“ nerhalb „der“ Partei: bei den Dresdner Phil- Mit 14 Jahren begann er, die Orchester- harmonikern gehörte er von 1959 bis 1963 schule des Konservatoriums und der Hoch- als Leitungsmitglied der Grundorganisation schule für Musik in Dresden zu besuchen. Der der SED an. junge Geißler wurde am Klavier und als Hor- 1946 geht Siegfried Geißler als Solohor- nist ausgebildet. Unterbrochen wurde dieses nist ans Stadttheater nach Cottbus. 1947 Studium durch den verheerenden Bombenan- flüchtet er in den Westen ins Rheinland, nach griff auf Dresden in der Nacht vom 13. zum Speyer am Rhein, wo er als Solohornist und 14. Februar und durch die Kapitulation des später als 2. Dirigent tätig wurde. Er schaute Hitlerregimes am 8. Mai 1945. Er beendete sich seine soziale Umgebung sehr genau an, seine Ausbildung Ende Juli 1946. Siegfried kehrte 1951 in die DDR zurück und wurde So- Geißler erinnert sich an das erstes Konzert lohornist im Kreiskulturorchester Sonneberg. nach Kriegsende, am 8. Juni 1945, im Ge- Die musikalische Karriere schreitet stetig vo- meindesaal der Strehlener Kirche, welches ran: 1953 bis 1956 Musikalischer Oberleiter von allen noch vorhandenen Musikern Dres- und Chefdirigent der Erzgebirgsphilharmonie dens – aus der Philharmonie und aus der Aue, dann bis 1958 in gleicher Funktion beim Staatskapelle – bestritten wurde. Kreiskulturorchester Mühlhausen in Thürin- Die Jahre 1945 und 1946 sehen den ju- gen. 1958 wird er Dirigent der Dresdner Phil- gendlichen Geißler als 3. Hornisten der Dresd- harmonie und unternimmt mit dieser 1959 ner Philharmonie und der Staatskapelle. „In eine Konzertreise in die Volksrepublik China der Staatskapelle haben mich zwei Kollegen, als erstes europäisches Orchester! 1962 ist er die über die Nazizeit hinweg sich als Kommu- Dirigent des Staatlichen Sinfonieorchesters nisten halten konnten, zur Seite genommen Thüringen/Sitz Gotha. und gefragt: ‚Hast du schon mal etwas von Seit 1965 ist Siegfried Geißler mit Suhl ver- Lenin gehört?' Ich verneinte logischerweise. bunden – zunächst als Chefdirigent des Staat- Da gaben sie mir eine kleine Broschüre über lichen Sinfonieorchesters Suhl mit Sitz in Hild- Lenins ‚Historischen und Dialektischen Mate- burghausen. Diesen Klangkörper hat er künst- rialismus’ zu lesen. Natürlich verschlang ich lerisch und wirtschaftlich so weit entwickelt

65 und geprägt, dass dieses Orchester 1979 zur musik, J.R.]. Musik, die nicht einmal in Dres- Suhler Philharmonie ernannt wurde. Ebenso den oder Leipzig aufgeführt wurde. Wenn es bemerkenswert wie typisch für Geißler: Der seitens der Obrigkeit Klagen über unsere Pro- national und international geschätzte Dirigent gramme und meine Auswahl gab, dann habe und Komponist ist auf dieser Strecke Auto- ich denen klipp und klar gesagt: Ich bin dafür didakt! verantwortlich, die Säle zu füllen. Wie ich das Die Jahre ab 1980 sehen ihn als freischaf- mache, geht euch nichts an!“ fenden Komponisten und Dirigenten; er unter- Geißler hat sein Renommee genutzt zum nimmt Konzertreisen in die UdSSR, die Volks- Wohl seines Konzertpublikums und eines be- republiken Polen, Ungarn, Rumänien, Bulga- merkenswerten Repertoires in der DDR-Pro- rien und in die CSSR – er darf sogar in Finn- vinz. Internationale Dirigenten, Solisten und land gastieren. Orchester bereicherten die Spielpläne. Der Suhler Knabenchor und die Suhler Singaka- Wir spielen so lange Beethoven demie, die er gründete, fanden seine Unter- bis der Saal voll ist stützung. Mit den Kantoreien der Region ar- beitete das Orchester unter Siegfried Geißlers Der in der DDR für sein musikalisches Schaf- Leitung ebenfalls zusammen. fen hoch dekorierte Siegfried Geißler lacht Bequem war er mit Sicherheit in keiner Phase noch heute verschmitzt, wenn er sich an sein seines Lebens. Nie glatt und unverbindlich, Durchsetzungsvermögen von damals erin- vor allem keiner, der glaubte ohne nachzu- nert: „Man kann schon sagen, dass ich mir denken. Das Beispiel 1968 fällt Siegfried Geiß- durch meine Arbeit eine Art ‚Narrenfreiheit’ ler ein, da sei er in Kosice, in der Slowakei, errungen hatte. Zunächst sagte ich bei den gewesen: „Da dachte ich wirklich, jetzt kommt leeren Sälen in Suhl: Wir spielen so lange etwas Neues, jetzt beginnt eine Zeit der Ver- Beethoven, bis der Saal voll ist. Als dies ein- änderung mit dem Sozialismus. Als dann der trat, konnten wir nun auch Schostakowitsch, ‚Prager Frühling’ von den Truppen des War- sogar die 14. Sinfonie, und andere moderne schauer Paktes brutal nieder gewalzt wurde, Werke von Zeitgenossen spielen. Reger-Pfle- wobei auch die DDR involviert war, hatte ich ge war angesagt. Dodekaphonie [Zwölfton- nur ein Wort für das alles: Das ist Faschismus

Siegfried Geißler (r.) mit der Dresdner Philharmonie in Shanghai, die als erstes europäisches Orchester in China gastierte.

66 hoch drei!“ Seine kritische Äußerung und die um Buchstabensymbole ranken sollte: um Kenntnis über seine politische Haltung lande- „SED“, um „SS“, um „SA“. „Und dann kam so ten zwangsläufig vor der Parteikontrollkom- ein Umbruch 89 – ohne dass man das wissen mission. Manch anderer hätte in dieser Zeit konnte. Eine sehr aufregende Zeit. Ich hatte an Geißlers Stelle geschwiegen. eigentlich nie gedacht, dass die deutsche Das Orchester, damals noch in Hildburg- Einheit zustande kommen würde. Gehofft hat- hausen angesiedelt, stellte für die Stadt und te ich auf Lockerungen. In meinen Gedanken den Kreis eine hohe Belastung dar, die sie wollte ich schon eine sozialistische Demo- nicht bewältigen konnten. Die Proben muss- kratie, einen wirklich demokratischen Sozia- ten unter unzureichenden Bedingungen statt- lismus. Am 9. November war ich überglück- finden; die Wohnungssituation der Musiker lich, aber eben auch sehr überrascht.“ Nein, war alles andere als zufriedenstellend. In die- Christa Wolfs Aufruf „Für unser Land“ hat sen Jahren kam es bei laufendem Spielbetrieb Siegfried Geißler nicht unterschrieben. Wa- zur Umsiedelung nach Suhl. Etwa 50 Woh- rum nicht? „Das habe ich gar nicht gekannt. nungen für die Musiker wurden gebraucht. Die DDR-Schriftsteller habe ich nicht sonder- lich beachtet. Neben der Musik liebte ich Ja- Die Narrenfreiheit war auf das mes Joyce, Thomas Mann, sein ‚Doktor Fau- Äußerste strapaziert stus’ ist meine Bibel. Ich schätze sehr Arno Schmidts ‚Gelehrtenrepublik’, vor allem Or- 1980 schied Geißler aus dem Amt des Chef- wells ‚1984’. Und natürlich Stefan Heyms dirigenten der Suhler Philharmonie aus. Zum König ,David Bericht’ – das ist eine tolle Ul- Teil war es seiner Gesundheit geschuldet, zum bricht-Kritik...“ Teil entsprach es einem „indirekt“ geäußerten Hat Siegfried Geißler denn von der Oppo- Wunsch höherer Stellen, wie aus seiner Stasi- sition innerhalb der Kirchen, die es ja auch in Akte hervorgeht. Dass er seine „Narrenfrei- Südthüringen gab, nichts mitbekommen? heit“ aufs Äußerste strapazierte, ist auch Nein, eine solche Außenwirkung hätten die durch die schon 1962 ansetzende Freund- Kirchen nicht gehabt, um ihn in der Zeit vor schaft mit dem Maler Kurt-W. Streubel doku- dem Herbst 1989 zu erreichen. Das hat sich mentiert. Streubel, Jahrgang 1921, in Gotha dann allerdings geändert, wie auch die Ge- ansässig und im Zug der „Formalismus- nossen von der Bezirksverwaltung des Mini- Debatte“ in der DDR vom Verband Bildender steriums für Staatssicherheit Suhl am 5. No- Künstler, der Partei und dem MfS kalt gestellt, vember 1989 konstatierten. In einem als steuerte die Entwürfe, Plakate und Programm- „streng vertraulich“ kategorisierten Bericht hefte der Suhler Sinfoniker bei. Mit seiner schreiben sie über „die kirchliche Veranstal- „Sammlung Streubel“ kann Geißler inzwi- tung mit anschließender Demonstration und schen Ausstellungen beschicken. Seine 6. Kundgebung am 4. 11. 1989 in Suhl”: „Der Sinfonie widmete er dem Freund. zustrom zur angekündigten Veranstaltung be- Mit dem Jahr 1980 begann eine gewollt gann ab 14.00 Uhr. Es bewegten sich Perso- sehr zurück gezogene Lebensphase von Sieg- nen aus allen Wohngebieten der Bezirksstadt fried Geißler. Natürlich ist er durch seine zu den evangelischen Kirchen. Bis zum Beginn zweite Ehefrau Rosemarie, selbst Geigerin im der Friedensgebete um 15.00 Uhr hatten sich Orchester, mit der Welt außerhalb der Kom- ca. 1 800 Personen in der Hauptkirche, ca. ponierstube verbunden. Auch seine Kontakte 600 Personen in der Kreuzkirche sowie ca. ins Ausland ließ Siegfried Geißler nie abrei- 8 000 Personen im Steinweg – Bereich zwi- ßen. In diese scheinbar kleiner gewordene schen beiden Kirchen – eingefunden. ... Im Welt des Komponisten brach der Herbst 1989 Verlaufe der Kundgebung ergriffen 9 Redner, um so fulminanter ein. Noch am Heiligen deren Beiträge nachfolgend enthalten sind, Abend 1988 hatte er die Arbeit an einer das Wort. ... 7. Geißler, Siegfried (...) frei- neuen Sinfonie begonnen, die sich thematisch schaffender Komponist. Er war bis 1980

67 Chefdirigent der Suhler Philharmonie und trat zurück und berichtet, daß sie nur zu einem in der Vergangenheit mehrfach mit antisozia- Gespräch mit Generalmajor Lange empfan- listischen Aktivitäten in Erscheinung. Seit sei- gen wurde, aber keinerlei Kontrollgänge nem Parteiaustritt im September 1989 beab- durchführen durfte. Tumultartiger Protest bricht sichtigt er, sich ... der Politik zu widmen. Geiß- aus. Sofortige Demonstration und Besetzung ler ist Mitglied der Arbeitsgruppe ‚...Verfas- der Stasi wird gefordert. Die Sprecher vom sung/Strafrecht’ des ,neuen Forums’ Suhl und NEUEN FORUM schlagen eine geordnete bot sich gegenüber der Bohley als ,Kontakt- Demonstration zur Stasi am Mittwoch, 14 Uhr, adresse’ des ,Neuen Forums’ in Suhl an. vor. Der Gesprächsleiter des Abends versucht, Während der Kundgebung trat er aggressiv in durch Abstimmung Zeit zu gewinnen, um be- Erscheinung.“ [zitiert wurde aus: Aufbruch sonnen handeln zu können. Doch die Massen '89. Kleine Chronik der Herbstereignisse sind nicht zu halten und brechen auf.“ 1989 in der Bezirksstadt Suhl. September bis Am Ende eines gefährlichen Marsches von Dezember. Hrsg.: Bernd Winkelmann, Brigitta weit über 4 000 Menschen mit Kerzen in der Wurschi, Bischofrod 1990; die Schreibweise Hand hoch zur „Burg“, wie das Domizil der ist den Originaldokumenten des MfS entnom- Bezirksverwaltung des Ministeriums für men, J. R.] Staatssicherheit in Suhl hieß, durften 14 Bür- ger ins Innere – Siegfried Geißler war dabei. Die Aktenvernichtung durch die Und ist von da an ab sieben Uhr in der Frühe, Stasi verhindern häufig bis tief in die Nacht, zu Weihnachten und über den Jahreswechsel 1989/90 auf der Am 4. Dezember 1989 sollten in der Suhler „Burg“. An den Feiertage wurde es schwierig, Stadthalle die Arbeitsergebnisse der 14 Ar- immer eine Bürgerwache zusammen zu be- beitsgruppen des NEUEN FORUM vorgestellt kommen. Da hat er seinen Freunden schon werden. Siegfried Geißler frischt die Erin- mal ein strenges „Ihr seid mir schöne Revo- nerung an diesen schicksalhaften Abend er- lutionäre, macht eine Revolution mit einge- neut mit einem Blick in den „Aufbruch '89“ planten Feiertagen“ entgegengeschleudert. auf: „Schwerpunkte des Abends sollten sein: Geißler, der in den Medien und in den 1. Berichte aus der Arbeit des NEUEN FO- Erinnerungen derer, die damals dabei waren, RUM und seinen Arbeitsgruppen, 2. Ausspra- zum „Stasiaufklärer“ par excellence wurde, che über die Folgen der Grenzöffnung unter nimmt kein Blatt vor dem Mund, sagt aber dem Thema ‚Reisen ist nicht alles’. Gegen zugleich: „Man muss alles differenziert se- 19.30 Uhr sind 2 bis 3 000 Menschen in der hen“. Viel konstruktive Energie hat der Stadthalle versammelt. Doch der Abend ver- Musiker in den Aufbau eines Bürgerkomitees läuft anders als geplant. Schon mittags wurde in Thüringen gesteckt. Noch in den letzten bekannt, daß in der ganzen Republik in den Tagen der DDR, am 1. Oktober 1990, melde- Gebäuden der Staatssicherheit Akten vernich- te Siegfried Geißler beim Amtsgericht Suhl tet werden. Am Nachmittag verhandelt eine das „Thüringer Bürgerkomitee e.V.“ an. kleine Abordnung des Sprecherrates...mit Be- Dieses Komitee ist bis heute noch in Zella- zirksstaatsanwalt Dr. Schulze und Major Linke Mehlis existent. Das Bürgerkomitee sei, so von der Bezirksbehörde der VP, um mit einer Geißler, der Grundstock bei der Stasi-Auf- kleinen Gruppe in der Bezirksverwaltung der lösung gewesen. Entstanden ist es in den Staatssicherheit einen Kontrollgang und die Abendstunden jenes 5. Dezember 1989, als Versiegelung der Aktenschränke zu erreichen. der Ausgang allen Tuns noch sehr, sehr offen Generalmajor Lange, Leiter der Bezirksbehör- war... de der Staatssicherheit, teilt 18.15 telefonisch Wenn Siegfried Geißler, der seit Beginn mit, daß eine Gruppe von zehn Personen das dieses Jahres an seiner Lebensgeschichte ar- Gelände der Stasi besichtigen kann. ... beitet, heute öfters im „Gambrinus“ in Suhl Gegen 21.30 Uhr kommt die ‚Zehnergruppe’ bei seinem Sohn sitzt, dann kommt es nicht

68 selten zu philosophischen Rückblicken und die meisten Stimmen bekommen und das Ver- Vorschauen: „Es müssen so wichtige und so trauen der Wähler erhalten. Listenplätze wie viele Reformen in der ganzen Welt geschehen bisher lehnt er ab. Jeder möge sein Programm und das klappt nicht einmal in Deutschland!“ veröffentlichen. Auch Fraktionsbildung lehnt Immer noch glaubt Geißler, dass es so etwas Geißler ab, möchte dafür wirkliche Gewis- wie einen „Dritten Weg“ zwischen Kapitalis- sensfreiheit für alle Abgeordneten realisiert mus und Sozialismus geben muss. „Es muss sehen. Dem Landesparlament würde er eine jedenfalls ein anderer Weg sein, weil dieser Kommunalkammer – bestehend aus gewähl- Kapitalismus uns so schonungslos entgegen ten Vertretern der Kommunen oder berufenen tritt. Diese Ellenbogen und Krawattengesell- Bürger- und Interessenvertretungen – nach- schaft kann es nicht sein. Über Gemeinnützig- oder vorschalten. Und noch etwas: Geißler keit redet kaum jemand, noch weniger han- plädiert für den Zwang zur Wahl! Unter den deln entsprechend. Ich bin dafür, dass auch jetzigen Verhältnissen würde ja ganz augen- die zu gemeinnütziger Tätigkeit herangezo- scheinlich eine Minderheit über eine Mehrheit gen werden, die von der Gesellschaft profitie- bestimmen. ren.“ Dass Deutschland wieder ein vereintes Als Weltbürger Nr. 2 Land geworden ist, dass begrüßte und be- anregender Impulsgeber grüßt Geißler aus vollem Herzen. Wie diese Vereinigung allerdings abgelaufen ist, das Zum alten Eisen kann der 75jährige Bürger- ringt ihm keine Zustimmung ab. Die Worte, rechtler Siegfried Geißler noch lange nicht die er für die Leistung beim Aushandeln des gerechnet werden. Er kann aus reichen Er- Einigungsvertrages für die damals maßgeb- fahrungen als Sonderbeauftragter für Thürin- lich Handelnden auf DDR-Seite findet (Geiß- gen und Angestellter des Gauck-Ausschusses ler nennt hier Krause, Lothar de Maizière und der ersten frei und geheim gewählten Volks- Diestel) – diese Worte sind drastisch! So vieles kammer schöpfen. Auch als Abgeordneter sei in jener bewegten Zeit über die Menschen des NEUEN FORUM in den Thüringer Land- gekommen. Auch er habe die Zeit nicht ge- tag, dessen erster Alterspräsident er war, wur- nießen können, habe keine Reisen gemacht de er gewählt. Dort sorgte er gemeinsam mit beispielsweise. „Ich war sofort und total po- Matthias Büchner, seinem politischen Mitstrei- litisch eingebunden. Dabei wollte ich eigent- ter, für Furore. Siegfried Geißler war außer- lich noch mal um die ganze Welt wandern. dem schon Suhler Stadtrat und Mitglied im 1989 glaubte ich, jetzt, wo ich selber mitge- Ortschaftsrat in Suhl-Heinrichs. stalten kann, da wird alles besser. Aber nichts Das alles macht diesen Mann zu einem ist besser geworden. Dieses Land ist nicht ge- mehr als anregenden Gesprächspartner und eignet zur Mitgestaltung! In der DDR gab es zu einem Impulsgeber. Dass es leicht wäre, keine Demokratie. Das, was in der Bundesre- sich auf ihn einzulassen, das behauptet nicht publik passiert, kann man nicht Demokratie einmal er selbst, der von sich mit einem nennen. Demokratie bedeutet für mich, dass Augenzwinkern sagt: „Geborener Sinfoniker. man miteinander und nicht gegeneinander Kosmopolit, Pazifist, Anarchist, Atheist und arbeitet.“ Kommunist. Nach Sartres Erklärung 1950 Für eine Bürgerdemokratie sei er, so Sieg- zum Weltbürger Nr. 1, meine Erklärung 1951 fried Geißler, in der Parteien existieren und in Speyer zum Weltbürger Nr. 2. Ich bin da als ihre Kandidaten stellen können. Auf dem der ich bin (Martin Buber). Ich denke, also bin „können“ liegt seine Betonung. Zusammen- ich (René Descartes). Ich sage: Ich bin, also setzen solle sich das Parlament aus jenen, die denke ich.“

69 Eckhard Giese Auf„Montage ” in der ehemaligen Parteischule

geprägtem Stadtbild (die Butter- und später Prof. Dr. phil. Eckhard Cannabisfahrten ins Nachbarland dauerten Giese: keine halbe Stunde). Tatsache ist allerdings, Geboren 1953 in Münster als zweites dass (um es ganz genau zu nehmen) von fünf Kindern, aufgewachsen in Papenburg/Ems. Ostfriesland exakt an der Stadtgrenze zu Pa- penburg beginnt, und die Bevölkerung wan- Eckhard Giese studierte von 1971 bis 1978 Psychologie an den Universi- delt sich von katholisch – CDU wählend zu täten Heidelberg, Würzburg, Manche- protestantisch-sozialdemokratisch. Und auch ster in Großbritannien und Münster. die Ossi-Witze meiner Gymnasialzeit gehen Von 1978 bis 1981 schloss sich ein Forschungsaufenthalt in psychiatri- natürlich anders als die Ossi-Wessi-Witze im schen Einrichtungen in Italien an. wiedervereinigten Deutschland. 1983 promovierte Eckhard Giese zum Die „DDR“ (immer mit „“) war typischer- Dr. phil. in Bremen. Von 1984 bis 1992 übte er eine Praxistätigkeit in weise als „Zone“ beziehungsweise „SBZ“ The- der Berliner Jugendhilfe aus. Seit ma meiner Schulzeit, ich erinnere mich an 1992 ist er Professor für Sozialwe- gewisse Unterrichtsmaterialien der Bundes- sen der Fachhochschule Erfurt mit zentrale für politische Bildung. Der Kommu- den Lehrgebieten Psychologie, So- zialpsychiatrie, Gender Studies und nismus als Weltanschauung und seine realso- Umweltpsychologie. zialistische Umsetzung kamen nicht gut weg im katholischen Milieu meiner Kindheitsklein- Geboren wurde ich 1953 in Münster/ stadt. Immerhin, es gab einen überzeugten Westfalen als zweites von fünf Kindern meiner Kommunisten, der Biologie am Papenburger Eltern. Von 1971 bis 1978 kam dann mein Gymnasium unterrichtete, dessen Überzeu- Studium der Psychologie an den Universitäten gungen aber eher kolportiert als offenbart Heidelberg, Würzburg, Manchester und Mün- wurden – wahrscheinlich tat der Mann gut ster. Daran schloss sich ein Forschungsaufent- daran. halt in psychiatrischen Einrichtungen in Arez- zo und Genua an, der bis 1981 dauerte. Die DDR – so etwas wie ein 1983 folgte meine Promotion zum „Dr. phil.“ unheilvolles, graues Loch an der Universität Bremen. Ab 1984 began- nen acht Jahre Praxistätigkeit in der Westber- Wir haben bis heute keine Verwandtschaft in liner Jugendhilfe. Die Professur am Fachbe- der früheren DDR, und was hatte die Familie reich Sozialwesen an der Fachhochschule Scholz, die aus Schlesien vertrieben, bei mei- Erfurt habe ich seit 1992 inne. Meine Lehr- nen Großeltern mütterlicherseits untergekom- gebiete sind Psychologie, Sozialpsychiatrie, men war, schon mit der DDR zu tun? Freilich Gender Studies [Geschlechterforschung] und hatten diese anno 1921 ihre Hochzeitsreise Umweltpsychologie. nach Tabarz unternommen, was mich aller- Eigentlich bin ich „Ossi“: aufgewachsen in dings erst rührte, als ich es später selbst be- der Kanalstadt Papenburg an der Ems unter suchte. den Klängen der nun mittlerweile ausgelager- Mangels persönlicher Bindungen und Er- ten Schiffswerft Meyer; ein Ort mit holländisch fahrungen war und blieb die DDR eher so et-

70 sagen zu lassen, er sehe aus wie eine Waschfrau. Oder so ähnlich. Das Grenz- regime der DDR hat viel dazu beigetragen, diesen Staat als Gefängnis erscheinen zu lassen, und Petitessen wie das Eintrittsgeld („Transitgebühr“); die rigiden, dabei für die DDR hochlukrativen Strafmandate für mini- male Geschwindigkeitsüberschreitungen; das Gesprächsverbot mit Einheimischen auf den Autobahnraststätten trugen dazu bei, die Ein- fahrt in das „Territorium“ der DDR mit Beklom- menheit zu verbinden. Die Neugier auf diese Weltgegend wurde minimiert und ihr Verlas- sen mit Erleichterung quittiert. Die Tatsache, dass man die DDR nun mal zwangsläufig und schnellstmöglich durchfuhr, führte ja nun dazu, dass sie subjektiv entlegener war als sagen wir, Neuseeland. Städte wie Leipzig oder Erfurt waren Namen auf der Landkarte bzw. Abfahr- ten auf Autobahnen, die zu benutzen uns was wie ein unheilvolles, graues Loch auf der normalerweise verwehrt war, und, ich gestehe Landkarte, als deren gebetsmühlenartig uns es, die Sache hat funktioniert! Etwas, das du Schülern immer wieder präsentierte beson- nicht kennenlernen darfst, das eifersüchtig dere Errungenschaft der polytechnische Un- bewacht und großsprecherisch verteidigt wird, terricht galt. Ein Leistungskurs Marxismus-Le- erzeugt nun mal keine große Anteilnahme, ninismus, den ich in der elften Klasse des und so lebte ich bis zu Gorbatschows Pere- Gymnasiums zusammen mit meinen schüler- stroika als Westdeutscher. bewegungsbewegten Mitschülern gewählt hatte, erwies sich im Nachhinein als eine gute Psychiatriereform der DDR erst nach Vorbereitung auf meine Studienjahre, den der Wende zur Kenntnis genommen Appetit auf die DDR steigerte er nicht. Der Sozialismus erschien uns 15-jährigen im Gro- Nach meiner Schulzeit ging ich zum Studium ßen und Ganzen nur attraktiv als freiheitliche nach Heidelberg, anschließend nach Würz- Variante, wobei der dritte Weg Jugoslawiens burg und lebte ein Jahr lang in Großbritan- Emanzipation und Wohlstand gleichermaßen nien, von wo aus es mich in meine Geburts- zu gewähren schien. Wobei meine Schule sich stadt Münster verschlug. Schließlich hörte ich durchaus nicht als demokratischer Immun- von der italienischen Psychiatriereform, die in schutz für einige meiner Mitschüler erwies, die jenen Jahren im Gefolge der Studentenbewe- sich wenige Jahre später in stalinistischen gung Züge einer Kulturrevolution trug und es Gruppen wiederfanden bzw. im „bewaffneten mir möglich machte, ein fachliches Interesse Kampf“ terroristischer Gruppen ihr Leben lie- mit einem erneuten längeren Auslandsaufent- ßen. halt zu verknüpfen. Von jenseits des „Eisernen Ich erinnere mich an meinen ersten West- Vorhangs” (eine Metapher, die sich als wirk- Berlin-Besuch. Die Einreise noch vor den mächtig erwies), ist mir die damalige Debatte Milderungen der Brandtschen Ostpolitik hätte über den politischen Missbrauch der Psychia- ich mir kaum unangenehmer vorstellen kön- trie in der Sowjetunion haften geblieben, wäh- nen: natürlich wurde unser VW gefilzt und rend ich Ansätze der Psychiatriereform in der mein Freund musste seine langen Haare DDR erst nach der Wende zur Kenntnis nahm. hochnehmen, um sich dann von dem Grenzer Nach der Promotion zum Dr. phil. zog ich

71 1984 mit meiner damaligen italienischen tausch irgendwie sinnvoll einzusetzen, ließen Freundin von München in die, wie es damals das Angebot schnell unattraktiv werden. Ich DDR-seitig hieß, „selbstständige politische habe mir damals einige Grundwerke der sow- Einheit West-Berlin”. Bevor wir damals so ent- jetischen Psychologie gekauft (weniger: gele- schieden – unter anderem sollte ein Haupt- sen) und verhielt mich ansonsten beobach- fachstudium der Skandinavistik am neuen tend. Standort möglich sein – haben wir die in Frage Bis die Mauer fiel. Mangels geheimdienst- kommenden Städte markiert und teilweise be- licher oder persönlicher Verbindungen in die sucht. Es lief unstrittig auf Berlin zu, und ich bin ostdeutsche Friedensbewegung habe auch noch heute froh darüber, in dieser Stadt so- ich nur durch die Medien von Demonstratio- wohl unter DDR- wie Wendebedingungen nen gegen ein System erfahren, dessen Be- neun Jahre meines Lebens verbracht zu ha- stand ich ganz im Sinne des Honneckerschen ben. Diktums für unerschütterlich hielt. Und dann West-Berlin zu Mauerzeiten, ein einzigar- war ich verblüfft, froh, aber ich sag’s ehrlich, tiges Soziotop mit einer bunten Szenemi- nicht euphorisch. Ich bin schnellstmöglich he- schung, einer Vielzahl innovativer Projekte im rüber gefahren, habe Fachkontakte geknüpft, sozialen Bereich und einem unvergleich- die mir in der Atmosphäre dieses Umbruchs lichen Kultur- und Kneipenleben, war ein gar unwirklich und etwas gezwungen erschienen, zu verlockendes Angebot für uns. Das Er- wie der Besuch bei lange verschollenen Ver- wachsenwerden konnte noch ein wenig her- wandten, die man nun unverhofft wiedertrifft, ausgeschoben werden; herrlich geringe Mie- mit denen man aber eigentlich auch keine ten ermöglichten einen passablen Lebens- größere Vertrautheit hat als mit völlig Frem- standart auch bei geringem Einkommen, und den. für mich fügte es sich prima, dass ich von einer Studienfreundin aus Münster, die sich mit Das bislang verschlossene ihrem Freund in Berlin niedergelassen hatte, Berliner Umfeld erobert in die Tätigkeit des Einzelfall- und Familien- helfers für diverse Berliner Jugendämter ein- Ganz Westberliner, der ich in der Zwischenzeit geführt wurde. Die Tätigkeit als Honorarkraft mit einem erstaunlichen Heimatgefühl gewor- an der Basis in den Familien hat mir viele den war, eroberte ich mir in stundenlangen Einblicke in Lebensverhältnisse ermöglicht, Staus das bis dahin völlig verschlossene Ber- über die ich heute mich dozierend auslasse; liner Umfeld mit seinen an die 200 Seen und die Aufgabe war teilweise recht aufreibend bereiste alsbald Städte wie Schwerin, Wismar und ging mir in der ersten Zeit mächtig an die usw. Während Brandenburgische Dörfer noch Nieren. Ich wollte gern weniger isoliert arbei- über viele Jahre hinaus als einziges Kennzei- ten und nahm das Angebot, in eine Vierer- chen der Verwestlichung eine (inzwischen wie- Praxisgemeinschaft am schönen Carl-Herz- der abmontierte) gelbe Telefonzelle und ein Ufer in Kreuzberg einzusteigen, ohne Zögern Tschibo-Geschäft aufwiesen, habe ich schnell an. entdeckt, dass viele ostdeutschen Städte die schöneren waren und blieben, was dann ne- Nur durch die Medien von ben dem menschlichen Faktor für mich erste Demonstrationen im Osten erfahren Impulse eines wachsenden gesamtdeutschen Bewusstseins wurden: ich, der ich immer so DDR-mäßig gesehen, war ich eigentlich mit- gelitten habe unter den Beton-Arien der west- ten drin. Natürlich machte ich gelegentlich deutschen Stadtsanierung, die ehemals be- ´rüber nach Ost-Berlin, aber das Grenzre- rückende Städte wie Kassel oder Köln so ver- gime (siehe oben), die kundenunfreundlichen hunzt haben, konnte mich gar nicht sattsehen Öffnungszeiten des Ostteils und die beschei- an diesen historischen Stadtkernen und Alt- denen Möglichkeiten, die 25 DM Zwangsum- städten. Der Rest ist schnell erzählt: gespannt

72 hoffte ich, dass die sich abzeichnende Vereini- löst worden, wobei die Ost-West-Spannung gung einigen westdeutschen Fehlentwicklun- eher wieder zunehmen könnte. Ich steuerte gen den Garaus bereiten könnte, doch, so auf die vierzig zu, wollte nun möglichst einen wie der Hase lief, erwies sich die Hoffnung auf unsicheren Honorarjob gegen eine Festein- einen Reformschub aus dem Osten ange- stellung tauschen und bewarb mich an Fach- sichts der Verkohlung und dem starken Drang hochschulen. Eine dieser Bewerbungen führte der DDR-Bevölkerung zur D-Mark illusorisch. mich nach Erfurt, meiner heutigen Wirkungs- Lafontaine hatte keine Chance, was ich stätte. Ich war mir damals, Sommer 1992, persönlich damals den Ossies übelnahm. Die vollkommen sicher, dass ich lieber in die frü- Träume und Utopien einer bürgerbewegten here DDR gehen als Professor in Darmstadt DDR lösten sich recht schnell im Nichts auf, oder Frankfurt werden wollte, und auch meine die DDR erschien in ihren Bräuchen und Le- Frau fand diese Option interessant. bensstilen deutscher als Westdeutschland mit Ich wurde von der Berufungskommission seiner Nachkriegsamerikanisierung. an einem knallheißen Julinachmittag des Jah- res 1992 zum Probevortrag in die ehemalige Deutsche Vereinigung – ein nur Parteischule der SED geladen, und es funk- teilweise gelungener Fall tionierte. Erwartungsvoll konnte ich im Sep- tember des gleichen Jahres meinen Dienst an- Diese Zeit des Umbruchs, der erregten De- treten und bekam auch gleich ein Zimmer in batten um eine neue Verfassung (leider nein) dem weißen Betongebäude zugewiesen, in und der später für einige Jahre unerschöpf- dessen Foyer wir nach einer Weile ein sozia- lichen Ressourcen für den Wiederaufbau der listisches Kollossalgemälde entdeckten, das Neuen Bundesländer ist mir in angenehmer aus politischen Gründen mit einem giganti- Erinnerung – obschon sich im Nachhinein schen Vorhang verdeckt wurde. DDR-Blüm- und von den Ergebnissen her betrachtet, die chen-Tapete, Dauerheizung ohne Heizungs- deutsche Vereinigung als ein nur teilweise ge- ventil und eine Vollversorgung in der Mensa lungener, gleichwohl kostspieliger Fall von gaben den Rahmen ab, der durch die Not- Sanierung ohne Strukturreform und ganz wendigkeit umgrenzt wurde, ohne Bibliothek, überwiegend im Sinne einer gesamtstaatli- ohne Prüfungs- und Studienordnung den ein chen Nivellierung vollzogen hat. Eine beweg- Jahr zuvor begonnen Lehrbetrieb mit nun- te Zeit: Was würde von der DDR bleiben? mehr acht KollegInnen weiterzuführen. Würde es Mischformen geben? Ein wirklich reformiertes Gesundheitswesen, eine Ver- Aufbruch mit Enthusiasmus und kehrsinfrastruktur, die dem Vorrang des Indivi- zeitweiliger Überforderung dualverkehrs gegenüber Bussen und Bahnen bis in den letzten Winkel der Gesellschaft Ein- Die Atmosphäre jener Anfangsjahre ist wie halt gebieten würde? wohl jeder Aufbruch mit Enthusiasmus, zeit- Alles Schnulli. Es kam, wie es gekommen weiliger Überforderung, Frust und Begeiste- ist, und an der sich breitmachenden Enttäu- rung umschrieben. Hochmotivierte Studieren- schung vor allem hier im Osten Deutschlands de mit interessanten Biographien, häufig be- leide ich mit. Jahre des Überflusses – als sol- rufserfahren und ein von Anfang an stimulie- che erst im Nachhinein erkennbar – die es mit rendes Verhältnis unter den Kolleginnen und sich brachten, dass kleine Projekte der Nach- Kollegen machten Angebote anderer Hoch- wendezeit -zig ABM-Stellen erhielten, öffent- schulen für mich schnell unattraktiv: ich hatte liche Gebäude liebevoll und mit großem meinen Platz gefunden, ich konnte und muss- Aufwand wiederhergestellt wurden; Zeiten, in te mich gestaltend engagieren. Dieses erste denen gar wirtschaftliche Hoffnungen keim- Jahr, in dem ich auf „Montage“ in der Par- ten, sind durch ein Dauergefühl der Malaise teischule lebte und lehrte, Gremiensitzungen und zunehmender Hoffnungslosigkeit abge- bis in die frühen Abendsstunden durch Besu-

73 che in der „Sportlerklause” oder im Offiziers- haben) bewusst und entschieden um Behei- kasino gekrönt wurden, stellte einen Sog und matung in Erfurt bemüht, indem ich z.B. gleich eine Dichte her, denen manchmal am Freitag, drei Vereinen beigetreten bin – um dann fest- heimgekehrt nach Kreuzberg, eine regel- zustellen, dass dieser etwas gewollte Ansatz rechte Katerstimmung folgte. auch nur in den Fällen funktioniert, wo man auf Menschen trifft, mit denen man so etwas Was tun? wie einen Gleichklang empfindet. Vater werden in Erfurt Tatsächlich habe ich an der Fachhoch- schule Erfurt die berufliche Wirkungsstätte Ich sollte und wollte Vater werden, und dieses meines Lebens gefunden, die mich fachlich noch zu Berliner Zeiten gegründete Ereignis fordert und anregt und mir gerade aufgrund fiel fast zusammen mit unserem nunmehr ge- der Übersichtlichkeit und der Nähe zu den meinsamen Umzug nach Erfurt. Ich hatte mit Landesministerien Wirkungsmöglichkeiten er- viel Mühe eine Vier-Raumwohnung zu einem öffnet, die in einer Millionenstadt in dieser für Westberliner Verhältnisse horrenden Miet- Weise nicht leicht gegeben sind. zins bei einem verschrobenen Vermieter er- Unsere beiden Kinder sind Erfurter/innen gattert, und so saßen meine hochschwangere und fühlen sich hier wohl. Die Beheimatung ist Frau und ich im September 1993 auf dem für mich in dieser Stadt ein besonderer Vor- Bock eines Möbellastzuges von Berlin nach gang, der, da Ostdeutschland, sich in anderer Erfurt. Im November 1993 wurde unser Sohn Weise gestaltet als im Falle von Würzburg, Finn in der hiesigen Frauenklinik geboren, Münster oder München oder gar im Ausland. einige Jahre später erblickte Merle im Ge- Während dem deutschen Immigranten in Ita- burtshaus das Licht der Welt. lien vollkommen klar ist, dass kulturelle und Mit der Familie in Erfurt zu leben, stellt soziale Unterschiede erlebt und wohlmöglich gänzlich andere Bezüge her, als wenn man, genossen werden können, sind deutsch-deut- was im Hochschulwesen durchaus möglich sche Begegnungen diffiziler, die Unterschiede und üblich ist, hierher für einige Wochentage meistens feiner, sind die Wahrnehmungen einpendelt. Über Kinder, aber auch berufliche belasteter. So hat mich mein chronischer Yie- Kontakte erwächst ein soziales Netz, wobei per auf das Leben im Ausland im Falle Thü- sich neu Zugezogene untereinander naturge- ringens doch etwas missgeleitet. mäß schneller finden. Die Triplizität der Neu- anfänge dieser Zeit: neuer Arbeitsplatz, Fami- Nachklang einer verschwommenen lienneugründung, Kinder… in einer fremden Sehnsucht nach mehr Gleichheit Umgebung zu bewältigen, war schwierig und manchmal ziemlich kräftezehrend. Der Turn- Es war in Teilen eine Zeitreise in die Vergan- around vom quirligen Berlin zum Professor genheit (kulinarisch; Grüßen per Hand- und Familienvater im beschaulichen Erfurt schlag; Spontanbesuche ohne vorherige tele- hatte es in sich. Ich konnte mir den Abschied fonische Anbahnung usw.); eine Fremdheit von Berlin einige Jahre lang nicht wirklich ein- des Vertrauten, eine Begegnung mit Differen- gestehen, mit der Folge, dass ich meine Kreuz- zen im Kleinen, die ich vorfand, als die Begeg- berger Zwei-Zimmerwohnung so lange gehal- nung mit einer fremden Kultur, die ich in der ten habe, bis mir die dortige Zweitwohnungs- Ex-DDR durchaus auch gesucht und gewert- steuer den entscheidenden Impuls gab, die- schätzt hätte, und sei es als Nachklang einer sen Koffer in Berlin zu holen. verschwommenen Sehnsucht nach mehr Ich habe mich gemäß auch meinem fachli- Gleichheit; Solidarität; nach weniger Konsum- chen Credo von der Gemeindepsychologie orientierung und weniger Konkurrenz unter (eine Auffassung, wonach sich psychologi- den Menschen. Der gegenwärtige Braindrain; sche und psychiatrische Dienstleistungen auf das Absinken in die Hoffnungslosigkeit und das soziale Umfeld der Menschen einzulassen das schwächer werdende Ansehen demokra-

74 tischer Institutionen und Parteien in Ostdeut- ost- und westdeutschen Besonderheiten ge- schland machen mir Kummer, denn ich freue fahndet habe, habe ich den Eindruck, dass mich an dem wieder zusammengewachsen- vieles eher Wunsch- bzw. Zerrbilder und Pro- den Deutschland und seinen Menschen, Land- jektionen darstellte. Weder habe ich Alltags- schaften und Städten. In diesem Sinne bin ich beispiele für eine größere zwischenmensch- selber heute deutscher als vor zehn oder 15 liche Solidarität unter Ostdeutschen gefun- Jahren, ich bereise hiesige Landschaften vor- den, noch glaube ich, dass sich die behaup- zugsweise mit dem Fahrrad und interessiere teten Unterschiede im Geschlechterverhältnis mich für ihre Geschichte(n) stärker als früher. (stärker kumpelhaft, weniger spannungsgela- Ich habe großen Respekt für die Anpas- den, „menschlicher“) dauerhaft von westdeut- sungsleistung der vielen Ostdeutschen, die schen Verhältnissen abheben. Andere Eigen- den meisten Westdeutschen nicht gegenwär- arten im Alltag wiederum (sei es in den Auffas- tig ist, die schließlich unter dem gleichen sungen zur Kindererziehung, oder bei der Rechtssystem, mit den gleich gebliebenen Be- Frage, ob und wie pünktlich man irgendwo rufsabschlüssen und Lebensgewohnheiten wei- erscheint) sind niemals in der gebührenden terleben konnten. Bedauerlich finde ich die Konkretheit erfasst worden sind – bevor sie geringe Wertschätzung immaterieller Errun- sich nun aneinander angleichen werden (wo- genschaften wie der Reise- und Meinungsfrei- bei die Bücher meines Kollegen Wolf Wagner, heit, die von der scheinbar alles erdrückenden die gerade auch Beobachtungen im sozialen Angst vor Arbeitslosigkeit und einem diffusem Alltag zum Ausgang nehmen, eine rühmliche Gefühl von Überforderung, Überfremdung Ausnahme darstellen). und Zukunftsangst überlagert werden. Die Bizzarien der Anfangsjahre, zu denen ich auch Das Fazit ein maßlos überteuertes Wohnangebot zähle, ebenso anekdotische Erlebnisse wie den Entgegen den alten und neuen Bildern von sprichwörtlichen Versicherungsmann, der einem menschenleeren Osten mit den viel stra- ostdeutsche Anwärter in Hotelhinterzimmern pazierten verblühten Landschaften ist Erfurt ei- lautstark und großsprecherisch einweist, sind ne sehr schöne Stadt... fast ohne Fahrradwe- – Zwischenstand? – einer etwas grauen und ge, ohne die von vergleichbaren westdeut- hoffnungslosen Routine gewichen, wobei mir schen Hochschulstädten gewohnten urbanen übersteigerte Erwartungen auf beiden Seiten Subkulturen und fast ohne AusländerInnen. der früheren Grenze mitursächlich für die ein- Ich lernte, dass sich ostdeutsche Regionen getretene Enttäuschung zu sein scheinen: wie und ihre Menschen ebenso unterscheiden, konnte man nur erwarten, zu überholen ohne wie Niederbayern und Rheinländer zwei Spe- einzuholen? zies darstellen. In den Freundschafts- und Ar- Das Klischee vom Wessi, der beruflich wo- beitsbeziehungen, die den Alltag prägen, anders nichts geworden wäre, ist bereinigt spielt selten eine Rolle, dass ich zugezogen worden durch diejenigen, die inzwischen wie- bin. Ich hatte in den vergangenen zwölf Jah- der „rüber gemacht haben“, und die ehema- ren vielfach Gelegenheit, Ereignisse aufzu- ligen Wessies sind immer noch stärker unter- nehmen, zu begleiten und mitzugestalten, die einander als mit Erfurtern vernetzt, wobei es in und für die Stadt von Bedeutung sind, bis Ausnahmen gibt. Nachdem ich, wie viele hin zu der Tragödie am Erfurter Gutenberg- SozialwissenschaftlerInnen, jahrelang nach Gymnasium. Ich bin angekommen.

75 Lutz Gode Revolutionierende Veränderungen durch die Wende erfahren

(Schlesien) geboren, wurde unsere damalige Lutz Gode: Familie 1945 nach Zwickau in Sachsen um- Geboren 1940 in Beuthen (Schle- gesiedelt, während mein Vater Soldat war. sien).Die Familie wurde 1945 nach Ausgebombt, besitzlos und heimatlos aber Zwickau umgesiedelt. alle Familienmitglieder mit dem Leben davon- Lutz Gode absolvierte nach seiner Schulzeit ein Kunststudium an der gekommen, war das existenzielle Sein in der Hochschule für Bildende Kunst in damaligen sowjetischen Besatzungszone die Dresden. Danach wurde Erfurt seine einzige Alternative für alle. In diesem Umfeld Wahlheimat, wo er ein Lehrangebot für Kunst an der Pädagogischen Hoch- bin ich aufgewachsen, hineingewachsen und schule annahm. Als Irrtum erkannte über Grund-, Ober -und Hochschule voller er dort bald, durch Mitwirken in der Hoffnungen auf eine friedliche, bessere, kriegs- SED positive Veränderungen herbei- freie Zukunft herangewachsen. Darauf habe führen zu können. In der Folge galt Gode als aufsässig. Die Wende kam ich mein Leben ausgerichtet. für ihn überraschend, doch schätzte er später ein, dass sie in seiner Als Bildender Künstler und künstlerischen Entwicklung gerade- zu revolutionierende Wirkung gehabt Kunsterzieher zugleich gewirkt habe, durch völlig neue Erfah- rungshorizonte. Nach dem Kunststudium an der Hochschule für Bildende Kunst in Dresden wurde 1965 Jeder Bürger in Ost- und Westdeutschland hat Erfurt meine Wahlheimat. Ich nahm ein Lehr- auf seine Weise die Wende miterlebt, so dass angebot als Lehrer für Kunst an der einstigen eine diesbezügliche biographische Betrach- Pädagogischen Hochschule an. Seitdem bin tung für alle infrage käme. Zum vorliegenden ich ein volles Arbeitsleben als Bildender Künst- Projekt sollten beide Seiten angesprochen ler und gleichzeitig Kunsterzieher tätig. So- werden. Die Verantwortung für Erinnerung liegt, wohl mein pädagogischer Einfluss, als auch wie ich meine, bei allen besonders im öffentli- rege Auftragstätigkeiten hatten eine gewisse chen Leben wirksamen Bürgern. Realität wird regionale Bekanntheit zur Folge. Als Nicht- subjektiv verschieden empfunden und gewer- christ erzog man mich zu einer materialisti- tet. Eine bestimmte Ebene von Sichten auf z. B. schen Weltanschauung. Meine Ideale und Le- wenderelevante Veränderungen kann schmerz- bensziele wurden insbesondere durch Impul- lich sein, soweit die Zeit noch nicht reif dafür se aus der Oberschul- und Studienzeit mit ist. bürgerlich-humanistischem Gedankengut an- Alles im Leben wird von Menschen ent- geregt. Nach der Wende erweiterte und dif- schieden und gelenkt, überall und immer, ver- ferenzierte sich mein Weltbild durch Einblicke bunden mit Tugenden und Schwächen, mit Ei- in die Chaostheorie, mir bislang wenig ver- telkeiten, Machtstreben, Idealismus usw. Mei- traute philosophische Richtungen und andere nen Standpunkt zum persönlichen Leben kann Quellen, einschließlich der Beschäftigung ich nur verallgemeinert andeuten, da die mei- zum Stellenwert des Christentums und ande- sten Weichensteller, deren Tätigkeiten Scha- ren Weltreligionen. Die Wende kam für mich, den anrichteten, noch leben. 1940 in Beuthen wie sicherlich für die meisten Deutschen, völ-

76 lig überraschend. Ich hätte niemals damit ge- und Zweifel, auf die aber die damaligen Funk- rechnet, dass es jemals wieder ein einheitliches tionäre nicht konstruktiv reagierten. Die Ohn- Deutschland geben würde. An dem Tag, als macht bzw. Handlungsunfähigkeit des Staates die Mauer fiel, weilte ich gerade mit einer Stu- war vielen bewusst. Sie blieb in Ratlosigkeit dentengruppe in Berlin zu einem Ausstel- stecken. Das Bewusstsein von einem Volk hat- lungsbesuch. Auf der Rückfahrt sprach sich te ich in meinem Erfurter Wirkungskreis nie- das Ereignis herum. Einige Studenten blieben mals registriert, damals nicht und heute auch in Berlin und fuhren nicht mit nach Hause. Als nicht. wir zu später Stunde in Erfurt ankamen war der Bahnsteig für Fernzüge in Richtung Berlin vol- Empörung und Abscheu nach der ler Menschen, die spontan in die „Haupt- Offenlegung der Denunzianten stadt” fuhren, die es später wieder wurde. In den darauffolgenden Tagen waren die Schul- In den letzten Jahren der DDR-Zeit hatte sich klassen nicht arbeitsfähig. Vieles im öffent- trotz verschärfter Überwachungstätigkeiten über- lichen Leben wurde improvisiert. Jede Verän- all eine seltsame Aufgeschlossenheit unter derung wurde von allen, die ich kenne, wie fremd zueinander stehenden Menschen ereig- das Normalste in der Welt angenommen. net. Wir wussten im Familien- und Freundes- Die Aussagen von DDR-Politikern wurden kreis, dass es überall Schnüffler und Denun- zwar von den Menschen registriert aber mei- zianten gab. Man kannte nur jene dubiosen stens auch gleichzeitig ins Feld der Wider- Personen nicht. Dieser Annahme wurde mit sprüche gesteckt. Mit dialektischer Denkme- versuchtem Humor, bzw. Galgenhumor be- thode ausstaffiert, theoretisierte man offen gegnet. Die baldige Offenlegung der Betref- und mutig an Gegenargumenten, Ratschlägen fenden sorgte in mir für große Überraschung

77 und Erstaunen. Dass dieses Netz bis in die dem fresse ich unverändert mein Gnaden- Familien hineinwucherte, in jede Studien- brot. Die stasigelenkte Maxime: Verunsiche- gruppe, in jedes Arbeitskollektiv usw. oder rung, Isolierung und Vereinsamung zu ver- dass bereits ein erstes, funktionsfähiges Inter- breiten wurde von einigen damaligen Lei- nierungslager installiert war, löste grenzen- tungsausübenden gern für meine Person zu- lose Empörung, Wut und Abscheu aus. In kur- geschnitten, so dass ich glaubte, diesen Ring zer Zeit avancierte der Verrat der aufrichtigen um mich niemals durchbrechen zu können. Gefühle, Ideen und Meinungen zu einer neu- Jede Bemühung um Außenwirksamkeit der en, bitteren Realität. Die Enttäuschung war Kunstkonzentration Am Hügel wurde im Keim erschütternd. Ein System hat eine ganze Ge- erstickt. Der allzeit existierende Futterneid un- neration mit existenziellen Dingen versorgt ter einigen Künstlerkollegen bremste im allge- und gleichzeitig verraten, indem die mensch- meinen fast jede künstlerische Initiative, ein- liche Würde aus Ohnmacht und Dummheit schließlich auch meine Vorschläge. zum albernen Spiel degradiert wurde. Was Mit der Wende ging die PH in die Uni über. täglich guten Herzens mit voller Kraft errichtet Die Kunsterziehung überlebte mit dem alten wurde, zersetzten andere neben uns gleich- Personalstamm. Bei allen erfrischenden Ver- zeitig. änderungen sind jedoch leider personenbe- dingte Gewohnheiten weitergeführt worden Die Kunst als einziger Weg, nach z.B. die Hügelisolierung mit einer zu geringen außen wirken zu können territorialen Ausstrahlung. Was früher von un- sichtbaren Kräften deformiert wurde, durfte im Als junger Mann trat ich voller Stolz, aus ei- Uni-Umfeld nach privaten Freiheiten außer- genem Willen und nicht durch Anwerbung, in halb bestehender Gesetzgebung durch Mob- die SED ein. Ich wollte mich, in der guten Ab- bing-Spielchen potenziert werden, wenn auch sicht unter organisierten Verhältnissen mit- nur mit begrenzter Zielgruppe und in regio- wirken zu können, für die kollektive Idee des naler Bedeutung. Diese Machenschaften nag- Fortschritts engagieren. Sehr bald zeigte sich ten zwar auch an der Substanz, liefen sich der Irrtum, die Sinnlosigkeit, indem man als aber u.a. durch strukturbedingte (personelle) beitragszahlendes Mitglied mit zeitrauben- „Ausdünnungen” von selbst tot. dem, unproduktivem Bürokratenkram un- schöpferischen Ballast auf sich nehmen muss- In den letzten Jahren der DDR fast te. Im Ergebnis dieser Auffassung galt ich nun- keine Aufträge mehr erhalten mehr als aufsässig, wie es sich später heraus- stellte. Mit meiner Gesinnung wurde ich an- Parallel zu der angesprochenen Lehrsituation genommen, fühlte mich jedoch benutzt. Erst zeigt sich die Verwandlung im VBK-DDR (Ver- später erkannte ich, mit dem Abtauchen in die band Bildender Künstler) zum VBK Thüringen. innere Emigration, dass die Kunst für mich der In den letzten sechs bis acht Jahren der DDR einzige Weg ist, der über das ICH nach außen bekam ich im Gegensatz zu den gut bedach- wirken kann und obendrein noch eine the- ten Vorjahren fast keine Aufträge mehr. Nach- rapeutische Funktion ausübte. Ein Austritt aus dem die Leitungsspitze des Verbandes, mit Wei- der Partei wäre existenzvernichtend gewesen. sung des Zentralvorstandes plötzlich ausge- Als die Mauer fiel, war ich in der damaligen wechselt wurde, entfiel auch meine bisherige Parteigruppe der erste, der sein Parteibuch Funktion als Vorstandsmitglied. Mit heutiger abgab. Es folgten nach und nach fast alle Kenntnis der Hintergründe bin ich recht froh Mitglieder. Meine Parteierfahrung und die über diesen Part. damalige PH Erfurt gehören zusammen. Die Nach der Wende wurde nicht nur der Ver- PH nahm meine fachlichen Fähigkeiten in An- bandsname aktualisiert sondern mit eisernem spruch, stoppte die Karriere und stufte mich Besen die Leitungsspitze erneuert. Aufträge auf den nächst möglichen Status zurück. Seit- wurden von nun an als offener Wettbewerb

78 ausgeschrieben. Nach drei Beteiligungen an schaftlichen Zusammenhängen, zu politi- solchen Ausschreibungen kam für mich eine schen Einsichten und künstlerischen Proble- Wiederholung nicht mehr infrage, weil ich der men sind erweitert und intensiviert worden. So- neuen Art und Weise der Jurytätigkeiten nicht wohl die privaten Interessen als die fachlichen folgen wollte und konnte. oder beruflichen Werte, die ich miteinander Als ich später durch einen Zufall aus be- verbunden sehe, haben sich spürbar erwei- rufenem Munde im Thüringer VBK-Leitungs- tert. Es wurden Bildungs- und Erholungsreisen stamm die Äußerung zur „heutigen” Geschäfts- möglich, der Telefonanschluss ist mittlerweile lage vernahm: „Jetzt sind wir dran...” und z.B. eine Selbstverständlichkeit, der Zugang zu meine ordnungsgemäße, angemessene Jubi- Malmaterialien macht individuelle Ideen oder läumsausstellung zum 60. Geburtstag abge- gestalterische Pläne realisierbar. Meine auf lehnt wurde, sah ich mich veranlasst, als stets anerkannte Fachkompetenz entwickelte Leh- korrekt zahlendes Mitglied, meinen Verbands- re, in unzensierter, freier Entscheidung der In- anteil aus dem Versorgungskonzept des VBK- halte, entwickelte sich mit ansprechendem di- Thüringen zu kündigen. daktischen und kunstpädagogischen Gewinn für die Studierenden und für mich. Die Auf- Ein Überwachungssatellit in allen arbeitung der nunmehr zugänglich geworde- Bildern am Ende der DDR nen Moderne ermöglichte eine phantastische Erweiterung im gesamten Gestaltungsbe- Zum Ende der DDR-Zeit malte ich in fast alle reich. Allein mit den Möglichkeiten des Infor- Bilder einen Überwachungssatelliten sowie mel, der DA-DA-Spielwiese und moderner den Watzmann. Wo dieser Berg genau liegt, Komposition konnte ich mit großer Freude suchte ich nie zu ergründen, da er sowieso als fortwährend eine nichtwiederholbare Fülle nie erreichbar galt. (So etwa, wie eine liebe, von eigenen Themen sowie Gestaltungs- später kennen gelernte Malerin aus Göt- beiträgen für die Lehre anbieten, einschließ- tingen nicht wusste, wo Erfurt liegt.) Kurz da- lich theoretischer Begründungen für hand- rauf konnten wir in die Alpen reisen und den werkliche Zusammenhänge. stillen Traum von meinem Alpensymbol auf- brechen. Als l4-jähriger malte ich nach einer Neue Erfahrungen aus der Moderne Postkarte als Geschenk für meine Eltern den erprobt und bewertet „Königsee vom Malerwinkel”. Nach der Wen- de konnte ich diesen Königseeanblick aus In meiner eigenen künstlerischen Entwicklung eigener Anschauung und neuer Auffassung gab es bislang mit der Wende beinahe revolu- malen. Als beinahe kurios erweist sich meine tionierende Veränderungen. So wirkten z.B. Nebenbeschäftigung mit Mode. In den letzten Ausstellungsbesuche zu Chagall, Henry Moore, Jahren der DDR gipfelte (aus innerer Logik) der Isenheimer Altar aber auch Landschaften der Individualisierungsanspruch von Mode in in den Alpen, in Mittelmeerbereichen oder ver- der Variante Körpermalerei, die ich damals schiedenen Formen von Wüsten nachhaltig. In schon öffentlich vorführte. Nach der Wende den ersten Jahren nach der Wende wollten zu- erhielt ich dazu hie und da Belege über längst nächst neue Erfahrungen aus der Moderne er- praktizierte Beispiele aus den alten Bundes- probt und bewertet werden. ländern. Einen weiteren Wandel lösten der Stasi- Die Wende brachte für mich und meine Roman „Magdalena” von Jürgen Fuchs sowie Familie unverzichtbare Erweiterungen aber einige Kopien aus der Gauck-Behörde, in de- auch Einsichten in sorgenerregende Rich- nen meine Person eine Rolle spielt aus. Trotz tungen. Im persönlichen Leben sind viele Ge- der geschwärzten Namen war die situations- wohnheiten aufgebrochen worden, haben sich bezogene Zuordnung diverser Inhalte kein bestimmte Erfahrungen verdichtet; Stand- Problem. So erfuhr ich z.B. dass ich als aufsäs- punkte zur Persönlichkeitsstruktur, zu gesell- sig galt und nicht mit einem Atelier noch einer

79 Wohnung versorgt werden soll. Die Ein- die innere Stimme sträubte sich. Kunst ist als schätzung über meine Person lautete sinn- Emigration vor der abartigen Andersartigkeit gemäß: Gode braucht nur wie Ludwig Rich- erahnt und nunmehr erkannt. ter einen Platz am Fenster für seine Staffelei. Mit dieser behördlichen Einschätzung arbeite Zu allen Zeiten der ich bis heute immer in der Wohnung. Der- inneren Stimme gefolgt artige Offenlegungen sowie die daraus er- wachsenen Konsequenzen reagierte ich seit Neben altlastigen Überlebenskompromissen, etwa fünf Jahren mit erweitertem Konzept auf die nach der Wende hie und da peinliche, an- künstlerischem Weg ab. Ich konzentrierte dere Formen angenommen haben, bin ich mir mich darauf, was ich in Jugendjahren in dem weitestgehend treu geblieben. Indem ich nach- Staat lernen konnte, der mir danach in den weislich zu allen Zeiten meiner inneren Stim- Rücken fiel: Es ist die Handzeichnung zum me folgte, gab es negative Auswirkungen in Menschenbild, einschließlich dem Porträt. Ich jeglicher Karriere, z.T.im Privatleben und letzt- habe das automatische Zeichnen erlernt, vom lich auf die Gesundheit. In meinem heutigen Mini- bis zum Maxiformat. Leben verbinde ich kompromisslos die hand- Mit diesen Mitteln begann ich völlig neu werklichen Grundlagen, die ich mir während meiner Enttäuschung Luft zu machen. Das Ge- des Studiums aneignete mit den gestalteri- schehene, nicht mehr Ausgleichbare bewer- schen Freiheiten und Erweiterungen, die aus tete ich mit biographischen Abrissen aus aktu- Analyseergebnissen der Moderne stammen. eller Situation neu. Erinnerte Fliegeralarme, Was neu und besorgniserregend ist, sind Luftschutzkeller, brennende Häuser, Tote, Ver- die Bürokratiebremse, die Kriminalitätsstatisti- wundete und zahlreiche, kaputte Panzer vor ken, die Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, dem damaligen Haus in Zwickau sowie später Rauschgiftpraktiken, Verunsicherungen vieler die Trümmerwüste in Dresden rückten ange- Bürger durch fehlenden Schutz an Personen sichts gegenwärtiger Kriegsereignisse im Na- und persönlichem Eigentum sowie der flä- hen Osten, Afrika und anderswo wieder in die chendeckende Werteverlust, Inkompetenzen erste Reihe meiner Aufmerksamkeit. Studium. in Politik und anderswo, verbunden mit Ober- Bitterfelder Weg mit „Kunst ist Waffe” als flächlichkeiten in vielen Verantwortungsbe- Pflichtkür wurde zur Kenntnis genommen aber reichen.

80 Jens Goebel Und ich bin glücklich, dass ich dabei war

chen Prägung heraus ist auch sein Interesse Professor Dr. Jens Goebel an Gemeinschaft, sein Engagement für ande- Thüringer Kultusminister: re erwachsen. Geboren im Jahr 1952 in Jena als Er war ein Einzelkind. In seiner Familie wur- Sohn einer Lehrerfamilie. An der Ar- beiter- und Bauernfakultät Halle er- de Schulbildung als ein wichtiges Gut erach- warb er die Hochschulreife. tet. Diese Einstellung hat auch ihn geprägt. Nach einem Studium der Mathematik in Sein Ziel stand schon bald fest: Er wollte Ma- Polen arbeitete er an der TU Ilme- thematik studieren. nau. Die Gründung der DSU in der Wen- Im Schwimmbad traf er einen Jungen, der dezeit brachte für Dr. Jens Goebel den beruflichen Einstieg in die Po- ihm davon erzählte, dass er im Ausland stu- litik. Nach dem Austritt aus der DSU dieren wolle und dafür die ABF (Arbeiter- und bewarb er sich erfolgreich auf eine Bauernfakultät) Halle besuche. Er ging nach Professur an der Fachhochschule Schmal- kalden. In kurzer Zeit wurde er dort Hause, erzählte seinen Eltern davon, und Dekan und Rektor. Doch dann führte sagte, das wolle er auch machen. Sie unter- Jens Goebels Weg erneut in die stützten ihn bei seinem Wunsch. Er wurde auf- Politik. 1999 wurde er für die CDU genommen und besuchte die 11. und 12. in den Thüringer Landtag gewählt. Seit 2004 ist er Thüringer Kultus- Klasse der ABF Halle. (Im Gespräch erwähnt minister. Prof. Dr. Goebel, dass die ABF,vor seiner dor- tigen Studienzeit, der Schauplatz für Hermann Kants Roman „Die Aula” gewesen sei.) Das Gespräch führte Ursula Gödde Zum Studium der Mathematik nach Polen Geboren wurde Jens Goebel 1952 in Jena. Seine Eltern waren beide Lehrer. Nach dem In dieser Schule merkte er, dass sein Russisch Krieg arbeitete sein Vater zunächst im väterli- nicht so gut war wie das der meisten Mit- chen Betrieb in der Landwirtschaft, lernte schüler. Vorher hatte er gedacht, er sei eigent- dann später Sattler. 1948 bekam er die Mög- lich ganz gut, was ihm seine Zeugnisse auch lichkeit, am Lehrerbildungsinstitut in Nord- so bescheinigten. Er hätte also, hätte er in der hausen zu studieren. Seine Mutter machte Sowjetunion studieren wollen, viel Zeit und 1946 Abitur, erhielt aber in Jena keine Zu- Energie für die Verbesserung seiner Sprach- lassung zum Studium, da sie zum Bürgertum kenntnisse aufwenden müssen. Bei einer der gerechnet wurde. So ging sie nach Nord- Studienlenkungsaktionen fand er heraus, hausen, ebenfalls an das Lehrerbildungsinsti- dass auch ein Studium in Polen oder Ungarn tut, und wurde Lehrerin. möglich war. Das war für ihn ein Glücksfall - Jens Goebel wuchs ziemlich behütet auf. auch die anderen Studenten mussten eine Er ging zur Konfirmation, zum einen weil dies neue Sprache lernen, er war also ihnen ge- zu seiner christlichen Erziehung gehörte, zum genüber nicht im Nachteil. Da es in Polen anderen weil es auch seine christliche Bin- zehn Mark mehr Stipendium im Monat gab dung nach außen zeigte. Aus dieser christli- und er keine Vorliebe für eines der beiden

81 Länder hatte, ging er nach dem Abitur 1970 zum Studium der Mathematik nach Lublin, Polen. Die 20 bis 30 deutschen Studenten wohn- ten in einem Studentenwohnheim. Vier Stu- denten, zwei Deutsche und zwei Polen, teilten sich ein Zimmer. Dieses war recht gut ausge- stattet, jedes Zimmer hatte ein Waschbecken, was bequem war, wenn man Kaffee oder Tee kochen wollte. Dusche und WC waren auf dem Flur, es gab auch eine Gemeinschaftskü- che. Da Jens Goebel zurückhaltend war, lernte er nicht so gut Polnisch wie andere Mitstu- denten. Er verstand und versteht alles, aber es fiel ihm nicht leicht zu sprechen. Das Studium war streng nach Studienplänen geregelt. Die fünf Jahre in Lublin waren, auch im Nach- hinein gesehen, eine gute Zeit für ihn. 1975 kam er an die TechnischeHochschu- le Ilmenau, das heißt, ihm wurde eine befriste- als abgeschlossen an. Die Wende kam für ihn te Assistentenstelle in Ilmenau zugeteilt. Dort relativ schnell und überraschend. Er hörte von promovierte er 1981 zum Dr. rer. nat. Im Be- Demonstrationen in Ilmenau, ging dann auch reich Mathematik gab es zu dieser Zeit in Il- selbst hin. Zuerst sah er sich ängstlich um, um menau keine unbefristeten Stellen. Er wollte einzuschätzen, wie die Lage war. Als er bei den aber gerne in Ilmenau bleiben, er fühlte sich Demonstrationen immer mehr bekannte Ge- dort inzwischen wohl. Sein Doktorvater ver- sichter sah, legte sich die Angst. Den Marsch mittelte ihm eine Stelle im Bereich Hochspan- auf die Stasizentrale machte er mit, sozusagen nungstechnik, und er bekam einen unbefriste- noch als „Mitläufer“. ten Arbeitsvertrag. Goebel arbeitete an ver- In Suhl wurde die „Forum Partei Thüringen” schiedenen Forschungsvorhaben mit und war gegründet, und der Mathematikprofessor auch in der Lehre tätig. Hansjoachim Walther sprach ihn an, ob er nicht dabei mitmachen wolle. Er sah aber den In einer Nischensituation Aktionsradius der Partei und damit ihren Ein- gut eingerichtet fluss als zu gering an, als dass er dadurch et- was hätte bewirken können. Als am 20. Ja- Seine gesellschaftlichen Aktivitäten be- nuar 1990 in Leipzig die DSU gegründet wu- schränkten sich auf die Hochschule. Er war als rde, trat Jens Goebel in diese Partei ein. (Die Vertrauensmann in der Gewerkschaft tätig, Deutsche Soziale Union [DSU] wurde am An- zur Wendezeit war er Vorsitzender der Abtei- fang vor allem durch die CSU unterstützt. Am lungsgewerkschaftsleitung. Er setzte sich für 20. Januar 1990 wurde der Pfarrer der Leipzi- allgemeine Belange ein, engagierte sich aber ger Thomaskirche, Hans-Wilhelm Ebeling, zum nicht parteipolitisch. Parteivorsitzenden gewählt. Er setzte Peter-Mi- Professor Goebel befand sich in einer Ni- chael Diestel als seinen Generalsekretär ein. schensituation, in der er sich gut eingerichtet Durch die anwesenden Gruppierungen konn- hatte. Da er nicht in der SED war und in einem te fast jeder Bezirk in der DDR mit einem vor- fachfremden Bereich arbeitete, gab es für ihn läufigen Parteivorsitzenden versehen werden. keine Aufstiegsmöglichkeiten. Er sah seine be- Die DSU war diejenige politische Kraft, in der rufliche Laufbahn mit seiner Assistentenstelle der Einigungswillen seinen klarsten Ausdruck

82 fand. Die Rede von Ebeling, in der er die Mittel. So hatten z.B. noch drei Wochen vor deutsche Einheit noch 1990 durch den Beitritt der Wahl am 18. März nicht einmal die Räu- zum Grundgesetz nach Artikel 23 forderte, me der Geschäftsstelle in Leipzig einen Tele- fand auf dem Parteitag begeisterten Beifall. fonanschluss. Erst nach der Wahl gab es Ebenso begeistert waren die 70.000, die sich durch die Erstattung der Wahlkampfkosten- am selben Abend vor der Leipziger Oper pauschale Geld für die Partei. Jetzt konnten einfanden und diese Forderung unterstützten. nicht nur Auslagen erstattet werden, sondern d.R.) es wurden auch Leute eingestellt. Ab 1. Mai 1990 war Dr. Goebel hauptamtlicher Mitar- Am Montag der DSU beigetreten, beiter der DSU, nachdem er seinen Assisten- am Dienstag Landesgeschäftsführer tenposten an der Ilmenauer Hochschule auf- gegeben hatte. Er war vom Wissenschaftler Und dann ging alles sehr schnell: An einem zum Politikmanager geworden. Montag trat Goebel ein, am Dienstag war er Lan- In den Wochen zwischen Volkskammer- desgeschäftsführer für Thüringen. Eine Woche und Kommunalwahl waren die beiden Mini- später zog der Runde Tisch die Volkskam- ster und die 25 Abgeordneten der DSU (Prof. merwahl auf den 18. März 1990 vor. Dr. Walther ist Fraktionsvorsitzender) in Berlin so Goebel stand plötzlich als Landesgeschäfts- stark mit ihren neuen Aufgaben beschäftigt, führer im Brennpunkt. Kandidaten mussten dass die Partei von ihnen im Kommunalwahl- aufgestellt werden, es gab aber noch keine kampf wenig Unterstützung erhielt. Die DSU, Parteistrukturen. Es war auch nicht möglich, die zu dieser Zeit nur etwa 8.000 Mitglieder schnell Leute anzurufen. Er war damals viel hatte, war nicht in der Lage, überall in den mit dem Auto unterwegs, um Leute aufzusu- Kreisen und Kommunen Kandidaten aufzu- chen und sie im Gespräch dazu zu motivieren stellen. Am 6. Mai 1990 halbiert sich ihr Stim- mitzumachen. Es galt also, eine Liste für die menanteil fast überall. In einzelnen kleinen drei Bezirke Thüringens für die Volkskam- Städten und Landkreisen gelang es noch, den merwahl aufzustellen. Dr. Goebel wurde von Anteil zu halten. So wurden z.B. in Zella-Meh- der Hochschule für diese Aufgabe freigestellt. lis und Steinach die Bürgermeister durch die Er war inzwischen, einen Monat nach sei- DSU gestellt. nem Eintritt in die Partei, Mitglied des Präsidi- ums der DSU. Prof. Walther aus Ilmenau war Der Einzug in den Landtag gelang Spitzenkandidat für die Volkskammerwahl. Es im Oktober 1990 nicht wurde ein Landesparteitag in Ohrdruf organi- siert. Nach den Wahlvorschriften des Runden In Berlin kam es zwischen dem Vorsitzenden Tisches mussten die Kandidaten ordentlich der Volkskammerfraktion Prof. Walther und gewählt und die Wahllisten bestätigt werden. dem Innenminister Diestel zu Auseinander- Bei den Volkskammerwahlen zeigte sich, dass setzungen darüber, was eine der DSU gemä- die DSU, die in einer „Allianz für Deutsch- ße Innenpolitik sei. Auf dem eilig einberufe- land” zusammen mit der CDU und dem DA nen ersten ordentlichen Parteitag in Leipzig (Demokratischer Aufbruch) angetreten war, am 30. Juni und 1. Juli 1990 trat die gesamte nicht den erhofften Stimmenanteil hatte (nur Spitze des Leipziger-Volkspartei-Flügels zu- 6,3 Prozent). Sie konnte nirgends den Stim- rück, darunter u.a. die Minister Ebeling und menanteil der CDU übertreffen. Diestel. Zusammen mit anderen traten sie aus Dr. Goebel kehrte kurz an die Universität der Partei aus und in die CDU ein. zurück, wurde aber bald wieder für die Or- Der Landesverband Thüringen der DSU ganisation der Kommunalwahlen gebraucht. wollte sich zur Landtagswahl am 14. Okto-ber Da die DSU erst relativ spät gegründet wurde, 1990 besser organisieren. Dr. Goebel hat-te und sie dadurch keine Zulassung zum Runden als hauptamtlicher Geschäftsführer den Tisch hatte, fehlten ihr am Anfang finanzielle Listenplatz 4. Der Einzug in den Landtag ge-

83 lang nicht, die DSU kam nur auf 3,5 Prozent reich Maschinenbau half ein Kollege der Fach- der Stimmen. Nach dem Vollzug der deut- hochschule Frankfurt, der aber die Doppelbe- schen Einheit am 3. Oktober 1990 wurde der lastung nicht lange aushielt. Er fiel aus und Versuch der DSU, sich als besonders scharfe, Prof. Dr. Goebel wurde Dekan in diesem gegen die SED/PDS-Strukturen gerichtete Par- Fachbereich, nach nur einem Jahr an der Fach- tei zu profilieren, von den Wählern wenig ho- hochschule. Er konnte sich nicht weiter aus- noriert. Bei der Bundestagswahl am 2. De- schließlich auf die Lehre konzentrieren, son- zember 1990 erhielt sie noch etwa ein Prozent dern hatte viele organisatorische Aufgaben. der Wählerstimmen. 1993 mussten an den Hochschulen, auch Im Frühjahr 1991 fand ein Landespartei- an den Fachhochschulen, Selbstverwaltungs- tag in Suhl statt, der zu einem Abrechnungs- organe gewählt werden. Prof. Dr. Goebel parteitag wurde. Für Dr. Goebel bedeutete er stellte sich zur Wahl und wurde Rektor der erst einmal ein Ende der politischen Karriere, Fachhochschule – nach nur zwei Jahren Tätig- ab Mai 1991 war er arbeitslos. Ab Juli diesen keit in Schmalkalden. Jahres bekam er eine ABM-Stelle im Landrats- Ein älterer Kollege ermunterte ihn, doch in amt Ilmenau. Er hatte die Fortbildung der Ver- der Kommunalpolitik tätig zu werden. Er woll- waltung zu organisieren. Dabei halfen Partner te dazu in einer Partei mitarbeiten und trat wie z.B. die Bayerische Verwaltungsschule 1998 in die CDU ein. 1999 kandidierte er für München, die Kurse durchführten. den Kreistag, dem er von 1999 bis 2004 an- gehörte. Als er im gleichen Jahr vom damali- Professor an der Fachhochschule gen Kultusminister Althaus angerufen wurde, Schmalkalden ob er nicht für den Landtag im Wahlkreis Schmalkalden kandidieren wolle, sagte er Während der ABM-Zeit bewarb sich Dr. Goe- spontan zu. Er wurde gewählt und wechselte bel überall: bei Banken, beim Landesverwal- zum zweiten Mal von der Wissenschaft in die tungsamt, bei der EU... Nach nur zweieinhalb Politik. Monaten hatte er Glück: Vom Wissenschafts- ministerium wurden Stellen für den Aufbau Immer zur richtigen Zeit der Fachhochschulen ausgeschrieben. Er be- am richtigen Platz warb sich auf eine Professorenstelle für Ma- thematik an der neu zu gründenden Fach- Viele Leute konnten diesen Wechsel nicht ver- hochschule Schmalkalden, wurde zu einer stehen. Wie konnte er den Posten als Rektor Probevorlesung eingeladen – und genom- einer Fachhochschule aufgeben, um Land- men. Drei Wochen später war er Professor. Im tagsabgeordneter zu werden? Aber Prof. Dr. Nachhinein nimmt er an, dass es für ihn von Goebel scheint neue Herausforderungen zum Vorteil gewesen sei, dass er als Mathematiker einen fast anzuziehen, zum anderen auch in Ilmenau in der ingenieurwissenschaftlichen meistern zu wollen. Ein Reporter schrieb über Forschung tätig war, denn er hatte keine wei- ihn: „Er war immer zur richtigen Zeit am rich- teren Praxisbezüge. Ab Oktober 1991 lehrte tigen Platz.” er als Professor für Mathematik. Zwischenzeit- Im Landtag wurde er Vorsitzender des lich hatte er sich bei Kollegen in Ilmenau über Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und den neuesten Stand auf seinem Gebiet infor- Kunst sowie Mitglied des Bildungsausschus- miert – er hatte sich ja längere Zeit fachlich ses. Und wieder erreichte ihn ein Anruf, im mehr mit Hochspannungstechnik beschäftigt. Jahr 2004 nach der Landtagswahl, durch den An der Fachhochschule Schmalkalden nunmehrigen Ministerpräsidenten Alt-haus, mussten damals sowohl ein Aufbaustudien- der fragte, ob er Minister der zusammenge- gang für Absolventen der Ingenieurausbil- legten Ministerien, des Kultusministeriums dung geschaffen als auch das Studium für die und des Ministeriums für Wissenschaft, Erstsemester organisiert werden. Im Fachbe- Forschung und Kunst, werden wolle. Prof. Dr.

84 Goebel sagte ja. Es war ein weiter, ereignisrei- die Wende, kennt viele, die, im Gegensatz zu cher Weg von der „Nischenmentalität” zu ihm, keine Chance mehr sahen, oder keine DDR-Zeiten bis zum Minister. mehr hatten. Für ihn, der sich als Gewinner sieht, zeigt Prof. Dr. Goebel sieht die Wiedervereini- sich dadurch die Breite der Möglichkeiten. Er gung als eine einmalige Chance für Deutsch- sieht aber auch die soziale Staffelung, die ihm land, Europa und die Welt, denn hierdurch Sorgen macht. Prof. Dr. Goebel war zur rech- wurde auch die Bedrohung durch den Kalten ten Zeit am rechten Platz – viele andere nicht. Krieg beendet. Zitat: „Und ich bin glücklich, Er sieht die Brüche in den Biographien durch dass ich dabei war.”

