ZeitZeugenBrief Wir organisieren und vernetzen Erinnerungsarbeit  November 2020

Straßenschild Togostraße im Wedding Foto: Melli Swinke

Togo – to go wurden. Zehn Prozent der Bevölkerung wa- Geschichtliches zum Afrikanischen ren um 1900 noch Sklaven.1) Oder an die Viertel in -Wedding Sterilisationsexperimente an Herero-Frauen Von Renate Degner in Deutsch-Südwestafrika (jetzt Namibia) von 1900. – Robert Koch erforschte Tropenkrank- Vor drei Jahren ist das Büro der ZeitZeugen- heiten und stellte die Entdeckung der Thera- Börse aus Berlin Mitte in den Wedding gezo- pien über das individuelle Leid (Atoxyl, das gen, in die Togostraße 74. Dies und ein ge- zwangsweise verabreicht wurde).2) führter Kiezspaziergang im Afrikanischen Viertel waren Auslöser für die Beschäftigung Inhalt mit der Geschichte des Landes Togo und der Degner: Togo – to go 1 damit zusammenhängenden kolonialen Ver- Triesch: Mein Berufseinstieg 4 gangenheit. Sharma: Meine Ausbildung 6 Vielleicht haben einige von Ihnen 2016/2017 Pohl: Probezeit 7 die Ausstellung zu deutschem Kolonialismus Tellmann: „Ich sage immer […] denke“ 9 im Deutschen Historischen Museum in Berlin Leithold: Mein Kriegsende 10 Böhm: Kriegsende 1945 11 durchlaufen und erinnern sich an einzelne In eigener Sache 12 Objekte oder Informationen. Zum Beispiel die Gratulationen 12 Nilpferdpeitsche, mit der Körperstrafen Impressum 12 schmerzvoll an den indigenen Arbeitern, und auch deren Frauen in Sippenhaft, vollzogen

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Deutsche Kolonialgeschichte in Afrika

Die schottische Version einer Karte von Hugo Zöller, der bereits 1884 Togo bereiste und darüber ein Buch veröffentlichte. © Wikimedia Commons. [PD-old-100, gemeinfrei]

Vorläufer war die 1873 gegründete Afrikani- betrug. Die ursprünglichen Afrikaner waren sche Gesellschaft, deren Hauptaufgabe die Schutzbefohlene des Deutschen Reiches geografische Erkundung Afrikas war. Zu der und hatten keine rechtsstaatlichen Mittel. Als Zeit hatten sich schon Händler und Missio- Mandatsgebiet waren die Länder dem Völ- nare in einigen Gebieten angesiedelt. Doch kerbund zugeteilt. Die Indigenen galten als erst 1884 begannen die eigentlichen Koloni- ‚Menschen auf niedriger Reifungsstufe, die alerwerbungen: Kamerun, Togo, Deutsch- man zu behüten, zu belehren und zu erzie- Südwestafrika (= Namibia), Deutsch-Ostaf- hen hatte‘ – und kirchlich zu missionieren -. rika (= Tansania). In der Kongokonferenz Es herrschte Arbeitszwang und Gewalt. 1884/85 in Berlin wurde Afrika unter den Großmächten aufgeteilt, vor allem Frank- Unter Kaiser Wilhelm II (1888-1918) erfolgte reich, England, Belgien, Portugal und dem eine Forcierung der Kolonialpolitik mit anti- Deutschen Reich unter Bismarck. Hinter- muslimischer Stoßrichtung. Spektakulär wa- grund waren vor allem ökonomische Interes- ren Aufstände, deren bekanntester jener der sen, wobei der Handel eine Schutzmacht Herero in Deutsch-Südwestafrika war. Ge- brauchte. Politischer Schutz sicherte ansäs- schätzte 25 Tsd. Herero starben, ebenso ca. sige Kaufleute und deren Besitzungen. Zu- 10 Tsd. Nama, die als Hilfstruppen der Deut- dem gab es militärisch organisierte schen gegen ihre Landsleute gekämpft hat- Polizeitruppen. ten. Am Waterberg in Namibia wird an die Für geringe Kaufsummen verkauften indi- Schlacht von 1904 erinnert. gene Herrscher Gebiete, auf die sie nach af- Die deutsche Kolonialpolitik wurde ab 1905 rikanischem Recht keinen Anspruch hatten. vor allem durch den Chef der Kolonialabtei- Die Rechtslage war unterschiedlich zwischen lung Bernhard Dernburg verändert. Eine hu- Indigenen und Deutschen, welche als privile- manere Behandlung der indigenen Bevölke- gierte Minderheit nur 1 % der Bevölkerung rung (Ausbau von Schulen und medizinischer

