Plenarprotokoll 11/8

Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

8. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Inhalt:

Würdigung des Wirkens von Louise Schroe- Lüder FDP 357 D der aus Anlaß ihres 100. Geburtstages . 345 A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 360 B Begrüßung des Präsidenten des Europäi- Engelhard, Bundesminister BMJ . . . 363 A schen Parlaments, Sir Henry Plumb, und sei- Dr. de With SPD 365 D ner Begleitung 349 B Dr. Bötsch CDU/CSU 368 D Erweiterung der Tagesordnung 349 C Frau Schmidt-Bott GRÜNE 371 B Zur Geschäftsordnung: Dr. Langner CDU/CSU 372D Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE . . . 345 C Stiegler SPD 375B Wartenberg (Berlin) SPD 346 D Schily GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 377 C Seiters CDU/CSU 347 C Frau Schmidt-Bott GRÜNE (Erklärung nach § 30 GO) 378 A Lüder FDP 348 C Vizepräsident Cronenberg . . . . . 371B, 372 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Sechsund- Deutscher gegen Gewalt und dreißigsten Gesetzes zur Änderung des Rechtsbruch in der politischen Auseinan- Grundgesetzes dersetzung — Drucksache 11/10 — — Drucksache 11/83 — Dr. Hauff SPD 378 C in Verbindung mit Eylmann CDU/CSU 380D

Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Frau Garbe GRÜNE 382 A Verteidigung der inneren Liberalität und Baum FDP 382 D Stärkung der Demokratie Dr. Wallmann, Bundesminister BMU . . 384 A — Drucksache 11/17 — Bachmaier SPD 386D in Verbindung mit Schily GRÜNE 387 A Dr. Blens CDU/CSU 387 C Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundes- Gewalt in Staat und Gesellschaft regierung zu den Agrarpreisbeschlüssen — Drucksache 11/116 — der EG-Kommission Dr. Geißler CDU/CSU 350 B Susset CDU/CSU 407 D Bernrath SPD 354 A Müller (Schweinfurt) SPD 408 C II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Bredehorn FDP 409B Beratung des Antrags DIE GRÜNEN Kreuzeder GRÜNE 410A Einsetzung eines Untersuchungsausschus- Schartz (Trier) CDU/CSU 411A ses Oostergetelo SPD 412A — Drucksache 11/84 — Kiechle, Bundesminister BML 412 D Gansel SPD 432 C Frau Adler SPD 414B Frau Eid GRÜNE 434 A Eigen CDU/CSU 415A Beckmann FDP 435 C Heinrich FDP 416A Bohl CDU/CSU 437 C Frau Flinner GRÜNE 416 D Kalb CDU/CSU 417D Fragestunde Pfuhl SPD 418D — Drucksache 11/93 vom 27. März 1987 — Kroll-Schlüter CDU/CSU 419C Schädigung der Wirbelsäule von Kranken- Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜ- pflegern/pflegerinnen durch häufiges He- NEN ben von Patienten; Anerkennung als Berufs- krankheit Nichtinbetriebnahme des Atomkraftwerks Stade MdlAnfr 1, 2 27.03.87 Drs 11/93 Frau Steinhauer SPD — Drucksache 11/104 — Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE . . . 420D Antw PStSekr Vogt BMA 388 D Eylmann CDU/CSU 421D ZusFr Frau Steinhauer SPD 389 A Schäfer (Offenburg) SPD 422D Haltung der Bundesregierung zur Kritik des Wolfgramm (Göttingen) FDP 423D IAO-Untersuchungsausschusses an der Pra- Grüner, Parl. Staatssekretär BMU . . . 425B xis der Überprüfung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst und zur Empfehlung Beratung des Antrags der Fraktion der SPD der Einhaltung des Übereinkommens Nr. 111 vom 25. Juni 1958 über die Diskrimi- Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu nierung in Beschäftigung und Beruf ihrer Eindämmung MdlAnfr 5, 6 27.03.87 Drs 11/93 — Drucksache 11/117 — Dr. Nöbel SPD in Verbindung mit Antw PStSekr Spranger BMI 389 D

Beratung des Antrags der Fraktionen der ZusFr Dr. Nöbel SPD 390A CDU/CSU und FDP ZusFr Conradi SPD 390 B Einsetzung einer Enquete-Kommission ZusFr Paterna SPD 390 C „AIDS" — Drucksache 11/120 — ZusFr Dr. Olderog CDU/CSU 390 C ZusFr Kalisch CDU/CSU 390 D in Verbindung mit ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 390D Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜ- NEN ZusFr Frau Dr. Götte SPD 391 A Einsetzung einer Enquete-Kommission ZusFr Frau Matthäus-Maier SPD . . . 391 D — Drucksache 11/122 — Haltung der Bundesregierung zur Empfeh- Frau Conrad SPD 427B lung des IAO-Untersuchungsausschusses Frau Verhülsdonk CDU/CSU 429B zur vollen Einhaltung des Übereinkommens Nr. 111 vom 25. Juni 1958 über die Diskrimi- Frau Wilms-Kegel GRÜNE 430 B nierung in Beschäftigung und Beruf Eimer (Fürth) FDP 431 B MdlAnfr 7, 8 27.03.87 Drs 11/93 Conradi SPD Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Antw PStSekr Spranger BMI Einsetzung eines Untersuchungsausschus- 392 A ses ZusFr Conradi SPD 392 A — Drucksache 11/50 — ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 392 C in Verbindung mit ZusFr Paterna SPD 392 C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 III

Haltung der Bundesregierung zur Auffas- Verhinderung einer Steuermehrbelastung sung des IAO-Untersuchungsausschusses einzelner Bürger durch die angekündigten über die Verfassungstreue von Bewerbern „Umschichtungen" bei der Steuerreform für den öffentlichen Dienst 1990 MdlAnfr 13, 14 27.03.87 Drs 11/93 MdlAnfr 28 27.03.87 Drs 11/93 Weisskirchen (Wiesloch) SPD Huonker SPD Antw PStSekr Spranger BMI 393 B Antw PStSekr Dr. Häfele BMF 399B ZusFr Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . 393 C ZusFr Huonker SPD 399 C ZusFr Paterna SPD 393 D ZusFr Uldall CDU/CSU 400 A ZusFr Kalisch CDU/CSU 393 D Anstieg der Veranlagungsfälle bei der Ein- ZusFr Conradi SPD 394 A kommensteuer infolge der Verkürzung der ZusFr Lambinus SPD 394 B Proportionalzone ZusFr Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE . 394 C MdlAnfr 29 27.03.87 Drs 11/93 Huonker SPD ZusFr Dr. Knabe GRÜNE 394 C Antw PStSekr Dr. Häfele BMF 400B ZusFr Dr. Olderog CDU/CSU 395 B ZusFr Huonker SPD 400 C Klagen nach Art. 26 der Verfassung der ZusFr Uldall CDU/CSU 400 C Internationalen Arbeitsorganisation gegen andere westeuropäische Staaten; Reaktion Anzahl der Steuerpflichtigen, die eine gerin- der Bundesregierung auf die Empfehlungen gere Steuerentlastung als 1 000 DM jährlich des Ausschusses zur Überprüfung der Ein- (ohne die gegenzurechnenden Steuererhö- haltung des Übereinkommens hungen durch „Umschichtung") im Rahmen MdlAnfr 15, 16 27.03.87 Drs 11/93 der Steuerreform 1990 erhalten werden Dr. de With SPD MdlAnfr 30 27.03.87 Drs 11/93 Antw PStSekr Spranger BMI 395 C Dr. Wieczorek SPD ZusFr Dr. de With SPD 395 C Antw PStSekr Dr. Häfele BMF 400D ZusFr Dr. Knabe GRÜNE 395 C ZusFr Dr. Wieczorek SPD 401 A ZusFr Conradi SPD 396 C ZusFr Uldall CDU/CSU 401 B ZusFr Frau Matthäus-Maier SPD . . . . 401 C Restriktive Zulassung von Spielhallen ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 401 D MdlAnfr 23 27.03.87 Drs 11/93 Kuhlwein SPD ZusFr Dr. Soell SPD 401 D Antw PStSekr Spranger BMI 396 C ZusFr Kuhlwein SPD 402 A ZusFr Kuhlwein SPD 397 A ZusFr Huonker SPD 402 B ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 397 B ZusFr Fischer (Homburg) SPD 402 D ZusFr Conradi SPD 397 C ZusFr Poß SPD 403 A ZusFr Kühbacher SPD 397 C ZusFr Kastning SPD 403 B ZusFr Wartenberg (Berlin) SPD 397 D Aussage von Bundeskanzler Dr. Kohl in der Wettbewerbsverzerrung durch unterschied- Regierungserklärung über die vorrangige liche Besteuerung der Umsätze der Duty- steuerliche Entlastung der unteren und mitt- Free-Shops innerhalb der EG leren Einkommen durch die Steuerreform 1990 angesichts der unterschiedlichen Steu- MdlAnfr 26 27.03.87 Drs 11/93 erentlastung eines verheirateten Einkom- Uldall CDU/CSU mensmillionärs und eines Durchschnittsver- Antw PStSekr Dr. Häfele BMF 398 A dieners ZusFr Uldall CDU/CSU 398B MdlAnfr 31 27.03.87 Drs 11/93 Dr. Wieczorek SPD Auswirkung des Steuerpakets auf die Steu- Antw PStSekr Dr. Häfele BMF 403 C erbelastung der einzelnen Bürger ZusFr Dr. Wieczorek SPD 403 D MdlAnfr 27 27.03.87 Drs 11/93 Dr. Spöri SPD ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 404 A Antw PStSekr Dr. Häfele BMF 398 C ZusFr Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE . 404B ZusFr Dr. Spöri SPD 398D ZusFr Huonker SPD 404 B IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

ZusFr Dr. Mertens (Bottrop) SPD . . . 404D Anlage 4 ZusFr Oesinghaus SPD 405A Haltung der Bundesregierung zur Kritik des IAO-Untersuchungsausschusses an der un- ZusFr Brück SPD 405 B terschiedslosen Forderung der Verfassungs- treue bei der Beschäftigung von Beamten im Durchschnittliche Lohn- bzw. Einkommen- öffentlichen Dienst steuerbelastung eines ledigen Arbeitneh- mers in den Jahren 1969 bis 1982 im Ver- MdlAnfr 11, 12 27.03.87 Drs 11/93 gleich zu 1987 Peter (Kassel) SPD

MdlAnfr 32 27.03.87 Drs 11/93 SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 442* A Frau Matthäus-Maier SPD Antw PStSekr Dr. Häfele BMF 405B Anlage 5 ZusFr Frau Matthäus-Maier SPD . . . 405 C Schlußfolgerungen aus den Randnoten 549 ZusFr Dr. Meyer zu Bentrup CDU/CSU 406A und 554 zum Bericht gemäß Art. 26 der Ver- ZusFr Poß SPD 406A fassung der Internationalen Arbeitsorganisa- tion ZusFr Dr. Spöri SPD 406B MdlAnfr 17, 18 27.03.87 Drs 11/93 ZusFr Uldall CDU/CSU 406 C Stiegler SPD

Prozentuale Steuerentlastung eines verhei- SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 442* C rateten Arbeitnehmers ohne Kinder bei einem Bruttojahreseinkommen von 60 000 DM bzw. 150 000 DM Anlage 6 MdlAnfr 33 27.03.87 Drs 11/93 Korrektur des Berichts nach Art. 26 der Ver- Frau Matthäus-Maier SPD fassung der Internationalen Arbeitsorganisa- Antw PStSekr Dr. Häfele BMF 406D tion; Reaktion der Bundesregierung auf die Empfehlungen des Ausschusses zur Über- ZusFr Frau Matthäus-Maier SPD . . . 406 D prüfung der Einhaltung des Übereinkom- mens ZusFr Dr. Knabe GRÜNE 407 B ZusFr Huonker SPD 407 B MdlAnfr 19, 20 27.03.87 Drs 11/93 Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD

Nächste Sitzung 439 C SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 442* D

Anlage 1 Anlage 7 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 441* A Konsequenzen aus der Randnote 582 zum Bericht gemäß Art. 26 der Verfassung der Anlage 2 Internationalen Arbeitsorganisation und aus der Schlußfolgerung des Ausschusses zur Bau eines dritten Gleises für den Bundes- Überprüfung der Einhaltung des Überein- bahnabschnitt Offenburg—Basel im Bereich kommens der Rheintalstrecke; Anbindung des künfti- gen ICE-Verkehrs im Oberrheintal an Frank- MdlAnfr 21, 22 27.03.87 Drs 11/93 reich Bachmaier SPD MdlAnfr 3, 4 27.03.87 Drs 11/93 SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 443*B Dr. Schroeder (Freiburg) CDU/CSU SchrAntw PStSekr Dr. Schulte BMV . . . 441*B Anlage 8 Anlage 3 Behauptung des Bundesfinanzministers über ordnungspolitische Erwägungen für die Pri- Haltung der Bundesregierung zur Kritik des vatisierung des Bundesanteils am Volkswa- IAO-Untersuchungsausschusses an der Pra- genwerk; Ausgabe von „Volks"- und Beleg- xis der Anwendung strenger Kriterien bei der Überprüfung der Verfassungstreue im schaftsaktien zur Sicherung des Zwecks der öffentlichen Dienst Privatisierung MdlAnfr 9, 10 27.03.87 Drs 11/93 MdlAnfr 24, 25 27.03.87 Drs 11/93 Catenhusen SPD Nehm SPD SchrAntw PStSekr Spranger BMI . . . . 441* D SchrAntw PStSekr Dr. Häfele BMF . . . 443* D Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 V

Anlage 9 den Abbau arbeitnehmerspezifischer Steuer- vergünstigungen Durchschnittliche prozentuale Versteuerung der Unternehmensgewinne MdlAnfr 42, 43 27.03.87 Drs 11/93 MdlAnfr 34 27.03.87 Drs 11/93 Dr. Hauchler SPD Poß SPD SchrAntw PStSekr Dr. Häfele BMF . . . 446* C SchrAntw PStSekr Dr. Häfele BMF . . . 444* B

Anlage 15 Anlage 10 Verschärfung der steuerlichen Erfassung der Entlastung von verheirateten Arbeitnehmern Spielhallen-Einnahmen mit einem Einkommen von 40 000 bzw. von 300 000 DM nach dem für 1988 geplanten MdlAnfr 44 27.03.87 Drs 11/93 Abbau der Progression des Einkommensteu- Dr. Klejdzinski SPD ertarifs; Auswirkungen der 1990 geplanten Steueränderung auf die Zahl der von der Pro- SchrAntw PStSekr Dr. Häfele BMF . . . 446*D gressionszone erfaßten Einkommensteuer- pflichtigen Anlage 16 MdlAnfr 35, 36 27.03.87 Drs 11/93 Dr. Mertens (Bottrop) SPD Verdrängung von Geschäften in den Stadt- zentren durch Spielhallen SchrAntw PStSekr Dr. Häfele BMF . . . 444* D MdlAnfr 45 27.03.87 Drs 11/93 Dr. Klejdzinski SPD Anlage 11 SchrAntw PStSekr Dr. Riedl BMWi . . . 447*A Nachbesserung des Steuersenkungsgeset- zes 1986/88, insbesondere der Höhe des Grundfreibetrages; Vorlage des Gesetzent- Anlage 17 wurf s Einführung eines Antidumpingverfahrens MdlAnfr 37, 38 27.03.87 Drs 11/93 zur Verteuerung der Düngemittelimporte Reschke SPD durch die Kommission der Europäischen SchrAntw PStSekr Dr. Häfele BMF . . . 445* C Gemeinschaft MdlAnfr 46, 47 27.03.87 Drs 11/93 Eigen CDU/CSU Anlage 12 Steuerentlastung der Spitzenverdiener SchrAntw PStSekr Dr. Riedl BMWi . . . 447* C durch die 1990 geplante Anhebung der Kin- derfreibeträge Anlage 18 MdlAnfr 39 27.03.87 Drs 11/93 Kastning SPD Lösung der EG-Agrarprobleme durch kostenlose Abgabe der Überschüsse an But- SchrAntw PStSekr Dr. Häfele BMF . . . 445* D ter, Milch und Fleisch; Höhe der 1986 im Rahmen des Beitragskostenentlastungsge- setzes in der Landwirtschaft ausgezahlten Anlage 13 Beträge Bewertung der Aussage von Bundeskanzler Dr. Kohl zur Steuerentlastung von Familien MdlAnfr 48, 49 27.03.87 Drs 11/93 angesichts einer geringeren steuerlichen Kroll-Schlüter CDU/CSU Entlastung von Verheirateten mit Kindern SchrAntw PStSekr Dr. von Geldern BML . 448* A gegenüber denen ohne Kinder ; Steuerentla- stung der Bezieher kleiner Einkünfte durch die für 1990 geplante Anhebung der Kinder- freibeträge und des Kindergeldzuschlags Anlage 19 Unterstützung von EG-Programmen über MdlAnfr 40, 41 27.03.87 Drs 11/93 den Abbau der Agrarüberschüsse durch Oesinghaus SPD Stillegung landwirtschaftlicher Nutzflächen SchrAntw PStSekr Dr. Häfele BMF . . . 446* A und Aufteilung der Landschaft in Schutzge- biete und chemieintensive Anbauzonen

Anlage 14 MdlAnfr 50, 51 27.03.87 Drs 11/93 Kreuzeder GRÜNE Nichtfinanzierung der Steuersenkung 1990 über die Erhöhung indirekter Steuern und SchrAntw PStSekr Dr. von Geldern BML . 448* C VI Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Anlage 20 Anlage 26 Stopp der Ausbaumaßnahmen auf dem Heil- Freistellung von Boris Becker vom Wehr- bronner Raketenstandort Waldheide dienst; Änderung des Wehrpflichtgesetzes

MdlAnfr 52 27.03.87 Drs 11/93 MdlAnfr 63, 64 27.03.87 Drs 11/93 Dr. Spöri SPD Dr. Emmerlich SPD

SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg . . . 449*A SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg . . . 451* B

Anlage 21 Anlage 27 Vereinbarkeit der Begründung der Wehrbe- reichsverwaltung für die Ablehnung des Verzicht des Bundesverteidigungsministeri- Antrags eines Familienvaters auf Zurückstel- ums auf Heranziehung von jungen Männern, lung von einer Wehrübung mit der Frauen- die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt und Familienpolitik der Bundesregierung haben, zum Wehrdienst, wie im Falle des Berufstennisspielers Boris Becker MdlAnfr 53, 54 27.03.87 Drs 11/93 Sieler (Amberg) SPD MdlAnfr 65, 66 27.03.87 Drs 11/93 Kühbacher SPD SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg . . . 449* B SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg . . . 451*D

Anlage 22 Arbeitslosigkeit ausgeschiedener Zeitsolda- Anlage 28 ten; beschäftigungspolitische Maßnahmen Behandlung von AIDS-Kranken durch Heil- zur Wiedereingliederung in den zivilen praktiker Beruf MdlAnfr 55, 56 27.03.87 Drs 11/93 MdlAnfr 67 27.03.87 Drs 11/93 Eylmann CDU/CSU Frau Würfel FDP SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg . . . 449* D SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 452*A

Anlage 23 Anlage 29 Zurückhaltung einer Expertise über Ver- Einstufung von Ringen und Boxen als AIDS- stöße gegen den Umweltschutz in den Stand- gefährdende Sportarten durch den baden- ortverwaltungen der Bundeswehr württembergischen Kultusminister

MdlAnfr 57, 58 27.03.87 Drs 11/93 MdlAnfr 68 27.03.87 Drs 11/93 Leidinger SPD Dr. Pick SPD SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg . . . 450*A SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 452*C

Anlage 24 Beitrag der Bundesregierung im Sinne des Anlage 30 1983 erschienenen Buches von Bundesver- Weiterführung und Finanzierung eines Bun- teidigungsminister Wörner „Die Atom- desmodells in der Drogenarbeit schwelle heben", insbesondere im Hinblick auf den Ersteinsatz von Atomwaffen MdlAnfr 69, 70 27.03.87 Drs 11/93 Antretter SPD MdlAnfr 59, 60 27.03.87 Drs 11/93 Gerster (Worms) SPD SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 452*D

SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg . . . 450* C

Anlage 31 Anlage 25 Zahl der kindergeldzuschlagsberechtigten Einberufung von Boris Becker zum Wehr- Sozialhilfeempfänger; Anrechnung des Kin- dienst dergeldzuschlags auf die Sozialhilfe

MdlAnfr 61, 62 27.03.87 Drs 11/93 MdlAnfr 71, 72 27.03.87 Drs 11/93 Dr. Soell SPD Weiß (Kaiserslautern) CDU/CSU

SchrAntw PStSekr Würzbach BMVg . . . 451* A SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 453* B Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 VII

Anlage 32 Anlage 35 Entscheidung der Bundesregierung über Unterbindung des Exports radioaktiver Fut- eine Erhöhung des Kindergeldes termittel; Ausfuhr radioaktiver Futter- und Lebensmittel nach dem Reaktorunfall in MdlAnfr 73 27.03.87 Drs 11/93 Tschernobyl; Verzicht der Bundesregierung Kastning SPD auf die Vernichtung der radioaktiven Molke und Vorstellungen über den weiteren Ver- SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 453* C bleib

MdlAnfr 77, 78 27.03.87 Drs 11/93 Anlage 33 Frau Schmidt (Nürnberg) SPD Suchtgefahr an Glücksspielautomaten SchrAntw PStSekr Grüner BMU . . . 454*C MdlAnfr 74 27.03.87 Drs 11/93 Kuhlwein SPD

SchrAntw PStSekr Pfeifer BMJFFG . . . 453* D Anlage 36 Einbeziehung der Wiederaufarbeitungsan- Anlage 34 lage in Wackersdorf in das Verbot zur Errich- Anhebung der EG-Strahlungsgrenzwerte für tung von Atomanlagen in erdbebengefähr- Milch und Milchprodukte auf 4 000 und für deten Gebieten andere Nahrungsmittel auf 2 000 Becquerel MdlAnfr 79 27.03.87 Drs 11/93 MdlAnfr 75, 76 27.03.87 Drs 11/93 Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE Menzel SPD

SchrAntw PStSekr Grüner BMU . . . . 454 A SchrAntw PStSekr Grüner BMU ...455* B

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8. Sitzung

Bonn, den 2. April 1987

Beginn: 9.01 Uhr

Vizepräsident Westphal: Die Sitzung ist eröffnet. erweitern um die Beratung des Antrags „Mietpreis- bindung Berlin als Dauerrecht", Drucksache 11/119. Meine Damen und Herren, heute jährt sich zum Die Fraktion DIE GRÜNEN hat fristgerecht eine hundertsten Mal der Geburtstag von Louise Schroe- Erweiterung der Tagesordnung, „Entwurf eines der. Die sozialdemokratische Politikerin hat entschei- Gesetzes zur Beibehaltung und Verbesserung der denden Anteil an der demokratischen Entwicklung Mietpreisbindung in Berlin", Drucksache 11/29, unseres Landes und vor allem Berlins in der Phase des beantragt; das ist zeitlich eher eingegangen. Wiederaufbaus nach 1945 gehabt. Wird dazu das Wort zur Geschäftsordnung ver- Als die sowjetische Besatzungsmacht Ernst Reuter langt? — Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin hat die Ausübung des Amtes als Berliner Oberbürgermei- das Wort. ster verwehrte, übernahm Louise Schroeder das schwere Amt und verkörperte während der Blockade 1948 vor aller Welt den Durchhaltewillen der in ihrer Existenz schwer bedrohten Stadt. Frau Oesterle-Schwerin (GRÜNE): Herr Präsident! Unter ihrer Führung fanden sich alle demokrati- Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Fraktion der schen Kräfte zu gemeinsamer Abwehr der kommuni- GRÜNEN beantragt, die heutige Tagesordnung zu stischen Bedrohung zusammen. Mit persönlichem ändern und als Punkt 1 die erste Lesung über unseren Mut, Bescheidenheit und Prinzipientreue hat sie für Gesetzentwurf zur Beibehaltung und zur Verbesse- die Erhaltung der Freiheit Berlins gekämpft. rung der Mietpreisbindung in Berlin aufzunehmen. Unseren Gesetzentwurf haben wir schon im Februar Louise Schroeder kam aus einer Arbeiterfamilie in eingereicht. Im Altestenrat war seit langem ausge- Hamburg-Altona. Kurz nach Aufhebung des Verbots macht, daß diese erste Lesung heute hier stattfinden der Zugehörigkeit von Frauen zu politischen Parteien soll. Wir haben deswegen nur ganz wenig Verständnis schloß sie sich 1910 der SPD an. dafür, daß wir vor zwei Tagen erfahren mußten, daß Sie war Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt und die Sache doch nicht auf die Tagesordnung kommen gehörte 1919 zu den ersten Frauen, die in die Weima- soll. Ich sage, wir haben nur wenig Verständnis dafür, rer Nationalversammlung gewählt wurden. 1920 weil wir natürlich schon wissen, warum den Koali- wurde sie Mitglied des Reichstags, 1933 ging sie tionsparteien, der CDU und der FDP, die Behandlung mutig den Männern voran in die von SA-Horden bela- dieses Themas nicht nur generell, sondern ganz gerte Kroll-Oper und stimmte mit der SPD-Fraktion besonders heute unangenehm ist. gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz. (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Na, na!) Als Parlamentarierin hat sich Louise Schroeder für Während sich die CDU und die FDP in Berlin noch die Benachteiligten, die sozial Schwachen und die darüber streiten, wie hoch die Mietsteigerung sein Jugendwohlfahrt engagiert. Auch im Deutschen Bun- darf, die sie den Berlinern zur 750-Jahr-Feier „schen- destag setzte sie ab 1949 diese Arbeit fort. ken" wollen, formiert sich erneut und verstärkt der Diese tapfere Frau hatte keinen leichten Lebens- Widerstand der Mieter und der Mieterinnen in Berlin. weg. Trotzdem war sie es, die anderen immer wieder Im Mai wird es eine von Mietervereinen organisierte Hoffnung gab. Sie hat sich nicht an die Spitze Volksabstimmung geben, bei der die Mieter und Mie- gedrängt, aber sie hat Verantwortung angenommen terinnen darüber befragt werden, ob sie für oder und sich darin auf eine Art bewährt, die über ihre Zeit gegen eine Mietpreisbindung in Berlin sind. hinaus beispielgebend ist. (Rossmanith [CDU/CSU]: Volkskammer Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit für dieses oder wo? — Beckmann [FDP]: Die Volksbe- Wort an Louise Schroeder, die heute ihren fragung werden Sie ja wohl boykottieren!?) 100. Geburtstag begangen hätte. Die Mobilisierung für diese Volksabstimmung läuft Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat jetzt an. Das ist der Grund dafür, daß Sie das Thema fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung zu heute hier vom Tisch haben wollen. Das ist verständ- 346 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode -- 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Frau Oesterle-Schwerin lich. Aber das kann doch nicht im Ernst ein Grund blik, gibt es in Berlin einen Lebensstandard, der mit dafür sein, dem in der Bundesrepublik vergleichbar ist. (Beckmann [FDP]: Nein, das ist kein (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der Grund!) CDU/CSU: Alles Quatsch! — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das soll zur Geschäfts ein Thema, das für die Berliner keinen Aufschub ver- ordnung sein?!) trägt, hier von der Tagesordnung abzusetzen. Bei der Einführung des weißen Kreises würden Tau- (Beifall bei den GRÜNEN) sende von Berlinern ihre Wohnungen nicht mehr finanzieren können. Das Wohngeld, mit dem Sie sie Für die Berliner ist die Behandlung unseres Gesetz- dann vertrösten wollen, würde nur dazu führen, daß entwurfs äußerst dringlich, und zwar aus folgenden die Begehrlichkeit der Hausbesitzer weiter wächst. Gründen: erstens, weil in unserem Entwurf die Miet- Das führt zu einer Mietspirale ohne Ende. vorgesehen ist und weil preisbindung als Dauerrecht (Beckmann [FDP]: Zur Geschäftsordnung!) nur dadurch eine bezahlbare Miete in Berlin gewähr- leistet werden kann. Durch Marktwirtschaft ist noch nie eine Miete gesenkt worden. Mietpreisspiegel sind ein ganz prima Mittel Zweitens ist unser Entwurf so dringlich, weil er eine dafür, die Mieten in die Höhe zu treiben. Mieterhöhung von höchstens 6 % im Laufe von zwei Jahren vorsieht. Vizepräsident Westphal: So, meine Dame, Sie müs- (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Hat doch nichts sen zum Schluß kommen. mit der Tagesordnung zu tun!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und nur dadurch Mietexplosionen, wie sie in Ham- Frau Oesterle - Schwerin (GRÜNE): Ich komme jetzt burg und München stattgefunden haben, in Berlin zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen. verhindert werden können. Ich habe noch die salbungsvollen Worte im Ohr, mit (Dr. Möller [CDU/CSU]: Sie haben keine denen der Bundeskanzler erst vor kurzer Zeit hier Ahnung! — Beckmann [FDP]: Soll das eine seine Solidarität mit Berlin beschworen hat. Rede zur Geschäftsordnung sein?) Frau Kollegin, Sie müssen Ich möchte Sie daran erinnern, daß in anderen Bal- Vizepräsident Westphal: bitte Ihre Rede beenden. Die fünf Minuten sind weit lungsgebieten Mietsteigerungen in Höhe von über überschritten. 100 % im Laufe von zehn Jahren stattgefunden haben. — Das ist zur Geschäftsordnung. Frau Oesterle - Schwerin (GRÜNE): Ja, ich beende (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann nur der meine Rede. Präsident entscheiden!) Ich frage den Bundeskanzler, ich frage die CDU und Drittens ist die Behandlung unseres Entwurfs heute die FDP: — so dringlich, Vizepräsident Westphal: Frau Kollegin, ich bitte Sie, (Dr. Penner [SPD]: Alles Schuld von Bohl!) zum Schluß zu kommen. weil schon jetzt mit Hilfe von Hochglanzbroschüren in der ganzen Bundesrepublik Spekulanten mit dem Frau Oesterle - Schwerin (GRÜNE): — Wem gilt Ihre Argument nach Berlin gezogen werden, sie sollten Solidarität? jetzt dort Häuser kaufen, weil die Mieten dort in (Zuruf von der CDU/CSU: Zur Tagesord kurzer Zeit angehoben werden könnten. nung!) (Beckmann [FDP]: Geschäftsordnung!) Gilt sie 1,2 Millionen Mieterinnen und Mietern, oder gilt Ihre Solidarität den Spekulanten? Diese Spekulanten müssen jetzt abgewehrt werden. - Das verträgt keinen Aufschub. Vizepräsident Westphal: Ich habe Ihnen gesagt, daß (Beifall bei den GRÜNEN) Sie die Redezeit überschritten haben. Ich bitte Sie, das Rednerpult zu verlassen. Unser Gesetzentwurf ist deswegen so dringlich, (Beifall bei den GRÜNEN) weil die Entwicklung der Lebenshaltungskosten in Liebe Kolleginnen und Kollegen, was die Frage Berlin schon immer über der in der Bundesrepublik angeht, ob etwas „zur Geschäftsordnung" ist oder gelegen hat. nicht, so fragen Sie sich bitte alle selbst, was Sie zu (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Stimmt nicht! — dem Thema hier oben schon gemacht haben, bevor Bohl [CDU/CSU]: Was hat das mit Dringlich- Sie anderen Vorwürfe machen. keit zu tun? Reden Sie mal zur Dringlich- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) keit!) Als nächster hat Herr Kollege Wartenberg das — Doch, das stimmt. Die durchschnittlichen Einkom- Wort. men liegen in Berlin um ca. 15 % unter den Einkom- men in vergleichbaren Ballungszentren in der Bun- Wartenberg (Berlin) (SPD): Herr Präsident! Meine desrepublik. Nur weil die Mieten in Berlin um durch- Damen und Herren! Die SPD-Fraktion beantragt, schnittlich 6 % niedriger liegen als in der Bundesrepu ihren Antrag heute hier aufzusetzen. Sie wissen, die Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 347

Wartenberg (Berlin) Verlängerung der Mietpreisbindung ist ein Bundes- Vielen Dank. gesetz. Dies ist nichts Neues für dieses Parlament. Es (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten ist aber erstaunlich, daß, obwohl seit fünf Jahren fest- der GRÜNEN) steht, daß in diesem Jahr die Mietpreisbindung aus- läuft, hier im Parlament in der ersten Sitzung des Vizepräsident Westphal: Weiter zur Geschäftsord- neuen Bundestages dies nicht beraten werden darf, nung hat das Wort der Abgeordnete Seiters. obwohl wir unter Zeitdruck stehen. Auch der zweite Grund, warum wir meinen, daß Seiters (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen dieses Gesetz hier auf der Tagesordnung stehen muß, und Herren! Ich möchte zur Klarstellung des Sachver- ist ein formaler: weil der Senat von Berlin eine gute halts doch zunächst noch einmal darauf hinweisen, Tradition gebrochen hat. daß in der 9. Wahlperiode des Deutschen Bundesta- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sie haben alle ges alle hier im Parlament vertretenen Fraktionen fast Traditionen gebrochen!) einstimmig die heute bestehende Rechtslage geschaf- fen haben. Die Tradition in Berlin war immer die, daß, bevor man (Sellin [GRÜNE]: Ohne uns! Wir waren nicht in den Bundestag geht, die Berliner Parteien vom jeweiligen Senat zu einem Gespräch eingeladen wer- dabei!) den, um vorher eine Übereinkunft über die Mietenge- Ist ja nicht ganz unwichtig, wenn man zunächst ein- setzgebung zu erzielen. mal darauf hinweist. Diese Rechtslage sagt aus, daß die Mietpreisbindung für Altbauwohnungen in Ber- Seit einem Jahr, genau seit dem 23. April 1986, liegt lin zum 31. Dezember 1987 bei dann abzuschließen- ein Antrag zur Verlängerung der Mietpreisbindung den neuen Mietverträgen beendet wird, bei bestehen- als Dauerrecht der SPD-Fraktion des Abgeordneten- den Mietverhältnissen zum 31. Dezember 1989. hauses im Abgeordnetenhaus von Berlin vor. Ein Jahr lang hat dieser Senat dieses Gesetz nur bekämpft und Es handelt sich um eine sehr detaillierte Regelung, gesagt: Die Mieten müssen freigegeben werden. Er die damals nach langen und schwierigen Beratungen hat zu keinem Gespräch aufgerufen. Er hat überhaupt in und mit den einzelnen Fraktionen dieses Hauses keine Bemühung unternommen, hier für Berlin etwas unter besonderer Beteiligung aller Berliner Abgeord- zu tun. Da es aber ein Bundesgesetz ist und wir nicht neten und des Berliner Senats gefunden worden ist. länger warten können, müssen wir, wenn der Berliner Aus unserer Sicht war auch dies ein Zeichen der Senat die Interessen der Berliner nicht vertritt, hier im besonderen Anteilnahme und Fürsorge, die wir Berlin Bundestag selbst tätig werden. aus unserer gesamtpolitischen Verantwortung heraus stets haben zukommen lassen. An dieser Verantwor- (Beifall bei der SPD) tung wird sich auch in der Zukunft überhaupt nichts Ich glaube, das sollte auch Ihnen zu denken geben. ändern. Jetzt, kurz vor der Urabstimmung, die Sozialdemokra- Deswegen möchte ich doch zu den etwas merkwür- ten, Mieterverein und andere Organisationen organi- digen Umständen etwas sagen, die zu der heutigen sieren, kriegt der Senat die Hosen voll und fängt an, Geschäftsordnungsdebatte geführt haben, die sich bei ein bißchen über die Mietenfrage zu diskutieren vernünftiger Bereitschaft zum Konsens ohne weiteres hätte vermeiden lassen. (Bohl [CDU/CSU]: Wie geht das denn?) (Dr. Penner [SPD]: Alles Quatsch!) — das geht — , aber lädt die Berliner Fraktion des Abgeordnetenhauses immer noch nicht zu einem Die Fraktion der GRÜNEN hat einen Gesetzentwurf Gespräch ein, um vor der Sommerpause in diesem zur Mietpreisbindung in Berlin eingebracht — alles in Bundestag die Mietensituation der Stadt zu diskutie- Ordnung — , besteht aber darauf, ihn bereits heute, ren und zu einem vernünftigen Beschluß zu kommen. wo wir ohnehin unter Zeitdruck stehen, Die Mietensituation der eingeschlossenen Stadt, der (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Warum denn? Stadt ohne Umland, ist eine andere als in jedem Bal- Weil Sie Ihre Debatte für die Wahl haben wollen! — Abg. Sellin [GRÜNE] meldet sich lungsgebiet. Dieser Verantwortung ist sich der Deut- - sche Bundestag in den vergangenen Jahren trotz zu einer Zwischenfrage) gewisser Bedenken immer bewußt gewesen. — das ist eine Geschäftsordnungsdebatte; es geht lei- Ich kann Sie nur aufrufen, sich dieser Verantwor- der nicht — hier im Parlament in erster Lesung zu tung bewußt zu sein und mit unserem Antrag zu ver- beraten. Nun wollen wir doch einmal ehrlich sein und suchen, den Berliner Senat endlich aufzufordern, den darauf hinweisen, daß alle Fraktionen dieses Hauses Pflichten nachzukommen, die er gegenüber den Ber- sich auf einen Zeitplan für heute geeinigt haben, den linern hat und hier vor dem Deutschen Bundestag ein- wir ohnehin schon um anderthalb Stunden über- lösen muß. Der Berliner Senat hat gegenüber dem schreiten, und zwar auch deshalb überschreiten, weil Bundestag seine Pflichten nicht eingelöst. Wir sind wir kurzfristig zugestimmt haben, daß heute nachmit- deswegen dazu verpflichtet, hier im Bundestag von tag noch ein von der Fraktion DIE GRÜNEN als eilbe- uns aus etwas zu unternehmen. dürftig bezeichneter Antrag zum Kernkraftwerk Stade auf die Tagesordnung genommen worden ist. (Zuruf des Abg. Dr.-Ing. Kansy [CDU/ (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das ist nicht CSU]) die Wahrheit, was Sie sagen, Herr Seiters! — Wir fordern Sie dazu auf, nicht nur in Sonntagsreden Sellin [GRÜNE]: Sie haben im Ältestenrat etwas zu Berlin zu sagen, sondern auch konkret etwas gesagt, daß das heute behandelt wird! zu machen. Warum halten Sie sich nicht daran?) 348 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Seiters — Sie können sich überhaupt nicht über die Behand- eines guten Ergebnisses, — damit auch das einmal lung im Parlament beklagen, meine Damen und Her- klar ist. ren. Wenn Sie sich mit Ihren Dingen nicht durchset- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zen, liegt es nämlich meist an Ihnen selbst, wie gestern exemplarisch deutlich geworden ist, als Sie Ich bin auch der Meinung, daß wir aus Fehlern der zwei Abgeordnete in den Richterwahlausschuß und in vergangenen Legislaturperiode ein bißchen lernen das Wahlmännergremium hätten entsenden können; sollten. Wir sollten die Gesetzgebungsarbeit des Par- aber wenn von Ihren 44 Abgeordneten nur 28 hier laments nicht schon zu Beginn dieser Legislaturpe- sind und ihren eigenen Mann wählen wollen, dann riode mit Hektik beginnen. Wir haben — das ist ein geht das eben nicht. vernünftiges Angebot — auch gestern in der Geschäftsführerbesprechung vorgeschlagen, in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ersten oder zweiten Sitzungswoche des Bundestages Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Die machen nach Ostern dieses Thema zu behandeln und immer nur leere Sprüche!) anschließend zügig im Fachausschuß zu beraten. Wir wollen einmal der erstaunten Öffentlichkeit in Deshalb beantrage ich für meine Fraktion, für heute diesem Zusammenhang mitteilen, daß der Kollege den Antrag der GRÜNEN und in Verbindung damit Schily und die Kollegin Vollmer nur deswegen nicht auch den Antrag der SPD zur Aufsetzung auf die im Richterwahlausschuß und im Wahlmännergre- Tagesordnung abzulehnen. mium sind, weil 16 Abgeordnete Ihrer Fraktion über- haupt nicht ihren parlamentarischen Pflichten hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nachkommen; das ist der Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Vizepräsident Westphal: Ebenfalls zur Geschäfts- Abgeordneten der SPD — Bohl [CDU/CSU]: ordnung hat der Abgeordnete Lüder das Wort. Keine Pflichterfüllung! — Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Herr Seiters, zur Geschäftsord nung!) Lüder (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten — Daß Ihnen das nicht gefällt, kann ich mir wohl vor- Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Demo- stellen, aber es war vielleicht doch wichtig, diese Mit- kraten schließt sich dem Antrag an, heute diese bei- teilung für die Öffentlichkeit noch zu machen. den Anträge hier nicht zu beraten, und zwar aus fol- (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Sie dürfen genden Gründen. reden, was Sie wollen!) (Zuruf des Abg. Sellin [GRÜNE]) — Wenn Sie ein bißchen besser über Berlin informiert wären, wüßten Sie, daß sich der Senat längst einig ist Aber, Herr Kollege Seiters, Vizepräsident Westphal: und daß wir nicht in der Sache streiten, sondern über Sie werden bestätigen, daß ich mit meiner Bemerkung eine sachgerechte Lösung nachdenken. zur Art der Geschäftsordnungsdebatten, die wir hier geführt haben, recht hatte. (Zuruf von der SPD: Aber die Sache ist doch noch nicht einmal formuliert!) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie die Themen, die mit dem Wohnungsbau und mit der Wohnungspolitik in Berlin zusammen- hängen, ernsthaft behandeln wollen, dann darf das Seiters (CDU/CSU) : Herr Präsident, ich habe nicht in der Art und der Hektik des heutigen Tages gerade gesagt, daß es völlig in Ordnung ist, daß die geschehen. Wir werden uns mit allen Sachargumen- GRÜNEN einen Gesetzentwurf eingereicht haben; ten auseinandersetzen, die hier von der Frau Kollegin das ist völlig klar. Wir wollen dies heute in erster Oesterle-Schwerin vorgetragen worden sind. Wir Lesung nicht behandeln, und zwar auch deswegen: werden dann darauf hinweisen, wie falsch die Miet- Gestern haben sich die Fachausschüsse des Deut- preisbindung für Berlin schon immer war und wie schen Bundestages überhaupt erst konstituiert. Sie falsch es ist, sie zu verlängern. - können in dieser Woche überhaupt gar nicht mehr (Beifall bei der FDP) tagen. In wenigen Stunden geht das Parlament in die Osterpause, ohne daß überhaupt noch — Sie haben Wir werden z. B. darauf hinweisen, daß die unter- von Dringlichkeit gesprochen — irgendeine Möglich- schiedliche Rate der Preisentwicklung zwischen Ber- keit besteht, in der Sache zu verhandeln. lin und dem Bund im Jahre 1985 — um eine Zahl zu nennen, die man nachprüfen kann — durch die über- (Sellin [GRÜNE]: Das sind doch alles Hilfsar großen Steigerungsraten gerade im Bereich staatlich gumente!) verordneter Mieten und nicht im Bereich der freien Deshalb ist meine Fraktion der Auffassung gewe- Mieten bedingt war. sen, daß die heutige Behandlung des Gesetzentwurfes Zu dem Antrag der Sozialdemokraten! Wir werden der GRÜNEN in erster Lesung zu einem sicherlich erstens darauf hinweisen, daß die Zahlen, die dort wichtigen und komplexen Bereich, wie es der Woh- zugrunde gelegt werden, von der Sache her nicht nungsmarkt in Berlin ist, der Sache nicht gerecht wird stimmen. Es ist nicht richtig, wenn hier gesagt wird, und nicht angemessen ist. die Abrißpolitik führe gegenwärtig zu mehr Abrissen (Sellin [GRÜNE]: Die Uhr läuft ab!) als in der Vergangenheit. Was wir wollen, ist eine seriöse und eingehende Bera Wir werden uns zweitens in der Sache damit aus- tung der Materie und kein Schaulaufen zu Lasten einandersetzen müssen, wie wir es eigentlich mit der Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode -- 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 349

Lüder Pflege des Wohnungsbestandes halten wollen. Das, Im Namen des Deutschen Bundestages heiße ich Sie, was bisher in Berlin geschehen ist, führt dazu, daß es sehr geehrter Herr Präsident, sehr herzlich willkom- alle 500 Jahre zu einer Erneuerung des Hausbestan- men. Wir wissen Ihren Besuch bei uns hoch zu schät- des kommt; aber das ist nicht erträglich. zen. Die Beziehungen zwischen unseren Parlamenten haben von jeher einen besonderen Charakter, denn es (Beifall bei der FDP) ging und es geht uns um die Stärkung des demokra- Herr Präsident, ich will hier nicht zur Sache spre- tischen Elements in der Europäischen Gemein- chen, schaft. (Lachen bei der SPD) obwohl ich es getan habe. Ich nehme mir auch in die- Mit Freude haben wir auch Ihren Besuch in Berlin ser ersten Rede zur Geschäftsordnung die Freiheit, die kurz nach Übernahme des Präsidentenamtes im altgediente Abgeordnete hier längst in Anspruch neh- Januar zur Kenntnis genommen. Im nächsten Monat men. werden Sie das erweiterte Präsidium des Europäi- schen Parlaments zu einer Sitzung nach Berlin einbe- Meine Damen und Herren, das Thema Wohnen in rufen. Ihre Besuche dort unterstreichen die europäi- Berlin ist erstens zu wichtig, als daß wir es hier in die- sche Solidarität mit der geteilten Stadt. Dafür sind wir ser Hektik behandeln könnten. Ihnen besonders dankbar. (Zuruf von der SPD: Sie hätten es schon lange tun können!) (Beifall) — Zweitens haben wir schon längst etwas getan. Drit- tens wollen wir nicht den Umweg gehen, den die Sozi- Ich wünsche Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, aldemokraten ausweislich ihres Antrags begehen gute Gespräche und einen angenehmen Aufenthalt in wollen: Der Bundestag soll unterstützen, daß die SPD der Bundesrepublik Deutschland. in Berlin den Senat auffordert, dem Bundesrat einen Gesetzentwurf vorzulegen, der, nachdem er die lang- Ich habe nun noch eine amtliche Mitteilung zu samen Mühlen des Bundesrates durchlaufen hat, erst machen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung im nächsten Jahr hier behandelt werden kann. soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. (Wartenberg [Berlin] [SPD]: Das ist alte Tra Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatz- dition! Das wissen Sie selbst aus der Zeit, als punktliste aufgeführt: Sie noch Senator waren!) — Lieber Herr Wartenberg, vielleicht haben wir ein 1. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN unterschiedliches Traditionsverständnis. Ich halte Einsetzung eines Ausschusses für Frauenpolitik mich nicht so gerne an Traditionen wie manche Sozi- — Drucksache 11/101 — aldemokraten. Ich bin an der Sache orientiert, und ich möchte, daß wir eine sozial abgefederte Regelung für 2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Gewalt in Staat und Gesellschaft Berlin bekommen. Darum werden wir uns bemühen; — Drucksache 11/116 — das werden wir im Mai und nicht heute hier bespre- chen. 3. Aktuelle Stunde (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Haltung der Bundesregierung zu den Agrarpreisbeschlüs- sen der EG-Kommission

Weitere Wortmeldungen 4. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRUNEN Vizepräsident Westphal: Nichtinbetriebnahme des Atomkraftwerks Stade zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. — Drucksache 11/104 — Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Erweiterung der Tagesordnung. 5. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindäm- Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte - ich um das Handzeichen. — mung — Drucksache 11/117 — (Dr. Penner [SPD]: Beckmann hat mitge stimmt!) 6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Wer stimmt dagegen? — Der Antrag ist mit Mehrheit Einsetzung einer Enquete-Kommission „AIDS" abgelehnt. — Drucksache 11/120 — Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜ- NEN auf Erweiterung der Tagesordnung. Wer für die- 7. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN sen Antrag zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Einsetzung einer Enquete- Kommission -- Drucksache 11/122 — Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Auch dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Zusätzlich soll der Antrag der Fraktion der SPD Meine Damen und Herren, bevor wir in die Tages- „Atomkraftwerk Stade" — Drucksache 11/130 — auf ordnung eintreten, möchte ich Sie mit einem Gast die Tagesordnung gesetzt und in verbundener Bera- bekanntmachen. In der Ehrenloge hat der Präsident tung mit Zusatzpunkt 4 aufgerufen werden. Sind Sie des Europäischen Parlaments, Sir Henry Plumb, mit mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstan- seiner Begleitung Platz genommen. den? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann (Beifall) ist das so beschlossen. 350 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Vizepräsident Westphal Nun rufe ich Punkt 14 der Tagesordnung: Nötigung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Landfriedensbruch — zur Durchsetzung ihrer Ziele CSU und FDP für erlaubt erklärt. Der Vorstandssprecher der GRÜ- Deutscher Bundestag gegen Gewalt und NEN Lukas Beckmann sagte: Die Aktionen des akti- Rechtsbruch in der politischen Auseinander- ven gewaltfreien Widerstands schließen Gewalt setzung gegen Sachen nicht aus. Wir kennen die Aussagen von Frau Ditfurth, von Frau Jelpke von der GAL und — Drucksache 11/83 — von anderen. b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Diese Aktionen gehen im übrigen — das möchte ich Verteidigung der inneren Liberalität und Stär- an die Adresse der SPD sagen — weit über das hinaus, kung der Demokratie was von den Theoretikern des zivilen Ungehorsams — Drucksache 11/17 — wie Habermas, Rawls, Dreyer, Frankenberg und anderen in dem schönen Büchlein von , vor drei Jahren herausgegeben, zwar nicht als legal, aber sowie Zusatzpunkt 2: als legitim angesehen wurde. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Haben Sie sich Gewalt in Staat und Gesellschaft einmal mit Martin Luther King beschäf — Drucksache 11/116 — tigt?) (zu Punkt 14 TO) Wir wissen, daß die Gewalt gegen Sachen der erste auf. Schritt auf dem Weg in den Terrorismus ist. Meine Damen und Herren, nach einer interfraktio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Bera- tung dieser Tagesordnungspunkte zweieinhalb Stun- Die Entwicklung der Baader-Meinhof-Bande von der den vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Wider- Kaufhausbrandstiftung bis zu den Morden der RAF spruch. Dann ist das so beschlossen. beweist: Von der bewußten und politisch motivierten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- Gesetzesübertretung und der Gewalt gegen Sachen ordnete Dr. Geißler. bis zur Gewalt gegen Personen ist nur ein ganz kurzer Weg. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Geißler (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine sehr verehrten Damen und Herren, politi- sche Ethik kann die Anwendung von Gewalt gegen (Zuruf von den GRÜNEN: Jetzt kommt die den Staat nicht immer und unter allen Umständen Wahrheit!) ausschließen. Es gab Situationen in der Geschichte, in Die Koalitionsfraktionen legen Ihnen einen Antrag für denen der Widerstand gegen den Staat und seine den demokratischen Rechtsstaat und gegen die poli- Organe berechtigt und notwendig war. Das Attentat tisch motivierte Gewalttätigkeit in der Bundesrepu- auf Hitler, der Sturz von Somoza, die Untergrundtätig- blik Deutschland vor. keit christlicher Demokraten und Sozialisten in Chile, Die politisch motivierte Gewalttätigkeit hat in den das Drucken und die Weitergabe von „Samisdat" in letzten Jahren dramatisch zugenommen. Nach den der Sowjetunion, der Aufstand des 17. Juni und der offiziellen Angaben des Bundesministers des Innern Einsatz von „Solidarnosc" in Polen sind sittlich entfielen von den 452 Brand- und Sprengstoffanschlä- erlaubt. Denn diese Aktionen des Widerstandes, auch verbunden mit der Übertretung legaler Gesetze, dien- gen im Jahre 1986 445 auf Linksextremisten, 4 auf Rechtsextremisten und 3 auf Ausländer. Die terroristi- ten und dienen entweder zur Abwehr langanhalten- schen Morde der letzten Zeit gingen genauso wie die der schwerster Menschenrechtsverletzungen oder zur Morde Ende der 70er Jahre auf das Konto linksextre- Durchsetzung elementarer Menschenrechte und Frei- mistischer Gruppierungen wie „Rote Armee Frak- heitsrechte der Menschen und erfolgten in der siche- tion" oder „Revolutionäre Zellen". Das gleiche gilt für ren Erkenntnis, daß eine Veränderung der Verhält-- die Gewalttätigkeiten der Chaoten in Hanau, Brok- nisse mit legalen oder friedlichen Mitteln nicht mehr dorf und Wackersdorf. möglich war. Nun will ich nicht behaupten, daß irgendeine Frak- Ist es aber auf dem Hintergrund dieser Tatsache tion in diesem Parlament diese Gewaltmaßnahmen nicht ein absurdes Theater, daß die GRÜNEN und ihre direkt zu verantworten hat, Freunde, so z. B. Frau Rust erst neulich im Deutschen Bundestag, erklären, die Ursache für die heutige (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Aber?) Gewaltanwendung in der Bundesrepublik Deutsch- aber die GRÜNEN, die Wunschpartner der Sozialde-- land, z. B. „dieses Schmeißen von Steinen" , sei die mokratischen Partei Atompolitik der Regierung? Ich muß es noch einmal (Dr. Penner [SPD]: Ja, ja!) sagen: Das ist absurdes Theater, weil aus der Sicht der GRÜNEN und ihrer Freunde offenbar der demokrati- in Bund und Ländern, sche Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland in (Widerspruch bei der SPD) einen atomaren Zwangsstaat umgedeutet wird, einer Diktatur vergleichbar. haben in ihrem Bundesprogramm Sitzstreiks, Wege- sperren, Blockaden, die Landesversammlung in Hes- (Sellin [GRÜNE]: Das ist industrielle sen sogar Sabotage — was im Klartext doch heißt: Gewalt!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Ap ril 1987 351

Dr. Geißler Ich will die Probleme der Kernenergie und die damit Wo war eigentlich Ihr lautstarker Protest, als Tscher- verbundenen Empfindungen der Menschen, die Äng- nobyl wieder ans Netz ging? Ich habe von Ihnen über- ste vor der Wiederholung eines Unfalls wie in Tscher- haupt nichts gehört! nobyl (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord (Sellin [GRÜNE]: Strukturelle Gewalt setzen neten der FDP) Sie ein!) Wie glaubwürdig ist eigentlich dieser Widerstand im Namen des Lebens — — nicht bagatellisieren und bin mir darüber im klaren, daß jemand subjektiv die f riedliche Nutzung der (Abg. Stratmann [GRÜNE] meldet sich zu Kernenergie als eine existentielle Bedrohung empfin- einer Zwischenfrage) den kann. — Herr Präsident, ich lasse im Moment keine Zwi- (Frau Unruh [GRÜNE]: Abschaffen!) schenfragen zu. Ich frage Sie: Wie glaubwürdig ist eigentlich dieser Aber rechtfertigt eine so empfundene Überlebens- Widerstand im Namen des Lebens, wenn Sie gleich- frage die Anwendung von Gewalt und zivilem Unge- zeitig die jährlich hunderttausendfache Vernichtung horsam gegenüber einem demokratischen Rechts- der schwächsten Form des menschlichen Lebens, staat? Dies ist die zentrale Frage. Vermögen diejeni- nämlich des ungeborenen Lebens, nicht nur hinneh- gen, die so argumentieren, eigentlich nicht zu unter- men, sondern auch freigeben wollen? scheiden zwischen einem menschenverachtenden Unrechtssystem mit dem Ziel der Verletzung der (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Menschenrechte, der Zerstörung menschlichen neten der FDP — Zurufe von den GRÜ Lebens und dem politischen Streit um die Anwendung NEN) einer bestimmten Technik der Energiegewinnung mit Ich frage Sie weiter: Wer bestimmt eigentlich, was zugegebenermaßen unterschiedlich einzuschätzen- eine Überlebensfrage ist? Vor fünf Jahren haben die den und möglicherweise sehr hohen Risiken? GRÜNEN zusammen mit den Sozialdemokraten und (Sellin [GRÜNE]: Lebensgefährlich ist das!) mit Kommunisten den NATO-Doppelbeschluß zu einer Frage von Frieden oder Krieg, von Leben oder Selbst in manchen kirchlichen Kreisen, so scheint mir, Tod gemacht. Günter Grass, einst Barde und Sprecher kann man eine solche Unterscheidung nicht mehr der Sozialdemokratischen Partei — nicht amtlicher machen. Sprecher, aber Sprecher der Sozialdemokratischen Partei im überhöhten Sinne — , verglich damals den (Dr. Jobst [CDU/CSU]: Leider wahr!) NATO-Doppelbeschluß, also den Fahrplan zur Null- Lösung, mit der Machtergreifung Adolf Hitlers. Daran Man hat fast den Eindruck, daß dort der vor 50 Jahren möchte ich erinnern. in Deutschland gegenüber der Nazityrannei nicht stattgefundene Widerstand heute gegenüber dem Wir wollen den Millionen von Menschen in der Bun- demokratischen Rechtsstaat gefahrlos nachgeholt desrepublik Deutschland, die aus einer guten Gesin- werden soll. nung heraus falschen Argumenten, den Verdrehun- gen und den negativen Prophezeiungen bis auf die (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Straße gefolgt sind, damals wie heute keinen Vorwurf neten der FDP — Zuruf von der SPD: Das ist machen. Aber vor den politisch Verantwortlichen bei aber ein starkes Stück!) den GRÜNEN und bei der Sozialdemokratischen Par- tei, die in dieser Weise die Begriffe verdrehen, die Es ist schwer vorstellbar, daß z. B. die Widerstands- Geister verwirren kämpfer der Weißen Rose oder des 20. Juli Verständ- nis für die Menschen aufbrächten, die heute gegen (Zuruf von der SPD: Sie sind ein Hetzer!) den Staat Widerstand leisten, für dessen Prinzipien und dadurch die Begründung für eine elitäre Moral von Recht und Freiheit die damaligen Widerstands- und die daraus resultierende Gewalttätigkeit gege- kämpfer ihr Leben gewagt und geopfert haben. ben haben, wollen und müssen wir unseren demokra- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord tischen Rechtsstaat in Schutz nehmen. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Unruh [GRÜNE]: Sie sind der Anstifter! — Weitere Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie ernst Zurufe von den GRÜNEN) nehmen eigentlich die GRÜNEN und ihre Freunde selbst diese sogenannte Überlebensfrage, wenn sie Aus dieser Geistesverwirrung heraus haben übri- zwar unter dieser Überschrift Widerstand gegen die gens Habermas und andere — das habe ich vorhin Kernenergie in der Bundesrepub lik Deutschland lei-- schon zitiert — komplette Rechtfertigungstheorien für sten, aber auf ihrer Bundesdelegiertenversammlung den zivilen Ungehorsam und den angeblich gewaltlo- in Hannover mit großer Mehrheit die Aufforderung an sen Widerstand gegen den NATO-Doppelbeschluß die Sowjetunion abgelehnt haben, dort die Kernkraft- konstruiert. werke abzuschalten? (Kleinert [Marburg] [GRÜNE ] : Das ist der Sympathisantensumpf!) (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das ist doch Unsinn! — Frau Dr. Vo llmer [GRÜNE]: Rei Diese Rechtfertigungstheorien sind kläglich zusam ner Quatsch, Herr Geißler! — Weitere Zurufe mengebrochen. Heute wie damals können sie im übri von den GRÜNEN) gen keine Antwort auf die Frage geben, wie eigentlich 352 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Geißler der Rechtsstaat nach ihrer Theo rie reagieren soll, spiegelt die Verfassung der grünen Partei. " Dies ist wenn möglicherweise heute Rechtsradikale unter ein Zitat von Herrn Ebermann aus jüngster Zeit. Berufung auf Gewissen und subjektives Rechtsgefühl (Zuruf von der SPD: Das war aber sehr par Sinti und Roma umzingeln oder Türken am Betreten lamentarisch!) ihrer Arbeitsplätze hindern sollten. Wie soll eigentlich der Rechtsstaat gegenüber dieser elitären Moral rea- Ich darf auch sagen: Es war Ihr kommunistischer gieren, wenn diese Theo rien für andere Ziele gerecht- Sprecher, denn Sie haben sich ja dazu bekannt. Der fertigt werden? Nein, wir lehnen eine solche selektive Salon-Realo meinte, und elitäre Moral ab. Unrecht, das auch im Rechts- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und staat vorkommen kann und vorkommt, muß mit Aus- nahme der Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 mit der FDP) legalen Mitteln bekämpft werden. wenn es um Existenzfragen gehe, könne eine qualifi- zierte Minderheit ein größeres Gewicht als die quan- Es ist im übrigen auch an der Zeit, der Begriffsver- titative Mehrheit haben. Wenn es also um Existenzfra- wirrung entgegenzutreten, die die Linke in der Bun- gen gehe, könne die qualitative Minderheit — die desrepublik Deutschland betreibt. Sicher ist niemand Elite oder was immer man darunter versteht — ein berechtigt, Leute, die demokratische Versammlungen größeres Gewicht als die quantitative Mehrheit mit akustischem Lärm sprengen, wie dies auch vor der haben. Hier sitzen Sie also in Ihrer ganzen Schönheit, letzten Bundestagswahl gerade von der linken Seite die intellektuell und moralisch Privilegierten der immer wieder gemacht worden ist, oder Leute, die Nation, durch massenhafte Blockade und Wegestreiks den Verkehr lahmlegen und die Rechte Dritter beeinträch- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tigen, die natürlich besser als die anderen informiert sind, (Kuhlwein [SPD]: Meinen Sie die Bauern? tiefer denken, sensibler empfinden und reagieren als Meinen Sie die Landwirte damit?) die irrenden gewählten Organe der Demokratie. (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Sie schließen zu potentiellen Gewalttätern zu erklären. Aber dies von sich auf andere, Herr Geißler!) gilt für alle; ich mache hier gar keine Unterschiede. Sie üben nämlich durch aggressive Regelverletzun- Die Frage, wer zu diesem elitären Kreis gehört, kön- gen in demonstrativer Absicht Terror aus, egal, ob wir nen natürlich wiederum nur diejenigen beurteilen, die dies als sanften Terror, akustischen Terror oder psy- diesem elitären Kreis selber zugehören. Welche Privi- chischen Terror bezeichnen wollen. legien dieser elitäre Kreis für sich in Anspruch neh- men kann, entscheiden natürlich wieder die Privile- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Wie würden Sie gierten selber. Welche Rechtsverletzungen, welche das nennen, was Sie machen? — Zuruf von Regelverstöße erlaubt und gerechtfertigt sind, wird der SPD: Wer ist denn an der Regierung?) auch alles in diesem elitären Kreis beschlossen, genauso die Frage, ob die in einer freien Abstimmung Nicht jede dieser neototalitären Aggressionen ist beschlossenen Gesetze gefährlich. Gefährlich ist aber die Legitimitätskonzes- (Conradi [SPD]: Darüber muß gerade so ein sion diesen Aggressionen gegenüber. Amnestie-Mensch wie Sie reden!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, unbe- wie z. B. das Volkszählungsgesetz zu dulden oder zu stritten ist — wie dies auch in der Formulierung des sabotieren sind. Art. 20 Abs. 4 zum Ausdruck kommt — , daß Wider- Diese selbsternannte Kaste würde in der deutschen stand und ziviler Ungehorsam immer nur als letzte Politik nicht die geringste Rolle spielen, wenn es nicht Möglichkeit, als Ultima ratio, in Frage kommen kön- die Sozialdemokraten gäbe. Das ist wahr. nen. Der gewaltsame Widerstand z. B. im Nazi- Deutschland, in der Sowjetunion und in Chile legiti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — miert sich aus der Unmöglichkeit einer f riedlichen Dr. Penner [SPD]: Das dachte ich mir! — und rechtsstaatlichen Veränderung der Verhältnisse. Weitere Zurufe von der SPD) Wer aber gibt eigentlich den GRÜNEN und ihren Die Sozialdemokraten tragen die politische Schuld Freunden das Recht, hier in der Bundesrepublik und Verantwortung, daß die Vertreter einer solchen Deutschland solche Voraussetzungen zu unterstellen? elitären Unmoral, so muß ich sagen, und der daraus Sie haben alle Möglichkeiten, eine Änderung der notwendig resultierenden Gewalttätigkeit Zugang politischen Verhältnisse innerhalb des Rechtsstaats zur Regierungsverantwortung bekommen und so die und unserer demokratischen Ordnung zu erreichen. - Gelegenheit erhalten sollen, ihre antidemokratischen Sie haben die Freiheit der Information, der Meinungs- Grundsätze zu verwirklichen. Wie soll eigentlich der äußerung, der Anrufung der Gerichte, der Demonstra- gesetzestreue Bürger — diese Frage möchte ich auch tion, der Teilnahme an Wahlen, der Gründung von an die Adresse der Sozialdemokraten stellen — , der Parteien. Sie haben alle demokratischen Möglichkei- jede Übertretung eines Parkverbotes mit drastischen ten, Ihre politischen Ziele zu erreichen. Nur eines Strafen büßen muß, eine positive Einstellung zum haben Sie nicht, nämlich die Mehrheit. Aber das ist Rechtsstaat bewahren können, wenn Leute mit Ihrer entscheidend. Es ist allerdings den GRÜNEN offenbar Hilfe Minister werden, egal. Ich zitiere Ihren Sprecher — Herr Ebermann sitzt unter uns — : „Legal, illegal, scheißegal. Dies wider- (Zuruf von der SPD: Und Zimmermann?) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 353

Dr. Geißler die zur Durchsetzung ihrer selbstdefinierten höheren Ein funktionierender Sozialstaat setzt einen funktio- Ziele letztendlich die Übertretung von Strafgesetzen nierenden Rechtsstaat voraus. rechtfertigen, die für alle gelten? (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord (Zuruf von der SPD: Guckt euch doch einmal neten der FDP — Weisskirchen [Wiesloch] eure Regierungsmitglieder an! — Zuruf von [SPD]: Sie machen den Sozialstaat kaputt!) den GRÜNEN: Lambsdorff!) Es ist leider eine historische Tatsache, daß in dieser Republik das Thema Gewalt ein Thema der Linken Es kann doch nicht so weitergehen. geworden ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Frau Unruh [GRÜNE]: Und der Rechten!) Es kann doch nicht so weitergehen, daß unsere Poli- Es waren linke Professoren, die damals im Zusam- zeibeamten in den untersten Besoldungsgruppen von menhang mit dem Buback-Nachruf eine öffentliche A 5 bis A 9 den Rechtsstaat gegen diese elitäre Moral Gewaltdiskussion in vielen Universitäten einleiteten. und die daraus resultierende Gewalttätigkeit mit vie- Es sind bis heute Linke, von Oskar Negt, Dieter Seng- len Überstunden, oft verletzt und beschimpft, vertei- haas, Jürgen Habermas bis zu den Jungsozialisten digen, und den Redakteuren der „taz", die unter dem Stich- wort strukturelle Gewalt und anderen falschen Begrif- (Conradi [SPD]: Wenn Sie von Moral reden, fen diese Tradition fortsetzen. Oder wollen Sie eigent- wird es einem speiübel!) lich leugnen, daß die Linken, die Neomarxisten, die Jungsozialisten in ihrer eigenen Partei, die K-Grup- daß sich aber die geistigen Urheber dieser elitären pen an den Universitäten, der MSB Spartakus — der Moral und der daraus resultierenden Gewalttätigkeit, Koalitionspartner der Jungsozialisten an vielen deut- wie z. B. Josef Fischer, in der höchsten Besoldungs- schen Universitäten — für den psychischen und phy- stufe B 11 als Minister von dem Rechtsstaat bezahlen sischen Terror bei vielen Universitätsdiskussionen lassen, den sie bekämpfen. verantwortlich sind, daß sie ebenso für den die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der wilderung der Argumente, für die bewußte Verschlei- SPD: Zimmermann!) erung und Verwischung der Beg riffe, für die maßlose Diffamierung unserer rechtsstaatlichen Demokratie Früher hätten Sie als Sozialdemokraten an einer sol- verantwortlich sind? chen Stelle Beifall gespendet; davon bin ich über- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord zeugt. neten der FDP — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- Ein bißchen lange her, was Sie da sagen!) neten der FDP) Man kann auch nicht bestreiten, daß auch der Ter- Heute im Schlepptau der GRÜNEN schweigen Sie. rorismus als wahnwitzige politische Option, wie Karl Steinbuch ihn einmal genannt hat, nur auf dem Hin- Fragen Sie sich einmal, was Ihr früherer Kronjurist tergrund einer böswilligen Verteufelung unserer Adolf Arndt heute zu Ihnen sagen würde. Lebensordnung begreifbar wird, in der angeblich alle (Conradi [SPD]: Mit Ihnen würde er gar nicht Formen von Repression, Ausbeutung, Konsumterror, reden!) Umweltterror und Polizeiterror als Inhalte unserer staatlichen Ordnung praktiziert werden. Staatsverständnis und Gewaltbegriff waren damals Das der Rechten stand bei den Sozialdemokraten geklärt. Heute koalieren antidemokratische Denken sie mit den GRÜNEN, und Adolf Arndt würde das- Pate bei der Zerstörung der Weimarer Republik. selbe Schicksal wie Axel Wernitz erleiden. (Dr. Nöbel [SPD]: Weiter so!) (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- Was sich heute auf der linken Seite abspielt, ist nicht neten der FDP) von geringerer Bedeutung als die Verweigerung der Loyalität gegenüber der Weimarer Republik damals Nicht nur in Fragen wie der friedlichen Nutzung der durch die rechte Intelligenz. Kernenergie, auch in Fragen des Rechtsstaats sind die Sozialdemokraten dabei, ihre Identität zu verlieren; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ich muß dies leider sagen. Der Rechtsstaat ist nicht nur Damals rief der Reichskanzler Wirth im Deutschen eine Errungenschaft der bürgerlichen Revolution, Reichstag aus: Der Feind steht rechts. — Ich will keine sondern auch der Arbeiterbewegung. Die Aushöh- der in diesem Parlament vertretenen Parteien, auch lung des Rechtsstaates schadet nicht denen, die ihre - nicht DIE GRÜNEN, mit den Feinden der damaligen intellektuellen und wirtschaftlichen Ellenbogen Demokratie identifizieren. gebrauchen, die mit der Gewalt kokettieren und alle rechtlichen Kniffe und Finessen kennen. Die Aushöh- (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Sie suggerie lung des Rechtsstaates schadet vielmehr den vielen ren das hier!) Bürgerinnen und Bürgern, die sich gesetzestreu ver- Aber etwas ist doch wahr: Die Gefahr für den Rechts- halten und z. B. als Arbeitnehmer für ihre soziale staat kommt heute von links! Sicherheit den Schutz des Rechtsstaates benötigen. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- neten der FDP — Zuruf von der SPD: Lern neten der FDP) mal die Geschichte richtig!) 354 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Geißler Die Christlich Demokratische Union bekennt sich Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Sie sich zum demokratischen und sozialen Rechtsstaat und zur gestern, vorgestern oder auch heute noch einmal zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie sie in Stahlkrise geäußert hätten, um dadurch Ihren Beitrag Art. 20 des Grundgesetzes niedergelegt sind. Nicht zum inneren Frieden zu leisten, um damit Vertrauen diejenigen, die diese Ordnung mit Absicht verletzen, zu schaffen. können sich auf Art. 20 Abs. 4 und das darin enthal- (Beifall bei der SPD) tene Widerstandsrecht berufen und haben ein Recht auf Widerstand, sondern umgekehrt muß Widerstand Vielleicht wäre es besser gewesen, die Bangemann geleistet werden im Sinne unserer Verfassung — so Sprüche zurechtzurücken und damit inneren Frieden steht es in Abs. 4 dieses Grundgesetzartikels — gegen zu bewahren, statt nun zur Freude Ewiggestriger mit alle, die es unternehmen, diese rechtsstaatliche und markigen Law-and-Order-Sprüchen in die rechte freiheitliche Grundordnung mit ihren Maßnahmen Kiste zu greifen und damit Verwirrung zu stiften. und Aktivitäten zu zerstören. (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Gesetzestreue (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU sowie einzufordern nennen Sie „in die Kiste grei Beifall bei Abgeordneten der FDP) fen"?) Sie tun das, verehrter Herr Kollege Olderog, wohl wis- Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abgeord- send, daß der innere Friede, daß insbesondere der nete Bernrath. demokratische Staat in unserem Vaterland immer von (Dr. Penner [SPD]: Herr Geißler, jetzt kommt rechts gefährdet worden ist und nicht von links. der linksradikale Bernrath!) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Aber das hängt ganz offensichtlich damit zusammen, Bernrath (SPD): Herr Präsident! Verehrte Damen! daß es bei Ihnen nach wie vor einen spürbaren Man- Meine Herren! Eben hat uns ein elitärer Polemiker ein gel an Traditionen oder an Anerkenntnis von Tradi- Schauergemälde von der Bundesrepublik gezeichnet, tionen anderer und wenig Zutrauen zu parlamentari- besorgt — wie er sagt — um die Handlungsfähigkeit, schen Institutionen gibt. um die Glaubwürdigkeit unseres demokratischen Das ist noch einmal deutlich geworden, als Sie vom Rechtsstaats. Ich will dazu einmal eine Frage stellen. versäumten Widerstand sprachen, Herr Kollege Geiß- Seit gestern gibt es den von Ihnen beschlossenen ler; übrigens völlig zu Recht. Allerdings wäre es, wenn — Sie haben das durchgesetzt — angeblich fäl- man damit auch Traditionen andeuten will, besser schungssicheren, mit Sicherheit aber maschinenles- gewesen, Adressen zu nennen und uns damit aufzu- baren Personalausweis. Er wird ausgegeben, obwohl fordern, lernend aus den Fehlern der Vergangenheit trotz einstimmiger Entschließung des Deutschen dazu beizutragen, daß wir heute unsere Rechtsord- Bundestages die dazugehörenden ergänzenden, nung behalten. Übrigens wäre es um so mehr richtig bereichsspezifischen Gesetze im Bereich des Daten- gewesen, Adressen zu nennen, da wir gerade zu schutzes, der Meldegesetze, der Verfassungsschutz- Beginn dieser Sitzung an Luise Schröder erinnert gesetze nicht nur nicht vorliegen, sondern nach wie haben, die aufrecht in die Krolloper gegangen ist, um vor in ihrem materiellen Inhalt auch noch gar nicht dort mit unseren Freunden gegen die Ermächtigungs- erkennbar sind. Wir wissen nicht, ob sie überhaupt gesetze zu stimmen. kommen. Nach dem mageren Ergebnis der Koali- tionsgespräche muß das jedenfalls bezweifelt wer- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) den. Aber ich habe dafür Verständnis: Eine Partei, die In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, wo der sich unter einem CDU-Kanzler einen Globke im Kanz- Schutz des Rechtsstaates bleibt, der bei Einführung leramt leistete, wird hier kaum auf Traditionen solcher Instrumente notwendig ist, um den inneren zurückgreifen können. Frieden zu gewährleisten, das Vertrauen unserer Mit- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) bürger in den Rechtsstaat zu erhalten. Sie, Herr Kollege Geißler, sehen in jeder freiheitli- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten chen Äußerung, in jeder Äußerung, die Ihnen nicht der GRÜNEN) paßt, schon ein Extrem und Extremismus, statt durch Ihre bewußte Beteiligung am Wechselspiel zwischen Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, Bürger und Regierung, wie es in unseren Nachbar- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten ländern, vor allem in den Vereinigten Staaten, üblich Dr. Hirsch? ist, Extreme vermeiden zu helfen. Wie sehr Ihnen darum auch das soeben erwähnte Bernrath (SPD) : Ich lasse ebensowenig wie mein Wechselspiel zwischen den politischen Kräften Vorredner Zwischenfragen zu. - abgeht, ist uns in diesen Tagen noch einmal deutlich Einige Tage vor der Hessen-Wahl fällt es Ihnen geworden, als in Amerika der Tower-Bericht veröf- dagegen offensichtlich ein, daß es dringend notwen- fentlicht wurde und wir an die letzten etwa vier, fünf dig ist, sich mittels zweier Druckseiten Propaganda zu Jahre in der Bundesrepublik dachten. Von den Gewalt und Rechtsbruch in der politischen Auseinan- prompten auch personellen Reaktionen auf diesen dersetzung zu äußern. Das kennzeichnet die Lage, in Bericht können wir bei vergleichbaren Anlässen in der wir uns befinden. der Bundesrepublik nur träumen. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN) der GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 355

