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Dieser zweite Band des dreibändigen Werkes „Ein Gedächtnis der Stadt, nach Frauen und Männern

benannte Straßen, Plätze, Brücken in “ Frauenbiographien

präsentiert Ihnen die Biographien der Frauen, nach – denen in Hamburg Straßen benannt sind.

Von A wie Ackermannstraße bis Z wie Zassenhaus- Band 2 weg sind die bisher 358 Biographien nachzulesen.

In Band 1, der einen Überblick und eine Analyse der nach Frauen und Männern benannten Hamburger Straßen gibt, finden Sie u. a. alle nach Frauen und Männern benannten Straßen nach Stadtteilen sortiert aufgelistet und graphische Übersichten über die räumliche Häufung der Frauen- und Männerstraßen- namen in Hamburgs Bezirken und Stadtteilen. Ein Gedächtnis der Stadt – Rita Bake

Rita Bake Ein Gedächtnis der Stadt Bd. 2

Frauenbiographien von A bis Z Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:06 Seite 1

Rita Bake Ein Gedächtnis der Stadt Nach Frauen und Männern benannte Straßen, Plätze, Brücken in Hamburg

Band 2 Wer steckt dahinter? Nach Frauen benannte Straßen, Plätze, Brücken: Biographien von A bis Z Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 14:45 Seite 2 Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:06 Seite 3

Rita Bake Das Gedächtnis der Stadt Nach Frauen und Männern benannte Straßen, Plätze, Brücken in Hamburg

Band 2 Wer steckt dahinter? Nach Frauen benannte Straßen, Plätze, Brücken: Biographien von A bis Z

Freie und Hansestadt Hamburg Behörde für Schule und Berufsbildung Landeszentrale für politische Bildung Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:06 Seite 4

Impressum

Die Landeszentrale für politische Bildung ist Teil der Die Büroräume befinden sich in der Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Dammtorstraße 14, 20354 Hamburg; Hansestadt Hamburg. Ein pluralistisch zusammenge- Ladeneingang Dammtorwall 1 setzter Beirat sichert die Überpar teilichkeit der Arbeit. Öffnungszeiten des Informationsladens: Zu den Aufgaben der Landeszentrale gehören: Montag bis Donnerstag: 12.30 Uhr bis 17.00 Uhr, – Herausgabe eigener Schriften Freitag: 12.30 Uhr bis 16.30 Uhr – Erwerb und Ausgabe von themengebundenen Erreichbarkeit: Publikationen Telefon: (040) 428 23-48 08 – Koordination und Förderung der politischen Bil- Telefax: (040) 428 23-4813 dungsarbeit E-Mail: [email protected] – Beratung in Fragen politischer Bildung Internet: www.hamburg.de/politische-bildung – Zusammenarbeit mit Organisationen und Verei- nen © Landeszentrale für politische Bildung; – Finanzielle Förderung von Veranstaltungen poli- Hamburg 2015, Redaktionsschluss Juni 2015 tischer Bildung Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Über- – Veranstaltung von Rathausseminaren für Ziel- setzung, der Sendung in Rundfunk und Fernsehen gruppen und der Bereitstellung im Internet. – Öffentliche Veranstaltungen Titel-Illustration: Dr. Birgit Kiupel Unser Angebot richtet sich an alle Hamburgerinnen Montage: Andrea Orth und Hamburger. Die Informationen und Veröffentli- Gestaltung, Herstellung: Andrea Orth chungen können Sie während der Öffnungszeiten des Druck: Hartung Druck + Medien GmbH, Hamburg Informationsladens abholen. Gegen eine Bereitstel- lungspauschale von 15 € pro Kalenderjahr erhalten ISBN: 978-3-929728-91-0 Sie bis zu 5 Bücher aus einem zusätzlichen Publika- tionsangebot. Die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg ar- beitet mit den Landeszentralen der anderen Bundes- länder und der Bundeszentrale für poli ti sche Bildung zusammen. Unter der gemeinsamen Internet-Adresse www.hamburg.de/politische-bildung werden alle An- gebote erfasst. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:06 Seite 5