85 Gerda Groh Pioniergeist in Pionierzeiten

medizin und Betriebsärztin. 1991 war ich 52 Dr. Gerda Groh: Jahre alt, parteilos, verheiratet und hatte drei Geboren 1939, war Dr. Gerda Groh bis erwachsene Kinder. Nach sechs Jahren Stu- zur Wende in der Betriebspolikli- dium hatte ich 28 Jahre lang gearbeitet: in nik des Chemiefaserkombinats in Schwarza tätig. Krankenhäusern, Polikliniken, Pflegeheimen, Doch ab 1990 stand sie dann plötz- in einer Staatlichen Arztpraxis und zuletzt in lich vor völlig veränderten Bedin- dieser Poliklinik des größten Betriebes der Re- gungen. Nach der Auflösung des Be- gion mit über 6000 Beschäftigten. Ich war triebsgesundheitswesens und dem Weg- fall ihrer bisherigen Arbeits- also arbeitslos und begab mich auf Arbeits- stelle, musste sie zunächst den Weg suche. in die Arbeitslosigkeit gehen. Hel- fen konnte ihr beim Arbeitsamt Auf dem Arbeitsamt bot man mir niemand. Auch viele Versuche, eine neue Anstellung als Ärztin an einem einen Computerkurs an Krankenhaus zu finden, scheiterten. Dr. Gerda Groh blieb nur der Weg in Auf dem Arbeitsamt sagte man mir, ich sei die Niederlassung. Sie ging das Ri- siko ein und eröffnete 1992 in Ru- nicht vermittelbar und bot mir einen Compu- dolstadt eine Praxis für Allgemein- terkurs an. Ich bewarb mich als Betriebsärztin, medizin, die sie bis heute betreibt. aber die Betriebe waren geschrumpft und hat- ten nicht die finanziellen Mittel, einen Arzt zu Am 27. März 1991 holte mich die Wende ein: bezahlen. Der Stellenplan im Krankenhaus ich erhielt eine Kündigung wegen „Struktur- war ausgelastet. Ich versuchte, als angestellte veränderungen im Betriebsgesundheitswe- Ärztin beim Medizinischen Dienst der Kran- sen. „Wir danken Ihnen für die bisher geleiste- kenkassen unterzukommen. Dort warteten be- te Arbeit und wünschen Ihnen alle Gute.“ Die reits sehr viele arbeitslose Kollegen. Meine Strukturveränderung ging in meinem Betrieb, Chancen schienen gering und sanken auf Null, der Poliklinik des Chemiefaserkombinates in als ich beim Eignungsgespräch die Frage Schwarza so weit, dass sich meine Arbeitsstel- bejahte, ob mein Mann Arbeit hätte. Die schrift- le vollkommen auflöste. Es verschwanden die liche Ablehnung kam umgehend. Ich war acht vielen kleinen flachen Gebäude dieser medi- Monate arbeitslos. zinischen Einrichtung mitsamt meinem Sprech- Das hätte ich mir zur Wendezeit nicht träu- stundenraum, Liege, Stuhl und Schreibtisch. men lassen. Natürlich hatte auch ich in den Meine ärztlichen Kollegen zerstreuten sich, Montagsdemonstrationen teilgenommen, na- das Kollektiv von sechs Ärzten und etwa vier- türlich trug auch ich eine Kerze für eine fried- zig Schwestern war plötzlich nicht mehr vor- liche Lösung der dringend anstehenden Ver- handen. änderungen. Natürlich hegte ich Hoffnungen Auch meine Patienten, vorwiegend Gast- auf Demokratisierung, auf Mitspracherecht, arbeiter des Werkes aus Kuba, Polen, Jugo- auf Reisemöglichkeiten und Verwandtenbesu- slawien und Vietnam, befanden sich bereits che, auf ein Ende der Mangelwirtschaft in al- nicht mehr in Deutschland. Ich stand vor ein- len Bereichen ebenso wie im Gesundheitswe- em Nichts. Ich bin Fachärztin für Allgemein- sen, wo die Medikamentenversorgung schon

86 so mangelhaft war, dass zum Beispiel manche Patienten spezielle Tabletten abgezählt auf die Hand bekamen. Es musste sich etwas ereig- nen! Schon bald änderte sich der selbstbe- wusste Ruf: „Wir sind das Volk“. Anfänglich eher verhalten wurden diese Stimmen nach einem vereinten Deutschland immer drän- gender, konkreter, realisierten sich. Und das Wunder einer friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands geschah. Es war Geschichte und wir haben sie mitgeschrieben. Nach die- ser euphorischen Phase kehrte man wieder auf den Boden der Realitäten zurück und die- se stellten sich inzwischen so dar: Die bis- herigen Strukturen der ärztlichen Versorgung wie Staatliche Arztpraxen, Betriebs- und Poli- kliniken durfte es jetzt in den neuen Bundes- ländern nicht mehr geben. Im Sinne einer „Systemklarheit“ wurde nach dem Vorbild der alten Bundesländer eine erhebliche Umwand- dingt garantiert. Ich wagte, trotz allem, den lung vollzogen. Nur in Krankenhäusern ar- Schritt in die Selbständigkeit. beiteten Ärzte als Angestellte, im ambulanten Es war wie ein Aufbruch zu neuen Ufern. Bereich sind sie selbstständig und haben eine Gelernt hatten wir es nicht, aber wir waren eigene Praxis oder mehrere Ärzte schließen gelehrig. In kürzester Zeit lernte ich, dass man sich zu einer Praxisgemeinschaft zusammen. eine Bank braucht, Versicherungen für und Die meisten meiner jüngeren Kollegen sahen gegen alle Eventualitäten abschließen muss, darin ihre Chance auf neue große Möglich- dass man einen Rechtsanwalt benötigt, um keiten. Es entstand ein wahrer Aufbruchsjubel bei Verträgen nicht über den Tisch gezogen zu und überall gab es plötzlich moderne neue werden. Ich lernte mit Schulden zu leben und Arztpraxen. dem Gedanken noch sehr viel und sehr lange arbeiten zu müssen und dass sich das Renten- Wir älteren Ärzte dachten mit alter um noch viele Jahre hinausschieben wür- Sorgen an unsere Zukunft de und dass der Steuerberater mein wichtig- ster Begleiter in der nächsten Zeit sei. Ich be- Wir älteren Ärzte aber, inzwischen 50- bis 60- suchte Kurse und Seminare über Wirtschaft- jährig, dachten mit immer größer werdender lichkeit, Abrechnungstechniken, Personal- Sorge an unsere Zukunft. Wie sollte es mit uns umgang, Computerinstallation, über Alters- weitergehen? Wurden wir denn nicht mehr vorsorge und Haftungsrecht. Ich fuhr nach gebraucht? Ängste stellten sich ein. Der Weg Hessen und Bayern, um bei hilfreichen Kolle- in die Arbeitslosigkeit oder Frührente erschien gen in deren Praxen das Knowhow zu lernen. uns ebenso unvorstellbar wie der in die Frei- Monatelang waren die Wochenenden im Ter- beruflichkeit. Ich kenne viele ärztliche Kolle- minkalender ausgebucht. gen, die den ungewohnten Schritt in eine ei- Bei all diesen Aktivitäten war ich nicht al- gene Niederlassung nicht mehr wagten oder lein. Immer traf ich Kollegen in gleicher Lage ihn nicht wählen konnten oder ihn nicht mehr auf diesen Veranstaltungen und konnte mich bewältigten, sei es aus finanziellen, gesund- mit ihnen austauschen. Auch die sogenann- heitlichen oder Altersgründen. Denn dieser ten Ärztestammtische entstanden in dieser Weg war steinig und ein Erfolg nicht unbe- Zeit. Man besprach dort Fachliches und Or-

87 ganisatorisches untereinander wie zum Bei- heren Kinderklinik als Praxisräume zur Miet- spiel den Bereitschaftsdienst. Denn auch die- nutzung zusprechen dürfe. Die Mehrheit stimm- ser hatte sich geändert: Fuhr ein Arzt früher te dafür. Voller Elan befasste ich mich mit mit dem Rettungswagen samt Besatzung zum Raum-gestaltung und Praxiseinrichtung. Jeder Einsatz, erwartete man jetzt von ihm, dass er Tag musste genutzt werden, denn mit jedem selbst mit eigenem Auto die Patienten in Dorf Tag verringerte sich die Zeit meiner Arbeits- und Stadt aufsuchte. Was diese Änderung für losigkeit. eine Umstellung besonders für die Frauen be- Die beiden, zum Teil aus der früheren Po- deutete, allein, nachts, auch bei Schnee und liklinik hervorgegangenen Ärztehäuser „West“ Glatteis zu fahren, wurde kaum wahrgenom- und „Ost“ bestanden bereits seit über einem men. Jahr, als Mitte Februar 1992 die Feier zur Pioniergeist in Pionierzeit war es, der uns Eröffnung des neuen Ärztehauses „Mitte“ beflügelte und uns diese Gründerzeit über- stattfand. Unter seinem Dach vereinigte es stehen ließ. Es kamen auch Hilfen in Form von drei moderne Praxen der Fachrichtungen günstigen Bankkrediten und kostenfreien Se- Zahnheilkunde, Hals-Nasen-Ohren und All- minaren zum richtigen Start ins „neue“ Berufs- gemeinmedizin. Wie der anwesende stellver- leben. In meinem Fall gab es sogar eine öf- tretende Landrat feststellte, wurde damit auch, fentliche demokratische Abstimmung im Kreis- 16 Monate nach der Wiedervereinigung, der tag darüber, ob man mir und zwei weiteren endgültige Schlussstrich unter Rudolstadts Poli- Kollegen ein leer stehendes Gebäude der frü- klinik gezogen.

88 Grundschullehrerin Im Laufe der Jahre hat sich mein Unterricht geändert

Polytechnischer Oberschule nutzte ich die Grundschullehrerin: Möglichkeit, mich am Institut für Lehrerfort- Geboren 1961 in Südthüringen. Nach bildung in Meiningen zu bewerben. Da mein der zehnjährigen Schulzeit an einer Vater zur Arbeiterklasse gehörte, hatte ich gute Polytechnischen Oberschule (POS) be- gann sie eine Ausbildung am Institut Chancen, da Berufe, die zur Intelligenz ge- für Lehrerfortbildung Meiningen und zählt wurden aus der Arbeiterklasse heraus schloss diese ab. entstehen sollten. Ich hoffte auf meinen klei- 1981 erhielt die Lehrerin, die in nen Vorteil und freute mich sehr als ich ange- dieser Publikation anonym bleiben will, ihre erste Stelle an einer POS nommen wurde. und arbeitete im Hort bis 1991. Sie Von 1977 bis 1981 wurde ich am Institut nahm dann die Möglichkeit einer für Lehrerfortbildung ausgebildet, meiner Mei- Weiterbildung im Fach Ethik wahr und nung nach sehr gut, sehr praxisbezogen. Poli- absolvierte im Anschluss eine Aus- bildung zur Beratungslehrerin. Spä- tisch aktiv war ich in dieser Zeit nicht, denn wir ter folgte eine Weiterbildung für hatten Westverwandtschaft und ich wollte den Englisch im Bereich Fremdsprachen- Kontakt auf keinen Fall aufgeben. Außerdem frühbeginn. Die Wende erlebte die Grundschullehrerin als eine Zeit fand ich zwar die Ausbildung im Allgemeinen der Unsicherheit, die sie teilweise gut, mich störte aber die politische Ausrich- auch heute noch empfindet. tung vor allem in Marxismus-Leninismus. Die- ser politische Einfluss kam später im Heimat- kundeunterricht und in den Lesetexten ver- Das Gespräch führte stärkt zum Ausdruck. Ursula Gödde Die berufliche Laufbahn Ich bin 1961 in Südthüringen geboren. Mein begann im Schulhort Vater war Arbeiter und Mitglied in der SED, meine Mutter Kindergärtnerin. Meine Kindheit 1981 bekam ich meine Arbeitsstelle an einer war geprägt von starker häuslicher Zuwen- Polytechnischen Oberschule in Südthüringen dung, wobei die Familie im weiteren Rahmen zugewiesen. Da zur damaligen Zeit alle Unter- immer im Zentrum vieler Aktivitäten stand. Seit stufenlehrer gleichzeitig als Horterzieher mit dem zehnten Lebensjahr spielte ich aktiv Ten- ausgebildet wurden, war der erste Einsatz sehr nis und gehörte dem Deutschen Turn- und häufig im Hort. So begann ich meine beruf- Sportbund an. Bezirks- und Kreismeister- liche Laufbahn als Horterzieherin und hoffte in schaften sowie Punktspiele waren Höhepunk- den nächsten Jahren als Unterstufenlehrer ein- te in der damaligen gut organisierten Freizeit- gesetzt zu werden. Diese Hoffnung erfüllte sich gestaltung für Kinder und Jugendliche. zehn Jahre lang nicht, da der Einsatz vom Viele Stunden am Nachmittag verbrachte Schulleiter abhing und ich keine politischen ich im Kindergarten an der Seite meiner Mut- Aktivitäten im überdurchschnittlichem Maß ter. So entwickelte sich der Wunsch zum Erler- zeigte. Ich war nicht oppositionell, ich lehnte nen eines Berufes, in dem Kinder eine wich- den Staat nicht ab, aber ich fand es schlimm, tige Rolle spielen sollten. Nach zehn Jahren in der Unterstufe Lenin behandeln zu müssen,

89 Thälmanngeschichten zu erzählen und das Geburtstagen von Westverwandtschaft zu stel- Motto Von der Sowjetunion lernen heißt sie- len traute. Die Öffnung der Mauer habe ich gen lernen mit den Kindern zu besprechen. vor dem Fernseher erlebt, es war ganz unwirk- So blieb ich bis zur Wende im Hort, obwohl lich, man konnte es zuerst nicht verarbeiten. andere junge Lehrerinnen an die Schule ka- Am nächsten Morgen in der Schule wurde er- men, die bald im Unterricht eingesetzt wur- zählt, dass die ersten der Stadt schon in Co- den. burg waren. Einer hatte sich eine Bildzeitung ge- Eigentlich war ich froh, dass ich nicht un- kauft und war damit um 5:30 Uhr auf Arbeit, terrichten musste. Im Hort hatte ich mehr Frei- als Beweis, dass es möglich war, zu fahren. heiten. Ich konnte mit den Kindern basteln, 1989 hat sich für mich in der Schule wenig Bücher zum Vorlesen aussuchen, musste nur geändert, sie war nun weniger politisch aus- manchmal politischen Stoff behandeln. Wäh- gerichtet. Das hatte auch Auswirkungen auf rend meiner Zeit im Hort hatte ich ein gutes den Hort. Jetzt durften sich Kinder über West- Verhältnis zur Klassenleiterin und wir haben fernsehen unterhalten. Vorher hatte man als auf dem Gebiet der Elternarbeit Hand in Horterzieherin dafür zu sorgen, dass das kein Hand gearbeitet. Auch bei Stoffverteilungs- Gesprächsthema war. Oftmals war das schwie- plänen und Zeugnissen waren wir ein gutes rig, z. B. bei der Beeinflussung durch Westwer- Team, was wiederum von der Schulleitung bung. Fast alle Schüler schauten West, durften gern gesehen wurde. aber nicht darüber sprechen. Mit dieser Zwie- Obwohl ich den Unterricht in der DDR nur aus spältigkeit mussten sie leben und waren oft mit der Perspektive des Hortes kennen gelernt ha- unverdauten Themen allein gelassen. be, fand ich ihn insgesamt Politik ausge- Im Jahr 1990 wurde die Regelschule von klammert gut. Er war zwar durch Vorgaben der Grundschule getrennt. Viele Kollegen be- eingeengt, aber wir hatten auch keine Verglei- dauerten diesen Schritt, die meisten unserer che mit anderen Lehr- und Lernmethoden. Unterstufenkolleginnen fanden die plötzliche Eigenständigkeit gut. Es tauchte aber gleich Die Wende als Zeit der Unsicherheit das Problem auf, wer bereit war, Verantwor- erlebt tung zu übernehmen. Niemand hatte gelernt, damit umzugehen. Zwei Kolleginnen hatten Die Wendezeit erlebte ich als eine Zeit der Un- den Mut, sich für die Schulleitung zu bewer- sicherheit. Ich wusste, dass die Statistiken der ben, bevor von außen jemand der Schule zu- Betriebe geschönt waren, dass das System geordnet wurde. ausgehöhlt war, bröckelte. Bei den Montags- Demonstrationen in den Kirchen waren auch Nach zehn Jahren erstmals die christlich engagierte Lehrer dabei, in der Chance zu unterrichten Schule haben sie davon berichtet. Für mich stellte sich die Frage: Was kommt danach? Nach der Zeit des Umbruchs war man ständig Wenn der Apparat zusammenbricht, was wird auf der Suche nach Verbindungen zu Schulen mit dem Schulsystem? Bisher war alles gere- im Westen. Von uns aus fuhren vor allem gelt. Fachberater zu anderen Schulen. Ich war da- Läuft der Zusammenbruch blutig ab oder mals nicht dabei, da ich ja noch im Hort ar- nicht? Eigentlich konnte es sich niemand beitete. Meine Kolleginnen kamen zurück und vorstellen, dass alles friedlich ablaufen würde. berichteten von ihren Eindrücken: Es gab im Ich hatte Angst, dass der Regierungsapparat Westen nichts Neues in Bezug auf gute und um die Macht kämpfen würde. Man hat mit schlechte Lehrer. Sie haben meistens Fron- der Grenze gelebt, die ja ganz nahe war. Mir talunterricht erlebt. Einige erlebten aber auch war klar, dass ich erst als Rentnerin einmal aus andere Unterrichtsmethoden, wie z. B. die dem Staat ausreisen konnte, da ich mir als Arbeit mit einem Wochenplan. Das fanden sie Lehrerin nie einen Antrag auf Besuche bei sehr interessant. Ab 1991 sollten alle, die als

90 Lehrer ausgebildet waren, im Unterricht ein- ne Unterrichtsmethoden ausprobiert und ein- gesetzt werden. Auf diese Chance hatte ich en Weg gefunden, der es den Kindern ermög- zehn Jahre gewartet.Das war für mich eine licht, sich auszuprobieren, sich ihren Fähig- große Umstellung. In der ersten Zeit war ich keiten entsprechend zu entwickeln. So macht voll beschäftigt mit der Planung des Unter- mir das Unterrichten mehr Freude als früher, richtes. Da ich aber nicht geprägt war durch auch wenn das viel Arbeit in der Vorbereitung jahrelange Routine im Unterrichten mit DDR- bedeutet. Die zwei neuen Fächer in der Grund- Büchern hatte ich trotz meiner fehlenden schule, Ethik und Englisch im Fremdsprachen- Erfahrung den Vorteil, dass ich offener war für frühbeginn finde ich sehr gut. Das Umdenken Neues als manche andere. Die didaktischen in der Unterrichtsplanung und der -organi- Grundsätze von meiner Ausbildung her konn- sation fällt vielen Kollegen nicht leicht. te ich anwenden, ich hatte aber noch keine Alt bewährte Argumente stehen oft als fel- eingefahrenen Methoden, die ich jetzt teilwei- senfeste Meinung veränderten Methoden und se hätte ändern müssen. Arbeitsweisen im Weg. So findet man nur we- Insgesamt habe ich von der Wende pro- nige überzeugte Mitstreiter. Ich hatte vor fünf fitiert. Das kam Stück für Stück. Da es nicht Jahren das Glück, einige Lehrerinnen für ver- viele junge Lehrerinnen gab, hatte ich Chan- änderte Lernmethoden zu begeistern und ge- cen bei der Bewerbung und Weiterbildung. Es meinsam kämpfen wir jedes Jahr um Akzep- begann mit einer dreijährigen Weiterbildung tanz und Unterstützung seitens der Kollegen im neuen Fach Ethik, dann folgte die Aus- und Eltern. Die Schulleitung setzt heute, seit bildung zum Beratungslehrer. Eigentlich hätte der Umgestaltung der Lernatmosphäre, ihre das reichen können. Aber mir wurde angebo- volle Kraft zu unserer Unterstützung ein. ten, auch in Englisch eine Weiterbildung zu In meiner Familie hat sich nach der Wende machen, damit an meiner Schule Fremdspra- vieles positiv entwickelt, nicht nur auf mate- chenfrühbeginn angeboten werden konnte. riellem Gebiet. Beide Söhne nutzten die Chan- ce, nach dem Gymnasium zu studieren. Der Offene Unterrichtsmethoden Ältere setzt zur Zeit das Studium im Ausland ausprobiert fort. Diese Bildungschancen wären früher nur bedingt oder gar nicht möglich gewesen. Heu- Zu all dem waren viel Zeit und viel Engage- te gibt es mehr Unsicherheit, eine Lebenspla- ment nötig. Die Familie musste das mit tra- nung ist langfristig nicht möglich. Früher war gen, vor allem bei Fortbildungen über meh- mehr Sicherheit im Beruf, in der Familie da- rere Tage, in denen die Familie alleine zu- durch mehr Ruhe, das ist vorbei. Trotzdem den- rechtkommen musste. Im Laufe der Jahre hat ke ich, dass die Arbeitsplatzsicherheit früher sich mein Unterricht geändert. Ich habe offe- die damalige Einengung nicht aufwiegt.

91 Horst Gütter: Das Bildungswesen des Kreises von unten nach oben durchlaufen

Truppen folgte die amerikanische Besetzung Horst Gütter: und nach dem Gebietsaustausch der Alli- Geboren 1932 in Mellenbach-Glas- ierten kamen die Trecks der (gefürchteten) bach. Bis 1949 Besuch der Ober- Roten Armee. Sahen so Siegertruppen aus? schule in Oberweißbach, danach der Hermann-Lietz-Oberschule Gebesee. Allerseits wurde begonnen Zerstörtes wie- Nach dem Abitur, das Horst Gütter der aufzubauen, das Leben normalisierte sich 1950 ablegte, begann er 1951 ein in unserem ländlichen Raum zusehends; erste Studium am Institut für Lehrer- Veränderungen vollzogen sich, unter ande- bildung Gera als so genannter Spät- einsteiger. Nach einem berufsbe- rem im Schulwesen, wovon ich unmittelbar be- gleitendem Fernstudium erlangte er troffen wurde. Denn unsere Oberschule Ober- 1968 den Abschluss als Diplom- weißbach, in welcher ich gerade die 11. Pädagoge. 1960 trat er in die SED Klasse absolviert hatte, wurde 1949 auf eine ein und wurde 1963 in die Abteilung Volksbildung des Rates des Kreises Hauptschule reduziert. Aus den mir vorge- Rudolstadt versetzt. Im Jahr 1963 legten Umschulungsangeboten entschied ich wurde Horst Gütter zum Kreis- mich für die Hermann-Lietz-Oberschule mit schulrat für den Kreis Rudolstadt ernannt. Dieses Amt übte er bis zu Internat in Gebesee. Der reformpädagogi- seinem Rücktritt im Wendejahr 1989 sche Ansatz des Namensgebers prägte den aus. Schulalltag, die Arbeitserziehung spielte darin eine wichtige Rolle. Dieser Wechsel bedeutete Geboren im schönen Schwarzatal am 27. für mich eine gewaltige Umstellung von der Juni 1932 in Mellenbach-Glasbach als Sohn freien Wildbahn in ein straff geregeltes In- des Bäckers und Kaufmannes Paul Gütter und ternatsleben; im Rückblick auch eine wichtige dessen Ehefrau Hedwig, geborene Braun, Erfahrung. wuchs ich im Kreis meiner vier Brüder unbe- schwert auf. Nach vier Klassen Volksschule Studienbewerbung zunächst besuchte ich nach bestandener Aufnah- ohne Erfolg meprüfung von 1942 bis 1949 die Ober- schule Oberweißbach. Mein Schulweg betrug Das Abitur wurde 1950 geschafft. Danach in dieser Zeit täglich etwa acht Kilometer zu scheiterten zunächst meine Studienbewerbun- Fuß bei Wind und Wetter, im Sommer wie im gen, vielleicht auch auf Grund meiner Her- Winter! Vom Krieg blieben wir relativ unbe- kunft. Ich war eben kein Arbeiterkind, welches helligt, meine zwei älteren Brüder über- damals bevorzugt zu behandeln war. Deshalb standen die Zeit in der Wehrmacht glückli- war ich glücklich, als ich eine Lehrstelle als cherweise unbeschadet. Bankkaufmann an der Kreissparkasse Rudol- Für uns Jüngere wurden die letzten Kriegs- stadt erhielt. Nach sechs Wochen wurde mir monate noch recht abenteuerlich und zu- verkündet, dass ich diese Lehrstelle aufgeben weilen gefährlich, mussten wir uns doch oft müsse, da sie für einen körperbehinderten vor angreifenden Tieffliegern verstecken. Dann jungen Mann gebraucht wurde. So geschah ging es turbulent zu. Dem Rückzug oder bes- es ohne dass ich dagegen protestierte. Nun ser der Flucht und Auflösung der deutschen arbeitete ich mehrere Wochen in der Bäckerei

92 meines Vaters. Bei meinen langen Bemühun- und für die materiell-technischen Voraus- gen um eine angemessene berufliche Ent- setzungen bei doppelter Unterstellung (Mini- wicklung stellte mich schließlich das Arbeits- sterium für Volksbildung und Ministerrat) ver- amt Rudolstadt vor die Alternative: Gehen antwortlich. In seiner Eigenschaft als Mitglied Sie zur Wismut oder werden Sie Lehrer! des Rates des Kreises trug er zugleich Mitver- Ich entschied mich für den Lehrerberuf, antwortung für die Kommunalpolitik als Gan- was ich bis heute nie bereut habe. Als Spät- zes. einsteiger studierte ich ab 1. Januar 1951 am Institut für Lehrerbildung Gera. Am 1. Sep- Neubau von zehn tember 1951 begann ich meine Lehrtätigkeit Polytechnischen Oberschulen als Unterstufenlehrer in Bad Blankenburg. 1952 erfolgte meine Versetzung an die Zen- Während meiner Zeit als Kreisschulrat stand tralschule Remda, 1954 an die Schule des die zentrale Aufgabe, für alle Kinder im Kreis Heimes für Schwererziehbare in Paulinzella, die Bedingungen für den Besuch der zehn- 1957 an die Zehnjahresschule Sitzendorf. klassigen polytechnischen Oberschule zu Diese Schule leitete ich als Direktor von 1960 schaffen. Voraussetzung dafür war der Neu- bis 1963. Meine Qualifizierung vollzog ich bau von zehn Polytechnischen Oberschulen vor allem im Fernstudium. So schloss ich und die Einrichtung polytechnischer Ausbil- 1953 meine Qualifikation als Unterstufen- dungsstätten. Annähernd 500 Kindergarten- lehrer ab, 1958 als Fachlehrer Mathematik plätze entstanden neu, um allen Vorschulkin- der Mittelstufe und erwarb 1968 den Grad dern, deren Eltern das wünschten, einen Kin- eines Diplompädagogen nach einem kom- dergartenplatz bereitzustellen. Die Ergebnisse binierten Direkt- und Fernstudium an der Pä- der unterrichtlichen und außerunterrichtli- dagogischen Hochschule Potsdam. chen Arbeit konnten sich sehen lassen. Mit wachsendem Alter der DDR ver- Eintritt in die SED und Berufung in schärften sich allerdings die Widersprüche zwi- die Abteilung Volksbildung schen der geforderten ideologischen Domi- nanz in der Schule und der gesellschaftlichen Sehr schnell hatte ich an meinem gewählten Realität. Das führte auch zu Konflikten bei Beruf viel Freude, war erfolgreich, wurde von Lehrern und Schülern. Trotzdem: Viele Dele- meinen Schülern, den Eltern und Vorge- gationen von Lehrern aus dem Ausland, da- setzten anerkannt, erhielt mehrere staatliche runter aus Japan und Frankreich, besuchten Auszeichnungen. Überzeugt davon, meine Schulen und Kindergärten unseres Kreises Schüler gut auf ihr Leben in einem anderen und sprachen sich anerkennend aus. Deutschland als bisher vorzubereiten und Die unangenehmste Seite der Tätigkeit im schließlich auch mit dem Blick auf eine Staatsapparat war der ständige Druck der mögliche Karriere, trat ich 1960 in die SED Parteifunktionäre auf die Durchsetzung des al- ein. 1963 wurde ich in die Abteilung Volks- leinigen Wahrheitsanspruches der Partei und bildung beim Rat des Kreises Rudolstadt be- ihrer Doktrinen. Manches war richtig und ver- rufen. Zunächst arbeitete ich als Schulin- tretbar, aber gegen vieles gab es kein Mittel spektor, dann von 1966 bis 1968 als 1. Stell- der Gegenwehr oder Kritik, nur bei Strafe des vertreter des Kreisschulrates. Damit hatte ich eigenen Untergangs. Ab Mitte der 1980er das Bildungswesen eines Kreises kontinu- Jahre verschärften sich diese Prozesse. Ab et- ierlich von unten nach oben durchlaufen wa 1988 wurde die Arbeit in der Volksbildung und fühlte mich in der Lage, die Komplexität fast nur noch gemessen an der militärischen der damaligen Prozesse zu beherrschen. Nachwuchsgewinnung, der Anzahl der Reise- Ein Kreisschulrat war für die inhaltliche Ge- und Ausreiseanträge von Pädagogen in die staltung der Erziehungs- und Bildungspro- BRD. Andererseits wurden kaum noch Ka- zesse, für die kadermäßigen Bedingungen pazitäten für die Erhaltung und Moder-

93 nisierung der Volksbildungsbauten bereitge- geschöpft oder sie in deren Interesse auch stellt. Der ideologische Druck wurde weiter überschritten? Ich konnte mir beides mit gu- erhöht, die sozialistische Demokratie immer tem Gewissen beantworten und kam dabei mehr und endgültig zur Farce. Das führte noch zu folgendem Schluss: Die Pädagogen natürlich zu einer inneren Resignation, die in der damaligen DDR haben in einem Bil- auch mich darüber nachdenken ließ, ob ich dungssystem von der Vorschulerziehung bis mein Amt noch ausüben möchte. Schließlich zum Hochschulstudium Leistungen erbracht, machte ich weiter, immer noch in der vagen die es Wert waren, genauer zu analysieren, Hoffnung, dass die Politoberen sich zu einer was übernahmefähig im Einigungsprozess ge- Kursänderung durchringen. In diesem Zu- wesen wäre. Die aktuellen Debatten nach der sammenhang erinnere ich mich an den PISA-Studie sind dafür ein konkreter Beweis. Besuch des Politbüromitgliedes Kurt Hager, Nach meinem Rücktritt habe ich noch ein- etwa ein Jahr vor der Wende, an der DSF- einhalb Jahre in einer nachgeordneten Ein- Schule in Rudolstadt. Kurt richtung Umstrukturierungs- Hager, alt, krank und wie prozesse mitgestaltet und da- sich zeigte uneinsichtig er- nach eine Vorruhestandsre- goss sich in Banalitäten, lob- gelung angenommen. Nach te die Vorzüge des Sozia- einer Pause der Besinnung lismus und wies entschie- und des Zurücknehmens den alle Reformansätze zu- wollte ich auch im wieder- rück vereinigten Deutschland et- Die DDR brach zusam- was für die gesellschaftliche men, zum Glück friedlich. Umgestaltung in den neuen Ende Dezember 1989 trat Bundesländern leisten. ich auch gefordert vom Dabei ging es mir um Runden Tisch von meiner einen Beitrag, die Isolierung Funktion zurück. Noch im und das Alleinsein älterer November 1989 hatte ich ehemaliger Kollegen und Mit- mich mit zwei Kollegen einer bürger zu verhindern, mitzu- offenen Diskussion zur Bi- helfen, den Alten einen wür- lanz des Bildungswesens in digen Lebensabend zu ge- der Stadtkirche vor 600 Teil- stalten und für ihre sozialen nehmern gestellt. Naturge- Rechte einzutreten. So war mäß war in der damaligen ich 1991 Mitbegründer des Atmosphäre eine sachliche BRH-Ortsverband Rudol- Auseinandersetzung nicht möglich. So war stadt (Bund der Ruhestandsbeamten, Rentner auch ich persönlichen Angriffen ausgesetzt, und Hinterbliebenen), den ich seit 1996 leite. aber ohne Chance, sie zu klären. Dennoch Inzwischen haben wir nahezu 200 Mitglieder bin ich nicht bereit, mein Leben in und mein und ein geselliges Vereinsleben. Außerdem Wirken für die DDR zu verleugnen. Das Ende bin ich seit 2000 Vorstandsmitglied im größ- dieser DDR war voraussehbar, für mich wie für ten Kleingärtnerverein unseres Kreises. Von viele andere. Das hat auch wehgetan, war 1996 bis 2003 war ich nebenamtlicher Mit- aber unvermeidlich. arbeiter der Europäischen Staatsbürgeraka- In einer ganz persönlichen Bilanz legte ich demie Cursdorf, vor allem als Leiter von Stu- mir folgende Fragen vor: Wem hast du ge- dienreisen im europäischen Raum. In der Eu- schadet? Hast du in den vorgegebenen ge- ropa Union Deutschland (EUD) engagiere ich setzlichen Grenzen alle Möglichkeiten zum mich für die europäische Integration und Wohle der Lehrer, Schüler und Eltern aus- Erweiterung. 15 Jahre nach der Wende kön-

94 nen wir Alten einigermaßen zufrieden sein. ziehung war oft meinerseits die Zeit aller- Das war nicht gleich so, sondern es waren dings knapp bemessen. Sie haben sich gut große Anstrengungen notwendig, um z.B. die entwickelt, ihr Abitur abgelegt und in Jena stu- Rentenungerechtigkeit weitgehend zu besei- diert. Beide absolvierten vor dem Studium tigen. Auch künftig müssen wir wachsam blei- eine dreijährige Armeezeit. Der Ältere, Tho- ben, um den Sozialabbau, den die ältere Ge- mas, wurde Mediziner und arbeitet heute als neration gegenwärtig erleben muss, zu stop- niedergelassener Arzt in Rudolstadt. Sein jün- pen. Sorgen bereiten jedoch auch uns die an- gerer Bruder Uwe beendete sein Studium als stehenden Reformen mit dem Blick auf ihre Diplomingenieur der Feingerätetechnik. Sei- soziale Gerechtigkeit, die Massenarbeitslo- ne berufliche Entwicklung verläuft nicht ohne sigkeit und Fragen der äußeren und inneren Probleme, sein Fachgebiet war nach der Wen- Sicherheit. de kaum gefragt. Er sucht immer noch, hof- Aber kurz zurück zu letzten biographi- fentlich mit Erfolg, eine angemessene Arbeit. schen Ergänzungen. Seit 1958 bin ich mit Ansonsten hat unsere Familie die Umbruchs- meiner Frau Ursula verheiratet. Sie war bis jahre gemeistert und ich kann mit meiner Frau 1996 im Schuldienst als Fachlehrerin für den Ruhestand hoffentlich noch lange ge- Deutsch und Englisch. Viel Freude und Er- nießen. Zweifellos besteht für mich der größte folg, aber ebenso Sorgen und Probleme ha- Gewinn seit der Wende darin, mein Leben ben wir in unserem Leben geteilt beruflich selbstbestimmt zu gestalten, allerdings auch und privat. Unsere beiden Söhne Thomas, immer mit dem Blick darauf, Verantwortung 1960 und Uwe 1963 geboren, sind gesund für meine Mitbürger, soweit dies erforderlich und geborgen aufgewachsen. Für ihre Er- ist, zu übernehmen.

95 Ursula Höppel Mein Gang ist zunehmend aufrechter geworden

Geschehnisse in einzelnen Städten der DDR. Ursula Höppel: Da wurde von Mobilmachung und Internie- Geboren 1955, arbeitete sie als rungslagern gesprochen, erhöhtes Polizeiauf- Deutsch- und Russischlehrerin in Saalfeld. gebot war nicht zu übersehen und die Frage, wohin das führt, beschäftigte wohl jeden täg- Durch ihren Wunsch, in eine andere Arbeitsstelle außerhalb der DDR- lich, der in diesem Land lebte. Volksbildung zu wechseln, war sie über längere Zeit Schikanen ausge- Fassungslos, als die Grenze setzt. 1989 begann sie eine neue Tätigkeit an der Medizinischen plötzlich offen war Fachschule Saalfeld. Die Wende er- öffnete ihr viele neue Per- Neugierig und gespannt verfolgte ich damals spektiven. Ursula Höppel wurde 1990 jeden Tag die Medien um die Entwicklung zu Gründungsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Thü- beobachten, war freudig erregt über den Mut ringen. Von 1991 bis 2002 war sie der Menschen bei den Montagsdemos in Mitglied des Hauptpersonalrates im Leipzig, Berlin und anderen Großstädten und Thüringer Kultusministerium. Seit 2002 ist sie Gymnasiallehrerin. bekundete meine Solidarität durch die eigene Heute schätzt sie die Wende als Teilnahme an Schweigemärschen durch die positiven Umbruch ein. Innenstadt von Saalfeld. An eine Wende selbst glaubte ich zu diesem Zeitpunkt nicht, denn es Es gibt so viele Gründe alles beim Alten zu war für mich einfach nicht vorstellbar, dass lassen, und nur einen einzigen doch endlich sich an diesem festgefahrenem System, das etwas zu verändern: Du hältst es einfach nicht sich ja ständig seiner Errungenschaften auf al- mehr aus! Diese Gedanken und Gefühle von len Gebieten beweihräucherte, irgendetwas Hans-Curt Flemming mögen wohl viele Men- ändern sollte. Deshalb verstand ich auch am schen im Sommer 1989 bewogen haben, als 9. November 1989 die so teilnahmslos vor- sie über die Botschaften in Tschechien und gelesene Meldung von Schabowski nicht, Ungarn in den Westen auswandern wollten. dass die Grenzen jetzt offen seien. Einige Bürger der DDR hielten die Diktatur Als direkte Augenzeugin dieser Fernseh- und Reglementierung des Staates einfach nicht übertragung fragte ich mich ständig, was heißt mehr aus und wollten ihr Leben verändern das. Auch die ersten Bilder im Fernsehen von und die Freiheit und Unabhängigkeit suchen. Berlin, wie sich die Menschen von Ost und Beim Verfolgen der Nachrichtenmeldungen West in die Arme fielen und erste Trabis über empfand ich damals einfach nur Bewun- die Grenze fuhren, konnten an dieser Fas- derung für diese Menschen, dass sie ihr Schick- sungslosigkeit nicht viel ändern. Ich hatte an sal in die Hand nahmen und den ungewissen diesem Abend das weitgreifende Ereignis nicht Weg ins Neuland wagten. Im darauffolgen- erfasst. Erst am nächsten Tag begriff ich des- den Herbst, besonders in der Zeit um den 40. sen Tragweite, als ich die langen Schlangen Jahrestag der DDR, der ja prunkvoll und glor- an der Polizei sah, die Sektkorken knallten und reich gefeiert wurde, wechselte dieses Gefühl die Menschen sich unbekannterweise nur der Bewunderung in Angst und Sorge um die noch in die Arme fielen. Als ich am Mittag die

96 Berichterstattungen im Fernsehen verfolgte, konnte ich vor Freude nur noch weinen. Es war einfach alles nur unfassbar. Ich erinnere mich noch daran, dass ich meinem Sohn sagte, als er aus der Schule kam, dass wir am darauf- folgenden Samstag mit unserem Wartburg in den Westen fahren würden und er mich in den Arm nahm und ebenso fassungslos schluss- folgerte, Mami, du hast eine anstrengende Woche hinter dir, ruhe dich erst einmal etwas aus und dann wird es dir bald besser gehen. Natürlich ruhte ich mich nicht aus, sondern stellte mich in der langen Schlange an der Polizei an und ließ mich von der Euphorie der Massen mit fortschwemmen.

Die persönliche Wende war bereits im Frühjahr 1989

Jedoch begann eine persönliche Wende in meiner Biografie bereits im Frühjahr 1989, als Abteilung Volksbildung einzureichen, nicht ah- ich mich entschloss meine Tätigkeit als Deutsch- nend, welche Odyssee von Aussprachen mir und Russischlehrerin in der Volksbildung zu bevorstand, denn eigentlich konnte ein sozia- kündigen. Der Grund für mich war damals listischer Lehrer seinen Dienst im sozialisti- der, dass ich anlässlich des bevorstehenden schen Staat niemals kündigen, da war man Lehrertages im Juni als Oberlehrer aus- schon ein politisch fragwürdiges Subjekt. gezeichnet werden sollte, jedoch ein feh- Und genauso wurde ich bei den fünf Vorla- lendes Parteiabzeichen dies nicht möglich ma- dungen in der Abteilung Volksbildung behan- chen konnte. Deshalb riet mir mein damaliger delt. Zunächst wollte man den Grund wissen, Direktor doch noch schnell in die SED ein- den ich mir gründlich überlegt hatte. Auf- zutreten, um diese Ehrung entgegen nehmen grund großer schulischer Schwierigkeiten mei- zu können. nes Kindes wollte ich Hausfrau werden und Die Enttäuschung war zu diesem Zeitpunkt meinen Sohn noch stärker bei der Erfüllung sehr groß. Konnte man meine geleistete Ar- seiner Aufgaben unterstützen. Dieser Grund beit nur würdigen, wenn ich Mitglied der SED wurde sofort negiert und mir gleichzeitig un- war? Dann konnte ich auf diesen Titel gern terstellt, ich sei gar keine Hausfrau. Also wur- verzichten. Ich begriff, dass ich als ganz nor- de weiter geforscht. In den einzelnen Ver- male und einfache Lehrerin, die ich bis dahin hören, anders kann ich diese Gespräche ein- immerhin schon elf Jahre an zwei ver- fach nicht bezeichnen, vermehrte sich nicht schiedenen Polytechnischen Oberschulen war nur die Anzahl derer, die mich befragten, son- und meine Tätigkeit immer mit viel Freude und dern auch die Strategien der Befragungen. Engagement ausgeübt habe, immer auf der Waren es anfangs noch die Zweifel am Grund Stelle treten würde. Parallel dazu bekam ich der Kündigung, vermutete man in weiterer In- das Angebot einer Bekannten eine Stelle an stanz politische Desorientierungen und fragte der Medizinischen Fachschule als Lehrerin später gezielt nach konkreten Versprechun- und Erzieherin anzunehmen, die jedoch zur gen irgendwelcher Arbeitgeber. Trotz ange- Zeit der DDR zum Gesundheitswesen gehörte. spannter nervlicher Situation beteuerte ich Wut, Enttäuschung, aber auch Neugier festig- meinen Hausfrauenwunsch mehrfach und gab ten den Entschluss, meine Kündigung in der keinerlei Anzeichen eines Wechsels an die

97 Medizinische Fachschule preis. Am Ende der alles, was neu war und beneidete alle Errun- fünften Aussprache versicherte mir der da- genschaften meiner westlichen KollegInnen. malige Kreisschulrat, dass ich nie wieder eine In zahllosen nächtlichen Diskussionen wurden Tätigkeit auf einem anderen Gebiet aufneh- persönliche Lebenswege aufgezeigt und ver- men würde, bis zum Lebensende Hausfrau glichen, wobei viele Aussagen beiderseits aus bleiben würde, da ich nun ein Berufsverbot Unkenntnis der unterschiedlichen Sozialisa- hätte. Diese Drohungen verunsicherten mich tion unverständlich blieben, kontroverse poli- natürlich enorm, zumal ich die Zusage einer tische Standpunkte ausgetauscht und das Für Beschäftigung an der Medizinischen Fach- und Wider beider Bildungssysteme kritisch ge- schule bereits sicher hatte. genüber gestellt. So wurde ich mehr oder weniger zufällig Die Drohung mit Berufsverbot im März 1990 Gründungsmitglied der Ge- war ernst gemeint werkschaft Erziehung und Wissenschaft in Thü- ringen. Mit meinen bisherigen Erfahrungen als Folgender Spruch baute mich damals auf: Mitglied des FDGB konnte ich da wenig an- Mit Steinen, die dir in den Weg gelegt wer- fangen. Neue Begrifflichkeiten, wie Tarifauto- den, kannst du auch was Schönes bauen. nomie, Personalrat und viel mehr, musste ich Also fing ich am 1. September 1989 meine erst begreifen lernen. Aber ich wollte auch Tätigkeit als Erzieherin im Internat und als Leh- diesen Neuanfang und mithelfen ein neues rerin mit begrenztem Unterricht zunächst ein- Demokratieverständnis unter den LehrerInnen mal auf Honorarbasis an und versucht mir et- zu entwickeln. was Neues aufzubauen. Auf eine Anfrage der Direktorin in der Abteilung Volksbildung im Mühselig einen Kreisverband Oktober nach meiner Personalakte wurde die- der GEW aufgebaut se ihr mit der Begründung verwehrt, dass ich ja als Hausfrau mein Dasein fristen wollte. Sie So baute ich mühselig einen Kreisverband der nahmen die Drohung mit dem Berufsverbot GEW in Saalfeld auf, dem die LehrerInnen also doch ernst und es wurden mir große Stei- und ErzieherInnen anfangs nur sehr zögerlich ne für einen Neuanfang in den Weg gelegt. und verunsichert beitraten. In vielen Ge- Aus heutiger Sicht stelle ich mir oftmals die sprächsrunden setzten wir uns mit dem drei- Frage, was wäre geworden, wenn es keine gliedrigen Schulsystem auseinander, öffneten Wende gegeben hätte? Zum Glück brauche uns für neue Unterrichtsmethoden und woll- ich diese Antwort nicht zu suchen, denn die ten einfach nur alles anders machen. In dieser Wende kam mit dem 9. November 1989 und Zeit besuchte ich viele Seminare für Freinet- am 12.Dezember schickte die Abteilung Volks- Pädagogik, probierte mich selbst darin aus bildung meine Personalakte an die Medi- und war total begeistert von dieser offenen zinische Fachschule, so dass ich ein ordent- Unterrichtsgestaltung. Auch die SchülerInnen liches Beschäftigungsverhältnis als Ange- empfanden Freude am selbständigen Arbei- stellte bekam. Dort arbeitete ich bis 1991 und ten, Erstellen eines Wochenplanes und viel- wechselte dann als Lehrerin an ein Gym- fältigen Projekten. Und ganz besonders faszi- nasium in Saalfeld über, wo ich heute noch nierte mich, dass ich mich als Lehrerin völlig tätig bin. Die politische Wende des Herbstes neu entdeckte. Nicht nur ich war auf- 1989 brachte aber auch noch eine weitere geschlossen für alles Neue, sondern auch die Wende für mich mit sich. SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern. Schule Der Aufbruch in den Westen machte mich machte einfach wieder nur Spaß und es war sehr schnell mit einigen LehrerInnen aus dem ein beiderseitiges Geben und Nehmen. Heute Raum Nürnberg bekannt. Zunächst bestaunte trauere ich teilweise dieser Zeit der Auf- ich die vollen Geschäfte, bewunderte kopflos bruchstimmung nach, da sich nunmehr in den

98 15 Jahren erneut feste Strukturen gebildet ha- es. Wir begriffen, wie schwierig und vieldeutig ben, die zum Teil wiederum zu verkrusten dro- das Juristendeutsch zu verstehen ist und lern- hen. ten zwischen den Zeilen zu lesen. Dazu kam die enorme psychische Belastung der Einzel- Für den Personalrat im Thüringer schicksale der vorliegenden Kündigungen. Kultusministerium kandidiert Oft stritten wir uns innerhalb des Personalrates über die Täterschaft der einzelnen Leh- Als Kreisvorsitzende der GEW war ich natür- rerInnen. lich auch Mitglied des Landesvorstandes der GEW und wurde im Sommer 1991 gefragt, Die Beurteilung der Einzelakten ob ich für den Personalrat im Thüringer Kul- war oft sehr schwer tusministerium kandidieren würde. Ohne zu wissen, was das eigentlich ist und welche Auf- Natürlich kannte jeder von uns das Ministe- gaben da auf mich zukamen, sagte ich zu und rium für Staatssicherheit in der DDR, aber die wurde somit im Dezember 1991 für die erste Erfahrungen mit diesem waren sehr unter- Legislaturperiode gewählt. Und dieser erste Per- schiedlich. Und davon war jedes Personalrats- sonalrat wurde im wahrsten Sinne des Wortes mitglied unterschiedlich geprägt, so dass eine ins Wasser geworfen und gemeinsam versuch- objektive Beurteilung der Einzelakte oft sehr ten wir uns freizuschwimmen. Ein Personalver- schwer war. Da gab es den bewussten IM, der tretungsgesetz gab es natürlich noch nicht, sich freiwillig und stolz mit Unterschrift verpfli- sondern nur Richtlinien. Und viele abgeord- chtete für das MfS zu arbeiten, seine Kolleg- nete Beamte aus dem Westen nutzten un- Innen ausspionierte und fleißig Berichte da- sere Unwissenheit schamlos aus. rüber schrieb, welche Verfehlungen oder staats- Dazu kam, dass eine unserer ersten Auf- feindlichen Äußerungen im Kollegium vorka- gaben darin bestand, im Frühjahr 1992 etwa men. Dafür wurden diese dann prämiert oder 1600 Kündigungen zu bearbeiten von poli- sogar bezahlt. Eine Entscheidung hier zu fäl- tisch untragbaren LehrerInnen. Ich bin mir si- len fiel wohl niemandem sehr schwer. Aber da cher , dass noch kein einziges Personalrats- gab es auch den einfachen Soldaten bei der mitglied irgendeines Ministeriums der Altbun- NVA, der seinen Grundwehrdienst in der Post- desländer jemals eine solche Anzahl von Kün- stube absolvierte und wegen des Postgeheim- digungen vorliegen hatte und wir neu konsti- nisses auch eine Unterschrift leistete. In bei- tuierten Mitglieder des Personalrates des TKM den Fällen lag eine Unterschrift zur Mitarbeit sollten dies in sechs Wochen abarbeiten. Aus im MfS vor, aber war diese Täterschaft wirklich sechs Wochen wurden fünf Monate, in denen gleich zu bewerten? Da blieben heftige Diskus- wir völlig freigestellt waren für diese Tätigkeit, sionen und Streitereien nicht aus, die mich oft und unsere Arbeitszeit nicht selten zwölf Stun- noch bis nach Hause verfolgten. den betrug, dazugerechnet An- und Abfahrts- Ganz schwerwiegend wurde es, wenn man zeiten nach und von Erfurt. die Kündigungsunterlagen von Bekannten Bei Klagen der Überlastung blieben uns oder Kollegen vorgelegt bekam und beim leider auch einige süffisante Bemerkungen Sichten der Materialien aus dem Inhalt heraus von Mitgliedern der Überprüfungskommission die eigene Person erkannte, denn die Namen nicht erspart, die da lauteten Hat Ihr Tag waren ja immer geschwärzt. Fassungslosig- nicht auch 24 Stunden? oder Wenn Sie Ihr keit, Enttäuschung und Misstrauen diesen Per- Pensum nicht schaffen, müssen wir die Listen sonen gegenüber haben sich bis heute nicht der Kündigungen durch Ihre Namen ergän- verloren. Eine Folge der Arbeit aus dieser Zeit zen. Was man damals mit uns machte und ist, dass ich bis heute nicht meine Stasiakte von uns abverlangte, ist aus heutige Sicht beantragt habe, da ich glaube, mit deren nicht mehr vorstellbar. Aber wir mussten das Inhalt nur schwer umgehen zu können. Ich will Schwimmen eben erst lernen und wir lernten es einfach nicht wissen, wer über mich was

99 berichtet hat. Das Wissen aus meiner Tätigkeit einer Emanze und wird nicht nur von Männern als Personalratsmitglied reicht mir aus und hat angefeindet. mich geprägt. Sogar aus den eigenen GEW-Kreisen muss- Der anstrengenden und oft überfordern- te ich Unverständnis und schmerzhafte Be- den Einstiegsphase meiner Personalratsarbeit merkungen hinnehmen. In dieser Funktion setz- folgte eine Normalisierung und Abarbeitung te ich mich auch bei der Behandlung von Per- vielfältiger Personalmaßnahmen, wie Einstel- sonalmaßnahmen als Personalrätin ein und lungen, Abordnungen, Versetzungen und Ver- achtete sehr auf die Einhaltung des Gleich- waltungsvorschriften. Ich arbeitete mich in stellungsgesetzes. Ich glaube auch einiges bei Gesetze ein und bekam dadurch ein völlig den Vertretern des TKM in dieser Hinsicht er- neues Selbstvertrauen, denn ich konnte auf- reicht zu haben, denn zum Ende meiner letz- grund der Gesetzeskenntnisse viele Kolleg- ten Legislaturperiode musste ich nur selten an Innen beraten und Auskunft geben. Mehrfach dessen Einhaltung ermahnen. führte ich Schulungen zum neuen Personal- vertretungsgesetz von Thüringen durch und Dankbar für Erfahrungen aus erntete häufig dafür Anerkennung. Die Arbeit dem Personalrat machte mir Spaß und ich investierte viel Zeit und Engagement, bekam aber auch viel für Meine Tätigkeit als Mitglied des Hauptperso- meine eigene Person zurück, immerhin führte nalrates im TKM führte ich insgesamt zwölf Jah- ich sie auch zwölf Jahre lang durch. re lang aus und bin für diese Erfahrung ein- In dieser Zeit baute ich auch als Mitglied fach nur dankbar, da ich persönlich viel für des Landesverbandes Thüringen der GEW ei- mich gewonnen habe, gute Gesetzeskenntnis- ne Frauengruppe auf, um mich verstärkt für se und ein selbstbewussteres Auftreten. Vor die Gleichstellung der Frauen einzusetzen. Als zwei Jahren entschied ich dann, nicht noch ein- Mitglied des Bundesfrauenausschusses der mal für eine weitere Wahlperiode zu kandidie- GEW lernte ich viele interessante Frauen aus ren, da ich einmal der Meinung war, dass ganz Deutschland kennen und verstand all- neue Mitglieder mit neuen Ideen die Reihen mählich deren jahrelangen großen Einsatz für bereichern sollten, mich aber auch Entwick- Frauenrechte. Davon motiviert versuchte ich lungen innerhalb der GEW enttäuschten und auch die LehrerInnen und ErzieherInnen in Thü- befremdeten. Ich hatte keine Angst nach die- ringen zu überzeugen, dass Frauen in Deutsch- ser langen Zeit wieder ganz als Lehrerin an land noch lange nicht gleichberechtigt sind. meine Schule zurückzukehren, was ich ab dem Schuljahr 2002/03 auch tat. In der Gleichstellung Aber die politische Wende von 1989 brach- stark engagiert te auch noch eine weitere persönliche Wende für mich mit sich. Durch meine aktive gesell- Mit dem Erscheinen des Gleichstellungsge- schaftliche Arbeit in der GEW und im Perso- setzes zog ich wiederum mit Schulungen da- nalrat hatte ich sehr umfangreichen Kontakt zu durchs Land und erläuterte den Vertrau- mit vielen LehrerInnen aus ganz Deutschland ensfrauen deren Rechte und Pflichten. Doch und lernte dabei einen bayerischen Lehrer aus dieser Prozess gestaltete sich schwieriger als dem Raum Nürnberg näher kennen. Da wir angenommen, da die Ostfrauen fälschlicher- beide in einer ähnlich schwierigen Ehesitua- weise immer noch glauben, sie waren schon tion lebten, wurde aus einer anfänglichen immer gleichberechtigt und sind es immer Freundschaft eine Liebesbeziehung, in der wir noch. Die Benachteiligungen in Lohnunter- bis heute sehr glücklich sind. Inzwischen lebe schieden oder Stellenbesetzungen in Funk- ich getrennt von meinem Ehemann, pflege ei- tionsstellen wollen und können Frauen, die in ne Wochenendbeziehung mit einem Wessi , der DDR groß geworden sind, nur schwer nach- was vor 1989 wohl nie denkbar gewesen wä- empfinden. Da gerät man schnell in den Verruf re, und habe mich auch darin als Frau neu

100 entdeckt. Auch heute schätze ich die politi- biert und mein Gang ist zunehmend aufrech- sche Wende als einen positiven gesellschaftli- ter geworden, wobei mir viele Wunder der chen Umbruch ein. Ich bin froh darüber, dass unterschiedlichsten Art geholfen haben. die Zeit der Überwachung vorbei ist, auch Heute bin ich als Lehrerin am Erasmus- wenn ich mit einigen Entwicklungen gerade Reinhold-Gymnasium in Saalfeld tätig und der letzten Zeit nicht zufrieden bin. Aber so wie unterrichte dort die Fächer Deutsch und Semi- es am Ende der DDR in diesem Gesellschafts- narfach. Nach 26 Dienstjahren bin ich immer system zuging, konnte es nicht weitergehen. noch gern Lehrerin, obwohl die Probleme in Die Wende war einfach notwendig, um sich der Schule nach der Wende anders und teil- aus den Fesseln der Gängelei zu befreien. weise schwieriger geworden sind. Aber ich Die Zeit nach der Wende war interessant betrachte sie auch als eine neue Herausfor- und vielschichtig. Sie bot viele Wege, um sich derung, der ich mich gern stellen möchte. In auszuprobieren. Und um mit den Worten von wenigen Tagen werde ich 49 Jahre und ich Reinhold Schneider zu sprechen Der Weg kann bisher auf ein erfülltes Leben zurück- entsteht im Gehen wie durch ein Wunder blicken, wobei die Wende 1989 einen wesent- konnte man nach der Wende viele Wege lichen Beitrag dazu geleistet hat. Sicher hält das auswählen und das Gehen lernen. Ich habe Leben für mich auch noch weitere Wege offen, für mich viele der gebotenen Wege auspro- denen ich mich nicht verschließen werde.

101 Heinrich Kern Wir müssen selber die guten Konzepte haben

ebenso die Orgel zu spielen wie in der dorti- Professor Dr. Ing. habil gen katholischen Kirche und in der Synagoge Heinrich Kern: einer recht großen jüdischen Gemeinde am Im September 1950 in Schwäbisch Ort. Gleichzeitig studierte er Musik in Stuttgart Gmünd geboren, verheiratet, zwei Kinder. und trat dann am Ulmer Theater eine Stelle als Chorrepetitor an. Sein Nachfolger auf diesem In einem musikalisch geprägten Elternhaus aufgewachsen, wandte Posten war übrigens Herbert von Karajan. Ver- sich Heinrich Kern als einziger wundet im Zweiten Weltkrieg landete der Va- unter vier Geschwistern der Technik ter Professor Kerns schließlich im Lazarett in zu. Dem Studium des Maschinenbaus und der Informatik in Karlsruhe Schwäbisch Gmünd, wo er dann über sein folgte die Promotion in Dortmund Orgelspiel zunächst den künftigen Schwieger- sowie Arbeit in den Bereichen vater und dann seine Ehefrau kennen lernte. Werkstoffe, Schweißtechnik, Verbund- werkstoffe. Es folgten Aufbautätig- Die Heirat war 1947. keiten in der Industrie in Dortmund und Frankfurt/O. 1996 zum Profes- Die Fähigkeit zur Toleranz mit sor für Werkstofftechnik an die TU auf den Weg gegeben Ilmenau berufen, wurde er Prorek- tor und 2000 bis 2004 zum Rektor der TU Ilmenau gewählt. „Meine Eltern gaben mir die Fähigkeit zur To- leranz mit auf den Weg. Eine Eigenschaft, die ich heute sehr häufig bei vielen Zeitgenossen Das Gespräch führte vermisse. Außerdem legten sie Wert darauf, Dr. Juliane Rauprich dass wir uns eine eigene Meinung bildeten und die auch dann vertraten, wenn es unbe- Heinrich Kern kam als drittes von vier Ge- quem werden sollte. Meine drei Geschwister schwisterkindern am 22. September 1950 in und ich waren jedes für sich ausgeprägte In- Schwäbisch Gmünd zur Welt. Er ist verheiratet dividualisten. Das, gepaart mit der wechsel- und hat zwei Töchter im Alter von 14 und 15 seitigen Toleranz, haben die Eltern auch ge- Jahren. fördert bei uns Kindern. Ich war der einzige, Das Elternhaus des Werkstoffwissenschaft- der sich beruflich der Technik zuwandte. Die lers war ausgesprochen musikalisch geprägt: Berufe meiner Geschwister blieben der Musik Der Vater (Jahrgang 1906) war Professor für verbunden. Meine große und meine jüngere Komposition und Musikdidaktik; der Groß- Schwester wurden Musiklehrerinnen, mein gro- vater mütterlicherseits wirkte als Oberlehrer ßer Bruder hat ein Musikgeschäft. Ich war und Dirigent am Münster in Schwäbisch schon sehr früh an der Technikinteressiert. Mei- Gmünd. Heinrich Kerns Vater kam aus einfa- ne Eltern haben mich da wirklich bestärkt in chen Verhältnissen, ging mit 13 Jahren zum dieser Neigung. Aber natürlich hatte ich Kla- Lehrerseminar mit starker musikalischer Aus- vierunterricht, spiele heute noch gelegentlich. richtung, bekam Mitte der 1920er Jahre keine Früher habe ich öfter a cappella gesungen.“ Stelle in seinem Beruf, wandte sich dann gen Das Abitur legte Heinrich Kern 1969 in Ulm, um hier im evangelischen Münster Schwäbisch Gmünd ab. Wenn heute mitunter

102 heftig über das Kurssystem und das mögliche Abwählen von Fächern diskutiert wird, lächelt Professor Kern etwas sarkastisch und zählt seine Abiturfächer im mathematisch-natur- wissenschaftlichen Zweig mit zwei Fremd- sprachen auf: Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Französisch, Deutsch. Nach dem Abitur diente er 18 Monate bei der Bundeswehr. Dort bekam er eine Aus- bildung als Feuerleitoffizier, wo die Koordina- ten bei Beschüssen berechnet werden muss- ten. Der Grund, warum er sich eine solche anspruchsvolle Ausbildung suchte: „Wenn ich Universität Karlsruhe allgemeinen Maschi- schon einmal bei der Bundeswehr bin, dann nenbau und flankierend noch Informatik stu- will ich die Zeit nicht nutzlos vertrödeln.“ diert. Ab September 1977 war er dann For- Aus der Klassenfahrt in schungs- und Hochschulassistent an der Uni- die DDR wurde nichts versität Dortmund in den Bereichen Werkstof- fe, Schweißtechnik, Oberflächentechnik und Verwandte oder Bekannte in der DDR hatte Verbundwerkstoffe. Im Frühjahr 1983 promo- die Familie nicht. Ein erster Beinahe-Kontakt vierte er mit einer Arbeit zum Tragverhalten sollte auf Initiative des 16jährigen Heinrich von Punktschweißverbindungen unter schwin- Kern in der Oberstufe der Schule entstehen. gender Belastung zum „Dr.-Ing.“. Damals habe eine Fahrt nach Westberlin, Die nachfolgende Zeit sieht den jungen staatlicherseits gefördert, zum Unterricht ge- Akademiker maßgeblich bei der Einrichtung hört. Die Grenze, die Mauer als Unterrichts- und beim Aufbau eines Sonderforschungsbe- bzw. Sightseeing-Objekt, je nachdem, wie reiches über metall-keramische und kerami- man es denn sehen wollte. „Ich dachte mir, sche Verbundwerkstoffe an der Universität dass das Käse ist. Berlin können wir schließlich Dortmund beschäftigt – er wird Geschäftsfüh- immer sehen. Lasst uns lieber eine Klassen- rer und wissenschaftlicher Teilprojektleiter. fahrt in die DDR machen. Mit jugendlicher Naivität versuchte ich, das zu organisieren, Aufbau eines Unternehmens der schrieb das Reisebüro der DDR in Ostberlin Schweiß- und Oberflächentechnik an. Es dauerte einige Wochen, bis eine Ant- wort kam: Man bedauerte die Absage, aber Dass Einbahnstraßen bei der beruflichen Pro- ein Besuch von uns sei zur Zeit nicht möglich. filierung Heinrich Kerns Sache nicht sind, wird Da habe ich mich sehr geärgert über diese relativ schnell deutlich. Nach drei Jahren Vollidioten! Da wollten wir jungen Leute uns wechselt Dr.-Ing. Kern in die Industrie, wo er schon selbst ein Bild vom anderen deutschen wiederum an entscheidender Stelle am Auf- Staat machen und die lehnen das mit faden- bau eines technologieorientierten Unterneh- scheinigen Worten ab. Danach hatte mein mens der Schweiß- und Oberflächentechnik DDR-Bild mächtig gelitten, die haben sich im Technologiezentrum Dortmund zu finden selbst eine Image-Chance vergeben.“ Auf die ist. Diese Jahre im Ruhrgebiet haben ihn maß- Idee sei er überhaupt gekommen, weil die geblich geprägt. Dort musste es Mitte der Prägung des Elternhauses, sich immer selbst 1980er Jahre zu einem tief greifenden Struk- ein Bild zu machen, sehr stark gewesen wäre. turwandel kommen. Dortmund, so erinnert Und natürlich habe auch die jugendliche Neu- sich Professor Kern noch heute, habe damals gier und Unbefangenheit eine Rolle gespielt. in der Spitze eine Arbeitslosigkeit von über 20 Heinrich Kern hat später an der Technischen Prozent gehabt. Die durchschnittliche Arbeits-

103 losigkeit im Ruhrgebiet habe bei etwa 13 ich viel auch wieder für die Forschung ge- Prozent gelegen: „Das Ruhrgebiet war damals lernt.“ Zwei Prinzipien für seine Arbeit hat hinsichtlich der Höhe der Arbeitslosigkeit durch- Heinrich Kern aus diesen Jahren mitgenom- aus mit den neuen Bundesländern heute ver- men: „Wir haben regelmäßig von uns aus die gleichbar. Allerdings war in jener Zeit noch Bedürfnisse der Wirtschaft erfragt. Und wir ha- mehr Geld vorhanden. Aber weil ich solche ben immer gefragt, was es Neues in der For- Dinge nun wirklich kenne, werde ich schon schung gibt, was man davon in die industrielle ärgerlich, wenn heute so getan wird, als gäbe Praxis überführen kann.“ es das Problem der hohen Arbeitslosigkeit nur Es waren dann auch in erster Linie die hier, als hätten die ‚Wessis’ das Land platt ge- fachlichen Dinge, die ihn in die neuen Bun- macht. Natürlich ist diese hohe Arbeitslosig- desländer geführt haben. Im September 1992 keit schrecklich! Aber sie ist kein einmaliges, bat ihn ein guter Freund aus Dortmunder Ta- nur auf den Osten bezogenes Problem. Es gen um Hilfe. Der war mit seinen Ruhrgebiets- wird häufig so getan, als könnten nur die Erfahrungen schon im Herbst 1989 in einem Menschen im Osten verstehen, was hier im Technologiezentrum in Dresden tätig gewe- Osten los ist. Aber das können die Menschen sen, hatte es mit aufgebaut. , aus dem Ruhrgebiet zum Beispiel auch sehr früher u. a. an der Universität Bochum tätig, gut nachfühlen.“ Hier konstatiert Heinrich lehrte schon vor der Wende an der Universität Kern schon eine gewisse Selbstgefälligkeit: Leipzig. So kamen bewährte Kontakte erneut „Es wird sich nicht umgeschaut, was woan- zum Tragen. Heinrich Kerns Freund war 1991 ders geschieht oder geschehen ist. Nicht nur zur Treuhand Liegenschaftsgesellschaft (TLG) die ‚Wessis’ wissen wenig vom Osten, das gewechselt und rief ihn nun an: Wir haben da kann man mitunter auch umgekehrt so erle- einen Standort in Frankfurt/Oder mit großen ben.“ Problemen, schau’ ihn dir bitte mal an. 8000 Den November 1989 verknüpft Kern auf Beschäftigte mit Kurzarbeit Null, ein Ge- dem fachlichen Sektor seines Lebens zunächst schäftsführer, der von der wütenden Beleg- mit der Habilitation und der Erteilung der schaft nicht mehr in den Betrieb gelassen wur- venia legendi [der Lehrbefähigung und der de... Lehrbefugnis; J.R.] für das Fach Werkstoffe und Werkstoffinformationstechnik. Er wirkte in Erfahrungen aus dem Ruhrgebiet jener Zeit als Oberingenieur am Lehrstuhl für nach Frankfurt/Oder bringen Werkstofftechnologie der Universität Dort- mund. „In Dortmund stand damals die Frage, Kern tat nach einigem Überreden dem Freund was aus den früheren Standbeinen Kohle, diesen Gefallen und wollte eigentlich stehen- Stahl und Bier werden könnte, was an deren den Fußes wieder zurück. Frankfurt/ Oder war Stelle treten sollte. der größte Standort des DDR Halbleiter- kombinates, zu dem noch Standorte in Erfurt, Der Bogen vom Stahl zur Dresden und Neuhaus gehörten. Es ging um Schweiß- und Oberflächentechnik die Privatisierung des Frankfurter Werkes und um die Ansiedlung neuer Unternehmen am Wir haben uns gesagt, dass Stahl als Werk- Standort. Heinrich Kern: „Ich sagte zu meinem stoff immer wichtig wäre. Man würde ihn vere- Freund damals, als er mir diese Aufgabe deln müssen, mit anderen Komponenten zu- antragen wollte, dass er einen Vogel hat, dass sammen setzen. So wurde dann der Bogen zur ich sofort zurück will. Aber dann habe ich Schweißtechnik, zur Veredelung von Oberflä- mich ja doch überreden lassen, habe über- chen, zum Verschleißschutz geschlagen. Um nachtet, mit den Leuten dort geredet. Trotz- diesen Komplex herum bauten wir ein eigenes dem sagte ich meinem Freund am nächsten Unternehmen auf, das als Consulting-Firma Abend, dass er irre sei und ich das nie im für die Wirtschaft auftrat. Da haben wir, habe Leben machen würde. 14 Tage später habe

104 ich meinen Arbeitsvertrag als Geschäftsführer schen Vorgaben und bezieht sich dabei auch unterschrieben.“ Warum?! Natürlich sei es auf den 1991 ermordeten Treuhandchef Det- auch der Reiz gewesen, etwas Neues auszu- lev Karsten Rohwedder, der als Vorstand von probieren. „Ich wollte schon meine Erfah- HOESCH ein riesiges Stahlunternehmen zwar rungen aus dem Ruhrgebiet einbringen, woll- mit tiefen Einschnitten aber letztlich erfolg- te schauen, wie man hier in Frankfurt/Oder reich umstrukturiert hatte: „Rohwedder hatte wieder Arbeit an den Standort bringen kann.“ gesagt, dass das, was mittels der Treuhand Bald habe es Probleme zwischen Treu- gemacht wird in den neuen Bundesländern, hand, Treuhand Liegenschaftsgesellschaft dasselbe ist, was früher in der gesamten DDR und der Stadt gegeben. Die Halbleiterleute geschehen ist und nicht funktioniert hat: Es hätten sich in der DDR immer gleich direkt an wird am grünen Tisch weitab vom wirklichen Partei und Regierung gewandt, wenn sie etwas Geschehen entschieden. Rohwedder aber hätten haben wollen. Die Stadt wäre da im- wollte die Stärkung und die Autonomie der mer außen vor geblieben. „Übrigens“, erin- Unternehmen vor Ort. Und obwohl diese In- nert sich Heinrich Kern, „haben wir damals tension Rohwedders, die ich teilte, in Frankfurt noch den riesigen Abhörbunker der Stasi auf noch relativ gut umgesetzt worden ist, muss- dem Werksgelände gefunden, die direkte Te- ten doch bei der Privatisierung 613 Beschäf- lefonleitung von Mielke nach Moskau. Die tigte übernommen werden. Die Lohnkosten konnten alles abhören...“ Gewissermaßen als waren so von Anfang an viel zu hoch. Damals Folge dieser alten Befindlichkeiten konnte der übrigens kostete die Schaffung eines neuen Geschäftsführer Kern den Oberbürgermeister Arbeitsplatzes eine Millionen DM. Heute ko- nicht davon abbringen, ein eigenes Gewer- stet sie 1,5 Millionen Euro.“ Um so höher ist begebiet zu erschließen und vorzuhalten. Eine zu bewerten, dass damals in Frankfurt/Oder Kooperation und Abstimmung mit dem Halb- trotzdem etwa 3000 Arbeitsplätze erhalten leiterwerk hinsichtlich eines gemeinsamen Ge- wurden bei 80 bis 90 angesiedelten Firmen. werbegebietes sei nicht zustande gekommen. „Als ich dann später von Frankfurt/Oder weg Von Dortmund über Frankfurt/Oder nach Ilmenau ging, da habe ich dem OB an die Ilmenauer Universität noch den Rat gegeben, er möge zusehen, dass seine Stadt nicht das Armenhaus von Die Familie Heinrich Kerns war damals noch Deutschland wird.“ in Dortmund geblieben, da er seinen Job in Frankfurt/Oder von Anfang an als zeitlich be- Das Zonenrandgebiet 200 Kilometer grenzt angesehen hat. Seine Ehefrau übrigens nach Osten verschoben hatte früher im Wirtschaftsministerium in Düsseldorf gearbeitet, in der Abteilung für Eigentlich sei das damals vergleichbar dem Technologieförderung, Strukturwandel und alten Zonenrandgebiet gewesen: riesige För- Industrieansiedlung. Fachdispute im Fami- derungen und Subventionen – keine Wirt- lienkreis dürften garantiert gewesen sein. schaft: „Das Zonenrandgebiet ist nur 200 Ki- Im Wintersemester 1995/96 kam Heinrich lometer nach Osten verschoben worden. Es Kern im Rahmen einer Vertretungsprofessur war Quatsch zu glauben, Frankfurt/Oder sei an die Technische Universität Ilmenau. Zu der das Tor nach Osteuropa. Wer wirklich was ma- Zeit gab es hier Gesprächskreise zur Ge- chen will, der geht zehn Kilometer weiter nach staltung einer „Technologie-Region“. „Ich ha- Polen, da ist es billiger.“ be immer gesagt, erfindet das Rad nicht neu, Indem Heinrich Kern auf diese Jahre zu- guckt euch um, was anderswo schon mit Er- rück blickt, konstatiert er im Grunde genom- folg gemacht wurde, nutzt solche Erfahrun- men ein Scheitern bei der Privatisierung des gen. Uns läuft hier die Zeit weg. Ich denke so- Kerngeschäftes des Halbleiterwerkes. Die Ur- wieso, dass es keinen besonderen Wert hat, sache sieht er im Wesentlichen in den politi- ewig in großen Runden zu diskutieren – ma-

105 chen! Warten darauf, dass uns jemand hilft, über Menschen aus der DDR taten. Das war das bringt gar nichts. Wir müssen selber die nicht nur das Westgeld, das waren auch die guten Konzepte haben.“ Einen Strukturwan- Nachwehen von 1968.“ del habe es für ihn nun schon drei Mal in sei- Ganz lebhaft steht ihm dann vor Augen, nem Berufsleben gegeben: im Ruhrgebiet, in wie Otto von Habsburg von der ungarischen Frankfurt/Oder, in Ilmenau. Dorthin erhielt Seite aus auf die Grenzer dort zuging, die ihn Heinrich Kern im Juni 1996 einen Ruf als Uni- mit „königliche Hoheit“ gegrüßt haben: „Das versitätsprofessor für Werkstofftechnik. Im Feb- war eine Zeit, die eigentlich irreal war. Ich ha- ruar 1997 wurde er Prorektor für Bildung, im be damals keine Pfifferling dafür gegeben, März 1997 Direktor des Instituts für Werk- dass die DDR die Flüchtlinge aus den Bot- stofftechnik. Von 2000 bis 2004 war er Rektor schaften wirklich über ihr Territorium ausrei- der Ilmenauer Technischen Universität. Hein- sen lässt...“ rich Kern ist in einer Vielzahl nationaler und Wie die Vereinigung dann über die Bühne internationaler wissenschaftlicher und wissen- gegangen ist? „Ich muss ganz ehrlich geste- schaftspolitischer Gremien präsent. hen, dass ich mich bis dahin nie intensiv damit befasst hatte, ob es zwei getrennte deutsche Kaum einer hat geglaubt, dass die Staaten oder ein vereinigter deutscher Staat Wiedervereinigung Ernst wird sein sollte. Im Innersten habe ich schon auf die Wiedervereinigung gehofft – zugleich Wenn er sich an das Datum Herbst/Winter aber war mir klar, dass genau das ein irrealer 1989 in rein politischer Hinsicht erinnert, Wunsch war. Es waren nun eben zwei Staaten, dann sagt er freimütig, dass es ihn so richtig die getrennt waren.“ gar nicht berührt habe. „Der 17. Juni, dieser Als dann relativ frühzeitig die Nörgelei ein- Tag wurde ja immer zelebriert in der alten gesetzt habe, dass zu viel Geld von West nach Bundesrepublik. Es gab wohlfeile Sonntags- Ost fließen würde, da hätte er gesagt: „Man reden – das war’s dann auch schon. Vielen in kann nicht 40 Jahre davon reden, dass es ei- den alten Ländern war das eigentlich egal, gentlich ein Staat ist und dann, wenn es wirk- was in der DDR geschah, weil die wirtschaftli- lich dazu kommt, dann soll es am Geld schei- che Situation Ende der 1980er Jahre dort tern?!“ Irgendwie ist es auch dieser morali- auch nicht so rosig war. Die Wiedervereini- sche Anspruch an sich selbst gewesen, der ihn gung als Staatsziel? Kaum jemand hat ge- nach Frankfurt/Oder habe gehen lassen. glaubt, dass das Ernst werden könnte. Klar, bei Besuchsreisen in die DDR hat man sich Vier Kategorien von Personen sind aufgeregt über die Schikanen. Und natürlich von West nach Ost gegangen habe ich zum Beispiel auch gehofft, dass die Demos in der DDR nicht so enden wie 1968 in Professor Kern sieht vorrangig vier Katego- Prag. 1968 war für mich schon immer Prag, rien von Personen, die von West nach Ost ge- nicht so sehr die Studentenunruhen in Frank- gangen sind: reich und bei uns.“ 1. die Idealisten, aber: „Idealismus allein Heinrich Kern ist 1984 mit dem Ostblock reicht nicht.“ in Kontakt gekommen, als er als Wissen- 2. Leute, die etwas hätten bewegen wollen. schaftler für zwei Monate in der Volksrepublik „Das allein reicht auch nicht. Da müssen China war in einem Austauschprogramm. die entsprechende Qualifikation, die Vorher, Anfang der 1980er Jahre, war er Fähigkeiten und der Durchsetzungswillen allerdings auf wissenschaftlichen Tagungen in dazu kommen.“ Prag, Stara Lesna und Poprad: „Da habe ich 3. Glücksritter und die Herzlichkeit gemerkt, mit der die Tsche- 4. Behördenangestellte, die den Marschbe chen uns gegenüber getreten sind. Und die fehl „go east!“ erhalten hätten. distanzierte Art, die Kühle, wie sie das gegen- „Die Besten...?!“

106 Das, was auch 14 Jahre später noch geht, weis, dass der andere nicht Recht hat.“ Wobei noch gehen muss, das formuliert Heinrich es für ihn beim Herbeiführen eines Konsenses Kern so: „Eine Sache vorurteilsfrei angehen – nicht darum gehen sollte, so lange über eine die Aufgabe klar definieren – sie dann ge- Sache zu reden, bis nichts mehr von der meinsam lösen – die besten Leute für die Lö- Substanz da ist. „Es kann nicht unsere Auf- sung nehmen – gucken, wie andere es ge- gabe sein, alle Entscheidungen so zu treffen, macht haben. Mit diesem Glauben, dass wir dass sie keinem weh tun. Unter dem Strich auch nach einer Reihe von Fehlern noch der- muss Ausgewogenheit sein, in der Summe art die Probleme meistern können, da bin ich darf keiner überfordert werden.“ gerne Idealist!“ Am Schluss seines Nachdenkens über Was bedauert Professor Kern rückblickend diese aufregende Zeit und über die gegen- hinsichtlich der deutschen Vereinigung? wärtigen Probleme im vereinten Deutschland „Dass es uns immer noch nicht gelungen ist, zitiert Professor Kern John F. Kennedy mit uns gemeinsam auf die wesentlichen The- seinem berühmten Wort „Frage nicht, was menfelder zu konzentrieren. Dass die Partiku- dein Land für dich tun kann. Frage, was du für larinteressen immer mehr zunehmen. Wir sind dein Land tun kannst.“ Heinrich Kern ergänzt alle zusammen unheimlich gut beim Nach- ihn: „Und tue es gefälligst!“

Professor Heinrich Kern (l.) 1992 als Geschäftsführer des Halbleiterwerke in Frankfurt/Oder, zusammen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe.