Bernrath Diese Unbeweglichkeit macht Sie aber unfähig, ein Es rechtfertigt noch weniger sinnlose Machtdemon- offenes, demokratisches Leben auch unter Risiken strationen des Staates, die im übrigen dann auch als und Wagnissen zu ertragen. Provokation verstanden werden können und verstan- Wir haben Ihnen darum zwei Entschließungsan- den werden. träge vorgelegt, bei denen es um die Verteidigung (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der inneren Liberalität und die Stärkung der Demo- der GRÜNEN) geht. Worum geht es uns dabei im einzelnen? kratie Im übrigen ist — das wissen wir aus unserer Nach den Demonstrationen der letzten Jahre, oft von Geschichte — Gewaltsamkeit nicht das einzige Mittel gewalttätigen Ausschreitungen begleitet — darüber des Staates, nur das ihm eher spezifische. Max Weber kann es keinen Zweifel geben —, sind unsere Bürger sah das Monopol der Gewaltsamkeit als Folge immer Sie fürchten um das Gewaltmonopol des in Sorge. unterschiedlicherer Ansprüche an die Gemeinschaft, Staates und fürchten, daß wir zum Faustrecht zurück- die ihre Konflikte nicht mehr auf traditionellem Weg kehren könnten. regeln konnte. Darum müssen wir, wenn wir uns mit (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Sehen Sie: Sie den Ursachen der Gewalt auseinandersetzen wollen, räumen das ja ein! Sehr richtig! Darum geht über den Tellerrand blicken, weiterdenken. Es genügt es!) nicht, Demonstrationen, Gewaltanwendung vorder- Sie bangen um die Garantie des Demonstrations- gründig zu verurteilen. Wir müssen versuchen, das rechts, weil es von Gewalttaten — auch darüber müs- Phänomen aller Gewalt in unserer Gesellschaft, der sen wir uns besorgt zeigen — verdrängt werden individuellen Gewalt, der Gewalt in der Ehe, der könnte. Gewalt gegen Kinder, gegen Ausländer, in Fußball- stadien, auch der Gewalt, die sich in sinnloser Über- (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Warum nicht vor- bewaffnung zeigt, her?) (Dr. Penner [SPD]: Gewalt in Worten und Sie verlieren das Vertrauen in unseren Staat, der ihr Schriften!) Demonstrationsrecht schützen muß, aber natürlich auch ihre körperliche Unversehrtheit. Sie befürchten, zu erfassen. Nur dann, wenn wir das tun, wird es uns daß das Vertrauen der Polizei in das Verantwortungs- gelingen, politisch zu erkennen und zu reagieren, auf bewußtsein der politischen Führung verlorengehen diese Zeiterscheinungen politisch einzugehen und könnte, einer politischen Führung, die immer nur vor- damit kollektive Gewalt zu verhindern und den inne- dergründig handelt. ren Frieden zu bewahren. Wir teilen diese Sorgen. Allerdings ist Ihr opportu- (Beifall bei der SPD — Dr. Probst [CDU/ nistischer Gesetzgebungsaktionismus des vergange- CSU]: Werden Sie konkret!) nen Jahres darauf keine Antwort. Wie aber sieht es bei uns tatsächlich aus? Die Politik (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wird immer erst tätig, wenn Gewalt bereits ausgeübt wird, wenn sie überbordet; sie reagiert lediglich. Er bleibt, wie wir sehen, auch erfolglos. Das Vertrauen Warum ist das so? Wahrscheinlich, weil alle starren der Bürger wird auf diese Weise lediglich aufs Spiel Ordnungen, alle strengen Gebote und die aus ihnen gesetzt. erwachsende Unduldsamkeit ein politisch abge- (Dr. Probst [CDU/CSU]: Das ist langweilig!) stimmtes, bewegliches Eingehen auf Konfrontationen Sie befinden sich, wie es einer, der vorhin zitiert wor- verhindern. Ein vordergründiges Sicherheitsbedürf- den ist, in den 60er Jahren gesagt hat, in einer Art nis erweist sich dabei über kurz oder lang als nichts Zeitgefängnis, aus dem Sie nicht herauskommen, weil anderes als die schiere Angst vor dem eigenen Macht- Sie sich weigern, unter demokratischem Risiko nach verlust. Dabei wissen wir längst, daß alles fließt, jed- vorn zu blicken, wedes Leben immer in Bewegung ist, so auch das gesellschaftliche Zusammenleben, insbesondere und (Dr. Probst [CDU/CSU]: Das war ein starkes notwendigerweise in der Demokratie. Bild!) (Dr. Olderog [CDU/CSU] : Donnerwetter, das durch Regelungen, die in die Zukunft weisen, Demo- war ja klassische Philosophie!) kratie zu festigen, statt einseitig auf die Gewalt zu starren und sie nur zum Anlaß zu nehmen, mit Härte Diese Erkenntnis wird — da haben wir es leichter als aus dem Einzelanlaß heraus zu reagieren. frühere Generationen — heute auch durch die Natur- wissenschaften gestützt. Die starre, einteilbare, prä- Gewalttaten sind zweifellos unter Wahrung des zise tote Welt hat es eigentlich nie gegeben, war eine Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit besonnen und Arbeitshypothese, die der Wirklichkeit schon lange fest zu unterbinden. Dafür stehen uns Gesetze zur nicht mehr entspricht. Verfügung. - (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das wissen wir aber (Dr. Probst [CDU/CSU]: Noch eine Platt schon seit Kopernikus!) -heit!) Es stellt sich außerdem bei jeder Rechtsanwendung Das staatliche Gewaltmonopol bestimmt dabei unser für viele Bürger zunehmend das Problem der Legali- Handeln, rechtfertigt aber keine Maßlosigkeit. Es tät, auch der Legitimität. Denn alle Gesetze müssen rechtfertigt insbesondere nicht, der Polizei die Last — auch die, die erst gemacht werden — an den politischer Versäumnisse aufzubürden. Grundsätzen unserer demokratischen Verfassung (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten gemessen werden. Und danach kommt es bei ihrer der GRÜNEN) Anwendung auf die Realisierung unserer demokrati- 356 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Bernrath schen Prinzipien an: Respekt vor den Grundrechten, bauen. In einem der letzten Sätze stand: Präsentation Würde der Persönlichkeit, Meinungsfreiheit, Demon- geht vor Repression. strationsrecht usw. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Da hatte der Wer- der GRÜNEN) nitz aber mehr Bodenhaftung!) Darauf hat auch das Bundesverfassungsgericht 1985 hingewiesen, als es zum erstenmal zum Grund- Damit wir in einer so dynamischen Zeit nicht sozu- recht auf Versammlungsfreiheit und Demonstration sagen von Fall zu Fall hinter den tatsächlichen Ent- Stellung genommen hat. Das Gericht hat damals dem wicklungen herhinken, müssen wir — ich habe es vordemokratischen Demonstrationsverständnis eine soeben angedeutet — über den Einzelfall, über den eindeutige Absage erteilt. Demonstrationen sind nicht Tellerrand hinausblicken. Daran sind wir auch in den Mobilisierung der Straße gegen die Legalität und 60er Jahren erinnert worden, ohne daraus Folgerun- Legitimität verkörpernde Staatsgewalt. Sie sind ein gen gezogen zu haben. Gelingt es uns, nach vorne zu unentbehrliches Funktionsinstrument ein es demokra- blicken, gelingt uns ein solches Denken und Handeln, tischen Gemeinwesens. dann werden wir auch Schritt für Schritt eine Ordnung schaffen, in der nicht nur das Grundgesetz, die Ver- Wir Sozialdemokraten sehen daher in unserem fassung demokratisch ist, sondern auch die anderen demokratischen Gemeinwesen auch den Ordnungs- Institutionen des Staates ihre gelegentlich noch vor- rahmen, innerhalb dessen politische Kräfte um Ein- demokratisch-autoritären Strukturen und Handlungs- fluß, Macht und Gestaltung ringen, nach vorgegebe- weisen ablegen. Im Ergebnis führt uns dieser Weg nen Regeln miteinander streiten, sich verständigen dann weg von dem Staat, wie wir ihn haben, entwik- und verbünden. Der Staat ist dabei für uns keine kelt er unseren Staat hin zu einem Kulturstaat. Das neutrale Instanz, die über allen gesellschaftlichen würde dann auch den Bürger beeindrucken und ihn Interessen steht. Er kann, er muß auch ein wichtiges an unsere eigene politische Kultur binden. Instrument für das Bemühen sein, Gesellschaft und vor allen Dingen auch Wirtschaft in Richtung auf mehr (Dr. Probst [CDU/CSU]: Das Paradies ist Demokratie zu verändern. nicht mehr weit!) Der Staat unseres Grundgesetzes ist nicht wertneu- Wie richtig und notwendig dieser Weg ist, verehrte tral. Ihm sind das Leben der Menschen, die Würde der Kolleginnen und Kollegen, haben wir doch erst vor Menschen, das Gewissen der Menschen vorgegeben. zwei/drei Jahren im Schlußbericht der Enquete-Kom- Er ist verpflichtet, sie zu schützen und jedem einzel- mission „Jugendprotest im demokratischen Staat" nen eine Chance zu geben, sich in freier Selbstverant- gemeinsam festgestellt. Es heißt dort: „Riesige Ver- wortung zu entfalten. waltungen, Großinstitutionen überhaupt, Bürokratien Gewiß kann auch im Namen des demokratischen werden von der Jugend als lebensfeindlich erlebt." Staates Herrschaftsgewalt mißbraucht werden. Dage- gen helfen dann nur Wachsamkeit und mehr Demo- (Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Und das kratie, nicht weniger Demokratie, nicht Einschrän- rechtfertigt dann die Gewalt?) kung von Rechten. Diese Auffassung spiegelt sich in den Vorbehalten der (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Jugend gegen Institutionen und in der Überschätzung von Spontaneität. Unsere Grundrechte haben in diesem Zusammen- hang eine doppelte Funktion. Sie sollen die Freiheit (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sie wollen immer des einzelnen gegenüber dem Staat sichern und mehr Staat! — Weitere Zurufe von der CDU/- gleichzeitig Maßstab für die Gestaltung der Ordnung CSU) in unserer Gesellschaft sein. Im letzten Jahrzehnt haben beide Funktionen an Bedeutung gewonnen. Solche Haltungen verfestigen sich in dem Maße, wie Ich will das nicht im einzelnen ausführen. die Jugendlichen erfahren, daß ihre Anregungen, ihre Proteste, ihr Streben nach Mitwirkung vom politi- Zum anderen müssen Verfassungsgebote verwirk- schen System nicht zur Kenntnis genommen oder licht werden, Verfassungsgebote, die sich aus den abgewertet werden. Grundrechten ergeben, damit innerer Frieden gewahrt bleibt. Die Gleichstellung von Mann und (Dr. Probst [CDU/CSU]: Sie sind bei der APO Frau, der Schutz der Familie müssen im Arbeitsleben stehengeblieben!) durchgesetzt werden. Die Freiheit der Information, Meinung und Presse muß nicht nur gegen politische Ändert sich daran nichts, führt dies schließlich in die Angriffe, sondern mehr noch gegen die Gefahren Resignation. Wenn Jugend dann ihre eigene Zukunft wirtschaftlicher Konzentration verteidigt gefährdet sieht, hält sie Anwendung von Gewalt zur (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Durchsetzung ihrer Ziele bald für berechtigt. der GRÜNEN) (Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Und Sie und auch in neuen elektronischen Medien durchge- rechtfertigen das?) setzt werden. So etwa steht es im Entwurf unseres neuen Grundsatzprogramms, das wir in diesen Tagen Es geht daher um Glaubwürdigkeit. Staatliches und Wochen beraten. Handeln muß als notwendig, als menschlich, als gerecht empfunden werden können. Überreaktionen Wer aber zur Durchführung seiner politischen Vor- sind zu vermeiden und Konflikte gewaltlos abzu- stellungen glaubt zur Gewalt greifen zu müssen,

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Bernrath beweist damit, daß er sich der Unterstützung der So können rechtstreue Bürger von der Beteiligung an Mehrheit unseres Volkes nicht gewiß sein kann, daß Demonstrationen und Versammlungen abgeschreckt er diese Unterstützung nicht hat. Er mißachtet auch werden, wenn z. B. ungesetzliche Randerscheinun- das Mehrheitsprinzip, und er versucht, dieses Prinzip gen des Demonstrationsgeschehens in den Medien durch den Führungsanspruch einer elitären — wie sie oder in den öffentlichen Erklärungen maßgebender sich dann nennen — Minderheit zu ersetzen. Die Repräsentanten des Staates dramatisiert oder ver- Erfahrung unserer Geschichte lehrt uns, daß solche fälscht werden. Sie können auch dann abgeschreckt Gruppen selten Glück und Wohlstand für die Men- werden, wenn der Gesetzgeber die bloße Teilnahme schen gebracht haben. Darum müssen wir das an einer Demonstration zum Risiko macht, weil er die bekämpfen. gewalttätigen Aktionen einzelner zum Anlaß nimmt, auch diejenigen mit Strafe zu bedrohen, die sich nicht Wir dürfen aber nicht die Augen davor verschlie- schnell genug distanzieren. ßen, daß Gewalt in der politischen Auseinanderset- zung — wir haben es eben noch erlebt — auch als Reife, Selbstbewußtsein und Kultur eines demokra- Anlaß dazu benutzt wird, den politisch Andersden- tischen Systems zeigen sich auch in der Art, wie es mit kenden zu diffamieren und ihn auszugrenzen. Die politischen Protestbewegungen umgeht. Das gilt ins- heutige Debatte ist ein Beispiel dafür, daß die an sich besondere für die staatliche Verwaltung und das Vor- notwendige geistige Auseinandersetzung mit der gehen der Sicherheitsorgane. Da der Schutz der Gewalt in unserer Gesellschaft für wahltaktische Rechtsordnung die Ermöglichung und den Schutz Manöver angesichts einer wichtigen Landtagswahl friedlicher Demonstrationen einschließt, ist es wichtig, mißbraucht werden soll. daß unbequeme Protestbewegungen nicht verteufelt werden, auf Provokationen nüchtern und besonnen (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten reagiert wird, immer wieder Gespräche und Kontakt der GRÜNEN) gesucht werden, um die Legalität von Aktionen zu Der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte sichern und vermeidbare Beeinträchtigungen Dritter Antrag soll wohl mehr eine Anklageschrift als der Ver- zu verhindern, alle Bemühungen der Veranstalter such sein, die Gewalt, die Problematik der Gewalt ein- selbst um Friedlichkeit ihrer Aktionen unterstützt mal von all ihren Seiten anzugehen, zu durchleuchten werden und gegen Störer von Veranstaltungen, die und Wege aus diesem Dilemma aufzuzeigen. Der gewalttätige Aktionen beabsichtigen, rechtzeitig und Antrag ist darauf angelegt, Begründungen für eine konsequent mit den gebotenen Mitteln nach dem weitere Einschränkung des Demonstrationsrechts zu Maßstab der Verhältnismäßigkeit eingeschritten liefern. Eine Einschränkung des Demonstrations- wird. rechts setzt aber immer die vorherige Ausschöpfung Der Einsatz von staatlicher Gewalt hat allein der aller sinnvoll anwendbaren Mittel voraus. Die staatli- Erhaltung des Rechtsfriedens zu dienen, nicht dem chen Behörden sind zu vertrauensbildenden Maßnah- Ersatz von Politik. men nicht nur im internationalen Bereich, sondern (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten auch innenpolitisch verpflichtet; sie müssen alles tun, der GRÜNEN) was ihnen möglich ist, um ein Klima der Friedfertig- Jedes Übermaß ist zu vermeiden. Deshalb ist auch auf keit und der wechselseitigen Zusammenarbeit zu för- Einsatzmittel mit unkalkulierbarem Risiko zu verzich- dern und herzustellen. ten. Demonstrationen gehören zum Alltag einer funk- Ich fasse darum für uns zusammen: Freiheitliche tionierenden Demokratie, sie sind keine Ausnahmeer- Demokratie lebt von offener und öffentlicher Diskus- scheinung und dürfen auch nicht als solche behandelt sion. Für die demokratische Meinungsbildung ist es werden. unabdingbar, daß sich alle gesellschaftlichen Kräfte Die SPD fühlt sich durch die vom Verfassungsge- so artikulieren können, daß sie Chancen haben, richt entwickelten Grundsätze zur Versammlungs gehört und beachtet zu werden. Deshalb ist die und Demonstrationsfreiheit in ihren Auffassungen Demonstrationsfreiheit neben der Meinungsfreiheit, bestätigt. Sie tritt für eine Revision oder Abwehr sol- insbesondere aber auch der Pressefreiheit von beson- cher Strafnormen ein, die geeignet sind, auch die derer Bedeutung. Sie gibt sonst einflußlosen Minder- friedliche Teilnahme an Versammlungen oder heiten Gelegenheit, ihre Auffassungen öffentlich zu Demonstrationen zum Risiko zu machen. machen. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit Weitere Verschärfungen des Demonstrationsstraf- von heute ist damit — so steht es auch in unserem rechts, wie wir sie befürchten müssen, jede weitere Programmentwurf — gleichsam die Pressefreiheit der Einschränkung des Versammlungsrechts werden wir kleinen Leute und damit Grundvoraussetzung frei- auch in Zukunft ablehnen. heitlicher Demokratie. Sie garantiert auch ein Stück unmittelbarer Demokratie im parlamentarischen- Danke schön. System. Wer an Demonstrationen teilnimmt, enga- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) giert und bekennt sich in der Öffentlichkeit; das for- dert von manchem Überwindung. Deshalb reichen oft Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abgeord- schon vermeintliche Nachteile aus, um den Bürger nete Lüder. zum Verzicht auf Teilnahme an einer Demonstration zu veranlassen. Lüder (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Dr. Probst [CDU/CSU]: Ein bißchen Mut Damen und Herren! Der Antrag der Koalitionsfraktio- braucht man schon!) nen gegen Gewalt und Rechtsbruch in der politischen 358 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Lüder Auseinandersetzung gibt uns — und darin unter- der politischen Auseinandersetzung gar nicht erst ent- scheide ich mich von dem, was Herr Kollege Bernrath stehen zu lassen. eben ausgeführt hat — (Frau Unruh [GRÜNE]: Atomanlagen ab (Dr. Penner [SPD]: Das ist kein Wunder!) schalten!) Das ist der Grund, warum wir uns in den Verhandlun- Gelegenheit, zur Klärung politischer Positionen bei- gen mit unserem Koalitionspartner so stark dafür zutragen. Es ist keine Anklageschrift, gemacht haben, daß eine Regierungskommission (Dr. Nöbel [SPD]: Das ist Kauderwelsch, was eingesetzt wird, die sich noch einmal um Ursachen der Sie da vorlesen!) Gewalt und um Möglichkeiten der Verhinderung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung bemü- sondern dieser Antrag enthält eine Chance zur politi- hen soll. schen Willensbildung. (Beifall bei der FDP) Gerade am Beginn der politischen Sacharbeit dieser Meine Damen und Herren, wenn der Zwischenruf Legislaturperiode bietet er die Möglichkeit, in aller kommt „Atomanlagen abschalten" : Auch die politi- Öffentlichkeit und Offenheit hier und dem Bürger sche Auseinandersetzung um Atomanlagen rechtfer- draußen zu sagen, wo wir und wo jede einzelne poli- tigt nicht den Einsatz von rechtswidriger Gewalt. tische Gruppierung in der Frage der Gewaltanwen- dung bei der politischen Auseinandersetzung steht. (Beifall bei der FDP — Frau Unruh [GRÜNE]: Dabei ist für uns Liberale der Grundsatz klar: Politi- Ihr vergiftet uns doch!) sche Auseinandersetzung im demokratischen Rechts- Meine Damen und Herren, die in der 9. Legislatur- staat muß friedlich erfolgen. Der offene Meinungs- periode eingesetzte Enquetekommission ,,Jugend- wettkampf, die öffentliche Diskussion, die friedliche protest im demokratischen Staat", auf die Herr Kol- Auseinandersetzung, das ist es, wofür die Liberalen ja lege Bernrath zutreffend eingegangen ist, hat uns zu nicht nur in Deutschland und nicht erst in diesem dem, was Ursachen der Gewalt sind, schon einiges auf Jahrhundert gekämpft haben, das ist es, wofür sich die den Weg gegeben. Auf den Erkenntnissen dieser Liberalen im Parlamentarischen Rat verwendet und Kommission werden wir aufbauen müssen, da wir wofür sich die Freien Demokraten in diesem Haus von deren Erkenntnisse nach wie vor beherzigen müs- Anbeginn an ausgesprochen haben. sen. (Beifall bei der FDP) Die Enquetekommission hat uns deutlich vor Augen gehalten, daß gerade in der Gewaltdiskussion auch Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Wahr- viel Verantwortung bei uns, bei den staatlich Han- nehmung von Grundrechten sind für uns zu wichtig delnden, liegt. Die Enquetekommission hat uns z. B. und zu bedeutsam, als daß wir diese demokratischen ermahnt, daß die Aufrechterhaltung des Gewaltmo- Grundfreiheiten durch Gewaltapostel oder Sachge- nopols des Staates bedingt, daß staatliches Handeln waltsapostelchen in Mißkredit bringen lassen möch- für die Bürger einsichtig und nachvollziehbar ist. Ich ten. zitiere wörtlich: Die Absage an jegliche Form der Gewaltanwen- Gerade in der Demokratie muß sich der Staat bei dung in der politischen Auseinandersetzung im demo- seinem Handeln stets neu um Glaubwürdigkeit kratischen Rechtsstaat darf sich aber nicht darin bemühen. Zur Rechtfertigung staatlicher Ent- erschöpfen, nur Bekämpfung und Bestrafung für scheidungen reicht der Hinweis, daß sie in einem begangene Gewalt zu fordern. Solche Selbstverständ- formal einwandfreien Verfahren zustande lichkeiten müssen zwar festgestellt werden, sie sollten gekommen sind, nicht aus. Vielmehr muß staatli- aber nicht in der Art monotheistischer Gebetsketten ches Handeln von den Bürgern als menschlich stets wiederholt werden müssen. Für uns zählt nicht, und gerecht empfunden werden können. wie oft von welcher Tribüne in welcher Verbalisie- rung Gewaltverurteilung erfolgt, für uns kommt es (Frau Unruh [GRÜNE]: Sehr richtig!) darauf an, alles zu unternehmen, damit Gewalt gar Meine Damen und Herren, daß sich staatliches nicht erst entsteht. Handeln nicht nur an der Gerechtigkeitsmaxime, son- dern auch an der Menschlichkeitsmaxime orientieren (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Sehr richtig!) muß, das können wir draußen nicht immer feststel- Wir wollen die Ursachen der Gewalt noch besser ver- len. stehen, noch intensiver erforschen, noch deutlicher (Frau Unruh [GRÜNE]: Das hat die SPD voll sehen, um Gewaltanwendung zu verhindern, um erkannt!) durch Information und Motivation Friedlichkeit in die - politische Auseinandersetzung zu bringen. Darum müssen wir uns aber bemühen. Damit staatli- ches Handeln gerade im sensiblen Gewaltbereich So sehr wir z. B. den Polizeibeamten dankbar sind, auch als gerecht empfunden wird, muß es uns z. B. die zum Teil unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit hier im Bundestag gelingen, nicht nur die Splitter in im Interesse des Rechtsstaats Gewalt unterbinden, der Argumentation des anderen zu sehen und zu sosehr wir Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter- beanstanden. Bei der Verurteilung von Gewalt darf schaft Respekt zollen für ihr Bemühen um Herbeifüh- auch nicht danach differenziert werden, ob die politi- rung gerechter Aburteilungen erkannter Gewalttäter, sche Zielsetzung für erstrebenswert gehalten wird so sehr kommt es doch vor allem darauf an, Gewalt in oder nicht. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 359

Lüder Meine Damen und Herren, wir Liberalen lehnen die und in manchem wählt er andere Worte. Er setzt sich Anwendung von Gewalt und die Hinnahme von aber in einigen Teilen, z. B. auf Seite 2, mit dem Hin- Rechtsbruch in der politischen Auseinandersetzung weis auf Gefährdung des inneren Friedens dem Ver- ab, wo immer und durch wen immer dies geschieht, dacht aus, zur Legitimierung von Gewalt objektiv die ganz gleich, ob dies am Bauzaun von Wackersdorf zur Hand zu reichen, Verhinderung der umstrittenen WAA, an der Grenze (Zuruf von der SPD: Nein!) nach Dänemark zur Erreichung sozialpolitischer Fort- schritte oder anderswo zu anderen Zwecken was nicht gewollt sein kann und nicht gewollt sein geschieht. darf. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie: Überwin- (Beifall bei der FDP) den Sie Ihren Autorenstolz, stimmen Sie mit uns für Straßenblockade bleibt Straßenblockade, da gibt es den Antrag der Koalitionsfraktionen. keinen Unterschied im Gewaltbegriff, ganz gleich, ob (Kuhlwein [SPD]: Der trägt doch Geißlers dänische LKW, deutsche Bauerntraktoren oder inter- Handschrift! — Weitere Zurufe von der nationale Atomkraftgegner die Friedlichkeit und die SPD) Freizügigkeit der Mitbürger behindern. — Ich wundere mich, wie wenig Sie den Kollegen (Zuruf von den GRÜNEN: Strauß!) Geißler kennen, wenn Sie meinen, dies sei Original- Meine Damen und Herren, wir Liberalen differen- ton Geißler. Dann zeige ich Ihnen bei Gelegenheit mal zieren auch nicht danach, ob Rechtswidrigkeit links andere Papiere und andere Reden, die der Kollege oder rechts angesiedelt werden könnte. Wir wollen Geißler gehalten hat. keine Politik aus Monokelsicht. Wir schätzen die (Schily [GRÜNE]: Legen Sie doch mal vor!) Handwerkskunst der Optiker hoch ein, Sehhilfen zur Klarsicht in jede Dimension auf beiden Augen herzu- Hier ist ein ausgewogener Text einer Koalition. Diese stellen. Da unterscheiden wir uns sowohl von dem, Seite des Hauses, meine Damen und Herren, weiß, was Kollege Bernrath, als auch von dem, was Kollege wie hartnäckig Liberale in Koalitionen um ihre Posi- Geißler hier gesagt haben. tionen kämpfen können. (Beifall bei der FDP — Lachen bei der SPD) (Beifall bei der FDP) An den Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der inne- Meine Damen und Herren, wir verurteilen jede ren Liberalität lassen wir weder hier noch anderswo Gewaltanwendung, weil kein Ziel im demokratischen rütteln. Rechtsstaat sichtbar ist, das Gewaltanwendung legiti- mieren könnte. (Kuhlwein [SPD]: Da muß aber Herr Geißler lachen! — Zuruf von der SPD: Sie sind richtig (Schily [GRÜNE]: Sie haben sich doch zu stark! — Zuruf von der SPD: Da müssen Sie einer Randgruppe zusammengeschlossen!) selber lachen!) Wir sehen mit Sorge, daß sich gerade in den letzten — Meine Damen und Herren, ich muß lachen über die Wochen neue Richtungen und neue Dimensionen der Leichtfertigkeit, mit der Sie dieses Thema behan- Gewalt in der politischen Auseinandersetzung auf- deln. tun. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Wo denn?) Uns ist es verdammt ernst bei der Frage von Gewalt Mir läuft es z. B. den Rücken kalt herunter, wenn ich und Rechtsbruch in der politischen Auseinanderset- verärgerte Landwirte sehen muß, die ihre vermeintli- zung. chen Gegner in Symbolen darstellen, um sie aggressiv zu bekämpfen. Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, (Beifall bei der FDP und der SPD) gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten So sehr ich die Friedlichkeit und Friedfertigkeit der Schily? gestrigen Demonstration der Landwirte begrüße, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lüder (FDP): Aber gern, Herr Kollege. so wenig dürfen wir vergessen, was in den letzten Wochen geschehen ist. Schily (GRÜNE):: Herr Lüder, dürfen wir das als (Dr. Penner [SPD]: Richtig!) Angebot verstehen, daß uns die Entwürfe von Herrn Dr. Geißler zu dem heutigen Entschließungsantrag, Wer Bundesminister, Verbandspräsidenten oder EG- die ja offenbar einen anderen Inhalt, einen schärferen Kommissare politisch an den Pranger stellen will, mag Inhalt hatten, noch bekanntgegeben werden? dies tun. Wer aber diese Leute als Pappfiguren an den - Galgen hängt, überschreitet die Grenze des politisch (Zuruf von der SPD: Deutschland-Maga Zulässigen und signalisiert unzulässige Gewalt. zin!) (Beifall bei allen Fraktionen) Lüder (FDP) : Lieber Herr Schily, wenn Sie meinen Meine Damen und Herren, der Antrag der Fraktion Text nachlesen werden, werden Sie feststellen, daß der SPD über Gewalt in Staat und Gesellschaft ist über ich eine allgemeine Aussage getroffen habe. Wir weite Teile inhaltsgleich, haben noch niemals aus Verhandlungen die ersten (Dr. Penner [SPD]: Ist aber intelligenter!) Teile veröffentlicht. Die Positionen von Partnern lie- 360 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Lüder gen immer auseinander und werden dann zu einem Wir stellen Ihnen vor allen Dingen die Frage: Warum Kompromiß zusammengefügt. wollten Sie eigentlich diese Debatte? (Dr. Penner [SPD]: Das tut ja Geißler dann! — (Zurufe von der SPD: Hessen! — Weil am Dr. Olderog [CDU/CSU]: Machen Sie doch Sonntag gewählt wird!) nicht solche Andeutungen! Das stimmt doch Warum wollten Sie sie eigentlich jetzt? Mit dem alles gar nicht! — Kuhlwein [SPD]: Ihr Koali- äußeren Anlaß, den Hessen-Wahlen, will ich mich tionspartner sagt gerade, Sie hätten nicht die nicht lange aufhalten, obwohl es nicht gerade für die Wahrheit gesagt! — Was gilt denn nun? — Stärke von Herrn Wallmann spricht, daß er einen Weitere Zurufe von der SPD, der CDU/CSU „Salonintellektuellen" wie Heiner Geißler, so einen und den GRÜNEN) „neuen Sensiblen" als Hilfe braucht. Meine Damen und Herren, wir haben wie in jeder (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) Koalition Entwürfe von verschiedenen Seiten. Ich habe auf die Reden von Herrn Geißler Bezug genom- Also, warum wollten Sie eigentlich diese Debatte men, auf den Originalton von Herrn Geißler. Ich habe jetzt anzetteln? Es wäre ja durchaus sinnvoll gewesen, Wert darauf gelegt, daß wir uns zu einer gemeinsa- sich über die Gewalt in dieser Gesellschaft zu unter- men Haltung, zu einer gemeinsamen, aus unter- halten. Denn überall da, wo gesellschaftliche Indivi- schiedlichen Papieren entstandenen Resolution duen miteinander zu tun haben, ist Gewalt und zusammengefunden haben. Ich habe an dieser Stelle Aggressivität im Spiel. Aber diese Gewalt, die keine Polemik verbreitet, werde dies auch nicht tun. dumpfe, die miese, die demütigende Gewalt in den Fairneß gehört für mich zum Stil der Koalition, so wie Schlaf- und Kinderzimmern, die Gewalt in den wir in jeder Koalition fair miteinander umgegangen Arbeitsämtern, die Gewalt in den Heimen der Asylsu- sind. chenden, die Gewalt, die die Arbeitslosen trifft, diese schmutzige Gewalt ist nicht Ihr Thema, sondern eine Meine Damen und Herren, für uns sind drei Gründe höhere, sozusagen eine sauberere Gewalt. Sie sorgen maßgebend, warum wir dieser Resolution zustim- sich um das Gewaltmonopol des Staates. Das kann men: man machen. Wir haben diese Debatten auch in unse- Erstens. Wir dokumentieren für jedermann mit die- rer Fraktion. ser Resolution in Präzision und Klarheit unsere Garan- Nun frage ich Sie aber: Wo — wenn man die Nach- tie und unser Bekenntnis zu den politischen Grund- kriegsgeschichte ohne Hysterie betrachtet — ist rechten des Grundgesetzes, zu Meinungs- und eigentlich das Gewaltmonopol des Staates jemals Demonstrationsfreiheit. wirklich bedroht gewesen? Noch nicht einmal zu den Zweitens. Wir sagen Kampf an gegen jedermann, Zeiten in den 70er Jahren, als es eine unglaubliche der durch Gewaltanwendung letztlich dazu beiträgt, Aufblähung der Instrumente des staatlichen Gewalt- diese Grundwerte zu erschüttern und Grundrechte zu monopols gegeben hat. Ich verstehe, daß sich viele beeinträchtigen. Gewalt darf keine politische Ver- von Ihnen damals subjektiv sehr bedroht gefühlt handlungsmarge bieten. haben, aber nicht einmal damals gab es — objektiv gesehen — eine wirkliche Bedrohung des staatlichen Drittens. Wir wiederholen die liberale Aufforderung Gewaltmonopols. und Auffassung, daß nicht primär Bekämpfung von Gewalt, sondern gerade Verhinderung ihres Entste- (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Was ist mit den hens und Vermeidung von Gewalt Aufgabe politi- Hunderten von verletzten Polizeibeamten scher Zielsetzung ist. jedes Jahr?) Uns liegt daran, diese drei Positionen gerade zu Es waren schreckliche und bleierne Zeiten damals, Beginn der Legislaturperiode zu bekräftigen. Deswe- und diese Erkenntnis bricht sich Gott sei Dank lang- gen bitten wir um Zustimmung zum Antrag der Koali- sam auch in der SPD Bahn, wenn auch immer noch mit tionsfraktionen. einer gewissen Unfähigkeit zu trauern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Wenn das Gewaltmonopol des Staates also niemals Dr. Penner [SPD]: Herr Geißler, Sie müssen bedroht war und auch heute nicht im geringsten klatschen! Das ist der Koalitionspartner!) bedroht ist, warum wollen Sie denn eigentlich diese Debatte? Ich weise auf ein Phänomen hin, das mich immer wieder in großes Staunen versetzt. Die Frage nach der Gewalt — Ihre Lieblingsfrage, Herr Geiß- Vizepräsident Westphal: Das Wort hat Frau Abge- ler — ist eigentlich etwas völlig Neues in der ordnete Dr. Vollmer. Geschichte. Sie haben schon darauf hingewiesen, daß nicht nur die schlimmen Passagen der Menschheits- geschichte, sondern auch die fortschrittlichen Tradi- tionen, auf die Sie — auch Sie ganz persönlich — sich (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Frau Dr. Vollmer berufen, immer mit Gewalt zu tun hatten. Ohne Damen und Herren! Trotz Ihrer für Ihre Verhältnisse Gewalt hätte es keine griechische Demokratie, kein ganz ungewöhnlich milden Rede, Herr Geißler, wer- römisches Staatsrecht, keinen Emanzipationskampf den wir Ihnen den Gefallen nicht tun: Wir werden des Bürgertums in der Französischen Revolution, nicht über das Stöckchen, das Sie uns hinhalten wol- keine Erklärung der Menschen- und Freiheitsrechte len, in die Grube springen, die Sie uns mit diesem in den Vereinigten Staaten gegeben, und ohne Antrag und dieser Debatte gegraben haben. Gewalt wären auch wir nicht vom Faschismus befreit (Beifall bei den GRÜNEN) worden. Es ist eines unserer größten Dilemmas und Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 361

Frau Dr. Vollmer eines der deutschen Traumata, daß es nicht aus eige- weil es einen massenhaften gewaltfreien Widerstand ner Kraft gelungen ist. gibt. (Beifall bei den GRÜNEN) (Beifall bei den GRÜNEN) Herr Geißler, warum wollen Sie diese Gewaltde- Das ist Ihr eigentlicher Adressat, das ist Ihr politischer batte? Was eigentlich treibt Sie an und um? Ich will es Gegner. Ihnen sagen: Sie haben mit dem Ihnen eigenen Instinkt für kritische Situationen begriffen, daß dieser (Kleinert [Hannover] [FDP]: Nicht behaup Staat, dessen Gewaltmonopol tatsächlich durch nichts ten, begründen!) bedroht ist, wirklich in der Krise ist. Er ist in Schwie- Wir sind nämlich schlau geworden. Wir haben als rigkeiten gekommen — und damit auch seine Regie- Leute, die Ihrer existenzbedrohenden Politik Wider- rung. Es ist keine Krise, die mit dieser oder jener stand entgegensetzen wollen, selbst angefangen, gewalttätigen Gruppe zu tun hätte. Damit — das traue unsere eigenen Überlebensstrategien dabei nicht aus ich Ihnen zu — würden Sie jederzeit fertig. Die Krise den Augen zu verlieren. Um es an einem Beispiel zu dieses Staates ist vielmehr eine Legitimationskrise, sagen: Wir Achtundsechziger waren am Anfang unse- die viel weniger deutlich faßbar, viel anonymer, aber rer Politik durch und durch gewaltfrei, und wie hätten auch viel massenhafter ist, und das haben Sie begrif- wir auch anders sein können? fen. Es ist nicht nur eine Legitimationskrise, weil es schlimme Rechtsbrüche dieser Regierung gegeben (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sie müssen in einer hat — ich verweise auf die Flick-Affäre oder auf Demokratie gewaltfrei sein! — Dr. Olderog Nukem, Alkem — , sondern es ist auch eine Legitima- [CDU/CSU]: Sie waren gewaltfrei?) tionskrise, weil es in der Bevölkerung in wichtigen Das Motiv unserer Politik war ja gerade Verachtung Fragen andere Mehrheiten gibt, als sie in diesem Par- und Abscheu gegenüber den unglaublichen Orgien lament festgestellt werden. und Exzessen von Gewalt, die es im Nationalsozialis- (Seiters [CDU/CSU]: Und das bestimmen mus gegeben hat. Sie!?) Nur wer diesen Ausgangspunkt begreift, begreift Es ist vor allen Dingen deshalb eine Legitimations- unser Entsetzen, als wir mit der Gewalt des Staates am krise, weil es ein tiefes Mißtrauen in der Bevölkerung 2. Juni konfrontiert wurden. Nur wer das begreift, gibt, ob dieser Staat und diese Regierung das Überle- begreift auch unser Entsetzen über die drohende Aus- ben und die Zukunft der Menschen eigentlich noch löschung des vietnamesischen Volkes, und nur wer richtig organisieren. das begreift, begreift auch das Ausmaß unseres Irr- tums, (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Olderog [CDU/CSU]: Wahlergebnisse spielen für Sie (Wissmann [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal keine Rolle, nicht? — Seiters [CDU/CSU]: etwas zu Vietnam heute! — Dr. Langner Die Bevölkerung hat uns doch gerade wieder [CDU/CSU]: Und zu Laos!) gewählt, Frau Vollmer!) der darin besteht, daß wir uns damals tatsächlich in Kein Staat der Welt kann eine ganze Bevölkerung auf Gedanken und in Taten militarisiert haben, Dauer in solch existentieller Unsicherheit lassen, ohne dabei selbst in gewisser Weise in Frage gestellt zu (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Wo bleibt Ihr Pro werden. test gegen 3 Millionen Ermordete in Viet nam? Die Kommunisten haben 3 Millionen (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Deswegen wird Menschen umgebracht! — Dr. Olderog diese Regierung ständig wiedergewählt!) [CDU/CSU]: Das wagen Sie hier als Stich Diese Unsicherheit merken Sie. Deswegen versuchen wort zu geben?) Sie so etwas wie eine ideologische Aufrüstung, die der weil wir meinten, das wäre Notwehr. Wir haben aus militärischen Aufrüstung folgt. dieser Zeit sehr viel gelernt; wir mußten sehr viel ler- (Zustimmung bei den GRÜNEN — Gerster nen, auch über unsere eigenen Fehler. Wir sind [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!) gezwungen worden, viel zu lernen, weil wir damals zu viele verloren haben, auch Freunde. Sie suchen einen Ausweg aus dieser Legitimations- krise und folgen dabei der alten militaristischen Ist Ihnen eigentlich klar, Herr Geißler, was für eine Logik: Ein Staatsfeind, ein kollektiver Übeltäter muß unglaubliche politische Entwicklung es bedeutet, her! Und jetzt kommen Sie in ein Dilemma: Sie finden wenn wir heute in viel größeren Existenz- und Über- diesen Übeltäter nämlich nicht, weil Sie ja nicht Politik lebensfragen eine halbe Million Menschen auf einer gegen eine ganze verunsicherte, bohrend nachfra- Demonstration haben, die — bei dieser Bedrohung — gende Bevölkerung machen können. Sie finden den- ganz und gar gewaltfrei bleiben? Ich wage sogar die Ausweg vor allen Dingen deshalb nicht, weil der These: Sie haben begriffen, was es heißt, wenn Mil- Widerstand, der Ihnen entgegenschlägt, in der Regel lionen Menschen den Konsens als Mittäter bei einer eben nicht gewalttätig, sondern gewaltfrei ist. existenzbedrohenden Politik verweigern. (Beifall bei den GRÜNEN) (Beifall bei den GRÜNEN) Um es Ihnen ganz deutlich zu sagen: Sie wollen Sie fürchten und Sie bekämpfen es, und dafür wäh- diese Debatte eben nicht, wie Sie vorgeben, weil es zu len Sie drei Methoden. Die erste Methode ist: Sie ver- viele Gewalttäter in dieser Gesellschaft gibt, sondern suchen, den gewaltfreien Widerstand so zu domesti- 362 Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Frau Dr. Vollmer zieren, daß er sich selbst nicht mehr ähnlich ist, daß Ursachen der Gewalt fragt, wer Verständnis zeigt, ist ihm die Luft wegbleibt. schon ein Mittäter und ein Mitverantwortlicher. (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sie sind nicht (Zuruf von den GRÜNEN: Unerhört!) gewaltfrei!) Das ist so ein demagogisches Begriffspaar. Von daher ist es interessant, daß Sie Ihre Angriffe gerade auf die Anlässe bei der Anti-AKW-Bewegung (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das stimmt doch konzentrieren, wo wir nichts anderes wollen als über nicht! Lesen Sie es mal vor! Sie verfälschen die richtige Methode des Widerstandes debattieren. hier!) Darüber muß debattiert werden, damit die richtige Nach Ihrer Meinung gehört der Gewalttäter ins Strategie gewählt wird, Ghetto, ins Tabu, ins Aus, zur Hölle mit ihm! Wir (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Mit Hunderten sagen: Auch unser Umgang mit Gewalttätern muß von verletzten Polizeibeamten, nicht?) von der Idee und dem Prinzip der Gewaltfreiheit getrieben sein, und das genau verhindern Sie! (Seiters [CDU/CSU]: Was heißt denn das?) (Beifall bei den GRÜNEN — Seiters [CDU/- CSU]: Sie distanzieren sich nicht von auch er muß davon getrieben sein, gewaltfrei Gewalt Gewalt!) zu überwinden. Wir wissen, das ist verdammt schwer. Aber das Vorgehen der Brüder von Braunmühl und Sie versuchen, dem gewaltfreien Widerstand nur übrigens auch die rechtsstaatliche Verteidigung von Spielräume zu lassen, die ihn fast lächerlich machen Otto Schily in den RAF-Prozessen waren genau von — Sonntagsspaziergänge —, Sie fordern ihm perma- dieser Idee getrieben. Sie haben ihn dafür unglaub- nent Unterwerfungsrituale ab. Damit verletzen Sie lich übel diffamiert. In diesen Fragen Gewaltfreiheit etwas, was für das Fortbestehen einer demokratischen auch als Ziel, als Prinzip, als Idee auch gegenüber Gesellschaft außerordentlich wichtig ist, Gewalttätern hochzuhalten, hierin hat sie ihre eigent- (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Und was sollte liche und schwierigste Bewährung. Das kommt nicht nach Ihrer Auffassung möglich werden?) aus Ihrer Schule. Zwar berufen auch Sie, Herr Geißler, sich auf die heiligsten Güter der Menschheit, aber das, nämlich daß es gerade da eine politische Identität was Sie machen, löscht nicht die Verbrechen der Ver- geben muß, eine Kultur der Opposition und des gangenheit aus, sondern legt die Axt an die Wurzel Widerspruchs, der niemand ungestraft ständig das der politischen Kultur der Zukunft. Kreuz, ständig das Rückgrat brechen darf. (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Geißler [CDU/CSU]: Kritik und Widerspruch, aber Ihre dritte Methode ist die: Sie nennen das gewalt- ohne Gewalt!) tätig und Rechtsbruch, was ganz einwandfrei gewalt- frei ist. Von der Art ist Ihre Reaktion auf die Verwei- Dieser Identität der Linken, die Sie bekämpfen, dieser gerung der Menschen und vieler Organisationen, sich Identität der politischen Opposition, dieser Identität volkszählen zu lassen. Zum Glück, möchte man des gewaltfreien Widerstandes als einer wirksamen sagen, sind wir hier an einem Punkt, wo für nieman- machtausübenden Einflußnahme auf die öffentlichen den ein Zweifel bestehen kann, daß das Nichtausfül- Dinge, genau dieser Identität wollen Sie das Kreuz len eines Fragebogens eine völlig gewaltfreie Sache brechen. ist. (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Das stimmt doch (Zurufe von der CDU/CSU, der FDP und der überhaupt nicht! — Sie verdrehen ja alles!) SPD: Aber ein Rechtsbruch!) Aber aus der Erfahrung der Harmlosigkeit, der Wenn es Menschen denn nun vorziehen, im schönen Ohnmacht, der Wirkungslosigkeit der gewaltfreien Mai lieber spazierenzugehen, als sich befragen zu las- Strategien, wenn sie denn so sind, entsteht folgerich- sen, und wenn sie auf die notorische Unberechenbar- tig die Verzweiflung, die Meinung, daß es dann doch keit der Deutschen Bundespost rechnen, indem ihre nur anders geht, und die fürchten wir. Natürlich voll- Briefe verlorengehen, so ist das das Aufgreifen der ziehen nicht alle Teile der politischen Opposition, son- Tugend des pazifistischen Soldaten Schwejk und dern nur ein ganz kleiner Teil diese Lehre; bei den sollte von Ihnen nicht ständig mit dieser unglaublich anderen gelingt tatsächlich die Domestizierung. Aber dumpfen und banalen und brutalen Droherei beant- dieser kleine Teil, wortet werden. (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Die Elite natür- (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Olderog lich! Die GRÜNEN!) [CDU/CSU]: Es sagt niemand, daß es Gewalt der radikalisiert sich, und gerade um den kämpfen ist! Das ist ein Rechtsbruch! Vermischen Sie wir, gerade den wollen wir Ihnen und Ihrer Behand- das nicht!) lung nicht überlassen. Das ist unvernünftig, Herr Geißler, sofern Sie noch (Beifall bei den GRÜNEN) begreifen, daß Vernunft von „vernehmen" kommt. Vernehmen Sie doch, daß dieses Volk nicht gezählt Hier setzen Sie — das ist Methode 2 — auf ein werden will! Begriffspaar. Sie haben einmal dieses schreckliche Begriffspaar „Pazifismus und Auschwitz" erfunden, Es gibt eine schöne Geschichte für die Methoden und jetzt sagen Sie in Ihrem Antrag: Wer nach den des gewaltfreien Widerstandes, und die geht so: Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 363

Frau Dr. Vollmer „Ich rede nicht gern", sagt der Herr zum Knecht, zumindest immer im Hinterkopf haben, die Fragen „wenn ich also mit dem Finger winke, dann der Allgemeinkriminalität, die auch auf unseren Stra- kommst du." — „Das trifft sich gut", sagte der ßen in Großstädten, in einem erschreckenden Maße Knecht, „ich rede auch nicht gern. Wenn ich also und häufig gegen ältere Mitbürger gerichtet, mit mit dem Kopf schüttle, dann komme ich nicht. " Gewalt einhergeht. Wir sollten über alle Formen der (Anhaltender Beifall bei den GRÜNEN und Gewalt sprechen bis hin zu jener Gewalt, die hinter bei Abgeordneten der SPD) den beschirmenden und dann akustisch schützenden Mauern des familiären Heims zuweilen in der Familie stattfindet. Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Bundes- minister der Justiz. (Zustimmung des Abg. Dr. de With [SPD]) Über all dies sollten wir uns unterhalten und uns dann, Engelhard, Bundesminister der Justiz: Herr Präsi- wenn wir uns den Ursachen zuwenden, fragen: Sind dent! Meine Damen und Herren! Wer in dieser es dieselben Ursachen, die Gewalt bei der Allgemein- Debatte gegangen ist und sich vorher die Unterlagen kriminalität hat, oder ist das, was wir erleben bei der angesehen hat, hat zunächst einmal den ursprüngli- politisch ausgeübten Gewalt von anderen Ursachen chen Antrag der SPD-Fraktion zur Hand genommen, und Motivationen bestimmt? der eine Überschrift trägt, die einem richtig — und ich Wenn wir uns der Frage der Ursachen, die für uns sage dies ohne Ironie — warm ums Herz werden läßt. Liberale — Herr Kollege Lüder hat es gesagt — eine Da liest man: „Verteidigung der inneren Liberalität sehr wichtige Frage ist, zuwenden, erwarten wir, von und Stärkung der Demokratie". Wer wollte sich dafür welcher Kommission auch immer, keine letzten Ant- nicht begeistern und dies nicht unterstützen? worten. Nein, letzte Antworten sind letztlich Fragen Nur, wenn man weiterliest, und zwar den Antrag, der Weltanschauung, die uns hier Auskunft geben den Sie vor zwei Tagen ergänzend vorgelegt haben, kann. so haben Sie selbst empfunden, daß das, was Sie zur Wir erwarten auch keine billigen Patentrezepte, Begründung Ihres ursprünglichen Antrages ausge- denn damit wäre uns nicht geholfen. Ich darf daran führt haben, kleinklein war und Sie einen großen erinnern, daß der seinerzeit hochgeachtete Krimino- Gedanken verkocht haben. Wenn hier die Forderung loge Cesare Lombroso aufgestellt ist, man solle zur Bewahrung der inneren Liberalität und zur Stärkung der Demokratie zwei (Dr. Vogel [SPD]: „L'uomo delinquente"!) Gesetzesnovellen zurücknehmen, die mittlerweile den Terrorismus auf eine Vitaminmangelkrankheit Gesetzeskraft haben, so ist Ihnen wohl selbst deutlich zurückführte, die vor allem bei Bevölkerungsschich- geworden, daß dies ja wohl nicht der Kern des Pro- ten festzustellen sei, die im Süden Europas genötigt blems sein kann. seien, sich nahezu ausschließlich von Mais zu ernäh- Wir können natürlich darüber nachdenken, ob wir ren. Ich will mit diesem Beispiel einmal deutlich zu viele Gesetze machen — auch im Bereich der inne- machen, wie man — — ren Sicherheit — oder ob wir zu wenige Gesetze machen. Nur, meine Damen und Herren von der SPD, Vizepräsident Westphal: Herr Minister, sind Sie zu die Art und Weise, wie Sie sich dem Problem zuge- einer Zwischenfrage bereit? wandt haben, läßt auf unserer Seite viele Fragen auf- tauchen. Da wissen Herr Dr. Vogel und andere sehr Engelhard, Bundesminister der Justiz: Ich bitte, wohl aus den Zeiten der sozialliberalen Koalition, auf Herr Präsident. die sie Bezug nehmen, daß dort alles, aber auch alles zur Bekämpfung des Terrorismus Notwendige geschehen sei, und werden sich zurückerinnern an Schily (GRÜNE): Herr Minister, haben Sie den Ein- Vorhaben, die damals existierten, etwa die Abhörung druck, daß die mangelnde Präsenz der CDU/CSU des Gesprächs zwischen dem Verteidiger und dem in Fraktion in der heutigen Debatte etwas mit dem Inhalt Haft befindlichen Beschuldigten, die durch unseren Ihres Debattenbeitrages zu tun hat, von einem Vita- massiven Einsatz und nicht nur durch lautes Schlach- minmangel ganz zu schweigen? tengetrommel, sondern durch die Hartnäckigkeit der (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sie sind ja das Opfer Bemühungen schließlich verhindert werden konn- der eigenen „Präsenz" geworden! Sie sind ten. ein sachverständiger Zeuge! — Dr. Olderog Wer dies alles weiß und wer daran mitgewirkt hat, [CDU/CSU]: Weil Sie gestern Ihre Leute in der Stunde der Not solches in die Erwägungen und nicht zusammenbekommen haben!) in die Beratungen einzubeziehen, der sollte sich heute hüten, in einer anderen Zeit mit neuen Herausforde- Engelhard, Bundesminister der Justiz: Herr Schily, rungen dieser Bundesregierung und dieser Koalition - es ist nicht meine Aufgabe, Betrachtungen darüber den Vorwurf zu machen, opportunistische Gesetzes- anzustellen, wer aus welchem Grunde anwesend oder aktivitäten zu praktizieren. nicht anwesend ist. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Darüber sollten wir uns in dieser Auseinandersetzung Ich glaube, wir können unsere Zeit zu besseren klar sein. Zwecken verwenden, jeder für seine ihm notwendig Wir unterhalten uns heute über die Gewalt in der erscheinenden Zwecke. politischen Auseinandersetzung. Ich meine, wir soll- Es wird aber die Aufgabe der in der Koalitionsab- ten dabei alle Formen und alle Arten der Gewalt sprache festgelegten Regierungskommission sein, 364 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Bundesminister Engelhard auch für den Bereich der Gewalt uns nicht nur eine lichkeit — war Frau Vollmer nicht in der Lage, auch Verbreiterung des rechtstatsächlichen Wissens zu an die draußen, an die politischen Anhänger, ein kla- geben, uns gewisse Erfahrungen aus dem Polizeibe- res Signal zu geben, daß DIE GRÜNEN gegen Gewalt reich und anderes zu vermitteln, sondern uns, so mei- stehen. nen wir, einiges über die Ursachen der Gewalt und (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Kennen Sie den über Motivationen der Gewaltausübung zu sagen, Unterschied zwischen Gewalt und Gewalt Zusammenhänge aufzuzeigen, denn in anderen freiheit? — Dr. Olderog [CDU/CSU]: Das war Bereichen wissen wir dies wohl. Es ist mittlerweile unmoralisch!) eine Binsenweisheit, daß verfehlte Maßnahmen des Städtebaus gerade in den 60er Jahren zu einer erhöh- Sie haben von der schmutzigen Gewalt gesprochen. ten Kriminalität in bestimmten neuen Siedlungsfor- Jedermann möge dies noch einmal nachlesen; ich men geführt haben. Der Mensch, bedrückt von der werde es tun. Es ist hochinteressant, zu verfolgen, wie Gewaltigkeit der Baumasse, wird seelisch krank, oder Sie schmückende Beiworte, deren Berechtigung er kann auch kriminell werden, und häufig beides. zunächst, wenn es woanders auch geschehen wäre, plausibel erscheinen mag, gewählt haben, als Sie von (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Die Anonymität in der schmutzigen Gewalt in den Kinderzimmern, in diesen Häusern!) den Familien und von vielem, was da zugedeckt wird, sprachen. Ich gebe Ihnen recht. Ich habe gesagt: Allen Die totale Anonymität, das Fehlen jeglicher sozialer Formen der Gewalt nachzugehen ist eine Aufgabe der Kontrolle, dies alles, Zusammenhänge, die wir bei der politisch Verantwortlichen. Nur, wenn Sie damit bei Allgemeinkriminalität mittlerweile kennen, sollten einer Debatte über die politisch motivierte Gewalt Anlaß sein, bei der politisch motivierten Kriminalität, etwas zuzudecken suchen, etwas in seiner Gewichtig- bei der Anwendung von Gewalt im politischen Streit keit nicht so bedeutungsvoll darzustellen suchen, gleichfalls dringenden Wert darauf zu legen, uns hier wenn Sie nicht expressis verbis, aber in der Schilde- mit den Ursachen von Gewalt näher zu beschäfti- rung der Zusammenhänge aus den Berliner Tagen gen. — die Erlebnisse der 68er, die Freunde, die man ver- Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland loren hat — quasi um Verständnis werben, daß wir einen Staat, der alle Voraussetzungen für das friedli- uns anstrengen sollen, um Sie zu verstehen und viel- che Zusammenleben seiner Bürger erfüllt. Ich will den leicht sogar noch für richtig zu halten, was Sie emp- Politologen Peter Graf Kielmansegg zitieren, der finden, denken und sagen, statt daß Sie sich mit Ihren schrieb: politischen Freunden (Hoss [GRÜNE]: Sie haben das überhaupt Der freiheitliche Verfassungsstaat ist die vernünf- nicht begriffen!) tigste und erfolgreichste Form der Bändigung von Gewalt. auf den Weg machen umzudenken, wird deutlich, daß Sie es bisher nicht geschafft haben, an Ihrem Weltbild, (Frau Unruh [GRÜNE]: Aber doch nicht mit an Ihrem Staatsverständnis deutliche Korrekturen Zimmermann!) vorzunehmen. Die Bändigung der Gewalt, insbesondere die Pazifi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zierung des politischen Konfliktes im freiheitlichen Es ist das Problem, daß wir nicht damit zufrieden Verfassungsstaat, ist freilich keine selbstverständli- sein können, wenn Sie der direkten Gewalt — wie Sie che, sondern eine durchaus labile Errungenschaft. es also andeutungsweise getan haben — abschwören Gewalt zu bändigen und trotzdem Raum für die und eine Absage erteilen, aber weite andere Bereiche Austragung politischer Konflikte zu lassen, ist ein nahezu mit der Rechtfertigung „gewaltlos" versehen. schwieriger Balanceakt. Ich glaube, daß es uns in die- Ja, für Sie ist die Verletzung eines Gesetzes korrekt. sem Staat gelungen ist, diesen Balanceakt in der Ver- Das vertreten Sie. Das haben Sie heute auch hier ver- gangenheit erfolgreich zu bestehen. treten. (Frau Unruh [GRÜNE]: Gesetze können doch Wir haben heute von Frau Vollmer anderes gehört. verändert werden! — Gegenrufe von der Ich meine, man stockt, wenn man sich mit den Aus- CDU/CSU: Hier! Im Parlament!) führungen auseinandersetzt, weil man nahezu kör- perlich empfinden konnte, wie hier jemand nicht nur Uns macht — damit beschäftigt sich diese Bundesre- mit den Problemen ringt, nein, wie er sich bei der gierung — eine seit Jahren deutlich werdende Erosion Auseinandersetzung mit der Frage politisch motivier- des Rechts Sorgen, die mit dem Wort vom zivilen ter Gewalt schwertut, sich durchzuringen, zunächst Ungehorsam gekennzeichnet ist, wo man herangeht, sich selbst, und dann andere Menschen, die nicht mit wegen der Dringlichkeit seines Wollens und seines ihrer Intellektualität und ihrem Verständnis der Vorhabens eine höhere Legitimität gegenüber der nur Zusammenhänge gesegnet sind, mitzureißen und klar- formalen Legalität unserer Gesetze in Anspruch zu und unmißverständlich davon abzuhalten, auf einem nehmen. falschen Wege zu gehen. (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Was heißt schwer- Vizepräsident Westphal: Gestatten Sie eine Zwi- tun? Sie hat sich nicht von der Gewalt distan- schenfrage des Abgeordneten Schily? ziert!)

Sie hat sich schwergetan, und weil Sie sich so schwer- Engelhard, Bundesminister der Justiz: Ich getan hat — das war die logische Folge ihrer Befind- bedaure. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 365

Bundesminister Engelhard (Schily [GRÜNE]: Sie wollen doch über Genau das ist Ihre Auffassung. Wann immer es Ihnen gewaltfreien Widerstand sprechen! Wie- paßt, rufen Sie eine angeblich vorhandene Volks- beurteilen Sie denn die Tatsache, daß die mehrheit von draußen an, die das wahre Sagen haben Hanauer Nuklearfabriken gewaltlosen sollte. Widerstand gegen § 327 des Strafgesetzbu- (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Und das unmittel ches leisten?) bar nach der Bundestagswahl, wo gerade entschieden worden ist!) — Herr Abgeordneter Schily, ich habe jetzt aus gutem Grunde wegen der besonderen Qualität Ihrer vorheri- Ich glaube, es ist Ihr Problem, daß Sie ein Verhältnis gen Zwischenfrage Ihre zweite Zwischenfrage nicht zu diesem Staate, ein Verhältnis zu unserer Verfas- zugelassen. Indirekt dieselbe jetzt in einem Zwischen- sungsordnung finden müssen, ruf vorzubringen ist nicht besonders originell. (Dr. Vogel [SPD]: Die FDP kann die Stimmen in Berlin noch nicht einmal zählen, Ich fahre fort und sage — ich weiß sehr wohl, daß geschweige denn wählen!) auch Ihnen dies unangenehm ist —, daß es das Pro- blem ist, daß Sie zu diesem Staate so lange noch kein damit wir in der Lage sind, überhaupt vernünftig mit- Verhältnis gefunden haben, einander reden zu können. Ich meine, daß in diesem Zusammenhange die SPD, (Schily [GRÜNE]: Sie sind nicht der Staat! Sie die in vielen Bereichen allzu nahe nach dort drüben sind ein Minister einer bestimmten Regie- rückt, keinen Grund zu allerlei hämischen Nebenbe- rung!) merkungen hat, wenn ich verfolge, daß jetzt bei den Sitzblockaden — auch bei den Richtersitzblocka- solange Sie nicht erkannt haben, daß im Verfassungs- den — manche Äußerungen auch aus Ihrem Bereich staat Bundesrepublik Deutschland unter der Herr- schaft des Grundgesetzes fielen, die zu den größten Bedenken Anlaß geben. Wenn wir jetzt zur Kenntnis nehmen, daß die Arbeits- (Schily [GRÜNE]: Wie war denn das mit dem gemeinschaft sozialdemokratischer Juristen mit dem Grundgesetzartikel 21?) hochinteressanten Vorschlag aufwartete, die termin- lich feststehende Volkszählung auszusetzen, der denkbare Spannungsgegensatz zwischen Gesetz- (Demonstrative Zustimmung bei den GRÜ mäßigkeit und Legitimation aufgehoben ist. NEN) Es ist ja in diesem Zusammenhang interessant, daß weil dagegen schwerwiegende Bedenken bestünden, sich die Befürworter des Volkszählungsboykotts, dann ist es an einem solchen Tag an Ihnen, wo es nicht obwohl in den verschiedenen Verfahrensarten alle nur um die Gewalt geht, wo es um die Gesetzestreue Türen des Bundesverfassungsgerichts offenstehen, geht, um jenes Minimum, das Voraussetzung ist, nicht erneut an das Bundesverfassungsgericht Gewalt zu verhindern und das friedliche Zusammen- gewandt haben, weil sie wissen, welche Antwort sie leben der Bürger in unserem Lande sicherzustellen, aus Karlsruhe bekämen. Ihrerseits ein deutliches Wort zu sagen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Schily [GRÜNE]: Sie sind doch für das ver- fassungswidrige erste Volkszählungsgesetz gewesen!) Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abgeord- Nein, hier macht man etwas anderes: Bürgerinnen nete de With. und Bürger dieses Landes, auf die am 25. Januar Stim- men entfallen sind und die deshalb auf den Bänken der GRÜNEN im Deutschen Bundestag Platz nehmen Dr. de With (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- konnten, gehen wie Sie, Frau Vollmer, her und spre- ehrten Damen und Herren! Wer den Antrag der chen von den anderen Auffassungen, die draußen in Regierungskoalition liest und dazu die Worte von seiner Mehrheit das Volk habe. Herrn Lüder hört, reibt sich zunächst die Augen. Auf den ersten Blick erscheint jeder Satz verständlich und Wir haben die repräsentative Demokratie. Wenige noch dazu akzeptabel bis vielleicht auf den einen, wo Monate erst ist diese Wahl her. Wie eigentlich wollen es heißt: wir miteinander umgehen und uns gegenseitig ernst Der Deutsche Bundestag erwartet von der vorge- nehmen, wenn Sie glauben, auf der einen Seite hier sehenen Regierungskommission weitere Ent- Parlament — ja, was ist das bei Ihnen? — spielen, auf scheidungsgrundlagen für die Entwicklung von der anderen Seite draußen aber die für Sie richtige Konzepten zur Verhinderung und Bekämpfung und offensichtlich viel wichtigere Basispolitik betrei-- von Gewalt. ben zu können? Was solche Regierungskommissionen auszubrüten (Frau Unruh [GRÜNE]: Sie betrachten sich in der Lage sind, wissen wir seit deren Vorlage zum als Staat!) Demonstrationsstrafrecht. lm übrigen: in geistiger Verbundenheit mit Reaktio- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nären von ehedem; denn ich habe aus gutem Grunde GRÜNEN) bereits 1983 einmal aus Schillers „Demetrius" zitiert: Die Vorlage war derart obrigkeits- und rechtslastig, „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn. " daß sogar Ihre eigenen Sachverständigen die Vorlage 366 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode -- 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. de With — ich sage: Gott sei Dank — im Anhörungsverfahren — Ich habe kein Wort dazu hier gehört; und Herr des Rechtsausschusses förmlich zerfetzten. Geißler hat lange genug geredet, ebenso der Mini- ster. (Hört! Hört! bei der SPD — Dr. Olderog [CDU/CSU]: Wer sind denn „unsere eigenen (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Sachverständigen"?) Zurufe von der FDP) Gleichwohl, wir sind uns einig in der Verurteilung — Ich rede zur CDU/CSU. Ich habe ausdrücklich am jeder Gewaltanwendung, auch gegen Sachen, in der Anfang Herrn Lüder lobend ausgenommen. Ich unter- Bekämpfung auch derer, die gewissermaßen schlei- scheide sehr wohl. chend durch Verständnis für Gewalt oder Billigung (Schily [GRÜNE]: Auf einem Auge blind!) von Gewalt Tore öffnen, in der Verurteilung des Die symbolische Verbrennung von Puppen für Rechtsbruchs, in dem Schutz der grundrechtlich gesi- Menschen stand am Anfang des Ku-Klux-Klan. Nach cherten Versammlungs- und Meinungsfreiheit, in der der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" — das ist Solidarität mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Rich- bestimmt kein Blatt der Sozialdemokratischen Par- tern zur Bewahrung des Rechtsfriedens. tei — von vorgestern hat Rudolf Schnieders, der Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren von Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, die- der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen, sen Punkt aufgegriffen und dabei den bäuerlichen bei genauerem Hinsehen — und das hat man deutlich Führungskräften „Feigheit und mangelnde Zivilcou- bemerkt bei Ihrer Rede, Herr Geißler — wird zweierlei rage " vorgeworfen. offenbar: Ihr sehr allgemein gehaltener Antrag zielt Und wo bleibt der Protest dagegen, daß gestern mit- im Grunde sehr einseitig nur auf die linke Szenerie. tag klammheimlich Vertreter der Bauern unter Miß- Zum anderen ist er zu kurz gefaßt, zu wenig umfas- achtung der Bannmeile mit Transparenten auf der send. Hermann-Ehlers-Straße einen Zug bildeten, (Dr. Nöbel [SPD]: Er reicht nur bis zum näch- (Dr. Vogel [SPD]: Keinerlei Empörung?) sten Sonntag!) 50 Meter von diesem Haus entfernt? Wo Sie, ein einziges Mal konkret werdend, sich offen- (Dr. Penner [SPD]: Elitäres Rechtsverständ baren, heißt es: „Anschläge auf Strommasten, nis!) Gebäude, Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen sind kriminelles Unrecht." Sonst sind Sie schnell bei der Hand, wenn ein paar Leute mit Turnschuhen ein Plakat hier draußen tra- Das ist auch unsere Meinung. Jedoch bedürfte es gen. Dann rufen und brüllen Sie: Bannmeilenbruch! deshalb nicht der unmäßigen Ausweitung des Straf- tatbestands der Bildung einer terroristischen Vereini- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) gung. Alle diese Taten waren schon vorher unter Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Strafe gestellt. Und vergessen, meine sehr verehrten Damen und (Dr. Penner [SPD]: Der Mummenschanz ist Herren von der Union, haben Sie die tagelange Blok- das Allerwichtigste!) kade auf der Bundesautobahn im Süden durch Last- wagen. Die bayerische Staatsregierung, die sonst so Bei der soeben erwähnten Passage wird natürlich gern ihre Muskeln spielen läßt, ließ sich dabei lange — das ist offensichtlich Ihre Absicht — bei vielen Zeit. Und der Ministerpräsident des Freistaats, Franz rasch die Erinnerung an das Vorfeld von Wackersdorf Josef Strauß: und Grohnde wach, und das geistige Auge des Bür- gers am Fernsehschirm sieht Tennisschuhe und Par- (Dr. Penner [SPD] und Dr. Vogel [SPD]: Jetzt kas, die er zunächst einmal bei der extremen Linken aber!) ansiedelt. Ließ er nicht so etwas wie Sympathie für die Brumm Fahrer erkennen? (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Der Fischer trägt jetzt Halbschuhe!) (Dr. Penner [SPD]: Sympathisant!) Das ist Wahlkampf. Ich glaube, das ist nicht sehr weit von der Billigung von Gewalt. Aber, Herr Geißler, Sie vergessen zu erwähnen, daß jüngst lebensgroße Puppen von Politikern auf Markt- (Dr. Vogel [SPD]: Verpflegt hat er sie, auf Staatskosten!) plätzen verbrannt wurden und eine gar gekreuzigt wurde. Herr von Heereman ist leider nicht mehr hier. Aber Sie vergessen das zu erwähnen, Herr Geißler. Der könnte Ihnen davon etwas erzählen. (Zurufe von der SPD und der CDU/CSU) Damit wir einander nicht falsch verstehen: Ich kann - Herr Geißler, bei Ihnen ist Hessen durchgedrungen. die Erbitterung der Bauern sehr wohl nachempfinden. Ich will deshalb daran erinnern, daß das hessische Aber ich kann nicht verstehen, daß Sie, meine Damen Verfassungsgericht das Förderstufenabschlußgesetz und Herren von den Koalitionsfraktionen und auch dort unlängst für verfassungsgemäß erklärt hat. Vor- von der Regierung, dazu schweigen und die einfach her haben viele Kreise mit einer CDU-Mehrheit dieses hingenommen haben. Gesetz nicht vollzogen. Und, was noch schlimmer ist: (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Der Landkreis Offenbach, mehrheitlich CSU, Dr. Olderog [CDU/CSU]: Das stimmt doch (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Was, „CSU" in gar nicht!) Offenbach?) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 367

Dr. de With hat sich sogar danach noch geweigert, das Gesetz zu Nur, im letzten Fünftel hat sie noch einen drauf gesetzt vollziehen. und mehr oder weniger versteckt — ich sage: offen — zum Rechtsbruch aufgerufen, (Zuruf von der SPD: Boykott! — Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN: Hört! (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Wo denn?) Hört!) indem sie erwähnte, es sei besser, im Mai spazieren- Sind das nicht auch Rechtsbrüche, die schleichend zugehen, denn Fragen zu beantworten. Tore öffnen? Aber dazu schweigen Sie. Sie können (Demonstrativer Beifall bei den GRÜNEN) nur andere anprangern. Das können und sollten wir in diesem Hause nicht (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) akzeptieren. — Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, klat- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der schen Sie nicht zu früh. FDP) Deswegen sagen wir: Eines sollte unter uns klar sein: (Schily [GRÜNE]: Wir sind vorsichtig, wir Gewalt ist in jeder Form, von wem sie auch kommt, zu klatschen nur, wenn Sie etwas Richtiges bekämpfen. sagen! Wenn Sie nichts Richtiges sagen, wer- den wir schweigen! — Gegenruf des Abg. (Zuruf von den GRÜNEN: Auch in Hamburg! Dr. Olderog [CDU/CSU]: Das fällt Ihnen aber Auch der Hamburger Kessel!) schwer!) Privilegien sind einer Demokratie unwürdig. Konzes- — Schön, Herr Schily. — Natürlich gibt es auch Auf- sionen bei der Bildung von Gewalt rühren letztlich an fassungen und Äußerungen der GRÜNEN, die ich auf- ihre Grundfesten. spießen muß. Ich habe vorhin erklärt, daß ich die Erbitterung der (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Richtig!) Bauern, jedenfalls der kleineren und mittleren, ver- stünde. Damit bin ich bei den Ursachen, die normaler- Was hat denn Jutta Ditfurth in der „Elefanten-Runde" weise gezähmte Hemmungslosigkeit am Donnerstag vor der Bundestagswahl ausgeführt? (Unruhe) Grundsätzlich — ich darf ein kleines bißchen um Aufmerksamkeit (Dr. Olderog [CDU/CSU] : „Grundsätzlich" ! ) bitten; ich rede gerade von den Ursachen — (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Herr Penner, „Auf — sagte sie — merksamkeit" hat er gesagt! — Seiters gilt für uns das Prinzip der Gewaltfreiheit. [CDU/CSU]: Er bittet um Aufmerksamkeit bei seiner Fraktion! — Weitere Zurufe von Wir alle wissen, was „grundsätzlich" heißt: Ausnah- der CDU/CSU) men sind zulässig. Wenige Sekunden danach durchaus zu Maßnahmen provozieren können, die wir (Dr. Langner [CDU/CSU]: Kam die Blech- alle mißbilligen. Das heißt: Wir dürfen — das wider- schere, zack!) spiegelt Ihr Antrag zu sehr; nur Herr Lüder hat eine hat sie das noch wortwörtlich begründet. Sie sagte: Ausnahme davon gemacht — nicht nur die Sym- ptome, sondern müssen gleichermaßen auch die Ursa- Ich sage also auch: Z. B. das Zaundurchschnei- chen bekämpfen. Denn auch die geben Grund zur den zur Besetzung eines Baugeländes gegen ein subtilen Gewalt. Deswegen läuft Ihr Antrag zu kurz. Atomkraftwerk halten wir zur Verhinderung die- Unsere Politik muß darauf gerichtet sein, Polarisie- ser atomaren Gewalt für legitim. rungen zu vermeiden, Spannungen abzubauen und So wörtlich Jutta Ditfurth. Hier können wir Sozialde- geduldig und immer wieder geduldig um Verständnis mokraten nur sagen — ich sage das mit allem Ernst — : zu werben. Wehret den Anfängen! (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Sie erzeugen doch (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/- die Spannungen!) CSU und der FDP — Frau Unruh [GRÜNE]: Schärfere Gesetze allein verhindern weder das Ent- Ja, aber bei euch auch!) stehen terroristischer oder krimineller Neigungen, noch stiften sie automatisch Rechtsfrieden. Ich darf Denn am Ende kann dies — wenn auch ungewollt, hier Ortega y Gasset zitieren, von dem Sie so gern sage ich — von manchen als Freibrief dahin mißver- Gebrauch machen. Er sagt: „Was ist Gewalt anderes standen werden, daß man eben auch mit Rammen und als Vernunft, die verzweifelt?" Deshalb gehört zu Molotow-Cocktails — ich bin ganz vorsichtig — - unseren Forderungen auch, daß Politik nicht Klassen (Frau Unruh [GRÜNE]: Was denn noch entstehen lassen darf, die sich vom allgemeinen Fort- alles?) schritt ausgegrenzt fühlen. gegen Zäune losgeht. (Frau Unruh [GRÜNE]: Massenarbeitslosig keit!) Was die Rede von Frau Vollmer angeht, so kann ich nur sagen: Sie war über eine Strecke von vier Fünftel Und es ist — sehr richtig — eine Klasse der Arbeitslo- ihrer Zeit bewegend. sen im Entstehen begriffen, und es ist in Rudimenten auch eine Klasse der den Hof verlierenden Bauern (Frau Unruh [GRÜNE]: Ja, genau!) vorhanden. Es wurde auf der anderen Seite auch eine 368 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. de With Gruppe gefördert, die glaubt, die Oder-Neiße-Grenze Ich weiß nicht, was Sie in Ihren Taschen haben. Aber müsse und könne doch noch rückgängig gemacht sie brauchen das nicht zu schützen. werden. So produzieren Sie Unruhe, die Sprengkraft (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei enthalten kann. Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich muß sich die Politik an die eigene Brust klopfen, wo sie Verantwortung in der Exekutive trägt. Dr. de With (SPD): Ich habe hinreichend deutlich Ein Landesinnenminister darf eben nicht trutzig und zum Ausdruck gebracht, was ich von der Einkesse- trotzig zum Angriff treiben und die Polizei anweisen, lung halte und daß die Konsequenz der Rücktritt war. mit der Folge vieler Verletzter auf beiden Seiten. Das halte ich für gut. (Pauli [SPD]: Der Zimmermann ist gar nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) da! Ein Skandal!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich Ich bekenne auch als Sozialdemokrat — ich reagiere appelliere noch einmal an die Regierungsfraktionen, hier auf den Zuruf von vorhin — : Ein Innensenator das Problem der Gewalt nicht nur symptomatisch auf- darf auch nicht die sogenannte Einkesselung einfach zufassen, nicht nur die Symptome zu bekämpfen, son- hinnehmen. dern den Ursachen nachzugehen und wirklich dafür (Beifall bei Abgeordneten der SPD und bei Sorge zu tragen, daß Gruppen und Gruppierungen den GRÜNEN) nicht ausgegrenzt werden. Nur, meine Damen und Herren, der Unterschied Ich schließe mit einem Wort von Johann Jacoby, der zwischen dem Freistaat Bayern und Hamburg in die- als Königsberger Deputierter der Berliner National- sem Fall ist der, daß in Bayern der Polizeichef in die versammlung Friedrich Wilhelm IV. 1848 in Sanssouci Wüste geschickt wird und der Innenminister Sozialmi- das folgende gesagt hat: nister wird, in Hamburg aber der Innensenator Gott Das ist das Unglück der Könige: daß sie die Wahr- sei Dank seinen Hut nimmt. heit nicht hören wollen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Vielen Dank. GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Das ist ein bißchen politische Kultur. (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Aber die ganze Regierung hat zwischenzeitlich den Hut Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abgeord- genommen! Aber nicht deswegen! — nete Dr. Bötsch. Dr. Vogel [SPD]: Bötsch, haben Sie über- haupt einen Hut?) Dr. Bötsch (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind verehrten Damen und Herren! Ich meine, daß heute der Meinung, daß die in der letzten Legislaturperiode hier viel Theoretisches gesagt wurde, begrabene Kronzeugenregelung eben aus diesem (Kleinert [Marburg] [GRÜNE): Jetzt kommt Grunde nicht wieder das Licht der Welt erblicken der Praktiker!) sollte. Wir sind der Auffassung, daß die unmäßige manches Richtige, viel Falsches, aber manches mit Ausweitung und viele zu Terroristen stempelnden Sicherheit nur deshalb, um von dem, was hier konkret und kriminalisierenden Änderungen des Strafgesetz- unserem Antrag zugrunde liegt, etwas abzulenken buches rückgängig gemacht und daß jede weitere und zu konkreten Sachverhalten nicht Stellung neh- Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts und jede men zu müssen. weitere Einschränkung des Versammlungsrechts abgelehnt werden müssen. (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: So ist das!) Es ist hier davon gesprochen worden, daß die Rede Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, der Kollegin Vollmer ergreifend war. Ich habe den gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eindruck: Am meisten war sie selbst von ihren Aus- Ebermann? führungen ergriffen. Ich bin aber nicht ganz sicher, ob dies eine echte Ergriffenheit ist oder ob damit nicht nur von den Sachverhalten abgelenkt werden soll. Dr. de With (SPD): Bitte schön. (Frau Unruh [GRÜNE]: Ihr habt ja keine Frauen!) Ebermann (GRÜNE): Ich komme aus Hamburg und habe eine andere Erinnerung an einen Vorgang. Des- — Daß Sie, Frau Kollegin, nicht ergriffen sind, merkt wegen möchte ich Sie einfach fragen: Sind Sie sich man an jedem Ihrer Zwischenrufe allerdings. ganz sicher, daß der Hamburger Innensenator aus Wenn hier auf den Protest der 68er hingewiesen Anlaß des Hamburger Kessels zurückgetreten ist? Das und das Wort Vietnam genannt wird, dann frage ich ist aus meiner Sicht völlig unwahr. mich: Wo sind eigentlich die Proteste dagegen geblie- ben, daß nach dem Rückzug der Ame rikaner die Kom- Dr. de With (SPD): Ich habe es so gesagt, und es ist munisten in Südostasien etwa drei Millionen Men- meine Auffassung. schen ermordet haben? Dazu hätten Sie vielleicht etwas sagen sollen. Vizepräsident Westphal: Herr Ebermann, bleiben (Beifall bei der CDU/CSU) Sie bitte am Mikrophon stehen. Frau Kollegin Vollmer, wenn Sie aus unserem (Ebermann [GRÜNE]: Oh, Entschuldigung!) Antrag hier zitieren und behaupten, daß wir diejeni- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 369

Dr. Bötsch gen diffamieren, die nach den Ursachen der Gewalt Es gibt in der politischen Auseinandersetzung auch fragen, so muß ich Ihnen sagen, daß davon in dem keine legitime Gewalt gegen Sachen. Gewalt gegen Antrag kein Wort steht. Dazu heißt es bei uns: „Wer Sachen ist Gewalt wie jede andere. Wer sich dieses für Gewalttaten Verständnis äußert oder ihnen Beifall Mittels bedient, handelt verwerflich. Wir wenden uns spendet, trägt Mitverantwortung für die Folgen. " Das mit Nachdruck gegen jede Verwischung der Grenzen ist die Passage, und ich glaube, in dieser Passage kön- von Friedlichkeit und Gewalt. Der Unterschied zur nen wir jedes Wort unterstreichen, und dazu stehen Gewalt gegen Menschen liegt nur in der Schwere der wir. Tat. Für die Meinungsfreiheit, für die freie Willensbil- dung und damit für unsere Demokratie ist es unerheb- (Frau Unruh [GRÜNE]: Erst mal zu den Ursa lich, wogegen sich die Gewalt richtet. Unsere Verfas- -chen!) sung duldet keine Gewalt in der politischen Ausein- Meine Damen und Herren, die Staatsgewalt wird in andersetzung, in keiner Weise. freien Wahlen und Abstimmungen ausgeübt, heißt es in unserer Verfassung. Wenn die Frau Kollegin Vollmer sagt, daß diese Fra- gen in ihrer Fraktion immer sehr intensiv diskutiert (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Wo sind denn würden, dann kann ich nur sagen: Sie haben allen Abstimmungen? Wo ist denn die direkte Grund dazu, dies bei Ihrer Haltung sehr intensiv zu Demokratie?) diskutieren, Gewalt zur Kundgabe und Durchsetzung von Mei- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Olderog nungen sieht das Grundgesetz dagegen nirgends vor. [CDU/CSU]: Bemerkenswert, daß große Dis Wenn heute zunehmend Gewalt in der politischen kussionen darüber geführt werden müssen, Auseinandersetzung eine Rolle spielt, dann ist das ob Gewalt angewendet werden soll! — Frau eine Herausforderung für alle Demokraten. Wer es Unruh [GRÜNE]: Wir haben eine christliche mit der Demokratie ernst meint, wer die Freiheit, in Haltung!) der wir seit über vierzig Jahren leben, nicht aufs Spiel setzen will, der muß sich mit aller Entschiedenheit wenn Sie die Frage des Gewaltmonopols immer mit gegen die verbreitet sichtbaren Tendenzen zur einem dicken Fragezeichen versehen. Gewalt zur Wehr setzen. Meine Damen und Herren, Sprachschöpfungen und Meine Damen und Herren, wenn hier behauptet Erfindungen wie „Regelverletzung" oder „ziviler wird, wir wollten das Demonstrationsrecht einschrän- Ungehorsam" mögen verführerisch klingen, vom ken, verschlechtern, oder wie die Begriffe alle heißen, Boden des Grundgesetzes aus ist und bleibt derartiges dann kann ich nur sagen: Wir sind für das in der Ver- Handeln Unrecht. Auch der größte Erfindungsreich fassung verbriefte Demonstrationsrecht. Jeder soll tum kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diejeni- demonstrieren können, wo er will, an welchem Ort gen, die sich an derartigen Dingen beteiligen, gegen auch immer, mit Ausnahme der gesetzlich festgeleg- unsere Gesetze verstoßen. Die Grenzen zur Gewalt ten Einschränkungen — Stichwort Bannmeile: Herr sollen damit nämlich nur durchlässig und fließend Kollege Wernitz, die Bannmeile gilt für jeden, damit gestaltet werden. dies ganz klargestellt ist — , für die gerechteste Sache, aber meinetwegen auch für den aus meiner Sicht (Dr. Penner [SPD]: Permissiv!) größten Unsinn. Auch das alles ist von der Demonstra- Aus diesem Grund muß auch allen, die mit dem tionsfreiheit geschützt, aber eben so, wie es in unserer drohen, Stichwort Verfassung steht, friedlich und ohne Waffen. Boykott gesetzlicher Maßnahmen Volkszählung — Kollege de With hat hier etwas (Beifall bei der CDU/CSU — Sehr richtig! bei gesagt, dem ich voll zustimmen kann — , gesagt wer- der SPD) den, daß sie zu ungesetzlichen Mitteln greifen. Nicht Krawalle, bei denen Steine fliegen, bei denen mit nur wer Gewalt übt, sondern alle, die auf demokrati- Stahlmuttern, Kugeln und Brandsätzen auf Polizisten schem Weg zustande gekommene Entscheidungen geschossen wird, nicht akzeptieren wollen und gegen diese Entschei- dungen auf anderen als in einer Demokratie zulässi- (Frau Unruh [GRÜNE]: Oftmals durch Polizi- gen Wegen angehen, verletzen unsere Gesetze und sten ausgelöst! Verdammt noch mal!) verlassen den Boden der Verfassung. bei denen sich Polizisten gegen Stockschläge und (Zuruf von den GRÜNEN: Wie ist es mit den Messerstiche wehren müssen, sind keine legitimen Personalausweisen?) Mittel der Meinungsäußerung, sondern schlicht und einfach kriminell, sind Verbrechen. Wir dürfen es — Genau das gleiche gilt auch dafür — weil das Stich- nicht zulassen, daß sich an derartigen Ausschreitun- wort Personalausweis gekommen ist. gen beteiligte Täter dann auf den Bonus der Mei- - nungsfreiheit berufen. (V o r sitz : Vizepräsident Cronenberg) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eigentlich müßte es in einer Demokratie über alle Parteien hier einen Konsens geben. Allerdings läßt die Die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes meint nur Einstellung der GRÜNEN und auch von Randgrup- die Freiheit der friedlichen Meinungsäußerung, und pen der SPD gegenüber diesen Fragen Zweifel an die- jede Form der Gewalt in der politischen Auseinander- ser Feststellung aufkommen. setzung ist ein Verstoß gegen das Friedensgebot unserer Verfassung und damit ein Anschlag auf unse- (Dr. Nöbel [SPD]: Wo ist Herr Zimmermann ren freiheitlichen Rechtsstaat. eigentlich heute morgen?) 370 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Bötsch Das fängt bei der Verharmlosung von Rechtsbruch Eigentlich dürften die GRÜNEN für keine andere und Gewalt an und geht hin bis zur offenen Befürwor- Partei, gleich auf welcher Ebene, ein Bündnispartner tung und Unterstützung. sein. (Frau Unruh [GRÜNE]: Lüge!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Penner [SPD]: Jetzt kommt die Macht — Lüge? Nun, wie hat eigentlich Herr Trampert vor frage!) der 6. Bundesdelegiertenversammlung der GRÜNEN in Duisburg erklärt? Das staatliche Gewaltmonopol Die Tatsache aber — jetzt komme ich zu Ihnen —, stehe den Interessen der GRÜNEN unmittelbar im (Dr. Penner [SPD]: Bitte, nicht! — Dr. Vogel Weg. Oder , der ehemalige hessische [SPD]: Bleiben Sie lieber dort!) Umweltminister, bekannte in einem „Spiegel" -Inter- view, er werde auch weiterhin Rechtsbrüche in Kauf daß die SPD nicht bereit ist, diese Konsequenz zu zie- nehmen. hen, daß sie in Hessen mit den GRÜNEN ein Bündnis eingegangen ist und jetzt ein weiteres Bündnis Im Juni 1986 kam es in Brokdorf zu äußerst gewalt- anstrebt, macht die SPD in ihrer Haltung gegenüber tätig verlaufenden Demonstrationen mit einer Viel- der Gewalt unglaubwürdig. zahl von Verletzungen. (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: In Hessen (Frau Unruh [GRÜNE]: Ohne GRÜNE!) kann man sich nachts noch auf die Straße — So, ohne GRÜNE? trauen!) (Frau Unruh [GRÜNE]: Die waren friedlich! Bei dieser Sachlage verwundert es nicht, daß die Ich war dabei!) SPD nicht in der Lage ist, alle ihre Gruppierungen wie beispielsweise die Jungsozialisten vollständig zur — Die GRÜNEN hatten aber einen Aufruf mitunter- Unterstützung zeichnet, in dem es hieß, daß alle Formen des Wider- standes legitim und notwendig seien. (Dr. Vogel [SPD]: Was wäret ihr ohne die Jungsozialisten? Da wäret ihr arm dran!) Nach der Entscheidung des Landgerichts Bonn vom 1. November 1986 sind u. a. folgende Aussagen über der von ihr im Deutschen Bundestag mitbeschlosse- die GRÜNEN zulässig: nen Volkszählung zu gewinnen, und es hinnehmen muß, daß beispielsweise vom stellvertretenden Vorsit- Die GRÜNEN distanzieren sich nicht von Gewalt. zenden der Jungsozialisten zum Boykott der Volks- Delegierte der GRÜNEN haben während ihres zählung Parteitages im Mai 1986 in Hannover, als sie von den Vorgängen in Wackersdorf gehört hatten, (Beifall bei den GRÜNEN) ihre große Freude nicht verhehlen können. und damit zum Gesetzesbruch aufgerufen wird. (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Jetzt kommt Nur für diejenigen, die die satzungsrechtlichen dies! Da ist doch schon dicker Staub drauf!) Bestimmungen der SPD nicht so genau kennen: Jeder Jungsozialist muß Mitglied der SPD sein, und jedes SPD-Mitglied bis zum 35. Lebensjahr ist automatisch Mitglied der Jungsozialisten. Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, (Zuruf von der SPD: Das ist ja ganz was gestatten Sie eine Zwischenfrage? Neues, was Sie hier von sich geben! — Wei tere Zurufe von der SPD) So ist die Lage im Unterschied zu den anderen Nach- Dr. Bötsch (CDU/CSU): Nein. wuchsorganisationen der politischen Parteien. Das hören Sie sehr ungern. Weil hier der Zwischenruf „Bayern" kam: Sie haben doch die bayerischen SPD-Abgeordneten Ihrer Frak- Bei den bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen tion weiß Gott nicht sehr vornehm bei den gerade in Brokdorf sind es Teile der GRÜNEN gewesen, durchgeführten Wahlen behandelt. die die zu erwartenden Ausschreitungen bewußt in Kauf genommen hätten. (Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD]) Und weiter das Urteil: — Herr Vogel, Sie zählen nach Berlin, Sie gehören nicht mehr nach Bayern; das wissen wir doch, meine Die GRÜNEN haben sich nach dem Brokdorf Damen und Herren. Krawall, den Terrorszenen in Wackersdorf, Ham- burg und Berlin nur vereinzelt von den Gewalttä- (Lachen bei der CDU/CSU) - tern distanziert. Sie nehme ich da jetzt einmal aus. (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das war die (Dr. Vogel [SPD]: Haben Sie etwas gegen Rede vom letzten Jahr! Das ist wie mit der Berlin?) Silvesteransprache!) — Ich habe nichts gegen Berlin, nur daß Sie den — Das hören Sie sehr ungern, meine sehr verehrten Zusatz „Berlin" führen, das stört mich nämlich, wissen Damen und Herren. Sie. (Frau Unruh [GRÜNE]: Weil es nicht (Dr. Vogel [SPD]: Führe ich ja gar nicht! Das stimmt!) stimmt gar nicht!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 371

