Das Ludwigs-Monument und die Folgen

Hessische Anmerkungen zum ethnographischen Paradigma der Jahrhundertwenden Siegfried Becker Vor hundert Jahren erschien in Marburg, herausgegeben von der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck als erste Veröffentlichung ihrer Schriften- 1 reihe, das Hessische Trachtenbuch von Ferdinand JUSTI. Es markiert eindrucks- voll die nun auch auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen einsetzen- de Etablierung der Volkskunde als Wissenschaft, die Wilhelm Heinrich RIEHL, der Verfasser der Nassauischen Chronik des Jahres 18482 und der Naturge- schichte des Volkes3, lange zuvor schon gefordert hatte4, die aber erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, umso nachhaltiger freilich, in nahezu allen deut- schen Staaten einsetzte.5 In Gießen wurde 1901 die Hessische Vereinigung für Volkskunde gegründet, und für das ehemalige Kurhessen legte Carl HEßLER 1904 bis 1907 seine Hessische Landes- und Volkskunde vor.6 In all diesen Bestrebungen wird die Wahrnehmung eines Phänomens des Ethnischen als kultureller Kategorie im fin de siècle deutlich, das Konrad KÖSTLIN als ethnographisches Paradigma der Jahrhundertwenden bezeichnet hat: Dieses Phänomen begleitete seit dem Beginn der Moderne den Prozeß der Modernisierung und wurde mit der modernen Zeitarithmetik in den Krisenzeiten der Säkulumwenden als Konträrstrategie gegen die Modernisierung genutzt, ja es wird auch in der Gegenwart wieder als Möglichkeit zur Herausbildung einer partikularen, aber doch kollektiven Identität verwendet, als Orientierungssystem –––––––––– 1 Ferdinand JUSTI: Hessisches Trachtenbuch (VHKH 1), Marburg 1899-1904; Ndr., hg. von Günther Hampel (Ferdinand Justi als Darsteller und Erforscher ländlich-bäuerlicher Kul- tur in Hessen im ausgegenden 19. Jahrhundert 1), Marburg 1989. 2 Wilhelm Heinrich RIEHL: Nassauische Chronik des Jahres 1848, in: Wanderer. Literari- sches Beiblatt der Nassauischen Allgemeinen Zeitung, 1849; Ndr., hg. von Winfried SCHÜLER und Guntram MÜLLER-SCHELLENBERG. 1979. 3 Wilhelm Heinrich RIEHL: Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. 4 Bde. 1851-1869, 3.-11. Aufl. Stuttgart 1892-1897. 4 Wilhelm Heinrich RIEHL: Die Volkskunde als Wissenschaft, in: Culturstudien aus drei Jahrhunderten. 1859, 6. Aufl. Stuttgart/Berlin 1903, S. 225-251; zur Nachwirkung Riehls in der Volkskunde vgl. Andrea ZINNECKER: Romantik, Rock und Kamisol. Volkskunde auf dem Weg ins Dritte Reich – die Riehl-Rezeption. (Internationale Hochschulschriften 192), Münster/New York 1996. 5 Vgl. dazu Ingeborg W EBER-KELLERMANN, Andreas C. BIMMER: Einführung in die Volks- kunde/Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte (Sammlung Metzler, Rea- lien zur Literatur 79), Stuttgart 21985. 6 Carl HEßLER (Hg.): Hessische Landes- und Volkskunde. Das ehemalige Kurhessen und das Hinterland am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Bd. 2 (Hessische Volkskunde), Marburg 1904, Bd. 1,1 und 1,2 (Hessische Landeskunde), Marburg, 1906/1907; Ndr. Bd. 2, Frank- furt am Main 1979. Vgl. dazu Gerhard HEILFURTH: Volkskultur, in: Walter HEINEMEYER (Hg.): Handbuch der hessischen Geschichte. (VHKH 63) Marburg (im Druck).

Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG) Band 105 (2000), S. 171-199 172 Siegfried Becker

7 der mittleren Reichweite, der Identität durch Differenz. Auch Carlo GINZBURG hat den Begriff des Paradigmas schon gebraucht für dieses Phänomen der Spu- rensuche, der Entdeckung des Fremden im Eigenen, das mit dem epistemologi- schen Modell des Merkmals, des Zeichens und der Fährte um 1890 die grundle- genden Entdeckungen des modernen Denkens begründete.8 Dieses Modell, das mit der geistesgeschichtlich so bedeutsamen Wendung ins Kleine, mit der An- dacht zum Unbedeutenden9 und der philologischen Vertiefung ins Detail (USENER), mit dem Vordringen in die Tiefenschichten der Seele, der bürgerli- chen Hinwendung zum Ich10, auch der Volkskunde fruchtbare Anstöße gab11, bot Gelegenheit, aus dem Dilemma der seichten Gegenüberstellung von „Ratio- nalismus“ und „Irrationalismus“ auszubrechen, auf das Epistemologen und Phi- losophen immer wieder stoßen.12 Wege, Themen und Intentionen der Hinwendung zu den kleinen, unbedeu- tenden Dingen des Alltags, zum Leben der einfachen Leute, zur „Volkskultur“, weisen im Hessenland eigene Akzente auf, die auf dem symbolischen Repertoire der Romantik aufbauen konnten – jener Epoche einer ästhetischen Aufklärung der Aufklärung13, in der die ländliche Tracht als Endprodukt einer alteuropäi- schen Kleidungsgeschichte14 im Sinne einer bricolage in den gesellschaftlichen und politischen Entwürfen neu inszeniert worden war.

–––––––––– 7 Konrad KÖSTLIN: Das ethnographische Paradigma und die Jahrhundertwenden, in: Ethno- logia Europaea. Journal of European Ethnology, 24, 1994, S. 5-20. 8 Carlo GINZBURG: Spurensicherung, in: DERS.: Spurensicherungen. A. d. Italien. von Gisela Bonz. Berlin 1983, S. 61-96. 9 Roland KANY: Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin. Tübingen 1987; vgl. dazu Martin SCHARFE: Bagatellen. Zu einer Pathognomik der Kultur, in: Zeitschrift für Volks- kunde 91, 1995, S. 1-26. 10 Otto FLÜGEL: Das Ich und die sittlichen Ideen im Leben der Völker. 1885, 5. Aufl. Lan- gensalza 1912. Vgl. auch Peter GAY: The Bourgeois Experience. Victoria to Freud. Lon- don 1995; dt. Übers.: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich. München 1997. 11 Vgl. dazu Siegfried BECKER: Hinwendung zum Volk. Die Anfänge der wissenschaftlichen Volkskunde in Hessen um 1900. Zum hundertjährigen Bestehen der Hessischen Vereini- gung für Volkskunde, in: AHG 58, 2000 (im Druck). 12 Elisabeth ROUDINESCO: La bataille de cent ans. Histoire de la psychanalyse en France. Paris 1986; dt. Übers.: Wien-Paris. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich. Bd. 1, a. d. Französ. von Brigitta Restorff, Weinheim-Berlin 1994, S. 105. 13 Harm-Peer ZIMMERMANN: Ästhetische Aufklärung. Zur Revision der Romantik in volks- kundlicher Absicht. Würzburg (im Druck). 14 Wolfgang BRÜCKNER: Trachtenfolklorismus, in: Utz JEGGLE u. a. (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 363-382; Siegfried BECKER: Bauernkleid und Nationalkostüm. Die ländlichen Trachten des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Wulf KÖPKE, Bernd SCHMELZ (Hg.): Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte. München 1999, S. 209-226.

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Die Vorgeschichte 1837 erging eine „Aufforderung an sämmtliche Bewohner des Großherzogthums Hessen zu Beiträgen für die Errichtung einer Statue aus carrarischem Marmor Ludwigs I. Großherzog von Hessen, und bei Rhein“, die namens eines zur Er- richtung des Monuments gegründeten Vereins verfaßt und an die Kreisräte zur weiteren Verbreitung versandt worden war. Für die Aufbringung der Kosten des Monumentes, das „in einem collosalen Standbild von carrarischem Marmor auf einem Piedestal von grauem Marmor, ruhend auf einem Untersatze von festem Sandstein, begrenzt von vier auf den Ecken liegenden Löwen, bestehend, und von dem vaterländischen Künstler Scholl, dem genialen Verfertiger der Peter Schöffers Statue zu Gernsheim, gefertigt“ werden sollte, hatten die Unterzeic h- neten den Weg der Subscription gewählt.15 Die Erinnerung an den Regenten wurde zudem durch Ankündigung einer Biographie wachgehalten. Im Winter 1843/44 sandte Hofrat Dr. Steiner aus Seligenstadt eine Bitte an die Kreisräte des Großherzogtums, die von ihm ver- faßte Schrift „Ludwig I., Großherzog von Hessen und bei Rhein, nach seinem Leben und Wirken“ in den Schulen und Gemeinden des Landes zu verbreiten – des erhabenen Gegenstandes und des Nutzens wegen, den die Lectüre dieses zur Belehrung des Bürgers und Landmannes, so wie zum Unterrichte der erwachse- nen Jugend geschriebenen Buches, stifften wird, gerade jetzt, wo das dankbare Vaterland dem unsterblichen Gründer unserer im gedachten Buche geschilder- ten Institutionen ein Monument errichtet.16 In den Kreisen Dieburg, Groß-Gerau, Gießen, Nidda, Wimpfen und Friedberg seien bald alle Gemeinden mit dem Buche versehen; der Absicht einer weiten Verbreitung zum Unterrichtsgebrauch war bereits der Gemeinderat der Residenz nachgekommen, der den Schulinspektoren die Anschaffung des Werkes als Prämien in den höheren Schu- len empfohlen hatte.17 Im Rahmen der Vorbereitung für die Feierlichkeiten zur Enthüllung des Mo- numentes richtete die Zentralbehörde für die landwirtschaftlichen Vereine am 20. Juni 1844 einen Aufruf an die Kreis- und Landräte der Provinzen Oberhes- sen und Starkenburg als Vorständen der landwirtschaftlichen Bezirksvereine, zur Organisation eines landwirtschaftlichen Festzuges beizutragen18, dem eine her- vorragende Stellung beim Feste zugedacht werden solle: Als ein ganz specieller –––––––––– 15 StA MR 180 Biedenkopf, 7: Das Sr. Königliche Hoheit dem Großherzoge Ludwig I. zu errichtende Denkmal 1837-1844. Der Rücklauf war hier freilich gering. „Ich habe mir die größte Müge (sic!) gegeben solches zu bewerckstelligen, Ich hab solches bey versammel- ter Gemeinde verkündet, und ich habe die Liste durch den Ortsdiener von Haus zu Haus tragen lassen. Es ist aber nichts bewilligt als was in der liste verzeichnet“, berichtete Bür- germeister Seitz von Holzhausen; in den Gemeinden des Hinterlandes wurden jeweils zwischen 1 und 10 Gulden aufgebracht, lediglich in Battenberg kamen 76 Gulden 42 Kreuzer zusammen, und Geheimrat von Breidenstein spendete 50 Gulden. 16 StA MR 180 Biedenkopf, 5: Herausgabe und Vertrieb des Werkes „Ludwig I., Großher- zog von Hessen und bei Rhein, nach seinem Leben und Wirken“ im Kreise Biedenkopf; Schreiben vom 20. Januar 1844. 17 StA MR 180 Biedenkopf, 5; hier: Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Gemeinderaths der Residenz Darmstadt de dato 16ten November 1843. 18 StA MR 180 Biedenkopf, 7.

