Das Ludwigs-Monument Und Die Folgen
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Das Ludwigs-Monument und die Folgen Hessische Anmerkungen zum ethnographischen Paradigma der Jahrhundertwenden Siegfried Becker Vor hundert Jahren erschien in Marburg, herausgegeben von der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck als erste Veröffentlichung ihrer Schriften- 1 reihe, das Hessische Trachtenbuch von Ferdinand JUSTI. Es markiert eindrucks- voll die nun auch auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen einsetzen- de Etablierung der Volkskunde als Wissenschaft, die Wilhelm Heinrich RIEHL, der Verfasser der Nassauischen Chronik des Jahres 18482 und der Naturge- schichte des Volkes3, lange zuvor schon gefordert hatte4, die aber erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, umso nachhaltiger freilich, in nahezu allen deut- schen Staaten einsetzte.5 In Gießen wurde 1901 die Hessische Vereinigung für Volkskunde gegründet, und für das ehemalige Kurhessen legte Carl HEßLER 1904 bis 1907 seine Hessische Landes- und Volkskunde vor.6 In all diesen Bestrebungen wird die Wahrnehmung eines Phänomens des Ethnischen als kultureller Kategorie im fin de siècle deutlich, das Konrad KÖSTLIN als ethnographisches Paradigma der Jahrhundertwenden bezeichnet hat: Dieses Phänomen begleitete seit dem Beginn der Moderne den Prozeß der Modernisierung und wurde mit der modernen Zeitarithmetik in den Krisenzeiten der Säkulumwenden als Konträrstrategie gegen die Modernisierung genutzt, ja es wird auch in der Gegenwart wieder als Möglichkeit zur Herausbildung einer partikularen, aber doch kollektiven Identität verwendet, als Orientierungssystem –––––––––– 1 Ferdinand JUSTI: Hessisches Trachtenbuch (VHKH 1), Marburg 1899-1904; Ndr., hg. von Günther Hampel (Ferdinand Justi als Darsteller und Erforscher ländlich-bäuerlicher Kul- tur in Hessen im ausgegenden 19. Jahrhundert 1), Marburg 1989. 2 Wilhelm Heinrich RIEHL: Nassauische Chronik des Jahres 1848, in: Wanderer. Literari- sches Beiblatt der Nassauischen Allgemeinen Zeitung, 1849; Ndr., hg. von Winfried SCHÜLER und Guntram MÜLLER-SCHELLENBERG. Wiesbaden 1979. 3 Wilhelm Heinrich RIEHL: Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. 4 Bde. 1851-1869, 3.-11. Aufl. Stuttgart 1892-1897. 4 Wilhelm Heinrich RIEHL: Die Volkskunde als Wissenschaft, in: Culturstudien aus drei Jahrhunderten. 1859, 6. Aufl. Stuttgart/Berlin 1903, S. 225-251; zur Nachwirkung Riehls in der Volkskunde vgl. Andrea ZINNECKER: Romantik, Rock und Kamisol. Volkskunde auf dem Weg ins Dritte Reich – die Riehl-Rezeption. (Internationale Hochschulschriften 192), Münster/New York 1996. 5 Vgl. dazu Ingeborg W EBER-KELLERMANN, Andreas C. BIMMER: Einführung in die Volks- kunde/Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte (Sammlung Metzler, Rea- lien zur Literatur 79), Stuttgart 21985. 6 Carl HEßLER (Hg.): Hessische Landes- und Volkskunde. Das ehemalige Kurhessen und das Hinterland am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Bd. 2 (Hessische Volkskunde), Marburg 1904, Bd. 1,1 und 1,2 (Hessische Landeskunde), Marburg, 1906/1907; Ndr. Bd. 2, Frank- furt am Main 1979. Vgl. dazu Gerhard HEILFURTH: Volkskultur, in: Walter HEINEMEYER (Hg.): Handbuch der hessischen Geschichte. (VHKH 63) Marburg (im Druck). Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG) Band 105 (2000), S. 171-199 172 Siegfried Becker 7 der mittleren Reichweite, der Identität durch Differenz. Auch Carlo GINZBURG hat den Begriff des Paradigmas schon gebraucht für dieses Phänomen der Spu- rensuche, der Entdeckung des Fremden im Eigenen, das mit dem epistemologi- schen Modell des Merkmals, des Zeichens und der Fährte um 1890 die grundle- genden Entdeckungen des modernen Denkens begründete.8 Dieses Modell, das mit der geistesgeschichtlich so bedeutsamen Wendung ins Kleine, mit der An- dacht zum Unbedeutenden9 und der philologischen Vertiefung ins Detail (USENER), mit dem Vordringen in die Tiefenschichten der Seele, der bürgerli- chen Hinwendung zum Ich10, auch der Volkskunde fruchtbare Anstöße gab11, bot Gelegenheit, aus dem Dilemma der seichten Gegenüberstellung von „Ratio- nalismus“ und „Irrationalismus“ auszubrechen, auf das Epistemologen und Phi- losophen immer wieder stoßen.12 Wege, Themen und Intentionen der Hinwendung zu den kleinen, unbedeu- tenden Dingen des Alltags, zum Leben der einfachen Leute, zur „Volkskultur“, weisen im Hessenland eigene Akzente auf, die auf dem symbolischen Repertoire der Romantik aufbauen konnten – jener Epoche einer ästhetischen Aufklärung der Aufklärung13, in der die ländliche Tracht als Endprodukt einer alteuropäi- schen Kleidungsgeschichte14 im Sinne einer bricolage in den gesellschaftlichen und politischen Entwürfen neu inszeniert worden war. –––––––––– 7 Konrad KÖSTLIN: Das ethnographische Paradigma und die Jahrhundertwenden, in: Ethno- logia Europaea. Journal of European Ethnology, 24, 1994, S. 5-20. 