107 Dr. Birgit Klaubert Weltanschauung kommt eben doch von anschauen

dung. Ich bin ein Einzelkind. In der Kleinstadt Dr. Birgit Klaubert: Markneukirchen im oberen Vogtland aufge- Geboren am 28. September 1954 in wachsen, habe ich dort meine Wurzeln und Schöneck im Vogtland.Wollte schon Prägungen. als Kind Lehrerin werden und rea- lisierte später diesen Berufs- Eigentlich kannte dort jeder jeden. Meinen wunsch. Vater kannten alle. Er war gesellschaftlich ak- Nach Schule und Abitur studierte tiv, Mitglied der SED, ein guter Redner und Birgit Klaubert an der Karl-Marx- aufgrund einer langen Erkrankung meiner Mut- Universität Leipzig. Sie schloss das Studium mit einem Diplom als ter über mehrere Jahre allein erziehend. Eine Lehrerin für Geschichte und Deutsch ganze Reihe von Verwandten, Freunden und ab. Es folgte eine Aspirantur an der Bekannten kümmerten sich um mich. Oft war Pädagogischen Hochschule Leipzig ich im katholischen Elternhaus meiner besten mit der Promotion zum Dr. phil. Sie arbeitete schließlich als Lehrerin Freundin zu Gast. Die Art des Umgangs mit- in Altenburg und in der Lehrer- einander war herzlich und ohne Bevormun- fortbildung. Seit 1994 ist Dr. dung mir gegenüber. Neben der Schule gin- Birgit Klaubert für die PDS im Thüringer Landtag. Im Oktober 1999 gen viele Kinder aus meinem Jahrgang zur wurde sie Vizepräsidentin des Thü- Christenlehre in die evangelische Kirche. Neu- ringer Landtages. gierig beschloss ich, dort vorbeizuschauen, bleiben wollte ich nicht. Aus den unterschied- Schon als ich klein war, wollte ich Lehrerin lichen Einflüssen entstanden zu Hause keine werden oder Professorin, aber mit langen Konflikte. Ich fand alles bereichernd und wuchs Haaren und ohne Brille. Ich bin gern zur mit der Überzeugung auf, dass die DDR genau Schule gegangen. Besonders aufregend war die Heimat ist, die ich mir wünschte. der Zeitpunkt, zu dem ich die neuen Schul- bücher in die Hand bekommen habe. Die Entscheidung für das Kind und größte Faszination vor jedem Schuljahres- Bewerbung zum Studium beginn übte das neue Lesebuch aus. Ich be- gann die Geschichten zu lesen, betrachtete In der 8. Klasse entschied ich mich, an der Er- die Bilder und nahm dann die anderen Bücher weiterten Oberschule in Klingenthal weiterzu- in Besitz. Schule war der Ort, an dem ein gro- lernen. Da meine Mutter aufgrund ihrer Er- ßer Teil meiner Freizeit stattfand. Ich sang im krankung nicht berufstätig war, hatte ich gro- Chor und in der Mundartgruppe, ging ab- ße Bedenken, ob dieser Bildungsweg finan- wechselnd zum Turnen und zur Leichtathletik, ziell durchzustehen sei. Meine Eltern ermun- schrieb für die Wandzeitung oder die Pio- terten mich zu diesem Schritt. In der zwölften nierzeitschrift Trommel . Einmal in der Wo- Klasse wurde ich schwanger, kurz zuvor war che ging ich zur Musikschule. Gitarre spielen die gesetzliche Möglichkeit des Schwanger- wollte ich lernen, wurde aber auf Mandoline schaftsabbruchs eingeführt worden. Ich ent- umgelenkt. Begeistert war ich darüber nicht, schied mich für mein Kind, wollte im Zwei- doch Musikschule gehörte nach dem Ver- felsfall arbeiten gehen und bewarb mich trotz- ständnis meiner Familie zur Allgemeinbil- dem für ein Studium. Meine Schwiegermutter

108 mischte sich ein. Als gelernte Kindergärtnerin bot sie ihre Hilfe an. Sie organisierte die Hoch- zeit und freute sich auf ihr erstes Enkelkind. Eine Woche nach der Zeugnisausgabe heira- teten mein Mann und ich, unsere Ehe hält bis heute. Auf dem Abiturzeugnis hatte ich sehr gute Noten. Man empfahl mir Medizin oder Jura zu studieren, ich wollte jedoch Lehrerin werden Lehrerin für Geschichte und Deutsch. Zum Studienbeginn an der Karl-Marx-Uni- versität in Leipzig war ich im achten Monat schwanger, verheiratet und gerade 19 gewor- die schönen Ideale vom Lehrer, der wissbegie- den. Vor den Weltfestspielen 1973 hatte ich rige Schüler vor sich hat, deren Streiche kennt um Aufnahme in die SED gebeten und war und diese gekonnt pariert, scheiterten zu- inzwischen Kandidatin dieser Partei. Da ich der nächst völlig. Ich machte nahezu alle Fehler, Herkunft nach nicht aus einer Arbeiterfamilie die ein Anfänger machen kann. Sprechen Sie stammte, fand ich es als Auszeichnung, Mit- viel mit den Eltern, der Eintrag ins Tagebuch glied dieser Partei zu sein. Nur so könne man nützt kaum etwas, riet mir eine alte Kollegin, die Welt verändern und diese auf längere Frist die ihre Ausbildung noch in der Weimarer von Ausbeutung und Kriegen befreien. Die Republik absolviert hatte. Insbesondere im DDR war mein Heimatland, hier gab es zwar Geschichts- und Literaturunterricht gelang es, Kritikwürdiges, doch das sei alles veränderbar das Eis zu brechen. Stück für Stück merkte ich, und ich wollte diese Veränderung mit voran- dass ich doch den richtigen Beruf gewählt treiben. Nach meiner Vorstellung brauchte es hatte. nur Mut und geeignete Partner und die Welt Kurze Zeit später wurde die Abteilung Volks- würde besser werden. bildung auf mich aufmerksam. Ich war eine Das Studium für eine junge Frau mit Kind junge Mutter mit festem Klassenstandpunkt, war nicht einfach. Nach einem Jahr bei der engagiert und ohne Westverwandtschaft. Man Oma holten wir unsere Tochter in eine end- fragte mich, wie ich mir meine Kaderper- lich zugewiesene Wohnung nach Altenburg. spektive vorstellte. Etwas hilflos saß ich vor Mein Mann hatte inzwischen Arbeit als Geo- dem damaligen Kreisschulrat. Ich war 24 Jah- loge in Gaschwitz gefunden. Frühzeitig am re alt und zum zweiten Mal schwanger. Ich Morgen fuhren unsere Züge von Altenburg wollte zunächst das Babyjahr genießen und nach Leipzig. Vorher musste unsere Tochter in Zeit für meine Kinder haben. die Krippe gebracht und der Tagesablauf so Dann ergab sich die Möglichkeit, am In- besprochen werden, dass am Nachmittag un- stitut für Lehrerbildung in Altenburg im Fach ser Kind nicht allein war. Oftmals kamen die Marxistisch-leninistisches Grundlagenstu- Großeltern aus dem Vogtland angereist und dium zu arbeiten. Ich sagte zu und sollte mich halfen. Trotzdem war die Zeit immer knapp. qualifizieren. Ich meinte etwas leichtfertig, nun wolle ich eine Doktorarbeit schreiben. Die Aus- Der Anfang als Lehrerin war wahl der Themen war begrenzt. An der Päda- bestürzend gogischen Hochschule Clara Zetkin in Leip- zig gab es mehrere Angebote zur Frauenfor- 1977 schloss ich mein Studium in Leipzig ab, schung. Ich wählte eines der Themen aus und die Diplomarbeit hatte ich im Fach Psycholo- wechselte für drei Jahre Forschungsarbeit nach gie geschrieben. Mit dem Schuljahr 1977 /78 Leipzig. begann ich als Lehrerin für Geschichte und Zunehmend wurde über Erstarrungen des Deutsch an der Altenburger Reichenbach- Sozialismus gesprochen. Ich kehrte von Leip- Oberschule. Der Anfang war bestürzend. All zig nach Altenburg zurück und bemerkte die

109 Unterschiede in der Diskussion. Im Freundes- Wir lernten mit den Studenten und konzipier- kreis wurden Bücher ausgeliehen, die es im ten fast selbstherrlich Fächer und Lehrpläne. Buchhandel der DDR nicht gab. Fast jeder Am Wochenende fuhren wir zu Weiterbildun- wusste, wem er welches Buch ausleihen kann gen und plünderten die Materialbestände der und wem nicht. Die offizielle Parteilinie igno- Landeszentralen für politische Bildung. rierte die Probleme im Land. Das Erreichte sei zwar nicht das Erreichbare, aber das System Mit Freunden die SED auflösen und sei in Ordnung, hieß es von offizieller Seite. eine neue linke Partei gründen Erich Honecker wurde mit großen Ehren in der Bundesrepublik empfangen. Zu dieser Zeit wollte ich mit Freunden die SED Ich wurde zur Fachgruppenleiterin im Marx- auflösen und gleichzeitig eine neue linke Par- istisch-leninistischen Grundlagenstudium be- tei gründen. Die ostdeutschen Sozialdemo- rufen. Die eigentlich sorgsam ausgewählten kraten hatten schon den Stab über solche wie Studentinnen und Studenten stellten immer of- mich gebrochen. Wer in der SED war, hatte fener kritische Fragen. Wir behandelten in Un- Flecken auf der weißen Weste. Für meine po- terricht Gorbatschow, die Parteioberen lehn- litische Zukunft schied der Weg dorthin aus. ten jede Veränderungsnotwendigkeit ab. Ir- Die SED wurde nicht aufgelöst. Ein Bundes- gendwann diskutierten wir, dass der Sozia- parteitag beschloss, die Verantwortung für die lismus in der DDR mit der niedrigen Arbeits- Vergangenheit zu übernehmen und den Weg produktivität nicht weiter existieren kann. Ir- zur PDS einzuschlagen. Im Kopf konnte ich gendwann waren in der Innenstadt von Alten- das verstehen, mein Bauchgefühl war anders. burg die Häuser schneller unbewohnbar, als Ich hatte erhebliche Zweifel, ob eine Verände- auf der grünen Wiese die Plattenbauten nach- rung der SED auf diesem Wege möglich sei. wuchsen. Irgendwann gab ich einem Bekann- Als dann allerdings die Parteibücher in Mas- ten am Telefon die Auskunft, dass er aufgrund sen auf den Tisch geworfen wurden und keiner der Gesetzgebung der DDR vom Beginn der mehr schuld sein wollte, entschloss ich mich, siebziger Jahre das Recht auf Ausreise habe. in der PDS mitzumachen. Zunehmend wurde die Unzufriedenheit spür- 1990 wurde ich als Kandidatin für den bar, nur die Lösung wurde nicht deutlich. ersten Nachwendestadtrat in Altenburg aufge- Noch meinte ich, das System ließe sich durch stellt. Ein bisschen unbedarft stürzte ich mich in das Auswechseln der Spitzenpolitiker verän- den Wahlkampf und wurde gewählt. Irgend- dern und wenn jüngere und klügere Genos- jemand brachte den Vorschlag, mich zur sen an die Macht kämen, gäbe es die DDR- FraktionsvorsitzendenderPDS-Fraktion zu wäh- Perestroika. Ich hielt fest an meiner Überzeu- len. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht gung von einem besseren Sozialismus auf einmal, dass es so etwas auf kommunaler dem Boden der DDR. Der Irrtum war gründ- Ebene gibt. Zur konstituierenden Sitzung des lich. Stadtrates wurde der Bürgermeister gewählt. Die Wende fühlte sich für mich an wie ein Alle außer der PDS hatten sich in einer Art frischer Wind. Politisch hoch sensibilisiert und Großer Koalition verständigt und saßen mit interessiert war ich froh über den Leipziger Auf- Blumensträußen im Rathaussaal. Erst jetzt fiel ruf nach Gewaltlosigkeit. So stellte ich mir Ver- bei mir der Groschen. Ich ließ ganz schnell änderung vor: von vielen Menschen getra- einen Strauß Blumen besorgen und stand zu- gen, klug, ohne Gewalt und selbstbewusst. fällig als eine der ersten vor dem neu ge- Nun galt es die Ärmel hochzukrempeln und wählten Bürgermeister. Ich gratulierte und bot eigene Vorstellungen umzusetzen. Das Marx- die Zusammenarbeit von Seiten der PDS an. istisch-leninistische Grundlagenstudium an In der Folge mussten wir viel lernen. Im neuen meiner Einrichtung wurde u.a. durch Politik, Stadtrat saßen nahezu ausschließlich kom- Soziologie, Religionsgeschichte, Ethik ersetzt. munalpolitische Azubis . Wir schrieben die

110 ersten Anträge und bekamen dafür sogar diese Vorstellung war wohl zu naiv und fand Zustimmung. keine Mehrheit. Die Art, wie mit dem Thema Vor der Tür wurden die Warenbestände Staatssicherheit umgegangen wurde, führte der DDR verscherbelt. Alles was es früher im nicht zur breiten Aufklärung über das System. Intershop gab, wurde als hochwertiger ange- sehen als das, was hierzulande produziert Kandidatur für den Thüringer wurde. Das frühere Institut für Lehrerbildung Landtag 1994 sollte erst abgewickelt werden, dann wur- den wir zur Fachschule für Sozialpädagogik. 1994 fanden die Wahlen zum zweiten Thü- Wir bildeten Erzieher aus und mussten sämt- ringer Landtag statt. In der Altenburger PDS liche Abläufe der Ausbildung umstellen. Ich griff die Auffassung um sich, ich solle für die- war 1990 zur stellvertretenden Schulleiterin sen kandidieren. Ich sagte zu und reiste mit gewählt worden und für die Umgestaltung in Familie und Freunden nach Griechenland. direkter Verantwortung. Mit der Neuorgani- Während dieser Zeit fand der Parteitag zur sation der Thüringer Bildungslandschaft wur- Aufstellung der Landesliste statt. Als ich zurück- den Schulleiterwahlen wieder abgeschafft. Als kam, hatte man mich auf Platz 16 gewählt. die Stelle später ausgeschrieben wurde, be- Das Schuljahr 1994/95 begann für mich warb ich mich erfolglos. Ich wurde Abtei- an zwei Schulen. Neben dem Unterricht an lungsleiterin für die berufspraktische Ausbil- der Fachschule für Sozialpädagogik über- dung. nahm ich Sozialkundeunterricht an der Kauf- Die PDS warb für einen dritten Weg zwi- männischen Berufsschule in Altenburg. Nach schen Kapitalismus und Sozialismus und ver- den Herbstferien war mein Lehrerdasein zu En- weigerte sich dem raschen Beitritt zur alten de. Die PDS hatte mit einem bedeutenden Bundesrepublik. Ihre Stimme war nicht viel Stimmenzuwachs 17 Landtagsmandate er- wert. Ein Finanzskandal erschütterte die PDS. rungen. Ich wurde zur hauptberuflichen Politi- Wieder verließen uns Mitstreiter, nun zum Teil kerin. mit Tränen. In der PDS zu sein, bedeutete in- Meine große Tochter war 21 Jahre alt, Stu- zwischen auch ein berufliches Risiko. Offiziell dentin und wohl ziemlich skeptisch, meine jün- hat das natürlich niemand gesagt. Ich gehörte gere Tochter hatte gerade die Jugendweihe zum ersten Ausschuss, der die Mitglieder des hinter sich und fand Mutters neuen Lebensweg Stadtrates auf frühere Zusammenarbeit mit nicht ganz uninteressant. Mein Mann hatte dem Staatssicherheitssystem der DDR über- Bedenken, ob ich nun Angriffen ausgesetzt prüfte. Als die Unterlagen geöffnet wurden, würde, die mich verletzen könnten. Dabei lag eine Spannung im Raum, die körperlich dachte er sicher noch nicht an die neue Le- spürbar war. Über wen würde was nachzu- benssituation, die dazu führen würde, dass ich lesen sein? Der Blick in die Akten zeigte nicht tagelang in Erfurt sein musste und er allein zu nur, wer sich aus welchem Grund und zu wel- Hause. cher Zeit als inoffizieller Mitarbeiter anwerben Der Beginn meiner Tätigkeit als Landtags- ließ, er zeigte auch, wie Situationen und Men- abgeordnete war aufregend. Nach der Freu- schen missbraucht wurden und welcher Klein- de über das Wahlergebnis begann harte Ar- geist und welches Misstrauen herrschte. Ich beit. Am Anfang beherrschte ich nicht einmal war enttäuscht. Das hatte nichts mit meinen das Handwerkszeug. Alle anderen schienen Vorstellungen vom Sozialismus zu tun. Falsch mir wesentlich klüger als ich zu sein. CDU und fand ich jedoch auch, dass nun die vermeint- SPD bildeten eine Große Koalition. Ich be- lich Schuldigen gefunden schienen. Nach warb mich als kulturpolitische Sprecherin. Im meiner Meinung hätte man offen darüber re- ersten Anlauf scheiterte ich mit diesem Vorha- den müssen, wie und warum man dem Staats- ben, dann bekam ich doch den einzigen Sitz sicherheitsdienst diente, damit derartige Ge- im damaligen Ausschuss für Wissenschaft, For- heimbündelei keine Chance mehr hätte. Auch schung und Kunst. Allein saß ich den Ab-

111 geordneten der regierungstragenden Frak- te Thüringer Landtag konstituierte, wurde ich tionen gegenüber. Diese hatten im Koalitions- zur Vizepräsidentin gewählt. Vielleicht war es ausschuss alles vorbesprochen, was von eini- ein Zufall, vielleicht auch folgerichtig, dass ich ger Bedeutung war. Bei öffentlichen Anhö- nun einem Landtagspräsidium angehörte, wel- rungen wurde ich gefragt, warum ich allein ches nur aus Frauen bestand. Im Landtag galt und wie auf der Strafbank sitze. Ich erklärte, es, die Männer daran zu gewöhnen, dass im- dass mir dieser Platz zugewiesen worden sei. mer Frauen vorn sitzen. Wir arbeiteten fair mit- Um nicht frustriert zu sein, hieß es Nerven- einander zusammen. Ich denke auch, dass un- stärke und Fleiß zu zeigen. Auch in der Frak- sere Art die politische Kultur beförderte. tion wurden die Bedingungen schwieriger. Die unterschiedlichen Politikvorstellungen und Cha- Mutter und Tochter in derselben raktere, die aufeinander prallten, führten zu Stadtratsfraktion Spannungen. Die Fraktionsvorsitzende trat nach einem Jahr nicht mehr zur Wahl an. In Meine ältere Tochter ist inzwischen seit sechs der Folge einer Klausurberatung wurde ich Jahren verheiratet. Sie ist seit diesem Sommer gefragt, ob ich bereit sei, das Amt zu über- Mitglied im Altenburger Stadtrat und im Kreis- nehmen. Ich nahm den Vorschlag an und tag. Im Stadtrat sind wir Kolleginnen, ich bin wurde überraschend gewählt. Nicht alle wa- ihre Fraktionsvorsitzende. Sie wollte immer ren mit diesem Ergebnis zufrieden. Für man- den großen Plan zur Verbesserung der Welt che galt ich als zu wenig führungsstark, an- haben. Als sie erkannte, dass es diesen wohl dere fühlten sich nicht genügend einbezogen. nicht gibt und auch der längste Weg mit dem Ich selbst musste nun viel mehr Augen- ersten Schritt beginnt, mischte sie sich in die merk auf das Wirken in ganz Thüringen le- Politik ein. Ihr Mann arbeitet als Berufs- gen. Bisher hatte ich den Schwerpunkt mei- schullehrer in Gera. Die junge Familie wohnt ner Arbeit in der Altenburger Region gesehen. in Altenburg im eigenen neuen Haus. Mein Hinzu kam die Auseinandersetzung mit der großer Enkelsohn ist seit August Schüler der 1. Politik der großen Koalition, die demokrati- Klasse, mein kleiner Enkelsohn wird im No- sches Mitwirken enorm behinderte. vember vier Jahre alt. Als vor der Wahl meine Im Vorfeld der Landtagswahlen 1999 wur- Plakate überall zu sehen waren, hießen diese de vorsichtig über die Zusammenarbeit von Oma-Birgit-Plakate . PDS und SPD diskutiert. Die Auffassungen da- Meine jüngere Tochter studiert Architektur zu waren unterschiedlich. In Mecklenburg-Vor- in Erfurt. Wie ihre große Schwester will sie pommern war die PDS inzwischen in Regie- eigentlich in Thüringen bleiben, hier leben rungsverantwortung, doch mühsame Reform- und arbeiten. Ihr Freund arbeitet an der Uni in schritte in der Landespolitik des nördlichen Jena. Noch wohnen beide bei uns zu Hause. Bundeslandes wurden kaum wahrgenom- Vor ein paar Jahren haben wir meine Eltern men. Für die PDS stand damit die Frage nach aus dem oberen Vogtland zu uns geholt. Über dem Preis der Regierungsverantwortung. Es 80 Jahre alt und inzwischen in ihrem Bewe- wurde auch deutlich, dass im Vorfeld einer gungskreis stark eingeschränkt sind sie be- solchen Entscheidung inhaltliche und perso- treuungsbedürftig. Im Familienverband müs- nelle Zusammenarbeit notwendig ist. Wie im sen alle Dienstleistungen organisiert werden. persönlichen Leben muss die Chemie stim- Zu Hause kann ich nicht oft sein. So über- men . nimmt mein Mann einen großen Teilder häus- Ich kandidierte auf Platz 3 der Landesliste lichen Aufgaben. Nach der Insolvenz seines und wieder in meinem Heimatwahlkreis Alten- Betriebes hat er im Osten keine Arbeit mehr burg. Die PDS konnte ihr Wahlergebnis ver- gefunden. Viele staunen über unser Familien- bessern und wurde zweitstärkste Partei. Die leben. Eigentlich müsste doch die Frau zu SPD verlor enorm. Die CDU erreichte die ab- Hause sein und wie hält es ein Mann mit einer solute Mehrheit in Thüringen. Als sich der drit- Karrierefrau aus? Uns beide hat das wenig

112 gestört und die Zeit, die wir miteinander ver- werde. Für mich stellt sich daraus die Frage, bringen, ist umso kostbarer. Nicht immer ist wozu wir dann Politik brauchen. Der Reichtum eitel Sonnenschein angesagt, doch ein Ge- nimmt Tag für Tag zu und ebenso die Armut. witter wirkt reinigend und unsere Ehe hält seit Muss man vor dem Hintergrund nicht po- über 30 Jahren. litische Möglichkeiten erschließen, mehr Ge- rechtigkeit zu organisieren? Erneut zur Landtagsvizepräsidentin Aus den Erfahrungen der DDR habe ich gewählt mir die Lust zur Opposition behalten und be- dauere, dass oft nur Regieren als Wert gese- Im Jahr 2004 ist wieder eine Wahlperiode zu hen wird. Dabei gehöre ich keinesfalls zu den Ende gegangen. In Thüringen fehlen Arbeits- Verweigerern, doch Regieren wird häufig mit plätze und Frauen und Männer ziehen der Machterhalt und Recht haben verwechselt. Arbeit hinterher. Insbesondere junge Frauen Viel Oberflächlichkeit hat inzwischen in unser verlassen das Land. Wenn sie sich für Kinder Leben Einzug gehalten. Doch Demokratie lebt entscheiden, werden diese nicht in Thüringen vom Mitwirken. Ich denke, schon frühzeitig geboren. Das Lohnniveau ist gering. Die Zahl sollten Menschen ermuntert werden, sich ein- derjenigen, die auf Sozialhilfe angewiesen zumischen. Aus der Wendezeit weiß ich, dass sind, ist hoch. Die reiche Kulturlandschaft in das am besten gelingt, wenn ein Ergebnis tat- Thüringen kann kaum noch finanziert werden, sächlich erreicht werden kann. Demokratie weil die Landkreise, Städte und Gemeinden muss man leben können. immer weniger Geld in den Kassen haben. Viele meiner Vorstellungen vom Leben ha- Vor diesem Hintergrund fanden die Wahlen be ich mir bewahren können. Am schönsten statt. Ich habe auf dem Platz 2 der Landesliste finde ich, dass ich heute nahezu ungehindert und wiederum in meiner Heimat Altenburg um die ganze Welt reisen darf. Weltan- kandidiert. Mehr als ein Viertel der Wähler schauung kommt eben doch von Welt an- haben PDS gewählt. schauen. Inzwischen bin ich ein halbes Jahr- Seit dem 8. Juli 2004 bin ich erneut Vize- hundert auf dieser Welt. Ich bin Lehrerin ge- präsidentin des Thüringer Landtags. Arbeit, worden, wie ich es als Kind schon wollte. Das die ich in der letzten Legislaturperiode begon- mit der Professorin ohne Brille und den langen nen habe, kann ich fortsetzen. Dabei kommen Haaren ist anders ausgegangen. mir inzwischen meine Erfahrungen zugute. Ich habe promoviert, bin nun zum zweiten Noch immer denke ich, dass die Welt ver- Mal Vizepräsidentin des Thüringer Landtags. änderbar ist. Heute wird oft darüber gespro- Meine Haare sind kurz und leuchtend rot chen, dass die Politik gar keinen Einfluss habe getönt. Zum Lesen brauche ich inzwischen und alles durch die Wirtschaft bestimmt eine Brille.

113 Fred Klemm Entweder wir lernen Freiheit oder die Not wird sie uns lehren

also keinen Dienst an und mit der Waffe ge- Fred Klemm: macht. Geboren 1957 in Saalfeld, aufge- In den Jahren bis 1984 schloss sich dann wachsen in Goßwitz, schloss Fred Klemm die zehnklassige Poly- mein Theologiestudium am Augustinerkloster technische Oberschule ab und absol- in Erfurt an. Hier legte ich das Erste Theolo- vierte eine Ausbildung zum Ar- gische Examen ab. Es folgte meine erste Vi- beitsschutzinspektor. kar-Anstellung in Ilmenau-Manebach. Das Als Nichtwähler und Wehrdienstver- Zweite Theologische Examen habe ich 1987 weigerer in der DDR erregte er schon in jungen Jahren die Aufmerksamkeit abgelegt, erhielt in der Folge eine Anstellung der Staatsorgane. In Erfurt stu- als Pfarrer in Manebach. dierte er Theologie, wurde erst Vi- Diese starke Politisierung, die ich in jungen kar, dann Pfarrer in Manebach bei Ilmenau. Dort war er Gründungsmit- Jahren schon hatte, geht auf die Zeit in der glied eines Kreisverbands des Demo- kirchlichen Jugend zurück. In den 1980er kratischen Aufbruch. Neben seiner Jahren spürte ich die Krise der DDR und war Tätigkeit als Pfarrer, engagierte er sich politisch, anfangs als Kandi- sicher, dass sich die Dinge ändern müssen. dat der SPD für den , zu- 1988 hatte ich die Leitung der Arbeitsgruppe gleich in der Kommunalpolitik, er „Politische Mitverantwortung“ auf dem Kir- ist heute bei den Freien Wählern. chentag in Erfurt. Zugleich habe ich in dieser Zeit auch Menschen seelsorgerisch betreut, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Bei Bearbeitet von der Sichtung meiner Stasiakten habe ich spä- Dr. Juliane Rauprich ter gefunden, dass ich seit 1989 unter stän- diger Beobachtung des Ministeriums für Staats- Geboren wurde ich in ärmlichen Verhältnis- sicherheit der DDR war. sen als drittes Kind einer allein erziehenden Arbeiterin 1957 in Saalfeld. Aufgewachsen Kreisverband des Demokratischen bin ich dann in Goßwitz. Ich habe die zehn- Aufbruch in Ilmenau mitgegründet klassige Polytechnische Oberschule besucht. Von 1974 bis 1977 folgte eine dreijährige Seit 1988 habe ich Edelbert Richter bei der Ausbildung zum Arbeitsschutzinspektor. 1976 Gründung einer Partei unterstützt – hier ent- habe ich mein erstes deutliches Zeichen in stand später der Demokratische Aufbruch (DA). politischer Hinsicht gesetzt. In der DDR wurde Bis zum Gründungsparteitag im Dezember immer um die so genannten „Erstwähler“ be- 1989 in Halle war das eine pausenlose Ar- sonderer Aufwand getrieben, sie standen ex- beit. Mit einem Pfarrer-Kollegen (Andreas En- tra im Fokus der Aufmerksamkeit von Partei- kelmann) haben wir hier einen Kreisverband und Staatsorganen. Ich nun wurde in diesem gegründet. Als am Abend des letzten Tages Jahr „Erst-Nicht-Wähler“! Diese Haltung ha- des Gründungsparteitages damals jedoch be ich dann konsequent weiter durchgehalten Wolfgang Schnur zum Vorsitzenden gewählt und keinen regulären Wehrdienst abgeleistet. wird, bin ich ausgetreten. 70 Prozent der Mit- Von 1978 bis 1980 war ich Bausoldat, habe glieder des Kreisverbandes Ilmenau des DA

114 haben dann die Umwandlung unseres Kreis- verbandes in den einer sozialdemokratischen Partei vollzogen. Meine größte Hoffnung in dieser bewegten Zeit war Freiheit! Meine Er- wartungen gingen in die Richtung der Mitwir- kung in der demokratischen Organisation der Gesellschaft. Schon im Demokratischen Aufbruch sind wir seit 1988 davon ausgegangen, dass eine Demokratisierung der DDR zwangsläufig zur Wiedervereinigung führen würde. Allerdings sollte dieser Prozess nach unseren Vorstellun- gen mehrere Jahre dauern, um die Binnen- wirtschaft anzupassen. Ich bin dann in der Fol- gezeit 1989/90 weiter Pfarrer in Manebach geblieben, habe 1990 für die SPD für den Bundestag kandidiert. Aber trotz des Landes- listenplatzes 8 hatte ich keine Chance. Die Gründe bzw. der Wahlausgang dürften in Er- innerung sein... Allerdings bin ich ohne Unterbrechung seit und die Mündigkeit das Wichtigste geblieben! 1990 im Kreistag und in Leitungsgremien der Die Wohlstandsversprechen der bundes- Arbeiterwohlfahrt. Noch einmal habe ich eine deutschen Politik haben sich nicht wesentlich größere Kandidatur gewagt: 1994 bei der von denen in der DDR unterschieden. Natür- Bürgermeisterwahl in Ilmenau trat ich für die lich gab es in der neuen Gesellschaft mehr SPD an. Auch das ließ sich nicht realisieren – Wohlstand. Aber auch eine entsprechend hö- ich habe mich in der anschließenden Zeit wie- here Verschuldung. Ich kann mich an eine der sehr auf meinen eigentlichen Beruf als Aussage von mir in einer regionalen Heimat- Pfarrer konzentriert. zeitung 1999 erinnern: „Die Wende von ei- nem Sozialismus ‚auf Pump’ hin zu einer ehr- Mit nonkonformer Haltung lichen, freien und dynamischen Gesellschaft gegenüber dem Regime frei gefühlt steht noch bevor!“ Es war 2003, als ich die Hoffnung aufgegeben habe, dass die SPD Wenn ich den Blick zurück gehen lasse auf diese Wende erfolgreich vollziehen könnte. meine Zeit als Christ in der DDR, dann kann Nach 14 Jahren bin ich dann, folgerichtig für ich heute sagen, dass ich mich in meiner non- mich ausgetreten. Heute engagiere ich mich konformen Haltung dem damaligen Regime für die Freien Wähler im Ilmkreis, habe dafür gegenüber sehr frei und sehr gut gefühlt habe. auch ein Kreistagsmandat erhalten bei der Gleichzeitig habe ich schon damals sehr unter Kommunalwahl im Juni 2004. Als Pfarrer bin der Unmündigkeit meiner Mitmenschen gelit- ich seit 1997 im Pfarramt Großbreitenbach ten: Sie ist mit der Würde den Menschen un- tätig. vereinbar! Als ich in diesem Sommer über eine Predigt Nach der Wende wollte ich nun wirklich anlässlich einer Goldenen Konfirmation nach- keine erhabene und rechthaberische Haltung gedacht habe, da rief ich zwar den Goldenen einnehmen. Um dem schon im Keime entge- Konfirmanten – aber auch mir selbst – Dinge gen zu treten, schien mir die Mitwirkung in in Erinnerung, die auch mit der Refklektion der einer Volkspartei wie der SPD hierfür beson- Wendezeit hier in Thüringen, in Deutschland ders geeignet. Jedoch, das ist mir wichtig zu zu tun haben. Wenn man die vergangenen betonen, sind mir in all der Zeit die Freiheit Jahrzehnte beschreiben will, dann hat man ja

115 auch von einer Zeit der vielen Kinder damals schen auf den Weg machen, dann gehen sie und der wenigen Kinder heute zu reden; von immer davon aus, dass nur Gutes hinzu der großen Armut in den früheren Jahren und kommt. Irgendwie gehen sie davon aus, dass dem großen Wohlstand heute. Man kommt sie das Schlechte besser machen und alles nicht umhin, die Zufriedenheit unserer Vor- bisherige Gute von ganz alleine bleibt und in fahren zu erinnern und die stete Unzufrieden- der Summe alles nur immer besser wird. Das heit heute und hier um uns und in uns zu aber ist meist gar nicht so, denn oft hängen beklagen. gut und schlecht zusammen, sind nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Mit dem Heute kämpfen die alten Schlechten verschwindet meist auch das Kirchgemeinden um ihre Existenz alte Gute. Und mit dem neuen Guten kommt auch meist neues Schlechtes. Und deswegen Damals gab es eine recht große Kirchlichkeit, denke ich rückblickend schon, dass an der al- wie ich es nennen möchte – heute lebe und ten materiellen Armut zugleich viel Gemein- arbeite ich als Pfarrer in einer Zeit, wo viele schaft, Kinder, die Großfamilie, gegenseitige Kirchgemeinden um ihre Existenz bangen müs- Bindungen, Hoffnung und Zuversicht hingen. sen. So vieles hat sich in dieser bemerkens- An unserer heutigen Unabhängigkeit und Wohl- werten Zeitspanne, zu der ja maßgeblich auch ständigkeit hängen zugleich viel Einsamkeit, die so genannte „Wende“ gehört, vollkom- Kinderlosigkeit und Zukunftsangst. Das gilt für men geändert, manches hat sich in sein Ge- Ost und West. genteil verkehrt. Was gab es schon in der Es gibt Dinge in unserem Leben zu schüt- Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren? zen und zu bewahren, die es zwar schon lange Wer hatte damals ein Auto, einen Fernseher, gibt, die aber keineswegs alt oder überflüssig eine Waschmaschine, einen Kühlschrank? werden. Die Freiheit zum Beispiel. Ohne Frei- Wer konnte und wollte dauernd möglichst heit kommt das Leben irgendwann zum Still- weit weg verreisen? Keiner! Damals aber hat- stand. Leben ist Freiheit. Das Kind im Bauch ten die Menschen so etwas wie Hoffnung. Und seiner Mutter muss geboren werden und sich sie hatten Kinder. Sie lebten in Gemeinschaf- befreien zu einem eigenen Leben. Gottes ten, hatten sich gegenseitig im Blick und Schöpfung ist Schöpfung zur Freiheit hin. Zu brauchten sich im täglichen Leben. Heute ha- DDR-Zeiten haben wir erlebt, wie Unfreiheit ben die Leute im Haus alles an Geräten, was die Menschen und die Ökonomie lähmte. es gibt. Und sie haben viele Möglichkeiten. Und als alle Ressourcen verbraucht waren, Dafür ist uns anderes abhanden gekommen: brach alles zusammen. Ohne die Freiheit geht die Kinder, die Zukunftshoffnungen, die Ge- irgendwann alles zu Grunde! Im Üb-rigen meinschaft, die Zufriedenheit und der Glau- geschieht heute im vereinten Deut-schland be. das Gleiche, wenn die Menschen nicht mehr Warum ist das nun so? Ich will hier einmal Freiheit und Eigenverantwortung wagen als einige Antworten versuchen. Jede neue Zeit, bisher. fast jede neue Generation sucht das Neue, das Moderne, das noch nie Dagewesene. Sie Verteilungskämpfe statt will dadurch Zukunft gewinnen. Und natürlich Risikobereitschaft scheint vieles dafür zu sprechen, es anders zu machen als die Alten. Die Zeit geht nun mal Gesetze – Verordnungen – Ausführungsbe- voran, die Dinge ändern und entwickeln sich. stimmungen – Bedenkenträger – Steuern – Neue Technologien, neue Einsichten, neue Abgaben – Beiträge: das alles stranguliert die Bedürfnisse, neue Wünsche! Aber wie schon Wirtschaft. Die Sozialsysteme sind unfinan- ein Sprichwort sagt: Gib’ Acht, was du dir zierbar. Schulden erdrücken uns und Investi- wünschst – es könnte in Erfüllung gehen. tionen in die Zukunft finden nicht mehr statt. Wenn sich neue Zeiten mit neuen Men- Wir erleben täglich neu Verteilungskämpfe

116 statt Risikobereitschaft. Andere Länder ziehen lichkeit, da haben wir die Freiheit an den Staat im Wettbewerb an uns vorbei. und an verschiedenste Systeme abgegeben. Ich denke, dass in einer derart aufgebläh- Bei den Fragen von Anstand und Benehmen, ten Bürokratie, die in Deutschland so groß zu von Achtung, gegenseitigem Respekt, Höf- sein scheint wie in der restlichen Welt zusam- lichkeit und Rücksichtnahme – da herrschen men genommen, mit der Freiheit auch die so- totale „Freiheit“ und Willkür! ziale Gerechtigkeit mehr und mehr verloren geht. Die unrealistischen bis verlogenen Heils- Anstand und gegenseitigen Respekt versprechungen der Politik und die lähmenden braucht eine Gesellschaft Heilserwartungen der Menschen müssen auf- hören. Denn seien wir ehrlich: Das Erstarken Bei aller sozialen Sicherheit, über die wir ja der PDS, wie wir es in diesen Monaten erleben doch verfügen, verwahrlosen immer mehr müssen, passt eigentlich genau ins Bild: Die Menschen moralisch. Kinder werden nicht PDS ist m. E. heute nur die radikalste Form von mehr erzogen. In den Medien wird deutlich, SPD, CDU und Grünen. Wir brauchen aber dass die gering gebildeten, rohen Bevölke- dringend wieder mehr Freiheit von einem rungsgruppen das Niveau des öffentlichen Le- Staat, der sich in seinem sozialen Umvertei- bens zunehmend bestimmen. Die gebildeten lungsanspruch übernommen hat. Weniger Eliten werden zu Außenseitern der Gesell- Staat, dafür mehr Verantwortung in den Ge- schaft. Lehrer werden verspottet. Schüler, die meinden, in den Familien und beim Einzel- lernen wollen und gute Zensuren bekommen, nen. Das wird schwer, aber wir dürfen nicht werden oft von den anderen verspottet und zulassen, dass diese Gesellschaft im Streit um bedrängt. Das Alter wird schon lange nicht Ansprüche und Sicherheiten auseinander mehr geachtet. Die Gebote, den Anstand, bricht und wir es unseren Kindern noch den gegenseitigen Respekt, die Höflichkeit – schwerer machen, als es in der Zukunft ohne- all’ diese alten Werte braucht aber eine hin schon sein wird. Ich will nicht weiter ein Gesellschaft und komme sie noch so modern Land, dessen sozialstaatliche, um nicht zu sa- daher , wenn sie auf Dauer überleben will. gen „sozialistische“ Überfrachtung und maß- Für mich als evangelischen Christen und lose Überschuldung in den Ruin führen wird! als Pfarrer hängen die Liebe, die Freiheit, An- Die eigentliche Wende (oder vielleicht trifft stand und Gerechtigkeit ab von der Ehrer- das Wort „Wandlung“ besser) in der Mentali- bietung vor dem lebendigen Gott. Ich möchte tät der Menschen und in der Bedeutung, die warnend zum Schluss meines Nachdenkens Politik haben kann und soll, steht aus. über unseren Weg aus der DDR in das ver- Wenn ich heute, 15 Jahre nach der großen einte Deutschland sagen: Ein Zurück in noch Umwälzung unseres Lebens, nach wie vor und unfreiere Strukturen kann den Wohlstand zugleich verstärkt auf solche Werte wie Liebe nicht sichern. Zur Freiheit gibt es am Beginn und Freiheit setze, dann gehören auch die des 21. Jahrhunderts keine Alternative. Ent- Werte von Anstand und von Gerechtigkeit da- weder wir lernen Freiheit freiwillig oder die zu. In der Ökonomie und in der Sozialstaat- Not wird sie uns lehren.

117 Egon Kühn: Die Wende im Westen erlebt

das aus eigener Kraft um- und ausgebaute Egon Kühn: Eigenheim, und da sind nicht zuletzt die rela- Geboren 1954 in Oberwirbach. Nach tive soziale Sicherheit, das Wohlgefühl eines Abschluss der 8. Klasse erlernte er 1970 den Beruf des Baufachar- Lebens in vertrauter Umgebung, begleitet von beiters. verläßlicher Geborgenheit und innere Zufrie- Nach der Lehre arbeitete Egon Kühn denheit. beim Kombinat für Straßen- Brücken- Solch eine Arbeiterbiographie ohne tiefere und Tiefbau Gera, danach bis 1977 Brüche in einer Umbruchzeit, in einer Region beim VEB Bau Unterwirbach. Durch Angliederung dieses Betriebes an mit fast 20 Prozent Arbeitslosigkeit und ange- den Ingenieurhochbau Gera fand er schlagenem Baugewerbe ist eben nicht sich in einem großen Industrie- schlechthin normal , darin waren wir bald kombinat wieder. Ab 1986 hielt er einig. Doch wie sich dieser Lebensweg gestal- sich zu Montagearbeiten im„ nicht- sozialistischen Ausland” auf. Die tete, lassen wir Egon Kühn besser selbst er- Wende erlebte er als einer der we- zählen. nigen DDR-Bürger im Westen. Nachdem *** die Wirtschaft im Osten weitgehend zusammengebrochen war, arbeitet er In dörflicher Umgebung am Fuß des bis heute bei Bauunternehmen im Thüringer Waldes aufgewachsen Westen. Geboren wurde ich im Herbst 1954 in Oberwirbach, einem kleinen Ort am Fuße des Das Gespräch führte Thüringer Waldes nahe Bad Blankenburg. Rainer Morgenroth Mein Vater war Bauarbeiter in einer kleinen Baufirma in Unterwirbach. In dieser Firma ar- Mein Anliegen, auch seine Biographie in den beitete er auch nach deren Verstaatlichung bis Rahmen dieses Projektes zu spannen, löste bei zu seinem frühen Tod 1988. Die Mutter war ihm zuerst ungläubiges Erstaunen aus. Er sei Hausfrau bis zur Geburt meiner Schwester doch ein einfacher unpolitischer Mensch Ilona 1957. Im Jahr darauf zog die Familie und es gäbe in seinem Leben kaum etwas, das wieder in dörfliche Umgebung um, nach Beul- von öffentlichem Interesse wäre, wehrt Egon witz, unweit von Saalfeld. Kühn bescheiden ab. Im Fortgang des Ge- Hier besucht ich ab 1961 die Schule bis spräches beleuchten wir diesen und jenen sei- zum Abschluß mit der Klasse 8 und begann ner Lebensabschnitte, er beginnt zu reflek- 1970 meine Lehre als Baufacharbeiter. Diese tieren und entdeckt mit verhaltenem Stolz, Berufswahl kam nicht von ungefähr. Schließ- nicht alles ist so normal , wie es auf den er- lich war meine Kindheit vom dörflichen Leben sten Blick und im Vergleich mit seinem so- geprägt. Das hat mich schon früh an kör- zialen Umfeld erscheint. perliche Arbeit herangeführt, da gab es immer Da ist nach 26 Jahren Arbeit auf Monta- etwas zu werkeln und zu bauen, zumal meine ge eine intakte Familie, da sind zwei wohlge- Eltern ab 1963 ein Eigenheim errichteten, mit ratene Kinder mit abgeschlossener Berufs- viel Mut und noch mehr Eigenleistung. Aus ausbildung und in Arbeitsverhältnissen, da ist heutiger Sicht müsste man eigentlich sagen, es

118 war so eine Art Schwarzbau und dauerte des- man wehrte sich nicht, aber ich tat mich nir- halb etwas länger. Gebaut wurde, wie gerade gends hervor, ich lief so mit, wie die meisten. Geld, Zeit oder Material vorhanden waren. Man nahm die Sache an wie sie war und wur- Diese Baustelle war sozusagen mein Abenteu- de als Gegenleistung versorgt . So wurde ich erspielplatz und ich entwickelte schon früh nach der Armeedienstzeit für den Einsatz an handwerkliche Fertigkeiten und vor allem der Trasse (Erdgasleitung in der damaligen Freude an eigener Leistung. Und da mein Sowjetunion) geworben. Daraus wurde Vater selbst vom Bau war, erschien mir dieser nichts, ich wollte nach der Armeezeit erst ein- Beruf gerade recht. Ich wußte ja auch damals mal nach Hause. So kam ich zum VEB BAU schon, wie gefragt Bauleute bei Häusle - Unterwirbach, wo auch mein Vater arbeitete. bauern auch nach Feierabend waren. Mit Der kleine Betrieb wurde 1977 dem Inge- dieser auch in der DDR schon gängigen nieurhochbau Gera angegliedert und plötz- Praxis, dem sogenannten Pfusch , konnte man lich war ich Mitarbeiter eines großen Indu- zusätzlich gutes Geld verdienen und sich striekombinates. Bezugsquellen für Material aller Art ver- Jetzt begann mein intensivster Lebensab- schaffen. Also wurde ich Bauarbeiter. Nach schnitt voller wichtiger Entscheidungen. Aus erfolgreicher Lehre kam ich zum Kombinat heutiger Sicht hätte ich manches anders ma- für Straßen-Brücken- und Tiefbau Gera. chen können, aber im Wesentlichen hatte ich mit meinen Entscheidungen eine glückliche Es ging alles Hand und keinen Grund zur Unzufriedenheit. seinen sozialistischen Gang 1976 heiratete ich meine Frau Sonja, mit der ich seither gemeinsam versuche, ein Zuhause Einschließlich meiner wehrpflichtigen Dienst- zu schaffen, in der sich die Familie sicher und zeit in der NVA von 1973 bis 1974 ging bis geborgen fühlt. Ich meine, das ist uns bisher dahin sozusagen alles seinen sozialistischen gut gelungen. 1976 wurde unsere Tochter Gang . Ich war Pionier, FDJ-ler, in der Gewerk- Manuela und 1983 unser Sohn Christian ge- schaft, Soldat alles war vorprogrammiert, boren. Das waren freudige und spannende

119 Jahre. Zumal ab 1974 der erste Umbau unse- Ich erhielt zwischen 30 und 40 DM Auslö- res Elternhauses begann, ich aber ab 1978 sung, konnte mit dem Westgeld tun, was ich bereits auf Montage ging, als Brigadier von wollte. Das war damals Gold wert. Sicher gab Baustelle zu Baustelle zog. Die Arbeit und die es Leute, die mich darum beneideten, sowohl Familie füllten mich ganz aus. Schließlich galt im Betrieb als auch im privaten Umfeld. Na- es etwas zu schaffen. Es gab ja viele Ziele und türlich habe ich mich gefragt, weshalb es uns Träume. Zum Beispiel 1978 meinen ersten verwehrt war, ganz normal in die BRD reisen gebrauchten Trabi . zu dürfen. Natürlich habe auch ich gemeckert Und da auch die Familie gut versorgt sein über Versorgungslage und Reglementierun- wollte, sollte möglichst gut verdient werden. gen in der DDR, aber nur verhalten im eng- Deshalb bewarb ich mich, als 1983 im Be- sten Kreise. Ich war ein Nischenmensch wie trieb für die Auslandsmontage geworben wur- viele andere auch, Privat über Katastrophe de. Zum Glück war meine Nominierung für galt für mich ebenso. Auf Besserung und die Trasse noch nicht vergessen, so kam ich in Lockerung hat man immer gehofft, aber seine die engere Wahl und 1986 wurde mir auf Existenz wollte man nicht gefährden. Mein deren Grundlage Montagearbeit im Nicht- Reisepaß war mir da schon wichtiger als Sy- sozialistischen Ausland angetragen. Ich griff stemkritik zu üben. Ich hatte ja nichts auszu- sofort zu und war auch ein wenig stolz ob des stehen. in mich gesetzten Vertrauens. Dies war na- Gleich meine erste Baustelle führte mich türlich kein politisches. Das Kalkül der Ver- nach München, und sowohl die westdeut- antwortlichen war einfach, der haut nicht ab , schen Kollegen wie Zufallsbekanntschaften denn dagegen stand: Ich war verheiratet, nahmen mich herzlich an. Probleme gab es vor hatte eine intakte Familie, war bodenständig Wende und Wiedervereinigung kaum, eher ab (das Häuschen meiner Eltern) und politisch und zu private Einladungen. Das hat sich bis unauffällig. Was soll s. heute geändert; aber dazu später mehr. Natürlich musste ich jeweils nach Rückkehr Es lockten die Abenteurlust in die DDR Sofortberichte schreiben. Wohin und das Westgeld die Durchschläge gingen war uns klar aber gleichgültig, denn es wurde nur formal be- Zwei Dinge lockten. Ein bißchen Abenteuer- richtet, schon, um sich selbst nicht zu scha- lust war das eine, es sollte in exotische Länder den. Übrigens entfielen diese Berichte nach wie Irak oder Iran gehen. Das andere war die dem Honeckerbesuch in Bonn. Ich zog also Auslösung in Valuta, schlicht Westgeld . Aber bis 1989 in der BRD fast vier Jahre von Bau- es kam noch besser. Die Projekte zerschlugen stelle zu Baustelle, darunter waren zum Bei- sich, und mein Betrieb, sprich die DDR, spiel ein riesiges Wohnungsbauprojekt in Mün- brauchte Devisen. So wurde ich über eine chen, das Opel-Hotel in Hamburg oder Brü- Firma Limex ab 1986 in die Bundesrepublik ckenbauten für die Bundesbahn. verliehen . Und so überraschte mich als einen der wenigen DDR-Bürger die Wende im Mit der Grenzöffnung und dem Westen , ich war also schon da, wo alle DDR- Zerfall der DDR hat keiner Bürger so gern mal hin wollten. Also habe ich gerechnet dieses Ereignis von außen erlebt. Ich bin, wie schon gesagt, ein ziemlich Auf meiner letzten Baustelle in Nürnberg im unpolitischer Mensch und habe an die Zeit Herbst 89 stand schon vor jeder Ausreise die vorwiegend private Erinnerungen. Die DDR Frage: Wie lange noch? Aber mit einer wollte ich nicht unbedingt ändern. Meine Frau Grenzöffnung oder gar dem Zerfall der DDR und ich hatten Arbeit und Auskommen. hatte keiner gerechnet. Dann war s passiert, 1987/88 hatten wir unser Elternhaus über- und ich war im Westen! Die Nachricht löste nommen und nochmals aus- und umgebaut. Begeisterung aus, auch bei den westdeut-

120 schen Kollegen. Sie meinten, nun könnten wir Wende habe die DM kaputtgemacht, die Ossis alle mit Familie auch mal Urlaub im faulen Ossis sind Schuld am Niedergang Westen machen. An Wiedervereinigung hat der Wirtschaft, der Osten kostet zu viel und die da noch keiner gedacht. Eine offizielle Reak- Ossis nehmen Wessis die Arbeitsplätze weg. tion unseres Betriebes gab es nicht, auch nicht Diese Meinungen werden ohne Einblicke in von Behörden, kein Rückruf, keine Anwei- die wirkliche Lage im Osten vertreten und sungen, nichts. Nur an der Grenze war alles erzeugen ein ungutes Klima. Aber da ich gut ganz anders. Wir kannten ja viele der Gren- verdiene, möchte ich gerne noch ein paar zer und Zöllner vom Sehen. Plötzlich waren sie Jahre Montagearbeit auf mich nehmen. Über freundlich, keine Zollschikanen mehr, man- 26 sind es ja nun schon, eine lange und che gingen sogar auf Scherze ein. manchmal harte Zeit, auch für meine Frau So groß die Freude über die neu gewon- und die Kinder. nene Freiheit auch war, der beginnende wirt- Die sind nun erwachsen und beruflich erst schaftliche Zusammenbruch war schon spür- einmal untergekommen. TochterManuela hat bar. Auslandbaustellen gab es nicht mehr, Hotelfachfrau gelernt und unser Sohn Chri- mein Kombinat begann zu zerfallen, das Ster- stian ist mir in den Bauberuf gefolgt. Die Er- ben war absehbar. Ich arbeitete da noch bis ziehung der beiden war vorwiegend die Sache Frühjahr 1990, ausschließlich im Osten. Da meiner Frau. Ihre Leistung in all den Jahren kam mein Schwager auf mich zu und fragte, war enorm. Die Kinder, Haus und Garten ob ich nicht mit ihm im Westen Arbeit suchen hatte sie mit Omas Hilfe allein zu versorgen. wolle. So rief ich bei dem letzten Arbeitgeber Dazu kam mein zweiter Haushalt . An jedem in Nürnberg an und bekam die Nachricht, ich zweiten Wochenende war Wäschetausch und könne sofort anfangen und noch zwei Mann Vorkochen für die nächste Woche angesagt. mitbringen. So geschah es. Zwar wurde diese Die Auslösung in DM sollte ja übrig bleiben. Firma kurze Zeit später vom Holzmann-Kon- Westgeld war kostbar. Und so hat sie mich zern geschluckt, dieser ging vor drei Jahren immer mit allem versorgt. Und die ganzen bekanntlich Pleite. Aber nach nur einem Mo- Jahre hat sie immer gearbeitet als Verkäu- nat in einer Auffanggesellschaft fand ich einen ferin. Dafür sind wir unserer Mutti dankbar. Jetzt Arbeitsplatz in einer ehemaligen Partnerfirma ist alles erheblich leichter geworden und die von Holzmann und bin nun wieder seit fast 14 Probleme sind von anderer Art. Jahren auf Montage im Westen . Wenn ich überlege, was die Wende ge- bracht hat, so kann ich sagen, sie war für uns Das Verhältnis zwischen Ossis und alle ein großes Geschenk. Wir sind heute frei Wessis hat sich abgekühlt in unseren Entscheidungen. Gewaltlos sind wir in demokratische Verhältnisse und die Vieles hat sich geändert. Das Verhältnis zwi- Wiedervereinigung geführt worden. Alle Er- schen Ossis und Wessis hat sich stark ab- wartungen und Hoffnungen konnten sich gekühlt, seit die Konkurrenz auf dem Ar- nicht erfüllen. Für meine Kinder und meine beitsmarkt härter geworden ist. Das Betriebs- Frau bleibt ein Gefühl der Unsicherheit auf- klima überhaupt ist nicht mehr so wie noch vor grund der Arbeitsmarktlage in unserer Re- zehn Jahren. Es gibt strengere Hierarchien, es gion. Die Sorge um den Arbeitsplatz begleitet kommt zu Winterentlassungen und die Un- uns ständig. Noch können wir mit unserer sicherheit steigt. Man fordert immer größere sozialen Lage zufrieden sein und ich hoffe, Flexibilität, wohinter sich Mehrarbeit, schnelle dass sich die Wirtschaft in Europa und bei uns Arbeitszeitverlagerung usw. verbergen. Die wieder stabilisiert, damit vor allem die jungen westdeutschen Kollegen sehen in mir und an- Leute eine Zukunft in ihrer Heimat haben. Und deren Ostdeutschen jetzt unliebsame Konkur- auch ich möchte mir noch einige Wünsche renten. Es wird allgemein geschimpft: Die erfüllen.

121 Werner Leich: Ich erlebte die Wende nicht nur mit, ich durfte sie mitgestalten

pflegte noch die Freundschaften, die sie einst Dr. Werner Leich D.D. zusammen mit ihrem Mann, einem Oberleh- Bischof em.: rer mit hoher handwerklicher Begabung, ge- Geboren 1927 in Mühlhausen als Sohn knüpft hatte. Die beiden Frauen umgaben eines Referendars am dortigen Amts- mich mit ihrer Fürsorge. Besonders meine Pa- gericht.In Schalkau und Gotha auf- gewachsen, entschloss er sich unter tentante prägte mein Leben. Im Sommer fuhr dem Eindruck von Krieg und Nach- sie mit mir an die Nordsee und erzog mich kriegszeit, Theologie zu studieren. früh zur Selbständigkeit. Mein Vater war mit 1951 Vikar in Angelroda, 1953 Pfarr- einem Kopfschuß schwer beschädigt aus dem stelle in Wurzbach, 1968 bis 1978 Superintendent in Lobenstein. 1978 Krieg gekommen. Über zehn Jahre vergin- wurde Werner Leich zum Landes- gen, bis die Folgen einigermaßen überwun- bischof der Evangelisch-Lutheri- den waren. Er konnte sich wenig um mich schen Landeskirche Thüringen ge- kümmern. Wenn er es tat, meinte er, die Er- wählt. Hilfe für Bedrängte und Aus- reisewillige forderte ihn besonders ziehung der beiden Frauen durch männliche in seinem Bischofsamt. Die Zeit der Härte ergänzen zu müssen. Das trug nicht da- Wende bahnte sich in den Frie- zu bei, dem kleinen Sohn Vertrauen einzu- densgebeten an. Auch im Ruhestand engagiert er sich für Demokratie und flößen. Als ich acht Jahre alt war, heiratete die unbedingte Würde des Menschen. mein Vater wieder und holte mich nach Schal- kau bei Sonneberg, wo er als Bürgermeister Wendepunkte gab es in meinem Leben meh- gewählt worden war. Das war der erste Wen- rere, aber d i e Wende ist einmalig. In Mühl- depunkt. Die Trennung von den beiden güti- hausen in Thüringen am 31. Januar 1927 gen Frauen fiel mir sehr schwer. geboren, wo mein Vater gerade seine Zeit als Referendar am Amtsgericht abdiente, verlor Gewöhnung an ein streng ich sehr früh meine Mutter. Sie starb an den militärisch geregeltes Leben Folgen meiner Geburt. Meine Patentante Pau- la Maria Leich nahm mich im Alter von drei Meine zweite Mutter war von Beruf Volksschul- Monaten auf. Sie lebte mit ihrer verwitweten lehrerin und von hoher pädagogischer Bega- Mutter zusammen und war eine ungewöhn- bung. Als ich das Alter für die höhere Schule lich welterfahrene Frau. Vor und nach dem erreichte, schickten mich meine Eltern, um mir Ersten Weltkrieg arbeitete sie ganz auf sich die Beschwernisse eines Fahrschülers zu er- gestellt als Hauslehrerin in England, Frank- sparen, auf die Nationalpolitische Erzie- reich, Lateinamerika und Ungarn. Über zehn hungsanstalt Schulpforta. Die Eingewöhnung Jahre lebte sie im Ausland und beherrschte in ein streng militärisch geregeltes Leben fiel drei Fremdsprachen. Weil ihr Verlobter, ein mir zunächst schwer, aber bald fühlte ich mich ungarischer Graf, im Krieg gefallen war, blieb in der Gemeinschaft meiner Klasse wohl. Die sie zeitlebens ledig. Ihre große Liebe fiel nun harte, vielseitige vormilitärische Ausbildung dem mutterlosen Kind zu. Meine Pflegemutter gepaart mit der humanistische Bildung des war entscheidungsfreudig und besaß ein star- Gymnasiums hatte einen nachhaltigen Ein- kes Durchsetzungsvermögen. Die Großmutter fluss auf meinen Lebenslauf. Schon sehr früh

122 reifte der Entschluß, aktiver Offizier zu wer- den. Aber nach zwei Jahren holten mich meine Eltern nach Gotha, wo ich das Gymnasium Ernestinum besuchen konnte. Auch das war ein Wendepunkt. Ich musste mich erst wieder in das zivile Leben eingewöhnen. Zudem trau- erte ich den Kameraden und der alten Schule nach. In Gotha trat ich dem Schwimmverein bei. Meine Tante, selbst eine gute Schwimme- rin, hatte dafür gesorgt, dass ich schon vor der Einschulung Schwimmen lernte. Die Tage ver- liefen zwischen Schulunterricht und Training im Vereinsbad, an vielen Wochenenden war ich mit den Freunden vom SV Gotha zu Wett- kämpfen unterwegs. Der Ausbruch des Krie- ges unterbrach diese schönen Jahre. Aber mit zwölf Jahren nahm ich mehr die Begleiter- scheinungen wahr als das schlimme Ende der Friedenszeit. fliegenden Personal. Die Luftwaffe litt bereits Nur eine schwere Kriegsverletzung unter Treibstoffmangel und bildete keine Pilo- bewahrte den Vater vor Verfolgung ten mehr aus. Ich landete bei der Flugabwehr und nach einer kurzen Ausbildung auf der Ein größerer Einschnitt war das Schicksal mei- Kriegsschule als Fahnenjunker an der bereits nes Vaters, das mir erst nach und nach bewusst in Auflösung befindlichen Ostfront. Wieder wurde. Mein Vater war alter Parteigenosse. ein Wendepunkt! Die Grausamkeit des Krie- Weil er in die von ihm erbaute Arbeitersied- ges, der Anblick verstümmelter Soldaten, Ber- lung in Schalkau einen ehemaligen Kommu- ge von Toten und das Elend der Flüchtlinge nisten aufgenommen hatte, den Vater einer aus dem Osten, die ständig von der zurück- kinderreichen Familie, wurde er als Bürger- weichenden Front eingeholt wurden, das alles meister abgesetzt. Nur seine schwere Kriegs- warf mich aus der Bahn: Nie wieder Krieg! verletzung bewahrte ihn vor weiteren Ver- Nach wenigen Wochen Gefangenschaft folgungen. Er durfte als Jurist in der Gothaer mit der Erfahrung, wie Hunger quälen kann, Landesbrand-Versicherungs-Anstalt arbeiten. und Arbeit in der Landwirtschaft fuhr ich nach Ebenso heftig bewegte mich das missglückte Hause, sobald die Bahnverbindungen wieder Attentat des Obersten von Stauffenberg auf notdürftig hergestellt waren. Aus der engli- Adolf Hitler und die menschenunwürdige Ver- schen Besatzungszone kam ich nach Gotha in folgung der beteiligten hoch verdienten Offi- die sowjetische und erfuhr sehr bald, dass Ost ziere und deren Familien. Ein kritisch distan- und West auf unabsehbare Zeit getrennt sein ziertes Verhältnis zum Nationalsozialismus ver- würden. Das war ein einschneidender Wen- stärkte sich zunehmend. Es blieb die deutsch- depunkt: Aus einem in Kindheit und Jugend nationale Einstellung. Ich meldete mich früh- erlebten großen deutschen Vaterland in ein ge- zeitig freiwillig zum Wehrdienst und für die ak- teiltes Land unter der Herrschaft der Sowjets. tive Offizierslaufbahn bei der Luftwaffe. Um In Gotha arbeitete ich einige Monate als dieses Zieles willen tat ich auch Dienst bei der Volontär in einer Werkzeugmaschinenfabrik, Segelfliegerstaffel der Hitlerjugend. bevor ich in einem Sonderlehrgang für Kriegs- Im November 1944 wurde ich als Offi- teilnehmer das Abitur nachholen konnte. ziersbewerber eingezogen, aber nicht zum Auch durch Erlebnisse in der Gefangenschaft

123 dazu bewegt, bewarb ich mich an mehreren fuhr ich mich mit dem Motorrad in der Dun- Universitäten, um Theologie zu studieren. Der kelheit und landete in Bayern. Niemand hat erste positive Bescheid kam aus Marburg. das bemerkt. Das änderte sich schnell. Illegal mußte ich die Grenze der sowjetischen Zone überwinden. In Marburg hatten zwei Wir erlebten hautnah das Gothaer Freunde bereits für mich Quartier brutale Gesicht der Diktatur gemacht im Wohnhaus der Landsmannschaft Hasso-Borussia. Ich wurde Verbindungsstu- Die DDR richtete Sperrgebiete ein. Sie sollten dent und erlebte eine große, ehrliche und die Grenze sichern. Unliebsame Bürger wur- hilfsbereite Kameradschaft. Das sorgenfreie den zwangsweise umgesiedelt, Familien wur- Studentenleben wurde mit der Währungsre- den getrennt. Wir erlebten hautnah das bru- form jäh unterbrochen. Plötzlich stand ich mit- tale Gesicht der Diktatur. Das zweite schlimme tellos da. Mit Beginn der Semesterferien fand Erlebnis war die „Kollektivierung der Landwirt- ich Arbeit in einem Kohlebergwerk in Gelsen- schaft“. Auf die Bauern wurde ein unmensch- kirchen. Dort teilte ich mit den erfahrenen licher Druck durch wochenlange Einquar- Kumpeln die harte Arbeit, aber auch die ein- tierung von Sicherheitskräften ausgeübt. Auch zigartige Kameradschaft, eine Erfahrung, die die Einführung der atheistischen Jugendweihe mich lebenslang begleitet. als Kampfmittel gegen die Konfirmation fiel in die Wurzbacher Jahre. Eltern, die in Berufen Auf abenteuerlichem Weg arbeiteten, die vom Staat abhängig waren, zurück nach Thüringen wurden mit schweren Repressalien gezwun- gen, ihre Kinder zur Jugendweihe zu schicken. Ich wechselte die Universität und legte in Hei- Unsere beiden Kinder, Susanne wurde in den delberg nach zwei sehr ertragreichen Seme- ersten Jahren unserer Zeit im Frankenwald ge- stern das 1. Theologische Examen ab. Da- boren, gehörten nicht der staatlichen Kinder- nach wollte ich schnellstens nach Thüringen organisation, den „Jungen Pionieren“ an. Ob- zurückkehren, um mit meiner Braut zusam- wohl sie sehr gute Schüler waren, wurden men zu sein, die ich in den Semesterferien lie- ihnen die größten Schwierigkeiten in den Weg ben gelernt hatte. Das gelang auch auf aben- gelegt, als wir sie auf die „Erweiterte Ober- teuerlichen Wegen im Sommer 1951. Der Lan- schule“ schicken wollten. deskirchenrat unserer Kirche schickte mich als Diese Erlebnisse stellen nur die Spitze des Vikar nach Angelroda bei Arnstadt. Dort hei- Eisberges dar. Sie weckten die Sehnsucht nach rateten wir, Trautel Sickert aus Gotha und ich – einem anderen Staat, in dem Gerechtigkeit der glücklichste Wendepunkt in meinem Le- herrscht. Aber so stark das Verlangen auch ben. Die Kirchgemeinde, die zugleich auch war, es wurde von einer anderen Vorstellung die Dorfgemeinschaft verkörperte, nahm uns gebremst. Die mit nuklearen Waffen hoch ge- liebevoll auf. Unser erstes Kind wurde tot ge- rüstete Sowjet Union würde nie einen Teil boren. Meine Frau schwebte in Lebensgefahr. Deutschlands kampflos dem ebenfalls hoch Knapp zwei Jahre danach erblickte unser Tho- gerüsteten Westen überlassen. Ein neuer mas gesund und munter das Licht der Welt. Im furchtbarer Krieg drohte. Ich war überzeugt, Herbst 1953 legte ich das 2. Theologische Exa- dass wir um des Friedens willen das Leben in men ab, danach versetzte mich die Kirchen- der DDR ertragen mussten. leitung wegen des drückenden Mangels an Diese Überzeugung beherrschte mich sehr Pfarrern in eine größere Pfarrstelle nach Wurz- lange, in den zehn Jahren als Superintendent bach im Frankenwald. Zu der kleinen Stadt in Lobenstein (1968 bis 1978) und auch in gehörten eine eingemeindete Ortschaft und den ersten Jahren des Bischofsamtes in Eise- drei Dörfer. Zwei davon lagen dicht an der nach (1978 bis 1992). In Lobenstein machte bayerischen Grenze. Bei einer Fahrt nach Tit- ich meine ersten Erfahrungen mit dem Mini- schendorf zur Vertretung im Gottesdienst ver- sterium für Staatssicherheit. Schon damals

124 entstanden die Regeln für den Umgang mit besuchte ich einmal, in zehn Kirchenkreisen dem Geheimdienst, die ich als Bischof un- war ich zweimal zu Gast. seren Pfarrern, Pastorinnen und allen Mitar- In dieser Zeit erreichten mich viele Bitten beitern, auch den Mitgliedern der Synode na- um Fürsprache in bedrängenden Situationen. he legte. Keine Gespräche unter vier Augen, Häufig waren Ausreiseanträge der Anlass, immer Zeugen hinzuziehen. Keine Gespräche aber auch Benachteiligungen von Kindern in neutralen Räumen, immer auf dem Amts- und Jugendlichen im sozialistischen Bildungs- zimmer bestehen. Keine Gespräche unter der system der DDR, Beschwernisse im Strafvoll- Verpflichtung auf Geheimhaltung, immer den zug und Wehrdienstverweigerungen. Etwa der Bischof benachrichtigen. Hälfte aller Hilfesuchenden konnte ich helfen. Die stellvertretenden Vorsitzenden der Bezirks- Die Stasi wollte Leichs Wahl zum räte in Erfurt und Gera sympathisierten heim- Landesbischof verhindern lich mit der Kirche und hatten sich ein gesun- des Gerechtigkeitsgefühl bewahrt. Sie konn- Das Ministerium für Staatssicherheit wusste, ten ihren Einfluss im eigenen Bereich nutzen warum es meine Wahl als Landesbischof mit und brachten sich dadurch oft selbst in Ge- allen Mitteln verhindern wollte. Nach drei ver- fahr. Meine Mitarbeiter im Vorzimmer hatten geblichen Anläufen wurde ich 1978 gewählt es sich mit mir zur Pflicht gemacht, alle Hilfs- und am 4. Mai unter großer Beteiligung der gesuche sofort, wenigstens mit einem Zwi- Gemeinden, der Pfarrerschaft und von Vertre- schenbescheid zu beantworten. Wir waren tern aus der Ökumene in das Amt eingeführt. beschämt, wie dankbar in Not Geratene da- Außer der Leitung der Landeskirche standen für waren, auch wenn ich ihnen nicht helfen größere öffentliche Aufgaben an. 1983 stand konnte. Immer wieder musste ich erkennen, der 500. Geburtstag Martin Luthers bevor. wie demütigend, menschenunwürdig und Das kirchliche Luther-Komitee wurde bereits schädlich es ist, wenn Bürger grundsätzlich 1979 gegründet. Als dienstjüngster Bischof in kein Recht bekommen gegen Funktionäre des einem Luther-Land wurde ich zum Vorsitzen- Staates, der Partei oder des Staatssicherheits- den bestimmt. 1986 wählte mich die Konfe- dienstes. renz der Kirchenleitungen zu ihrem Vorsitzen- den. Auch in der Vereinigten Evangelisch-Lu- Zu Friedensgebeten versammelten therischen Kirche in der DDR und im Natio- sich immer mehr Menschen nalkomitee des Lutherischen Weltbundes musste ich leitende Aufgaben übernehmen. Als das atomare Wettrüsten in Ost und West Endlich wurde ich noch in das Exekutivkomi- einen neuen Weltkrieg auszulösen drohte, be- tee des Lutherischen Weltbundes gewählt. gannen 1982 in den Evangelischen Kirchen Das waren große und interessante Aufga- die Friedensgebete. „Schwerter zu Pflugscha- ben. Die wichtigste blieb aber für mich immer ren“, nach einer Verheißung beim Propheten der Dienst an den Gemeinden. Den Verfol- Micha war ihr Leitspruch, der bald in der gan- gungen und Benachteiligungen von Christen zen DDR populär wurde. In diesen Gebeten in der DDR konnten wir nur durch eine gute sammelten sich immer mehr Menschen, die Gemeinschaft in der Kirche begegnen. Um durch die Verhältnisse in der DDR belastet wa- das zu fördern, richtete ich mit meinen treuen ren: Ausreisewillige, Angehörige von Men- persönlichen Referenten die Bischofs-Be- schenrechts- und Umweltgruppen und auch suchstage ein. Jeweils für vier Tage hielten wir Jugendliche, die unter den Nachstellungen uns in einer Superintendentur auf und suchten des Staatssicherheitsdienstes litten. Von An- möglichst viele Begegnungen mit Gemein- fang an waren diese weltoffenen Gottes- degliedern, Kirchenältesten und kirchlichen dienste auch Foren für offene und kritische Mitarbeitern. Damals hatte unsere Landeskir- Aussprachen. Sie entwickelten eine große An- che 42 Superintendenturen. Jede davon ziehungskraft auf Außenstehende und wuch-

125 sen immer mehr an. Immer wieder wurde mir der Evangelischen Kirchen verlesen. Er mahnt von Staatsfunktionären nahe gelegt, die Frie- gesellschaftliche Reformen an, die Beteili- densgebete auf „rein kirchliche“ Aussagen zu gung der Bürger an der Gestaltung des öffent- beschränken. Ich musste unentwegt aus inne- lichen Lebens, eine realistische Berichterstat- rer Überzeugung für die Menschen eintreten, tung der politischen und wirtschaftlichen Lage die sich in den Friedensgebeten sammelten. in den Medien und uneingeschränkte Reise- Aus diesen Gebeten, offen für alle, ent- möglichkeiten für alle Bürger. Die Synode des wickelten sich die Demonstrationen mit ihrer Bundes der Evangelischen Kirchen ging am starken Gemeinschaft, die sich zu einer gro- 19. September in Eisenach noch einen Schritt ßen politischen Macht steigerten. In jenen weiter. In einer Entschließung fordert sie um- Wochen war ich in Thüringen unterwegs, von fassende Reformen, darunter öffentliche Aus- zahlreichen Gemeinden eingeladen, bei ihren einandersetzung über gesellschaftliche Prob- Friedensgebeten zu sprechen. Unvergessliche leme, verantwortliche Mitarbeit der Bürger, Erlebnisse nahm ich dabei für immer in meine Wahrhaftigkeit, pluralistische Medienpolitik, Erinnerung auf. demokratische Parteienvielfalt, Reisefreiheit, Die Demonstrationen schufen aus sich he- Wirtschaftsreformen, verantwortlicher Um- raus zwei alle vereinende Parolen, zunächst gang mit dem privaten und gesellschaftlichen „Wir sind das Volk!“, dann „Wir sind ein Volk!“. Eigentum, Demonstrationsfreiheit und demo- Sie trugen wesentlich zum Sturz der Diktatoren kratische Wahlen. bei. Dies hielt ich lange Zeit, bis zum Oktober 1989 für unmöglich. Ich konnte mir nicht vor- Angst und falsches stellen, dass die Sowjetunion den östlichen Harmoniebedürfnis überwinden Teil Deutschlands aus ihrem Machtbereich ent- lassen würde. Daher trat ich für demokra- Als Vorsitzender des Bundes der Evangeli- tische Veränderungen innerhalb der DDR ein schen Kirchen hatte ich den öffentlichen Brief und für ein „menschliches Angesicht“ des So- und die Entschließung der Synode nach au- zialismus. Diese Formulierung brachte mir die ßen, vor allem gegenüber den Politikern zu öffentliche Schelte Erich Honneckers bei dem vertreten. Ich tat es mit innerer Überzeugung, Appell zum Rosa Luxemburg Gedenken ein. dabei musste ich oft Angst und ein falsches Harmoniebedürfnis überwinden. Die Forde- Brief der Kirchenleitungen an den rungen entsprachen meinen persönlichen Er- Staatsratsvorsitzenden wartungen. Ich erlebte die Wende nicht nur mit, ich durfte sie mit gestalten. Die Grenz- Ich wünschte mir natürlich die Wiedervereini- öffnung in Berlin am 9. November 1989 er- gung unseres Vaterlandes, wie ich es in Kind- lebte ich allerdings mehr am Rande mit. Ich heit und Jugend erlebt hatte. Ich erwartete vor hatte gerade in Berlin bis tief in die Nacht hi- allem die Gleichheit aller Bürger vor dem Ge- nein eine Sitzung zu leiten und wunderte mich setz, unabhängig von politischen oder religiö- beim nächtlichen Erholungsspaziergang, sen Überzeugungen, die Chancengleichheit dass die sonst zu dieser Zeit menschenleeren vor allem im Bildungssystem und in der Berufs- Straßen voller Leben waren. Dann fielen mir wahl, die freie Religionsausübung und freie die Plastik-Einkaufsbeutel mit den westlichen Wahlen unter mehreren gleichberechtigten Werbeslogans ins Auge. Da wusste ich Be- Parteien. Diese Erwartungen teilte ich mit Vie- scheid und war von Herzen froh. len. Sie wurden von unserer Kirche auch öf- Viel intensiver erlebte ich den Tag der fentlich ausgesprochen. Am 2. September Wiedervereinigung unseres Vaterlandes. Ich 1989 verabschiedete die Konferenz der Kir- hatte unseren Pfarrern und Pastorinnen emp- chenleitungen einen Brief an den Staatsrats- fohlen, in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober vorsitzenden. Der Brief wurde mit einem Ge- 1990 die Glocken zum Gebet läuten zu las- leitwort am 10. September von allen Kanzeln sen. Am Tag der Wiedervereinigung selbst

126 konnte ich in der überfüllten Georgenkirche an die Evangelische Kirche in Deutschland einen Dankgottesdienst halten. Im Anschluss ein. Thüringen war die erste östliche Landes- daran fand der Festakt des Landes Thüringen kirche, die Seelsorge an den Soldaten organi- auf der Wartburg statt. Meine Frau und ich sierte. Mit der Hilfe eines Sozialsekretärs der sangen zum ersten Mal öffentlich die Natio- Landeskirche in Bayern richteten wir den nalhymne mit und hatten dabei Tränen in den „Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt“ ein. Ein Augen. Das sind unvergessliche Augenblicke, altes Anliegen schien sich für mich zu erfüllen, die mich für immer begleiten. die bewusste Hinwendung der Kirche zu unse- ren so lange vernachlässigten Arbeitern. Zahlreiche Auszeichnungen Jetzt lebe ich schon zwölf Jahre im Ruhe- im Ausland stand. Ich bin dankbar, dass ich ihn zusam- men mit meiner Frau verleben und in unseren Auch die große Anteilnahme befreundeter Evangelischen Kirchen noch mitwirken kann Staaten bewegte mich tief. Wegen meines durch Predigten, Vorträge und schriftliche Ar- Einsatzes im Lutherjahr war ich als erster Deut- beiten. Dabei ist es mir ein besonderes An- scher für die „Franklin D. Roosevelt four free- liegen, für die Wiederherstellung der Einheit doms medal” vorgeschlagen worden. Die der Kirche, besonders mit der Römisch Katho- Verleihung fand 1984 in Middelburg, in den lischen Kirche, einzustehen. Niederlanden statt, der Heimat der Familie Roosevelt. Zusammen mit meiner Frau be- Kritische Betrachtung der eindruckte mich die Verbundenheit der Hol- vergangenen 15 Jahre länder und Amerikaner mit dem deutschen Schicksal. Ebenso überwältigend war für uns Sehr wach beobachte ich im Ruhestand zu- der Besuch in den Vereinigten Staaten auf Ein- sammen mit meiner politisch interessierten ladung der Lutherischen Kirche Amerikas im Frau das öffentliche Geschehen. 15 Jahre nach November 1990. Zehn Tage verbrachten wir der Wiederherstellung der deutschen Einheit in dem großen Land zu den verschiedensten bin ich nach wir vor dankbar für die große Anlässen. Ich hielt Vorträge und predigte in Wende. Jedes Mal, wenn ich bei Herleshau- Gottesdiensten. Die Wittenberg University in sen an den ehemaligen Grenzkontrollstellen Springfield / Ohio verlieh mir die Würde eines vorbei fahre, steigt mir die Dankbarkeit neu „Doctor of Divinity” und in Washington wurde ins Bewusstsein. Aber ich sehe auch vieles ich mit dem „Martin Luther Award” wesentlich kritischer. Vor der Wende hatte ich ausgezeichnet. Das tiefste Erlebnis aber be- keine Vorstellung davon, wie stark der prakti- scherten uns unsere Freunde. Sie erzählten, sche Materialismus in der westlichen Gesell- dass die Deutsche Lutherische Gemeinde in schaft beheimatet ist. Es tut weh zu beob- Washington am Tage der Wiedervereinigung achten, wie schnell wir uns im Osten, vom Deutschlands zu einem Dank-Gottesdienst in weltanschaulichen Materialismus befreit, den St. Pauls Cathedral eingeladen hatte. Die westlichen Wertvorstellungen angeglichen ha- Amerikaner kamen so zahlreich, dass das un- ben. Die einseitige Ausrichtung auf möglichst gewöhnlich große Gotteshaus zum ersten Mal schnell zu erwerbenden Besitz hat in nahezu seit seiner Erbauung restlos besetzt war. Der allen Berufsgruppen eine kriminelle Energie Höhepunkt des Gottesdienstes sei der in frei gesetzt, die das Wohl der Gemeinschaft deutsch und englisch gesungene Choral ge- bedenkenlos dem eigenen Wohlergehen op- wesen „Nun danket alle Gott“. fert. In der mir noch verbleibenden Dienstzeit 1992 suchte die älteste Bürgerbewegung bis zum Erreichen der Altersgrenze konnte ich Deutschlands, die „Aktion Gemeinsinn“ in noch an wichtigen Entscheidungen mitarbei- den neuen Bundesländern Fuß zu fassen. Ich ten. Mit aller Kraft setzte ich mich für den An- ließ mich rufen und wurde Vorsitzender des schluss der Evangelischen Kirchen in der DDR Kuratoriums. In der Gemeinschaft politisch

127 hoch gebildeter Männer und Frauen habe ich schland gehört dazu, nicht aus sich selbst her- schnell gelernt, wie entscheidend der auf das aus erhalten kann. Sie ist abhängig von der Gemeinwohl gerichtete Bürgersinn für eine inneren Einstellung der Bürger. Demokratie Gesellschaft ist. Wenn das Gleichgewicht zwi- setzt die Bereitschaft der Mehrheit aller Bürger schen der Verantwortung für das Gemein- voraus, für die unbedingte Würde des Men- wesen zugunsten der Eigeninteressen kippt, schen einzustehen. Sie ist außerhalb unserer erleiden auf Dauer sowohl die Gemeinschaft selbst garantiert durch die Liebe Gottes zu als auch die Einzelnen Schaden. Wenn die jedem Menschen, ohne Ansehen der Person. Mehrheit der Bürger nur an das eigene Die Werte der Menschenwürde, der Freiheit, Wohlergehen denkt, werden gemeinsame Auf- der Gerechtigkeit und der Solidarität mit den brüche zur Überwindung von Gefahren un- Schwachen machen die Güte eines Gemein- möglich. Das Gerechtigkeitsgefühl gegen- wesens aus. Solange ich bei Kräften bin, will über den Aufgaben für das Gemeinwesen ich nicht müde werden, das immer wieder zu wird zerstört. Dadurch werden gemeinsame betonen und darum zu beten, dass die Opfer und Anstrengungen unmöglich. Stimmen der Nachdenklichen gehört werden Mir ist heute erschreckend deutlich, dass – zum Wohl der Gemeinschaft und jedes sich die beste demokratische Ordnung, das Einzelnen, eine lebenswichtige Wende, die für Grundgesetz der Bundesrepublik Deut- unser Volk noch aussteht.