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Versorgung) und verbesserte Handelsbedin- Baumwolle und Kolonialwaren (Kakao, Tee, gungen (Ausbau von Straßen, Eisenbahn- Kaffee). Durch Schiffe war es mit Deutsch- strecken und Häfen) scheinen dazu geführt land verbunden, wobei nach 1905 der Hafen zu haben, dass keine großen Aufstände ausgebaut, die Landungsbrücke in Lomé (der mehr erfolgten und die Wirtschaft florierte. Al- Hauptstadt) sowie Leuchttürme und Wetter- lerdings betrugen die Importe aus den afrika- stationen errichtet wurden. Auch der Ausbau nischen Kolonien nur ½ Prozent der deut- der Bahn war entscheidend für den wirt- schen Einfuhr; es wurden mehr deutsche schaftlichen Aufschwung, nicht nur in Togo. Waren in die Kolonien importiert als afrikani- Es gab sogar eine Langstrecken-Funkstation sche exportiert. in Probe zwischen Afrika und Nauen (bei Die fehlende ökonomische Relevanz hin- Berlin). derte nach Rückgabe der Kolonien 1918 Togo wurde nach dem 1. Weltkrieg Mandats- deutsche Politiker nicht daran, diese Gebiete gebiet unter französischer Verwaltung, wo- wieder zurück zu fordern. Zwar hatten alle raus es sich 1960 unabhängig machte. Be- Deutschen – außer in Namibia – die Kolonien grenzt wird es von Benin, Burkina Faso, verlassen müssen, doch sprachen Revisio- Ghana und dem Atlantik. Ein Viertel des Lan- nisten von der ‚Kolonialen Schuldlüge‘. Auch des ist Ackerland, weiterhin gibt es Savanne bestand ab 1924 im Auswärtigen Amt eine mit Antilopen und Elefanten. Das Land hat Kolonialabteilung mit dem Leiter Edmund knapp 8 Mio. Einwohner, wobei die größte Brückner, dem einstigen Gouverneur von Volksgruppe die Ewe ist. Zwei Drittel der Be- Togo. 1926 wurde mit Unterstützung des völkerung sind in der Landwirtschaft beschäf- Deutschen Reiches die ‚Koloniale Frauen- tigt. Exportgüter sind vor allem Calciumphos- schule‘ in Rendsburg gegründet. Welche phat, Baumwolle und die früheren ‚Kolonial- Rolle der Kolonialismus in der Politik Hitlers waren‘. Als autokratischer Präsident regierte tatsächlich spielte, sei in der Forschung um- 40 Jahre lang der Vater, dann der Sohn stritten. Gnassingbé, der 2020 wieder gewählt wurde. Namen einflussreicher Kaufleute jener Zeit Bei Unruhen im April 2005 wurde das Goe- gaben Anlass für Straßenschilder im Afrika- theinstitut in Lomé beschossen und teilweise nischen Viertel, so dass diese Männer er- in Brand gesetzt, weil Deutschland vorgewor- wähnt werden sollten: Ein Foto zeigt Gustav fen wurde, auf Seiten der Opposition zu ste- Nachtigal, wie er als Repräsentant des deut- hen. schen Reiches die deutsche Fahne hisst, in- Wie kam es zu der Weddinger Straßenbe- mitten von Indigenen. Ein Licht auf die Per- nennung, die zum Begriff „Afrikanisches Vier- sönlichkeit Carl Peters wirft der Fakt, dass er tel“ führte? 1899 wurde die Togostraße, zu- seine afrikanische Konkubine und ihren Lieb- sammen mit der Kameruner Straße, als erste haber erst auspeitschen und dann aufhängen Straße nach der damaligen Kolonie umbe- ließ. Diesem Rassisten wurde im 3. Reich ein nannt.3) 22 Straßen und Plätze im neu erbau- Film mit Hans Albers gewidmet. - Adolf Lü- ten Viertel wurden „nach den Kolonialbesit- deritz eignete sich Land der Nama dergestalt zungen und –ansprüchen, Akteuren des an, dass er den Namen „Lügenfritz“ erhielt. deutschen Kolonialismus und geografischen Regionen im kolonialisierten Afrika“ benannt. TOGO – Das Land und die Straße in Berlin Wieso gerade in diesem Bebauungsgebiet afrikanische Namen herangezogen wurden, Togo war von 1884 – 1916 deutsche Kolonie ist lt. Stefan Zollhauser 4) nicht quellenmäßig und umfasste mit 87.200 km2 den Bereich belegbar. Das gilt auch für die These, dass der heutigen Republik Togo und östliche Zirkusdirektor Carl Hagenbeck, der Völker- Teile des heutigen Ghana. (Im Vergleich: schauen anbot, einen Teil seines Freigelän- Bayern hat ca. 70 000 km2). Ökonomisch des östlich des Volksparks Rehberge ent- lebte es vor allem durch die Ausfuhr von sprechend bezeichnen wollte.