Dr. Bötsch Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich Regierungsparteien ist entlarvender als dieser: „Es ist glaube, wir haben in der Koalition notwendige Maß- die Aufgabe der Polizei, die Freiheitsrechte der Bür- nahmen beschlossen, und wir werden sie in der gebo- ger, insbesondere auch die Demonstrationsfreiheit zu tenen Zeit beraten und dann auch das, was notwendig schützen. " Wer beim Wort „Demonstrationsfreiheit" ist, verabschieden. Dies hat nichts mit Illusionismus zu sofort an Polizeieinsätze denkt, braucht uns nicht tun. Der neue Vorsitzende des innenpolitischen Aus- mehr zu erläutern, was er will. Ich denke dabei sofort schusses hat sich hier mit Gesetzesopportunismus und an jenen SPD-Innensenator Lange, der die Demon- ähnlichen Begriffen eingeführt. Ich kann nur sagen: strationsfreiheit so konsequent durch die Polizei Er hat manchmal das Automobil in der Einbahnstraße „schützte", daß er gleich die ganze Demonstration in etwas in die verkehrte Richtung gelenkt. Ihr Vorgän- Schutzhaft einkesselte. ger jedenfalls, Kollege Wernitz, den Sie nicht sehr gut behandelt haben, hat in diesen Fragen wesentlich (Beifall bei den GRÜNEN) mehr Bodenhaftung bewiesen, als Sie sie hier heute vorgeführt haben. Brokdorf, Wackersdorf und Hamburg haben gezeigt, wie das Demonstrationsrecht von der Staats- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel gewalt gefilzt, geknüppelt, vergast und eingekesselt [SPD]: Kümmert ihr euch mal um Biedenkopf wird. Nürnberg hat gezeigt, wie mit dem Recht auf und Windelen!) Versammlungsfreiheit umgesprungen wird. Ihnen Meine Damen und Herren, die Bekämpfung der geht es nicht um Recht und Freiheit, sondern um Ruhe Gewalt in der politischen Auseinandersetzung ist eine und Ordnung, Gehorsam, Unterordnung, Anpassung. existentielle Frage für unsere Demokratie. Innere Sicherheit nennen Sie das verschleiernd, um (Dr. Penner [SPD]: Deshalb ist der Zimmer- den gesellschaftlichen und sozialen Widerstand zu mann auch nicht da!) brechen. Schleppnetzfahndung, Rasterfahndung, Bewegungsbilder, die Überwachung und die Totaler- Der Staat, der in der politischen Auseinandersetzung fassung werden mit der Volkszählung und mit dem Gewalt zuläßt, wird zum Willkürstaat. maschinenlesbaren Ausweis von Ihnen immer perfek- (Dr. Vogel [SPD]: Wo ist der eigentlich?) ter geplant. Das geht ja alles ganz legal, und da haben — Der Herr Bundesinnenminister Zimmermann, Herr Sie auch in den Reihen der SPD Verbündete: Als sich Vogel, um die Frage zu beantworten, hat eine dienst- der Hamburger Kessel nach geltender Rechtsstaat- liche Verpflichtung bei der Innenministerkonferenz lichkeit als Rechtsbruch herausstellte, fiel dem alten aller Innenminister der Bundesländer und des Bun- und neuen Innensenator Pawelczyk nichts anderes desinnenministers in Berlin. ein als: Ein neues Gesetz muß her; damit er das näch- ste Mal legal einkesseln kann. (Dr. Vogel [SPD]: Da hätte er ja den Gauwei- ler hinschicken können!) (Beifall bei den GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Der Staat, der in der politischen Auseinandersetzung Kennzeichen dieser Regierung ist, daß sie systema- Gewalt zuläßt, wird zum Willkürstaat. Wir werden tisch Schritt für Schritt Freiheitsrechte ab- und polizei- alles daran setzen, Gewalt und Rechtsbruch aus der staatliche Regelungen ausbaut; denn der Kanzler politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepu- sagt: Wir müssen alle glücklich und zufrieden sein. Da blik Deutschland fernzuhalten, grenzt es ja schon an Hochverrat, wenn auf der Straße Unzufriedenheit demonstriert wird von Bauern, von (Frau Saibold [GRÜNE]: Mit Gewalt!) Arbeitnehmern, von Schülern und Studenten und von und allen gilt die Bitte, die es mit unserer Demokratie Frauen und Männern, deren Gesundheit und Leben ernst meinen, uns dabei zu unterstützen. durch Atomraketen und -energie bedroht ist. Vielen Dank. Sie behaupten: Recht schützt Freiheit. Das erzählen (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Saibold Sie mal den Stahlarbeitern in Hattingen, den Werf tar- [GRÜNE]: Sie sind doch die Gefahr für die beitern in Hamburg bei der HDW, den Mietern, deren Demokratie!) Wohnungen kaputtsaniert oder wegspekuliert wor- den sind. Bevor ich der nächsten Vizepräsident Cronenberg: (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN) Rednerin das Wort gebe, möchte ich der Abgeordne- ten Frau Unruh einen Ordnungsruf erteilen, Frau Die antworten Ihnen: Das Recht schützt allein die Abgeordnete Unruh, verbunden mit der Bitte, sich, Freiheit der Unternehmer, zu heuern und zu feuern. wenn eben möglich, dem Stil des Hauses, eines Das Recht schützt allein die Spekulanten und die Ban- anständigen Stils, zu bedienen. Das erleichtert die ken. Auseinandersetzung in der Sache zwischen den Frak- tionen. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott. FDP) Bei der Debatte — und das jetzt ausdrücklich auch an

Frau Schmidt - Bott (GRÜNE): Die altväterlichen die SPD — geht es nicht um Gewalt. Denn dann müß- Ausführungen von Herrn Geißler zum zivilen Unge- ten wir reden über die Tausende von Menschen, die horsam können nicht darüber hinwegtäuschen, daß täglich in Kriegen und an Hunger sterben, die umge- Sie Widerstand in die terroristische Ecke definieren bracht und gefoltert werden. Wir müßten reden über wollen. Kein Satz in dem Entschließungsantrag der Waffenlieferungen und über die Ausbeutung der Drit- 372 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, d en 2. April 1987

Frau Schmidt-Bott ten Welt. Das alles passiert ganz legal, ganz nach dem Es war und ist richtig, Hausbesetzungen und Betriebs- legalistischen Prinzip. besetzungen zu machen. Das ist nicht legal; es ist legi- tim und dringend notwendig. (Beifall bei den GRÜNEN — Schily [GRÜNE]: Überhaupt nicht legal!) (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Kunz [Wei den] [CDU/CSU]: Wo sind wir eigentlich? — Bei uns, hier in der Bundesrepublik, ist Folter kein Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU, Asylgrund. der FDP und der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Aber Ihnen zuzu- Wir protestieren nicht gegen Alkem, um zu erreichen, hören ist eine Folter!) daß dort legal Plutonium produziert wird, Nach Urteilen der Verwaltungsgerichtshöfe Kassel (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Hier wird zum und Mannheim schon 1982 und 1983 ist das so, weil Rechtsbruch aufgerufen!) Foltern lediglich Ausdruck „kriminaltechnischer sondern wir wenden uns gegen die Legalität von Besonderheiten' in der Türkei und dort „praktisch all- menschheitsbedrohenden Produktionen. gemein" üblich ist. Da meinen wir allerdings, daß es eine moralische Pflicht ist, nicht gesetzestreu zu (Beifall bei den GRÜNEN) sein. Frau Abgeordnete, (Beifall bei den GRÜNEN) Vizepräsident Cronenberg: erstens, Ihre Redezeit ist beendet. Zweitens. Ich Da meinen wir allerdings, daß es eine Pflicht ist, mache Sie darauf aufmerksam, daß es einen Ord- gesetzbrecherisch Flüchtlinge zu schützen und zu nungsruf nach sich zieht und im Wiederholungsfalle verstecken. Da lassen wir uns nicht einschüchtern und weitere Maßnahmen, nicht abschrecken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden weiter in gewaltfreien Aktionen unse- wenn Sie hier vom Podium des Deutschen Bundesta- ren Protest artikulieren gegen die Bedrohung der ges zu Rechtswidrigkeiten aufrufen. Menschheit durch atomare und chemische Verseu- (Zurufe von der CDU/CSU: Das ist ja uner chung, gegen das Atomraketenvernichtungspoten- hört! — So haben die Nazis im Reichstag tial, gegen Umweltzerstörung, und wir werden uns geredet! — Da lacht sie auch noch drüber!) nicht vorschreiben lassen, mit wem wir noch demon- strieren oder gar noch reden dürfen. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Langner.

Dr. Langner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hätte es nicht bereits hundert Vizepräsident Cronenberg: Frau Abgeordnete, Gründe für die Debatte für heute gegeben, die beiden gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rednerinnen der GRÜNEN hätten sie uns heute hier Dr. Hirsch? nachgeliefert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn von diesem Pult zum Rechts- und Regelbruch

Frau Schmidt - Bott (GRÜNE): Im Moment nicht. aufgefordert wird, wenn Frau Vollmer sagt, die 68er seien noch absolut gewaltfrei gewesen — das stimmt Das auch noch mal ausdrücklich an die SPD, an zwar nicht —, aber danach der Satz kommt: Jetzt sind Herrn Bernrath und Herrn de With: wir schlauer, dann haben wir diese Drohung sehr (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Wir sind gegen Fol- wohl verstanden. ter überall, wo sie angewandt wird!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Ja, wir rufen auf zu Gesetzesverletzungen, zu Rechts- Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie haben Honig und Regelverletzungen und werden uns daran betei- in den Ohren! — Weitere Zurufe von den ligen. GRÜNEN) Herr Kollege Bernrath, Sie haben viel weiße Salbe (Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der hier verschmiert, aber zwei Ihrer Sätze möchte ich CDU/CSU und der FDP: Unerhört! — festhalten, die Sie eher beiläufig gesagt haben. Die Unglaublich! — Herr Präsident, das ist ja Bürger, so sagten Sie, fürchten um das Gewaltmono- unglaublich!) pol des Staates und die Rückkehr zum Faustrecht. Denn unser Protest richtet sich gegen legal erlassene (Dr. Mechtersheimer [GRÜNE]: Was hat er Gesetze, wie Sie das sagen. Es war Rechtsbruch, als hier gesagt? — Zurufe der Abg. Frau Unruh sich die Frauen in einer Selbstbezichtigungsanzeige- [GRÜNE]) dazu bekannt haben, abgetrieben zu haben. Wer glaubt, zur Durchsetzung seiner politischen Vor- (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Hier wird zum stellungen zur Gewalt greifen zu müssen — — Rechtsbruch aufgerufen!) (Unruhe bei den GRÜNEN) Das war Widerstand gegen diesen Rechtsstaat, und es war notwendig, und es war richtig. Vizepräsident Cronenberg: Entschuldigen Sie, Herr (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN — Abgeordneter Dr. Langner, ich will die notwendige Dr. Olderog [CDU/CSU]: Herr Präsident, es Ruhe im Hause herstellen. Herr Abgeordneter Mech- ist ja unglaublich hier!) tersheimer, Frau Abgeordnete Unruh, wenn Außerun- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 373

Vizepräsident Cronenberg gen gefallen sind, die rügenswert sind, können Sie Wenn die politische Debatte so zur Gesinnungs- und sich darauf verlassen, daß sie gerügt werden, voraus- Vorwurfsdemagogie entartet, gesetzt, daß wir sie festgehalten haben. Ich kann das (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Was sagen Sie hier oben nicht alles hören. denn zu den Äußerungen von Herrn Len (Zurufe des Abg. Dr. Mechtersheimer zer?) [GRÜNE ] und der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]) wie wir das hier erleben, dann erscheint uns eine sol- che Ex-cathedra-Diktion eigentlich nur noch konse- Im übrigen bitte ich den Redner, jetzt fortzufahren. quent. Ayatollah läßt grüßen. — Wenn hier nicht die notwendige Ruhe hergestellt wird, lasse ich Sie aus dem Saale weisen. — Herr (Beifall des Abg. Gerstein [CDU/CSU]) Dr. Langner, Sie haben das Wort. Ein weiteres Beispiel für zivilen Ungehorsam sind sogenannte „friedliche" Sitzstreiks. Warum bleiben Blockaden in Mutlangen — neuerdings entblöden Dr. Langner (CDU/CSU): Ich wollte den Satz des Kollegen Bernrath festhalten: Wer zur Durchsetzung sich ja auch Richter nicht, solchen Rechtsbruch in seiner politischen Vorstellungen glaubt, zur Gewalt Robe zu begehen — eigentlich ohne Handgreiflich- greifen zu müssen, traut sich nicht zu, Mehrheiten zu keiten? Denn die Blockierer greifen natürlich massiv finden. Dieser Satz ist richtig, aber warum wollen Sie in die Rechte anderer — z. B. der Straßenbenutzer — dann in Hessen wiederum dem politischen Radikalis- ein. Es ist eine erborgte Friedlichkeit, meine Damen mus Regierungseinfluß verschaffen, frage ich mich. und Herren. Diejenigen, die auf ihr Recht zur Selbst- hilfe — z. B. um ihre Bewegungsfreiheit durchzuset- (Zustimmung bei der CDU/CSU) zen — verzichten, sind friedlich, nicht die Blockie- rer.

Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter Ziviler Ungehorsam ist eine Art moralischer Aus- Dr. Langner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des beutung derer, die sich über Rechtsbindung hinweg- Herrn Abgeordneten Schily? setzen, auf Kosten derer, welche die Rechtsbindung einhalten. Dieser These des Verfassungsrechtlers Isensee ist vorbehaltlos zuzustimmen. Dr. Langner (CDU/CSU): Nein, meine Zeit zerfließt durch diese dauernde Unruhe. Ich bitte, mir das nicht Die Unterscheidung zwischen einem gewaltfreien anzurechnen. und einem gewalttätigen Widerstand oder zwischen zivilem und militantem Ungehorsam läßt sich weder (Zurufe von den GRÜNEN) juristisch noch praktisch durchführen. Waren denn die GRÜNEN nicht auch Mitveranstal- Uralt ist auch das Argument für das anmaßende ter der Antiatomkonferenz im Januar in Nürnberg, Gewissensmonopol, sich über geschriebenes Gesetz und konnte man dort nicht lesen, Herr Ebermann, und durch höheres Recht legitimiert hinwegsetzen zu kön- zwar auf einem Transparent im Eingang — ich zitiere nen. Ich zitiere: wörtlich — : „Den Sprung von der spontanen Bewe- gung zur revolutionären Krafteinheit — Die militante Es möge sein, daß sich die herrschende Macht Debatte organisieren und durchsetzen"? legaler Mittel bediene. Dennoch sei der Selbster- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die haltungstrieb der Unterdrückten immer die erha- Gewalttätigkeit beginnt meist sprachlich durch Ver- benste Rechtfertigung für ihren Kampf mit allen wirrung der Begriffe. Waffen. Menschenrecht bricht Staatsrecht. (Zustimmung bei der CDU/CSU) So meinte es Adolf Hitler in „Mein Kampf". Im Kampf gegen den angeblichen Atom- und Plutoniumstaat „Ziviler Ungehorsam" ist ein solcher Begriff. Welch grüner Auflauf, bei dem nicht die Vokabel „Über- wird solches Gewäsch doch ständig wiederholt. Es ist lebensnotwendigkeit des zivilen Ungehorsams" geradezu Mode geworden, seine politische Gesin- bemüht wird. Der Ausgangspunkt solchen Denkens nung als Gewissen auszugeben, hat Manfred Hättich ist totalitär. Man glaubt, ein Wahrheitsmonopol zu Recht formuliert. gepachtet zu haben. Wie oft hörten wir von den GRÜ- Wir müssen uns vor allem, meine ich, im Gespräch NEN den Satz, eine qualifizierte, weil informierte mit unserer Jugend dagegen wehren, daß solche Art Minderheit sei die eigentliche Mehrheit. von Berufung auf ein Gewissensmonopol das Nach- Aber sind solche Avantgarden nicht immer ein denken ersetzt. Geht die Saat der Sprachverwirrung Unglück für die Völker geworden, wenn sie an die erst auf, folgt die Frucht gewalttätiger Aktion rasch Macht kamen? In so vielen Reden, die GRÜNE hier im nach. - Deutschen Bundestag gehalten haben, reklamieren Der ehemalige grüne MdB und jetzt im hessischen sie für sich praktisch eine Art Gewissensmonopol und Umweltministerium gut versorgte Herr Ehmke spricht überziehen uns Andersdenkende mit den aggressiv- in der „taz" vom 29. November 1986 von einer heim- sten Vokabeln. Der Herr Stratmann z. B. schämte sich lichen Rangfolge der Aktion; die Bewegung sei eben nicht, zur Begründung für seine Beleidigung „Gottes- für Unterschriftensammlungen, Petitionen, Volksab- lästerung" nachher auch noch ein alttestamentari- stimmungen usw. nicht mehr zu begeistern, hier sches Gebot zu zitieren. bringe eben Aktion Satisfaktion, hier hätten — so (Zuruf von den GRÜNEN: Das stimmt wörtlich — militante Aktion und Blockade einen doch!) höheren Stellenwert. 374 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Langner So weit sind wir schon, daß im noch rot-grünen Hes- Ich unterstelle also keinem Sozialdemokraten, daß sen hohe Beamte unbeanstandet Gefallen an militan- er das billigt. Ich weiß, daß Ihre Strategie und Hoff- ter Aktion und Blockade finden, meine Damen und nung die ist, die GRÜNEN in Regierungsverantwor- Herren! tung läutern zu können. Herr von Dohnanyi hatte sol- (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! — Zuruf von che Illusionen in bezug auf die GAL natürlich auch. den GRÜNEN: Wieder verdreht!) Sicher tut man Ihnen auch nicht Unrecht damit, zu vermuten, Sie hätten im Hinterkopf, die verlorenen Herr Oppositionsführer, machen Sie sich da nicht viel- Töchter und Söhne der großen sozialistischen Allmut- leicht auch etwas Illusionen über die hessischen GRÜ- ter durch eine Koalition wieder fest an das sozialisti- NEN? Ich habe zugeschaut, als Sie am 25. März Herrn sche Elternhaus binden zu können. Bresser im Fernsehen erklärten, bei den hessischen GRÜNEN gebe es in der Gewaltfrage, in der Sie sehr (Dr. Vogel [SPD]: Sind das nicht auch eure? sensibel seien, eben keine Unklarheiten. Sitzt dieser Sind eure Söhne und Töchter nicht genauso Herr Ehmke nicht in einem hessischen Ministerium? dabei? Was soll denn das?) (Dr. Vogel [SPD]: Dann lesen Sie einmal den Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, ganzen Text von vorn bis hinten!) als unbefangener Beobachter hat man allerdings den Oder ist die Blutspritzaktion des Herrn Schwalba- Eindruck, das müßten Sie gekonnter anfangen. Hoth im Hessischen Landtag schon vergessen? Oder (Schily [GRÜNE]: Wie wählen denn Ihre Kin ist Ihnen das Wort von Herrn Josef Fischer nicht be- der?) kannt Im Grunde sind es doch Sie, die an der Nase herum- (Schily [GRÜNE]: „Joschka" heißt der!) geführt und vorgeführt werden. — ich zitiere — : „Ich bin für einen mittleren Weg, bei (Dr. Vogel [SPD]: Kümmert euch doch mal dem allerdings Aktionen auch dann unterstützt wer- um eure Nasen!) den, wenn sie gegen geltendes Recht verstoßen"? (Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich!) Schieben Sie auch nicht die geschichtliche Erfahrung so leicht beiseite, daß die Radikalenbändiger, die auf Oder sein Staatssekretär Karl Kerschgens wörtlich: dem Tiger reiten wollten, nachher verfrühstückt wor- „Ich selbst entscheide in Situationen, in denen ich den sind! meine, daß ich sie nicht verantworten kann, mich auch über ein bestehendes Gesetz hinwegzusetzen." Das Nach der Sprachverwirrung und dem Gesetzesboy- sagte er im Hessischen Landtag. kott folgt dann die Aktion. Mit Gewalt gegen Sachen (Schily [GRÜNE]: Das tun Sie doch dau- beginnt es. Aber natürlich richtet sich ein Angriff auf ernd!) das Eigentum auch gegen die Person des Eigentü- mers. Wenn die Frau Ditfurth im Fernsehen erklärt Und hat man Ihnen denn eigentlich nicht von dem hat, man könne mit der Blechschere an Bauzäune in Wort des grünen Vizepräsidenten Messinger berich- Wackersdorf heran, tet, der der „taz" am 14. Januar 1984 erklärte: „Wenn ich an der Startbahn weiter Streben knacken will, (Zuruf von den GRÜNEN: Ja, und?) dann werde ich das tun"? Oder haben Sie nicht gele- und wenn Sie und andere sich weigern, sich klar sen, daß der grüne Landtagsabgeordente Chris Bop- gegen das Umsägen von Strommasten auszuspre- pel, in revolutionäre Träume versinkend, träumerisch chen, sind das eben Formen der Gewalt in der Politik, zugeschaut hat, wie eine Fallbirne im Hessischen die in der Demokratie verurteilt werden müssen. So Landtag eine Mauer zum Einsturz brachte? Sein Kom- geht es nicht! mentar — Zitat — : „Auf diese Weise müßte man auch mit diesem Staat verfahren." (Dr. Vogel [SPD]: Steueramnestie ist keine Gewalt!)

Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, In der „taz" kann man sich dann darüber auf dem gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten laufenden halten, wie man Masten umlegt, wie man Schily? Schienen blockiert oder wie man Brandsätze baut. Wen wundert es da noch, daß die GRÜNEN aus Par- teigeldern sogenannte Knast-Abos der „taz" finanzie- Dr. Langner (CDU/CSU): Nein. — So stand es in der „FAZ" vom 14. August 1985. ren? Sachkunde ist eben durch nichts zu ersetzen. Das war wohl auch die Überlegung, die dazu geführt hat, Ich unterstelle keinem Sozialdemokraten, daß er den vorbestraften Landtagsabgeordneten Raphael diese Gewaltsprüche seines Koalitionspartners bil- Keppel im Hessischen Landtag zum „gefängnispoliti- ligt. schen Sprecher" zu machen. (Eine Abgeordnete der GRÜNEN meldet sich Wer kann mir eigentlich erklären, warum an der zu einer Zwischenfrage) - Startbahn West, warum in Wackersdorf, warum in Brokdorf oder Hanau Hunderte von Polizisten zusam- Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter mengeschlagen werden, wenn man angeblich nur Langner, könnten Sie dem Hause erklären, ob Sie Gewalt gegen Sachen üben will? Wer kann diesen Zwischenfragen grundsätzlich ablehnen? Dann brau- Widerspruch aufklären? che ich Sie nicht erneut zu unterbrechen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Langner (CDU/CSU): Herr Präsident, ich lasse Was wird eigentlich aus unserem Land, wenn auch keine Zwischenfragen zu. andere Extremisten, beispielsweise die Extremisten Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 375

Dr. Langner von rechts, sich auf ihr Wahrheits-, ihr Gewissens-, ihr Töne hatte, leidet darunter, daß auf der einen Seite die Aggressionsmonopol berufen und dann munter mit- Union in vollem Legalismus verharrt und keine Legi- mischen? Was wird dann aus unserem Land? Mein timitätskrisen hier oder da ausmacht und daß auf der Vater, Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre Werkstu- anderen Seite die GRÜNEN zu leicht geneigt sind, an dent in Berlin, hat mir anschaulich geschildert, wie es Hand einiger Problemfelder den Rechtsstaat insge- aussieht, wenn Demokraten versagen und Extremi- samt in Frage zu stellen. sten sich schlagen. (Beifall bei der SPD) Unser Parteiensystem macht mir Sorgen. Ich sage Ihnen, gerade angesichts der letzten Rede, (Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) die von den GRÜNEN gehalten wurde: Wir sollten uns Die SPD läuft den GRÜNEN nach, die GRÜNEN dul- darauf verständigen, daß Demokratie Herrschaft des den Kräfte in ihren Reihen, die für Gewalt offen Volkes durch Herrschaft des Rechts ist. Ich habe noch sind, aus meiner Zeit als Schüler den Sophokles aus der „Antigone" im Ohr: „Durch sein Recht bezwingt der (Dr. Vogel [SPD]: Der Schönhuber läuft euch Schwächere den Starken." vor!) Es ist keineswegs gerechtfertigt zu sagen, weil es an und da die SPD die GRÜNEN umwirbt, ohne daß die einigen Problempunkten hakt, ist die Rechtsordnung Gewaltfrage bisher eindeutig geklärt ist, insgesamt in Frage zu stellen. Stellen Sie sich vor, wir (Dr. Vogel [SPD]: Republikaner! Wen würden es schaffen, miteinander ein anständiges umwerbt ihr?) Steuerrecht zu machen, und dann stellt sich der Bund der Steuerzahler hin und sagt: Es ist besser, im Mai setzen sich diejenigen bei den GRÜNEN durch, die spazierenzugehen statt Steuern zu zahlen. Da sehen das staatliche Gewaltmonopol eben nicht anerkennen Sie, wohin das führt, wenn man die Unverbrüchlich- wollen. Viele der 3 Millionen Grün-Wähler vom keit der Rechtsordnung in Frage stellt. 25. Januar wissen überhaupt nicht, was Herr Eber- mann und andere wirklich wollen. (Beifall bei der SPD — Zurufe von den GRÜ NEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Genauso, wie die Konservativen die Ostverträge Meine Damen und Herren, wir werden nicht aufhö- akzeptieren mußten, muß ich, als einer, der zwischen- ren, diese Frage, die für unser friedliches Zusammen- durch in der Minderheit ist, in der Lage sein, auch leben zentral ist, zu stellen, bis Sie auf einem Parteitag etwas zu akzeptieren, was mir nicht entspricht, und feierlich erklärt haben werden: Die grüne Partei aner- mit politischen Mitteln darum kämpfen, daß man kennt das Gewaltmonopol, und bei der grünen Partei andere Mehrheiten bekommt. kann niemand Abgeordneter oder Vorsitzender wer- den, der nicht das staatliche Gewaltmonopol aner- (Beifall bei der SPD und der FDP) kennt oder auch nur mit dem Gedanken an Gewalt in Ich darf aber nicht die Herrschaft des Rechts insge- der politischen Auseinandersetzung spielt. samt in Frage stellen. (Zurufe von den GRÜNEN) Ich sage aber in Richtung der Konservativen Sie nennen sich ja, Frau Schilling, bewußt oder nicht genauso: Ich habe bei Hans Welzel hier in Bonn — ich weiß nicht, ob es nur sprachschludrig ist oder ob gelernt, daß Recht nur Recht sein kann, auch das posi- es auch ein Augenzwinkern gegenüber Ihren Mitglie- tive Recht, und daß der Streit um die innere Legitima- dern ist — , „gewaltfrei"; Sie nennen sich nicht tion des Rechts eine der Grundlagen der juristischen „gewaltlos". Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Auseinandersetzung ist, weil wir ja in Deutschland das heißt nach grundrechtlichem Sprachgebot Frei- mit dem Rechtspositivismus unsere Erfahrungen heit zur Versammlung, Freiheit zur Meinungsäuße- gemacht haben. rung, Freiheit zur Presseäußerung. Warum nennen Sie (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sehr wahr!) sich nicht gewaltlos, sondern gewaltfrei? Darum kann es nicht von vornherein verteufelt wer- (Zurufe von den GRÜNEN) den, wenn positiv-rechtliche Regelungen hinterfragt Klären Sie diese Dinge, und stellen Sie sich eindeutig werden und wenn sie auf ihren moralischen oder, hinter das staatliche Gewaltmonopol, dann werden wenn Sie so wollen, naturrechtlichen Gehalt abge- Debatten wie die heutige überflüssig. Solange Sie das klopft werden. nicht tun, werden wir alles, was Sie draußen im Land (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Richtig! — Zuruf und bis in Parlamentsreden hinein an heimlicher von der CDU/CSU: Und was ist bei Ihrem Gewalt verkünden, vorführen und Sie zwingen, davon Klopfen herausgekommen?) endlich abzulassen. Darum ist es auch legitim, die Fragen zu stellen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — hier von verschiedenen Seiten des Hauses immer wie- - Zuruf von den GRÜNEN: Das war feie- der an beschlossene Gesetze gestellt werden. lich!)

Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten ordnete Stiegler. Frau Hensel?

Stiegler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Stiegler (SPD): Wenn mir dies nicht auf die Redezeit Herren! Diese Debatte, die ja einige nachdenkliche angerechnet wird. 376 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Vizepräsident Cronenberg: Ich rechne Ihnen die Ich sage Ihnen: Wenn die Konservativen vor 1933 so Frage sicher nicht an und die Antwort nur kurz. — sensibel gewesen wären wie manche der heute im Bitte sehr, Frau Abgeordnete. Widerstand Stehenden, dann wäre uns manches erspart worden. Es lag doch daran, daß sie in der damaligen Zeit zu spät aufgewacht sind. Frau Hensel (GRÜNE) : Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß der hessische CDU-Landtagsabgeordnete Kanter (Beifall bei der SPD) im Hessischen Landtag zum Widerstand gegen ein Da können sie heute nicht mit Krokodilstränen kom- Gesetz aufgerufen hat — vor dem Hessischen Land- men; da haben sie ihre eigenen Hypotheken. tag —, das die dortige Regierungsmehrheit von Rot- Grün beschlossen hat? (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Aber die Senkung des Spitzensteuersatzes ist doch eine Über (Zurufe von der CDU/CSU: Zum politisch nahme des Argumentes der strukturellen argumentativen Widerstand!) Gewalt!) — Richtig, das ist eine Übernahme und eine politische Stiegler (SPD): Ich habe hier in beide Richtungen Gestaltung, die der inneren Moralität entbehrt. Sie gesprochen. Ich habe gerade bewußt gemacht, daß wirft die Frage nach der strukturellen Gewalt auf, auch die Union keineswegs Splitter in den Augen der anderen sehen soll, sondern daß sie auch die eigenen (Zuruf von der CDU/CSU: Also gehen Sie Balken betrachten soll. auch mit den GRÜNEN zusammen!) (Beifall bei der SPD) die Galtung und andere im Entwicklungsbereich auf- Das ist die Situation. Mein Gott! Erinnern Sie sich geworfen haben. doch an die Diskussion um die Ostverträge, was Sie (Beifall bei den GRÜNEN) oder Ihnen nahestehende Kreise hier alles veranstal- tet haben. Das muß man doch auch einmal zur Kennt- Das provozieren Sie, weil Sie nicht einsichtig sind. nis nehmen. Wenn wir uns dann etwa das Thema Ihr Antrag zeigt doch, daß Sie das eigentliche „Gewalt" ansehen: Muß es denn nicht ein Stahlarbei- Thema nicht begriffen haben, sondern daß Herr Geiß- ter als Gewalt betrachten, daß Sie hier 130 000 Spit- ler es für den Wahlkampf instrumentalisieren will. zenverdienern Milliarden schenken. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Blödsinn! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Sie sagen, Sie wollten eine Sachverständigenkommis- sion, die die Ursachen erforschen solle. Sie haben aber Leuten, die nicht wissen, wie sie am nächsten Ersten zwei Seiten wohlfeile Antworten als Schlagknüppel ihr Geld anlegen sollen, während andere nicht mehr gegen andere bereit. Sie wollen doch gar nichts wissen, wie sie ihre Mieten bezahlen sollen. erforscht haben, Sie wollen in dem Bereich zuhauen. (Beifall bei der SPD) Wenn Sie wirklich eine Sachverständigenkommission Das ist doch auch eine Frage, die man sich in Ihrem einsetzen würden, die frei und unabhängig forscht, Bereich stellen muß. würde es Ihnen wie dem Großtyrann in dem Gedicht von Werner Bergengruen gehen. Sie würden dann Um auf das zurückzukommen, was Sie im Demon- nämlich darauf kommen, daß in dieser Gesellschaft strationsbereich rügen: Ist es denn nicht Tatsache, daß eben vieles der inneren Legitimation entbehrt. Wir das Demonstrationsrecht und das Recht der Mei- alle miteinander auf allen Seiten des Hauses müssen nungsfreiheit gerade in Ländern wie Bayern erst mit suchen, wie wir Legalität und Legitimität wieder voll Hilfe des Bundesverfassungsgerichts erkämpft wer- zusammenbringen können. Das ist eine große den mußte? Ist es denn nicht Tatsache, daß mehrfach Gemeinschaftsleistung. Das müssen wir packen. Mit repressive polizeistaatliche Entscheidungen der Bay- den Mitteln der Repression ist es in der Geschichte erischen Staatsregierung von Verwaltungsgerichten noch nie gelungen, daß auf die Dauer Konsens herge- aufgehoben worden sind? Man muß doch auch zur stellt werden konnte. Mit rein obrigkeitsstaatlicher Kenntnis nehmen, daß die Demonstrationsfreiheit der Manier werden wir diese Fragen nicht lösen. anderen gerade in obrigkeitsstaatlichen Traditionen mit ungeheuren Anstrengungen erkämpft werden (Beifall bei der SPD) mußte. Solange nicht akzeptiert wird, daß nicht der Ein Beispiel dafür ist Wackersdorf. Ich bin ein Ober- Bürger, der demonstriert, gute Gründe braucht, son- pfälzer. Wir Oberpfälzer sind normalerweise Obrig- dern daß der Staat, der eingreift und behindert, ver- keit seit der Gegenreformation gewohnt. Wir sind dammt gute Gründen haben muß, so lange werden gewohnt, uns sozusagen unterzuordnen. Wenn es die wir hier in dieser Debatte nicht zusammenkommen, Bayerische Staatsregierung durch ihre Politik fertig- meine Damen und Herren. - bringt, daß sich brave Oberpfälzer Bauersfrauen, die (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/- normalerweise Linke und Sozis wie der Teufel das CSU: Sie bringen alles durcheinander! — Weihwasser fürchten, sozusagen als Schutzschild Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sie sind die personi- gegenüber Steinewerfern hergeben, zeigen sie, was fizierte geistige Verwirrung!) Sie mit Ihrer brutalen Atompolitik in der Bevölkerung — Nein, nein, Herr Geißler, das ist nicht geistige Ver- angerichtet haben. Wenn ein August Lang, bayeri- wirrung. scher Innenminister, hergeht und sagt: (Zuruf von der CDU/CSU: Das mit der (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: 27 % habt ihr! Die Steuersenkung!) GRÜNEN überholen euch noch!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 377

Stiegler „Wenn es irgendwo gelingt, eine WAA zu bauen, schäftsordnung die Möglichkeit zu einer Erklärung dann bei den braven und biederen Oberpfälzern" zur Abstimmung. dann zeigt das doch, daß Sie nicht begreifen wollen, daß auch die Mehrheit Schranken hat und daß sie Rücksicht auf wesentliche Belange der Minderheit Schily (GRÜNE): Sehr geehrte Kolleginnen und nehmen muß. Kollegen! Nachdem ungeachtet einer Menge Plump- heiten und Derbheiten und eine propagandistischen (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Inszenierung, die Sie heute versucht haben, Dr. Geißler [CDU/CSU]: Selbstverständlich ist das!) (Seiters [CDU/CSU]: Herr Präsident! Was ist denn das für eine Erklärung nach § 31?) Wenn Sie diese Selbstbeschränkung, die einerseits die Gerechtigkeit und auf der anderen Seite die poli- Frau Kollegin Dr. Vollmer in einer, wie ich glaube, tische Kultur gebietet, nicht leisten, können Sie noch sehr beachtlichen und nachdenklichen Rede versucht Hunderte solcher Debatten machen, ohne daß wir hat, die Debattenkultur des Deutschen Bundestages dem Problem nahekommen. Wir werden aus dieser um einige Grade zu verbessern, Tradition des Obrigkeitsstaates nur mit schweren (Seiters [CDU/CSU]: Ach Gott! Ach Gott!) inneren Verwerfungen wieder herauskommen. bedaure ich es um so mehr, daß Sie aus Ihren Reihen Mir und uns liegt daran, daß die Rechtsstaatlichkeit darauf mit dem Zuruf „Das ist das Holz, aus dem in diesem Lande gewahrt wird. Dazu gehört, daß die KZ-Wächter geschnitzt worden sind! " reagiert Legalität und Legitimität möglichst nahe beieinander haben. sein müssen. Das wird nicht immer so leicht gehen. (Zuruf von der SPD: Unglaublich!) Wenn das so ist, müssen wir miteinander darum ringen, daß wir all die Ursachen, daß Menschen aus Andererseits möchte ich an dieser Stelle am Schluß Verzweiflung, aus Negation, aus Ausgrenzung zu der Debatte auch eine selbstkritische Bemerkung rechtswidrigen Mitteln greifen, beseitigen und daß nicht unterlassen und meiner Kollegin Regula wir diese Menschen zurückholen. Die deutsche So- Schmidt-Bott empfehlen, hier etwas geradezustel- zialdemokratie hat in den Jahren 1972 bis 1978 len. gezeigt, daß das weitgehend möglich ist, aber nicht (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Der ist aber noch durch Ausgrenzung und Verteufelung, sondern durch nicht Vizepräsident! — Bühler [Bruchsal] Dialog, auch durch Eingehen und Aufeinanderzuge- [CDU/CSU]: Er ist Oberzensor!) hen. Ich habe es zumindest als einen sprachlichen Mißgriff (Zuruf von den GRÜNEN: Berufsverbot!) empfunden, daß in dem Beitrag von Regula Schmidt- Das ist das Entscheidende in diesem Bereich. Bott das Wort „Vergasung" im Zusammenhang mit einer Kritik an einem Polizeieinsatz erwähnt wurde. (Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Indem sie Das halte ich für nicht erträglich. sich nach links bewegt hat! Sonst nichts!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Darum können auch Sie nicht so weiterleben, daß der bayerische Ministerpräsident Demonstrationen, die Ich bitte Regula Schmidt-Bott, das auf jeden Fall hier ihm angenehm sind, mit den allerhöchsten Weihen zu berichtigen. versieht, sie geradezu provoziert, und daß andere, die (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Und was sagen Sie auch so handeln wie der bayerische Ministerpräsi- zu Ihrer Aufforderung zum Rechtsbruch?) dent, plötzlich Staatsfeinde werden. Das ist doch der Widerspruch und die Schizophrenie, die hier überall drinnen sind. Vizepräsident Cronenberg: Wir kommen nunmehr zur Abstimmung. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) (Frau Schmidt-Bott [GRÜNE]: Ich wollte eine Wir haben, jeder auf seiner Seite, eine ganze Menge persönliche Erklärung abgeben! Sie haben zu tun, daß wir das halten und schützen, was uns mit- mich übersehen!) einander wirklich wertvoll ist und dieses Land nach wie vor zu einem Land macht, das keiner von uns aus- — Es tut mir schrecklich leid. Ich befinde mich in der tauschen möchte. Man muß auch einmal deutlich Abstimmung. Schluß, Feierabend! sagen, daß dieser demokratische Rechtsstaat bei all Wer dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und seinen Spannungen ein Staat ist, den keiner von uns FDP auf Drucksache 11/83 zuzustimmen wünscht, ernsthaft tauschen möchte. den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Besonders der Frei- dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Antrag staat Bayern!) angenommen. Nur, damit er das bleibt, müssen auch Sie sich bewe- Wir kommen nunmehr zu dem Antrag der SPD auf gen. Drucksache 11/17. Die SPD stellt einen Antrag auf Überweisung an den Rechtsausschuß — federfüh- Vielen Dank. rend — und weitere Ausschüsse, über die sich die (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Geschäftsführer verständigen. Die Geschäftsführer si- gnalisieren das'). Wer mit der Überweisung federfüh- rend an den Rechtsausschuß und weitere Ausschüsse Vizepräsident Cronenberg: Meine Damen und Her- ren, bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich *) Der Antrag wird zur Mitberatung an den Innenausschuß über- dem Abgeordneten Schily nach § 31 unserer Ge- wiesen. 378 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Vizepräsident Cronenberg einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen. Dr. Hauff (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehr- — Danke schön. ten Damen und Herren! „Nur wenn wir die Natur um (Dr. Vogel [SPD]: Es gibt aber einen weiteren ihrer selbst willen zu schützen lernen, nur dann wird Antrag der SPD!) die Natur auf Dauer uns Menschen erlauben weiter- zuleben. " Dieses Zitat des Herrn Bundespräsidenten — Ja, den auf 11/116. — benennt das Problem, das heute auf der Tagesord- Nun kommen wir zu dem Antrag auf Drucksache nung des Deutschen Bundestages steht, mit klaren, 11/116. Es wird inhaltlich darüber abgestimmt. Wer einfachen und verständlichen Worten: Die Natur muß dem Antrag der SPD auf Drucksache 11/116 die um ihrer selbst willen geschützt werden. Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Seit mehreren Jahren fordert die SPD-Bundestags- Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- fraktion, daß in unsere Verfassung der einfache und gen? — Damit ist der Antrag abgelehnt. klare Satz aufgenommen wird: „Die natürlichen Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlos- Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen sen. Schutz des Staates." Diese Initiative der SPD-Bundes- (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Die persönli- tagsfraktion — und im Bundesrat des SPD-regierten che Erklärung müssen Sie aber jetzt zulas- Landes Hessen — wurde gründlich vorbereitet und sen!) hat eine lange Vorgeschichte. 1974 wurde dieses Pro- blem zu erstenmal in einem Regierungsdokument Frau Schmidt-Bott hat um das Wort gebeten. Frau — im Umweltgutachten der Bundesregierung — Abgeordnete, Sie haben das Wort nach § 30 unserer angesprochen. 1978 übernahm der Sachverständi- Geschäftsordnung, der Ihnen das Recht gibt, eine per- genrat für Umweltfragen diese Forderung. 1981 sönliche Erklärung abzugeben. wurde unter dem Vorsitz von Professor Denninger (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Sie will sich jetzt eine Kommission von Verfassungsjuristen beauftragt, für ihren Aufruf zum Rechtsbruch entschul- einen Vorschlag, eine Empfehlung auszuarbeiten. digen!) 1984 empfahl diese Kommission, den Umweltschutz als Staatsziel in die Verfassung aufzunehmen. Die Empfehlung der Kommission hat die SPD-Bundes- - (GRÜNE): Ich bitte Sie, zur Frau Schmidt Bott tagsfraktion übernommen. Die CDU/CSU und auch Kenntnis zu nehmen, daß es statt „vergast" nach mei- die FDP haben diese Initiative, zuletzt in einer Abstim- nem Konzept ,, CN-begast " hätte heißen müssen. Ich mung 1986, im Deutschen Bundestag nicht unter- hatte vor, das so auch im Protokoll aufnehmen zu las- stützt. Auch im Bundesrat wurde die Initiative des sen. Landes Hessen seit vielen Jahren von der Mehrheit (Seiters [CDU/CSU]: Unglaublich! Pfui! Das der CDU/CSU-regierten Länder verschleppt und ver- sind die grünen Blumen- und Friedens- zögert. freunde! — Weitere Zurufe von der CDU/- Nun hat der Herr Bundeskanzler in der Regierungs- CSU) erklärung angekündigt, daß die Regierungskoalition mittlerweile auch für eine entsprechende Ergänzung Vizepräsident Cronenberg: Wir haben die Erklä- des Grundgesetzes eintritt. Diese Entwicklung begrü- rung zur Kenntnis genommen. Damit ist Tagesord- ßen wir Sozialdemokraten. Damit ist eine Chance nungspunkt 14 endgültig abgeschlossen. gegeben, daß die Bemühungen um Aufnahme des Umweltschutzes in unsere Verfassung Erfolg haben können. Aber sicher ist das keineswegs; denn noch Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf: bleibt im unklaren, was die Regierungskoalition tat- Erste Beratung des von der Fraktion der SPD sächlich vorhat. eingebrachten Entwurfs eines Sechsunddrei- Wir wollen mit dieser Initiative zu Beginn der neuen ßigsten Gesetzes zur Änderung des Grundge- Legislaturperiode auch dazu beitragen, daß jetzt rasch setzes Klarheit geschaffen wird. — Drucksache 11/10 — (Beifall bei der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist Wir wollen, daß der Umweltschutz ohne jede Rela- eine Beratung dieses Tagesordnungspunktes von tivierung als Staatsziel in unsere Verfassung aufge- 60 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Wider- nommen wird. Der Umweltschutz muß so wie der spruch. Sozialstaat eine Verpflichtung für jedes staatliche (Unruhe) Handeln sein. — Meine Damen und Herren, soweit Sie die Absicht Denn die natürlichen Lebensgrundlagen sind nach haben, Diskussionen zu führen, bitte ich Sie, das- wie vor in Gefahr. Die Kommission der Europäischen außerhalb des Saales zu tun. Ich werde Herrn Gemeinschaft stellt dazu fest, daß sich die natürlichen Dr. Hauff das Wort erst erteilen, wenn die notwendige Lebensgrundlagen trotz aller Anstrengungen weiter Ruhe im Hause hergestellt worden ist. — Herr verschlechtert haben. Wörtlich heißt es im 4. Aktions- Dr. Hauff, Sie müssen sich noch einen Moment gedul- programm zum Umweltschutz das aus Anlaß des Jah- den. — res des Umweltschutzes vorgelegt wurde: Herr Dr. Hauff, Sie haben nunmehr das Wort. Ich Durch die Intensivierung der Bodenbewirtschaf nehme an, daß die im Saal verbliebenen Kollegen tung wird die Erde ausgelaugt. Es gibt weiterhin bereit sind, Ihren Ausführungen zuzuhören. Flüsse, die sich nur wenig von Abwässerkanälen Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 379

Dr. Hauff unterscheiden. Die Luftverschmutzung führte zu tung des Schutzes der Umwelt eingreifen. Dann aber, erheblichen Schäden. Der Abfall nimmt ständig meine ich, sollte das Gericht auch Gelegenheit dazu zu, ohne wiederaufgearbeitet zu werden. Die haben. Das ist mehr als eine Deklamation. Das ist industriellen Risiken haben sich vermehrt. mehr als ein Signal. Und das ist insbesondere etwas völlig anderes als eine „Flucht in die Symbolpolitik", Wer wollte dies angesichts der Katastrophe von was die CDU/CSU noch im vorigen Jahr behauptet Tschernobyl, angesichts der Chemieunfälle am Rhein hat. und angesichts des Smog-Alarms in mehreren Bun- desländern in diesem Winter eigentlich bestreiten? (Beifall bei der SPD) Wir verhalten uns gegenüber der Natur nach wie Zweitens. Es ist heute unbestritten, daß das Sozial- vor oft wie eine Besatzungsmacht. Dabei wissen wir: staatsprinzip als Staatsziel Verfassungsrang hat, weil Wir können auf die Dauer nur dann existieren, wenn wir wissen: Dort, wo wirtschaftliche Macht und Aus- wir die Rohstoffe, von denen wir und unsere Nachfah- beutung zur Bedrohung für den Menschen und das ren leben nicht weiter verschleudern, wenn wir die Zusammenleben der Menschen werden, muß der Umwelt nicht mit Giften belasten, die auch kom- Staat handeln. Genau das gleiche gilt für die Natur. mende Generationen bedrohen, und wenn wir nicht Dort, wo wirtschaftliche Macht und Raubbau zur Tiere und Pflanzen ausrotten, obwohl sie Teil der uns Bedrohung für die natürlichen Lebensgrundlagen anvertrauten Natur sind. werden, muß der Staat eingreifen und den Frieden mit In der Tat, es geht darum, die Schöpfung zu bewah- der Natur wiederherstellen. ren. Wir haben nur eine einzige Welt. Es gibt keine (Beifall bei der SPD) zweite in Reserve. Und diese eine Welt haben wir nicht nur von unseren Vätern ererbt, sondern auch Dieser Auftrag gehört in unsere Verfassung. von unseren Enkeln geliehen. Drittens. Das ist auch wirtschaftlich vernünftig. Mit Deswegen müssen in der Zukunft bei unseren Ent- den ökologischen Belastungen unserer heutigen Wirt- scheidungen viel mehr als bisher die Lebensinteres- schaftsweise zerstören wir den Reichtum der Natur sen der kommenden Generationen berücksichtigt und in vielen Fällen die Gesundheit der Menschen. werden. Dafür gibt es viele Beispiele: beim Waldsterben, bei (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau der Beeinträchtigung der Gesundheit von Menschen, Unruh [GRÜNE]) bei Schäden an Gebäuden, an Kulturdenkmälern, bei den Altlasten im Bereich des Sondermülls, beim Sie brauchen saubere Luft. Sie brauchen reines Was- Grundwasser, bei der Bodenbelastung; diese Ent- ser. Sie brauchen einen unzerstörten Boden, ein intak- wicklung müssen wir beenden. tes Zusammenleben von Pflanzen und Tieren. Sie brauchen ein weltweit stabiles Klima. Sie brauchen Viertens. Umweltschutz als Staatsziel setzt über die umweltschonende Technologien und umweltscho- Tagespolitik hinaus ein bedeutsames Zeichen und ist nende Industrien, die die Kreisläufe und Gesetze der eine Aufforderung an alle — an Produzenten und Natur achten. Konsumenten, an Unternehmer und Arbeitnehmer, an Diese Ziele lassen sich nur dann erreichen, wenn Politik und Verwaltung, an Männer und Frauen — alle in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sich einig zum verantwortlichen Handeln, zum Bewahren der sind, daß diese Ziele bei ihren konkreten Entschei- Umwelt. dungen und Handlungen beachtet werden. Fünftens. Wenn auf der einen Seite gefordert Diese Grundüberlegung — wenn sie denn da ist wurde, wie die Bundesregierung dies beispielsweise und von allen geteilt wird — muß Ausdruck in unserer getan hat, daß der Umweltschutz in die neuen, grund- Verfassung finden. legenden Verträge der Europäischen Gemeinschaft aufgenommen wird, sozusagen als Staatsziel der Viele, die bisher Verfassungsänderungen abge- Europäischen Gemeinschaft, so kann dies doch glaub- lehnt haben, haben es mit dem Argument getan, man würdig nur dann vertreten werden, wenn man auf der dürfe die Verfassung nicht jeden Tag ändern. Ich habe anderen Seite auch bereit ist, den Umweltschutz in die für dieses Argument sehr viel Verständnis. Mehr nationale, in die eigene Verfassung aufzunehmen, so noch: Ich halte dieses Argument für richtig. wie das bei mehreren Landesverfassungen bereits Das bedeutet auf der anderen Seite, daß derjenige, geschehen ist. Wer hiermit gespaltener Zunge redet, der — wie beispielsweise wir Sozialdemokraten der zeigt, daß er es mit dem Umweltschutz nicht ernst jetzt — für eine Ergänzung der Verfassung eintritt, meint. dies mit überzeugenden Argumenten öffentlich darle- gen muß. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN) Ich trage meine Argumente hier vor: Ebenso klar und unmißverständlich möchte ich Erstens. Eine Grundgesetzänderung durch die Auf- mich gegen die Aufnahme eines Grundrechts auf nahme einer Staatszielbestimmung mit dem Wortlaut Umweltschutz in unsere Verfassung aussprechen. „Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem Nach meiner Auffassung sprechen folgende Gründe besonderen Schutz des Staates. ", ist eine Verpflich- dagegen: tung zum Handeln für den Gesetzgeber, für die Ver- waltung und für die Rechtsprechung. Bei unserem Erstens. Ein solches Grundrecht verlagert die abwä- Vorschlag kann das Bundesverfassungsgericht nur gende Entscheidung über konkrete umweltpolitische bei einer groben Vernachlässigung oder gar Mißach- Maßnahmen vom Parlament auf die Gerichte. 380 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, pflichtet wird, wir wollen nicht, daß er durch die gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grundgesetzänderung freigesprochen wird. Dr. Knabe? (Beifall bei der SPD) Die Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel Dr. Hauff (SPD): Nein, im Augenblick nicht. Wenn in unserer Verfassung stellt klar: Der Staat hat für den ich den Gedanken zu Ende geführt habe, gerne. — Schutz der Natur und der Umwelt eine besondere Insofern ist das Ausdruck des Mißtrauens gegen das Verantwortung. Denn Staatszielbestimmungen sind Parlament. Es ist ein bewußter Verzicht auf parlamen- Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, tarische Demokratie bei praktisch-politischen Ent- die auch dem Verfassungsgericht mehr Kontrollmög- scheidungen. lichkeiten gegenüber öffentlichem Handeln und viel- Und das zweite: Die lebensnotwendigen Interessen leicht in Zukunft in verstärktem Maße auch gegen- künftiger Generationen ließen sich bei einer solchen über öffentlichem Unterlassen gewähren. Konstruktion in die aktuellen Entscheidungsprozesse Eine solche Verfassungsänderung fordert alle Men- nur sehr mühsam einfügen. Deswegen halte ich die- I schen eindringlich auf, sich der Umweltgefährdungen sen Vorschlag für mehr als fragwürdig. — Bitte bewußt zu werden und zu verantwortlichem Handeln schön. für Umwelt und Natur zurückzukehren. Ich bin sicher, der Tag wird kommen, an dem der Umweltschutz in unserer Verfassung steht. Das ist ein historischer Pro- Vizepräsident Cronenberg: Bitte schön, Herr Dr. Knabe. zeß, der sich nicht aufhalten läßt. (Beifall bei der SPD)

Dr. Knabe (GRÜNE): Glauben Sie denn, daß es Bei einer Änderung und Ergänzung der Verfassung wirklich genügt, ein Staatsziel zu formulieren, auf das sind die politischen Parteien, sind die Fraktionen zur sich der Bürger nicht konkret berufen kann? Zusammenarbeit verpflichtet. Keiner kann es alleine. Das geht nur miteinander. Deswegen kommt es dar- auf an, daß wir das Gemeinsame wirklich suchen. Dr. Hauff (SPD): Ja, ich glaube, daß das der richtige Meine Bitte an alle Seiten dieses Hauses: Helfen Sie Weg ist, weil er in der Tat eine Handlungsaufforde- mit, daß wir unserer Verantwortung gegenüber der rung und auch die Möglichkeit enthält, daß das Bun- Natur und dem Leben unserer Nachkommen gerecht desverfassungsgericht dort, wo diese Handlungsauf- werden. Unübersehbarer Ausdruck dieses politischen forderung gröblich mißachtet wird, tätig wird. Willens zur Gestaltung gemäß unserer Verantwortung (Dr. Knabe [GRÜNE]: Hoffen wir es!) ist auch die Ergänzung unserer Verfassung. Die Bür- Das halte ich für richtig. gerinnen und Bürger in unserem Lande sollen erken- nen können: Der Deutsche Bundestag, das Parlament (Beifall bei der SPD — Zurufe von den GRÜ- als Ganzes, hat die Zeichen der Zeit erkannt und dar- NEN) aus die richtigen Schlußfolgerungen gezogen. Ich glaube, meine Damen und Herren, daß die Zeit (Beifall bei der SPD) für Entscheidungen reif ist. Wir brauchen keine neuen Prüfungen und Anhörungen, sondern die richtige Schlußfolgerung aus einer Entwicklung, die in vielen Vizepräsident Cronenberg: Bevor ich dem Abge- Fällen lebensbedrohliche Ausmaße angenommen ordneten Eylmann das Wort gebe, möchte ich folgen- hat. des bekanntgeben: Der Ältestenrat fängt fünf Minu- ten nach Beendigung dieser Debatte, und die Frage- Albert Schweitzer hat einmal gesagt: „Schon lange stunde fängt zirka dreißig Minuten nach Beendigung hat der Mensch seine Fähigkeit zur Vorsorge und Vor- dieser Debatte an. beugung verloren. Er wird durch die Zerstörung der Erde sein Ende finden." Ich wehre mich und weigere Das Wort hat der Abgeordnete Eylmann. mich mit großer Entschiedenheit, diesen Kassandraruf zu akzeptieren. Der aufgeklärte Mensch muß der Zer- Eylmann (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine störung der Natur durch den Menschen Einhalt gebie- Damen! Meine Herren! Niemand in diesem Hause ten. Er muß begreifen, wir müssen begreifen, daß wir zweifelt daran, daß der Schutz und die Pflege der die Natur schützen müssen, wenn wir unsere Nach- natürlichen Lebensgrundlagen eine elementare kommen leben lassen wollen. Insofern gibt es auch Staatsaufgabe ist. Sie ist im Grunde genauso selbst- kein Zurück in die Sorglosigkeit früherer Jahrzehnte, verständlich wie die Pflicht des Staates, für den inne- und es gibt auch kein Zurück in die leichtsinnige ren Frieden zu sorgen. Beide Staatsaufgaben sind in Geringschätzung der Natur. unserer Verfassung nicht ausdrücklich genannt. Das Deswegen sind die Sozialdemokraten auch gegen hat diese Koalition zu keinem Zeitpunkt gehindert, Kompromißvorschläge, die eine entsprechende auf beiden Feldern zu handeln und insbesondere eine Grundgesetzänderung zur reinen Alibiveranstaltung Fülle konkreter Maßnahmen gegen die weitere Bela- degradieren würden, etwa wenn man — um das stung der Umwelt durchzusetzen. Auch ungeschrie- gleich zu Beginn unserer Beratungen in dieser Legis- ben galt für uns — um ein Wort des Bundeskanzlers laturperiode sehr deutlich zu sagen — eine entspre- aus der Regierungserklärung aufzugreifen — der chende Grundgesetzänderung unter einen Gesetzes- Satz, daß es darum geht, die Schöpfung zu bewahren, vorbehalt stellt. Ich möchte keinen Zweifel daran las- und daß der Staat verpflichtet ist, mit dazu beizutra- sen: Wir Sozialdemokraten wollen, daß durch die gen, daß die uns umgebende Natur geschont und Grundgesetzänderung auch der Gesetzgeber ver- gepflegt wird. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1 April 1987 381

Eylmann Man sollte, Herr Kollege Hauff, also nicht so tun, als an das Sozialstaatsprinzip, das in lakonischer Kürze ob erst die Aufnahme der Umweltschutzklausel in das mit einem einzigen Adjektiv in Art. 20 Eingang gefun- Grundgesetz eine aktive Umweltpolitik ermögliche. den hat, wo es heißt, daß die Bundesrepublik ein (Dr. Hauff [SPD]: Das habe ich nicht „sozialer Bundesstaat" ist. Dieses Sozialstaatsprinzip getan!) ist letztlich eine Antwort auf die ökonomisch-sozialen Veränderungen, die im Zuge der Industrialisierung Das Wort von der Symbolpolitik, das hier gefallen seit Mitte des letzten Jahrhunderts eingetreten sind. ist, fällt eher auf diejenigen zurück, die ein zu großes Das Gebot, unsere Republik zu einem sozialen Staat Gewicht auf die Änderung des Grundgesetzes legen zu machen, ist in erster Linie — das hat das Bundes- und damit vielleicht der Illusion Vorschub leisten, verfassungsgericht mehrfach festgestellt — ein Auf- allein die Aufnahme dieser Klausel in das Grundge- trag an den Gesetzgeber, diejenigen, die sich in unse- setz löse schon unsere Probleme. rer Gesellschaft unverschuldet als die Schwächeren Dennoch, meine Damen und Herren, hat sich die erwiesen haben, solidarisch zu stützen und zu Koalition vorgenommen, den Umweltschutz als schützen. Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Es soll (Frau Unruh [GRÜNE]: Dann mal los!) nicht verschwiegen werden, daß diese Entscheidung Nun meine ich, daß die im Zuge der zivilisatori- zuvor in der Koalition, in den sie tragenden Parteien schen Entwicklung immer stärker gewordene Gefähr- und auch in der deutschen Staatsrechtswissenschaft dung der Umwelt eine ähnliche Herausforderung an durchaus kontrovers diskutiert worden ist. Es gibt in den Verfassungsgeber geworden ist wie vordem die der Tat beachtliche Gegenargumente. So kann man ökonomisch-soziale Situation. geltend machen, das Staatsziel Umweltschutz ergebe sich mittelbar aus einigen Normen des Grundgeset- (Baum [FDP]: Sehr richtig!) zes. So läßt sich z. B. aus dem Recht auf Leben und Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen des körperliche Unversehrtheit eine staatliche Pflicht Menschen ist zu einer hochrangigen, ja existentiellen ableiten, den Bürger auch vor Umweltschäden und Aufgabe geworden. Umweltgefahren zu bewahren. (Zurufe von den GRÜNEN) (Bachmaier [SPD]: Eine unbedeutende Min- Darin unterscheiden wir uns hier im Hause überhaupt dermeinung!) nicht. Diese Aufgabe wird uns in den nächsten Jahr- Außerdem wird, Herr Kollege Bachmaier, auf die zehnten begleiten, und sie wird uns immer wieder for- negativen Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung dern. Wenn es richtig ist, daß unsere Verfassung hingewiesen. Dort war ein ganzes Sammelsurium von gleichsam in Form eines Konzentrats unserer Rechts- höchst lobenswerten Dingen — von der Arbeitskraft ordnung umreißt, wie wir unseren Staat einrichten über den Mittelstand bis zur Landschaft — ausdrück- wollen und wie wir darin leben wollen, dann gehört in lich unter den Schutz des Staates gestellt worden —, ein solches Grundgesetz, so meine ich, das Gebot, daß ohne positive Folgen. Gerade dieser Mißerfolg war es auch dem Staat die Sicherung und die Erhaltung der ja, der die Väter des Grundgesetzes veranlaßte, auf natürlichen Lebensgrundlagen obliegt. Anderenfalls programmatische Regelungen im Grundgesetz weit- könnte die Gefahr bestehen, daß der Grundsatz des gehend zu verzichten und statt dessen rechtlich Umweltschutzes gegenüber anderen, kurzfristig mehr durchgeformte, justiziable Grundrechte aufzuneh- ins Auge fallenden Sonder- oder Allgemeininteressen men, also die Verfassung effektiver zu machen. zu kurz kommt. Wo, also an welcher Stelle des Grund- Wir sollten also, meine ich, eines einander zugeste- gesetzes die Ergänzung zu erfolgen hat und wie sie hen: Wer sich gegen die Aufnahme des Umweltschut- auszugestalten ist, wird einer Beratung bedürfen, die zes als Staatsziel ausgesprochen hat oder ausspricht, in ihrer Sorgfalt dem Rang und der Bedeutung des ist deshalb noch kein Befürworter der Umweltzerstö- Beratungsgegenstandes entsprechen muß. Es ist rich- rung, kein Gegner des Umweltschutzes. tig: Die zur Änderung des Grundgesetzes erforderli- che Zweidrittelmehrheit zwingt uns, über die Partei- (Dr. Vogel [SPD]: Aber er zögert!) grenzen hinaus den Konsens zu suchen. Wer andererseits für die Grundgesetzänderung ein- Gehen wir also an die Arbeit, wobei wir uns — las- tritt, gibt die feste Struktur unserer Verfassung noch sen Sie mich das zum Schluß sagen — vor der nicht in populistischer Manier einer flüchtigen Stim- Annahme hüten sollten, wir würden allein mit der mung preis. Mit anderen Worten: Mit ökologischen beabsichtigten Grundgesetzänderung schon Gewalti- Sentiments oder Ressentiments ist diesem Problem ges im Umweltschutz bewirken. Jenes Staatsziel, als nicht beizukommen. das wir die Erhaltung und Sicherung der natürlichen (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Eine sehr ver- Lebensgrundlagen postulieren wollen, ist für sich haltene Rede!) allein zunächst nicht mehr als ein Ausdruck guten Willens. Er bedarf der konkreten Ausfüllung vor allem Ich meine, daß es gewichtige Gründe für das Staats- durch den Gesetzgeber. Dieser Aufgabe wird sich die ziel Umweltschutz gibt, und sie überwiegen nach Koalition mit besonderem Nachdruck widmen. meiner Meinung; denn wenn das Grundgesetz auch im Prinzip vollzugsfähige, klare Verfassungsregelun- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. gen enthält, so macht es doch Ausnahmen und ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zichtet nicht völlig auf die Festsetzung von Staatszie- len. Ich erinnere an den Verfassungsauftrag zur Wah- rung der nationalen Einheit, an das Verfassungsgebot Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat die Abge- zur Sicherung des äußeren Friedens und insbesondere ordnete Frau Garbe. 382 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Frau Garbe (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Her- Tatsache ist: Die elementarsten Lebensgrundlagen ren und Damen! Ich habe schon in der Rede zur Regie- der Menschen müssen völlig neu definiert werden. rungserklärung im Hinblick auf den Bereich Umwelt- Nun kann man ja die Frage stellen: Hat das Grund- schutz für meine Fraktion erklärt — vor beinahe drei gesetz so gravierende Mängel? Sind die Gründer der Jahren hat dies auch meine Kollegin Frau Vollmer Bundesrepublik Deutschland dem gewollten Zweck schon deutlich gemacht —, daß uns die Verankerung nicht gerecht geworden? Die Antwort ist nein. Nicht des Umweltschutzes als Staatszielbestimmung im die Verfassung ist schuld an dem katastrophalen Grundgesetz nicht reicht. Wir bleiben dabei: Der Zustand der Umwelt, sondern die Unfähigkeit, die Schutz der Umwelt muß ein Grundrecht vom Rang Ignoranz und die Arroganz der verantwortlichen Poli- der großen verfassungstragenden Grundrechte, wie tiker, der Minister, die mit der Abgabe des feierlichen z. B. des Sozialstaatsprinzips, sein. Schwurs, Schaden vom Volke zu wenden, permanent (Marschewski [CDU/CSU]: Das letzte ist gegen das Grundrecht auf eine intakte Umwelt ver- kein Grundrecht, sondern gerade ein Staats stoßen haben. ziel! Sie hauen alles wieder durcheinander! (Beifall bei den GRÜNEN) — Zuruf von der SPD) Peter Cornelius Mayer-Tasch, meine Herren und Eigentlich hat uns der Kollege Eylmann in unserer Damen, hat sich in seinem Buch „Ökologie und Auffassung bestärkt. Grundgesetz" ausführlich mit diesem Thema ausein- Die Intention des Gesetzentwurfs der SPD bietet andergesetzt. Er meint, die Geschichte und die keine Gewähr, daß sich der einzelne Mensch wirklich Gegenwart des Rechtes offerierten eine hinreichende in Berufung auf das Grundgesetz wehren kann. Das Basis für die These, daß das Recht so viel wert sei wie haben Sie auch nicht beabsichtigt, Herr Kollege die Rechtsanwender, mit anderen Worten: daß gerade Hauff. Wir halten dies aber für unabdingbar. Pauschalbegriffe, zu denen Staatszielbestimmungen nun einmal zählten, weite Freiräume für mehr oder Die abstrakte Staatszielbestimmung, meine Herren weniger beliebige Interpretationen böten. An Hand und Damen, muß sehr allgemein bleiben und ist der äußerst unterschiedlichen Deutungen, die z. B. die außerhalb konkreter Problemlösungen völlig bedeu- Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes im Verlauf tungslos. Schlimmer, sie kommentiert eine gefährdete ihrer nun 30jährigen Geschichte erfahren hat, ließe Natur mit der Makulatur moralischer Appelle und sich das sehr schön belegen. Sonntagsreden. Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren, Die Fraktion der SPD schreibt, daß sie durch die und möchte hier noch einmal an die Entstehungsge- Aufnahme dieses Staatsziels in das Grundgesetz posi- schichte der GRÜNEN erinnern. Nur auf Druck der tive Impulse und Auswirkungen auf Gesetzgebung, Bürgerinitiativen und auf den Protest von Umwelt- Verwaltung und Rechtsprechung erwarte. Gewartet, schützern und Friedensbewegten und weil wir Ihnen meine verehrten Herren und Damen, haben Sie aber Stimmen abgenommen haben, sind Sie doch erst ein- doch schon viel zu lange. Es war und ist ja die unver- mal zum Überlegen gekommen, Frieden mit der Natur antwortliche Haltung der Politiker und Politikerinnen, zu suchen. daß sie meinten und immer noch meinen, abwarten zu (Beifall bei den GRÜNEN) können, in der Hoffnung, die Natur werde schon irgendwie alles regeln und verkraften, was ihr zuge- Also müssen wir auch das probate Mittel, die Macht mutet wird. der Bürger und Bürgerinnen, stärken, z. B. durch die Aufnahme der Verbandsklage für anerkannte (Zuruf von der SPD: Sind Sie keine Politike Umwelt- und Naturschutzverbände in die Verwal- rin?) tungsgerichtsordnung. Ich kündige hier an, meine Das Grundgesetz und die Menschenrechte sind ent- Herren und Damen: Die GRÜNEN werden im Laufe standen, um Willkür, Gewalt, strukturelle Gewalt — des Jahres einen konkretisierten, also überarbeiteten und wir GRÜNEN haben vorhin deutlich gemacht, Gesetzentwurf vorlegen, weil wir der Meinung sind, was wir unter struktureller Gewalt verstehen — aus- daß die überragende politische Bedeutung des zuschließen und enthält auch ein Grundrecht auf eine Umweltschutzes der verfassungsrechtlichen Aner- intakte Umwelt, Herr Kollege Eylmann. Da stimme ich kennung durch die Einführung eines Grundrechtes Ihnen voll zu. Die SPD schreibt jedoch, im geltenden auf Umweltschutz bedarf. Verfassungsrecht sei ein zufriedenstellender Schutz Ich danke Ihnen. der natürlichen Lebensgrundlagen nicht gewährlei- (Beifall bei den GRÜNEN) stet. Ja, was sagt denn der Art. 2 Abs. 2 Satz 1? Jeder hat das Recht auf Leben und ... Unver- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- sehrtheit. ordnete Baum. (Marschewski [CDU/CSU] : „körperliche " ! ) - — Pardon, „... körperliche Unversehrtheit". Baum (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein merkwürdiger Alleinvertre- (Marschewski [CDU/CSU]: Man muß schon tungsanspruch in Sachen Umweltschutz, den Sie hier aufpassen, daß Sie alles richtig machen!) praktizieren. Als ob wir anderen hier diese Ziele nicht Dazu gehört auch das Recht auf saubere Luft, auf hätten! Wir streiten uns über die Prioritäten, wir strei- gesundes Wasser, auf giftfreie Lebensmittel usw. Wie ten uns über die Wege, wir sollten uns aber doch nicht anders soll denn sonst die körperliche Unversehrtheit gegenseitig absprechen, daß wir hier gemeinsame garantiert werden, meine Herren und Damen? Ziele haben. Das haben Sie doch heute früh gehört, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 383

Baum das sind doch keine Lippenbekenntnisse. Wir haben für gemeinsame Beratungen über eine Formulierung doch auch Taten nachzuweisen. frei. Wir waren im übrigen, Herr Kollege Hauff, nie gegen eine Verfassungsänderung. Wir haben sie nie (Schily [GRÜNE]: Und Untaten!) abgelehnt. Sie sollten aufhören, uns immer auf die Anklagebank zu setzen, meine Damen und Herren von den GRÜ- (Dr. Vogel [SPD]: Enthalten habt ihr euch!) NEN. — Ja, wir haben sie aber nie abgelehnt ; wir hatten Mit der Aufnahme des Umweltschutzes in die Ver- keine Mehrheit in der Koalition. — Wenn es auch 16 fassung soll der Umweltschutz stärker werden. Er soll Jahre gedauert hat, sind wir froh, daß dieser Weg nun eine Rückenstärkung in Konfliktsituationen erhalten. zu einem Erfolg gerät. Auf dem mühsamen, langen Weg der Umorientie- rung unserer Gesellschaft hin zu umweltfreundlichen Ich möchte bei dieser Gelegenheit darauf hinwei- Produkten, umweltfreundlichen Produktionsweisen sen, daß es auch andere Ziele in der Koalition gibt, die und umweltfreundlichem Verhalten soll der Umwelt- wir noch nicht durchgesetzt haben, z. B. die Ver- schutz Rückenwind und Rückenstärkung durch die bandsklage. Möglicherweise wird auch das eines Verfassung bekommen. Es ist ja gar kein Zweifel: Tages Realität; ich hoffe das. Würden wir heute das Grundgesetz neu schreiben, würden wir es konzipieren, dann gäbe es ein solches (Schily [GRÜNE]: Nach weiteren 16 Jah Staatsziel von Anfang an; denn dies entspricht dem ren!) allgemeinen Verantwortungsbewußtsein für unsere Das Umweltgrundrecht lehnen wir ab — das ist ja natürlichen Lebensgrundlagen, wie es heute besteht. schon gesagt worden — , das Staatsziel ist notwendig. Wir nehmen uns damit auch als Parlament in die Die Denninger-Kommission hat dargelegt, daß das Pflicht, meine Damen und Herren. Das Staatsziel ist allgemeine Interesse am Umweltschutz in der Gesetz- also keine weiße Salbe, wie manche meinen. Es hat gebung, in der Verwaltung, aber auch in der Recht- keine nur plakative Wirkung. Wir wollen, daß der sprechung allzuleicht in Gefahr gerät, gebenüber Umweltschutz stärker wird. Wir haben dazu Formulie- anderen kurzfristigeren oder stärkeren Interessen rungen vorgeschlagen, die das auch bewirken. Dieses zurückgesetzt zu werden, und daß deshalb hier eine Verantwortungsbewußtsein, das wir haben, muß sich Lücke geschlossen werden muß. Eine Staatszielbe- stärker in Taten ausdrücken. Dazu haben wir für die stimmung ist ein Handlungsauftrag an die Gesetzge- nationale, aber auch für die internationale Politik Vor- bung, eine normative Richtlinie. Die Staatszielbestim- schläge vorgelegt. mung ist auch ein Handlungsauftrag und eine Abwä- Ich bedauere es immer wieder, daß bei wichtigen gungs- und Auslegungshilfe für die Verwaltung. Der internationalen Verhandlungen und Treffen andere Umweltschutz erhält ein seinem hohen Rang entspre- Themen im Vordergrund stehen — und wenn es die chendes stärkeres Gewicht bei der Auslegung der Abrüstung ist. Ich meine, daß die Umweltthemen min- Gesetze, bei der Konkretisierung unbestimmter destens den gleichen Stellenwert haben müssen. Gesetzesbegriffe, bei der Ausübung von Ermessen. Warum unterhalten sich die Staatsmänner bei Besu- Schließlich ist eine Staatszielbestimmung für die rich- chen und Treffen nicht über die Ozonschicht mit der terliche Rechtsanwendung von Bedeutung, ohne der gleichen Intensität, wie sie das über andere Themen Rechtssprechung eine umweltpolitische Führungs- tun? aufgabe zuzuweisen. Meine Damen und Herren, (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten diese haben wir; diese hat die Gesetzgebung, wir hier, der SPD) die Parlamente, und darauf müssen wir bestehen. Die FDP setzt sich seit ihren Freiburger Thesen von Eine Staatszielbestimmung Umweltschutz wird 1971 für die Aufnahme des Umweltschutzes in das nach unserer Auffassung als verfassungsrechtliche Grundgesetz ein. Dies konnte in der Koalition mit der Grundsatz- und Impulsnorm auf alle Rechtsbereiche SPD bis 1982 nicht vereinbart werden. Auswirkungen haben, Auslegungs- und Abwägungs- (Dr. Rumpf [FDP]: Ja, leider! Das war damals maßstäbe geben und alle drei Staatsgewalten binden. sehr traurig!) Die ökologisch verpflichtete Marktwirtschaft erhält damit einen noch verbindlicheren Ordnungsrahmen. Ich hätte das gerne schon in den Koalitionsverhand- Die umweltpolitische Wertneutralität des Grundge- lungen 1980 getan, Herr Kollege Vogel. Wir haben setzes wird beseitigt. allerdings gemeinsam eine Kommission zur Prüfung dieser Frage eingesetzt. Das Ergebnis dieser Kommis- Wir wollen jetzt mit Ihnen in Beratungen eintreten. sion hat uns recht gegeben. Wir haben unsere Vorschläge vorgelegt. Wir haben gesehen, daß in diese ganze Debatte Bewegung (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist unser - gekommen ist, auch im Bundesrat. Vielleicht gibt uns Gesetzentwurf!) dies Gelegenheit, meine Damen und Herren von der Meine Fraktion fußt heute auf den Ergebnissen der SPD-Opposition, überhaupt zu einer etwas größeren sogenannten Denninger-Kommission. Herr Kollege Gemeinsamkeit im Umweltschutz zurückzukehren. Vogel, Sie wollten damals dieses Staatsziel mit ande- Wir hatten sie ja einmal am Anfang der Umwelt- ren Staatszielen verknüpfen, was die Kommission schutzpolitik von 1969 an mit der heutigen Regie- allerdings abgelehnt hat. Jetzt haben wir den Weg rungspartei CDU/CSU. Ich möchte daran erinnern, frei. Nachdem, was der Herr Kollege Eylmann hier daß wir wichtige, grundlegende Entscheidungen in gesagt hat, ist bestätigt worden: Die Vereinbarung in der Gesetzgebung hier in diesem Hause gemeinsam den Koalitionsverhandlungen gibt uns jetzt den Weg getroffen haben. 384 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Baum Es ist also eine Bewegung in die Debatte gekom- mehr der andauernden Fortentwicklung bestehender men, und ich möchte darauf hinweisen, daß natürlich gesetzlicher Vorschriften, neuer Gesetze und Verord- nach dieser Änderung der Verfassung kein Anlaß nungen, besteht, sich bequem zurückzulehnen und nun zu (Schily [GRÜNE]: Und Beachtung der beste sagen: Damit ist ein Impuls gegeben, und ansonsten henden! Zum Beispiel § 327 des Strafgesetz treten wir kürzer. Nein, meine Damen und Herren, buches!) gleichzeitig müssen die konkreten Vorhaben behan- delt werden. Wir haben uns hohe Ziele in dieser Koali- wo und wann es geboten ist, und nicht zuletzt eines tion gesteckt. Wir haben eine sehr präzise, sehr wirksamen Vollzugs des Umweltrechts. Da stimmen umfangreiche Koalitionsvereinbarung getroffen, die wir doch sicherlich überein. umgesetzt werden muß. Das wird in einigen Punkten (Schily [GRÜNE]: Ja!) nicht einfach werden. Wir werden auf Widerstände stoßen, aber meine Fraktion ist fest entschlossen, die Umweltschutz ist ein zentrales Anliegen, eine zen- Koalition ist fest entschlossen, das Vereinbarte zu rea- trale Aufgabe allen staatlichen Handelns. Parlament lisieren. Die Aufnahme des Umweltschutzes in die und Regierung müssen diesem Ziel bei ihren Ent- Verfassung und die Verwirklichung der konkreten scheidungen verpflichtet bleiben. Ich hoffe daher, daß Ziele, die wir uns vorgenommen haben, gehören also es eine breite Übereinstimmung gibt, den Umwelt- zusammen. schutz in Form der Staatszielbestimmung in das Vielen Dank. Grundgesetz aufzunehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Fraktion der GRÜNEN möchte demgegenüber den Umweltschutz als Grundrecht in unserer Verfas- sung verankern; wir haben es soeben gehört. Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- (Dr. Knabe [GRÜNE]: Das wäre besser!) sicherheit. — Nein, es wäre nicht besser, Herr Abgeordneter Dr. Knabe. Wir lehnen dies aus wohlerwogenen Gründen ab, denn angesichts der unüberschaubaren Dr. Wallmann, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Fülle möglicher, teilweise sogar miteinander konkur- sehr verehrten Damen! Meine Herren! Koalition und rierender Umweltschutzmaßnahmen könnte ein der- Bundesregierung sind fest entschlossen, in dieser artiges Grundrecht niemals hinreichend präzise for- Legislaturperiode den Umweltschutz muliert werden. Den Bürgerinnen und Bürgern würde lediglich ein individueller Grundrechtsanspruch vor- (Schily [GRÜNE]: Zu begraben!) gegaukelt, der in der Rechtswirklichkeit schlicht und als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Ich einfach nicht durchsetzbar wäre. hoffe darauf, daß die SPD dabei konstruktiv mit- (Schily [GRÜNE]: So wie Art. 2!) wirkt. (Dr. Vogel [SPD]: Na, na, nun drehen Sie das In den Grundrechtskatalog unserer Verfassung mal nicht um! Wir haben euch getrieben! Sie gehören nur solche Bestimmungen, die den einzelnen sind jetzt dran! Abgelehnt habt ihr es!) Staatsbürger mit eindeutigen und einklagbaren, also durchsetzbaren Rechten ausstatten. — Sie haben mich überhaupt nicht getrieben. Ich weiß auch nicht, verehrter Herr Vogel, warum Sie so aufge- Meine Damen und Herren, der Schutz unserer regt sind. Warum sind Sie denn so aufgeregt, Herr natürlichen Lebensgrundlagen ist natürlich zuerst Kollege Vogel? eine Verpflichtung für jeden einzelnen von uns, aber in besonderem Maße auch der öffentlichen Hände, (Dr. Vogel [SPD]: Überhaupt nicht! So ein der kommunalen Gebietskörperschaften, der Bundes- Quatsch!) länder und des Bundes. Dies ist der Kerngedanke, der —Also, die Begriffe „Quatsch" und dergleichen über- einer Verankerung des Umweltschutzes als eines ver- lasse ich Ihnen gerne. Ich stelle fest, daß meine Posi- bindlichen Staatsziels zugrunde im Grundgesetz liegt. tion von Anfang an klar gewesen ist. Wir verpflichten damit Parlament und Regierung, bei (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) all ihren Entscheidungen mögliche Konsequenzen für unsere Umwelt mit zu bedenken, zu berücksichti- Ich hoffe also sehr darauf, meine Damen und Her- gen. ren, daß die SPD dabei konstruktiv mitwirkt und nicht in Rechthaberei macht, wie ich es eben von Ihnen, Es gibt bei vielen Kolleginnen und Kollegen — das Herr Vogel, erlebt habe. sollte gesagt werden, und es ist ja von Herrn Kollegen Die Erhaltung und die Verbesserung unserer Eylmann auch mit aller Klarheit hier zum Ausdruck gebracht worden — eine durchaus verständliche natürlichen Lebensgrundlagen kann ja durch die- Staatszielbestimmung eine wesentliche Stärkung Scheu, an Änderungen des Grundgesetzes heranzu- erfahren. Ich sage bewußt „kann", meine Damen und gehen, denn das Grundgesetz der Bundesrepublik Herren, denn alleine mit der Aufnahme des Umwelt- Deutschland hat sich ja in 40 Jahren hervorragend schutzes als Staatsziel in das Grundgesetz sind natür- bewährt. Es hat sich in dieser Zeit als solider und lich konkrete Fortschritte noch nicht bewirkt; geeigneter Rahmen für unser Leben in Freiheit, in sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Wohl- (Schily [GRÜNE]: Sieh da, sieh da!) stand erwiesen. Eine solche Verfassung sollte nicht Herr Kollege Eylmann und Herr Kollege Baum haben ohne Not geändert werden. Wir haben es uns darum zu Recht darauf hingewiesen. Dazu bedarf es viel- ganz gewiß nicht leicht gemacht; auch darauf hat Herr Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Ap ril 1987 385