128 Christine Lieberknecht Die Jüngste im ersten Kabinett

haben, die ich nicht nur auf das Innere der Christine Lieberknecht: Kirchenmauern begrenzt wissen wollte. In der In ihrer Familie behütet aufgewach- CDU sammelten sich nicht wenige, die sich sen, studierte sie nach dem Abitur ihres Glaubens wegen dem Zugriff der SED in Jena Theologie und arbeitete in der DDR als Pfarrerin. entziehen wollten und eine innere Distanz zum Christine Lieberknecht gehörte zu SED-Staat hatten. Ich war überzeugt da-von, den ersten Mitgliedern der Ost-CDU, dass eine Zeit kommen würde, wo politisch die sich gegen deren Block-Politik organisierte Christen bereit sein müssen, auflehnten. Sie wirkte maßgeblich an der Erneuerung der Ost-CDU in der politische Verantwortung in einem freieren Wendezeit mit, ebenso an der Grün- und offeneren System, als die Diktatur der dung des CDU-Landesverbandes Thü- DDR es war, zu übernehmen. 1986 wurde ich ringen. In der ersten Thüringer Lan- Mitglied der Kommission für kirchliche Ju- desregierung leitete sie das Kul- tusministerium. Unter Ministerprä- gendarbeit beim Bund evangelischer Kirchen sident Dr. wurde in der DDR. Überall, wo ich hinkam, erlebte Christine Lieberknecht Ministerin ich ein vertrauensvolles Miteinander junger für Bundes- und Europaangelegen- heiten, danach Landtagspräsiden- Christen, bemerkte aber auch eine zuneh- tin. Jetzt ist sie Vorsitzende der mende Unzufriedenheit vieler Menschen mit CDU-Fraktion im Thüringer Landtag. den verkrusteten, diktatorischen und einen- genden Strukturen des bestehenden politi- Im Jahr 1989, dem Jahr, als die DDR-Re- schen Systems, an dessen Grenzen ich schon gierung in ihren ökonomischen, politischen von Schulzeit an auch immer wieder selbst und ideologischen Grundfesten für jeden stieß. spürbar zu wanken begann und es nicht schaffte, sich aus eigener Kraft in eine wirklich Erneuerung an Haupt und demokratische Gesellschaft zu wenden, war Gliedern eingefordert ich 31 Jahre alt. Ich hatte eine gute, von für- sorglichen Eltern behütete Kindheit im Wei- Im Frühsommer 1989 bekam ich von Gott- marer Land erlebt und 1976 an der erweiter- fried Müller, dem damaligen Chefredakteur ten Oberschule Geschwister Scholl in Bad des in erscheinenden evangelischen Berka das Abitur abgelegt. In Jena war an der Wochenblattes Glaube und Heimat eine Friedrich-Schiller-Universität mein Wunsch, Briefkarte: Er suche Mitstreiter, die bereit evangelische Theologie zu studieren, in Er- seien, in der CDU die drängenden gesell- füllung gegangen. Seit 1982 betreute ich zu- schaftlichen Probleme zu diskutieren und Ver- nächst als Vikarin und dann als Pastorin die änderungen einzufordern. Ich hatte schon Kirchgemeinden Ottmannshausen, Hottel- aufgehört zu glauben, dass man sich in der stedt und Stedten am Ettersberg, unweit von CDU sinnvoll engagieren könne, willigte aber Weimar. Neben meinem kirchlichen Einsatz doch in eine Begegnung ein, aus der ich den war ich bereits 1981 in die CDU eingetreten, Eindruck mitnahm: Wenn wir in einem offenen weil ich meinte, dass meine christlichen Über- Brief an die Vorstände und Mitglieder der zeugungen auch politische Konsequenzen CDU in der DDR die Probleme ungeschminkt

129 und kompromisslos beim Namen nennen, können wir vielleicht doch einige Veränderun- gen erreichen. Nach gründlich abwägenden Gesprächen mit meinem Mann, der unser Vorhaben für richtig und notwendig hielt, un- terschrieb ich als eine von vier Autoren den am 10. September 1989 erschienenen Brief aus Weimar . Als haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter der Kirche, die der CDU angehö- ren, forderten wir darin öffentlich die Erneuerung der Partei an Haupt und Gliedern und durchgreifende Reformen in der Gesellschaft der DDR. Wir wandten uns gegen die Ausreise-Verhinderungspolitik der DDR, gegen den so genannten demokrati- schen Zentralismus insbesondere die Zensur von Diskussionsbeiträgen . Wir forderten mehr politische Mitverantwortung und Mit- sprache der CDU und ihrer Mitglieder, öffent- liche und unabhängige Meinungsbildung, das Ende von staatlicher Bevormundung, ob- Briefes Maßnahmen zur Verhinderung seiner rigkeitlichen Denkens, bürokratischen Um- weiteren Verbreitung fest. Der Vorsitzende gangs im Alltag und von Restriktionen. Uns ordnete wegen zügelloser Hetze gegen den ging es um die Offenlegung der unüberseh- sozialistischen deutschen Staat unseren Par- baren Wirtschaftsprobleme und um die ju- teiausschluss an. Dazu kam es aber nicht ristische Neuregelung der zur Farce verkom- mehr. Wir Autoren wurden nach Berlin in die menen Wahlverfahren. Es war damals nicht Parteizentrale einbestellt und sollten uns vor ohne Risiko, sich als Gruppe politisch kritisch zwei Sekretären des CDU-Hauptvorstandes zu äußern. Die Staatssicherheit war allgegen- rechtfertigen. Wir gingen in dem äußerst kon- wärtig, und keiner konnte wissen, ob und in troversen Gespräch nicht von unseren For- welcher Weise sie uns Unannehmlichkeiten derungen ab und erreichten ein offizielles bis hin zu einer möglichen Verhaftung berei- Treffen mit dem Vorsitzenden Gerald Götting, ten würde. das schließlich am 1. November 1989 anbe- raumt wurde. Große Aufregung in der Wir trafen einen verunsicherten und sicht- Ostberliner CDU-Zentrale lich gealterten Mann an, der nicht verstehen konnte oder wollte, dass die Blockpolitik mit Mir war damals klar, dass wir mit unserer Ana- der SED, für die er vierzig Jahre lang in Wort lyse und den erhobenen Forderungen dem und Schrift eingetreten war, in Zweifel gezo- real existierenden Sozialismus ans Mark gen wurde und dass die persönliche Konse- gingen. Unser Brief verfehlte seine Wirkung quenz für ihn als CDU-Vorsitzender nur darin nicht. Er wurde in vielen Kreisvorständen und bestehen konnte, vom Parteivorsitz zurückzu- Ortsgruppen verbreitet und zustimmend dis- treten und Reformern Platz zu machen. Einen kutiert. Immer wieder fanden CDU-Mitglieder Tag später wurde Göttings Rücktritt verkündet heimlich eine Möglichkeit, ihn zu vervielfälti- und Lothar de Maizière, dem Vizepräsidenten gen und weiter zu reichen. Große Aufregung der evangelischen Bundessynode in der DDR, über unsere Aktion entstand besonders in der wurde vom Präsidium der CDU das Vertrauen Berliner Parteizentrale. Der Hauptvorstand als amtierender CDU-Vorsitzender ausge- der Partei legte sofort nach Erscheinen des sprochen. Am gleichen Tag verlangte die

130 CDU-Fraktion die Einberufung der Volkskam- sommer 1990 für einige Wochen den amtie- mer und forderte die Regierung der DDR auf, renden Vorsitz. Zunächst blieb ich weiterhin die Vertrauensfrage zu stellen, ein neues Pastorin, aber das dörflich-beschauliche Le- Wahlgesetz auszuarbeiten und die nachweis- ben währte nicht mehr lange. Nach der Land- lich gefälschten Kommunalwahlen vom 7. tagswahl im Oktober 1990 und dem klaren Mai 1989 zu wiederholen. Es ist sicher nicht Sieg der CDU gab es kein Zögern mehr: Ich übertrieben zu sagen, dass der Brief aus nahm das Angebot des damaligen Mini- Weimar wesentlich dazu beigetragen hat, sterpräsidenten Duchac an, als Kultusministe- das freiheitliche Denken in der CDU zu ver- rin Mitglied seines Kabinetts zu werden und stärken und den Sturz der alten Ost-CDU-Pa- wurde somit quasi über Nacht zuständig für teiführung zu beschleunigen. über 1.000 Schulen und über 300.000 Schü- lerinnen und Schüler im Land. Die CDU vollzog den programmatischen Wechsel Ich war im Kabinett mit 32 Jahren die Jüngste. Mir war klar, dass es an verantwortlicher Stelle Die friedliche Revolution der DDR wurde im mitzuwirken galt, Thüringen als wiedergegrün- Herbst 1989 von den Kräften der Bürger- detes Land im Verbund der anderen 15 deut- bewegung herbeigeführt und getragen. Pa- schen Länder neu aufzubauen und auf dem rallel dazu kämpften die politischen Parteien Boden einer tatkräftigen Demokratie fest zu um personelle Erneuerungsprozesse mit un- verankern. Zwei große Aufgaben mussten un- terschiedlicher Intensität und unterschiedli- ter vielen anderen bewältigt werden: Erstens chem Erfolg. Die CDU vollzog auf einem Son- wollte ich, dass die Schüler in Thüringen in derparteitag am 15. und 16. Dezember 1989 einer Schule der Freiheit gebildet werden, in den programmatischen Wechsel. Noch Ende der vielfältig mit modernsten reformpädago- Dezember 1989 wurde die Bildung eines Lan- gisch orientierten Methoden gearbeitet wird. desverbandes Thüringen angesteuert und am Ich wollte Raum für Kreativität, Fantasie, Frei- 20. Januar 1990 auf dem 1. Landesparteitag heit und Entdeckung eigener Fähigkeiten und in Weimar unter großem Jubel realisiert. Ich Begabungen öffnen. Ich sah die Aufgabe der wurde zu einer der stellvertretenden Vorsitzen- Schule darin, sich an einem Menschenbild zu den gewählt und übernahm nach dem Rück- orientieren, das, wie die Thüringer Verfassung tritt des gewählten Vorsitzenden im Früh- sagt, eingebettet in die europäische huma-

Christine Lieberknecht mit Michail Gorbatschow und seiner Frau Raissa.

131 nistische Tradition, gekennzeichnet ist von der alten und neuen Hauptstadt Berlin. Mit Freiheit, Toleranz, Individualität und Verant- der damals initiierten Reihe Hauptstadtzei- wortung, insbesondere für die Erhaltung und chen hat Thüringen als junges Land auch in den Schutz der natürlichen Umwelt . Zweitens nationalen Debatten eigene Akzente setzen bestand ich darauf, dass alle 38.000 Lehre- können. Nach den Landtagswahlen 1999 rinnen und Lehrer auf eine mögliche Stasiver- wurde ich vom Parlament zur Präsidentin des gangenheit überprüft werden. Opposition Thüringer Landtags gewählt. und Gewerkschaften warfen mir vor, an die Fünf Jahre bestanden meine wichtigsten Pädagogen strengere Maßstäbe als an einst Aufgaben darin, gemeinsam mit meinen bei- führende Blockpolitiker der eigenen Partei den Vizepräsidentinnen die Geschicke des anzulegen. Die PDS forderte mich demonstra- thüringischen Landesparlaments zu lenken. tiv zum Rücktritt auf. Doch ich hatte in dieser Ich war bestrebt, eine politische Kultur zu för- Frage in erster Linie das Wohl der Schüle- dern, in der die parlamentarische Demokratie rinnen und Schüler und ihr Recht auf glaub- feste Wurzeln schlagen kann. Denn das Ver- würdige Lehrer im Blick. Als zu Beginn des trauen in die freiheitlich-demokratische Grund- Jahres 1992 dem Ministerpräsidenten Du- ordnung ist noch nicht in dem Maß vorhan- chac Vorwürfe im Zusammenhang mit seiner den, wie es wünschenswert ist. Das hat nicht Vergangenheit gemacht wurden und eine zu- zuletzt die niedrige Wahlbeteiligung zu den nehmende Lähmung der Regierungsarbeit ins- Landtagswahlen 2004 gezeigt. In diese Legis- gesamt nicht mehr zu übersehen war, hielt ich laturperiode fiel auch die Stärkung der Parti- es für unumgänglich, zusammen mit zwei wei- zipationsrechte der Bürgerinnen und Bürger teren Kabinettskollegen meinerseits den Rück- durch die Senkung der verfassungsrechtlichen tritt vom Amt und damit den Austritt aus dem Hürden für die direkte Demokratie. ersten Thüringer Kabinett nach 1990 zu er- Seit dem 8. Juli 2004 bin ich Vorsitzende klären. der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag. Das ist für mich eine neue Herausforderung, die Als Ministerin für Bundes- und ebenso viel Fingerspitzengefühl wie klare Vor- Europaangelegenheiten stellungen über die Zukunft des Landes ver- langt. Wir wissen heute, dass durch die friedli- Der neue Ministerpräsident Dr. Bernhard Vo- che Revolution und der folgenden Wieder- gel übergab mir nur wenige Tage später nach vereinigung Deutschlands längst fällige Refor- seinem Amtsantritt im Februar 1992 die Lei- men in der damaligen alten Bundesrepublik tung des Ministeriums für Bundes- und Euro- vertagt worden sind. Deshalb liegt es nun an paangelegenheiten, eine der damals interes- uns, ganz Deutschland und mit ihm den santesten politischen Aufgaben, weil ich hier Freistaat Thüringen in mancher Hinsicht zu die Möglichkeit sah, parteiübergreifende Be- erneuern. Der seit 1989 zurückgelegte Weg gegnungen zwischen Politik, Wirtschaft, Wis- ist auf dem Prüfstand. Viele Menschen belas- senschaft und Kultur zu ermöglichen. Ich sam- tet das. Doch wer durch die friedliche Revo- melte reichlich Erfahrungen auf dem diplo- lution in die Politik verschlagen wurde und matischen Parkett in Bonn und Brüssel. Als dort geblieben ist, weiß: Nur Wandel und Ver- Bevollmächtigte für Bundesangelegenheiten änderungsbereitschaft garantieren Dauer begleitete ich politisch den Umzug der Thürin- auch die Dauer der freiheitlichen Verhältnisse, ger Landesvertretung von Bonn in die neu zu für die wir 1989 auf die Straße gegangen errichtende Thüringenvertretung im Zentrum sind.

132 Jens Müller Für meine Träume habe ich immer gekämpft

(FDJ). Das Jahr 1973 brachte für mich privat Jens Müller: den ersten großen Einschnitt, der gewisserma- Geboren im Juli 1965 in Torgau, ßen auch die Weichen für meine Zukunft ge- zogen seine Eltern erst nach Suhl, stellt hat. In dem Jahr habe ich mit dem Renn- später nach Ilmenau. rodeltraining angefangen. Wenn ich heute zu- 1973 begann Jens Müller mit dem Rennrodeltraining. Zur Kinder- und rückblicke, dann kann ich nur sagen: Hyper- Jugendsportschule Oberhof kam er aktive Kinder wie ich eines war, die sollten zum 1979 – dort wurden die Grundlagen Sport und nicht zum Arzt! für seine spätere Sportkarriere im Rennrodeln gelegt.Schrittweise ar- Als ich dann 1979 die Delegierung zur beitete er sich bis zur Weltspitze Kinder- und Jugendsportschule Oberhof ge- nach oben und krönte seine Sport- schafft hatte, da war ein Traum für mich in Er- lerlaufbahn 1988 mit einer Gold- füllung gegangen. Mit dem Blick zurück kann medaille in Calgary. Die Wende brachte auch für Jens Müller zu- ich nur sagen, dass das tägliche Training und nächst tiefe Einschnitte. Doch ge- die Schule dazu schon eine unglaubliche Be- lang es ihm, an seine früheren Er- lastung waren. Da kommen wirklich nur die folge anzuknüpfen, bis er im Jahr 2000 Weltmeister wurde. Jens Müller Härtesten und die Motiviertesten durch. Diese beendete danach die aktive Karriere Jahre waren für alle – auch für die unter uns, und ist nun Skeleton-Bundetrainer. die es letztlich nicht schafften – eine gute Schule für das Leben.

Bearbeitet von Kinder-und Jugendsportschule Dr. Juliane Rauprich sowie Dienst in der NVA

Geboren wurde ich nicht in Thüringen, son- Mit der Delegierung zur Kinder- und Jugend- dern in Torgau – am 6. Juli 1965. 1967 sind sportschule steigerte sich die Einflussnahme meine Eltern mit mir zunächst nach Suhl, hinsichtlich unserer weltanschaulichen Posi- 1970 nach Ilmenau umgezogen. Mein Vater tionen und unserer Haltung zum Staat DDR war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Werk für natürlich erheblich. Ich erinnere mich noch TechnischesGlas Ilmenau. Politisch hat er sich gut an den Direktor der Schule. Der hat uns in der CDU positioniert. Die Mutter hat in der immer wieder gesagt, dass wir „die Nach- Buchhaltung im VEB Labortechnik Ilmenau wuchselite der Partei“ seien. Bis zum Kriegs- gearbeitet. Gewohnt haben wir damals in ende 1945, so erzählte man es sich hinter vor- einem typischen Plattenbau in Ilmenau. An- gehaltener Hand, soll dieser Mann übrigens fang 1974 wurde dann meine Schwester voller Überzeugung Kampfflieger gewesen sein, Katja geboren. Von 1972 bis 1979 besuchte dann habe er seine Überzeugung um 180 ich die Polytechnische Oberschule „Otto Gro- Grad gedreht. Aus diesem Grund habe ich tewohl“ in Ilmenau. Als Schüler und als Ju- das damals auch alles nicht so ernst genom- gendlicher durchlief ich die „normalen“ ge- men. sellschaftlichen Organisationen wie Pionier- 1985 trat ich den Dienst in der Nationalen organisation und Freie Deutsche Jugend Volksarmee der DDR an, ich war also Abitur-

133 schüler (das Abi habe ich 1986 an der Kinder- und Jugendsportschule in Oberhof gemacht) und zugleich bei der Armee – für optimale Bedingungen wurde alles möglich gemacht. Im Abitur-Jahr waren wir drei Schüler in einer Klasse! Im gleichen Jahr, 1986, hat dann mein Fernstudium an der Deutschen Hoch- schule für Körperkultur in Leipzig (DHfK) be- gonnen und zwar in der Außenstelle Oberhof. Wie sah mein Tag damals aus? Von 7. 00 Uhr bis 13 Uhr wurde studiert; eine halbe Stunde war dann „Zeit“ für das Mittagessen; ab 13. 30 Uhr ging das Training los, das bis 21.00 Uhr dauerte. Ich hatte zwischen 1.300 bis 1.500 Stunden Training im Jahr. Allerdings blieb mir schon noch die Zeit, am 5. Juni 1987 meine Freundin Katja Frenzel zu heiraten – das war und ist das Beste, was mir passieren konnte. Katja ist selbständige Physio- therapeutin mit einer eigenen Praxis in Ilme- nau. Als am 15. Juli 1989 unser Sohn Max meisterschaft, 1986 Zweiter bei der Europa- geboren wurde, da war ich dabei und kann meisterschaft, 1987 Zweiter bei der Welt- sagen, dass diese Geburt für mich das Größte meisterschaft. In dem Jahr bin ich in die SED war, was ich erleben konnte! eingetreten – es war ganz einfach die Voraus- setzung für die Beförderung zum Offizier. Ich Ganz bewusst für den Sport und für wollte meine Familie absichern und im Sport Höchstleistungen entschieden meine großen Ziele erreichen, dafür musste man sich in bestimmten Maße seiner Umge- Zurück zur sportlichen Laufbahn und meinen bung anpassen. Das ist im Grunde heute Eindrücken dabei. Mit den ersten Starts im auch nicht anders. „kapitalistischen Ausland“ wurden natürlich Froh war und bin ich, dass ich die Mitarbeit (?!) unsere Einstellungen und Positionen über in der Staatssicherheit verhindern konnte. Das einen längeren Zeitraum im Vorfeld schon be- war möglich, weil mir keinerlei Verfehlung obachtet und bewertet. Das wusste aber jeder nachzuweisen war, was meist der Anfang sol- und hat sich eben entsprechend verhalten. Ich cher Mit- oder Zuarbeit war. Und dann war ich habe mich immer ganz bewusst für mein Ziel auch auf die beste Ausrede meines Lebens den Sport – und dort möglichst Höchstleistun- gekommen: Wenn ich diese „Arbeit“ auch gen erbringen – entschieden. Klar, dann hatte noch erledigen muss, dann kann ich für die ich auch Gelegenheit, mit Athleten anderer Partei und für unser Land keine Siege einfah- Nationen zu sprechen, natürlich immer mit ren. Und das ist doch mein Klassenauftrag... dem Wissen, dass Leute dabei sind, die Dinge Meine führende Position innerhalb der Na- weitergeben müssen („melden“). tionalmannschaft nutzte ich bei den politi- Ja, dann stand ich mit zunehmenden schen Diskussionen, den so genannten „Rot- Erfolgen immer mehr in der Öffentlichkeit, wo lichtmeetings“, mit kritischen Fragen an die eine bestimmte Meinung zu vertreten war, die Politoffiziere, die uns zunehmend bis 1989 für sich von der privaten unterschied. Bis 1984 Auftritte im In- und Ausland vorbereiten soll- hatte ich mehrere nationale Titel im Rennro- ten. 1988 habe ich dann die Goldmedaille im deln gewonnen. In diesem Jahr wurde ich Ju- Kanadischen Calgary gewonnen und mir mei- niorenweltmeister, 1985 Dritter bei der Welt- nen größten Traum erfüllt. 1989 wurde ich

134 Zweiter bei der Weltmeisterschaft und auch der Kaserne in Bad Salzungen der Uniform- mit der Mannschaft Zweiter. Umtausch statt. Ein unglaubliches und früher Klar, auch ich habe gemerkt, dass es mit nie für möglich gehaltenes Ereignis! Vom der DDR den Berg runter geht. Die Frage war Oberleutnant der Nationalen Volksarmee wur- bloß: An welchem Punkt sind wir schon? Die de ich zum Feldwebel der Bundeswehr zurück Teilnahme an den großen Demonstrationen gestuft. Offiziersdienstgrade gibt es in den im Herbst/Winter 1989/90 oder ein Wechsel Sportfördergruppen der Bundeswehr nicht. bei Grenzöffnung waren für mich kein Thema. Die Frage stand also eindeutig: mitmachen Ich hatte eine Familie, für die ich verantwort- oder gehen? Also mitmachen! lich war und meine weiteren sportlichen Ziele, 1992 kamen die Olympischen Winterspie- von denen ich mich durch nichts abbringen le in Albertville in den französischen Alpen, wo ließ. ich Fünfter wurde. Ein Jahr später, 1993, habe ich mir in Altenberg bei Zinnwald dann einen Vom Oberleutnant der NVA zum offenen Trümmerbruch des linken Schienbein- Feldwebel der Bundewehr Wadenbeinknöchels zugezogen. Sieben Schrauben und eine Platte und die Aussage Mit der Wende und dem Zusammenschluss des Arztes damals: „Sie können froh sein, wenn Deutschlands entstand auch im Sport ein Va- sie wieder normal laufen können!“ Ich habe kuum, wo keiner richtig wusste, wie es wei- gekämpft und nie aufgegeben – wurde 1994 tergeht. Trotzdem hatte ich auch weiterhin bei den Olympischen Winterspielen in Lille- sportlich große Erfolge: 1990 wurde ich Drit- hammer in Norwegen Achter, 1995 mit der ter bei der Europameisterschaft und Dritter bei Mannschaft Erster bei der Weltmeisterschaft. der Weltmeisterschaft. Mit der Mannschaft hat 1995 habe ich es auch geschafft, meinen es sowohl in der EM als auch in der WM in Abschluss als Diplom-Trainer zu machen. Und diesem Jahr zum Sieg gereicht. wir sind in unser eigenes, neues Haus in Ilme- 1991 bin ich in der Weltmeisterschaft auf nau eingezogen. Das war eine wahnsinnig den vierten Platz gefahren. 1991 fand auch in schwere Zeit damals: Training, immer noch

Jens Müller (rechts) in der Kinder- und Jugendsportschule Oberhof.

135 Schmerzen, „Häuslebauer“, die Diplomarbeit bei der Teilnahme an meinen fünften Olympi- über die Bühne bekommen – eigentlich war es schen Spielen noch einmal eine Medaille zu gar nicht möglich. Aber auch der Umzug ins erringen. Dieser Traum war nach den Opera- eigene Haus gehörte zu meinen Träumen. tionen für mich ausgeträumt. Und nur mitfah- Und für die habe ich immer gekämpft. ren, damit der Bus voll wird – nein, das wollte 1996 wurde ich Erster in der Europamei- ich auf keinen Fall! sterschaft, Dritter bei der Weltmeisterschaft, Als ich in der Wendezeit aus der SED aus- mit der Mannschaft Sieger bei der EM und getreten bin, da haben für mich auch jegliche Zweiter bei der WM. 1997 brachte mir einen politischen Aktivitäten aufgehört. Das ist bis vierten Platz und mit der Mannschaft einen heute so. Mit der Wende haben sich meine zweiten Platz bei der Weltmeisterschaft; 1998 privaten Ziele und Wünsche verwirklichen las- kam Bronze bei den Olympischen Winterspie- sen. Sportlich musste ich aus einem langen Tal len in Nagano in Japan, 1999 wurde ich Zwei- wieder nach oben – was ich geschafft habe. ter bei der Weltmeisterschaft. Da liegt es auf der Hand, dass für mich und meine Familie die großen politischen Verän- Nach dem WM-Gold 2000 und zwei derungen positiv waren. Obwohl, heute hat Operationen die Laufbahn beendet man das Gefühl, dass die Minute nur noch 15 Sekunden hat, der Tag aber oft zwischen zwölf Und dann kam das Jahr 2000, mit eines mei- und 16 Stunden Arbeit bereit hält. Das geht ner besten Jahre sportlich gesehen: Ich wurde mir so, das geht meiner Frau so. Ich bin seit Erster bei der Europameisterschaft und Erster April 2002 Bundestrainer für Skeleton und will bei der Weltmeisterschaft. Aber dann kamen die Skeletonnationalmannschaft in die Welt- zwei Operationen an Schulter und Bandschei- spitze führen. Da sind wir schon auf einem be. Da habe ich dann auf eigenen Wunsch guten Weg. Darum ist hier mein voller Einsatz meine Laufbahn im September 2001 für be- gefordert. Für andere Dinge, wie Politik zum endet erklärt. Eigentlich war es ja mein Ziel, Beispiel – da bleibt keine Zeit.

Jens Müller mit seiner Familie zur Jugend- weihe des Sohnes Max.

136 Ute Oberhoffner Lebensbejahend und optimistisch auch in Ehrenämtern engagiert

Sprache weg: Es ist Ute Oberhoffner. Pein- Ute Oberhoffner: lich, dass ich sie nicht erkannt habe. Als Rennrodlerin im Einsitzer ist Dabei hatte ich mich vorbereitet auf dieses Ute Oberhoffner mehrfache DDR- Interview, mich eingelesen in die Erfolgsbilanz Meisterin, Europa- und Vizeweltmei- sterin, Gewinnerin von Silber- und der ehemaligen Rennrodlerin im Einsitzer, der Bronze-Medaillen bei den Olym- mehrfachen DDR-Meisterin, der Europa- und pischen Winterspielen in Sarajevo Vize-Weltmeisterin, der Gewinnerin von Bron- und Calgary. ze und Silber bei den Olympischen Winter- Die Wende brachte der Leistungs- sportlerin, die genau zu diesem Zeit- spielen in Sarajevo und Calgary, um nur das punkt ihre Sportkarriere beendete, Wichtigste zu nennen. Ein Foto dieser Zeit mit erhebliche Einschnitte. Studienab- strahlendem Siegerlachen und Helm hatte ich schluss, Beruf, ja die ganze bishe- mir einzuprägen versucht. Und nun das. Auch rige Lebensplanung waren in Frage gestellt. Ute Oberhoffner resig- jetzt trug sie ja einen Helm, aber es war ein nierte in dieser Situation nicht, Fahrradhelm, und das nunmehr lächelnde Ge- ergriff selbst die Initiative, quali- sicht darunter irgendwie anders schmaler, fizierte sich beruflich und wurde in hohem Maß ehrenamtlich tätig; vor gesetzter, reifer. Das macht mich unsicher. Sie allem im Sport und in der Kom- kommt in ihrer ungezwungenen Art mit der munalpolitik. Situation besser zu Recht als ich, und bittet mich leicht amüsiert über meine Verblüffung ohne Umschweife ins Haus. Das Gespräch führte Geschickt und wohltuend natürlich über- Rainer Morgenroth brückt sie mit einladender Geste und ermuti- genden Worten meine Unsicherheit. In Minu- Hoffnungslos verfahren , muss ich mir ein- tenschnelle sind wir im Gespräch, obwohl sie gestehen. Entsprechend ratlos vergleiche ich nur aus dritter Hand und ziemlich verwaschen meine Wegskizze mit den Namen der Ne- über mein Anliegen informiert worden war. benstraßen, an deren Kreuzung ich mitt- Doch nach kurzer Besinnung sowie gezieltem lerweile zum zweiten Male stehe. Wo ist nur Hinterfragen begrüßt sie die Absicht unseres die verflixte Brunnenstraße? Und kein Passant Vorhabens und erklärt ihre Bereitschaft zur Ver- zu dieser frühen Stunde auszumachen, den öffentlichung ihrer Biographie. Aus dem anfän- man fragen könnte. Da sehe ich eine Radlerin glichen Frage-Antwort-Spiel wird bald ein an- die Gegenfahrbahn heraufkommen. Bereit- geregtes Gespräch, in welchem für mich die willig reagiert diese auf mein Hilfe suchendes Ute Oberhoffner der Gegenwart zunehmend Winken. Nach kurzer Begrüßung nenne ich wichtiger wird als der biographische Nach- Straße, Hausnummer und Namen meines Zie- vollzug meines vorgeprägten Bildes einer be- les und sie fordert mich kurzerhand auf, ihr zu rühmten Leistungssportlerin. Denn mein Ge- folgen. Einige Straßen weiter biegt sie in eine genüber erweist sich als eine aufgeschlossene, Hauseinfahrt ein, springt vom Rad und fragt - selbstbewusste und charmante junge Frau, schon in der Haustür stehend, ob sie mir einen die sich wohl gern ihrer sportlichen Erfolge er- Kaffee aufbrühen solle. Mir bleibt fast die innert, aber ganz im Hier und Jetzt lebt. Das

137 macht sie mir einfach immer sympathischer, denn so sehr ich auch dränge, Ereignisse und Probleme der Vergangenheit zu reflektieren, sucht sie immer wieder den Bezug zur Ge- genwart. Diese gilt es zu leben. Da sind Familie und Beruf, Haushalt und noch belastetes Eigenheim, Ehrenämter und Alltagsprobleme unter einen Hut zu bringen. Übrigens hatte sie, als wir uns am Morgen zufällig begegneten, gerade ihre 2002 ge- borene Tochter Hanna zur Kinderkrippe ge- bracht und wollte bis zu diesem Gespräch noch einiges erledigen. Ich habe also ihren Zeitplan durcheinander gebracht. Das ge- steht sie mir ebenso entwaffnend offen wie die Tatsache, dass sie eigentlich gar keine Zeit für die Bewältigung ihrer persönlichen Vergan- genheit hätte, weil diese ihr keine Probleme bereite. Und schließlich müsse sie jede Menge andere Dinge im Auge behalten, die täglich die ganze Frau fordern. Mich muss sie nicht drücke haben den Leser neugierig gemacht, überzeugen. Ich weiß, die diplomierte Sozial- ihr nun selbst begegnen zu wollen. pädagogin ist Präsidiumsmitglied im Landes- *** sportbund, Ortsteilbürgermeisterin in Unter- Das Jahr 1989 hat den Lebensweg pörlitz, hauptamtliche Geschäftsführerin in ei- in mehrfacher Hinsicht verändert ner sozialpädagogischen Einrichtung da kommt allerhand zusammen, da muss man Das Jahr 1989 hat meinen Lebensweg in mehr- Selbstdisziplin üben sowie Kraft und Zeit ein- facher Hinsicht richtungsverändernd beein- teilen können. flusst. Im Frühjahr dieses Jahres beendete ich Ute Oberhoffner nimmt diese Herausfor- nach der WM in Winterberg meine aktive Lauf- derungen an, bewältigt sie mit Realitätssinn bahn als Leistungssportlerin. Damit verbun- und Pragmatismus, vor allem ohne Selbstge- den war natürlich eine berufliche und fami- fälligkeit. So ist sie auch mit der Wende und liäre Neuorientierung, bis dahin allerdings der deutschen Einheit umgegangen, hat de- noch abgesichert und begleitet. Es war aber ren Chancen genutzt, sich den damit verbun- eben schon ein Abschied mit Konsequenzen, denen oder neu aufgebrochenen Problemen wenn auch erträglichen. Ich will einige erwäh- gestellt. Lebensbejahend, bodenständig und nen, weil sie im Nachhinein für Außenstehen- umtriebig wie sie ist, will sie teilhaben und mit- de kurios erscheinen mögen. Für mich war wirken, wo ihre Kompetenz gefragt ist. In das damit die Mauer wieder dicht. Denn bis da- Schubfach der Wenderubrik Gewinner mag hin genoss ich ja das Privileg, zu Wettkämpfen sie sich ungern einordnen lassen. Schon gar oder Trainingslagern auch in den Westen nicht aber kann sie darüber hinwegsehen, dass reisen zu dürfen. Das war nun ebenso abge- es Problemzonen und Verlierer gibt, wo Ver- hakt wie das Taschengeld in Höhe von 15 änderung Not tut. Hier will sie nach besten DM, das wir bei solchen Anlässen erhielten Kräften mithelfen. Das verlangt schon ihre so- und ansparten. Vorbei die Möglichkeit, durch ziale Selbsteinordnung, die sie in den Satz fasst: Leistungen und Medaillen an Waren zu kom- Eigentlich bin ich schon immer ein Gruppen- men, die es hier sonst nicht gab. Zugleich war mensch . Mir hat das Gespräch mit Ute Ober- es ein Abschied von vielen Bekannten aus der hoffner viel gegeben und ich hoffe meine Ein- internationalen Wettkampfzeit, ein Abschied

138 von vertrauten Gesichtern, ob Sportler, ob ren? Ich wusste ja um seine kritische Distanz Funktionäre oder Pensionseltern , die man zu diesem Staat, selbst Fluchtgedanken hatte frühestens mit dem Renteneintritt wieder se- er schon geäußert. hen würde, wie die damaligen Reisegesetze Aber dann rissen mich die Ereignisse mit, der DDR es vorschrieben. Trotzdem haben die Hoffnungen und Erwartungen konnten je- weder ich noch mein Mann jemals ernsthaft in doch nicht alle Ungewissheiten und bangen Erwägung gezogen, diesen Staat zu verlas- Fragen an die Zukunft überdecken. Kurzum, sen. Doch im Moment dieses Abschiedes be- das Umbruchsjahr 1989 hat mich mächtig gann ich doch über Sinn und Unsinn dieser durchgerüttelt. Aber dazu später mehr. politischen Abgrenzung nachzudenken. Aber Ich halte es für wichtig, erst einmal darzu- dieser Einschnitt war verkraftbar, ich war ja er- stellen, weshalb mich damals solche Empfin- folgreich ausgestiegen , mit einer WM-Me- dungen bewegten. Und das ist nur aus meiner daille. Also war mir staatliche Unterstützung Entwicklung als Leistungssportlerin in der DDR für meine Neuorientierung sicher. zu erklären. Meine Kindheit verlief eigentlich ganz normal, Demokratische Erneuerung erhofft, behütet, geborgen. Ich wurde in Unterpörlitz, den Zusammenbruch nicht erwartet (Ilmenau) geboren, getauft, aber nicht streng christlich erzogen. Meine Eltern hatten mir so- Bis eben im gleichen Jahr der Mauerfall und zusagen alles offen gehalten . Ich ging also Zusammenbruch der DDR auch in meinem so lange in die Christenlehre, bis andere Inter- Lebensentwurf einen gravierenden Umbruch essen auch neue Prioritäten forderten. Wie auslösten. Natürlich habe ich die politischen viele meiner Schulkameraden begeisterte mich Ereignisse begrüßt, also die Wende bejaht, vor allem der Sport. Ich betrieb Leichtathletik auch wenn sie mich ebenso überraschte, wie und Turnen. Das nahm meine Zeit ganz in Tausende andere. Ich hatte den ganzen Anspruch. Eine Besonderheit meiner Kindheit Herbst mitgehofft, es möge zu einer fried- bestand darin, daß mein Vater, Peter Weiß, lichen und demokratischen Erneuerung der Rennrodler und dann Trainer in dieser Sport- DDR kommen, an deren Untergang hatte ich art war. Also war ich immer mit an der Rodel- keinen Augenblick gedacht. bahn und stellte immer häufiger die Frage, Im Moment des Mauerfalls freute ich mich wann ich denn nun endlich selbst rodeln dür- mit den Menschen, denen nun all das zu- fe. gänglich wurde, was uns Leistungssportlern bis dahin nur als Privileg eingeräumt worden Der Anfang war schwer bis das war, sozusagen als Ausgleich für unsere Lei- Talent entdeckt war stungen und Dank für unsere Medaillen, mit denen sich der Staat nach außen schmückte. Dann saß ich auf dem Schlitten. Aber aller An- Endlich konnten alle reisen, endlich kamen fang ist ja bekanntlich schwer. Ich war zu klein alle in den Genuss der sprichwörtlichen Ba- und zu leicht. Mein Vater lobte meist die an- nane . Aber zu mehr als zu dieser Rolle des deren. Das wurmte mich sehr, stachelte aber freudig anteilnehmenden Beobachters konnte meinen Ehrgeiz an. Wenn ich enttäuscht nach ich mich im Herbst 1989 noch nicht entschlie- Hause kam, tröstete mich meine Mutter mit ßen. Zumal da zu viele Fragen im Raum stan- den Worten: Ärgere dich nicht, du musst den, die mich unsicher machten. doch nicht dorthin . Aber ich wollte doch den Wie würde die Staatsmacht reagieren? Erfolg, und ich erkämpfte ihn mir. Dann kam Wird das Militär einschreiten? Was wird mit das Übliche: Nachdem mein Talent und mein den mutigen Protestierern geschehen? Ich hat- Ehrgeiz entdeckt waren, folgte die Förderung te ganz konkrete Ängste um meinen Bruder, im Trainingszentrum und schließlich die Dele- der ausgerechnet in dieser Zeit seinen Urlaub gation zur KJS (Kinder- und Jugend-Sport- in Ungarn verbrachte. Wie würde er reagie- schule). Letzteres wäre wegen Westverwandt-

139 schaft beinahe schiefgegangen. Aber schließ- lich, nach 13 Jahren ablegen. Diese Zeit wur- lich klappte es. Ich kam nach Oberhof. Das de nun um ein Jahr verlängert, was mir gar Internatsleben wurde mir nicht zu schwer. nicht gefiel, denn mein Bildungsabschluss war Schließlich ist es bis Oberhof nur ein Katzen- mir gleich wichtig wie der Sport. So bin ich aus sprung. Und Vati hatte ein Auto. Holen und mir selbst heraus an meine Grenzen ge- Bringen war selbstverständlich, wie überhaupt gangen und habe das Abitur mit Einzelun- meine Eltern alle meine Entwicklungsschritte terricht tatsächlich nach 13 Jahren abgelegt. fürsorglich begleiteten. Zudem gab es noch Weshalb ich darauf so stolz bin, muss ich kurz jene abenteuerlichen Münzfernsprecher, an erklären. Die Nominierung in die National- denen wir anstanden und unser Taschengeld mannschaft musste jährlich neu erkämpft wer- ausgaben, um täglich den Kontakt mit der Fa- den, was in der Regel eine strenge Fokussie- milie und Freunden zu halten. Vor allem aber rung auf das Training bedeutete. Damit war war da die Gemeinschaft. Wir waren zu fünft man eigentlich schon voll ausgefüllt. Vielleicht auf dem Zimmer, fast eine verschworene Ge- wird dadurch verständlich, dass für viele an- meinschaft. Dort wurde mir bewusst, dass ich dere Dinge, die mich durchaus interessierten durch und durch Gruppenmensch bin. wenig Zeit blieb. Das ärgerte mich zuweilen, Es fiel mir nicht leicht, das für meine Sport- doch nur durch Konzentration und Einsatz art notwendige Konkurrenzdenken zu ent- aller Kraft zur Realisierung dieser beiden wickeln. Deshalb waren die ersten Jahre ziem- Hauptziele konnte ich von 1983 bis 1989 lich schwierig. Ich musste meine Zimmerka- ständig Mitglied im Kader der Nationalmann- meradinnen und die besten meiner Alters- schaft sein. klasse besiegen, um mich zu behaupten. Das war nur schwer zu begreifen, denn einerseits Die Erfolge waren alle suchte ich die Nähe und Freundschaft und an- hart erkämpft dererseits wollte ich natürlich immer die Beste sein. Aber der Wille zum Erfolg und der ent- Meine Erfolge sind bekannt, ich betone aber, sprechende Ehrgeiz müssen mir angeboren sie waren hart erkämpft. Meine Dienstgrade in sein. Nur so ist zu erklären sicher unfassbar der NVA sind Spiegel meiner Leistungsschrit- für jeden Teenie dass ich mir schnellstmög- te. Als Soldat angefangen, brachten Erfolge lich zehn Kilo Gewicht angefuttert habe, da- Beförderungen. Mit den WM und Olympiaer- mit mir die anderen nicht davonfahren konn- folgen führte das von Medaille zu Medaille bis ten. (Gewichtswesten waren damals noch nicht zum Rang eines Oberleutnants. Aber nur no- üblich). minell. Die Uniform war für uns Absicherung, finanziell und beruflich. Militärisch gesehen Erstmals an der Tür der war die Uniform für uns Frauen weitgehend Nationalmannschaft angeklopft bedeutungslos. Ausbildung an der Waffe gab es für uns nicht, wie mich militärische Fragen Und dann ging es Schlag auf Schlag vorwärts. auch sonst nicht weiter interessierten. So muss- 1979 hatte ich mit dem 4. Platz bei der Ju- te ich zum Beispiel immer erst wieder erfra- gendweltmeisterschaft erstmals an der Tür der gen, wie man einem General gegenübertritt Nationalmannschaft angeklopft . Auf Grund und grüßt, wenn dann und wann einer kam. meiner weiterhin ansprechenden Trainings- Die einzige Konsequenz der Uniform bestand und Wettkampfleistungen wurde ich bereits für mich darin, zum Eintritt in die SED auf- für 1980 in den Olympiakader aufgenom- gefordert zu werden. Dieser Schritt gehörte men. Das war nicht nur eitel Freude. Mit der nach damaligem Verständnis einfach zu ei- Übernahme in den Armeesportclub Oberhof nem Armeesportler, wofür ich damals keine (ASK) erwarteten mich ständig steigende Trai- Abwehrgründe gesehen habe. ningseinheiten. Gleichzeitig wollte ich natür- Dafür hätten vielleicht meine persönlichen lich mein Abitur, wie bei Leistungssportlern üb- Freunde und Bekannten Verständnis gehabt,

140 nicht aber die Sportanhänger. Denn für diese tere Olympiade. Aber nach der Sil- zählten in erster Linie unsere Erfolge. Dafür bermedaille von Calgary 1988 sollte end- haben sie uns mit Begeisterung getragen, wo gültig Schluss sein. Auf dem Heimflug hatte wir auch hinkamen. Heute weiß ich, dass un- ich bereits Schlitten und sonstiges Material in ser Rückhalt in der Bevölkerung auch der unter- der Mannschaft verteilt. Für zwei Monate war schwelligen Identitätsbestätigung diente: Guckt ich tatsächlich draußen . Dann kam die No- mal, wir sind doch wer in der Welt . Aber die minierung zur Weltmeisterschaft. Ich beugte Begeisterung und Freude, die uns ob unserer mich den Argumenten der Mannschaftslei- Erfolge entgegengebracht wurden, waren echt. tung des ASK. Es gab zu diesem Zeitpunkt kei- Über die Privilegien, die der Staat uns Lei- nen entsprechenden Nachwuchs, und es wäre stungssportlern einräumte, habe ich schon nicht gut für den Stützpunkt Oberhof gewe- einiges geäußert. Unsere Reisen und Einblicke sen, wenn wir diesen Platz nicht hätten be- in die westliche Welt, auch in deren Schatten- setzen können. Mit meiner Einwilligung war seiten, blieben dem Großteil der Bevölkerung der Wunsch verbunden, meine Laufbahn mit versagt. Vielleicht habe ich deshalb während WM-Gold zu krönen. Ein solcher Abschluss der Wende nicht so euphorisch reagiert. Ich war natürlich verlockend. wusste aus Gesprächen und Begegnungen Motivation und Ehrgeiz stimmten wieder. mit Verwandten und westlichen Sportlern, dass Trainingsbestzeiten bestätigten dies. Aber ein da wirklich nicht alles Gold war, dass hinter Sturz brachte mich aus dem Rhythmus. So den Neonfassaden auch Armut und soziales wurde es nur Bronze. Nach kurzer Enttäu- Abseits waren. Und vielleicht verließ ich mich schung war ich trotzdem stolz auf diesen Ab- deshalb so stark auf den geradlinigen Versor- gang. Ich erwähne das, um zu zeigen, dass mir gungs- und Begleitungsweg des Staates hin- Versagensängste und Misserfolge ebenso we- sichtlich meiner beruflichen Zukunft, weshalb nig erspart geblieben sind wie Verletzungen mir auch nie in den Sinn kam, die Seiten zu und Schmerzen. Letztere haben mich in allen wechseln. Dieser Staat sicherte mir auch eine Wettkampfjahren begleitet. Freunde und Be- Delegation zum Studium an der DHfK Leipzig, kannte, die um meine körperlichen Probleme mit der Sonderkondition einer sportbedingten oder den psychischen Druck wussten, rieten Zeitstreckung. Mein Traumberuf Zahnarzt war dann wohlmeinend Mensch, hör doch auf, es damit allerdings nicht realisierbar. Wie sagte reicht doch.... Sie konnten den Hunger des mein Mannschaftsleiter so schön: Zähne zie- Sportlers nach Leistung und Erfolg nicht ver- hen lernst du nun mal nicht im Fernstudium . stehen, den Sog des Treppchens nicht nach- So strebte ich den Lehrer- und Trainerabschluss vollziehen. Also lieber zum Arzt, eine Spritze an. Diesen erreichte ich also genau 1989. gegen den Schmerz und weiter zur Höchst- leistung. Das hat rein gar nichts zu tun mit Do- Nach dem Ausstieg kam nochmals ping, das übrigens im Rennrodelsport nichts eine WM-Nominierung bringen würde. Dieses Verhalten beruht auf anerzogenen Willensqualitäten, Selbstdiszi- Übrigens gibt es für die 1980er Jahre noch plin und man muss es in sich haben. Ich einen wichtigen Nachtrag. Im Jahre 1984 ha- stelle dies so ausführlich heraus, weil ich ver- be ich geheiratet, natürlich einen Rennrodler, deutlichen will, wie prägend der Sport sein mit dem ich schon einige Jahre zusammen kann, wie er auf Willensbildung wirkt und zur war. Mein Mann, Bernd Oberhoffner, war Selbstdisziplin erzieht. Nicht zuletzt deshalb schon 1984 als Europameister und Vizewelt- wollte ich eine gute Sportlehrerin werden. meister im Doppelsitzer vom aktiven Sport zu- Also zog ich die Uniform aus, trainierte weiter rückgetreten. Lange wollte ich ja auch nicht ab und bereitete mich auf meinen Dienstan- mehr aktiv sein, aber vorerst hatte ich ein Olym- tritt an der TH Ilmenau vor. Der Vertrag war un- piaticket. Dann wurde es doch noch eine wei- terzeichnet, alles lief fließend und reibungslos.

141 Ausgerechnet der 10. November 1989 Gefühl des Nicht-Gebraucht-Werdens hin- sollte mein erster Tag als Sportlehrerin sein. weg. Schließlich konnte ich dann bei einer Erwartungsvoll stand ich auf dem Sportplatz privaten Bildungsgesellschaft Namens Heure- und keiner kam. Zwar hatte auch ich die halbe ka als Sozialpädagogin einsteigen und über Nacht die Nachrichten über die Maueröff- Fernlehrgänge (Module) eine entsprechende nung und den Jubelzug der Massen nach Qualifikationserweiterung abschließen. Das Westberlin verfolgt, aber dass deshalb mein waren meine persönlichen Wendeerlebnisse, erster Sportunterricht ausfallen sollte, war mir mein Weg in einen Neubeginn. Was ist davon nicht in den Sinn gekommen. Nun halten Sie bleibend, welche Erfahrungen sind mittei- mich bitte nicht für zu naiv, natürlich hatte ich lenswert oder förderlich? Was habe ich ver- wie schon beschrieben die Herbstereignisse loren, was gewonnen? im Land, in Prag, in Ungarn verfolgt. Doch mit Verloren habe ich einen Staat, der mich in dieser Konsequenz, der schnell-schrittigen vieler Hinsicht geprägt hat. Zum Glück ist Handlungsunfähigkeit des Staates, seines au- dabei nichts von meiner Identität verloren ge- genfälligen Zusammenbruches hatte ich so gangen. Ich bin in dieser Region und meinem nicht gerechnet. Wohnort verwurzelt und heimisch. Hier kenne ich die Menschen und die meisten kennen und Arbeitsvertrag war nichtig, der achten mich. Das allein ist ein hohes Gut, ein Lehrerabschluss nicht anerkannt wichtiges Stück Lebensqualität. Die DDR ist nach 15 Jahren abgehakt, vie- Die Folgen bekam ich alsbald zu spüren, mein les sicher noch zu verarbeiten. Seine privaten Arbeitsvertrag war nichtig, der Lehrerab- Befindlichkeiten kann nur jeder mit sich selbst schluss nicht anerkannt (Pädagogik fehlte), im ausmachen, aber wir alle sollten die Wende als Schuldienst gab es ohnehin Einstellungs- Chance begreifen und diese nutzen. Deshalb stopp auf lange Sicht. Was tun? Ein Job als habe ich der Veröffentlichung meiner Biogra- Sporttherapeut im Rehazentrum Ilmenau ende- phie zugestimmt. Die hat gut reden, wird te mit der unverhofften Abwicklung der Ein- mancher sagen. Doch kein Leben ist leicht, richtung. Ich ergriff sogleich mehrere Initiati- kein Erfolg wird geschenkt. Ich habe heute ven und bewarb mich beispielsweise in Co- eine Arbeit, die mich ausfüllt, mein Mann burg als Tennislehrerinund in Italien als Traine- glücklicherweise auch. Wir haben unserer rin. Und doch war ich plötzlich arbeitslos und Familie eine Existenz gegeben, indem wir die damit etwas fassungslos. Ja, ich kann dieses durch die Wende gegebenen Chancen genutzt Gefühl von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit haben. nachempfinden, habe diese Atmosphäre der Frei von Alltagssorgen sind auch wir nicht. Anonymität und diffuser Ängste erlebt. Kein Aber wir denken lebensbejahend und opti- Geld verdienen, keine Perspektive als Sport- mistisch. Und wir engagieren uns, wo es uns therapeut, nirgends gebraucht werden das notwendig erscheint. Deshalb habe ich mich hat mich arg getroffen. auch für ehrenamtliche Aufgaben entschie- Aber ich habe nicht resigniert und vieles den, in der Kommunalpolitik, im Landessport- ehrenamtlich unternommen, um nicht ab- bund und in der Sozialarbeit. Das kostet Kraft seits stehen zu bleiben. So habe ich beim Auf- und Zeit, aber dafür entschädigt mich der Ge- bau der Thüringer Sportjugend und des Lan- danke, mein Engagement kann da und dort dessportbundes mitgewirkt. Das half über das etwas bewegen oder helfen. Diese Möglich-

142 José Manuel Paca Auf der Suche nach Möglichkeiten, Menschen zusammenzubringen

Angola geboren, am Tag an dem die FLNA José Manuel Paca: (Nationale Front für die Befreiung Angolas) Geboren im Mai 1961 in Angola, wuchs ihren Kampf aufnahm. Seine Mutter erzählte er inmitten des Kampfes gegen die ihm immer wieder, dass es damals im Kran- portugiesische Kolonialherrschaft auf, an dem seine Eltern mitwirkten. kenhaus keinen Strom gab. Er habe so leuch- José Manuel Paca wurde von seiner tende Augen gehabt, dass die Kranken- Tante groß gezogen, konnte eine schwestern seiner Mutter gesagt hätten, sie Schule besuchen und arbeitete als solle ihn doch häufiger wecken, damit er mit junger Mann für die Regierung des gerade unabhängig gewordenen Staa- den Augen leuchte. tes Angola. Später absolvierte er Da seine Eltern für die Befreiung Angolas eine Berufsausbildung in der DDR, aus der Kolonialherrschaft Portugals kämpf- die in die Wendezeit fiel. Das Aus- ten, mussten sie ins Ausland flüchten. Sein bildungsabkommen mit der DDR wurde dadurch beendet, doch wegen des Bür- Vater verließ das Land 1963, seine Mutter gerkrieges konnte er nicht nach An- 1968. Paca wuchs bei seiner Tante auf, bis gola zurückkehren. Paca fand Ar- 1973 seine Mutter, 1974 (das Jahr der Revo- beit, erhielt zunächst ein Bleibe- recht in Deutschland, dann eine Auf- lution in Portugal) sein Vater wieder nach An- enthaltsbefugnis und nun eine Auf- gola zurückkehrten. (Der Unabhängigkeits- enthaltsberechtigung. krieg der Befreiungsbewegungen MPLA, FNLA und UNITA gegen die portugiesische Kolonialherrschaft dauerte von 1965 bis Das Gespräch führte 1975. Am 11. November 1975 wurde schließ- Ursula Gödde lich die Unabhängigkeit der Volksrepublik An- gola proklamiert. Starke Rivalitäten zwischen Ich lernte Paca, wie er von seinen Freunden den drei Befreiungsbewegungen mündeten genannt wird, durch einen gemeinsamen Be- bald in den Beginn eines Bürgerkrieges, der kannten kennen. Er hatte sich bereit erklärt, mit wenigen Unterbrechungen 27 Jahre dau- sich interviewen zu lassen. Im Laufe des lan- ern sollte.) gen Gespräches tauchte ich immer tiefer in eine mir fremde Kultur ein. Ich lernte eine Bio- Seine Eltern waren graphie kennen, die mich teilweise erschütter- Revolutionäre te und tief berührte. Um alles auch chronolo- gisch einordnen zu können, fragte ich immer Seine Tante zog ihn wie einen Sohn auf. Sie wieder nach Jahreszahlen. Paca wurde dann war mit einem portugiesischen Kommunisten oft unsicher und ich merkte, dass dies für ihn verheiratet, wodurch es ihm möglich war, die nicht wichtig war. Wichtig waren Ereignisse, Schule zu besuchen – was damals in Angola Gefühle und Reflektionen. durchaus nicht die Regel war. Wenn seine Tan- Er formulierte sein Selbstverständnis als te und Onkel Radiosendungen der Revolutio- Ausländer in Thüringen wie folgt: „Ich bin näre hören wollten, musste er immer im Hof Angolaner in Angola. Ich bin Mensch im spielen, um sie zu warnen, falls unerwünschter Ausland.“ Paca wurde am 9. Mai 1961 in Besuch kam. Seine Tante erzählte ihm, seine

143 Nach kurzer Zeit auf einem Priestersemi- nar besuchte er bis 1977 (in diesem Jahr or- ganisierte sich die MPLA marxistisch-leni- nistisch neu) eine Polytechnische Schule, Be- reich Metallverarbeitung.

Die Arbeit eines Wanderpredigers für die Regierung

Danach begann er seine Arbeit für die Regie- rung, die er mit der eines Wanderpredigers vergleicht. Er bereiste die 19 Provinzen Ango- las, um unter den Menschen, vor allem den Jugendlichen, für die Idee eines geeinten, friedlich zusammenlebenden Angolas zu wer- ben. Sein Vater hatte ihm gesagt: „Wir haben für uns gekämpft, für alle Angolaner.“ Im Gespräch taucht immer wieder der Ausdruck „Tribalismus” auf. Paca versucht ihn zu erklä- ren, da er schlecht zu übersetzen ist: Es geht darum, dass ein Volk, in diesem Fall die An- golaner, sich nicht als ein Volk sieht, sondern Eltern seien Revolutionäre. Seine Grundschul- sich durch ihre Zugehörigkeit zu einem be- lehrerin, die ihn mochte, war die Ehefrau des stimmten Stamm oder einem Landstrich defi- Chefs des Geheimdienstes (PIDE). Ihr Sohn nieren. Er meint, dass dieser „Tribalismus“ die war sein Klassenkamerad und er verstand sich Ursache für immer wieder aufflackernde gut mit ihm, so dass er oft bei Familienausflü- Kämpfe ist. gen eingeladen war. Paca wollte wie sein Vater auch etwas für Eines Tages wollte sein Freund ihm etwas sein Land tun. Die Gefahr, die in der ideologi- besonderes zeigen. Er lud ihn zu sich ein und schen Ausrichtung der Regierung (die von der sie gingen in das an das Wohnhaus angren- MPLA gestellt wurde) lag, sah er nicht. Er flog zende Gefängnis. Dort führte er ihn in eine in die Provinzen und erstattete der Regierung Verhörzelle, die völlig blutbespritzt war. Sein Bericht über die dortige Lage. Dabei geschah Klassenkamerad zeigte ihm, wie man einen es immer häufiger, dass ihn verzweifelte Lands- Gefangenen mit einer Peitsche folterte. Sein leute baten, durch Landminen verletzte An- Vater hatte ihm dies gezeigt. Danach führte er gehörige nach Luanda mitzunehmen. ihn noch auf den Hof des Gefängnisses, in Aufgrund seiner Anstellung hatte er ver- dem zur Abschreckung die Köpfe Enthaup- schiedene Privilegien wie eine eigene Woh- teter aufgespießt waren. Paca erlitt einen nung oder die Möglichkeit, über einen Wagen Schock und wollte danach nicht mehr zur mit Fahrer zu verfügen. Seine Familie war stolz Schule gehen. Er musste dies jedoch, da seine auf ihn und auf das, was er erreicht hatte. Abwesenheit zu verdächtig gewesen wäre. Paca durfte auch am Abschluss des Frie- Die Schuluniform war schneeweiß, was densplans im Jahr 1988 teilnehmen, den Un- Paca sehr beeindruckte. Er war der einzige terhändler Angolas, Südafrikas und Kubas Schwarze, der die Turnhalle betreten und vereinbart hatten. auch sonst an sportlichen Ereignissen teilneh- Trotz dieser Erfolge breitete sich in ihm im- men durfte. Für ihn war damit ein Teil dessen, mer mehr ein Gefühl der Ohnmacht aus: „Wir wofür seine Eltern kämpften, bereits Wirk- sind alle Angolaner, wir bringen uns aber lichkeit. selbst um – wofür?“ Er hatte auch Angst, ir-

144 gendwann zum Mittäter zu werden und wollte Er bekam im Wohnheim ein eigenes Zimmer. sich aus dieser Zwangslage befreien. Dadurch begann aber eine Art Psychoterror: So stellte er Anfang 1989 den Antrag, sei- Er hatte nun sowohl die angolanischen Lehr- ne technische Ausbildung im Ausland fortset- linge als auch das deutsche Personal gegen zen zu können. Es war schon alles für seinen sich. Durch den dreimonatigen Sprachkurs Abflug nach Frankreich (mit dem ein Ausbil- konnte er sich verständigen. Über die Lage in dungsabkommen bestand) vorbereitet, aber der DDR im Herbst 1989 wurde er über Kon- die Gruppe junger Angolaner flog ohne ihn – takte zur angolanischen Botschaft in Berlin auf die Regierung hatte seinen Platz gestrichen. dem Laufenden gehalten. Mit der Zeit fand er Lücken im Betreuungssystem, die er nutzte, Bei der Berufsausbildung in der um Kontakte, meist mit Deutschen, außerhalb DDR von Weltoffenheit keine Spur der Arbeit zu knüpfen. Gegen Ende des Jahres 1989 wurde ihm Paca wusste, dass auch die DDR Ausbildungs- gesagt, dass das Ausbildungsabkommen mit plätze zur Verfügung stellte. So beantragte er, Angola gekündigt worden sei, im nächsten sich dort weiterzubilden. Beeinflusst durch die Jahr sollten alle Angolaner in ihre Heimat Erzählungen seines Vaters, der während sei- zurückkehren. Seine Familie in Angola hatte nes Exils auch in der Sowjetunion gelebt hatte, nach seinem Entschluss, als „Nichts“ ins Aus- war die DDR für ihn das demokratischste Land land zu gehen, den Kontakt zu ihm abgebro- im ganzen Ostblock. Aufgrund der Solidari- chen, nachdem sie zunächst stolz auf das tätsbekundungen des Landes zu verschiede- gewesen waren, was er in seinem Leben er- nen Ländern in der ganzen Welt erwartete er, reicht hatte. dort eine weltoffene Atmosphäre vorzufinden. Seit seiner Ankunft in Deutschland hatte Paca flog am 14. August 1989 mit einer sich die Lage in Angola wieder zugespitzt. Er Gruppe Lehrlinge in die DDR. Nach dem Be- erfuhr, dass seine Schwester, die als Ärztin von such einiger technischer Einrichtungen kamen der Regierung angestellt war, von Rebellen sie nach Erfurt, wo sie eine Berufsschule be- gesucht wurde. Sie konnte fliehen, aber ihre suchten. beiden Töchter wurden gefangen, gefoltert Paca kam sich plötzlich vor wie ein kleines und vergewaltigt. Einer seiner Onkel wurde Kind: Die Betreuung war allumfassend, ge- getötet, seine ehemalige Wohnung verwüstet. wohnt wurde in Gemeinschaftsunterkünften, in denen nach 18 Uhr kein Besuch erlaubt Ein „Bleiberecht“ wurde war. Er fühlte sich auch diskriminiert. So be- ihm offiziell zuerkannt obachtete er, dass die Deutschen in der Kan- tine von Porzellantellern aßen, während er Er entschloss sich zu bleiben, trotz aller Unsi- und die anderen Angolaner Plastikteller vor- cherheit. Niemand wusste, welchen Status er gesetzt bekamen. Sein Taschengeld war nied- als Ausländer jetzt hatte. Er hatte weder Arbeit riger als das des jüngsten der Lehrlinge, der noch Wohnung, fand aber immer Freunde, aber, im Gegensatz zu ihm, ein Mischling war bei denen er, ob kürzer oder länger, bleiben und eine fast weiße Hautfarbe hatte. Dis- konnte. Offiziell wurde ihm ein „Bleiberecht“ kotheken konnte er nicht besuchen, da ihm zuerkannt. stets der Eintritt verweigert wurde. Sein Vater 1991 fand Paca einen Arbeitsplatz bei hatte zu seinen Erfahrungen in der Sowjet- einem Zeitungsversand, bei dem er bis heute union angemerkt: „Was bedeutet Solidarität, arbeitet. Ihm wurde eine Wohnung in einem wenn wir nicht zusammen leben dürfen.“ Jetzt abbruchreifen Haus, in dem sonst niemand machte er in der DDR dieselbe Erfahrung. mehr wohnte, zugewiesen. Im selben Jahr Nach einiger Zeit wurde er durch Inter- erfuhr er, dass die Mutter seines Sohnes bei vention von den Lehrlingen bei der Arbeit ge- einem Übergriff von Rebellen auf Luanda von trennt, da er ja schon eine Ausbildung hatte. einem Offizier entführt wurde. Als die Rebel-

145 len sich wieder nach Süden zurückzogen nah- Hilfsbereit löste er ihn an seiner Maschine ab, men sie sie und seinen Sohn mit. Im Süden an- so dass Paca Zeit hatte. Er holte sich eine gekommen stellten sie die Mutter vor die Flasche Cola und trank daraus. Zu seinem Er- Wahl, entweder ohne ihren Sohn mit ihnen staunen bat dann der Kollege um einen weiterzuziehen oder mitsamt dem Sohn er- Schluck und trank von seiner Flasche. Damit schossen zu werden. Sie ging mit den Rebellen hatte er nicht gerechnet: Jemand trank aus und Pacas Sohn wurde mit vier Jahren zu ei- der gleichen Flasche wie er! An diesem Tag nem Straßenkind. hatte er vergessen, ein Handtuch mitzuneh- Paca konnte von Deutschland aus nichts men. Der neue Kollege bot ihm seines an. unternehmen, aber seine Mutter flog mit Auch das war für Paca bisher unvorstellbar ge- einem UNO-Flug nach Süden und fand ihren wesen. Aus dieser Begegnung entwickelte sich Enkel. Da aber die Kämpfe sofort wieder es- eine Freundschaft, die heute noch besteht. kaliert waren, bestand keine Möglichkeit, wie- Paca differenziert bei Menschen. Er stem- der zurückzukehren. Zwei Jahre lang musste pelt die Deutschen nicht pauschal als auslän- die 72-Jährige mit dem Enkel auf sich allein derfeindlich ab, sondern betont immer wie- gestellt überleben. Dann gelang es beiden, der, dass er im Laufe der Zeit viele Freunde wieder nach Luanda zu kommen. gefunden habe. Pacas Sohn ist inzwischen 16 Jahre alt. Immer Es gab aber auch Erlebnisse, die ihn an wieder hat Paca versucht, ihn legal nach seinem Entschluss, in Erfurt zu bleiben, zwei- Deutschland zu holen, damit seine Trauma- feln ließen. Einmal wurde er von einer Gruppe tisierungen durch die Ereignisse behandelt Neonazis angegriffen, die ihn bespuckten und werden können. Bisher war er damit erfolglos. bedrohten. Als die Polizei kam, musste er sich Paca konnte sich bisher einmal mit seinem als einziger mit hinter dem Kopf gefalteten Sohn treffen, als er von Namibia aus nach An- Händen auf den Boden legen. In diesem Au- gola einreiste. genblick habe er sich nicht mehr als Mensch Ein zweites Mal war er 1997 in Angola, gefühlt: „Was nützt die Menschenrechtser- wobei er diesmal von Südafrika aus die Gren- klärung der UNO überhaupt, wenn es in ei- ze überquerte. Er heiratete seine Frau, musste nem zivilisierten Land so zugehen kann.“ aber gleich nach seiner Hochzeit das Land wieder verlassen. Seine Frau konnte 1998 Sport gegen nach Deutschland nachkommen, seitdem lebt Ausländerfeindlichkeit sie mit ihm in Erfurt. Das Paar hat zwei Kinder. Paca erzählt, dass ihr Leben jetzt nicht mehr so Andererseits hat er auch erlebt, dass Neonazis schwer sei wie früher, da die Kinder dazu ge- aus seinem unmittelbaren Umfeld ihn vor an- führt hätten, dass die Wohnungsnachbarn sie deren Neonazis gewarnt haben. Er sieht das jetzt dulden würden. Vorher hätten sie Unter- Hauptproblem der Ausländerfeindlichkeit bei schriften für eine Entfernung der beiden aus Jugendlichen. Eine Möglichkeit, auf diese ein- der Wohnung gesammelt. zuwirken, sieht er im gemeinsamen Sport. Deshalb gründete er 1998 zusammen mit an- Anfangs schikaniert, fand er im deren das Multikulturelle Zentrum, dessen Laufe der Zeit viele Freunde Vorsitzender er ist. Der Fußballverein Afro- sport e.V. ist bei diesem Zentrum angesiedelt. Die Arbeit bei dem Vertrieb sei anfangs sehr Teil der multikulturellen Woche in Erfurt ist stets schwer gewesen, da er eben als Nigger be- ein Fußballturnier unter dem Motto „Sport handelt worden sei. Er hatte weniger Pausen verbindet die Menschen“. als die Anderen und wurde schikaniert. Eines Paca sucht immer nach Möglichkeiten um Tages kam dann ein neuer Mitarbeiter. Dieser Menschen zusammenzubringen. Seit 1991 ist beobachtete, dass er kaum Zeit hatte, sich er Mitglied im Ausländerbeirat der Stadt Er- zwischendurch etwas zu trinken zu holen. furt, die letzten drei Legislaturperioden als

146 stellvertretender Vorsitzender. 2003 kam er flikte zu lösen. Im Rückblick auf die Wende als Vertreter der neuen Bundesländer in den und Wiedervereinigung sieht er die Freude Vorstand des Bundesausländerbeirats. In die- der Menschen, wieder in einem vereinten ser Funktion wurde er in den Arbeitskreis „Ge- Land zu leben, sieht die gewonnene Mei- sellschaft“ im Haus der deutschen Geschichte nungsfreiheit, aber auch das Problem der Ar- in Bonn delegiert. Bei der Feier des zehnjähri- beitslosigkeit. „Ein Prozess hat seinen Preis“ gen Jubiläums hatte er einen Platz direkt das sieht er als eine Erkenntnis aus seinem neben dem damaligen Bundespräsidenten bisherigen Leben an, und das gelte eben auch Rau. für die Wende. Paca hat inzwischen eine Aufenthaltsbe- Für Paca hat sich sein Traum bezüglich einer rechtigung für Deutschland, der nächste Arbeit als Vermittler zwischen den Menschen, Schritt wäre die Staatsbürgerschaft. Bis hierhin den er in Angola nicht verwirklichen konnte, war es ein langer Weg mit vielen Hürden, die hier erfüllt. Er kann seine Botschaft, dass Men- zu überwinden waren: von der Aufenthaltsbe- schen in Frieden miteinander leben sollen, willigung über die Aufenthaltsbefugnis und dass alle für das gemeinsame Wohl arbeiten Aufenthaltserlaubnis bis hin zur Aufenthalts- müssen und alle einschließlich der Migranten berechtigung. als ein Teildazugehören, weitergeben. Für Pa- Paca versucht im Umgang mit Menschen ca ist der wichtigste Satz des Grundgesetzes: nicht, nach Schuld zu suchen, sondern Kon- „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

José Paca (Mitte) beim Festakt zum zehnjährigen Bestehen des Hauses der Geschichte

147 Siegfried Pause Eine Faszination, die von dieser Technologie ausgeht

ständig geworden. Das war überhaupt kein Dr. Siegfried Pause: Nachteil.“ Geboren im September 1949 in Den Abschluss der 10. Klasse machte Elgersburg bei Ilmenau. Absolvierte Siegfried Pause mit „Auszeichnung“ an einer nach der 10. Klasse eine Berufs- ausbildung mit Abitur. Ilmenauer Schule. Von 1966 bis 1969 absol- An der TH Ilmenau studierte vierte er im VEB „Simson“ in Suhl eine Berufs- Siegfried Pause Fertigungstechnik ausbildung als Mechaniker mit Abitur. Das und schloss sein Diplom mit „sehr kam ihm in mehrfacher Hinsicht entgegen: Er gut” ab. In der Industrie war er in der Forschung und Entwicklung tä- wollte unbedingt etwas Praktisches machen tig. Die Lasertechnik wurde sein und zugleich die Chance des Abiturs wahr- Metier. Schon in der DDR war er nehmen. Im Internat war es ihm zugleich maßgeblich daran beteiligt, diese möglich, eine gewisse Unabhängigkeit zu Technologie zu etablieren. Da er in der Industrie gesehen hat, wie ma- erhalten. „In diesen Jahren hat mich eigent- rode die DDR-Wirtschaft war, kam der lich die Schule mehr geprägt in meinen politi- Zusammenbruch für Dr. Pause nicht schen Ansichten als mein Elternhaus. Seien überraschend. Als Firmengründer und Unternehmer hat sich Dr. Pause, Ge- wir doch mal ehrlich: In der DDR ging es nie- schäftsführer der LLT Applikation mandem richtig schlecht – allerdings ging es GmbH, nach der Wende profiliert. auch niemandem richtig gut.“ Gefallen ha- ben ihm in der Schulzeit alle Fächer. Einen be- sonders nachhaltigen und guten Einfluss, so Das Gespräch führte erinnert sich Siegfried Pause heute, hatte in je- Dr. Juliane Rauprich nen Jahren seine Deutschlehrerin, die auch die Schulbibliothek verwaltete. „So bin ich zur Dr.-Ing. Siegfried Pause wurde am 15. Sep- Romantik gekommen, zur Klassik. Ich hatte tember 1949 in Elgersburg bei Ilmenau gebo- sehr viel Spaß an dieser Lektüre. Mir ist aber ren. Er lebt mit seiner Ehefrau und zwei Töch- im Grunde alles leicht gefallen, alles hat mir tern im Ilmenauer Stadtteil Unterpörlitz. Dr. Freude gemacht in der Schule. Ich habe als Pause ist Geschäftsführer der Firma LLT Appli- Jugendlicher auch Kurzgeschichten und Ge- kation GmbH (Laser- und Lichtstrahl-Techno- dichte geschrieben.“ logie). Der Vater von Siegfried Pause war gelern- Die eigene kritische Haltung ter Kaufmann und arbeitete lange Zeit als kam in der Jugendzeit Buchhalter. Die Mutter blieb bis Ende der sechziger Jahre mit den vier Kindern zu Hau- Journalist wollte Dr. Pause werden, bis ihm se. Danach arbeitete sie, gemeinsam mit dem dann ein Bekannter, der in diesem Beruf ar- Ehemann, im Ilmenauer Glaswerk im Schicht- beitete, sagte: „Das, was du schreiben willst, betrieb. Weil die Eltern auf einer eigenen klei- das kannst du als Journalist in der DDR nicht nen Scholle auch noch etwas Landwirtschaft schreiben...“. Diese Warnung stieß bei ihm in- betrieben haben, mussten die Kinder schon zwischen auf offene Ohren. In der Schule hat- frühzeitig mithelfen: „Ich bin sehr früh selb- te sich Siegfried Pause politisch schon früh

148 engagiert: Jungpionier, Freundschaftsratsvor- sitzender. „Mir hat es gefallen, dass die Frei- zeit gut organisiert war. Außerdem fand und finde ich es gut, dass alle Schüler acht Jahre in der Schule zusammen waren, dass nicht dau- ernd dieser Wechsel war. Das gibt es doch heute kaum noch in der Generation unserer Kinder. Die Lehrer haben viel mit uns ge- macht, wir waren oft unterwegs zusammen.“ Während die Eltern den SED-Staat kritisch ge- sehen hätten, sei das bei ihm und seinen Ge- schwistern damals nicht der Fall gewesen. „Die eigene kritische Haltung, die kam dann in einem Alter, wo man sich schon eine eigene Meinung bildet, in der Lehre. Ich habe mich dann als Lehrling geweigert, in die SED zu ge- hen. Die Konsequenz folgte auf dem Fuß: Ob- wohl ich das Abi mit „sehr gut“ gemacht hatte, durfte ich nicht, wie es mein Wunsch war, Kraft- fahrzeugtechnik in Dresden studieren. Das war nun eine Zeit, wo ich schon gar nicht mehr Der passionierte Angler Dr. Siegfried Pause mit seinen Töchtern 1985. angepasst und brav war. Ich bin dann auch kein Reserveoffizier geworden.“ schaftler und Ingenieur nun in verschiedenen Industriebetrieben tätig: bis 1983 im Ilme- Die Lasertechnologie nauer Glaswerk, dann sechs Jahre im For- mit aufgebaut schungs- und Entwicklungsbereich im Kombi- nat Robotron, Optima Büromaschinenwerk Er- Von 1969 bis 1973 studierte Siegfried Pause furt als Themenleiter Lasertrennen. In die SED an der Technischen Hochschule Ilmenau an oder in eine so genannte „Blockpartei“ ist er der Sektion „Gerätetechnik“. Sein Diplom in nie eingetreten. Als Dr. Pause später (1989/ Fertigungstechnik wurde ebenfalls mit „sehr 90) für eineinhalb Jahre im VEB Werkzeug- gut“ bewertet. Mit dem Diplomthema hatte fabrik Königsee als Projektverantwortlicher für Dr. Pause zugleich das Arbeitsthema gefun- Anlagenimport, Projektierung und Überfüh- den, das ihn nun über die Jahrzehnte hinweg rung einer CNC-Laserschneidanlage aus der begleitet und sein Leben wesentlich prägt: die Schweiz als verantwortlicher Bearbeiter zu- Lasertechnik. Er hat über die „Anwendung ständig war, brachten ihn seine damaligen Er- von Laserschneiden in der Geräteindustrie“ lebnisse dazu, heute zu konstatieren: „Das diplomiert und kann heute sagen: „Die waren wichtige Erfahrungen, weil mir hier die Lasertechnologie habe ich als junge Techno- Schizophrenie des Wirtschaftssystems der logie mit aufgebaut.“ Bis 1978 war er als As- DDR ganz klar wurde!“ sistent an der TH Ilmenau, ging danach in den Auch in dieser Praxis-Zeit hat er jedoch immer Forschungs- und Entwicklungsbereich im VEB den Kontakt zur Technischen Universität Ilme- Werk für Technisches Glas Ilmenau als The- nau, seiner wissenschaftlichen Heimstatt, ge- men- und Gruppenleiter. Sein Sachgebiet war halten; dort hielt er beispielsweise Vorlesun- auch hier die Lasertechnik, dazu gekommen gen. Als er nun trotz des vorherigen Verspre- war nun noch die Plasmaschmelze. chens, die Gewerkschaftsfunktion geregelt 1980 hat Siegfried Pause an der THI seine wieder abgeben zu können, dies nicht zuge- Promotion A als Externer erfolgreich beendet. standen bekam, hat Dr. Siegfried Pause ge- Von 1978 bis zur Wende war der Wissen- kündigt. Kein selbstverständlicher Vorgang in