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Wunsch ist uns bezeichnet worden, das Hessische Landvolk in seinen verschie- denen Stämmen und originalen Trachten dabei repräsentirt zu sehen ... Ein Festzug des Bauernstandes des Großherzogthums in den verschiedenen Trach- ten wäre überhaupt der erste in der Geschichte des Großherzogthums in seinem jetzigen Bestande. Es würden sich Volksstämme persönlich kennen lernen, wel- che bis jetzt zum Theil einander nur dem Namen nach bekannt waren ... die freundliche ehrhafte Aufnahme, welche er hier bis zu den höchsten Ständen fände, wozu sich vielleicht nicht sobald wieder eine andere, eben so günstige Gelegenheit ergäbe, alles dieß könnte nur wohlthätige Rückwirkungen auf die eigene Sache der Landwirthschaft haben. Darin finden nun die verschiedenen Interessengruppen Ausdruck: Die zentraldirigistisch aufgebaute Organisation der landwirtschaftlichen Vereine, die nach den Agrarreformen19 eine zügige und zielgerichtete Verbesserung der Landtechnik und der Anbaumethoden20 beab- sichtigte, verband mit dem Huldigungszug die berechtigte Hoffnung, nicht nur auf Kultur und wirtschaftliche Bedeutung des Bauernstandes, sondern auch auf straffe Organisation und Leistungskraft des landwirtschaftlichen Vereinswesens im Zentrum der Residenzstadt aufmerksam machen zu können. Mit der Aufforderung, Tracht tragende Burschen und Mädchen aus den Pro- vinzen des Großherzogtums zu melden, war die Zusicherung seitens der Zent- ralbehörde verbunden, für die Dauer des hiesigen Aufenthalts ... den Töchtern ganz freie Unterkunft, den Söhnen aber wenigstens ganz freies Quartier in guten Häusern in Aussicht (zu) stellen. Die Eltern dürften so in Absicht auf den sittli- chen Punkt ganz unbesorgt seyn, zumal das die jungen Leute auf der Reise von ihren Obmännern begleitet wären. Der Wunsch, gerade aus dem Kreis Bieden- kopf, insbesondere aus dem Gericht Gladenbach und dem Breidenbacher Grund junge Leute namentlich zu melden, deutet auf die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ihrer altertümlichen Erscheinung auffallende Besonderheit der Trachten im Hinterland hin, die auch in der weitaus größten Delegation der Festzugsteilnehmer zum Ausdruck kam. Am 5. September brachte die Großher- zoglich Hessische Zentralbehörde der landwirtschaftlichen Vereine in ihrer Zeit- schrift einen Dank an die Teilnehmer und Förderer des Festzuges21, der am 25. August 1844 zur Enthüllung des Monumentes durchgeführt worden war. Darin waren die Teilnehmer aus den einzelnen Kreisen, die „sich durch ihr gutes Benehmen in der Zeit ihres hiesigen Aufenthalts allseitig das freundliche An-

–––––––––– 19 Dazu v. a. Peter FLECK: Agrarreformen in Hessen-Darmstadt. Agrarverfassung, Reform- diskussion und Grundlastenablösung 1770-1860 (QFHG 43), Marburg, Darmstadt 1982; DERS.: Bauernbefreiung oder Aufhebung der alten Agrarverfassung? Zu den hessen- darmstädtischen Reformen im bäuerlich-ländlichen Bereich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: AHG 39, 1981; S, 371-385; DERS.: Die sogenannte Bauernbefreiung im Großherzogtum Hessen und die Auflösung der alten Gemeindeverfassung, in: Alzeyer GBll. 22, 1988, S. 163-174. 20 Siegfried BECKER: Die Einführung des Ruchadlo im Großherzogtum Hessen. Ein Beitrag zur Geschichte der schweren Ackergeräte, in: GBll. Kreis Bergstraße 21, 1988, S. 145- 163. 21 An die Theilnehmer und Förderer des Festzuges des Bauernstandes bei der Enthüllung des Ludwigs-Monuments zu Darmstadt, am 25. August 1844, in: Zs. für die landwirthschaftli- chen Vereine des Großherzogthums Hessen, 14, 1844, S. 391-396.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 175 denken gesichert haben“, mit ihren Obmännern namentlich aufgeführt, so daß ein Vergleich möglich wird:

Kreis/Bezirk Mädchen Burschen

Provinz Starkenburg Bensheim 6 6 Breuberg 6 6 Erbach 8 8 Heppenheim 6 6 Offenbach 6 6

Provinz Oberhessen Alsfeld 3 3 Biedenkopf 20 16 Büdingen 7 7 Friedberg 7 6 Gießen 6 6 Grünberg 8 6 Hungen 6 6 Lauterbach 6 6

Provinz Rheinhessen Alzey 6 6 Bingen 6 5 (Stadtbezirk) 6 6 Mainz (Landbezirk) 10 9 Worms 10 10

Die Mädchen und Burschen aus dem Kreis Biedenkopf waren: aus Eckels- hausen Elisabetha Debus, Johannes Aßmann und Carl Engelbach, aus Holzhau- sen Elisabetha Gesner, aus Mornshausen an der Dautphe Margarethe und Elisa- betha Lenz, aus Dautphe Elisabetha Roth, aus Herzhausen Johannes Lenz, aus Bottenhorn Johann Georg Müller, aus Hommertshausen Johannes Wege; aus Bellnhausen Katharina Demm (sic!), aus Hartenrod Carolina Lang und Johann Daniel Interthal, aus Schlierbach Katharina Elisabeth Rück, aus Mornshausen an der Salzböde Elisabeth Scheld, aus Günterod Katharina Elisabeth Schmidt und Jacob Bastian, aus Niederweidbach Elisabeth Schreiner, aus Frohnhausen Jo- hannes Lenz, aus Erdhausen Johannes Michel; aus Lixfeld Elisabetha Heß, aus Obereisenhausen Anna Jacobi, aus Niederdieten Katharina Immel, aus Gönnern Caroline Roth und Johannes Rein, aus Breidenstein Katharina Scherer, aus Brei- denbach Johannes Schmidt, aus Roth Johannes Klein, aus Wolzhausen Georg Thomä, aus Simmersbach Johannes Theis; aus Roßbach Katharina Frink, aus Dexbach Elisabetha Weide, aus Laisa Gertraud Hirth, aus Berghofen Anna Ger- traud Pauli, aus Rennertehausen Johannes Battenfeld, aus Dodenau Johannes Specht. Das Andenken an diesen großen Festzug mit seiner landesweiten Repräsenta- tion des „Hessischen Landvolk(es) .... in seinen verschiedenen Trachten und

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Stämmen“22 aber wurde vor allem durch ein Erinnerungsblatt wachgehalten, das von F. Neben gezeichnet und bei Ernst Kern verlegt wurde. Ein Blatt dieser Lithographie ist im Hinterlandmuseum Schloß Biedenkopf erhalten geblieben, das Gerd J. GREIN als Vorlage für seine illustrierte Trachtenbeschreibung dien- te23; ein weiteres, sogar koloriertes Blatt befindet sich im Fundus des Oberhessi- schen Museums Gießen.24 Außer auf diesem Erinnerungsblatt wurden die Trach- ten des Festzuges ausführlich von Eduard DULLER dokumentiert, der seit 1836 in Darmstadt wirkte und die Einweihungsfeierlichkeiten als wichtigen Beitrag, wenn nicht gar als Anstoß für seine große Darstellung der Mundarten, Sitten und Gebräuche, Feste und Trachten des deutschen Volkes nutzte.25 Diese Nutzung der hessischen Landestrachten im politisch-dynastischen Kontext – als „Nationaltrachten des Großherzogthums Hessen“26, die ihre Ent- sprechungen in den Huldigungs- und Landesbrautzügen auch in anderen Staaten, im Königreich Bayern27, im Großherzogtum Baden28 und in den thüringischen Herzogtümern29 etwa, hatte, wirkte nun direkt oder indirekt auf die frühen wis- senschaftlich-historiographischen Landesbeschreibungen. In Kurhessen hat vor allem Georg LANDAU die Trachten der Landbevölkerung, zunächst in seinem großen Aufruf, den er 1856 auf der Hildesheimer Sektionssitzung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine hielt30, berücksichtigt, und auch in seiner Beschreibung des Kurfürstentums ließ er Beobachtungen zu den Landestrachten einfließen31; hier schilderte er nun eingehend die schwarze Tracht in den ober- hessischen Dörfern rechts der Lahn und machte damit auf die alten Kulturbezie- hungen zwischen dem hessen-darmstädtischen Kreis Biedenkopf, dem „hessi- schen Hinterland“, und dem Marburger Land im kurhessischen Oberhessen auf-

–––––––––– 22 Ebd. S. 392. 23 Gerd J. GREIN: Die Trachten im Großherzogtum Hessen 1844 (Sammlung zur Volkskunde in Hessen), Otzberg-Lengfeld o. J. 24 Herrn Dr. Friedhelm Häring, Oberhessisches Museum Gießen, danke ich herzlich für Vorlage und Abdruckgenehmigung zu der hier beigefügten Abbildung. 25 Eduard DULLER: Das deutsche Volk in seinen Mundarten, Sitten, Gebräuchen, Festen und Trachten. Leipzig 1847, darin „Das Volk im Großherzogthum Hessen“, S. 265-289; Ndr. Leipzig o. J. 26 Ebd. S. 272. 27 Armin GRIEBEL: Wittelsbacher Trachtenpolitik nach 1848. Eine Initiative des Königs und die Reaktion seiner Verwaltung, in: Jb. für Volkskunde 11, 1988, S. 105-133; DERS.: Pha- sen von Trachtenpolitik im 19. Jahrhundert am Beispiel Bayerns, in: Thüringer Hefte für Volkskunde 3, 1995, S. 23-31. 28 Heinz SCHMITT: Zwischen Protest und Loyalität. Die politische Dimension badischer Volkstrachten im 19. und 20. Jahrhundert, in: Beiträge zur Volkskunde in Baden- Württemberg 4, 1991, S. 183-196. 29 Vgl. dazu Monika STÄNDECKE: Trachteninitiativen in Thüringen nach 1900. Das Trach- tenfest in Milz und seine Nachwirkungen (Veröff. zu Volkskunde und Kulturgeschichte 63), Würzburg 1997, hier S. 90 ff. 30 Georg LANDAU: Vorrede zum beabsichtigten Forschungsvorhaben, in: Correspondenz- Blatt des Gesammt-Vereins des deutschen Geschichts- und Alterthums -Vereins 5, 1856, S. 16-17. 31 Georg LANDAU: Beschreibung des Kurfürstenthums Hessen. Kassel 1842, S. 368 f.; dazu dann JUSTI: Trachtenbuch (wie Anm. 1), S. 12 f.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 177 merksam: darin werden also bereits erste Ansätze einer über die politisch- dynastischen Grenzen hinausweisenden Wahrnehmung der Volkskultur deutlich, die mit der retrospektiven Konstruktion stammesgeschichtlicher Gemeinsamkei- ten gerade die altertümlich wirkenden Frauentrachten des Hinterlandes ins Blickfeld rückten. Ihre besondere Hervorhebung durch die hohe Zahl der Fest- zugsteilnehmer, durch die Darstellung auf dem Erinnerungsblatt und in der Be- schreibung DULLERs, hat sicher mit dazu beigetragen, daß auch die Verfasser der späteren Trachtenwerke und künstlerischen Darstellungen – Albert 32 KRETSCHMER etwa , der deutlich auf den DULLERschen Trachtentafeln aufbau- te, – die Hinterländer Trachten besonders gewürdigt haben. Auch in der Fachgeschichte der hessischen Volkskunde ist mehrfach auf das Erinnerungsblatt und die Beschreibung DULLERs hingewiesen worden; eigens mit diesem Sujet haben sich etwa Otto SCHULTE und wenig später Sigrid EBERT beschäftigt.33 Freilich stand hier vor allem das Interesse an den Trachtendarstel- lungen selbst als Quelle einer sachvolkskundlich-kostümgeschichtlichen De- skription im Vordergrund; die politischen Zusammenhänge und Absichten sind dabei ebenso wie die kulturellen Hintergründe zumeist außer acht gelassen wor- den – erst mit der sozialwissenschaftlichen Fundierung der Volkskunde in den sechziger und siebziger Jahren war es möglich geworden, Text und Kontext und damit auch das Objekt als Objektivation zu betrachten: Tracht konnte nunmehr als Emblem34, als Indikator kultureller Prozesse35 verstanden werden.

Kulturelle Strategien der Dauer

Den Hinterländerinnen hatte auch DULLER den ersten Platz in seiner Beschrei- bung eingeräumt: „Die Krone von allen aber behielten die hübschen Dirnen aus dem Kreise Biedenkopf (ehemaligen Amt Gladenbach); sie stachen Allen durch die natürliche, ungesuchte Eleganz der kleidsamsten Tracht am meisten ins Au- ge; da sah man das Hessenhäubchen so zu sagen in seiner ästhetischen Ausbil- dung, die Farbe schwarz, die Form den ganzen Kopf umfassend, so daß sie sich zierlich an die Bildung des Hinterkopfs schloß, mit einem verjüngten Vorsprung über die Stirn herabtrat und über dem Scheitel eine artige natürliche Krone bil- dete, ... (ein Anzug), welcher eben so sehr der vollkommensten Naivität ent- sprach, als er in Berechnung auf Anstand für ein Auge, welches in der Schönheit den Anstand und im Anstand die Schönheit nicht vermissen will, nichts zu wün- schen übrig ließ“.36 In dieser Betrachtung des Ästhetischen im Kleid des Volkes wird ein Ansatz deutlich, der – in den philosophischen Entwürfen der Zeit begründet – die Hin- –––––––––– 32 Albert KRETSCHMER: Deutsche Volkstrachten. Leipzig 1870. 33 Otto SCHULTE: Von Oberhessischen Trachten, in: Hess. Bll. für Volkskunde, 27, 1928, S. 199-201 und Tafeln; Sigrid EBERT: Beiträge zur hessischen Trachtenforschung, in: ebd., 39, 1941, S. 180-185. 34 Christine BURCKHARDT-SEEBASS: Trachten als Embleme. Materialien zum Umgang mit Zeichen, in: Zeitschrift für Volkskunde, 77, 1981, S. 209-226. 35 Helge GERNDT: Kleidung als Indikator kultureller Prozesse. Eine Problemskizze, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 70, 1974, S. 81-92. 36 DULLER: Das deutsche Volk (wie Anm. 25) S. 274.