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Die Togostraße ist heute eine lange, breite straße wurde und jetzt den Namen des afri- Straße mit Altbauwohnungen, Geschäften, kanischen Wissenschaftlers aus dem 18. Bauhaus-Gebäuden und einem begrünten Jahrhundert trägt: Anton-Wilhelm-Amo- Mittelstreifen. Sie beheimatet eine seit 1939 Straße. bestehende Kleingartenanlage und auch eine andere Besonderheit, die das Büro der 1) Die meisten nachfolgenden Informationen ZZB betrifft: nur drei Häuser weiter, Togoer habe ich Wikipedia entnommen sowie dem Stadt- Str. 77, wohnte ein 71jährigerZeitzeuge, der spaziergang des Historikers Stefan Zollhauser sich noch an Straßenbahnschienen, einen von „www.Berliner-Spurensuche-de“ und dem „Weddingweiser.de/togostrase“. Wendekreis für die Bahnen und an Hinterhof- 2) Sven Kellerhoff, www.welt/de/Geschichte, gewerbe erinnert. Ebenso natürlich an die 7.4.2020 „Trümmergrundstücke, wo sich teilweise Alt- 3) S.a. www.3plusx.de, App: iTunes im AppStore metall- oder Kohlehändler niedergelassen (kostenlos) hatten“.5) 4) Historiker, Spurensuche-Spaziergang Im Zuge der inhaltlichen Auseinanderset- 21.9.2020 5) S.a. Gerhard Reise, 3.3.2015 in: „weddingwei- zung mit den „alltagsgeschichtlichen Ausprä- ser.de/togostrase“ gungen des deutschen Kolonialismus im Ber- 6) S.a. www. Berliner-Spurensuche.de, Veran- liner Norden“6) wurde schon vor einem Jahr- staltungsankündigung zehnt die politische Forderung nach Stra- ßenumbenennung diskutiert. Der Name der Togostraße kann bestehen bleiben, wobei Meine Berufseinstiege die Frage offen ist, woher das Wort stammt Von Dr. Rolf Triesch oder ob es vielleicht aus einer afrikanischen Sprache entnommen wurde. – Durch Be- Der Anregung der Zeitzeugenbörse, Erinne- schluss der Bezirksverordneten vor drei Jah- rungen an den Berufseinstieg aufzuschrei- ren sollten zwei Straßen und ein Platz umbe- ben, möchte ich gerne folgen, zumal es bei nannt werden. Mehrere Gründe verhinderten mir mehrere Berufseinstiege gegeben hat. die bisherige Umsetzung dieses Beschlus- ses, etwa unklare Quellenlage oder fehlende Mein Berufswunsch entstand an der Ober- afrikanische Frauennamen (nach denen die schule, ich interessierte mich damals beson- Orte benannt werden sollten). Sichtbar wird ders für die Fächer Geschichte und Geogra- die Brisanz unterschiedlicher politischer Hal- phie. So lag es für mich nahe, mich für ein tungen von Befürwortern und Gegnern, wenn Lehrerstudium dieser Fächer zu bewerben. etwa an einem Tag das Straßenschild der Lü- deritz-Straße mit dicker Farbe durchgestri- Die Berufsorientierung und –beratung an der chen und einige Tage später wieder blitz- Schule gestaltete sich dadurch für mich recht blank ist. übersichtlich. Mitte der 1970er Jahre waren Abschließend ließ der Historiker beim Stadt- in der DDR männliche Lehrerstudenten für spaziergang durchblicken, dass viele offene nicht-naturwissenschaftliche Fächer sehr Fragen zur postkolonialen Integration offen willkommen. Und wenn man damals in einem stehen und weiter beforscht werden könnten: kleinen Dorf in Thüringen lebte und diesen Etwa die unterschiedlichen Ansätze der Ent- Studienwunsch von sich aus äußerte, gab es wicklungshilfe nach dem 2. Weltkrieg in bei- eigentlich keinen Beratungsbedarf. Dass den deutschen Ländern, ihre Perspektiven man diese Fächer auch ohne den Lehreran- auf Modernisierung und Entwicklung. Der ak- teil direkt mit dem Ziel Diplomhistoriker oder tuelle Berliner Stand zur postkolonialen Aus- -geograph hätte studieren können, hat man einandersetzung zeigt sich beispielhaft darin, mir damals nicht gesagt. daß aus der Mohrenstraße erst eine Möhren- Für meine gewünschte Fachkombination zum Lehrerstudium in Jena bekam ich zwar

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eine Absage, diese jedoch verknüpft mit der Aber an der Uni (zumindest in meinem Um- bedingten Zusage, dass ich einen Studien- feld) war damals die politische und sog. „ge- platz als Dipl.-Lehrer für Russisch und Ge- sellschaftliche“ Arbeit wichtiger als die ei- schichte an der Humboldt-Universität in Ber- gentliche Forschung und Lehre. Ich habe lin bekommen könne, wenn ich mich dafür also viel mehr Zeit mit FDJ- und Partei-Arbeit, entscheiden würde. Das habe ich nach kur- Sitzungen, Konzeptionen und Maßnahme- zer Bedenkzeit dann auch getan. plänen für solche Themen verbringen müs- sen, als mir lieb war. Ein Jahr lang war mir Der erste Berufseinstieg verlief dann aber z. B. der Vorsitz der Grundorganisation der doch nicht so wie geplant. Die Berufslenkung GST (Gesellschaft für Sport und Technik) an der Humboldt-Uni hatte für mich vorgese- „übergeholfen“ worden – und das, obwohl ich hen, dass ich nach dem Studium an der gar nicht Mitglied in dieser Organisation war. Schule im Nachbarort meines Heimatdorfes Aber selbst Ludwig Erhard soll ja angeblich in Thüringen zum Einsatz kommen sollte, die nie in der in der CDU gewesen sein. ich selbst von der 4. bis zur 8. Klasse besucht hatte. Ich nutzte dann eine Gelegenheit, um 1987 Ein Dozent an der Uni hatte mir überra- an die Akademie der Wissenschaften zu schend im letzten Semester angeboten, wei- wechseln, dort habe ich mich erheblich woh- ter an der Universität zu bleiben und zu pro- ler gefühlt, weil für mich dort die wissen- movieren, was ich gern annahm. schaftliche Arbeit im Vordergrund stehen Allerdings war dies nicht mit der Berufslen- konnte. kung abgesprochen, so dass meine Einsatz- Wende und Einigungsvertrag und Abwick- schule davon erst ziemlich spät erfuhr. Das lung der Akademie führten dann dazu, dass führte dazu, dass eine Bekannte, die als Bio- aus meinem unbefristeten Arbeitsvertrag und Chemie-Lehrerin an dieser Schule arbei- eine befristete Anstellung bis Anfang 1992 tete, mich eines Tages auf einem Heimatbe- wurde. Dann folgte eine längere Zeit, die such „zur Rede“ stellte: „Also Rolf, da hast Du gern als „berufliche Neuorientierung“ um- mir ja ein schönes Ei ins Nest gelegt – jetzt schrieben wird, also auch in meinem Falle Ar- muss ich deine Russisch-Stunden überneh- beitslosigkeit, Orientierungskurse, Jobsuche, men!“ Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM), Fort- bildung usw. bedeutete. Mein Berufseinstieg an der Uni bestand dann Immerhin ergab sich danach ein neuer Be- darin, dass ich im Sommer 1982 am ersten rufseinstieg in einer Abteilung der Treuhand- Tag meines Doktorandenstudiums (das da- anstalt, die für die Sicherung und Aufbewah- mals Forschungsstudium hieß) mit der Bahn rung der Akten von abgewickelten Betrieben nach Jena gefahren bin und von der Univer- zuständig war. Dort bestand meine erste Auf- sität dort zwei Reisetaschen voller Lehrmate- gabe darin, für ein neues Archivgebäude die rialien für das neue Studienjahr abgeholt Fliesen für die Damentoilette auszusuchen. habe. Diese waren in kleiner Auflage als sog. Ich war ja schließlich Vertreter der Fachabtei- Manuskriptdrucke hergestellt worden. lung, die den Zentraleinkauf mit der Herrich- In einer Buchhandlung in Jena gab es da- tung und Ausstattung des Gebäudes beauf- mals zufällig ein begehrtes Buch über die tragt hatte. Beatles, von dem ich für mich und meinen Bruder ein Exemplar kaufte. Die Reiseta- Bald darauf, auch noch als „Neuling“, hätte schen wurden also noch schwerer. ich beinahe den Einkauf von 100.000 Archiv- Meine Promotion habe ich dann nach gut drei kartons ausgelöst, als zunächst erstmal nur Jahren geschafft und arbeitete anschließend 10.000 Stück benötigt wurden und im Budget als wissenschaftlicher Mitarbeiter weiter. vorgesehen waren.