149 der untergegangenen DDR. Es folgten die gekommen bin, da war schon Modrow. Das Wahrnehmung externer Lehraufträge an der waren tolle Erfahrungen in der Schweiz! Der Technischen Hochschule und deren Koordi- Geschäftspartner von damals wurde sogar nierung von Forschungsaktivitäten mit großen ein persönlicher Freund von mir.“ Betrieben: mit „Optima“ Erfurt, mit dem Büro- Weggehen, so Siegfried Pause, sei für ihn maschinenwerken in Sömmerda und Zella- nie in Frage gekommen, obwohl man im eng- Mehlis. Die Hälfte seiner Arbeitszeit verbrach- sten Familienkreis schon darüber geredet ha- te Dr. Pause in jenen Tagen in Erfurt, die ande- be. Ein Grund, eine Flucht aus der DDR nicht re Hälfte in Ilmenau. zu erwägen, hätte darin gelegen, dass sich die Pauses im Jahr 1987 in Unterpörlitz ein Haus Fülle von Fachpublikationen und gekauft hätten. An die Schikanen mit der Ab- Patentanmeldungen teilung „Wohnraumlenkung“ der damaligen Stadtverwaltung ehe dieser Kauf über die Schwierigkeiten wegen seiner Kündigung im Bühne gegangen ist, erinnert er sich noch leb- Glaswerk habe er nicht bekommen, da aus- haft: „Das persönliche Eigentum wurde in kei- schließlich seine fachliche Kompetenz gezählt ner Weise geachtet! Auch das war ein Schlüs- habe. Schon damals konnte er auf mehr als selerlebnis, wo ich dann wieder genau ge- 25 Fachpublikationen, die Mitarbeit an einem spürt habe: Dieses System ist pervers!“ Heute Taschenbuch über Elektrotechnik, auf mehr kann Dr. Pause sogar ironisch lächeln, wenn als 40 wissenschaftliche Fachvorträge und auf er darauf hinweist, dass der damals zuständi- die Beteiligung an sechs Patentanmeldungen ge städtische Mitarbeiter für Wohnungswesen zurück schauen. Dass ein derartiges Pensum noch in der Stadtverwaltung beschäftigt ist... nicht in der regulären Arbeitszeit zu bewälti- gen war und ist, liegt auf der Hand. Seit er Ich war immer politisch interessiert Unternehmer ist hat seine Arbeitszeit noch und auch informiert deutlich zugenommen. Wenn sich Siegfried Pause heute an jene Zeit vor 15 Jahren erin- Wie hat Dr. Siegfried Pause im heißen Herbst nert, dann sagt er: „1989 war ein ganz tolles 1989 und in der Folgezeit über die sich ab- Jahr! Aber mir ist auch schon im Herbst des zeichnende politische Entwicklung gedacht? Vorjahres, als ich bei „Optima“ in Erfurt zu tun „Ich war immer politisch interessiert und auch hatte, ganz klar geworden, dass dieses wirt- informiert. Die Variante einer ‚Wende’ habe schaftliche System tot-krank war. Und, wie ich für möglich und auch für absolut wün- gesagt, bei dem Maschinenimport aus der schenswert gehalten! Wie das dann alles ge- Schweiz: Die Verhandlungen auf der Leipziger gangen ist, mit welch rasantem Tempo – das Messe durften wir nur mit ‚Aufpassern’ führen; hatte keiner erwartet!“ es gab so viele Direktiven. Dazu kam, dass ich Hat Dr. Pause an eine reformierbare und kein ‚NSW-Kader’ war [es war nur ausgewähl- reformierte DDR geglaubt? „Ach, um Him- ten und streng kontrollierten Bürgern der DDR mels willen!!!“ Klar könne auch er auf schöne erlaubt, in das nichtsozialistische Ausland zu Erlebnisse in den jeweiligen Arbeitskollektiven reisen, J.R.] und zur Abnahme der Maschine zurückblicken, besonders im Kollektiv der Fer- nicht selbst fahren durfte.“ tigungstechnik an der TH Ilmenau. Dort sei ein Es musste erst der Dezember 1989 kom- ausgesprochen guter Kontakt mit Professor men, damit er zum ersten Mal eine Woche zu Peter Wiesner entstanden. Ein Mal im Jahr ha- einer Laserschulung nach München reisen be man sich zu Forschungsklausurtagen zu- konnte. Es folgte dann auch eine Woche in rück gezogen. Dort sei es sehr offen zugegan- der Schweiz, wo Dr. Pause an einer Program- gen – auch in politischen Fragen. miererschulung für die importierte Maschine In dieser Zeit entstand auch das enge Ver- teil nahm. „Als ich in München war, da war hältnis zu seinem jetzigen Geschäftspartner. noch Krenz. Als ich von der Schweiz zurück „1987 oder 1988 war so eine Klausurtagung

150 auf der Mühlburg. Dort ist unser Traum ent- Faszination, die von dieser Technik ausgeht – standen, oder die Idee, dass man das Know- die lässt mich nie wieder los!“ how selber vermarkten können müsste. Das Außerdem hat Siegfried Pause dann im März war eigentlich unsere Idee zur späteren Selbst- 1990 das Gewerbe für ein nebenberuflich be- ständigkeit. Hier wurde unser Traum gebo- triebenes Ingenieurbüro angemeldet. Hier sei- ren.“ en die Kontakte nach München, die im vori- In den Jahren vor 1990 hat Siegfried Pause gen Herbst entstanden sind, sehr hilfreich ge- immer neben der regulären Berufstätigkeit wesen. Im Juni 1990 ist dann zusammen mit Geld verdient – auf Honorarbasis hat er für zwei Kollegen die Ilmenauer Laserzentrum verschiedene Betriebe Werkzeuge konstruiert. GbR gegründet worden; Pause war Ge- Und schon 1979 hatte er versucht, und zwar schäftsführer. Beinahe folgerichtig gab er bis 1981, selbst ein Ingenieurbüro zu grün- dann gegen Jahresende 1990 die B-Aspiran- den. Ein kühnes Unterfangen in der DDR! tur zurück, „...weil ich keine halben Sachen Pause stellte einen Antrag bei der Gewerbe- mache.“ abteilung des Rates des Kreises für ein Inge- nieurbüro auf nebenberuflicher Basis. Dann Sehr faire Geschäftspartner habe er zunächst länger nichts wieder vom Rat gefunden gehört. Nach fünf Monaten habe er dann nachgefragt und die Antwort erhalten: Nein, Über die nach München entstandenen Kon- da er als Entwicklungsingenieur im Ilmenauer takte sagt Dr. Pause noch heute: „Das war ein Glaswerk eine anspruchsvolle Aufgabe hätte sehr fairer und guter Geschäftspartner. Tolle und im Sozialismus kein Bedarf an ingenieur- Leute! Natürlich haben die auch gemerkt und wissenschaftlicher Tätigkeit auf privater Basis erkannt, dass wir fachlich nicht wenig zu bie- bestünde. ten hatten.“ Hier wäre nachzutragen, dass Siegfried Pause in den 1980iger Jahren in der Die Perspektive galt der Kammer der Technik der DDR engagiert war. fachlichen Profilierung Dort hat er maßgeblich eine Laser-Datenbank von DDR-Firmen eingerichtet. Natürlich war Als die gesellschaftlichen Verhältnisse sich und ist solches Wissen Gold wert für poten- nun völlig zu wandeln begannen, da habe zielle Westpartner. auch er im Kreis seiner Familie ernsthaft über- Was kann Dr. Pause noch resümieren über legt, ob er sich politisch engagieren solle, jene Zeit: „Für mich waren während und nach denn „...ich habe die sich abzeichnenden Ver- der Wende nicht das Reisen, Autos und ande- änderungen ja gesehen.“ Seine Entscheidung re Konsumgüter das Wichtigste. Es war im diesbezüglich fiel dann doch negativ aus: Gegenteil die Chance, mich beruflich endlich „Meine Perspektive in all’ den Jahren war die selbst verwirklichen zu können. Diesen berufli- fachliche Profilierung. Ich wollte ja an die chen Lebenstraum habe ich nun konsequent Hochschule zurück und eine Hochschulleh- umsetzen können.“ Natürlich seien auch er rerlaufbahn einschlagen. Und wenn ich etwas und die Familie 1991 gereist – in die Schwei- mache, dann richtig und voll engagiert. Am zer Alpen. Das sei schon traumhaft schön ge- ehesten hat die CDU meinen Vorstellungen wesen! Ansonsten kann er sich noch daran er- entsprochen. Aber die kam letztlich für mich innern, wie er zum ersten Mal Anfang Dezem- nicht infrage, weil ich nicht religiös verankert ber in Forchheim war, in einem Baumarkt. Da bin.“ sei schon eine emotionale Komponente für Im Februar des Jahres 1990 hatte Dr. den DDR-Bürger ins Spiel gekommen. Siegfried Pause bei Professor Siegfried Wies- „Aber am Schönsten war und ist, dass ich ner eine B-Aspirantur zwecks Habilitation nach der Wende mein Schicksal in die eige- begonnen. Das Thema war – natürlich – nen Hände nehmen durfte. Jetzt entscheidet wieder im Laserbereich: „Das ist eine solche mein eigenes Engagement darüber, ob wir

151 Erfolg haben. Ich habe wirklich in dieser be- bundes im Projekt LASER 2000 des Bundes- wegten Zeit damals Tag und Nacht gearbei- ministeriums für Bildung und Forschung. tet, jeden Brief selber geschrieben, das Kas- Siegfried Pause, der demnächst nur noch senbuch selber geführt, alle nur irgendwie für sein LLT da sein will, gesteht sich allerdings möglichen und sinnvollen Lehrgänge besucht.“ auch ein, dass er durch diese jahrzehntelange Es sei eine Phase intensivsten Lernens ge- intensivste Berufsarbeit seine beiden Töchter wesen; zum Beispiel diese ganzen neuen Ver- und seine Ehefrau „...ein bisschen vernach- sicherungen. „Aber alles ging mit großem En- lässigt“ hat. Die große Tochter hat Betriebs- thusiasmus einher!“ wirtschaft und Wirtschaftsingenieurwesen Wie beurteilt der anerkannte und erfolgreiche studiert und ist heute die rechte Hand in der Firmengründer und Inhaber die Wiederverei- Firma des Vaters, die zehn Mitarbeiter hat. nigung Deutschlands: „Die Wiedervereini- Gebaut ist das bemerkenswerte, hoch über gung war für mich, für meine Familie und für Ilmenau liegende Firmengebäude übrigens Deutschland das Beste, was geschehen konn- nach dem Muster eines Laserkopfes. Und wie te. Da mag man im Nachhinein darüber la- ein Kapitän kann Dr. Siegfried Pause von sei- mentieren, ob jedes Detail richtig war. Aber: nem Büro aus auf die Stadt und die sich vor Das Volk der DDR hat es so gefordert, das ihm erhebenden Berge des Thüringer Waldes sollte nicht vergessen werden.“ schauen. Dabei kommen dann auch solche Wenn er jetzt in die Welt schaue, dann wür- Erinnerungen: „Ein Freund hat mir mal ge- de er eine Menge guter Freunde sehen, die er sagt, auf die Berge musst du gehen, wenn du und seine Familie in den letzten zehn Jahren noch selber hoch laufen kannst!“ Danach, so kennen gelernt hätten. Angebahnt worden der passionierte Angler Siegfried Pause, wolle seien diese Freundschaften zumeist über sei- er sich schon in der kommenden Zeit mehr nen Beruf, über die Firmen. Seit März 1997 ist richten, denn: „Ich war ja schon 40, als ich Dr. Siegfried Pause Geschäftsführer der LLT anfangen konnte, meine Träume zu verwirkli- Applikation GmbH und hat ein Applikations- chen. Meine Eltern haben mir in diesen Jahren und Demonstrationszentrum Lasertechnolo- nach der Wende mal gesagt, dass ich dieses gie im Technologie- und Gründerzentrum Il- Arbeitstempo wohl nicht mehr lange durch- menau aufgebaut. 1996 wurde er zum Mitbe- halten könne. Da habe ich mir dann gesagt: gründer des Thüringer Laserberatungsver- Bis 55 musst du es geschafft haben!“

152 Renate R.: Licht und Schatten eng beieinander

deutlich schlechterer Leistungen auf die Renate R.: Oberschule geschickt wurden, brachen diese Geboren 1939 in Erfurt. Der Zugang bereits nach der 9. bzw. 10. Klasse wieder ab. zur Oberschule wurde ihr 1953 ver- Möglicherweise hat auch meine aktive Teil- weigert, da ihre Eltern„ bürger- lich” waren. Sie erhielt eine Aus- nahme an der evangelischen Christenlehre bildung als Technische Zeichnerin, diese politische Willkürmaßnahme des SED- hat sich dann später weiterqualifi- Staates mit beeinflusst. ziert. Nach der Heirat kam die Geburt ei- nes Sohnes, verbunden mit einer star- Durch Familie, Freunde und Heirat ken Orientierung auf ein erfülltes fest an Erfurt gebunden Familienleben. Ihre Entlassung im Jahr 1993 erlebte Renate R. als eine Statt weiterhin den vom Vater geerbten gro- Art Befreiung aus einem durch„ Neu- Kapitalisten” geprägten Betriebs- ßen Leidenschaften Literatur und Geschichte klima. Auch wenn sich in ihrem wei- nachgehen zu können, absolvierte ich, an- teren Leben vieles zum Guten richte- fangs unter Tränen, eine Lehre als Technische te und sich Renate R. letztlich zu den„Wendegewinner n” zählt, sieht Zeichnerin (1953-56). 1956 lernte ich mei- sie doch Licht und Schatten eng nen im selben Betrieb, dem VEB Erfurter Mäl- beieinander. zerei und Speicherbau (EMS), arbeitenden Mann Dieter R. kennen. Wir haben 1963 Ich wurde am 13. Juni 1939 als Tochter des geheiratet, 1968 kam unser Sohn Steffen auf Bäckermeisters Walther Höttermann und sei- die Welt. Nach und nach lebte ich mich in ner Frau Gertrud in Erfurt geboren. Meinen meinem Beruf ein, qualifizierte mich zum Teil- Eltern verdanke ich eine sorglose, glückliche konstrukteur weiter (1961) und führte ein Kindheit, aber auch, ohne dass sie selbst da- glückliches Familienleben. In der freudig be- ran schuld gewesen wären, die erste große zogenen Altneubau- und später Plattenbau- Enttäuschung meines Lebens. Denn als Kind wohnung in Erfurt Nord, mit „Trabbi“, Cam- „kleinbürgerlicher“ Eltern blieb mir 1953 trotz pingurlaub und FDGB-Ferienscheck teilten sehr guter Noten der bereits zugesagte Über- wir Freud und Leid des DDR-Alltags, ohne gang von der damals achtklassigen Grund- ständig mit Neid auf den „goldenen Westen“ schule zur Oberschule und damit zu Abitur zu schielen. Durch Familie, Freunde und Hei- und Studium verwehrt. Unter der fadenschei- mat fest an Erfurt gebunden, kamen zumal nigen Begründung, man bezweifle, dass ich nach dem Mauerbau 1961 nie ernsthafte Ge- „das Klassenziel der Oberschule“ erreichen danken an Flucht oder Ausreiseantrag auf. könne, erhielt ich wenige Wochen vor Schul- Die spürbare Verbesserung des Lebens- jahresbeginn die mich wie einen Keulen- standards in den 1960er und 1970er Jahren schlag treffende Nachricht. Neben mir teilten empfanden wir als Nachkriegsgeneration drei weitere Klassenkameradinnen, die mit durchaus dankbar. Auch entwickelte sich so „sehr gut“ abgeschlossen hatten, aber auch etwas wie ein DDR-Wir-Gefühl, das ich ins- „bürgerliche“ Eltern besaßen, dieses Schick- besondere als großer Sportfan bei interna- sal. Die beiden „Arbeiterkinder“, die trotz tionalen Ereignissen wie Weltmeisterschaften

153 oder Olympiaden empfunden habe. Mein En- echt“ wirkendes Auftreten. Dennoch wurde gagement in der Evangelischen Kirche – in auch ich von der Euphorie der Ereignisse den 1950er Jahren hatte ich mich beispiels- 1989/90 mitgerissen und habe mir nie die weise in der verfemten Jungen Gemeinde sehr „alte“ DDR zurückgewünscht. wohl gefühlt – erlahmte unter den mittlerweile Meine Skepsis sollte jedoch nur allzu bald völlig areligiösen privaten und beruflichen Le- als berechtigt erscheinen. Mein Mann wurde bensumständen bis hin zu faktischer Konfes- schon im September 1990, noch vor der sionslosigkeit. Gegenüber dem Staat bzw. der offiziellen Wiedervereinigung, mit 52 Jahren Partei verhielten mein Mann und ich uns frei- von Arbeitslosigkeit betroffen, was nicht nur lich weiterhin reserviert, haben kein gesell- ein finanzielles, sondern auch ein psycho- schaftliches Engagement über das unbedingt logisches Problem für uns war. Ich selbst ver- notwendige hinaus gezeigt. Mein Mann hat diente mit meiner Teilzeitstelle kein großes sich unter Inkaufnahme beruflicher Nachteile Geld. Unser Sohn begann 1990 an der TU als Diplomingenieur in einem Projektierungs- Dresden ein schon zu DDR-Zeiten ange- büro bis zuletzt geweigert, der SED beizutre- bahntes Bauingenieur-Studium, wechselte ten, was auch für mich nie in Frage kam. Den- jedoch 1991 auf Lehramt Deutsch/Geschich- noch würde ich nicht wirklich von „Wider- te in Bayern, was ihm beinahe seine Bafög- stand“ sprechen, eher von konsequentem Unterstützung gekostet hätte. Plötzlich befand Rückzug in ein erfülltes Privatleben. sich unsere Familie nach Jahrzehnten einer zumindest in dieser Hinsicht „heilen Welt“ der Dennoch kam die Wende DDR erstmals in echten Existenzsorgen mit ziemlich überraschend ganz neuen Problemerfahrungen. Doch dann kam uns das Glück zu Hilfe: Die Wende habe ich als unheimlich span- Mein Mann bekam 1992 nach einer Umschu- nende und bewegende Zeit in Erinnerung, lung eine gut bezahlte Anstellung im Thü- ohne selbst aktiv in einer der Bürgerbewe- ringer Umweltministerium und das Mietshaus gungen tätig gewesen zu sein. Natürlich sind meiner Eltern im Erfurter Gründerzeitgürtel mir und meiner Familie die vielen Krisen- wurde mir rückübertragen. Das ermöglichte symptome der späten 1980er Jahre nicht ver- uns viele schöne Reisen in alle Welt, eine an- borgen geblieben, dennoch kam die Wende spruchsvollere Freizeitgestaltung und manch ziemlich überraschend. Die anfangs etwa bei weitere Annehmlichkeit. Auch konnten wir so den „Donnerstagsdemos“ auf dem Domplatz unseren Sohn großzügig fördern, der nach geforderte demokratische Erneuerung der dem Studium noch seinen Doktor machte und DDR habe ich natürlich rückhaltlos unter- heute an der Universität arbeitet. Mit Schwie- stützt, zumal einem jetzt immer mehr die Au- gertochter und Enkelsohn (1995 geboren) gen über das wahre Ausmaß der SED-Willkür- sind wir nunmehr eine rundum glückliche herrschaft geöffnet wurden. Familie. Aus dieser Sicht kann ich mich sicher Etwas skeptischer sah ich die bald in den als „Wendegewinner“ fühlen, wobei mir aber Mittelpunkt der Diskussion rückende sofor- immer bewusst bleibt, dass alles auch sehr viel tige Wiedervereinigung mit der Bundesrepu- anders hätte kommen können und keines- blik, da mir die Unterschiede in nahezu allen wegs alles „schöner als früher“ ist. Bereichen zu gravierend erschienen. Nicht zu- letzt der intensivere Kontakt mit unseren „West- Negative Erfahrungen verwandten“, die mein Mann 1988 sogar in im beruflichen Bereich der Bundesrepublik besuchen konnte, und den ersten in Erfurt auftauchenden „Ge- Als die einscheidendste negative Erfahrung schäftsleuten“ hat mir dies verdeutlicht. Manch- nach der Wende habe ich die Veränderungen mal regte sich bei mir doch Unwillen gegen im beruflichen Bereich erfahren. Zwar bin ich deren allzu großspuriges, aber zugleich „un- zunächst von Arbeitslosigkeit verschont ge-

154 blieben, was mit damals 50 Jahren und ange- reichbar geblieben wären. Andererseits ver- sichts unserer familiären Situation sehr wichtig binde ich mit der DDR-Zeit glückliche Jahr- war. Aber das neue Betriebsklima in dem zehnte meines Lebens im Elternhaus, im Be- mittelständischen Elektromechanik-Unter- trieb, mit meinem Mann und meiner Familie. nehmen, vormals eine PGH (Produktionsge- Sicher hat hierzu meine relativ „unpolitische“ nossenschaft des Handwerks), machte die Ar- Veranlagung beigetragen, die nie zu ernst- beit plötzlich zum Alptraum. Auch zu DDR- haften Reibungen mit der Staatsmacht führte. Zeiten gab es, auch wenn sicher vieles seinen Und deren allgegenwärtigen ideologischen eher lockeren „sozialistischen Gang“ ging, Ter- Beeinflussungsversuchen konnte man sich, mindruck und geforderte Leistung, nur stei- soweit man nicht nach „Höherem“ strebte, gerte sich dies unter der Leitung der neuen durchaus weitgehend entziehen. Bei aller „Herren“ des Betriebes nunmehr zeitweise ins Dankbarkeit für die vielen neuen Freiheiten Unerträgliche. und bei aller Bewusstheit über den ideolo- Die einstigen Kollegen, die den Betrieb als gischen Willkürcharakter der DDR, den ich GmbH übernommen hatten, verstiegen sich selbst mit der verweigerten „höheren Bil- als neue „Arbeitgeber“ gegenüber ihren „Ar- dung“ bitter habe zu spüren bekommen, emp- beitnehmern“ sogar dazu, Unterhaltungen finde ich die Wende so nicht als persönliche am Arbeitsplatz zu verbieten. Es war also kein Befreiung aus einem unglücklichen „Leben in „Wessi“, der jetzt wie in vielen anderen Fällen Ketten“. für „frischen Wind“ sorgen zu müssen glaub- Bisweilen fehlt mir auch der engere, herz- te, sondern Leute „von uns“, mit denen man lichere Zusammenhalt der Menschen, der teils über Jahrzehnte beruflich und privat eng wohl gerade in den spezifischen Bedingungen verbunden war – eine bittere Erfahrung der einstigen Mangelgesellschaft und den Erfassungsversuchen durch Partei und Staat Entlassung fast dankbar in bedingt war. Das abwechselnde Schlangeste- Kauf genommen hen der Kollegen beim Fleischer fürs Wo- chend-Schweinefilet, die „verordneten“, aber 1993 nahm ich so die Entlassung aufgrund dennoch unvergesslichen Kulturveranstaltun- der Übernahme meiner Zeichnertätigkeit gen oder Ausflüge mit dem Betrieb. Vielen durch effektivere Computerprogramme fast ehemaligen DDR-Bürgern fehlt wohl gerade dankbar in Kauf und verblieb bis zu meinem das „Aufgehobensein“ im Kollektiv, auch „offiziellen“ Rentnerdasein seit 1999 ohne wenn sich hier manches in der Rückschau weitere berufliche Tätigkeit. Mittlerweile bin verklären mag. Der förmliche Widerwille, mit ich bereit, mehr Verständnis für die unter öko- dem ich nach der Wende meiner Arbeit im nomischen Zwängen und hohem persön- selben Betrieb nach ging, dürfte kein Einzelfall lichem Risiko agierenden „Neu-Kapitalisten“ einer solchen plötzlichen „Klimaverände- aufzubringen. Dennoch bleibt die prägende rung“ gewesen sein – soweit der eigene DDR- Erfahrung, dass die Wende in einem der Betrieb überhaupt die Nachwendezeit über- wichtigsten lebensweltlichen Bereiche, dem lebte bzw. ein neuer Arbeitsplatz mit 50 Le- der täglichen Arbeit, eine ausgesprochen ne- bensjahren aufwärts noch gefunden wurde. gative Veränderung gebracht hat. Das Fazit mit Blick auf den persönlichen Ich sehe heute in der Wende von 1989/90 „Wen-depunkt“ 1989/90 bleibt damit auch auf das Ganze gesehen ein positves histo- für mich als überwiegenden risches Ereignis, das mir und meiner Familie „Wendegewinner“ zwie-spältig, liegen doch viele Dinge ermöglicht hat, die sonst uner- Licht und Schatten nah beieinander.

155 Jörg Roscher Neue Identität durch die Kunst

scheninnere sichtbar, assoziativ nachvoll- Jörg Roscher: ziehbar zu machen, strebt er wie so viele sei- Geborenam 11. November 1966 in Ru - ner Zunft Vollkommenheit an, wohl wissend dolstadt.Der Maler und Grafiker um seine Grenzen. Doch er lässt sich von die- Roscher ist weitgehend Autodidakt, malt surrealistisch, arbeitet auch sen ebensowenig beirren wie von der Arro- in Keramik und Bronze. ganz manch akademischer Kollegen. In Fach- Jörg Roscher verließ nach der 9. kreisen ist er bekannt, anerkennende Rezen- Klasse die Schule, begann eine Aus- sionen zu seinen Ausstellungen gab es in Ber- bildung als Facharbeiter für An- lagen- und Gerätebau, holte den Ab- lin ebenso wie in Frankfurt oder Prag. Dass er schluss der 10. Klasse nach, und mit seiner Kunst aktuell nicht reich wird, stört später noch das Abitur.1993 wurde er ihn nicht. Hat sie ihm doch eine neue Identität arbeitslos. Für einige Zeit war er gegeben, ihm eine Welt eröffnet, zu der vor danach noch auf dem Bau tätig, besann sich dann aber seiner künst- der Wende kaum Zugang war. Chemiearbei- lerischen Ader. Er absolvierte eine ter, arbeitslos, freischaffender Künstler, ein dreijährige Ausbildung zum Me- spannender Werdegang, den Jörg Roscher diengestalter. Jörg Roscher ist seit dem Jahr 2000 als freischaffen- am besten selbst nachvollzieht. der Maler und Grafiker in Rudolstadt *** tätig. Jörg Roscher über seinen Weg in der Wendezeit zur Kunst

Das Gespräch führte Die Rückbesinnung auf Wende und Wieder- Rainer Morgenroth vereinigung stimmt mich eher nachdenklich. Sicher ist da einerseits noch immer die Freude Zuerst reagiert Jörg Roscher skeptisch: „Mei- über dieses unerwartete Jahrhundertereignis, ne Biographie veröffentlichen, mich zur Wen- die Erinnerung an den Jubel der Menschen de äußern, noch dazu gegenüber einem mei- über ihre neu errungene Freiheit, die so ner ehemaligen Lehrer?“ Seine Erinnerungen plötzlich über sie kam, dass sie wohl keine Zeit an die Schulzeit sind nicht die Besten. Aber hatten, sie begrifflich zu definieren oder zu dann bricht das Eis schnell, als wir uns im Ge- verinnerlichen. Wollten sie das überhaupt? spräch seinem Metier nähern: Der Kunst. Ich Die Jagd nach der DM und westlicher Le- war auf Suche nach der Biographie eines Ar- bensart allein war damit sicher nicht gemeint. beitslosen und begegne einem Künstler. Der Oder doch? Die ersten Wochen sah es au- Maler und Graphiker Roscher ist weitgehend genscheinlich so aus. Die Kassen der grenz- Autodidakt, malt vorwiegend surrealistisch, nahen westlichen Supermärkte klingelten wie arbeitet auch in Keramik und Bronze. In sei- lang nicht mehr. War da auch ein Klang der nen Bildern spürt er mit seinen Mitteln der Herzen? Ich glaube bei vielen bestimmt. Auch Seele und dem Unterbewußten des Menschen wenn dieser seither vom politischen nach, gibt Gefühlen und Empfindungen „Frei- Alltagsge-schrei übertönt wird. gang“, zuweilen schreiend, zuweilen behut- Bewegt und in Bewegung gesetzt hat uns sam. In seinen Versuchen, das Men- die Wende schon. Ob diese Bewegungen im-

156 tern – Junger Pionier, Jugendweihe und FDJ. Geplant war sogar, und das nicht einmal ge- gen meinen Willen, eine Laufbahn als Berufssoldat mit 25 Jahren Verpflichtung. Aber das war nur der äußere Schein. In den oberen Klassen kam ich nicht mehr mit der Schule klar, und die Schule, besser die Lehrer, nicht mehr mit mir. In der 9. Klasse war Schluss, ich schmiss die Schule. Was war passiert? Aus heutiger Sicht sehe ich es so. Zu Hause war es mir familiär zu eng, auch für gedankliche Freiräume. Und in der Schule war mir vieles zu blöd. Immer sollte Vorgefertigtes nachgebetet werden, vor allem in Geschichte, Deutsch und Kunsterziehung, von Staatsbürgerkunde gar nicht zu reden. Ich muckte auf, suchte nach anderen Wegen und stieß auf die christliche Jugend. Was mich dorthin zog, war zuerst nicht der Glaube, sondern Protest gegen alles Fertige, Gerad- linige und gegen meine Eltern. Ich schloss mich der Jungen Gemeinde Volkstedt an, nahm an Kirchentreffen sowie mer dem rechten Weg folgen, wird die Zu- christlichen Werkstattwochen in Braunsdorf kunft erweisen. Gegenwärtig sehe ich da teil. Weltanschaulich war das noch nicht tief- auch einige soziale Irrwege. Mir hat die Wen- gründig motiviert, aber ich konnte ich selbst de etwas Wichtiges gebracht – die Möglich- sein. Dieses Anderssein wollte ich auch zei- keit der freien Selbstbestimmung meines Le- gen. Da kam, was kommen musste. Ich eckte bens. Das ist schon sehr viel. Aber ist das auch dauernd an, zum Beispiel mit dem Aufnäher alles? Mir wird klar, das Hinterfragen hat mich „Schwerter zu Pflugscharen“. Der „Staat“ in schon immer umgetrieben, seit meiner Kind- Gestalt des Schulleiters und eines Vertreters heit. Selbst an die denke ich mit zwiespältigen der Abteilung Inneres nahm sich meiner an. Gefühlen. Ich sollte das Abzeichen selbst abtrennen oder man würde es mir abreißen. Sogar ein Messer Kindheit im beengten Wohnen wurde mir gereicht und allerhand Konse- in der „Platte” quenzen angedroht. Die zog ich selbst, indem ich 1982 nach Geboren bin ich am 11. November 1966 in Klasse 9 die Schule verließ, um Ruhe vor wei- Rudolstadt. Meine Mutter war Angestellte, terer Reglementierung zu haben. Damit erle- mein Vater Arbeiter. Bis1973 wohnten wir in digte sich auch das Kapitel Berufssoldat. Mit Altschwarza, dann kamen wir in den Genuss 16 Jahren tat ich dann schon aus pazifisti- einer Neubauwohnung. Vielleicht hat die scher Überzeugung kund, dass ich keinen Waf- SED-Mitgliedschaft meiner Eltern dazu bei- fendienst leisten würde. Das blieb zum Glück getragen, denn die „Platte“ war gefragt. Trotz- ohne Folgen, denn bis zur Wende erhielt ich dem lebten wir beengt, da ich zwei Geschwi- keine Einberufung. ster hatte. So war Streit um eigene Rückzugs- Zurück zu1982; da begann ich eine Aus- möglichkeiten vorprogrammiert. bildung als Facharbeiter für Anlagen und Ge- Meine Schulbiographie scheint auf den er- räte (entsprach dem Instandhaltungsmecha- sten Blick normal für ein Kind staatstreuer El- niker) im VEB Transportgummi Bad Blan-

157 kenburg. Während dieser Ausbildung holte wir unter der Hand alle, getan nichts. Wie auch. ich den Abschluss der Klasse 10 nach, später Jedem war seine Existenzgrundlage wichtiger auch noch das Abitur über die Volkshoch- als sich Ärger mit dem Staat einzuhandeln. schule. Möglich wurde das, weil ich mich dem Und an den Untergang des Sozialismus hat Klima eines Produktionsbetriebes anpasste. keiner geglaubt. Reformieren konnte man Hier wollten alle zuerst Geld verdienen, Stö- nichts. Da schlug die Staatsmacht zu. Sollte renfriede waren unerwünscht. Also gab auch man dafür Haus, Wohnung, Familienleben ich äußerlich Ruhe. Das typische DDR-Ni- riskieren. Ich wollte es damals nicht. schen-Verhalten hatte auch mich eingeholt. Die nahmen mich sogar in die FDJ-Leitung Schabowskis Botschaft in des Betriebes. Spätausgabe der Tagesschau gehört 1988 lernte ich meine erste Lebensge- fährtin kennen. Nun wollte ich auch Geld ver- Und dann doch überraschend die Wende. Ich dienen, also hieß es, vorwärts kommen! Un- hatte Spätschicht, als Schabowski seine sen- sere Brigade trug den Namen „Ernst Thäl- sationelle Botschaft verkündete, erfuhr es erst mann”, sie rang um Auszeichnungen und Prä- in der Spätausgabe der Tagesschau. Das ging mien. Weshalb sollte man sich solchen „Zu- schon unter die Haut. Meine erste Westreise gewinn“ entgehen lassen. Zumal sich zu Hau- habe ich aber erst nach drei Monaten unter- se Nachwuchs einstellte und eine Wohnung nommen. Das mag manchem heute komisch ausgebaut wurde. Die stillgelegte Tischlerei erscheinen, mir ging der Bestand des Betrie- des Großvaters meiner Partnerin wurde ent- bes damals vor. Aus reinen Vernunftmotiven. rümpelt und in eigener Regie ausgebaut. Wir hatten gleich Angst um unsere Arbeits- Heimwerken heißt das heute, Eigeninitiative plätze. Es gab sofort spekulative Gedanken, nannte man solches Schwarzbauen damals. ob wir das Werk im Ernstfall selber überneh- Egal, jedenfalls habe ich der Familie zuliebe men sollten. Der Gedanke hat sich dann eigene Interessen und Gedanken zurück- schnell in Luft aufgelöst. gestellt, mich eingefügt und angepasst. Ich Mir war übrigens – man möge mir verzei- wurde sogar im Herbst 1989 als Schichtführer hen – das Massengeschrei nach der DM und eingesetzt, als ältere Leitungskader aus Angst „Wir sind ein Volk“ suspekt. Weshalb wollten vor Repressaliengerüchten ihren Hut nahmen. die Menschen nicht etwas ganz eigenes. 40 Dabei hatte ich selbst schon lange gespürt, Jahre verlogene Versprechungen der DDR- wie es mit der Wirtschaft bergab ging, auch in Führung hätten doch zur kritischeren Über- unserem Betrieb. Der hatte eine neue Anlage prüfung der Ankündigung „Blühender Land- in Holland gekauft, aus einer Null-Serie. Die- schaften“ führen müssen. Aber alle warnen- se sollte in eigener Pflege laufen, weil keine den oder zur Selbstbesinnung rufenden Stim- Devisen für Ersatzteile da waren. Sie lief nur men wurden übertönt. Auflösung war im Be- sporadisch, genau genommen nie in Vollast. trieb gang und gäbe. Arbeiter kamen nicht zur Oder es liefen hochstilisierte Sonderschich- Schicht, die NVA-Helfer trugen Zivil und ten, weil keine Lagerkapazität für unsere verschwanden. Grundstoffe aus Waltershausen vorhanden Der Betrieb produzierte recht und schlecht war. Die Masse musste also nach Anlieferung weiter. Bis die alte Leitung sich wieder an ihre am Stück verarbeitet werden. Bis zu 50 Schreibtische traute. Ihnen war ja nichts pas- Prozent Ausschuss waren am Ende die Folge. siert. Also wieder weiter wie gehabt, auch mit Auch der hochgelobte Arbeitsschutz der DDR altem Kommando-Ton. Ich wurde als Schicht- war in den letzten Jahren ein Ammenmärch- führer abgesetzt, es gab Streit zwischen den en. Giftige Gummizuschlagstoffe wurden per Arbeitern des neuen und des alten Werkes. Hand verwoben. Atemschutzmasken wurden Kollegiales Verhalten ging verloren in dieser erst 1990 Pflicht. Ich habe also die Zeichen „Rette-sich-wer-kann-Stimmung“! Das Altwerk des Untergangs gesehen. Gemeckert haben wurde geschlossen und ich bekam 1993

158 Kurzarbeit „Null“, war damit de facto und Inhalt meiner Werke beschäftigt sich über- dann ganz arbeitslos für ein halbes Jahr. wiegend mit symbolistisch-surrealen Themen, Danach arbeitete ich einige Zeit auf dem in deren Mittelpunkt der Mensch mit seinen Bau, ironischerweise auch beim Abriss des unterdrückten bzw. unterbewussten Ängsten Transportgummi-Werkes, in dem ich 13 Jahre und Zwängen steht. Auch beschäftige ich tätig war. Es gab noch einen persönlichen mich in jüngster Zeit mit Fotographik und Vi- „Abriss“ – die Trennung von meiner Lebens- deoinstallation. gefährtin. Ich kann davon leben, werde aber sicher damit nicht reich. Letzteres ist für mich nicht Den Lebensplan überprüft und die das Entscheidende. Die freie Selbstbestim- Kunst neu entdeckt mung meines Lebens, meines Schaffens ge- ben mir innere Zufriedenheit und Sicherheit. Vielleicht war das ein Grund, meinen Lebens- Darin besteht für mich das schönste Ge- plan zu überprüfen, und ich besann mich mei- schenk der Wende und persönlicher Gewinn. ner künstlerischen Ader. Schon in der Schule Ich genieße diese Freiheit, die sich für mich hatte mich das Fach Kunsterziehung sehr in- nicht zuerst politisch definiert, sondern ganz teressiert, war mir aber durch den sozialisti- individuell erlebbar ist. Sie hat mir ermög- schen Realismus vermiest worden, Kreativität licht, meinen Lebensentwurf und meinen Wer- war nicht gefragt. Ich war aber Stift, Pinsel und tekatalog neu zu bestimmen. Ich denke weni- Farbe nie ganz untreu geworden und hatte in ger materialistisch als früher, verfolge nicht so der Freizeit Autos bemalt oder Fassaden sehr, was man kleinbürgerliche Ziele nennt. gestaltet. Nicht etwa illegal, sondern richtig Für mich ist wichtiger, mit mir selbst einig mit Auftrag im Bekanntenkreis. Das wollte ich zu sein, sozusagen in mir selbst Ruhe, Kraft nun intensiver betreiben. 1999 bot sich dafür und Zufriedenheit zu suchen. Darin sehe ich eine Chance. Ich konnte eine fast dreijährige das Bleibende und Erfüllende an der Wende. Ausbildung zum Mediengestalter in Ilmenau Umgekehrt sehe ich in der bloßen Übernah- absolvieren. Seit dem Jahr 2000 bin ich frei- me der westlichen Werte eine verspielte Chan- schaffender Maler und Grafiker. ce. Nichts war mit der Verwirklichung der Meine künstlerische Arbeit konzentriert basisdemokratischen Ziele der 1990er Jahre. sich in erster Linie auf die klassischen Tech- Das macht mich ein wenig traurig – oder niken, wie Ölmalerei und Zeichnungen. Der nachdenklich, wie ich eingangs sagte.

159 Udo Scheer Der Preis für die Freiheit – er war vergleichsweise gering

Massenansturm Ausreisewilliger aus der DDR Udo Scheer: auf die bundesdeutsche Botschaft in Budapest Geboren im Oktober 1951 in München, und von deren Schließung. Wir saßen vor un- Studium von 1970 bis 1974 an der serem Bergzelt in der Niederen Tatra und Friedrich-Schiller-Universität Je- na, Abschluss als Diplom-Ingenieur, machten etwas Urlaub von der wenig gelieb- Beruf Konstrukteur. ten DDR. Ein paar Tagespäter durften gut 100 Udo Scheer war Mitglied im 1975 ver- Botschaftsbesetzer in die Bundesrepublik. Ei- botenen Arbeitskreis Literatur ne der weltweit bestgesicherten Grenzen be- Jena. Die Veröffentlichung seiner literarischen Arbeiten wurde bis kam Risse, wurde zur Farce. Was für ein Hoch- 1989 weitgehend verhindert. Das MfS gefühl! befasste sich in mehreren „Operati- Vier Wochen später brachte die Grenz- ven Vorgängen” mit Scheer. Von 1990 öffnung in Ungarn den dunkelhumorigen bis 1993 war er Betriebsrat bis zur Liquidation der electronicon GmbH Österreichern einen neuen Volkssport ein: Gera. Seit 1993 ist er freiberufli- „Gehn mo’ ma’ DDR-Flüchtlinge schaun!” cher Schriftsteller und Publizist. Weitere vier Wochen, und die Demon- Von 1995 bis 2001 war Udo Scheer Vorsitzender der Geschichtswerk- stration der 7 0 000 in Leipzig wurde zur Ini- statt Jena; er ist Mitglied im tialzündung. Mich trieb es zur „Friedensan- Autorenkreis der Bundesrepublik. dacht” in die Geraer Salvatorkirche, gut 1500 Menschen standen dicht an dicht bis zum Altar Im Jahr Zehn des Mauerfalls kam der Chef- und auf der Empore. Unvermittelt traten Pro- redakteur einer Zeitung auf die Idee, neben vokateure auf, vermutlich Staatssicherheit, Erich Loest, Reiner Kunze, Utz Rachowski, alle in unscheinbar uniformen Lederjacken: Günter Ullmann auch mich um eine Gast- „Los, zur Bezirksleitung! Wir wollen die munter kolumne, um eine kleine Bilanz zu bitten. machen!” „Aufmischen!” ... Die Stimmen, die Wenn ich die verstrichene Zwischenzeit Revue instinktiv zur Besonnenheit riefen, waren passieren lasse: Was hat sich verändert? stärker. Unruhiger geworden ist es in Deutschland. Tage später kamen aufgeregt Kollegen: Die Sozialgemeinschaft knirscht. Doch eine Schlosser in einem Landmaschinenreparatur- längst drängende Aufgabe – Arbeit in der betrieb hatten den Auftrag, Räumgitter an postindustriellen Gesellschaft neu zu definie- Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei zu ren, nutzbringende Tätigkeit für die Gemein- montieren und darüber Mähmesser. Wir ver- schaft aufzuwerten – steht weiter aus. So feiern langten von Journalisten der SED-Bezirkszei- auch im fünfzehnten Jahr des Mauerfalls tung, das öffentlich zu machen. Sie machten. Abenteurer Konjunktur. Vielleicht ist da ein Die Kollegen weigerten sich, Todesmesser ge- Blick zurück nicht uninteressant: gen Demonstranten zu montieren ... Es war wie ein Rausch. Das Kartenhaus der Ein kostbares Gut Diktatur fiel zusammen, und es floss kein Blut. Die Macher waren verschwunden, abge- Aus einem kleinen Transistorradio hörten mei- taucht. Sie tauchten wieder auf als Immobi- ne Frau und ich am 13. August 1989 vom lienmakler, als Verwalter, in Schaltstellen der

160 Wir wussten nichts von der Möglichkeit der Staatssicherheit, Tollwutviren, toxische und radioaktive Stoffe gegen politische Gegner – auch in der Bundesrepublik – einzusetzen. Wahrheit lässt sich nicht dauerhaft unter- drücken. Jetzt wirkt auch der unerhörte Krebs- tod des 1977 ausgebürgerten Menschen- rechtlers und Schriftstellers Jürgen Fuchs als Wahrheitsbeschleuniger, Pfarrer Matthias Storck sagte in seiner Trauerrede: „Jürgen heg- te die Vermutung, seine Krankheit sei nicht gottgewollt, sondern von Menschenhand ge- macht.” In der Vergangenheit ermittelten Staatsanwaltschaften trotz Anzeigen nicht. Jetzt hat die Gauck-Behörde eine„ Sonderre- cherche” veranlasst. Das wurde möglich, weil es die Proteste und einen Hungerstreik von Bürgerbewegten, unter ihnen Jürgen Fuchs, 1990 fertig brach- ten, das weltweit einmalige Offenlegen der Arbeits- und Finanzämter, als Management- Stasi-Archive gegen den Willen der Bundes- berater... Allein die Treuhandanstalt rekrutier- regierung durchzusetzen. te 70 Prozent ihrer Mitarbeiter zur Abwicklung Der Wert des freien Wortes, des Aus- der DDR-Wirtschaft aus ehemaligen sozialisti- tausches, des streitbaren Diskurses ist un- schen Kadern. Die taten das Gewünschte, schätzbar. Zehn Jahre nach dem Ende der verwandelten das Land in einen riesigen Markt. DDR-Diktatur ist das ein beeindruckender Westliche Glücksritter, Banken, Unternehmen Moment: Nicht nur im Kalender beginnt ein machten ihren Schnitt. An den Kosten trägt die neues Millennium. Es beginnt auch ein neues gesamte deutsche Gesellschaft, an der unver- europäisches Zeitalter mit einer Währung, mit hältnismäßigen, demütigenden Arbeitslosig- einem gemeinsamen Wertesystem, dem be- keit vor allem der Osten. sten Schutzfaktor für das kostbare Gut Demo- Das war der Preis für die Freiheit. Dennoch kratie. ist er vergleichsweise gering, gemessen an (Erschienen in Frankenpost, 4. September den vorbereiteten Isolierungslagern in der 1999; In: „Zeitrisse. Einwürfe Eingriffe DDR, 1988 für 8 7 000 potentielle Staats- Gespräche Geschichten“, Geest-Verlag feinde, die im Krisenfall festzusetzen seien. 2003)

161 Dagmar Schipanski Es muss weniger Bürokratie geben und mehr Visionen

noch alles in Stenographie mit, wenn ich mir Professor Dr. Ing. habil. schnell etwas notieren muss.“ Ihr Elternhaus Dagmar Schipanski, habe sie als ein ganz normales bürgerliches Präsidentin des Thüringer Haus erlebt, wie es in diesen Nachkriegsjah- Landtages ren so untypisch auch in der DDR nicht war. Geboren 1943 in Sättelstädt, zwi- „Sehr prägend war bei uns die starke schen Eisenach und Waltershau- sen.Ihr Vater, ein evangelischer Orientierung auf die Pflichterfüllung. Das hat- Pfarrer, ist 1944 gefallen. Dagmar te schon in der frühen Kindheit angefangen in Schipanski ging in Ilmenau zur Schu- Sättelstädt bei den Großeltern. Wenn wir zum le, legte das Abitur ab und heira- tete dort. In Magdeburg studierte Beispiel in den späteren Jahren in jedem Ur- sie Physik und schaffte in der DDR laub dorthin gefahren sind, da hat mein auch ohne Parteibuch die seltene Großvater immer mit Schmunzeln gesagt: ‚Da Karriere bis zur außerordentlichen kommen ja die ausgeruhten Kräfte aus der Dozentin. Nach 1990 zur Professorin berufen wurde Dagmar Schipanski zur Stadt’. Er war ein Bauer von echtem Schrot Dekanin, später zur Rektorin an der und Korn und auch so etwas wie ein Patriarch TU Ilmenau gewählt. Nach ihrer in unserer Familie.“ Über die Geschichte der Kandidatur zur Bundespräsidentin war sie Thüringer Ministerin für Großeltern ist die junge Dagmar auch zeitig Wissenschaft, Forschung und Kunst. mit den Repressalien des SED-Regimes in Be- rührung gekommen. Die Großeltern waren nach den damaligen Maßstäben als „Groß- Das Gespräch führte bauern“ eingestuft worden. Der Großvater, Dr. Juliane Rauprich der von 1949 bis 1953 ehrenamtlicher Bür- germeister des Dorfes war und vorher noch für Geboren wurde Dagmar Schipanski am 3. die Liberal Demokratische Partei im ersten September des Kriegsjahres 1943 in dem Thüringer Landtag saß, wurde vor dem 17. kleinen Dorf Sättelstädt zwischen Eisenach Juni 1953 ins Gefängnis geworfen. Auf ihn und Waltershausen. Ihr Vater, Pfarrer der wartete ein Prozess wegen „nicht erfülltem evangelisch-lutherischen Kirche, ist im darauf Ablieferungssoll“. Im Ergebnis des Volksauf- folgenden Jahr 1944 gefallen. Auch nach standes wurde er frei gesprochen und kam dem Tod des Vaters lebte sie mit ihrer Mutter auch auf freien Fuß. Diese Erhebung, so Dag- bis 1949 weiter auf dem großen Hof der mar Schipanski heute, sei ein wahrer Glücks- Großeltern mütterlicherseits in Sättelstädt. fall für ihren Großvater gewesen, dem sonst In dem Jahr heiratete die Mutter einen wie so vielen anderen vor ihm eine längere kaufmännischen Angestellten aus Ilmenau, Haftstrafe sicher gewesen wäre. der in der dortigen „Sophienhütte“ Prokurist war. Man zog nach Ilmenau um, ohne die en- Das Christentum gibt ge Verbindung zur Verwandtschaft in Sät- den inneren Halt telstädt aufzugeben. 1950 wurde der Bruder geboren, die Mutter arbeitete nun als Leh- Nein, als Pfarrerstochter – wie so oft in den rerin für Stenographie. „Ich schreibe heute Medien kolportiert – habe sie sich nicht ver-

162 standen. Allerdings sei auch ihre Mutter tief gläubig, so dass die christlichen Bindungen von Kindheit an organisch gewachsen wären: „Es ist das Christentum, das auch mir die in- nere Unabhängigkeit und den inneren Halt gibt.“ 1962 hat Dagmar Schipanski in Ilmenau ihr Abitur abgelegt. In der 11. Klasse hatte sie hier den Mann ihres Lebens kennen gelernt, mit dem sie bis heute glücklich verheiratet ist: „Meine Familie hatte und hat für mich immer einen riesengroßen Stellenwert!“ Tigran Schi- panski, in der DDR als Diplom-Ingenieur im VEB Werk für Technisches Glas Ilmenau tätig, ist seit 1990 Erster Beigeordneter des Landrats im heutigen Ilmkreis. Die Schipanskis, bei öf- fentlichen Anlässen meist mit beiden Müttern präsent, haben drei Kinder: eine Tochter und ein Sohn wurden als Zwillinge 1976 geboren, eine Tochter folgte 1981. In Ilmenau und da- rüber hinaus ist das Haus der Familie als „of- fenes Haus“ bekannt – immer sind neben wechselnden Familienmitgliedern auch in- und ausländische Gäste gern gesehen. Ko- die Aufnahme in die Freie Deutsche Jugend chen und Hausarbeit sind weder für Dagmar nötig, jene wiederum galt als Sprungbrett für noch für Tigran Schipanski Fremdworte. den Besuch einer Erweiterten Oberschule und Über ihre Zeit an der Erweiterten Ober- das Ablegen des Abiturs in der DDR. Das Lei- schule in Ilmenau sagt die Wissenschaftlerin stungsniveau war eher sekundär in jener Zeit. und Politikerin im Nachgang: „Ich war immer 1958 jedoch kam trotzdem ein Schock: Der sehr breit gefächert was meine Interessen an- Oberschulbesuch wurde abgelehnt. Familie ging. Bis zur 12. Klasse war ich auch mit Lei- und soziale Herkunft waren nicht der Garant denschaft im Laienspiel unserer Penne. Thea- für Linientreue. „Das hat für meine beruflichen terwissenschaft stand als Studienwunsch so- Ambitionen im Grunde das Ende bedeutet; gar ganz weit oben eine Zeit lang. Lehrer woll- ich habe dann zunächst Stenotypistin ge- te ich nicht werden – das waren treue Staats- lernt.“ Durch den Mut der Verzweiflung, die diener. Jura kam auch nicht in Frage – Juristen der Stiefvater an den Tag legte, gelang dann mussten absolut systemtreu sein. Da blieb doch noch der Besuch der EOS. In der Ilme- dann als Studienwunsch eigentlich nur etwas nauer „Sophienhütte“ war eine politische „Agit- Naturwissenschaftliches, weil das ideologie- Prop-Veranstaltung“ (die Arbeiter sollten von frei war.“ den neuen Errungenschaften des Sozialismus mit Agitation und Propaganda überzeugt wer- Distanz zum SED-Staat durch das den). In dieser Runde sprachen Funktionäre Eingebettet-Sein in die Kirche auch darüber, dass im Sozialismus jeder das Recht auf Bildung habe. Dagmar Schipanskis Zum SED-Staat habe sie schon durch ihr Ein- Stiefvater entgegnete damals: „Obwohl ich gebettet-Sein in die Kirche eine deutliche in- eine Staatsratseingabe gemacht habe, wurde nere Distanz entwickelt. Sehr spät ist Dagmar meiner Tochter genau dieses Recht auf Bil- Schipanski in die Pionierorganisation einge- dung verwehrt. Im letzten Regime ist es mir we- treten. Diese Mitgliedschaft wiederum war für gen jüdischer Verwandter verwehrt worden –

163 das neue Regime verwehrt es meiner Tochter „Das hätte ich aber sofort getan, wenn meine aus politischen Gründen.“ Der Mut trug Früch- Kinder in Schule und Studium benachteiligt te, aber: „Als ich auf der Erweiterten Ober- worden wären.“ Aber eigentlich habe das Po- schule war und auch danach – da habe ich litische keine vordergründige Rolle für sie ge- mich nie wieder öffentlich gegen etwas ge- spielt, spielen können: „Ich hatte in dieser Zeit äußert. Ich war nun immer einfach still, wenn drei kleine Kinder und war mit dem Alltäg- es um Politisches ging. Bei der FDJ habe ich lichen mehr als genug beschäftigt.“ einfach mitgemacht.“ Im Sommer 1989 seien eine Ungarin und vier Russen zu Gast im Hause Schipanski ge- Physik war etwas, wo die Jungen wesen. „Wir haben in dieser aufregenden Zeit meinten, sie hätten ein Monopol aber nicht an die Wende, wie sie dann erfolgt ist, gedacht.“ Urlaub gemacht hätte die ganze Schon in ihrer Jugend, so Dagmar Schipanski, Familie im Juli und August in Novosibirsk, ih- habe sie öfter Kontakt mit ausländischen Stu- rem alten Studienort. Dort habe man auch Mit- denten der Ilmenauer Technischen Hoch- glieder der ehrwürdigen Akademie der Wis- schule gehabt. Auch habe damals an der EOS senschaften besucht: „Wir wollten unbedingt ein Professor der Hochschule über Halbleiter Gorbis neue Sowjetunion kennen lernen!“ referiert. So sei ihre Liebe zu diesem Fachge- Genau in die Zeit des Schipanski-Urlaubs sei biet zeitig geweckt worden. Und noch etwas damals ein großer Streik der Arbeiter am Don- anderes hat hinsichtlich der späteren beruf- bass gefallen. Der wesentlich kürzer geplante lichen Ausrichtung eine Rolle gespielt: „Physik Urlaub hätte in der Folge fünf Wochen ge- war etwas, wo die Jungen meinten, sie haben dauert: „Wir waren in dieser Zeit Jäger und ein Monopol darauf. Das war eine Heraus- Sammler geworden – nach allem, von allem. forderung für mich!“ Von 1962 bis 1967 hat Nun muss man wissen, dass alles, was sich in Dagmar Schipanski Angewandte Physik an der Sowjetunion ereignete, etwa ein bis zwei der Technischen Universität „Otto von Gue- Jahre später auch bei uns in der DDR auf der ricke“ in Magdeburg studiert. Danach war sie Tagesordnung stand. Das war erfahrungsge- bis 1985 zunächst Assistentin, später Oberas- mäß einfach so. Wir haben uns in diesem sistentin an der Technischen Hochschule Ilme- Sommer 89 entsetzt gefragt, was denn wer- nau. 1972 folgte ein Zusatzstudium am Insti- den würde, wenn dieses unsagbare Chaos, tut für Halbleiter der Akademie der Wissen- das wir jetzt erleben mussten, auch zu uns kä- schaften in Novosibirsk. Die Promotion auf me?! Wir waren sehr, sehr hoffnungslos.“ dem Gebiet der Festkörperelektronik folgte 1976, die Habilitation auf dem gleichen Das war ein Gebiet 1985. Auch in der Geschichte der Befreiungsschlag! DDR-Naturwissenschaft und Technik gab es sehr wenig Frauen, die so weit auf dem aka- Wieder zu Hause in Ilmenau haben dann auch demischen Weg gekommen sind, zumal, wenn die Schipanskis im Fernsehen die Öffnung der es sich nicht um Mitglieder der SED handelte. ungarischen Grenze gesehen: „Das war ein 1985 wurde Dagmar Schipanski auch außer- Befreiungsschlag!“ Noch heute erinnert sich ordentliche Dozentin. Die Berufung zum Pro- Dagmar Schipanski an jenen Ilmenauer, der fessor für Festkörperelektronik allerdings kam in die Kameras der westlichen Welt sagte: erst 1990 – nach der Wende. „Nun kann der Störmer [Wolfgang Störmer; Gefragt nach ihren Gefühlen gegenüber damals Erster Sekretär der SED-Kreisleitung dem Staat DDR fasst Professor Schipanski ihre Ilmenau, J.R.]seinen Dreck alleine machen!“ Sicht so zusammen: „Mir war schon tief in Im darauf folgenden Herbst hat Dagmar DDR-Zeiten klar: Von diesem Staat bekomme Schipanski immer wieder Kontakt zu Kollegen ich meine Rente einmal nicht.“ Nein, einen der Akademie der Wissenschaften der DDR in Ausreiseantrag hat die Familie nie gestellt. Berlin gehalten. Dort habe es schon im Herbst

164 ganz bemerkenswert offene Wandzeitungen habe sie niemals geglaubt: „Das System war gegeben. Ihre eigene Stimmung und die in in sich selbst so marode, das war kein Sozia- der Familie habe in diesen Monaten zwischen lismus, das war eine Diktatur.“ Als dann die Hoffnung und Resignation geschwankt, „aber Losung wechselte von „Wir sind das Volk“ zu wir sind irgendwie immer auf dem Boden der „Wir sind ein Volk“, das sei für sie schon über- Realität geblieben. Ich wusste: wie bei Gorbi raschend gekommen. Aber: „Ich wusste schon, kann es hier nicht werden. Wir würden etwas dass es der einzig richtige und gangbare Weg völlig anderes brauchen. Aber die Zeit, um sein würde. Allerdings habe ich schon ganz das zu kommunizieren, die war damals noch beizeiten gesagt, dass ein vereintes Deutsch- nicht reif.“ land nicht mit der alten Bundesrepublik In Ilmenau eskalierte die Situation dann, identisch sein würde.“ wie in anderen Städten der untergehenden Geändert hat sich das Leben von Professor DDR auch, in der Nacht vom 6. auf den 7. Dagmar Schipanski nach 1990 gravierend. Oktober 1989. Damals wurden Jugendliche Die Berufung zur Professorin blieb nicht die nach einem Disko-Besuch in der Festhalle der einzige berufliche Herausforderung und Wür- Stadt von „Sicherheitskräften“ misshandelt und digung: 1990 bis 1993 war sie Dekanin der „zugeführt“. Dagmar Schipanski: „Dieses Er- Fakultät für Elektrotechnik und Informations- eignis habe ich, genau wie so viele hier auch, technik an der TH Ilmenau; 1994 folgte das ganz bewusst wahrgenommen und reflektiert. Amt der Prorektorin für Bildung, 1995 bis Es waren ja unsere jungen Leute, unsere Kin- 1996 wurde sie zur ersten Rektorin der 1992 der, die den realen Sozialismus in aller Bru- zu einer Universität gewordenen Ilmenauer Ein- talität erleben mussten!“ Als die Demonstra- richtung gewählt. tionen begonnen hatten, war auch Dagmar Schipanski bei jeder dabei. Und auch, wenn Den Wissenschaftsrat es bis zum Jahresende mitunter 20.000 De- erheblich geprägt monstranten geworden waren – selbstver- ständlich war das Mitgehen gerade am An- Ganz erheblich geprägt hat Professor Dag- fang nicht in einer überschaubaren Provinz- mar Schipanski den Wissenschaftsrat der stadt. Sie erinnert sich heute, dass sie die rus- Bundesrepublik Deutschland, dem sie von sischen Freunde, die damals bei ihr daheim 1992 bis 1998 angehörte und deren als Gast waren, mit zu den Demos nahm. Vorsitzende sie von 1996 bis 1998 war. Ihre Mitgliedschaften in nationalen und interna- Wir wollten unbedingt tionalen Gremien füllen inzwischen mehrere raus aus der Enge Seiten Papier. Deutschlandweit bekannt wur- de sie spätestens seit dem Zeitpunkt, als die „Der eine Freund hat mich ganz frustriert ge- beiden Unionsparteien CDU und CSU die fragt: Wofür geht ihr eigentlich auf die Straße? damals noch parteilose Wissenschaftlerin zur Ihr habt ein Haus. Ihr habt drei gesunde Kin- gemeinsamen Kandidatin für das Amt des der. Die Arbeit, die ihr habt, macht euch Spaß.“ Bundespräsidenten vorschlugen. Der Aus- Schipankskis Antwort und auch ein Erklä- gang der damaligen Wahl ist bekannt, jedoch rungsversuch heute: „In der russischen Men- würde Dagmar Schipanski gerade auch diese talität hat der Freiheitsbegriff niemals eine Zeit keinesfalls missen wollen. Herausforde- übergreifende Rolle gespielt. Wir aber, wir rung, Anstrengung und Weiterentwicklung wollten unbedingt raus aus der Enge, der haben sich, wie so oft in ihrem Leben, die Unfreiheit. Wir wollten die Freiheit!“ Aller- Waage gehalten. Diese Kandidatur war zu- dings, so Dagmar Schipanski über diese Wo- gleich der Beginn der eigentlichen politischen chen im Herbst 89: „Natürlich hatten wir alle Laufbahn der Physikerin, die sich ihre Sporen auch Angst vor einer chinesischen Lösung.“ schon als Wissenschaftspolitikerin verdient An eine Reformierbarkeit des DDR-Systems hatte. Wenn sie sich an diese aufregende Zeit

165 im Herbst/Winter 1989 und dann an den kannten Leute in der Bewertung eine Null Frühling 1990 erinnert, dann fällt ihr etwas bekamen, dass die negativen und die positi- ein, das damals ganz klar als Maxime vor ihr ven Bewertungsspitzen tatsächlich mit den stand: „Vom ersten Moment der Wende an Menschen, die im Blickfeld waren, korrespon- habe ich mir gesagt, dass ich nie mehr dierten. Die Maßstäbe für die Personalkom- schweigen werde. Nie wieder wollte ich mich mission und für die Berufungskommission selbst abseits stellen, mich verleugnen. Damit haben wir uns damals auch selbst erarbeitet.“ diese gesellschaftliche Veränderung unum- Auf dem Feld der Wissenschaft ist Professor kehrbar bleiben möge, habe ich mich voll und Schipanskis Resümee durchweg positiv: „Die ganz zur Verfügung gestellt. Natürlich war Überführung der Wissenschaftslandschaft ist mein Engagement mit meiner Familie immer sowieso der gelungenste Teil der deutschen beraten und abgestimmt. Allein schafft man Vereinigung.“ das alles sonst wohl kaum.“ Erheblich kritischer wird Schipanskis Be- wertung auf dem Feld der im weitesten Sinne Über neue Hochschulstrukturen sozial-politischen Vereinigung: „Ein riesiger verständigen Fehler war die Übernahme der ganzen büro- kratischen Routine der alten Bundesrepublik. Der Start des wissenschaftspolitischen Enga- Das Abschütteln des Alten verlief ja hier bei gements von Professor Schipanski begann wie uns grandios! Aber für den Neuaufbau hätte so oft in dieser Zeit in der Noch-DDR an ich mir mehr kreative Hilfe aus den alten einem Runden Tisch. Bei ihr war es jener der Ländern gewünscht.“ Zugleich warnt Dagmar Technischen Universität in Ilmenau. Hier be- Schipanski vor einseitigen Schuldzuweisun- stand die Kernfrage für sie und das Motiv, ak- gen, vor reflexhaften und platten Losungen. tiv mit zu gestalten darin, sich über die neuen Auch wenn in jenen bewegten Monaten im und notwendigen Hochschulstrukturen zu ver- Grunde gar keine tief greifenden Diskussio- ständigen. Hier sei ihr sehr zugute gekom- nen über das Pro und Kontra des Weges zur men, dass sie schon als ganz junge Wissen- Vereinigung möglich gewesen seien (die au- schaftlerin bei den Professoren Eberhart Köh- ßenpolitische Entwicklung insbesondere in ler [der erste Rektor der Technischen der Sowjetunion würde heute gerne vergessen Hochschule Ilmenau nach der Wende, J.R.] bei kritischen Bewertungen), hätten sich den- und Helmut Reimer selbständig Projekte mit noch „einmalige Perspektiven“ für das Deut- der Wirtschaft leiten musste. sche Volk aufgetan: „Die Einheit ist das Wun- Über die Zeit unmittelbar nach der Wende der meines Lebens! Weil es so ein unerwarte- sagt Dagmar Schipanski rückblickend: „Das tes Ereignis war, deswegen nenne ich es ‚Wun- war überhaupt die kreativste Zeit! Wir haben der’. Es hat mein Leben völlig umgekrempelt. die Dinge eben nicht blind 1:1 nachgemacht, Man sollte doch bedenken, dass wir Men- sondern haben alles für uns hier geprüft, ha- schen sind, die sich aus der Eingeschlossen- ben eigene Varianten gefunden. Es war aber heit befreit haben.“ auch eine schwierige Zeit dahingehend, dass eine fachliche und persönliche Evaluierung Kein glücklicher Umgang mit der für die Mitarbeiter der Hochschule stattfinden DDR-Vergangenheit musste, für die eine Weiterbeschäftigung an- stand. Diese persönlichen Gespräche waren Natürlich sei es inzwischen völlig offensicht- oft genug auch menschlich schwierig und mit- lich, dass ein Unrechtsregime wie die DDR unter sogar schmerzlich. Urteile über Men- letztlich nicht mit Mitteln des Rechtsstaates schen sind nie leicht. Sie sollten es zumindest abzulösen oder gar „aufzuarbeiten“ sei. Über nicht sein. Interessant dabei war damals, dass die Bewertung derartig tiefer Zäsuren müsse bei den Bewertungen der Wissenschaftler an man schon anders nachdenken: „Wir reden ja der TH untereinander die als unauffällig be- auch nicht von einer ‚Revolution’, sondern

166 von einer ‚Wende’.“ Der Umgang mit der schen in den alten und in den jungen Bun- DDR-Vergangenheit sei insgesamt nicht son- desländern im Vordergrund stehen möge! „Es derlich glücklich und gescheit gewesen. Wich- muss viel weniger Bürokratie geben, viel mehr tig ist es Professor Schipanski in diesem Zu- lokale Bezüge auch des politischen Handelns, sammenhang deutlich zu sagen, dass „immer viel mehr Visionen, warum etwas wie getan nur gewissermaßen Stasi zentriert geblickt und wird. Bislang jedoch wird viel zu oft mit dem bewertet wurde. Die Rolle der SED blieb so reinen, quasi ungetrübten Bürokratenblick weitgehend im Schatten der öffentlichen Auf- geschaut. Das kommt der Mentalität hierzu- merksamkeit. Und da die Medien ja damals lande schon oft entgegen, denn die Deut- und auch heute noch sehr von Journalisten schen neigen dazu, die Eigenverantwortung der alten Bundesländer dominiert sind, da ganz schnell abzugeben. Aber wenn der kann ich nur sagen, dass diese uns oft viel zu Einzelne – sei es in Ost oder sei es in West – wenig zuhören. Der Lernprozess muss schon mit seinen Ideen gefragt ist, sich einbringt, beidseitig sein.“ wenn die Verwaltungen weg von einer Sicht Die übergreifend positive Sicht und Ein- ‚Was kann ich verhindern?’ hin zu einer schätzung der Deutschen Vereinigung will Dag- Handlungsweise ‚Was kann ich befördern?’ mar Schipanski jedoch so akzentuieren, dass kommen, dann sind wir Deutschen auf einem die gemeinsame Herausforderung für die Deut- guten Weg.“

167 Reinhard Schramm Das langsame Bröckeln der Zuversicht in den Sozialismus

aus dieser Zeit. Aber an manchen Tagen war Prof. Dr. Ing. habil. sie ganz, ganz still, hat geweint. Durch mein Reinhard Schramm: bohrendes Fragen später wusste ich dann, Geboren ist er 1944 in Weißenfels. dass jemand von den ermordeten Verwandten Seine Mutter war Jüdin, sein Vater Nichtjude. Er überlebte, weil der Geburtstag gehabt hätte – oder Sterbetag. An Vater ihn und seine Mutter vor der Weihnachten oder an anderen Festtagen, wo Deportation bewahren konnte. die Familien meiner Schulkameraden zusam- In Polen studierte er Elektro- men kamen und feierten, da waren bei uns technik, lernte dort seine Frau ken- nur meine Mutter und ich in meiner frühen nen. Nach dem Studium war er an der TH Ilmenau tätig, wurde dort zum Pro- Kinderzeit. 1955 hat meine Mutter wieder ge- fessor berufen. Er war stellvertre- heiratet, 1957 zogen wir nach Ilmenau um. tender Leiter eines Instituts, das Als ich 15 Jahre alt war, da habe ich meine nach 1990 abgewickelt wurde, dessen Kernkompetenzen aber in das neu ge- erste Wandzeitung in der Schule gemacht gründete Patentinformationszentrum- über die Judenverfolgung im Nationalsozia- Online-Dienste der TU Ilmenau (PATON) lismus. Mit 17 war ich FDJ-Sekretär an meiner einflossen, das er bis heute leitet. Schule und habe den damaligen Landesrab- Reinhard Schramm ist stellvertre- tender Vorsitzender der Jüdischen biner Dr. Riesenburger eingeladen, vor Ober- Landesgemeinde Thüringen. schülern in Ilmenau zu sprechen.“

Familienschicksal prägte Das Gespräch führte Weltanschauung Dr. Juliane Rauprich Professor Schramm war also schon von seiner Der Professor und stellvertretende Vorsitzende Mutter, die der Roten Armee die Erlösung von der Jüdischen Landesgemeinde in Thüringen der ständig präsenten Deportationsdrohung wurde 1944 in Weißenfels geboren. Seine verdankte und die sich nach 1945 deutlich Mutter, die 1990 in Ilmenau verstorben ist, und überzeugt für die sozialistische DDR und war die einzige Überlebende der Shoá in ihrer auch für die SED engagierte, politisch stark Familie. Der Vater von Professor Schramm geprägt. Im Versteck gerettet wurden Rein- war Nichtjude, hielt trotz Diskriminierung und hard Schramm und seine Mutter von einer enormer beruflicher Benachteiligung zu sei- kommunistischen Familie. Dabei blieb aber ner jüdischen Ehefrau und dann auch zu sei- sowohl für die Mutter als auch für den Sohn nem kleinen Sohn, im Nazijargon ein „Halb- immer auch eine differenzierte Betrachtung jude“. Damit konnte er beide vor der Depor- wichtig: Selbst in der Nazizeit habe es anstän- tation letztlich bewahren. Sein Vater starb dige und mutige Menschen gegeben, quer schon 1948. Weil seine Familie auf seine durch alle politischen Richtungen. Diese um Mutter reduziert war, formuliert Professor Abgewogenheit und Fairness bemühte Hal- Schramm heute rückblickend: „Meine Fa- tung hat sich der heutige Leiter des „Patentin- miliengeschichte hat mich mehr als alles an- formationszentrum und Online-Dienste“ an dere geprägt. Meine Mutter hat wenig erzählt der Technischen Universität Ilmenau erhalten:

168 „Es geht nun mal nicht zu sagen, SED gleich SED, Stasi-Leute gleich Stasi-Leute, Nazis gleich Nazis.“ Von einer religiösen Prägung im Sinne des Judentums kann Schramm nicht sprechen. Zwar sei die Familie der Mutter durchaus re- ligiös gewesen, aber diese Familie gab es nach 1945 ebenso wenig wie eine jüdische Gemeinde in Weißenfels bzw. Ilmenau. Au- ßerdem habe die Mutter am Ende der Shoá auf dem Standpunkt gestanden, dass es Gott nicht geben könne, wenn er eine solche Ka- tastrophe zugelassen habe. Und wenn es ihn denn geben sollte, dann sei er ein Gott der Nazis. Antireligiös allerdings sei seine Mutter auch nicht geworden. Als Schüler hatte Reinhard Schramm sehr gute Leistungen, war in der FDJ aktiv und im- mer politisch sehr interessiert. Sein Judentum habe er nicht versteckt, aber auch nicht vor sich her getragen. Probleme deswegen hätte 1966 heirateten Barbara und Reinhard Schramm es nicht gegeben. Interessiert in fachlicher während des Studiums. Hinsicht habe ihn schon in jungen Jahren die ben lassen. 30 000 Juden wären damals aus Elektrotechnik: „Außerdem habe ich ge- Polen emigriert. Das alles hat Schramm deut- glaubt, dass die Technik was Wichtiges für die lich registriert – das Ausbluten der zahlenmä- Gesellschaft ist. Und eine spezielle Begabung ßig sowieso schon kleinen jüdischen Gemein- konnte ich nicht an mir entdecken. Dann hat den in der DDR 1952/53 nach deutlichen an- mich auch mein Wunsch, mal ins Ausland zu tisemitischen Signalen aus der Partei- und kommen, etwas gelenkt. Ich habe an der Ar- Staatsführung war für den Jungen natürlich beiter- und Bauernfakultät in Halle Abitur ge- noch kein Thema. In seiner Studienzeit habe macht, 1962 bis 1963 in Lódz Polnisch ge- er eine jüdische Kommilitonin gehabt: „Wir lernt und bis 1969 in Gdansk Elektrotechnik haben so etwas wie eine Schicksalsgemein- studiert.“ Während des Studiums hat Schramm schaft gespürt in jener Zeit in Polen.“ 1966 geheiratet – eine Polin, die noch gar 1967/68 ist Reinhard Schramm Kandidat nicht so lange auch die deutsche Staatsbür- der SED geworden, weil „ich gedacht habe, gerschaft hat. Die promovierte Architektin mit der Sozialismus in der DDR sei besser als der eigenem Büro in Ilmenau war im Sprecherrat in Polen beispielsweise. Ich habe an einen Er- des NEUEN FORUM sehr aktiv. folg dieses Sozialismus geglaubt. Mir war schon klar, dass es in der DDR Antizionismus Traditionellen Antisemitismus gab. Aber in Antisemitismus ist der nicht um- in Polen verspürt geschlagen.“ An die Reformierbarkeit des Sozialismus Reinhard Schramm hat in der Volksrepublik generell hat Professor Schramm eigentlich bis Polen sehr deutlich den dort traditionellen 1989/90 geglaubt. Trotzdem sei er – erneut Antisemitismus gespürt. Versteckt habe er sein im Wesentlichen über die Situation seiner ei- Judentum aber auch dort nicht. Der so ge- genen Familie, die drei Kinder umfasst – nicht nannte Sechstagekrieg 1967 hätte damals unkritisch gewesen in der DDR. An vier sowohl in Polen – aber auch in der DDR – an- Punkten macht er das Bröckeln seiner Zu- tizionistische Propaganda stark wieder aufle- versicht im Konkreten fest: 1. Während der

169 „Polenkrise“ 1978 bis 1981 seien die antipol- in der Schwarzen Pumpe inhaftiert. Er weigerte nischen Ressentiments sehr stark wieder auf- sich, dort für diesen Staat zu arbeiten, drohte gelebt, salonfähig geworden in der DDR. Po- mit Selbstmord, war stark gefährdet. Ich habe, len, auch seine polnische Ehefrau und er, sei- wie meine Frau auch, an Honecker ein Gna- en zunehmend und deutlich ausgegrenzt wor- dengesuch geschrieben, meine Frau zusätz- den. „Da hat sogar meine Mutter zum ersten lich an Jaruselski. Sie hat sogar mit dem Papst Mal gezweifelt und gesagt, dass sich diese gedroht. Von vielen meiner Genossen, aber Leute wie die Nazis verhalten würden.“ 2. Die auch von parteilosen Kollegen und manchen Ausweisung des Liedermachers Wolf Bier- Bekannten wurden die Verhaftungen meines mann, die Probleme, die Stefan Heym in der Sohnes gleichgültig zur Kenntnis genommen DDR bekommen hat, „da war ich als Jude oder als Schande eingestuft. Mein Posten als ganz persönlich betroffen.“ 3. „Ich hatte er- stellvertretender Institutsdirektor war ebenso fahren, dass in Bulgarien die türkische Min- weg wie der Leistungszuschlag. Die Arbeit derheit bulgarische Namen annehmen muss- aber habe ich behalten dürfen. Es gab viele te. Die Assoziationen zum Nationalsozialis- unsägliche ‚Gespräche’ mit der Parteileitung, mus drängten sich förmlich auf. Mein Protest mit dem Kaderleiter der Hochschule. Und dagegen, den ich in der Hochschulzeitung dann, als Marek endlich frei gekauft worden veröffentlichen wollte, wurde nicht veröffent- war, da hat er im Zug nach Westen ohne Geld licht.“ 4. Als der Aufstand der chinesischen gesessen und die Mitfahrenden um bissel Studenten auf dem Platz des „Himmlischen Geld für ein Telefonat zu uns gebeten. Dafür Friedens“ blutig und brutal niedergeschlagen hat er seine Armbanduhr angeboten. Nach wurde, da seien Chinesen mit Pappschildern einer Stunde (!) gab ihm jemand etwas...“ um den Hals durch die Gegend getrieben Während Ehefrau und großer Sohn nie- worden – „wie im Nationalsozialismus!“ mals an eine Reformierbarkeit des Sozialis- mus als System glaubten und das auch deut- Schmerzhafter Verlust von lich artikulierten, hat sich Reinhard Schramm Illusionen über den Sozialismus noch ein ganzes Stück an seine früh gepräg- ten Hoffnungen geklammert: „Ich hatte ge- Dass die Schramms vom Theaterkreis, wo ja dacht, es seien genug kluge Leute in diesem auch Professoren-Kollegen verkehrten, System, die neue Wege beschreiten würden. ausgeladen worden sind während sich Ich habe mir eine Entwicklung der sozialisti- Solidarnosc zur realen Gefahr für den realen schen Gesellschaft dahingehend vorgestellt, Sozialismus entwickelte, das hat Reinhard dass klugen Leuten eine Chance gegeben Schramm und auch seine alte Mutter sehr werden sollte, dass Kritik und Selbstkritik zur getroffen. Die Antennen von ihr seien noch Normalität würden und ohne Strafe blieben, immer sehr fein gewesen. Gleichgesetzt dass Leistungen gefordert und gefördert wür- haben weder sie noch er die Nazidiktatur mit den. Die sozialistischen Ideen habe ich im der DDR, aber wesentliche Illusionen und ein Kern für tragfähig gehalten – unabhängig von Stück Glaube an den Sozialismus waren schon Deformierungen durch den Stalinismus.“ Die abhanden gekommen. zunehmend auch für ihn offensichtlichen Feh- Und dann kam noch die schwere Zeit mit ler im System (oder des Systems) habe er dem 1968 geborenen Sohn, der wegen „ver- verdrängt. Oder er sah sie kategorisch als suchter Republikflucht“ zweimal in DDR-Knä- nicht systemimmanent und vorübergehend an: sten landete. Insbesondere mit ihm und mit „Ich habe immer das an politischen Sachen seiner Frau hatte Professor Schramm die här- gemacht, was ich aus den Erfahrungen mei- testen DDR- und Sozialismus-Kritiker in der ner Familie heraus glaubte, machen zu müs- eigenen Familie. An der gegenseitigen sen. Mir ging es zum Beispiel näher, dass Toleranz und am starken Zusammenhalt hat Globke in der Bundesrepublik Staatssekretär das allerdings nie gerüttelt. „Marek war auch wurde, als dass ich mich über die antizionisti-