178 Siegfried Becker wendung zum „Volk“ vorantrieb und in der sozialen Diachronie der romanti- schen Vorstellung von einer Kulturfähigkeit des „Volkes“ die Sehnsucht nach dem Ursprünglich-Vollkommenen formte, in der klassenübergreifenden Syn- chronie des Bürgertums aber Einigkeit und Brüderlichkeit in einem geordneten 37 Staatswesen ersehnte. Theodor MUNDT faßte in seiner 1845 zuerst erschiene- nen Aesthetik38 dieses ästhetische Empfinden als „Gewährleistung in sich für die That der Geschichte, für die That des politischen Gesetzgebers, für die That des in seiner Einheit und Freiheit sich erhebenden Staatslebens ... indem sie den Bildungs- und Formtrieb des menschlichen Geistes an einem Objekt der Freiheit siegreich aufzeigt. Wird dieser freie Bildungstrieb der Völker, der durch die Kunst gewissermaßen seine Erziehung erhalten kann, die politischen Verhältnis- se, den Staat, ergreifen, so wird das politische Schöpfungswerk von dem Kunst- werk die Idee der freien Organisation zu entlehnen haben“. MUNDT, der darin die Nähe zu Schillers Auffassung des ästhetischen Staates39 nicht verschwieg, suchte in der ursprünglichen Kraft einer Volksgemeinschaft die fundamentale Bedeutung für das Gedeihen echter Kunst wie auch für das Gedeihen des Staa- tes; das ästhetisierende politische Engagement des Werkes, das in der zeitgenös- sischen Rezeption zwischen der Skylla der Verachtung durch die Parteigänger der vorrevolutionären „Bewegung“ und der Charybdis der Verurteilung durch 40 die Vertreter der Reaktion schwebte, wie Hans DÜVEL anschaulich formulierte , setzte ganz im Sinne des romantischen Topos des „Volksgeistes“ auf die „ge- sunde und durchdringende Anschauung des Volkes“, vor der „keine Schlechtig- keit bestehen kann“, auf „des Volkes nie zu berückenden Wahrheitsinstinct“, worin MUNDT deutlich eine Tradition des Volksbegriffes berührte, wie sie durch Joseph von Görres geprägt worden war41. Die Auffassung des Politischen, die schon bei Schiller eng mit der Konzepti- on eines glücklichen Zustands der Menschengemeinschaft – des einig' Volks 42 von Brüdern – verbunden war, kehrte nun auch bei DULLER wieder in der

–––––––––– 37 W EBER-KELLERMANN, BIMMER: Einführung (wie Anm. 5) S. 27 f. 38 Theodor MUNDT: Aesthetik. Die Idee der Schönheit und des Kunstwerks im Lichte unse- rer Zeit. Berlin 1845; Ndr., hg. von Walther Killy (Texte des 19. Jahrhunderts), Göttingen 1966. 39 Vgl. dazu Heinz-Gerd SCHMITZ: Die Glücklichen und die Unglücklichen. Politische Eu- dämonologie, ästhetischer Staat und erhabene Kunst im Werk Friedrich Schillers. Würz- burg 1992; Walter JAESCHKE: Ästhetische Revolution, in: DERS. (Hg.): Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795-1805). Hamburg 1999, S. 1-11. 40 Hans DÜVEL: Nachwort, in: MUNDT, Aesthetik (wie Anm. 38) Ndr., S. 391-403. 41 Heribert RAAB: Joseph Görres (1776-1848). Leben und Werk im Urteil seiner Zeit, 1776- 1876 (Gesammelte Schriften, Ergänzungsband 1), Paderborn u. a. 1985; Wolfgang FRÜH- WALD: Joseph von Görres, in: Enzyklopädie des Märchens. Handbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 5, Berlin 1987, Sp. 1414-1420. Vgl. dazu auch Helmut MÖLLER: Altdeutsch. Ideologie, Stereotyp, Verhalten, in: Hessische Bll. für Volkskunde 57, 1966, S. 9-30. 42 Vgl. zum Versuch der Vereinbarkeit des Liberalismus und Kommunitarismus bei Schiller: Harm-Peer ZIMMERMANN: Rütlischwur und Tellesschuss. , im Hinblick auf die Kommunitarismus-Debatte gelesen, in: Wolf R. DOMBROWSKY, Günter ENDRUWEIT (Hg.): Ein Soziologe und sein Umfeld. Lars Clausen zum 65. Geburtstag von

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 179 idealisierenden Beschreibung des Volksfestes zu Darmstadt, sei es doch „das genügendste vom Volk selbst abgelegte Zeugniß für das innige Verhältniß zwi- schen Fürst und Volk; so ward es von beiden, von Fürst und Volk, gleichfreudig erkannt im Großherzogthum Hessen, dem als Staatsbürger anzugehören, ich mir zur Ehre rechne; und als solcher wünsche ich nichts sehnlicher, als, daß dieß segensreiche Verhältniß wechselseitiger Liebe und Treue, auf Wahrheit und Recht begründet, immerdar sich erhalten und immer mehr erstarken möge; der Fürst ist stark, der es durch's Volk ist, das Volk ist glücklich, das einem Fürsten, der dem Recht, dem Gesetz, dem Geist huldigt, den seinigen nennt; ... und so hält man’s hier bei uns im biedern Hessen, das freu' ich mich sagen zu können, als ein freier unabhängiger Mann, der nichts zu hoffen und nichts zu fürchten 43 hat“. Dieses Bewußtsein um die Utopie der Glückseligkeit, das in DULLERs sehnlichstem Wunsch nach Beständigkeit und Dauer Ausdruck erhielt, konnte in der Perspektive auf die Volkskultur kompensiert werden: Das ästhetische Emp- finden, das DULLER in seine Beschreibung der Hinterländerinnen hineinlegte, zeigt diese Hoffnung, in der Volkstracht ein ansprechendes und zugleich an- schauliches Beispiel des Gemeinsinns und der Beständigkeit gefunden zu haben. In dieser Perspektive auf die Volkstracht konnten somit bereits im Vormärz kulturelle Strategien der Dauer44 entwickelt werden, die sehr viel später erst, ausgehend von Dokumentationen zu alten Gewändern in verschiedenen Regio- nen Spaniens, von ORTEGA in seinem Plädoyer für eine Wissenschaft von den Volkstrachten reflektiert werden sollten45 – 1934, als in Deutschland die Volks- tracht gerade zum Inbegriff bäuerlicher Autarkie und Zeitlosigkeit stilisiert wur- de.46 Zunächst als Vorwort zu einer Photogravüren-Sammlung von Ortiz Echagüe erschienen, verarbeitete er darin den Eindruck einer doppelsinnigen Maskerade, den er bei der Betrachtung der Bilder empfunden hatte: In dem kriti- schen, zwiespältigen Augenblick des Ablegens festgehalten, sah er in den ana- chronistisch gewordenen Gewändern den ästhetischen Hauptwert der Doku- mentation, in dem Eindruck der Überraschung, der das wie zum Spaß in eine Rolle geschlüpfte Volk auszeichnet – eine Rolle, die ihm ein gelehrter Poet auf den Leib geschrieben zu haben schien: „das heißt, als würde es jene Definition seines Wesens verkörpern, die einer aufgestellt hat, der nicht ‚Volk‘ ist“.47 ORTEGA reflektierte hier also bereits jenen dialektischen Prozeß, der mit „Fund“ und „Erfindung“48 – und mit der Wiederaneignung – in der wechselseitigen

–––––––––– Kieler Kollegen und Mitarbeitern (Christian-Albrechts-Universität, Soziologische Ar- beitsberichte 28), Kiel 2000, S. 294-309. 43 DULLER: Das deutsche Volk (wie Anm. 25) S. 275 f. 44 Vgl. dazu Aleida ASSMANN: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer (Beiträge zur Geschichtskultur 15), Köln-Weimar-Wien 1999. 45 José ORTEGA Y GASSET: Para una ciencia del traje populare (1934) – Für eine Wissen- schaft von den Volkstrachten, in: Gesammelte Werke. Übers. aus der span. Orig.-Ausg., Stuttgart 1996, Bd. 1, S. 513-520. 46 Zur ambivalenten Beurteilung des Phänomens „Tracht“ in der NS-Ideologie vgl. Heinz SCHMITT: Theorie und Praxis der nationalsozialistischen Trachtenpflege, in: Helge GERNDT (Hg.): Volkskunde und Nationalsozialismus. München 1987, S. 205-213. 47 Ebd., S. 514. 48 BRÜCKNER: Trachtenfolklorismus (wie Anm. 14).

180 Siegfried Becker

Wahrnehmung des Phänomens „Tracht“ durch Landbevölkerung, Obrigkeit und Bürgertum (und dessen Objektivierung in der wissenschaftlichen Dokumentati- on) die Volkstrachten – die doch in Wirklichkeit genauso Moden waren wie die von Aristokratie und Bürgertum getragene Kleidung – zur Verkörperung des Uralten, Ehrwürdigen, Ursprünglichen werden ließ: Ihr Reiz liege nämlich kei- neswegs in ihrer eigentlichen Altertümlichkeit, sondern in der wunderbaren Illusion des Alters, mehr noch in der Zeitlosigkeit, in jener eigenartigen, genia- len Ironie, mit der das Volk allem, was es einmal angenommen habe, die Er- scheinung der Dauer zu verleihen verstehe49. Im Erwecken dieses Anscheins sah er das Interessante, das Verlockende der Volkstrachten; darin beweise die untere Gesellschaftsschicht ihre Stilgewalt: Das authentische Alter eines von ihr und nur von ihr gebrauchten Gegenstandes ließe nicht die rein persönliche, schöpfe- rische, künstlerische Kraft erkennen, mit der die Inszenierung der Dauerhaftig- keit tatsächlich vollführt werde. Diese mehrdimensionale Aufladung des Phänomens „Tracht“, die ORTEGA hier reflektierte, sollte am Ende des 19. Jahrhunderts ihre „zweite Geschichte“, 50 wie es Bernhard TSCHOFEN formulierte , bestimmen; die kulturellen Strategien der Dauer, mit denen „Tracht“ in dieser zu Ende gehenden Epoche symbolisch aufgeladen worden war, wirkten sich nun auf mehreren Ebenen aus – Dimensio- nen, die aus der Ambivalenz von Modernisierungserfahrungen genährt wurden.

