BAUSTEINE „Evakuiert“ Und „Unbekannt Verzogen“
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BAUSTEINE „Evakuiert“ und „Unbekannt verzogen“ Die Deportation der Juden aus Württemberg und Hohenzollern 1941 bis 1945 Historische Einführung Medien- und Literaturhinweise Didaktische und methodische Impulse Regionale und örtliche Dokumentationen erstellt in Zusammenarbeit mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen Baden-Württemberg und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Stuttgart 1 Herausgeberin Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) in Zusammenarbeit mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen Baden-Württemberg und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Stuttgart (CJZ) Autoren/Recherche und Zusammenstellung Helmut Gabeli Alfred Hagemann Florian Stiber Antoine Greffier Redaktion Alfred Hagemann Konrad Pflug, LpB Ein besonderer Dank gilt Frau Rachel Dror, Herrn Pfarrer Nordmann (CJZ), Frau Sabrina Krone und Frau Claudia Barth (Stiftung Geißstraße 7) für die Unterstützung bei der Recher- che sowie Frau Dr. Dirsch vom Staatsarchiv Ludwigsburg, Herrn Dr. Roland Müller vom Stadtarchiv Stuttgart und Frau Katharina Schmid bei der Fotobeschaffung. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Referat Gedenkstättenarbeit Paulinenstraße 44-46 70178 Stuttgart Eine online-Fassung finden Sie unter www.lpb.bwue.de/publikat/baustein.htm oder http://www.lpb.bwue.de/gedenk/materialien/de/publikationen/baustein.htm Stuttgart, Oktober 2002 2. überarbeitete Auflage Titelbild: Koffer von Deportierten im Sammellager Killesberg in Stuttgart. (Standbild aus dem Dokumentarfilm „Deportation der Stuttgarter Juden“, Quelle und Bezug: Landesmedienzentrum Baden-Württemberg, s. S. 31). 2 Vorwort Nachdem die badischen Juden bereits am 22. Oktober 1940 aus ihrer Heimat in das Lager Gurs nach Frankreich deportiert worden waren, setzte auch in Württemberg im Spätjahr 1941 die völlige Ent- rechtung der jüdischen Menschen ein. Unter der Vorspiegelung einer „Ansiedlung“ oder eines „Ar- beitseinsatzes im Osten“ wurden sie zwangsweise ausgebürgert, um alles Hab und Gut gebracht mit Ausnahme des Wenigen, das sie mitführen durften, und deportiert. Am Ende stand der Tod durch An- strengung und Auszehrung, unmenschliche Unterbringungs- wie Arbeitsbedingungen und vorsätzli- chen Mord. Am 1. Dezember 1941 verließ der erste Transport den Stuttgarter Nordbahnhof. Wir müssen uns auch noch heute - und gerade nach den öffentlichen Diskussionen im Frühjahr 2002 - dieses Datums und Ereignisses erinnern. Wir müssen fragen, wie es dazu kam, wie viele daran mitwirkten und wie viele einfach wegsahen; fragen, damit sich solches nie mehr wiederhole. Die Landeszentrale für politische Bildung legt in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Christlich- jüdische Zusammenarbeit Stuttgart und der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Ge- denkstätteninitiativen diesen kleinen Materialband vor. Er soll eine Hilfe sein bei der Behandlung dieses dunklen Kapitels unserer Geschichte im Schulunterricht wie in der Jugend- und Erwachsenen- bildung. Eine Einführung in die geschichtliche Situation fasst die Fakten und den Ablauf des Gesche- hens zusammen. In einem weiteren Abschnitt werden didaktische Anregungen und Vorschläge gege- ben und in einem Materialteil auf die zum Thema vorhandenen Publikationen und Medien verwiesen. Mit einer Erhebung bei den Verwaltungen der Orte, an denen es früher jüdische Gemeinden gab, wur- de eine Sammlung der örtlichen Zeugnisse und Literatur über die Verfolgung und Vertreibung der Juden zusammengestellt. An zahlreichen Orten im Land gedachte man im November und Dezember 2001 der Ereignisse und der Opfer .. In Riga wurde durch das "Deutsche Riga-Komitee" am Erschießungs- und Begräbnisort im Bikernieki-Wäldchen ein Denk- und Mahnmal mit den Namen der vielen tausend bekannten Opfer eingeweiht. Stuttgarter Bürger und Institutionen verstärkten aus dem Anlass ihre Bemühungen, am Deportations- gleis auf dem Stuttgarter Nordbahnhofsgelände eine Gedenkstätte einzurichten. Obwohl städtisch ini- tiiert, wird sie landesweite Bedeutung haben. Mit den heute bereits vorliegenden Ergebnissen des Gestaltungswettbewerbs ist auch dieses Unternehmen auf einem guten Weg. Die Gedenkveranstaltungen, das große Interesse an dieser Publikation wie auch das Gedenkstätten- projekt zeigen, dass man sich vielerorts der schweren Erinnerung an die Opfer und an eine noch nicht allzu ferne Vergangenheit gestellt hat und stellt. Dafür sind wir den Initiativen, Organisatoren, unseren Autoren wie auch allen, die mit dieser Arbeitshilfe ebenfalls an der Erinnerung mitwirken wollen, sehr dankbar. Stuttgart, 20. Juli 2002 Siegfried Schiele Konrad Pflug Direktor Gedenkstättenarbeit 3 Inhalt Vorwort 3 „Evakuiert“ und „Unbekannt verzogen“ Die Deportation der Juden aus Württemberg und Hohenzollern 1941 - 1945 5 Helmut Gabeli Erinnern und Gedenken heute 15 Konrad Pflug Didaktische Impulse 17 Alfred Hagemann Texte und Materialien 19 Zusammenstellung: Helmut Gabeli, Alfred Hagemann Medien- und Literaturauswahl 30 Zusammenstellung: Helmut Gabeli, Alfred Hagemann Links 32 Literaturverzeichnisse Allgemeine Literatur 32 Örtliche Literatur 33 4 1. „Evakuiert“ und „Unbekannt verzogen“ Die Deportation der Juden aus Württemberg und Hohenzollern 1941 bis 1945 „Evakuiert“ und „Unbekannt verzogen“ umschreiben in der NS-Verwaltungssprache verharmlosend den Beginn der „Endlösung der Judenfrage“, an deren Ende der industrialisierte Massenmord an Tau- senden jüdischer Männer, Frauen und Kinder stehen wird. Für viele Juden Deutschlands beginnt der Weg in die Vernichtung auch in den Gemeinden ihrer württembergischen und hohenzollerischen Hei- mat. Die Ausgrenzung und Entrechtung der Juden In Württemberg und Hohenzollern leben zu Anfang des 20. Jahrhunderts seit Jahrhunderten Christen und Juden ganz überwiegend ohne größere Reibungen neben- und miteinander. Das ändert sich von Grund auf, als am 30. Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gelangen. Sie beginnen unver- züglich, ihre judenfeindlichen Absichten zu verwirklichen. Die Machtübernahme und die darauf fol- genden Aktionen sind besonders für die nationaldeutsch gesinnten Juden ein schwerer Schock. Der wachsende Antisemitismus der Weimarer Republik war zwar beunruhigend, doch die Mehrheit der Juden glaubt, mit Appellen an Menschlichkeit, Vernunft und Gerechtigkeitssinn der Mitmenschen der Verleumdungs- und Hasskampagne entgegenwirken zu können. Die Nazis setzen jedoch ihren Kampf gegen die angeblich rassenfremde jüdische Bevölkerung fort. Die gleichgeschalteten Massenmedien Presse und Rundfunk werden hoch wirksame Werkzeuge der Hetzpropaganda.1 „Die Juden sind unser Unglück, „Sie haben aus Deutschland zu verschwinden“ ist tagtäglich zu lesen und zu hören. Die antijüdischen Aktionen beginnen mit dem Aufruf zum Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933. Das Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entfernt die „nicht-arischen“ Beamten aus dem Staatsdienst, sofern sie nicht „Frontkämpfer“ im Ersten Weltkrieg waren. Willkürli- che Verhaftungen und Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Systematisch werden die Juden aus dem öffentlichen Leben und aus der Wirtschaft verdrängt. Am 15. September 1935 werden auf dem Reichsparteitag die „Nürnberger Gesetze“ verkündet, mit denen die Juden endgültig aus der Lebensgemeinschaft des deutschen Volkes ausgestoßen werden : Das „Blutschutzgesetz“ verbietet die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen „Deutschblütigen“ und Juden. Das „Reichsbürgergesetz“ verleiht lediglich den „Ariern“ den Rechtsstatus eines Reichsbürgers, die Juden behalten nur die Staatsangehörigkeit. Sie verlieren alle bürgerlichen Ehrenrechte und unterliegen damit einer Art Fremdenrecht. Das Gesetz enthält genaue Begriffsdefinitionen: Jude ist, wer von drei jüdischen Großelternteilen abstammt, als Mischlinge I. Grades gelten alle Personen, die zwei jüdische Großelternteile haben, Mischlinge II. Grades sind Per- sonen mit einem jüdischen Großelternteil. Das „Reichsbürgergesetz“ und vor allem die hierzu ergan- genen Verordnungen werden zum Instrumentarium der völligen Ausschaltung der Juden aus dem ge- sellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Leben. Sie werden isoliert und zu Men- schen zweiter Klasse gestempelt. Besonders die jüdischen Kinder, die nichtjüdische Schulen besuchen, werden seit 1933 diskriminiert und diffamiert, von Lehrern und Mitschülern gequält, schikaniert und benachteiligt. Die Reichsver- tretung der Juden in Deutschland und später deren Rechtsnachfolgerin, die Reichsvereinigung, baut daher ein möglichst dichtes Netz jüdischer Schulen auf. In Württemberg bestehen 1933 noch in But- tenhausen und Rexingen öffentliche israelitische Volksschulen. Sie werden in Privatschulen umge- wandelt. 1937 gibt es in Württemberg in 15 Orten private jüdische Schulen: Bad Buchau, Bad Mer- gentheim, Baisingen, Braunsbach, Buttenhausen, Creglingen, Freudental, Göppingen, Heilbronn, Laupheim, Niederstetten, Öhringen, Rexingen, Stuttgart und Ulm. Hinzu kommen das israelische Waisenhaus Esslingen und als höhere Schule das Landschulheim mit Internat Herrlingen. Insgesamt besuchen 587 Schüler, nahezu 90 % der jüdischen Schulpflichtigen diese Einrichtungen, wobei die 1 Sauer, Schicksale der jüdischen Bürger, S. 59-60. 5 Schülerzahl zwischen 3 und 223 Schülern schwankt. Bis 1939 sind die meisten dieser Schulen aufge- löst. In Hohenzollern wird 1939 die Israelitische Volksschule Haigerloch, die bis zuletzt als öffentli- che Schule besteht, aufgehoben.2