8 Carlo GINZBURG: Spurensicherung, in: DERS.: Spurensicherungen. A. d. Italien. von Gisela Bonz. Berlin 1983, S. 61-96. 9 Roland KANY: Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin. Tübingen 1987; vgl. dazu Martin SCHARFE: Bagatellen. Zu einer Pathognomik der Kultur, in: Zeitschrift für Volks- kunde 91, 1995, S. 1-26. 10 Otto FLÜGEL: Das Ich und die sittlichen Ideen im Leben der Völker. 1885, 5. Aufl. Lan- gensalza 1912. Vgl. auch Peter GAY: The Bourgeois Experience. Victoria to Freud. Lon- don 1995; dt. Übers.: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich. München 1997. 11 Vgl. dazu Siegfried BECKER: Hinwendung zum Volk. Die Anfänge der wissenschaftlichen Volkskunde in Hessen um 1900. Zum hundertjährigen Bestehen der Hessischen Vereini- gung für Volkskunde, in: AHG 58, 2000 (im Druck). 12 Elisabeth ROUDINESCO: La bataille de cent ans. Histoire de la psychanalyse en France. Paris 1986; dt. Übers.: Wien-Paris. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich. Bd. 1, a. d. Französ. von Brigitta Restorff, Weinheim-Berlin 1994, S. 105. 13 Harm-Peer ZIMMERMANN: Ästhetische Aufklärung. Zur Revision der Romantik in volks- kundlicher Absicht. Würzburg (im Druck). 14 Wolfgang BRÜCKNER: Trachtenfolklorismus, in: Utz JEGGLE u. a. (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 363-382; Siegfried BECKER: Bauernkleid und Nationalkostüm. Die ländlichen Trachten des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Wulf KÖPKE, Bernd SCHMELZ (Hg.): Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte. München 1999, S. 209-226. Das Ludwigs-Monument und die Folgen 173 Die Vorgeschichte 1837 erging eine „Aufforderung an sämmtliche Bewohner des Großherzogthums Hessen zu Beiträgen für die Errichtung einer Statue aus carrarischem Marmor Ludwigs I. Großherzog von Hessen, und bei Rhein“, die namens eines zur Er- richtung des Monuments gegründeten Vereins verfaßt und an die Kreisräte zur weiteren Verbreitung versandt worden war. Für die Aufbringung der Kosten des Monumentes, das „in einem collosalen Standbild von carrarischem Marmor auf einem Piedestal von grauem Marmor, ruhend auf einem Untersatze von festem Sandstein, begrenzt von vier auf den Ecken liegenden Löwen, bestehend, und von dem vaterländischen Künstler Scholl, dem genialen Verfertiger der Peter Schöffers Statue zu Gernsheim, gefertigt“ werden sollte, hatten die Unterzeic h- neten den Weg der Subscription gewählt.15 Die Erinnerung an den Regenten wurde zudem durch Ankündigung einer Biographie wachgehalten. Im Winter 1843/44 sandte Hofrat Dr. Steiner aus Seligenstadt eine Bitte an die Kreisräte des Großherzogtums, die von ihm ver- faßte Schrift „Ludwig I., Großherzog von Hessen und bei Rhein, nach seinem Leben und Wirken“ in den Schulen und Gemeinden des Landes zu verbreiten – des erhabenen Gegenstandes und des Nutzens wegen, den die Lectüre dieses zur Belehrung des Bürgers und Landmannes, so wie zum Unterrichte der erwachse- nen Jugend geschriebenen Buches, stifften wird, gerade jetzt, wo das dankbare Vaterland dem unsterblichen Gründer unserer im gedachten Buche geschilder- ten Institutionen ein Monument errichtet.16 In den Kreisen Dieburg, Groß-Gerau, Gießen, Nidda, Wimpfen und Friedberg seien bald alle Gemeinden mit dem Buche versehen; der Absicht einer weiten Verbreitung zum Unterrichtsgebrauch war bereits der Gemeinderat der Residenz Darmstadt nachgekommen, der den Schulinspektoren die Anschaffung des Werkes als Prämien in den höheren Schu- len empfohlen hatte.17 Im Rahmen der Vorbereitung für die Feierlichkeiten zur Enthüllung des Mo- numentes richtete die Zentralbehörde für die landwirtschaftlichen Vereine am 20. Juni 1844 einen Aufruf an die Kreis- und Landräte der Provinzen Oberhes- sen und Starkenburg als Vorständen der landwirtschaftlichen Bezirksvereine, zur Organisation eines landwirtschaftlichen Festzuges beizutragen18, dem eine her- vorragende Stellung beim Feste zugedacht werden solle: Als ein ganz specieller –––––––––– 15 StA MR 180 Biedenkopf, 7: Das Sr. Königliche Hoheit dem Großherzoge Ludwig I. zu errichtende Denkmal 1837-1844. Der Rücklauf war hier freilich gering. „Ich habe mir die größte Müge (sic!) gegeben solches zu bewerckstelligen, Ich hab solches bey versammel- ter Gemeinde verkündet, und ich habe die Liste durch den Ortsdiener von Haus zu Haus tragen lassen. Es ist aber nichts bewilligt als was in der liste verzeichnet“, berichtete Bür- germeister Seitz von Holzhausen; in den Gemeinden des Hinterlandes wurden jeweils zwischen 1 und 10 Gulden aufgebracht, lediglich in Battenberg kamen 76 Gulden 42 Kreuzer zusammen, und Geheimrat von Breidenstein spendete 50 Gulden. 16 StA