Die sozioökonomische Dimension

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die von DULLER gerühmten Trachten des Hinterlandes im Schwinden begriffen. Im Breidenbacher Grund wurden die beiden Trachten des Unter- und des Obergerichtes51 zunehmend zugunsten von Konfektionskleidung abgelegt, und JUSTI hat dies fast bitter kommentiert und zum Anlaß für seine Bildstudien genommen, die damit auch ein Versuch des Festhaltens von Empfindungen sind – „für den Freund volksthümlichen Wesens ist ein solches Verschwinden altüberlieferter Eigenthümlichkeiten betrübend, und selbst die Landschaft büsst von ihrem Reiz ein, wenn sie in den Zeiten von Aussaat und Ernte nicht mehr von arbeitsfrohen Menschen in kleidsamer Tracht belebt wird, sondern Leute, deren unschöne Körperhüllen an Proletarier und Fabriksklaven gemahnen, die einzige Staffirung bilden.“52 53 Am ehesten wurde die alte Tracht noch im alten Amt Biedenkopf getragen, während die von DULLER eigens gewürdigte Blankensteiner, von LANDAU auch

–––––––––– 49 ORTEGA: Für eine Wissenschaft (wie Anm. 45) S. 517. 50 Bernhard TSCHOFEN: „Trotz aller Ungunst der Zeit“. Anmerkungen zu einer zweiten Geschichte der Tracht in Vorarlberg, in: Österreichische Zs. für Volkskunde, XLV/94, 1991, S. 1-46. 51 Vgl. dazu Ursula EWIG, Anneliese BORN: Die Frauentracht des Breidenbacher Grundes (Beiträge zur Volkskunde Hessens 4), Marburg 1964. 52 JUSTI: Trachtenbuch (wie Anm. 1) S. 10. 53 Vgl. dazu Dorothee HENßEN: Die Frauentracht des alten Amtes Biedenkopf. Bestand und Wandel seit 1900 (Beiträge zur Volkskunde Hessens 2), Marburg 1963.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 181 noch für das Marburger Land rechts der Lahn beschriebene Tracht54 zugunsten der modischen Tracht aus den evangelischen Dörfern des Marburger Landes nach 1866 mehr und mehr abgelegt und am Ende des Jahrhunderts kaum noch getragen wurde: „In dem Hügellande westlich der Lahn bis zu dem Gebirge, welches den Breidenbacher Grund im Osten begrenzt, herrschte eine einzige schwarze Tracht in zwei nur wenig verschiednen Abarten“, begann JUSTI deren Schilderung: „Die eine von der neuern bunten Tracht sehr zurückgedrängt, er- scheint nur hie und da noch in den ehemaligen Gerichten Kaldern, Reizberg, Lohra und Fronhausen. In Lohra trugen sie am Schluss des Jahrhunderts noch sechs alte Frauen, darunter eine aus dem ½ Stunde entfernten Mornshausen ge- bürtig, deren jüngere Schwestern anfangs der vierziger Jahre nach ihrer Confir- mation die neue Tracht angelegt haben; in Seelbach zwei vor einigen Jahren verstorbne Frauen, von denen eine in diesem Dorf, die andre in Mornshausen geboren war; in Alna eine aus Fronhausen an der Alna gebürtige Frau. Etwas vollständiger erhalten war sie in dem ehemals darmstädtischen Gericht Blanken- stein-Gladenbach, ... doch auch hier überall im Schwinden begriffen und von 55 den Mädchen nicht mehr getragen.“ In seinen Aquarellen freilich suchte JUSTI noch das Bild der alten Trachtenlandschaften festzuhalten, und nicht zuletzt das Bild der Katharina Lotz aus Kehlnbach, das sie in der Abendmahlstracht mit den weiten gewachsten Glockenärmeln zeigt, läßt ahnen, daß er durchaus auch Mäd- chen ermunterte, die Kleidung ihrer Mütter und Großmütter für die Porträtierung anzulegen. Das Phänomen des Umkleidens, das hier nicht von der Tracht zur „städti- schen“ Mode, sondern von einer als altertümlich empfundenen zu einer modi- schen, „bunten“ Tracht führte, zeigt die Auswirkungen einer Veränderung ge- sellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen auf, die in den beiden letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine Orientierung der bäuerlichen Bevölkerung im Salzbödetal und im Allnabergland an der kulturellen Repräsentation in den Bau- erndörfern des Lahntales und des Ebsdorfer Grundes bewirkt hatte. Schon in den sechziger Jahren hatte hier eine Mechanisierung der Landarbeit eingesetzt, zu- nächst durch die Einführung der Dreschmaschine geprägt, die mit einer Verän- derung der Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft einherging und zumindest auf den größeren Höfen den allmählichen Übergang von der Gesinde- zur Ta- gelöhnerarbeit anstieß.56 Mit der Agrarkrise der siebziger Jahre und einer zu- nehmenden Abwanderung von Arbeitskräften in die prosperierende Industrie folgte diesen Veränderungen in der Landarbeit eine Phase der Rationalisierung, die bei relativ stabilen Preisen für Veredelungsprodukte, insbesondere für Milch –––––––––– 54 Vgl. dazu Hans FRIEBERTSHÄUSER: Die Frauentracht des alten Amtes Blankenstein (Bei- träge zur Volkskunde Hessens 5), Marburg 1966. 55 JUSTI: Trachtenbuch (wie Anm. 1) S. 31. 56 Siegfried BECKER: Dienstherrschaft und Gesinde in Kurhessen (Hess. Forsch. zur ge- schichtl. Landes- und Volkskunde 22), Kassel 1991; allerdings blieb die Gesindearbeit für das ehemalige Kurhessen noch bis weit ins 20. Jahrhundert im Vergleich zu anderen Ag- rarregionen prägender Bestandteil der landwirtschaftlichen Arbeitsverhältnisse – vgl. dazu DERS.: Agrarverbände und Landarbeit in Nordhessen 1920-1960. Anmerkungen zum kul- turellen Wandel in einer verspäteten Region, in: Theo SCHILLER, Thomas VON WINTER (Hg.): Politische Kultur im nördlichen Hessen. Marburg 1993, S. 175-207.

182 Siegfried Becker und Milchprodukte, eine Intensivierung der Viehhaltung und damit einen Be- rufsstand des „Schweizers“ förderte57: Molkereien wurden gebaut und neue Stal- lungen errichtet, die für Betriebsabläufe und hygienische Anforderungen der Milchviehhaltung eingerichtet waren. Über diesen Stallungen aber boten die Obergeschosse neben Bergeräumen auch die Möglichkeit, Unterkünfte für das verbliebene Gesinde zu schaffen58: Eine weitere Separierung von Dienstherr- schaft und Gesinde setzte ein, Herrschafts- und Gesindetisch wurden getrennt, Mahlzeiten und Geschirr hatten unterschiedliche Qualität, Porzellan, Steingut, Silberbesteck lösten die Irdenware und hölzernen Löffelkörbchen ab, die Schüs- selbank im Hausern verschwand oder wurde zum Relikt, das auf den Zeichnun- gen der volkskundlichen Sammler wiederkehrt – diese Veränderung der Wohn- kultur zeigt einen Prozeß der gesellschaftlichen und ökonomischen Differenzie- rung an, mit dem sich die bäuerliche Schicht vom ländlichen Proletariat abgrenz- te. Aber auch innerhalb der betrieblichen Arbeitsabläufe traten Differenzierun- gen ein: Eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wurde den modernisierten Betriebsformen angepaßt, neue, intensivierte und technisierte Arbeitsbereiche als männliche Domäne definiert, während die Frauenarbeit eher auf traditionelle Bereiche festgeschrieben wurde.59 Diese schichten- und geschlechtsspezifische Differenzierung der ländlichen Gesellschaft spiegelte sich in der Tracht wieder – in der Tracht der evangelischen Dörfer im Marburger Land60, die nun als „Hes- sentracht“ auch eine bürgerliche Wahrnehmung erfuhr, ja im Marburg der Jahr- hundertwende geradezu eine Trachteneuphorie auslöste61, wozu nicht zuletzt JUSTIs Trachtenbuch mit beigetragen haben dürfte. In der Repräsentation eines bäuerlichen Selbstbewußtseins aber – des „Bauernstolzes“, der wirtschaftliche Konsolidierung und gesellschaftliche Stellung der bäuerlichen Schicht ausdrück- te, – läßt sich die Ambivalenz der Modernisierung nachvollziehen: Einem ra- schen technischen und ökonomischen Wandel stand der Versuch gegenüber, in der Beibehaltung und modischen Entwicklung der Frauentracht eine Erschei- nung der Dauer herzustellen. Es war nicht eine Ambivalenz zwischen Idylle und Aufbruch eines Verbürgerlichungsprozesses62, sondern eine immanente Insze- nierung und Neuformierung des bäuerlichen Selbstbildes im Prozeß der Moder- nisierung selbst, die sich in neuen Stoffen, Schnitten und Farben der Tracht nie-

–––––––––– 57 Alfred HÖCK: Schweizer als Berufsbezeichnung des Melkers. Ein volkskundlicher Beitrag nach hessischen Archivalien, in: Schweizer Volkskunde 57, 1967, S. 81-91. 58 Vgl. dazu Siegfried BECKER: Gefügeforschung und Sozialgeschichte. Zur Betrachtung des Funktionsgefüges landwirtschaftlicher Gehöfte am Beispiel der Wohnverhältnisse des Ge- sindes in Oberhessen, in: Hessische Heimat 37, 1987, S. 74-81. 59 Günter W IEGELMANN: Frauenarbeit in der Landwirtschaft, in: Matthias ZENDER (Hg.): Atlas der deutschen Volkskunde NF, Erläuterungen 1. Marburg/Lahn 1959-1964, S. 37- 83. 60 Sigrid EBERT: Die Marburger Frauentracht (Buchreihe der Hessischen Blätter für Volks- kunde 1), Marburg 1939; 2. Aufl. (Beiträge zur Volkskunde Hessens 7), Marburg 1967. 61 Petra NAUMANN-W INTER, Andreas SEIM: Verwandlung durchs Gewand. Trachtenbegeiste- rung im Marburg der Jahrhundertwende. Marburg 1996. 62 Wolfgang JACOBEIT, Josef MOOSER, Bo STRÅTH (Hg.): Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich. Berlin 1990.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 183 derschlug und damit im Zeichensystem der ländlichen Gesellschaft Rang und Stand veräußerlichte. JUSTI hat gerade in dieser Zeit seine Studien zusammenge- tragen63, und in seine von wehmütigen Schilderungen über das allmähliche Ver- schwinden der alten Trachten des benachbarten hessischen Hinterlandes getra- genen Beobachtungen fließt doch auch die anerkennende Würdigung der „Hes- sentracht“ als der modernsten und entwicklungsfähigsten unter den hessischen Trachten ein – ihr hat er nicht nur den letzten, sondern auch den ausführlichsten Abschnitt des Trachtenbuches gewidmet und damit einen Farbtupfer der Hoff- nung gewürdigt.

Die ästhetische Dimension

Auf einem der letzten, von JUSTI 1901 gemalten Aquarelle ist Anna Katherina Mink, verheiratete Mergenthal, aus Kleinseelheim in der Tracht der evangeli- schen Dörfer im Marburger Land dargestellt. Ihr Anzug zeigt schon die modi- sche einheitliche Farbgebung; in der Hand hält sie ein Rosensträußchen. Die Gestik erinnert an die am Ende des Jahrhunderts im bäuerlichen Milieu in Mode gekommenen und exzessiv genutzten Photographien, und tatsächlich hat JUSTI für dieses Bild eine Photographie als Vorlage verwendet; die Affinität, die zwi- schen bäuerlicher Repräsentation und ihrer Inszenierung im Lichtbild bestand, 64 hat vor allem Ernö KUNT in eindringlichen Beiträgen aufgezeigt. Die besonde- re Rolle, die den Blumen auf diesen Bildern zukam, stand im Kontext einer neu- erlichen Aneignung der blühenden Natur, die einerseits mit der Entfaltung einer Hortikultur in der ländlichen Gesellschaft65, andererseits mit der Verbannung des „Flitterwerks der nachgeäfften und gekünstelten und gebackenen Blumen“66 aus den Kirchen einherging; das Verbot der Totenkronen durch die Kirchenbe- hörden67 war vor allem gegen diese Nachahmung der Natur durch Kunstblumen gerichtet, die dem Geist der Kirche zuwider seien und Gott nicht ehrten. Damit verbunden war eine Reflexion und Umdeutung des symbolischen Gehaltes, der –––––––––– 63 Vgl. dazu: Bilder aus oberhessischen Dörfern. Zeichnungen und Aquarelle des Marburger Orientalisten Ferdinand Justi (1837-1907), (Schriften des Marburger Universitätsmuse- ums 1; zugl. Hess. Forsch. zur geschichtl. Landes- und Volkskunde 15), Marburg 1987. 64 Ernö KUNT: Lichtbilder und Bauern. Ein Beitrag zu einer visuellen Anthropologie, in: Zs. für Volkskunde 80, 1984, S. 216-228; DERS.: Fotografie und Kulturforschung, in: Fotoge- schichte 6, 1986, H. 2, S. 13-31; DERS.: Ethno-Graphie – Foto-Graphie, in: DERS. (Hg.): Bild-Kunde – Volks-Kunde. Die III. Internationale Tagung des Volkskundlichen Bildfor- schungs-Komittees bei SIEF/UNESCO, Miskolc 1988, S. 121-131; DERS.: Tradition und Modernisierung im Bildgebrauch der Bauern in Ungarn, in: SIEF 4th Congress Papers, ed. by Bente Gullveig ALVER, Torunn SELBERG. Bergen 1990, Vol. 2, S. 393-400; DERS.: Fo- to-Anthropologie. Bild und Mensch im ländlichen Ungarn der ersten Hälfte unseres Jahr- hunderts (Veröff. zur Volkskunde und Kulturgeschichte 43), Würzburg 1990. 65 Heide INHETVEEN: Die Landfrau und ihr Garten. Zur Soziologie der Hortikultur, in: Zeit- schrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 42, 1994, S. 41-58. 66 Arnold RÜTTER: Die kirchliche Strauß- und Kranzbinderei sowie Errichtung von Tri- umphbögen (Die Pflanzenwelt im Dienste der Kirche für Geistliche und Laien 4), Re- gensburg 1895. 67 Gerald BAMBERGER: Totenkronen im Hinterland. Unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebung in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt bzw. im Großherzogtum Hessen, in: Hinterländer GBll. 78, 1999, Nr. 4, S. 153-156; 79, 2000, Nr. 1, S. 161-166.