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Dazu kamen dann im Laufe meiner mehr als herzliche Aufnahme und eine sehr befriedi- 15 Jahre dauernden Tätigkeit in diesem Be- gende ehrenamtliche Arbeit im Büro der Zeit- reich, „garniert“ von Ausgründung / Verkauf zeugenbörse gefunden habe! und mehreren Umfirmierungen, sehr vielfäl- tige Aufgaben wie Koordination von Arbeits- Zuletzt ist mir dann noch mit knapp 60 Jahren abläufen, Leistungserfassung und Abrech- der Einstieg als Projektleiter in einer Beschäf- nung; Kundenbetreuung, Angebots- und Ver- tigungsgesellschaft gelungen. Dies war zwar tragsmanagement, Datenschutz, Qualitäts- ein ziemlich später Quereinstieg, meine di- management, Verwaltung des Firmenfuhr- versen beruflichen Erfahrungen haben es mir parks und der Betriebshandies usw. anscheinend ermöglicht, hier noch einmal mal gut Fuß fassen zu können. Dann folgten nochmals Phasen der berufli- chen Neuorientierung; ein Ausflug in eine Damit habe ich meinen definitiv letzten Be- Bautechnikfirma ist mir allerdings gar nicht rufseinstieg erwähnt– und zwar in eine größ- gut bekommen, hier brauchte ich anschlie- tenteils sehr angenehme Tätigkeit, an die ßend eine längere Erholungsphase. sich demnächst der Eintritt in die Rente an- schließen wird. Während meiner Zeiten der „Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug“, wie es formal heißt, lebte ich mit vom Einkommen meiner Frau. In Meine Ausbildung diesen Zeiten habe ich zeitweise nebenberuf- Von Margot Sharma lich als Telefoninterviewer zum Mindestlohn gearbeitet. Auch wenn wir zum Glück finanzi- Als ich 1954 meine Schulbildung abgeschlos- ell nicht existentiell auf diesen Nebenver- sen hatte, überlegte ich, genau wie meine dienst angewiesen waren, so wollte ich doch Klassenkameraden, wie es nun weiter gehen damals wenigstens für mich sagen können, sollte. Ich hatte alle Bücher von und über Dr. dass ich die Blumen, die ich meiner Frau ge- Albert Schweitzer gelesen und auch die legentlich mitbringe, nicht auch noch von ih- Filme über seine Arbeit in Lambarene rem Geld bezahlen muss. gesehen. Also schrieb ich ihm, dass ich Diese nebenamtlichen Berufseinstiege ge- gerne mit ihm arbeiten möchte. Bald erhielt stalten sich recht unkompliziert; nach ca. ich seine Antwort, dass es nützlich wäre, erst einer halben Stunde technischer Einweisung die Ausbildung zur Krankenschwester zu und der Besprechung eines Interview-Leitfa- machen. dens ging es dann auch gleich richtig los mit dem Telefonieren. Also ging ich ins Neuköllner Krankenhaus Wichtig bei diesen Telefoninterviewer-Jobs und meldete mich als Schwesternschülerin war mir persönlich allerdings, dass es sich an. Man sagte mir, dass ich dazu erst ein dabei wirklich um seriöse Meinungsfor- Haushaltsjahr absolvieren müsse. Wo macht schung handelt und nicht am Ende doch ir- man das? Jemand riet mir, zur Morgenländi- gendwie ein verkappter Verkauf von Waren schen Frauenmission zu gehen. Das tat ich oder irgendwelchen Abonnements das Ziel und wurde angenommen. war. Ich habe bei zwei Firmen als Telefonin- Ich bekam ein Bett in einem Zimmer, das ich terviewer gearbeitet – und es war wirklich mit fünf anderen Mädchen teilen musste. reine Meinungsforschung! Sonst wäre ich Meine Arbeit bestand in: um sieben Uhr an- dort bald wieder ausgestiegen. fangen das Haus zu putzen, den Frühstücks- Und nicht vergessen möchte ich, dass ich in abwasch in einer Wanne zu machen, die auf diesen wechselvollen Jahren immer wieder einem niedrigen Schemel stand.