170 sche Haltung der DDR-Regierung aufregte. Der Sozialismus gefiel mir als Ziel. Ein Hone- cker & Co. hat mich nicht beeindruckt und von diesem Glauben abgebracht. Es ist doch ein Glaube, oder?!“

Zur Wende hatten alle drei Kinder verschiedene Staatsangehörigkeiten

1989 habe er schon gedacht, dass die alte DDR in irgendeiner Form am Ende wäre. Seine ganz große Hoffnung indes hätte darin bestanden, dass nun die Familie wieder zu- sammen kommen könne. Alle drei Kinder der Familie hatten zur Wende eine verschiedene Staatsangehörigkeit: Marek lebte nach sei- nem Freikauf als Werkzeugmacher in In- golstadt und war Bundesbürger; die 1974 geborene Tochter war DDR-Bürgerin; der jün- gere Sohn (Jahrgang 1980) war polnischer Staatsbürger. Professor Schramms Ehefrau gleich mit beseitigt waren.“ Seit 1992 ist Pro- war schon seit der Polenkrise der Meinung, fessor Reinhard Schramm Leiter des PATON dass die Familie in der DDR nicht sicher sei, (Patentinformationszentrum und Online- deswegen erhielt dieser Sohn die Staatsbür- Dienste). Dieses zentrale Universitätsinstitut ist gerschaft seiner Mutter. „Ich habe damals an offizielles Patentzentrum und Annahmestelle eine andere, sehr menschenfreundliche und für Patente, Gebrauchsmuster, Marken- und weltoffene DDR geglaubt. Meine Ideen und Geschmacksmuster des Freistaates Thürin- Ideale wären gerettet gewesen und meine gen. Familie auch. Meine Frau hatte übrigens schon 1987 gesagt, dass es eine Wiederver- Von der SPD erst ausgeladen, einigung geben wird. Meine Reaktion darauf dann wieder eingeladen damals lässt sich denken...“ Nicht nur familiär, auch beruflich hatten Aus der SED ist er nach dem Mauerfall ausge- die Wiedervereinigung und die Umstellung treten. Ende 89 hat Reinhard Schramm ein der gesamten Lebensverhältnisse erhebliche „Luxemburg-Forum“ gegründet, wo er Mit- Einwirkungen auf Reinhard Schramm. Das streiter unter dem in der DDR besonders ver- Hochschulinstitut, an dem er beschäftigt war, femten Motto „Die Freiheit ist immer auch die wurde abgewickelt. Professor Schramm setzte Freiheit des Andersdenkenden“ versammeln sich in diesen Monaten stark dafür ein, dass wollte. Eigentlich habe er dann Anfang 1990 der Patentbereich wieder neu entstehen konn- eigentlich in Ilmenau die SDP (später SPD) te. Die Abwicklung des Instituts INER (Institut mitgegründet. Weil es aber laut Beschluss kei- für Informationswissenschaft, Erfindungswe- ne ehemaligen SED-Mitglieder in deren Rei- sen und Recht) hat Schramm als Fehler ange- hen geben sollte, sei er zunächst wieder „aus- sehen, weil es in seinen Augen ein nützliches geladen“ worden. „Als sie zwei Jahre später Institut war. Schmerzlich sei das alles gewe- sagten, du kannst wiederkommen, da habe sen. „Ich sah das zunächst auch gar nicht als ich das eben gemacht. Wahlfunktionen er- berechtigt an. Im Nachhinein aber sage ich spare ich mir, denn ich würde mich da mehr heute, dass wir die Chancen genutzt haben, engagieren, als ich es verkraften kann bei weil mit der Abwicklung ja nicht die Aufgaben allen anderen Anforderungen und Funk-

171 tionen.“ Dazu zählt sein Amt als stellvertreten- wollt. Das sei gefühlsmäßig und aus seiner der Vorsitzender der Jüdischen Landesgemein- Familiengeschichte begründet gewesen. „Ich de Thüringen. Diesen Kontakt hatten er und hätte ein entmilitarisiertes Deutschland bevor- seine Mutter 1987 wieder aufgenommen. Da zugt, wenn es denn zur Vereinigung kommt. sei er eigentlich zu seinen Wurzeln zurückge- Das hätte aus der NATO und aus dem War- kehrt, weil er gespürt habe, dass der Sozia- schauer Pakt heraus gemusst. Ein neutrales lismus nicht wie von ihm geglaubt die Antwort Deutschland, das aus seiner historischen auf den Antisemitismus war. „Damals war die Verantwortung heraus viel für die Welt tun Jüdische Gemeinde für mich der Ort, wo kann. Solche Gedanken gab es bei mir schon Deutsche zusammen waren, denen ihre jü- 1988. Heute sage ich, dass ein Deutschland dische Herkunft etwas bedeutete. Meine Mut- im vereinten Europa keine Gefahr mehr ist für ter und ich wollten teilhaben am jüdischen Le- die Welt. Und mit dem Blick auf alle Völker ben. Und heute, wo ich mich als eine Art Mitt- denke ich schon, dass es auch ein Stück Ge- ler zwischen den wenigen deutschstämmigen rechtigkeit für alle Deutschen bedeutet, dass und den relativ vielen aus der GUS kommen- es so gekommen ist.“ den Juden sehe, da liegt ja mit dem Entstehen Klar, man hätte mehr machen können aus solcher gewachsenen jüdischen Gemein- der Wiedervereinigung, wenn man selbstkriti- schaften in Deutschland, in Thüringen auch scher gewesen wäre. „Aber wenn man sich als ein gutes Resultat der Wende vor.” Eine Sieger fühlt, dann stellt man seine Methoden Wiedervereinigung hätte er 89/90 nicht ge- nicht in Frage...“

172 Andrea Schulz Wir haben gelernt, flexibel zu sein und unsere Chancen zu nutzen

beitsmarkt gemeinsam mit meinem Mann seit Andrea Schulz: Januar 2002 in Nordrhein-Westfalen. Un- Geboren 1973 in Saalfeld. Bis zur 8. sere Heimat Thüringen mussten wir allerdings Klasse Schulbesuch in der Poly- schon einige Jahre vorher verlassen, als wir in technischen Oberschule Könitz, danach bis zum Abitur in der EOS Leipzig mit unseren beruflichen Tätigkeiten Lobenstein begonnen haben. Weshalb sich für mich mit Andrea Schulz absolvierte nach der Gedanken an die Wende nicht nur positive, Schule eine Ausbildung zur Ver- sondern auch zwiespältige Empfindungen sicherungskauffrau. Sie arbeitete in Leipzig und belegte daneben ein einstellen, kann der Leser sicher besser nach- Studium zur Versicherungsfachwir- vollziehen, wenn er mich ein Stück auf mei- tin. Die Chance, innerhalb des Ver- nem Lebensweg begleitet. sicherungsunternehmens den Ort zu wechseln, nahm sie wegen der besse- ren Bedingungen gern an. Nachdem sie Der Start in das Berufsleben schon nach der Berufsausbildung erfolgte in Leipzig ihre Heimat in Richtung Leipzig ver- lassen hatte, zog Andrea Schulz im Jahr 2002 mit ihrem Ehemann nach Geboren wurde ich 1973 in Saalfeld. Nach- Köln. Beide haben sich eingelebt und dem ich bis zum 8. Schuljahr die POS „Werner fühlen sich dort wohl. Seelenbinder“ in Könitz im heutigen Landkreis Saalfeld-Rudolstadt besuchte, wechselte ich Die Wende erlebte ich ein Jahr vor meinem 1987 zur EOS „Arthur Becker“ in Lobenstein Abitur. Damit stand ich plötzlich in einer (heute Saale-Holzland-Kreis) und war dort doppelten Umbruchsituation. Da war einer- vier Jahre im Internat. Nach bestandenem seits der schnelle Zusammenbruch der DDR, Abitur begann ich in Gera und Saalfeld eine dessen politische Begleiterscheinungen die Ausbildung zur Versicherungskauffrau. Nach Einstellung auf immer neue Situationen for- erfolgreichem Abschluss war eine Über- derten. Zum anderen stand plötzlich die Frage nahme in die Firma nur am Standort Leipzig meiner Lebensplanung ganz neu, denn die möglich. So begann mein Berufsleben in Leip- bisher als selbstverständlich erwartete zig, verbunden mit dem Verlassen meiner Hei- Abfolge von Abitur, Studium sowie die mat, in der ich eine unbeschwerte und glück- anschließende, staatlich garantierte liche Kindheit verbracht habe, unabhängig Berufslaufbahn waren in Frage gestellt. Wie von jeder Polemik zur Frage DDR. und wofür entscheiden? Was ist sicherer? Mit einem halben Jahr kam ich in die Kin- Eltern und Lehrer konnten keinen eindeutigen derkrippe. Direkt neben der Arbeitsstätte mei- Rat geben, da auch sie vor einer neuen ner Mutter, dem Porzellanwerk Könitz, und Situation standen. Ich habe mich für die nach nicht weit von unserer Wohnung in der AWG meinem Dafürhalten sicherste Variante (Arbeiter-Wohnungsbaugenossenschaft) war entschieden und eine Berufsaus-bildung dies auch organisatorisch kein Problem. Die gewählt, die ich bis heute für richtig befinde. Arbeitszeiten meiner Mutter waren entspre- Mittlerweile lebe ich bedingt durch die zu- chend kinderfreundlich gestaltet. Daher blieb nehmend angespannte Situation auf dem Ar- viel Zeit für die Familie. Mit drei Jahren be-

173 suchte ich dann den Kindergarten, ebenfalls direkt im Ort. Plätze in Kinderkrippen und - gärten waren immer ausreichend verfügbar. Unsere Eltern brauchten sich deshalb keine Gedanken um freie Plätze oder finanzielle Belastungen zu machen. Durch die gezielte Organisation der Betreuung, die schon bei den Kleinsten begann, wurde nach meinem Empfinden schon frühzeitig ein Gemein- schaftssinn bei Kindern entwickelt. Möglicher- weise wurde dies durch die ländliche Umge- bung gefördert. Auch während der anschließenden Schul- zeit war für die Betreuung der Kinder nach der Schule gesorgt. Es gab die Möglichkeit, den Hort zu besuchen, wo unter fachlicher Auf- sicht z.B. gemeinsam die Hausaufgaben erle- digt werden konnten oder die Kinder ganz einfach ihre Freizeit zusammen verbrachten. Später gab es die Verpflichtung, nach dem Unterricht an einer Arbeitsgemeinschaft (z.B. finanzielle Belastung für unsere Eltern gab es AG Foto, AG Kunst) oder Sportgemeinschaft daher nicht. (z.B. Handball, Bogenschießen) teilzuneh- Schon bald entdeckte ich, dass ich ein ge- men. Zur Erntezeit wurden außerdem Ein- wisses Talent zum Bogenschießen hatte und sätze auf den Kartoffelfeldern erwartet, wo wurde in die Gemeinschaft integriert. Ge- man sich auch etwas Geld verdienen konnte. meinsam erlebten wir viele Wettkämpfe im Als Kind hat man diese Pflichten teilweise ganzen Land, wie Spartakiaden und DDR- als lästig empfunden. Aus heutiger Sicht be- Meisterschaften sowie kleinere internationale trachtet finde ich es durchaus positiv, so wie es Wettbewerbe in Polen. So kann ich auf viele war. Zum einen waren die Kinder auch nach schöne Erinnerungen und Erfahrungen zu- der Schule mit sinnvollen Tätigkeiten beschäf- rückblicken. tigt. Manch einer hat auch dadurch gewisse Auch in der Schule wurden Schüler mit be- Talentein sich entdeckt oder diese wurden von sonderen Talenten (z.B. Naturwissenschaften, Lehrern entdeckt und gezielt gefördert. Zum Sport, Sprachen) systematisch gefördert. Dies anderen wurde man darauf vorbereitet, dass begann mit Teilnahmen an speziellen Kreis- man häufig Verpflichtungen nachgehen muss, bzw. Bezirksolympiaden und später mit der auch wenn man keine Lust dazu hat. Unterstützung beim Wechsel zu weiterführen- den Schulen. So wurde mir damals empfoh- Schöne Erinnerungen an das len, meinen Bildungsweg auf einer EOS mit Bogenschießen dem Schwerpunkt Fremdsprachen fortzu- setzen. Bei mir war es so, dass ich durch die Verpflich- Ich entschied mich, ab der neunten Klasse tung, sich in einer Arbeits- oder Sportgemein- in die EOS nach Lobenstein zu gehen. Die schaft zu engagieren, zum Bogenschießen Woche über wohnte ich dort wie die meisten kam. Träger des Vereins war damals die Be- meiner Mitschüler in dem zur EOS gehö- triebssportgemeinschaft „BSG Stahl Max- renden Internat. Die Kosten für die Unterkunft hütte“, die sämtliches Sportmaterial sowie das und die Heimfahrten waren so gering, dass sie Veranstalten von Heimturnieren und Fahrten keine Belastung darstellten. Hier war der ge- zu auswärtigen Wettkämpfen finanzierte. Eine samte Tagesablauf organisiert und vom Un-

174 terricht geprägt. Zunehmend wurden politi- ein. Damals, als Jugendliche im Alter von sche Inhalte zum Thema, angefangen bei den 16/17 Jahren, konnte ich mir noch keine kon- Unterrichtsinhalten bis hin zum Alltag im In- kreten Vorstellungen davon machen, wie sich ternat. Der Geschichtsunterricht behandelte die politischen Veränderungen auf meine per- jetzt intensiv die Zeit ab 1945, dazu kam der sönliche Situation auswirken könnten. Zu- Staatsbürgerkunde-Unterricht. Auch in an- nächst war es erst einmal aufregend, über die deren Unterrichtsfächern konnte man die bisherige Grenze zu fahren. Von den sich nun versteckte politische Einflussnahme erkennen. bietenden Konsummöglichkeiten und der gren- Hinzu kam das gezielte Heranführen an das zenlose Fülle des Warenangebotes war ich Thema „Zivilverteidigung” durch sehr reale total überwältigt. Doch würden wir dieses viel- Übungen in Uniform. fältige Angebot auch irgendwann nutzen kön- Im Internat waren westliche Radiosender nen? verboten, was regelmäßig von den Erziehern Schnell verflog die erste Euphorie und es und bestimmten älteren Mitschülern kon- stellte sich die Frage, wie die weitere Zukunft trolliert wurde. Das Engagement in der Freizeit aussehen soll. Bisher hatte für mich festge- wurde nur so lange gefördert und geduldet, standen, dass ich nach dem Abitur ein Stu- wie es in ein vorgeschriebenes Schema passte. dium aufnehme. Doch nachdem die Wäh- So wurde die Gründung unserer Tanzgruppe rungsunion hinter uns lag und das Abitur von der Schuldirektorin unterbunden. Es wur- immer näher rückte, war ich mir nicht mehr so den gezielt Gerüchte über uns verbreitet, und sicher. Es stellte sich die Überlegung, ob es nach mehreren unangenehmen Aussprachen nicht besser ist, wenn ich zunächst einen Beruf haben wir unsere Gruppe aufgelöst. Dabei erlerne. So hätte ich zumindest eine abge- hatte das Ganze unsererseits mit politischer schlossene Ausbildung, wenn es mit dem Stu- Kritik an der DDR nichts zu tun. Wir hatten nur dium nicht klappt oder etwas dazwischen nach Musik tanzen wollen, die uns gefiel. kommt. Erstmals waren wir gezwungen, uns mit dem Thema Zukunftsangst auseinander zu Gespannte Atmosphäre zum setzen. 40. Jahrestag der DDR So begann ich also nach dem Abitur mit meiner Ausbildung zur Versicherungskauf- Erst im Sommer 1989, als Ungarn die Gren- frau. Nachdem diese problemlos begonnen zen zu Österreich öffnete, wurden wir auf die hatte, fing das Versicherungsunternehmen an, möglichen sich anbahnenden Veränderungen nach und nach Standorte zu schließen. Mein aufmerksam. Eine unserer Mitschülerinnen Ausbildungsort wechselte von Saalfeld nach hatte damals ebenfalls das Land zusammen Weimar und dann weiter nach Gotha und mit ihren Eltern verlassen. Im Internat wurden später nach Erfurt. Auch für meine Eltern war ihre persönlichen Sachen einfach wegge- die Folgezeit nicht einfach. Die Aussichten für schafft, und in der Schule wurde das Thema ihre berufliche Tätigkeit waren sehr schlecht für uns nicht ausreichend besprochen. und es zeichnete sich ab, dass es keine be- Bei den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag rufliche Perspektive mehr gibt. der DDR in Berlin, an denen ich mit einigen So gab es für mich kein langes Zögern, als Mitschülern teilnahm, herrschte eine beson- mir eine Übernahme nach der bestandenen ders gespannte Atmosphäre. Dass auch hier Berufsausbildung in Leipzig angeboten wur- wie so oft Manipulationen erfolgten, konnte de. Gemeinsam mit meinem jetzigen Mann, man später an den Fernsehbildern sehen. Die der damals gerade die Berufsaubildung und deutlichen Sympathiebekundungen für Mi- den anschließenden Zivildienst beendet hatte, chael Gorbatschow und seine Politik wurden entschied ich mich für den Neustart in Leipzig. nicht gezeigt. In der Folgezeit nahmen wir die In Leipzig fand ich schnell einen guten Ereignisse mit großem Interesse wahr. Auch im Einstieg in mein neues Team. Meine damalige Unterricht ging man mehr und mehr darauf Gruppenleiterin unterstützte mich und ermög-

175 lichte mir durch ihr entgegengebrachtes Ver- hört. Doch unsere bisher gesammelten Erfah- trauen weitere Qualifikationen in der Firma. rungen mit Leuten aus den alten Bundeslän- Nebenberuflich absolvierte ich ein Studium dern ließ uns hoffen. Und wir wurden auch zum Versicherungsfachwirt. Mein Mann fand nicht enttäuscht. Von Problemen zwischen Ost in Leipzig schnell den Einstieg in eine Elektro- und West haben wir weder hier noch woan- installationsfirma. Bedingt durch die sich e- ders bisher etwas mitbekommen. Es liegt wohl rgebende Krise am Bau wurde er später im- auch mit an der Mentalität der Menschen im mer häufiger zu Montageeinsätzen in den al- Rheinland. Es ist ganz einfach egal, wo man ten Bundsländern herangezogen. Die Suche herkommt. Schade, dass es nicht überall so nach einer Anstellung in Leipzig blieb erfolg- ist. Inzwischen fühlen wir uns sehr wohl hier los. und haben ein gutes Verhältnis zu Nachbarn und Kollegen und haben auch neue Freunde. In Köln eine neue Hätte sich unsere Lebensplanung unter Heimat gefunden DDR-Bedingungen erfüllt, dann wären wir heu- te vielleicht nicht so weit entfernt von Familie, Da ich die Möglichkeit hatte, in eine ande- Freunden und Heimat. Dafür würden uns aber re Niederlassung zu wechseln, entschlossen die Chancen zu freier Selbstbestimmung feh- wir uns, gemeinsam in die alten Bundesländer len. So haben wir uns dazu entschlossen, ge- zu ziehen. Nur so war es möglich, wieder ge- wisse Einschränkungen für eine einigermaßen meinsam eine Zukunft zu planen. Leicht fiel gesicherte Zukunft in Kauf zu nehmen. Sicher uns diese Entscheidung nicht, da uns nach ist das nicht immer einfach, aber die Alter- sieben Jahren Leipzig ganz schön ans Herz nativen wären mit noch schwer wiegenderen gewachsen war. Außerdem war da diese Un- Entbehrungen verbunden gewesen. Im Ge- gewissheit, wie man wohl aufgenommen wird gensatz zu früher, als uns ein bestimmter Weg in der neuen Heimat, immerhin hatten wir da vorgegeben war, haben wir gelernt, flexibel zu schon manch Negatives von Bekannten ge- sein und jede sich bietende Chance zu nutzen.

176 Cornelia Sirch „Du schaffst das schon”

folgsbilanz der Schwimmerin, der ehemaligen Cornelia Sirch: Welt- und Europameisterin Cornelia Sirch, Geboren im Oktober 1966 in Jena, nichts über meine Gesprächspartnerin be- wuchs Cornelia Sirch in Erfurt auf. kannt. Sehr früh ist sie als „Wasserratte” Weshalb ich dem Leser meine Unsicherheit aufgefallen und wurde als Schwimm- talent entdeckt. Sie absolvierte und mein diffuses Unbehagen hier so nach- die Kinder- und Jugendsportschule drücklich ausbreite, hat seine besondere Be- Erfurt und schloss eine Ausbildung wandtnis und zwar darin, dass alle meine Be- zur Maßschneiderin an. Daneben nahm das Training für den Leistungssport rührungsängste in Sekundenschnelle hinweg- breiten Raum ein. Die sportlichen gewischt waren, als ich Cornelia Sirch gegen- Erfolge stellten sich für Cornelia übersaß. Sie begegnete mir wohltuend locker, Sirch ein. Sie wurde unter anderem aufgeschlossen und selbstbewusst. Da war Weltmeisterin, Europameisterin, stellte einen Weltrekord auf und nicht die Weltmeisterin vom Siegerpodest her- erkämpfte Medaillen bei Olympischen abgestiegen, da saß mir eine sympathische, Spielen. Den Entschluss, die Kar- ganz natürlich und entwaffnend offen reagie- riere als Schwimmerin zu beenden, fasste sie noch vor der Wende. Heute rende junge Frau gegenüber, die sich nach ist sie Schwimmlehrerin mit zwei wenigen Erklärungen auf mein Anliegen ein- Trainerlizenzen. ließ, obwohl sie selbst nur vage darüber infor- miert worden war, worauf unser Gespräch abzielte. Und wider Erwarten macht sie es mir Das Gespräch führte leicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Rainer Morgenroth Schnell spüre ich, diese selbstsichere Frau lebt im Hier und Heute, sie weiß, was sie will, spricht Wo interviewt man eine Schwimmweltmeiste- ohne Selbstgefälligkeit über ihre sportliche rin? Natürlich in einer Schwimmhalle. Klingt Karriere, verweist mit verhaltenem Stolz auf doch ganz einfach oder? So dachte ich ihre Erfolge, die sie zugleich auch als wich- auch, als mir diese Aufgabe kurzfristig ange- tigen, aber vergangenen Lebensabschnitt ab- tragen wurde. Während der Fahrt zum Ge- hakt. Natürlich streift unser Gespräch die ge- sprächstermin überfielen mich bange Gedan- rade laufenden Olympischen Spiele. Ich er- ken und kleinlaute Fragen: Worauf habe ich fahre viel über Verzicht und Quälerei, die Lei- mich da eigentlich eingelassen? Wie sollte ich stungssportler auf sich nehmen, um auf den mit einer international erfolgreichen und me- Punkt genau Höchstleistungen abzurufen und dienerfahrenen Leistungssportlerin ins Ge- um Medaillen zu kämpfen. Sie reflektiert Bil- spräch kommen, sie für unser Anliegen ge- der und Stimmungen, vermag Freude und winnen. Ich war ja nicht nur laienhafter Inter- Enttäuschungen viel besser nachzuvollziehen viewer, nein auch die Welt des Leistungssports als ich. ist mir völlig fremd. Wie sollte ich da einen Zum Stichwort Doping , das derzeit in den Zugang, eine Brücke finden? Zudem war mir, Medien wieder verstärkt für Aufregung sorgt, abgesehen von einem tabellarischen Internet- will sie sich in diesem Rahmen nicht äußern. Ausdruck mit ausgewählten Fakten zur Er- Das hat sie vor Fachgremien bei der Evalu-

177 trainerin. Hier fühlt sie sich wohl, fühlt sich bestätigt, will etwas bewirken. Hier ist auch der Punkt des Gespräches, an dem sich meine Überzeugung verfestigt diese Biographie dürfen wir unseren Lesern nicht vorenthalten. Denn ihr Lebensweg und ihre Grundeinstel- lungen zeigen exemplarisch, wie wichtig Le- bensbejahung, Zielstrebigkeit und der Wille zur Selbstverwirklichung für die Bewältigung von persönlichen und gesellschaftlichen Um- bruchsituationen sind. Mein Wunsch verstärkt sich, als ich Cornelia Sirch nach dem Inter- view nochmals im Foyer der Schwimmhalle sehe. Sie wird von vielen Jugendlichen freudig angesprochen, unterhält sich angeregt mit ihnen, hört ihnen aufmerksam zu. Im Wegge- hen denke ich, diese junge Frau ist hier richtig, ist angekommen. Aber auf welchen Wegen, das mag sie den Lesern selbst darstellen. ierung des DDR-Leistungssportes ausführlich *** getan. Zugleich verweist sie auf die Tatsache, Wie ein schwimmtechnischer Begriff dass sportliche Höchstleistungen seit Langem politische Bedeutung erlangte nicht mehr ohne ausgeklügelte medizinische Begleitung möglich sind und nur in der Ver- Meine Biographie mit dem Wendebegriff in antwortung der Fachverbände sauber gere- Zusammenhang zu bringen, fällt mir nicht gelt werden können. leicht. Denn Worte wie Wende und sich oder Ebenso selbstverständlich spricht sie über etwas wenden sind typische Beispiele für die Privilegien, die Leistungssportlern der ehe- unserer Sprache oft eigene Vieldeutigkeit. maligen DDR eingeräumt wurden. Sie sieht Vom Richtungswechsel über völlige Umkehr diese als äquivalente Gegenleistung des bis zur Umwälzung können wir mit diesem Staates für die Bereitschaft der Sportler, einen Wort im entsprechenden Kontext vielerlei aus- Großteil ihres Lebens einer sportlichen Karrie- drücken. So war die Wende für mich einmal re unterzuordnen, deren Erfolge auch der staat- nur ein schwimmtechnischer Begriff. Mit den lichen Repräsentation dienten. Ereignissen des Jahres 1989 hat es eine ganz Cornelia Sirch verweist sogleich auf die neue Bedeutung erhalten, ist ein politischer Vergänglichkeit sportlicher Erfolge, und unser Begriff für Umbruch und deutsche Einheit ge- Gespräch orientiert sich rasch wieder an der worden. Für mich hatte der Wendebegriff Gegenwart. Wir reden über Spitzen- und Brei- aber schon 1988 eine ganz private Bedeu- tensport, seine gesunderhaltende und erzie- tung. Zumindest sehe ich es jetzt so. Denn in hungswirksame Bedeutung und landen im Be- diesem Jahr beendete ich meine leistungs- reich Schule und Bildung. Hier wünscht sie sportliche Karriere. Den Entschluss zu dieser sich mehr Realitätssinn, höhere Wert- Entscheidung hatte ich bereits zwei Jahre schätzung von Disziplin und Leistung sowie zuvor gefasst, weil ich mich zunehmend aus- klarere Bildungskonzepte. Bei der Bestellung gepowert fühlte, nicht mehr mit einer Lei- dieses Aufgabenfeldes möchte sie irgendwie stungssteigerung rechnete und auch nicht mitwirken. Sie tut es eigentlich schon, denn sie nach unten durchgereicht werden wollte. ist auf Umwegen zurückgekehrt zu ihrem Me- Mit dem Weltmeistertitel 1986 in Madrid sah tier, jetzt als Schwimmlehrerin und Jugend- ich den Höhepunkt meiner Laufbahn erreicht

178 und den Moment für einen Abschied im Erfolg (1992 wurde mein Sohn Tom geboren). Das als gegeben. Außerdem lag dazwischen der hat mich persönlich stabilisiert, und es be- Boykott der Olympischen Spiele von Los An- gann wirklich ein neuer Lebensabschnitt, vor geles durch den Ostblock 1984. Wir hatten allem deshalb, weil ich seitdem mein Leben uns intensiv darauf vorbereitet, waren 1983 selbst gestalte. Dies war entsprechend meiner zu Vorwettkämpfen in den USA, um die Sport- Entwicklung bis dahin zuweilen anders, wenn stätten kennen zu lernen und stellten das ge- ich in meine Kindheit und Jugend zurück- samte Trainingsprogramm auf diese Spiele blicke. ab. Und dann das Aus . Ein Außenstehender wird kaum ermessen können, was das für Schon in der ersten Klasse als nominierte Sportler bedeutet. Selbst mit Wör- „Wasserratte“ aufgefallen tern wie niederschmetternd , enttäu- schend oder demotivierend kann ich mei- Ich stamme aus so genannten einfachen Ver- nen damaligen Gefühlszustand nur unzurei- hältnissen, meine Eltern waren Arbeiter und chend beschreiben. Die bei den in Moskau vorwiegend in der Gastronomie beschäftigt. angesetzten Gegenspielen erzielten Platzie- Durch ihre Tätigkeit blieb dienstbedingt wenig rungen belegten den Motivationsabbau der Zeit für mich und meinen älteren Bruder. Aber gesamten Mannschaft. Auch deshalb sollte gleichzeitig war ihr Beruf sozusagen Schuld nach dem Comeback von1986 eigentlich für meine spätere sportliche Laufbahn. Denn Schluss sein. meine Eltern betrieben zeitweise die Gaststät- Aber ich beugte mich schließlich den logi- te im Erfurter Nordbad. Dort entwickelte ich schen Argumenten des Verbandes, der mich mich zur Wasserratte , bereits ab der 1. Klas- nicht im Olympiazyklus gehen lassen wollte. se. Das fiel auch in der Schule auf. Über das So verschob ich meinen Rücktritt bis zum damalige Sichtungssystem wurde ich ent- Ende der Olympischen Spiele von 1988 in deckt, ins Trainingszentrum überwiesen, dort Seoul, wo ich zu meiner großen Freude zwei gefördert und zur Kinder- und Jugendsport- Bronzemedaillen über100 Meter und 200 schule (KJS) delegiert. 1977 bis 1986 war ich Meter Rücken erringen konnte. Nun konnte in der Schwimmklasse der KJS Erfurt. Von den ich auch mir selbst gegenüber mit ruhigem anfänglich 24 Klassenkameraden blieb ich Gewissen in ein neues, ganz privates, völlig als einzige am Ende übrig. Damit wird dem selbstgestaltetes Leben eintreten. Aber: Denk- Leser klar, wie hart auf viele Mitschüler die Un- ste! Ich habe ein ganzes Jahr zur Neuorien- terordnung ihres Lebens unter den Leistungs- tierung gebraucht, um mich selbst zu finden. anspruch gewirkt hat. Viele haben resigniert, Ich merkte, dass ich eigentlich keinen klaren aus mangelnder Leistung oder wegen der ho- Lebensentwurf hatte, keine festen Ziele. Die hen Forderungen die Schule verlassen. Berufsausbildung musste beendet werden Ich war zum Glück keine Internatsschülerin oder auch nicht? Ich spielte auch mit dem und konnte nicht zuletzt durch die Gebor- Gedanken, mich zur Fahrlehrerin ausbilden genheit in meiner Familie die Belastungen gut zu lassen. Es stand zugleich die Frage, ob ich verkraften. Natürlich gab es auch bei mir Ge- in Erfurt bleibe oder wegziehe. Für letzteres fühlsschwankungen, besonders in der Zeit der war ich zu bodenständig, fühlte mich in der Pubertät. Denn ich war als Kind relativ schüch- Erfurter Region gebunden oder war ich zu tern und zurückhaltend. Aber meine Mutter ängstlich? Ich weiß es nicht mehr. hat mich motiviert und mir sehr dabei gehol- Es wurde ein schweres Jahr. Ich durchlebte fen trotz meiner frühzeitigen Erfolge immer sozusagen eine ganz persönliche Wende. auf dem Boden der Realität und zugleich be- Schließlich habe ich doch meine Berufsausbil- harrlich zu bleiben. Ferien oder Freizeit ver- dung als Maßschneiderin abgeschlossen. In brachte ich oft in der Großfamilie in Andisle- dieser Zeit habe ich auch meinen Lebenspart- ben und war natürlich stolz, wenn die ganze ner gefunden und eine Familie gegründet Familie, ja das ganze Dorf bei meinen Wett-

179 kämpfen mitfieberte und meine Erfolge be- Von dieser Episode abgesehen ist mir gleitete. So hatte ich nie das Gefühl, dass mir schon bewusst, dass ich natürlich viel von der etwas entgangen sein könnte. Meine Schulzeit Welt sehen konnte, was dem Normalbürger dauerte übrigens 13 Jahre bis zum Abschluss verwehrt blieb. Allerdings möchte ich dazu der 10.Klasse. Das war bedingt durch eine bemerken, dass ich dabei auch eher und viel- Schulzeitstreckung wegen vermehrter Trai- leicht realistischer als viele andere die Schat- nings und Wettkampfzeit. So genoss ich zum tenseiten der westlichen Welt ebenfalls ken- Beispiel drei Jahre Einzelunterricht, was ich nen lernte. Das waren zum einem rein opti- durchaus nicht als Nachteil empfand. Dabei sche Eindrücke, zum Beispiel Armenviertel wurde meine Liebe zur Mathematik geweckt, oder Bettler und Ähnliches. Und das waren doch die Zielstellung eines Mathematikstu- zum anderen Gespräche mit Sportlern ande- diums hat sich später leider nicht realisieren rer Nationen. Hier erinnere ich mich an ein lassen. Das wiederum hat mit der politischen Gespräch mit einem dänischen Schwimmer, Wende zu tun, auf die ich an anderer Stelle der die Sozialleistungen der DDR (Mieten, Prei- ausführlicher eingehen werde. se), Bildungssystem und Sportförderung gar nicht genug bewundern konnte. Welchen Privilegien und Sonderstatus Preis die Bürger der DDR dafür zu zahlen hat- relativieren ten , war mir damals nicht bewusst, so dass es keinen Grund für mich gab, an dieser Bestä- Vorerst möchte ich noch bei meiner sport- tigung des mir geläufigen DDR-Bildes zu zwei- lichen Entwicklung bleiben. Da ich immer feln. Schließlich hatte ich eine typische DDR- wieder gefragt werde, welche Privilegien uns Kindheit durchlaufen: Krippe, Kindergarten, Leistungssportlern eingeräumt wurden und Junger Pionier, FDJ und folgerichtig, als Bot- welchen politischen Einflüssen wir unterlagen, schafter der DDR im Trainingsanzug , SED- nehme ich an, dass die Leser meine Erfahrun- Mitglied. Selbst Letzteres erfolgte ohne eige- gen dazu interessieren. Natürlich hatte auch nen Antrieb. Der Trainer überreichte den An- ich Privilegien, vor allem nachdem ich 1982 trag und meinte, es wäre an der Zeit... mit 15 Jahren bereits Weltmeisterin über 200- Schuldgefühle erzeugt dies bei mir bis heu- Meter-Rücken wurde. In den Augen vieler te nicht, eher ärgert mich meine damalige Un- DDR-Bürger war es natürlich ein Privileg, dass fertigkeit, ich war eben ein Produkt dieses ich auch ins westliche Ausland zu Wett- Systems, gegen das sich zu wehren es aus kämpfen reisen durfte, dabei zehn DM täg- meiner Entwicklung heraus keinen ersicht- liches Taschengeld erhielt, und dass wir die lichen Grund gab. Der Einfluss des Staates langen Wartelisten für so genannte Luxusgü- wirkte übermächtig, er bewahrte uns ja al- ter, bis hin zum Auto, umgehen konnten. Für lenthalben vor schädlichen Berührungen . westliche Leser möchte ich aber unseren Son- So befolgten wir die Verhaltensregeln für das derstatus ein wenig relativieren. Bis zum Tod nichtsozialistische Ausland und erfuhren dort meines Vaters 1982 er durfte übrigens mei- umgekehrt bei offiziellen Empfängen sehr oft nen WM-Titel noch erleben bewohnten wir Hochachtung für den DDR-Sport. Sollte das eine Altbauwohnung, in deren Räumen Re- nicht auch dem Staat gelten? gennässe eindrang und in der damals mein bereits verheirateter Bruder mit wohnte. Eine Bilanz dieser Zeit: Vom Sport bessere und ausreichende Neubauwohnung bleibend geprägt erhielten auch wir erst, als meine Mutter an- lässlich eines Empfangs beim damaligen Desgleichen habe ich auch nie an Flucht ge- SED-Bezirkssekretär ihren Mut zusammen- dacht; darüber wurde in der Mannschaft nie nahm und bemerkte, dass ich wohl unter un- geredet. Wer es tat, der tat es. Wenn ich aus seren derzeitigen Wohnbedingungen nicht wei- heutiger Sicht eine Bilanz dieser Zeit ziehe, terhin so erfolgreich trainieren könne. dann steht als Gewinn an erster Stelle der Sport,

180 der mich bleibend geprägt hat. Ausdauer, Dis- der anderen geteilt, mich eher für sie gefreut. ziplin, Selbstüberwindung und Leistungs- Ich selbst kannte den Westen ja schon. Für bereitschaft sind sicher nicht die schlechtesten mich war anderes faszinierend. Da waren Eigenschaften, die ich ihm verdanke. Gorbatschow und der von ihm eingeleitete Das Streben nach Erfolg und Selbstbestäti- Prozess der Entspannung und eines demokra- gung achte ich als ebenso hilfreich für einen tischen Sozialismus. Er hat doch die Men- lebenstüchtigen Menschen wie Teamgeist und schen zu ihren friedlichen Demonstrationen Kameradschaft. Dies sind für mich bleibende ermutigt. Und welch glückliche Erfahrung, mit Werte, die ich dem Leistungssport verdanke, all diesen Menschen auf dem Domplatz in und die ich als Schwimmlehrerin und Trainerin Erfurt zu stehen, den Willen zur Veränderung weitergeben möchte. Meine Entscheidung für zu spüren, die geballte Kraft und dieses un- den Sport, vor allem ab der Zeit, ab der ich bändige Wir-Gefühl zu empfinden! Das war den Erfolg gesucht und dafür auch verzichten noch unbeschreiblicher als jede Siegerehrung gelernt habe, bereue ich in keiner Weise, denn einfach überwältigend. Leider ist davon zu ich halte das Streben nach Erfolg und Selbst- wenig in gesellschaftliche Veränderung ein- verwirklichung für das legitime Recht jedes geflossen, zu wenig bewahrt worden. Menschen. Wenn ich dabei in meiner politi- schen Weltsicht als junger Mensch etwas blau- Mauerreste beiderseits in den äugig oder naiv war ,so sehe ich das auch der Köpfen verblieben Zeit geschuldet. Daraus resultierende Befind- lichkeiten muss ich mit mir selbst austragen. Mit dem Begriff der Wiedervereinigung, der Und da fühle ich mich nicht allein. Denn der heute zu Recht seltener verwendet wird, hatte Alltag lehrt mich immer wieder, dass vieles ich auch Schwierigkeiten. Meine Generation noch im Umbruch und unbewältigt ist. Womit kannte kein einheitliches Deutschland und wir wir wieder bei der Wende wären, deren um- erleben bis jetzt, wie sehr die Menschen von wälzende Veränderungen nach nunmehr 15 zwei Gesellschaften geprägt wurden und Mau- Jahren unsere Gesellschaft noch immer um- erreste in den Köpfen verblieben sind bei- treibt.Kamsiezuplötzlich, ging alles zu schnell? derseits. Noch immer sehe ich in der Ausein- andersetzung damit eine Chance für eine Mich traf die Wende gesamtdeutsche demokratische Erneue- überraschend – wie ein Hammer rung. Die Rahmenbedingungen dafür sind weitgehend gegeben. Ich konnte sie mit klei- Mich traf sie überraschend, ja betäubend, wie nen Umwegen für mich nutzen. So schloss ich ein Hammer! Im Herbst hatte ich die Ereignis- im Februar1990 meine Berufsausbildung zur se in Prag und Ungarn mit Skepsis und Unbe- Maßschneiderin in Erfurt ab und wurde auch hagen beobachtet. Ich konnte mir nicht erklä- übernommen. Auftragsmangel führte aber bald ren, weshalb Menschen sich, ihre Kinder so in zu Personalüberhang, so dass ich ausscheiden Gefahr bringen konnten. Und es stand die musste. In eigener Initiative wurde ich dann bange Frage, wie der Staat, wie die sowjeti- Büroleiterin in einem Fahrschulbetrieb. Dieses schen Militärs reagieren würden. Welche Gewerbe war damals ein Renner und mein Sanktionen würde es geben? Nein, Euphorie Traum, selbst Fahrlehrerin zu werden, noch habe ich selbst beim Mauerfall noch nicht so nicht ausgeträumt, bis die Schließung des empfunden, sie aber um mich gespürt. Als Betriebes nach Geburt meines Sohnes und Autobesitzerin habe ich Bekannte und Ver- Babyjahr mich erneut zur Neuorientierung wandte in den Westen gefahren Begrü- zwang. Meine Bodenständigkeit und mein ßungsgeld, Einkauf, Umschauen und derglei- Selbstvertrauen im Sinne Du schaffst das chen. Meiner Mutter wollte ich zeigen, was ich schon haben mir dabei ebenso geholfen wie selbst schon gesehen hatte. Da war ich plötz- der Rat meiner ehemaligen Trainerin, mich lich mittendrin. Natürlich habe ich die Freude selbst in diesem Metier zu versuchen. Eigent-

181 lich habe ich diese Rückkehr nie gewollt. bringen, denn ich spüre und bemerke zuneh- Doch dann ist mir diese Arbeit so ans Herz mend, dass in unserem Bildungs- und Er- gewachsen, dass mich zunehmend das Ge- ziehungssystem vieles verbesserungsbedürftig fühl beherrschte: Das ist es. Hier bist du erscheint. So halte ich es unter anderem für not- angekommen! So erwarb ich über Förder- wendig, klarere und einheitliche Bildungskon- stellen ab 1994 zwei Trainerlizenzen und zepte zu schaffen und mehr Wert auf gezieltere arbeite seither mit Freude im Jugendbereich Charakterbildung durch Erziehung zu Leistungs- als Schwimmlehrerin, bin also heimgekehrt bereitschaft und bewusster Selbstdisziplin zu zu meinen Wurzeln. legen. Ich möchte einfach mithelfen, die junge Nunmehr kann ich weitergeben, was ich Generation, meinen Sohn eingeschlossen, bes- an Wissen und Erfahrung einzubringen ha- ser auf ihre schwierige Bewährung in dieser Ge- be. Und ich möchte mich noch mehr ein- sellschaft vorzubereiten.

182 Bernd Stiller Sein Leben mit allen Höhen und Tiefen selbst gestalten

ihren Kindern ins Deutsche Reich. Die Eltern Bernd Stiller: Bernd Stillers, Herbert Stiller und Anneliese Geboren im Juni 1952 in Rudolstadt, Weihs, lernten sich im Kriegsjahr 1942 ken- als Sohn eines Angestellten der Ru- nen und heirateten vier Jahre später. Herbert dolstädter Kirchgemeinde. Stiller, in der Kirchgemeinde verantwortlich für Nach dem Abitur studierte Bernd Stiller Bauingenieurwesen. Seine Bau- und Finanzfragen, führte seinen Sohn berufliche Laufbahn begann er in der schon frühzeitig in die Gemeinde und den Bauabteilung des Chemierfaserwerks christlichen Glauben ein. Auch die Erziehung Schwarza. Auch ohne Mitgliedschaft in der SED konnte er sich in dem seiner drei Brüder war durch christliche Wert- Betrieb bis zum Abteilungsleiter vorstellungen geprägt. entwickeln. Nach der Wende wurde Mit dem Eintritt in die Alleeschule band Stiller kommunalpolitisch tätig, sich auch Bernd Stiller das blaue Halstuch der ebenso als Unternehmer. Ein Bauun- ternehmen führte er aus den Resten Pioniere um. Nach seiner Grundschulzeit trat des Chemiefaserkombinats in priva- er dann in die FDJ ein, wechselte auf die EOS ter Regie weiter. Die wirtschaftli- und machte 1971 sein Abitur. Auf unsere che Situation in der Bauwirtschaft zwang seinen Betrieb in die Insol- Nachfrage, ob seine allgemeine Abneigung venz, Unterstützung blieb aus, trotz- gegen das herrschende Regime auch eine dem gab Stiller nicht auf. Mitgliedschaft in dessen Jugendorganisatio- nen verhinderte, antwortete er: „So ein ,Kon- terrevolutionär’ war ich nicht”, und fügt nach Das Gespräch führten die Schülerinnen kurzem Nachdenken hinzu: „Manches hat ja Daniela Seiffert und Claudia Zeller auch Spaß gemacht.” Doch als Parteifunktio- näre später, als er nach dem Studium seine berufliche Laufbahn beginnen wollte, an ihn Bernd Stiller empfing uns in seinem Garten. herantraten, und ihn zur Mitgliedschaft in der Viel Zeit hatte er nicht für uns. Ein Termin jagte SED „überreden” wollten, lehnte er ab: „Auch den nächsten. Doch trotz dieser Zeitnot er- späteren Aufforderungen zum Eintritt in die zählte er uns eine Menge über sein Leben, und Partei lehnte ich konsequent ab. Ich versuchte so ging auch die Zeit wie im Fluge vorbei. immer, mir treu zu sein und Mitglied der SED Der gebürtige Rudolstädter wurde am 5. zu werden hätte ich mit meinen Idealen nicht Juli 1952 als Sohn eines Angestellten der hie- vereinbaren können.” sigen Kirchgemeinde und einer Kindergar- tenerzieherin geboren. Die Eltern lernten sich Der christliche Glaube sprach ihn als Flüchtlingskinder durch die zwischen den mehr an als die Ideologie der DDR Großeltern bestehenden Geschäftsbezie- hungen kennen. Der Großvater väterlicher- Zu jeder Zeit hielt Herr S. an seinem christ- seits war Direktor einer Weberei im heutigen lichen Glauben fest und an den damit verbun- Estland, während der Großvater mütterlicher- denen moralischen Anforderungen, denen er seits eine Spinnerei in Bratislava leitete. Wäh- immer versuchte nachzukommen. Damit ent- rend des Krieges flüchteten beide Paare mit sprach er zwar nicht dem Ideal einer sozialisti-

183 schen Persönlichkeit, aber der christliche Glau- be sprach ihn mehr an als die Ideologie der DDR. Schon während seiner Schulzeit lernte er seine zukünftige Frau Uta kennen. „Sie war in meiner Parallelklasse. Wir hatten zusammen Konfirmation. Doch leider verloren wir uns danach einige Zeit aus den Augen. Als sie dann zur gleichen Zeit wie ich Tanzstunde machte, fanden wir uns wieder und waren von da an gute Freunde.” Beim ersten gemeinsa- men Urlaub 1973 in Ungarn vertiefte sich ihre Beziehung, sodass sie sich im darauf fol- genden Jahr verlobten. Nach seinem eineinhalbjährigen Wehr- pflichtdienst begann Herr S. ein Studium des Bauingenieurwesens in Weimar, welches er mit einem Diplom der Spezialisierung Stahl- bau abschloss. 1975 heiratete er seine Ver- lobte, die in der Folgezeit eine sehr große see- nicht übernehmen wollte, wurde die lische Stütze für ihn sein sollte. Auf sie ange- Hauptab-teilung Bau neu gegründet und Herr sprochen, sagt er heute liebevoll und aner- S. als Ab-teilungsleiter eingesetzt. Somit hatte kennend, dass sie für ihn „die tollste Frau der er eine gute fachliche Stellung inne und wurde Welt” sei. als Pa-radebeispiel dafür dargestellt, dass Seine ersten Erfahrungen im Berufsleben Fachkom-petenz mehr zählte als sammelte Herr S. im ehemaligen Chemie- gesellschaftliche Bezie-hungen oder die faserkombinat (CFK) als Projektant. Durch Mitgliedschaft in der Partei. Dass dem aber eine Zusatzqualifikation als Fachingenieur für nicht so war, zeigte sich daran, dass manchen Bautenschutz erwarb er sich die nötigen seiner Kollegen der berufliche Aufstieg trotz Kenntnisse, um dann zum Abteilungsleiter der großer Fachkenntnis verschlos-sen blieb, da Bauprojektierung aufzusteigen. Dieser Auf- sie der Ideologie der DDR ableh-nend stieg erstaunte ihn nach eigenen Worten gegenüber standen. Ihm jedoch blieb der selbst, da er nie Mitglied in der SED gewesen berufliche Aufstieg in der parteilich ge- war und somit in diesem Staat scheinbar kaum prägten DDR trotz christlichen Glaubens nicht Karrieremöglichkeiten gehabt hätte. Seinen verwehrt. Worten nach war diese Beförderung eine ab- Mit der Wende und der Zerschlagung des solute Ausnahme und wurde von der Betriebs- CFK wurden viele Dienstleistungsbereiche aus- leitung zu Propagandazwecken missbraucht. In gegliedert, Firmen ausgegründet, die dann ei- seiner Stellung als Abteilungsleiter widmete er nen Zwischenstatus als eigenständige Betrie- sich ab 1984 Spezialaufgaben in den Berei- be innerhalb des CFK erhielten. Bernd Stiller chen Bauschäden und Statik. war in dieser Zeit Leiter des „Bauhofs” und im Auftrag der Stadt für zahlreiche Sanierungen Durch Fachkompetenz eine in Rudolstadt verantwortlich. Einer seiner er- gute Stellung erreicht sten Aufträge war die Sanierung des Hofs des Kreiskirchenamtes Rudolstadt, die ihm als Im Frühjahr 1989 sollte er dann die Haupt- Christ besonders am Herzen lag. mechanik, die rund 2000 Mitarbeiter um- Während und unmittelbar vor der Wende fasste, übernehmen. Da er sich diesbezüglich fing Bernd Stiller an, seine schon immer vor- weigerte und auch die Verantwortung dafür handene Abneigung gegen die Repressionen

184 des DDR-Regimes mehr und mehr auszu- Aufbruch der CDU anschließen und somit un- leben. Schon 1987, als Mitglied des „Clubs tergehen. In Rudolstadt allerdings sträubten der Intelligenz” unter der Leitung Horst Flei- sich die Mitglieder, und so wurde ein Zusam- schers, war er daran beteiligt, den Abriss der menschluss mit den Freien Wählern ange- Rudolstädter Altstadt zu verhindern. Während strebt. Der Demokratische Aufbruch wurde der darauf folgenden Monate prägte sich ihm vollkommen in der Vereinigung „Freie Wäh- folgendes Erlebnis nachhaltig ein: Am 6. Ok- ler” integriert. Seit der Wende spielt Herr S. tober 1989, kurz bevor die allwöchentlichen eine aktive Rolle in der Kommunalpolitik und Demonstrationen und Kundgebungen ihren war während aller drei Legislaturperioden Vor- Höhepunkt erreichen sollten, besuchte Bernd sitzender des Finanz- bzw. Wirtschaftsaus- Stiller mit seiner Frau die Kirche in Saalfeld. schusses. Auch bei der Kommunalwahl 2004 Während des Gottesdienstes sollten die ver- hat er wieder erfolgreich kandidiert. schiedenen Parteien vorgestellt werden. Die Doch nicht nur im politischen, auch im Atmosphäre in den Straßen wirkte durch das wirtschaftlichen Bereich war Herr S. unmittel- Aufgebot der Stasi und der Polizei gespen- bar nach der Wende in Aufbruchsstimmung. stisch. Selbst in der Kirche, so erinnert sich So beschäftigte er in seiner eigenen, aus dem Herr Stiller, „saßen Punks mit offenen Jacken CFK ausgegründeten, GmbH 170 Mitarbeiter vor mir, die alles mithörten, Stasi-Leute.” Trotz verschiedenster Branchen. Seine Firma war der großen Anspannung gelang es den Pfar- unter anderem an den Neubauten in der rern immer, durch Gesang und Gebet wieder Schlossstraße, der Friedrich-Naumann-Stra- Ruhe herzustellen, sodass die Versammlung ße und des Rudolsparks, dem Bau der Restau- nicht aufgelöst werden konnte. rants Marienturm und Hodes sowie dem Aus- Dennoch machte sich Herr S. Gedanken bau des Gewerbegebiets Kirchhasel beteiligt. um mögliche Konsequenzen, die aus seiner Teilnahme an diesem Gottesdienst resultieren Antrag auf Gesamtvollstreckung könnten. Seine zum dem Zeitpunkt neun Jah- wurde unumgänglich re alte Tochter sollte „zur Oma, wenn wir nicht nach Hause kommen”. Davon, wie die Pfarrer Als allerdings seine laufenden Kredite im eine Eskalation vermieden, zeigte sich Herr Sommer 1996 „über Nacht” gekündigt wur- Stiller tief beeindruckt und nahm auch in den den, eine versuchte Umschuldung scheiterte folgenden Tagen an Demonstrationen und und auch die Weiterfinanzierung seiner Firma Kundgebungen teil. Hauptsächlich wurde er über das Thüringer Wirtschaftsministerium miss- allerdings während der Gottesdienste aktiv, lang, musste Herr S. den Antrag auf Gesamt- die seiner Meinung nach den größten Anteil vollstreckung stellen. Bei der Erinnerung an am friedlichen Ablauf der Revolution in der diese Zeit wirkt der sonst so ausgeglichene DDR hatten. Herr S. bitter. „Selbst bei einem Umsatz von zwei bis drei Millionen D-Mark im Monat und Mitgliedschaft im 450 direkten oder bei Subunternehmern tä- Demokratischen Aufbruch tigen Angestellten stellte sich meine Haus- bank quer”, erzählt er uns. In dieser Zeit führte 1989 wurde Herr S. Mitglied beim Demo- er ein protokollähnliches minutiöses Tage- kratischen Aufbruch. Mit Dr. Hartmut Franz als buch, das sich „wie ein Krimi” liest. Seine Spitzenkandidat nahm der Demokratische Werkstätten wurden ausgeräumt und Sachen, Aufbruch als Listenvereinigung DSU/CDU/ die noch gar nicht frei gegeben waren, ver- Demokratischer Aufbruch dann bei den ersten steigert. Dieses prägende Erlebnis sieht er als Kommunalwahlen im neu entstandenen Land- symbolisch für die der Wende folgende Auf- kreis Rudolstadt teil und erhielt auf Anhieb die bruchszeit und den späteren Zusammenbruch absolute Mehrheit. Nach dieser „tollen, aufre- aufgrund überhöhter Erwartungen. Doch auch genden Zeit” sollte sich der Demokratische dieser Rückschlag lies Herrn S. nicht resignie-

185 ren. Zusammen mit einem ehemaligen Prakti- Landkreis mitzugestalten, seine und die kanten gründete er bald darauf eine Firma, in Vorstellungen anderer zu verwirklichen und so der er als Bauleiter arbeitete. Während der daran beteiligt zu sein, unseren Landkreis ein ganz Deutschland treffenden Rezession, dem Stück-chen lebenswerter zu machen. damit verbundenen Auftragsrückgang und Trotz alledem brachte die Wende auch dem Schrumpfen der Firma entschließt er sich einige negative Erfahrungen mit sich: „ Man zum Ausstieg, um „die restlichen Arbeits- wurde einfach nicht mehr so umsorgt, wie es plätze nicht zu gefährden”. Außerdem hatte in der DDR der Fall war. Man stand seine Frau ein gesichertes Einkommen, das für vollkommen auf eigenen Füßen. Der plötz- einige Zeit für beide Ehepartner ausreichen liche Individualismus anstelle des vorgeschrie- würde. Im April 2003 eröffnet er ein eigenes benen Kollektivbewusstseins bedeutete eine Ingenieurbüro und ist seitdem als Sachver- große Umstellung.” Äußere Mittel wie Finan- ständiger, Planer und Statiker selbständig. Heu- zierung oder Baugenehmigungen beschränk- te sieht er das Scheitern seines Unternehmens ten die vermeintliche Freiheit. Auch das täg- als wichtige Lernerfahrung, wodurch er sich liche Leben der Familie Stiller wurde durch die das Wissen erwarb, das ihm heute hilft, auf Wende nachhaltig geprägt. Von nun an dem freien Markt zu bestehen. herrschte ein nie aufhörender täglicher Exi- stenzkampf. Zwischenmenschliche Beziehun- Durch die Wiedervereinigung gen, die in der DDR gepflegt wurden, gingen standen ihm völlig neue Wege offen auseinander und Freundschaften zu Bruch. Die kleine heile Familienwelt half Herrn Stiller in Rückblickend berichtet Bernd Stiller, dass er, dieser Zeit über manche Enttäuschung hin- trotz der Annäherung der DDR zur BRD im weg und vermittelte allen Geborgenheit. Jahre 1989, die Wende nicht erwartet hätte. Schaut Bernd Stiller nun auf die heutige Er war damals davon ausgegangen, dass es Politik der Bundesrepublik Deutschland, dann keine Wiedervereinigung gäbe, sondern eine denkt er oft darüber nach, warum man da- Demokratisierung der DDR, sodass sie im ver- mals und auch noch heute so negativ über die einten Europa als eigenständiger Staat, wie Politik der DDR denkt, denn nicht alles war z.B. Österreich, fungieren konnte. Als er den seiner Meinung nach damals schlecht. „Am Mauerfall dann doch realisierte und verstand, liebsten hätte ich natürlich die Ampelmänn- dass dies nicht rückgängig zu machen sei, er- chen wieder!”, aber auch im Schulsystem, bei fasste ihn, wie so viele andere auch, eine un- der Kinderbetreuung oder im Gesundheits- glaubliche Euphorie. Es war etwas Einzigar- wesen gab es in der DDR gute Ansätze, die er tiges geschehen. Im Zuge dieser historischen auch in der heutigen Politik gern verwirklicht se- Entwicklung auch noch den Abzug der russi- hen würde. Gute wie auch schlechte Erfah- schen Besatzungsmacht hautnah zu erleben, rungen brachte die Wende, Bernd Stiller be- beeindruckte Herrn S. tief. trachtet sie allerdings heute, sowie auch Durch die Wiedervereinigung standen ihm schon damals, als „ein Geschenk Gottes”. nun völlig neue Wege offen. Er konnte sein Ohne sie hätte es nie diesen großen Wirt- Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen, schaftsschub gegeben, und viele Menschen hät- sein Leben neu gestalten. Für eine Firmen- ten niemals ihre Träume verwirklichen kön- gründung standen ihm nun alle Türen offen. nen, er selbst hätte sich niemals das aufbauen Nichts hinderte ihn mehr daran, politisch aktiv können, was er heute hat. Die Möglichkeit, zu werden und es bot sich ihm die Möglich- sein Leben mit allen Höhen und Tiefen selbst keit, das politische Geschehen in unserem zu gestalten – Freiheit.

186 Aline Thielmann Die Wende kam für mich zur richtigen Zeit

so unauffällig wie möglich verhalten. Aha. Aline Thielmann: STASI tauchte später auch in meinem Eltern- Geboren 1969 in Jena, verbrachte sie haus selbst auf: zu einem runden Geburtstag ihre Jugend und Schulzeit in Erfurt. meines Vaters, der ab 1983 die Woche über Als Tochter eines Arztes, dessen Kar- in Berlin arbeitete als stellvertretender Mini- riere in der DDR bis zum Gesund- heitsminister reichte, lernte Aline ster für Hoch- und Fachschulwesen. Gerade, Thielmann die Nomenklatur unmittel- wenn seine engsten Mitarbeiter im Haus wa- bar kennen, aber auch die Ängste, ren, musste man besonders vorsichtig sein mit die in diesen Kreisen vor der Be- spitzelung herrschten. Die Wende- dem, was man sagte. Ebenfalls wegen der zeit erlebte sie in ihrem Studium, STASI durften alle Kontakte zu westdeutschen das sie in Leipzig begann. Kurz- Freunden und Verwandten nur über die Adres- zeitig wechselte sie zur Univer- se meiner Großeltern gehalten werden ob- sität Freiburg, kehrte aber zurück. Für zwei Semester studierte sie in wohl ja angeblich nichts in diesem Land vom Irland und war nach dem Abschluss Sicherheitsdienst unbemerkt bleiben sollte. Es für das höhere Lehramt an der New gab noch mehr Ungereimtheiten: York University tätig. Aline Thiel- mann begann danach ihre Tätigkeit in den Medien. Heute ist sie Modera- Im Ferienheim des torin des Thüringen Journals. Ministerrates der DDR

Geboren bin ich 1969 in Jena 1975 wurde Mit 14 Jahren fuhr ich mit den Eltern nach ich in Erfurt eingeschult. Meine Eltern und ich Dierhagen in den Urlaub: in ein Gästehaus lebten im Erfurter Rieth in einem der damals des Ministerrates. Eine luxuriöse Anlage mit neuen Fünfgeschosser zusammen mit unzäh- Swimmingpool im Haus, Tennisplatz und ein- ligen anderen jungen Familien. In der dritten em eigenen Stück Strand, der für andere nicht Klasse wechselte ich in eine Russischschule. zugänglich war, wie ich später merkte. Meine Alles ganz normal: Ich wurde Jung- und dann Schwester und ich teilten ein großes Apparte- Thälmannpionier und mit 14 FDJ-ler. Trotz- ment, das uns bei unserer Ankunft umständ- dem gab es einen merkwürdigen Zwiespalt: lich erklärt wurde dazu gehörte auch ein Meine Eltern waren Ärzte, mein Vater dazu Fernseher. Der Herr zappte die Programme Prorektor in der Medizinischen Akademie. Ich durch: DDR 1, DDR 2, ARD, ZDF.Ich schaute selbst zählte als Arbeiterkind, was mich wun- mich verwirrt nach meinem Vater um. In der derte und mir in der Schule einen eigenartigen Schule hatte man uns doch erklärt, das West- Status zu verleihen schien. Zu Hause wurde fernsehen quasi verboten war. Er zuckte nur über Politisches nicht geredet. Schon gar nicht mit den Schultern und sagte sachlich: Man beeinflussten mich meine Eltern in dieser Be- muss sich doch allseitig bilden. Stimmt, dach- ziehung. Nur meine Mutter warnte mich und te ich und nahm es hin. Im Heim lief alles sehr zeigte mir die ominösen Herren mit den klei- gesittet ab. Bürgerlich: Im Fahrstuhl grüßte man nen Ledertäschchen am Handgelenk. Vor der übermäßig höflich, achtete beim Essen auf gute STASI sollte man sich vorsehen: in ihrer Nähe Tischmanieren und übte sich im Smalltalk mit besser schweigsam sein und sich überhaupt den anderen Urlaubern. Einige von denen wa-

187 ren mir schon bekannt vorgekommen klar wurde vieles erst, als meine Mutter ihre Na- men nannte: Günther Mittag, Günther Scha- bowski, Egon Krenz. Ihre Gesichter hatte ich in Staatsbürgerkundelehrbüchern gesehen. Alle waren ausgesprochen nett, entspannt und offen. Keine Spur von der üblichen DDR Atmosphäre, in der man sich überlegen muss- te, was man sagte. Im Gegenteil: hier schie- nen die Leute seltsam normal zu sein: offen, vergnügt und unbeschwert. Die große, schöne Anlage hatte nicht nur einen Pförtner, sondern auch einen gut funk- tionierenden Sicherheitsdienst. Mit eigenen Augen hatte ich gesehen, wie beim Eintritt zum Gelände Ausweise kontrolliert wurden. Ich selbst musste meinen nie vorzeigen. So viele Leute machten dort Urlaub. Wieso wuss- te der Pförtner, dass gerade ich dazu gehörte? Eine andere eindrucksvolle STASI-Begeg- nung. Am Tag meiner Jugendweihe ging ich schauen und politische Stunden, die DDR Pres- mit den Eltern Essen auf der Wachsenburg. se aber strotzte vor unglaubwürdigen Darstel- Dort war es sehr voll, wie immer in DDR-Gast- lungen. Witze darüber kursierten. Man dachte stätten. Wir standen in der langen Reihe der und sprach auf verschiedenen Ebenen. Be- Wartenden, als ein Mann zu uns trat, uns sehr kannte zogen die Konsequenzen: Eltern von höflich begrüßte und aus der Schlange heraus Mitschülern stellten Ausreiseanträge und man- zu einem Tisch bat. Auf meine Frage, woher er cher Klassenkamerad verschwand ganz plötz- uns kenne, erklärte mein Vater, er sei hier lich gen Westen. schon auf einem Kongress gewesen. Etwas Andere Freunde kamen hinter Armeegitter: später stand der Herr noch einmal an unse- einer sollte vom Fluchtversuch eines anderen rem Tisch. Er schenkte mir eine rote Rose und gewusst haben, ein anderer hatte auf dem Ar- gratulierte zur Jugendweihe. Mein Kleid war meegelände fotografiert. Gerade ihn ver- unauffällig, der feierliche Anlass war uns nicht suchten die Herren in den grauen Anzügen als anzusehen und nun hatte auch der Vater keine Genosse anzuwerben. Der Freund lehnte ab, Antwort mehr auf die Frage, woher der Herr wir aber hatten gelernt, dass gerade den nicht soviel über uns wisse. Jetzt aber war ich wirk- Systemkonformen zugesetzt wurde und wer lich gewarnt. wusste schon, wie viele in misslichen Lagen sich überzeugen ließen und für den Staat ar- Absurde Zeitungsschauen beiteten. und politische Stunden Ein Bekannter erzählte von seinen Erfahrun- gen mit der Stasi in einer überraschend wohl- Die Kluft zwischen dem was war und dem was wollenden Sichtweise. Auf seinem Zimmer hat- sein sollte wuchs. In der Schule gab es Ärger, te er im Beisein von anderen kritische Bemer- weil unsere Klasse ein Fenster bemalt hatte: kungen gemacht und war umgehend vor ei- mit dem Erfurter Dom. Einem kirchlichen - und nen hohen Vorgesetzten zitiert worden, der keinem sozialistischen Symbol. Der Dom muss- davon schon wusste. Der Freund erklärte mir: te ab. Überzeugte Lehrer wollten überzeugte er sei nicht böse drum, so müsse er seine Schüler, andere ließen ihre Distanz zum Lehr- Klagen wenigstens nicht auf den langen Dienst- stoff durchblicken. Es gab absurde Zeitungs- weg schicken: ein Wort auf dem Zimmer trans-

188 portiere sich auch ganz allein dahin, wo es lung sollte mit auf den Weg gehen und Kraw- hingehöre... Und schließlich müssten die da czyks Forderungen bekräftigen. Natürlich wa- oben ja auch wissen, was an der Front vor sich ren wir seiner Meinung, natürlich unterschrie- ginge... Nach diesem Gespräch wusste ich ben wir. War es mein richtiger Name? Oder plötzlich, dass Menschen tatsächlich Argu- war ich so geistesgegenwärtig gewesen, ein- mente dafür fanden, sich gegenseitig auszu- en falschen darunter zu setzen? Diese Frage horchen. In Gedanken ging ich meine Freun- stellte ich mir immer und immer wieder, als ich de und Vertrauten durch und war mir plötzlich kurze Zeit später in Erfurt zum Staatsanwalt bei niemandem mehr sicher. Fazit: Jeder um bestellt wurde, wegen der Klärung eines mich herum könnte ein doppeltes Spiel spie- Sachverhaltes . Oh je. Hatte dieser Sach- len. Der imaginäre Feind schien mir so wenig verhalt etwas mit dem Berliner Konzert zu tun? greifbar und so absurd zu sein, dass ich ihn War es nun doch endlich auch mal an mir, Är- auch bald wieder vergaß. Nur meine Mutter ger mit der Staatsgewalt zu bekommen? Bis erinnerte mich regelmäßig: keine hintergrün- jetzt war ich wie durch ein Wunder unbehelligt digen Telefongespräche der Apparat würde geblieben. Die meisten Freunde hatten Prob- wegen des Vaters abgehört keine politischen leme. Ich hatte keine Angst um mich. Was ich Diskussionen mit Freunden im Elternhaus tat, konnte ich verantworten. Angst machte auch die vier Wände seien nicht sicher und so mir nur die gefürchtete Sippenhaft des DDR weiter. Regimes. Ich war die Tochter meines Vaters Wir hielten uns nicht daran. In Grüppchen was ich tat konnte ihm schaden. Daran aber saßen wir abends oft zusammen; es wurde konnte ich nun nichts mehr ändern und so gesungen und natürlich gesprochen; von gro- überstand ich die Tage bis zum Termin nur mit ßen Diskussionen konnte keine Rede sein; wir vielen Bedenken. Der Anlass war dann ein waren uns ja einig; wir alle kannten den Un- harmloser, ich atmete auf... terschied zwischen dem, was in Das Volk oder Neues Deutschland zu lesen war und Vor Kontakten zu oppositionellen den Dingen, die täglich um uns herum pas- Kreisen in Erfurt gewarnt sierten. Unehrlichkeit und Angst wohin man schaute, alle schienen das Spiel zu kennen Eigenartiges erzählten zu etwa der gleichen und alle spielten mit. Eine Farce. Die kriti- Zeit die Berliner Freunde: sie seien auf ein Re- schen Stimmen aber waren längst nicht mehr vier bestellt worden und unter anderem auch zu überhören. vor Kontakten zu den oppositionellen Kreisen aus Erfurt gewarnt worden. Oppositionelle Nach einem Krawczyk-Konzert in Kreise? Lächerlich! Wir waren junge Leute, die Erfurt zum Staatsanwalt bestellt sich gut verstandenen und sagten, was sie dachten, wir planten keine Aufstände, schmie- In Berlin besuchten wir Freunde und zufällig deten keine Parolen. Wenn man uns also als kamen wir auch dazu, als der Liedermacher quasi gefährlich im Auge hatte, hatten die da Stefan Krawczyk eines seiner letzten Konzerte oben den Überblick verloren. in der Zionskirche gab. Er war lange Kommu- Der Sommer 1989 war ein spektakulärer, nist gewesen, hatte für die DDR gesungen und der letzte freie vor dem Studium, das ich im ihre Werte vertreten. Zu klare Worte aber hat- September in Leipzig beginnen wollte. Aben- ten ihm später ein Auftrittsverbot eingebracht; teuer Osteuropa hieß das Motto. Mit Freun- inzwischen durfte er nur noch sehr selten spie- den fuhr ich zunächst nach Rumänien zum len, selbst Kirchen sagten ihm Veranstaltun- Wandern in das Fägäras-Gebirge. Unsere gen ab. In der Zionskirche saßen wir in der Rucksäcke waren voll mit Pfeffer und Kaffee. ersten Reihe, direkt vor dem Sänger und so Solche Mangelware in Rumänien konnte man passierte uns auch der offene Brief an die gegen Lebensmittel tauschen soviel wussten DDR- Spitze sofort. Eine Unterschriftensamm- wir. Auch, dass das Land gefährlich war: die

189 fahren, nach Wien oder sonst wohin und den Westen zu bestaunen. Wenn nicht für ganz dann wenigstens auf eine Tagestour... Ich lehn- te ab. So groß war meine Neugier nicht. Die bunten Läden mit den unzähligen Dingen, die man laut Werbung unbedingt haben musste, kannte ich aus dem Fernsehen. Ein anderes Land an sich lockte mich natürlich sehr da aber war wiederum die Sache mit meinem Vater und der war inzwischen Gesundheitsmi- nister. Es stand viel auf dem Spiel und ich war sicher, dass die DDR Seite sehr wohl wusste, wer, wann für wie lange das Land gen Westen verließ. Auch die Freundin, die ich dann wie- der traf, hatte das wahrscheinlich so oder ähn- lich gesehen und kam mit: zurück nach Hau- se. Wir trampten mit ausländischen Trucks. Vor der DDR Grenze mussten wir aussteigen, und laufen denn mit Transitlern durfte man sich nicht erwischen lassen. Wir lachten: ei- Leute hatten nichts zu essen und ein Touristen- gentlich müsste es zur Begrüßung Blumen ge- leben zählte wenig. Unsere kleine Truppe be- ben, denn so viele Urlauber werden in diesem stand aus fünf Leuten bald kamen andere Jahr wohl nicht in die DDR zurückkommen? Wanderer dazu. So schien das Unternehmen Nix. Wie immer empfing man uns kritisch und etwas sicherer. Zwei der neuen Mitstreiter wa- griesgrämig. ren junge Männer aus Leipzig. Sie erzählten von Friedensgebeten in der Nikolaikirche. Je- Der Gaudi folgte der weils montags traf man sich und hatte er- Sozialistische Ernst des Lebens hebliche Probleme mit STASI. Nach all den Er- zählungen blieb ein Eindruck am deutlichsten Das Studium begann im September mit ei- hängen in mir: was in der DDR gerade pas- nem Erntelager wie üblich. Die frisch ausge- sierte roch tatsächlich nach Angst. Und zwar rufene Seminargruppe 89/27 traf sich zum nach Angst der Obrigkeiten, der DDR Staats- ersten Mal auf dem Leipziger Hauptbahnhof macht. und fuhr nach Mecklenburg. Auf zwei Wochen Auch der zweite Teil des Urlaubs war auf- Kartoffeln und Gaudi folgte der sozialistische regend: Mit einem westdeutschen Freund traf Ernst des Lebens: Man wohnte in Vierbettzim- ich mich in Ungarn. In der BRD Botschaft in mern im Studentenheim der Straße des 18. Budapest warteten in diesem August Ost- Oktobers und studierte mit der Seminargrup- deutsche und hofften, so gen Westen ausrei- pe nach festgelegtem Stundenplan neben den sen zu können. Wir wohnten am Balaton und gewählten Fächern auch Marxismus-Leninis- machten Tagesausflüge: unter anderem auch mus und Russisch. Langweilig wurde es nicht: nach Sopron am Neusiedler See. Dort waren Zur gleichen Zeit nämlich starteten die Mon- viele Menschen und Flugblätter wurden ver- tagsdemos in der neuen Stadt. Wir waren teilt: Am Feiertag lud man ein zum Schwim- neugierig. Wir liefen mit. Nach kurzer Zeit men über den See. Das andere Ufer lag in waren montags die Straßen voll. Noch ver- Österreich. Etwas später wurde getuschelt, suchten Autoritäten einzuschreiten: in der Uni die Ungarn würden ihre Grenze für DDRler gab es Flugblätter: Nicht demonstrieren! Aber öffnen. Sie taten es für drei Stunden. Viele auch solche, die gerade dazu aufforderten. flüchteten. Der Freund schlug vor, rüber zu Vergleiche zu China wurden gezogen, wo Stu-

190 dentenaufstände blutig niedergeschlagen wor- bracht. Man schien davon auszugehen, dass den waren. Die Demos in Leipzig verliefen ru- wir unsere Art zu leben aufgeben müssten. hig aber voller Energie der Massen und Das sah ich natürlich völlig anders und ging Spannungen. Überall standen Polizei und zurück nach Leipzig. Dort hörte ich eine Vor- Kampftruppen der Arbeiterklasse und warteten lesung des Wendepsychologen Joachim ab. Maaz: Sinngemäß sagte er: der Weg zur Ge- Der Rest ist Geschichte: Die Mauer fiel, die meinsamkeit führt über die Akzeptanz unseres Wende kam. Millionen strömten gen Westen. Verschiedensein. Ich war erleichtert. Genau Intellektuelle warnten vor der Übernahme: die das dachte ich auch: wir durften nicht so tun, meisten Ossis aber gingen mit der neuen als wären wir nun alle gleich, oder müssten es Situation weniger kritisch um. Es dauerte Wo- sofort werden. Gerade die Gegensätze waren chen, bis ich zum ersten Mal rüber fuhr. Ich spannend und eine große Chance. war nicht allzu überrascht. Der Westen war natürlich nicht so golden, wie es im Fernsehen Ein Fazit: Die Wendezeit war aussah. Die bunten Dinge in den Läden waren spannend und beschenkte mich spannend, verwirrten aber auch sehr und wa- ren auch schlichtweg nicht alle notwendig, Für mich persönlich kam die Wende genau wie ich fand. zur richtigen Zeit. Ich war 20 als die Mauer fiel. Bis dahin hatten wir den Osten bereist Schwieriger Wechsel nach Freiburg, und vieles gesehen und erlebt. Die äußer- das DDR-Abitur war nicht anerkannt lichen und inneren Grenzen des Lebens in der DDR haben uns geärgert und oft traurig ge- Das Studium an der Uni Leipzig wurde müh- macht uns aber auch viel nachdenken lassen sam. Es gab nicht nur Aufbruchsstimmung und vor eine Aufgabe gestellt. Die Konse- sondern auch sehr viel Unsicherheit und Halt- quenz war eine kritische Distanz zu beiden losigkeit. Lehrpläne und Anforderungen wur- Systemen: dem des Ostens und dem des We- den ständig verändert, Ost-Professoren waren stens. Nun aber war der Weg frei für Neues deprimiert bis frustriert, Lehrende aus dem und ich bin ihn sehr gern und ganz natürlich Westen kamen nicht immer als Ko-ryphäen, gegangen. Ich studierte zwei Semester in Ir- das merkten wir auch als Studenten. Ich wollte land, in den Semesterferien reisten wir nach weg neue Möglichkeiten lockten. Im Herbst Mexiko, die USA und Südamerika, fuhren auf 1989 gelang es mir, mich in Frei-burg im dem Landweg durch Russland und China Breisgau zu immatrikulieren. Das war schwie- nach Tibet und Nepal. Mit dem Abschluss- rig, weil das DDR Abitur noch nicht an- zeugnis für das Höhere Lehramt in der Tasche erkannt war. Ich blieb nur drei Monate. Ich fühlte arbeitete ich mehrere Monate an der New mich fremd. Stadt und Umgebung gefielen mir York University, studierte dann noch das Zu- gut, ich traf sehr nette Menschen, hatte viele satzfach Kunst in Leipzig, unterrichtete an Freunde und alle waren sehr entgegenkom- Sprachschulen und begann im Medienbe- mend. Aber auch sehr anders. Die gemein- reich zu arbeiten: zunächst als Sprecher für same Sprache schien mir trügerisch. Wir ka- Funk und Fernsehen, später dann auch vor men aus verschiedenen Welten, waren unter- der Kamera des MDR Fernsehens. schiedlich sozialisiert, verhielten uns anders Die Wendezeit war spannend und be- und verstanden uns auch oft genug falsch. schenkte mich mit unzähligen Anregungen Freunde aus dem Osten besuchten mich, wir ich hatte die Lebenslust, die Neugier und die sangen zur Gitarre und ein westdeutscher Be- Kraft, die unabsehbaren Möglichkeiten offen kannter sagte: Klasse, was ihr so macht. nutzen zu können und mich auf jeden Tag neu Schade nur, dass ihr das jetzt alles aufgeben einzulassen. Was nicht heißt, dass das heute müsst. Das Problem war auf den Punkt ge- anders ist.