Bundesminister Dr. Wallmann Kollege Eylmann hingewiesen. Wir bekennen uns Im übrigen will ich die Gelegenheit gleich nutzen, dazu; wir treffen solche Entscheidungen nicht mit um auch von dieser Stelle aus zum Ausdruck zu brin- leichter Hand. gen: Alle, die da behaupten, es ginge dort bei Alkem Mir ist bewußt, daß Besorgnis bestand und hier und um den Einstieg in die Plutoniumwirtschaft, sagen ja dort sicherlich auch noch besteht, daß die Aufnahme bewußt die Unwahrheit oder wissen nicht, worüber sie des Umweltschutzes als Staatsziel in das Grundgesetz reden. Entscheidungen des Parlaments auf Gerichte verla- (Zuruf von der CDU/CSU: Das letztere wird gern könnte. Ich selbst halte solche Bedenken für der Fall sein!) unbegründet, aber es gibt solche Bedenken. Wenn ich Denn, meine Damen und Herren, die Produktions- sie teilen würde, dann hätte ich mich auch ganz per- menge wird nicht erweitert. Die Wahrheit ist, daß es sönlich anders entschieden, denn ich bin schon der hier um ein neues Bauvorhaben geht. Das dauert nun Auffassung des Stuttgarter Oberbürgermeisters Man- schon zwölf Jahre. Die Hessische Landesregierung ist fred Rommel, der vor der zunehmenden Inbesitz- nicht imstande gewesen, diesen Antrag und dieses nahme der Politik durch die Justiz — zu Lasten der Vorhaben endlich zu einem Ende zu bringen. Es geht anderen Gewalten — warnt. um mehr Sicherheit. Die Fertigungsstraße, die im übrigen unverändert bleiben soll, soll z. B. gegen Vizepräsident Cronenberg: Herr Bundesminister, Flugzeugabstürze gesichert werden. Das heißt, wenn gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten man es auf den Punkt bringen will: Die Hessische Schily? Landesregierung verweigert den Bürgerinnen und Bürgern und den Arbeitnehmern jenes Mehr an Dr. Wallmann, Bundesminister für Umwelt, Natur- Sicherheit, auf das diese ganz gewiß einen Anspruch schutz und Reaktorsicherheit: Aber sicher, bitte. haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr, Herr Abge- ordneter. Vizepräsident Cronenberg: Herr Bundesminister, der Herr Abgeordnete Schily hat mich gebeten, Sie zu Schily (GRÜNE): Herr Minister, wie vertragen sich Ihre salbungsvollen Ausführungen zum Umwelt- fragen, ob Sie noch eine weitere Zwischenfrage schutz eigentlich mit der Tatsache, daß Sie dadurch beantworten. fortgesetzt politische Beihilfe zur Umweltkriminalität leisten, daß Sie die ungenehmigte Errichtung und den Dr. Wallmann, Bundesminister für Umwelt, Natur- ungenehmigten Betrieb der Hanauer Nuklearbe- schutz und Reaktorsicherheit: Nein, ich glaube, er hat triebe dulden und unterstützen? seine Frage klar und deutlich beantwortet bekom- men. Dr. Wallmann, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: Ich will gerne darauf Vizepräsident Cronenberg: Ja, das liegt allein in eingehen, weil ich Ihre Frage wie Sie das in bezug Ihrer Entscheidung. auf die von mir bisher gemachten Bemerkungen auch getan haben — dann auch qualifizieren will. Ich will Dr. Wallmann, Bundesminister für Umwelt, Natur- Ihre unqualifizierte Frage gerne beantworten. Sie wis- schutz und Reaktorsicherheit: Meine Damen und Her- sen sicherlich, daß Ihr Sozius, Herr Geulen, ein Gut- ren, ich habe den Eindruck, er möchte ein bißchen von achten für Herrn Fischer erstellt hat. In diesem Gut- diesem Thema ablenken, um das wir uns in der Koali- achten wird festgestellt, der Bet rieb der Hanauer tion so nachdrücklich bemüht haben, wobei wir in der Betriebe sei illegal. Damit werden schwerwiegende Tat zu einem bemerkenswerten Ergebnis gekommen Vorwürfe gegen Ihren bisherigen Koa litionspartner in sind. Die Koalition ist darauf, finde ich, zu Recht sehr Hessen, die Sozialdemokraten, erhoben. stolz. Sie hat eine beachtliche Leistung erbracht. Ihnen ist sicherlich auch bekannt, daß die Hessische (Dr. Hauff [SPD]: Wie sieht denn das Ergeb Landesregierung ein anderes Gutachten in Auftrag nis aus?) gegeben hat, und Ihnen ist sicherlich bekannt, daß der — Zum Beispiel alles das, was Sie nicht fertiggebracht hessische Regierungschef am 5. November des ver- haben! Wir haben uns bei Fluorchlorkohlenwasser- gangenen Jahres eine klare, eindeutige Erklärung vor stoff festgelegt, wir haben uns bei den Partikelemis- dem Parlament abgegeben hat. Er hat dieses Gutach- sionen festgelegt, wir haben dafür gesorgt, daß die ten Ihres Sozius, des Herrn Geulen, als völlig unqua- CO2-Emissionen weiter erforscht werden, alles Dinge, lifiziert und bar jeder Rechtskenntnis bezeichnet. die Sie nicht getan haben. Zu allem, was wir beschlos- (Schäfer [Offenburg] [SPD]: So nicht! — sen haben, haben Sie doch gar keine Initiativen ein- Zuruf von der CDU/CSU: Das letztere muß - gebracht. abgefärbt haben!) (Sehr wahr! bei der CDU/CSU — Schäfer Er hat gesagt: A lles, was da erklärt worden ist, trifft [Offenburg] [SPD]: Das ist unwahr!) nicht zu. Er hat weiter gesagt, alles, was dort in Hanau Nun, meine Damen und Herren, machen Sie nicht in seit 1975 geschehen ist, seit nämlich unter der Kanz- Polemik, sondern lassen Sie uns uns um die Sache lerschaft von Herrn Schmidt jene sogenannte dritte kümmern; sie ist ernst genug. Novelle zum Atomgesetz erlassen worden ist und damit Rechtsgrundlage für den Weiterbetrieb der (Beifall bei der CDU/CSU) Hanauer Betriebe gewesen ist, sei eindeutig rechtmä- Ich sage noch einmal: Es hat eine Reihe von Besorg ßig und legal gewesen. nissen gegeben, z. B. auch die Besorgnis, die ich 386 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Bundesminister Dr. Wallmann 1 ansprechen will, nämlich daß die Aufnahme des und mit welcher Formulierung dies wirklich sinnvoll Umweltschutzes in das Grundgesetz von den eigent- und wirksam zu geschehen hat. lichen Problemen dieses Umweltschutzes ablenken (Zuruf des Abg. Schäfer [Offenburg] [SPD]) könnte. Auch die in dieser Argumentation zum Aus- druck kommende Auffassung teile ich überhaupt — Ich weiß, Herr Schäfer, Sie wissen immer alles. Es nicht. Natürlich ist mir als dem zuständigen Bundes- gibt so vorzügliche Zeitgenossen, die haben auf jede umweltminister bewußt — ich wiederhole es — , daß Frage eine Antwort; Sie gehören dazu. Ich stehe auf die Umweltprobleme allein mit Hilfe einer Staatsziel- dem Standpunkt, es ist sehr gut, wenn man sehr bestimmung nicht zu lösen sind. gründlich nachdenkt und seine Entscheidung nach sorgfältiger Abwägung trifft. (Sehr richtig! bei den GRÜNEN) Dazu gibt es eine Reihe von Vorschlägen. Sie wis- sen das. Wir werden dieses alles miteinander zu bera- Umweltschutz bedarf stets konkreter sachorientierter ten haben. Einzelmaßnahmen. Notwendig sind ein anspruchs- volles Umweltrecht, das sich am Vorsorge-, am Verur- Meine Damen und Herren, ich bin mir vor allem sacher- und am Kooperationsprinzip orientiert, ein bewußt, daß wir dieses Vorhaben nur auf der Grund- Umweltrecht, das — was sehr, sehr wichtig ist — auch lage eines breiten Konsenses verwirklichen können. konsequent vollzogen wird, ein ständiges Vorantrei- Deswegen sind wir zur eingehenden Diskussion ver- ben von Umweltforschung und Umwelttechnik und pflichtet. Wir brauchen diesen Konsens im Bundesrat nicht zuletzt die Bereitschaft jedes einzelnen und aller wie auch hier im Bundestag. Dieser Zwang zur Gruppen in unserer Gesellschaft, ihren engagierten Gemeinsamkeit, so denke ich, ist heilsam, denn er Beitrag für eine bessere Umwelt zu leisten. macht uns bewußt, daß Umweltschutz eine Gemein- schaftsaufgabe ist, die sich für parteipolitische Profi- Unsere Politik, d. h. die Umweltpolitik der Koalition, lierungen nicht eignet. Es geht um vitale Interessen in stellt sich diesen Aufgaben und Herausforderungen. unserem Land, es geht um die schöpferische Weiter- Mit dieser Politik haben wir in den vergangenen Jah- entwicklung unseres Verständnisses von Umwelt, von ren ja wirklich anerkanntermaßen Beachtliches Gesundheit, also um Gemeinwohl, wie es sich in der erreicht, viel mehr, als vorangegangene Regierungen Werteordnung des Grundgesetzes ausdrückt. Ich bitte auch nur als Zielvorstellungen zu formulieren gewagt Sie alle dazu um Ihre Mitarbeit. haben. Auch innerhalb der EG ist unbest ritten, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Bundesrepublik Deutschland gerade in der Umweltpolitik längst eine Vorreiterrolle übernommen hat. Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- ordnete Bachmaier. Auch für diese Legislaturperiode hat sich die Bun- desregierung, wie Sie wissen, ein anspruchsvolles Arbeitsprogramm auf der Grundlage der Koalitions- Bachmaier (SPD): Herr Präsident! Meine Damen vereinbarungen vorgenommen, die — ich möchte das und Herren! Es war ursprünglich nicht meine Absicht, wiederholen, was hier vom Kollegen Baum gesagt hier noch etwas zu sagen. Wenn ich aber die giganti- worden ist — in der Tat die präzisesten und umfäng- schen Wolkengebäude sehe, die hier heute aufgebaut lichsten sind, die es seit 1949 zu Beginn einer Wahl- wurden, und wenn ich die Anhäufung von Sprechbla- periode gegeben hat. Ich möchte mich vor allem auch sen sehe, wie uns das zuletzt in einer wahren Meister- bei Herrn Kollegen Dr. Laufs dafür bedanken, daß wir leistung vorexerziert worden ist, das dort gemeinsam ausgearbeitet haben. (Marschewski [CDU/CSU]: Was war denn bei Hauff? Das war auch nicht konkret!) Die Bestimmung des Umweltschutzes als Staatsziel wird diese Umweltpolitik der Koalition und der Bun- dann muß man doch einmal nachfragen. Was wir von desregierung bestätigen und stärken. Sie wird vor Regierungsseite gehört haben, macht uns eher nach- allem den Stellenwert des Umweltschutzes verdeutli- denklich, hat eher unseren Glauben erschüttert, chen. Sie verleiht dem Umweltschutz verfassungs- (Beifall bei der SPD) rechtlichen Rang und nimmt damit Parlament und daß den groß angekündigten Worten in der Koali- Regierung so deutlich in die Pflicht, wie es in unserer tionsvereinbarung wenigstens kleine Taten folgen Rechtsordnung nur möglich ist. Sie wird zudem das werden. Umweltbewußtsein nicht nur bei staatlichen Organen erhöhen, sie wird auch bei Bürgern und gesellschaft- (Baum [FDP]: Warten Sie mal ab! Sie haben lichen Gruppen Einsicht und Engagement für den doch auch zwei Vorschläge! Der von Hessen Umweltschutz fördern. Die Bestimmung des Umwelt- ist anders!) schutzes als Staatsziel wird — davon bin ich über- — Herr Baum, wir haben es heute zum wiederholten zeugt — dazu beitragen, daß sich der Umweltschutz - Male mit einer ganz konkreten Gesetzesvorlage unse- besser als bisher gegenüber anderen Interessen rer Fraktion zu tun. Hier sind die Regierungsvertreter behaupten kann. Dieses halte ich für ganz, ganz einschließlich des Bundesumweltministers Revue bedeutsam. gelaufen, ohne ein Wort dazu zu sagen, ob sie unse- rem Vorschlag wenigstens von der Essenz her zustim- Meine Damen und Herren, der Umweltschutz muß men oder nicht. aus all den genannten Gründen als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden. Offen — das sagen (Beifall bei der SPD) wir auch in aller Ehrlichkeit — ist noch der Weg, die „Da muß man prüfen, an welcher Stelle des Grundge Frage nämlich, an welcher Stelle des Grundgesetzes setzes und in welchen Worten man dieses ausdrückt" , Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 387

Bachmaier heißt es, als würden wir erst heute mit dieser Diskus- Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, sion beginnen. Herr Eylmann, wir haben in der letzten gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Legislaturperiode im Rechtsausschuß eingehende Grüner? Beratungen dazu gehabt, wir haben zu diesen Fragen gründlich alle „Wenn und Aber" abgeklopft. Eine Schily (GRÜNE): Nein, ich habe ja nur drei Minuten Sachverständigenkommission unter Leitung von Pro- zur Verfügung. — Eindeutig ist, daß die Staatsanwalt- fessor Denninger, führende Verfassungsrechtler schaft Anklage erhoben hat. Eindeutig ist, daß die haben ihre Meinung konkret kundgetan, und Sie fan- Hanauer Nuklearfabriken weder eine immissions- gen schon wieder mit Ihrer Verzögerungstaktik an, schutzrechtliche noch eine atomrechtliche Errich- mit der die 10. Legislaturperiode geendet hat. Wir tungsgenehmigung und Betriebsgenehmigung wollen jetzt von Ihnen Taten sehen. Wir sind bereit, haben. Das ist die klare Verwirklichung des Straftat- das Staatsziel Umweltschutz ins Grundgesetz aufzu- bestandes im § 327 des Strafgesetzbuches, den Sie, nehmen. Wozu wir nicht bereit sind, ist eine unver- glaube ich, noch nie gelesen haben. Den Eindruck bindliche Grundgesetzlyrik. Das läuft mit uns nicht. habe ich. Dazu müssen Sie hier im Deutschen Bundes- Wir wollen konkrete, wirksame Formulierungen und tag einmal Stellung nehmen, ehe Sie sich auf erwarten von Ihnen, nachdem Sie in der Koalitions- Schleichwegen um einen Ministerpräsidentenposten vereinbarung so konkrete und schnelle Taten ange- in Hessen bewerben. kündigt haben, daß hier endlich etwas kommt und Danke schön. nicht weiter mit dieser wirklich unzumutbaren Verzö- gerungstaktik gearbeitet wird. (Beifall bei den GRÜNEN — Baum [FDP]: Dazu wird zunächst einmal ein Gericht Stel Herzlichen Dank. lung nehmen, nicht der Deutsche Bundes (Beifall bei der SPD) tag!)

Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- ordnete Blens. Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- ordnete Schily. Dr. Blens (CDU/CSU): Herr Präsident, meine Damen und Herren! Lassen Sie mich ganz kurz zu dem was Herr Schily hier ausgeführt hat, etwas sagen. Schily (GRÜNE): Ich glaube, Herr Minister Wall- Herr Schily, ich fange mit dem letzten an: Herr Wall- mann hat heute ein Musterbeispiel dafür geliefert, wie mann hat nicht vor, sich in Hessen an die Macht zu man eine schöne Kulisse aufrichten kann, um bei der schleichen. Er macht das in einem Wahlkampf, und Umweltzerstörung und der Propagierung und Forcie- wir sind sicher, daß er ihn gewinnen wird rung der umweltfeindlichen Atomenergie ungestört (Beifall bei der CDU/CSU — Schily fortfahren zu können. [GRÜNE]: Als Minister auf Abruf! — Zurufe Was Sie hier zu meinem Sozius Dr. Geulen gesagt von der SPD) haben, ist das unqualifizierte Gewäsch, das Sie auch und daß er mit dem Votum der Mehrheit der Wähler in sonst in diesem Zusammenhang produzieren. Sie Hessen am Sonntag Ministerpräsident dieses Landes haben nicht ein einziges Argument. Sie sagen immer: sein wird. Das Gutachten ist Unsinn, aber Sie haben noch nicht Das zweite: Herr Schily, Sie haben gefragt: Wo sind eine einzige Rechtsvorschrift, nicht ein einziges recht- denn die Argumente für die Rechtmäßigkeit des liches Argument in diesem Zusammenhang vorge- Betriebs von Nukem und Alkem? Die Argumente sind bracht; das fällt mir auf. Ihnen bekannt. (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Er hat nur (Schily [GRÜNE]: Sagen Sie mir eine einzige Ihren Koalitionspartner zitiert!) Genehmigung! Es gibt doch keine Genehmi Ich habe im vergangenen Jahr mit Spannung gung!) gehört, wie Sie gesagt haben: Die Hanauer Nuklear- — Es gibt eine vorläufige Genehmigung für Nukem fabriken arbeiten auf einwandfreier rechtlicher und Alkem, die nach wie vor gilt. Grundlage. Dann wollte ich hören: Wie ist denn die Wenn Sie hier das Zitat aus dem Bundesinnenmini- Begründung? Begründung: Null! Nur die Begrün- sterium bringen, daß nirgendwo in einem Land Pluto- dung: Weil ich, , es sage! So ist es nium so ungesichert verarbeitet werde wie dort, dann aber hier noch nicht; das kann allenfalls in einem Feu- müssen Sie auch dazusagen — ich behaupte, Sie wis- dalstaat gelten. In einem Dokument des Bundesin- sen das — , daß das Genehmigungsverfahren, das zur nenministeriums aus dem Jahre 1981 steht der Satz: Zeit läuft, daß die Genehmigung, die beantragt wor- In keinem Land der Welt wird in einem dicht- den ist, gerade dazu dient, die Sicherheiten dort zu besiedelten Gebiet Plutonium so ungesichert ver- schaffen, arbeitet wie in Hanau. (Schily [GRÜNE]: Sie ist jedenfalls im Solange Sie zu diesem Satz nicht Stellung nehmen, Moment vorhanden! Was ist denn mit dem Herr Wallmann, dementieren Sie Ihre Absicht, etwas gegenwärtigen Zustand?) für den Umweltschutz zu tun. die erforderlich sind, um Plutonium sicher verarbeiten (Baum [FDP]: Das hat Herr Pfaffelhuber zu können. geschrieben! — Marschewski [CDU/CSU]: (Schily [GRÜNE]: Was ist denn mit dem Nun kommen Sie einmal zur Sache!) Hexafluorid-Lager?) 388 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Biens Genau dies, Herr Schily, machen Ihre Genossen in Vizepräsident Stücklen: Die unterbrochene Sitzung Hessen — leider mit Hilfe der SPD — dadurch unmög- wird forgeführt. lich, daß sie trotz Vorliegens aller rechtlichen Voraus- setzungen die Erteilung der Genehmigung kaputtma- Wir treten in die chen und sabotieren. Das ist die Politik, die Sie Fragestunde machen. Sie sind der letzte, der das Recht hat, sich hier — Drucksache 11/93 — hinzustellen und zu sagen, dort fehle eine rechtlich ein. zulässige Genehmigung. Sie sind es, die diese Geneh- migung hintertreiben. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung (Abg. Schily [GRÜNE] meldet sich zu einer der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatsse- Zwischenfrage) kretär Vogt zur Verfügung. Frage 1 der Frau Abgeordneten Steinhauer: Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter Wie beurteilt die Bundesregierung arbeitsmedizinische Schily, Sie möchten offensichtlich eine Zwischenfrage Untersuchungsergebnisse, wonach ein hoher Anteil der Kran- stellen. Ich sehe das mit großem Erstaunen, denn Sie kenpfleger/innen in Alten- und Pflegeheimen durch häufiges haben das eben selber mit der Begründung, Sie hätten Heben der Heimbewohner unter ernsthaften Rückenschmerzen nur drei Minuten, abgelehnt. Die Logik dieses Verhal- leidet, und sieht die Bundesregierung darin auch Zusammen- tens leuchtet mir beim besten Willen nicht ein. hänge hinsichtlich der Personalausstattung im Pflegebereich? Bitte. Sie können fortfahren. Vogt, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Dr. Biens (CDU/CSU): Im übrigen muß ich sagen: Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident, wenn die Ich bedaure, Herr Schily, daß durch Ihre Zwischen- Kollegin Steinhauer zustimmt, würde ich gern die Fra- frage die sehr sachliche Diskussion über die Ände- gen 1 und 2 gemeinsam beantworten. rung des Grundgesetzes in ein Fahrwasser geraten ist, (Frau Steinhauer [SPD]: Bitte sehr!) in dem Verfassungsdiskussionen am besten nicht geführt werden. Vizepräsident Stücklen: Einverstanden. Ich rufe (Schily [GRÜNE]: Doch, doch, man muß der dann auch Frage 2 der Frau Abgeordneten Steinhauer Sache auf den Grund gehen!) auf: Ich meine, hier ist eine Reihe von Argumenten Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, daß diese Berufs- genannt worden. Sie wissen, daß ich persönlich die gruppe ein hohes Risiko trägt, Wirbelsäulenschäden davonzu- Änderung bisher abgelehnt habe. Meine Gründe, die tragen, und ist die Bundesregierung bereit, die Bemühungen, diese Schäden als Berufskrankheiten anerkennen zu lassen, zu ich dafür vorgetragen habe, sind auch nicht einfach unterstützen? widerlegt; das sage ich dazu. Aber wir werden jetzt Formulierungen suchen, Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, gezielte (Bachmaier [SPD]: Die haben wir doch arbeitsmedizinische Untersuchungen über Wechsel- schon!) wirkungen zwischen häufigem Heben von Pflegebe- die auch den Bedenken Rechnung tragen. dürftigen in Alten- und Pflegeheimen einerseits und Rückenschmerzen oder Wirbelsäulenerkrankungen Bedenken, Herr Hauff, die Sie gegen das Grund- des Pflegepersonals andererseits liegen im Bundes- recht geäußert haben, bestehen auch gegenüber ministerium für Arbeit und Sozialordnung nicht vor. bestimmten Formulierungen der Staatszielbestim- Dabei ist natürlich bekannt, daß das Heben und Tra- mung. Da müssen wir in der Tat aufpassen, daß poli- gen von Lasten im beruflichen wie außerberuflichen tische Abwägungsprozesse und politische Abwä- Bereich, aber auch bestimmte Bewegungsabläufe gungsentscheidungen auch in Zukunft politische Ent- negative Auswirkungen auf den gesamten Stütz- und scheidungen bleiben und nicht auf die Gerichte über- Bewegungsapparat des Menschen haben können, gehen. Das ist für mich der entscheidende Punkt bei wenn auch nicht haben müssen. Jedenfalls sind Rük- der Formulierung der Grundgesetzänderung, an der kenschmerzen und Wirbelsäulenerkrankungen bei wir mitarbeiten und für die wir selbstverständlich sehr unterschiedlichen Berufsgruppen und auch in einen Vorschlag machen werden. der Allgemeinbevölkerung verbreitet. Präventiv sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei dieser Problematik im Krankenhaus- und Pflege- bereich — unabhängig von der Personalausstattung der Einrichtungen — in erster Linie auf die konkrete Vizepräsident Cronenberg: Meine Damen und Her- ren, da weitere Wortmeldungen nicht vorliegen, kann Tätigkeit ergonomische Lösungen anzustreben. ich die Aussprache schließen. Bereits nach geltendem Recht ist hier das Benutzen von technischen Hebe- und Tragehilfen vorgeschrie- Der Ältestenrat hat Überweisung der Vorlage auf ben. Drucksache 11/10 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse beschlossen. Andere Vorschläge Nach der Verordnungsermächtigung in § 551 haben Sie offensichtlich nicht zu machen. Dann ist so Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung kann die beschlossen. Bundesregierung nur solche Erkrankungen in die Liste der Berufskrankheiten aufnehmen, die erstens Ich unterbreche die Sitzung bis zur Fragestunde um nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkennt- 13.45 Uhr. nissen und zweitens durch besondere gesundheits- (Unterbrechung der Sitzung von 13.13 bis schädigende berufliche Einwirkungen verursacht 13.45 Uhr) sind, sofern eine bestimmte Personengruppe diesen Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 389

Parl. Staatssekretär Vogt schädigenden Einwirkungen in erheblich höherem Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt ist. Nach Beschäftigten in Alten- und Pflegeheimen unterliegen unserem derzeitigen Wissensstand können danach ja dem Geltungsbereich der Unfallverhütungsvor- Wirbelsäulenerkrankungen von Pflegepersonen in schrift Gesundheitsdienst. Diese Beschäftigten müs- Alten- und Pflegeheimen nicht als Berufskrankheiten sen vor Aufnahme der Beschäftigung arbeitsmedizi- anerkannt werden. Es fehlt zum einen an neuen medi- nisch untersucht werden. Die zuständige Berufsge- zinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen, daß das nossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrts- Heben und Tragen von Pflegebedürftigen die wesent- pflege hat für diese arbeitsmedizinische Überwa- liche Ursache der anzutreffenden Wirbelsäulenschä- chung ein besonderes Merkblatt herausgegeben. Sie den ist. Zum anderen treten diese Erkrankungen bei kontrolliert in den entsprechenden Einrichtungen der Gruppe des Pflegepersonals nicht auffällig häufi- auch die konkreten Arbeitsbedingungen. ger auf als bei anderen Berufsgruppen und bei der übrigen Bevölkerung. Vizepräsident Stücklen: Eine letzte Zusatzfrage.

Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage bitte. Frau Steinhauer (SPD): Es ist zwar nicht erlaubt, mit dem Staatssekretär hier eine Diskussion zu führen, Frau Steinhauer (SPD): Herr Staatssekretär, wenn aber ich muß sagen: In dem Fall habe ich nicht von Sie mehrfach betonen, daß Erkenntnisse bei Ihnen Beschäftigten, sondern von Arbeitsstätten gespro- nicht vorliegen, wären Sie denn bereit, Untersuchun- chen. gen anzustellen, um das Problem einmal wissen- Herr Staatssekretär, würden Sie, abgesehen von schaftlich untersuchen zu lassen? den weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen, die ich mir wünsche, auch gesetzliche Ausweitungen Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zu den der Arbeitsstätten- und Betriebsstättenverordnung ins Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals im Gesund- Auge fassen, falls das notwendig ist? Es könnte ja sein, heitswesen und zu den ergonomischen Problemen daß dort die Arbeitsplätze nicht ordentlich sind und von Hebe- und Tragearbeiten wurden verschiedene man deshalb mehr Rückenschmerzen bekommt. Forschungsvorhaben schon in Auftrag gegeben und sind durchgeführt worden. Ich will nur auf zwei Stu- Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wenn das dien hinweisen, nämlich auf die Studie der Herren der Fall sein sollte, werden wir sicherlich die entspre- Bröll und Streich unter dem Titel „Arbeitszeit und chenden Maßnahmen ergreifen. Arbeitsbedingungen im Krankenhaus" und auf die Ich will nur noch einmal darauf hinweisen, daß nach Studie von Herrn Hettinger unter dem Titel „Heben dieser Unfaliverhütungsvorschrift Gesundheitsdienst und Tragen von Lasten". Aber aus diesen Untersu- die entsprechenden Einrichtungen — Krankenhäuser chungen und auch aus anderen Untersuchungen, die und Pflegeheime — eben auch die entsprechenden uns vorliegen, können eben keine anderen Konse- Apparate haben müssen, damit das Tragen von Pfle- quenzen gezogen werden als die, die ich hier vorge- gebedürftigen auch durch technische Hilfsmittel tragen habe. unterstützt wird.

Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage. Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- gen. — Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesmi- Frau Steinhauer (SPD) : Herr Staatssekretär, würden nisters für Arbeit und Sozialordnung beendet. Sie denn bitte einmal überprüfen, ob es zutrifft, daß Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- 87 % der Beschäftigten in diesen Berufsgruppen unter nisters für Verkehr. Die Fragen 3 und 4 des Abgeord- Rückenschmerzen leiden, und würden Sie aus dieser neten Dr. Schroeder (Freiburg) werden auf Wunsch Tatsache nicht herleiten, daß man doch einmal unter- des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwor- suchen muß, ob hier nicht eine Berufskrankheit vor- ten werden als Anlagen abgedruckt. Damit ist der liegt? Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr ebenfalls abgeschlossen. Vogt, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich bin Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers gern bereit, dieser Frage nachzugehen. Ich wäre des Innern auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Ihnen natürlich sehr dankbar, wenn Sie mir die Studie uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger zugänglich machen könnten, aus der Sie diese Pro- zur Verfügung. zentzahlen entnehmen, die Sie gerade genannt haben. Aber wenn solche Studien vorliegen, gehen Ich rufe die Frage 5 des Herrn Abgeordneten wir selbstverständlich der Frage nach und werden Dr. Nöbel auf : sicherlich auch die Konsequenzen prüfen, die dann Welche Konsequenzen wird die Bundesregierung daraus zie- gezogen werden müssen. hen, daß der Untersuchungsausschuß der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) hinsichtlich der Praxis der Überprü- fung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst in der Bundes- Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage. republik Deutschland zu folgendem Ergebnis gekommen ist: „Die in Anwendung der Treuepflicht zur freiheitlichen demo- Frau Steinhauer (SPD): Herr Staatssekretär, würden kratischen Grundordnung getroffenen Maßnahmen (haben) sich in verschiedener Hinsicht nicht innerhalb der Grenzen für Sie denn auch einmal mit den zuständigen Länderauf- die Einschränkungen gehalten, die Artikel 1 Abs. 2 des Übe- sichtsbehörden zur Frage des Arbeitsschutzes Kon- reinkommens Nr. 111... zuläßt"? takt aufnehmen, ob nämlich überhaupt die Überprü- fung der Arbeitsstätten in ausreichendem Maße Spranger, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister erfolgt? des Innern: Herr Kollege Dr. Nöbel, der von der Inter- 390 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Parl. Staatssekretär Spranger nationalen Arbeitsorganisation eingesetzte Untersu- lich nicht hat einigen können, sondern zu entgegen- chungsausschuß hat sich nicht einigen können, son- gesetzten Wertungen gekommen ist. dern ist zu entgegengesetzten Wertungen gekom- men. Die Bundesregierung teilt die Auffassung der Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Ausschußminderheit, daß ein internationales Über- Abgeordneter Paterna. einkommen zum Schutz der Menschenrechte nicht dazu mißbraucht werden darf, einem Totalitarismus Paterna (SPD): Herr Staatssekretär, dieser Untersu- Vorschub zu leisten, der die Menschen verachtet und chungsausschuß hat sich ja auch mit einer Vielzahl die Menschenrechte beseitigt. Die Empfehlungen der von Einzelfällen intensiv beschäftigt. Darf ich Ihre Ausschußmehrheit, die der Verwaltungsrat der Inter- Antwort auf die Frage des Kollegen Nöbel so verste- nationalen Arbeitsorganisation noch gar nicht behan- hen, daß die Einzelpersonen, um die es da ging — ich delt hat, sind nicht bindend. Dagegen haben der greife die bei der Post beschäftigten Beamten her- Grundsatz der wehrhaften Demokratie und das aus —, als Personen in dem Verdacht stehen, einer Gebot der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst totalitären Entwicklung in diesem unserem Lande Verfassungsrang und verpflichten jede Regierung im Vorschub zu leisten? Bund und in den Ländern. Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage, bitte. Paterna, ich bitte doch, die Frage von Herrn Dr. Nöbel, die Ausgangspunkt Ihrer Zusatzfrage war, nicht in Dr. Nöbel (SPD): Herr Staatssekretär, teilt die Bun- dieser Form auszudehnen, daß ich veranlaßt werden desregierung die Auffassung, daß der Beschluß des könnte, zu Einzelfragen oder zu Einzelfällen in Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 für die abstrakter Form bewertend Stellung nehmen zu müs- Praxis unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten sen. zuläßt? Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Olderog. Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Nöbel, es ist ja nicht nur allein die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1975, Dr. Olderog (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, teilt sondern es sind das Grundgesetz, die Beamtenge- die Bundesregierung die Auffassung, daß die auch setze, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge- vom Untersuchungsausschuß der Internationalen richtes und des Bundesarbeitsgerichtes, mit denen ein Arbeitsorganisation anerkannten stabilen demokrati- so klares Gerüst an Regelungen geschaffen worden schen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutsch- ist, daß es an sich nicht zu unterschiedlichen Entschei- land auch dadurch herbeigeführt worden sind, daß bei dungen kommen könnte. uns der Grundsatz der wehrhaften Demokratie zu beachten ist und beachtet worden ist? Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege bitte. Spranger, Dr. Olderog, ich glaube, es ist richtig, daß diese Ein- haltung des Verfassungsgrundsatzes der wehrhaften (SPD): Herr Staatssekretär, sprechen Dr. Nöbel Demokratie und der Verfassungstreue der im öffentli- nach Auffassung der Bundesregierung die ja durch- chen Dienst Tätigen dazu beigetragen hat, daß wir aus hohen Anforderungen an die Verfassungstreue hier über viele Jahre stabile demokratische Verhält- der Beamten eher für eine Ausweitung oder für eine nisse haben. Reduzierung des Anteils der Beamten im öffentlichen Dienst? Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kalisch. Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Nöbel, hier sehe ich keinen Zusammenhang mit Kalisch (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, trifft die dem Thema, das in Ihrer Frage behandelt ist. Behauptung des Untersuchungsausschusses zu, in der Bundesrepublik Deutschland sei es bei der Prüfung Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst seit Abgeordneter Conradi. Oktober 1982 zu einer Verschärfung der Verwal- tungspraxis gekommen? Conradi (SPD): Herr Staatssekretär, muß ich Ihren Hinweis auf das Minderheitsvotum des Untersu- Spranger, Parl. Staatssekretär: Diese Aussage ist chungsausschusses dahin verstehen, daß Sie der nicht zutreffend. Mehrheit des Ausschusses unterstellen, sie wolle mit ihrer Auslegung des Übereinkommens hier totalitäre Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Tendenzen fördern? Abgeordneter Dr. Klejdzinski.

Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, hier Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekretär, darf ich unterstellen Sie mir etwas. Ich habe der Mehrheit des Sie fragen, wo in unserer Verfassung der Begriff Ausschusses nichts unterstellt, sondern auf die Frage „wehrhafte Demokratie" niedergelegt ist? von Herrn Kollegen Dr. Nöbel, der von einem „Er- gebnis des Untersuchungsausschusses" gesprochen Spranger, Parl. Staatssekretär: Das ist ein allgemei- hatte, eine Interpretation dahin gehend vorgenom- ner Verfassungsgrundsatz, der in all den von mir men, daß dieser Untersuchungsausschuß sich tatsäch- genannten Gerichtsentscheidungen, insbesondere Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 391

Parl. Staatssekretär Spranger der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mens, vorbereiten; hier bestehen Fristen. Ich möchte vom Jahr 1975, ausdrücklich dargestellt ist. der Antwort der Bundesregierung — auch im Respekt (Frau Weyel [SPD]: Der Begriff aber nicht!) vor den internationalen Gremien — nicht vorgreifen.

Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Frau Abgeordnete Dr. Götte. Abgeordneter Paterna. (SPD): Herr Staatssekretär, die Prüfungs- Frau Dr. Götte (SPD): Wie viele Überprüfungen von Paterna Verfassungstreue hat es im vorigen Jahr gegeben, frist ist ja nicht abgelaufen; sorgfältige Prüfung ist und wie oft wurden „positive" Erkenntnisse gefun- sicher in unserem Sinne. Aber sehe ich es für den Fall, den? daß die Bundesregierung zu dem Schluß kommt, die Mehrheitsempfehlungen nicht zu akzeptieren, dann Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß auch richtig, daß es grundsätzlich zwei Möglichkeiten gibt, das mit der gestellten Frage nicht in Zusammenhang daß nämlich die Bundesregierung zum einen vor dem zu bringen ist. Internationalen Gerichtshof klagt oder zum anderen das ILO-Abkommen kündigt? Oder gibt es noch eine Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- weitere Möglichkeit, und welche würden Sie dann gen. wählen? Ich rufe die Frage 6 des Herrn Abgeordneten Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Nöbel auf: Spranger, Paterna, ich habe in der Fragestunde wiederholt Welche Konsequenzen wird die Bundesregierung aus den erklärt, daß ich auf hypothetische Fragen keine Ant- Empfehlungen des Untersuchungsausschusses der Internatio- nalen Arbeitsorganisation (IAO) zur Einhaltung des Überein- wort geben möchte. Daran möchte ich mich auch bei kommens (Nr. 111) über die Diskriminierung (Beschäftigung Ihrer Frage halten. und Beruf), 1958, durch die Bundesrepublik Deutschland zie- hen? Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Bitte, Herr Staatssekretär. Abgeordneter Olderog.

Spranger, Parl. Staatssekretär: Die Bestimmungen Dr. Olderog (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, trifft des Grundgesetzes und die sie erläuternde Grund- es zu, daß der Europäische Gerichtshof für Menschen- satzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts rechte bei der Bewertung dieser Frage zu einem ande- vom 22. Mai 1975 werden für die Bundesregierung ren Ergebnis gekommen ist als der Untersuchungs- maßgebliche Richtschnur bleiben. ausschuß der Internationalen Arbeitsorganisation? Im übrigen darf ich auf meine Antwort auf Ihre erste Parl. Staatssekretär: Es ist zutreffend, daß Frage verweisen. Spranger, der Europäische Gerichtshof im Jahre 1986 in zwei Entscheidungen zu dem Ergebnis gekommen ist, daß Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage, bitte. die Praxis hinsichtlich der Überprüfung der Beach- Dr. Nöbel (SPD): Herr Staatssekretär, führt die tung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst in Regelanfrage beim Verfassungsschutz nicht zu Duck- der Bundesrepublik Deutschland mit den entspre- mäusertum, zu Leisetreterei bei Jugendlichen, denen chenden Regelungen des europäischen Rechts in Ein- doch eigentlich auch gestattet sein sollte, durch Irrtum klang steht. zu lernen, und will die Bundesregierung eine solche (Dr. Olderog [CDU/CSU]: Danke schön!) Entwicklung in der Bundesrepublik? Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Frau Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Abgeordnete Matthäus-Maier. Dr. Nöbel, ich kann hier nur Antworten für die Bun- desregierung erteilen. Seitens der Bundesregierung Frau Matthäus - Maier (SPD): Nur zur Bestätigung, oder hinsichtlich der im Bundesdienst Tätigen findet Herr Staatssekretär: Habe ich Sie soeben richtig ver- eine Regelanfrage nicht statt. standen, daß Sie gesagt haben, es gebe im Bereich der (Dr. Nöbel [SPD]: Danke schön!) Bundesverwaltung keine Regelanfrage mehr?

Weitere Zusatzfrage, Herr Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich habe mich hier, Vizepräsident Stücklen: glaube ich, eindeutig ausgedrückt. Abgeordneter Conradi. (Conradi [SPD]: Ist schon klar!) Conradi (SPD): Herr Staatssekretär, will sich die Ich habe keinen Anlaß, das nach meinem Wissens- Bundesregierung, die ja sonst in diesem Hause sehr stand auf Ihre Zusatzfrage hin zu korrigieren. auf das Mehrheitsprinzip pocht, unter Berufung auf

ein Minderheitsvotum der Erfüllung des Übereinkom- Frau Matthäus - Maier (SPD): Gut, danke schön. — mens entziehen? Zusatzfrage: Gibt es bei der Handhabung der Regel- anfrage Unterschiede zwischen der Bundesverwal- Spranger, Parl. Staatssekretär: Wir haben nach die- tung und den CDU-regierten Bundesländern? ser Entscheidung keinen Anlaß — genausowenig wie wir ihn vorher hatten —, die Erfüllung des Überein- Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich darf nur sagen: kommens in Zweifel zu ziehen. Die Bundesregierung Ich habe hier für die Bundesregierung Auskunft zu wird ihre Antwort und ihre Stellungnahme entspre- geben und habe nicht die Praxis der Bundesländer zu chend den Vorschriften, Art. 29 des Übereinkom- bewerten. 392 Deutscher Bundestag -- 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- rung im Rahmen der ihr nach Art. 29 gesetzten Frist gen. äußern wird. Ich rufe die Frage 7 des Herrn Abgeordneten Con- radi auf: Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klejdzinski. In welcher Weise wird die Bundesregierung die Empfehlung des Untersuchungsausschusses der Internationalen Arbeitsor- ganisation (IAO) aufgreifen, im einzelnen zu prüfen, durch wel- Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekretär habe ich che Maßnahmen die volle Einhaltung des Übereinkommens Sie richtig verstanden, daß Sie ausgeführt haben, daß (Nr. 111) über die Diskriminierung in der Bundesrepublik sich die Bundesregierung in diesem Falle auf die Min- Deutschland bewirkt werden kann? derheitenmeinung des Gutachtens stützt, und muß ich daraus schließen, daß es durchaus gängige Praxis bei Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Con- Spranger, dieser Bundesregierung ist, sich in geeigneten Fällen radi, die Bundesregierung ist unverändert davon auf die jeweilige Minderheitenmeinung in einem Gut- überzeugt, das Übereinkommen 111 der Internationa- achten zu berufen? len Arbeitsorganisation über Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf in vollem Umfange einzu- Spranger, Parl. Staatssekretär: Nein. Auch das wäre halten. Sie kann sich dabei auch auf die Ansicht der eine unzutreffende Interpretation. Ich habe darge- Minderheit des Untersuchungsausschusses stützen, stellt, daß die Bundesregierung von Anfang an der wonach ein internationales Übereinkommen zum Meinung war, daß sie das Übereinkommen 111 ein- Schutze der Menschenrechte nicht so ausgelegt wer- hält. Bei dieser durch entsprechende Gerichtsent- den kann, daß es der Beseitigung dieser Grundrechte scheidungen und auch durch die von mir schon zitier- Vorschub leistet. ten entsprechenden Gesetze abgesicherten Meinung Auf die Beantwortung Ihrer schriftlichen Frage vom kann sich die Bundesregierung auch auf die Minder- 4. März 1987 nimmt die Bundesregierung ergänzend heitenmeinung dieses Untersuchungsausschusses Bezug. stützen.

Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage? — Bitte. Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Paterna. Conradi (SPD): Die Untersuchungskommission hat festgestellt, daß wir das Übereinkommen nicht voll Paterna (SPD) : Herr Staatssekretär, nachdem dieser einhalten, und hat empfohlen, zu prüfen, mit welchen ILO-Bericht in der Tendenz der Bundesregierung Maßnahmen dies gewährleistet werden könne. Wird empfiehlt, sich der Praxis der SPD-regierten Bundes- die Bundesregierung dieser Aufforderung nachkom- länder anzuschließen, darf ich Sie fragen — ich men? denke, das ist keine hypothetische Frage — , ob die Bundesregierung die Praxis der sogenannten A-Län- Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Con- der für verfassungswidrig hält. Wenn ja: Was gedenkt radi, ich muß sagen, das ist in anderer Form eine Wie- die Bundesregierung dagegen zu unternehmen? derholung Ihrer gestellten Frage, und die habe ich mit der ersten Antwort beantwortet. Spranger, Parl. Staatssekretär: Auch hier gehen Sie (Conradi [SPD]: Ich verwahre mich dagegen, davon aus, daß wir jetzt im Rahmen der Fragestunde daß meine Fragen hier zensiert werden!) zu einer Bewertung der Praxis bestimmter Bundeslän- der kommen. Ich habe hier über die Praxis der Bun- desregierung in diesem Zusammenhang Stellung zu Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Con- radi, jetzt hat der Herr Staatssekretär das Wort. — nehmen, auch in bezug auf das Gutachten, und Bitte sehr. möchte mich nicht wertend oder bewertend zur Praxis in den Bundesländern, gleich, welcher politischen (Conradi [SPD]: Dann möchte er bitte ant Couleur, äußern. -worten!) Vizepräsident Stücklen: Keine weitere Zusatzfra- Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich muß wiederho- gen. len, was ich Ihnen vorhin zur Antwort gegeben habe, Ich rufe die Frage 8 des Herrn Abgeordneten Con- und nehme darauf Bezug. radi auf : (Lachen bei der SPD) In welcher Weise wird die Bundesregierung dem Hinweis des Untersuchungsausschusses der Internationalen Arbeitsorgani- Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage. sation (IAO) Rechnung tragen, daß sich die ratifizierenden Staa- ten gemäß Artikel 3 b des Übereinkommens verpflichten, Conradi (SPD): Dann werden Sie der Feststellung „Gesetze zu erlassen . . ., die geeignet erscheinen, die Annahme und die Befolgung" der innerstaatlichen Politik der Gleichheit nicht widersprechen, daß die Bundesregierung hier der Gelegenheiten und der Behandlung mit Bezug auf Beschäf- der Aufforderung des Untersuchungsausschusses, zu tigung und Beruf „zu sichern"? prüfen, mit welchen Maßnahmen sie die Einhaltung des Abkommens erreichen kann, nicht nachkommen Spranger, Parl. Staatssekretär: Die beamtenrechtli- wird. — Sie widersprechen nicht; das ist die klare chen Bestimmungen zur Treuepflicht konkretisieren Äußerung. lediglich einen Grundsatz unserer Verfassung. Ihre Änderung ist daher ausgeschlossen. Im übrigen hat Spranger, Parl. Staatssekretär: Nein. Sie unterstel- selbst die Mehrheit des Untersuchungsausschusses len mit Ihrer Frage etwas. Ich habe vorhin schon ein- der Internationalen Arbeitsorganisation festgestellt, mal darauf hingewiesen, daß sich die Bundesregie- die deutschen Verfassungs- und Gesetzesbestimmun- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 393

Parl. Staatssekretär Spranger gen zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. In stünden ihrem Wortlaut nach nicht im Widerspruch zu seiner Grundsatzentscheidung vom 22. Mai 1975 den Regelungen des Übereinkommens 111. heißt es wörtlich: Der Beamte genießt Grundrechtsschutz. Er steht Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage, bitte, zwar im Staat und ist deshalb mit besonderen Pflichten belastet, die ihm dem Staat gegenüber Conradi (SPD): Wird sich die Bundesregierung in obliegen, er ist aber zugleich Bürger, der seine dem Falle, in dem ihre Praxis nicht mit den Grundsät- Grundrechte gegen den Staat geltend machen zen des Übereinkommens übereinstimmt, ihrer Ver- kann. Der notwendige Ausgleich ist so zu suchen, pflichtung nach Art. 3 des Übereinkommens entzie- daß die für die Erhaltung eines intakten Beamten- hen, Gesetze zu erlassen, die geeignet sind, die tums unerläßlich zu fordernden Pflichten des Annahme und die Befolgung des Übereinkommens zu Beamten die Wahrnehmung von Grundrechten sichern? durch den Beamten einschränken. Parl. Staatssekretär: Vielleicht haben wir Spranger, Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage, bitte. unterschiedliche Fragen. Nach meiner Vorlage ist die Frage 8 genau in der Form gestellt, wie ich sie beant- Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Würden Sie denn wortet habe. Sie haben in Frage 8 gefragt, ob nach nicht auch davon ausgehen, Herr Parlamentarischer Art. 3 b des Übereinkommens die Bundesregierung Staatssekretär, daß die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sei, Gesetze zu erlassen, die geeignet in diesem ganzen problematischen Umfeld nicht in erscheinen, die Annahme und die Befolgung der den Verdacht geraten sollte, möglicherweise ihrer- innerstaatlichen Politik der Gleichheit der Gelegen- seits Grundrechte zu verletzen? heiten und der Behandlung mit Bezug auf Beschäfti- gung und Beruf zu sichern. — Auf diese Frage habe Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, in diesen ich Ihnen bereits eine Antwort gegeben. Verdacht gerät die Bundesrepublik Deutschland nicht. Vizepräsident Stücklen: Noch eine Zusatzfrage, bitte. Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, bitte. Conradi (SPD): Ich habe gefragt, in welcher Weise die Bundesregierung ihrer Verpflichtung nachkom- Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Auch dann nicht, men will. Aber da Sie diese Frage offenbar nicht wenn Sie in diesem Punkte der Mehrheit der Kommis- beantworten wollen und sagen, Sie seien noch am sion nicht folgen wollen? Glauben Sie nicht, daß hier Prüfen: Darf ich erwarten, daß die Bundesregierung die Bundesrepublik Deutschland letztlich selbst ele- das Parlament unterrichten wird, bevor sie in der mentare Grundrechte verletzt? gegebenen Frist auf den Untersuchungsbericht Ant- wort gibt, oder werden wir erst hinterher informiert? Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, auch dann nicht. Spranger, Parl. Staatssekretär: Auch darüber wird die Bundesregierung in dem anstehenden Entschei- Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, dungsprozeß, für den sie nach Art. 29 eine Frist von Herr Abgeordneter Paterna. drei Monaten hat, zu befinden haben. Paterna (SPD): Herr Staatssekretär, nachdem Sie Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- immer wieder auf die Treuepflicht des Beamten ver- gen. weisen, darf ich Sie so verstehen, daß Bereiche, etwa (Conradi [SPD]: Der Staatssekretär beant- das Dienstleistungsangebot der Deutschen Bundes- wortet unsere Fragen nicht!) post, insbesondere im Hoheitsbereich, in denen heute Die Fragen 9 und 10 des Herrn Abgeordneten mit dem Hinweis auf Hoheitsaufgaben und Funk- Catenhusen sowie die Fragen 11 und 12 des Herrn tionsvorbehalt Beamte eingesetzt werden, grundsätz- Abgeordneten Peter (Kassel) werden auf Wunsch der lich nicht für eine Privatisierung öffentlicher Dienstlei- Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten stungen zur Verfügung stehen? werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 13 des Herrn Abgeordneten Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Weisskirchen (Wiesloch) auf: Paterna, auch das berührt den Fragenkomplex nur so, daß ich keinen direkten Zusammenhang mit der Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Untersu- Frage sehe. chungsausschusses der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folge als erstes, „dafi öffentlich Bedienstete beim Genuß der den Bürgern Vizepräsident Stücklen: Herr Parlamentarischer im allgemeinen zustehenden Rechte und Freiheiten keinen Staatssekretär, ich möchte Sie entlasten. Das geht engeren Begrenzungen als denjenigen unterliegen sollten, die über die Fragestellung hinaus. nachweislich notwendig sind, um das Funktionieren der Insti- tutionen des Staates und der öffentlichen Dienste zu gewährlei- Ich darf Herrn Abgeordneten Kalisch zu einer sten"? Zusatzfrage bitten. Bitte sehr, Herr Staatssekretär. Kalisch (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, bei dieser Spranger, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Weiss- Diskussion stellt sich z. B. die Frage: Welche Konse- kirchen, die Bundesregierung verweist hierzu auf die quenzen hätte es für unser Schulwesen, wenn den 394 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Kalisch Empfehlungen dieses Ausschusses gefolgt werden Argumentation vorgetragen hat. Nähere Einzelheiten würde? müßte ich Ihnen dann schriftlich übermitteln. (Paterna [SPD]: Es würde sicher zusammen- (Lambinus [SPD]: Dafür wäre ich dankbar!) brechen, Herr Kollege!) Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lippelt. Spranger, Parl. Staatssekretär: Wenn man den Empfehlungen der Mehrheit in der Praxis folgen (Hannover) (GRÜNE): Herr Staatssekre- würde, hätte das die Konsequenz, daß erst dann, wenn Dr. Lippelt tär, haben Sie schon mal über die historische Erfah- links- oder rechtsextremistische Lehrer tatsächlich mit rung nachgedacht, daß rechte Lehrer linke Schüler Beeinflussungs- und Einwirkungsversuchen und erzeugt haben und daß dogmatisch linke Lehrer eher -bemühungen begonnen haben und wenn dies nach- rechte Schüler erzeugen? Wie bringen Sie das mit weisbar ist, sie mit Konsequenzen zu rechnen hätten. Ihrem Weltbild in Übereinstimmung? Damit wäre das Prinzip der Prävention, die diese Situation schon im Vorfeld zu vermeiden sucht, aus (Lachen bei den GRÜNEN und der SPD) den Angeln gehoben. Spranger, Parl. Staatssekretär: Das müßten Sie als Lehrer viel besser wissen als ich. Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi. (Dr. de With [SPD]: Keinen Humor! — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Ich habe genau das beobachtet!) Conradi (SPD): Habe ich Ihre Antwort, Herr Staats- sekretär, richtig verstanden: Die aus dem Dienst ent- Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr lassenen Lehrer sind nicht wegen irgendwelcher Ver- Abgeordneter Knabe. stöße oder wegen irgendwelcher Handlungen, son- dern allein vorbeugend unter dem Gesichtspunkt der Dr. Knabe (GRÜNE): Sie haben eben erklärt, man Prävention entlassen worden, sie könnten möglicher- müsse bei der Einstellung von Bewerbern die Mög- weise als Lehrer Schüler indoktrinieren? lichkeit prüfen, ob sie nicht unter Umständen die Treuepflicht gegenüber dem Staat so verletzten, daß Spranger, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Con- man das nur mit einem Disziplinarverfahren beheben radi, so ganz haben Sie mich nicht verstanden. Ich könne. Müßte man dann nicht in gleicher Weise auch wollte etwas einfacher ausdrücken, was das Bundes- bei der Einstellung jedes Bewerbers prüfen, inwieweit verfassungsgericht in der schon zitierten Entschei- er im späteren Beamtendasein bestechlich wird, sich dung auf Seite 352 gesagt hat — ich darf zitieren — also empfindsam für Zuwendungen zeigt und seine Gerade weil die Entfernung eines Beamten auf Amtsgeschäfte nicht zum Nutzen des Staates, sondern Lebenszeit oder auf Zeit aus dem Dienst wegen zum Nutzen bestimmter Privatinteressenten ausübt? Verletzung seiner Treuepflicht nach den herge- brachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums Vizepräsident Stücklen: Zuwendungen an Beamte, nur im Wege eines förmlichen Disziplinarverfah- Herr Abgeordneter Knabe, sind nicht statthaft. rens möglich ist, muß der Dienstherr darauf (Abg. Knabe [GRÜNE] begibt sich zu seinem sehen, daß niemand Beamter wird, der nicht die Platz zurück — Zurufe von der SPD: Stehen Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitlich- bleiben!) demokratische Grundordnung einzutreten. Der — Darf ich Sie bitten, noch am Mikrophon zu blei- Dienstherr hat auch dem Bewerber gegenüber ben? die Pflicht, die verfassungsrechtlich möglichen Bitte schön. Vorkehrungen zu treffen, damit er nicht genötigt wird, Beamte wegen Verletzung ihrer politischen Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich sehe ebenfalls Treuepflicht in ein Disziplinarverfahren zu zie- keinen Zusammenhang zwischen diesen Alternativen hen. möglichen Fehlverhaltens und dem eigentlichen Pro- (Conradi [SPD]: Das gilt für Bewerber und blem. nicht für Beamte!) Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage, Herr gen. Abgeordneter Lambinus. Dann rufe ich die Frage 14 des Herrn Abgeordneten Weisskirchen (Wiesloch) auf: Lambinus (SPD): Herr Staatssekretär, Ihre bisheri- Wird die Bundesregierung der Anregung des Untersuchungs- gen Antworten veranlassen mich, Sie zu fragen, ob die- ausschusses der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) fol- gen, daß bei Bewerbern für den öffentlichen Dienst die Verfas- Bundesrepublik Deutschland im Untersuchungsaus- sungstreue in der Praxis der Bundesrepublik Deutschland allge- schuß der IAO, der diese Feststellungen getroffen hat, mein vorauszusetzen ist und daß die Betätigung für legale poli- vertreten war, und wenn ja, durch wen, und wie sich tische Parteien nicht als unvereinbar mit der Treue zur Grund- die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland dort zu ordnung gelten soll, sofern kein mit den Pflichten der jeweiligen Stellung unvereinbares spezifisches Verhalten vorliegt? den Feststellungen verhalten haben? Spranger, Parl. Staatssekretär: Auch insoweit gilt Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen nur für die Bundesregierung das eben erwähnte Urteil des sagen, daß sie vertreten war und daß sie auch ihre Bundesverfassungsgerichtes. Danach ist die Gewähr, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 395

Parl. Staatssekretär Spranger jederzeit für die freiheitliche demokratische Grund- den, dürfte es eine solche unterschiedliche Praxis ordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten, allerdings nicht geben. eine subjektive Einstellungsvoraussetzung, die bei jedem Bewerber zu prüfen ist. Ein Stück des Verhal- Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- tens, das für die hier geforderte Beurteilung der Per- gen. sönlichkeit des Bewerbers erheblich sein kann, kann Dann darf ich Frage 15 des Herrn Abgeordneten auch der Beitritt oder die Zugehörigkeit zu einer poli- Dr. de With aufrufen: tischen Partei sein, die verfassungsfeindliche Ziele Gegen welche anderen westeuropäischen Staaten sind Kla- verfolgt, unabhängig davon, ob ihre Verfassungswid- gen nach Artikel 26 der Verfassung der Internationalen rigkeit durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts Arbeitsorganisation erhoben worden, und wie haben diese festgestellt ist oder nicht. So das Bundesverfassungs- Staaten auf die Empfehlungen der jeweils eingesetzten Unter- suchungsausschüsse reagiert? gericht in der entsprechenden Entscheidung. Spranger, Parl. Staatssekretär: Bei dem die Bundes- Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage, bitte. republik Deutschland betreffenden Verfahren der Internationalen Arbeitsorganisation handelt es sich Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wie wollen Sie um kein Klageverfahren, sondern um ein Untersu- denn, Herr Staatssekretär, auf Dauer mit den Kon- chungsverfahren, das der Verwaltungsrat dieser flikten leben, über die wir hier heute nachmittag dis- Organisation nach Art. 26 Abs. 4 der Verfassung der kutieren, wenn ein tatsächlich geeintes Westeuropa Internationalen Arbeitsorganisation von Amts wegen entsteht, in dem eine ganze Reihe von Ländern völlig eingeleitet hat. Da es das erste dieser Art ist, kann die andere Auffassungen haben, als Sie sie hier den gan- Bundesregierung zum Verhalten anderer westeuro- zen Nachmittag produzieren? päischer Staaten keine Angaben machen.

Spranger, Parl. Staatssekretär: Da müßten Sie schon Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage, bitte. sehr konkret werden, in welchen Ländern hier eine strengere Praxis, vor allem im Verfahren, in den ver- Dr. de With (SPD) : Gerade weil es das erste ist, wür- schiedenen Rechtszügen, herrscht als in der Bundes- den Sie es deswegen nicht für besonders angemessen republik Deutschland. halten, darauf sofort zu reagieren und z. B. auch die (Lachen bei der SPD — Zurufe von der SPD: Innenministerkonferenz damit zu beschäftigen, die, Umgekehrt!) wie wir heute gehört haben, derzeit in Berlin tagt?

Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Spranger, Parl. Staatssekretär: Dazu besteht weder Abgeordneter. nach der Gesetzeslage noch nach der Entscheidung dieses Untersuchungsausschusses eine Verpflich- Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Ich will Ihnen ganz tung. Die sich aus dem Art. 29 ergebenden Verpflich- konkret das Beispiel Italien oder auch das Beispiel tungen wird die Bundesregierung einhalten. Frankreich nennen, wo andere Praktiken gelten, wo z. B. Linkssozialisten oder Kommunisten die Chance Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage? haben, in einer Art und Weise anders, demokrati- (SPD): Herr Staatssekretär, würden Sie scher, behandelt zu werden als in unserem Land. Dr. de With zur Kenntnis nehmen, daß Sie uns darüber nicht Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, hier belehren müssen, sondern daß meine Frage allein dar- müßten Sie sehr unterscheiden, was die Verfahrens- auf gezielt war, ob der Bundesminister des Innern praxis anlangt und was die Verfassungslage anlangt. die Innenministerkonferenz damit beschäftigen wird, Daß die in den entsprechenden Ländern anders ist als nachdem dort im Kern alle wirklich relevanten Fragen bei uns, ist unbestritten. zur Sprache kommen und dies eine relevante Frage ist? Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Olderog. Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß sich die Bundesländer von sich aus mit diesem Dr. Olderog (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, trifft Thema beschäftigen und sich auch mit den im Unter- es zu, daß nach unserem Grundgesetz und nach den suchungsergebnis dargelegten Auffassungen ausein- Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die andersetzen, so daß der Bundesinnenminister von sich Bundesregierung wie alle anderen öffentlichen aus nach meiner Auffassung keine Verpflichtung hat, Behörden überhaupt nicht frei sind in der Frage, ob sie dieses Problem in die Innenministerkonferenz hinein- eine sorgfältige Prüfung vornehmen, ja oder nein, son- zutragen. dern daß sie für den Fall, daß sie das nicht tun, einen Weitere Zusatzfrage, Herr Verfassungsbruch begehen? Vizepräsident Stücklen: Abgeordneter Knabe. (Dr. de With [SPD]: Die Frage ist, wie sie es tun, Herr Olderog!) Dr. Knabe (GRÜNE): Würden Sie freundlicherweise Auskunft geben, welche Konsequenzen sich aus dem Spranger, Parl. Staatssekretär: Wir müssen davon von Ihnen zitierten Paragraphen ergeben und in wel- ausgehen, daß es hier in der Bundesrepublik Deutsch- chem Zeitrahmen die Bundesregierung diese Konse- land eine unterschiedliche Praxis gibt. Wenn die ein- quenzen zu erfüllen bereit ist? deutigen Regelungen der Verfassung, der Beamten- gesetze und die Rechtsprechung der entsprechenden Spranger, Parl. Staatssekretär: Nach Art. 29 muß Gerichte in der Praxis entsprechend angewendet wür- binnen drei Monaten die Bundesregierung dem Ver- 396 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Parl. Staatssekretär Spranger waltungsrat, der sich anschließend mit dem Thema zu Conradi (SPD): Wann läuft denn die Dreimonatsfrist beschäftigen hat, eine Stellungnahme zuleiten. Das ab, Herr Staatssekretär? habe ich schon mehrfach zum Ausdruck gebracht. Das wird geschehen, Herr Dr. Knabe. Spranger, Parl. Staatssekretär: Das Gutachten ist, (Dr. Knabe [GRÜNE]: Danke!) glaube ich, im Februar bei uns eingetroffen. Wenn Sie drei Monate zulegen, dürfte die Frist im Mai ablau- Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- fen. gen. — Ich rufe die Frage 16 des Herrn Abgeordneten Dr. de With auf: Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- Beabsichtigt die Bundesregierung gemäß Artikel 29 der Ver- gen. fassung der Internationalen Arbeitsorganisation, die Empfeh- lungen des Ausschusses zur Überprüfung der Einhaltung des Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Stiegler, Übereinkommens Nr. 111 über die Diskriminierung (Beschäfti- 19 und 20 der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gme- gung und Beruf) anzunehmen, oder beabsichtigt sie nach Arti- lin sowie 21 und 22 des Abgeordneten Bachmaier sol- kel 29, den Streitfall dem Internationalen Gerichtshof zu unter- breiten? len auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwor- tet werden. Die Antworten werden als Anlagen abge- druckt. Spranger, Parl. Staatssekretär: Nach Art. 29 Abs. 2 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisa- Damit bleibt noch eine Frage. Ich rufe die Frage 23 tion hat sich die Bundesregierung zu dieser Frage des Herrn Abgeordneten Kuhlwein auf : innerhalb von drei Monaten gegenüber dem General- Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, nach denen es direktor des Internationalen Arbeitsamtes zu äußern. im Zusammenhang mit dem Betrieb von Spielhallen zu wach- Dies wird sie tun. Die Achtung vor den Institutionen sender Kriminalität kommt, und ist die Bundesregierung bereit, durch eine Anderung der Spielverordnung den Kommunen eine dieser Organisation gebietet es, die Entscheidung der restriktivere Handhabung der Zulassung von Spielhallen zu Bundesregierung nicht bereits vorher öffentlich zu ermöglichen? machen. Bitte sehr. (Paterna [SPD]: Das Parlament ist eine Insti- tution, die ein Mindestmaß an Achtung ver- Spranger, Parl. Staatssekretär: Nach den Erkennt- dient, Herr Staatssekretär!) nissen des Bundeskriminalamtes zur Kriminalität im Zusammenhang mit dem Betrieb von Spielhallen Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage? wurden 1986 sechs Tötungsdelikte und 32 Raubstraf- taten begangen gegenüber vier Tötungsdelikten und Dr. de With (SPD): Gibt es bereits wenigstens Über- 20 Fällen von Raub im Jahre 1985. Die Anzahl der dem legungen mit einer gewissen Tendenz, die Sie offen- Bundeskriminalamt mitgeteilten Fälle von Einbruchs- baren können; denn es liegt ja auf der Hand, daß die diebstahl und von Diebstahl aus Automaten mittels Öffentlichkeit wissen will, wie in etwa die Bundesre- Gerätemanipulation ist verschwindend gering. gierung reagieren wird? Diese Erkenntnisse sind jedoch unvollständig und erlauben keine gesicherte Trendaussage, da in die- Spranger, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. de With, ich bitte um Verständnis, wenn ich hier auch sem Kriminalitätsbereich die Länderdienststellen keine Tendenz unter der Berücksichtigung meiner gegenüber dem Bundeskriminalamt keine Melde- ersten Antwort zu Ihrer Frage zum Ausdruck bringen pflicht haben. Auf Grund von in der Presse veröffent- möchte. lichten Zahlen habe ich das Bundeskriminalamt gebe- ten, die Kriminalitätslage in diesem Bereich mit den (Kühbacher [SPD]: Muß das in die Koalitions- Landeskriminalämtern zu erörtern. Einer möglichen verhandlungen?) Zunahme könnte allerdings nicht mit einer Änderung der Spielverordnung begegnet werden. Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. de With. Das Gewerberecht bietet keine Handhabe, straf- rechtlich relevante Übergriffe auf Spielhallen zu redu- zieren. Es hat vielmehr den Zweck, Gefahren, die von (SPD): Hat der Bundesminister des Dr. de With den Spielhallen selbst ausgehen, also übermäßige Innern außerhalb der Innenministerkonferenz inzwi- Ausnutzung des Spieltriebs, und damit in erster Linie schen Kontakt mit den Länderinnenministern und die Spieler treffen, zu begegnen. Einer Verbesserung -senatoren aufgenommen, um zu einer einigermaßen des Spielerschutzes in diesem Sinne dient die Ände- abgestimmten Auffassung zu gelangen, nachdem Sie rung der Spielverordnung vom 11. Dezember 1985, selbst eingeräumt haben, daß die Praxis innerhalb der wonach in Spielhallen auf 15 m 2 Grundfläche nur Länder ja sehr unterschiedlich ist, was zu bedauern noch ein Geldspielgerät, höchstens jedoch zehn ist? Geräte je Spielhalle, aufgestellt werden darf.

Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann jetzt wirk- Die den Kommunen zur Verfügung stehenden lich nicht sagen, ob der Minister oder irgendwelche bauplanungsrechtlichen Steuerungsmittel sind in der anderen Ebenen im Bundesinnenministerium Verbin- Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Grü- dungen zu den entsprechenden Stellen in den Län- ner vom 3. Dezember 1986 auf die Frage des Abge- dern aufgenommen haben. ordneten Stahl aufgezeigt worden, auf die ich ver- weise. Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi. Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage, bitte. Deutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 397

Kuhlwein (SPD): Herr Staatssekretär, sind der Bun- ein Trend zu immer mehr Spielhallen und -auto- desregierung Äußerungen aus den Ländern bekannt, maten ergeben sollte, im Bauplanungsrecht ein die in der vorvergangenen Woche im „Spiegel" und Steuerungsmittel zur Verfügung. gestern in der „Süddeutschen Zeitung" abgedruckt So hier der zuständige Wirtschaftsminister. waren, wonach eine Initiative zur Änderung der pla- (Dr. Klejdzinski [SPD]: Das habe ich auch nungsrechtlichen Bestimmungen unbedingt erf order- gelesen!) lich sei, weil sich herausgestellt habe, daß auch nach der Änderung der Spielverordnung oder vielleicht gerade nach der Änderung der Spielverordnung die Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, Kriminalität in Zusammenhang mit Spielhallen zuge- Herr Abgeordneter Conradi. nommen habe? Conradi (SPD): Herr Staatssekretär, warum eigent- Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich bitte um Nach- lich läßt das Bundeskriminalamt ständig Geldspielge- sicht, wenn mir außer den von Ihnen zitierten Presse- räte zu, obwohl das Glücksspiel in dieser Republik stellen nun konkrete Aussagen der Länder nicht doch strafrechtlich verboten ist? bekannt sind. Ich bin aber gern bereit, nachprüfen zu lassen, ob hier auch beim Bundesinnenminister ent- Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich glaube nicht, daß sprechende Vorstellungen schon vorgetragen wur- die Zulassungen durch das Bundeskriminalamt erteilt den. werden. (Conradi [SPD]: Dann wissen Sie es offenbar Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, nicht! Informieren Sie sich!) bitte. Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, (SPD): Herr Staatssekretär, muß ich aus Kuhlwein Herr Abgeordneter Kühbacher. Ihrer ersten Antwort schließen, daß die Bundesregie- rung die Problematik der Spielhallen mit der Spielver- (SPD): Herr Staatssekretär, halten Sie es ordnung vom Dezember 1985 für abschließend befrie- Kühbacher im Hinblick auf Ihre Antwort betreffend die Gewalt- digend geregelt hält? kriminalität in Spielhallen für angezeigt, in der Län- Spranger, Parl. Staatssekretär: Es kommt sehr dar- derinnenministerkonferenz darauf hinzuwirken, daß auf an, welche Problematik Sie jetzt meinen. Wenn Sie versucht wird, die Gewaltkriminalität durch geeig- in dem ersten Teil Ihrer Anfrage von der Kriminalitäts- nete polizeiliche Präventivmaßnahmen in diesen Hal- entwicklung sprechen, dann habe ich ausgeführt, daß len einzudämmen, und wann wollen Sie dieses Thema hier die Frage der Änderung der Spielverordnung in der Innenministerkonferenz erörtern? positiv oder negativ keine entscheidende Rolle spielt. Was die Frage der Handhabung in den Spielhallen Spranger, Parl. Staatssekretär: Sollte dieses Thema selbst anbelangt, meinen wir, daß hier die Änderung in der Innenministerkonferenz noch nicht behandelt aus dem Jahre 1985 ausreichende Grundlagen zum worden sein, so bin ich gern bereit, Ihre Anregung Schutze der Spieler selbst geschaffen hat. entsprechend weiterzuleiten und auf eine schnellst- mögliche Behandlung dieses Themas dort zu drän- Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, gen. Herr Abgeordneter Klejdzinski. Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekretär, Sie Herr Abgeordneter Wartenberg. haben auf die Antwort an Herrn Stahl verwiesen, in der inhaltlich steht, daß die Kommunen auf Grund des Wartenberg (Berlin) (SPD): Herr Staatssekretär, was Bauplanungsrechts Möglichkeiten hätten, dies einzu- hält die Bundesregierung davon, daß jetzt neuerdings schränken, wobei Sie darauf verweisen, daß jeweils auch auf Bahnhöfen der Deutschen Bundesbahn sol- Bebauungspläne aufgestellt werden könnten und che Spielhöllen eingerichtet werden? dementsprechende Beschränkung en erfolgten. Herr Staatssekrektär, ist es denn nicht so, daß beispiels- Spranger, Parl. Staatssekretär: Zwischen Spielauto- weise in den sogenannten Kerngebieten von Städten maten und Spielhöllen besteht, glaube ich, ein kleiner und in Kerngebieten von Dörfern vom Grundsatz her Unterschied. keine Bebauungspläne mehr aufgestellt werden und (Conradi [SPD]: Hallen meint er! — Gegen auch nicht aufgestellt werden können, weil dort ein ruf von der CDU/CSU: Dann soll er das auch historischer Bestandsschutz existiert, und daß insbe- sagen!) sondere in diesen Bereichen gerade Spielhallen ein- gerichtet werden, weil die Kommunen keine Möglich-- — Hallen. — Ich kann das aus eigener Anschauung keiten haben, sie abzulehnen? und aus eigener Erfahrung nicht beurteilen. Ich bin gerne bereit, Ihre Frage an das zuständige Haus wei- Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann hier nur terzuleiten, damit man sich dort entsprechend mit die- noch auf die Antwort des Parlamentarischen Staatsse- sem Thema beschäftigt. kretärs Grüner vorn 3. Dezember 1986 auf die Frage von Herrn Kollegen Stahl verweisen, der hier damals Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- sagte — darauf muß ich Bezug nehmen —: gen. Den Kommunen steht jedoch, wenn sich entge- Damit ist auch dieser Geschäftsbereich abgeschlos- gen meiner Einschätzung der Situation weiterhin sen. Vielen Dank, Herr Staatssekretär. 398 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Vizepräsident Stücklen Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers Tritft es zu, daß die Bundesregierung derzeit noch keinen der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Überhlick hat, wie sich das angekündigte „Steuerpaket 1990" im Ergebnis auf die Steuerbelastung der einzelnen Bürger aus- uns der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. wirkt? Häfele zur Verfügung. Die Fragen 24 und 25 des Herrn Abgeordneten Nehm und die Fragen 37 und 38 des Herrn Abgeord- Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege neten Reschke sollen auf Wunsch der Fragesteller Dr. Spöri, ich darf so antworten: Mit ihren steuerpoli- schriftlich beantwortet werden. Die Antworten wer- tischen Vereinbarungen haben die Koalitionsparteien den als Anlagen abgedruckt. CDU/CSU und FDP die Voraussetzungen für eine lei- stungsfördernde und sozial ausgewogene Steuerre- Ich rufe die Frage 26 des Herrn Abgeordneten form geschaffen. Der Gesamtrahmen umfaßt gut Uldall auf: 44 Milliarden DM. Davon werden die Steuerzahler Wie beurteilt die Bundesregierung die Wettbewerbsverzer- 25 Milliarden DM als echte Steuerentlastung erhal- rung, die dadurch entsteht, daß in der Bundesrepublik Deutsch- land die Umsätze der Duty-Free-Shops mit Fluggästen aus EG ten. Ländern wie Inlandsumsätze besteuert werden, während in den (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Beides habt ihr übrigen EG-Ländern diese Umsätze steuerfrei bleiben? nicht!) Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- Kernstück der Steuerreform 1990 ist ein Einkom- ster der Finanzen: Herr Kollege Uldall, die Antwort mensteuertarif mit völlig neuem Zuschnitt. Der gerad- lautet so: Die Bundesregierung prüft derzeit die Wett- linig-progressive Tarif beseitigt vor allem den beson- bewerbslage der deutschen Duty - Free - Shops. Hier- ders steilen Anstieg der Grenzbelastung im bisheri- bei ist nicht nur das Verhältnis zu den ausländischen gen unteren Bereich der Progressionszone, dem soge- Duty-Free-Shops, sondern auch das zum normalen nannten Facharbeiter- und Mittelstandsbogen. gewerblichen Einzelhandel innerhalb und außerhalb Der neue Zukunftstarif verwirklicht auch eine sozial der Flughäfen zu beurteilen. ausgewogene und familienfreundliche Besteuerung. Unabhängig vom Ergebnis der Prüfung setzt sich Jeweils rund 7 Milliarden DM werden für die Anhe- die Bundesregierung auf EG-Ebene weiterhin dafür bung des Grundfreibetrages um 1 080 DM bzw. bei ein, daß die ungleiche umsatzsteuerliche Behandlung Verheirateten um 2 160 DM auf 5 616 DM bzw. der Verkäufe in Duty-Free-Shops in der Europäischen 11 232 DM und die Absenkung des Eingangssteuer- Gemeinschaft baldmöglichst beseitigt wird. satzes von 22 v. H. auf 19 v. H. eingesetzt. Beide Maß- nahmen entlasten in erster Linie kleine Einkommen. Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage, bitte sehr. Durch die Erhöhung des Grundfreibetrages werden allein rund eine halbe Million Steuerpflichtige ganz Uldall (CDU/CSU): Hat die Bundesregierung steuerfrei gestellt. irgendwelche zeitlichen Vorstellungen, ab wann Die reinen Tarifentlastungswirkungen der geplan- diese Wettbewerbsverzerrungen auf die eine oder die ten Steuersenkung sind selbstverständlich bekannt. andere Weise verschwinden sollen? Ich habe Ihnen, Herr Kollege Dr. Spöri, vor wenigen Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Auf unser Betreiben Tagen ja auch bereits eine Übersicht mit Entlastungs- hin sind auch bei der Kommission schon mehrere beispielen zugesandt. Da Einzelheiten über eine Anläufe unternommen worden, um hier Einheitlich- Erweiterung der Bemessungsgrundlage noch nicht keit zu erreichen. Die Kommission war sich nicht ganz festgelegt sind, können diese Beispiele die genaue schlüssig, ob sie per Gerichtsverfahren gegen die Nettoentlastung, also die Entlastung im Saldo, noch anderen Länder einschreiten soll oder ob sie eine nicht berücksichtigen. Richtlinie erlassen soll. Dazu gab es schon Vorschläge, aber die Kommission hat sie dann wieder zurückgezo- Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage. gen. Wir drängen auf jeden Fall darauf — die EG- Kommission ist ja Herr des Verfahrens — , daß hier jetzt möglichst schnell Klarheit geschaffen wird. Denn Dr. Spöri (SPD): Herr Staatssekretär, nun interessie- auf die Dauer ist eine solche ungleiche Behandlung ren den Bürger vorrangig nicht Eckdaten einer Steu- eigentlich nicht angängig. erreform, sondern die konkreten Auswirkungen. Es trifft zu, daß Sie mir eine entsprechende Berechnung, Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage. eine Tabelle, zugesandt haben. Ich möchte an Sie die Frage richten: Ist es tatsächlich wahr, daß die Bundes- Uldall (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist es rich- regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt konkrete tig, daß zahlreiche Bundesländer diesem Anliegen Vorstellungen nur zur Tarifentlastung 1990 für den positiv gegenüberstehen? einzelnen Bürger hat und keinerlei Vorstellungen von der Belastung, die durch die Finanzierung im Umfang Parl. Staatssekretär: Sicherlich, da gibt- Dr. Häfele, von 19 Milliarden DM auf den Bürger zukommt? es auch Bestrebungen, weil die Länder vielfach auch an den Flughäfen beteiligt sind. Es ist ein gewisses Interesse vorhanden. Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Spöri, wir sind doch sehr frühzeitig dran. Das Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- Ganze soll am 1. Januar 1990 in Kraft treten. Wir gen. haben jetzt in wenigen Wochen nach der Wahl die Ich rufe die Frage 27 des Herrn Abgeordneten Spöri Eckdaten der Entlastung festgelegt. So frühzeitig war auf: eigentlich ein Steuergesetzgeber nie dran. Wir wollen Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 399

Parl. Staatssekretär Dr. Häf ele ja nicht kurzfristig operieren. In der Tat, den Schluß- rung der Reform sollen steuerliche Umschichtungen akt müssen wir im Laufe dieses Jahres noch leisten, in Höhe von 19 Milliarden DM erfolgen. (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Den wichtig- Nach Feststellung der Koalition macht die geplante sten Teil!) nachhaltige Tarifsenkung für alle Einkommensteuer- und das betrifft auch die Ausgleichsmaßnahmen. Das pflichtigen es möglich, einen Teil dieses Umschich- ist aber im Blick auf den 1. Januar 1990 sehr rechtzei- tungsbetrages von 19 Milliarden DM im Sinne einer tig. Keine Regierung hat so frühzeitig Entscheidungen Vereinfachung des Steuersystems durch den Abbau getroffen wie wir. Schauen Sie sich die Beispiele der von Steuervergünstigungen und steuerlichen Sonder- letzten zehn Jahre an! regelungen zu gewinnen. Geprüft werden soll aller- dings auch, ob im Rahmen des Gesamtplans eine (Lachen bei der SPD) begrenzte Anhebung einzelner indirekter Steuern Es gibt kein Beispiel für so frühzeitiges Handeln. Wir erforderlich ist. sind hier also wirklich gut in der Zeit. (Zuruf von der SPD: Und das ist der (Kühbacher [SPD]: Der Höhepunkt kommt Beschiß!) immer am Schluß!) Die Bundesregierung wird bis zur Vorlage des Gesetzentwurfes für die Steuerreform die dafür not- Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, wendigen Einzelentscheidungen treffen. Bevor diese bitte. Entscheidungen getroffen worden sind, können über einzelne Finanzierungsteile und deren Auswirkungen Dr. Spöri (SPD): Herr Staatssekretär, ich kann Ihnen auf die Gesamtentlastung einzelner Steuerzahler ja darin zustimmen, daß Sie mit den Entlastungsbei- keine näheren Angaben gemacht werden. Das Ziel ist, spielen sehr früh dran sind; daß alle Steuerzahler im Ergebnis entlastet werden. (Sehr gut! bei der CDU/CSU) Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage, bitte sehr. aber halten Sie es für einen seriösen politischen Stil, daß Sie dem Bürger jetzt, vor den Landtagswahlen Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, würden Sie mir dieses Jahres, nur Entlastungsbeispiele nennen, die unter den Gesetzen der Logik zustimmen, daß Ihre sich auf seinen Geldbeutel auswirken, und ihm über- Aussage zumindest zur Hälfte falsch ist, daß unter haupt nicht sagen, wie nach der Finanzierung nach dem Strich alle Steuerzahler entlastet werden, wenn den Landtagswahlen die Nettoentlastung oder sogar Sie es gleichzeitig offenlassen, ob indirekte Steuern die Zusatzbelastung tatsächlich aussieht? angehoben werden, also Millionen von Rentnern, Sozialhilfeempfängern, Schülern und Studenten über Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, seriöser, Steuererhöhungen — sprich: Mehrwert-, Tabak-, als wir sie betreiben, kann die Information nicht mehr Branntweinsteuer — belastet werden, und glauben sein. Sie, daß man davon reden kann, daß alle Steuerzahler (Zuruf von der SPD: Bei dieser Regierung entlastet werden, wenn Sie offenlassen, ob Millionen sicher nicht!) von Steuerzahlern durch die Erhöhung von indirekten Seit einem Jahr betonen wir, daß es im Saldo 25 Mil- Steuern belastet werden, und würden Sie mir zustim- liarden Entlastung sind, daß bei den 44 Milliarden men, daß Steuerzahler auch derjenige ist, der zusam- aber 19 Milliarden noch gegengerechnet werden men mit anderen Mitbürgern Milliarden D-Mark an müssen. Mehrwertsteuer, Tabak- und Branntweinsteuer zahlt? (Zustimmung bei der CDU/CSU) Ich glaube, es gibt kaum jemanden in der ganzen Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huon- deutschen Politik, der so aufrichtig ist wie die Regie- ker, die Logik besagt, wenn eine Entlastung um rung. 44 Milliarden DM stattfindet und nur 19 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der DM gegenzurechnen sind, daß der Löwenanteil eine SPD: Magerer Beifall!) Entlastung ist, die alle Steuerbürger spüren werden. Das ist logisch. Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen. Wir kommen noch zu anderen Fragen, und da der FDP — Zuruf von der SPD: Alle?) können Sie sicher noch alles unterbringen. Weitere Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Huonker Vizepräsident Stücklen: auf: Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, dann will ich Kann die Bundesregierung verbindlich ausschließen, daß etwas einfacher fragen. Stimmen Sie mir zu, daß ein durch das Steuerpaket 1990 einzelne Bürger unter Berücksich- tigung der angekündigten „Umschichtungen" im Ergebnis Rentner, der heute auf Gebrauchsgüter 14 % Mehr- höher belastet werden? wertsteuer zahlt und nach einer möglichen Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Punkt 15 % zahlt Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huon- — dies schließen Sie nicht aus — und der keine Lohn- ker, die Antwort auf Ihre erste Frage lautet: Die Koali- und Einkommensteuer zahlt, unter dem Strich durch tionsparteien haben mit ihren steuerpolitischen die Erhöhung der Mehrwertsteuer, der Tabak- oder Beschlüssen die Eckpunkte der für 1990 geplanten Branntweinsteuer mehr und nicht weniger Steuern Steuerreform beschlossen. Sie soll eine Bruttoentla- zahlt? stung von 44 Milliarden DM umfassen. Zur Finanzie- (Beifall bei der SPD) 400 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huon- Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage. ker, im Gegensatz zu der SPD-geführten Bundesre- gierung, die 1977 und 1979 bei der Steuerentlastung Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, ist Ihnen die jeweils eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen von Finanzminister Posser am 26. März dieses Jahres Punkt beschlossen hat, wollen wir eine Erhöhung der im nordrhein-westfälischen Landtag geäußerte Schät- Mehrwertsteuer vermeiden. Helfen Sie mit, dieses zung bekannt, wonach durch die von Ihnen genannte durch Abbau von steuerlichen Vergünstigungen zu Maßnahme die Zahl der Arbeitnehmer, die auf Grund erreichen! der Verkürzung der unteren Proportionalzone erstma- (Beifall bei der CDU/CSU — Huonker [SPD]: lig eine Einkommensteuererklärung abgeben müs- Also ist Ihre Aussage „unter dem Strich" sen, 500 000 betragen wird? falsch!) Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Mir ist diese Rede nicht bekannt, aber in unserem Haus sind auch Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage Berechnungen angestellt worden, und ich wieder- des Herrn Abgeordneten Uldall. hole: Es handelt sich um eine nicht erhebliche Zahl. (Zurufe von der CDU/CSU — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Für die Trunken- Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, bolde und Raucher! — Heiterkeit) bitte. — Herr Abgeordneter Carstensen, wollten Sie Ihre Zusatzfrage damit als erledigt angesehen wissen? Huonker (SPD): Könnten Sie sagen, was „nicht erheblich" ist? (Heiterkeit) Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich habe keine (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, können Sie Uldall Größenordnung, aber es ist zahlenmäßig wirklich sich daran erinnern, daß der frühere SPD-Finanzmini- nicht sehr bedeutsam. ster Apel, als er nach den Auswirkungen seiner Umschichtungen und zusätzlichen Belastungen (Zurufe von der SPD: Aha!) befragt wurde, damals von einem Pferd getreten Weitere Zusatzfrage, Herr wurde? Vizepräsident Stücklen: Abgeordneter Uldall. Parl. Staatssekretär: Das war das Ergeb- Dr. Häfele, (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, in welchem nis der „großen" Steuerreform 1975. Uldall Umfange werden die Finanzämter und die Steuerzah- (Heiterkeit und Zurufe von der CDU/CSU) ler dadurch entlastet, daß Steuerzahler völlig aus der Steuerpflicht herausfallen? Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- gen. Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Das ist eine wesent- Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Dr. Wieczo- lich stärkere Entlastung und Vereinfachung als das rek auf. andere Problem, das der Kollege Huonker angespro- (Zurufe — Parl. Staatssekretär Dr. Häfele: chen hat. Eine weitere halbe Million neben bisher Die Frage 29 habe ich noch nicht beantwor- rund 3 Millionen Steuerpflichtigen fallen völlig aus tet!) der Steuer heraus. Deshalb ist das die durchgreif end- ste Steuervereinfachung, die es überhaupt gibt. — Frage 29 ist noch nicht beantwortet? Und Sie legen Wert darauf? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit) Vizepräsident Stücklen: Keine weiteren Zusatzfra- gen? Huonker (SPD): So, wie Sie mich kennen sollten, Herr Präsident, lege ich Wert darauf. Ich rufe die Frage 30 des Herrn Abgeordneten Dr. Wieczorek auf: Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: In Übereinstim- Wie viele Steuerpflichtige werden durch die bereits im Detail mung mit dem Fragesteller lege ich Wert darauf, die festgelegte Tarifänderung 1990 (ohne die gegenzurechnenden Steuererhöhungen durch „Umschichtung") eine geringere Frage zu beantworten. Steuerentlastung als 1 000 DM im Jahr erhalten?

Vizepräsident Stücklen: Ich rufe die Frage 29 des Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Abgeordneten Huonker auf Dr. Wieczorek, die erste Antwort lautet so: Nach einer Wird nach Auffassung der Bundesregierung die Anzahl der groben Schätzung werden schon im Erstjahr der Tarif- Veranlagungsfälle bei der Einkommensteuer infolge der Ver- reform 1990 rund zwei Drittel der Steuerzahler um kürzung der Proportionalzone ansteigen? mindestens 1 000 DM entlastet. Wer schon jetzt weni- ger als 1 000 DM Steuern zahlt, kann nicht um mehr Parl. Staatssekretär: Die Zahl der Veran- Dr. Häfele, entlastet werden. lagungsfälle ändert sich nicht durch die von der Bun- desregierung beschlossene Erhöhung des Grundfrei- Bei etwa einem Drittel der Steuerzahler fällt die betrages ab 1988, wohl aber durch die geplante Ver- Steuersenkung geringer als 1 000 DM aus — bei kürzung der unteren Proportionalzone ab 1990. Die einem Drittel der Steuerzahler! Davon zahlen rund ein Zahl der Veranlagungsfälle erhöht sich allerdings nur Fünftel schon nach geltendem Recht weniger als gering, so daß die Mehrarbeit für die Finanzverwal- 1 000 DM Einkommensteuer. tung und damit auch für die Steuerbürger nicht von Bei einem Progressionstarif steigt die Steuerbela- Bedeutung ist. stung schneller als das Einkommen. Eine durchgän- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 401

Parl. Staatssekretär Dr. Häfele gige Senkung überzogener Grenzsteuersätze führt SPD-geführten Bundesregierung durchgeführt wur- daher zwangsläufig zu absolut größeren Entlastungs- de. Da gibt es einige Beispiele — wir haben einen beträgen bei höheren Einkommen. Der Vergleich schönen Schriftwechsel mit Kollegen von Ihnen, des- absoluter Entlastungsbeträge reicht für eine richtige halb sind uns die Zahlen ins Auge gesprungen — : Beurteilung der Tarifreform nicht aus. Ebenfalls ein- (Kühbacher [SPD]: Ist das hier ein Schauspiel zubeziehen ist die bisherige und die verbleibende oder eine Fragestunde?) Steuerbelastung. Selbstverständlich müssen auch Da ist es so, daß ein Familienvater mit drei Kindern nach der Steuersenkung die Bezieher höherer Ein- — Steuerklasse III/3 — mit einem Durchschnittsein- kommen absolut und prozentual mehr zahlen als kommen 1981 eine Steuerentlastung von monatlich Kleinverdiener. 85 Pfennig — 85 Pfennig! — erhalten hat. Vizepräsident Stücklen: Zusatzfrage, bitte. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Da war ein Bürger so verärgert, daß er diesen Betrag Dr. Wieczorek (SPD): Herr Staatssekretär, stimmt dem damaligen SPD-Bundesfinanzminister durch es, daß bei dem Durchschnittseinkommen verheirate- Überweisungsauftrag für ein Jahr wieder zur Verfü- ter Arbeitnehmer von rund 43 000 DM 1990 die Tarif- gung gestellt hat. absenkung unter 1 000 DM liegen wird? (Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Und was hat der damit gemacht?) Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Da müßte ich jetzt die Tabelle zur Hand haben. Da müssen Sie selbst Vizepräsident Stücklen: Eine weitere Zusatzfrage, einem Staatssekretär ein bißchen Zeit lassen. Ich will Frau Abgeordnete Matthäus-Maier. Ihnen die Frage gern beantworten. Alles haben wir nicht im Kopf. Frau Matthäus - Maier (SPD): Herr Staatssekretär, nachdem Sie eben hier gesagt haben, daß ein Drittel Haben Sie eine weitere Vizepräsident Stücklen: aller Steuerpflichtigen weniger als 1000 DM Steuer- Zusatzfrage? entlastung durch die geplante Steuersenkung bekom- men werden, wie erklären Sie sich dann, daß die CDU Dr. Wieczorek (SPD) : Dann möchte ich in diesem Zusammenhang eine weitere Zusatzfrage stellen. im hessischen Wahlkampf — ich habe es selber in der Wenn diese Vermutung richtig wäre, könnten Sie uns Zeitung gesehen — Anzeigen schaltet, in denen steht: dann auch die Antwort geben, daß das praktisch Jeder Bürger bekommt eine Steuersenkung von min- hieße, daß über 12 Millionen — das ist mehr als die destens 1000 DM? Hälfte der Arbeitnehmer — tatsächlich nicht eine Steuersenkung von 1 000 DM oder mehr, sondern Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Wir haben immer weniger bekämen? Könnten Sie das dann damit hin- erklärt, und der Bundesregierung war es immer völlig klar, daß es hier um Durchschnittswerte geht. Es geht einfassen? sogar weit darüber hinaus: Zwei Drittel erhalten eine Entlastung um mehr als 1 000 DM. Etwas anderes hat Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Nein, das ist nicht zutreffend. Im übrigen haben Sie in der zweiten Frage die Bundesregierung nie gesagt. genau die Frage nach Einkommensbeziehern gestellt. Die Antwort ist vorbereitet. Ich habe Ihnen ja gesagt, Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr daß zwei Drittel der Steuerzahler um mindestens Abgeordneter Klejdzinski. 1 000 DM entlastet werden — zwei Drittel! Bei den restlichen gibt es ein Fünftel, die schon nach gelten- Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekretär, wie viele dem Recht weniger als 1 000 DM Steuern zahlen, die Steuerzahler erhalten mehr als 5 000 DM Steuerentla- also nicht um mehr als 1 000 DM entlastet werden stung? können — also zwei Drittel, die Zahl ist eindeutig. Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Klejd- zinski, der Vergleich mit absoluten Zahlen ist völlig Dr. Wieczorek: (SPD): Ich glaube, ich kann in die- sem Zusammenhang keine weitere Zusatzfrage stel- verfehlt. Entscheidend ist, wieviel prozentual entla- len, sonst hätte ich gerne noch eine dazu gestellt. stet wird. Es ist das Ergebnis, daß die unterdurch- schnittlich Verdienenden überdurchschnittlich entla- Vizepräsident Stücklen: Sie haben die Zahl Ihrer stet werden und daß die überdurchschnittlich Verdie- Zwischenfragen erschöpft. — Herr Abgeordneter nenden unterdurchschnittlich entlastet werden, so Uldall bitte. daß die ganze These in sich zusammenbricht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Uldall (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, wie hoch war die Entlastung bei der letzten SPD-Steuerreform Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr 1981, die ein Durchschnittsverdiener mit drei Kindern Abgeordneter Soell. damals netto bekommen hat? (Zuruf von der SPD: Die Zahl hat er im Kopf! Dr. Soell (SPD): Herr Staatssekretär, wenn Sie sich — Weitere Zurufe von der SPD) schon Fragen bestellen lassen und ebenso vorberei- tete Antworten auf bestellte Fragen geben und aus Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Wir haben uns in der Steuerreform von 1981 zitieren, würden Sie dann der Tat, weil die Opposition immer nur mit absoluten auch Ihren Kollegen mitteilen, daß unter der sozialli- Zahlen operiert, einmal die absoluten Zahlen der beralen Koalition 1975, 1977, 1979 und 1981, also alle Steuersenkung 1981 angeschaut, die damals unter der zwei Jahre, die progressions- und auch inflationsbe- 402 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Soell dingten Steuererhöhungen zum wesentlichen Teil genannt haben, im wesentlichen dadurch verursacht zurückgegeben worden sind, worden sind, daß die CDU/CSU-Mehrheit im Bundes- (Uldall [CDU/CSU]: Dafür wurden die Ver- rat, ohne dessen Zustimmung Steuergesetze nicht brauchsteuern erhöht!) verändert werden können, massive Entlastungsmaß- nahmen draufgesattelt hat, daß also die Verzerrung, während bei Ihnen zwischen 1981 und 1986 ein Fünf- die Sie vorgetragen haben, im wesentlichen auf die jahreszeitraum klaffte? Verweigerungshaltung der damaligen Mehrheit im Bundesrat zurückzuführen ist? Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Soell, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage. Sie gestat- tet mir den Hinweis etwa auf die letzte Steuersen- Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Beim besten Willen, kung, die die SPD-geführte Regierung 1981 vorge- Herr Kollege Huonker, das ist zu viel der Geschichts- nommen hat. Da war es so: Ein verheirateter Steuer- legende. Schauen Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf pflichtiger mit einem zu versteuernden Einkommen vom Jahre 1981 an. Da kommen Sie zu ähnlichen von 20 000 DM hat eine Entlastung von 4 DM erhal- Ergebnissen. Das hängt doch einfach mit der Natur ten. Wer 100 000 DM hatte, bekam eine Entlastung des progressiven Tarifs zusammen. Wer die Progres- von 1844 DM. Das ist das 460fache. Wenn Sie also sion mildern will, muß in absoluten Zahlen bei denen, heute sagen, der Großverdiener werde um das die stärker belastet sind, absolut mehr entlasten. 25fache gegenüber dem Kleinverdiener entlastet, Trotzdem wird er relativ weniger entlastet als der muß ich sagen: Die SPD hat beim Großverdiener eine andere und zahlt auch relativ mehr Steuern, auch Entlastung um das 460fache vorgenommen. nach der Steuerentlastung. Das ist das Grundgesetz jedes progressiven Tarifs. Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Soell, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich darf doch davon ausgehen, daß das keine abge- Wenn Sie den progressiven Tarif abschaffen wollen sprochene Frage war? — wir wollen ihn nicht abschaffen — , können wir (Heiterkeit) darüber miteinander reden. Wenn jeder gleich viel Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kuhlwein, bitte Steuern zahlt, kann man ihn auch gleich entlasten. sehr. Aber dann müssen wir den progressiven Tarif abschaffen. Wenn Sie das wollen, können wir darüber Kuhlwein (SPD): Herr Staatssekretär, ich komme reden. noch einmal auf Ihre Antwort auf die Frage von Frau (Huonker [SPD]: Sie geben also zu, daß der Kollegin Matthäus-Maier zurück. Wie erklären Sie es Bundesrat massiv draufgesattelt hat!) sich, daß Bundesminister Wallmann als Mitglied der Bundesregierung Ihre Auffassung teilen muß, daß bei Vizepräsident Stücklen: Ist Ihre Meldung erledigt, der Steuerreform im Durchschnitt 1000 DM für jeden Herr Kollege Kühbacher? Steuerzahler an Vergünstigung herauskämen, daß er aber als Spitzenkandidat der CDU in Hessen Anzei- (Kühbacher [SPD]: Ich habe mich genug gen veröffentlicht, in denen drinsteht, daß bei der geärgert!) Steuerreform mindestens 1000 DM für jeden Steuer- Dann rufe ich Herrn Abgeordneten Fischer auf. zahler herauskommen würden, und würden Sie meine Auffassung teilen, daß solche Aussagen des CDU- Fischer (Homburg) (SPD): Herr Staatssekretär, ich Spitzenkandidaten in Hessen und des Mitglieds der bin selbst Mathematiker, und ich weiß, wie Durch- Bundesregierung falsch sind, daß sie nicht der Wahr- schnittswerte errechnet werden. heit entsprechen. (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Von (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Wahlbetrug!) welcher Gesamthochschule?) und daß man das auch als Wahlbetrug bezeichnen Dazu brauche ich also keinen Staatssekretär, der mir könnte? darin erst noch Nachhilfeunterricht erteilt. Ich möchte von Ihnen einmal wissen, wenn Sie schon solche Zah- Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich teile Ihre Auffas- len in die Welt setzen — durchschnittliche Entlastung sung nicht. Die Einlassungen der Bundesregierung von 1 000 DM für alle — , wie diese Durchschnittsbe- waren immer klar. Wenn irgendein Parteiverband ein rechnung überhaupt vorgenommen worden ist und Inserat herausgibt, liegt das nicht in der Verantwor- wie viele bei dieser angeblichen durchschnittlichen tung der Bundesregierung. Entlastung überhaupt daran partizipieren können. (Lachen bei der SPD — Dr. Klejdzinski Vielleicht können Sie diese Zahl einmal nennen. [SPD]: Sehr schön, die Bundesregierung hat nichts mit der Partei zu tun! — Zuruf von der Parl. Staatssekretär: Das ist natürlich SPD: Wallmann ist in der Regierung!) Dr. Häfele, seriös berechnet: mit gewichteten Zahlen, wie es bei Schätzungen üblich ist. Ich habe schon gesagt: Bei Zusatzfrage, Herr Abge- Vizepräsident Stücklen: zwei Dritteln führt das dazu, daß sie im Ergebnis um ordneter Huonker. mehr als 1 000 DM entlastet werden. Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, (Uldall [CDU/CSU]: Superleistung!) zur Kenntnis zu nehmen und zu bestätigen, daß die eindrucksvollen Beispiele, die Sie als Ergebnis der Vizepräsident Stücklen: Weitere Zusatzfrage, Herr letzten Steuersenkung der sozialliberalen Koalition Abgeordneter Poß. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 403

Poß (SPD): Herr Staatssekretär, fühlen Sie sich von Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung zu ver- stehen, daß das Schwergewicht der Entlastung bei den unteren eigentlich nicht durch Ihren Amtseid auch verpflich- und mittleren Einkommen liege? tet, offensichtliche Täuschungen, was die Durch- schnittsentlastung angeht, die durch Anzeigen Ihres Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Landesverbandes Hessen hervorgerufen werden, Dr. Häfele, Dr. Wieczorek, die Antwort auf Ihre zweite Frage lau- öffentlich zu korrigieren und in dem Sinne Wahl- hat kampflügen, wie wohl Herr Geißler sagen würden, tet so: Ein verheirateter Einkommensmillionär nach geltendem Recht, also Tarif 1988, so wie er im nicht zuzulassen? Gesetzblatt steht, 522 980 DM oder 52,3 v. H. Ein- kommensteuer zu zahlen. Nach Tarif 1990 wird die Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Poß, Dr. Häfele, Steuerbelastung um 7,4 v. H. gesenkt. Die verblei- ich verstehe Ihren Hinweis auf irgendeinen Eid nicht. bende Belastung beträgt 484 298 DM oder 48,4 v. H. Die Bundesregierung hat in dieser Frage immer ganz des zu versteuernden Einkommens. Ein verheirateter klar und eindeutig Auskunft gegeben. Wir haben Durchschnittsverdiener mit einem zu versteuernden nicht einen Satz zurückzunehmen. Einkommen von etwa 34 500 DM wird demgegen- (Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Dr. Klejd- über anteilig mehr als doppelt so stark, nämlich um zinski [SPD] meldet sich zu einer Zusatz- 16,4 v. H. der bisherigen Steuerschuld, entlastet. Die frage) nach der Senkung verbleibende Steuerbelastung von 4 664 DM beträgt dann 13,5 v. H. des zu versteuern- Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter, Sie den Einkommens. haben zu dieser Frage schon eine Frage gestellt. Sie Insgesamt entfällt auf die Bezieher kleinerer Ein- stehen bei mir an dritter Stelle nach Matthäus-Maier. kommen in dem bisherigen unteren Proportionalbe- Ich muß korrekt vorgehen. reich, also bei zu versteuerndem Einkommen bis (Abg. Kastning [SPD] meldet sich zu einer 18 000 DM bei Ledigen oder 36 000 DM bei Verheira- Zusatzfrage) teten, mit 6,6 v. H. ein wesentlich höherer Entla- — Sie haben bereits darauf verzichtet. Sie haben mit stungsanteil, als es ihrem Beitrag zum Steueraufkom- dem Kopf geschüttelt. Gibt es da eine andere Deu- men von 4,4 v. H. entspricht. tung? Für eine sachgerechte Beurteilung der Steuerre- (Kastning [SPD]: Ich melde mich erneut zu form genügt es bei einem progressiven Tarif nicht, dieser Frage!) absolute Entlastungsbeträge für verschieden hohe Einkommen zu vergleichen. Ebenfalls einzubeziehen — Gut, also Sie haben sich gemeldet, Herr Abgeord- ist die bisherige Steuer und die nach der Senkung neter Kastning. verbleibende Belastung.

Kastning (SPD): Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, Das deutsche Steuersystem bleibt progressiv. Auch zur Kenntnis zu nehmen — damit das auch wirklich nach der Steuerreform müssen die Bezieher hoher nach draußen deutlich wird — , daß sich mit Ihrer Aus- Einkommen absolut und prozentual erheblich mehr kunft zu den Anzeigen der CDU im hessischen Wahl- Steuern entrichten als Bezieher kleiner und mittlerer kampf die Bundesregierung heute von einem ihrer Einkommen. Regierungsmitglieder und einer der sie tragenden Parteien in der Steuerpolitik öffentlich distanziert Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage, bitte. hat? Dr. Wieczorek (SPD): Herr Staatssekretär, wie Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Überhaupt nicht. bewerten Sie dann die Tatsache, daß für den verhei- Ein Kollege von Ihnen — ich weiß nicht, wer es war — rateten Durchschnittsverdiener nach Ihren Vorschlä- hat vor einer Woche oder gar vor zwei Wochen eine gen 1990 eine Entlastung lediglich um 2,7 % des Brut- entsprechende schriftliche Frage eingereicht. Bei der toeinkommens herauskommen wird, für den ange- Antwort haben wir genau das gesagt, was wir immer sprochenen Einkommensmillionär dagegen eine Ent- gesagt haben: um mindestens 1 000 DM oder durch- lastung um 3,8 %? schnittlich 1 000 DM. Etwas anders hat die Bundesre- gierung nie gesagt. Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Wenn jemand nur in (Huonker [SPD]: Was gilt jetzt? Mindestens der Proportionalzone war und jetzt schon wenig Steu- oder durchschnittlich? — Abg. Uldall [CDU/- ern bezahlt, einen ganz geringen Steueranteil trägt CSU] meldet sich zu einer Zusatzfrage) — womöglich nur 10 oder 12 % —, dann kann er natürlich nicht noch mit 10 oder 20 % entlastet wer- Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Uldall, den. Die Entlastung findet dort statt, wo die Belastung Sie fallen unter genau die gleiche Bestimmung wie am stärksten ist. Und das ist im mittleren Bereich der Herr Abgeordneter Klejdzinski. Zulässig ist eine Fall. Das ist der Sinn einer Milderung der Progres- Zusatzfrage, da Sie nicht Fragesteller sind. sion. Keine weiteren Zusatzfragen. (Dr. Spöri [SPD]: Ein glattes Geständnis!) Ich rufe die Frage 31 des Herrn Abgeordneten Dr. Wieczorek auf: — Das ist allen Zahlen zu entnehmen, die Sie immer Wie ist in Anbetracht der Tatsache, daß ein verheirateter Ein- gekriegt haben. kommensmillionär bei der Steuersenkung 1990 um 38 440 DM entlastet wird, ein verheirateter Durchschnittsverdiener hinge- gen nur etwas mehr als 900 DM Entlastung erfährt, die Aussage Vizepräsident Stücklen: Eine zweite Zusatzfrage. 404 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Wieczorek (SPD): Herr Staatssekretär, eine wei- schiedliche Einschätzung darüber gibt, daß es einen tere Frage in dem Zusammenhang: Ist nach Ihrer Auf- substantiellen Unterschied zwischen dem Wort „min- fassung, wenn Sie das so sehen, noch das Prinzip der destens" und dem Wort „durchschnittlich" 1 000 DM Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit gewährlei- gibt, frage ich Sie: Ist die Bundesregierung bereit, stet, d. h. daß diejenigen, die weniger verdienen, sehr ihrem Kabinettsmitglied Dr. Wallmann deutlich zu viel weniger Steuern zu zahlen hätten als diejenigen, machen, daß es jedenfalls im Bereich der Steuerpolitik die mehr verdienen und deshalb auch mehr Steuern einen klaren Unterschied gibt zwischen der Aussage, zahlen können? jeder Steuerzahler wird um durchschnittlich 1 000 DM entlastet, und der Aussage, jeder Steuer- Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ja. Die in der zahler wird um mindestens 1 000 DM entlastet? unteren Proportionalzone Befindlichen werden sogar (Uldall [CDU/CSU]: Das ist schon sechsmal überdurchschnittlich entlastet: um 50 % mehr, als ihr gefragt worden! Das ist unter Ihrem Beitrag zum Steueraufkommen ausmacht. Dagegen Niveau!) werden die sogenannten Spitzenverdiener im Spit- zensteuersatz nur um rund 7,5 % entlastet, obwohl sie — Sie werden nervös; ich kann nichts dafür. 13,2 % Steuern beitragen. Diese Entlastung ist also weit unterdurchschnittlich. Das Ergebnis ist also Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich wiederhole zum genau umgekehrt. Die Relation wird durch unseren sechstenmal, wenn Sie zum sechstenmal fragen. Was Tarif sogar zuungunsten der Oberen verschoben. ich hier für die Bundesregierung sage, gilt für die (Beifall bei der CDU/CSU) gesamte Bundesregierung einschließlich aller Bun- desminister. Eine Zusatzfrage des Vizepräsident Stücklen: (Uldall [CDU/CSU]: Das ist unter dem Abgeordneten Klejdzinski. Niveau des Herrn Huonker!) Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekretär, da die Bundesregierung ja auch eine Informationspflicht hat, Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Uldall, darf ich Sie darum bitten, daß Sie Ihren Kabinettskol- wir sind in der Fragestunde. legen, den sehr geschätzten Herrn Minister Wall- (Erneuter Zuruf des Abg. Uldall [CDU/CSU] mann, darüber informieren, daß das, was er gegen- — Frau Unruh [GRÜNE]: Ordnungsruf!) wärtig in Hessen verbreiten läßt, nicht richtig ist? — Herr Abgeordneter Uldall, so geht es nicht. Es gibt Zumindest müßte das Wort „mindestens" durch eine gewisse Ordnung. „durchschnittlich" ersetzt werden. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregie- Die sollte nach Möglichkeit eingehalten werden. rung hat jedermann gegenüber seit Monaten überall betont — sie hat damit ihre Aufklärungspflicht Eine Zusatzfrage, bitte, Herr Dr. Mertens (Bot- erfüllt —, trop). (Kuhlwein [SPD]: Herr Wallmann nicht!) (Bottrop) (SPD): Herr Staatssekretär, daß durchschnittlich um 1 000 DM — ich wiederhole Dr. Mertens stimmen Sie mir zu, daß von der Erhöhung des Grund- sogar: über zwei Drittel um mehr als 1 000 DM — ent- freibetrags alle Steuerpflichtigen, das heißt auch die lastet wird. Das haben wir immer gesagt, und das wie- Spitzenverdiener profitieren, während von der Sen- derholen wir. Mehr Aufklärung können wir nicht kung des Spitzensteuersatzes nur Steuerzahler mit machen. Wenn wir alles widerlegen sollten, was die einem zu versteuernden Einkommen von 120 000 SPD täglich verlautbart, käme die Bundesregierung bzw. 240 000 DM profitieren? nicht mehr zum Arbeiten. (Lachen bei der CDU/CSU) Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ja, aber Kollege Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage des Herrn Dr. Mertens: Unten wird um 14 Milliarden und oben Abgeordneten Lippelt. nur um 1 Milliarde entlastet. Das führt dazu, daß - unten überdurchschnittlich und oben nur unterdurch- Dr. Lippelt (Hannover) (GRÜNE): Herr Staatssekre- schnittlich entlastet wird. tär, hat die Bundesregierung Herrn Wallmann für die (Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch!) Zeit des Wahlkampfs aus der Kabinettsdisziplin ent- lassen? Es findet, relativ gesehen, eine echte Umverteilung von oben nach unten statt. Das ist die Wahrheit. Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Wallmann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — kämpft für eine Mehrheit, damit wir diese vernünftige Lachen bei der SPD) Steuerreform wirklich durchsetzen können. Ich kann ihm nur vollen Erfolg wünschen. Vizepräsident Stücklen: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vizepräsident Stücklen: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Huonker. Diese eine Frage beansprucht so viel Zeit, daß norma- lerweise für eine solche Frage eben ein eigener Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, da es erstens Tagesordnungspunkt gerechtfertigt gewesen wäre offenkundig keinen Gegensatz in der Beurteilung der oder künftig zu rechtfertigen wäre. Tatsache gibt, daß Herr Dr. Wallmann der Bundesre- (Huonker [SPD]: Aktuelle Stunde! — Kühba gierung angehört, und da es zweitens keine unter- cher [SPD]: Sehr wahr!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Ap ril 1987 405

Vizepräsident Stücklen Die anderen Kolleginnen und Kollegen, die auf Beant- dender Bedeutung. Anstelle einer Teuerungsrate von wortung ihrer Fragen warten, werden wahrscheinlich 6,3 v, H. im Jahre 1981 hatten wir 1986 einen Preis- nicht mehr zum Zuge kommen. Das möchte ich zu rückgang um 0,2 v. H. Preisstabilität und Steuersen- bedenken geben und zur Beachtung empfehlen. kungen haben entscheidend dazu beigetragen, daß Sie sind also damit einverstanden, daß wir die die Kaufkraft der verfügbaren Einkommen 1986 um Zusatzfrager, die wir schon notiert haben, noch zum rund 4 1 /2 v. H. zunehmen konnte. Nach der Kaufkraft- Zug kommen lassen und dann diese Frage als erledigt schrumpfung Anfang der 80er Jahre ist das der ansehen. stärkste Anstieg der Realeinkommen seit langem. Sie sind noch dabei, Herr Kollege Oesinghaus. Bitte sehr. Vizepräsident Frau Renger: Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Matthäus-Maier. Oesinghaus (SPD): Halten Sie es tatsächlich für gerechtfertigt, daß auf die 140 000 Spitzenverdiener Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Staatssekretär, eine höhere Entlastungsmasse insgesamt als auf die können Sie bestätigen, daß die Lohnsteuerquote, also 5,7 Millionen Verdiener niedrigerer Einkommen die prozentuale Belastung der Bruttolöhne und Brut- zukommt? togehälter mit Lohn- und Einkommensteuer, unter Ihrer Regierung dauernd höher war als in 13 Jahren Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Das ist nicht zutref- sozial-liberaler Koalition? fend. (Uldall [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Frau Matthäus- nicht!) Maier, Sie wissen so gut wie ich — und das ist die übereinstimmende Meinung der Bundesländer, auch In der unteren Proportionalzone werden 14 Milliarden der SPD-regierten, und aller Fachleute einschließlich durch Erhöhung des Grundfreibetrags, der natürlich der Bundesbank bei der Steuerschätzung —, daß die durchgehend wirkt, und die Senkung des Eingangs- Lohnsteuerquote seit Jahren nichts mehr besagt, weil steuersatzes erzielt. Aber das Ergebnis ist, daß in der man Einkommensteuer und Lohnsteuer wegen der unteren Proportionalzone durch die Anhebung des vielen Veranlagungs- und Erstattungsfälle nicht mehr Grundfreibetrags und vor allem durch die Herabset- seriös voneinander trennen kann. Das ist die überein- zung des Eingangssteuersatzes von 22 auf 19 % über- stimmende Meinung. Eine Lohnsteuerquote gibt es durchschnittlich entlastet wird. nur noch in der Propaganda der SPD, nicht mehr in der Wirklichkeit. Vizepräsident Stücklen: Die letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Brück. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Brück (SPD): Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Vizepräsident Frau Renger: Haben Sie noch eine Auffassung, daß Bundesminister auch in Landtags- Zusatzfrage? — Bitte. wahlkämpfen die Wahrheit sagen sollten? Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Staatssekretär, Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Das ist selbstver- ich muß auf den vorigen Punkt zurückkommen. Ich ständlich der Fall. Ich kenne keine Äußerung, daß der frage Sie sehr ernsthaft: Meinen Sie nicht, es würde Bundesminister nicht die Wahrheit gesagt hätte. der Glaubwürdigkeit von Politik und Politikern insge- (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der samt dienen, wenn Sie hier, statt — ich darf so SPD und den GRÜNEN) sagen -- sich arrogant auf Ihre Kompetenzen in der Bundesregierung zurückzuziehen, einfach einmal Vizepräsident Stücklen: Damit ist diese Frage abge- ehrlich zugäben, daß es besser wäre, wenn sich Herr schlossen. Wallmann nicht in einen Bundesminister und einen Ich rufe die Frage 32 der Abgeordneten Frau Landesvorsitzenden der CDU aufspalten und als sol- Matthäus-Maier auf: cher schäbige unwahre Anzeigen schalten würde? Kann die Bundesregierung widerlegen, daß die Lohn-/Ein- kommensteuerbelastung eines ledigen Arbeitnehmers mit stati- - Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Gegenfrage: Was stischem Durchschnittseinkommen in den einzelnen Jahren von hat diese Frage mit Ihrer Ausgangsfrage zu tun? 1969 bis 1982 stets niedriger war als in diesem Jahr, in dem die Steuerbelastung mehr als 23. v. H. des Brutto-Arbeitslohns (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Möchten Sie beträgt? die Frage nicht beantworten?) Bitte sehr. — Ich frage die Frau Präsidentin, ob diese Frage mit der Ausgangsfrage etwas zu tun hat. Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Steuerbelastung eines ledigen Vizepräsident Frau Renger: Verehrter Herr Staats- Facharbeiters mit Durchschnittseinkommen hat in sekretär, ich kann das auf Grund des Wechsels hier im den Jahren 1969 bis 1986 immer weniger als 23 v. H. Vorsitz jetzt nicht nachvollziehen. Aber Sie brauchen des Bruttoarbeitslohns betragen. Nach Angaben im darauf nicht einzugehen, wenn Sie das so für richtig Sozialbudget 1986 — Materialband S. 248 — war die halten. Steuerbelastung im Jahr 1974 mit 20,6 v. H. am höch- (Huonker [SPD ] sten; 1986 belief sie sich auf 20,4 v. H. : Das Schweigen reicht! — Frau Matthäus-Maier [SPD]: Schweigen ist (V o r sitz : Vizepräsident Frau Renger) auch eine Antwort! — Weitere Zurufe von Für die Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer der SPD — Gegenruf von der CDU/CSU: Bil ist die wiedergewonnene Preisstabilität von entschei- lige Polemik!) 406 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Darauf habe ich Vizepräsident Frau Renger: Zusatzfrage des Herrn wiederholt geantwortet. Abgeordneten Uldall. (Erneute Zurufe von der SPD) Uldall (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, angesichts des ursprünglichen Sinns der Progression, daß nur die Vizepräsident Frau Renger: Zusatzfrage, Herr höheren Einkommen einer progressiven Besteuerung Abgeordneter Meyer zu Bentrup. unterliegen sollten, frage ich Sie: Wie haben sich die Arbeitnehmereinkommen in den letzten 10/15 Jahren Dr. Meyer zu Bentrup (CDU/CSU): Herr Staatsse- entwickelt, - die heute bereits der progressiven kretär, wie haben sich die Einkommen von 1969 bis Besteuerung unterliegen? 1982 und die jeweilige Steuerbelastung in diesem Zeitraum prozentual entwickelt? Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nur, daß wir im Augenblick rund 65 To der Steuerbürger und damit auch die Mehrheit der Arbeitnehmerschaft in Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Von 1969 bis . . .? der Steuerprogression haben, und das hat sich vor allem in den 70er Jahren entwickelt. Wenn ich es — Dr. Meyer zu Bentrup (CDU/CSU) : Bis 1982. Es geht legen Sie mich nicht fest; ich kann es Ihnen schriftlich hier ja um die Lohnsteuerquote. nachreichen — recht in Erinnerung habe, war das 1961 noch eine ganz kleine, verschwindend geringe Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Ich kann's Ihnen Minderheit, die in der Steuerprogression war. Der auf Anhieb nicht beantworten. Ich bin gern bereit, eigentliche Durchbruch, daß die Mehrheit in die Steu- Ihnen das nachzureichen. Auf jeden Fall hat die steu- erprogression hineingewachsen ist, ist in den 70er erliche Belastung wesentlich stärker zugenommen als Jahren erfolgt. der Lohn. Vizepräsident Frau Renger: Ich rufe die Frage 33 der Frau Abgeordneten Matthäus-Maier auf: Zusatzfrage, Herr Vizepräsident Frau Renger: Trifft es zu, daß ein verheirateter Arbeitnehmer ohne Kinder Abgeordneter Poß. mit einem Jahres-Brutto-Einkommen von 60 000 DM um 14. v. H., ein verheirateter Arbeitnehmer ohne Kinder mit einem Jahres-Brutto-Arbeitslohn von 150 000 DM um 25,7 v. H. entla- Poß (SPD): Herr Staatssekretär, hat die Tatsache, stet wird? daß die Lohnsteuerquote — trotz mancher statisti- Bitte, Herr Staatssekretär. scher Ungenauigkeiten — über Jahrzehnte ermittelt und veröffentlicht wurde und dies erst in Ihrer Regie- Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet rungszeit, in den letzten zwei Jahren nicht mehr so: Auf der Grundlage der Lohnsteuerjahrestabelle gemacht wurde, nicht etwas damit zu tun, daß Sie die mit Berücksichtigung des Weihnachts-Freibetrages rasante Erhöhung der Lohnsteuerquote gegenüber hat ein kinderloser verheirateter Arbeitnehmer, also den Arbeitnehmern verschleiern wollen? Steuerklasse III/0, mit einem Jahresbruttolohn von 60 000 DM nach geltendem Recht, also Ta rif 1988, wie Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Überhaupt nicht. er im Gesetzblatt steht, 9 638 DM oder 16,1 v. H. an Lohnsteuer zu entrichten. Durch die Tarifreform 1990 Vizepräsident Frau Renger: Zusatzfrage, Herr erfolgt eine Entlastung um 1 222 DM oder 12,7 v. H. Abgeordneter Dr. Spöri. der bisherigen Steuerbelastung. Die verbleibende Belastung beläuft sich auf 8 416 DM oder 14 v. H. des Jahresbruttoverdienstes. Dr. Spöri (SPD): Herr Staatssekretär, wir gehen wohl konform in der Analyse, daß die Lohnsteuerein- Bei einem Jahresbruttolohn von 150 000 DM beträgt nahmen in der Vergangenheit, in den letzten Jahren die Lohnsteuerbelastung nach geltendem Recht — eine weit überdurchschnittliche Steigerungsrate zu wiederum Tarif 1988 — 46 086 DM oder 30,7 v. H. Die verzeichnen hatten. Wäre es, ausgehend von dieser Entlastung beträgt 9 704 DM oder 21,1 v. H. der bis- herigen Lohnsteuer. Es verbleibt eine Belastung von Analyse, steuerpolitisch dann nicht konsequent, den- Entlastungsschwerpunkt einer Steuerreform im Lohn- 36 382 DM oder 24,3 v. H. der Jahresbruttobezüge. steuerbereich, und zwar im unteren Einkommensbe- Der Entlastungsverlauf der Tarifreform 1990 muß reich, zu setzen und nicht etwa den Spitzensteuersatz vor dem Hintergrund des steilen Anstiegs des bisheri- zu senken? gen Tarifs bewertet werden. Die Begradigung der Progression führt natürlich dort zur deutlichsten Ent- (Beifall bei der SPD) lastungswirkung, wo die Steuerbelastung nach gel- tendem Recht besonders drückend ist. Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Genau aus diesem Grund haben wir 1986 damit begonnen, führen wir Vizepräsident Frau Renger: Zusatzfrage, Frau das 1988 fort und vollenden wir es 1990. Abgeordnete Matthäus-Maier. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Matthäus-Maier (SPD): Darf ich von Ihnen die In erster Linie werden die Lohnsteuerzahler in den Bestätigung bekommen, Herr Staatssekretär, daß Genuß dieser Steuersenkung kommen. Höchsteinkommen nicht nur in absoluten Zahlen stär- (Zustimmung bei der CDU/CSU — Frau ker entlastet werden als das von Otto Normalverbrau- Hensel [GRÜNE]: Halten Sie keine Wahlre cher, sondern auch relativ eine höhere Entlastung den! Dort ist der Fragesteller!) erhalten? Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 407

Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Nein, das ist nicht getrickst haben? Stimmen Sie mir ferner zu, daß zum zutreffend. Die Spitzenverdiener werden unterdurch- 1. 1. 1988 der Steuervorteil durch das Ehegattensplit- schnittlich entlastet. Überdurchschnittlich werden vor ting bei Spitzenverdienern um rund 4 000 DM auf ca. allem die entlastet, die in der unteren Proportional- 18 000 DM steigt? zone sind, also die sogenannten Kleinverdiener. (Zurufe von der SPD) Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huon- ker, ich wiederhole zum zigtenmal, daß Vergleiche Vizepräsident Frau Renger: Zweite Zusatzfrage, mit absoluten Zahlen nicht zutreffend sind. Wir müs- Frau Matthäus-Maier. sen vergleichen: Wieviel Prozent Steuern zahlt (Zuruf von der SPD: Das ist fast beleidi- jemand bisher, wieviel Prozent kriegt er Entlastung, gend!) und wieviel Prozent zahlt er nach der Entlastung? Da ist das Ergebnis — ob Sie jetzt 1990 oder ob Sie die Steuersenkung 1986/88 nehmen, die ja eine Einheit in Frau Matthäus - Maier (SPD): Dann muß ich Ihre Zahlen eben falsch verstanden haben. Aber die zwei Stufen ist — , daß die unterdurchschnittlich Ver- bekomme ich ja noch schriftlich. dienenden überdurchschnittlich entlastet werden. Ich stelle die Frage anders: Ist es zutreffend, daß Das gilt sowohl für 1990 als auch für 1986/88, wo wir nach Ihrer Vorstellung an irgendeiner Stelle des Tarifs mit den kleineren Einkommen begonnen haben. Hier Höherverdienende auch prozentual eine höhere Ent- kann man uns keinen Vorwurf machen, wenn zuerst, lastung bekommen als Geringerverdienende? nämlich 1986, die kleineren Einkommen entlastet werden und die anderen bis 1988 warten müssen. (Dr. Rumpf [FDP]: Nur nach den Nürnberger Deswegen ist die Reform 1986/88 eine Einheit. Beschlüssen der SPD ist das so!)

Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Natürlich gibt es da Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und Her- gewisse Unterschiede im mittleren Bereich. ren, wir sind am Ende dieser Fragestunde. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Die Fragen, die noch nicht (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Aha!) beantwortet sind, werden schriftlich beantwortet. Die — Ja, das ist selbstverständlich. Dort, wo der Fachar- Antworten werden als Anlagen abgedruckt. beiter- oder Mittelstandsbogen am stärksten ist, findet Die Fraktion der CDU/CSU hat gemäß Nr. 1 c der auch die stärkste Entlastung statt. Das ist so ge- Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine wollt. Aktuelle Stunde (Beifall bei der FDP) zu dem Thema Vizepräsident Frau Renger: Zusatzfrage, Herr Haltung der Bundesregierung zu den Agrar Abgeordneter Dr. Knabe. preisbeschlüssen der EG-Kommission verlangt. Dr. Knabe (GRÜNE): Ich habe die bescheidene Frage, wie hoch die Steuerentlastung nach der Steu- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- erreform für einen Bundestagsabgeordneten ist, und ordnete Susset. zwar — vielleicht können Sie das nicht sofort beant- worten — für einen Bundestagsabgeordneten, der Susset (CDU/CSU): Frau Präsident! Meine sehr verheiratet ist, und einen, der ledig ist. Ich glaube, verehrten Damen und Herren! Die Vorschläge der auch die Wähler wird interessieren, wieviel wir selber EG-Kommission für die Preisrunde 1987/88 sind für davon profitieren. die Bundesrepublik Deutschland nicht annehmbar. Sie sind eine einseitige Benachteiligung unserer Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär: Das ist an den Landwirtschaft und tragen nicht zur Lösung der der- Tabellen leicht ablesbar. Steuerberatung hier ist an zeitigen Probleme bei. sich unzulässig. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sofort nach (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Matthäus- Bekanntgabe dieser Vorschläge diese mit Nachdruck - Maier [SPD]: Unverschämt!) zurückgewiesen. Die EG-Kommission hat nun gestern hier getagt und ist auch heute noch hier. Es finden Vizepräsident Frau Renger: Zusatzfrage, Herr Gespräche mit den Bundesministern unter der Lei- Abgeordneter Huonker. tung von Bundeskanzler Dr. Kohl statt. Vor diesem (Zurufe von der SPD) Hintergrund ist es wichtig, daß der Deutsche Bundes- — Die Frage war schon beantwortet, wenn ich das tag in dieser Aktuellen Stunde nochmals seinen richtig verstanden habe. Standpunkt deutlich zum Ausdruck bringt. Es ist eigentlich zu bedauern, daß die Bundesregie- Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, habe ich Sie rung gerade jetzt zum 30. Jahrestag der EG so massiv richtig verstanden, wenn ich davon ausgehe, daß die auftreten muß. Es bleibt uns jedoch kein anderer Aus- Berechnungsbeispiele, die Sie Frau Matthäus-Maier weg. Es geht jetzt nicht nur um die Existenz der Land- gegenüber genannt haben, auf dem Vergleich des wirtschaft, sondern es geht auch um eine Vielzahl von Tarifs 1988 mit dem Tarif 1990 basieren? Stimmen Sie Arbeitsplätzen in anderen Bereichen. Das wurde auch mir zu, daß Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, gestern bei der Protestdemonstration, die hier in Bonn die große Entlastung der Spitzenverdiener, verheira- stattgefunden hat, deutlich. Es geht um Arbeitsplätze, tet und ohne Kinder, die im Tarif 1988 steckt und des- in der Landmaschinenindustrie, im Handel, in den wegen erst zum 1. Januar 1988 in Kraft tritt, heraus- Molkereien und vielen anderen Bereichen. 408 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Susset Wir weisen die Vorschläge zum Abbau des positi- Ich fordere alle Fraktionen des Deutschen Bundes- ven Währungsausgleiches zurück. Der Plan der Kom- tages auf, hier nicht immer nur die Bundesregierung mission über die zukünftige Behandlung der Wäh- zu kritisieren, sondern gemeinsam mitzuarbeiten, daß rungsausgleichsbeträge läuft auf einen automati- wir in einem Jahrhundertvertrag die Probleme schen Abbau hinaus. Deswegen werden wir uns weh- lösen. ren. Kein deutscher Finanzminister könnte im Rah- Danke schön. men zukünftiger EWS-Verhandlungen seine Zustim- mung zur DM-Aufwertung geben, wenn er damit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) automatisch Preissenkungen für seine Landwirtschaft beschließt. Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller (Schweinfurt). Bundesfinanzminister Stoltenberg hat zu diesem Thema anläßlich der Mitgliederversammlung des Müller (Schweinfurt) (SPD): Frau Präsident! Meine Deutschen Bauernverbandes am 24. März klare Aus- sehr verehrten Damen und Herren! Die Preisvor- sagen gemacht. So war es auch richtig, daß Bundes- schläge liegen auf dem Tisch. Die Bundesregierung kanzler Dr. Kohl die Briefe an den EG-Kommissions- lehnt sie ab. Aber wo, Herr Kollege Susset, ist ein kon- Präsidenten Delors geschrieben und ein Nein zu die- sensfähiges Konzept der Bundesregierung, sen Beschlüssen gesagt hat: denn wir können auf Dauer die Landwirtschaft nicht dafür bestrafen, daß (Sehr wahr! bei der SPD) wir hier in der Bundesrepublik Deutschland die stabil- und wo ist auch nur ein Bündnispartner für die Durch- ste Währung haben. Wir können nicht die Differenz, setzung berechtigter deutscher Interessen? Soll trotz- die sich aus den ständigen Währungsangleichungen dem der Schwarze Peter wieder auf Brüssel gescho- ergibt — den Aufwertungen bei uns, den Abwertun- ben werden? Die Zeiten, in denen der Bundesernäh- gen in anderen Ländern, also aus allen diesen Wäh- rungsminister den Bauern seine Niederlagen in Brüs- rungsveränderungen — , auf den Rücken der Land- sel als Erfolge verkaufen konnte, sind doch vorbei. und Ernährungswirtschaft abwälzen und von ihr zah- Das hat selbst der Bauernverband festgestellt — leider len lassen. Wir sind der Meinung: Lieber geht es in erst nach der Bundestagswahl. Vorher wäre es glaub- Europa einmal etwas langsamer voran, als daß wir die würdiger gewesen. Land- und Ernährungswirtschaft und den ländlichen Auch die Bauern wissen, daß es immer weiter berg- Raum praktisch auf der Strecke lassen. ab gehen wird, wenn die Bundesregierung bei ihrer Politik bleibt. Mit unseren nationalen Anstrengungen, besonders im agrarsozialen Bereich, konnten wir schlimmeres (Beifall bei der SPD) verhüten; wir konnten jedoch die ursächlichen Pro- Die landesweiten Proteste spiegeln ihre Verbitterung bleme nicht lösen. Auch das heutige Dilemma der über diese Politik wider, die ihnen keine Zukunftsper- Landwirtschaft kann nicht national gelöst werden, die spektive mehr aufzeigt. Wenn sich die Kommission in Ursachen liegen in der Überschußproduktion in Brüssel mit ihren Preisvorschlägen durchsetzt, droht Europa und in vielen Teilen der Welt. Nur wenn wir an der deutschen Landwirtschaft eine noch viel größere der Wurzel des Übels, nämlich an der Überschußpro- Existenzgefährdung als bisher. duktion, ansetzen, kann es gelingen, der Landwirt- (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Ihr schaft wieder eine Perspektive zu geben. wart doch immer für die restriktive Preis Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben politik!) Vorschläge gemacht, und unser Bundesminister Die ist zu befürchten; denn — so frage ich — ist nach Kiechle hat sie in Brüssel eingebracht. Es wurden der unsinnigen Kampfansage Minister Kiechles an die auch schon Teilerfolge erzielt. Ich denke an die Aus- EG und an ihre Mitgliedstaaten noch Entgegenkom- weitung des Bergbauern-Programms, ich denke an men zu erwarten? Ihre starken Worte, Herr Minister die gemeinschaftlich finanzierte Umweltbeihilfe. und auch die anderer Politiker haben sicher manchem Aber alle diese Maßnahmen müssen künftig maßge- deutschen Landwirt imponiert, einige unbesonnene schneidert auf die jeweiligen Bedingungen und die auch zu unverantwortlichen Handlungen hingerissen. verschiedenen Regionen der Gemeinschaft zuge-- Aber ist nicht mit Verhandlungsgeschick und mit schnitten werden. Aus diesem Grund ist es künftig guten Freunden mehr zu erreichen? wichtiger als bisher, daß wir mehr regionale Agrar- Die Lage der Landwirtschaft ist ernst. Wir Sozialde- politik machen können. Auch hierzu haben wir Zusa- mokraten sind weit davon entfernt, Schadenfreude gen der Bundesregierung. über verfehlte Politik zu empfinden oder die Situation in parteipolitische Polemik ummünzen zu wollen. Was Die Agrarpolitik darf nicht zum Sprengsatz in die Landwirte endlich brauchen, sind Zukunftsper- Europa werden. Deshalb müssen die Besonderheiten spektiven, denen sie vertrauen können. Schnelle und der Mitgliedstaaten respektiert werden. Den Bauern klare politische Entscheidungen sind unumgänglich. fällt es derzeit schwer, an Europa zu glauben. Sie Diese können nicht so aussehen, wie die Verfechter sehen nur einen wachsenden Eurobürokratismus, der der reinen Marktwirtschaft es wünschen. Sie können ihnen das Leben schwermacht. Hier muß dringend aber auch nicht in noch mehr Planung und noch mehr wieder Manövrierspielraum geschaffen werden, der Quoten bestehen. es den einzelnen Regierungen und Parlamenten mög- lich macht, auf die vielfältigen ökonomischen, ökolo- (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) gischen und sozialen Gegebenheiten in Europa im Auch kann den Landwirten in den benachteiligten Sinne der Betroffenen zu reagieren. Gebieten, auf den Grenzertragsböden, denen mit Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 409

Müller (Schweinfurt) unzureichenden Umsatz- und Einkommenskapazitä- gewichts im Markt über eine Rückführung der Preise ten mit aktiver Preispolitik und auch mit Nutzung wird von der FDP ganz klar abgelehnt. nachwachsender Rohstoffe nicht geholfen werden. (Zuruf von der SPD: Marktwirtschaft!) (Eigen [CDU/CSU]: Immer „nicht geholfen" ! Die Herstellung des Marktgleichgewichts wird Wie helft ihr denn?) kurz- und mittelfristig nur möglich sein über den Sie brauchen ein zweites Einkommen, sei es über Kapazitätsabbau gegen finanzielle Entschädigung für Fremdenverkehr, über die Honorierung ökologischer die Landwirte. Die FDP-Vorschläge hierzu liegen vor, Leistungen oder als Nebenerwerbslandwirte. sind auch in dem Koalitionspapier verankert worden: Wir wollen für die Landwirtschaft insgesamt stärker Stillegung, Herausführung von ganzen Betrieben marktorientierte Preise. Aber wir wollen auch eine durch Vorruhestandsregelung, Teilflächenstillegung soziale Abfederung des Drucks, der dadurch entsteht. durch Grünbracheprogramm, Extensivierung von Wir wollen direkte produktionsneutrale Einkom- Landwirtschaft und Bezahlung der ökologischen Lei- mensübertragungen. Wir sind sogar bereit, meine stung der Landwirtschaft durch entsprechende Damen und Herren, vorübergehend höheren Ausga- Beträge. ben für die Agrarpolitik zuzustimmen, wenn absehbar Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ist, daß durch solche Maßnahmen die sinnlose Ver- ganz kurz etwas zum Milchmarkt sagen. Hier haben geudung von Mitteln für unverkäufliche Überschüsse wir es im Grunde genommen mit einem Ergebnis zu eingedämmt und die Existenz lebensfähiger Betriebe tun, das nicht befriedigen kann. In Vorschlägen dazu wieder sicherer wird. schlägt die Kommission Kürzungen vor. Die Bundes- Wir bieten deshalb unsere Hilfe für eine gemein- regierung will diese Kürzungen national in einem same Lösung der Probleme an, für eine Lösung, die, Jahr durchsetzen mit 8,5 %; 3 % Kürzung, 5,5 % Stille- ohne den Bauern unerfüllbare Versprechungen zu gung gegen Ausgleich. Man muß dazu aber feststel- machen, die familienbäuerliche Struktur unseres Lan- len, daß wir durch die nur in Deutschland durchge- des sichert, weil wir überzeugt sind, daß unser Land führte und schlecht konzipierte Härteneuregelung eine gesunde Landwirtschaft und lebensfähige ländli- zusätzlich noch 3 bis 4 % der Mengen aus dem Markt che Räume ebenso dringend braucht wie eine wettbe- herausnehmen müssen. Die Bundesregierung will das werbsfähige Industrie. durch eine nationale Milchrentenaktion. Für mich ist die Absicht der Bundesregierung unverständlich und Herzlichen Dank. wird auch abgelehnt, die Übertragbarkeit der Milch- (Beifall bei der SPD) quoten bei Kauf oder Pacht durch einen erhöhten Abzug von 20 % auf 80 %, also den Abzug der Milch und Einziehung durch den Staat, wirtschaftlich Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- kaputtzumachen. Notwendig und vernünftig wäre ordnete Bredehorn. nach Ansicht der FDP, das Angebot der Milchrente für den Einzelbetrieb finanziell attraktiver zu machen und die notwendigen Quoten aus dem Markt heraus- Bredehorn (FDP): Frau Präsident! Meine Damen zunehmen. und Herren! Die Preisvorschläge der EG-Kommission Ziel der FDP ist es, noch in dieser Legislaturperiode — und deshalb haben wir hier diese Aktuelle zu mehr Flexibilität auf dem Milchmarkt zurückzufin- Stunde — haben Unruhe, Zorn, Unsicherheit, ja sogar den. Wir müssen deshalb möglichst bald zu handelba- Wut bei den Bauern hervorgerufen. Das merken wir ren Quoten übergehen, damit den Erzeugern wieder an Demonstrationen, die im ganzen Bundesgebiet ein Minimum an unternehmerischem Spielraum ge- stattgefunden haben. Auch gestern gab es eine große, geben wird. ich meine, beeindruckende friedliche Demonstration hier in Bonn mit guten Argumenten für die Belange Meine Damen und Herren, in der EG-Agrarpolitik unserer Bauern. Ich kann nur hoffen, daß bei den haben wir eine schwere Wegstrecke vor uns. Sonn- augenblicklichen Gesprächen der Kommission mit tagsreden über bäuerliche Familienbetriebe und dem Bundeskanzler, mit den Bundesministern davon Jahrhundertvertrag helfen nicht weiter. etwas überkommt. (Zuruf von der SPD: Richtig!) Nun muß man ganz nüchtern feststellen: Die dra- Wir müssen den Mut haben zu sagen, daß nicht jeder, matische Situation im Bereich der Überschüsse — Sie der Bauer bleiben will, Bauer bleiben kann. Wir müs- kennen sie: über 1 Million t Butter, 800 000 t Mager- sen weg von Kontingentierung, Planwirtschaft und milchpulver, 700 000 t Rindfleisch, 16 Millionen t Bürokratie zu mehr sozialer Marktwirtschaft in der Getreide — fordert sicher zum Handeln auf. Agrarpolitik, Wir müssen feststellen: Seit 30 Jahren ist über die (Sehr gut! bei der SPD) Hälfte unserer bäuerlichen Betriebe ausgeschieden. Wir haben seit 1984 das planwirtschaftliche Element damit der Tüchtigere, der Fleißigere, der Intelligen- einer Milchkontingentierung eingeführt. Manche Poli- tere Bauer bleiben kann. tiker wollten uns weismachen, die Quotenregelung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ermögliche aktive Preispolitik. Dies ist leider alles nicht eingetreten. Aber auch das, was die Kommission fordert, nämlich die Rückführung der Preise, kann uns keinen Erfolg bringen. Seit einigen Jahren sind hie die Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr Agrarpreise rückläufig. Die Herstellung des Gleich- Abgeordnete Kreuzeder. 410 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Kreuzeder (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine Da- be! ". Biosprit bedeutet ein Existenzsicherungspro- men und Herren! Herr Minister Kiechle! Es ist schon gramm für die Großbetriebe und die Agrarindustrie, klar, warum die Aktuelle Viertelstunde heute damit sie weiterhin ihre eineinhalb Millionen Tonnen gemacht wird: damit man den Bauern und den Bäue- Stickstoff und ihre 30 000 Tonnen Pestizide jährlich rinnen vorgaukeln kann, daß die Regierung Interesse absetzen können, aber nicht für die durchschnittli- am Erhalt möglichst vieler bäuerlicher Betriebe hat. chen 15-Hektar-Betriebe in Bayern. Dem ist aber nicht so. Die Schuld für die Misere in der (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) Landwirtschaft, für das Bauernsterben, daß jede Stunde einer aufhören muß, liegt ganz woanders. Die Landaufkaufbetriebe sollen installiert werden. Herr liegt bei den Politikern im Lande, die nicht einmal Kiechle, ich komme aus Bayern. Da heißt es in Art. 153 wissen, was Grundgesetz und Verfassung unserer der Verfassung: Die Klein- und Mittelstandsbetriebe Bundesländer heißt. der Landwirtschaft sind in Gesetzgebung und Ver- waltung zu fördern und gegen Überlastung und Auf- (Dr. Probst [CDU/CSU]: Welche Stern- saugung zu schützen. stunde, daß Sie das sagen!) Steuerfreibeträge: Das ist der Hammer, daß sich Herr Kiechle, ich frage mich, auf was Sie einen Eid Herr Kohl, Herr Kiechle und Co., der Bauernverband, abgelegt haben, auf das Grundgesetz oder auf die EG- Heereman rühmen, daß sie Herrn Stoltenberg so weit Beschlüsse, und wem Sie verpflichtet sind, den GATT- gebracht haben, daß die Bauern, wenn sie ihren Verträgen oder den Verfassungen in unseren Bundes- Grund verkaufen müssen, weil sie zu verschuldet ländern. Was die Regierungen in dem Land von den sind, Steuerfreibeträge bekommen. Gesetzen halten, die für Bauern und Bäuerinnen gemacht sind, sieht man an dem Programm zur Erhal- (Eigen [CDU/CSU]: Besser als nichts!) tung „möglichst vieler bäuerlicher Betriebe", wie es In Art. 165 in meinem Bundesland heißt es: Die so schön heißt. Einzelbetriebliches Förderungspro- Überschuldung bäuerlicher Betriebe ist durch die gramm, Milchkontingentierung, die gewesene und Gesetzgebung zu verhindern. Genau das Gegenteil die am 1. April in Kraft getretene, sind in meinen haben Sie zur Pflicht. Augen ebenso wie das Flurbereinigungsgesetz kapi- talistische Zwangswirtschaft in Reinkultur. Sie haben (Beifall bei den GRÜNEN) mit Demokratie überhaupt nichts zu tun. Der Hammer ist der Punkt 4 unter den nationalen (Beifall bei den GRÜNEN) Maßnahmen der Koalitionsvereinbarungen. Da heißt es dann: zugunsten der bäuerlichen Landwirtschaft Und zur Besetzung des Bauernlandes brauchen Sie Abbau gesetzlicher Hemmnisse, die den Struktur- keinen Panzer und auch keinen Hubschrauber. Das wandel behindern; sprich: Bauernsterben. Wir wissen geht über die Schreibtischattentäter in den Ministe- ja inzwischen, was Strukturwandel heißt. rien, Herr Kiechle. Da läuft die kalte Enteignung der Bauern. (Lambinus [SPD]: Bauernlegen!) Zu Flächenstillegungen: Sie sind doch der Bauern- — Bei uns in Bayern heißt das Bauernsterben. minister. Was glauben Sie, wo der Name „Bauer" her- Die Forderungen der GRÜNEN: Bestandsobergren- kommt? Von stillegen oder von bebauen? Aufforsten zen, flächenbezogene Produktion, gestaffelter Preis sollen die Bauern, pro Jahr und Hektar für 1 000 DM. und vor allem, daß Bäuerinnen und Bauern endlich für Wenn die TA-Luft weiterhin so greift wie bisher, kann die Arbeit, die sie leisten — 70-Stunden-Woche ist der Bauer in zehn Jahren nicht einmal mehr einen normal — so entlohnt werden wie die 53 % Beamten Christbaum ernten, weil er keine Chance hat zu über- im Bundestag zum Beispiel. leben. (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der (Beifall bei den GRÜNEN) CDU/CSU: Die Beamten klatschen da!) Aber all die Dinge, die wir GRÜNE von Ihnen wol- Vizepräsident Frau Renger: Herr Kollege, darf ich len, Herr Kiechle, sind für Sie ein Fremdwort, leider. einmal einen Moment anhalten? Ich muß die Steno- Sie handeln weiterhin gegen die Gesetze, die für uns graphen fragen, ob sie mitkommen. Bauern, für die Bäuerinnen und für die Menschen im (Heiterkeit bei allen Fraktionen) Land gemacht sind. Geht es gut? — Ja? — Wunderbar, dann dürfen Sie mit Ich stelle mir einmal vor, was ich in den letzten dem bayerischen Akzent fortfahren. Wochen gehört habe: Wenn ich als bayerischer Bauer (Zuruf vom Stenographentisch: Es wäre für die Volkszählung boykottiere, dann werden mir bis zu uns einfacher, wenn Sie sich bemühten, 10 000 DM Strafe angedroht. hochdeutsch zu sprechen!) (Eigen [CDU/CSU]: Das ist richtig!) Wenn man für die Agrarpolitik, die Sie in den letzten Kreuzeder (GRÜNE): Es tut mir leid, wenn Sie kul- 30 Jahren in dem Land betrieben worden ist, Strafe turellen Nachholbedarf haben. Ich verstehe Ihr Hoch- zahlen müßte, dann wäre der Herr Stoltenberg mit deutsch auch. Da müssen Sie schon bayerisch verste- seinem Haushalt pleite. hen. (Heiterkeit und Beifall bei den GRÜNEN) (Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD — Heiterkeit bei allen Fraktionen) Vorruhestandsregelung und Milchrente sind das Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, Programm: „zur Erhaltung der bäuerlichen Betrie- Ihre Redezeit ist zu Ende. Deutscher Bundestag 1 1. Wahlperiode 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 411

Kreuzeder (GRÜNE): Nur noch ein Satz, dann bin gebrauchen, das in der politischen Diskussion bisher ich fertig. nicht hoffähig war — wir müssen die nationalen Zuständigkeiten in der EG vergrößern. Es ist wider- Vizepräsident Frau Renger: Aber wirklich nur sinnig, meine Damen und meine Herren, wenn bei- einen, ganz schnell. spielsweise Holland fast 300 % seines Bedarfs an Milch und Schweinefleisch produziert, an der Beseiti- Kreuzeder (GRÜNE): Herr Minister, Sie sind für gung dieser Überschüsse aus der Gemeinschaftskasse mich und meine Kollegen schlimmer als ein Hagel- der EG aber mit weniger als 10 % beteiligt ist. Die schlag kurz vor der Ernte. Treten Sie endlich Finanzierung der Überschüsse muß mehr in die natio- zurück! nale Zuständigkeit gelegt werden. Das ist die Voraus- (Beifall bei den GRÜNEN) setzung für den Abbau der Überschüsse und für eine Aufgabe des Verdrängungswettbewerbs um die Pro- duktionspotentiale. Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- ordnete Schartz (Trier). Meiner Meinung nach ist eine vernünftige europäi- sche Agrarpolitik nur durchzuführen, wenn mehr auf (Trier) (CDU/CSU): Frau Präsident! Sehr Schartz regionale und nationale Belange eingegangen wird. geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Kreuzeder, Dazu gehört sicher auch, daß wir zum Schutze der das war Ihre Jungfernrede. Ich will es mir deswegen bäuerlichen Veredelungsbetriebe Bestandsobergren- versagen, darauf zu antworten. Heute ist nicht die zen einführen. Es muß damit aufhören, daß kapital- Stunde der parteipolitischen Polemik; heute ist die kräftige, nahe an den Seehäfen gelegene landwirt- Stunde, in der sich der Deutsche Bundestag als objek- schaftlich-gewerbliche Betriebe die Produktion an tiver Sachwalter der deutschen Bauern gegenüber der sich reißen und die Bauern aus der Veredelungspro- EG darstellen soll. duktion herausdrängen. Hier fordere ich auch die Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch die Bundesregierung zu einem nationalen Alleingang Agrarpolitik der EG sind die deutschen Bauern arm auf. Ich sage ganz deutlich: Betriebe, die beispiels- geworden. Die Vorschläge, die die EG-Kommission weise mehr als 5 000 Schweine in einem Jahr produ- jetzt erarbeitet hat, werden, wenn sie Wirklichkeit zieren, gehören für mich nicht mehr zu der Gruppe der werden, die deutschen Bauern ruinieren. bäuerlichen Familienbetriebe. Die deutschen Bauern sind arm geworden. Die Ein- kommen der deutschen Bauern liegen beispielsweise Ich bedaure zutiefst, daß der einzig vernünftige um mehr als die Hälfte unter den Einkommen der hol- Vorschlag, den die EG-Kommission auf den Tisch ländischen Bauern. Sie liegen unter den Einkommen gelegt hat, nämlich die Einführung von soziostruktu- der Bauern in Dänemark, weit unter den Einkommen rellen Maßnahmen, also die Einführung einer ver- der Bauern in Belgien, unter den Einkommen der Bau- gleichsweise vorgezogenen Altersrente, von der Kom- ern in Luxemburg und in Frankreich. Die deutschen mission nicht beschlossen wurde, sondern daß sie ihn Bauern sind also im Vergleich zu den Bauern in den vor sich hergeschoben hat. anderen Ländern Europas arm geworden. Die Ein- kommen der deutschen Bauern liegen im Vergleich zu Ich fordere die Bundesregierung mit allem Nach- den Einkommen der übrigen Bürger der Bundesrepu- druck auf, dafür zu sorgen, daß eine Vorruhestands- blik Deutschland um rund 40 % niedriger. Teilweise regelung abgabewillige Landwirte in die Lage ver- — das gilt für Kleinbauern in Mittelgebirgslagen — setzt, auch ohne die Weiterbewirtschaftung ihrer liegen ihre Einkommen unter dem Sozialhilfericht- Betriebe finanziell und sozial abgesichert zu sein. Wir satz. müssen die Bauern von dem Zwang befreien, produ- zieren zu müssen, damit sie leben können. Das würde Die deutschen Bauern sind also auch im Vergleich Produktionskapazitäten freisetzen, und es würde zu den übrigen Mitbürgern in der Bundesrepublik dazu dienen, Jungbauern durch eine Strukturverbes- Deutschland arm geworden. Diese Armut der deut- serung zu helfen und auch Kontingentskürzungen zu schen Bauern und die Zukunftsangst sind der Grund vermeiden. Das wäre ein vernünftiger Ansatz für eine für die sozialen Spannungen, für die Wut, die Empö- positive Weiterentwicklung der Agrarpolitik. rung und die Resignation der deutschen Bauern, die sich ja gestern eindrucksvoll auf dem Münsterplatz (Zustimmung bei der CDU/CSU) versammelt und auf ihre Lage aufmerksam gemacht haben. Das, was die EG-Kommission jetzt will, ist eine Poli- Aber ich will auch als Präsident eines Landes- tik des stupiden Preisdrucks. Eine solche Politik bauernverbandes eindeutig sagen: Kleine Gruppen würde sich zuerst gegen die kleinen, gegen die mitt- haben gestern auf dem Münsterplatz die National- leren bäuerlichen Familienbetriebe in den Mittelge- hymne mit Pfiffen begleitet. Ich distanziere mich für birgslagen richten. Sie müßten zuerst aufgeben, mit mich und meine Berufskollegen von dieser Art des der Folge, daß unsere Gesellschaft verfällt und ganze Verhaltens. Landstriche veröden. Dagegen müssen wir energisch (Beifall bei der CDU/CSU) Widerstand leisten. Wir Bauern in der Bundesrepublik Deutschland ste- Ich fordere die Bundesregierung auf, diesen Wider- hen zu unserem Staat. Wir müssen die Politik in unse- stand zu leisten, nicht nur um der Erhaltung der deut- rem Staat und in der EG verbessern. schen Bauern willen, sondern auch um dem Verfas- Die Agrarpolitik der Europäischen Gemeinschaft sungsgebot Rechnung zu tragen, das soziale Gerech- muß reorganisiert werden, und — ich will ein Wort tigkeit in unserem Lande vorschreibt. 412 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Schartz (Trier) Ich bedanke mich. würde für die deutschen Bauern einen gravierenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einkommensverlust durch Preissenkungen bedeu- ten. Aber, meine Damen und Herren, diese berechtigte Das Wort hat der Abge- Vizepräsident Frau Renger: Kritik darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es die ordnete Oostergetelo. Bundesregierung selber war, die die Landwirtschaft durch ihre Initiative 1984 und durch die Umstellung Oostergetelo (SPD): Frau Präsident! Meine sehr des Systems in diese unselige Lage gebracht hat. Wie verehrten Damen und Herren! Ich finde, es ist gut, daß sagte der Bundeskanzler damals, am 22. Mai, wört- wir in dieser ernsten Lage, in der sich die Landwirt- lich? Er fragte: Herr Kollege Vogel, warum haben Sie schaft befindet, hier miteinander diskutieren. Es ist denn den Grenzausgleich nicht abgebaut? Sie hatten auch gut, Herr Schartz, daß wir nach Gemeinsamkei- doch Zeit genug dazu. Sie haben auf diesem Gebiet ten bei Obergrenzen und anderen Dingen suchen, nichts getan. über die früher nicht zu reden war. Aber warum erst Diese Unkenntnis der Dinge bei dem Mann, der die jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist? Richtlinien der Politik bestimmt, hat katastrophale (Zuruf von der SPD: Richtig!) Folgen für die deutsche Landwirtschaft. Dies ist die Die Vorschläge der EG-Kommission zum Abbau Wahrheit! des Währungsausgleichs sind hochexplosiv; sie sind (Beifall bei der SPD — Eigen [CDU/CSU]: Er eigentlich der hochexplosive Kern des diesjährigen hat den Ausgleich gemeint, das ist doch Preispakets. Darüber ist bisher kein Wort gesagt wor- klar!) den. Der Bundeskanzler hat das zur Chefsache Meine Freunde, genauso katastrophal ist das Unge- erklärt. Offenkundig hat er damit aber den Bock zum schick des Bundesfinanzministers, der dann auch Gärtner gemacht; denn es kann doch keinen Zweifel noch sagte, die Belange der Bauern seien berücksich- daran geben: Zum echten Sprengsatz ist der Wäh- tigt worden. Entweder ist das eine Dokumentation sei- rungsausgleich erst unter der Regierung Kohl gewor- nes Nichtbegreifens, oder es ist schlicht eine Falsch- den. aussage. Nein, Freunde, die Franzosen verlangen (Sehr richtig! bei der SPD) weiter den Abbau des Grenzausgleichs. Ist es nun ein 1984 nämlich hat die Bundesregierung ohne Not den Wunder, daß die Bauern auf die Straße gehen? Ich Währungsausgleich mit einem Ruck um 8 % abge- sage: Nein, weil sie dieser Regierung nichts zutrauen, baut, um die unsinnige Milchquotenregelung durch- auch nicht das Zustandebringen des Jahrhundertver- zudrücken. Zum Ausgleich dafür hat sie die unsoziale, trages zur Erhaltung der bäuerlichen Struktur. zeitlich befristete Mehrwertsteuerpauschale erzwun- Wir Sozialdemokraten sind bereit, in dieser harten gen. Situation daran mitzuwirken, daß die aus gesamtge- (Eigen [CDU/CSU]: Das tut richtig weh!) sellschaftlicher Sicht gewünschte vielfältige bäuerli- che Struktur erhalten bleibt. Dies kann aber unserer Schlimmer noch, sie hat durch die von ihr selbst vor- Meinung nach nur geschehen, wenn wir endlich Ernst geschlagene Systemänderung permanente Senkun- machen, endlich anfangen mit dem Umbau der gen der deutschen Agrarpreise provoziert. Dies ist umsatztreibenden und umsatzbezogenen Subventio- auch auf dem Bauerntag klargeworden. Gleichzeitig nen in sozial- und umweltverträgliche Einkommens- wurden den Konkurrenzländern nationale Agrar- hilfen. Dies muß realisiert werden! Was die Bauern preiserhöhungen zwischen 3 und 51 % ermöglicht: brauchen, sind keine Sprüche mehr, Frankreich 13 %, Italien 16 %, Griechenland 50 %. Auch wenn ich die Geldentwertung einrechne, ist das (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr wahr! Sehr für deutsche Bauern so nicht akzeptabel, meine gut!) Freunde! sondern sind Taten jetzt. (Eigen [CDU/CSU]: Richtig!) Danke schön. Wenn diese Regierung dann immer noch von dem Ziel (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten einer aktiven Preispolitik redet, erfüllt das in meinen der GRÜNEN — Dr. Probst [CDU/CSU]: Da Augen den Tatbestand der Vortäuschung falscher kann man nur zustimmen!) Tatsachen. Das ist für uns in den Hartwährungslän- dern nicht mehr möglich! Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Bun- Aber damit keine Legenden hochkommen: Auch desminister für Ernährung, Landwirtschaft und wir halten die Kommissionsvorschläge im Währungs- Forsten, Herr Kiechle. bereich für nicht annehmbar. (Eigen [CDU/CSU]: Aber im Preisbereich?) Kiechle, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- Der Fortbestand des Währungsausgleichs ist bis zur schaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meine sehr ver- Herstellung einer gemeinsamen Wirtschafts- und ehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist gut, daß Währungsunion unverzichtbar. Das System selbst ist der Deutsche Bundestag heute immerhin auch anläß- dabei so fortzuentwickeln, daß die gravierenden lich des Besuchs der Kommission der Europäischen Wettbewerbsverzerrungen abgebaut werden. Dies ist Gemeinschaft hier in Bonn — ein bisher einmaliges notwendig; dies ist jetzt die vornehmste Aufgabe. Ereignis — und im Vorfeld der nun anlaufenden Ver- Politisch auch nicht vertretbar ist die Senkung des handlungen in Brüssel zu der Frage „Haltung der noch vorhandenen positiven Grenzausgleichs. Dies Bundesregierung zu den Agrarpreisbeschlüssen der Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 413