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Weiter putzen. Nach dem Mittagessen wie- christlich geschlossene Ehen gilt „Bis dass der abwaschen — Geschirr von ca. 30 Per- der Tod Euch scheidet“. Dann nahm ich mein sonen. Wenn ich Glück hatte, half mir jemand Stück Papier und fuhr nach Hause. beim Abtrocknen. Eine Stunde Pause, dann Vor einigen Monaten feierten wir unsere Dia- weiter putzen, das Treppenhaus musste ge- mantene Hochzeit. 60 Jahre Deutschland — bohnert werden, dass die Stufen glänzten. Indien — Deutschland. Kaffee — Abwasch. Sonntags war ich von Kind auf gewohnt, zum Das war meine Ausbildung. Gottesdienst zu gehen. Nicht hier. Jeden zweiten Sonntag vielleicht. Für diese Schufterei bekam ich 5.- DM im Probezeit Monat. Das reichte für die S-Bahn nach Von Klaus-Dieter Pohl Hause und zurück. Bald bekam ich Rücken- schmerzen, weil die Wanne mit dem Ab- Mein „Erwerbsleben“ als Richter begann im wasch viel zu niedrig war. November 1971, als ich meinen 30. Geburts- Man überredete mich im Haus zu bleiben und tag bereits hinter mir hatte. Ein Wechsel des eine Ausbildung zur Gemeindehelferin und Studienfachs und die damals noch wesent- Katechetin zu machen. Ich wollte ja ins Kran- lich längere Ausbildungszeit bis zum „Vollju- kenhaus, aber die überredeten auch meine risten“ waren die Ursache. Mutti, und die befürchtete, dass sie kein Kin- Beim Arbeitsgericht Berlin – damals noch in dergeld mehr für mich bekommt, wenn sie der Cicerostraße gegenüber der Schau- mich dort wegnimmt. Ich bekam Waisen- bühne gelegen – waren wir in der 1. Instanz rente, weil mein Vater zwei Jahre zuvor ver- ungefähr 40 Kollegen „jedweden Ge- storben war. schlechts“. Ich bekam als Proberichter eine Also wurde ich 1955 Bibelschülerin. Ich neu eingerichtete Fachkammer für das Hotel- machte die Ausbildung samt allen Praktika in und Gaststättengewerbe („Kneipenkammer“ verschiedenen Gemeinden und bestand genannt) übertragen, was zwei Vorteile hatte: mein Examen. Zum einen gab es keine Altfälle, insbeson- Während meines letzten Praktikums heira- dere keine „Gürteltiere“ (also mehrbändige tete ich. Mein Mann war Inder — Hindu = Akten, die mit einem Gurt zusammengehal- Heide. Bibelschülerinnen aus der Morgenlän- ten werden). Und zum anderen kamen die dischen Frauenmission wurden zu den Hei- ehrenamtlichen Richter, also die Beisitzer – den als Missionare geschickt. Man heiratet wie in den anderen Fachkammern auch – doch so einen nicht! aus der Branche, waren also jedenfalls Ich beendete das Praktikum. Meine Mitschü- „sachverständig“. Ein Umstand, der zumal für lerinnen wurden ausgesegnet und bekamen den Anfänger eine beträchtliche Sicherheit eine schöne Urkunde. Ich nicht. bedeutete. Ich wurde zur Frau Oberin gerufen. Die Und so verlief die Anfangszeit eigentlich Schulleiterin war auch dabei. Man gab mir ein ohne größere Aufregungen, bis man sich da- handbeschriebenes Blatt Papier, und das ran gewöhnt hatte, nun der „Herr Vorsit- war mein Zeugnis. zende“ zu sein. Dann machten sie mir ein Angebot: ich soll Der Geschäftsverteilungsplan des Arbeitsge- meinen inzwischen geborenen Sohn zur ano- richts – nach Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 Grund- nymen Adoption frei geben, dann könnte ich gesetz darf niemand seinem gesetzlichen mich von meinem heidnischen Mann trennen Richter entzogen werden – sah und sieht und wäre wieder frei. auch heute noch einen Bereitschaftsdienst Ich war erst mal platt. Dann fragte ich die bei- vor. Dessen Aufgabe ist es, während der den unverheirateten Damen, ob es nur für Dienststunden des Gerichts im Verhinde-