191 Constanze Wagner Ich habe noch eine Zukunft

viel Freiraum im Hof der Wohnanlage ver- Constanze Wagner: brachten. Alle Mütter waren Hausfrauen und Geboren 1954 in Dresden. Ausbildung wir waren gut aufgehoben. Meine Mutter war zum Elektronikfacharbeiter mit Abi- vielseitig interessiert, hatte allerlei Hobbys tur.Anschließend folgte ein Studium für wissenschaftlichen Gerätebau in und lehrte uns viel, wovon wir noch heute pro- Dresden mit dem Abschluss Diplom- fitieren. Sie schmückte unsere Wohnung mit Ingenieur. den damals modernen Batik-Bildern, bastelte Danach erhielt Constanze Wagner Figuren aus Silberdraht und Bast, fotogra- eine Absolventenstelle in Ilmenau, fierte und beschäftigte sich mit Büchern vieler wo sie eine Familie gründete und bis heute in der Nähe der Univer- Wissensgebiete. Heute beschäftigt sie sich in- sitätsstadt lebt. Nach der Ent- tensiv und erfolgreich mit der Malerei. Die lassung aus ihrem Betrieb 1990 nahm Mutter lehrte uns immer „mit den Augen zu sie eine Ausbildung zur Steuer- fachgehilfin wahr. Über die freie mausen“ und sich für alles zu interessieren. Mitarbeit bei einer Tageszeitung Bei uns zu Hause wurden auch die schwarz- konnte sie Redakteurin eines Anzei- weiß Filme selbst entwickelt und die Papier- genblattes werden. Nach einer Qua- lifizierung zur Online-Redakteurin abzüge angefertigt. Das hat mich immer sehr arbeitet sie heute in einem Call- beeindruckt. Center. Man musste sich in dieser Zeit Geboren wurde ich am 4. Dezember 1954 in anpassen – so wie heute auch Dresden, weil mein Vater dort an der TU Ak- ustik studierte. Dresden war deshalb zu dieser Die Schulzeit war erträglich. Wir waren Pio- Zeit der Wohnort meiner Eltern. Den größten niere und gingen zu den Nachmittagsveran- Teil meines Lebens verbrachte ich jedoch in staltungen, die ich eigentlich in positiver Erin- Erfurt. 1958 zogen wir wegen der Arbeitsstelle nerung habe. Auch die FDJ-Zeit war nicht so meines Vaters dorthin. Mitt-lerweile hatte ich arg. Es war eben viel gemeinsame Freizeit- auch eine Schwester. Wir waren eine für gestaltung dabei und das war normal. Ich damalige Verhältnisse gut si-tuierte Familie. glaube in Sachen Phrasen und Parolen waren Wohnten in einem schönen AWG-Block am wir so abgestumpft, dass uns das irgendwann Rande der Stadt. Mein Vater hatte eine nicht mehr störte. Es gehörte eben dazu.Man leitende Position in einem Elektro- musste sich in dieser Zeit anpassen, so wie technikbetrieb und meine Mutter blieb auf sei- heute auch – nur eben anders. Wenn gefragt nen Wunsch als Hausfrau zu Hause. Fast 20 wurde, wo zu Hause Westfernsehen geguckt Jahren später nahm sie sich jedoch ihre Frei- wurde, dann musste man eben schwindeln. heit wieder und wurde berufstätig. Sie war Und die Antenne blieb unter dem Dach ver- examinierte Krankenschwester. steckt, weil ihre Ausrichtung den Westgucker Meine Schwester und ich besuchten also verriet und manch einer war deswegen schon keinen Kindergarten. Jedoch gab es im Haus ins Gefängnis gekommen, das hatten wir im- zwei weitere Familien mit Kindern unseres Al- mer im Hinterkopf. Westverwandtschaft ters, so dass wir eine sehr schöne Kindheit mit hatten wir nicht, deshalb mussten wir mit dem

192 Markant-Füller schreiben und trainierten un- boren. Katrin ist jetzt 21 und studiert in Re- sere Kaumuskeln am harten DDR-Kaugummi, gensburg Biologie. Daniel ist 16 und in der der schnell seinen Geschmack verlor. Um so 10. Klasse des Gymnasiums. Ich blieb jeweils glücklicher waren wir, wenn wir eine Stange zweieinhalb Jahre zu Hause, ehe ich die Kin- „Viebans”- Nougat erbeuteten oder im Süß- der in die Kinderkrippe gab. Man bekam ja warenladen der Tante die eine oder andere auch gleich wieder seine Arbeit. Da brauchte Rarität zugesteckt bekamen. man sich gar keine Gedanken zu machen, das Mein Vater versuchte so lange es seine war einfach selbstverständlich. Heute ist das dienstliche Position erlaubte, nicht in die SED undenkbar, dass man sich in Sachen Arbeits- zu gehen. Irgendwann ging es nicht mehr und platz sicher fühlen kann. er zahlte seinen Beitrag und wurde mit Ge- Es gab eigentlich viel, das wir in dieser Zeit nosse angeredet. Wir Kinder waren getauft schafften, obwohl doch alles so schwierig war. und die Eltern hatten 1954 kirchlich geheira- Vor allem war das Erfolgserlebnis damals ja tet. Doch Christenlehre oder Gottsdienste viel größer. Da war beispielsweise die Zentral- kannten wir nicht. Ich habe gelernt, an die heizung, die wir uns 1988 einbauten. Ge- Kraft in mir zu glauben, und ich bin bis heute brauchte Gussradiatoren wurden gesand- fest davon überzeugt, dass jeder seines eige- strahlt und mit Hilfe einer selbstgebauten Vor- nen Glückes Schmied ist. richtung auf Dichtheit geprüft. Irgendwie be- kamen wir auch die Teile für den Heizkessel Eine liberale Grundhaltung zusammen und das Rohr konnte man im Be- entsprach meinem Denken trieb meines Mannes (Stahlbau) kaufen. Auch Fußbodenbelag war nicht einfach zu bekom- Als man in der Lehrzeit versuchte, mich in die men. Im Urlaub in der Oberlausitz sahen wir SED zu werben, lehnte ich ab. Doch ich wurde einen Teppichboden, der uns zusagte und wir mit den Worten „Wen wir haben wollen, den schafften es, ihn per Bahn nach Hause zu bekommen wir auch,“ aus dem ersten Ge- schicken, denn in den Trabbi passte er nicht spräch entlassen. Das machte mir solche rein. Doch so schnell würden wir keinen so Angst, dass ich mich noch in derselben Woche schönen Bodenbelag woanders bekommen. um Aufnahme in die LDPD bemühte, denn ich Für den praktischen Klappsportwagen, den wollte mich nicht zu etwas zwingen lassen und ich aus zweiter Hand bekam, nähte ich einen eine liberale Grundhaltung entsprach ohne- komplett neuen Bezug und hatte einen hin meinem Denken. Oft wurde ich gefragt, schicken „Neuwagen“. Die Eheringe habe ich warum ich in dieser Partei bin, denn es brach- alleine in der Bezirksstadt erbeutet, weil es te einem bei gewissen Leuten ein negatives dort einen Hochzeitsausstatter gab, der manch- Image, sich so offiziell von der SED abzu- mal Trauringe bekam. Ich bin hingefahren wenden. Ungeschriebenes Gesetz war wohl, und hatte Glück. dass man als Blockparteimitglied immer nur Stellvertreterrollen erhalten könne. Deshalb Wir hatten Arbeit, verdienten Geld wurde mein Entschluss von manchen Mitmen- und machten das Beste daraus schen belächelt. Mir war das egal. Ich war trotzdem kein Mensch zweiter Klasse; davon Es sind eben meist die materiellen Dinge, die war ich überzeugt. im Gedächtnis geblieben sind, weil man da- Nach dem Studium zum Diplom-Ingenieur mit viel zu tun hatte. Wir hatten Arbeit, ver- für Wissenschaftlichen Gerätebau erhielt ich dienten Geld und machten das Beste daraus. eine Absolventenstelle im Raum Ilmenau, wo Vor allem hatten wir Freunde und Bekannte, ich heute noch lebe. 1981 heiratete ich. Seit denen es genauso ging, mit denen wir tausch- 23 Jahren besteht unsere Familie nun schon ten oder Beziehungen knüpften und denen wir und wir wohnen seit 1983 im eigenen vertrauten. Im dörflichen Bereich wusste man, Haus.1983 und 1987 wurden die Kinder ge- wer „große Ohren“ hatte und hielt sich ent-

193 sprechend zurück. Die Zeit, als die Leute dann bessere DDR geben könnte. Schade nur, dass waggonweise nach Ungarn gingen, um von es keine bessere Lösung für unser Problem dort aus gen Westen zu flüchten, während hier gab und wir den bundesdeutschen Kapitalis- die Herrschaften ihren 40. Jahrestag vorberei- mus übergestülpt kriegten. Für viele ist aus teten, habe ich noch sehr intensiv in Erinne- Hoffnung Hass geworden, denn eine tolle rung. Chance wurde vergeben. Nun sind wir mehr Ich war ja mit meinem zweiten Kind zu eine Kolonie und egal wer am Ruder ist, die Hause und zog mir jede Nachrichtensendung Politik geht wieder am Volk vorbei und nutzt ‘rein. Nie vergessen werde ich die Bilder, von seine Ängste und Nöte höchstens für strate- den Flüchtlingen, die den Botschaftszaun über- gische Parolen aus. stiegen und ihre Kinder über die Eisenspitzen Ich habe allerdings auch Chancen für hinüberreichten. Das hätte ich mir nie getraut. mich gesehen und genutzt, die ich in der DDR Wie verzweifelt mussten diese Menschen ge- nicht gehabt hätte. Dort wäre ich bis zum Ren- wesen sein, wenn sie die Gefahr auf sich nah- tenalter in meinem Betrieb geblieben und men, aufgegriffen und von ihren Kindern ge- mehr oder weniger auf der Stelle getreten. Ich trennt zu werden. Hatten sie sich das über- wäre auch nie auf die Idee gekommen, unter haupt vorher überlegt, oder gab es hier ein dem Motto „Goethe ist tot – vertrauen Sie ganzes Stück Gruppendynamik? Schließlich mir!“ aus meiner Neigung zum Gedichte- blieben nicht nur Freunde und Verwandte, schreiben eine „Taschengeld-Quelle“ zu ma- sondern auch viel Materielles zurück. chen. Mittlerweile habe ich bundesweit viele Wer macht es richtig? Die, die geblieben zufriedene Kunden, die zu allen möglichen sind, oder die, die flüchteten? Was, wenn man und unmöglichen Anlässen Gedichte schrei- uns hier noch mehr einschränken würde? ben lassen. Wenn es am Ende wie in China kommt? Ban- ge Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Nach der Entlassung einen Ich hatte ja so viel Negatives über das Leben neuen Beruf erlernt in der BRD gehört, dass ich nie und nimmer ‘rüber gegangen wäre. Arbeitslosigkeit und Aus der Not heraus hatte ich nach der Entlas- Kokain, neidische Nachbarn und keine Kolle- sung aus meinem DDR-Betrieb 1990 einen gialität, Kinderfeindlichkeit und Wuchermiete neuen Beruf gelernt. Ich nutzte die Möglich- – das war mein „Westbild“. keit Steuerfachgehilfe zu werden, weil ich da- mit gleich viel über das neue Wirtschafts- Irgendwie war es schon irre, was da system und das Steuerrecht erfahren würde. so alles passierte Das konnte ich immer gebrauchen, dessen war ich mir sicher. Nebenbei schrieb ich für Trotzdem reihten wir uns zwei Tage nach der die Tageszeitung „Freies Wort”. Das Schrei- Grenzöffnung in die Schlange der Antrag- ben lag mir und machte mir Spass. In der DDR steller ein und reisten nach drüben, um unser wollte ich jedoch kein Journalist sein. Da hat Begrüßungsgeld in Empfang zu nehmen und man ja schon die kleinen Einspalter, die ich den typischen Geruch der großen Kaufhäu- während des Studiums für die „Volkswacht“ ser aufzusaugen. Es war zwar kein erheben- verfasste vollständig umgekrempelt. des Gefühl, die „Spende“ abzuholen, aber Nach der neuen Berufsausbildung vergin- irgendwie war es schon irre, was da alles so gen nur wenige Wochen und ich bekam das passierte. Plötzlich gab es Westgeld für alle, in Angebot, Redakteur eines Anzeigenblattes in der Zeitung standen Wahrheiten und was für Ilmenau zu werden. Der Kontakt zur Tageszei- welche! Sogar das Westfernsehprogramm tung hatte mir also genützt. Ich nahm das An- wurde abgedruckt, im SED-Bezirksblatt! Als gebot an, entwickelte mich in dieser Branche die Menschen in Leipzig für uns auf die Straße immer weiter und war erfolgreich. Nach acht- gingen, hatte ich noch Hoffnung, dass es eine einhalb Jahren wurde das Blatt bei uns im

194 Kreisgebiet jedoch aus „Wirtschaftlichkeits- einer Legebatterie vergleiche, denn es sind gründen“ eingestellt. Was tun, wenn einen das viel bessere Bedingungen. Ich kann mich mit Arbeitsamt nur noch als Redakteur führt und der Arbeitsaufgabe identifizieren, und die Sa- die Ingenieursvergangenheit nichts mehr che macht Spass. Mittlerweile habe ich ne- nützt? Es gibt doch Online-Redakteure, dach- benbei zehn Bücher über Telefonmarketing te ich mir und lies mir eine zwölfmonatige und Verkaufspsychologie gelesen, denn wenn Weiterbildung in Sachen Internet und Webde- ich Neuland betrete, will ich alles darüber wis- sign genehmigen. sen und keine halben Sachen machen. Ich bin Danach bewarb ich mich auf ein Stellen- eine erfolgreiche Verkäuferin geworden, habe angebot als Call-Center-Agentin, weil es ge- viel Interessantes und Neues gelernt und rade nichts passenderes gab. Von 24 Trai- möchte eine Top-Telefon-Verkäuferin werden, ningsteilnehmern bleiben fünf – ich auch. Es denn so etwas braucht die Zukunft und noch ist nicht das Call-Center, dass ich gerne mit habe ich eine, dessen bin ich mir sicher.

195 Volker, Gertraude und Michael Wähler: Eine hart erarbeitete Erfolgsgeschichte

Spiel. Hinter diesem Erfolg stehen uner- Volker Wähler: schütterlicher Wille, Kraft und Geschlossen- Geboren 1944 in Frankenau. Nach land- heit einer Familie, sich ihren ureigensten Le- wirtschaftlicher Lehre Studium zum bensentwurf zu verwirklichen. Sie wollen Bau- Agraringenieur von 1968 bis 1990. Abteilungsleiter in der LPG Pölzig. ern sein, selbstständig, frei und bodenstän- 1990 Rückübertragung des eingetra- dig. Da wird nichts neudeutsch umschrieben, genen Bodens mit Inventar. Seit 1990 das ist ein stolzes Bekenntnis zum Bauern- Bewirtschaftung von fast 600 Hektar Land stand. Das liegt ihnen im Blut, das sind sie mit Leib und Seele, darin sehen sie die Sinnge- Gertraude Wähler: bung ihres Lebens. Dabei keine Spur von Ro- Geboren 1944 in Paschwitz. Nach mantisierung oder Verklärung. Harte Arbeit, Berufsausbildung mit Abitur Stu- dium zur Agrarpädagogin. Jetzt knallhartes Rechnen, Mut zum kalkulierten Ri- arbeitet sie im eigenen Familien- siko, ein tragfähiges Konzept und anfangs vie- betrieb. le schlaflose Nächte ließen hier einen zukunft- Michael Wähler: sorientierten landwirtschaftlichen Betrieb ent- Geboren 1970, Berufsausbildung mit stehen. Etwa 600 Hektar Land bewirtschaften Abitur 1990 abgeschlossen. Seitdem sie, über 80 Köpfe zählt ihre Limousinherde: Jungbauer auf dem Hof der Eltern. prachtvolle Kühe, Färsen, Jungrinder, Jung- bullen und Deckbullen. Diese Rinder werden als Spitzenherdbuchzucht geführt. Und wenn Das Gespräch führte man die Hofanlagen als Ganzes sieht, ver- Rainer Morgenroth steht man, weshalb das Land Thüringen den Thüringer Tierschutzpreis 2003 gerade dieser Wenn du interessante Wendebiographien aus Familie, diesem Hof verliehen hat. der Landwirtschaft suchst, dann fahre nach Frankenau zu Familie Wähler , meinte ein Altes und Neues harmonisch in befreundeter Journalist. Über die habe sein Einklang gebracht Blatt schon einige Artikel gebracht. Also Adres- se besorgt, angerufen, Interviewzusage er- Großzügig und weiträumig angelegt sind die halten, hingefahren. Anlagen beider Hofstellen, das betrifft Stal- Nun sitzt mir die Familie gegenüber, be- lungen, Getreidesiloanlagen, Maschinenhal- sonnen abwägend Volker und Gertraude le, Werkstatt mit Sanitärtrakt, Bergehalle usw. Wähler, selbstbewusst der Sohn Michael und Neben den modernen Anlagen lassen die bei- sich bescheiden zurückhaltend, Tochter Su- den ursprünglichen Höfe unschwer erkennen, sanne. Freimütig und offen reagieren sie auf wie sehr sich Familie Wähler bäuerlicher Tra- meine Fragen nach dem Geheimnis ihres Er- dition verpflichtet fühlt. Liebevoll hergerichtet folges, verhaltener Stolz klingt in den Ant- die zwei Hofstellen, behutsam restauriert und worten an. Ganz bedacht reflektieren sie über modernisiert, alte Bausubstanz erhalten, inte- ihre Entwicklung, da wird mir deutlich da griert. Überall sichtbar der Wille, Altes und war nicht einfach nur Glück oder Zufall im Neues in Einklang zu bringen. Der Versuch

196 scheint gelungen, keine Brüche, alles ge- tielle Klassenfeinde ständigen Repressalien schmackvoll, natürlich, harmonisch. Beson- ausgesetzt waren. Obwohl es bereits 1953 in ders der elterliche Hof Volker Wählers beein- unserem Ort eine LPG gab, führten meine El- druckt mich: ein typischer alter Vierseitenhof. tern den Hof selbständig weiter. Auch nach- Im Hof das alte Natursteinpflaster, eine riesige dem 1953 mein Bruder mit einem Pferdege- Linde nichts verbirgt sein Alter, aber alles spann tödlich verunglückte und mein Vater wirkt intakt, lebendig. Haus und Garten ge- 1957 starb, bewirtschaftete meine Mutter pflegt, wohnlich. Hier fühlt man sich sofort trotz ungeheuren politischen Drucks den Hof geborgen. Ein Bauernhof mit Tradition, wie bis 1962. Dann musste sie der LPG im Rah- auch die Familienchronik, die bis ins Jahr men einer staatlichen Kampagne (zynisch 1643 zurückreicht, belegt. Über 350 Jahre Sozialistischer Frühling benannt) doch bei- lebt die Familie schon hier in Frankenau. Und treten. die Wende bot ihnen die Chance nach 30 Zu dieser Zeit befand ich mich nach Ab- Jahren Zwangskollektivierung wieder an die- schluss der 10. Klasse POS (heute Realschule) se Tradition anzuknüpfen. Der Entschluss zur bereits in einer landwirtschaftlichen Lehre im Wiedereinrichtung des Hofes wurde 1990 ge- VEG Kleinaga. Danach absolvierte ich von troffen. Ganz leicht fiel er sicher nicht. Aber 1962 bis 1965 die Landwirtschaftliche Fach- diese Geschichte sollen die Wählers selbst schule in Altenburg und erwarb dort den Ab- erzählen. schluss eines Staatlich geprüften Landwirtes *** (Agraringenieur Fachschule). Anschließend Volker Wähler übernahm ich meine erste Leitungstätigkeit in Wiedereinrichter der Rinderproduktion der LPG Nauendorf. Von 1968 bis 1990 arbeitete ich als Abtei- 1944 wurde ich in Frankenau als Sohn einer lungsleiter der Schweineproduktion in der LPG Bauernfamilie geboren. Nach dem Krieg ge- Pölzig. Dort war ich unter anderem für eine hörten wir mit 50 Hektar Land zur Kategorie moderne Zuchtanlage mit 800 Sauen sowie der Großbauern, die nach der Bodenreform Läufer- und Mastproduktion verantwortlich. und der Gründung der DDR besonders arg- Durch meine konservative und christliche wöhnisch betrachtet wurden und als poten- Erziehung sowie meine Herkunft war mir die

197 Ideologisierung des Alltags- und Arbeitsle- liche Belange, Marktlage und Ähnliches zu bens von Natur aus zuwider. Hinsichtlich me- informieren. Die Bauern ermutigten uns und ines sozialen Hintergrundes war mir bewusst, gewährten Einblicke in ihre Betriebe. Um dass ich immer nur auf der mittleren Leitungs- Weihnachten fassten wir den Entschluss: Wir ebene arbeiten würde. Ich war in meinem gehen das Wagnis ein, mit allen Konsequen- Umfeld als kritischer Mensch bekannt, aber zen. Da war an Wiedervereinigung und DM als Fachmann wurde ich gebraucht. Und als noch nicht zu denken, wohl aber an ein frei- Fachmann, als Bauer, vertiefte ich mich in eres, selbstbestimmtes Leben auf Grundlage meine Arbeit. Ich habe mich für die betrieb- eines eigenen Betriebes. lichen Belange eingesetzt, als wäre ich Eigen- tümer eine Charakterfrage. Antrag auf Rückübertragung Aufgrund politischer Anfechtungen suchte im Februar 1990 ich nach politischen Nischen. So wurde ich Mitglied der Bauernpartei und später in den Deshalb stellte ich bereits im Februar 1990 VdgB-Kreisvorstand gewählt. Im Rahmen der den Antrag auf Rückübertragung des einge- VdgB (Vereinigung der gegenseitigen Bau- brachten Bodens und Inventars. Anfänglich ernhilfe) engagierte ich mich auf kommunaler schien mein Ausstieg einvernehmlich und ko- Ebene. Als Ortsvorsitzender erachtete ich es operativ vonstatten zu gehen. Bis Dezember als wichtig, mich um die alltäglichen Belange erfüllte ich noch meine Leitungsaufgaben in und Bedürfnisse zu kümmern (unter anderem der LPG, obwohl ich seit 1. November 1990 das Organisieren von Mangelware ) und offiziell privat wirtschaftete. Zusammen mit das kulturelle Leben im Dorf mitzugestalten. meinem Sohn Michael wurden unsere Betrie- Engpässe und Unzulänglichkeiten gab es auf be in Erfurt unter den Registriernummern 02 allen Gebieten und sie nahmen zu. Trotz allem und 03 eingetragen. Also nur einer hatte vor stand für die Familie nie die Frage einer Aus- uns den gleichen Schritt gewagt. reise in die Bundesrepublik. Dafür waren wir Das war aber nur der erste Schritt. Viele, wie schon unsere Eltern zu bodenständig. weit schwierigere folgten. Enttäuschend sind für mich bis heute die Erfahrungen auf per- Es gab Hoffnungen durch die sönlicher Ebene. Menschen, mit denen man politischen Signale Gorbatschows jahrelang gemeinsam gearbeitet hatte, begeg- neten einem mit Häme und Missgunst. Zu- Spätestens im Sommer 1989 war allen halb- dem kam es zu harten Auseinandersetzungen wegs realistisch Denkenden klar, dass die mit der Genossenschaft in Vermögensfragen. DDR umgebaut werden musste. Und es gab Geld war dringend nötig. Die Bauernbank Hoffnungen durch die politischen Signale blockte ab. Die Nord LB ließ sich von unserem Gorbatschows und die Demonstrationen in Konzept und Engagement überzeugen und Leipzig und anderen großen Städten auch in war zu Krediten bereit. Für viele Landeigen- Gera. Die politische Situation war ange- tümer kam die Wiedereinrichtung eines Hofes spannt. Mit der Grenzöffnung entlud sich die- nicht in Frage, so dass wir durch Zupachtung se Spannung explosionsartig. Es war gesche- mit fast 250 Hektar zu wirtschaften beginnen hen und vor allem: friedlich. Während sich konnten. Der Betrieb wuchs und seit 1996 be- die meisten Menschen, die neue Freiheit aus- arbeiten wir fast 600 Hektar. kostend, Richtung Westen bewegten, kreisten Die Wende bedeutet für uns persönliches unsere Gedanken unmittelbar um mögliche Glück und eine einmalige Chance. Sie zu Wege der Privatisierung. nutzen kostete uns ungeheure Anstrengun- So fuhren auch wir gen Westen. Doch gen. Doch da halfen der gemeinsame Wille nicht, um die Konsumtempel zu stürmen, son- und die gegenseitige Ermutigung. Deshalb dern um Bauernhöfe zu besuchen, uns über bin ich nicht nur stolz auf das Erreichte, nein Spezialisierungsformen, betriebswirtschaft- vor allem auf den familiären Zusammenhalt.

198 Damit können wir unbesorgt der Zukunft ent- kürliche Hofumstellungen und Hausdurchsu- gegensehen und natürlich dem Ruhestand, chungen auch bei uns. Dass diese soge- der, wie ich mich und meine Familie kenne, nannten Großbauern durch erhöhte Arbeits- auch ein Unruhestand werden wird. Jetzt leistung aller Familienmitglieder sich selbst dürfen aber neben der politischen und wirt- ausbeuteten, blieb der Öffentlichkeit ver- schaftlichen Problematik natürlich die für uns borgen. Zudem wurden wir mit unverhältnis- so wichtigen familiären Höhepunkte, wie un- mäßig hohem Ablieferungssoll belegt, ohne sere Hochzeit 1966, die Geburten unseres Rücksicht auf Bodenwertzahlen, Wetterunbil- Sohnes Michael im November 1970 und im den und ähnlichem. Dieses Soll war meist Januar 1972 unserer Tochter Susanne sowie unerfüllbar. Die Folge waren herbe Einschrän- deren Erziehung nicht unerwähnt bleiben. kungen der Lebensqualität. Lebensmittel- Aber das darzustellen überlasse ich eher mei- marken bekamen wir als Selbstversorger oh- ner Frau, denn sie war immer und ist der nehin nicht, die Butter- und Milchzuteilung Mittelpunkt der Familie. wurde bei Nichterfüllung des Solls gekürzt, die Anzahl der Schlachtscheine wurde entspre- Gertraude Wähler Mittelpunkt der chend der Sollerfüllung gewährt (Schwarz- Familie schlachtung bedeutete Gefängnis!). Ich will das nicht weiter ausbreiten, aber Vieles von dem, was mein Mann dargelegt man kann sich sicher vorstellen, wie die Ein- hat, kann ich nur noch unterstreichen, haben stellung meiner Eltern und größeren Ge- wir doch das meiste gemeinsam durchlebt schwister zum Staat DDR war. Sie rieben sich und manchmal auch durchlitten. Ich möchte daran auf. Besonders mein Vater, ein diplo- dem Leser zum besseren Verständnis unserer mierter Landwirt, konnte dies nie verwinden, Familiengeschichte und der Motive unseres die Ohnmacht vergrub er oft in stiller Wut. Handelns noch einige biographische Ergän- Meine Mutter erkrankte an einem Gehirntu- zungen an die Hand geben. mor, musste lange leiden. Die Operation Auch ich bin Jahrgang 1944 und stamme wurde hinausgezögert, weil man nicht zuge- aus einer Bauernfamilie. Geboren bin ich in ben wollte, dass der dafür in Frage kom- Paschwitz bei Eilenburg, aufgewachsen auf mende Chirurg der DDR den Rücken gekehrt einem Hof in Kirchremda bei Remda. Diesen hatte. Sie verstarb 1958. Hof hatten meine Eltern nach familiären Erb- vorgängen 1952 käuflich erworben und wir Wir mussten den Hof unter übersiedelten dorthin. Ich war das jüngste von Polizeiaufsicht verlassen vier Kindern und wuchs in einer wertegepräg- ten und -vermittelnden Familie auf. Meine Auch nach dem Tod meiner Mutter ließen die Eltern waren im Herzen Gegner der sich her- Repressalien gegen unsere Familie nicht ausbildenden kommunistischen Diktatur und nach. Als sich mein Vater weiterhin weigerte, in deren zunehmenden Eingriffen und Repressa- die LPG einzutreten, wurden Gründe für lien gegenüber allen privatwirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gesucht und gefunden Initiativen. Wir waren Großbauern mit unse- z.B. eben Sollschulden. So wurde der Betrieb ren 49 Hektar. Großbauern wurden verteufelt über Nacht an die LPG zwangsverpachtet, als Ausbeuter, als Schieber, als Gegner der Treuhänder war der Rat des Kreises. Wir muss- Kollektivierung und damit als Klassenfeind. ten den Hof unter Polizeiaufsicht binnen Tagen Dementsprechend wurden sie behandelt. Ich verlassen, nur persönliche Dinge durften mit- habe dies in meiner Kindheit miterlebt, auch genommen werden. Lebendes und totes In- wenn mir viele Zusammenhänge erst später ventar wurde unter Wert geschätzt, so dass klar wurden. Da war die Zeit der Schaupro- das ganze einer Enteignung gleichkam, für zesse gegen Bauern in unserer Nachbar- die der Staat damals aber keine gesetzliche schaft, in Nachbardörfern. Da gab es will- Handhabe hatte. Ich will das heute nicht mehr

199 einklagen, will nicht rechten und nicht richten. gendweihe, um eine Außenseiterposition zu Doch ich wollte das auch ansprechen, um vermeiden, die wir als Eltern kannten. Wir stellvertretend zu zeigen, was viele Bauern- wollten ihnen vorleben, dass man auch in der familien in dieser Zeit erleiden und 30 Jahre DDR aufrecht gehen und sich im Inneren ohne Möglichkeit offener Aufarbeitung mit selbst treu bleiben konnte. Ich habe das auch sich herumtragen mussten. Deshalb war es für nach außen signalisiert, unter anderem als ich uns nach der Wende auch selbstverständlich, 1970 als Synodale am Kirchentag in Erfurt diese Flächen wieder zu bewirtschaften, so- teilnahm. Auch als Lehrerin wurde ich als weit sie nicht mit Hilfe des Aufbau-Gesetzes Christin stillschweigend toleriert. von 1952, gegen das man auch heute keine Unsere Kinder wurden zu Hause zu Of- Handhabe hat, enteignet worden waren. fenheit und freiem Ausleben ihrer Empfin- Im Jahr der Zwangsverpachtung schloss dungen erzogen. Soweit es die beschränkten ich die 8. Klasse ab und ging an die POS nach Möglichkeiten im Staat zuließen, ermöglich- Neusitz. Im Anschluss an die 10. Klasse wollte ten wir ihnen eine gewisse Weltoffenheit, die ich eigentlich Grundschullehrerin werden. Ich besonders unsere Tochter bis heute prägt. wurde abgelehnt, da mein Vater immer noch Beide Kinder legten 1990 das Abitur ab. nicht in der LPG arbeitete. Im damaligen Be- Susanne studierte in Erfurt und Jena Deutsch zirk Gera bemühte man sich zu dieser Zeit, die und Englisch für das Lehramt an Gymnasien. erste Klasse Berufsausbildung mit Abitur in der Im Rahmen des Studiums war es ihr jetzt Landwirtschaft im VEG Kleinaga zu bilden. In möglich, zwei Jahre in England, dem frü- dieser Klasse lernte ich von 1960 an und legte heren kapitalistischen Ausland, zu leben und 1963 die Abitur- und Facharbeiterprüfung er- zu arbeiten. folgreich ab. Danach studierte ich an der Humboldt-Universität Berlin Berufspädago- Die Kinder nahmen gik. Das Studium schloss ich 1968 als Di- unsere Werte an plomagrarpädagoge ab und arbeitete bis 1972 als Lehrerin. Wegen der Erziehung der Michael erkannte wie sein Vater die einmalige Kinder gab ich den Lehrerberuf auf, da eine Chance der Wende, sofort einen lebensfä- halbe Stelle damals nicht möglich war. 1973 higen Hof aufzubauen. Und so beschritt er mit begann ich, halbtags in der LPG zu arbeiten der Betriebsgründung den Weg in die wirt- und war unter anderem für die Dokumenta- schaftliche Selbständigkeit. Die Kinder nah- tion und die Auswertung der Schweinezucht- men also unsere Werte an und verinnerlichten ergebnisse verantwortlich. auch unsere Distanz zur überideologisierten DDR-Gesellschaft. Dies manifestierte sich bei Den Kindern einen gangbaren Weg Michael beispielsweise in der Wehrdienstver- ins Leben ebnen weigerung. Ängste und diffuse Befürchtungen bekam Nun aber weg von biographischen Fakten. ich aber 1989 in den Sommer- und Herbst- Sie zeigen vordergründig, wir hatten uns in der monaten. Da gingen wir mit den Kindern zu DDR eingerichtet, so gut es entsprechend un- jeder Demo nach Gera. Das war schon an- seres Lebensentwurfes möglich war. Vor allem ders als das vormalige Anecken Michaels in wollten wir unseren Kindern eine Lebensper- der Schule. Niemand wusste, ob der Staat spektive bieten, sie in unserem Sinne lebens- nicht zurückschlagen würde. Zum Glück ver- tüchtig erziehen. Der christlich-ethische Hinter- liefen diese Zeit und die Wende selbst fried- grund unserer Familie formte sie mit. Sie lich. Was dann in unserer Familie passierte, wurden getauft und später auch konfirmiert. weiß der Leser im Wesentlichen. Als Eltern waren wir aber bemüht, unseren Wir haben uns gemeinsam entschieden. Kindern gangbare Wege ins Leben zu ebnen. Auch ich wusste, was da auf uns zukam. Doch Dazu gehörte auch die Teilnahme an der Ju- ich wollte diese Chance genutzt wissen. Ich

200 bin sicher, wir haben das Richtige getan. Auch Mensch mitreden zu können, allein wenn ich wenn wir uns damit Mehrarbeit ohne abseh- an meine Schulzeit denke. Ich bin, wie schon bares Ende auferlegt haben. zu lesen war, christlich und damit zur Offen- Mit der Buchführung für beide Betriebe heit erzogen worden. Das ist mir mehr als ein- und einem kleinen Transportunternehmen als mal auf die Füße gefallen. Während meiner drittes Standbein bleibe ich wahrhaftig nicht Berufsausbildung mit Abitur, die ich 1990 unterfordert. Dazu habe ich auch noch die abschloss, gab es für das einfache Bekenntnis Direktvermarktung unserer Produkte mittels zum Glauben oder zu pazifistischen Gedan- Hofladen in meiner Regie. Und was an Haus- ken Repressalien. Das Tragen von Symbolen arbeit in einer Bauernfamilie zu tun ist, muss wie Vertrauen wagen oder Schwerter zu ich wohl nicht besonders betonen. Pflugscharen wurde als DDR-feindliches Ver- halten ohne Diskussion geahndet. Ich habe Michael Wähler diese Abzeichen getragen, aber ihre Botschaft Jungbauer nicht bis zur Endkonsequenz wie Strafverfol- gung, Berufsverbot oder Ausweisung vertre- Die Wende und die deutsche Wiedervereini- ten. gung betrachte ich als einzigartigen Glücks- Auch wenn ich solches Verhalten be- fall für die Menschen in unserem Land, für kannter DDR-Kritiker hoch achtete, wollte ich Politik und Wirtschaft im Allgemeinen und für kein Held in diesem Sinne sein, denn der mich als selbstständigen Jungbauern im Be- Schaden für mich und die Familie wäre sonderen. Den Umbruch von 1989/90 halte unwägbar groß gewesen. Es war schon prob- ich politisch für mich als das wichtigste Er- lematisch genug, sich überhaupt in kritischer eignis der deutschen Geschichte des 20. Jahr- Distanz zur offiziellen Linie zu bewegen, oh- hunderts, weil er dem Willen der Menschen ne seine Berufsziele zu gefährden. Ich verwei- entsprach, demokratisch und vor allem ohne se nur auf ein Beispiel. Noch unmittelbar nach Gewalt verlief. der Grenzöffnung wurde mir trotz Entschul- Weshalb ich dies so uneingeschränkt aus- digung eine Fahrt nach Westberlin als Verstoß spreche, dürfte jedem Leser unserer Fami- gegen die Schulordnung ausgelegt und mein liengeschichte klar sein. Meine Eltern und Ausschluss vom Abitur erwogen. Solche Gän- Großeltern haben ganz andere Umbrüche gelei und Bevormundung ist glücklicherweise erleben und erleiden müssen, die ihnen keine vorbei, das Experiment Sozialismus ist offen- Gestaltungsmöglichkeiten eröffneten, son- sichtlich misslungen und schon fast Ge- dern verbauten. Deshalb bin ich für das schichte. Vieles daraus muss aufgearbeitet Geschenk der Wende von 1989 dankbar, werden. eben weil ich sie als Chance für die junge Generation begriffen und angenommen ha- Kontakte zu russischen be. Auch wenn an den damit verbundenen Landwirten pflegen Möglichkeiten nicht alle gleichzeitig teilhaben konnten und sicher auch unverschuldet so- Das meine ich durchaus nicht polemisch. ziale Härten verkraftet werden mussten, die Sonst würde ich nicht mit meinem Vater zu- Möglichkeit freier Selbstbestimmung für alle sammen Kontakte zu russischen Landwirten kann nicht hoch genug geschätzt werden. pflegen. Dies geht auf einen Vortrag meines Und allen alles gleichzeitig geben, geht wohl Vaters zur privaten Umgestaltung der Land- in keiner Gesellschaft. wirtschaft zurück, den er vor einem russischen Von dem Versuch der Gleichmacherei und Landwirtschaftskongress hielt. In diesen Er- politischen Bevormundung in der DDR hatte fahrungsaustausch hat mich mein Vater von die Mehrheit die Nase voll. Das habe ich Anfang an eingebunden. Seit Dezember 98 während der Demonstrationen im Herbst 1989 gibt es gegenseitige Kontakte und Besuche. erlebt. Deshalb glaube ich auch als junger Bei uns war zum Beispiel eine Delegation der

201 russischen Duma mit dem stellvertretenden forderung. Und es ist schön zu wissen, dass Landwirtschaftsminister zu Gast. Und es ist ich dabei immer auf die Erfahrungen meiner schön und macht auch ein wenig stolz, wenn Eltern zurückgreifen, aber auch eigene Ideen ich als junger Mensch schon Einiges weiter- umsetzen kann. Das ist eben so in einer geben kann, um anderen in ähnlichen Um- Bauernfamilie. Wir stehen unserer Tradition bruchsituationen helfen zu können. Natürlich gemäß generationenübergreifend zusam- nutze ich dabei auch die berufliche Erfahrung men. meines Vaters. Für uns gilt auch das alte Goethewort: Überhaupt habe ich meinen Eltern vieles Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb zu verdanken. Allein hätte ich eine solche es, um es zu besitzen. Und diesen Gefallen Hofstelle, wie ich sie jetzt besitze, nicht ein- werden meine Schwester und ich unseren richten können. Einen solchen Betrieb zu Eltern gerne tun, in Achtung und Dankbarkeit managen ist schon eine lohnende Heraus- für die Chancen, die sie uns eröffnet haben.

202 Joachim Wanke: Bischofsdienst in gewendeten Zeiten

schwister. Thüringen, seine Berge und Täler, Joachim Wanke: die Menschen und ihre Schicksale sind mir, Geboren 1941 in Breslau kam er als dem Nicht-Einheimischen, hier emotional na- junger Mann von Schlesien nach he gekommen. Noch heute empfinde ich Il- Ilmenau. menau und seine Umgebung als Heimat, Das Abitur legte er an der Goethe- Oberschule Ilmenau ab. Danach nicht zuletzt auch wegen der Pfarrgemeinde, folgte ein Studium am Philoso- in der ich viele Freunde gewann, aber auch phisch-Theologischen Seminar in Er- wegen der Klassengemeinschaft, die sich furt. 1966 Priesterweihe im Dom zu Erfurt, bis 1969 war er im Seel- heute noch trifft – trotz der unterschiedlichen sorgedienst in Dingelstädt tätig. Wege, die die Einzelnen gegangen sind. Danach folgten ein Aufbaustudium, die Promotion und danach die Arbeit Deutliche Staatsdistanz des als Dozent und später als Professor an der kirchlichen Hochschule in Heranwachsenden Erfurt. 1980 wurde Joachim Wanke zum Nachfolger des schwer erkrankten Die Beheimatung im kirchlich-katholischen Bischofs Aufderbeck ernannt. Seit 1981 leitet er den Bistumsbereich Umfeld brachte für den heranwachsenden Ju- Thüringen, das heutige Bistum Er- gendlichen eine deutliche Staatsdistanz mit furt. sich. Die älteren Geschwister gingen nach dem Westen. Die Mutter, die sich als einfache Die tief greifende Zäsur der politischen Arbeiterin in einem Elektrobetrieb eine Exi- Wende habe ich in Thüringen als katho- stenz geschaffen hatte, wollte bleiben, zumal lischer Bischof erlebt. Ich sage im Blick auf sie selbst noch ihre betagte Mutter bei sich meine Biographie vorweg gleich meine Grund- hatte. Ich selbst entschloss mich für den Beruf these: Mir ist als Bürger und Kirchenmann der als katholischer Geistlicher. Deshalb ging ich Staat abhanden gekommen – aber nicht mei- nach Erfurt an das Philosophisch-Theologi- ne Heimat! Ich sage dies, obgleich ich selbst sche Studium. Diese kirchliche Hochschule nicht in Thüringen, sondern 1941 in Breslau war dem Einfluss des ehemaligen Hochschul- geboren wurde. Von Geburt bin ich also ministeriums entzogen, freilich sorgfältig be- Schlesier, aber dem Gefühl und der konkreten obachtet und überwacht, wie nach der Wende Erfahrung nach Thüringer. Der Zufall, nä- aus den MfS-Unterlagen zu ersehen war. Ich herhin die Möglichkeit, beim Bruder meines wurde 1966 im Dom zu Erfurt zum Priester ge- Vaters Unterkunft zu finden, brachte mich mit weiht und war drei Jahre im Seelsorgedienst in meinen zwei Geschwistern und meiner Mutter Dingelstädt (Eichsfeld). Dann wurde ich zu nach Ilmenau. Der Vater war schon 1944 ver- einem Aufbaustudium wieder nach Erfurt ge- storben. Hier in Ilmenau verbrachte ich die rufen, promovierte mit einem biblischen The- Jahre meiner Kindheit und Jugend bis zum ma und wurde Dozent und später Professor an Abitur in der Goethe-Oberschule. Es waren der genannten Hochschule. 1980 wurde ich Jahre des Mangels und der Entbehrung, die zum Nachfolger des schwer erkrankten Vor- ich als Kind freilich weniger wahrgenommen gängerbischofs Hugo Aufderbeck ernannt habe als meine Mutter und die älteren Ge- und seit dessen Tod im Januar 1981 leite ich

203 den Bistumsbereich Thüringen, das jetzige Bistum Erfurt. Das einschneidendste Erlebnis meiner Dienstjahre als Bischof war ohne Zweifel die politische Wende 1989/90. In meinen letz- ten Dienstjahren in der DDR-Zeit wurde deut- lich, dass das alte System innerlich ausge- höhlt war. Es war auf Machterhalt bedacht und weniger auf die Gewinnung der Köpfe und Herzen der Menschen ausgerichtet. Be- sonders die innere Distanz zu dem Reform- kurs, der durch Gorbatschow in der Sowjet- union eingeleitet wurde, machte mich sehr nach- denklich. Freilich: Ein schnelles Ende der DDR habe ich mir bis in den Sommer 1989 hinein nicht vorstellen können.

Hoffnung auf die Einheit Deutschlands

Die Hoffnung, dass einmal die Einheit Deutschlands kommen würde, war in mei- aufhörte zu bestehen. In Kurzfassung: Wir le- nem kirchlichen Umfeld sehr wach. Wir ha- ben jetzt auch kirchlich ehrlicher als früher. An- ben immer wieder in den Gemeinden und passung und Leisetreterei sind in einem re- persönlich um die Einheit Deutschlands ge- pressiven Staat nichts Unnormales, aber eben betet. Der Blick in die Geschichte zeigt ja, wie auch nichts Gutes. Was Kirchen und christli- auf Unfreiheit und Lüge gebaute Systeme cher Glaube an geistiger Widerstandskraft letztlich nicht lange halten. Doch ob ich das gegen die alte Ideologie mobilisiert haben, noch persönlich erleben würde, war mir (und muss sehr gewürdigt werden. Aber auch das sicherlich vielen anderen) sehr zweifelhaft. Leben in einem geistigen Gefängnis macht Im Prozess der Wende und unmittelbar da- „blind“. Zwar hat die DDR-Zeit viel zwischen- nach habe ich deutlich gesehen, was eine menschliche und kirchliche Grundsolidarität christlich profilierte Biographie bedeuten unter den Leuten erzeugt, aber die vom Staat kann. Frauen und Männer, die aus der Arbeit erzwungene gesellschaftliche Isolierung un- der Studentengemeinden kamen, aus der serer Kirche hat ihr nicht gut getan. Es ist gut, Gremienarbeit der Pfarreien oder die sich wenn nun die Kirchen und jeder einzelne sonst ein Gespür für eine unverbogene Christ positiv, und nicht nur durch Verweige- Existenz bewahrt hatten, brachten sich in die rung, zeigen können, was der christliche Wendeereignisse ein. Nicht alle hielten dann Glaube zur humanen Gestaltung eines Ge- später dem stand, was die konkret gesell- meinwesens beiträgt. schaftliche Verantwortung von ihnen ver- langte. Aber sie haben doch entscheidend mit Transformationen des Christentums dazu beigetragen, dass es nicht nur zu einer im Vergleich mit der Wende politischen, sondern auch zu einer gesellschaft- lichen Wende hier im Osten Deutschlands kam. Was hat die Wende für uns als Kirche bewirkt? Wenn ich persönlich meine Erfahrungen Ich verweise als geschichtliche Analogie für mit der Wende reflektiere, so muss ich sagen: den Zusammenhang zwischen kirchlicher Ar- Ich bin auch im Blick auf die seelsorglich- beit und konkreter „Heimat“ der Christen auf kirchliche Arbeit dankbar, dass die alte DDR die Apostelgeschichte des Neuen Testamen-

204 tes. Wer die harmonisierende Darstellung der kommt. Wandel und Erneuerung, Umbruch, frühen Kirchengeschichte in der Apostelge- Abbruch und Neuanfang in der Kirchenge- schichte nachliest, wird erst auf den zweiten schichte erfolgten immer so, dass einzelne Blick die Brüche und Spannungen entdecken, Menschen Zeichen setzen, beispielhaft han- die mit dem „Weg“ des Evangeliums von deln, in Worten und noch mehr durch ihr Tun Jerusalem nach Rom, in die hellenistische andere inspirieren und so zum Ferment wer- Welt hinein verbunden waren. Ich meinte den, durch das eine Gesellschaft vom christ- nach der politischen Wende zunächst auch, lichen Glauben „eingefärbt“ wird. dass die Umstellung des politischen und wirtschaftlichen Systems im Osten Deutsch- Der Hunger nach Leben bleibt und lands uns als katholische Ortskirche wenig die Suche nach Erfüllung berühren würde. Ich habe mich in dieser Ein- schätzung korrigieren müssen. Das ist uns jetzt nach der Wende ange- Der Vergleich der „Wende“ in Ostdeutsch- sichts eines veränderten geistigen und gesell- land und Osteuropa mit den Transfor- schaftlichen Kontextes neu aufgetragen. Das mationen, denen das Christentum auf seinem Gesellschaftssystem hat sich zwar geändert, Weg aus dem jüdischen Binnenraum in die aber die Menschen mit ihren alten und neuen Welt des Hellenismus ausgesetzt war, mag et- Fragen, Ängsten und Sehnsüchten sind die was weit hergeholt sein. Dennoch wage ich gleichen geblieben. Die Grundsolidarität mit einmal diesen Vergleich, weil ich meine, dass den Menschen und das Hinhören auf die im- Paulus und die christlichen Missionare im mer aktuelle Botschaft des christlichen Glau- Raum des spätantiken Hellenismus ver- bens sind die beiden Spannungspole, die gleichbare Aufgaben zu lösen hatten wie wir kirchliches Arbeiten und Seelsorge immer in- jetzt in der ehemaligen DDR und in den post- teressant machen. kommunistischen Ländern Europas. Paulus Was ich aus meiner „Wendebiographie“ wirkte in einer Welt, in der die überkom- lerne? Der Marxismus östlicher Prägung hatte menen religiösen Großmythen ihre stabilisie- die Sinngebung menschlichen Lebens auf ein rende Kraft verloren hatten. Die „Heimat“ des imaginäres kommendes Paradies auf Erden Paulus war die Stadtluft von Tarsus, von Ko- verlagert. Der Waren- und Genussfetischis- rinth und Ephesus. In dieser Welt des Paulus mus der liberalen Gesellschaft westlicher Prä- war der religiöse Synkretismus modern. Die gung „vertröstet“ auf den unmittelbaren Ge- Menschen wurden von existentiellen Ängsten nuss im Hier und Jetzt. Mich lehrt der Blick auf und Verlorenheitsgefühlen umgetrieben. Sie die Menschen hier in Thüringen: Der „Hun- warfen sich östlichen Mysterienkulten in die ger“ nach Leben bleibt und die Suche nach Er- Arme wie heutzutage manchen fragwürdigen füllung geht weiter. Das ist meine tägliche Esoterik-Kulten. Erfahrung – nicht nur bei meinen Thüringer Der christliche Glaube kann nur das Herz Landsleuten, auch bei mir selbst. So geht und das Denken der Menschen erreichen, beides für mich zusammen: mein Dienst und wenn er sich „inkulturiert“ – also eine Gestalt meine Thüringer „Heimat“. Nochmals: Der gewinnt, in der die Botschaft Jesu Christi mit alte Staat ist zwar abhanden gekommen – aber dem Alltag der Menschen in Berührung dieses Land und seine Menschen bleiben.

205 Manfred Weißbecker: Ich habe viel aus dem Scheitern der DDR gelernt

ich auch, über Möglichkeiten zur Verhinde- Professor em. Dr. phil. rung von Kriegen nachzudenken. Manche Ant- habil. Manfred Weißbecker: worten auf meine Fragen erhielt ich zwei Jahre Geboren 1935 in Chemnitz. Erleb- später, als ich mit meiner Mutter aus einem nisse in den letzten Kriegstagen und die Entdeckung dessen, was in dänischen Zivilinternierungslager nach Wei- Buchenwald und anderen Konzen- mar kam, hier Erschreckendes über Buchen- trations- und Vernichtungslagern wald erfuhr und von Häftlingen dieses Kon- für Verbrechen begangen wurden, zentrationslagers hörte, was sie dort erlebt führten zur Abwendung vom unpoliti- schen Leben. 1953 wurde Manfred und dass sie nach ihrer Befreiung geschworen Weißbecker Mitglied der SED. Bis hatten: „Nie wieder Krieg! Nie wieder 1958 studierte er Geschichte an der Faschis-mus!” Friedrich-Schiller-Universität Je- na. 1972 wurde er dort zum Professor für deutsche Geschichte berufen, Hinwendung nach dem Krieg zu war ab 1983 Dekan der Gesellschafts- aktivem Tätigsein-Wollen wissenschaftlichen Fakultät. Nach der Wende als Professor abgewi- ckelt. Seit 1994 Vorsitzender des Auch im Nachhinein denke ich: Es waren fol- PDS-nahen Thüringer Forums für gerichtige, sinnvolle und keineswegs mir „ver- Bildung und Wissenschaft. ordnete“ Schritte, die ich damals gegangen bin. Es begann mit der Abwendung vom Befragt nach meiner Rückschau auf die „Wen- bislang unpolitischen Leben des Kindes und de“ von 1989/90 sowie nach den Ursachen der Hinwendung des Jugendlichen zu aktivem meines Verhaltens vor und nach dieser Zeit Tätigsein-Wollen gemeinsam mit anderen suchend, erinnere ich mich an mehrere be- und für alle. Alte gesellschaftliche Verhältnisse merkenswerte Ereignisse. Nur auf zwei sei hier zu beseitigen, Neues und Besseres, vor allem verwiesen, da sie gewissermaßen meinen Friedlicheres schaffen zu wollen, das erschien Weg geprägt haben: Das eine erlebte ich als jeder Unterstützung wert. Nahezu euphorisch Zehnjähriger: Am 5. März 1945 klinkten sang ich als Mitglied der Freien Deutschen Ju- mehrere Geschwader der Alliierten ihre Bom- gend mit Klassenkameraden und Freunden benlast über meiner Geburtsstadt Chemnitz von Trümmerbeseitigung und vom Aufbau, aus. Erstmalig – zuvor lebte ich in einer klei- sowie über Brüder in der Arbeiterschaft, die nen schlesischen Stadt bei meinen Großeltern gemeinsam den Weg zu Sonne und Freiheit – begegneten mir Fliegeralarm, Lebensangst suchen, und ebenso Lieder, die der weißen im Luftschutzkeller, Feuerstürme in Straßen- Taube als dem Symbol des Friedens galten. schluchten und zu Ruinen zerfallene Häuser. Empört zeigte ich mich über die Auffassung Dem Tod selbst knapp entkommen und das Konrad Adenauers, dass es ihm lieber war, Leben vieler Menschen ausgelöscht zu sehen das halbe Deutschland ganz zu haben als – das war mehr als nur ein kurzzeitig wir- über ein einheitliches Deutschland nur halb kender Anlass, nach dem „Warum“ zu fragen verfügen zu dürfen. „Deutsche an einen Tisch”, und den (Un-)Sinn von Kriegen erkunden zu dieses Schlagwort, das einen Weg zur Wie- wollen. Mit solchen Bildern vor Augen begann dervereinigung des gespaltenen Landes wei-

206 sen sollte, empfand ich als vernünftig; pro- blematisch schien es mir dennoch schon, mit der Regierung eines Staates gemeinsame Po- litik zu machen, die weitaus weniger als die der DDR für eine gerechte Bestrafung deut- scher Kriegsverbrecher sorgte, die hohen und höchsten NSDAP-Politikern Gelegenheit für neue Ämter und Pfründe bot und die so kurze Zeit nach dem Krieg – wie es schien: provo- kativ – Wiederaufrüstung betrieb. Ein anderer 5. März – es war der des Jah- res 1953 – gab meinem Leben eine weitere Wendung. Kurz vor dem Abitur bat ich um Aufnahme in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. An diesem Tag war Stalin ge- storben. Er galt als der Sieger über Hitler und über den für den Zweiten Weltkrieg verant- wortlichen deutschen Faschismus, als der Ga- rant von Völkerverständigung und Frieden, als der Führer in eine sozialistische Zukunft. So zumindest hat Propaganda im Lande die Men- schen glauben machen wollen; gegenteilige Ende des Ersten Weltkrieges und während der Nachrichten aus westlichen Gefilden konn- Novemberrevolution von 1918/19. Zum or- ten mich wie viele andere damals nicht er- dentlichen Professor für deutsche Geschichte schüttern, war doch zu argwöhnen, auch sie wurde ich 1972 berufen und 1983 als Dekan würden verbreitet, um neue gesellschaftliche der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät Verhältnisse zu verhindern, alten Völkerhass an der FSU gewählt. und Kriegsgeschrei befördern, die es eben zu Lehrveranstaltungen, Forschungsarbeiten überwinden galt. Mein Entschluss stand fest: und Leitungstätigkeit füllten den Alltag aus, Das notwendige Ringen gegen neuerliche und das sowohl mit allen Freuden, die denk- Kriegsgefahren und für eine künftige Gesell- bar sind, als auch mit allem Ärger, der nirgen- schaft, die Frieden und ein menschliches Mit- dwo ausbleibt. Freude verspürte ich in der Fa- einander bringen sollte, musste nach Stalins milie und im Freundeskreis, ebenso über An- Tod mit neuen Kräften, also auch mit meinen schaffungen, die das Leben angenehm mach- fortgeführt und verstärkt werden. ten: Wohnung, Fernsehapparat, Waschma- schine, Auto usw. Mehrere erlebnisreiche Examensarbeit über den Urlaubsreisen führten in osteuropäische Län- antifaschistischen Widerstand der. Freuen konnte ich mich zudem über jede Publikation, die ich veröffentlichen konnte. Geschichte zu studieren und Lehrer zu wer- Stolz war ich auch auf die Erfolge kollegial den – das füllte die Jahre bis 1958 aus. Am erarbeiteter größerer Projekte, nicht zuletzt Historischen Institut der Jenaer Friedrich- wegen der enormen Beachtung, die das von Schiller-Universität beschäftigte ich mich mit den Jenaer Historikern zu Beginn der 1980er der jüngsten Vergangenheit: Es entstand eine Jahre geschaffene vierbändige „Lexikon zur Examensarbeit über den antifaschistischen Geschichte der bürgerlichen Parteien und Widerstand von Kommunisten in Thüringen, Verbände in Deutschland von 1789 bis 1945“ später eine Doktorarbeit über die Jahre 1933 fand. Kollegen aus der DDR und anderen so- bis 1935 und danach eine Habilitationsschrift zialistischen Staaten gratulierten. Anerkennung über die deutschen bürgerlichen Parteien am sprachen desgleichen westdeutsche Historiker

207 aus, verbunden mit Einladungen zu Vorträ- in Handel und Versorgung, empfand ich als gen und Seminaren. Gern erinnere ich mich unumgängliches Übel, wohl auch als Folge an Veranstaltungen der Historischen Kom- des gegen die DDR gerichteten Embargos mission beim Parteivorstand der SPD, an Kon- westlicher Staaten, anderes – z.B. die selektive ferenzen in den USA und den Niederlanden. und doppelzüngige Informationspolitik – mehr Seit 1987 war ich auch an den Bemühungen als ein Ergebnis unzureichender Führung. Prak- west- und ostdeutscher Historiker beteiligt, mit tische Konsequenzen aus der anwachsenden gemeinsamen Publikationen zum 50. Jahres- kritischen Nachdenklichkeit beschränkten sich tag der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges jedoch auf den Versuch, selbst stärker Einfluss und zwei Jahre darauf zum Jahrestag des zu nehmen und zumindest im eigenen Wir- faschistischen Überfalls auf Russland in Er- kungskreis andere Prinzipien demokratischen scheinung treten wollten. Da entstanden Kon- Miteinanders und – z.B. in der Hochschul- und takte, die vermuten ließen, Historiker aus der Berufungspolitik – primär wissenschaftsadä- DDR würden nun endlich als Partner und quate Kriterien durchzusetzen. leistungsstarke Wissenschaftler be- und ge- Beruhigend empfand ich, dass kritische achtet, und dies unabhängig von der Tatsa- Einschätzungen durchaus nicht immer ergeb- che, dass sie sich als Verfechter des Marxis- nislos blieben. Beispielsweise bewirkten die un- mus und als deutsche Sozialisten verstanden. ter den DDR-Historikern geführten Debatten über Erbe und Tradition sowie über die Ge- Eine neue militärische Katastrophe schichte der deutschen Nation und über ihren zu verhindern besaß Priorität Beitrag zur Weltkultur offensichtlich, dass die von Erich Honecker in Umlauf gebrachte The- Auch dies mag dazu beigetragen haben, dass se von der Entwicklung einer sozialistischen bis 1989/90 der Gedanke nicht aufkam, in deutschen Nation in der DDR bald wieder in Deutschland und in der Welt könnte sich der Versenkung verschwand. Auf dem letzten gleichsam über Nacht alles grundlegend Historiker-Kongress der DDR (Januar 1989) verändern, es sei denn durch einen neuen und konnte offen über den deutsch-sowjetischen mit Atomwaffen geführten Weltkrieg, in dem – Pakt vom 23. August 1939 und seine Folgen wie es hieß – als zweiter sterben würde, der als diskutiert werden, obgleich kurz zuvor das erster geschossen hatte. Eine neue militä- diesem Thema gewidmete „Sputnik“-Heft ver- rische Katastrophe zu verhindern besaß Prio- boten worden war. Und in dem von den mei- rität in allem Denken und Handeln; „Pro pace sten Teilnehmern besuchten Arbeitskreis wur- mundi” (Für den Frieden der Welt) – so lautete den nachdrücklich Defizite des Antifaschismus daher der Titel einer von mir herausgegebe- in der DDR thematisiert. nen Schriftenreihe der Jenaer Universität. Da- rin fand Unterstützung, was als Politik einer Unbeweglichkeit und Erstarrung „Koalition der Vernunft” gegen das Wettrüsten riefen Besorgtheit hervor und für eine friedliche Überwindung des Kal- ten Krieges sowohl von der DDR als auch von Ziel allen Unmutes, aller Gestaltungs- und Ver- einigen Politikern der BRD initiiert worden ist. änderungsbestrebungen war indessen in erster Heute frage ich mich auch, wann und wie Linie die überalterte Parteiführung. Deren Un- in mir Unbehagen darüber aufkeimte, dass beweglichkeit und Erstarrung riefen Besorgt- aus meiner Parteiverbundenheit ein partei- heit hervor, fragendes Erstaunen ob der Un- isches Gebundensein an die SED entstanden willigkeit, sich nicht den Forderungen von war. Vor allem während der 1980er Jahre „Glasnost” und „Perestroika“ öffnen zu wol- wuchsen Unzufriedenheit und Verärgerung len. Mir schienen diese wie vielen anderen über bestimmte Zustände in der DDR und in auch berechtigt zu sein, weil sie nach einem der SED. Einiges, darunter manchen Mangel besseren Sozialismus verlangten. In der zwei-

208 ten Hälfte der 1980er Jahre wich das Erstau- schattet vom Verdruss über die Art und Weise, nen immer mehr einer Entrüstung über die wie sie vollzogen wurde, und mehr noch von Hilf-, Rat- und Tatenlosigkeit angesichts der der Furcht vor einer Rückkehr überwunden immer größere Dimensionen annehmenden gehoffter kapitalistischer Verhältnisse. Anläs- Flucht von DDR-Bürgern, erst recht über den se zu Protesten boten sich bald zuhauf, im furchtbaren Satz Honeckers, man brauche Großen wie im Kleinen. denen keine Träne nachzuweinen. Aber un- Mir missfiel, dass mit dem Ende der DDR ser Drängen auf einen Wandel, der dem Staat zugleich alles strikt beseitigt werden sollte, größere Attraktivität hätte sichern können, was in ihr das Leben lebenswert gemacht erfolgte ohne Konzept, ohne konkrete Vor- hatte, dass alles „delegitimiert“ werden sollte stellungen darüber, wie sich ein Übergang (wie vom damaligen Bundesjustizminister vom so genannten demokratischen Zentralis- Klaus Kinkel offiziell verkündet wurde), was mus – hinter diesem Schlagwort verbargen sich die DDR als eine Alternative zur bürgerlichen die politbürokratischen, letztlich stalinistische Gesellschaft erscheinen ließ, dass geistige Strukturen der SED – zu einem demokrati- „Aufarbeitung“ zwar berechtigt gefordert, in- schen Sozialismus vollziehen ließe. dessen praktische „Abwicklung“ in die Ar- So erlebte ich die „Wende” im Herbst 1989 beitslosigkeit betrieben wurde. All das er- eigentlich recht sprachlos. Wenig blieb noch schien mir in erster Linie als Ausfluss eines zur Verteidigung dieser Partei- und Staatsfüh- hasserfüllten Unverstandes und bedenkenlo- rung zu sagen, leider auch nicht allzu viel über sen Eroberungsgehabes, die Sieger immer in die Möglichkeiten einer Erneuerung der DDR, der Geschichte an den Tag gelegt hatten. Die mehr jedoch bereits über neue Gefahren, die Diskrepanz zwischen hehren Worten und tat- sich auftaten, als auf den Straßen plötzlich sächlich betriebener Politik – in und an der „Wir sind ein Volk” gerufen wurde und nicht DDR mit Recht kritisiert – nahm neue Gestalt mehr das – sozialistische Demokratie hei- an, und diese empfand ich nicht weniger ab- schende – „Wir sind das Volk”. Missmut und stoßend als jene, die nun der Vergangenheit Entmutigung, Niedergeschlagenheit und Re- angehörte. signation bestimmten für mehrere Wochen und Monate mein Denken. Zugleich nahm Die „Abwicklung” an der darin eine bislang unbekannte Furcht vor der Jenaer Universität Zukunft mehr und mehr Raum ein. Mich traf die „Abwicklung” an der Jenaer Uni- Skeptischer Optimismus in Partei versität – sie betraf 95 Prozent aller Pro- des demokratischen Sozialismus fessoren und Dozenten im Bereich der Gei- steswissenschaften – gleichsam ins Mark. Sie Man könnte es vielleicht skeptischen Opti- bewirkte eine einschneidende „Wende” mei- mismus nennen, den ich in der neuen Partei nes Lebens und hinterließ schmerzhafte Wun- des demokratischen Sozialismus empfand, den. In die Arbeitslosigkeit abgeschoben, als obgleich ich sie angesichts der Nachrichten Hochschullehrer und Wissenschaftler diffa- über die finanziellen Praktiken ihrer Führung miert, mit haltlosen Vorwürfen konfrontiert so- verließ. Mit größeren Zweifeln und – wie es wie weitgehend der notwendigen finanziellen sich bald herausstellte: mit berechtigtem Mittel beraubt, in Archiven und Bibliotheken Misstrauen – begegnete ich allerdings jenen zu arbeiten, was für Historiker unumgänglich Kräften, die vorgaben, eine bessere DDR zu ist – das prägte nunmehr meinen Alltag. Hinzu wollen, sich jedoch rasch den etablierten Par- kam, dass manche Kolleginnen und Kollegen teien der Bundesrepublik anschlossen und nun meinten, die eigene Haut auf Kosten an- von diesen zunächst hofieren, rasch aber völ- derer retten zu können. Das Schlagwort von lig vereinnahmen ließen. Jede Freude über den „Wendehälsen” machte die Runde; man- die deutsche Wiedervereinigung war über- che meinten gar, bei zufälligen Begegnungen

209 auf die andere Straßenseite gehen zu müssen, tenspositionen fand. Verändert habe ich mich, um sogar jeden Gruß zu vermeiden. Auch das doch nicht „gewendet”. Im Grunde glaube Verhältnis zu früheren sozialdemokratischen, ich, sehr viel aus dem Scheitern der DDR ge- liberalen und konservativen Partnern aus den lernt zu haben: Politischen Disziplinforderun- alten Bundesländern änderte sich – jetzt gen und jeglichen Instrumentalisierungsver- schien allein Konkurrenz zu dominieren und suchen will ich mich nicht mehr unterwerfen. alle Kollegialität überholt. Selbst auf üble An allem, was mir vorgesetzt wird, zweifele ich Tricks wollten einige der ausschließlich aus ganz bewusst. Nachdenklichkeit halte ich dem Westen neu berufenen Professoren nicht auch dann für angebracht, wenn etwas auf verzichten; unvorsichtig erzählte ich einem den ersten Blick einzuleuchten scheint. Erst ein von meinen künftigen wissenschaftlichen Vor- zweiter, dritter oder vierter Blick bringt Er- haben und fand deren Themen später in sei- kenntnis. Entscheidungen möchte ich grund- nem Veranstaltungsprogramm, erhielt aber sätzlich erst dann fällen, wenn abzuwägen keine Einladung, daran mitzuwirken. war, was für und was gegen sie spricht, wenn dem Wust an den – oftmals irreführenden – Banale „Argumente” bei der Informationen zahlreicher Medien ein wahr- „Abwicklung” der DDR-Eliten heitsgemäßer Kern entnommen werden konnte. Auch auf recht banale „Argumente“ stieß ich: Das gilt im persönlichen Leben wie im Be- Als ich mit einem von ihnen über die zehn trachten der großen Politik. Letztere erweckt Monate währende Nichtauszahlung meines indessen mehr und mehr Verdruss, Wider- Gehalts sprach, auf Hilfe gegen unberech- spruch und Empörung. Von Vertrauen kann tigte, ja rechtswidrige Behandlung hoffend, keine Rede sein, zu weit klaffen schöne Worte erklärte dieser: Das sei doch eine Angele- und die Realität auseinander, zu stark sehe ich genheit der Universitätsleitung, nicht die sei- da allein egoistische Interessen vertreten, wo nige – er könne sich da nicht einmischen. Ob vorgeblich für das Wohl der Allgemeinheit ge- er verstanden hat, wie sehr sein Verhalten wirkt werden soll. Von Moral, von ethischen gerade dem glich, was uns vorgeworfen und Normen und der ansonsten viel gepriesenen überall als Beweismittel ins Feld geführt wor- Menschlichkeit vermag ich im Wirken der eta- den ist, wo kein tatsächliches Fehlverhalten blierten Parteien und der Regierungen auf feststellbar war? Sich nicht „eingemischt“ Bundes- und Landesebene nichts zu erken- oder keinen Widerstand gegen die DDR-Ob- nen. rigkeit gewagt zu haben – all das tauchte unter den Begründungen auf, welche die an- Zur Geschichte des deutschen gebliche Notwendigkeit einer totalen und Parteienwesens arbeiten mehr als eine Millionen Menschen betreffen- den „Abwicklung” der DDR-Eliten rechtferti- Am häuslichen Schreibtisch befasste und gen sollten. befasse ich mich viel mit dem deutschen Par- Ich frage mich darüber hinaus: Wie wird teienwesen und seiner Geschichte. Daraus er- wohl die Geschichte darüber urteilen, dass wuchs ein Buch über die Geschichte der den zuvor selbst von vielen Intellektuellen der NSDAP,geschrieben gemeinsam mit dem Ber- BRD anerkannten Vorzügen des Hochschu- liner Historiker Kurt Pätzold. Mit ihm zu- lwesens der DDR rigoros der Garaus gemacht sammen verfasste ich auch Biographien über und diesem ein Bildungssystem übergestülpt Adolf Hitler – ein bereits in der DDR verfolgtes, wurde, das in den alten Bundesländern be- aber leider nicht zu verwirklichendes Ziel – reits seit langem als überholt und reformbe- sowie über Rudolf Heß. In den Versuchen, aus dürftig galt? dem geschichtlichen Wirken von Parteien und Es dauerte ungefähr ein Jahr, bis ich für ihren Führungen Zukunftsträchtiges abzu- mich selbst zu neuen Lebens- und Verhal- leiten, stoße ich jedoch auf Tatsachen und

210 Entwicklungsprozesse, die für die weitere Ent- sichtigt wird. Seit 1994 bin ich als Vorsitzen- wicklung der Verhältnisse in Deutschland Ge- der des „Thüringer Forums für Bildung und genteiliges schlussfolgern lassen. Wissenschaft e.V.” tätig. Dieser Verein ist aus Trotz aller Skepsis will ich jedoch Mensch- einem Diskussionskreis früherer Hochschul- heitsträume, Friedens- und Gerechtigkeits- lehrer der Jenaer Universität hervorgegangen ideale nicht aufgeben. Ich will dort für sie ein- und leistet seit Ende der 1990er Jahre als Ko- treten, wo sie am ehesten noch im Blick sind. operationspartner der Rosa-Luxemburg-Stif- Parteien existieren nun einmal, und ohne sie tung in Thüringen politische Bildungsarbeit im wird es wohl auf absehbare Zeit kein de- Umfeld der PDS. Er fühlt sich dem Erbe der mokratisches Regierungssystem geben. Also Aufklärung und kritischen Gesellschaftsthe- entschied ich, mich mit den mir verbliebenen orien des 19. und 20. Jahrhunderts sowie Möglichkeiten des gesprochenen und ge- geistigen und kulturellen Traditionen Thü- schriebenen Wortes für jene einzusetzen, die ringens verpflichtet und betrachtet die Dis- zwar in meinen Augen durch ihre Einbindung kussion über alternative ökologische und in das bestehende Parteienwesen unvermeid- emanzipatorische Konzepte der Zukunftsge- lich auch von dessen oben beschriebenen staltung als unverzichtbar. Mängeln betroffen sind, aber doch noch zu- In aktuellen politischen Diskussionen taucht mindest im Ansatz Erfolg versprechende Alter- oft der Gedanke auf: „Eine andere Welt ist nativen zu den bestehenden wirtschaftlichen, möglich“. Vielleicht lässt sich das, was mir vor- sozialen und politischen Verhältnissen bieten. schwebt, auch und erneut als eine notwen- dige „Wende“ in den Lebensverhältnissen Gegen Demokratie- und einer übergroßen Mehrheit der Bürgerinnen Sozialabbau und Bürger in Deutschland verstehen. Doch wohin sich die heute betriebene Politik tat- So wende ich mich gegen allen Demokratie- sächlich „wenden” wird, steht offensichtlich in und Sozialabbau, plädiere für mehr Ge- den Sternen und lässt Arges befürchten. Am rechtigkeit und für größere Mitspracherechte Ende sollte indessen nur gelten dürfen, was derjenigen, deren Willen bislang lediglich Besseres, Menschenwürdiges und Friedliche- „repräsentiert“, zumeist jedoch nicht berück- res zu befördern imstande ist.

211 René Wolff Ich erlebte die Wende mit der Neugier eines Kindes

mein Bruder Christian, der oft auf mich auf- René Wolff: passen musste als ich klein war, hat mir im- Geboren im April 1978 in Erfurt, merhin zwölf Jahre voraus. Wie jedes andere wuchs er in Gamstadt im Kreis Gotha Kind besuchte ich die Grundschule, wo ich auf. schon in frühester Kindheit erste Erfolge er- René Wolffs Ziel als Kind, in die Kinder- und Jugendsportschule Er- reichte, die „Urkunde für gutes Lernen in der furt aufgenommen zu werden konnte sozialistischen Schule“ erhielt ich für meine nicht mehr in Erfüllung gehen. Die große Einsatzbereitschaft bei der Pflege des Wende kam dazwischen, die Sport- schule gab es plötzlich nicht mehr. Schulgartens. Doch eröffnete sich ihm gerade da- Nach der Grundschule ging ich auf die durch später eine neue Chance. Die POS und schaffte dort den Schulabschluss, Möglichkeit, das Sport-Gymnasium Er- die Entscheidung zwischen der Berufsaus- furt zu besuchen, war der Beginn einer erfolgreichen Karriere als Rad- bildung zum Koch oder zum Bäcker fiel mir sportler, die er zur Olympiade 2004 nicht leicht, sie wurde mir jedoch durch den in Athen mit einer Goldmedaille krö- Sport abgenommen, der meine Laufbahn in nen konnte. René Wolff engagiert sich nicht nur im Sport. Er studiert Richtung Sportgymnasium Erfurt lenkte, wo außerdem Literatur und Philosophie ich später mein Abitur schaffen sollte. Zu die- an der Universität Erfurt. ser Zeit war es üblich, dass Nominierungen zur Aufnahme in die Kinder- und Jugendsport- schule (KJS) in der Altersklasse 13 stattfanden. Das Gespräch führte die Schülerin Es war das Ziel eines jeden jungen Sportlers, Franziska Monser im Radsport zu der aus 13 hochmotivierten Nachwuchstalenten bestehenden Delegation Am 4. April 1978 wurde ich in Erfurt geboren. zu gehören. Ich arbeitete damals sehr intensiv Meine Kindheit verbrachte ich in Gamstädt, auf dieses Ziel hin, als Leistungssportler war einem kleinen idyllischen 200 Seelen-Dorf, man schließlich in der DDR schon jemand be- dass zwischen Gotha und Erfurt in Thüringen sonderes, irgendwie „höher gestellt“, und ich liegt. Meine Familie gehörte der traditionellen erreichte auch den zweiten Platz als Lohn für Mittelschicht der DDR Bevölkerung an, meine meinen Einsatz, qualifizierte mich für den Ein- Eltern übten beide den Beruf des Agraringe- tritt in diese besondere Schule. nieurs aus, sie waren weder Pro- noch Con- traaktivisten der damaligen Parteiführung. Na- Fast wäre die harte türlich machten auch sie sich Gedanken über Arbeit umsonst gewesen Staat und Politik, da diese Komponenten je- doch in unserem einfachen, aber sehr schö- Das Problem war nur, bedingt durch die Wen- nen Leben keine tragende Rollen einnahmen, de gab es keine Delegation mehr. Ich möchte kam es nie zu Konflikten mit dem Staat oder nicht sagen, dass die harte Arbeit umsonst ge- der Staatssicherheit. Unter meinen Geschwi- wesen wäre, aber dieses Erlebnis war wohl die stern war ich der kleine Nachzügler, meine erste Demotivation meiner sportlichen Karrie- Schwester Kerstin ist 18 Jahre älter als ich und re. Doch nicht nur aus schulischer Sicht spielte

212 die Wende in meinem Leben eine mehr oder Stolz berichten, dass wir die Verwandten in weniger bedeutende Rolle. Ideelle Erwartun- Frankfurt doch noch erreichten, und ich mir in gen, Hoffnungen und Befürchtungen wie Ar- der Innenstadt endlich meinen lang er- beitslosigkeit, Imperialismus, Kapitalismus und sehnten Walkman kaufen konnte, in den ich steigende Verbrechensrate waren Phrasen, die sogleich eine von Radio DT 64 selbst aufge- auf einen 12 bzw. 13 jährigen Jungen nur von nommene Kassette einsteckte und somit ein außen eindrangen und mit denen er für sich ganzes Wochenende mit „The Cure“ meine selbst nur relativ wenig anfangen konnte. Ohren verwöhnte. Wie es so schön heißt: Reisen ins Ausland, das Gefühl, irgendwie frei- Jede Medaille hat zwei Seiten, und natürlich er zu sein und materielle Werte, wie der erste sind nicht alle Erinnerungen, die ich mit der Walkman, 100 DM Begrüßungsgeld und die Wende verbinde, nur positiv. Auch wenn ich vielen neuen Dinge, die es in den Supermärk- auf dem Land vor der Wende nicht wirklich viel ten, die nun nicht mehr Konsum oder HO Kauf- von industrieller und politischer Krise wahr- halle hießen, zu kaufen gab, spielten für mich nahm, wahrscheinlich auch bedingt dadurch, eine weitaus größere Rolle, genauso wie die dass die Landwirtschaft in den 1980ern einen erste Reise der Familie Wolff aus Gamstädt zu Boom erlebte, so betraf es mich doch nach der Verwandten nach Frankfurt am Main im De- Wende sehr, dass mein Vater viel zu früh in zember 1990. den Vorruhestand gehen musste, denn es war Wir hatten uns überlegt, nicht wie üblich für ihn sehr schwer geworden, eine Arbeitsstelle mit unserem Wartburg aufzubrechen, wir ent- zu finden, nachdem die LPG aufgelöst und das schieden uns für eine gemütliche Zugfahrt, Land an die Einzelbauern zurück gegeben ganz entspannt und stressfrei, doch sie sollte wurde. sich als ein traumatisches Erlebnis in meinem Gedächtnis „einbrennen“, denn im Moment Auf ein Stück Freiheit verzichten, um der Planung hatten meine Eltern wahrscheinlich etwas mehr Sicherheit zu schaffen? nicht mit den unendlich vielen anderen Men- schen gerechnet, die sich mit der Idee, ir- Heute blicke ich als politisch interessierter gendjemanden oder irgendetwas im Westen Mensch auf die Wendezeit zurück. Was da- zu besuchen und das auch noch am gleichen mals mit meinen zwölf Jahren eben eine ge- Tag wie wir, am Erfurter Hauptbahnhof ange- ringe Rolle spielte, ist das, worüber ich heute sammelt hatten. Da standen wir nun, und ob- nachdenke: Was hat sich für die Bevölkerung wohl wir schon morgens um vier Uhr unsere der neuen Bundesländer geändert? Sind wir Reise angetreten hatten, schien es schier un- wirklich freier als damals? Wäre es nicht viel- möglich zu sein, gemeinsam in den Zug zu leicht besser auf ein Stück dieser so genann- gelangen. Nachdem bereits vier bis fünf Züge ten Freiheit zu verzichten, um ein bisschen ohne uns losgefahren waren, schaffte ich es, mehr Sicherheit für die Menschen zu schaf- mich in den sechsten hineinzuzwängen. Und fen? Ich glaube, genau diese Sicherheit ist es, als ich voller Stolz aus dem Fenster blickte, die das Leben der Leute in der DDR unbe- musste ich feststellen, dass meine Eltern es schwerter, unkomplizierter machte, die es El- wohl nicht geschafft hatten. Meine Mutter, tern ermöglichte, sorgenfreier für ihre Kinder schon am Rande eines Nervenzusammen- da zu sein und die Kleinen in einem Umfeld bruchs stehend, konnte nur noch auf die aufwachsen ließ, in dem sie nicht schon in Pfiffigkeit ihres Sohnes hoffen, und der war frühester Kindheit mit Arbeitslosigkeit und Ag- pfiffig genug, beim nächsten Halt im Bahnhof gressionen konfrontiert wurden. Vor allem im Gotha einfach wieder in einen Zug Richtung Bereich Erziehung und Bildung ist die Wende Erfurt umzusteigen. aus meiner heutigen Sicht ein Anfang vom En- Es dauerte zwar dort noch etwas, bis es uns de gewesen. Wo sind die Fachkräfte hin, die allen gelang, gleichzeitig, ohne Verluste in sich im Kindergarten nicht nur darum kümmer- einen Zug einzusteigen, jedoch kann ich mit ten, dass das Kind nicht irgendwelche Dumm-

213 heiten anstellte, nein, die auch schon ganz früh Wissen durch Spiel und Spaß an die Kinder vermittelten? Das Umfeld, das Kindern durch Familie und Institutionen geschaffen wurde, war eindeutig ein besseres als das heutige. Vor allem seitdem ich Papa gewor- den bin, fällt mir dies mehr und mehr auf. Aber andererseits wäre ich vielleicht heute gar nicht Papa, wenn es die Wende nicht gegeben hätte, denn sie ermöglichte es vielen jungen Sportlern, das Sportgymnasium Erfurt zu be- suchen, die zu KJS-Zeiten keine Chance dazu erhalten hätten, und dann hätte ich meine Freundin Sandy vielleicht niemals kennen ge- lernt. Ich glaube, jedem Menschen, der sich ein- mal ganz bewusst mit der Wendezeit ausein- andersetzt, werden positive und negative As- pekte einfallen, bei denen er natürlich auf einige mehr, auf andere weniger großen Wert legt. So wie ich mich an eine glückliche Kind- heit auf dem Dorf erinnere, wo ich mit Papa Mähdrescher gefahren bin und mir Mama ge- zeigt hat, wie man Kühe melkt, so wie ich an meine aufregende Reise nach Frankfurt zu- der Person zählt, in dem sie sich während des rückdenke, auf der ich mir meinen allerersten Wendeprozesses befand. Ich war damals ge- Walkman kaufte, so wie ich noch genau weiß, rade mal 12, 13 Jahre alt, setzte dem entspre- wie ich mich darauf gefreut hatte, endlich auf chend meine Prioritäten und meine Interes- die KJS zu kommen, weil es dort so oft Ba- sen, ich hatte selbst keine Befürchtungen, be- nanen zum Nachtisch gab, und so wie ich griff erst später die der anderen. Meine Er- mich heute noch darüber ärgere, dass ich nie wartungen und Hoffnungen waren nicht von in die Pionierrepublik nach Berlin fahren durfte, ideellem Wert, sie entsprachen wohl eher dem genauso verbinden viele andere Menschen materiellen. ihre persönlichen Vergangenheitserfahrun- Und wenn mich heute jemand fragt, wie gen mit den Begriffen DDR, Wende, Wieder- ich die Wende denn empfand, so ist die vereinigung. Das hängt von vielen Faktoren kürzeste Antwort: Ich erlebte die Wende mit ab, zu denen beispielsweise auch das Alter der Neugier eines Kindes.