184 Siegfried Becker im Blumenschmuck der Kirche das glühende Verlangen nach Gottesliebe und den Hinweis auf die erhabenen Tugenden Christi vermitteln sollte; der katholi- sche Kultus folgte in dieser Auffassung dem protestantischen nach.68 Die Blu- mensträußchen im Bauernbild – die Riesercher (Röschen) – verdienen daher als unscheinbares, aber gehaltvolles Indiz ästhetischer Vorstellungen der Naturan- eignung eine nähere Betrachtung.69 Nun handelt es sich bei den Photographien großteils um Atelieraufnahmen professioneller Photographen, und auch JUSTI dürfte wenigstens für einige seiner Aquarelle solche im Visite- oder Cabinetformat in bäuerlichen Haushalten weit verbreiteten Bilder als Vorlagen verwendet haben. Sie wurden vor allem bei Otto Damm hergestellt, der sein Atelier in der Augustinergasse in Marburg be- trieb. Dies könnte also vermuten lassen, daß ästhetische Vorstellungen des Pho- tographen den Blumenarrangements und Sträußchen zugrundelagen, und mögli- cherweise haben auch Aspekte des Diskurses um das Verhältnis von Kunst und Photographie dabei eine Rolle gespielt. Zu der 1896 gegründeten Marburger Photographischen Gesellschaft, in der sich Wissenschaftler und Laien zusam- menschlossen und dezidiert auch die künstlerisch-ästhetischen Möglichkeiten der photographischen Verfahren erprobten, hatten professionelle Photographen gemäß Statuten zwar keinen Zugang70; diese dürften aber – nicht zuletzt durch die rege Öffentlichkeitsarbeit und Vortragstätigkeit der Amateure – von der Arbeit der Gesellschaft profitiert haben, und insbesondere die Aufnahmen des Vorsitzenden, des Botanikers Prof. Dr. F. G. Kohl, haben – etwa mit seinen Versuchen zur farbigen Wiedergabe durch das Here-Kielsche Verfahren der Photochromie – sicherlich Anregungen zur gestalterischen Arbeit mit Blumen geboten. Hinzu kam der experimentelle Umgang mit der piktoralistischen Pho- tographie, die am Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext von Naturalismus und Symbolismus das Ideal des ländlichen Lebens auch photographisch erschloß.71 Doch die Blumensträußchen waren nicht nur Staffage in den Ateliers der pro- fessionellen Photographen. Ich erinnere mich an viele Frauen, die bauersch gingen (also Tracht trugen), denen sich ganz bestimmte Lieblingsblumen zuord- nen ließen. Diese Blumen wurden gern zu Sträußen gebunden und schmückten sonntags die Wohnstube, und sie kehren auch wieder auf den Bildern – mit den Riesercher waren nicht nur Rosen, sondern ganz allgemein auch die kleinen Handsträußchen gemeint.72 Damit aber sind die Blumensträußchen auf den Photographien von trachttragenden Mädchen und Frauen aus dem Marburger –––––––––– 68 Wolfgang BRÜCKNER: Der Blumenstrauß als Realie. Gebrauchs- und Bedeutungswandel eines Kunstproduktes aus dem christlichen Kult, in: Zwanzig Jahre Institut für Realien- kunde (Medium aevum quotidianum 25), Krems 1992, S. 19-62. 69 Dazu ausführlicher Siegfried BECKER: Röschen. Zur floralen Ästhetik in der bäuerlichen Bildkultur, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 97, 2001 (im Druck). 70 Sie waren im Bilde ... Die Protokolle der Marburger Photographischen Gesellschaft (1896-1901). Einführung von Gerhard OBERLIK. Marburg 1996. 71 Anne HAMMOND: Naturalismus und Symbolismus. Die piktoralistische Fotografie, in: Michel FRIZOT (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, S. 293-309. 72 Wilhelm CRECELIUS: Oberhessisches Wörterbuch. Darmstadt 1897-1899, S. 699, hat bereits darauf hingewiesen, daß der Begriff Rosen „im allg. für Blumen gebraucht“ wür- de. Vgl. dazu auch: Hessen-Nassauisches Wörterbuch, Bd. 2, Marburg 1943, Sp. 894 f.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 185

Land, die doch scheinbar so gleichartig wirken und häufig in den gleichen Ges- ten und Gebinden wiederkehren, sicher nicht nur Inszenierungen der Atelierpho- tographie – sie sind vielmehr Ausdruck einer Verinnerlichung des Schönheits- empfindens, eine Internalisation der ästhetischen Inszenierung jener Ambivalenz von Kultur und Natur, die Produkt des Modernisierungsprozesses war. Auch die rasche Entdeckung und Verwendung der Photographie für die visu- ellen Kommunikationssysteme der bäuerlichen Kultur ist Komplement dieses Modernisierungsprozesses; die Bilder bilden den gesellschaftlichen und techno- logischen Wandel, dessen Teil sie selbst waren, ab, aber sind sie nicht vielmehr angelegt, das Vergängliche bleibend zu erhalten, zeitlos zu machen? Dieses Fixieren des Augenblicks, die zum momentum geronnene Vergangenheit der Photographie, die Roland BARTHES faszinierte, ist immer an die Erinnerungs- leistungen des betrachtenden Subjekts gebunden73 und suggeriert doch Bleiben- des, Dauerhaftes, das Festhalten des Vorübergehenden, das im Bewußtsein um seine Vergänglichkeit bewahrt werden soll; das Bild ist damit materialisierter Teil jener doppelsinnigen Inszenierung der Dauer, in der das Medium der photo- graphischen Reproduktion von Tracht als Projektion der Kontinuität wirkte. In den Schmuckformen der Tracht spielte nun die Blumensymbolik eine be- deutende Rolle, und JUSTI hat gerade am Beispiel der Hauben – der Stülpchen – in der Tracht der evangelischen Dörfer im Marburger Land die Bedeutung der floralen Ornamentik aufgezeigt, die stilisierten Tulpenblüten und Grasblumen (Nelken), Kleeblätter und Akelei beschrieben; die Sträußchen mit aufblühenden gelben Rosen, die wegen ihrer Farbe auch auf den Photographien gut sichtbar wurden, könnten nun als Ergänzung zu diesen floralen Mustern im Zierat der Tracht verstanden werden, mit dem die Mädchentracht die Motivik der Braut herausstellte. Doch es sind nicht nur die Mädchen und Bräute gewesen, die sich mit den Röschen schmückten, und selbst hier mag der Sinngehalt tiefer gelegen haben. Auf den Bildern korrespondieren die Röschen häufig mit den vor dem Schoß gebundenen Schürzenbändern, die zur Jahrhundertwende meist prachtvoll mit Blütenreihe, Blättern und Knospen ausgestickt waren. JUSTI hat diese Blü- tenbänder aufmerksam beschrieben; die „schönen geblümten Bänder, die auch zu Besatz und als Gebende der Brautkronen verwendet werden, bilden den ei- gentlichen Luxusartikel der Mädchenkleidung. Sie wurden bis vor nicht langer Zeit von den Kaufleuten eigens für die Landestracht aus St. Etienne bezogen, wo sie seit dem Ende des 16. Jahrh. mit der Hand verfertigt wurden, wie noch jetzt wenigstens bei kostbaren Bändern der Fall ist, während man geringere mit der Maschine herstellt. In neurer Zeit werden die Bänder aus Elberfeld bezogen, jedoch muss man gestehn, dass sie die Schönheit der französischen nicht errei- chen. Bänder von schwarzem oder lila Taft, auch Atlas, mit eingewebten Blu- men, kommen aus der Schweiz.“74 Nun wurden diese Blütenbänder durch das Medium der Photographie in jener doppelsinnigen Inszenierung der Dauer fixiert, die das Bild von der Tracht her- stellte – die Röschen aber deuten darin vielleicht auch eine Spur an, die unter die

–––––––––– 73 Barbara NAUMANN (Hg.): Vom Doppelleben der Bilder. Bildmedien und ihre Texte (Lite- ratur und andere Künste), München 1993, S. 8. 74 JUSTI: Trachtenbuch (wie Anm. 1) S. 75.

186 Siegfried Becker glatte Oberfläche dieser Inszenierung führt, eine Spur, die möglicherweise zu einem ernsten, ja melancholischen Zug in der Liebe zu Blumen hinleitet: Mit der Ambivalenz einer Freude am Schönen und einer Empfindung der Vergänglic h- keit wird ein ästhetisches Element der Moderne berührt, das am Ende des 19. Jahrhunderts auf Emblematik und Symbolsprache im Umfeld der chiliastischen Weltenwende von 1848 zurückgriff – im aufblühenden Leben den Verfall zu erkennen, war bereits die entscheidende Sehweise der Décadence, jener in Frankreich um 1830 einsetzenden literarischen Bewegung, die mit ihrer Hinter- fragung des Fortschrittsoptimismus ein kritisches Gegengewicht im technischen Zeitalter schuf. Die Thematisierung einer Ambivalenz zwischen Fortschrittsgläubigkeit und Niedergangsstimmung, in der dann die Schwellenrhetorik des fin de siècle einen kulturellen Bezugsrahmen fand75, konnte auf diese kulturpessimistischen Tradi- tionen rekurrieren76, und doch wurden eigene Richtungen der künstlerischen Verarbeitung entwickelt: Im Nachmärz hatte ein epochaler Wandel im kulturel- len Umgang mit der düsteren Konsequenz der Melancholie stattgefunden, eine künstlerische Reflexion eingesetzt, die sie zur intimen Gefährtin der ästhetischen Moderne machte – jene „Melancholie in Farbe“, die die Fähigkeit entwickeln half, der in der dunklen Seite der Melancholie konzentrierten historischen Erfah- rung eine produktivere Seite entgegenzuhalten77: Am Beispiel von 78 BAUDELAIRES Les fleurs du mal exemplifiziert DEPPNER jene Stilmittel der „stärkeren Farben vor dunstigem Horizont“79, die mit Blumen, Düften und Seuf- zern gegen die Ästhetik des Schwarz im bürgerlichen Vormärz gesetzt wurden und darin „die alte Verschwisterung von Melancholie und entzündeter Phantasie zu einer modernen Sicht verschränk(ten), einer Sicht, die an Stelle der Gegens- tände die Leerstellen ihrer Abbilder wahr(nahm) und darin den Farben eine Per- spektive zuer(kannte).“80 Das sind Spiegelungen, die erkennen lassen, daß beide Seiten nicht ohne einander auskamen, ja daß sie in der Moderne als notwendige Empfindung und Verarbeitung einer Ambivalenz zum Korrektiv für eine akzel- lerierende Bewegung in Wirtschaft und Gesellschaft wurden. Diese Spiegelungen aber erfuhren eine Perspektivenumkehr in der Volkskul- tur – JUSTI, der es gewohnt war, gerade im Wandschmuck der komponierten Interieurs ikonographische Fährten zu legen, hat auf eine Ahnung dieser Spiege- lung vielleicht auch mit dem Wandspiegel im Bild der Anna Katherina Mink hingewiesen. Während in der Kunst eine Infragestellung des Fortschritts als dem prägenden Merkmal der Kulturentfaltung in der technischen Welt durch die Inszenierung der melancholischen Stimmung umgesetzt und doch mit den Far- –––––––––– 75 Vgl. dazu Arndt BRENDECKE: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrneh- mung und Wirkung. am Main-New York 1999. 76 Wolfdietrich RASCH: Fin de siècle als Ende und Neubeginn, in: Roger BAUER u.a.: Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1977, S. 30-49. 77 Martin Roman DEPPNER: Melancholie in Farbe, in: Thomas KOEBNER, Sigrid W EIGEL (Hg.): Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation. Opladen 1996, S. 117-143. 78 Pierre Charles BAUDELAIRE: Les fleurs du mal. Paris 1857; Ndr. Stuttgart 1980. 79 Jean STAROBINSKI: Melancholie im Spiegel. München-Wien 1992, S. 109. 80 DEPPNER: Melancholie (wie Anm. 77) S. 123.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 187 ben und Blumen auch wieder Akzente der Hoffnung beigegeben wurden, be- durfte in der bäuerlichen Gesellschaft die Spiegelung der Dauer einer Relativie- rung: Nicht der Fortschritt, nicht der in der agrarischen Produktion real stattfin- dende Wandel der ökonomischen und technischen Ausstattung, sondern der Schein des Dauerhaften war ja bestimmender Maßstab ihrer kulturellen Reprä- sentation. Kontrastierend dazu aber erhielten die Blumen nun eine besondere Bedeutung: Blumen als dauerhaften Schmuckformen, als Ornament auf den Accessoires der Tracht, auf Guimpen und Schürzenbändern wurde die gebro- chene natürliche Blume beigegeben – das Vanitas-Symbol, jene ältere allgegen- wärtige Motivik der barocken Bauernkunst.81 Doch sie war nicht bloß einfaches Zitat, sie erlangte eine neue ästhetische Qualität, hatten doch das Symbol der Vanitas die gemalten und künstlichen Blumen ebensogut verkörpern können. Die Empfindung der Vanitasbedeutung läßt sich nachvollziehen in der be- sonderen Stellung der Pfingstrosen in der bäuerlichen Kultur, jenes Symbols der prachtvollen, üppigen Schönheit aufblühenden Lebens und zugleich auch der Vergänglichkeit, wie sie Albrecht Dürer bereits in seinem schlichten und doch so eindrucksvollen Gemälde als Allegorie verwendet82 und damit in einen frühen Zusammenhang einer ästhetischen Naturbetrachtung gestellt hat, der über ihren Gebrauch als Heilpflanze in den Herbarien und Florilegien83 weit hinauswies. Dieses Verständnis der Pfingstrose als Vanitassymbol, als Allegorie der Ver- gänglichkeit, die ihre Beliebtheit und Verbreitung als „Bauernrose“ wenigstens begleitet hat, läßt sich nun in Beziehung setzen zur symbolischen Bedeutung des Rotdorns, dessen an Röschen erinnernde Blüten als Schmuck beliebt waren. Gemeinsam ist beiden die nur kurze Phase der Blüte, die über zehn bis vierzehn Tage im Mai währt; sie erfreuen nicht wie die Centifolien und Edelrosen den ganzen Sommer über das Auge mit prächtigen Farben, doch sie verdeutlichen umso mehr das Werden und Vergehen und Neuwerden als Empfindung des Wandels und Wahrnehmungsform der Melancholie84: Die sinnbildliche Aneig- nung des Hagedorns für die Dornenkrone Christi85 mag Hintergrund gewesen –––––––––– 81 Dazu bes. BRÜCKNER: Blumenstrauß (wie Anm. 14) S. 32 f.; zur Vanitassymbolik vgl. auch Norbert SCHNEIDER: Zeit und Sinnlichkeit. Zur Soziogenese der Vanitasmotivik und des Illusionismus, in: Kritische Berichte 8, 1980, H. 4/5, S. 8-34; DERS.: The Early Floral Still Life, in: Hans-Michael HERZOG (Ed.): The Art of the Flower. The Floral Still Life from the 17th to the 20th Century. Bielefeld-Kilchberg/Zürich 1996, S. 15-21. 82 Albrecht Dürer (1471-1528): Pfingstrosen. Um 1505. Bremen, Kunsthalle. Eine Rezeption der Motivik findet sich in floralen Stilleben des 19. Jahrhunderts, etwa bei Carl Schuch oder Hans Makart – vgl. dazu HERZOG, Art of the Flower (wie Anm. 81) hier S. 84 f. 83 Elisabeth ROTH: Paeonie und Kaiserkrone. Zur Kulturgeschichte von Heilpflanze und Blume, in: Dieter HARMENING u.a. (Hg.): Volkskultur und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag. Berlin 1970, S. 279-302. 84 Vgl. Dörthe BINKERT: Die Melancholie ist eine Frau. Hamburg 1995, S. 206; S. W. JACKSON: Historia de la melancholía y la depressíon. Madrid 1986. 85 Dazu Robert W ILDHABER: Der Weißdorn in vergleichendem Volksglauben, in: Edith ENNEN, Günter W IEGELMANN (Hg.): Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesge- schichte. Festschrift für Matthias Zender. Bd. 1, Bonn 1972, S. 546-560, hier S. 554 f.; weiterhin deutet v. a. die französische Benennung noble épine auf diese Glaubensvorstel- lungen hin – vgl. H. RELING, P. BROHMER: Unsere Pflanzen in Sage, Geschichte und Dichtung. Dresden 51922, Bd. 1, S. 53.