Inhalt

Band 2 Wer steckt dahinter? Nach Frauen benannte Straßen, Plätze, Brücken: Biographien von A bis Z 6 Vorwort und Gebrauchshinweise sowie Dank 8 Biographien von A bis Z 432 Nachtrag: Straßennamen, benannt nach Redaktionsschluss

Band 1 Überblick und Analyse 6 Straßensuche Was erwartet Sie 14 Benennung von Verkehrsflächen in Hamburg 15 Auszüge aus den „Bestimmungen über die Benennung von Verkehrsflächen“ 17 Straßenbenennungen: Seismographen gesellschafts- und gleichstellungs politischer Bewegungen 22 „Wo, bitte schön, geht’s zur Geschlechterdemokratie?“ Männer versus Frauen: Warum wird Frauen im öffentlichen Gedächtnis nur wenig Platz einge- räumt? Und warum werden deshalb nur so wenige Straßen nach ihnen benannt? 29 Vierzehn „gegenderte“ Straßen 32 „Männlich“ oder „weiblich“? Kriterien für die Einteilung der Straßennamen nach „weiblich“ und „männlich“ 36 „Wieso – weshalb – warum?“ Welche Kriterien können für Straßenbenennungen nach Personen ausschlaggebend sein? · Auflistung nach Berufs- und anderen Motivgruppen · Am häufigsten anzutreffende Berufs- und andere Motivgruppen von den Anfängen bis heute · Warum sind in bestimmten Berufs- und Motivgruppen nur wenige bis gar keine Frauen vertreten? 104 Zeiterscheinungen und Entwicklungen In welchen Jahrhunderten/Jahrzehnten wurden nach welchen Motiv- und Berufs gruppen Straßen nach Frauen und Männern benannt? 114 Straßennamen als Spiegel der Geschichte Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit 132 Hamburg und seine Kolonialgeschichte – von Frauke Steinhäuser 144 Stadtbild (post-?)kolonial – von Ginnie Bekoe 146 Über die Fläche verteilt Räumliche Häufung der Frauen- und Männerstraßennamen in Hamburgs Bezirken und Stadtteilen 154 Straßennamen, sortiert nach Stadtteilen Hamburgs Stadtteile und ihre nach Frauen und Männern benannten Straßen Nicht aufgenommene Straßennamen 190 An diesem Buch wirkten mit 192 Bildnachweis

Band 3 nur online unter www.hamburg.de/maennerstrassennamen Alphabetische Auflistung mit einer Auswahl von Kurzbiographien Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:06 Seite 6

6 Vorwort und Gebrauchsanweisung

Vorwort und Gebrauchshinweise

In Band 1 finden Sie die ieser zweite Band* der dreibändigen Publikation „Ein Gedächtnis der nach Frauen und Män- DStadt. Nach Frauen und Männern benannte Straßen, Plätze, Brücken nern benannten Straßen nach Stadtteilen aufge- in Hamburg“ beschäftigt sich mit den Biographien der Frauen, nach denen listet sowie graphische Straßen benannt wurden. Da bislang in Hamburg nur 358 (Stand: Juni Darstellungen der räum- 2015) Straßen nach Frauen heißen, konnten all diese Frauen mit einer lichen Häufung dieser Kurzvita – soweit recherchierbar – in diesem Band berücksichtigt werden. Straßen in Hamburgs Bezirken und Stadtteilen. Bei den einzelnen Biographien werden mittels Verweisen auch Ver- bindungen hergestellt zu Männern, die ebenfalls mit Straßennamen geehrt Wenn ein Straßenname werden und die in verwandtschaftlichen, beruflichen oder anderen Bezie- nicht einer realen Person hungen zu diesen Frauen standen. Längst vergessene und unerwartete Ver- zuzuordnen ist – daher bindungen und Netzwerke haben ihre Spuren in der Stadt hinterlassen. auch keine Abbildung eingefügt werden konnte, Allerdings konnte nur eine Auswahl von solchen Männern präsentiert helfen Ihnen kleine werden, denn viele Frauen waren Meisterinnen der Kommunikation und Symbole am Rand, den pflegten eine Vielzahl von Kontakten. Näheres zu diesen Männern ist in Straßennamen einer der in dieser Publikation Band 3 online unter www.hamburg.de/maennerstrassennamen nachzule - eröffneten Rubriken sen, wo alle nach Männern benannten Straßen alphabetisch aufgelistet zuzuordnen. sind. Schwerpunkte dieser Kurzbiographien liegen, entsprechend der Inten- Sie finden tion dieser Publikation, auf dem Beziehungsgeflecht dieser Männer zu Märchenfiguren den Frauen, nach denen Straßen benannt wurden, und zu Frauen, die das Leben dieser Männer kreuzten. Die beruflichen Werdegänge dieser Sagenfiguren Männer werden deshalb meist nur gestreift.