Bundesminister Kiechle EG-Kommission" Stellung bezieht. Ich bin für diese bei Milch für die konsequente Anwendung der Stellungnahme bzw. die Gelegenheit, öffentlich dazu Garantiemengenregelung, bei Getreide für Produk- Haltung zu zeigen, dankbar. tionsstillegungen und Anbau von Defizit- und Alter- nativprodukten, bei Rindfleisch für Prämienzahlun- Es besteht kein Zweifel darüber, daß die deutsche gen direkter Art und bei Raps und Hülsenfrüchten für bei ihrer Landwirtschaft Einkommensentwicklung eine hektarbezogene Beihilfe. Wir sind für eine kon- mit dem Rücken zur Wand steht. Die Gründe sind sequente Qualitätsförderung, allerdings so, daß gute vielfältig. Die Landwirte haben mit der Überschußsi- Qualitäten honoriert und nicht normale Qualitäten mit tuation zu tun, mit dem bei Lebensmitteln fast Preisabschlägen versehen werden. geschlossenen Weltmarkt, mit der Marktsituation ins- gesamt und natürlich auch mit der, seitdem die neue Ein Beispiel für eine mißverstandene und ökono- Kommission in Brüssel ihr Amt angetreten hat, neuen misch sinnlose Qualitätspolitik wäre die endgültige EG-Agrarpolitik. Die jetzt vorliegenden Vorschläge Verringerung des Feuchtigkeitsgehalts bei Getreide bringen die Landwirtschaft zusätzlich in Bedrängnis, von 15 % auf 14 %. Wir werden daher versuchen, das und zwar die Vorschläge sowohl bezüglich der Preise zu verhindern. als auch der Handhabung des Währungsausgleichs. Zu einer konsequenten Stabilitätspolitik gehört Die EG-Kommission verletzt damit zwei grundle- auch die Abwehr von Imitationsprodukten. gende Prinzipien der europäischen Zusammenarbeit, Meine Damen und Herren, wir sind nicht uneinsich- erstens das Prinzip der Solidarität — dieses Prinzip tig. Dazu ist auch die Lage am Agrarmarkt insgesamt, verbietet, Probleme einseitig auf Kosten eines Part- und zwar weltweit, viel zu ernst. Wir sind nicht unein- ners zu lösen — und zweitens das Prinzip, daß einge- sichtig, sagte ich, denn wir wissen, daß auch die deut- gangene Verpflichtungen zu respektieren sind. Ich sche Landwirtschaft ihren Anteil zur Lösung der Pro- meine damit das 1984 ausdrücklich noch einmal bleme leisten muß. Die Bereitschaft dazu hat sie auch bekräftigte Gentlemen's Agreement, wonach ein in der Vergangenheit bewiesen, sonst hätten wir Abbau von Währungsausgleichsbeträgen dann aus- heute nicht einen Grenzausgleich zwischen 1,8 und geschlossen ist, wenn dies zu einer Preissenkung in 2,9 %, sondern von 21 %. Eine Mehrheitsabstimmung nationaler Währung führen würde. über den Grenzausgleich, der jetzt noch vorhanden Die deutschen Bauern haben ohnehin schon ein ist, würde einen tiefgreifenden Konflikt mit der Bun- Monopol für eine ungerechte Behandlung beim desregierung herbeiführen. Sie wird es nicht zulassen, Grenzausgleich, und zwar seit es ihn gibt. daß ein ganzer Berufsstand durch einen solchen bru- talen Preisdruck in eine unerträgliche wirtschaftliche (Eigen [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Randlage gedrückt wird. Als Folge krebsen die Einkommen in der deutschen Die Grundrichtung der EG-Kommission ist deshalb Landwirtschaft seit gut zehn Jahren auf dem Niveau auch nicht richtig, meine Herren von der SPD, Herr von 1975 herum. Abbau des Grenzausgleichs für die Müller und Herr Oostergetelo. Ihr Fraktionsvorsitzen- Bauern bei allen Preisverhandlungen, entschädi- der, Herr Dr. Vogel, hat das so erklärt: Die Bundesre- gungslos gegen gewisse Preiserhöhungen, bedeutete gierung solle dieser richtigen Grundrichtung der EG eben einen Rückgang der Einkommen. Wir haben Kommission folgen. Das ist eine Erklärung, die anläß- wenigstens für die 5 %, die wir 1985 abgebaut haben, lich der Sitzung der SPD-Fraktionsvorsitzenden von über die Mehrwertsteuerlösung eine 5%ige Entschä- Bund und Ländern am Freitag in Mainz so abgegeben digung gewählt. worden ist. Ich habe deshalb Verständnis für Unzufriedenheit (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Hört! und Resignation unter den Bauern. Ich habe wenig Hört!) Verständnis — um nicht zu sagen: kein Verständ- Wir folgen dieser Grundrichtung nicht. Diese Rich- nis — für die jetzt vorliegenden Vorschläge der EG- tung ist eindeutig falsch. Da nützen auch Ihre kräfti- Kommission. Ich habe dies am Montag und Dienstag gen Worte hier nichts, wenn Ihr Fraktionsvorsitzender in Brüssel am Ratstisch in unmißverständlicher Deut- in dieser Form draußen dann vor Zusammensetzun- lichkeit gesagt, ich habe es heute morgen namens der - gen agiert. gesamten Bundesregierung auch der gesamten EG- Kommission — dies war eine gute Gelegenheit, es Jetzt zitiere ich einmal: nicht nur dem Agrarkommissar, sondern der Gesamt- Nein: „Wir erheben den Markt nicht zum Götzen, kommission zu sagen — mit aller Eindringlichkeit dem beliebige Opfer darzubringen sind. Wir ken- erläutert und möchte es hier noch einmal wiederho- nen die Grenzen der Leistungsfähigkeit des len. Marktes. Der Markt ist blind für die sozialen und Die Bundesregierung hält zwar eine Rückführung regionalen Folgen seiner Entscheidungen. der Agrarerzeugung für erforderlich, lehnt aber den (Zuruf von der SPD: Das ist doch völlig Weg des unsozialen Preisdrucks kategorisch ab. richtig!) Dabei ist es für den Landwirt gleichgültig, ob der Preisabbau nun durch direkte Preissenkungen, durch Deshalb bedarf er fester Rahmenbedingungen sogenannte flankierende Maßnahmen oder durch den und auch korrigierender Eingriffe, wann und wo Abbau des Grenzausgleichs erzwungen werden soll. Schäden nicht anders abzuwenden sind." Wir wollen einen anderen Weg gehen. Wir haben Das sind die Worte der SPD. hier schon oft erläutert, wir sind für mengenbegren- (Zurufe von der SPD: Ja! Ja! — Völlig zende und intensitätsreduzierende Maßnahmen, d. h. richtig!) 414 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Bundesminister Kiechle Allerdings hat dies Herr Dr. Vogel — er hat noch hin- Außerdem zieht man sich den Zorn der Drittländer zugefügt, was immer die Logik des Marktes besagt, zu. In den GATT-Verhandlungen würde die EG große das Aus für die Kohle, den Stahl und den Schiffbau Probleme wegen des protektionistischen Kurses wird es mit uns Sozialdemokraten nicht geben — eben bekommen. Die Länder der Dritten Welt wären dabei nur in dem Zusammenhang gesagt, während er bei auf Grund ihrer landwirtschaftlichen Monostrukturen der Landwirtschaft ständig von mehr Markt redet. besonders hart betroffen, (Zuruf von der SPD: Das ist nicht wahr! — Die Einführung einer einheitlichen Abgabe auf ein- Stiegler [SPD]: Was dem einen recht ist, ist geführte und einheimische pflanzliche Öle und Fette dem anderen billig, hat er gesagt!) sowie Fischöl zur menschlichen Verwendung ist aus Soll das also auch für die Bauern gelten, oder soll das mehreren Gründen abzulehnen. So diskriminiert z. B. nun nicht gelten? Meine Damen und Herren, dann die für die Produkte einheitliche Höhe der Abgabe die muß er es auch sagen und nicht sonst von mehr Markt in der Bundesrepublik erzeugten pflanzlichen Öle reden. und Fette. Die mit dem kommenden Wirtschaftsjahr zu erwartende Preissenkung und damit verbundene (Zuruf von der SPD) Minderung der Verarbeitungshilfe für Ölsaaten wird — Nein, das Zitat ist absolut korrekt. die Wettbewerbssituation der einheimischen Öle wei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ob, in ter verschlechtern. Die Ziele, die damit erreicht wer- welchem Ausmaß und zu welchem Zeitpunkt der den sollen, werden total verfehlt. Grenzausgleich abgebaut wird, muß von der Preis- So gut es ist, die Einnahmen zu erhöhen: Diese und Einkommensentwicklung abhängen. Dazu Steuer ist dazu ein untaugliches Mittel. Der Finanz- bedarf es Augenmaßes und Instinkt für das jeweils kollaps kann nur durch eine Reform an Haupt und Machbare. Dieses Augenmaß fehlt bei den Preis- und Gliedern verhindert werden. Währungsvorschlägen der EG-Kommission. Sie wür- den das wirtschaftliche Todesurteil von der Systema- (Beifall bei der SPD) tik her für große Teile der deutschen Landwirtschaft Die Fettsteuer als dauerhafte Einnahmequelle ist bedeuten. Sie können sich darauf verlassen: Wir wer- absurd. den dies zu verhindern wissen. Das nächste Fettnäpfchen steht bereits da: Unbü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — rokratische Vorgehensweise war versprochen wor- Dr. Struck [SPD]: Das war aber dünn!) den, als es um das Abschmelzen des Butterberges ging. 6,5 Milliarden DM erfordert es, rund eine Mil- lion Tonnen Lagerbutter abzugeben. Stolz präsentiert Das Wort hat Frau Vizepräsident Frau Renger: der Landwirtschaftsminister in einer Pressemitteilung Abgeordnete Adler. eine erste Bilanz: 16 Millionen Butterpäckchen, 187 000 Kilo Rindfleisch, 5,5 Millionen Kilo Mehl und anderes wurden von den Wohlfahrtsverbänden (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen Frau Adler bestellt. Grundsätzliche Kritik wurde aber während und Herren! Die Agrarpreispolitik der EG hat bei der Kältehilfe laut: Die Bezugsberechtigten sollten Ihnen von der CDU/CSU den Wunsch ausgelöst, die einen Nachweis erbringen, um ihre Armut auszuwei- Märtyrerrolle des Herrn Landwirtschaftsministers am sen. Besonders in den Dörfern hat es Szenen der Hilfs- Ratstisch von Brüssel hier vorzuführen. So kurz vor losigkeit gegeben. Zur Schau gestellt zu werden hat einer wichtigen Landtagswahl aufzeigen zu wollen, viele Betroffene verletzt. daß nur die anderen die Bösen sind, wird von den Betroffenen aber durchschaut. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Wo gibt es Grund zum positiven Herausstellen der der GRÜNEN) Haltung der Bundesregierung? Nun, die Fettsteuer Über die Art des Vorgehens sollte unbedingt kritisch scheint dem Harmoniebedürfnis nach innen entge- nachgedacht werden. Armut läßt sich nicht durch genzukommen. Gleichzeitig kann man Konfliktbe- Lebensmittelverteilung beheben. Die ökonomischen reitschaft und Härte signalisieren. Ursachen müssen beseitigt werden. Arbeit für alle, Was ist mit dieser Fettsteuer geplant? Ab Juli dieses Erhöhung des Sozialhilfesatzes, Aufstockung des Jahres soll eine Abgabe von 330 ECU — das sind circa Arbeitslosengeldes sind vordringliche Aufgaben. Die '700 DM — pro Tonne auf pflanzliche Öle und Fette gerechte Verteilung ist, wie man sieht, aus dem Lot. erhoben werden. Welchen Zweck soll nun diese Lebensmittel kostenlos abzugeben ist eben noch billi- Steuer erfüllen? Zur Erhöhung der Eigeneinnahme ger, als sie für Milliardenbeträge weiter zu lagern oder soll sie beitragen, heißt es lapidar. Die explodierenden zu vernichten. Mit christlicher Nächstenliebe ummän- Agrarkosten sollen mit den rund zwei Milliarden ECU telt, erhält diese Aktion einen schalen Geschmack. einen Tropfen auf den heißen Stein erhalten. (Beifall bei der SPD) Der zweite Grund ist der Außenschutz, um den nicht Für die Betroffenen in ihrer jetzigen Situation war und wettbewerbsfähigen Produkten der Gemeinschaft ist es eine Hilfe ; dies soll nicht bestritten werden. neue Absatzmärkte zu eröffnen. Ob es hier zu einer Überdecken darf diese karitative Wohlfahrt aber Umschichtung von Margarine zu Butter kommen nicht, daß diese Menschen nicht von Almosen leben wird, steht in Frage, da sich für die Verbraucher, wenn wollen, sondern arbeiten wollen und eine existenzsi- sie sich der Margarine zuwenden, eine entscheidende chernde Rente brauchen. Verteuerung ergeben wird ; Margarine wird pro Kilo 70 Pfennig teurer als bisher werden. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 415

Frau Adler Aber nicht nur Arbeitnehmern geht es so. Die Herr Kollege Oostergetelo, Sie haben wieder ein- soziale Sicherung der Landwirte liegt im argen: Kein mal die 5 % hervorgezaubert. Wir sagen Ihnen dazu Wort über die Vorruhestandsregelung für die Land- ganz etwas anderes. Zum erstenmal hat diese Bundes- wirte bei den Verhandlungen in Brüssel. Das durch- regierung den Abbau des positiven Grenzausgleichs schnittliche vorzeitige Altersruhegeld bei Berufsunfä- mit 5 % Vorsteuerpauschale ausgeglichen. Das war higkeit liegt bei 482 DM monatlich. Die strukturelle die Voraussetzung für diese Methode der Verände- Benachteiligung macht den betroffenen Landwirten rung des Grenzausgleichs. Diese Maßnahme ist keine sehr zu schaffen. Sozialmaßnahme und hat es nie sein sollen. Sie ist ein Überhaupt nicht mit einbezogen in diese Diskussion Ausgleich für Preisverluste, die durch den Abbau des ist die soziale Sicherung der Landfrauen. Zu Recht Grenzausgleichs entstanden sind. fordern sie eine eigenständige Absicherung, denn sie (Müller [Schweinfurt] [SPD]: Aber der Hee arbeiten ja auch eigenständig und eigenverantwort- reman ist da anderer Meinung!) lich auf dem Hof. Im Alter nicht um jede Mark betteln zu müssen ist ihr Wunsch. Dazu, Herr Minister, muß Wir sind sehr froh darüber, daß in den Koalitionsver- Ihnen eine Lösung einfallen. Wir haben in unseren handlungen festgelegt worden ist, daß diese 5 % über Vorschlägen aufgezeigt, daß es Wege aus der verfah- den 1. Januar 1989 hinaus gezahlt werden, bis das renen Situation gibt. Sie haben Sitz und Stimme am Problem möglicherweise gelöst ist. Ratstisch. Sie gestalten in Brüssel die Agrarpolitik. Die Frau Adler, zum erstenmal sprechen Sie hier im deutschen Bauern mit ihren unterschiedlichen Struk- Bundestag. Sie sind uns als Kollegin im Ernährungs- turen haben kein Vertrauen mehr in diese konserva- ausschuß herzlich willkommen. Ich will gerne Ihren tive verfehlte Politik. Greifen Sie unsere angebotenen Aussagen zur Fettsteuer etwas hinzufügen. Die Bun- Alternativen auf. Fettnäpfchen lassen sich auf diese desregierung lehnt wie Sie die Fettsteuer ab. Weise umgehen. (Müller [Schweinfurt] [SPD]: Sie auch, Herr (Beifall bei der SPD) Kollege?) — Bei mir wird es schon ein bißchen kribbelig. Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- ordnete Eigen. (Lachen bei der SPD) — Darüber kann man offen sprechen. Ich würde eine Eigen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr andere Methode für die bessere halten, nämlich die, geehrten Damen und Herren! Wenn die Kollegen beim pflanzlichen 01, beim pflanzlichen Fett etwa wie Müller und Oostergetelo hier der Bundesregierung bei der Marktordnung Getreide zu verfahren. Auch und den Regierungsfraktionen anbieten, daß sie die dies würde natürlich gegenüber den Lieferländern wirklich gravierenden Agrarprobleme mit uns gewisse Schwierigkeiten ergeben. Die Mittel für den gemeinsam lösen wollen, dann nehmen wir das ganz Fiskus wären aber noch höher als bei der Fettsteuer, ernst. und die Probleme wären leichter zu lösen. Aber dieser Weg ist natürlich wegen GATT-Verhandlungen und (Zuruf von der SPD: Dann sollten Sie die all dieser Dinge, die Sie ja kennen, sehr schwer zu Hand annehmen!) gehen. Wir werden alle Ihre Vorschläge zur Agrarpolitik ernst nehmen, mit Ihnen durchdiskutieren, und wir werden Meine Damen und Herren, das, was die EG-Kom- sehen, was dann von uns zu akzeptieren ist. Nur, Herr mission uns, den deutschen Bauern, der deutschen Kollege Müller, mit marktorientierten Preisen sind wir Bundesregierung, angeboten hat, ist nun geradezu alle einverstanden, aber marktorientierte Preise erst eine Katastrophe, ja man kann sagen: Eine Provoka- dann, wenn die Überschüsse tatsächlich abgebaut tion. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Müller, muß ich sind und sich ein vernünftiger Markt in Angebot und sagen: Für diese Vorschläge ist erst einmal die Kom- Nachfrage überhaupt erst entwickeln kann. Dann mission verantwortlich, nur sie allein. Sie könnte auch sind alle für marktorientierte Preise. Alternativvorschläge machen. Ebenso kann sie sagen: Hätten wir mehr Geld, würden wir andere Vorschläge (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- machen; aus Geldmangel — dann muß sie das auch so neten der FDP — Zurufe von der SPD) - sagen -- machen wir aber jene Vorschläge. — Leider Bei den Überschüssen, die wir heute haben, bedeuten haben unsere beiden Kommissare Narjes und Pfeiffer marktorientierte Preise, daß wir den heutigen Preis für dabei eine unrühmliche Rolle gespielt, Getreide minus 30 DM Erstattung für den Export nach Rußland erhalten. Einen solchen Preis können unsere (Müller [Schweinfurt] [SPD]: Nein ist zuwe nig!) Bauern überhaupt nicht vertragen. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- nämlich insofern, als sie sich bei der entscheidenden neten der FDP) Abstimmung über den Grenzausgleich der Stimme enthalten haben. Bei der Milch liegt der marktorientierte Preis heute unter der Rentabilität Kuhschrot, d. h. bei 30 Pfennig. (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Uner Diesen marktorientierten Preis können unsere Milch- hört!) bauern bestimmt nicht ab. Wenn die Vorschläge zum Abbau des Grenzaus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gleichs und der Nichtwiedereinführung in Zukunft bei Abgeordneten der FDP — Müller realisiert werden, dann gibt es für die deutsche Land- [Schweinfurt] [SPD]: Binnenmarkt, Herr Kol- wirtschaft überhaupt keine Chance. Daher müssen lege!) Sie bitte den Zorn unserer Bauern verstehen. Dann 416 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Eigen muß man sich natürlich auch die Frage stellen: Wer ist Deshalb können wir diese Politik auch nicht mittra- denn eigentlich schuld, wenn es hier und da auch ein- gen. mal Entgleisungen gibt? Sehen wir uns insbesondere die Situation in Ame- Jedenfalls bin ich fest davon überzeugt, daß unsere rika an. In einem der fruchtbarsten Gebiete der Welt, Bundesregierung in den Verhandlungen in Brüssel im Gebiet des Maisgürtels mit seinen Schwarzerdebö- sicherstellen wird den, in Minnesota, in Iowa, im Mittelwesten können die Betriebe mit 150, 200, 300 ha nicht mehr überle- (Glocke des Präsidenten) ben, nicht etwa, weil sie eine schlechte Struktur haben — ich bin sofort fertig —, daß diese Beschlüsse der oder weil die Landwirte faul sind, sondern weil die Kommission nicht zum Zuge kommen. Im übrigen gibt Preise unter Gestehungsniveau sind. Wer soll denn da es zur Agrarpolitik der CDU/CSU und der FDP, der überleben? Wollen wir unsere zukünftige Agrarpolitik Koalition überhaupt keine Alternative. auf diese Art und Weise gestalten? (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Wenn die Kommissionsvorschläge realisiert wür- der FDP — Lachen bei der SPD) den, ergäben sich für unsere Landwirtschaft 10 bis 30 % Einkommensrückgang. Das können wir in kei- nem Fall hinnehmen. Das hätte nicht nur zur Folge, Vizepräsident Frau Renger: Jetzt hat das Wort der daß die kleineren Betriebe nicht mehr weiterkämen, Herr Abgeordnete Heinrich. sondern das hätte auch zur Folge, daß unsere Politik nachhaltig konterkariert würde. Auch gut geführte, in einer gesunden Struktur vorhandene Vollerwerbsbe- Heinrich [FDP]: Verehrte Frau Präsidentin! Meine triebe mit guten Betriebsleitern könnten dann nicht sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Situa- mehr über die Runden kommen. Hier wollen wir tion der Bauern ist schlecht. Die Situation der Bauern natürlich ganz energisch dagegenhalten. ist sogar so schlecht, daß sie dafür ihre Höfe verlassen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mehrere Hundert Kilometer weit mit dem Bus unter- wegs sind und zu Großdemonstrationen fahren, um Die Vorstellungen der FDP sind auch von dieser die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen. Stelle aus schon häufig dargestellt worden. Jeder, der die Mentalität der Landwirte kennt, weiß, (Zuruf von der SPD: Trotzdem sind sie was das für eine Überwindung für die Menschen dar- falsch!) stellt. Ich selber weiß, was das heißt; denn ich bin sel- Ich möchte deshalb nur noch einmal ganz kurz skiz- ber Landwirt, und ich habe gestern selber an vorder- zenhaft aufzeigen: Einkommensschwachen Voller- ster Front an der Demonstration teilgenommen. werbsbetrieben müssen wir in der Zukunft über steu- (Sehr gut! bei der SPD) erliche, über soziale Maßnahmen helfen. Wir müssen insbesondere die direkte Einkommensübertragung In dieser harten Zeit müssen wir zusammenstehen. verstärkt zur Wirkung bringen. In dieser Zeit unterstützen wir auch den Agrarminister Kiechle bei seinen schweren Verhandlungen in Brüs- (Zuruf von der SPD: Endlich!) sel, nicht nur, weil wir eine Koalition mit der CDU/- Des weiteren müssen wir selbstverständlich das CSU haben, sondern auch deshalb, weil er eine ver- Instrument der Ausgleichszulagen in benachteiligten nünftige Richtung in der Agrarpolitik einschlägt. Gebieten ausbauen. Denn nur mit dieser Maßnahme (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) können wir sichern, daß unsere Kulturlandschaft auch in Zukunft erhalten bleibt und daß wir eine flächen- Da das Stichwort Brüssel gefallen ist, möchte ich deckende Landwirtschaft haben. auch der Staatsministerin Frau Adam-Schwaetzer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — meinen Dank aussprechen, die sich gerade jetzt sehr Frau Weyel [SPD]: Das erklären Sie mal dem nachdrücklich für die deutsche Landwirtschaft ein- Minister!) setzt und im Zusammenhang mit den vorgeschlage- nen Maßnahmen der Europäischen Kommission Ich möchte zum Abschluß die Sorge loswerden, daß betreffend die Frage des Währungsabbaus ganz deut- dann, wenn wir in Brüssel nicht erfolgreich sind, die lich unsere Position bezogen hat. Begeisterung für Europa in eine Abwendung von Europa umschlägt und wir in der wichtigen Frage der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — europäischen Integration nicht einen einzigen Schritt Oostergetelo [SPD]: Ihr habt doch gar keine vorankommen, sondern zehn Schritte zurückfallen. Position!) Auch ich trete dafür ein, daß das nicht stattfindet. Die Auswirkungen, die die Verwirklichung der Herzlichen Dank. Vorstellungen der Europäischen Kommission auf die deutsche Landwirtschaft hätte, wären katastrophal. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Insbesondere muß man feststellen, daß der Ansatz Zuruf von der CDU/CSU: Das war eine gute falsch ist, über reduzierte Preise — wie auch immer Jungfernrede!) hergestellt — die Überschüsse abzubauen, d. h. Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen. Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat Frau Genau dieser Ansatz ist falsch, und man darf nicht Abgeordnete Flinner. Sie haben zwei Minuten, Frau müde werden, darauf hinzuweisen. Noch nirgends in Kollegin. der Welt sind durch niedrige Preise Überschüsse abgebaut worden. Frau Flinner (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine (Eigen [CDU/CSU]: So ist es!) Damen und Herren! Nach allem, was ich heute gehört Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 417

Frau Flinner habe, habe ich den Eindruck, daß Sie, Herr Minister Von den Subventionen für die Landwirtschaft, die Kiechle, sowie Ihre Kolleginnen und Kollegen über- hier öfters angesprochen wurden, bekommen die haupt nicht wissen, wie es uns kleinen und mittleren Nahrungsmittelindustrie, die Lagerhaltung, Agrarfa- Betrieben geht. briken usw. 70 %; bei uns Bauern kommt so gut wie kein Geld an. (Beifall bei den GRÜNEN) (Zuruf von den GRÜNEN: Richtig!) Das sehe ich an der von Ihnen zu verantwortenden Milchquotenregelung am besten. Bei der ersten Kür- Auf dem Rücken von uns deutschen Bauern zung wurden kleinen und mittleren Betrieben bei uns (Dr. Probst [CDU/CSU]: Jetzt kommen die in der Gegend bei den Quoten bis zu 11 % abgezo- Vorschläge!) gen. fährt die Industrie ihre Gewinne ein. Aber ohne (Eigen [CDU/CSU]: Aber nicht den klei gesunde Landwirtschaft wird die Bundesrepublik nen!) auch als Industriegesellschaft nicht überleben. — Jawohl, das stimmt. (Beifall bei den GRÜNEN) (Eigen [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) Mit dem Schutz der Bauern und somit der Natur Diese Mengen wurden dann an die sogenannten Här- erhalten wir uns und unseren Kindern Arbeit und tefälle Leben. (Eigen [CDU/CSU]: Das ist falsch!) Wir fordern: Beendet den Krieg gegen uns Bauern! — ich kann Ihnen die Beweise bringen — , man kann Der Bauer muß Vorrang haben vor Industrie, Konsum auch sagen: an Großbetriebe oder nach Gutdünken und Freizeitgewerbe. der jeweiligen Landwirtschaftsämter verteilt. (Glocke des Präsidenten) (Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: Das stimmt Noch einen Satz: Nach dem Krieg haben wir deut- gar nicht!) schen Bauern — das gilt gerade für die vielen klein- —Das stimmt! Ich könnte Ihnen genug Beispiele dafür und mittelbäuerlichen Höfe — dafür gesorgt, daß die bringen, Bevölkerung nicht verhungert ist. Das sollten und dür- fen wir nicht vergessen. (Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: Sie sagen die Unwahrheit!) Danke schön. daß Großbauern viele Kühe dazukaufen mußten, um (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord ihre zugeteilten Quoten zu erfüllen. neten der SPD — Dr. Probst [CDU/CSU]: Kein Vorschlag! Nichts! Null! Minus Null!) (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN) Wen wundert es, daß der Milchsee und der Butter- berg durch diese Politik immer größer wurden. 70 % Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr der Milchbetriebe haben weniger als 20 Kühe. Ihre Abgeordnete Kalb. Produktion entspricht 40 % der erzeugten Milch. Nicht sie sind es, die den Milchsee verursacht haben, sondern es sind die restlichen 30 % Großbetriebe, die 60 % der Milch erzeugt haben. Kalb (CDU/CSU) : Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere Landwirtschaft in ihrer (Beifall bei den GRÜNEN) ohnehin schon schwierigen Lage gerät immer mehr in Ganz gezielt und politisch gewollt wurde hier das den Würgegriff der EG-Kommission. Natürlich wird Abschlachten von uns klein- und mittelbäuerlichen der Druck auf die Preise so lange nicht nachlassen, Betrieben vorangetrieben. wie die europäischen Märkte nicht geordnet sind, d. h. die Überschußproduktion nicht zurückgeführt Nun wird erneut gekürzt, und zwar um 8,5 %. Wir ist. Klein- und Mittelbetriebe sind auch hier die Haupt- betroffenen. Für viele meiner Berufskolleginnen und- Es hat aber keinen Sinn, darauf zu hoffen, daß wir -kollegen ist dies das endgültige Aus. Das ist eine unsere in Europa erzeugten Überschüsse irgendwo Umverteilung von unten nach oben wie so vieles auf der Welt noch zu einkömmlichen, zu erträglichen andere in Ihrer Politik. Preisen absetzen können. Es hat auch keinen Sinn, immer mehr Überschüsse anzuhäufen, aufzutürmen, (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord vor sich herzuschieben und dann irgendwo zu ver- neten der SPD) scherbeln und zu verschleudern, ohne sicher sein zu Wir fordern zur Existenzsicherung unserer klein- können, daß sie nicht auf Umwegen eventuell wieder und mittelbäuerlichen Betriebe in der Milchwirt- zurückkommen — und dies alles mit ungeheuren schaft: bis 50 000 kg Milch keine erneuten Abzüge, Kosten, zur Freude derer, die Lagerhäuser zur Verfü- sondern eine Erhöhung des Erzeugerpreises um gung stellen, zur Freude der Exporteure, zu Lasten 10 Pfennige je kg Milch. Zum Abbau der Überschüsse des Steuerzahlers, als vermeintlicher Aufwand für die wären z. B. ein sofortiger Stopp der Futtermittelim- Bauern, bei denen aber immer weniger ankommt. porte — ich denke besonders an Sojaschrot — , eine Wir müssen unsere Landwirtschaftspolitik deshalb Stickstoffabgabe sowie die Förderung des ökologi- neu ausrichten, unserer Landwirtschaft neue Aufga- schen Landbaus nötig. ben zuweisen und neue Märkte mit neuen Produkten (Beifall bei den GRÜNEN) eröffnen. Wir müssen Flächen und nochmals Flächen 418 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Kalb aus der Nahrungsmittelproduktion — nicht aus der von minderer Qualität. Genau das Gegenteil ist der Landwirtschaft — herausnehmen. Fall. (Zuruf von der SPD: Machen Sie es doch! — (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weitere Zurufe von der SPD und den Ich wage die Behauptung: Kein anderes Land in GRÜNEN) Europa produziert nach strengsten Bestimmungen Das kann bedeuten: mehr Flächen für Naturschutzbe- qualitativ so hochwertige und einwandfreie Nah- lange, Produktion von Eiweißfutter auf unseren rungsmittel wie die deutsche Landwirtschaft. Standorten, nachwachsende Rohstoffe und Ener- (Dr. Probst [CDU/CSU]: Sehr richtig!) gien. Das gilt für alle Formen der Erzeugung. Unsere Landwirtschaft ist bereit, neue Wege zu Wir alle treten für den Erhalt der bäuerlichen Land- gehen. All dies braucht aber viel Zeit. Gerade deshalb wirtschaft ein. Die Frage ist: Was verstehen wir dar- wirken sich die Kommissionsvorschläge wie der unter? Wenn ich mir die Vorschläge des Berufsstan- berühmte Mühlstein am Halse aus. Die Verwirkli- des, beispielsweise zur Einführung von Bestands- chung dieser Vorschläge würde es zumindest der obergrenzen, anschaue, dann stelle ich fest, daß hier deutschen Landwirtschaft nicht mehr erlauben, das die Auffassungen schon sehr weit auseinandergehen. rettende Ufer zu erreichen. Ich sage es ganz offen: 120 Kühe und 1 700 Mast- Wir müssen auch darauf achten, daß unsere Bemü- schweine, die es ermöglichen würden, die Milchvieh- hungen zur Rückführung der Nahrungsmittelproduk- haltung auf 13 % und die Mastschweinehaltung auf tion nicht durch Mehrproduktion in anderen EG- 2 % der derzeit viehhaltenden Betriebe zu konzentrie- Ländern unterlaufen werden. Wir brauchen deshalb, ren, entsprechen nicht meiner Auffassung. wie schon angesprochen, meines Erachtens dringend Ich danke Ihnen. die Regionalisierung. Dringend notwendig ist auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Entbürokratisierung. Wir haben doch aus unseren Landwirtschaftsberatern Landwirtschaftsverwalter gemacht. Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- Auch hinsichtlich der nationalen Ebene habe ich ordnete Pfuhl. Sorge, daß Agrarproduktion aus bestimmten Gebie- ten abwandert — das ist vorhin schon angesprochen worden — , inbesondere aus sogenannten benachtei- ligten Gebieten — Gebirgs- und Mittelgebirgsla- Pfuhl (SPD): Frau Präsident! Meine Damen und gen — , und die Landschaft dort nicht mehr offenge- Herren! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, halten, nicht mehr kultiviert werden kann. Zudem wie zerstritten selbst die CDU/CSU in Agrarfragen ist, handelt es sich dabei meist auch um strukturschwache dann wurde er durch die Tatsache geliefert, daß auf Gebiete, deren Landschaft jedoch sehr reizvoll und der einen Seite die Regierung gegen die Fettsteuer ist, deshalb in ihrer Erholungsfunktion nicht nur für die der Karl Eigen aber etwas anderes will. Er steht nicht heimische, sondern auch für die gesamte Bevölkerung allein auf diesem Gebiet. Herr von Heereman, ich unserés dichtbesiedelten Landes von größter Bedeu- glaube, Sie stimmen ihm zu. Wenn es noch eines tung ist. Beweises bedurft hätte, daß Sie Angst haben, daß Ihnen auch in Hessen die Bauern weglaufen, dann hat Die Landwirtschaft erbringt hier — über die Nah- ihn die Terminierung dieser Aktuellen Stunde auf den rungsmittelproduktion hinaus — beachtliche Leistun- heutigen Tag geliefert, die in erster Linie auf die hes- gen zum Wohle der gesamten Bevölkerung. sische Landtagswahl gemünzt war. (Dr. Probst [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Eigen [CDU/CSU]: Weil die Kommission hier Das kann nicht umsonst geschehen. Bund und Länder ist!) haben hier mit der Ausweitung des EG-Bergbauern- Programms, mit Zahlung von Erschwernisausgleich Denn eines ist sicher: Was der Minister hiermit wei- für ökologisch bedeutsame Flächen und ähnlichen nerlicher Stimme vorgetragen hat, ist nicht geeignet, Programmen bereits eine entscheidende Weichenstel- den letzten Wähler für die CDU noch hinter dem Ofen lung vorgenommen. Diese Programme müssen weiter hervorzuholen. Das muß ich Ihnen sagen. ausgebaut werden. Andererseits appelliere ich auch (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten an die Landwirte, diese Möglichkeiten zu nutzen und der GRÜNEN — Dr. Probst [CDU/CSU]: Aufgaben im Bereich des Natur- und Umweltschutzes Beruhigen Sie sich doch! — Frau Roitzsch bewußt zu übernehmen. Dieser Aufgabenbereich [Quickborn] [CDU/CSU]: Albert, so kennt wird zunehmend an Bedeutung gewinnen. In diesem man dich gar nicht!) Zusammenhang müssen auch extensivere Wirt- schaftsformen genannt werden. Meine Damen und Herren, wenn wir die Agrarpoli- tik gemeinsam so anpacken sollen, wie Sie das wollen, Ein wichtiger Punkt wird künftig die Verbraucher- dann muß sie auch konsensfähig sein. Wenn Sie aber aufklärung und Vermarktung sein. Es schmerzt mich, glauben, Sie könnten uns in dieser national wichtigen zu sehen, wie wir durch unser Gerede über Bio- und Frage irgend etwas vorlegen und wir hätten es zu Alternativprodukte — ich bin nicht gegen alternati- schlucken, dann irren Sie sich. Das werden wir nicht ven Landbau — beim Verbraucher den Eindruck mitmachen. Denn hier geht es darum, eine Lösung zu erwecken, als wären die deutschen Nahrungsmittel finden, die von allen getragen werden kann. Wenn Sie Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 419

Pfuhl meinen, Herr Kollege Susset, daß Ihre Meinung die men und uns erzählen, wie wir es besser machen soll- einzig richtige sei, ten, und auf der anderen Seite die Hand aufhalten und von uns noch die Zulage bekommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Susset [CDU/CSU]: Meistens!) (Beifall bei der SPD) dann irren Sie sich gewaltig. Meine Damen und Herren, wir haben in Hessen konsequent gehandelt. Wir haben den Bauern auch Ich stehe hier als Hesse. Das will ich einmal deutlich die Wahrheit gesagt, und zwar frühzeitig, was Sie sagen. Als die Hessische Landesregierung vor sechs nicht getan haben. Jahren ein Konzept für eine Neuorientierung der europäischen Landwirtschaft vorgelegt hat, hat man (Eigen [CDU/CSU]: Nein! Haben wir doch gesagt: Was wollen diese verrückten Hessen? Wir fah- getan!) ren unseren alten Kurs bis zum bitteren Ende. — Nein, das haben Sie nicht getan. — Wir helfen den Bauern direkt und schnell. Dabei geht es doch darum, daß wir versuchen — in Hessen haben wir das getan —, mit neuen Gedanken Ich glaube, die Zeit drängt. Schwierige Probleme und neuen Ideen, vor allem auch mit direkten Zuwei- brauchen kühne Lösungen auf neuen Wegen. Hier sungen an die Landwirte etwas zu tun, was ihnen sollten Sie bereit sein mitzugehen. Geld in die Kasse bringt. Nur noch 20 % unten anbrin- (Beifall bei der SPD) gen, das hilft nicht weiter. Solche Reformvorschläge sind damals in Brüssel Das Wort hat der Abge- und auch hier in Bonn abgelehnt worden. Vizepräsident Frau Renger: ordnete Kroll-Schlüter. (Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) Wir haben versucht, Ihnen neue Gedanken vorzule- Kroll - Schlüter (CDU/CSU): Frau Präsidentin! gen. Wir haben in Hessen ein Programm zur Förde- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die deut- rung der Grünlandbewirtschaftung eingeführt. Was schen Bäuerinnen und Bauern leisten seit Jahren ist geschehen? Mit halber Zustimmung ist es nach einen hervorragenden Beitrag zur fortschreitenden Brüssel gegangen und wurde dort abgelehnt. Es Einigung Europas. Der Dank dafür ist bis heute aus- mußte neu konzipiert werden. Was herausgekommen geblieben. Verdient hätten sie, wenn das möglich ist, war nicht der Stein der Weisen; das gebe ich zu. Es wäre, die Verleihung des deutschen Karlspreises. wäre besser gewesen, wir hätten es in der ursprüngli- Aber sie würden gern auf ehrende Preise verzichten, chen Form angenommen. wenn für ihre Produkte gute Preise gezahlt würden. Wir haben die Ausdehnung der Ausgleichszulagen Der Agrarbericht 1987 zeigt: Direkte Einkommens- im Rahmen des Bergbauernprogramms eingeführt, beihilfen können nicht Grundlage für ein verdientes die Entschuldungsprogramme für existenzgefährdete Einkommen der Bäuerinnen und Bauern sein, zumin- Landwirte, ländliche Regionalprogramme zur Förde- dest nicht die wichtigste Grundlage. Im wesentlichen rung vor allem der Direktvermarktung, zur Schaffung muß das Einkommen über den Preis erzielt werden. von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum und vor allen Dingen das Dorferneuerungsprogramm in einer (Eigen [CDU/CSU]: Jawohl!) Größenordnung von jährlich 50 Millionen DM — in Der Preis ist aber zu niedrig, das Einkommen zu der guten Hoffnung, daß das nicht nur den Landwir- gering, die Lage schlecht. Im allgemeinen Interesse, ten, sondern auch dem Handwerk und dem Handel nicht nur im Interesse der Landwirtschaft selbst, muß auf dem Dorf etwas bringt. Letzteres war ein gutes der Landwirtschaft geholfen werden. Beispiel für eine sinnvolle Synthese zwischen notwen- Bundesregierung und Koalition haben die Land- diger Raumordnungspolitik und regionalbezogener wirtschaft in ihrer schwierigen Situation nicht im Stich Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik. Wie kein anderes gelassen. Wir haben geholfen, wo wir konnten, z. B. Programm hat sich das Dorferneuerungsprogramm als mit dem Dritten Agrarsozialen Ergänzungsgesetz, mit beschäftigungsintensiv erwiesen, auch für Landwirte, einer weiteren Entlastung für kleine und mittlere die im Nebenberuf in der Bauwirtschaft arbeiten. Betriebe beim Sozialversicherungsbeitrag, bei der (Beifall bei der SPD) Zusatzversorgung für frühere Landarbeiter, durch den Bundeszuschuß für die Altershilfe, der von 75 auf 80 % könnte mehr tun, wenn es nicht die 900 Mil- Hessen erhöht wurde. Auch jüngere mitarbeitende Familien- lionen DM im u. a. auch an Länderfinanzausgleich — angehörige ab dem 25. Lebensjahr werden in der Bayern — zahlen müßte. Altershilfe für Landwirte gesichert. Die sozialliberale (Dr. Hauff und Ostergetelo [SPD]: Richtig!) Koalition hatte vorgesehen, den Zuschuß des Bundes zur Unfallversicherung für Landwirte völlig abzu- Sie könnten Ihren Beamten in Bayern noch nicht ein- bauen; er ist wieder auf 400 Millionen DM erhöht wor- mal das Weihnachtsgeld zahlen, wenn sie nicht die den. Dabei ist wichtig, daß es sich hier um eine lang- Zulage von Hessen bekämen. Das muß man einmal fristige Sicherung eines notwendigen Zuschusses ganz deutlich sagen. handelt. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Wenn früher eine Bauersfrau ein Kind bekam, der GRÜNEN — Zurufe von der CSU) erhielt sie kein Mutterschaftsgeld, auch kein ver- — Ich könnte auch andere Herren angucken, die gleichbares Erziehungsgeld. Dies ist heute anders davon profitieren. Ich wundere mich nur, mit welchem geworden. Jetzt erhalten auch Bäuerinnen Erzie- Recht und mit welcher Chuzpe Sie nach Hessen kom- hungsgeld, jetzt bekommen auch Bäuerinnen durch 420 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Kroll-Schlüter die Anrechnung von Erziehungszeiten einen eigenen Wenn ich das zusammenfassen darf: Es geht um die Rentenanspruch. Wurst, (Eigen [CDU/CSU]: Das ist eben Sozialpoli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tik der CDU!) das Maß Bier ist voll, die Milch läuft über, die EG Kommission, die hier in Bonn weilt, möge dies beden- Die Mehrfachbelastung der Bäuerin durch Haus- ken; denn es geht nicht nur um die materielle Seite halt, Hof und Familie wird oftmals durch pflegebe- der Landwirtschaft, es geht auch um die Förderung dürftige Angehörige noch zusätzlich erhöht. Hier wird des europäischen Gedankens in der Landwirtschaft, besonders deutlich wie dringend notwendig ein Pfle- der seit Jahrzehnten in der Landwirtschaft tief ver- gekostenzuschuß und eine Pflegekostenregelung ist. wurzelt war, und es wäre mehr als leichtsinnig, ihn Die Unterstützung der häuslichen Pflege in ländlichen durch solche Beschlüsse zu gefährden. Wir fordern Haushalten gehört zu den wichtigsten sozialpoliti- auch hier eine Wende. schen Vorhaben der Koalition in dieser Legislaturpe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) riode.

4,6 Milliarden DM Zuschuß im agrarsozialen Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und Her- Bereich — das ist beachtlich. Aber es gilt, dieses vor- ren, damit ist die Aktuelle Stunde beendet. bildliche soziale Sicherungssystem weiter auszu- Ich habe Ihnen zwei Mitteilungen zu machen. bauen, aber nicht an Stelle einer vernünftigen Preis- politik, sondern als ergänzende, wenn auch in sich Ausweislich des inzwischen vorliegenden Steno- selbständige Agrarsozialpolitik. grapischen Protokolls hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott heute vormittag in ihrer Rede zum Unsere Agrarpolitik richtet sich auch nicht gegen Gesetzes- und Rechtsbruch aufgerufen. Der sitzungs- die EG, aber unsere Agrarsozialpolitik ist auch nicht leitende Vizepräsident Cronenberg legt Wert auf die dafür gedacht, die Fehler der EG auszugleichen. Klarstellung, daß er der Abgeordneten einen Ord- Agrarsozialpolitik ist auch mehr als ein Reparaturbe- nungsruf erteilt hat. trieb. Bestimmte Beschlüsse auf EG-Ebene können (Zuruf von der CDU/CSU: Ausschließen!) nicht durch agrarsoziale Maßnahmen ausgeglichen werden. Die zweite Mitteilung: Auf Grund der Erklärung des Abgeordneten Schily nach § 31 der Geschäftsord- Ich will nur einmal drei nennen: Die Senkung des nung, betreffend einen heute vormittag angeblich Feuchtigkeitsgrades bei Getreide auf 14 To ist schlich- erfolgten Zuruf „Das ist das Holz, aus dem KZ-Wäch- ter Unsinn. ter geschnitzt worden sind", stelle ich fest: Dieser Zuruf ist weder vom amtierenden Präsidenten noch (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Weyel von den Schriftführern oder von den Stenographen [SPD]: Wer hat das denn gemacht?) gehört worden. Ein Ordnungsruf ist deswegen nicht Dieser Beschluß muß nach oben korrigiert werden. erteilt worden. Über die Ungeheuerlichkeit eines sol- chen Zurufs, sofern er erfolgt wäre, gibt es keinen Die Verletzung des Reinheitsgebots beim Bier ist Zweifel. bedauerlich; sie erfolgt ausgerechnet in einer Zeit, in (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Vielleicht kann der wir uns sehr anstrengen, die Nahrungsmittel noch sich Herr Lenzer dazu äußern!) reiner, noch gesünder zu machen. In der Bundesrepublik Deutschland sind Milchpro- Meine Damen und Herren, ich rufe Zusatzpunkt 4 dukte ohne Milchfette, also Milchprodukte mit Zusatz der Tagesordnung auf: von pflanzlichen Fetten, verboten. Aus gutem Grund Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜ- gilt auch hier ein Reinheitsgebot. Was fällt der EG NEN dazu ein? Auch dieses Reinheitsgebot wird auf gege- Nichtinbetriebnahme des Atomkraftwerks ben; es werden Zusätze erlaubt. Aber Zusätze von Stade pflanzlichen Eiweißen oder Fetten würden eine Ver- - drängung der natürlichen Milch in Höhe von 6 Millio- — Drucksache 11/104 — nen Tonnen vom Markt bedeuten. Katastrophal, kann Beratung des Antrags der Fraktion der SPD man nur sagen! Atomkraftwerk Stade Es gibt auch eine deutsche Regelung sozusagen für — Drucksache 11/130 — die reine Wurst, die Vorschrift, daß keine pflanzlichen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- Eiweiße zugesetzt werden dürfen. Auch hier haben ordnete Dr. Daniels (Regensburg) wir also ein Reinheitsgebot. Was fällt der EG dazu ein? Auch hier sollen pflanzliche Zusätze erlaubt wer- Dr. Daniels (Regensburg) (GRÜNE): Liebe Bürge- den. rinnen und Bürger! In Tschernobyl explodierte ein Wir wehren uns also energisch gegen diese Absich- Atomkraftwerk. Wir alle sind von den Folgen dieses ten, nicht nur im Interesse der Landwirtschaft, son- größten technischen Unfalls in der Geschichte der dern auch im Interesse der Verbraucher. Es geht um Menschheit betroffen. Wir alle wurden und werden eine gesunde Ernährung und um gesunde Nahrungs- von der radioaktiven Strahlung bedroht. Die Regie- güter. rung hat keine ernstzunehmenden Konsequenzen wie die Stillegung aller Atomkraftwerke gezogen. Deswe- (Beifall des Abg. Eigen [CDU/CSU]) gen ist es nicht verwunderlich, daß auch der Wider- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 421

Dr. Daniels (Regensburg) stand vor Ort wächst, so auch am Schrottreaktor enthalten. Es scheint also wieder etwas im Busch zu Stade, wo zur Zeit ein Brennelementwechsel vorge- sein. Durch diese Geheimniskrämerei wird die Verun- nommen wird. sicherung der sogenannten Experten erneut offenge- legt. Dieser Schrottreaktor ist der älteste kommerziell betriebene Druckwasserreaktor, der heute nicht mehr Nun zum SPD-Antrag: Er sieht eine Änderung des genehmigungsfähig wäre und deshalb auch nicht Atomgesetzes vor. Nach § 17 Abs. 5 kann aber die mehr in Betrieb gehen darf. Ein Kernschmelzunfall Betriebsgenehmigung widerrufen werden, wenn dies kann ca. ein bis zwei Stunden nach Ereigniseintritt, wegen einer erheblichen Gefährdung der Allgemein- z. B. bei einer Dampfexplosion, zu massiven Spalt- heit erforderlich ist. Das ist in diesem Fall gegeben. stofffreisetzungen in die Umgebung führen. Die bit- Wir brauchen also nicht länger zu warten. Der Stader tere Wahrheit ist: Eine Katastrophe vom Ausmaß des- Reaktor muß abgeschaltet bleiben, wenn man die sen, was in Tschernobyl geschehen ist, und noch dar- Bevölkerung nicht weiter gefährden will. über hinausgehend kann auch in Stade nicht ausge- Wir werden die dort lebenden Menschen beim schlossen werden. 377 000 Menschen wohnen in Widerstand vor Ort unterstützen und ihnen klarma- einem Umkreis von 20 km. Wird der Kreis etwas grö- chen, daß dieser Bundesregierung die Zukunft der ßer gezogen, geht die Zahl in die Millionen. Hamburg Menschen in unserem Land nichts, aber auch gar liegt in der Hauptwindrichtung. nichts bedeutet. Welche Gründe sprechen nun im einzelnen gegen (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Hauff [SPD]: den Weiterbetrieb? Hier können nur Beispiele Richtig!) erwähnt werden. Die Versprödung des Reaktordruckbehälters durch Neutronenstrahlung ist bei diesem Reaktor Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und Her- besonders weit fortgeschritten. Der Druckkessel neigt ren, ich möchte noch einmal darauf aufmerksam zum Bersten, weil die Schweißnähte einen hohen machen, daß interfraktionell vereinbart worden ist, Kupfergehalt aufweisen. Die Materialeigenschaften über diese beiden Punkte mit Redebeiträgen von dieses Stahls verändern sich sprunghaft. Unterhalb jeweils fünf Minuten zu diskutieren. — Kein Wider- eines gewissen Temperaturbereichs, der sogenannten spruch. Danke schön. Sprödbruchübergangstemperatur, verliert er ziemlich schnell an Zähigkeit. Bei bestimmten Beanspruchun- Das Wort hat Herr Abgeordneter Eylmann. gen, z. B. beim planmäßigen Herunterfahren oder beim Schnellabschalten, bricht der Druckkessel dann im Grenzfall wie Glas. Die Gefahr ist akut, daß der (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Stahl plötzlichen Veränderungen des Drucks oder Eylmann Damen und Herren! Die GRÜNEN wechseln in ihrem Temperaturunterschieden nicht mehr standhält. Falls Kampf gegen die friedliche Nutzung der Kernkraft der Reaktordruckbehälter berstet, werden keine gern das konkrete Angriffsobjekt: Was gestern Alkem Sicherheitssysteme mehr wirksam, weil dieser Unfall in Hanau war, ist heute Preußenelektra in Stade. offiziell nicht vorgesehen ist. (Frau Unruh [GRÜNE]: Das ist doch traurig Die Sicherheitstechnik des Stader Reaktors ist genug!) völlig überholt. Zum Beispiel sind die Frischdampflei- tungen nicht basissicher ausgelegt. Sie können abrei- Hier ist es wegen des Wechsels der Brennstäbe zu ßen. Es existieren keine Schnellschlußarmaturen, wie einer Abschaltung gekommen, und diese Abschal- sie z. B. in Biblis nachgerüstet wurden. Durch den tung spornt die GRÜNEN zu erhöhter Aktivität an. Kühlmittelverlust im Sekundärkreislauf gehen die Sie arbeiten auf allen Ebenen: Um gesetzlich gere- Heizstäbe im Dampferzeuger kaputt. Damit besteht gelte Zuständigkeiten scheren Sie sich nicht im ein unmittelbarer Weg für den radioaktiven Dampf, geringsten. Nachdem ihre im wesentlichen Bleichlau- aus dem Primärkreislauf außerhalb des Containments tenden Anträge im Stader Stadtrat, im Kreistag, im in die Umgebung zu gelangen. - niedersächsischen Landtag abgelehnt worden sind, Eine Nachbesserung ist in Stade aus Platzgründen machen sie heute einen Versuch im Bundestag und nicht möglich. Die hektisch durchgeführten ca. 100 mißbrauchen ihn als Genehmigungsbehörde. Nachrüstungen haben keinen Sicherheitsgewinn (Sehr richtig! bei der CDU/CSU — Dr. Hauff gebracht. Durch sie ist zwar möglicherweise die [SPD]: Wer ist denn zuständig?) Sicherheit einzelner Aggregate erhöht worden, aber es sind zusätzliche Fehlerquellen entstanden, die zu Bei der Begründung ihrer Anträge wenden sie den einem Absinken der Gesamtsicherheit führen. Die Kunstgriff an, schon seit Jahren bekannte und wider- Nachrüstungen sind im übrigen nicht veröffentlicht legte Behauptungen frisch aufzupolieren und als ver- worden und sind damit schlichtweg illegal. meintlich neue Erkenntnisse zu verkaufen. Neuer- dings beruft man sich auf ein sogenanntes Gutachten Nach Tschernobyl überprüft der TÜV im Auftrag der „Gruppe Ökologie" aus Hannover. der Landesbehörde die Sicherheit dieser Anlage. Das (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Was heißt bedeutet, daß man hier den Bock zum Gärtner denn „sogenanntes Gutachten" , Sie „soge gemacht hat, weil nun der TÜV seine eigenen Gutach- nannter Redner" ! ) ten überprüft und keine unabhängigen Wissenschaft- ler beteiligt sind. Die Sicherheitsberichte und andere Dieses Gutachten ist im Auftrage der GRÜNEN Gutachten werden sogar dem Hamburger Senat vor- zusammengestellt worden. Alle in diesem Gutachten 422 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Eylmann angesprochenen Fragen sind den Fachleuten seit Jah- dieses selbstverständlichen Rechtes werden sie ren bekannt. gehindert, obwohl man dort ohne weiteres demon- (Frau Unruh [GRÜNE]: Ja, ist doch traurig! — strieren kann, ohne eine Straße zu blockieren. Zuruf von der SPD: Um so schlimmer!) Wenn ich heute für meine Fraktion den Antrag der GRÜNEN und auch den Antrag der SPD ablehne, Die „Gruppe Ökologie" hat keinerlei neue Überle- gungen oder neue Argumente eingebracht. Alle (Zuruf von der SPD: Das war klar!) Behauptungen sind schon seit Jahren behandelt und so kann ich das in Übereinstimmung mit der sozialde- widerlegt worden. mokratischen Fraktion im Rat der Stadt Stade tun. Meine Damen und Herren, Tatsache ist, daß der (Beifall bei der CDU/CSU) TÜV Norddeutschland in seinem letzten zusammen- fassenden Gutachten zu dem Ergebnis gekommen ist, Sie hat nämlich erst vor zweieinhalb Wochen gemein- die Sicherheit des Reaktordruckbehälters sei bei allen sam mit uns diesen Antrag der GRÜNEN abgelehnt Betriebs- und Störfallsituationen bis weit über die vor- und sich gegen die Stillegung des Stader Kernkraft- gesehene Lebensdauer gewährleistet. Tatsache ist werks gewandt. ferner, daß seit Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Nun fällt es mir im Augenblick allerdings schwer, über 100 Nachrüstungsmaßnahmen durchgeführt festzustellen, welche der unter dem Dachverband wurden, die sich auch auf die Notstromversorgung „SPD" zusammengefaßten Parteien in Sachen Kern- bezogen. kraft die Stimmführerschaft hat. In der Stadt Stade ist man gegen, im Landtag ist man für die Stillegung, und (Zuruf von der SPD: Das zeigt, daß etwas wenn ich Ihre Stellungnahme zusammenfasse, so nicht in Ordnung ist!) endet sie ja mit einem sehr deutlichen und entschie- — Was wollen Sie: Rüsten wir nach, sagen Sie, das denen Jein. Sie mogeln sich wieder einmal um eine beweist die Unsicherheit; rüsten wir nicht nach, sagen Entscheidung herum. Sie auch, es beweist die Unsicherheit. Das ist eine (Zuruf von der SPD: Gucken Sie mal in Ihre völlig absurde Argumentation. Partei!) (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Unruh Die Arbeitnehmer der Industrieregion Stade, deren [GRÜNE]: Abschalten!) Arbeitsplätze weitgehend vom Weiterbetrieb des Sta- Tatsache ist ferner, daß die Reaktorsicherheitskom- der Kernkraftwerks abhängen, können beruhigt sein: mission, die sich mehrfach intensiv mit dem Kern- Wir werden das Stader Kernkraftwerk nicht abschal- kraftwerk in Stade befaßt hat, zu dem Ergebnis ten, solange es sicher ist. gekommen ist, daß es keine sicherheitstechnischen (Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie das Bedenken gebe denn?) (Dr. Hauff [SPD]: Wann?) Wir handeln damit auch in Übereinstimmung mit der und daß die Anlage durchaus ein gleich hohes Niveau ganz eindeutigen Mehrheit der Bevölkerung im Kreis wie neuere Anlagen aufweise. Das hat sie zuletzt 1985 Stade. Die Ergebnisse der letzten Landtags-, Kommu- gemacht. Sie wird sich in diesem Jahre wieder damit nal- und Bundestagswahl gerade in dieser Region beschäftigen. haben gezeigt, daß das Stader Kernkraftwerk dort nach wie vor auf eine breite Akzeptanz stößt. (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Und wieder das gleiche erklären!) Vielen Dank. Das alles hält die GRÜNEN nicht davon ab, das Stader (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kernkraftwerk als Schrottreaktor zu bezeichnen und zu versuchen, mit Horrorgeschichten über eine angeblich jederzeit mögliche Explosion die Bevölke- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- rung in Angst und Schrecken zu versetzen. Mir ordnete Schäfer (Offenburg). scheint, Ihr Ideal ist nicht der mündige Staatsbür- ger, Schäfer (Offenburg) (SPD): Frau Präsidentin! Meine (Frau Unruh [GRÜNE]: Vorsicht!) sehr geehrten Damen und Herren! Mein Herr Vorred- sondern der verängstigte Staatsbürger. ner eben ist ein Musterbeispiel für jene Sorte von Mit- gliedern der CDU-Fraktion, die offenkundig aus den (Beifall bei der CDU/CSU) Vorgängen in Harrisburg, Tschernobyl und um San- Dazu bedienen Sie sich auch der Straße. doz nicht nur nichts gelernt haben, (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Igittigitt!) (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Sondern auch In den letzten Wochen hat sich in Stade zwecks Ein- nichts lernen wollen!) schüchterung der Arbeitnehmerschaft des Kernkraft- sondern noch nicht einmal bereit sind, auch nur ein- werks das ereignet, was Sie friedliche Demonstration mal einen Moment innezuhalten, um zu überprüfen, nennen, was aber in Wahrheit auf eine rechtswidrige ob ihre bisherige Position richtig ist. Ich denke, meine Blockade des Kraftwerks, also auf die Anwendung Damen und Herren von der Koalition, Sie tun sich kei- von Gewalt, hinausgelaufen ist. Die Arbeiter des nen Gefallen, wenn sie Herrn Eylmann und ähnliche Kernkraftwerks haben doch wohl das selbstverständ- Vertreter stets für sich reden lassen und Biedenkopf liche Recht, unter Benutzung der öffentlichen Straßen und andere, die viel nachdenklicher sind, permanent zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen. An der Ausübung verstecken. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 423

Schäfer (Offenburg) Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag heitsstandard, um dann, wie soeben geschehen, per ist der Ort, wo über die Risiken von Großtechnolo- Zwischenruf zu sagen: Stade kann gar nicht so sicher glen debattiert, beraten und entschieden werden sein wie das neueste Kernkraftwerk. Wenn das so ist, muß. So ist es auch richtig, daß wir heute über die dann müssen Sie Stade stillegen. Genau das ist der beiden Anträge befinden. Punkt. Sie kennen die Position der Sozialdemokratischen Herr Abgeordneter, Partei. Unsere Beschlußfassung liegt auf Drucksache Vizepräsident Frau Renger: gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten 11/13 vor — Kernenergieabwicklungsgesetz —, wo Sellin? im einzelnen die rechtlichen Voraussetzungen genannt werden, die notwendig sind, um die Kern- (Offenburg) (SPD): Ja, bitte schön. energie nach einer Übergangszeit bis zum 31. Dezem- Schäfer ber 1996 zu beenden. Sellin (GRÜNE) : Gibt es Ihrer Ansicht nach sichere (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Ach du meine Kernkraftwerke in der Bundesrepublik? So habe ich Güte!) Sie jetzt verstanden. Für die Übergangszeit gilt — und da sollten eigent- (Offenburg) (SPD): Es gibt Kernkraftwerke lich alle zustimmen können, auch Sie, Herr Eylmann, Schäfer in der Bundesrepublik, die nach den geltenden atom- auch Sie, Herr Daniels — , daß alle Kernkraftwerke, rechtlichen Bestimmungen den Sicherheitsanforde- auch die älteren, dem neuesten Stand von Technik rungen entsprechen. Sonst müßten wir heute, sofort und Wissenschaft entsprechen müssen. alle Kernkraftwerke stillegen. (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Also müssen (Beifall bei den GRÜNEN) sie dichtgemacht werden!) Meine Damen und Herren, wir schlagen folgendes Das heißt, auch die älteren Kernkraftwerke wie Stade vor — darin unterscheiden wir uns von den GRÜ- müssen in ihren Sicherheitsanforderungen dem neue- NEN — : Gegenwärtig wird im Kernkraftwerk Stade sten Kernkraftwerk entsprechen. Genau dies, Herr ein Austausch der Brennelemente vorgenommen. Wir Eylmann, ist nicht der Fall. wollen während dieser Zeit, während der das Kern- Sie haben eben mit Vehemenz die Reaktorsicher- kraftwerk abgeschaltet ist, eine Sicherheitsüberprü- heitskommission zitiert. Ich antworte mit der Antwort fung durchführen lassen, übrigens unter Einbezie- der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur hung des gesamten Sachverstandes. Dazu müssen Sicherheit im Kernkraftwerk Stade. Da wird aus- Wissenschaftler mit unterschiedlicher Haltung zur drücklich bestätigt, daß Sicherheitsmängel bei Stade Kernenergienutzung herangezogen werden. Das dür- bestehen. Da wird ausdrücklich darauf hingewiesen, fen keine Gefälligkeitsgutachten sein. Wenn die daß beispielsweise der Dampferzeuger nicht dem Überprüfung ergibt, daß Stade nicht dem neuesten heute gültigen Vorschriftenstand von Wissenschaft Stand von Wissenschaft und Technik entspricht, dann und Technik entspricht. muß nachgerüstet werden; wenn dies nicht möglich ist oder wenn das zu teuer würde, dann muß stillgelegt (Dr. Hauff [SPD]: Sehr wahr!) werden. Da wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß bei- Im übrigen, Herr Kollege Daniels, wissen Sie, daß spielsweise die Kanalbauten nicht voneinander das, was wir vorschlagen, im Vergleich zu dem, was getrennt ausgelegt sind, was für neue Kernkraftwerke Sie vorschlagen — Sie wissen ja schon von vornher- nach dem Kabelbrand in einem amerikanischen Kern- ein, wie das Ergebnis der Überprüfung aussieht —, kraftwerk unverzichtbar notwendig ist. Das heißt: zudem noch den Vorteil hat, daß in diesem Fall die Diese Bundesregierung räumt selbst ein, daß Stade Stillegungsverfügung ohne entsprechende Entschä- nicht dem neuesten Stand von Wissenschaft und digung erfolgen kann, weil der jeweilige Stand von Technik entspricht. Meine Damen und Herren, weil Wissenschaft und Technik nicht eingehalten ist. das so ist, entlarvt sich Ihre permanente Behauptung, Meine Damen und Herren, ich bitte Sie sehr, unse- Sicherheit habe absoluten Vorrang vor Wirtschaftlich- rem Antrag zuzustimmen. Ich bitte auch die Koali- keit, als reines Lippenbekenntnis, tionsfraktionen zuzustimmen. Wenn es Ihnen wirklich (Beifall bei der SPD) ernst ist mit Ihrer in der Art einer tibetanischen Gebetsmühle dauernd vorgetragenen Formel, Sicher- es sei denn, Sie stimmen nachher unserem Antrag heit habe absoluten Vorrang, dann müssen Sie ja zu. sagen zu einer Überprüfung und gegebenenfalls auch Was sagt unser Antrag aus? Unser Antrag sagt aus zu einer Stillegung, wenn sicherheitstechnische Zwei- — ich wiederhole — : Alle Kernkraftwerke müssen in fel nicht ausgeräumt werden können. der Übergangszeit dem neuesten sicherheitstechni- (Beifall bei der SPD) schen Stand entsprechen. Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- (Frau Unruh [GRÜNE]: Das ist doch 'rausge- ordnete Wolfgramm. schmissenes Geld!) Das gilt für alle Kernkraftwerke. Die älteren Kern- Wolfgramm (Göttingen) (FDP): Frau Präsidentin! kraftwerke müssen überprüft werden. Wenn dies Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Diese nicht möglich ist, dann müssen sie stillgelegt werden. Debatte ist außerordentlich wichtig. Das Thema ist Herr Kollege Gerstein, es geht nicht, zu sagen: Alle wichtig, natürlich auch unsere Überlegungen dazu Kernkraftwerke bei uns haben den gleichen Sicher- und schließlich das Resümee, das wir am Ende ziehen 424 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Wolfgramm (Göttingen) werden. Aber am heutigen Tage ist diese Debatte Wolfgramm (Göttingen) (FDP): Ich warte darauf, ganz fehl am Platze. Wir — ich meine jetzt die Politi- Herr Kollege! ker — haben eine solche Debatte am 29. Januar 1987 im Niedersächsischen Landtag geführt. Das Thema ist Sellin (GRÜNE): Ich habe gestern ein Telefonge- dann am 16. Februar 1987 noch einmal im dortigen spräch mit Herrn Professor Kußmaul geführt, Umweltausschuß behandelt worden. Dabei sind die (Zurufe von der CDU/CSU: Fragen!) Fakten sehr sorgfältig auf den Tisch gelegt worden, nämlich das hier noch zwei Überprüfungen angestellt der für die Frage der Sprödigkeit des Materials zuständig ist. Es gibt neue Untersuchungen, die auf werden, deren Ergebnisse noch ausstehen. Ich weiß die Gefahr hinweisen, daß auch in Stade diese Sprö- nicht, wieso wir uns, nachdem Sie von den GRÜNEN digkeit noch wesentlich gefährlicher ist, als es bisher und auch Sie von den Sozialdemokraten genau wis- dargestellt wurde. Wir haben keine exakte Auskunft sen, daß diese Prüfungen noch anstehen, heute mit bekommen; es ist praktisch der Telefonhörer aufge- dieser Frage beschäftigen. legt worden. Ist das die Art, in der die Bundesregie- Nach Tschernobyl ist eine sorgfältige Überprüfung rung oder Vertreter der Reaktorsicherheitskommis- der Sicherheitskonzepte erfolgt. Das hat Stade eben- sion uns informieren? falls eingeschlossen. Ein zusätzlicher Auftrag ist von der niedersächsi- Wolfgramm (Göttingen) (FDP): Herr Kollege, es ist schen Landesregierung an den TÜV Norddeutsch- ein ungewöhnliches Verfahren, daß sich ein Vertreter land ergangen, der diese Fragen im Augenblick sehr des Bundestages auf diese Weise Informationen zu sorgfältig und umfassend prüft. Das Ergebnis wird uns verschaffen versucht, die es noch gar nicht gibt. Denn vorgelegt werden, und dann wird sich der niedersäch- die Untersuchung durch die Reaktorsicherheitskom- sische Landtag und gegebenenfalls auch der Deut- mission hat erst begonnen. Im Mai werden dort vor Ort sche Bundestag mit dieser sehr wichtigen Frage Untersuchungen vorgenommen. Natürlich kann beschäftigen, aber doch nicht jetzt, nicht heute, da uns Ihnen jetzt, in diesem Stadium, niemand irgend etwas das Ergebnis überhaupt nicht vorliegt. Verbindliches sagen, es sei denn, Ihre „Gruppe Öko- logie" weiß natürlich schon im vorhinein, daß die Es gibt einen zusätzlichen Punkt: Die Reaktorsi- ganze Sache nicht in Ordnung ist. cherheitskommission beschäftigt sich unabhängig von dem TÜV Norddeutschland mit der Frage des (Kleinert [Marburg] [GRÜNE]: Das war nicht Sicherheitsstandards des Kernkraftwerks Stade. Auch überzeugend!) diese Prüfung ist nicht abgeschlossen; auch das Wir gehen seriös davon aus, daß die Ergebnisse erst Ergebnis dieser Prüfung wird uns vorgelegt werden. auf dem Tisch liegen müssen, bevor wir sie hier dis- Es wird breit und intensiv diskutiert werden, sinnvol- kutieren können. Sie haben damals auch schon beim lerweise zusammen mit dem Ergebnis des TÜV Nord- Sondergutachten über Fragen des Nordseeschutzes deutschland. hier eine Diskussion begonnen, bevor das Gutachten überhaupt auf dem Tisch lag. Das scheint üblich zu Ich frage wiederum: Wieso behandeln wir dieses sein; das scheinen Sie gerne fortsetzen zu wollen. Thema jetzt? Wieso behandeln wir es heute? Wir haben die Unterlagen überhaupt nicht. Die GRÜNEN (Frau Unruh [GRÜNE]: Das sind die Quel haben allerdings natürlich schon vorweg — wie es len!) sich gehört — in ihrem Antrag erklärt — ich zitiere — : Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie eine Zwi- „Die Informationspraxis ... beweist, wie gefähr- schenfrage des Abgeordneten Schäfer? lich . " usw. Und im übrigen: „Die Regierung verheimlicht Untersuchungsergebnisse und Wolfgramm (Göttingen) (FDP): Bei dem Kollegen andere wissenschaftliche Erkenntnisse. " Schäfer spielt natürlich die alte Verbundenheit eine (Frau Unruh [GRÜNE]: Das stimmt doch!) solche Rolle, daß ich die zweite Zwischenfrage gern zulasse. Das ist eine erhebliche, eine unzumutbare Unterstel- lung. Das ist die Art, in der Sie Politik betreiben. Schäfer (Offenburg) (SPD) : Diese alte Verbunden- (Frau Unruh [GRÜNE]: Nein, wir wissen - heit bringt mich ja auch zu der Zwischenfrage, Herr das!) Kollege! Es gibt ein Gutachten der „Gruppe Ökologie", und Ich wollte Sie fragen, ob Sie unserer Forderung Sie wissen, daß dieses Gutachten der „Gruppe Ökolo- zustimmen, daß alle Kernkraftwerke in der Bundesre- gie " vom niedersächsischen Umweltminister per Auf- publik Deutschland unabhängig von ihrem Alter dem trag in die Überprüfung durch den TÜV Norddeutsch- jeweils neuesten Stand von Wissenschaft und Technik land einbezogen worden ist. Das Ergebnis dieser entsprechen müssen. Überprüfung — auf der Grundlage auch dieser Einbe- (Zuruf von der SPD: Ja, da kann man nur ein ziehung — liegt nicht vor, und ich frage mich, wieso Wort sagen!) Sie da erklären können, daß Untersuchungsergeb- In alter Verbundenheit: ja oder nein? nisse, die es noch gar nicht geben kann, verheimlicht oder gar unterdrückt werden. Wolfgramm (Göttingen) (FDP): Ich kann dazu in alter Verbundenheit gleich das sagen, was unser Par- teitag konkret beschlossen hat. Er hat nämlich Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, beschlossen: Die FDP hält an der friedlichen Nutzung gestatten Sie eine Zwischenfrage? der Kernenergie so lange fest, wie nicht durch andere, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 425

Wolfgramm (Göttingen) 1 umweltfreundlichere Energiegewinnungsformen der byl besteht kein Anlaß für Sofortmaßnahmen in Energiebedarf gedeckt werden kann. deutschen Kernkraftwerken. (Dr. Hauchler [SPD]: Also nein!) Auf der Sonderkonferenz der Internationalen Atom- Genau das ist unser Beschluß, und der beinhaltet energieorganisation in Wien ist dies im letzten Herbst natürlich, daß Kernkraftwerke, die nicht mehr dem auch von der internationalen Fachwelt bestätigt wor- größtmöglichen sicherheitstechnischen Standard ent- den. Das Restrisiko eines deutschen Kernkraftwerks sprechen und bei denen eine wirksame Nachrüstung ist mit dem Restrisiko des Tschernobyl-Reaktors in nicht erfolgen kann, stillzulegen sind. Das bedeutet, keiner Weise vergleichbar. lieber Herr Kollege, daß wir selbstverständlich — wie Ein nationaler Ausstieg aus der Kernenergie im vorhin im Zusammenhang mit den GRÜNEN ausge- Alleingang — auch das ist hier häufig diskutiert wor- führt — die sorgfältigen Prüfungen des TÜV und der den — würde im übrigen auch keinen zusätzlichen Reaktorsicherheitskommission abwarten und dann Sicherheitsgewinn bringen, wenn die Nachbarländer hier darüber debattieren und entscheiden. unverändert an der Kernenergie festhalten. (Abg. Dr. Daniels [Regensburg] [GRÜNE] Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie eine wei- meldet sich zu einer Zwischenfrage) tere Zwischenfrage? Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie eine Zwi- Wolfgramm (Göttingen) (FDP): Nein, lieber Herr schenfrage? Kollege, die Zeit ist abgelaufen. (Zuruf von den GRÜNEN: Ja, Ihre Zeit! Der Grüner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister Wechsel ist überfällig!) für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Nein, Das bedeutet auch, daß wir uns in diesem Hause ich möchte im Zusammenhang sprechen. insgesamt sehr sorgfältig damit befassen müssen, wel- Die Forderung der Sozialdemokraten ist im übrigen che Wertung wir denn in der Frage der Konsequenzen auch widersprüchlich. Wenn die SPD das Restrisiko für die Energiepolitik vornehmen wollen. Die Deut- nicht für verantwortbar hält, dann müßte sie die sofor- hat auf ihrer Tagung sche Physikalische Gesellschaft tige Abschaltung aller Kernkraftwerke verlangen. gestern erklärt, von den weltweit noch vorhandenen Nach Auffassung der Bundesregierung gibt es dazu fossilen Brennstoffen dürfe maximal noch ein Drittel keinen Grund. Aber das ist das Dilemma, in dem wir verbrannt werden, und man müsse vor allem auf Ener- hier stehen: Der politische Wunsch, der hier vorgetra- gieträger wie Kernkraft und Solarenergie setzen, da gen wird, wird getragen von dem politischen Willen bei ihnen keine Substanzen freigesetzt werden, die der sofortigen Abschaltung und wird getragen von ( die Ozonschicht und den Wärmehaushalt der Erde dem Wunsch der Bündnisfähigkeit mit den GRÜNEN, schädigen. Das ist ein Gebiet, über das Sie auch sehr die diese sofortige Abschaltung verlangen. Damit sorgfältig nachdenken sollten. kommt in die Diskussion ein emotionales Element hin- Herzlichen Dank. ein, daß der sachlichen Auseinandersetzung mit die- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ser Frage, auch unserer Verantwortung der Umwelt gegenüber, nicht gerecht wird. Ich verweise auf den Beitrag, den Herr Kollege Wolfgramm gerade eben Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr geleistet hat. Parlamentarische Staatssekretär Grüner. (Dr. Hauff [SPD]: Nicht doch! Was hat das mit Es ist doch mit großem Ernst die Frage zu stellen, dem Airbus zu tun?) wie die Erwärmung der Atmosphäre durch die CO2- Abgabe, wie die Verbrennung fossiler Energieträger mit den Auswirkungen auf das Klima der Erde in die Grüner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister Umweltdiskussion einbezogen wird. für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Her- (Zuruf von den GRÜNEN: Wie ist das mit ren! Die Sozialdemokraten wiederholen in ihrem Radioaktivität in Lebensmitteln?) Antrag die bekannte Forderung nach dem Ausstieg Wenn sich diese Befürchtungen bestätigen sollten, aus der Kernenergie innerhalb einer Frist von zehn (Dr. Daniels [Regensburg] [GRÜNE]: Das ist Jahren. Ich möchte dazu folgende Bemerkungen alles Bluff!) machen: dann kann es durchaus sein, daß weltweit der Ruf Nach wie vor ist die friedliche Nutzung der Kern- nach zusätzlichen Kernkraftwerken laut wird. Das energie verantwortbar. Die Ereignisse in Tscherno- muß man sich in dieser Diskussion, in dieser Ausein- byl, die ja Anlaß für diese Forderung der SPD gegeben andersetzung um die Verantwortbarkeit dieser Ener- haben, sind auf deutsche Kernkraftwerke nicht über- gie und um künftige weiterführende Lösungen ernst- tragbar. haft vor Augen halten. (Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie Ich betone, daß die deutschen kerntechnischen das?) Anlagen einer ständigen strengen Kontrolle durch die Dazu hat die Reaktorsicherheitskommission am Aufsichtsbehörden der Länder unterliegen. 18. Juni 1986 folgendes festgestellt: Die Reaktor-Sicherheitskommission hat den ständi- Wegen des hohen Sicherheitsstandards der deut- gen Auftrag, zu den Möglichkeiten einer Verbesse- schen Kernkraftwerke und der großen konzeptio- rung der Sicherheit der in der Bundesrepublik nellen Unterschiede zum Reaktortyp in Tscherno- Deutschland im Bau und im Betrieb befindlichen 426 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Parl. Staatssekretär Grüner Kernkraftwerke Stellung zu nehmen. Eine komplette Falsch ist, durch fortschreitende Schwächung der Sicherheitsüberprüfung der deutschen Kernkraft- Wanddicke und eine zunehmende Sprödigkeit der werke durch die Reaktor-Sicherheitskommission, Dampferzeugerheizrohre würden Lecks auftreten, Herr Kollege Schäfer, läuft bereits. Es bedarf dazu kei- deren Beherrschbarkeit nicht mit ausreichender nes besonderen Antrages. Sicherheit nachgewiesen werden könnte. Richtig ist demgegenüber: Neben dem jährlich sehr umfangrei- Die Begründung des Antrages der GRÜNEN stellt chen Prüfprogramm gibt es im Kernkraftwerk Stade eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit dar, ein Sonderprüfprogramm. wenigstens die Antragsbegründung zu Stade. Ich möchte das belegen. Ich habe den Eindruck, daß hier (Dr. Daniels [Regensburg] [GRÜNE]: sehr bewußt Angste geschürt werden sollen. Das Warum?) Trommelfeuer, das derzeit von den GRÜNEN und der Dabei wurde regelmäßig der einwandfreie technische SPD in Hamburg, Niedersachsen und im Bund auf das Zustand nachgewiesen. Selbst wenn sich Schäden Kernkraft Stade abgelassen wird, basiert auf einem anbahnen würden, könnten sie rechtzeitig erkannt Papier der „Gruppe Ökologie" Hannover. Es ist im und Gegenmaßnahmen getroffen werden. Auftrag der GRÜNEN im niedersächsischen Landtag Falsch ist, die Notstromversorgung sei nicht zuver- Anfang des Jahres vorgelegt worden und trägt den lässig genug. Richtig ist: Wie andere Teile des Kern- Titel „Gutachten zu den Schwachstellen des Kern- kraftwerks auch ist die Notstromversorgung im Laufe kraftwerks Stade". Den technisch-wissenschaftlichen der Zeit — insbesondere 1985/86 — ertüchtigt und Anforderungen an ein Gutachten im atomrechtlichen erweitert worden. Die Verfügbarkeit der Notstrom- Verfahren hält es in keiner Weise Stand. versorgung im Kernkraftwerk Stade steht heute in (Frau Unruh [GRÜNE]: Das meinen Sie!) keiner Weise derjenigen von neueren Kernkraftwer- ken nach. Der interessierten Offentlichkeit ist bekannt, daß (Dr. Daniels [Regensburg] [GRÜNE]: Flug die Sicherheit des Kernkraftwerks Stade in den letz- zeugabsturz!) ten zehn Jahren immer wieder auf dem Prüfstand gestanden hat und daß immer wieder umfangreiche Der SPD-Antrag wiederholt die Behauptungen aus Nachrüstungen vorgenommen worden sind, durch die Ihrer Kleinen Anfrage vom 11. März dieses Jahres. das Kernkraftwerk an den jeweiligen Stand von Wis- Diese Behauptungen werden auch durch Wiederho- senschaft und Technik herangeführt worden ist. Sie lungen nicht richtiger. können dies in der Antwort des Bundesumweltmini- (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Welche ist denn sters auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD vom falsch?) 11. März 1987 im einzelnen nachlesen. Die zuständige Landesbehörde, der Technische Überwachungsver- Ich will es deshalb mit dem Hinweis auf die Antwort ein, die Reaktorsicherheitskommission und der der Bundesregierung vom 25. März 1987 bewenden zuständige Bundesminister haben sich immer wieder lassen. intensiv mit den Sicherheitsfragen des Kernkraft- (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Welche Behaup werks Stade auseinandergesetzt. Keine Fragen sind tung ist falsch, Herr Grüner!) offengeblieben. — Das haben wir in unserer Antwort vom 25. März (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist nicht 1987 dargelegt. Dort sind diese Behauptungen wider- wahr!) legt worden. (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Nein!) Sie wissen das alles aus den zahlreichen Unterlagen, die die niedersächsische Landesbehörde der Öffent- Lassen Sie mich abschließend nochmals betonen, lichkeit zugänglich gemacht hat. Der Vorwurf der daß es beim Kernkraftwerk Stade keine Sicherheits- Geheimhaltung, der in dem Antrag der GRÜNEN defizite gibt. Die Bundesregierung hat deshalb keinen erhoben wird, ist deshalb eine Irreführung der Öffent- Anlaß, eine Abschaltung des Kernkraftwerks Stade zu lichkeit und soll Angst hervorrufen. verfügen. Ich möchte die Bitte hinzufügen, daß wir die Diskus- - (Frau Vennegerts [GRÜNE]: Das ist die sion um die Sicherheit, die entscheidend eine Diskus- Wahrheit!) sion um das sogenannte „Restrisiko" ist, mit aller Zu den Behauptungen im Antrag der GRÜNEN in Härte in der Sachfrage, aber nicht mit Unterstellungen einzelnen: Falsch ist, daß das Kernkraftwerk Stade und nicht mit einer bewußten Verunsicherung der erhebliche Sicherheitsmängel habe. Vor allem der seit Bevölkerung führen. Angesichts der Tragweite der Jahren erhobene Vorwurf , der Reaktordruckb ehälter Entscheidungen, die wir mit unserem Ja zur Kern- sei nicht sicher, ist nicht haltbar. Richtig ist: Seit 1978 energie — das ist mit Leidenschaft von allen Parteien ist ein beispielhaftes Überprüfungs- und Absiche- dieses Hauses mit Ausnahme der GRÜNEN betrieben rungsprogramm für den Reaktordruckbehälter durch- worden — , zu verantworten haben, halte ich es für geführt worden. Die Reaktor-Sicherheitskommission notwendig, daß wir mit aller Klarheit diese gemein- wie auch die Sachverständigen der verschiedenen same Verantwortung auch als eine gemeinsame ver- hinzugezogenen Gutachterorganisationen kommen stehen, auch in der Lage, in der wir uns heute befin- auf Grund des experimentellen Datenmaterials zu den. Das ist mein Appell, und vor diesem Hintergrund dem Ergebnis, daß für den Reaktordruckbehälter des nimmt die Bundesregierung ihre Verantwortung auch Kernkraftwerks Stade bis über die geplante Betriebs- zur Sicherheit der Kernkraftwerke wahr. zeit hinaus keine Sprödbruchgefahr gegeben ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 427

Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und Her- Enquete-Kommission einzusetzen. Nach den im ren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich November 1986 einmütig gefaßten Beschlüssen des schließe die Aussprache. Parlaments zu den wesentlichen Fragen der Aufklä- Wir kommen zur Abstimmung über die vorliegen- rungsförderung, der Ablehnung der namentlichen den Anträge, zuerst über den Antrag der Fraktion DIE Meldepflicht, der Reihenuntersuchung abgrenzbarer GRÜNEN auf Drucksache 11/104. Wer dem Antrag Bevölkerungsgruppen und der Zwangstestung bei zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. Risikogruppen sahen wir eine politische Basis für — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist einen gemeinsamen Antrag für die Einsetzung einer abgelehnt. Enquete-Kommission. Da es zu diesem Antrag bis heute nicht gekommen ist, verknüpfen wir mit dem Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktion der Antrag auf Überweisung unseres Antrages an den SPD auf Drucksache 11/130 ab. Wer diesem Antrag Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesund- zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. heit die Hoffnung, uns auf ein gemeinsames Vorge- — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist hen im Ausschuß verständigen zu können. abgelehnt. (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich rufe die Zusatztages- Dies heißt für uns aber nicht, daß wir uns den bayeri- ordnungspunkte 5 bis 7 auf. schen Vorstellungen beugen. Beratung des Antrages der Fraktion der SPD Auch die Fraktion der GRÜNEN bestand auf einem Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu eigenen Antrag. Hierzu einige Bemerkungen. ihrer Eindämmung Erstens: Der Titel „Möglichkeiten der Menschen in — Drucksache 11/117 — der Bundesrepublik, mit AIDS zu leben" ist, ehrlich Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ gesagt, eine schicke Formulierung, uns aber entschie- CSU und FDP den zu passiv. Wir sind nicht bereit, einer persönli- Einsetzung einer Enquete-Kommission chen, politischen und medizinischen Hilflosigkeit „AIDS" gegenüber der Krankheit das Wort zu reden. — Drucksache 11/120 (Beifall bei der SPD)

Beratung des Antrags der Fraktion DIE Zweitens: Unser Antrag geht im wesentlichen wei- GRÜNEN ter, weil wir die gesellschaftspolitische Dimension Einsetzung einer Enquete-Kommission der Krankheit stärker gewichten, sowohl in unserem — Drucksache 11/122 — Vorschlag zur Zusammensetzung der Kommission, als auch bei der Beschreibung des Kommissionsauftra- Interfraktionell ist eine gemeinsame Beratung die- ges. Ich gehe jedoch davon aus, da ich Ihre Politik ser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu zehn etwas kenne, daß die Fraktion der GRÜNEN unseren Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich Antrag eigentlich unterstützen kann, da er ihrem in sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- der Intention nicht entgegensteht, eher noch weiter sen. geht und Probleme schärfer hervorhebt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau Ich habe Verständnis dafür, daß bei der Auseinan- Abgeordnete Conrad. dersetzung mit dem gesellschaftlichen Problem AIDS Emotionen mitschwingen. Die Furcht vor Infektionen, Frau Conrad (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr die Furcht, als Infizierter oder Infizierte krank zu wer- verehrten Damen und Herren! Mit der Immunschwä- den, mit der Krankheit zu leben, fordert zutiefst die che AIDS haben wir es mit einer Krankheit zu tun, die Gefühle und die Angstfähigkeit des einzelnen Men- zum einen eine Herausforderung an die Wissenschaft schen. Dies rechtfertigt aber in keiner Weise die darstellt. Aber ebenso ist diese Infektionskrankheit, Hysterie, die leider nicht nur von bestimmten Gazet- unser Umgang mit ihr und ihre Folgen — dies läßt sich ten sondern auch von Politikern geschürt wird. Eine nach einem Beobachtungszeitraum von sechs Jahren- Enquete-Kommission muß dieser Hysterie entgegen- in den USA und vier Jahren in Europa sagen — eine wirken. politische Herausforderung.Sie ist eine Herausforde- (Beifall bei der SPD) rung an unser Verständnis vom Umgang der Men- schen miteinander, von Freiheit und Schutz der Indi- Diese Infektionskrankheit, auf die bis heute weder vidualrechte des einzelnen, von Demokratie und die Immunologie noch die kurative Medizin eine Ant- Rechtstaatlichkeit, von gesellschaftlicher Solidarität wort weiß, demaskiert auf traurige Weise Schwächen und Verständnis der nicht oder noch nicht Infizierten unseres Gesundheitssystems. Wir haben kaum eine mit den Infizierten, aber auch umgekehrt. Infrastruktur für Prävention und psychosoziale Deswegen hatte Hans-Jochen Vogel für die SPD- Betreuung. Sie deckt auch die Schwächen einer rein Fraktion schon im Januar 1987 eine Enquete-Kommis- auf Naturwissenschaft ausgerichteten kurativen sion gefordert. Wir begrüßen es, daß die übrigen Frak- Medizin auf. tionen des Hauses dieser Initiative im Grundsatz In einer Situation, in der es keine Therapie gibt gefolgt sind. — ich wage keine Prognose, wann es eine geben wird, Dem Parlament liegen heute leider drei Anträge weil wir es hier mit den typischen Tücken einer Virus- vor, der CDU/CSU und der FDP, der SPD und der erkrankung zu tun haben —, sind Prävention, Auf- GRÜNEN, gemäß § 56 der Geschäftsordnung eine klärung über Infektionsweg und notwendige persön- 428 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Frau Conrad liche Verhaltensweise die einzige erf olgverspre- Menschen werden heimatlos gemacht. chende Therapie. Das isolierte Vorgehen der Bayern, die Jagd auf (Beifall bei der SPD) Verdächtige führt zur Verdrängung der Ratsu- chenden, vor allem der Risikogruppen. Deshalb wird die Enquete-Kommission auch zu unter- suchen haben, wie diese Maßnahmen effektiviert Jeder muß wissen, daß eine Bekämpfung von AIDS werden können. Sie wird aber auch Vorschläge ohne Mitarbeit der Infizierten erfolglos sein wird. machen müssen, welche psychosozialen Hilfen wir (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Infizierten und Kranken, den Lebensgemeinschaften der GRÜNEN) mit AIDS-kranken Kindern und Erwachsenen anbie- ten. Die Maßnahmen, die in Bayern praktiziert werden, führen zum Gegenteil dessen, was sie zu beabsichti- Wer sich um Aufklärung und Sexualerziehung in gen vorgeben. Sie führen zur Ausweitung der Krank- Jugendeinrichtungen und Schulen bemüht hat, weiß heit, sie lassen Hilfesuchende allein. Wir sind aus um die Tabus, aber auch um die politischen Wider- medizinischen und menschlichen Gründen dage- stände, mit denen zu rechnen ist. Heute wären wir gen. froh, hätten wir auch hier eine Offenheit und Sensibi- lität, eine Infrastruktur und Grundlage, die wir benut- Wir müssen alles tun — das wird Aufgabe der Kom- zen könnten. Statt dessen müssen wir heute Tabus mission sein — , Infektionsopfer nicht zu Schuldigen mühsam abbauen. Wir müssen auf gesellschaftliche zu machen und die eh schon vorhandene latente Dis- Realitäten eingehen, die nichts mit Vorstellungen zu kriminierung der Betroffenengruppen Homosexu- tun haben, die an den Leitbildern wie Monogamie und elle, Prostituierte und Suchtkranke nicht zu fördern. Suchtfreiheit festhalten. Verdrängung und das Predi- Im Gegenteil! Nicht die Prostituierten, die gerne Kon- gen sexueller Abstinenz sind absolut keine Lösungs- dome benutzen würden, die sich schon heute freiwil- ansätze. lig testen lassen, sind das Risiko. Das eigentliche Risiko sind die anonymen Freier. (Beifall bei der SPD — Dr. Bötsch [CDU/- CSU]: Monogamie gleich Monotonie, oder (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wie? GRÜNEN) — Herr Kollege, auch Sie sollten sich etwas nähere Mich erschrecken die Umfrageergebnisse — mehr Informationen über die Krankheit verschaffen. Auch oder weniger wissenschaftlich — , wonach 60 % der von Ihnen wird eine Veränderung Ihrer Verhaltens- Bevölkerung für Pflichtuntersuchungen für alle sind, weise gefordert; aber ich komme noch darauf. 50 % für namentliche Meldepflicht — die Wickert- Institute haben dafür noch höhere Zahlen genannt —, Neben den besonderen Risiken für kranke Men- weil ich weiß, wie verführerisch sie für manche in der schen, die auf Bluttransfusionen oder Blutbestandteile Politik sind. Diese Umfragen spiegeln Angst wider, angewiesen sind, ist der wichtigste Infektionsweg der aber auch, daß hier absolute Fehlinformation vor- sexuelle Verkehr. Das heißt, wir müssen uns bewußt herrscht, die Identifikation aller Ansteckungsquellen sein, sensibel sein, daß wir in den Intimbereich von sei möglich und diese seien abgrenzbar. Nicht nur die Menschen hineinreden. Weil wir alle wissen, daß Infizierten müssen handeln, sondern wir alle — Herr momentan nur die Veränderung von Sexualpraktiken Kollege, das war die Antwort auf Ihren Zwischenruf vor Infektionen schützen kann, daß Infizierte und vorhin. Kranke auch nach ihren sexuellen Praktiken gefragt werden müssen, müßte eigentlich klar sein, daß die Unter Berücksichtigung des zu erwartenden Arbeit von Medizinern und Medizinerinnen und Anstiegs der Zahlen der Infizierten und Kranken frage Selbsthilfegruppen nur auf der Grundlage von Ver- ich: Wollen wir Sonderkindergärten für HIV-infizierte trauen möglich ist. Dem Vertrauensverhältnis, auf das Kinder, HIV-positive Schulklassen, AIDS-Gefäng- es uns ankäme, der Sensibilität, die wir selbst für uns nisse, Berufsverbote für HIV-Positive im öffentlichen reklamieren würden, wenn wir Auskunft über unser Dienst und in der privaten Wirtschaft? Ich denke, nein. Sexualverhalten geben müßten, müssen wir vor Ort Wir wollen ja wohl auch keine Sitzordnung im Deut- die Grundlage erhalten. schen Bundestag nach AIDS-positiv oder den Aus- schluß solcher Kolleginnen und Kollegen. Ich befürchte aber, daß wir die Diskussion über gesundheitspolizeiliche Maßnahmen in der Enquete- (Bohl [CDU/CSU]: Aber was ist mit dem, der Kommission nicht verhindern können. Ich warne aber Tb hat?) ausdrücklich davor, mit der Instrumentalisierung der — Herr Kollege, Ihr Zwischenruf zeigt mir, daß Sie Krankheit AIDS politische Restauration betreiben zu wohl auch zu denjenigen gehören, die über diese wollen. Krankheit wenig informiert sind. Und Fehlinformation (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten heißt nun einmal auch, Hysterie zu schüren, Herr Kol- der GRÜNEN — Bohl [CDU/CSU]: Warum lege. machen Sie diese Tabuisierungen!) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Bohl [CDU/CSU]: Wer anderer Meinung ist, Wir können kein Interesse daran haben, daß gesund- ist bei Ihnen dumm!) heitspolizeiliche Maßnahmen ein Abtauchen der Betroffenen und einen AIDS-Tourismus von Bundes- Weil wir keinen Überwachungsstaat wollen, keine land zu Bundesland zur Folge haben. Die baden-würt- repressive Gesellschaft, kein Miteinander, bei dem tembergische Gesundheitsministerin Schäfer — be- menschliche Kontakte, eben — jetzt hören Sie genau kanntlich nicht meiner Partei zugehörig — sagt: zu — Körperkontakte, mit AIDS besetzt sind — ein Deutscher Bundestag — 11, Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 429

Frau Conrad solcher Kontakt führt nämlich nicht zur Infektion —, mationen in den Medien dienen nicht zur Beruhi- brauchen wir Empfehlungen, die in ihren sozialen, gung. medizinischen, rechtlichen und gesellschaftliche Vor- aussetzungen und Konsequenzen durchdacht sind. Die Bundesregierung, die Landesregierungen, die Verantwortliches Handeln muß den Verführungen Kommunen haben vernünftige Maßnahmen ergriffen, populistischer Entscheidungen nach Meinungsbaro- um die Krankheit einzudämmen. Der von den Koali- meter widerstehen können. tionsparteien verabredete Maßnahmenkatalog ist nach heutigem Erkenntnisstand ein Konzept, das alle (Zustimmung bei der SPD) zur Zeit sinnvollen Reaktionen umfaßt: anonyme Mit der Auswahl der Sachverständigen, die aus Registrierung der Ausbreitung von Infektionen und dem Bereich der Medizin und der Gesellschaftswis- von Krankheitsfällen, die notwendigen Tests, Aufklä- senschaften, der Rechts-, Sexual- und Kommunika- rung — das ist ganz wichtig — und Beratung, admi- tionswissenschaften sowie der Selbsthilfe und der nistrative Maßnahmen zur Unterbrechung der Infek- gesetzlichen Krankenversicherung kommen sollen, tionskette, Verstärkung der Forschung — hier sehe wird den vorgenannten vielfältigen Aspekten der ich auch einen ganz besonders wichtigen Schwer- Immunschwächekrankheit Rechnung getragen. Wir punkt — sowie medizinische Betreuung von Infizier- haben uns bewußt gegen eine Dominanz der Medizin ten und Kranken. Zudem schafft die Bundesregierung entschieden. Das heißt nicht, daß wir deren Arbeit für ein Instrumentarium, das notwendige Aktionen steu- die AIDS-Forschung und Betreuung der Infizierten ern, koordinieren und leiten kann. und Kranken unterschätzen. Uns geht es aber vor allem um Prävention. Das sind politische Entschei- Warum dann noch eine Enquete-Kommission des dungen. Es geht uns darum, die gesellschaftspoliti- Deutschen Bundestages? Die wichtigste Antwort: Bei schen Folgen einzuschätzen und Gefahren begegnen der Bekämpfung von AIDS geht es nicht allein um zu können. Das ist unsere Verantwortung! Zum Seuchenrecht und Seuchenpolitik, sondern es geht Schluß soll ein Wissenschaftler das Wort haben: um ein gesellschaftspolitisches Problem beispielloser Größenordnung. Die Seuche AIDS ist, solange kein Mikroben machen weder Geschichte noch Poli- medizinisches Gegenmittel gefunden wird, eine exi- tik. Aber der Umgang mit Mikroben ist Politik. stentielle Bedrohung und wird von den Menschen so Ich bitte Sie, unserem Antrag auf Überweisung an empfunden. Da muß sich der Deutsche Bundestag ein- den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und fach zu Wort melden, und zwar nicht nur in einer Gesundheit zuzustimmen. Debatte oder einer Aktuellen Stunde, wo die Gefahr Vielen Dank. besteht, daß eher Grobschlächtiges, Streitiges oder Schemenhaftes dazu gesagt wird, sondern in einem (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Rahmen, in dem wir uns intensiv und mit dem notwen- digen wissenschaftlichen Rat dieser Bedrohung Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat Frau annehmen können, die den Menschen tagtäglich Abgeordnete Verhülsdonk. beschäftigt. Was wäre das für ein Parlament, das diese Diskussion allein den Experten überlassen würde!

Frau Verhülsdonk (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Die modernen Menschen haben es verlernt, mit sol- Meine Damen und Herren! Die Weltseuche AIDS geht chen Plagen umzugehen. Wir müssen es wohl wieder uns alle an. Die rasche Ausbreitung der unheimlichen lernen. Und wir müssen in diesem Zusammenhang Krankheit kann niemand gleichgültig lassen. Längst vor allem wieder lernen, daß Tugenden wie Liebe, sind die Grenzen der ursprünglichen Risikogruppen, Treue, Verantwortung nicht bloße Worthülsen sind, der Homosexuellen und Fixer, übersprungen. (Beifall bei der CDU/CSU) Nach heutigem Kenntnisstand kann man den Men- schen sagen, AIDS ist eine Krankheit, die man sich sondern daß sie im wahrsten Sinne des Wortes lebens- zwar holen, die aber nicht einfach jeden treffen kann. erhaltend sein können. Früheren Seuchen wie der Pest war man dagegen aus- geliefert. Andererseits wissen wir: Unfallopfer und Hier liegen im übrigen die tieferen Gründe, die Bluter haben sich durch Bluttransfusionen infiziert, mich veranlaßt haben, bereits am 4. März 1987 im bevor diese als Infektionsquelle bekannt waren. Namen der Frauenvereinigung der CDU eine Schätzungsweise 10 Millionen Menschen tragen in Enquete-Kommission anzuregen. Es ist gut, daß die- etwa 100 Staaten — so die Weltgesundheitsorganisa- ser Vorschlag bei den anderen Fraktionen des Hauses tion — das Virus in sich, darunter vermutlich zwischen Zustimmung gefunden hat. 100 000 und 200 000 Bewohner unseres Landes. Die Nach unserem Parlamentsverständnis ist es zweifel- Schätzungen ändern sich. Aber man kann heute los eine Aufgabe des Deutschen Bundestages, Vor- bereits absehen, daß diese Krankheit unsere Gesell- schläge zu erarbeiten, wie der Schutz der Gesunden schaft auf beunruhigende Weise verändert. vor Ansteckung gewährleistet und wie den Kranken Die Menschen fangen an, sich distanzierter zu und Infizierten geholfen werden kann, vor allem, wie begegnen. Die Frage, ob der andere den Tod bringen sie vor Diskriminierung und Ausgrenzung geschützt kann, steht mittlerweile auch im alltäglichen Leben werden können. Dies alles hat gesundheitliche, zwischen Menschen, die sich ansonsten unbefangen soziale, erhebliche finanzielle, rechtliche und verfas- begegnet sind. Wenn man Berichte aus Arzt- und sungspolitische Auswirkungen, die in dem notwendi- Zahnarztpraxen hört, dann versteht man, was ich gen Abstand zur tagespolitischen Diskussion erarbei- damit meine. Angst geht um, und die täglichen Infor- tet werden müssen. 430 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Frau Verhülsdonk Ich betone noch einen besonderen wichtigen Sie, meine Damen und Herren von den Koalitions- Aspekt. Wissenschaftler berichten uns, daß die Seu- fraktionen, fordern als wichtigste Aufgabe, daß die che AIDS besonders weit in Staaten ausgebreitet ist Enquete-Kommission Vorschläge zu erarbeiten habe, wie z. B. in Afrika, die über eine nur ungenügende wie der Schutz der Gesunden vor Ansteckung ge- Infrastruktur zur Eindämmung der Seuche verfügen. währleistet und die Weiterverbreitung der Krankheit Ich meine, unsere Aufgabe ist es auch, nach Möglich- wirksam verhindert werden kann. Da haben die Vor- keiten zu suchen, wie wir diesen Ländern z. B. im Rah- stellungen der bayerischen CSU wohl auch Eingang men der Entwicklungshilfe wirksam helfen können. in die Köpfe der Koalitionsfraktionen gefunden. Man Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, daß es die braucht nicht viel Phantasie, um sich Ihren abgestuf- Enquete-Kommission für sinnvoll erachtet, ein ten Maßnahmenkatalog vorstellen zu können. Das ist „AIDS-Programm Afrika" zu entwickeln, das weitge- tatsächlich Ihre erste und wichtigste Forderung: der hend von Europa getragen wird. Wir erwiesen damit Schutz der Gesunden vor den Kranken. Von einer der Welt einen Dienst. christlichen Partei könnte man allerdings erwarten, Diese Kommission hat nicht die Aufgabe, tagesak- daß sie zuallererst an die in Angst lebenden HIV-posi- tuell zu entscheiden. Darum sollte sie auch nicht unter tiven Menschen und an die AIDS-Kranken denkt, erst Zeitdruck arbeiten. Sie soll ihre Arbeit als eine Her- dann an die Gesunden. ausforderung begreifen, die Auswirkungen durchaus (Zustimmung bei den GRÜNEN — Bohl auch auf das Leben folgender Generationen haben [CDU/CSU]: Man muß an beide denken!) kann. Wir alle sind doch von AIDS betroffen. Der Deutsche Bundestag hat die Pflicht, sich in die- ser Frage zu engagieren. Die CDU/CSU-Bundestags- Der SPD-Antrag hat neben mannigfachen For- fraktion stimmt deshalb der Überweisung der Anträge schungsprojekten gar zum Ziel, zu prüfen, wie Ände- an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und rungen menschlicher Verhaltensweisen im Intimbe- Gesundheit zu. Sie verbindet damit die Hoffnung, daß reich gefördert werden können. Also, das geht doch die Ausschüsse sofort nach der Osterpause beraten wirklich zu weit! Wer als eine politische Aufgabe der und entscheiden, damit die Kommission vom Deut- Kommission festlegt, bis in die Betten der bundes- schen Bundestag bald eingesetzt werden kann. deutschen Bevölkerung zu forschen, läßt die Grund- prinzipien der von Ihnen so oft beschworenen Freiheit Vor allem, Frau Kollegin Conrad, kommt es darauf in unserem Staat nun wirklich außer acht. an, daß in dieser wichtigen Frage alle Fraktionen zusammenarbeiten und sich schnell über die zuzuzie- (Zuruf von der SPD: Also, Frau Kollegin, das henden Sachverständigen und die sachlichen Prioritä- hätte ich Ihnen nicht zugetraut!) ten einigen. — Das ist aber meine wirkliche Auffassung. AIDS ist wahrlich kein Thema, das sich zur partei- Was wirklich helfen kann, ist eine Diskussion mit politischen Profilierung eignet. den Betroffenen, mit Menschen, die diese Betroffenen (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD betreuen, und mit Menschen, die die gesellschaftli- sowie bei der Abg. Frau Unruh [GRÜNEI) chen Auswirkungen von administrativen Maßnahmen gegen AIDS und die Verbreitung von AIDS beurteilen können. Das führt in der Diskussion weiter, wenn Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat Frau darüber gesprochen wird, warum Ärzte in der Öffent- Abgeordnete Wilms-Kegel. lichkeit erklären müssen, daß ihnen Personal zur aus- reichenden Pflege von AIDS-Kranken fehlt, daß ihnen keine Psychologen und Ärzte zur fachübergreifenden Betreuung zur Verfügung stehen. Es muß darüber dis- Frau Wilms-Kegel (GRÜNE): Frau Präsidentin! kutiert werden, daß Ärzte unter dem unhaltbaren Vor- Meine Damen und Herren! Zu dem Tagesordnungs- wand, das Personal schützen zu müssen, ihre eigenen punkt „Einsetzung einer Enquete-Kommission" legen Vorurteile spielen lassen und ohne Einwilligung an die GRÜNEN heute einen eigenen Antrag vor, der offensichtlich nicht an AIDS erkrankten Menschen in ganz eindeutig eine völlig andere Zielsetzung hat als ihrer Klinik AIDS-Tests vornehmen lassen. Das ist ille- die Anträge der Koalitionsfraktionen und der SPD. In - gal, das ist Körperverletzung. einer Zeit, in der die Immunschwächekrankheit AIDS zur Weltseuche Nummer eins erklärt wird und Boule- Mit solcher Problematik muß sich die Enquete vardblätter ihre Auflagenzahlen in voyeuristischer Kommission befassen. Sie muß sich mit den alltägli- und pornographischer Weise mit Schlagzeilen über chen Diskriminierungen und Verdächtigungen, die AIDS-Horrorgeschichten zu steigern versuchen, kann schon jetzt festzustellen sind, auseinandersetzen und es nicht Aufgabe des Deutschen Bundestages sein, die mit den Betroffenen über Schutzmaßnahmen für HIV Diskussion aus der Gesellschaft in ein Wissenschaft- Positive und AIDS-Kranke beraten. Die Kommission lergremium zu tragen. Gremienpolitik ersetzt nicht muß mit den Betroffenen gesellschaftliche Perspekti- eine gute Regierungspolitik. Wir dürfen AIDS nicht ven für den kommenden Umgang mit AIDS entwik- aus der gesellschaftlichen Diskussion in Spezialisten- keln. Sie muß die Voraussetzung schaffen, daß auch gruppen verweisen. Nach unseren Vorstellungen ist die Menschen, die sich in Zukunft infizieren oder es weder dienlich, wenn Wissenschaftler in dieser krank werden — und das können weder Präventions- Kommission über die Verteilung von Forschungspro- maßnahmen, die von Wissenschaftlern ausgearbeitet jekten diskutieren, noch wenn Technokraten general- wurden, noch Zwangsmaßnahmen verhindern — , in stabsmäßige Seuchenbekämpfungspläne entwik- unserer Gesellschaft leben können, ohne schuldig keln. gesprochen und diskriminiert zu werden. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 431

Frau Wilms-Kegel Unsere Vorstellung ist nicht, daß ein erlauchtes eine Gemeinsamkeit bei dieser wichtigen Frage her- Gremium für die Menschen in der Bundesrepublik stellen und uns nicht ausgrenzen. Die Frage nach der — seien sie nun direkt oder indirekt von AIDS betrof- besten Arbeitsmethode darf keinen politischen Streit fen — die Probleme lösen kann. Die Kommission sollte auslösen. Dazu ist die Sache viel zu ernst. Wir wollen die gesellschaftliche Problematik aufarbeiten, die bei der Lösung der Probleme ernsthaft mitarbeiten. durch die HIV-Infektion in der Bundesrepublik bereits Wir wollen Einfluß nehmen, daß keine Ausgrenzung entstanden ist, und dieses Ergebnis dann in die Dis- und Diffamierung Betroffener oder Gefährdeter statt- kussion des Bundestages einbringen. Es geht wirklich findet. Menschenwürde gilt auch für diesen Personen- darum, daß die Menschen in der Bundesrepublik die kreis. Des weiteren wollen wir dazu beitragen, daß Möglichkeit haben müssen, mit AIDS zu leben. Und Verfahren gefunden werden, mit denen permanent, das ist doppeldeutig gemeint: Die Menschen müssen also über die Zeit der Enquete-Kommission hinaus, in der Bundesrepublik mit AIDS leben können, die Informationen schnell ans Parlament weitergeleitet HIV-positiv oder an AIDS erkrankt sind, und die Men- und Erkenntnisse möglichst schnell umgesetzt wer- schen, die davon nicht direkt betroffen sind, müssen den können. die Möglichkeit erhalten, mit HIV-Positiven und AIDS-Kranken zusammenzuleben. Wir sind nicht sehr glücklich darüber, daß es uns nicht gelingt, uns auf einen gemeinsamen Antrag zu Die so oft geforderte Veränderung im sexuellen einigen. Dieser Versuch wurde gemacht, leider ver- Verhalten darf nicht dazu führen, daß die sexuelle geblich. Der Streit geht um Selbstverständliches. Alle Selbstbestimmung und das Recht der Menschen auf in der Diskussion befindlichen Maßnahmen müssen in Sexualität beschnitten werden, darf nicht zu einem dieser Kommission selbstverständlich geprüft wer- Rückschritt in den Muff der 50er Jahre führen. den, selbstverständlich auch die umstrittene Pflicht (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) zur namentlichen Meldung, auch wenn wir in der FDP Das Erkennen, ob eine Veränderung des sexuellen gegen eine solche Pflicht sind. Man kann diese Selbst- Verhaltens notwendig ist, was ja auch eine Belästi- verständlichkeit im Antrag niederschreiben. Nötig ist gung darstellen kann, muß jedem selbst überlassen es nicht. Ich frage mich also, warum die CSU auf der bleiben. In den Schlafzimmern der bundesdeutschen Formulierung einer solchen Selbstverständlichkeit Bevölkerung hat die Enquete-Kommission wirklich besteht, vor allem dann, wenn ein gemeinsamer nichts zu suchen. Antrag daran scheitert. (Beifall bei den GRÜNEN — Eigen [CDU/- (Beifall der Abg. Frau Conrad [SPD]) CSU]: Da geht sie auch nicht hin!) Brauchen Sie denn diesen Antrag als Alibi für politi- sches Handeln? Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- ordnete Eimer (Fürth). Ich frage aber auch umgekehrt: Warum sind die Sozialdemokraten gegen die Aufnahme der Prüfung Eimer (Fürth) (FDP): Frau Präsident! Meine Damen der Meldepflicht in den Antrag? Sind nicht alle Fach- und Herren! Ich gebe zu, daß wir nicht mit großer leute gegen diese Meldepflicht? Kann nicht unser Begeisterung in diese Enquete-Kommission gehen. Es Standpunkt aus einer solchen Befragung nur gestärkt könnte der Eindruck erweckt werden, nachdem die hervorgehen? Wissenschaft kein Gegenmittel findet, maßen wir Politiker uns die Kompetenz von Wissenschaftlern an. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Wir müssen deutlich machen, daß diese Enquete- SPD — Zustimmung bei Abgeordneten der Kommission keine Konkurrenz zu der Vielzahl der CDU/CSU) AIDS-Kommissionen bilden kann und darf. Die Untersuchung aller Maßnahmen sollte selbst- Ich will heute hier auch keinen Vortrag über AIDS verständlich sein. Das kann in der Formulierung des und über unsere Vorstellungen halten. Denn erstens Antrags zum Ausdruck kommen, muß es allerdings ist darüber oft genug gesprochen worden, und zwei- nicht. Ist es dieser Punkt wert, auf eine Demonstration tens wollen wir, wenn wir eine Kommission einsetzen, des gemeinsamen Willens dieses Hauses zu verzich- diese erst einmal arbeiten lassen. Die Folgerungen ten? wollen wir erst dann ziehen. (Gilges [SPD]: Nein!) Was die Politik zur Bekämpfung beitragen kann, ist, genügend finanzielle Mittel bereitzustellen — die Ich fürchte, wir verzögern durch die Unfähigkeit, Voraussetzung, um die Forschung zu verbessern —, uns auf einen gemeinsamen Text zu einigen, das das ist die bessere Koordination der verschiedenen ganze Verfahren unnötig. Aktivitäten. Wir müssen aufklären bzw. Aufklärung unterstützen. Wir müssen fundierte Vorschläge von (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Leider ja!) Wissenschaft und Forschung schnell umsetzen. Wir müssen die Anträge jetzt erst einmal überweisen (Frau Unruh [GRÜNE]: Und mit den Betrof- und können erst dann abstimmen. f enen! ) Das alles wäre auch in normaler Ausschußarbeit gut (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Leider ja! möglich gewesen, auch unter Hinzuziehung von — Gilges [SPD]: Sagen Sie das mal der Betroffenen. Regierungskoalition!) Wenn wir dennoch dieser Enquete-Kommission — Sie haben nicht ganz zugehört, daß ich auch in Ihre zustimmen, dann aus folgenden Gründen. Wir wollen Richtung gesprochen habe. Denn eine Prüfung ist 432 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Eimer (Fürth) 1 doch selbstverständlich. Dem hätten Sie doch auch b) Beratung des Antrags DIE GRÜNEN Einset zustimmen können. zung eines Untersuchungsausschusses (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) — Drucksache 11/84 — Ich möchte in diesem Zusammenhang vor allem Interfraktionell sind eine gemeinsame Beratung der meinem Kollegen Hoffacker für die Bemühungen, zu Punkte 16a und 16b und je ein Beitrag bis zu einer einheitlichen Lösung zu kommen, danken. 10 Minuten in der verbundenen Debatte für jede (Beifall der Abg. Frau Schmidt [Nürnberg] Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe keinen [SPD]) Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir werden, auch wenn es heute zu einer kontrover- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr sen Abstimmung kommt, nicht nachlassen, für einen Abgeordnete Gansel. breiten Konsens des politischen Vorgehens zu wer- ben. Auch wenn es jetzt nicht zu einer Einigung auf einen gemeinsamen Antrag kommt, werden wir uns an die Vereinbarungen halten, die wir gemeinsam Gansel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und getroffen haben. Das betrifft z. B. die fachliche Beset- Herren! Dem amerikanischen Kongreß hat US zung der Enquete-Kommission. Das kann ich für die Außenminister Shultz vor wenigen Tagen einen FDP zusagen. Herr Dr. Hoffacker bemüht sich in Bericht vorgelegt, in dem u. a. die Bundesrepublik gleicher Weise. Deutschland beschuldigt wird, mit Lieferungen an Südafrika das Rüstungsembargo der Vereinten Natio- Lassen Sie micht noch ein Wort zum Antrag der nen durchbrochen zu haben. Spätestens seit der GRÜNEN sagen. Er ist überschrieben mit „Möglich- Arbeit des 4. Untersuchungsausschusses der vergan- keiten der Menschen in der Bundesrepublik, mit AIDS genen Legislaturperiode kann niemand mehr abstrei- zu leben". Ich frage mich: wirklich nur „mit AIDS zu ten, daß solche Beschuldigungen nicht aus der Luft leben"? Sind nicht die Bestrebungen, die von allen gegriffen sind. anderen Fraktionen beschrieben worden sind, genauso wichtig, nämlich diese Seuche zu bekämp- Zur gleichen Zeit hat sich der staatliche Rundfunk fen? Aber auch wenn uns der Antrag der GRÜNEN des Apartheidsystems damit gebrüstet, daß Südafrika nicht ganz gut ausformuliert und nicht gut durchdacht weltweit zu einem führenden Waffenexporteur erscheint, gilt auch hier das Angebot für eine vernünf- geworden ist. Dieser zweifelhafte Erfolg beruht nicht tige Zusammenarbeit. Ich will hoffen, daß dieses Ver- auf der eigenen Leistung der südafrikanischen fahren besser endet, als es heute beginnt. Rüstungsindustrie; sie hat für ihre Produkte Konstruk- tionsunterlagen im Ausland erwerben müssen. Seit Vielen Dank. der Arbeit des 4. Untersuchungsausschusses der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 10. Legislaturperiode ist bekannt, daß jener Vertrag zwischen Firmen aus der Bundesrepublik und der südafrikanischen Rüstungsagentur, der irgendwann vor Einsetzung des Untersuchungsausschusses im Vizepräsident Frau Renger: Weitere Wortmeldun- Bundeskanzleramt dem Reißwolf anheimgegeben gen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. wurde, nicht nur die Lieferung von Unterlagen zum Alle Antragsteller haben beantragt, ihre Anträge Inhalt hatte, sondern auch die Gewährung von Lizen- zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „AIDS" zen und finanzielle Vergütungen für den Export von zur — federführenden — Beratung an den Ausschuß U-Booten in Drittländer. für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit zu über- Der Untersuchungsausschuß hat wichtige Erkennt- weisen. — Das geschieht sicherlich einvernehmlich. nisse gebracht, aber die wichtigsten Fragen sind noch Es ist noch Einvernehmen mit den Fraktionen dar- offen geblieben: Warum hat sich die Bundesregierung über zu erzielen, an welche weiteren Ausschüsse die auf ein Geschäft eingelassen, das legal nicht abgewik- Anträge zur Mitberatung überwiesen werden sollen. kelt werden konnte, Darüber wird noch Beschluß gefaßt werden müssen. - (Eylmann [CDU/CSU] und Beckmann [FDP]: Haben Sie schon Vorschläge, meine Damen und Her- Das stimmt doch gar nicht!) ren? (Bohl [CDU/CSU]: An keine weiteren Aus- warum ist sie untätig geblieben? Wenn Sie sagen, es schüsse! Es war vereinbart, die Anträge nur stimmt gar nicht, dann frage ich Sie, aus welchem an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen Grunde es dann im Bundeskanzleramt fast ein Dut- und Gesundheit zu überweisen!) zend Spitzengespräche zwischen der administrativen Leitung und den Rüstungsunternehmen gegeben — Hervorragend, dann hat sich das schon erledigt. hat. Vielen Dank. Dann ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen. (Beckmann [FDP]: Die haben so lange gebraucht, bis sie das kapiert haben!) Warum ist die Bundesregierung untätig geblieben, als Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: es darum ging, die rechtswidrigen Lieferungen zu ver- hindern, warum hat sie den Sachverhalt bis heute a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD noch nicht aufgeklärt und ihn mit einer Bestrafung der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Verantwortlichen abgeschlossen, wo liegen die — Drucksache 11/50 — Motive für ihr Verhalten, und was hat sie eigentlich Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 433

Gansel daraus gelernt? Weil diese Fragen, insbesondere die buße von 50 000 DM aus den Vermögen der Firmen zu letzten, nicht beantwortet sind, beenden, die Rechtswidrigkeit des Rüstungsgeschäf- tes jedenfalls voraussetzte. Wir haben deshalb keinen (Bohl [CDU/CSU]: Alles beantwortet!) Anlaß, an dem in der vergangenen Legislaturperiode ist es wichtig, daß sich der neue Untersuchungsaus- beschlossenen Untersuchungsauftrag irgendwelche schuß auch damit beschäftigt, was die Bundesregie- Abstriche vorzunehmen. rung seit Einsetzung des letzten Untersuchungsaus- schusses getan oder unterlassen hat. Die Fraktion der GRÜNEN hat eine Erhöhung der Zahl der Ausschußmitglieder von 11 auf 13 vorge- (Beckmann [FDP]: Die letzte Frage wird nie schlagen. Wir sehen dafür keine Notwendigkeit und beantwortet werden!) lehnen den Vorschlag ab. Wir lehnen auch die Art und Dem 4. Untersuchungsausschuß stand für Akten Weise ab, in der die GRÜNEN den Untersuchungsauf- und Zeugenvernehmung nur wenig Zeit zur Verfü- trag neu formuliert haben. Allen Fragen, die die GRÜ- gung. Die Vernehmung der wichtigsten Zeugen NEN neu gestellt haben, sind wir schon in der vergan- mußte vorzeitig abgebrochen werden, andere ließen genen Legislaturperiode nachgegangen. Nichts an sich in der Hoffnung entschuldigen, die Arbeit des diesen Fragen ist neu. Neu ist auch nicht, daß diese Ausschusses käme nach Ablauf der Legislaturperiode Fragen noch nicht beantwortet sind. Weil wir Antwor- zum Erliegen. Der Ausschuß war nicht in der Lage, ten haben wollen, beantragen wir schließlich die Neu- einen Bericht zu erarbeiten und zu beschließen, den einsetzung des Ausschusses. Wir wollen aber durch man auf einvernehmlicher Basis auch in dieser Legis- die zum Teil willkürliche Aufzählung der Fragen in laturperiode zum Gegenstand einer Bundestagsde- dem Antrag der GRÜNEN nicht den Eindruck entste- batte hätte machen können. hen lassen, daß sich aus dem von uns formulierten (Bohl [CDU/CSU]: Sie sind ein Langwei- Untersuchungsauftrag eine Reihe weiterer Fragen ler!) nicht noch ergeben könnte. Der Antrag der GRÜNEN ist deshalb nicht eine Erweiterung des Untersu- Daß die Regierungsparteien Beweisbeschlüsse, chungsauftrages; er könnte vielmehr als eine Einen- Aktenvorlagen und Zeugenvernehmungen durch den gung ausgelegt werden. Deshalb lehnen wir ihn ab. Gebrauch ihrer Ausschußmehrheit über Wochen ver- zögerten, ist mit dem herannahenden Wahltag zu Wir wollen die Arbeit des Untersuchungsausschus- erklären, allerdings nicht zu entschuldigen gewesen. ses bald beginnen, um zügig zu einem Ende zu kom- Sie haben sich bemüht, die von der SPD betriebenen men. Wir wollen nach Möglichkeit verhindern, daß Untersuchungen des Ausschusses als Wahlkampfak- die Vernehmungen aus der letzten Legislaturperiode tivitäten herabzusetzen. Durch all diese Manöver wiederholt werden müssen. Wenn sich der Ausschuß haben die Regierungsparteien allerdings auch darauf einvernehmlich darauf einigt, bestehen nach unserer hingewirkt, daß nach dem Wahltag die Fortführung Auffassung keine rechtlichen Bedenken, die Proto- der Ausschußuntersuchungen so notwendig ist wie in kolle des 4. Untersuchungsausschusses der vergan- den Tagen vor der Wahl. genen Legislaturperiode als Beweismittel für die Ar- (Beifall bei der SPD) beit des 1. Untersuchungsausschusses der neuen Le- gislaturperiode heranzuziehen. Aus diesen Gründen hat sich die SPD-Fraktion für die Erneuerung des Untersuchungsauftrages entschie- (Beckmann [FDP]: Sehr zweifelhaft!) den. Auch aus diesem Grunde beantragen wir, den Unter- Die Regierungsparteien üben Kritik daran, daß wir suchungsauftrag unverändert zu erneuern. in unserem heutigen Antrag die Lieferung von U-Boot-Unterlagen an Südafrika als rechtswidrig Wir schlagen vor, daß wir im neuen Untersuchungs- bezeichnen. Wir haben das auch in unserem Antrag ausschuß mit der Vernehmung der Firmenvertreter vom 9. Dezember 1986 getan, und die Regierungspar- beginnen. Sollten sich daraus keine Erkenntnisse teien haben darauf mit Enthaltsamkeit reagiert. Wür- ergeben, die zu weiteren oder neuen Zeugenverneh- den wir das Rüstungsgeschäft als rechtmäßig klassifi- mungen führen, könnte der Untersuchungsausschuß zieren, so könnten wir uns allerdings den Untersu- seine Arbeit so beenden, daß wir unmittelbar nach der chungsausschuß sparen. Sommerpause den Abschlußbericht dem Bundestag (Sehr richtig! bei der SPD) zur Debatte vorlegen könnten. und uns sogleich in die politische Auseinanderset- Das allerdings erfordern der parlamentarische Stil zung darüber begeben, ob ausgerechnet mit Süd- und die Selbstachtung der Opposition, die sich nicht afrika globalstrategische Interessen des freien mit Verzögerungstaktik und anderen Tricks ausspie- Westens vertreten werden müssen, wie man immer len läßt. Das erfordert die Brisanz dieser politischen wieder aus der Stahlhelm-Fraktion der Regierungs- Affäre, bei der es nicht nur um die Einhaltung von parteien hört, und ob es sich ausgerechnet die Bun- Gesetzen geht, sondern auch um elementare außen- desrepublik Deutschland leisten kann, die völker- politische Interessen der Bundesrepublik. Daß die rechtlichen Bindungswirkungen des UN-Rüstungs- Bundesrepublik in der UNO als verläßlicher Partner embargos gegen Südafrika zu unterlaufen. gilt, daß sie völkerrechtliche Verpflichtungen einhält, Im übrigen müssen die Regierungsparteien zur daß sie in ihrem Verhältnis zum unmenschlichen Kenntnis nehmen, daß die Oberfinanzdirektion Kiel in Apartheidregime in Südafrika kein doppeltes Spiel jenem Zwischenbericht, der mit dem skandalösen treibt, daß sie die Exportinteressen unserer Wirtschaft Vorschlag endete, die ganze Affäre mit einer Geld- nicht durch zwielichtige Rüstungsgeschäfte gefährdet, 434 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Gansel liegt im Interesse unserer Republik. Und wo die Regie- wicklung von Regierungsmitgliedern in dieses rung versagt, ist das Parlament gefordert. Rüstungsgeschäft aufzudecken. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) In groben Umrissen wurde bekannt, daß die Mi- nister über das illegale Rüstungsgeschäft frühzeitig informiert waren. Obwohl mit einer atemberauben- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat Frau den Offenheit und Unverfrorenheit ein rechtswidriges Abgeordnete Eid. Ansinnen an die Minister von den Rüstungsfirmen herangetragen wurde, haben diese nichts unternom- men, um diesen Geschäften Einhalt zu gebieten. Frau Eid (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Der am 10. Dezember im In groben Umrissen wurde auch bekannt, welche letzten Jahr vom Deutschen Bundestag eingesetzte Rolle das Bundeskanzleramt spielte. Ausgehend von U-Boot-Untersuchungsausschuß konnte seinen den positiven Erfahrungen der Firma IKL mit dem Untersuchungsauftrag nicht erfüllen, auch wenn die illegalen Zustandekommen des U-Boot-Blaupausen CDU/CSU dies in ihrem Abschlußbericht behauptet. Exports nach Israel unter der sozialliberalen Koalition Anzulasten ist dies den Regierungsfraktionen. Sie Anfang der 70er Jahre suchten die Firmen IKL und haben durch ihre Störmanöver von vornherein die HDW nach der staatlichen Stelle, die ihnen eine ähn- Arbeit im Ausschuß behindert. Mit einer Sabotage fin- liche Blankovollmacht für das Südafrikageschäft aus- gen sie an, stellen würde. Sie haben sie in dem damaligen Staats- sekretär des Bundeskanzleramts, Professor Schrek- (Beckmann [FDP]: Na, na!) kenberger, gefunden. als sie nach kurzer Sitzungsdauer den Abbruch der konstituierenden Sitzung erzwangen, um die Die Rolle des Bundeskanzlers selbst ist mehr als Beschlußfassung der Beweisanträge zu verhindern. zwielichtig. Bei seiner Vernehmung wurde deutlich, daß er an einem wichtigen Punkt möglicherweise die (Beckmann [FDP]: Wir wollten Weihnachten Unwahrheit gesagt hat. Die Frage, ob Schreckenber- feiern!) ger und Teltschik den Bundeskanzler im Oktober Dies war ein unglaublicher und in der Geschichte des 1984 darüber unterrichtet haben, daß HDW und IKL Bundestages einmaliger Vorgang, Herr Kollege Beck- mit den Südafrikanern bereits einen Vertrag unter mann. Vorbehalt abgeschlossen hatten, verneinte der Bun- deskanzler mehrfach und entschieden. Teltschik hin- (Beckmann [FDP]: Nein, das weise ich gegen hat dies bei seiner Vernehmung ausdrücklich zurück!) bejaht. Wenn Teltschik den Bundeskanzler tatsäch- Sie haben Ihre Mehrheit dazu mißbraucht, durchzu- lich unterrichtet hat, dann ist das illegale Geschäft drücken, daß erst vier Wochen nach Einsetzung des direkt vor den Augen des Bundeskanzlers abgewik- Ausschusses die Beweisanträge verabschiedet wer- kelt worden, ohne daß dieser irgend etwas unternom- den konnten. Der Ausschußvorsitzende konnte so erst men hätte, es zu stoppen. viel zu spät Schritte zur Herbeiziehung der Akten unternehmen. In vielen Sitzungen war der Ausschuß In groben Umrissen wurde deutlich, daß das Verhal- damit beschäftigt, die Sachlage auf der Ebene der ten der Minister Bangemann, Stoltenberg und Gen- Ministerialbürokratie zu durchleuchten. Der CDU/- scher sowie des Bundeskanzlers einer möglichen CSU-und-FDP-Mehrheit gelang es auf diese Weise, Strafvereitelung im Amt ziemlich nahekommt. die Vernehmung der Firmenseite total zu blockieren. (Wüppesahl [GRÜNE]: Hört! Hört!) Die Vernehmung der politisch Verantwortlichen, der Mit welcher anderen Vokabel läßt sich der Tatbestand Bundesminister Stoltenberg, Bangemann und Gen- beschreiben, daß gleich in drei Ministerien entschei- scher sowie des Bundeskanzlers, wurde deshalb zur dende Aktenstücke der Oberfinanzdirektion nicht zur Farce. Sie haben auf schändliche Art und Weise ihre Verfügung gestellt wurden? Machtmittel mißbraucht. (Frau Unruh [GRÜNE]: Unglaublich!) (Beckmann (FDP): Na, na! Das glauben Sie doch selber nicht!) - Das Memo tauchte bei Ihnen erst wieder auf, als der Anstatt die Regierung zu kontrollieren, haben Sie Untersuchungsausschuß eingerichtet wurde. Im alles daran gesetzt, mitzuhelfen, die Wahrheit zu ver- Kanzleramt wurden die entscheidenden Aktenstücke tuschen und die politisch Verantwortlichen zu entla- gleich dem Reißwolf anheimgegeben. sten. Nach Meinung des Bundeskanzlers sind die aus- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein unge- wärtigen Beziehungen der Bundesrepublik durch das heuerlicher Vorwurf!) illegale U-Boot-Geschäft eines bundeseigenen Unter- nehmens nicht gestört worden. Ich behaupte, Sie stö- Damit diese Strategie nicht aufgeht, stellen die GRÜ- ren mit dieser Politik die auswärtigen Beziehungen NEN den Antrag auf Wiedereinsetzung des U-Boot und gefährden das friedliche Zusammenleben der Untersuchungsausschusses. Völker. (Beckmann [FDP]: Sie machen sich lächer- (Beifall bei den GRÜNEN) lich!) Vor wenigen Tagen hat das Magazin „Wiener" bis- Wegen dieser Störmanöver der Regierungsparteien her noch unbekannte Unterlagen von IKL veröffent- war es dem letzten Ausschuß nur möglich, grobe Umrisse des illegalen Verkaufs von U-Boot-Konstruk- licht tionsplänen an das Apartheidregime und der Ver- (Beckmann [FDP]: Wienand oder wie?) Deutscher Bundestag 11. Wahlperiode - 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 435

Frau Eid — „Wiener" — , entsprechenden Vorstöße von Franz Josef Strauß hinzu, so wird deutlich, daß die Bundesregierung (Austermann [CDU/CSU]: Wie die Würst- offenbar alle Schranken für den Rüstungsexport nach chen!) Südafrika fallenlassen will. die eindeutig beweisen: Die verkauften U-Boot-Pläne (Bohl [CDU/CSU]: So ein Unsinn!) wurden so von den bundesdeutschen Firmen modifi- ziert, daß sie sich ausschließlich für Terroraktionen Dies gilt es zu verhindern. gegen die schwarzafrikanischen Nachbarstaaten Herzlichen Dank. Südafrikas eignen. Die Regierung ist mitverantwort- (Beifall bei den GRÜNEN) lich, wenn Südafrika demnächst mit den U-Booten von HDW und IKL die Frontstaaten militärisch bedro- hen, überfallen und destabilisieren kann. Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- (Frau Unruh [GRÜNE]: Terroristen unterstüt- ordnete Beckmann. zen!) Schlimm genug, daß die Bundesregierung das Beckmann (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr ver- Apartheidregime in seiner Rassenpolitik durch ehrten Damen! Meine Herren! Frau Kollegin Eid, es Umschuldungskredite und wirtschaftliche Hilfsmaß- wird Sie sicherlich nicht überraschen, wenn ich Ihnen nahmen stützt. Nein, sie unterstützt das Apartheidre- mitteile, daß die FDP-Fraktion den Antrag der GRÜ- gime auch in seiner Aggressionspolitik gegen die NEN ablehnen wird. Sie versuchen nur das bisher Frontstaaten. schon erfolglose Unterfangen fortzusetzen, in einem stockdüsteren Keller eine schwarze Katze zu jagen, Der neue Ausschuß muß deshalb untersuchen, ob die sich gar nicht darin befindet. Dafür haben wir Südafrika die U-Boote tatsächlich bauen kann. Denn keine Zeit. es gibt Hinweise darauf, daß der Vertrag zwischen IKL, HDW und den südafrikanischen Firmen erfüllt (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der worden ist. CDU/CSU) Ich denke, es ist deutlich geworden, wieviel noch Den Antrag der SPD-Fraktion werden wir passieren aufzuklären ist. Wir GRÜNEN halten es sinnvoll, auf lassen. Ich muß aber wirklich sagen: Wer die Hoff- der Grundlage der erworbenen Kenntnisse aufzu- nung gehabt hat, die SPD könnte sich und das Parla- bauen, und haben im Gegensatz zur SPD unseren ment doch noch vor einer Neuauflage des U-Boot Untersuchungsauftrag für den einzusetzenden Aus- Untersuchungsausschusses bewahren, der sieht sich schuß präziser formuliert, da es uns nun vor allem dar- wahrhaftig enttäuscht. Ihr Antrag macht klar, daß Sie, auf ankommt, die Verwicklung der Zulieferfirmen im die deutsche Sozialdemokratie, offenbar unter einem U-Boot-Geschäft, die Rolle von Drittländern und auch Mangel an Themen leiden, denn die Wiedereinset- die Rolle der schleswig-holsteinischen Landesregie- zung dieses U-Boot-Ausschusses ist ja nur der durch- rung aufzuzeigen. Wir wollen wissen, ob Schmiergel- sichtige Versuch, von Ihren eigenen Problemen abzu- der im Spiel sind und ob diese möglicherweise an Par- lenken. Es gibt doch wahrhaftig dringlichere Pro- teien oder Politiker gegangen sind, die das U-Boot- bleme als die Wiederholung dieses U-Boot-Untersu- Geschäft eingefädelt haben. chungsausschusses. Bei der Neueinsetzung des Ausschusses geht es (Gilges [SPD]: Immer die gleichen Sprü darum, exemplarisch aufzuzeigen, wie das UNO- che!) Embargo durch bundesdeutsche Firmen und Regie- — Schon beim letzten Untersuchungsausschuß zu die- rungsstellen umgangen wird. Es ist klar, daß der ille- sem Thema in der 10. Legislaturperiode wollte Ihre gale Verkauf der U-Boot-Konstruktionspläne nur die Fraktion, Herr Gilges, nicht zur Kenntnis nehmen — Spitze eines Eisberges ist. Bekanntlich sind allein in das muß ich Ihnen einmal sagen ; ich fürchte, Ihre Kol- den Jahren 1983 bis 1986 Rüstungsgüter im Wert von legen haben Ihnen das verschwiegen —, daß die Bun- 815 Millionen DM nach Südafrika genehmigt worden. desregierung die maßgeblichen Fakten schon vorher Der letzte U-Boot-Ausschuß hat zutage gefördert, daß- auf den Tisch gelegt hatte. Jetzt will die SPD-Fraktion die Regierung diese Tatsache nicht mehr als Bruch sogar die Ermittlungsarbeit des Ausschusses der des Embargos betrachtet. Nach ihrer vor dem Aus- 10. Legislaturperiode geflissentlich übersehen und schuß erstmals öffentlich so geäußerten Meinung fällt einfach darüber hinweggehen. Bei allem Verständnis: nur Teil I A der Ausfuhrliste, also Waffen, unter das Solch ein blindwütiges Wahlkampfspektakel können Embargo, nicht aber Teil B — das sind Nukleargü- wir nicht unterstützen. ter — und nicht Teil C — das sind Waren strategischer (Bohl [CDU/CSU]: Nein, das sollte man auch Bedeutung. Diese Auskunft gab Staatssekretär von nicht!) Würzen vom Wirtschaftsministerium bei seiner Ver- nehmung. Der Ausschuß hat zutage gefördert, daß Wir haben bessere Programme für die anstehenden selbst Teil A der Ausfuhrliste nicht mehr so streng wie Landtagswahlen als ein solches Thema. bisher behandelt werden soll. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Völkerrechtler und Staatssekretär Schrecken- Meine Damen und Herren, darüber hinaus ist der berger sagte vor dem Ausschuß: Auch gegenüber Antrag der SPD auch mit gravierenden Mängeln Südafrika darf es keine Tabus mehr geben ; selbst behaftet. Ohne Begrenzung und ohne Rücksicht auf ganze U-Boote könnten rein rechtlich exportiert wer- das Bund-Länder-Verhältnis, Herr Kollege Struck, soll den. U-Boote sind aber Kriegswaffen und fallen unter hier das Verhalten von Landesregierungen ausge- das Kriegswaffenkontrollgesetz. Nimmt man noch die kundschaftet werden. Rechtsstaatlich in höchstem 436 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Beckmann Maße angreifbar ist das Unterfangen der SPD, durch innerhalb des Ausschusses verhindern. Von Ihren einen Untersuchungsausschuß Einfluß auf die noch Vorverurteilungen lassen wir uns nicht präjudizie- nicht abgeschlossenen Verfahren bei der Oberfi- ren! Kiel zur Ahndung von etwaigen Ver- nanzdirektion (Zuruf von der SPD: Das kennen wir von stößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz zu nehmen. Lambsdorff!) Das steht zwar nicht so im Antrag; daß aber der SPD- Fraktion auch das Vehikel des Untersuchungsaus- Meine Damen und Herren, Ihre Gründe für diesen schusses zur Beeinflussung der Strafverfolgungsbe- Antrag sind — wie beim letztenmal — an den Haaren hörden oder der Bußgeldbehörden recht ist, beweisen herbeigezogen. Schon bei der Einsetzungsdebatte vor die Erfahrungen mit dem U-Boot-Ausschuß in der ver- gut drei Monaten, Anfang Dezember 1986, habe ich gangenen Legislaturperiode. erklärt, daß dieser Untersuchungsausschuß überflüs- sig ist wie ein Kropf. Es wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, der außenpolitische Schaden sei so groß, daß die Staats- (Zuruf von der SPD: Das möchten Sie anwaltschaft eingeschaltet werden müsse. Immer wohl!) wieder wurde behauptet, es lägen Anhaltspunkte für Dies gilt heute in noch viel stärkerem Maße. Sämtliche einen strafrechtlich zu verfolgenden Geheimnisverrat Fragen, die Herr Gansel nach Abschluß der Arbeiten vor. Viele von uns haben diese starken Sprüche und des Untersuchungsausschusses der vergangenen Auftritte des Kollegen Gansel vor Augen, die wir Legislaturperiode aufgeworfen hat, hätte er an Hand immer dann erleben konnten, wenn er eine Fernseh- des von Herrn Kollegen Bohl und mir vorgelegten Ent- kamera oder ein Mikrophon vor die Nase gehalten wurfs eines Abschlußberichts beantworten können. bekam. Es wurden die Vorüberlegungen der Oberfi- Wenn die Opposition die Beweisergebnisse des ver- nanzdirektion über die Höhe etwa zu verhängender gangenen Ausschusses nicht zur Kenntnis nehmen Bußgelder breitgetreten, und es wurden Vorhaltun- will, weil sie ihre Vermutungen und Verdächtigungen gen gemacht, warum denn kein Verfall des Gewinns nicht bestätigt findet, läßt dies für die Zukunft fürwahr in Betracht gezogen werde. Schlimmes befürchten. Meine Damen und Herren, besonders schlimm ist (Bohl [CDU/CSU]: So ist es!) es, wenn diese Dinge durch gezielte Indiskretionen aus dem Ausschuß herausgetragen werden und Da Ihnen die Themen auszugehen scheinen, muß dadurch ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren unter diesen Umständen wohl auch mit einem weite- durch die zuständige Verfolgungsbehörde gefährdet ren Untersuchungsausschuß zu diesem Thema in der wird. Wir können von Glück sagen und den zuständi- 12. Legislaturperiode gerechnet werden. gen Amtswaltern bei den Staatsanwaltschaften und (Conradi [SPD]: Dann haben wir eine andere der Oberfinanzdirektion dafür danken, daß sie sich bis Regierung!) heute davon nicht haben beeindrucken lassen. Sie haben treu nach Buchstaben, Sinn und Zweck des Ich möchte festhalten, was auf Grund der Ermittlun- Gesetzes gehandelt. gen des Untersuchungsausschusses der 10. Legisla- turperiode festgestellt wurde und was die Bundesre- Das darf aber für Sie von den GRÜNEN und von der gierung auch schon vorher offenbart hatte: Bundesau- SPD jetzt kein Freibrief sein. Es ist mir einfach unver- ßenminister Hans-Dietrich Genscher hat von Anfang ständlich, warum der Untersuchungsauftrag diesel- an erklärt, für ihn komme eine Genehmigung nicht in ben Vorverurteilungen wie der alte Antrag der Betracht. Dasselbe ist von Finanzminister Dr. Stolten- 10. Legislaturperiode enthält. berg und auch ganz eindeutig von Bundeswirtschafts- (Bohl [CDU/CSU]: Sie sollten sich schämen, minister Dr. Bangemann erklärt worden. Herr Gansel!) (Dr. Struck [SPD]: Und was ist mit Der Ausschuß soll doch erst feststellen, wie die inter- Schrecki?) nationale Rechtslage ist, und ob und gegebenenfalls Versuche der Firmen, das Bundeskanzleramt — Herr welche deutschen Rechtsvorschriften zur Anwendung Kollege Struck, ich ahne Ihre Fragen voraus — für sich kommen. Welche Hybris kommt denn darin zum Aus-- zu gewinnen, sind nach intensiver rechtlicher und druck, wenn Sie bereits jetzt von rechtswidrigen Lie- politischer Prüfung trotz der Sorge des Bundeskanz- ferungen sprechen! lers um die Arbeitsplätze in der deutschen Werftindu- Es hätte der SPD-Fraktion und besonders ihrem strie zurückgewiesen worden. Etwas anderes wird Vorsitzenden und Einser-Juristen gut angestanden, sich auch bei einer Neuauflage des Untersuchungs- zumindest insoweit fraktionsintern auf die Bereini- ausschusses nicht herausstellen. gung des Untersuchungsauftrages zu dringen. Aber (Dr. Struck [SPD]: Das werden wir ja sehen! Sie waren ja in letzter Zeit, wie ich soeben schon — Frau Unruh [GRÜNE]: Abwarten!) sagte, mehr mit sich selbst beschäftigt. Gleichwohl einen Untersuchungsausschuß einzuset- Ich darf für die Ausschußarbeit jetzt schon ankündi- zen, bedeutet doch nichts anderes als den erfolglosen gen: Wir werden Mißbrauch mit dem Untersuchungs- Versuch, Ihr Wahlkampfspektakel von der letzten auftrag nicht dulden. Jahreswende fortzusetzen. (Bohl [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Frau Unruh [GRÜNE]: Das habt ihr immer gesagt! Wir kennen das!) Wir werden sowohl auf eine eindeutige Kompetenz abgrenzung im Bund-Länder-Verhältnis achten als Aber noch schlimmer, verehrte Frau Kollegin von auch jede Einflußnahme auf die laufenden Verfahren den GRÜNEN, ist Ihr Antrag. Er zielt einfach auf Dis- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 437

Beckmann kriminierung weiter Teile der deutschen Wirtschaft Bohl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr ver- und Industrie und damit letztlich auf die Vernichtung ehrten Damen und Herren! Es ist wieder Wahlkampf- von Arbeitsplätzen. Außerdem wird, wie wir das von zeit und die grün-rote Opposition braucht ihren Unter- Ihnen ja kennen, die NATO gleich mit einbezogen. suchungsausschuß. Willig folgt die SPD wieder einmal Selbst wenn die SPD heute den Antrag der GRÜNEN den GRÜNEN. In der vergangenen Wahlperiode hat- ablehnt, ist für die Ausschußarbeit — da spreche ich ten die GRÜNEN noch mit einem eigenen Antrag den aus Erfahrung — das Gegenteil zu befürchten. roten Genossen den Weg zeigen müssen, diesmal reichte allein die Ankündigung in einer Presseerklä- (Gilges [SPD]: Was heißt das denn?) rung, nämlich vom 24. Februar, aus, um die SPD zum Es ist bedauerlich, daß Sie, meine Kolleginnen und U-Boot-Wahlkampf aufzurüsten. Kollegen, sich teilweise einfach nicht zu schade dafür sind, sich vor den Karren der GRÜNEN spannen zu Ich glaube, wir werden das wie auch beim letzten- lassen. mal erleben, das Motto wird lauten: Kaum ausgelau- fen, schon aufgelaufen. Sie werden es nicht erleben, (Gilges [SPD]: Das ist doch dummes Zeug! daß Sie damit Erfolg haben. Der Sachverhalt, der auf- Quatsch! Das wissen Sie doch!) geklärt werden soll, ist nämlich längst klar. Ich darf Das haben wir im letzten Ausschuß in vielen Fragen ihn noch einmal in Erinnerung rufen, weil Sie offen- erlebt. Man kann an diesem Beispiel deutlich sehen, sichtlich gar nicht bereit sind, ihn zur Kenntnis zu neh- was von einer rot-grünen Koalition z. B. in Hessen zu men: erwarten sein wird. Tatsache ist: ab Mitte 1983 versuchten Repräsen- (Zuruf von der SPD: O, Sie kennen das Wahl tanten der interessierten Unternehmen in Sondie- ergebnis vom Sonntag schon!) rungsgesprächen die Genehmigungsfähigkeit einer Zusammenarbeit auf dem Gebiet des U-Bootbaus mit Sie sind innerhalb der SPD einfach zu schwächlich, Südafrika auszuloten. Die angesprochenen Ministe- um sich gegenüber den vermeintlichen Sauberfrauen rien ließen die Unternehmen wissen, daß es keine und Saubermännern der GRÜNEN durchzusetzen. Aussicht auf Erteilung der erforderlichen Genehmi- Sie sollten sich mehr auf Ihre Verantwortung für den gung gebe. Staat und die Bürger besinnen. Niemand hat mir bis- her zu erklären vermocht, warum die SPD diesen Der Bundeskanzler, der in diesem Zusammenhang Untersuchungsausschuß betreibt, obwohl die Ent- unter anderem von dem südafrikanischen Premier scheidung der Bundesregierung in diesen Fragen voll Botha angesprochen wurde, beauftragte Staatssekre- im Einklang mit den Rüstungsexportrichtlinien steht, tär Schreckenberger und Ministerialdirektor Telt die die SPD selbst in ihrer sozialliberalen Regierungs- schik mit einer wohlwollenden Prüfung der Angele- zeit beschlossen hat. genheit. Der Bundeskanzler hat dabei darauf hinge- wiesen, daß er ein großes Interesse habe, Arbeits- (Dr. Struck [SPD]: Wer hat Ihnen das auf ge plätze in der Werftindustrie zu sichern. Es gab dann schrieben, Herr Beckmann?) verschiedene Gespräche zwischen dem Kanzleramt Wir halten daran fest: Die Koalition steht voll zur und der Unternehmensseite. Im Oktober 1984 wurde Südafrikapolitik der Bundesregierung, insbesondere den Unternehmen seitens des Kanzleramtes von dem zum Waffenembargo, beabsichtigten Projekt abgeraten. Auf den Hinweis (Zustimmung bei der FDP) der Unternehmen auf in früheren Zeiten praktizierte Verfahren zur Ermöglichung solcher Geschäfte — ich nicht nur deshalb, weil die Bundesregierung das Waf- nenne in diesem Zusammenhang nur das Stichwort fenembargo des VN-Sicherheitsrates aus dem Jahre „U-Boote für Israel" — wurde den Unternehmen 1977 selbst mitgetragen hat, sondern auch und insbe- erneut, und zwar zuletzt im Januar 1985, mitgeteilt, sondere deshalb, weil wir es inhaltlich für völlig rich- daß keine Aussicht auf Genehmigung des beabsich- tig halten. tigten Geschäfts bestünde. Daraufhin haben die (Frau Eid [GRÜNE]: Man muß es auch ein Unternehmen von der Stellung eines Antrages abge- halten!) sehen, und dementsprechend wurden auch keine Genehmigungen erteilt. Wenn Verstöße gegen das innerstaatliche Recht- geschehen sind, müssen sie geahndet werden, sei es Um das deutlich zu machen, noch einmal — das im Wege des Bußgeldverfahrens, sei es im Wege eines Gesetz sieht es ja auch vor — : Genehmigungen müs- Strafverfahrens. Das gebietet die Autorität des gesetz- sen schriftlich erfolgen. Das war den Unternehmen ten Rechts. Nur muß auch die Opposition, meine sehr auch bekannt. Es ist aber weder eine schriftliche noch verehrten Kolleginnen und Kollegen, daran erinnert eine mündliche Genehmigung erfolgt. Gleichwohl — werden, daß weder sie noch der Untersuchungsaus- und das ist richtig und wird auch nicht bestritten — schuß zum Staatsanwalt oder zum Richter berufen haben die Unternehmen einen Vertrag, zunächst sind. unter Vorbehalt, mit Südafrika geschlossen und von Oktober 1984 bis Juni 1985 auch Konstruktionsunter- Vielen Dank. lagen geliefert. Als die Bundesregierung von diesem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sachverhalt erfuhr, und zwar im Juni 1985, hat sie das nach dem Gesetz vorgesehene Ermittlungsverfahren eingeleitet. Seit dieser Zeit ermittelt die Oberfinanzdi- rektion Kiel als zuständige Behörde. Da es bisher nur Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Abge- Anhaltspunkte für die Begehung einer Ordnungswid- ordnete Bohl. rigkeit gibt, bestand für niemand Anlaß, die Staatsan- 438 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Bohl waltschaft einzuschalten, die selbst auch kein solches Gewalt. Ein Urteil, ob etwas rechtswidrig ist oder Verfahren eingeleitet hat. nicht, steht der Exekutive oder in der Prüfung der Judikative zu; es kann aber nicht in der Form eines Das ist der Sachverhalt. Den mag jeder bewerten Einsetzungsbeschlusses durch den Deutschen Bun- wie er will, nur besteht weiterer Aufklärungsbedarf destag abgegeben werden. Sie gehen über die mit Sicherheit nicht. Und wenn Sie hier sagen, die Rechte, die wir hier haben, mit Ihrem Antrag weit hin- Bundesregierung hätte nicht alle Akten vorgelegt, so aus. Das ist verfassungsrechtlich mehr als bedenk- stimmt das doch einfach nicht. Die Bundesregierung lich. hat sofort alle Akten, die bis zum Einsetzungsbeschluß angefallen sind, vorgelegt. Sie hat sogar darüber hin- Wir haben also große Bedenken — ich will das noch ausgehend, obwohl sie gar nicht verpflichtet ist, einmal sagen — , auch wenn wir das Minderheiten- Akten herausgegeben, die nach erfolgtem Einset- recht nach Art. 44 respektierten und den Antrag pas- zungsbeschluß angefallen sind. sieren lassen.

Wenn Sie, Herr Gansel, beklagen, Sie hätten nicht (Wüppesahl [GRÜNE]: Müssen!) genügend Zeit gehabt, einen Abschlußbericht zu machen, dann darf ich Ihnen sagen, daß der Kollege Sie sollten sich aber wirklich einmal ernsthaft selbst Beckmann und ich einen solchen Abschlußbericht prüfen, ob Sie sich damit einen Gefallen tun, wenn Sie erarbeitet und 24 Stunden vor Abschluß der Legisla- über die rechtlichen Zuständigkeiten dieses Bundes- turperiode vorgelegt haben. Wo ist denn Ihrer eigent- tages und des Untersuchungsausschußrechtes hin- lich geblieben? Warum haben Sie sich nicht die Mühe ausgehen. Ich muß Ihnen sagen: Sie entwerten nach gemacht, das einmal zu schreiben, was Sie so meinem Eindruck damit dieses Instrument des Unter- bewegt? suchungsausschusses selbst, wenn Sie über die recht- lichen Zuständigkeiten, die wir haben, hinausgehen. Ganz schwach ist nun Ihre Begründung, Zeugen Dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie — und hätten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Ge- der Bundestag und der Untersuchungsausschuß — brauch gemacht. Sie selbst haben den Zeugen dieses damit in ein schiefes Licht kommen. Recht im Untersuchungsausschuß zugestanden, weil es der Rechtslage entspricht. Ich kann nur sagen: Die- Wenn wir schon dabei sind, will ich Ihnen auch ses Zeugnisverweigerungsrecht besteht weiterhin, sagen: Wir werden in dem Ausschuß natürlich auch Herr Kollege Gansel; denn es knüpft rechtlich nicht an deutlich machen, welche — ich muß es so sagen — das Ermittlungsverfahren an, sondern, wie Sie wissen, Heuchelei dahintersteckt, wenn Sie von der SPD ver- an die Möglichkeit der Selbstbelastung. Diese Mög- suchen, dieser Bundesregierung Vorwürfe zu machen lichkeit besteht im Grunde genommen bis zum Ablauf im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren, der Verjährungsfrist. Wollen Sie also tatsächlich im das von dieser Bundesregierung wegen des Verdach- Deutschen Bundestag Untersuchungsausschüsse so tes ungenehmigter Blaupausen-Exporte eingeleitet lange wiederholen, bis die Zeugen entweder ein wurde. Zeugnisverweigerungsrecht nicht mehr haben oder davon nicht mehr Gebrauch machen? Unter den von der SPD geführten Bundesregierun- gen befinden sich Waffenexporte besonderer Art, Ich möchte Sie auch noch darauf hinweisen, daß die zum Beispiel die Anfang der 70er Jahre von der Regie- formelle Prüfung Ihres Antrages doch erhebliche, rung Brandt genehmigten Exporte nach Chile von 840 aufwirft. Wir auch verfassungsrechtliche Bedenken Schnellfeuergewehren, 500 Maschinengewehren und haben nicht die Kompetenz, Länderexekutiven zu 170 Maschinenpistolen. Oder denken Sie einmal an überprüfen. Ich muß Ihnen ganz offen sagen — wir die zwischen 1976 und 1978 von der Regierung haben darüber ja im Untersuchungsausschuß mehr- Schmidt erteilten Exportgenehmigungen für fach gesprochen, und wir werden genauso verfahren Gewehre und Munition im Werte von über 30 Millio- wie beim letztenmal — : Wir werden es nicht zulassen, nen DM nach Nicaragua — ausgerechnet nach Nica- daß ein Bundes-Untersuchungsausschuß die Länder- ragua! exekutiven kontrolliert. Auch bei der Sachkompetenz gibt es große Zweifel. (Zuruf von der CDU/CSU: Und Chile!) Nach dem Flick-Urteil steht fest, daß Untersuchungs- Zu jener Zeit herrschte dort doch das von den Sandi- gegenstand nur abgeschlossene Vorgänge sein dür- nisten bekämpfte Somoza-Regime. Beschäftigen Sie fen und daß nicht in laufende Verhandlungen oder in sich also lieber, so meine ich, Herr Kollege Gansel, mit Entscheidungsvorbereitungen eingegriffen werden der Aufarbeitung Ihrer eigenen schlimmen Waffenex- darf. Das Ermittlungsverfahren bei der Oberfinanzdi- port-Vergangenheit, als uns mit dem unsinnigen, rektion Kiel ist nicht abgeschlossen; das wissen Sie untauglichen und sicher erfolglosen Versuch, dieser genau. Es drängt sich der Verdacht auf, daß Sie mit Bundesregierung in Sachen Waffenexporte etwas ans diesem Verfahren bei dem Untersuchungsausschuß Bein zu binden, noch monatelang zu langweilen. nur in das Ermittlungsverfahren eingreifen wollen oder zumindest Einfluß nehmen wollen, was rechtlich Diese Bundesregierung hat sich in Sachen Waffen- nicht zulässig ist. exporte immer korrekt verhalten. Das wird auch so bleiben, und das wird dieser Untersuchungsausschuß Sie sprechen in Ihrem Antrag durchweg von „rechts- einmal mehr bestätigen. widrigen Lieferungen", obwohl diese Feststellung bis heute niemand getroffen hat. Sie mögen ja dieser Vielen Dank. Rechtsauffassung sein. Hier aber mit diesem Untersu- chungsausschuß geht es doch mittelbar um öffentliche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 439

Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und Her- Bundestag ist bei einem Antrag eines Viertels seiner ren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich Mitglieder verpflichtet, einen Untersuchungsaus- schließe die Aussprache. schuß einzusetzen. Der Antrag der Fraktion der SPD entspricht diesen Voraussetzungen. Ich kann somit Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der feststellen, daß gemäß Art.44 Abs. 1 des Grundgeset- Fraktion DIE GRÜNEN auf Einsetzung eines parla- zes der Untersuchungsausschuß eingesetzt ist. mentarischen Untersuchungsausschusses auf Druck- sache 11/84. Wer diesem Antrag zuzustimmen Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. — Gegen- probe! — Enthaltungen? — Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Mittwoch, den 6. Mai 1987, 13 Uhr ein. (Zurufe von den GRÜNEN: Auszählen!) — Wir haben vorher gezählt. Der Sitzungsvorstand ist Ich wünsche Ihnen frohe Ostertage. sich einig: Der Antrag ist abgelehnt. Die Sitzung ist geschlossen. Meine Damen und Herren, wir brauchen über den Antrag der SPD nicht abzustimmen. Der Deutsche (Schluß der Sitzung: 18.21 Uhr)

Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode - 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 441*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Zu Frage 3: Der Bundesverkehrswegeplan '85 hält für den Liste der entschuldigten Abgeordneten Bereich Offenburg-Basel der Aus- und Neubau- strecke Karlsruhe-Offenburg-Basel neben qualitäts- Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich verbessernden Maßnahmen auch die Möglichkeit Dr. Ahrens * 2. 4. eines späteren dreigleisigen Ausbaues offen. Nach Dr. Bangemann 2. 4. den Erkenntnissen des Planungsträgers Deutsche Böhm (Melsungen) * 2. 4. Bundesbahn genügt südlich Offenburg derzeit eine Frau Dr. Däubler-Gmelin 2. 4. gut ausgebaute zweigleisige Strecke den kapazitiven Daweke 2. 4. Anforderungen. Dr. Dollinger 2. 4. Die Frage der Notwendigkeit eines dreigleisigen Dr. Dregger 2. 4. Ausbaues dieses Abschnittes wird im Rahmen der Duve 2. 4. Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans '85 Fellner 2. 4. überprüft werden. Dr. Fuchtel 2. 4. Dr. Götz 2. 4. Zu Frage 4: 2. 4. Grünbeck In die Untersuchungen einer Schnellbahnver- 2. 4. Dr. Haack bindung Südwestdeutschland-Ostfrankreich-Paris 2. 4. Dr. Jahn (Münster) durch eine deutsch-französische Arbeitsgruppe sind 2. 4. Dr. Köhler (Wolfsburg) verschiedene Streckenführungen über Saarbrücken 2. 4. Lemmrich * Mannheim oder Straßburg-Kehl einbezogen. Lenzer ** 2. 4. Magin 2. 4. Bei Realisierung dieser Schnellbahnverbindung Meyer 2. 4. sollen Hochgeschwindigkeitsfahrzeuge grenzüber- Dr. Müller ** 2. 4. schreitend zum Einsatz kommen. Dr. Pfennig ** 2. 4. Reuschenbach 2. 4. Ronneburger 2. 4. Anlage 3 Schmidt (München) ** 2. 4. Schröer (Mülheim) 2. 4. Antwort Schwarz 2. 4. des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Fragen des Seehofer 2. 4. Abgeordneten Catenhusen (SPD) (Drucksache 11/93 Voigt (Frankfurt) *** 2. 4. Fragen 9 und 10): Weiss (München) 2. 4. Teilt die Bundesregierung die Kritik des Untersuchungsaus- Wischnewski 2. 4. schusses der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) an der Frau Wollny 2. 4. Praxis der Prüfung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst Würtz 2. 4. der Bundesrepublik Deutschland, und welche Konsequenzen Zierer ' 2. 4. wird sie gegebenenfalls ziehen? Frau Zutt 2. 4. Kann die Bundesregierung die Feststellung des Untersu- chungsausschusses der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) bestätigen, daß im Bundesgebiet unterschiedliche Krite- * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- rien bei der Prüfung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst sammlung des Europarates angelegt werden, und teilt die Bundesregierung die Auffassung ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union des Untersuchungsausschusses, daß die teilweise strengeren *** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- Prüfungskriterien Bedingungen schaffen, „die über das Maß des lung für ein ordnungsgemäßes Funktionieren des öffentlichen Dienstes Notwendigen hinausgehen"?