188 Siegfried Becker sein für seine häufige Verwendung als geformte Hecke zur Einfriedung von Kirchhöfen, und ich erinnere mich gerne an den reizvollen Kontrast, den die Blüten des Weißdorns mit den Röschen der Rotdornbäumchen ergaben, die in regelmäßigen Abständen aus diesen Hecken emporwuchsen. Es müssen gar nicht einmal die emblematischen Bezüge zu den weißen und roten Rosen der alten marianischen Symbolik hergestellt werden, um den Bedeutungsgehalt von Leiden und Auferstehung Christi begreifen zu können, der auch durch die ge- wöhnliche Blütezeit des Rotdorns und der Paeonien zwischen Christi Himmel- fahrt und Pfingsten unterstrichen wird.86 Die in der Hand gehaltenen Blumensträußchen aber lassen damit eine Natur- auffassung ahnen, die in der Hinwendung der beiden christlichen Konfessionen zum natürlichen Blumenschmuck ausgedrückt wurde und die Schönheit der Natur als göttliche Schöpfung, als ars dei, würdigte. Darin konnte der seit der Renaissance kultivierte menschliche Versuch einer Nachahmung der Natur, die imitatio naturae87, keine Heimstatt mehr finden: Die Verbannung des Flitter- werks aus den Kirchen war gegen die Nachgestaltung natürlicher Phänomene von menschlicher Hand gerichtet und beinhaltete das Anerkennen von Schönheit und Endlichkeit der Schöpfung. Es ist nur einer ewig und an allen Enden, und wir in seinen Händen88 – der Vers leitet hin zur Bedeutung der Betenden Hände Dürers als beliebtem Wandschmuck in den bäuerlichen Haushalten; im Kirchen- gesangbuch für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau ist noch heute die Liedfassung des populären Gebetes So nimm denn meine Hände enthalten, das in Freud und Leid gesungen wurde und Trost spendete in schweren Tagen: In diesem Kontext einer Symbolik der Hände in einer durch Handarbeit gepräg- ten Kultur89, die noch in unmittelbarem Bezug stand zur Kultivierung der Natur, können und müssen wir vielleicht auch die Metaphorik der Blumen verstehen, die als Accessoires photographischer Inszenierung und pastoraltheologischer Belehrung gedacht waren, aber doch übersetzt wurden in eine Bildsprache, die in einem sehr viel weiteren Zusammenhang bäuerlicher Repräsentation und religiöser Überzeugung ruhte.

–––––––––– 86 Das gerade hierin sich manifestierende Bewußtsein, daß in Christus die ganze Schöpfung geheiligt ist, läßt auch die Bezüge zum Prangtag und Kränzeltag im katholischen Ritus des Fronleichnamsfestes und den Blumenteppichen erkennen; vgl. dazu Iris DOSTAL- MELCHINGER: Blumenteppiche am Fronleichnamstag. Eine Studie zu Phänomen und Verbreitung, Wesen und Bedeutung eines kirchennahen Festbrauches. München 1990. 87 Erwin PANOFSKY: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. Ber- lin 1960; Anne EUSTERSCHULTE: Nachahmung der Natur. Zum Verhältnis ästhetischer und wissenschaftlicher Naturwahrnehmung in der Renaissance, in: Olaf BREIDBACH (Hg.): Natur der Ästhetik – Ästhetik der Natur (Ästhetik und Naturwissenschaften: Neuronale Ästhetik), Wien 1997, S. 19-53. 88 Dieser Vers eines Wandspruches ist zudem in Bezug zu stellen zu 1. Petrus 1,24 f., in dem auch die Blumenmetaphorik aufgenommen ist: „Alles Fleisch ist wie Gras und alle Herr- lichkeit des Menschen wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt und die Blume abge- fallen, aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“. 89 Siegfried BECKER: Körper und Arbeit. Zur normativen Wertung physischer Anstrengung, in: Max MATTER (Hg.): Körper-Verständnis, Körper-Erfahrung (Hess. Bll. für Volks- und Kulturforschung NF 31), Marburg 1996, S. 55-71.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 189

JUSTI hat diese subtil konstruierten Symbolgehalte der blühenden Natur und ihre nachhaltige Aneignung in der bäuerlichen Kultur nicht mehr verstanden; mit fast zynischem Seitenhieb auf die landeskirchliche Verwaltung schloß er das Trachtenbuch mit der Bemerkung, diese hätte vor einigen Jahren den schönen Brauch der Totenkronen verboten, „so dass die Landleute die noch eben gestifte- ten Kronen in der Kammer auf der ‚Börlaube‘ daheim an die Wand hängen mussten. Künstler haben auf ihren bildlichen Darstellungen von Vorgängen in der Dorfkirche solche Flitterkronen zur Belebung des eintönigen Raumes zu benutzen nicht verschmäht, und diese alten Symbole der Ueberwindung irdi- scher Unvollkommenheit ... zierten das Innere des Gotteshauses jedenfalls bes- ser als die Figuren von Aposteln und alten Juden, mit denen ländliche Tüncher die Felder der Emporen bedeckt haben.“90 Das Nichtverstehen hatte seine Ursa- che in der Richtung des Blicks. JUSTI, der dem Vergangenen nachhing und fas- ziniert war vom Anblick eines sonntäglichen Kirchgangs „in manchem hessi- schen Dorfe, bei dem man noch zahlreiche Bauern mit langem Kirchenrock nach dem Schnitt des vorigen Jahrhunderts, das Haupt vom breitkrämpigen Hut be- schattet, und schwarzgekleidete Frauen mit Schleiern sehn kann, den altväteri- schen Anstand, wie er bei demselben Vorgang 100 Jahre früher üblich gewesen sein mag“91, mußte das Abkommen vom Althergebrachten mit Trauer erfüllen. Ihn hat die Ästhetik des Schwarz angerührt, und in die Gefühlsstimmung fügt sich die Aufnahme der schwarzen Trachten des Hinterlandes, insbesondere auch der Trauertrachten ein. Es ist das Bild einer reinen bäuerlichen Kultur92, die er in der Vergangenheit wähnte und von der er ein Ab-Bild hinüberzuretten suchte in das neue Jahrhundert. Die bäuerliche Schicht aber, die mit der Marburger Tracht doch gerade die Dynamik des Modernisierungsprozesses durch eine Inszenie- rung der Dauer kaschierte, hatte längst den Blick in die Zukunft gewendet; der modische Wandel war darin beabsichtigt und nur gemildert durch die Erschei- nung der Tracht, die zudem mit der Blumensymbolik eine ästhetische Akzentu- ierung der Ambivalenz erfuhr.

Die politische Dimension

Als Albrecht DIETERICH, der Gießener Altphilologe, mit seinem Beitrag Über Wesen und Ziele der Volkskunde 1902 die Hessischen Blätter für Volkskunde als Organ der im Jahr zuvor gegründeten Hessischen Vereinigung für Volkskunde eröffnete, hob er darin die Bedeutung der hessischen Lande für die Formierung des jungen Faches besonders hervor – „es wäre nicht unnatürlich, wenn das Heimatland Jakob Grimms im Südwesten Deutschlands, in dem es wenig An- fänge solcher Organisationen giebt, in der Anregung und Leitung der Rettung

–––––––––– 90 JUSTI: Trachtenbuch (wie Anm. 1) S. 87. 91 Ebd. S. 3. 92 Diese Projektionen einer reinen Kultur der hessischen Bauern, aus der die Einflüsse der jüdischen Kultur ausgeklammert, ja ignoriert wurden, finden sich dann auch bei Ludwig Friedrich Werner Boette – und in letzter pervertierter Konsequenz im volkskundlichen Werk Otto Böckels, das als Gegenentwurf, als Kehrseite ein und derselben Medaille, seine antisemitischen politischen Schriften ergänzte.