Romanfiguren Im Band 2 aufgenommen und gezählt wurden alle Straßen benannt nach Opernfiguren – dem Vor- und Zunamen von Frauen, frei vergebene – dem Nachnamen von Frauen, Frauen- und Flur- namen – weiblichen Roman-, Märchen- und Opernfiguren, – weiblichen Heiligen, Göttinnen – Flurnamen oder Namen in Anlehnung an ein sich in der Nähe befin- dendes Gebäude, wenn diese Straßen den Namen einer weibli- Volks-/Aber- chen realen Person tragen und somit auf diese Person hinweisen glaube (z. B. „Bei St. Annen“: Hinweis auf die an dieser Stelle abge -

Hinweis 1: Die mit ** gekennzeichne - line**“. *) Dieser zweite Band ist eine er- te Fußnote weist auf Band 3 online: Hinweis 2: Fußnoten in diesem weiterte, ergänzte und aktualisierte www.hamburg.de/maennerstrassen- alpha betisch geordneten Band sind Auflage der in 6. akt. Auflage erschie- namen hin und erscheint auf jeder bei jedem neuen Buchstaben wieder nenen Publikation von Rita Bake: Wer Sei te als Fußnote, wenn auf der Seite mit „1)“ beginnend durchnummeriert. steckt dahinter? Nach Frau en be- im Text verwiesen wird „in Bd. 3 on- nannte Straßen, Plätze und Brücken Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:06 Seite 7

Vorwort und Gebrauchsanweisung 7

brochene St. Annen-Kapelle, die nach der Heiligen Anna be- Dank und Mitautorinnen nannt wurde), oder wenn der Straßenname (Flurname) auf eine und -autoren reale weibliche Person zurückzuführen ist (z. B. „Poppenpriel“, Verschiedene Texte sind im Band 2 von folgenden Wasserloch der alten Frau Meta Popp), Autorinnen und Autoren – der „Spezies“ Frau (z. B. Jungfernstieg oder Jungfernmühle). verfasst. Ihre Namen sind unter den Texten aufge- führt: Im Band 2 wurden auch diejenigen Straßen aufgenommen, die so- Benedikt Behrens, wohl nach Männern als auch nach Frauen mit demselben Nachnamen benannt Anja Bögner, wurden, z. B. Herschelstraße (benannt nach William Herschel und seiner Ingo Böhle, Schwester Caroline Herschel); Ackermannstraße (benannt nach Konrad Barbara Brix, Maike Bruchmann, Ernst A. und seinen Töchtern Dorothea und Charlotte Ackermann); Levi- Björn Eggert, sohnweg (benannt nach der jüdischen Familie L, dem Vater, der Mutter, Birgit Gewehr, dem Sohn). Dr. Cornelia Göksu, Helene Götschel, Die Entscheidung, diese Straßennamen den Frauenstraßennamen zu- Barbara Günther, zurechnen, ergibt sich aus der Fragestellung der Gesamtpublikation, die Ulla Hinnenberg, sich u. a. den Ursachen für die geringe Anzahl von weiblichen Straßen- Dr. Birgit Kiupel, Kerstin Klingel, namen widmet. Vor diesem Hintergrund sollten diejenigen Straßen, die Maria Koser, sowohl nach Frauen als auch nach Männern mit demselben Nachnamen Nina Krienke, benannt wurden, nicht auch noch den Männerstraßennamen zugeschla- Kirsten Leppert, gen werden, da durch sie – wenigstens zu einer Hälfte – doch auch eine Christian Masuth(†), Klaus Möller, Frau geehrt wird. Namensausschuss der Gesamtschule Bergedorf, Peter Offenborn, Aufgenommen, aber nicht gezählt Brita Reimers, Alexander Reinfeldt, wurden Straßennamen, die auf Frauenorte bzw. Frauenaktivitäten/arbeiten Dr. Roswitha Rogge, hinweisen, die aber in keinem Zusammenhang mit konkreten weiblichen Stefanie Rückner, Schülerinnen und Personen stehen (z. B. Hinweis auf Abteistraße, auf das hier gelegene Zis- Schüler des Gymnasi- terzienserinnenkloster. Hinweis auf Am Botterbarg: Rastplatz für vom Mel - ums Lerchenfeld, ken kommende Mägde oder Große Bleichen: Bleichplatz. Das Bleichen Carmen Smiatacz, Ulrike Sparr, der Wäsche war meist Frauenarbeit). Diese Texte wurden farbig unterlegt. Stadtteilarchiv Welche Straßen generell nicht berücksichtigt wurden, also weder bei den Eppendorf, Frauen noch bei den Männerstraßennamen, entnehmen Sie der Auflistung im Frauke Steinhäuser, Stolpersteininitiative Band 1 auf Seite 35. Hamburg-Winterhude, Hildegard Thevs, Jürgen Timm, Ingo Wille Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:06 Seite 8