214 Bernd Zeuner: Hoffnung lässt nicht zu Schanden werden...

aus Braunsdorf war auch eingeladen, aber er Bernd Zeuner kam nicht. Erst als wir kurz vor dem Aufheben Bernd Zeuner war Lehrer für Deutsch der Mittagstafel standen, tauchte er auf – und Geschichte, wurde wegen wenig festlich gekleidet und völlig übermüdet. Verächtlichmachung der Nationalen Volksarmee aus dem Schuldienst Als sich die Aufmerksamkeit der Gäste wieder entlassen anderen Dingen zuwendete, sagte er zu mei- Bereits in der Vorwendezeit war er ner Frau und mir: „Ich habe die ganze Nacht sehr aktiv, bereitete Demon- stehend in einer Garage in Berlin-Hohen- strationen und Veranstaltungen mit vor und wirkte bei der Auflösung der schönhausen verbracht. Ich bin nämlich ge- Staatssicherheit mit. Für die stern nacht polizeilich zugeführt worden.“ Kirchgemeinden Rudolstadts saß er Hintergrund waren die Demonstrationen an- am Runden Tisch des Kreises Rudol- lässlich des 40. Jahrestages der DDR in Berlin. stadt. Der Runde Tisch hob sein Be- rufsverbot als Lehrer nach zwölf Das war für mich der Start in hektische und Jahren wieder auf. Zugleich be- arbeitsintensive Monate, die viele als „Wen- schloss der Runde Tisch, Zeuner als de“, ich aber immer als „Umbruch“ bezeich- neuen Kreisschulrat einzusetzen. Heute ist Bernd Zeuner Referent für ne. Ich war damals im VEB Röhrenwerk Rudol- Regelschulen am Staatlichen Schul- stadt beschäftigt und hatte das ingenieurtech- amt Rudolstadt nische Personal aus Literatur und Patent- schrifttum über das weltweite Knowhow des Im Herbst 1989 merkte ich, dass eine Chance Röntgenröhrenbaues auf dem Laufenden zu da ist, das Leben in Deutschland und in Mit- halten. In diesem Aufgabenfeld stand mir ein teleuropa nachhaltig zu verändern. Die Grenz- Kopiergerät zur Verfügung, eine absolute öffnung zwischen Ungarn und Österreich und Aus-nahme in der damaligen DDR. Diese die immer weniger eindämmbaren öffent- Mög-lichkeit nutzte ich nun, um die mir zuge- lichen Unzufriedenheitsbekundungen in der spielten Zuführungsprotokolle zu vervielfäl- DDR zeigten auf, dass die Macht dem alten tigen und anschließend zu verbreiten. System aus den Händen glitt. Die Aufzeichnungen der Gemaßregelten Die Wirtschaft war ruiniert, die Glaubwür- vom 7. Oktober zeigten die Brutalität und digkeit zerstört und die Bereitschaft zu Refor- Menschenverachtung von Staatssicherheits- men nicht zu erkennen. Die Krise des Systems dienst und Polizei und waren geeignet, den und der DDR hatten ihren Endpunkt erreicht. „konkret existierenden Sozialismus in der In Frage stand nur, ob das Desaster des DDR“ zu demaskieren. Staates auch mit einer Katastrophe für die Menschen verknüpft würde, wenn durch Ge- Große thematische Veranstaltungen waltanwendung von Militär, Polizei und Staats- in der Stadtkirche zu Rudolstadt sicherheitsdienst die Menschen einge- schüchtert werden sollten. Wenige Tage später begannen in der Stadt- Am 8. Oktober 1989 feierten wir die Dia- kirche in Rudolstadt die großen thematischen mantene Hochzeit meiner Eltern in Rudol- Veranstaltungen, in denen die Fehlentwick- stadt. Der Gemeindepfarrer Walter Schilling lungen unter der Herrschaft der SED im

215 Zentrum des Interesses standen. Zehn Minu- gerung, 1958 an der Jugendweihe teilzuneh- ten vor dem angekündigten Beginn war ich men, wurde in den „Kaderakten“ vermerkt. mit meiner Frau dort und hatte keine Chance Einige Bemerkungen von mir zum Mauerbau mehr, die Kirche zu betreten. Sie kann etwa 1961 führten dazu, dass mein Ausbildungs- 1000 Menschen aufnehmen. Die waren of- betrieb, in dem ich einen Abschluss als Be- fensichtlich schon im Gebäude und rund 500 triebsschlosser erworben hatte, mich aus dem standen noch davor. Für 22 Uhr wurde eine Kreis der für die Armee zu Werbenden strich. zweite Veranstaltung angekündigt. Diese konn- 1964 stellte ein FDJ-Sekretär einen Antrag te erst viel später in der wiederum gut gefüllten auf Exmatrikulierung, weil ich mit Bekennt- Stadtkirche beginnen. niszeichen der Jungen Gemeinde in Leipzig In der dritten der wöchentlichen Veran- unterwegs war. staltungen sollte es um notwendige Verände- Zwei Jahre später befasste sich die „Stasi“ rungen im Schulwesen gehen. Dafür hatte mit mir, weil sie anlässlich eines Verfahrens Herr Superintendent Schmitt eine Vorberei- gegen einen meiner Jugendfreunde aus der tungsgruppe gebildet, die sich auch schon Rudolstädter Jungen Gemeinde bei diesem getroffen hatte. Am Wochenende vor dem von mir stammende staatsfeindliche Gedichte festgelegten Donnerstag kam er zu mir und gefunden hatte. 1972 wurde von mir gefor- bat mich, in der Veranstaltung den Problem- dert, ein Lehrer als Staatsfunktionär habe sich aufriss zu übernehmen, da die im aktiven von kirchlichen Aktivitäten fernzuhalten. Spä- Dienst befindlichen Lehrerinnen und Lehrer ter bekam ich ein Disziplinarverfahren, weil sich nicht in die direkte Konfrontation mit ich im Deutschunterricht beiläufig gesagt hat- ihren Vorgesetzten begeben wollten. te, das Vaterunser gehöre zur Allgemeinbil- dung. Ich denke, man merkt – ich bin damals Wegen Verächtlichmachung aus auf dem Drahtseil getanzt, habe das gern dem Schuldienst entlassen getan und bin 1978 abgestürzt.

Ich war als Lehrer für Deutsch und Geschich- Abschaffung von Parteiarbeit in te von 1966 bis 1978 tätig gewesen und am Schule gefordert Ende des Jahres wegen „Verächtlichmachung der Nationalen Volksarmee“ und als „zur Er- Mit dieser Vorgeschichte wurde ich also 1989 ziehung sozialistischer Schülerpersönlichkei- aufgefordert, so etwas wie einen bildungspo- ten ungeeignet“ fristlos aus dem Schuldienst litischen Entwurf vorzulegen. Eingeladen wa- entlassen worden. Anlässlich der Einführung ren der Kreisschulrat und ein paar Schuldirek- des Wehrkundeunterrichtes war man damals toren, mit denen und im Forum dieser Entwurf in diesen Dingen besonders sensibel und anschließend diskutiert werden sollte. Ich glaubte wohl, ein Exempel statuieren zu müs- habe mich damals hingesetzt und in einem sen, um Gegner einer militärischen Schulbil- Guss 33 Punkte notiert, die höchst unter- dung zum Schweigen zu bringen. schiedlich waren, zu denen ich aber bis heute Es war unmittelbar vor Weihnachten 1978, stehe. Da waren aus heutiger Sicht Selbstver- meine Kinder waren zwei und vier Jahre alt, ständlichkeiten dabei, z.B. die Abschaffung und mir drohte eine Inhaftierung wegen von Parteiarbeit in der Schule, von Pionier- Asozialität, denn Arbeitslosigkeit war ein leitern und vormilitärischer Ausbildung – aber Straftatbestand. Nach vielen vergebli-chen auch noch heute utopische Forderungen wie Versuchen fand ich dann zu Beginn des Jahres die Vergabe von Funktionen im Schulwesen 1979 die erwähnte Beschäftigung im VEB auf Zeit. Röhrenwerk Rudolstadt. Meine Entfer-nung In der Veranstaltung – die Stadtkirche war aus dem Schuldienst war das Ende einer Kette wieder randvoll gefüllt – habe ich mich zu- des Kleinkrieges, den eifrige Funktio-näre nächst mit meiner Biographie vorgestellt und gegen mich führten. Schon meine Wei- anschließend die benannten 33 Punkte

216 vorge-tragen. Damit habe ich jedoch derart durch einen ehemaligen Polizisten von der Öl in das unter den Menschen schwelende Existenz einer Außenstelle in der Kaserne der Feuer gegossen, dass eine sachliche sowjetischen Garnison. Diskussion nicht mehr möglich war. Die Zusammen mit einem weiteren Kommis- Versammlung wurde zum Tribunal, und aller sionsmitglied habe ich vom Volkspolizeikreis- angestauter Frust wur-de den vier Vertretern amt verlangt, dass wir Zutritt zu diesen Räum- der staatlichen Volks-bildung lichkeiten erhalten. Das löste umfassende Hek- entgegengeschleudert. Mit viel Mühe gelang tik aus. Der Militärstaatsanwalt wurde aus Wei- es, die Zusammenkunft im ordentli-chen mar angefordert. Dieser nahm Verbindung Rahmen zu beenden und die Podiums- mit seinem sowjetischen Kollegen auf und teilnehmer physisch unbeschädigt nach Hau- nach fünf Stunden – es war inzwischen 22 Uhr se zu geleiten. – standen wir vor der Kaserne. Es dauerte nochmals bis 23.30 Uhr, bis wir eingelassen Montagsdemos begannen und wurden. Dann musste der Stasi-Offizier ge- Runder Tisch wurde gebildet holt werden, der angeblich als einziger die Schlüssel besaß. So war es nach Mitternacht In diesen Tagen wurde auch in Rudolstadt bis wir schließlich in den Räumen ein riesiges nach den Vorbildern im Lande der Runde Fotoarchiv und alle mögliche fotografische Tisch eingerichtet und die Folge der wöchent- Technik fanden, mit der alle Personenbewe- lichen Montagsdemonstrationen aufgenom- gungen um die Kaserne – und es führt dort men. Die Montagsdemonstrationen began- eine gut frequentierte Landstraße vorbei – do- nen in der Stadtkirche mit einer Andacht und kumentiert worden waren. Ein besonderer einem Friedensgebet. Dann bewegte sich der Schwerpunkt war offensichtlich die Beobach- Zug durch die Innenstadt über den Markt, an tung der Bewegungen der ausländischen Mili- der SED-Kreisleitung vorbei, ebenso an der tärmissionen im Territorium. Es war 1.30 Uhr, Katholischen Kirche (die den Zug mit Geläut als wir die Räume versiegelten. Meine Familie begleitete) zur Lutherkirche. Auf deren wusste, was wir vorhatten, hatte aber seit Vorplatz fand ein Meeting statt. Forderungen 16.40 Uhr nichts mehr von mir gehört. wurden an die Tür geheftet und kurze An- sprachen gehalten. Aus einem Saalfelder Rückkehr in den Schuldienst Sportverein habe ich dafür ein Megaphon be- nach zwölf Jahren sorgt, denn anders konnte man sich nicht ver- ständlich machen. Eine heute selbstverständ- Am Runden Tisch wurde auch meine Rückkehr liche Lautsprecheranlage besaß niemand. in den Schuldienst entschieden. Bereits im No- Am Runden Tisch nahm ich als Vertreter vember hatte auf Antrag meines ehemaligen der Kirchgemeinden teil. Ich wurde bald be- Kollegiums der Rat des Kreises meine zwölf auftragt mit der Leitung der Kommission zur Jahre zurückliegende Entlassung aufgehoben Aufdeckung von Amtsmissbrauch und Kor- und mir die Rückkehr in den Lehrerstand an- ruption. Da gewann man sehr umfassend Ein- geboten. In einer Sitzung im Dezember, es war blick in politische, finanzielle und moralische die erste, in der der Vertreter der SED als PDS Betrügereien der Funktionärsclique in der Ru- am Tisch saß, beschloss der Runde Tisch, dass dolstädter Provinz. der alte Kreisschulrat sofort aus seiner Funk- Nachdrücklich in Erinnerung geblieben ist tion zu entfernen war. Der amtierende Vor- mir die Aushebung einer Außenstelle der Kreis- sitzende des Rates des Kreises erklärte sich dienststelle für Staatssicherheit. Das Hauptge- dazu nicht in der Lage, weil die Stellvertreterin bäude hatten wir – im zweiten Anlauf – bereits bereits von sich aus gekündigt habe und die Anfang Dezember aus der Nutzung genom- große Abteilung eine straffe Führung brauche. men und damit die laufende Aktenvernich- Ohne jede Vorabsprache wurde ich dort als tung gestoppt. Da erfuhr ich Anfang Januar Amtsnachfolger vorgeschlagen. Ich habe kurz

217 nachgedacht. Mir war klar – jetzt geht es um dabei. Ich bin auch oft auf Langstreckenwan- die Glaubwürdigkeit der 33 Thesen aus der derungen gegangen. Aus der kleinen DDR Stadtkirche – dann habe ich meine Bereit- habe ich mir vorzugsweise die damalige Tsche- schaft erklärt. Mit einer Gegenstimme (PDS) choslowakei als Wandergebiet ausgesucht war ich der Kandidat des Runden Tisches. und war jedes Jahr mehrmals dort in orga- Wegen diverser Schwierigkeiten – Auflö- nisierten Wanderungen unterwegs. Als ich mir sung meines bisherigen Beschäftigungsver- später meine umfangreichen Stasiunterlagen hältnisses, Notwendigkeit der Wahl durch den ansehen konnte, fand ich auch im „Opera- alten Kreistag, Hinhaltetaktiken und Sperr- tiven Vorgang Lehrer“, der die Jahre 1984 bis feuer der alten Funktionäre – zog ich erst am 1986 umfasst und in dem ich international 1. Februar 1990 als neuer Kreisschulrat in die überwacht wurde, eine erheiternde Notiz ei- aus lauter alten Funktionären bestehende Ab- nes Spitzels, der mich offensichtlich bei einer teilung Volksbildung in Rudolstadt. Schnell Rucksackwanderung durch den Böhmerwald merkte ich, dass alte Seilschaften den Januar beobachten sollte: „Er entzog sich durch über- benutzt hatten, um die Lehrkräfte aus der Be- lange Fußmärsche der Beobachtung.“ zirksparteischule in den Schuldienst zu brin- Die Zeit von 1989 bis 1991 war die schwie- gen und auch manche Akten zu bereinigen. rigste und schönste Zeit meines Lebens. Zwar Die Mitarbeiter begegneten mir distanziert, lag die wöchentliche Arbeitszeit selten unter zum Teil mit Angst, zum Teil mit übereifriger 60 Stunden, und am Wochenende wurden Dienstfertigkeit. Nur wenige waren unbefan- Fortbildungsveranstaltungen besucht. Die Ur- gen. laubsansprüche habe ich nicht wahrgenom- men. Aber es war eine Zeit, in der es uner- Partnerschaft mit dem Landkreis messliche Möglichkeiten des Gestaltens gab. Trier-Saarburg vorbereitet Die alten Vorschriften waren gefallen. Neue waren noch nicht erlassen. Da konnte man Ich war sicher einer der letzten, der über die wahrlich seine Zeit nutzen. geöffnete Grenze „in den Westen“ gefahren war. Es war der 3. Advent 1989, als wir mit Entfaltungsmöglichkeiten in der dem Zug nach Bamberg gereist sind und dort Kommunalpolitik gesucht auf unglaubliche Gastfreundschaft stießen. Vorher war einfach keine Zeit. Nun im neuen Als später der Behördenvollzug im Tagesge- Amt konnte ich bald weiter innerdeutsche schäft die Oberhand gewann, habe ich mir Kontakte knüpfen. Am ersten Wochenende Entfaltungsmöglichkeiten in Interessenvertre- nach Amtsantritt fuhr ich als erster Neuer im tungen und in der Kommunalpolitik gesucht. Rat des Kreises an die Mosel, um die Kreis- So arbeite ich heute im Kreistag, im Verband partnerschaft mit dem Landkreis Trier-Saar- der Schulaufsicht des Landes Thüringen, in burg vorzubereiten. Das war ein Erlebnis, das der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Er- mir damals sehr wichtig war und auf das ich zieher in Deutschland, in der Christlichen Ini- noch heute mit Stolz und Freude zurückblicke. tiative Brennpunkt Erziehung, in der Gemein- Im gleichen Monat war ich noch auf Einla- schaft Christlicher Lehrer und Erzieher in Thü- dung unserer kirchlichen Partnergemeinde in ringen an verantwortlicher Stelle und bin auch Ulm und habe dort vor vollem Auditorium Mitglied in verschiedenen anderen Organisa- über die aktuelle Situation in Rudolstadt vor- tionsformen. tragen können. Sowohl in Trier-Saarburg als Es gibt immer mal wieder ein Motto, an auch in Ulm bin ich seither viele Male gewe- das ich mich halte, wenn es schwierig wird. sen und habe Freundschaften geschlossen, Das wichtigste ist wohl „Die Sachen klären – die immer noch aktiv gelebt werden. die Menschen stärken“. Aber auch „Machs Ich liebe die körperliche Bewegung. Seit beste draus“ hilft oft aus verfahrenen Situ- 1973 war ich regelmäßig beim Rennsteiglauf ationen. Mitunter orientiere ich mich an der

218 Bonhoeffer-Frage „Was würde Jesus dazu sa- der sechziger Jahre klar. Unklar war mir, wie gen?“ und denke gern an die Orientierung lange es weitergehen könnte und in welcher aus dem 1. Korintherbrief „Glaube, Hoff- Weise und mit welchem Ergebnis der Zu- nung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die sammenbruch kommen würde. Ohne die durch größte unter ihnen“. Franz-Josef Strauß vermittelten Kredite hätten Ich lebe bodenständig: Knapp 20 Kilome- wir vermutlich die Gorbatschow-Periode der ter von meinem heutigen Wohnort bin ich Sowjetunion nicht erreicht. Und zu Breshnews geboren. Zwar war ich während des Studiums Zeiten wäre eine friedliche Revolution un- in Leipzig und als Lehrer tätig in Staßfurt und denkbar gewesen. Insofern fällt es mir schwer, Schmiedefeld am Rennsteig. Aber ich habe nostalgische Erinnerungen an die DDR ein ausgeprägtes Heimatgefühl. Ich hatte nie nachzuvollziehen. Ich weiß, dass alte Zeiten eine Identität mit der DDR. Schon als 14jäh- immer goldene waren. Aber so kann man sich riger habe ich mir das Goethewort in meinem doch nicht selbst belügen, dass jemand der Zimmer aufgehängt: „Ich kenne nur ein DDR nachtrauert. Es sei denn, man hat sich Vaterland, das heißt Deutschland. Nur ihm persönliche Vorteile auf Kosten anderer allein bin ich mit ganzer Seele ergeben.“ beschaffen können und nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei empfunden. Unklar war, mit welchem Ergebnis Die Bundesrepublik Deutschland ist kein der Zusammenbruch kommt idealer Staat. Deswegen muss man Hand an- legen und sie verbessern. Was wird, wenn Als Jugendliche pflegten wir uns ähnlich wie man „die Genossen es schon machen“ lässt, der brave Soldat Schwejk zu verabreden: habe ich erlebt. So gebe ich die Hoffnung nicht „Wenn wir Rentner sind, treffen wir uns zu auf, dass die Bereitschaft mitzutun eine breite- Pfingsten auf der Feste Coburg.“ (Die ist ja re Basis in der Bevölkerung findet als zur Zeit von vielen Stellen des Thüringer Waldes aus und Anspruchsdenken und Versorgungsmen- gut zu sehen.) Dass das Wirtschaftssystem der talität von Verantwortungsgefühl und Hand- DDR nicht funktionsfähig ist, war mir seit Mitte lungsbereitschaft abgelöst werden.

219 heißt Siegen lernen“ wurde jetzt von Kritikern verdient machen. auch innerhalb der SED gegen ihre greisen Zur eklatanten politischen Unbeweglich- Spitzenfunktionäre ins Feld geführt. Durch sei- keit der herrschenden Staatspartei kamen die ne Politik der Demokratisierung der UdSSR immer mangelhaftere Versorgung, die Ab- und der Aufarbeitung von deren stalinistischer schottung gegenüber den in Bewegung gera- Vergangenheit rückte KPdSU-Generalsekre- tenen „Bruderstaaten“ Sowjetunion, Polen und tär Gorbatschow rasch zum großen Hoff- Ungarn sowie die Zustimmung zur blutigen nungsträger auf. Das Verbot der sowjetischen Niederschlagung der Demokratiebewegung Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR vom Novem- in China im Juni 1989 hinzu. Eine dramati- ber 1988 demonstrierte jedoch deutlich, dass sche Zuspitzung erfuhr die latente Krise durch das Politbüro in Ostberlin unabhängig von die Massenflucht von DDR-Bürgern über das Moskau an seinem harten Kurs festhalten wür- Urlaubsland Ungarn, das am 2. Mai seine de. Nur weil der Nachbar renoviere, müsse Grenzabsperrungen zu Österreich abgebaut man doch nicht auch die Tapeten wechseln, hatte – erstes Schlupfloch im „Eisernen Vor- so SED-Chefideologe Kurt Hager 1987 im hang“ seit dem Mauerbau 1961. Hunderte Hamburger „Stern“. Damit beschleunigte man Menschen flüchteten sich gleichzeitig in die freilich nur den Weg in die außenpolitische Botschaften der Bundesrepublik in Budapest, Sackgasse und die Unzufriedenheit im eige- Warschau und Prag, von wo sie auf Vermitt- nen Lande weit hinein in die Reihen der Partei. lung der Bundesregierung hin später ausrei- Und der oppositionelle Widerstand wagte sen konnten. Mit der offiziellen Ausreisege- sich trotz unverholener Drohungen und har- währung durch die ungarischen Behörden am tem Durchgreifens seitens der „Organe“ lang- 11. September 1989 wuchs die Fluchtwelle sam auch an die Öffentlichkeit. Während der allein bis Monatsende auf 25.000. Dem SED- alljährlichen Demonstration zu Ehren der er- Regime drohte sein Volk abhanden zu kom- mordeten Kommunistenführer Rosa Luxem- men; die Situation in der DDR mit immer burg und Karl Liebknecht am 17. Januar neuen Lücken im Bekanntenkreis und am Ar- 1988 in Berlin versuchten junge Oppositio- beitsplatz bündelte sich in Redensarten, wie nelle u.a. durch Transparente mit dem Luxem- „der Letzte macht das Licht aus“. burg-Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit des Auf der anderen Seite formierte sich jetzt Andersdenkenden“ auf die unhaltbaren Zu- der massive Widerstand der Mehrheit derer, stände aufmerksam zu machen. Das MfS die „hier bleiben“ wollten. Am 11. September unter Minister Erich Mielke reagierte mit restrik- folgte auf ein Friedensgebet in der Leipziger tiven Maßnahmen, mit Massenverhaftung, Nikolaikirche die erste der legendären „Mon- Relegation von Oberschülern, Abschiebung tagsdemonstrationen“, die am 23. Oktober „feindlich-negativer Kräfte“ in den Westen schließlich 300.000 Menschen unter dem u.ä. Doch die Situation ließ sich nicht mehr Motto „Wir sind das Volk“ auf die Straße mit den herkömmlichen Mitteln des totalitären brachte. Am 4. November forderten etwa eine Maßnahmestaates stabilisieren. Als einen we- Million Menschen auf dem Berliner Alexan- sentlichen Ausgangspunkt der „Wende“ kann derplatz bei der größten aller Demonstratio- man die massiven Proteste von Regimekriti- nen die Garantie bürgerlicher Freiheitsrechte kern gegen die Manipulation der Kommunal- und freie Wahlen. Doch die Parteileitung rea- wahlen im Mai 1989 werten. Schon hierbei gierte viel zu spät; noch am 7. Oktober 1989, spielte die Kirche, insbesondere die zahlen- dem 40. „Republikgeburtstag“, hatte sie die mäßig in der DDR dominierende evangeli- eindringliche Mahnung Gorbatschows („Wer sche Kirche, als einzige autonome gesell- zu spät kommt, den bestraft das Leben.“) in schaftliche Kraft eine wichtige Rolle. Sowohl den Wind geschlagen. Die halbherzigen Ver- als Handlungsträger wie auch als Obdach änderungen unter dem „Druck der Straße“, der oppositionellen Gruppen sollte sie sich in einschließlich der Absetzung Honeckers als den kommenden Monaten um die „Wende“ Generalsekretär am 18. Oktober, dem als

221 wenig überzeugender Nachfolger sein Kron- trat Krenz mitsamt Politbüro und ZK zurück. prinz Egon Krenz folgte, konnten die rapide Die Partei verlor alle ihre einstigen Privilegien Erosion der SED-Herrschaft nicht mehr auf- und innerhalb weniger Monate 2,1 ihrer 2,4 halten. Das einzige Verdienst der letzten al- Millionen Mitglieder. Als Partei des Demo- ten DDR-Führung dürfte allenfalls darin be- kratischen Sozialismus (SED-PDS, seit Feb- stehen, gegenüber der betont friedfertigen ruar 1990 PDS) unter dem Vorsitzenden Bürgerbewegung ( Keine Gewalt! ) u.a. bei Gregor Gysi rettete sich die einstige Staats- der wegweisenden Leipziger Montagsdemo partei, in deren Reihen zeitweise sogar die vom 9. Oktober auf den Versuch einer bluti- Selbstauflösung erwogen worden war, jedoch gen Pekinger Lösung verzichtet zu haben. über die Wende hinweg und konnte sich im Der Erfolg einer solchen Gewaltlösung durch gesamtdeutschen Parteienspektrum etablie- Polizei, Stasi, Kampfgruppen und NVA wäre ren. angesichts des Autoritätsverlustes bis in die Die neue DDR-Regierung unter dem relativ Partei- und Staatsorgane hinein und ange- angesehenen Dresdner SED-Bezirkschef Hans sichts der fehlenden Rückendeckung durch Modrow (seit 13. November) versuchte zu- die sowjetischen Truppen in der DDR ohnehin nächst noch, Demokratisierung und Rechts- fraglich gewesen. staatlichkeit für eine eigenständige DDR um- Der Fall der Mauer am 9. November zusetzen. An dieser Politik beteiligten sich seit 1989, Folge einer Pressekonferenz-Äußerung dem 7. Dezember in Form des zentralen Run- des Politbüromitgliedes und Berliner SED-Be- den Tisches in Berlin neben den DDR- zirkssekretärs Günter Schabowski, sollte Blockparteien (Ost-CDU, LDP,NDPD, Bau- schließlich zum emotionalen Höhepunkt des ernpartei), FDGB und VdgB auch die neuen Wende-Herbstes werden, den viele DDR- Bürgerbewegungen und Parteien der Wende- Bürger als einen ihrer intensivsten Lebensab- zeit (Demokratischer Aufbruch, Demokratie schnitte empfanden. Die Bilder von feiernden Jetzt, Grüne Liga, Grüne Partei, Initiative Menschen auf der Berliner Mauer und an den Frieden und Menschenrechte, NEUES FO- Grenzübergängen in ganz Deutschland, die RUM, Sozialdemokratische Partei, Unabhän- Trabbi -Kolonnen Richtung Westen und giger Frauenverband, Vereinigte Linke). spontanen Verbrüderungsszenen gingen um Getragen von der Massenstimmung in der die ganze Welt. Die Öffnung der Grenze zur DDR nahm Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Bundesrepublik und Westberlin markiert aber nun jedoch Kurs auf eine rasche Wiederver- zugleich auch den entscheidenenden Um- einigung (28. November: Zehn-Punkte-Pro- schwung von der Wende in der DDR hin zum gramm zur Überwindung der Teilung Deutsch- Prozess der deutschen Wiedervereinigung. lands und Europas ), worin er am 19. Dezem- Die eigene Anschauung der Lebensverhältnis- ber in Dresden unter Anwesenheit Modrows se im Westen allein bis zum Sonntag, dem von Tausenden begeisterten Zuhörern sym- 12. November, hatten ca. drei Millionen DDR- bolkräftig bestärkt wurde. Die wachsende Bürger die neue Reisefreiheit ausprobiert wirtschaftlich-soziale Krise in der DDR sowie und das Offenbarwerden von Verbrechen und das Misstrauen gegenüber der Regierung hin- Marodität des SED-Staates ließen die Alterna- sichtlich Stasi-Auflösung, Parteiprivilegien u.a. tive einer demokratisch reformierten DDR im- Fragen taten ihr übriges. Die ersten freien mer unattraktiver werden. Die Stimmung der Volkskammerwahlen am 18. März 1990, Bevölkerungsmehrheit schlug in kürzester Frist schon stark von den politischen Kräften und deutlich vernehmbar von Wir sind das Volk Schwesterparteien im Westen beeinflusst, in Wir sind ein Volk um. erbrachten so einen überwältigenden Wahl- Die SED verlor während dieser Zeit schritt- sieg (48 Prozent) der konservativen Allianz weise ihre Machtstellung. Am 1. Dezember für Deutschland (CDU, DSU, Demokrati- wurde die führende Rolle der Partei aus der scher Aufbruch), die mit SPD und Liberalen DDR-Verfassung gestrichen, am 8. Dezember eine Große Koalitionsregierung unter Lothar

222 de Maizière (CDU) einging. Zur Überra- es parallel hierzu, auch auf internationalem schung vieler Beobachter erreichte dagegen Parkett die letzten Hürden zu nehmen. Am 16. die SPD selbst in ihren einstigen Hochburgen Juli gab Gorbatschow dem Kanzler anlässlich (Sachsen, Thüringen) nur schwache Ergebnis- eines Treffens im Kaukasus seine Zustimmung se (insgesamt 21,9 Prozent); die zum Bünd- zum Verbleib Gesamtdeutschlands in der nis 90 zusammengeschlossenen Wende- NATO, am 12. September 1990 unterzeich- Aktivisten versanken gar in der politischen Be- neten die Außenminister der vier Besatzungs- deutungslosigkeit (2,9 Prozent). Auf die PDS mächte (UdSSR, USA, Großbritannien, Fran- entfielen immerhin noch 16,4 Prozent. kreich), Bundesaußenminister Hans-Dietrich Hauptaufgabe der letzten DDR-Regierung Genscher (FDP) und DDR-Ministerpräsident war die Vorbereitung der Wiedervereinigung de Maizière den Zwei-plus -Vier-Ver-trag , gemeinsam mit der Bundesregierung. Schon der der neuen Bundesrepublik die volle Sou- am 1. Juli trat die Wirtschafts-, Währungs- veränität sicherte. So stand der offiziellen und Sozialunion mit Einführung der D-Mark in Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 Kraft. Bundesinnenminister Wolfgang Schäu- nichts mehr im Wege; fast genau 41 Jahre ble (CDU) und DDR-Staatssekretär Günther nach ihrer Gründung hörte damit zugleich die Krause unterzeichneten am 31. August den Ei- Deutsche Demokratische Republik auf zu nigungsvertrag , in welchem alle relevanten existieren. Die erste gesamtdeutsche Bun- Fragen des Beitrittes der DDR zur Bundes- destagswahl am 2. Dezember 1990 en-dete republik nach Artikel 23 des Grundgesetzes mit einem Sieg von CDU und FDP, die eine geregelt wurden. Der Regierung Kohl gelang Koalitionsregierung unter Helmut Kohl

2. Wende und Wiedervereinigung in Thüringen

Das nach Kriegsende 1945 erstmals in um- zirksleitungen Gerhard Müller (Erfurt), Her- fassender, in etwa dem heutigen Gebiet ent- bert Ziegenhahn (Gera) und Hans Albrecht sprechender Form gegründete Land Thürin- (Suhl). Dementsprechend richteten sich schon gen war bereits 1952 mit der Einführung des die ersten massiven öffentlichen Protestkund- demokratischen Zentralismus in der DDR in gebungen oft gegen die Person des jeweiligen die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl aufgeteilt Bezirksfürsten . Diese standen als Statthalter worden. Die drei thüringischen Bezirke litten Honeckers mit relativem Freiraum auch für die seit 1952 als südwestliche DDR-Randbezirke verhasste Privilegien- und Cliquenwirtschaft der zur Bundesrepublik unter dem inhumanen regionalen Parteielite, welche dem sozialisti- Grenzregime. Zwei große Zwangsumsied- schen Gleichheitsanspruch Hohn sprach. lungsaktionen 1952 und 1961 vertrieben Allerdings gehörte Thüringen zumindest tausende Menschen aus dem Grenzgebiet , vor dem 9. November 1989 nicht zu den in dem die verbleibenden Einwohner erheb- spektakulären Zentren der Wendebewegung. liche Einschränkungen hinnehmen mussten Ein Erklärungsfaktor hierfür mag das Fehlen (vgl. Thillm- Materialien , Heft 82). großer städtischer Metropolen mit internatio- Darüber hinaus herrschte in Thüringen ein nalem Flair wie der Messestadt Leipzig, Berlin besonders eisiges politisches Klima. Symboli- oder Dresden gewesen sein. Dennoch regte siert wurde dies bis 1989 durch die als Hard- sich auch in Thüringen wachsender Protest. liner bekannten 1. Sekretäre der SED-Be- Und es waren zum Teil ganz spezifische regio-

223 nale Verhältnisse, Personen, Projekte und triebenen Landwirtschaft mit Bodenerosion Vorgänge, die den Volkszorn herausforderten. und ungeheuren Güllemengen nieder. Als ei- Als extremes Beispiel sei etwa die rück- ne der kritischen Reaktionen hierauf sei bei- sichtslos- absolutistische Herrschaft des Son- spielhaft auf die Umweltgruppe Knau/Dit- dershäuser SED-Kreissekretärs Manfred Keß- tersdorf verwiesen, die sich seit 1985 gegen ler genannt, der sich auf seine Verwandtschaft die Umweltsünden der Schweinemastanlage zu DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler Neustadt/Orla zur Wehr setzte. Mit Unter- stützen konnte. In der Bezirksstadt Erfurt wie- stützung der evangelischen Kirche entwickelte derum waren es das von Gerhard Müller als sich diese Initiative zum organisierten ökolo- Chefsache betriebene gigantische Prestige- gisch-politischen Protest, der in die Wendebe- objekte Haus der Kultur und der von den wegung des Herbstes ´89 einmündete. In den Stadtplanern vorbereitete Abriss des histori- größeren Städten wiederum sorgte der mas- schen Andreasviertels für eine breite Straßen- sive Verfall der oft historisch wertvollen Alt- magistrale mit Plattenbebauung, die die Bür- stadtkerne und Gründerzeitgürtel zugunsten ger verbitterten und zu ersten mutigen Protest- der tristen Plattenbau-Siedlungen für Unmut. aktionen veranlassten. Die Universitätsstadt Staatliche Versuche, diesem Dilemma durch Jena wiederum galt schon lange als ein Ort Abriss und angepassten Neubau in Platten- der Opposition, was sich in der Wendezeit bauweise in den Stadtzentren zu begegnen, niederschlagen sollte. bildeten, wie am Beispiel Erfurts bereits ange- Aber auch die mit viel Propagandaauf- deutet, nicht selten den Ansatzpunkt für Bür- wand gefeierten Triumphe der sozialistischen gerinitiativen. Planwirtschaft, wie das u.a. am neu errich- Diese zahlreichen untrüglichen strukturel- teten Standort Erfurt-Südost zu verwirklichen- len Defizite und aktuellen Krisensymptome de Mikroelektronikprogramm der DDR, stell- des SED-Staates führten insbesondere seit den ten sich nicht nur für die unmittelbar Beteilig- manipulierten Kommunalwahlen vom Mai ten meist als international kaum tragfähige 1989 nunmehr zur Entstehung einer breit- Scheinerfolge dar. So sorgten Honeckers Wor- gefächerten Wende - bzw. Bürgerbewegung. te an alle Pessimisten im Lande anlässlich Erste und lange Zeit wichtigste dieser Grup- der Übergabe des ersten Erfurter 32-Bit-Mik- pen war das am 12. September gegründete roprozessors in Berlin am 14. August 1989 NEUE FORUM (NF) um den engagierten wohl bestenfalls noch für Erheiterung: Den Künstler und Bürgerrechtler Matthias Büchner Sozialismus in seinem Lauf, wie man bei uns aus Erfurt. Es war eng mit der evangelischen zu sagen pflegt, hält weder Ochs noch Esel Kirche verbunden; im Bezirk Suhl etwa ging auf. Dass in der Wirtschaft generell die Mel- das NF wesentlich aus deren Arbeitskreis dungen der Medien von 110-prozentigen Plan- Gesellschaftliche Erneuerung hervor. Eine erfüllungen und gewonnenen Ernteschlach- der prägenden Führungspersönlichkeiten des ten mit den realen Erfahrungen am Arbeits- Suhler NF war der Dirigent und Komponist platz und in der Versorgung hart kontrastier- Siegfried Geißler. Die ähnlich angelegte Bür- ten, war natürlich nicht nur in den thüringi- gerbewegung Demokratie Jetzt stand dem schen Bezirken mit den beherrschenden SED- NEUEN FORUM nahe, erreichte aber über ei- Tageszeitungen Das Volk (Erfurt), Volks- nige regionale Schwerpunkte hinaus nicht des- wacht (Gera) und Freies Wort (Suhl) der sen Bedeutung. Ähnlich verhielt es sich mit der Fall. Grünen Partei, die sich jedoch stärker als Par- Die teils bedrohlichen ökologischen Pro- tei verstand und später mit Vertretern des NF bleme, in Medien und offizieller Öffentlich- wie Büchner im ersten Thüringer Landtag über- keit absolutes Tabuthema, schlugen sich so- warf. Zweite der besonders hervortretenden wohl in den städtischen Industriezentren, etwa Bürgerbewegungen neben dem NEUEN dem im Winterhalbjahr permanent Smog ge- FORUM stellte der Demokratische Aufbruch plagten Erfurt, wie auch in der industriell be- (DA) dar. Die vom Erfurter Pfarrer und Semi-

224 nardozenten Edelbert Richter mitbegründete Zeitverzögerung. Bis weit in den Oktober hin- Partei lehnte den Kurs eines reformierten So- ein verließ die Opposition noch nicht den zialismus ab und plädierte früh für die deut- Schutzraum der evangelischen Kirche, die sche Einheit. Bedenken zahlreicher DA-Füh- sich in vielen Fällen als Vermittler anbot sowie rungskräfte hatten eine regionale Veranke- mit zahlreichen Pfarrern, Theologen, Kate- rung der Sozialdemokratischen Partei in der cheten, Vertretern der Offenen Arbeit bis hin DDR (SDP) verzögert; im Januar 1990 traten zu führenden Repräsentanten wie Landesbi- viele von ihnen jedoch dieser stark evange- schof Dr. Leich und Propst Dr. Falcke auch lisch geprägten Ost-SPD bei. Eher eine Au- wichtige Akteure stellte. Eine offene Konfron- ßenseiterrolle spielte die Vereinigte Linke tation mit der als unnachgiebig bekannten (VL), in der sich alternative Linke und reform- regionalen Staatsmacht scheuten die relativ willige SED-Mitglieder zu einer recht hetero- kleinen Gruppen wohl nicht ohne Grund, zu- genen Einheit zusammenfanden. Die kurzle- mal das von der Stasi erzeugte Klima der bige Forum-Partei Thüringen ging schon gut Unsicherheit und permanenten Bedrohung einen Monat nach ihrer Gründung am 20. Ja- seine Wirkung noch keineswegs völlig verlo- nuar 1990 in der konservativen Demokra- ren hatte. Die erste Großdemonstration fand tisch-Sozialen Union (DSU) auf, die sich als so erst am 26. Oktober in Erfurt statt, mit Schwesterpartei der CSU verstand. 220.000 Einwohnern das urbane Zentrum Neben diesen neuen Bewegungen und Thüringens; als Donnerstagsdemo im An- Parteien gehörten natürlich auch die gewen- schluss an ein Friedensgebet in der Andreas- deten alten Blockparteien und die SED/PDS kirche sollte sie in den nächsten Wochen eine zu den Akteuren der Wendezeit. Am Schnell- ähnliche traditionsbildende Bedeutung er- sten gelang es der CDU, neues politisches langen wie die Montagsdemos in Leipzig. In Profil zu gewinnen. Im Weimarer Brief der jenen letzten Oktobertagen kam es aber auch Initiative zur inneren Reform der CDU vom in den übrigen größeren Städten zu Protest- 10. September 1989, den u.a. die spätere aktionen und Demonstrationen. Bürgerdia- Landtagspräsidentin und heutige CDU-Frak- loge konfrontierten nunmehr die lokalen tionsvorsitzende im Landtag Christine Lieber- Funktionsträger mit kritischen Fragen und For- knecht unterzeichnet hatte, wurde die bis in derungen; in der immer selbstbewussteren den November hinein linientreue Parteifüh- Einwohnerschaft der meisten Orte erwachte rung zu Schritten der Erneuerung ermahnt. ein über Jahrzehnte verschütteter Bürgergeist. Eine Reihe der kritischen Christdemokraten Nach dem Mauerfall vom 9. November der Wendezeit rückte später in führende par- bewegte sich Thüringen in der nochmals dy- lamentarische und Staatsämter Thüringens namisierten Bewegung nunmehr auf der Hö- auf. Weniger erfolgreich verliefen die von der he der Zeit. Ein Signalereignis von nationaler Basis ausgehenden Profilierungsprozesse bei Tragweite erlebte es mit der Besetzung der der später in der FDP aufgehenden LDPD oder MfS-Bezirksleitung Erfurt am 4. Dezember. gar bei NDPD und Bauernpartei, die gänzlich Die seit 17. November als Amt für Nationale von der politischen Bühne verschwanden. Die Sicherheit (AfNS) firmierende Stasi hatte in SED/PDS schließlich fand unter der Führung Erfurt begonnen, Akten zu vernichten, was meist jüngerer Funktionsträger allmählich zu durch die Bürgerinneninitiative Frauen für politischer Handlungsfähigkeit zurück, auch Veränderung und zahlreiche engagierte Er- wenn die kontrovers diskutierten Fragen der furter unterbunden wurde. Diese Besetzungs- eigenen Vergangenheit und zukünftig einzu- aktion, die sich in Suhl sowie einigen Kreis- schlagenden Richtung noch lange auf ihr la- dienststellen wiederholte (in der BV Gera je- steten. doch erst am 4. Januar 1990), leitete die Pha- Der Ablauf der Ereignisse des Herbstes se der Bürgerkomitees und Runden Tische ´89 gestaltete sich in Thüringen gegenüber ein. Sie endete mit den Wahlen des Frühjahrs den Zentren der Wende zunächst mit gewisser 1990, mit denen das reguläre parlamentari-

225 sche System von der Kommune über den Mit 16.171 Quadratkilometern Fläche und Landtag bis hinauf zur Volkskammer Einzug 2,4 Millionen Einwohnern rangiert es unter den hielt. Der nunmehr folgende letzte Abschnitt 16 Ländern der Bundesrepublik an elfter bzw. bis zum 3. Oktober 1990 verlief in der ge- zehnter Stelle. Landeshauptstadt wurde (nach samten DDR bereits in vergleichsweise ein- teilweise hitzigem Duell mit Weimar) die Stadt heitlichen Bahnen. Erfurt, traditionelle heimliche Hauptstadt Thüringen brachte der Prozess von Wende der über Jahrhunderte von sprichwörtlicher und Wiedervereinigung nicht nur das Ende Kleinstaaterei geprägten Region. Seit der Ver- der SED-Diktatur, sondern auch die Wieder- abschiedung einer Landesverfassung im Jah- auferstehung als politisch-administrative Ein- re 1993 trägt das Land den Namen Freistaat heit. 1989/90 stellt damit in der thüringischen Thüringen . Es spricht für die Heimatverbun- Landesgeschichte einen markanten Wende- denheit und tief verwurzelte landsmannschaft- punkt dar. Mit dem 3. Oktober 1990 konstitu- liche Identität der Thüringer, dass die Wieder- ierte sich Thüringen als Bundesland aus den gründung eines föderalen Landes mit zu den drei ehemaligen DDR-Bezirken Erfurt, Gera ersten Forderungen der Wendezeit, verstärkt und Suhl. Hierbei gelangten die seit 1952 natürlich mit dem Umschwung hin zur deut- zum Bezirk Leipzig gehörenden Kreise schen Einheitsbewegung, gehörte. Der Län- Schmölln und Altenburg sowie das zu Halle derbildungsprozess kann damit als wichtiger gehörige Artern nach Volksabstimmungen Bestandteil der Emanzipationsbewegung zum südwestlichen der neuen Länder . 1989/90 eingeordnet werden.

3. Historisches Ereignis und persönliche Erfahrung 1989/90 im Spiegel von Biographien

Die geschilderten historischen Ereignisse der wahl vom 18. März 1990 offenkundig als Min- Jahre 1989/90 wurden von einzelnen Gesell- derheitenposition herausstellte. Auch beim ein- schaftsgruppen und Individuen in z.T. ausge- zuschlagenden Tempo und Modus der Wie- sprochen unterschiedlicher Form wahrge- dervereinigung gingen die Meinungen durch- nommen und bewertet. Politisch-gesellschaft- aus auseinander wiederum war es aber eine liche Stellung, Beruf, lebensweltliches Umfeld Mehrheit, die rasch auf die Einheit zusteuern bzw. Milieu, Alter, Generationenprägung, wollte. Werthaltungen, Zukunftspläne, Mentalität u.a. Mag es also eine überwiegend positive Faktoren bestimmten die Haltung zu bzw. Teil- Grundhaltung zu Wende und zügiger Wie- nahme an jenem rasanten, sich zeitweise ge- dervereinigung unter den damaligen DDR- radezu überschlagenden Prozess. Eine große Bürgern gegeben haben dies schlägt sich Mehrheit der DDR-Bürger befürwortete aller- auch in den meisten der hier zusammengetra- dings prinzipiell die Wendebewegung des genen Lebensberichte nieder differenzierte Herbstes ´89 und vollzog nach dem 9. No- sich diese Haltung schnell deutlich aus. Denn vember die Wendung hin zur Forderung nach der oben skizzierte historische Prozess sollte deutscher Einheit mit. Eine ganze Reihe gera- viele Menschen, ohne dass sie dies zunächst de auch der Aktivisten der Wende hielten zwar in vollem Maße realisierten, auch an einen am Ziel einer reformierten linken DDR fest, einschneidenden biographischen Wende- was sich aber schon bei der Volkskammer- punkt führen. Kaum jemand führte auch jen-

226 seits der auf ihn einstürzenden Neuerungen liche Ursache für die Ostalgie -Welle der nach 1989/90 noch dasselbe Leben wie zu- letzten Jahre. vor, was keineswegs nur für Jubel sorgte. Dies Überdies herrscht, trotz enormer Anstren- hat viel mit den spezifischen Umständen der gungen der Bundesrepublik, auch heute noch Wiedervereinigung im Sinne eines nahezu ein spürbares Gefälle der Lebensverhältnisse. alle Lebensbereiche erfassenden historischen Dies kontrastiert mit den anfangs euphori- Prozesses zu tun. schen Vorstellungen einer schnellen Anglei- Mit der erwähnten Bundestagswahl vom 2. chung, die durch ebenfalls allzu optimistische Dezember 1990 war, nur rund ein Jahr nach Prognosen der Politik mit versprochenen blü- dem faktischen Zusammenbruch der SED- henden Landschaften befördert worden wa- Herrschaft, die staatlich-politische Einheit her- ren. Über all diesen Problemen auf dem Weg gestellt. Freilich sollte sich bald zeigen, dass zur inneren Einheit darf freilich nicht verges- die innere Einheit , die Angleichung von Le- sen werden, dass die selbsterkämpfte Wende bensbedingungen, Mentalitäten und Welt- und die von einer breiten Mehrheit getragene sichten, hiermit nicht Schritt halten konnte. Re- Wiedervereinigung den Menschen in der DDR ale oder drohende Arbeitslosigkeit durch das nach vier Jahrzehnten einer totalitären Man- Zusammenbrechen der DDR-Wirtschaft unter gelgesellschaft politische und persönliche den über Nacht eingeführten Bedingungen Freiheit gebracht haben dies scheint auch in des freien Marktes bzw. unter Obhut der Treu- den meisten Biographien, bei allen geschil- hand-Gesellschaft, der Verlust vertrauter kol- derten Problemen und Vorbehalten, deutlich lektiver Einbindungen und Absicherungen, durch. die Einführung westlicher Gesellschafts- und Dennoch tut sich natürlich ein weites Spek- Rechtsformen, die anhaltende Abwanderung trum auf zwischen (subjektiven wie objektiven) meist junger und gut ausgebildeter Menschen Wende- bzw. Einheitsgewinnern und -ver- in den Westen all dies verunsicherte viele lierern , zwischen einstigem verfolgten Regi- ehemalige DDR-Bürger. megegner und privilegiertem Partei- und Zudem erfolgte der mit der Wiedervereini- Staatsfunktionär, zwischen ernüchterten lin- gung beginnende Elitenwechsel in Staat, Ver- ken Wendeaktivisten und erfolgreichem Neu- waltung, Wissenschaft oder Wirtschaft über- politiker, zwischen jungem Bildungsanfänger wiegend in Form eines personalen West-Ost- und ins berufliche Abseits geratenem Endfünf- Transfers. Zusammen mit der umfassenden ziger usw. Dies konnte die Wahrnehmung Abwicklung auch so mancher bewährten auch im Nachhinein zum Positiven wie zum Struktur, etwa im DDR-Schulwesen, zugunsten Negativen hin maßgeblich verändern. westlicher Organisationsmodelle, nährte dies Allerdings zeigen die biographischen Schil- mitunter die Vorstellung einer Kolonialisie- derungen, dass jenseits der genannten Ex- rung geschürt durch abfällige umgangs- trempole meist positve und negative Erfah- sprachliche Ausdrücke wie Buschzulage für rungen nebeneinander stehen und eine ein- finanzielle Zuschläge westlicher Beamter im deutige Selbsteinstufung kaum möglich Osten. Die in vielen Bereichen völlig berech- scheint. Das Ergebnis des dennoch von den tigte kritische Aufarbeitung der DDR-Ge- meisten unternommenen Versuches, ein per- schichte ließ in ihrer bisweilen allzu unduldsa- sönliches Fazit zu ziehen, hing so letztlich von men und pauschalisierenden Form das ver- den prägenden persönlichen Veranlagungen breitete Gefühl aufkommen, den Menschen und Lebenszielen ab, die durch Wende und wer-den ihre persönliche Lebensleistung, ihre Wiedervereinigung entweder befördert oder vielen auch schönen Erinnerungen, ja ihre gedämpft wurden und damit ein und dieselbe Biographie überhaupt streitig gemacht. Dies objektive Veränderung bisweilen sehr unter- ist sicher neben dem plötzlichen Verschwin- schiedlich bewertet wurde. Die Einführung der den zahlreicher vertrauter Einrichtungen, Ge- Marktwirtschaft beispielsweise konnte sich zu- wohnheiten und Produkte mit eine wesent- nächst oder auch auf Dauer als bisher unge-

227 kannte Arbeitslosigkeit, als Unsicherheit und fördern. Jenseits klischeehafter Stereotypen kälteres Betriebsklima, oder aber als oft hart und Vorurteile gilt es die Wurzeln unterschied- erarbeiteter Aufstieg zum erfolgreichen mit- licher Sichtweisen auf Geschichte und Ge- telständischen Unternehmer, bäuerlichen Neu- genwart offenzulegen. So soll schließlich auch einrichter oder Geschäftsmann äußern. denjenigen, die die Verhältnisse vor bzw. Er- Hinzu kommt das bei jedem Menschen eignissen von 1989/90 nicht bewusst erlebt zwangsläufig eingeschränkte Gesichtsfeld, haben, insbesondere also den heutigen Ju- das die unmittelbar ablaufenden komplexen gendlichen, eine differenzierte Sicht auf die in historischen Vorgänge neben der unwill- vielen Bereichen auf ihre aktuelle Erfahrungs- kürlich subjektiven Einordnung auch nie völlig welt nachwirkende jüngste Geschichte er- überblicken kann. Und wenngleich den mei- möglicht werden. sten der Autobiographien das Bemühen um Vorliegender Materialienband des Thü- eine ehrliche und rückhaltlose Selbstein- ringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplan- schätzung deutlich anzumerken ist, sei auch entwicklung und Medien (ThILLM) erfüllt auf auf die allzumenschliche und bisweilen wohl diesem Wege auch die Aufgaben einer histo- unbewusste Neigung verwiesen, die eigene rischen Quellensammlung, die ganz persön- Rolle im Rückblick gerade bezüglich sensibler liche Schicksale und Sichtweisen einer unge- Bereiche wie Anpassung an die Normen der mein ereignisreichen Zeit überliefern will. Bei DDR-Gesellschaft oder Teilnahme am Wen- der Verwendung und Auswertung einer sol- deprozess eher in milderem Lichte erscheinen chen Biographien-Sammlung gilt es aber zu lassen. Eben solche gruppen- und persön- immer, die angedeuteten Vorzüge und Gren- lichkeitsgeprägten, individuell-subjektiven zen der Oral History zu berücksichtigen: spe- Sichtweisen sollen mit den mehr als 40 Le- zifischer Erklärungsgehalt, Authentizität und bensgeschichten aus Thüringen schlaglicht- emotionaler Zugang einerseits, Subjektivität artig herausgearbeitet werden. Um hierbei ein und Begrenztheit persönlich erlebter Ge- möglichst breites Spektrum abzudecken, wur- schichte andererseits. den verschiedene Berufs- und Gesellschafts- Nicht verschwiegen sei auch, dass sich ei- felder mit je mehreren Vertretern ausgewählt, nige angesprochene Personen nach teils reifli- die wiederum teils grundlegend verschiedene cher Überlegung dem Projekt nicht zur Verfü- Wende- und Einheitserfahrungen verkörpern. gung stellen wollten. Ähnliche Unternehmun- Das mit vorliegender Biographiensamm- gen zu weiter zurückliegenden Themen haben lung angestrebte Verlagern von der Ebene der gezeigt, dass es mitunter einiger Jahrzehnte großen Geschichte auf die lebensweltliche bedarf, ehe Menschen über einschneidende Erfahrungsebene soll die historischen Vorgän- historisch-biographische Zäsuren zu berich- ge von 1989/90 zunächst einmal an Leben- ten bereit waren. Dies betrifft natürlich nicht digkeit gewinnen lassen. Das Nacherleben zuletzt mit dem untergegangenen System eng von Geschichte aus der Perspektive eines au- verbundene Personen, in diesem Falle etwa thentischen Zeitgenossen vermag einen emo- SED- und Staatsfunktionäre. Wenn selbige tionalen Zugang zur Thematik zu eröffnen, hier kaum auftreten, so liegt dem keineswegs der rein historischen Darstellungen meist ver- Absicht, sondern der angesprochene Um- schlossen bleibt. Zugleich kann damit ein Bei- stand zugrunde was zugleich dem ein- trag geleistet werden, Verständnis und Akzep- schneidenden Wendepunkt 1989/90 auf tanz für verschiedene von Wende und Wieder- eine ganz spezifische Art und Weise Ausdruck vereinigung geprägte Biographietypen zu be- verleiht.

228 Chronologie der Ereignisse

März 1985 Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU, Beginn von Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion; in den Folgejahren Ablehnung jeglicher Reformen durch die SED- Führung in der DDR

November 1988 Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik

2. Mai 1989 Abbau der Grenzbefestigungen zwischen Ungarn und Österreich, Beginn einer Fluchtwelle von DDR-Bürgern im Sommer/Herbst 1989

7. Mai 1989 Kommunalwahlen in der DDR mit massiven Bürgerprotesten

11. September 1989 Ungarn lässt alle Fluchtwilligen offiziell in den Westen ausreisen

11. September 1989 erste Leipziger Montagsdemonstration , am 23. Oktober schließlich 300.000 Menschen unter dem Motto Wir sind das Volk! auf der Straße

9. Oktober 1989 wegweisende Leipziger Montagsdemo endet ohne Gewaltan- wendung

18. Oktober 1989 Rücktritt Erich Honeckers als SED-Generalsekretär, Nachfolger Egon Krenz

4. November 1989 Massendemonstration mit 1 Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz

9. November 1989 Mauerfall , Grenzöffnung zur Bundesrepublik und Westberlin Meinungsumschwung Richtung Wiedervereinigung ( Wir sind ein Volk! )

13. November 1989 Regierung Hans Modrow (SED)

7. Dezember 1989 zentraler Runder Tisch in Berlin

19. Dezember 1989 Besuch Helmut Kohls in Dresden

18. März 1990 Volkskammerwahlen in der DDR, Regierung Lothar de Maizière (CDU)

1. Juli 1990 Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit Einführung der D- Mark

229 12. September 1990 Zwei-plus-Vier-Vertrag , volle Souveränität für- Gesamtdeutsch land

3. Oktober 1990 deutsche Wiedervereinigung, Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundsetzes

2. Dezember 1990 erste gesamtdeutsche Bundestagswahl, CDU-FDP-Regierung unter Helmut Kohl

230 Überlegungen zum Einsatz des vorliegenden Heftes im Unterricht

Von Rainer Morgenroth

Editorische Intention

Sicher wird diese Sammlung von Wende -biographien auf breites Interesse in der Öffentlichkeit stoßen, denn auch15 Jahre danach ist für alle Betroffenen die Aufarbeitung der mit den poli- tischen Ereignissen von 1989 verbundenen Umwälzungen noch in vollem Gange. So werden Biographien anderer für den Leser zum Anlass vergleichender Betrachtungen mit der eigenen Erfahrung , denn die thematische Klammer aller Einzelbeiträge ist ja auch sein Thema. Zudem wird das Interesse an Einblicken in die Lebenswelt anderer derzeit ohnehin durch die Medien mittels Talkshows und Memoireneditionen wach gehalten. Das gilt natürlich in besonderem Maße für die biographischen Reflexionen von Zeitzeugen des wohl glücklichsten Jahrhundert- ereignisses der deutschen Geschichte unmittelbar vor der Jahrtausendwende.

Hauptadressat Schule

Die schwer auslotbare Dimension dieses zeitgeschichtlichen Ereignisses forderte das Thillm ge- radezu heraus, Schülern vielfältige Zugangswege zu dieser Problematik zu öffnen, eben auch über seine Reihe Materialien . Denn in dieser Edition werden traditionell Themen der Bildungs - und Gesellschaftspolitik sowie didaktisch-methodisch relevante Problemfelder aufgegriffen, als lehrplanbegleitendes Arbeits- oder Handmaterial für die Schule aufbereitet, um deren päda- gogische Arbeit aktuell und pragmatisch zu unterstützen oder innovative Impulse zu geben. Dieser Tradition folgt auch das Heft Nr.103. Deshalb sind die Hauptadressaten dieser Samm- lung von Zeitzeugenbiographien natürlich in erster Linie Schüler und Schulen.

Lehrplanbezug

Für die derzeitige Schülergeneration sind die Wende und Wiedervereinigung in ihren Wirkun- gen einerseits noch laufender Prozess, andererseits als Ereignis aber schon Geschichte und dementsprechend im Unterricht so zu behandeln. Also ergibt sich automatisch ein stofflicher Lehrplanbezug für die Fächer Geschichte, Ethik und Sozialkunde in der Regelschule sowie für Geschichte und Ethik im Gymnasium hinsichtlich aller Betrachtungen zur Zeitgeschichte, zu ethischen und politischen Grundwerten, zum Demokratieverständnis usw. Auf explizite Hinweise zu den einzelnen Stoffgebieten kann hier verzichtet werden, zumal der Versuch, eine rein fach- spezifische Einordnung dieses Materials vorzunehmen und dementsprechend damit umzuge- hen, viel zu kurz gegriffen erscheint.

Didaktische Zielsetzung

Die didaktische Zielsetzung für den Unterrichtsgebrauch dieser Biographien muss sich vielmehr am Thüringer Kompetenzmodell ausrichten, das sich wenn auch aus formalen Gründen

231 vorangestellt als immanente Richtlinie für handlungsorientiertes Lernen im besten Sinne des Wortes konsequent durch alle Lehrpläne zieht. Und Handlungsorientierung muss beim Einsatz dieser Broschüre im Unterricht oberstes Prinzip sein, da es die Schüler mit individuell erlebter, gedanklich reflektierter und damit erzählter Geschichte, also mit Oral History konfrontiert. Mit deren Arbeitstechniken und Wirkung können Schüler nur durch praktisches Lernen vertraut ge- macht werden. Das gilt für die Untersuchung und Bewertung vorgefertigter Quellen ( wie vorliegende Biographien) und erst recht für eigene Befragungsprojekte.

Oral History als Methode

Dieser wieder entdeckte Zweig der historischen Forschung, bei dem über das Gespräch durch eine Person Vergangenheit erinnert, mündlich wiedergegeben (erzählt) und schriftlich fixiert wird, beinhaltet weit mehr, als die bloße Übersetzung ( Mündliche Geschichte ) suggeriert. Es handelt sich um ein strengen Regeln folgendes Erhebungsverfahren, mit dessen Hilfe Vergan- genheit als ehemalige Gegenwart erfasst werden soll. Allein dieser höchst fragwürdige, weil äußerst verkürzte Umschreibungsversuch des Begriffes macht deutlich, welche Möglichkeiten die Oral History für den Unterricht bietet, aber auch, wo ihre Grenzen liegen. Beides muss den Schülern bewusst gemacht werden, wenn wir sie damit konfrontieren oder zu eigener Arbeit mit dieser Methode animieren. Beginnen wir mit den verlockenden Möglichkeiten. Die Oral History liefert unmittelbare und authentische Quellen über das Alltagsleben, in denen der Mensch und seine subjektive Weltsicht im Mittelpunkt stehen. Nicht die große Geschichte, sondern die Sub- jektivität und Alltäglichkeit stehen im Blickpunkt des Interesses. Diese Authentizität fasziniert Schüler, weil sie ihnen Identifikationsmöglichkeiten schafft. Geschichtliche Ereignisse werden le- bendig, es öffnen sich unmittelbare Zugänge zum Geschehen durch die Begegnung mit jeman- dem, der dabei war. Darin liegt natürlich auch die schon angedeutete Gefahr. Denn der Schüler übersieht, dass diese Quellen stark persönlich gefärbt, manipulierbar, unvollständig und zuwei- len sogar falsch sein können. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Ereignisse individuell erlebt und erinnert sowie aus der durch neue Erfahrungen veränderten Gegenwartsperspektive wiedergegeben werden. Wir können den Interviewpartner auch nicht verhören wollen, er allein bestimmt, was er preis gibt ; wir müssen seine Tabus oder Sachzwänge (politische z.B.) akzeptieren.

Reiz der Erfahrungsgeschichte im Unterricht

Der oben genannte innere Widerspruch macht gerade den Reiz der Arbeit mit der Oral History aus. Warum? Auf unsere Biographien bezogen bedeutet dies, man kann aus ihnen kein geschlossenes oder auf Wahrheitsanspruch gründendes Geschichtsbild über die Wende herleiten wollen. Sobald man nämlich versucht, diese Biographien gleich einem Flickenteppich oder Puzzle zusammenzufügen, wird man zwar Schnittmengen gemeinsamer Befindlichkeiten gewinnen; aber man entdeckt an den Nahträndern auch Risse, Sprünge, Lücken und Brüche. Es wäre ganz falsch zu versuchen, hier zu kitten, zu ebnen und zu glätten, denn gerade die Unregelmäßigkeiten und Abweichungen stimulieren zu weiterführenden Fragen, zu Vergleichen mit anderen Quellen, fordern zur Kommentierung und Wertung heraus. Zugleich berechtigen diese Verwerfungen nicht zu Abstrichen an einzelnen Biographien. Bernd Schreier hat in seinem Vorwort die Begründung dafür mit einem Satz vorweg genommen: Das Leben lässt sich nun einmal nicht in wenigen Kategorien zusammenfassen, und jedes Leben ist einzigartig und wertvoll.(siehe S. 7). Von daher kann jede dieser Biographien ihren Beitrag zur Ergänzung oder Neubetrachtung der Wendeereignisse liefern. Spätestens hier wird klar, dass die Arbeit mit diesem Material im Unterricht nicht auf wenige Fächer beschränkt bleiben muss. Die Broschüre

232 ist methodisch vielseitig einsetzbar. Vor allem aber kann sie Impulse geben, um Schüler zu Pro- jekten anzuregen oder mit der Methode der Oral History selbst Geschichte zu schreiben , in- dem sie Alltagsgeschichte erforschen (Zeitzeugen-Interviews, Quellen erstellen , Dokumen- tationen).

Themenfelder der Alltagsgeschichte

Solche Projekte müssen nicht immer hochwissenschaftliche Zielstellungen verfolgen und nicht nur an Jahrhundertereignissen angebunden sein. Wichtig dabei ist, dass sie dem Interesse der Schüler entgegenkommen, ihrem Alter, ihren Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechen. Die sich eröffnende Bandbreite ist riesig: Zeitzeugenbefragungen können in vielgestaltigen Themen, wie zu verschwundenen Gebäuden im Stadtbild, zur Schulzeit vor 20 Jahren, zur Freizeitgestal- tung der Eltern in deren Jugendalter, in Befragung der Großeltern zu Kriegsende und Nach- kriegszeit oder eben zum politischen Geschehen der jüngeren Vergangenheit realisiert werden. Nicht zuletzt sei der Aufruf des Bundespräsidenten zum Geschichtswettbewerb mit dem Thema: Sich regen bringt Segen? Arbeit in der Geschichte genannt, der sich hier geradezu aufdrängt. Die Willkür der Aufzählung ist beabsichtigt, um die Vielfalt der Möglichkeiten anzudeuten, die man den Schülern katalogartig anbieten und durch sie erweitern lassen kann:

Alltägliches Politik/Gesellschaft Umweltgeschichte

Ernährung Ökonomische Krisen Landschaftsveränderung

Kleidung Politische Umbrüche Stadtumbau

Wohnen Stellung der Frau Verkehrswege

Arbeitswelt Umgang mit Minoritäten Ökonomie/Ökologie

Handlungsorientierung und Kompetenzentwicklung

Ganz gleich, ob es um eine einfache Dokumentation, ein umfangreicheres Projekt oder eine anspruchsvolle Seminararbeit geht immer ist eine durchdachte methodische Vorbereitung und Begleitung unabdingbar. Aber dann wird es den Schülern auch Spaß machen, die Aufgabe anzugehen. Denn jetzt müssen sie zeigen, was sie an Lernkompetenz, Sozialkompetenz, Sach- kompetenz, Methodenkompetenz sowie kommunikativen Fähigkeiten, Einfühlungsvermögen und Takt gegenüber ihren Interviewpartnern schon einbringen oder sich im Prozess des prak- tischen Lernens noch aneignen müssen. Letzteres meinen wir mit handlungsorientiertem Ler- nen , für welches in unserem Falle folgende Prinzipien berücksichtigt werden sollten:

233 Bezug zur Lebenswelt der Schüler Lernen als Prozess aktiven Suchens/Forschens

Subjektive Schülerinteressen Begriffliche Operation mit Tätigkeit berücksichtigen verbinden Beteiligung der Schüler an Ziel, Handlungsergebnisse vergegen- Planung und Umsetzungskriterien ständlichen, sie werden zum (z.B. Fragebogen) Produkt öffentlichen Interesses

Verweise auf Arbeitsformen (Methoden)

Da unsere Wende -biographien Arbeitsmaterial und weiterführende Anregung zugleich sein sollen, ergeben sich zwei Linien der methodischen Arbeit:

1. Arbeit an vorliegenden 2. Eigene Erhebungen/ Biographien Zeitzeugenbefragung ! Quellenkritik nach selbst entwickelten ! Thema/Ereignis auswählen Vorgaben (Fragebogen) ! Fragenkatalog erarbeiten ! Verarbeitung des Schlüsselereignisses ! Geeignete Zeitzeugen Wende (positiv/negativ/unklar/ auswählen ausweichend usw.) ! Interviews vereinbaren/führen ! Vergleich mit anderen Biographien ! Fragetechnik vorher in ! Schnittmengen häufiger Rollenspielen üben Befindlichkeiten herausfiltern ! Ergebnisse fixieren ! Vergleich mit offiziellen Quellen ! Vergleich und Auswertung (Lehrbuch) (nebenstehend) ! Verallgemeinerungen/Bilanz dokumentieren

Lassen wir unsere Schüler so gerüstet auf Spurensuche gehen und aus der selbst erforschten Geschichte von unten die großen historischen Zusammenhänge besser verstehen lernen und ganz nebenbei ihre persönlichen Kompetenzen weiter entwickeln

234 Literaturempfehlungen (Auswahl)

Adler, Hans-Gerd: Wir sprengen unsere Ketten. Die friedliche Revolution im Eichsfeld. Eine Do- kumentation. Leipzig 1990.

Aldenhövel, Josef Lütke u.a. (Hg.): Mühlhausen 1989/1990. Die Wende in einer thüringischen Kleinstadt. Münster 1993.

Benzler, Susanne u.a. (Hg.): Deutschland-Ost vor Ort. Anfänge der lokalen Politik in den neuen Bundesländern. Opladen 1995.

Bertram, Hans u.a. (Hg.): Systemwechsel zwischen Projekt und Prozeß. Analysen zu den Umbrü- chen in Ostdeutschland. Opladen 1998.

Debes, Martin: Durchdringen und Zersetzen. Die Bekämpfung der Opposition in Ostthüringen durch das Ministerium für Staatssicherheit im Jahre 1989. Manebach 1999.

Dornheim, Andreas: Das MfS in Thüringen während der Wende 1989/90. Erfurt 1995. (Thürin- gen. Blätter zur Landeskunde. Hg. von der Landeszentrale für politische Bildung)

Dornheim, Andreas: Der Demokratisierungsprozess in Thüringen 1989. Erfurt 1997. (Thürin- gen. Blätter zur Landeskunde. Hg. von der Landeszentrale für politische Bildung)

Dornheim, Andreas: Politischer Umbruch in Erfurt 1989/90. Weimar/Köln/Wien 1995.

Dornheim, Andreas/Schnitzler, Stephan (Hg.): Thüringen 1989/90. Akteure des Umbruchs be- richten. Erfurt 1995. (Schriften der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Bd. 1)

Elbracht, Dieter (Hg.): Arnstadt von 1989 bis 1999. Die ersten zehn Jahre nach der Wende. Eine Dokumentation. Duisburg 1999.

Falcke, Heino: Die gewaltfreie Revolution vor zehn Jahren. Deutungen, Vorgänge, Wirkungen. Erfurt 1999. (Stadt und Geschichte. Zeitschrift für Erfurt. Sonderheft 1)

Falcke, Heino: Die unvollendete Befreiung. Die Kirchen, die Umwälzung in der DDR und die Vereinigung Deutschlands. München 1991.

Friedrich, Margot: Eine Revolution nach Feierabend. Eisenacher Tagebuch der Revolution. Mar- burg 1991.

Grund, Thomas u.a. (Hg.): Die andere Geschichte . Erfurt 1993.

Herlyn Ulfert/Bertels, Lothar (Hg.): Stadt im Umbruch: Gotha. Wende und Wandel einer thürin- gischen Mittelstadt. Opladen 1994.

Heydemann, Günther/Mai, Gunther/Müller, Werner (Hg.): Revolution und Transformation in

235 der DDR 1989/90. Berlin 1999. (> Thüringen, Eichsfeld) Hoffmeister, Hans/Hempel, Mirko (Hg.): Die Wende in Thüringen. Ein Rückblick. Arnstadt/ Weimar 22000.

Hutzler-Spichtinger, Margot/Schönberger, Klaus: Unüberhörbare Wortmeldungen der Bürger... DDR-Gesellschaft am Vorabend des Umbruchs - Jena 1988/89. Leipzig 1994.

Kuhrt, Eberhard u.a. (Hg.): Am Ende des realen Sozialismus. Bd. 3. Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999. (>Thüringen)

Kuhrt, Eberhard u.a. (Hg.): Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch. Opladen 1996. (>Jena)

Lindner, Bernd (Hg.): Für ein offenes Land mit freien Menschen. Herbst ´89, fünf Jahre danach. Leipzig 1994.

Meisel, Dirk: Kommunale Selbstverwaltung im Umbruch. Entscheidungsprozesse in einer ost- deutschen Stadt nach der Wende. Bonn u.a. 1995. (Jena)

Mestrup, Heinz/Remy, Dietmar: Wir können ja hier offen reden ... Äußerungen vom Politbüro Kandidaten und Erfurter Bezirks-Chef Gerhard Müller. Eine Dokumentation. Erfurt 1997.

Mestrup, Heinz: Die SED. Ideologischer Anspruch, Herrschaftspraxis und Konflikte im Bezirk Er- furt 1971 1989. Rudolstadt/Jena 2000.

Mestrup, Heinz: Kreis und Kreisparteiorganisation der SED Mühlhausen während der politischen Wende im Herbst 1989. Erfurt 1996.

Nassmacher, Hiltrud u.a. (Hg.): Politische Strukturen im Umbruch. Berlin 1994. (Jena)

NEUES FORUM Bezirksbüro Suhl (Bernd Winkelmann und Brigitta Wurschi) (Hg.): Aufbruch ´89. Kleine Chronik der Herbstereignisse 1989 in der Bezirkshauptstadt Suhl. September bis Dezem-ber. o.O. o.J. (1990).

Remy, Dietmar: Aufbruch 89 in Mühlhausen. Kleine Chronik der Herbstereignisse 1989 in der Kreisstadt Mühlhausen. Suhl 1997.

Schnitzler, Stephan: Der Umbruch in der DDR auf kommunalpolitischer Ebene. Eine empirische Studie zum Demokratisierungsprozeß von 1989/90 in der Stadt Erfurt. Göttingen 1996.

Schönfelder, Jan: Mit Gott gegen Gülle. Die Umweltgruppe Knau/Dittersdorf 1985 bis 1991. Eine regionale Protestbewegung in der DDR. Weimar/Jena 2004.

Schönfelder, Jan: Kirche, Kerzen, Kommunisten. Die demokratische Revolution in Neustadt an der Orla 1989/90. Weimar/Jena 2004.

Schröder, Friederike: Neue Länder braucht das Land! Ablauf und Umsetzung der Länderbildung in der DDR 1990. Göttingen 1991.

236 Schröter, Albrecht: Wende in Jena. Tagebuchnotizen.Dokumente. Fotos. Jena 2000. Stein, Eberhard: Agonie und Auflösung des MfS. Streiflichter aus dem ehemaligen Bezirk Erfurt. Zella-Mehlis 1995.

Stein, Eberhard: Sorgt dafür, daß sie die Mehrheit nicht hinter sich kriegen! MfS und SED im Bezirk Erfurt. Berlin 1999.

Strohbusch, Horst: Das Licht kam aus der Kirche. Die Wende in Meiningen 1989-1990. Meinin- gen 1999.

Victor, Christoph: Oktoberfrühling. Die Wende in Weimar. Weimar 1992.

Wulff-Woesten, Hanspeter: Große Zeit in kleiner Stadt. Hildburghausen 1993.

Wurschi, Brigitta u.a.: Genossen! Glaubt s mir doch! Ich liebe Euch alle! Dokumente des Aktivs Staatssicherheit und der zeitweiligen Kommission Amtsmißbrauch und Korruption des Bezirks-

237 Personenregister

Arbeiter/Angestellte Balbierer, Fritz Fischer, Gerd Kühn, Egon Paca, José Manuel Renate, R. Roscher, Jörg Schulz, Andrea Wagner, Constanze

Kirchen und Religionsgemeinschaften Falcke, Heino Gabel, Michael Klemm, Fred Leich, Werner Lieberknecht, Christine Schramm, Reinhard Wanke, Joachim

Künstler Büchner, Matthias Geißler, Siegfried Gode, Lutz Roscher, Jörg Scheer, Udo

Landwirtschaft Bauchspieß, Karl-Heinz Fischer, Gerd Wähler, Gertraude/Michael/Volker

Lehrer Althaus, Dieter Döring, Hans Jürgen Grundschullehrerin Gütter, Horst Höppel, Ursula Klaubert, Birgit Zeuner, Bernd

238 Medien Thielmann, Aline

Medizin Groh, Gerda

Politiker Althaus, Dieter Büchner, Matthias Döring, Hans Jürgen Geißler, Siegfried Goebel, Jens Klaubert, Birgit Lieberknecht, Christine Schipanski, Dagmar

Sportler Müller, Jens Oberhoffner, Ute Sirch, Cornelia Wolff, René

Unternehmer Batzke, Hans-Ulrich Chrestensen, Niels Lund Pause, Siegfried Stiller, Bernd

Wissenschaftler Erck, Alfred Gabel, Michael Giese, Eckhard Goebel, Jens Kern, Heinrich Schipanski, Dagmar Schramm, Reinhard Weißbecker, Manfred

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