190 Siegfried Becker

93 unserer reichen Volksüberlieferungen voran ginge.“ DIETERICH, 1866 in Hers- feld geboren und nach dem frühen Tod der Mutter von seinem altkurhessisch gesonnenen, tiefgläubigen und arbeitsamen Vater erzogen94, war Schüler und Schwiegersohn des Religionshistorikers Hermann USENER, der mit seiner Forde- rung nach einer philologischen Vertiefung ins Detail die alte Metapher der An- dacht zum Unbedeutenden als methodisches Instrument weiterentwickelt und vertieft hatte95 und damit Grundlagen schuf für eine Thematisierung des Unbe- wußten auch in der Volkskunde – in der Auseinandersetzung zwischen Adolf STRACK und dem Basler Gelehrten Eduard HOFFMANN-KRAYER um die kultur- tragende Rolle von Individuum und Kollektiv96 fand es dann im volkskundlichen Topos vom Prälogisch-Assoziativen Eingang. STRACK ging es vor allem um die bildhafte Sprache des Volkes, die gespeist wurde von unbewußten Erinnerungen – „Associationen formeller und materieller Art, die sich unbewußt einstellen, thun das Meiste“97. Dieser Blick aufs Volksleben, der zunächst ein Blick nach unten war und den Anspruch hatte, nicht nur den unteren Bevölkerungsschichten Aufmerksamkeit zu widmen, ihre kulturellen Ausdrucksformen zu würdigen und ihnen eine Stimme im Konzert geisteswissenschaftlicher Forschungsfelder zu verleihen, sondern auch die Wissenschaft aus „pedantischer Systematik und totem abstrakten Denken“ herauszuführen und ihre gesellschaftliche Relevanz zu reflektieren98, bedurfte in seiner Hinwendung zum Unbedeutenden einer me- thodischen Absicherung: USENER hatte zum ersten Band der Hessischen Blätter einen großen Aufsatz über Vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte99 beige- steuert, und auch STRACKs Beitrag über Vierzeiler zeigt eindrucksvoll die Be- deutung einer über landesgeschichtliche Grenzen hinausblickenden vergleichen- den Forschung auf – die Andacht zum Unbedeutenden wurde durch den Zugriff des Vergleichs aufgewogen, das Detail in den Kontext eingeordnet und dem Blick aufs Nahe ein weiter Horizont erschlossen: Die Vertiefung ins Detail als Instrumentarium setzte die komparatistische Übersicht voraus, Nähe und Ferne, Heimat und Weltläufigkeit galt es zu vereinbaren, und diese Perspektive des ethnographischen und folkloristischen Vergleichs war auch eine Öffnung des Blickes und nicht auf nationale Abgrenzung gerichtet. Diese Intentionen waren auch gegen eine Formierung der Volkskunde als na- tionale Wissenschaft gerichtet, wie sie in Berlin mit der Umformung der Zeit-

–––––––––– 93 Albrecht DIETERICH: Über Wesen und Ziele der Volkskunde, in: Hess. Bll. für Volkskun- de 1, 1902, H. 3, S. 1-26, hier S. 26. 94 Vgl. Richard W ÜNSCH: Albrecht Dieterich. Nekrolog, in: Jahresbericht für Altertumswis- senschaft CXLV, B; Ndr. in: Hessenland 24, 1910, S. 157 f., 164-166, 181 f., 195 f., 233- 235; Hugo HEPDING, Karl HELM: [Nachruf auf] Albrecht Dieterich, in: Hess. Bll. für Volkskunde 7, 1908, S. 115-117. 95 Hermann USENER: Kleinere Schriften. 4 Bde., Leipzig-Berlin 1912-1914. 96 Adolf STRACK: Volkskunde, in: Hess. Bll. für Volkskunde 1, 1902, S. 149-156; DERS.: Der Einzelne und das Volk, in: ebd. 2, 1903, S. 64-76; vgl. dazu W EBER-KELLERMANN, BIMMER: Einführung (wie Anm. 5) S. 66-76. 97 Adolf STRACK: Hessische Vierzeiler, in: Hess. Bll. für Volkskunde 1, 1902, S. 30-60. 98 DIETERICH: Über Wesen (wie Anm. 93) S. 3. 99 Hermann USENER: Vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte, in: Hess. Bll. für Volks- kunde 1, 1902, S. 27-60.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 191 schrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft und der Gründung des 100 Vereins für Volkskunde durch Karl WEINHOLD aufgenommen worden war – in seinem Grundsatzreferat distanzierte sich DIETERICH prononciert von der Fachauffassung WEINHOLDs, insbesondere von dessen Blick auf Natur und Kul- tur des Menschen, und in der Betonung des landschaftlichen Elementes ging es auch um die politischen Implikationen von Staatsgedanke und Landesbewußt- 101 sein , die Ludwig DEHIO später in seinem großen Entwurf einer europäischen Staatengeschichte in den politischen Koordinaten Hegemonie und Gleichgewicht herausgearbeitet hat.102 Diese Koordinatensysteme von Hegemonie und Gleic h- gewicht, Individuum und Kollektiv, Natur und Kultur haben in der Volkskunde zentrale Bedeutung erlangt. Hier konnte nun implizit der Rückgriff auf die ästhe- tischen Entwürfe von Volk und Staatswesen des Vormärz fruchtbar gemacht werden für den Diskurs, und es ist vielleicht bezeichnend, daß die theoretischen Ansätze eine Konkretisierung wiederum am Phänomen der Volkstrachten fan- den. In der Themenvielfalt und im Methodenpluralismus dieses jungen Faches spiegeln sich die Quellströme von Geographie und Völkerkunde, von Germanis- tik und klassischen Philologie, von Theologie und Religionswissenschaften, Medizin und Anthropologie, aus denen es sich in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts herausbildete und in Anlehnung an die Völkerkunde zunächst viel- fach noch als Ethnographie, im deutschen Sprachraum aber nun zunehmend als Volkskunde bezeichnet wurde, ein Fach, in dem die Perspektiven auf ethnisch definierte Kollektive, auf das „Volk“ als Konstrukt gebündelt wurden. Der Blick auf den „Gemeinsinn des Volkes“ war auch als Gegengewicht zum Individualismus gedacht, zu jener Hinwendung zur seelischen Befindlichkeit als Gegenstand bürgerlicher Selbsterfahrung, die in diesem 19. Jahrhundert das Bestreben, Individuum zu sein, ein einzigartiges, unverwechselbares Einzelw e- sen sein zu können und sein zu wollen, ermöglicht hatte. Es war eine Sozialisa- tionserfahrung der bürgerlichen Gesellschaft, die nun am Ende dieser Epoche eines Aufbegehrens gegen die Ordnungen der aristokratischen Welt103 doch auch den Verlust der Ordnungen empfand und in der Krise des Zeremoniells104 auch das Bedürfnis nach Gemeinsinn kultivierte. Mit der Tracht, die als augenfällig- ster Ausdruck des Gemeinsinns in der bäuerlichen Kultur verstanden wurde, hatte die frühe Volkskunde nun eine Sammlungsaufgabe gefunden, in der sich

–––––––––– 100 Vgl. dazu Wolf KÖNENKAMP: Gescheitert und vergessen: Folgenloses aus der Geschichte der Volkskunde, in: Kai Detlev SIEVERS (Hg.): Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde im 19. und 20. Jahrhundert (Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins 26), Neumünster 1991, S. 171-192. 101 Vgl. dazu Hans PATZE (Hg.): Staatsgedanke und Landesbewußtsein in den neupreußischen Staaten (1866). Marburg-Ulm 1985. 102 Ludwig DEHIO: Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Krefeld 1948, Neuausgabe hg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus HILDEBRAND, Zürich 1996. 103 Arno J. MAYER: The persistance of the Old Regime. New York 1981; dt. Übers.: Adels- macht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914. München 1988. 104 Bernhard JAHN, Thomas RAHN, Claudia SCHNITZER (Hg.): Zeremoniell in der Krise. Stö- rung und Nostalgie. Marburg 1998.

192 Siegfried Becker auch ein geographisch-ethnographischer Blick auf landschaftlich geprägte Kul- turformen niederschlagen konnte. Fast gleichzeitig mit JUSTI hatte von Frankfurt aus der Maler und Graphiker Rudolf KOCH mit der zeichnerischen Dokumentation bäuerlicher Kleidung be- gonnen. Für das Historische Museum der Stadt Frankfurt sammelte er Trachten aus den hessischen, thüringischen und mittelfränkischen Trachtenlandschaften, aus dem hessischen Hinterland und der Umgebung von Marburg, aus dem Kat- zenberg und der Wetterau, aus dem Fuldaer und Schlitzer Land, aus Taunus und 105 Vogelsberg : Er konzentrierte sich also nicht wie JUSTI auf territorialgeschicht- lich und politisch-dynastisch definierte Kulturlandschaften, sondern bezog das ganze Hessenland „im eigentlichen ethnologischen Sinne“106 in seine Studien ein. KOCH war vor allem als Pressezeichner für illustrierte Zeitungen tätig, und auch für Brehms Thierleben und Haackes Schöpfung der Thierwelt schuf er als begabter anatomischer Zeichner eindrucksvolle Abbildungen. Angeregt von dem Trachtenaufzug anläßlich des Besuches Kaiser Wilhelm II. in Schlitz 1891107, an dem er als Pressezeichner teilnahm, widmete er sich nun mehr und mehr der Dokumentation von Trachten; deutlicher noch als bei JUSTI finden sich in seinen Zeichnungen die Trägerinnen und Träger der Tracht in einer auch künstlerisch ansprechenden Manier als Persönlichkeiten gewürdigt, in ihrer Gestik und Mi- mik festgehalten: Sein Werk läßt ein Interesse an der Volkskultur erkennen, das nun zunehmend nicht mehr nur die Objekte, die Trachten und Arbeitsgeräte, Lieder und Erzählungen, sondern den Menschen als Gestalter der Sachgüter und kulturellen Ausdrucksformen wahrnahm und auf den Lebenszusammenhang gerichtet war. Das Ineinandergreifen von Natur und Geschichte, deren Teil der Mensch ist, wird auch in KOCHs Ansichten von Land und Leuten deutlich, und die Betonung landschaftlich geprägter Kultur läßt die Nähe zu den geographisch- landeskundlichen Strängen der Volkskunde erkennen, die in den achtziger Jah- ren mit dem großen Vorhaben des „Kronprinzenwerkes“ einen organisatorischen Rahmen gefunden hatten: Mit dem Monumentalprojekt Die Österreichisch- Ungarische Monarchie in Wort und Bild hatte der Protektor, der österreichische Kronprinz Rudolf, die Hoffnung verbunden, die im Habsburgerstaat aufwallen- den Nationalitätenkonflikte eindämmen und eine Völkergemeinschaft imaginie- ren zu können. Diese idealistische Vorstellung, daß nur im Gleichgewicht der Nationen, in einem föderalistischen Bund eine sichere Grundlage der österrei- chischen Staatsexistenz zu finden sei, war freilich zunehmend der desillusionie- renden und für den Selbstmord Rudolfs in Mayerling wohl ausschlaggebenden Erkenntnis gewichen, daß die militaristische und hegemoniale Staatsdoktrin des

–––––––––– 105 Andreas SEIM, Siegfried BECKER: Volkskundliche Skizzen von Rudolf Koch (1856-1921), (Marburger Beiträge zur Kulturforschung, Archivschriften 3), Marburg 2000. 106 D. SAUL: Bilder und Typen aus Schlitz. Illustriert von Rudolf Koch, in: Ueber Land und Meer. Deutsche Illustrirte Zeitung 35, 1895, S. 680 f. 107 Vgl. dazu Brunhilde MIEHE: Die Tracht und ihre Träger als Objekt der Festgestaltung, in: Hess. Bll. für Volks- und Kulturforschung NF 32, 1997, S. 9-45.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 193

Deutschen Reiches mehr und mehr zur Bedrohung für dieses Konzept des Gleichgewichts wurde.108 Um die Jahrhundertwende aber fand dieses Konzept in einigen regionalen Volkskunden Aufnahme – so gaben etwa die Thüringer Pestalozzivereine 1900 eine illustrierte Landeskunde „Thüringen in Wort und Bild“ heraus, die sich in Titel und inhaltlicher Gestaltung an das Kronprinzenwerk anlehnte, und auch HEßLERs „Hessische Volkskunde“ kann so gelesen werden: Die Inszenierung einer Verschiedenheit der einzelnen „Stämme“, die vor allem im ehemaligen Kurhessen nach 1866 historiographische Konjunktur gehabt hatte109, wurde nun kulturgeschichtlich und volkskundlich in einer Entdeckung und Erfindung der Kulturlandschaft aufbereitet, die über die politisch-dynastischen Grenzen hin- ausreic hte: Die Thematisierung von Landschaft im ethnographisch- volkskundlichen Diskurs stand am Ende des 19. Jahrhunderts in einem politi- schen Kontext, sie verdeutlichte den Anspruch auf kulturelle Eigenständigkeit.110 So hat Albrecht DIETERICH mit seiner Hoffnung, die hessische Vereinigung könne mit einer methodischen Grundlegung der Volkskunde die Formierung des Faches im deutschen Südwesten anstoßen und prägen, vielleicht auch Akzentu- ierungen aufgenommen, die auf eine Stärkung des Landesbewußtseins gegen eine ja auch volkskundlich betriebene Konstruktion der nationalen Identität ziel- ten und nicht zuletzt in den volkskundlichen Sammlungen des Historischen Mu- seums der 1866 annektierten, ehemals Freien Reichsstadt Frankfurt als dem Ort der Nationalversammlung von 1848 angelegt waren: Sie haben sicherlich die Arbeiten Rudolf KOCHs beeinflußt, und vielleicht ist es wirklich ein Anreiz für die intensive Dokumentation von Trachten gewesen, daß in ihnen das land- schaftliche Element zur Geltung gebracht und damit der Entwurf einer großen ethnographischen Inszenierung des Gleichgewichts umgesetzt werden konnte – als Utopie der Repräsentation eines multi-ethnischen Staates, in dem ein kultu- reller Pluralismus gegen eine vom preußischen Hegemoniestreben geprägte Doktrin des Nationalstaates von 1871 gesetzt werden konnte.