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rungsfall des nach dem Geschäftsvertei- bekam sie – die Akten - als Richter vom Ta- lungsplan „eigentlich“ zuständigen Vorsitzen- gesdienst eine halbe Stunde vor Verhand- den (z.B., weil er eine Sitzung leitet oder nicht lungsbeginn auf den Tisch. Vorsichtshalber „im Hause“ ist, weil er im „home office“ – das hatte man als Tagesrichter für einen solchen hieß damals nur noch nicht so – Urteile „ab- Fall ja immer ein weißes Hemd an, um den setzte“, also schrieb) in Eilfällen (also bei An- Bekleidungsvorschriften („Weißes Hemd, trägen auf Erlass einer Einstweiligen Verfü- weißer Längsbinder, Robe mit Samtbesät- gung) zur Verfügung zu stehen. Außerdem zen“) zu genügen. ist es Aufgabe des “Tagesdienstes“, den Sit- Bis dahin hatte ich in meiner „Kneipenkam- zungsdienst zu übernehmen, wenn der „or- mer“ weder einen Beweisbeschluss formulie- dentliche Vorsitzende“ infolge plötzlich auf- ren müssen („Es soll Beweis erhoben werden getretener Erkrankung an der Sitzungswahr- über die Behauptung d. Bekl, der Kläger nehmung gehindert ist und eine Terminauf- habe gegenbeweislich über die Behauptung hebung aus zeitlichen Gründen nicht mehr in d. Kl, er habe durch Vernehmung der Zeugen Betracht kommt. A, B, C, als Zeugen d. Bekl, und d. Zeugen Konkret bedeutet das, dass der „Richter vom D, E, F als Zeugen d. Kl.“) noch hatte ich die Tagesdienst“ ohne - jedenfalls ohne genaue notwendige Zeugenbelehrung „drauf“. („Sie – Kenntnis der Akten „in die Bütt“ muss und sollen heute hier als Zeuge aussagen. Als die Parteien – oder ihre Vertreter – den Zeuge sind sie verpflichtet, die Wahrheit zu „Sach- und Streitstand“ vortragen müssen sagen. Die Wahrheit bezieht sich auch auf (was sie häufig gar nicht mögen). Häufig ist die Vollständigkeit ihrer Aussage. Sie müs- das eine gute Voraussetzung für den Ab- sen unter Umständen beeidigen. Meineid schluss eines das Verfahren beendenden Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. Aber Vergleichs. auch die falsche uneidliche ist strafbar“.) Am 11.11.1971 war in einem Berliner Groß- raumbüro der Beginn der Faschingszeit of- Nachdem 8.45 Uhr – wie üblich 15 Minuten fenbar völlig „aus dem Ruder gelaufen.“ Je- vor Verhandlungsbeginn – die Ehrenamtli- denfalls gab es neben einer Reihe von Ab- chen Richter eingetroffen waren und ich ver- mahnungen gegenüber Teilnehmern der sucht hatte, anhand der Beweisthemen, zu spontanen Veranstaltung auch eine fristlose denen die Zeugen geladen waren, den Fall Kündigung, gegen die sich der betroffene Ar- darzustellen, wurde es dann „ernst“: Die An- beitnehmer mit seiner Klage zur Wehr setzte. wälte waren wenig beglückt, einen Tages- In einem daraufhin zeitnah anberaumten Ter- richter – noch dazu einen Grünschnabel – min zur Güteverhandlung war dem Arbeitge- ohne jede genauere Aktenkenntnis vor sich ber aufgegeben worden, die Kündigungs- zu haben. Aber nach den üblichen Prälimina- gründe schriftlich vorzutragen, woraufhin der rien (Wer ist erschienen? Welche Anträge Arbeitnehmer – ebenfalls schriftlich – erwi- werden gestellt?) zog sich „die Kammer“ zu dern sollte. Beide Parteien hatten für ihre – einer Zwischenberatung zurück. Wir formu- sehr unterschiedlichen - Tatsachenbehaup- lierten den Beweisbeschluss, der – zurück in tungen Zeugen benannt, die zu einem „Ter- den Sitzungssaal – zu Protokoll genommen min zur mündlichen Verhandlung und Be- wurde, und dann ging’s los. Der erste Zeuge weisaufnahme“ – es war wohl im Februar – oder war‘s ‚ne Zeugin ? – „ordnungsgemäß 1972 – zeitversetzt und unter Mitteilung des belehrt“ und dann befragt: zunächst durch voraussichtlichen Beweisthemas geladen „das Gericht“, dann durch den Anwalt, der wurden. den Zeugen benannt hatte und zuletzt durch Der ordentliche Vorsitzende meldete sich am den gegnerischen Anwalt (es muss schließ- Morgen des Sitzungstages krank, seine Ehe- lich alles seine Ordnung haben). Und an- frau brachte die Akten zum Gericht, und ich schließend wird das Ganze „zu Protokoll ge- nommen“ – also vom Vorsitzenden – soweit

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er sich (hoffentlich) gut erinnern kann – dik- 1986 hält sie als Zeitzeugin Vorträge, beglei- tiert, dann vorgelesen und wenn der Zeuge tet christlich-jüdische und deutsch-israeli- seine Aussage richtig und vollständig wieder- sche Projekte, führt Interessierte durch die gegeben bewertet) mit dem Vermerk „v.u.g“ Stuttgarter Synagoge und erzählt über jüdi- (also „vorgelesen und genehmigt“) zum Ab- sches Leben und Gebräuche, was besonders schluss gebracht. „Machen Sie Zeugenge- bei jungen Leuten auf großes Interesse stößt. bühren geltend?“ Wird das verneint, wird der Darüber hinaus ist sie in der Gesellschaft für Zeuge entlassen. christlich-jüdische Zusammenarbeit Ich habe keine Erinnerung mehr, wie viele e.V. aktiv und setzt sich für ein tolerantes Mit- Zeugen wir an diesem Tag vernommen ha- einander aller Religionen ein. ben, ob es eine „Mondscheinsitzung“ – also bis in den Nachmittag – geworden war, ob und zu welcher Entscheidung wir gekommen waren oder ob sich die Parteien dann am Ende doch „verglichen“ haben, weil sie den „Weg durch die Instanzen“ scheuten. Aber am Ende der Sitzung war ich wie „durch den Wolf gedreht“. Und für mein weiteres Berufsleben hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Beweisaufnah- men mich nicht mehr schrecken konnten, selbst wenn sie nicht immer erfreulich waren.