- Zu Frage 9: Anlage 2 Nein. Der von Ihnen angesprochene Untersu- chungsausschuß der Internationalen Arbeitsorganisa- Antwort tion ist zu keiner einheitlichen Wertung gekommen. des Parl. Staatssekretärs Dr. Schulte auf die Fragen Sein Bericht wurde vom Verwaltungsrat dieser Orga- des Abgeordneten Dr. Schroeder (Freiburg) (CDU/ nisation noch gar nicht behandelt, seine Empfehlun- CSU) (Drucksache 11/93 Fragen 3 und 4): gen sind nicht bindend. Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderungen des Mit der Ausschußminderheit ist die Bundesregie- Regionalverbandes Südlicher Oberrhein, wonach der rasche rung der Ansicht, daß ein internationales Überein- Bau eines dritten Gleises für den Bundesbahnabschnitt Offen- kommen zum Schutz der Menschenrechte nicht so burg-Basel im Bereich der Rheintalstrecke gefordert wird, weil nur dadurch sowohl für den Fernverkehr als auch für den schie- ausgelegt werden kann, daß es der Beseitigung dieser nengebundenen öffentlichen Personennahverkehr die notwen- Grundrechte Vorschub leistet. Bei dieser Haltung digen zusätzlichen Kapazitäten geschaffen werden könnten, kann sie sich auch auf die Rechtsprechung des Euro- und welche Folgerungen zieht sie hieraus? päischen Gerichtshofs für Menschenrechte stützen. Welche Möglichkeiten bestehen, den künftigen ICE-Verkehr im Oberrheintal grenzüberschreitend nach Frankreich einzu- Das geltende Verfassungs- und Beamtenrecht wird binden? weiterhin angewendet. 442* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Zu Frage 10: Anlage 5 Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort Antwort auf eine entsprechende Große Anfrage der Fraktion des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Fragen des DIE GRÜNEN vom 18. Juli 1985 darauf hingewiesen, Abgeordneten Stiegler (SPD) (Drucksache 11/93 Fra- daß das Grundgesetz und die Rechtsprechung des gen 17 und 18) : Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungstreue im Welche Tatsachen sind der Bundesregierung bekannt, die den öffentlichen Dienst gleichermaßen in Bund und Län- Schlußfolgerungen widersprechen, die in Randnote 549 des dern gelten (BT-Drucksache 10/3656, Anwort auf Berichts des gemäß Artikel 26 der Verfassung der Internationa- Frage 7 b). Auch die beamtenrechtlichen Bestimmun- len Arbeitsorganisation eingesetzten Ausschusses zur Prüfung gen sind überall gleich. Bei Beachtung dieser Rechts- der Einhaltung des Übereinkommens (Nr. 111) über die Diskri- minierung (Beschäftigung und Beruf) durch die Bundesrepublik lage kann es wohl zu unterschiedlichen Verwaltungs- Deutschland enthalten sind, nämlich: „Diese Hinweise (daß verfahren, nicht aber zu abweichenden materiellen Indoktrinationsversuche durch Lehrer sehr selten stattfinden) Ergebnissen kommen. Im übrigen gilt die Einzelfall- legen den Schluß nahe, daß es zwar in Einzelfällen zu Funk- prüfung. tionsmißbrauch kommen mag . . .; dagegen kann aus bestimm- ten politischen Auffassungen oder Zugehörigkeiten nicht die Vermutung der Wahrscheinlichkeit eines Mißbrauchs abgeleitet werden. Diese Schlußfolgerung wird durch die große Mehrheit der Fälle erhärtet, die der WGB, Gewerkschaften oder die Betroffenen dem Ausschuß zur Kenntnis gebracht haben."? Anlage 4 Wie beurteilt die Bundesregierung, daß sie gegenüber dem Antwort Ausschuß die Notwendigkeit betont hat, „den Staat und seine Institutionen in Konflikt- oder Krisenzeiten zu sichern" des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Fragen des (Rdn. 554 des Berichts) und daß der Bundesdisziplinaranwalt die Frage des Ausschusses, „ob es in der Geschichte der Bundesre- Abgeordneten Peter (Kassel) (SPD) (Drucksache publik Deutschland Krisen- oder Konfliktsituationen in der Stel- 11/93 Fragen 11 und 12) : lungnahme der Regierung angesprochenen Art gegeben habe" (Rdn. 555 des Berichts) verneint hat, und sind der Bundesregie- Hält die Bundesregierung „die unterschiedslose Anwendung rung Krisen- oder Konfliktsituationen der angesprochenen Art der Treuepflicht auf alle Beamten ohne Rücksicht darauf, wie bekannt, die der Aufmerksamkeit des Bundesdisziplinaranwalts sich ihre politische Haltung oder Betätigung auf die Ausübung möglicherweise entgangen sind? der ihnen übertragenen Funktionen auswirken könnte" bei sämtlichen Arten der betroffenen Tätigkeiten für angemes- sen? Zu Frage 17: Stimmt die Bundesregierung der folgenden Feststellung des Die beamtenrechtliche Pflicht zur Verfassungstreue Untersuchungsausschusses der Internationalen Arbeitsorgani- und die entsprechenden Maßnahmen zur Erhaltung sation (IAO) zu: „Dem Anliegen, das Funktionieren des öff ent- eines verfassungstreuen öffentlichen Dienstes sind lichen Dienstes in Krisen- und Konfliktzeiten zu sichern, könn- ten die Behörden dadurch entsprechen, daß sie die politische Ausfluß des Verfassungsprinzips der „wehrhaften Zuverlässigkeit als Erfordernis der Beschäftigung in bestimmten Demokratie". Sie bewähren sich nach den Worten des Stellen je nach der Natur der betroffenen Funktionen werten; Bundesverfassungsgerichts „in Krisenzeiten und in eine solche Bedingung sollte indessen nicht auf die Beschäfti- ernsthaften Konfliktsituationen, in denen der Staat gung von Beamten im öffentlichen Dienst generell erstreckt werden"? darauf angewiesen ist, daß der Beamte Partei für ihn ergreift" (BVerfGE 39, 334/348). Mit diesem zentralen Gedanken der Prävention wäre es nach Auffassung Zu Frage 11: der Bundesregierung nicht vereinbar, allein auf Die Pflicht des Beamten, sich durch sein gesamtes bereits nachgewiesenen Funktionsmißbrauch in der Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Vergangenheit abzustellen. Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten, hat Zu Frage 18: Verfassungsrang. Nach der Grundsatzentscheidung Es ist dem Gedanken der Prävention immanent, daß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 gilt er die Zukunft im Auge hat. Der Bundesrepublik sie für jedes Beamtenverhältnis und ist auch einer Dif- Deutschland sind bisher Krisen- und Konfliktsituatio- ferenzierung je nach Art der dienstlichen Obliegen- nen, die die freiheitliche demokratische Grundord- heiten des Beamten nicht zugänglich. nung hätten gefährden können, erspart geblieben; Dieses Urteil ist für die Bundesregierung — wie leider garantiert dieser Umstand nicht, daß dies auch auch für jede Landesregierung — bindend. in Zukunft so bleiben wird.

Zu Frage 12: Anlage 6 Angesichts der klaren Entscheidung des Bundes- Antwort verfassungsgerichts stellt sich der Bundesregierung diese Frage nicht. des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Fragen der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin (SPD) Davon abgesehen vertritt sie die Auffassung, daß (Drucksache 11/93 Fragen 19 und 20): die freiheitliche Demokratie in der Bundesrepublik In welchen Punkten sind die tatsächlichen Feststellungen des Deutschland auf Dauer nur dann wirksam geschützt Berichts des gemäß Artikel 26 der Verfassung der Internationa- werden kann, wenn in möglichen künftigen Krisen- len Arbeitsorganisation eingesetzten Ausschusses zur Uberprü- und Konfliktsituationen die Beamtenschaft als Ganzes fung der Einhaltung des Übereinkommens (Nr. 111) über die uneingeschränkt und geschlossen zur Verteidigung Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf) durch die Bundesre- publik Deutschland nach Auffassung der Bundesregierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unrichtig, und wie müßten sie nach Auffassung der Bundesre- bereit ist. gierung korrigiert werden? Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 443*

Teilt die Bundesregierung die Auffassung in Randnote 586 diesen Feststellungen aber nicht getragen. Deswegen des Berichts, daß bei der Einführung der Empfehlungen des hat auch die Ausschußminderheit ausdrücklich Ausschusses verschiedene bereits in der Bundesrepublik Deutschland vorzufindende Grundsätze, Praktiken und Ent- erklärt, sie könne und wolle den Feststellungen, scheidungen als Leithilfe dienen können, wie z. B. die Abschaf- Schlußfolgerungen und Empfehlungen der Mehrheit fung der Regelanfrage in einigen Bundesländern und die Ein- des Ausschusses nicht zustimmen. führung einer Regelung, wie sie in einem Gesetzentwurf der Bundesregierung aus dem Jahre 1982 vorgesehen war, „wonach Welche Konsequenzen sich aus diesem Wider- bei der Beurteilung der disziplinarrechtlichen Folgen des außer- spruch ergeben, wird die Bundesregierung aus dienstlichen Verhaltens eines öffentlich Bediensteten Art und Respekt vor der Internationalen Arbeitsorganisation Ausmaß dieses Verhaltens, die dem Betroffenen übertragenen Aufgaben und seine Grundrechte, insbesondere das Recht auf zunächst in den dafür bestimmten Verfahren mit den freie Meinungsäußerungen, zu berücksichtigen seien", und Organen dieser Organisation erörtern. welche der genannten Maßnahmen wird die Bundesregierung in ihrem Bereich zur Beachtung der Empfehlungen des Aus- schusses ergreifen? Zu Frage 22: Zum ersten Teil Ihrer Frage darf ich Sie auf die Zu Frage 19: Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsge- Die Achtung vor den Normenkontrollverfahren und richts vom 22. Mai 1975 verweisen, in der eine Abstu- den Organen der Internationalen Arbeitsorganisation fung bei der Pflicht zur Verfassungstreue je nach Art gebieten es, zunächst diesen Institutionen gegenüber der dienstlichen Obliegenheiten bei Beamten ausge- zu dem Bericht des Untersuchungsausschusses nach schlossen, bei Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst den hierfür vorgesehenen Regularien Stellung zu aber in gewissem Umfang zugelassen wird nehmen. Ich bitte hierfür um Ihr Verständnis. (BVerfGE 39, 334/355). Zur Verfassungstreuepflicht im Rahmen des Euro- Zu Frage 20: päischen Einigungsprozesses hat die Bundesregie- rung bereits in ihrer Antwort auf die Große Anfrage Nein! Die Bundesregierung teilt diese Auffassung der Fraktion DIE GRÜNEN vom 18. Juli 1985 (BT nicht. Im übrigen darf ich auf meine Antwort auf Ihre Drucksache 10/3656, vgl. vor allem Antwort auf erste Frage verweisen. Frage 10b) ausführlich Stellung genommen. Darauf darf ich Bezug nehmen. Ergänzend darf ich darauf hinweisen, daß der für die westeuropäischen Demo- kratien bedeutsame Europäische Gerichtshof für Anlage 7 Menschenrechte die Pflicht zur Verfassungstreue bei Antwort Bewerbern für den öffentlichen Dienst als konform mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ange- des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Fragen des sehen hat. Abgeordneten Bachmaier (SPD) (Drucksache 11/93 Fragen 21 und 22) : Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Empfehlung des Berichts des gemäß Artikel 26 der Internationalen Arbeits- Anlage 8 organisation (IAO) eingesetzten Ausschusses zur Prüfung der Einhaltung des Übereinkommens (Nr. 111) über die Diskrimi- Antwort nierung (Beschäftigung und Beruf) durch die Bundesrepublik Deutschland „voll den Wert und die Bedeutung jener Bestim- des Parl. Staatssekretärs Dr. Häfele auf die Fragen des mungen im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aner- Abgeordneten Nehm (SPD) (Drucksache 11/93 Fra- kannt hat, die persönliche Rechte und Freiheiten garantieren gen 24 und 25): und das Fundament für einen demokratischen Rechtsstaat legen" und daß der Ausschuß in keiner Weise „wünscht ..., die Hält der Bundesminister der Finanzen seine Behauptung auf- Legitimität des Wunsches der Bundesbehörden in Frage zu stel- recht, bei der Privatisierung des Bundesanteils am Volkswagen- len, diese Wesenszüge der Verfassungsordnung des Landes zu werk stünden „ausschließlich ordnungspolitische Erwägungen schützen und zu wahren" (Rdn. 582), und welche Konsequenzen im Vordergrund" (Die Welt, 26. Juni 1986), und zählt er auch die zieht die Bundesregierung hieraus bei der Verwirklichung der Furcht vor Minderung des bereits in den Haushalt 1987 einge- Empfehlungen des Ausschusses? stellten Verkaufserlöses zu di esen ordnungspolitischen Gesichtspunkten? Teilt die Bundesregierung folgende Schlußfolgerung des Aus-- schusses: „Wenn die Treueanforderungen sich bei öffentlich Geht die Bundesregierung noch davon aus, daß auch und Bediensteten im arbeitsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis besonders die Ausgabe von „Volks"- und Belegschaftsaktien unterscheiden lassen, dann müßte dies auch bei Beamten mög- eine sinnvolle Form der Überführung von Staats- in Privateigen- lich sein. Diesen Schluß bestätigt generell auch die Erfahrung tum ist, und wäre sie bereit zu prüfen, ob die Ausgabe der anderer Länder ... Von diesem westeuropäischen Generalnen- — nach dem Devisenbetrug — erheblich wertgeminderten ner hebt sich die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer gene- Aktien zu günstigen Konditionen an die VW-Arbeitnehmer rellen Treuepflicht signifikant ab. Die dem Ausschuß vorliegen- geeignet ist, Termin und Zweck der Privatisierung zu sichern? den Informationen bestätigen generell diesen Schluß", und hält die Bundesregierung insbesondere im Rahmen des europäi- schen Einigungsprozesses eine Angleichung dieser Treue- Zu Frage 24: pflichtvorschriften der einzelnen Mitgliedsländer der Europäi- schen Gemeinschaft für wünschenswert? Der Entscheidung der Bundesregierung vom Juli 1986, sich von ihrem Anteil von 16 vom Hundert am Grundkapital der Volkswagen AG zu trennen, liegt Zu Frage 21: das geltende Haushaltsrecht des Bundes zugrunde. Der Untersuchungsausschuß hat die in Ihrer Frage Dieses schreibt vor, daß eine Bundesbeteiligung nur enthaltenen Feststellungen getroffen, die von der mit einem wichtigen Interesse des Bundes begründet Bundesregierung in vollem Umfang geteilt werden. werden kann. Ein solches ist nach Auffassung der Die Empfehlungen der Ausschußmehrheit sind von Bundesregierung bei einer Beteiligung an dem er- 444 * Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

tragsstarken Automobilhersteller Volkswagen ebenso durchschnittliche Gewinnsteuerbelastung der Unter- wenig mehr gegeben wie für Beteiligungen an ande- nehmen machen zu können, müssen sowohl im Zähler ren Fahrzeugherstellern. Auch an Daimler-Benz, als auch im Nenner der Quote umfassende Bereini- BMW, Porsche, Ford und Opel besteht keine Beteili- gungen vorgenommen werden, die das Ergebnis gung des Bundes. nachhaltig beeinträchtigen. So weist Professor Litt- mann selbst darauf hin, daß es methodisch nicht mög- Es stehen somit ausschließlich ordnungspolitische lich sei, die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen Erwägungen im Vordergrund. weiter aufzugliedern und die Einkommen aus Unter- nehmertätigkeit von den Einkommen aus Vermögen Zu Frage 25: zu trennen. Aufgrund der schwerwiegenden statisti- Die Bundesregierung hat stets erklärt, daß bei der schen Zurechnungsprobleme hat die von Professor Verringerung von Bundesbeteiligungen soweit wie Littmann geschätzte Größenordnung der gesamtwirt- möglich das Ziel einer breiten Streuung verfolgt wer- schaftlichen Quote der Gewinnsteuerbelastung nur den soll. Dies ist mit Erfolg geschehen. eine eingeschränkte Aussagekraft. Mit besonderen Vergünstigungen ausgestattete, Die in der steuerpolitischen Diskussion ebenfalls damit einen Subventionstatbestand erfüllende vertretene Ansicht, die Gewinnsteuerbelastung deut- „Volksaktien" waren und sind bei den seit 1984 statt- scher Unternehmen betrage rund 70 Prozent, beruht findenden Privatisierungen weder vorgesehen noch auf betriebswirtschaftlichen Einzelrechnungen mit erforderlich. Dies entspricht gerade bei bereits bör- besonders hohen steuerlichen Belastungswerten. sennotierten Gesellschaften — wie Volkswagen Auch hier müssen bei einer Bewertung Einschränkun- auch dem Interesse der Unternehmen und der großen gen vorgenommen werden. Zum einen beziehen sie Zahl ihrer Aktionäre, bei der Volkswagen AG weit sich nur auf die einbehaltenen Gewinne von Kapital- über 300000. gesellschaften. Zum anderen lassen sie außer acht, daß die Bemessungsgrundlagen der Steuern oft in Das Angebot von Belegschaftsaktien liegt im Ver- erheblichem Maße durch eine Vielzahl von Steuerver- antwortungsbereich der Vorstände der Unternehmen. günstigungen und eine Reihe von Gestaltungsmög- Die Bundesregierung unterstützt solche Bestrebun- lichkeiten bei der Steuerbilanz vermindert werden. gen. Bei den Privatisierungen seit 1984 haben sich die Große Teile der deutschen Unternehmen haben des- Vorstände entschlossen, von den Möglichkeiten des halb eine so hohe steuerliche Belastung in der Regel Vermögensbeteiligungsgestzes Gebrauch zu machen nicht zu tragen. und Belegschaftsaktien anzubieten. Die VW-Aktien des Bundes werden zu gegebener Unabhängig von statistisch und methodisch unter- Zeit dem breiten Publikum, das heißt allen Bürgern, schiedlichen Belastungsberechnungen ist jedoch im angeboten. VW-Mitarbeiter können sich an der Hinblick auf die Unternehmensbesteuerung in der Zeichnung zusätzlich zu einem etwaigen Angebot von Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen, daß Belegschaftsaktien durch das Unternehmen beteili- in anderen wichtigen Industrieländern erhebliche gen. Sonderkonditionen des Bundes für die Arbeit- Tarifsenkungen durchgeführt oder geplant sind. nehmer eines zu privatisierenden Unternehmens sind Diese Entwicklung muß die deutsche Steuerpolitik jedoch nicht möglich und nicht beabsichtigt. beachten, um den Produktionsstandort Bundesrepu- blik Deutschland auch unter steuerlichen Gesichts- punkten anziehend zu halten.

Anlage 9 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Häfele auf die Frage des Abgeordneten Poß (SPD) (Drucksache 11/93 Anlage 10 Frage 34): Antwort - Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Unterneh- mensgewinne in der Bundesrepublik Deutschland mit rund des Parl. Staatssekretärs Dr. Häfele auf die Fragen des 34 v. H. Steuern im Durchschnitt belastet werden (vgl. Profes- Abgeordneten Dr. Mertens (Bottrop) (SPD) (Druck- sor Dr. Konrad Littmann in „DIE ZEIT" vom 20. Februar 1987)? sache 11/93 Fragen 35 und 36): Steht bereits fest, wie die für 1988 vorgesehene weitere „Ver- Bei der Betrachtung der steuerlichen Belastung der besserung in der Progressionszone des Einkommensteuertarifs im Volumen von ca. 3 Milliarden DM" konkret ausgestaltet wer- Unternehmensgewinne ist — insbesondere im inter- den soll, und wenn ja, welche zusätzlichen Entlastungsbeträge nationalen Vergleich — ein umfassendes Bild erfor- ergeben sich fur einen verheirateten Arbeitnehmer mit dem sta- derlich. Professor Littmann setzt zu seiner Berech- tistischen Durchschnittseinkommen von 40 000 DM brutto im nung das Aufkommen der veranlagten Einkommen- Jahr und für einen verheirateten Arbeitnehmer mit einem Brutto-Einkommen von 300 000 DM im Jahr? steuer, der Körperschaftsteuer, der Gewerbesteuer und der Vermögensteuer ins Verhältnis zum Einkom- Hält die Bundesregierung es für ein besonderes Merkmal men aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Die eines leistungsfreundlichen Steuerrechts, daß nach den ange- Quote, die sich daraus ergibt, nennt er gesamtwirt- kündigten Steueränderungen 1990 rund 95 v. H. aller Steuer- zahler progressiv, d. h. mit ständig steigenden Steuersätzen schaftliche Quote der Gewinnsteuerbelastung. Um besteuert werden, während der Anteil der progressiv Besteuer- auch nur einigermaßen verläßliche Aussagen über die ten nach dem Adenauer-Tarif 1960 noch bei ca. 5 v. H. lag? Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 445'

Zu Frage 35: Anlage 11 Die Bundesregierung hat gestern den Gesetzent- Antwort wurf zur Erweiterung der Steuersenkung 1986/1988 des Parl. Staatssekretärs Dr. Häfele auf die Fragen des beschlossen. Abgeordneten Reschke (SPD) (Drucksache 11/93 Fra- Auf der Grundlage der Jahreslohnsteuertabelle gen 37 und 38) : ergibt sich durch die Aufstockung der zweiten Stufe Trifft es zu, daß trotz der von der Bundesregierung beabsich- des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 für einen ver- tigten „Nachbesserung" der als unzureichend erkannten Steu- heirateten Steuerzahler mit einem Bruttojahresver- ersenkung 1988 der Grundfreibetrag immer noch um 270 DM dienst von 300 000 DM eine Entlastung um 2 118 DM unter dem von der SPD für 1988 vorgeschlagenen Grundfreibe- trag von 5 022 DM bleibt? oder 1,7 vom Hundert der bisherigen Steuerschuld. Die verbleibende Lohnsteuer beträgt 123 690 DM Wann wird die Bundesregierung den gesetzgebenden Kör- perschaften den Entwurf eines Gesetzes über die angekündigte oder 41,2 vom Hundert des Jahresbruttolohnes. Nachbesserung des als unzureichend erkannten Steuersen- Bei einem Bruttojahresverdienst von 40 000 DM kungsgesetzes 1986/88 vorlegen? erfolgt eine anteilig höhere zusätzliche Entlastung um 1,9 vom Hundert (94 DM) der bisherigen Steuer- Zu Frage 37: schuld. Die verbleibende Lohnsteuerbelastung Die Bundesregierung beabsichtigt bis 1990 den beträgt 4 918 DM oder 12,3 vom Hundert des Brutto- Grundfreibetrag von bisher 4 536/9 072 DM um insge- jahresverdienstes. samt 1 080/2 160 DM auf 5 616/11 232 DM anzuhe- Weil bei einem progressiven Tarif die Steuerbela- ben. Davon soll eine Verbesserung um 216/432 DM stung schneller als das Einkommen steigt, führt eine auf den 1. Januar 1988 vorgezogen werden. durchgehende Milderung der überzogenen Progres- Insgesamt ergibt sich nach den Plänen der Bundes- sion zwangsläufig auch zu größeren absoluten Entla- regierung eine um 594/1 188 DM stärkere Erhöhung stungsbeträgen bei höheren Einkommen. Eine sach- des Grundfreibetrages als nach dem Steuerprogramm gerechte Beurteilung der Steuersenkung darf sich der SPD. daher nicht auf den Vergleich absoluter Entlastungs- beträge beschränken, sondern muß auch die bisherige Zu Frage 38: und die verbleibende Steuerbelastung berücksichti- gen. Der Gesetzentwurf zur Erweiterung der Steuersen- kung 1988 ist am 1. April 1987 von der Bundesregie- rung beschlossen und den gesetzgebenden Körper- Zu Frage 36: schaften zugeleitet worden. Damit wird ein Teil der Nach Auffassung der Bundesregierung entspricht von den Koalitionsparteien für 1990 geplanten weiter- eine progressive Einkommensbesteuerung dem führenden Steuerreform aus gesamtwirtschaftlichen Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähig- Gründen vorgezogen. Das Steuersenkungsgesetz keit und dem Sozialstaatsprinzip. Deshalb ist es vom 1986/88 liegt ebenso wie das Steuersenkungs-Erwei- Grundsatz her folgerichtig, wenn Steuerzahler bei terungsgesetz voll auf der mittel- bis langfristig ange- entsprechender Zunahme des Einkommens in die Pro- legten Linie der Steuerpolitik der Bundesregierung gressionszone des Einkommensteuertarifs hinein- zur Schaffung eines sozial ausgewogenen, leistungs- wachsen. und investitionsfördernden Steuersystems. Wichtiger als der Anteil der mit steigenden Steuer- sätzen belasteten Steuerzahler ist die Ausgestaltung der Progression. Der von der Bundesregierung ange- strebte arbeits-, mittelstands- und familienfreundliche Anlage 12 sanft ansteigende geradlinig-progressive Zukunfts- Antwort tarif bringt eine grundlegende Verbesserung. des Parl. Staatssekretärs Dr. Häfele auf die Frage des Der Anstieg der Grenzsteuersätze wird gleichmäßig Abgeordneten Kastning (SPD) (Drucksache 11/93 und schonend über die gesamte Progressionszone Frage 39) : verteilt. Trifft es zu, daß die für 1990 beabsichtigte Anhebung der Kin- Im unteren Progressionsbereich zwischen 18 000 derfreibeträge für die Bezieher von Spitzeneinkünften zu einer DM und 60 000 DM („Facharbeiterbereich") steigt die jährlichen Steuerentlastung von 212 DM führt? Grenzbelastung nach Ja. Die durch Kinderfreibeträge erreichte Abstu- — dem alten, bis 1985 geltenden Tarif von 22 vom fung der Steuerbelastung zwischen Steuerzahlern Hundert um 28 Prozent-Punkte auf rund 50 vom gleichen Einkommens mit und ohne Kinder ist keine Hundert Steuervergünstigung im Sinne einer Steuersubven- — dem Zukunftstarif 1990 von 22 vom Hundert nur tion, sondern entspricht der Steuergerechtigkeit. noch 13 Prozent-Punkte auf 34,8 vom Hundert. Eine Auswirkung der Kinderfreibeträge spiegel- Mit der Abflachung der Progressionssteuersätze bildlich zu unserem progressiven Einkommensteuer- wird also endlich eine Besteuerung verwirklicht, die tarif ist keine Bevorzugung höherer Einkommen, son- berufliche Leistung dauerhaft anerkennt, das heißt dern stellt lediglich sicher, daß für alle Steuerzahler — auch in der Vorausschau wachsender Löhne und unabhängig von der Höhe des Einkommens — für Gehälter, bei beruflichem Aufstieg und unternehme- Kinder der gleiche Betrag von der Einkommensbe- rischem Erfolg. steuerung freigestellt wird. 446* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Anlage 13 Anlage 14 Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Häfele auf die Fragen des des Parl. Staatssekretärs Dr. Häfele auf die Fragen des Abgeordneten Oesinghaus (SPD) (Drucksache 11/93 Abgeordneten Dr. Hauchler (SPD) (Drucksache 11/93 Fragen 40 und 41) : Fragen 42 und 43): Kann die Bundesregierung die Erhöhung indirekter Steuern Wie ist in Anbetracht der Tatsache, daß Verheiratete mit Kin- zur Finanzierung der Steuersenkung 1990 verbindlich aus- dern im Einkommensbereich zwischen 70 000 DM und schließen? 170 000 DM geringer entlastet werden als Verheiratete ohne Kann die Bundesregierung den Abbau arbeitnehmerspezifi- Kinder, die Aussage von Bundeskanzler Kohl in seiner Regie- scher Steuervergünstigungen zur Finanzierung der Steuersen- rungserklärung zu verstehen, daß das Schwergewicht der Steu- kung 1990 verbindlich ausschließen? erentlastung bei Familien liege?

Trifft es zu, daß die für 1990 beabsichtigte Anhebung der Kin- Die Antwort ist inhaltlich gleich wie die auf die derfreibeträge für die Bezieher kleiner Einkünfte lediglich eine Frage Nr. 28 des Kollegen Huonker: Steuerentlastung um 2 DM im Monat bewirkt und daß auch der Kindergeldzuschlag nur um diesen Betrag angehoben werden Die Koalitionsparteien haben mit ihren steuerpoliti- soll? schen Beschlüssen die Eckpunkte der für 1990 geplanten Steuerreform beschlossen. Sie soll eine Bruttoentlastung von 44 Milliarden DM umfassen. Zur Zu Frage 40: Finanzierung der Reform sollen steuerliche Bei gleichem Bruttolohn kann sich für Steuerzahler Umschichtungen in Höhe von 19 Milliarden DM erfol- mit Kindern eine geringere Entlastung als bei Steuer- gen. pflichtigen ohne Kinder ergeben, weil die Kinderfrei- Nach Feststellung der Koalition macht es die beträge von der Bemessungsgrundlage abzuziehen geplante nachhaltige Tarifsenkung für alle Einkom- sind und insoweit schon die Steuerbelastung nach mensteuerpflichtigen möglich, einen Teil dieses Um- geltendem Recht vermindert haben. schichtungsbetrags von 19 Milliarden DM im Sinne einer Vereinfachung des Steuersystems durch den Bei gleichem zu versteuernden Einkommen und Abbau von Steuervergünstigungen und steuerlichen gleichem Familienstand erhalten Steuerzahler mit Sonderregelungen zu gewinnen. Geprüft werden soll Kindern durch Anhebung des Kinderfreibetrages eine auch, ob im Rahmen des Gesamtplans eine begrenzte höhere Entlastung als Steuerzahler ohne Kinder. Anhebung einzelner indirekter Steuern erforderlich Familien sind daher bei der Steuerreform nicht ist. benachteiligt. Vielmehr entfallen auf die Steuerzahler mit Kindern über 50 vom Hundert der Entlastungen, Die Bundesregierung wird bis zur Vorlage des während sie weniger als 40 vom Hundert der Steuer- Gesetzentwurfs für die Steuerreform die dafür not- pflichtigen stellen. wendigen Einzelentscheidungen treffen. Bevor diese Entscheidungen getroffen worden sind, können über Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß neben der einzelne Finanzierungsteile und deren Auswirkungen Steuerentlastung der Familienlastenausgleich auch auf die Gesamtentlastung einzelner Steuerzahler durch eine Erhöhung des Kindergeldes, des Kinder- keine näheren Aussagen gemacht werden. Das Ziel geldzuschlags sowie durch eine Erweiterung von ist, daß alle Steuerzahler im Ergebnis entlastet wer- Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub verbessert den. werden soll.

Anlage 15 Zu Frage 41: Antwort Bezieher kleiner Einkommen werden durch die Anhebung des Grundfreibetrages, die Senkung des des Parl. Staatssekretärs Dr. Häfele auf die Frage Eingangssatzes und die Erhöhung des Kinderfreibe- des Abgeordneten Dr. Klejdzinski (SPD) (Druck- trages entlastet. sache 11/93 Frage 44): Hält die Bundesregierung es für notwendig, die Spieleinnah- Ein Familienvater mit zwei Kindern (Steuerklasse men steuerlich besser zu erfassen, indem beispielsweise durch III/2) und einem kleinen zu versteuernden Einkom- Verplombung geeigneter Zählautomaten die ein- und ausge- worfenen Geldbeträge nachprüfbar gemacht werden? men von beispielsweise 18 000 DM erfährt im Ver- gleich zum geltenden Recht (Tarif 1988) eine Entla- Maßnahmen wie der Einbau verplombter Zähler in stung um insgesamt 882 DM oder 45,3 vom Hundert Spielautomaten würden die Nachprüfbarkeit der ein- der bisherigen Steuerbelastung. und ausgeworfenen Geldbeträge verbessern und damit die steuerliche Erfassung der Spieleinnahmen Seit dem 1. Januar 1986 wird für die Eltern, bei erleichtern. denen sich die steuerlichen Kinderfreibeträge nicht Die Frage der besseren steuerlichen Erfassung von oder nicht voll auswirken, ein Kindergeldzuschlag Spieleinnahmen ist mit den Ländern erörtert worden. von bis zu 46 DM monatlich gezahlt. Diese haben sich dagegen ausgesprochen, den Ein- Der Kindergeldzuschlag muß entsprechend dem bau plombierter Zählwerke in Spielautomaten vorzu- veränderten Eingangssatz des neuen Zukunftstarifs schreiben. Gründe hierfür waren angepaßt werden. Einzelheiten sind noch nicht ausge- — der Aufwand bei den Automatenherstellern für arbeitet. Einbau und Wartung der Zählwerke Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 447*

— der personelle Aufwand für die Kontrolle der Auto- Anlage 17 maten durch die Finanzverwaltung Antwort — die Benachteiligung der Spielautomatenhersteller des Parl. Staatssekretärs Dr. Riedl auf die Fragen des gegenüber anderen Wirtschaftszweigen mit ähnli- Abgeordneten Eigen (CDU/CSU) (Drucksache 11/93 chen Verhältnissen (Taxigewerbe, Aufsteller von Fragen 46 und 47): Warenautomaten). Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaft ein Antidumpingverfahren für Deshalb hält es auch die Bundesregierung nicht für Harnstoff und möglicherweise auch Kalkammonsalpeter mit dem Ziel durchführt, die Düngemittelimporte aus bestimmten geboten, durch den Einbau verplombter geeigneter Ländern um 20 v. H. bis 40 v. H. zu verteuern, und wenn ja, was Zählwerke in Spielautomaten die steuerliche Erfas- gedenkt die Bundesregierung dagegen zu unternehmen? sung von Spieleinnahmen nachprüfbar zu machen. Wie würdigt die Bundesregierung die Tatsache, daß die Kom- mission der Europäischen Gemeinschaft bei Dünger ein Anti- dumpingverfahren zugunsten einiger Konzerne und zu Lasten von Millionen von Bauern der Europäischen Gemeinschaft bei Agrarprodukten durchführt, jedoch z. B. bei Sauerkirschen und Cornglutenfeed, jede Dumpinggefahr zuläßt?

Zu Frage 46: Die Bundesregierung ist wie vorgeschrieben von Anlage 16 Anfang an im Rahmen des Beratenden Ausschusses in Antwort die Konsultationen zum Antidumpingverfahren ge- gen die Harnstoffeinfuhren mit Ursprung in Kuwait, des Parl. Staatssekretärs Dr. Riedl auf die Frage des Libyen, Saudi-Arabien, UdSSR, Trinidad und Tobago, Abgeordneten Dr. Klejdzinski (SPD) (Drucksache Jugoslawien, CSSR und DDR eingeschaltet worden. 11/93 Frage 45): Das Untersuchungsverfahren vor Ort ist abgeschlos- sen. Mit der Verhängung vorläufiger Antidumping- Teilt die Bundesregierung meine Feststellung, daß in den maßnahmen ist in Kürze zu rechnen. Die Kommission Städten und neuerdings auch mehr und mehr im Kernbereich wird allerdings keine Antidumpingzölle zwischen mittlerer Ortschaften Geschäftsräume, die bisher der allgemei- nen Versorgung der Bevölkerung dienten, durch Spielhallen 20 Prozent und 40 Prozent vorschlagen, sondern ersetzt werden und dieser marktwirtschaftlich orientierte Ver- einen Mindestpreis frei Gemeinschaftsgrenze festset- drängungswettbewerb dadurch begünstigt wird, weil Spielhal- zen, der gegenüber allen betroffenen Einfuhren ein- lenbetreiber Mieteinnahmen bieten, die offensichtlich ihre heitlich sein wird. Als vorläufiger Antidumpingzoll Begründung in hohen Spieleinnahmen haben? soll dann der Differenzbetrag zwischen dem tatsächli- chen Einfuhrpreis frei Gemeinschaftsgrenze und dem Mindestpreis erhoben werden. Die Konsultation der Das von Ihnen angesprochene Problem war schon Mitgliedstaaten im Beratenden Ausschuß hierüber ist Gegenstand verschiedener parlamentarischer Anfra- zur Zeit noch nicht abgeschlossen. gen. Die Bundesregierung ist hierauf u. a. in ihrer Ant- wort auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD zur Angesichts des eindeutig nachgewiesenen Dum- Lage mittelständischer Gewerbebetriebe — insbeson- pings und der dadurch verursachten bedeutenden dere kleiner Einzelhandelsgeschäfte — in den Stadt- Schädigung der Düngemittelindustrie in der Gemein- zentren (Bundestags-Drucksache 10/5866) eingegan- schaft wird die Bundesregierung den vorläufigen gen. Das Resümee darf ich wiederholen: Maßnahmen zustimmen. Sie hat allerdings durchge- setzt, daß das Verfahren auf die jetzt betroffenen Län- Es trifft zu, daß in den letzten Jahren zunehmend der begrenzt bleibt und einige Länder, gegen die sich Spielhallen in Geschäftsräumen ehemaliger Einzel- die Beschwerde ebenfalls gerichtet hatte, ausgenom- handelsgeschäfte u. ä. errichtet worden sind. Die men wurden. Möglichkeit, aufgrund besserer Ertragslage höhere Maßgebend für unsere Zustimmung ist der geringe Mieten zahlen zu können, dürfte allerdings nur eine Auslastungsgrad der betroffenen Gemeinschaftsin- von verschiedenen Ursachen für diese Entwicklung dustrie, der auf den Dumpingeinfuhren beruht, und sein. Maßgebliche Einflußfaktoren sind ferner das das Interesse der Gemeinschaft am Fortbestehen Vordringen problemloser Massenartikel, wachsender einer eigenen Harnstoffproduktion. Kapitalbedarf, steigende Anforderungen an die Ein Verfahren wegen Kalkammonsalpeter ist nicht Unternehmerqualifikation sowie scharfer Wettbe- anhängig. werb. Im Zuge dieser Entwicklung sind auch mittel- ständische Unternehmen aus dem innerstädtischen Zu Frage 47: Markt ausgeschieden, wobei es sich häufig um Unter- Die Kommission mußte im Fall Harnstoff tätig wer- nehmen handelt, die ohnehin schon schwer um ihren den, weil ein entsprechender Antrag der Gemein- Fortbestand zu kämpfen hatten. Fälschlicherweise schaftsindustrie vorlag, während bei Sauerkirschen wird dann die Mietpreisentwicklung als der entschei- und Cornglutenfeed ein Antrag auf Verfahrenseinlei- dende Faktor angesehen, obwohl sie im Grunde meist tung nicht gestellt worden ist. nur der Anlaß, nicht jedoch die Ursache war. Das Antidumpingverfahren ist als Antragsverfahren Im übrigen halte ich es aus marktwirtschaftlichen ausgestaltet, das von der Kommission nicht ex officio Überlegungen nicht für bedenklich, wenn Unterneh- betrieben wird. men im Wettbewerb um Mieträume zum Zuge kom- Sollte eine Beschwerde eingereicht werden, wird men, die eine höhere Miete zu zahlen bereit sind. sie bei schlüssiger Darlegung von Dumping und einer 448* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 dadurch hervorgerufenen bedeutenden Schädigung Koalitionsfraktionen initiativ eingebrachte SVBEG eines Wirtschaftszweiges der Gemeinschaft ebenso wurde im Juli 1986 im Bundesgesetzblatt verkündet. unterstützt werden, wie der Antrag der Harnstoffpro- Die Frist für eine Antragstellung auf die Gewährung duzenten. von Entlastung wurde für das erste Jahr auf den 31. Dezember festgelegt. Diese Fristbestimmung ließ Es ist aber zu bedenken, daß es für die Einleitung eines Antidumpingverfahrens bei Cornglutenfeed von vornherein erkennen, daß nicht alle Anträge im möglicherweise an dem Erfordernis einer Produktion ersten Jahr entschieden werden konnten, sondern daß es zu einem Antragsüberhang auf das Folgejahr in der Gemeinschaft fehlt. (1987) kommen würde. Dieser Antragsüberhang ist Gegen die Sauerkirschenimporte aus Jugoslawien für 1987 trotz einer enormen Kraftanstrengung der das zu äußerst niedrigen Preisen hat die Gemeinschaft Gesetz ausführenden landwirtschaftlichen Alterskas- schrittweise die wesentlichen Erzeugnisse einer Ein- sen auch eingetreten. fuhrlizenz und Mindestpreisregelung unterworfen, Für 1987 wird der Haushaltsansatz von 450 Millio- mit dem Ziel, den durch die Einfuhr drohenden Scha- nen nach derzeitigem Erkenntnisstand unter Berück- den einzudämmen. Ein Antrag auf Einleitung eines sichtigung des Verstärkungsvermerkes in Höhe von Antidumpingverfahrens wurde nicht gestellt und 50 Millionen bei der landwirtschaftlichen Unfallversi- dürfte jetzt angesichts der getroffenen Schutzmaß- cherung und der Befriedigung der Antragsüberhänge nahmen auch nicht mehr zu begründen sein. ausgeschöpft werden. Damit ist der Fall Sauerkirschen im Ergebnis mit dem Fall Harnstoff vergleichbar gelöst worden. In bei- den Fällen konnte Schaden von den betroffenen Pro- duzenten abgewendet werden. Anlage 19 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. von Geldern auf die Fra- Anlage 18 gen des Abgeordneten Kreuzeder (GRÜNE) (Druck- sache 11/93 Fragen 50 und 51) : Antwort Wird die Bundesregierung der EG-Agrarpolitik, die weitere des Parl. Staatssekretärs Dr. von Geldern auf die Fra- Stillegungsprämien in Verbindung mit nationalen Programmen gen des Abgeordneten Kroll-Schlüter (CDU/CSU) ankündigt, folgen und das Herauskaufen landschaftlicher Nutz- (Drucksache 11/93 Fragen 48 und 49): flächen und die weitere Aufteilung der Landschaft in Schutzge- biete und chemieintensive Anbauzonen unterstützen, und wie Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit zur Lösung der will sie damit die Überschüsse abbauen? EG-Agrarprobleme da rin, ganz oder zum Teil die Butter-, Milch- Wird die Bundesregierung mit der Unterstützung dieses Pro- pulver- und Fleischberge der EG zu verschenken, und wenn ja, gramms die Förderschwelle wiedereinführen und Wachstums- an wen? und agrarindustrielle Bet riebe fördern, die gleichzeitig chemie- Welcher Betrag wurde 1986 von den vorgesehenen 450 Mil- intensive Landwirtschaft betreiben und andererseits Teile ihrer lionen DM des Beitragskostenentlastungsgesetzes in der Land- Flächen landschaftspflegerisch gestalten? wirtschaft ausgezahlt? Zu Frage 50: Zu Frage 48: Die EG-Agrarpolitik sieht keine Aufteilung der Die Bundesregierung ist stets dafür eingetreten, daß Landschaft in Schutzgebiete und chemieintensive bedürftige Bevölkerungskreise in den Europäischen Anbauzonen vor. Die Beschlüsse des EG-Ministerra- Gemeinschaften bei dem Abbau der Lagerbestände tes vom 4. März 1987 beinhalten vielmehr u. a. angemessen berücksichtigt werden sollen. — gemeinschaftlich finanzierte Umweltbeihilfen; Dieser Zielsetzung wurde und wird durch eine Viel- zahl von Sonderabsatzmaßnahmen zu erheblich her- — Beihilfen zur Extensivierung der Erzeugung. abgesetzten Preisen und die kostenlose Abgabe an Beide Maßnahmen sollen zur Verringerung der stark benachteiligte Personen im Rahmen der „Kälte- Überschußproduktion beitragen. Die Beschlüsse müs- opferhilfe" entsprochen. sen innerhalb von neun Monaten nach Inkrafttreten in Zur Lösung der EG-Agrarprobleme bedarf es nationales Recht umgesetzt werden. jedoch darüber hinaus einer Vielzahl von Einzelmaß- Der Vorruhestand in Verbindung mit der Flächen- nahmen. Dazu gehören insbesondere die Rückfüh- und Produktionsstillegung ganzer Betriebe oder mit rung der Produktion an die in- und ausländische kauf- der Abgabe der Flächen an Junglandwirte oder zur kräftige Nachfrage sowie die Berücksichtigung von Aufstockung anderer Betriebe ist bisher nicht Anbaualternativen und die Erschließung von Ver- beschlossen worden. Die Bundesregierung mißt dem wendungsalternativen im Nichtnahrungsbereich. Vorruhestand mit der Flächen- und Produktionsstille- gung ganzer Betriebe im Hinblick auf eine Marktent- Zu Frage 49: lastung besondere Bedeutung bei. Die landwirtschaftlichen Alterskassen haben zu Lasten des Haushalts 1986 für Entlastungszahlungen Zu Frage 51: nach dem Sozialversicherungs-Beitragsentlastungs - Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die För- gesetz insgesamt 279,2 Millionen DM abgerufen. derschwelle wieder einzuführen. Durch die Berück- Über den tatsächlichen Bedarf für ein volles Kalender- sichtigung der Einkommenssituation und der Bedürf- jahr besagt diese Zahl jedoch noch nichts. Das von den tigkeit der Landwirte wird angestrebt sicherzustellen, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 449* daß sich die Förderung auf den bäuerlichen Familien- Zu Frage 53: betrieb konzentriert. Agrarindustrielle Betriebe wer- Nach § 12 Wehrpflichtgesetz soll ein Wehrpflichti- den nicht gefördert. ger auf Antrag u. a. dann zurückgestellt werden, wenn die Heranziehung zum Wehrdienst für ihn aus persönlichen Gründen eine besondere Härte bedeu- ten würde, insbesondere wenn für seine Kinder besondere Notstände zu erwarten wären. Anlage 20 Wie eine besondere Härte vermieden werden kann, Antwort hängt von den Umständen im Einzelfall ab. Die Ver- sorgung und Betreuung muß nicht notwendigerweise des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Frage des von der Mutter in Person erbracht werden; diese Mög- Abgeordneten (SPD) (Drucksache 11/93 Dr. Spöri lichkeit kann jedoch nicht allein wegen ihrer Berufstä- Frage 52) : tigkeit von vornherein außer Betracht bleiben. Die Ist die Bundesregierung angesichts der Chancen auf ein posi- Ehegatten sind aus der gemeinsamen Verantwortung tives Ergebnis der Genfer Verhandlungen über einen Abbau der für die Kinder gehalten, bei der Wahl und Ausübung Mittelstreckenraketen bereit, auf die amerikanische Regierung dahin gehend einzuwirken, daß die Ausbaumaßnahmen auf einer Erwerbstätigkeit auf die Belange der Familie die dem Heilbronner Raketenstandort Waldheide, die sich bis 1988 gebotene Rücksicht zu nehmen. Erforderlichenfalls auf 55 Millionen DM belaufen sollen, umgehend gestoppt wer- müssen sie daher vorübergehend eine Neuverteilung den? der Pflichten innerhalb der Ehe vornehmen.

Die jüngsten Gespräche in Genf über eine Null Zu Frage 54: Lösung für weitreichende Mittelstreckenwaffen in Die zitierte Begründung stützt sich auf ein Urteil des Europa sind ermutigend und ein Beweis dafür, daß die Verwaltungsgerichts Würzburg. Die Wehrersatzbe- konsequente Druchsetzung des NATO-Doppelbe- hörden haben die zum Wehrpflichtgesetz ergangene schlusses mit seinen beiden Teilen — Verhandlung Rechtsprechung bei ihren Entscheidungen zu berück- über einen Verzicht auf beiden Seiten und weiterer sichtigen. Die Begründung trägt dem Umstand Rech- Aufstellung der Waffensysteme solange das Verhand- nung, daß die Wehrpflicht mit Verfassungsrang aus- lungsziel nicht erreicht ist — Erfolge zu zeigen gestattet ist. beginnt. Wenn die Betreuung und Versorgung minderjähri- Die Bundesregierung unterstützt nachhaltig alle ger Kinder nur für wenige Tage übernommen wird, Bemühungen der Verhandlungspartner, die zum kon- d. h. solange der wehrpflichtige Ehemann verhindert trollierten Abbau der weitreichenden Mittelstrecken- ist, wird dadurch die berufliche Selbstverwirklichung waffen führen. Solange allerdings kein Abkommen der Frau nicht berührt. vereinbart ist, das die Stationierung dieser Waffensy- steme unnötig macht, müssen die Maßnahmen getrof- fen werden, die die Sicherheit und Einsatzfähigkeit der Waffensysteme, also auch der Pershing II-Rake- Anlage 22 ten, gewährleisten. Antwort Dazu dienen die Baumaßnahmen auf der Wald- heide. des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des Abgeordneten Eylmann (CDU/CSU) (Drucksache 11/ 93 Fragen 55 und 56) : Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, wie viele Soldaten auf Zeit nach Beendigung ihrer Dienstzeit arbeitslos werden? Anlage 21 Welche Überlegungen gibt es, diesem Personenkreis beim Antwort Übergang in das Zivilleben gezielt mit beschäftigungspoliti- schen Maßnahmen zu helfen? des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des- Abgeordneten Sieler (Amberg) (SPD) (Drucksache Zu Frage 55: 11/93 Fragen 53 und 54): Gesicherte Zahlen zur Arbeitslosigkeit ehemaliger Hält es die Bundesregierung für vereinbar mit ihrer Frauen- Zeitsoldaten stehen uns im Augenblick noch nicht zur und Familienpolitik, daß die Wehrbereichsverwaltung den Verfügung. Die Bundesanstalt für Arbeit sieht sich Zurückstellungsantrag eines wehrpflichtigen Familienvaters von einer Wehrübung mit der Begründung ablehnt, von seiner in bisher außerstande, uns diese Zahlen zu geben, da die Schichtarbeit als Krankenschwester arbeitenden Ehefrau sei für Zeitsoldaten in der Arbeitslosenstatistik der Bundes- die Zeit der Wehrübung zu erwarten, daß sie als Mutter ihre anstalt nicht gesondert erfaßt werden und auch künf- Berufstätigkeit für die bisher vom Vater mit übernommene tig ohne vertretbaren personalwirtschaftlichen Mehr- Betreuung und Versorgung der minderjährigen Kinder unter- breche? aufwand nicht ermittelbar sind.

Teilt die Bundesregierung im Hinblick auf ihre Frauenpolitik Bei Umfragen, die das Bundesministerium der Ver- die Auffassung der Wehrbereichsverwaltung, die Berufstätig- teidigung mit „Bordmitteln" durchgeführt hat, konnte keit der Ehefrau stehe im Gegensatz zur Wehrpflicht des Ehe- insgesamt festgestellt werden, daß die Arbeitslosig- mannes „von vornherein unter der Schranke der Familienver- keit ehemaliger Soldaten auf Zeit im Vergleich zu ent- träglichkeit", mit anderen Worten: die berufliche Selbstverwirk- lichung der vom Wehrpflichtgesetz nicht betroffenen Frau sei sprechenden Altersjahrgängen erfreulich niedrig also der Pflicht des Mannes nachrangig? liegt. 450 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode -- 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Zu Frage 56: bare Verbesserungen in diesem Zusammenhang Soldaten auf Zeit erhalten in Abhängigkeit zur erreicht wurden. Länge der Verpflichtungszeit eine Berufsförderung nach Maßgabe des Soldatenversorgungsgesetzes. In Ausführung dieses gesetzlichen Auftrages unter- nimmt die Bundeswehr große Anstrengungen, diesen Anlage 24 Soldaten eine erfolgreiche Rückkehr in das zivile Berufsleben zu ermöglichen. Gleichzeitig erhalten sie Antwort finanzielle Leistungen in Gestalt von Übergangsbei- des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des hilfe und Übergangsgebührnissen. Abgeordneten Gerster (Worms) (SPD) (Drucksache 11/93 Fragen 59 und 60): Welchen Beitrag hat die Bundesregierung i. S. der Ausführun- gen von Bundesverteidigungsminister Dr. Wörner in dem 1983 Anlage 23 erschienenen Buch „Die Atomschwelle heben" ( „Die NATO muß die Nuklearschwelle so weit heben, daß sie nicht durch die Antwort Entwicklung der militärischen Lage allein zu der Entscheidung des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des für den Nuklearwaffeneinsatz gezwungen wird."), bisher kon- Abgeordneten Leidinger (SPD) (Drucksache 11/93 kret geleistet? Fragen 57 und 58): Sind auch für die Militärstrategie aktuelle Konsequenzen ergriffen worden, um den frühen Ersteinsatz von Atomwaffen im Treffen die Vorwürfe der Zeitschrift „Natur" in der Aprilaus- Verteidigungsfall unwahrscheinlich zu machen, und werden gabe 1987 über den Inhalt einer seit 1985 vorliegenden Exper- strategische Szenarien für Übungen im westlichen Bündnis dem tise zu, nach dem in allen 184 Standortverwaltungen der Bun- politischen Ziel „Die Atomschwelle heben" angepaßt? deswehr schwere Mangel im Umweltbereich und Verstöße gegen geltende Vorschriften festgestellt wurden, und welche wesentlichen Mängel und Tatbestände enthält diese Exper- Zu Frage 59: tise? Die Bundesregierung hat sich in ihrer eigenen Warum wurde die oben angeführte Expertise bisher unter Verschluß gehalten, und welche Maßnahmen hat das Bundes- sicherheitspolitischen Arbeit wie auch bei ihrer Mitar- ministerium der Verteidigung zur Mängelabstellung bisher beit im Bündnis stets von dem zitierten Gedanken lei- ergriffen? ten lassen. Die hierzu ergriffenen und eingeleiteten konkreten Maßnahmen sind vielfältig. Zu Frage 57: Als grundlegende Weichenstellung der letzten Der Artikel in der Zeitschrift „natur" enthält eine Jahre erwähne ich die nachhaltige Stärkung der kon- Fülle falscher Behauptungen. Richtig ist jedoch, daß ventionellen Verteidigungsfähigkeit als Schwerpunkt das Bundesministerium der Verteidigung bereits im der Bundeswehrplanung für die neunziger Jahre. Jahre 1979 der Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft Als konkrete Vorhaben zur Verwirklichung dieser in Ottobrunn einen Studienauftrag erteilt hat. Im Rah- Planung seien genannt: men dieses Studienauftrags wurde 1981 der damalige Zustand der Umweltvorrichtungen und Maßnahmen — Maßnahmen zur Verbesserung der konventionel- in Bundeswehrliegenschaften ermittelt. Es handelt len Durchhaltefähigkeit, wie zusätzliche Beschaf- sich dabei um die erste Bestandsaufnahme dieser Art fung moderner Munition für eine Großorganisation in der Bundesrepublik — Maßnahmen zur Förderung der Verfügbarkeit Deutschland. konventioneller Verstärkungskräfte (wartime host nation support; bilaterale Vereinbarungen mit Zu Frage 58: Frankreich) Der Schlußbericht der Industrieanlagen-Betriebs- — Maßnahmen zur Verbesserung der Aufklärungsfä- gesellschaft war ursprünglich als „VS — Nur für den higkeit und der Luftverteidigungsfähigkeit. Dienstgebrauch" eingestuft, da der Bericht einen zusammenfassenden Einblick in die militärischen Lie- Auch der Bündnisbeschluß von Montebello (1983) genschaften von Flensburg bis Mittenwald gibt. Spä- mit seiner Zielsetzung einer Verringerung des nu- ter wurde der Bericht für „offen" erklärt. klearen Potentials der NATO in Europa bei gleichzei- tiger Modernisierung der verbleibenden Systeme Die in der Zeitschrift „natur" veröffentlichte Bilanz wirkt in Richtung auf eine Hebung der Nuklear- von 1981 stimmt mit der Realität von heute nicht mehr schwelle. überein. Das gilt für alle Wehrbereiche und alle Män- gel-Arten dieser Bilanz: Zu Frage 60: So wurden bisher — und werden auch zukünftig — mit einem Mittelaufwand in Milliardenhöhe umwelt- Die ständige Anpassung von Komponenten der begünstigende Maßnahmen in den Bereichen Heiz- Allianzstrategie an sich ändernde Rahmenbedingun- anlagen, Wasser/Abwasser, Müll und Sondermüll gen ist mit den bereits geschilderten Entwicklungen sowie Lärmentlastung ergriffen. verbunden. Der entsprechende Artikel läßt völlig außer acht, Zahlreiche Initiativen im Bündnis von europäischer daß aufbauend auf der alten Studie ab 1982 mit bis und amerikanischer Seite belegen die Bedeutung, dahin ungewöhnlich hohem Einsatz an Finanzen und die der Verbesserung der konventionellen Verteidi- Personal sowie ergänzenden Dienstanweisungen für gungsfähigkeit für eine glaubwürdige und wirksame die Ausbildung in und außerhalb der Kasernen spür- Umsetzung der Bündnisstrategie beigemessen wird. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 451*

Augenfälligstes Ergebnis ist die bündnisgemeinsam Zu Frage 63: getragene Planungsrichtlinie zu „Conventional Boris Becker hat seinen Wohnsitz bereits mit 16 Jah- Defence Improvement" . Übungsszenarien entspre- ren — noch bevor er unter die Vorschriften des Wehr- chen im Rahmen des Möglichen der gültigen Strate- pflichtgesetzes fiel — nach Monaco verlegt. Das tat er gie. damals nicht aus dem Grunde, sich der Wehrpflicht zu entziehen, sondern hierzu gaben sportliche Gründe den Anlaß, nämlich die Tatsache, daß er dort ganzjäh- rig und mit bereits zur Spitzenklasse der Welt gehö- Anlage 25 renden Spielern trainieren konnte. Antwort Er hat in Monaco seine Wohnung, ist von seinen Eltern wirtschaftlich unabhängig und verdient seinen des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des Lebensunterhalt überwiegend im Ausland; im Bun- Abgeordneten Dr. Soell (SPD) (Drucksache 11/93 desgebiet hält er sich nur gelegentlich und kurz auf. Fragen 61 und 62): Nach der Rechtslage ruht daher seine Wehrpflicht. Ist der Bundesregierung bekannt, ob und wann der Tennis- spieler Boris Becker seinen Wehrdienst bzw. zivilen Ersatzdienst Solange dieser Zustand andauert, kann er nicht zum in der Bundesrepublik Deutschland abzuleisten gedenkt? Grundwehrdienst herangezogen werden. Falls dies der Bundesregierung nicht bekannt sein sollte, ist Ich gehe davon aus, daß Becker zum gegebenen die Bundesregierung bereit, darauf hinzuwirken, daß Boris Bek- Zeitpunkt sich „freiwillig" zum Ableisten des Wehr- ker, der öffentlich als „Vorbild der deutschen Jugend" präsen- dienstes in unserer Bundeswehr melden wird. tiert wird, alsbald seiner staatsbürgerlichen Pflicht nach- kommt? Zu Frage 64: Zu Frage 61: Eine Verschärfung ist zum 1. Juli 1986 in Kraft Boris Becker hat seinen Wohnsitz bereits mit 16 Jah- getreten insoweit, als Wehrpflichtige, die ihren stän- ren — noch bevor er unter die Vorschriften des Wehr- digen Aufenthalt außerhalb des Bundesgebietes pflichtgesetzes fiel — nach Monaco verlegt. Das tat er haben, sich aber tatsächlich innerhalb des Bundesge- damals nicht aus dem Grunde, sich der Wehrpflicht zu bietes aufhalten, einberufen werden können. entziehen, sondern hierzu gaben sportliche Gründe den Anlaß, nämlich die Tatsache, daß er dort ganzjäh- rig und mit bereits zur Spitzenklasse der Welt gehö- renden Spielern trainieren konnte. Anlage 27 Antwort Er hat in Monaco seine Wohnung, ist von seinen Eltern wirtschaftlich unabhängig und verdient seinen des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des Lebensunterhalt überwiegend im Ausland; im Bun- Abgeordneten Kühbacher (SPD) (Drucksache 11/93 desgebiet hält er sich nur gelegentlich und kurz auf. Fragen 65 und 66) : Nach der Rechtslage ruht daher seine Wehrpflicht. Trifft es zu und welche Gründe waren maßgeblich, daß im Leitungsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung eine Solange dieser Zustand andauert, kann er nicht zum Entscheidung getroffen worden ist, daß der Deutsche Boris Bek- Grundwehrdienst herangezogen werden. ker, der seinen Wohnsitz aus Baden-Württemberg nach Monaco verlegt hat, nicht zur Wehrpflicht herangezogen wird, weil er Ich gehe davon aus, daß Becker zum gegebenen seinen Lebensmittelpunkt außerhalb der Bundesrepublik Zeitpunkt sich „freiwillig" zum Ableisten des Wehr- Deutschland genommen habe? dienstes in unserer Bundeswehr melden wird. Werden künftig junge Männer, die z. B. in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Frankreich, der Schweiz, Österreich, Zu Frage 62: Dänemark oder sonstwo im Ausland ihren Wohnsitz nehmen, um zu studieren oder zu arbeiten, auch nicht zur Wehrpflicht Rechtliche Möglichkeiten bestehen für die Bundes- herangezogen, und würde über eine solche Entscheidung der regierung nicht. Wir würden es jedoch aus mannigfal- Grundsatz der Wehrgerechtigkeit gewahrt bleiben? tigen Gründen sehr begrüßen, wenn Becker sich die- ser Pflichterfüllung freiwillig stellen wird. Zu Frage 65: Boris Becker hat seinen Wohnsitz bereits mit 16 Jah- ren — noch bevor er unter die Vorschriften des Wehr- pflichtgesetzes fiel — nach Monaco verlegt. Das tat er Anlage 26 damals nicht aus dem Grunde, sich der Wehrpflicht zu entziehen, sondern hierzu gaben sportliche Gründe Antwort den Anlaß, nämlich die Tatsache, daß er dort ganzjäh- des Parl. Staatssekretärs Würzbach auf die Fragen des rig und mit bereits zur Spitzenklasse der Welt gehö- Abgeordneten Dr. Emmerlich (SPD) (Drucksache renden Spielern trainieren konnte. 11/93 Fragen 63 und 64): Er hat in Monaco seine Wohnung, ist von seinen Trifft es zu, daß der Tennisspieler Boris Becker nicht zum Eltern wirtschaftlich unabhängig und verdient seinen Wehrdienst herangezogen wird, wenn ja, aus welchen Lebensunterhalt überwiegend im Ausland; im Bun- Gründen? desgebiet hält er sich nur gelegentlich und kurz auf. Hält die Bundesregierung eine Anderung des Wehrpflichtge- Nach der Rechtslage ruht daher seine Wehrpflicht. setzes für erforderlich, damit gegen den Gleichbehandlungs- grundsatz verstoßende Freistellungen von der Wehrpflicht Solange dieser Zustand andauert, kann er nicht zum zukünftig ausgeschlossen werden? Grundwehrdienst herangezogen werden. 452 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Ich gehe davon aus, daß Becker zum gegebenen Sie wird die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet Zeitpunkt sich „freiwillig" zum Ableisten des Wehr- aufmerksam beobachten. dienstes in unserer Bundeswehr melden wird.

Zu Frage 66: Bei Vorliegen der gleichen Voraussetzungen könn- Anlage 29 ten auch andere junge Männer, die wie Boris Becker Antwort vor der Erfassung ihres Geburtsjahrganges ihren stän- digen Aufenthalt ins Ausland verlegt und dort ihren des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Frage des Abgeordneten Lebensmittelpunkt begründet haben, nicht zum Dr. Pick (SPD) (Drucksache 11/93 Wehrdienst einberufen werden. Vergleichbare Fälle Frage 68): sind bisher nicht bekannt geworden und sind in nen- Teilt die Bundesregierung die Auffassung des baden-würt- nenswerter Zahl nicht zu erwarten. tembergischen Kultusministers Dr. Meyer-Vorfelder, der laut einem Bericht der „Allgemeinen Zeitung" Mainz in einem Eine Verschärfung ist zum 1. Juli 1986 in Kraft Rundschreiben Ringen und Boxen als aidsgefährdende Sportar- getreten insoweit, als Wehrpflichtige, die ihren stän- ten bezeichnet hat, und ist sie bereit, zu dem Thema in geeig- neter Form Stellung zu nehmen? digen Aufenthalt außerhalb des Bundesgebietes haben, sich aber tatsächlich innerhalb des Bundesge- bietes aufhalten, einberufen werden können. Bei den Übertragungswegen für die Immunschwä- chekrankheit AIDS kann man zwar grundsätzlich davon ausgehen, daß bei Kampfsportarten durch Ver- letzungen unmittelbare Blutkontakte erfolgen kön- nen, die eine Übertragung des Krankheitserregers Anlage 28 nicht ausgeschlossen erscheinen lassen. Aus der ein- schlägigen Literatur ist aber bislang kein Fall Antwort bekannt, bei dem eine Infektion auf diesem Wege des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Frage der angenommen werden kann. Die Deutsche Vereini- Abgeordneten Frau Würfel (FDP) (Drucksache 11/93 gung zur Bekämpfung der Viruserkrankungen hat Frage 67): gemeinsam mit Vertretern der Bundesregierung bereits im Herbst 1985 diese Frage geprüft, sie hat Ist es richtig, daß Heilpraktiker AIDS behandeln dürfen, da diese Krankheit zwar dem Bundes-Seuchengesetz unterliegt, dazu bislang keine warnende Stellungnahme abge- aber dort nicht aufgeführt ist? geben. Vor diesem Hintergrund hat der Kultusminister des Nach dem Bundesseuchengesetz ist die Behand- Landes Baden-Württemberg in seinen „Arbeitsmate- lung von Personen, die an einer übertragbaren Krank- rialien" für Lehrer im Rahmen der durch die Schul- heit erkrankt oder dessen verdächtigt sind, im Rah- pflicht begründeten besonderen Fürsorgeverpflich- men der berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde nur tung auf eine nach dem gegenwärtigen Erkenntnis- Ärzten gestattet. Diese Regelung betrifft allerdings stand allenfalls theoretische Ansteckungsmöglichkeit nur namentlich im einzelnen aufgeführte hochinfek- hingewiesen. tiöse Erkrankungen, die durch normale soziale Kon- takte oder bei Nichtbeachtung der für sie geltenden besonderen Hygienebestimmungen übertragen wer- den, was auf AIDS nicht zutrifft. AIDS wird vorwie- gend durch Geschlechtsverkehr übertragen. Anlage 30 Antwort Durch die Regelungen des Bundesseuchengesetzes wird u. a. beabsichtigt, die Einhaltung der Hygiene- des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Fragen des auflagen kontrollieren, anordnen oder auch Behand- Abgeordneten Antretter (SPD) (Drucksache 11/93 lungsstätten schließen zu können. Die weltweite Fragen 69 und 70): Beobachtung von Krankenpflegepersonal in unmittel- Wird ein Bundesmodell in der Drogenarbeit (Ganztagsbetreu- barem Kontakt mit AIDS-Kranken hat belegt, daß bei ung), das mit der Zielsetzung eines verstärkten Behandlungsan- Einhaltung der allgemeinen Hygienebestimmungen gebots ini ambulanten Bereich vorgesehen war, und dessen eine Übertragung nicht zu befürchten ist, ausgenom- Konzeptionsarbeit sowie Ausschreibungen im Dezember 1986 gestoppt wurden, da die Gelder dafür dem Bundesminister fur men Stich- oder Schnittverletzungen, bei denen eine Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit gesperrt wurden, wei- Mindestmenge von infiziertem Blut in die Blutbahn tergeführt? des Verletzten gelangt. Bis zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen ist Die derzeitige Rechtslage erlaubt deshalb allen zur gegebenenfalls mit einer konkreten Finanzierung zu rechnen? Ausübung der Heilkunde berechtigten Personen, also Ärzten und auch Heilpraktikern, Vor- und Vollbild- Der Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen erkrankungen von AIDS zu behandeln. Aus den und Gesundheit plant seit über einem Jahr in Zusam- geschilderten Gründen kann auf einen Behandlungs- menarbeit mit den Drogenbeauftragten der Länder vorbehalt aus seuchenhygienischer Sicht verzichtet ein Modellprogramm „Ambulante G anztagsbetreu- werden. Die Bundesregierung geht dabei davon aus, ung Drogenabhängiger" ; mit diesem Programm im daß Heilpraktiker und Patienten so handeln, wie sie in Rahmen dessen grundsätzlich ein Projekt in jedem der Regel in Problemlagen schon immer verfahren, Bundesland eingerichtet werden soll, beabsichtigt der d. h. einen Arzt an der Behandlung beteiligen. Bund, ambulante oder teilstationäre Alternativen zu Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 453' der heute ganz überwiegenden stationären Langzeit- dergeldzuschlagsregelung im Jahre 1986 entstanden therapie bei Drogenabhängigen zu entwickeln. ist, läßt sich nicht beziffern, da die Verwaltungsko- Das neue Modellprogramm sollte ab 1. Januar 1987 sten-Abrechnung der Bundesanstalt für Arbeit nicht anlaufen, sobald und soweit entsprechende Anträge im einzelnen aufgeschlüsselt ist. Die Verwaltungsko- sten für die Durchführung des 11. Änderungsgesetzes aus den Ländern vorlägen. zum Bundeskindergeldgesetz (Kindergeldzuschlag, Mit einigen Ländern, die bereits im Herbst 1986 ent- Vollwaisenkindergeld, Erhöhung der für die einkom- scheidungsreife Anträge gestellt hatten, wurden mensabhängige Minderung geltenden Freibeträge) damals Absprachen über einen programmgemäßen waren im Haushalt 1986 auf insgesamt 15 Millionen Beginn getroffen. Anfang Dezember 1986 wurde dann DM veranschlagt worden. Es liegen keine Anhalts- jedoch der einschlägige Förderungstitel des Bundes- punkte dafür vor, daß dieser Betrag überschritten wor- ministeriums für Jugend, Familie, Frauen und den ist. Gesundheit bei der Verabschiedung des Bundeshaus- halts 1987 mit einer sechsprozentigen Haushalts- sperre belegt. Deshalb mußte die Bewilligung der noch nicht fest Anlage 32 zugesagten Projekte zurückgestellt werden. Im übri- Antwort gen lagen zu diesem Zeitpunkt aus den meisten Län- dern noch keine entscheidungsreifen oder überhaupt des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Frage des keine Anträge vor. Mit den Drogenbeauftragten Abgeordneten Kastning (SPD) (Drucksache 11/93 wurde Mitte März 1987 geklärt, daß das Ministerium Frage 73): geeignete Projekte der Länder spätestens zum Was ist der Grund dafür, daß die Bundesregierung zwar 1. August 1987 grundsätzlich bewilligen kann. bereits konkret eine Erhöhung der steuerlichen Kinderfreibet- räge ab 1990 angekündigt hat, über die angestrebte Erhöhung Die endgültig formulierten fachlichen und sonsti- des Kindergeldes mit Wirkung ab 1989 aber erst nach Vornahme gen Bedingungen der Förderung werden in diesen eines in der Mitte der Legislaturperiode zu machenden „Kassen- Tagen den Drogenbeauftragten mit der Bitte um Wei- sturzes" entschieden werden soll (vgl. „General-Anzeiger" vom terleitung an die betreffenden Träger zugeleitet. 11. März 1987)?

Nachdem die Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode mit dem 10-Milliarden-DM-Famili- enpaket einen grundlegenden Kurswechsel in der Anlage 31 Familienpolitik zugunsten der Familien mit Kindern Antwort vorgenommen hat, wird sie in dieser Legislaturpe- des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Fragen des riode den Familienlastenausgleich weiter verbessern. Abgeordneten Weiß (Kaiserslautern) (CDU/CSU) Es steht fest, daß neben einer weiteren Erhöhung des (Drucksache 11/93 Fragen 71 und 72): Kinderfreibetrages und einer Verlängerung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub auch die Erhö- Ist der Bundesregierung bekannt, wie groß der Anteil der hung des Kindergeldes ab dem 2. Kind, das die vorhe- Sozialhilfeempfänger unter den Anspruchsberechtigten des Kinderzuschlages ist, und daß gerade dieser Personenkreis kei- rige Bundesregierung mit Wirkung vom 1. Januar nen wirtschaftlichen Nutzen vom Kindergeldzuschuß hat, weil 1982 gekürzt hat, noch in dieser Legislaturperiode der Kindergeldzuschuß als Einkommen nach dem Bundessozial- erfolgen wird. hilfegesetz angerechnet wird? Ist der Bundesregierung bekannt, daß somit lediglich eine Verlagerung der Mittel vom Bund auf die Kommunen erfolgt, und rechtfertigt dieses Verfahren den enormen Verwaltungs- aufwand bei der Bundesanstalt für Arbeit? Anlage 33 Antwort Zu Frage 71: des Parl. Staatssekretärs Pfeifer auf die Frage des Es trifft zu, daß der auf Antrag gezahlte Zuschlag Abgeordneten Kuhlwein (SPD) (Drucksache 11/93 zum Kindergeld bei der Sozialhilfe angerechnet wird Frage 74): und in diesen Fällen den Betroffenen im wirtschaftli- chen Ergebnis nicht verbleibt. Diese Anrechnung, die Wie bewertet die Bundesregierung wissenschaftliche Aussa- gen, wonach es in der Bundesrepublik Deutschland etwa sich aus Aufgabe und System der Sozialhilfe ergibt, 500 000 Menschen gebe, die beim Spiel an Glücksspielautoma- entspricht dem Grundsatz des Nachrangs der Sozial- ten „süchtig" geworden sind? hilfe. Die Bundesregierung hat hierzu bereits früher zu entsprechenden Fragen der Abgeordneten Ooster- Bei der Zahl 500 000 handelt es sich um eine Schätz- getelo (BT-Drucksache 10/4634, S. 32) und Würtz zahl, die wissenschaftlich nicht belegt ist. (BT-Drucksache 10/5840 S. 38) Stellung genommen, auf die ich verweise. Der Anteil der zuschlagsberech- Aufgrund zweier empirischer Studien hat das Max- tigten Sozialhilfeempfänger läßt sich mangels ausrei- Planck-Institut für Psychiatrie in München hochge- chender statistischer Unterlagen nicht angeben. rechnet, daß etwa ein Viertel aller Häufigspieler, das sind 20 000 Personen in der Bundesrepublik, durch das Spielen an Geldspielgeräten subjektiv stark bela- Zu Frage 72: stet sind. Dabei ist die subjektiv erlebte Belastung Der zusätzliche Verwaltungsaufwand, der der Bun- nicht automatisch als Behandlungsbedürftigkeit zu desanstalt für Arbeit durch die Durchführung der Kin- verstehen. 454 * Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987

Die Bundesregierung verfolgt das Problem mit Auf- Anlage 35 merksamkeit. Sie ist jedoch der Auffassung, daß wei- Antwort tere empirische Untersuchungen notwendig sind, um eine fundierte Aussage über den Umfang des proble- des Parl. Staatssekretärs Grüner auf die Fragen der matischen Spielverhaltens machen zu können. Abgeordneten Frau Schmidt (Nürnberg) (SPD) (Drucksache 11/93 Fragen 77 und 78): Welche gesetzgeberischen Maßnahmen sind geplant, um zukünftig den Export stark radioaktiv kontaminierten Futtermit- tels ins Ausland unterbinden zu können, und ist der Bundesre- gierung bekannt, ob und in welcher Menge in der Vergangen- Anlage 34 heit auf Grund des Reaktorunfalls in Tschernobyl radioaktiv kontaminierte Futtermittel und Lebensmittel exportiert wur- Antwort den? Warum hat die Bundesregierung, wie sie mir auf meine Frage des Parl. Staatssekretärs Grüner auf die Fragen des vom 2. Februar 1987 geantwortet hat, auf die Vernichtung (oder Abgeordneten Menzel (SPD) (Drucksache 11/93 Fra- auf den Nachweis der Vernichtung) der radioaktiv kontaminier- gen 75 und 76): ten Molke verzichtet, und welche Vorstellungen hatte die Bun- desregierung vor dem Hintergrund dieses Verzichts über den Ist der Bundesregierung ein EG-Vorschlag bekannt, in dem weiteren Verbleib der Molke? gefordert wird, die erlaubten Strahlungsgrenzwerte für Milch und Milchprodukte von 370 Becquerel auf 4 000 Becquerel und Zu Frage 77: für andere Nahrungsmittel von 600 Becquerel auf 2 000 Becque- rel heraufzusetzen? Durch das am 31. Dezember 1986 in Kraft getretene Strahlenschutzvorsorgegesetz (BGB1. I, S. 2610) ist Welche Erkenntnisse sind für diese drastische Erhöhung aus- schlaggebend, und welche Haltung gedenkt die Bundesregie- der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft rung dazu einzunehmen? und Forsten ermächtigt, bei Futtermitteln Beschrän- kungen des Imports, des Inverkehrbringens und auch des Exports durch Rechtsverordnung zu verfügen, Zu Frage 75: soweit dies aus Gründen der Strahlenschutzvorsorge Ein Vorschlag der EG für Kontaminationswerte für angezeigt ist. Auf der Ebene der Europäischen radioaktiv kontaminierte landwirtschaftliche Erzeug- Gemeinschaft wird derzeit ein Verordnungsentwurf nisse liegt nicht vor. vorbereitet, der unter anderem auch Exportbeschrän- kungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse zum Die Kommission hat bei ihrem Vorschlag für eine menschlichen und tierischen Verzehr vorsehen soll. Verlängerung der EG-Ratsverordnung Nr. 1707/86 Eine in allen EG-Mitgliedstaaten verbindliche Rege- Ende Januar 1987 zugleich Mitteilung über den Stand lung ist wegen der Wirksamkeit der Maßnahmen und ihrer Vorüberlegungen für eine dauerhafte Regelung der Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Marktes gemacht, die nach den Vorstellungen der EG die Rats- gegenüber nationalen Regelungen vorzugswürdig. verordnung 1707/86 nach deren Auslaufen ablösen Die Bundesregierung setzt sich daher nachdrücklich soll. In den Materialien zu dieser Mitteilung sind ver- für eine EG-Verordnung ein. schiedene wissenschaftliche Auffassungen zur Her- leitung von Kontaminationswerten aus den maxima- Der Bundesregierung sind keine Fälle von Exporten len Dosiswerten enthalten, darunter auch die von radioaktiv kontaminierter Futter- und Lebensmittel Ihnen genannten Werte. ins Ausland bekannt, deren Aktivität die Einfuhrricht- werte der Ratsverordnung 1707 der Europäischen Ende April 1987 veranstaltet die EG ein wissen- Gemeinschaft überstiegen hätten. Soweit es Meldun- schaftliches Symposium zur Frage der Kontamina- gen über derartige Exporte gab, haben sich diese bei tionshöchstwerte in Luxemburg. Die EG wird die näherer Prüfung nicht bestätigt. Ergebnisse dieses Symposiums auswerten und erst auf dieser Grundlage einen Vorschlag für die Konta- Zu Frage 78: minationswerte machen. Das Bundesverwaltungsamt hat bei der Zahlung eines Schadensausgleichs nach § 38 Abs. 2 Atomge- Zu Frage 76: setz für das kontaminierte Molkepulver die Schadens- feststellung der hierfür zuständigen bayerischen Die in Ihrer vorstehenden Frage genannten Werte Behörden zugrunde gelegt. Ein Vernichtungsnach- beruhen auf einem der verschiedenen in der Diskus- weis wurde in diesem Falle ausnahmsweise nicht sion befindlichen wissenschaftlichen Konzepte. Die- gefordert, da dies angesichts der nicht kurzfristig zu ses ist u. a. dadurch gekennzeichnet, daß es von der erwartenden Lösung des Entsorgungsproblems nicht Annahme ausgeht, daß nur ein bestimmter Prozent- möglich war. satz der Lebensmittel kontaminiert ist. Wenn diese Darüber hinaus war von den zuständigen bayeri- Annahme zuträfe, würde sich tatsächlich ein erheb- schen Behörden die Nichtverkehrsfähigkeit des Mol- lich niedrigerer Mittelwert der Kontamination in der kepulvers als Wirtschaftsgut attestiert worden. Durch menschlichen Nahrung als die genannten Werte erge- die Einschaltung des Freistaates Bayern war sicherge- ben. stellt, daß Erlöse aus einer entgegen den ursprüngli- Die Bundesregierung setzt sich für eine sorgfältige chen Annahmen dennoch möglichen Verwertung des Auswertung der Ergebnisse des wissenschaftlichen Molkepulvers dem Bund zufließen würden. Symposiums Ende April 1987 und für eine Festlegung Nunmehr wurde vom BMU entschieden, daß das der Kontaminationswerte ein, die die erforderliche Molkepulver nach dem Verfahren von Prof. Roiner der Strahlenschutzvorsorge in bestmöglicher Weise ver- Technischen Hochschule Hannover dekontaminiert wirklicht. wird. Hierbei entsteht ein wiederverwertbares Pro- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1987 455* dukt; das dekontaminierte Molkepulver ist uneinge- Der Bundesregierung ist bekannt, daß im Jahre schränkt als hochwertiges Tierfutter verwertbar. Die 1062 ein Erdbeben der Intensität ( „i. Null") Io = VII in geringem Umfang anfallenden radioaktiven Rest- (nicht: VIII) aufgetreten sein soll, das auch in Regens- stoffe können einfach beseitigt werden. burg bzw. in Bayern verspürt wurde. Nach Ansicht der Sachverständigen handelte es sich hierbei um ein kräftiges Erdbeben bei Kon- stanz. Der Raum Regensburg ist kein aktives Bebengebiet. Anlage 36 Wegen seines sedimentären Untergrunds werden hier nur die Erschütterungen, die von entfernt liegenden Antwort Bebenherden kommen, stärker gespürt als an ande- des Parl. Staatssekretärs Grüner auf die Frage des ren Orten. Dem Standort der Wiederaufarbeitungsan- Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg) (GRÜNE) lage Wackersdorf droht daraus keine Gefahr. Der (Drucksache 11/93 Frage 79): Standort ist in seismologischer Hinsicht als günstig zu bezeichnen. Kann die Bundesregierung bestätigen, daß im Jahre 1062 im Raum Regensburg (45 Kilometer von Wackersdorf entfernt) ein Daß nach den KTA-Regeln kerntechnische Anlagen Erdbeben der Stärke I = VIII stattgefunden hat, und ist es rich- nicht an Standorten errichtet werden dürfen, wo in tig, daß nach den KTA-Regeln Atomanlagen nicht an Standorten historischer Zeit Erdbeben mit Stärke Io = VI mit Epi- errichtet werden dürfen, wo in historischer Zeit Erdbeben mit Stärke Io = VI mit Epizentrum im 50-Kilometer Umkreis stattge- zentrum im 50-Kilometer-Umkreis stattgefunden funden haben? haben, trifft nicht zu.