–––––––––– 108 Siegfried BECKER: Deutscher Nationalismus, Staatsgedanke und Landesbewußtsein im zeitlichen Kontext des „Kronprinzenwerkes“, in: Jurij FIKFAK, Reinhard JOHQLER (Hg.): Volkskultur zwischen Staat und Nation. Volkskunden zur Jahrhundertwende in Zentraleu- ropa. Ljudska kultura med drzavo in narodom. Narodopisja na prelomu stoletja v srednji Evropi (Ethnologica Austriaca), Wien-Köln-Weimar (im Druck); DERS.: Kornblumen. Zur politischen und kulturellen Symbolik in den Nationalitätenkonflikten Österreich-Ungarns, in: Hess. Bll. für Volks- und Kulturforschung NF 34, 1998, S. 69-114. 109 Wilhelm ARNOLD: Ueber das Verhältnis der Reichs- zur Stammesgeschichte und die Bedeutung der letzteren. Mit besonderer Berücksichtigung der hessischen Landes- und Stammesgeschichte. Vortrag zur Eröffnung der Jahreshauptversammlung des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Marburg 1875; vgl. auch Wilhelm OBERMÜLLER: Die Hessen-Völker. Historisch-sprachliche Forschung. Cassel 1875 – Obermüller war Mitglied der anthropologischen und geographischen Gesellschaften in Wien und der eth- nologischen in Paris. 110 Siegfried BECKER: Hessenland, Berg-Heimat, in: Hess. Bll. für Volks- und Kulturfor- schung NF 35, 1999, S. 157-186.

194 Siegfried Becker

Rückblenden und Ausblicke Am Ende des 20. Jahrhunderts haben die Bilder ihre Bedeutung noch nicht ver- loren, ja sie kehren wieder in neuer Farbigkeit. JUSTIs Trachtenbuch wurde 1989 in einer kommentierten Neuausgabe von Günther HAMPEL ediert; in den neunzi- ger Jahren erschien dann auch DULLERs großes Werk als Nachdruck in einem Leipziger Verlag. Es ist bezeichnend, daß auf dem Cover neben zwei farbigen Trachtentafeln auch ein neuer Titel für das Buch wirbt; nicht mehr die Mundar- ten, die Sitten, Gebräuche und Feste stehen im Mittelpunkt, sondern – als Blic k- fang herausgestellt: Volkstrachten. Der Blick auf das Phänomen Tracht am Ende des 19. Jahrhunderts hat ge- zeigt, daß mit dem Tragen der Tracht wie auch mit ihrer wissenschaftlichen Beschreibung emblematische Intentionen verbunden waren, ja daß dieses Emb- lem auch allegorisch auf tieferliegende Bedürfnisse hinweisen konnte und sich die volkskundlichen Beschreibungen eben auch lesen lassen als ethnographische 111 Allegorie, wie es James CLIFFORD verstanden hat : Es war eine Suche nach Verortungen in den Umbruchserfahrungen der Moderne, in den Spannungsfel- dern von Natur und Technik, Geschichte und Fortschritt, politischen und gesell- schaftlichen Entwürfen, partikularen und kosmopolitischen Orientierungen.112 Am Ende des 20. Jahrhunderts werden Tracht und ihre Bilder wiederum repro- duziert und rezipiert, werden nicht nur die „der Tracht treu gebliebenen“ Frauen anerkennend gewürdigt113 und Treffen der Trachtenträgerinnen organisiert114, sie finden sich in lokalen und landesweiten Festen, in Museen und in Trachtengrup- pen inszeniert als Topos landschaftlicher Gebundenheit, der nicht zuletzt nach der Gebietsreform115 Aktualität gewann. In den späten achtziger und neunziger Jahren ist dieses neuerliche Interesse an ländlichen Trachten überall in Europa zu beobachten gewesen, besonders deutlich im Vorfeld und als Nachwirkung des großen politischen Umbruchs in den Ländern Osteuropas: Die Rückkehr der Regionen116 markiert einen Prozeß der regionalen Transformation, der in den komplexer werdenden Systemen auch deren Anfälligkeit und das Bedürfnis nach Harmonisierung schürt – in komplexen Systemen treten auch die sub-systems auf, die die Tendenz haben, „sich abzugrenzen, sich unabhängig zu machen. Je komplexer die Weltgesellschaften (angeblich) werden, umso mehr scheinen die –––––––––– 111 James CLIFFORD: Über ethnographische Allegorie, in: Eberhard BERG, Martin FUCHS (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frank- furt am Main 1993, S. 200-239. 112 Peter COULMAS: Weltbürger. Geschichte einer Menschheitssehnsucht. Reinbek bei Ham- burg 1990. 113 Brunhilde MIEHE: Der Tracht treu geblieben. Studien zum regionalen Kleidungsverhalten in Hessen. Haunetal/Wehrda 1994. 114 Vgl. etwa die Nachlese zum Treffen der Trachtenträgerinnen 1999 in Cappel: Pressebe- richte der Oberhessis chen Presse zur Serie „Trachtenfrauen im Landkreis Marburg- Biedenkopf“, Sonderausgabe zum Internationalen Folklorefestival, Marburg 1999. 115 Andreas C. BIMMER: Neue Aufgaben der volkskundlichen Regionalforschung in Hessen im Anschluß an Raumplanung und Gebietsreform, in: Jb. für Volkskunde und Kulturge- schichte 30, 1987, S. 178-184. 116 Heinz FASSMANN (Hg.): Die Rückkehr der Regionen. Beiträge zur regionalen Transforma- tion Ostmitteleuropas (Beiträge zur Stadt- und Regionalforschung 15), Wien 1997.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 195 einzelnen Gebilde, Staaten und Ethnien, einer Gegenbewegung zu unterliegen. Um sich vor der Anfälligkeit der Gesamtsysteme zu schützen, grenzen sich die einzelnen Ethnien ab. Sie identifizieren sich nicht mit dem großen Ganzen, son- dern mit dem kleinen überschaubaren Eigenen. Die anfangs integrative Kraft der ethnischen Bewegungen schlägt dann um in destruktive, nationalistische Isolati- on“.117 Ist nicht auch die Renaissance einer Thematisierung ländlicher Trachten, die ja nur Teil einer vielschichtigeren Auseinandersetzung mit Deutungsmustern der Vergangenheit ist, als Symptom einer neuerlichen Reflexion von Heimat zu verstehen? Diese Reflexion von Heimat, die Ausdruck eines Schrittes in die Moderne ist, prägt mit dem Bedeutungsverlust der Nationalstaaten im Prozeß eines Zusammenwachsens von Europa auch den Umgang mit Geschichtsbil- dern118 neu und verleiht den Konstruktionen von „Identität“ und von „Heimat“ als modernen Homogenisierungsbegriffen neuen Sinngehalt.119 Damit aber deu- ten sich tieferliegende Bedürfnisse an, die am Ende des 20. Jahrhunderts im Kontext der Zeitenwende ins Bewußtsein treten. Nicht zufällig kommt nun auch die Rede auf eine Wiederentdeckung von Normen und Werten, die mit den Be- gleiterscheinungen eines konstatierten Individualismus und den epochalen Ent- wicklungen in den elektronischen und medialen Gestaltungsmöglichkeiten der modernen technischen Welt ein menschliches Bedürfnis nach Sicherheit120 kennzeichnet. Es sind Indizien für eine Suche nach Orientierungsmustern, nach Ordnungen, die auch in der Gegenwart wieder ein emotionales Gleichgewicht zu einer akzelerierenden Umgestaltung der Alltagskultur in der „Eventgesellschaft“ herstellen sollen. Sicher nicht zufällig finden auch wieder Ordnungsdiskurse in den Sozial- und Kulturwissenschaften statt121, und sie weisen hin auf die Not- wendigkeit zur Reflexion eines Spannungsfeldes von Natur und Technik, der technischen Modernisierung und der Aneignung von Natur. Wenn wir Heimat mit Wolfgang SCHMIDBAUER als ein Leiden an der Ungeborgenheit und als Bedürfnis nach Illusionen verstehen122, so wird deutlich, daß „Heimat“ heute nicht mehr nur räumlich erfahren wird und erfahren werden kann. Dem Wirkungsfeld exzessiver Techniknutzung in Produktion wie Konsumti- on, das sich heute insbesondere in der Kommunikationstechnologie als breitem Agens der Massenkultur äußert, gesellen sich auch bewußte und vielleicht mehr noch unbewußte Gefühle des Mißtrauens gegenüber der Technologie und ihrer Funktionalisierung in den globalisierten Systemen des Kapitalismus hinzu – „die demokratisierenden Hoffnungen, die man an die modernen Kommunikations- –––––––––– 117 KÖSTLIN: Das ethnographische Paradigma (wie Anm. 7) S. 17. 118 Johanna ROLSHOVEN, Martin SCHARFE (Hg.): Geschichtsbilder. Ortsjubiläen in Hessen (Beiträge zur Kulturforschung 1), Marburg 1994. 119 Konrad KÖSTLIN: „Heimat“ als Identitätsfabrik, in: Österreichische Zs. für Volkskunde L/99, 1996, S. 321-338. 120 Konrad KÖSTLIN: Sicherheit im Volksleben. München 1967. 121 Wolfgang BRÜCKNER: Ordnungsdiskurse in den Kulturwissenschaften, in: Österreichische Zs. für Volkskunde LIII/102, 1999, S. 457-497. 122 Wolfgang SCHMIDBAUER: Das Leiden an der Ungeborgenheit und das Bedürfnis nach Illusionen. Psychoanalytische Überlegungen zum Heimatbegriff, in: Österreichische Zs. für Volkskunde L/99, 1996, S. 305-320.

196 Siegfried Becker technologien geknüpft hatte, sind ebenso dahin wie der Glaube, daß die Verfü- gung über das gleiche Wissen auch zur Egalisierung der Menschen führen wür- de“.123 Mit dem Technologieschub aber erleben wir am Ende des 20. Jahrhun- derts das Spannungsfeld von Natur und Technik in einer neuen Dimension: Die Aneignung von Natur durch Technik ist nicht mehr nur auf die Natur außerhalb des Menschen gerichtet, sondern auf die Natur im Menschen selbst. Die neue Jahrhundertwende hat mit der Verheißung bahnbrechender Ergebnisse der Ge- nomforschung die uralte Hoffnung des Menschen scheinbar näher gerückt, den Tod aufschieben, ja überwinden zu können; die menschliche Kunst, die nun nicht mehr in der Nachahmung der Natur, der imitatio naturae, den Versuch einer Überwindung des Todes außerhalb des Menschen gestalten muß, sondern sich ins Innere der menschlichen Natur begibt, weckt aber mit den Hoffnungen zugleich auch Ängste, die in einer säkularisierten Gesellschaft nicht mehr durch Religion alleine aufgefangen werden können. Diese Ambivalenzen werden auch in der Gegenwart aufgefangen durch Spiegelungen von Orientierungen und Deu- tungen, die eine Herstellung von Individualitäten durch massenkulturelle Mittel erlauben und damit sowohl den Anspruch nach Individualität als auch das Be- dürfnis nach bergender Homogenität stillen: Für die Richtung dieser Deutungen aber, das hat KÖSTLIN andeuten wollen, trägt auch die Volkskunde Verantwor- tung – ihr muß es deshalb auch möglich sein, „daß moderne Lebensformen als modern untersucht und akzeptiert und nicht nur vor der Folie des Vergangenen in einer Verlustbilanz gewertet werden“.124

–––––––––– 123 KÖSTLIN: Das ethnographische Paradigma (wie Anm. 7) S. 17. 124 Ebd. S. 18.

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 197

Abb. 1: Eduard Duller: Das deutsche Volk in seinen Mundarten, Sitten, Gebräuchen, Festen und Trachten, 1847, Cover der Neuauflage aus den 1990er Jahren mit verändertem Titel

198 Siegfried Becker

Abb. 2: Ferdinand Justi: Anna Katherina Mink, verh. Mergenthal, Kleinseelheim. Aquarell, 1901 (Staatliche Kunstsammlungen Kassel, Graphische Sammlung)

Das Ludwigs-Monument und die Folgen 199

Abb. 3: Erinnerungsblatt an den Festzug des hessischen Bauernstandes zur Enthüllung des Ludwigs-Monumentes in Darmstadt 1844, Lithographie von F. Neben (Oberhessisches Museum, Gießen)