„Ich sage immer, was ich denke.“ Von Elli Tellmann

Es ist gute Tradition unseres Vereins, dass sich neue Zeitzeugen*innen im Rahmen des sog. Halbkreises einer kleineren Öffentlich- keit vorstellen, um sich in ihrer neuen Funk- tion ausprobieren zu können und über einen Bericht im ZeitZeugenBrief weiteren Interes- sierten bekannt zu werden. Rachel Dror Foto: Simon Rentschler Unsere Zeitzeugin, Frau Rachel Dror, hat dazu leider keine Gelegenheit, weil sie nicht Über das schmerzvolle Schicksal ihrer Fami- im Berliner Raum lebt, sondern in Stuttgart lie kann sie erzählen, „wie wenn [sie] neben ansässig und mit fast hundert Lebensjahren [sich] stehen würde. […] Ich kann bis heute nicht mehr so mobil ist, um nach Berlin zu rei- aus Wut weinen, nicht aber aus Trauer.“ (R. sen. Über die Berliner Zeitzeugenbörse Dror, 2008) Ihre Eltern hatten kein Geld, um wurde sie seit 2018 bereits mehrfach für Zeit- nach Palästina auszuwandern, wie sie es zeugenauftritte in Schulen und anderen Be- selbst im April 1939 mit dem letzten Schiff, reichen vermittelt. Und so ist es an der Zeit, das von Italien Richtung Palästina ablegte, sie in unserer Publikation endlich einmal vor- getan hatte. Die Eltern wurden bis 1944 in zustellen. Italien versteckt, dann entdeckt, nach Aus-

schwitz deportiert und ermordet. Zufällig er- Das vielfältige Engagement Rachel Drors be- fuhr Frau Dror vom Leidensweg der Eltern ginnt allerdings schon viele Jahre vorher. Seit Jahre später, als sie auf einer Straße in ihrer Pensionierung nach dem Lehrerberuf 9

von einer Bekannten ihrer Eltern angespro- Mein Kriegsende chen wurde. Von Manfred Leithold

Rachel Dror, geborene Zipora Lewin, wurde Das Ende des 2. Weltkrieges im Mai 1945 am 19. Januar 1921 in Königsberg geboren, erlebte ich als Vierjähriger in einer Kleinstadt wuchs in einer traditionell – jüdischen Familie in Ostthüringen. Unser Ort war von auf und wurde 1934 als Jüdin vom Besuch Bombenangriffen und Artilleriebeschuss des Lyzeums ausgeschlossen, obwohl ihr weitgehend verschont geblieben. Ich kann Vater als Offizier im Ersten Weltkrieg für das mich aber noch an Bombergeschwader erin- Deutsche Reich gekämpft hatte. Sie begann nern, die im Überfliegen wie eine riesige eine Schneiderlehre, schloss sich aber be- schwarze Wolke alles in Dunkelheit tauchten. reits 1936 einer zionistischen Jugendgruppe in an, um sich auf die Auswande- Einige Tage nach der Kapitulation der Deut- rung nach Palästina vorzubereiten. Sie schen tauchten in unserer Stadt machte eine landwirtschaftliche Ausbildung. amerikanische Soldaten auf. Sie fuhren mit Nach der Pogromnacht 1938 – ihre Gruppe offenen Jeeps vor, die sie, mit zwei Rädern wurde zerschlagen, die Familie wollte und auf dem Bürgersteig, auch in unserer Straße konnte nicht auswandern - beschloss sie, al- parkten. lein die Reise nach Palästina anzutreten, die Viele der GI´s waren Farbige, sie wurden als von einer Tante finanziert wurde. Neger bezeichnet und besonders von uns Kindern, die zum ersten Mal Menschen mit Das Lebensgefühl im späteren Staat dunkler Hautfarbe sahen, entsprechend be- war ein befreiendes. Man war wieder jemand, staunt. Sie waren zu uns meist freundlich, ei- wurde nicht als Dreck behandelt wie in Nazi- nige schenkten uns Kaugummi, der auch neu Deutschland, hatte einen eigenen Staat, für uns war und Suchtpotential hatte. quasi eine zweite Geburt, und man konnte sagen, was man dachte. Rachel Dror heira- In seltenen Fällen gab es auch mal eine Tafel tete 1950, und ein Jahr später wurde ihre Schokolade für uns, ein absoluter Luxusarti- Tochter geboren. Sie machte Karriere im Po- kel zur damaligen Zeit. Die größeren Jungen lizeidienst und betätigte sich dort als Ver- stahlen aus den Jeeps alles was sie fanden, kehrserzieherin in Schulen. Die pädagogi- besonders Zigaretten und Kaffee. Auch diese sche Neigung pflegte sie auch weiterhin. Dinge waren außergewöhnlich wertvoll und Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1957 ersetzten in der Nachkriegszeit lange Zeit die – sie wollte eigentlich nach England, folgte Geldwährung. aber ihrem Mann, der sich in Deutschland Fast jede zweite Familie in unserer Straße bessere Berufsaussichten versprach – be- musste für die Besatzungssoldaten die Woh- gann sie im Alter von 46 Jahren ein Lehrer- nung räumen und sich bei Verwandten oder studium und unterrichtete Bildende Kunst Nachbarn vorübergehend einquartieren. Da- und Technik an einer Sprachheilschule. bei versuchten die Erwachsenen, möglichst unauffällig, die Hitlerbilder oder „Mein Kampf“ Wissen weiterzugeben ist nach wie vor die zu entsorgen. große Passion der Rachel Dror. Dann, nach mehreren Wochen, waren die Ihr vielfältiges Bemühen, das Judentum brei- amerikanischen Streitkräfte plötzlich über teren Kreisen verständlich zu machen, blieb Nacht verschwunden. Laut den Konferenzen nicht ohne Anerkennung. 1996 wurde ihr die von Teheran 1943 und Jalta im Febr. 1945 Otto-Hirsch-Medaille und 2012 der Ver- war Deutschland in verschiedene Besat- dienstorden des Landes Baden– Württem- zungszonen aufgeteilt, was natürlich von der berg verliehen. deutschen Bevölkerung kaum jemand wusste, und unser Land Thüringen war als

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Teil der Sowjetischen Besatzungszone vor- Kriegsende 1945 gesehen. So kam es, dass einige Tage nach Tanz – mit und ohne Uniformen dem Abzug der Amerikaner „die Russen“ ka- Von Günter Böhm men. So wurden alle Soldaten der Sowjeti- schen Streitkräfte genannt, obwohl es unter Endlich wollten wir Spass haben. Wir waren ihnen außer Russen auch noch viele andere 14, 15, manche vielleicht auch schon 17 Nationalitäten gab, unter anderem auch Asi- Jahre alt. Wo aber sollten wir uns treffen, wo aten, die von uns Kindern ebenso bestaunt doch alles in Trümmern lag? Wir fanden in wurden wie vorher die „Neger“. unserer Straße einen kleinen, ungenutzten Doch konnte der Unterschied zwischen den Laden. Ins Schaufenster hängten wir ein amerikanischen und den sowjetischen Sie- Schild mit der Aufschrift „Antifaschistische gern größer nicht sein: Statt mit Jeeps kamen Jugend“, auch in kyrillischer Schrift. die „Russen“ zu Fuß und trieben als Proviant eine kleine Schafherde vor sich her. Es gab Ob das erlaubt war oder nicht: Wir redeten, für uns auch keine Geschenke wie von den sangen und tanzten dort. Eines Abends ging „Amis“. Die armen Kerle hatten offensichtlich die Tür auf, und sowjetische Soldaten in vol- selber kaum genug zu essen. Trotzdem wa- ler Montur kamen herein. Jemand hatte für ren auch sie zu uns Kindern sehr freundlich. diesen Fall einen Zettel, auf dem in russi- Den Erwachsenen allerdings nahmen sie scher Sprache erklärt wurde, was wir mach- gern Uhren und Fahrräder ab, und wir Kinder ten. Möglich, dass das eine Erlaubnis des Ju- hatten unseren Spaß, wenn sie dann beim gendamtes war. Die Soldaten lasen den Versuch damit zu fahren vom Rad fielen. Text, schauten sich um und gingen.

Die sowjetischen Truppen hatten ein stren- Musik, Tanz und Gesang erlebte ich bald da- ges Begegnungsverbot zur deutschen Zivil- rauf im alten Friedrichstadt-Palast. Der bevölkerung, und bald nach ihrem Einzug Staatschor des Russischen Liedes, ein gro- wurden sie in ihren Kasernen durch meter- ßes Tanz – und Gesangs-Ensemble, trat dort hohe Bretterwände abgeschirmt. Die einfa- in Uniformen oder Trachten auf. Ich erinnere chen Soldaten waren dort wie Strafgefan- mich, dass der Gesang für unsere Ohren un- gene eingesperrt und wurden wohl auch so gewöhnlich klang. Die Völker der Sowjet- behandelt. Ich kann mich erinnern, da war ich union und Nazi-Deutschland hatten sich im schon älter, dass einmal ein Soldat von innen 2. Weltkrieg große Wunden zugefügt. Bald ein Brett zu einem Spalt beiseite schob, mich spürten wir alle in diesem riesigen Saal, dass und meinen Freund zu sich heranwinkte und die Darbietungen regelrecht Balsam für un- uns Geld gab, damit wir für ihn Schnaps kau- sere Wunden waren; sie rissen uns mit, und fen konnten. Das haben wir auch getan. die Begeisterung war riesig.

Er und seine Kameraden hatten unser volles Im Stadtteil Weißensee begann sich sofort Mitgefühl. nach Kriegsende eine Szene der bildenden Das waren meine ersten Erinnerungen an Kunst zu entwickeln. Es wurden Künstler das Kriegsende 1945. ausgestellt, die gerade noch verboten gewe- Viele Jahre später, ich lebte als 25-jähriger in sen waren. Dort lernte ich Karl Hofer und Aachen und durfte nach meiner Flucht und seine Gemälde kennen; er leitete die Kunst- nach fünf Jahren Einreiseverbot das erste hochschule Weißensee. Mit der Deutschleh- Mal meine Eltern in der DDR besuchen, rerin besuchte ich im unzerstörten Deutschen sagte mir ein Vorgesetzter, der meinen Ur- Theater eine Aufführung von Lessings laubsantrag abzeichnen musste: „Nathan“. Und eine Schulsekretärin, eine be- „Was wollen Sie denn in der Ostzone, da sind geisterte Kommunistin, schickte mich in die doch die Russen!“

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Staatsoper, die im Admiralspalast am Bahn- Das war die eine, die recht schöne Seite un- hof Friedrichstraße spielte, ihr Haus Unter seres Nachkriegsdaseins, andererseits ge- den Linden war noch zerstört. hörten politischer Druck und Gewalt zum all- täglichen Leben. Doch das Wichtigste:

Seit 1945 gab es keinen Krieg!

In eigener Sache

 Gratulationen  Wir gratulieren allen im November geborenen Zeitzeuginnen, Zeitzeugen und Migliedern 02.11. Gert Keil, 19.11. Bernd Feuerhelm, 26.11. Paul Wandel, 28.11. Marianne Wachtmann, 30.011. Hans-Joachim Weber, Udo Jeschke

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