8 Biographien von A bis Z / A A

Abteistraße* gann im Alter von vier Jahren in Kinderrollen Harvestehude, seit 1870: nach dem hier gele- auf zutreten. Als knapp Zwölf jährige spiel te sie genen Zisterzienserinnenkloster Hervardeshude jugendliche Lieb haberinnen. Außerdem tanz- Siehe auch Ü Cäcilienstraße, Elebeken, Frauen- te sie Solopartien in mi- thal, Heilwigbrücke, Innocentiastraße, Jungfrau- enthal, Nonnenstieg, in diesem Band. mischen Bal letten. Sie galt als schön, blond und schlank und „hatte im Ackermannstraße Gegensatz zu ihrer klein- Hohenfelde, seit 1899; benannt nach Konrad äugigen Schwester [Doro- Ernst Ackermann (1.2.1712 oder 1710 – thea Ca roline] gro ße, leb- 13.11. 1771 Hamburg), Schauspieler, und seinen hafte Augen, die von Geist Töchtern Dorothea (12.2.1752 Danzig–21.10.1821 und Feuer sprühten“.1) Altona) und Charlotte (23.8.1757 Straßburg– Ihren größten Erfolg er- 14.5.1775 Hamburg) Ackermann, Schauspielerin- zielte Charlotte Acker- nen mann 1772 als Vierzehn- Charlotte Ackermann Konrad Ernst Ackermann (1.2.1712 oder 1710 Schwe- jährige in der Titelrolle rin–13.11.1771 Hamburg) gründete die erste ste- von Lessings (siehe Ü Lessingstraße, in Bd. 3 on- hende Schauspielbühne in Hamburg und erhielt line**) „Emilia Galotti“. Damit feierte sie im 1753 das Preußische Privileg zum Bau eines Hamburger Comödienhaus große Erfolge. eigenen Theaters. 1755 eröffnete er sein erstes Friedrich Ludwig Schröder beschrieb die Theater in Königsberg, das erste größere Privat- Schwester: „Alles trieb sie bis zur Extravaganz. theater in Deutschland mit ca. 800 Plätzen. Ein Sie biß wirklich in die Kette, und raufte sich Jahr später war Ackermann schon wieder auf wirklich das Haar aus, wenn der Dichter es vor- Wanderschaft. Von 1764 bis 1767 hauptsächlich geschrieben hatte.“2) Und in einem Brief an die in Hamburg. Dort eröffnete er 1765 das Comö- Mutter schrieb Charlotte Ackermann selbst über dienhaus an der Stelle des alten Opernhauses ihre Glanzrolle, die sie 1772 zuerst verkörperte: am Gänsemarkt. Doch das Publikum zeigte sich „Ich darf die Emilia Galotti nicht oft spielen, so desinteressiert. Ackermann ging wieder auf Gast- gewaltsam wirket dieses Stück auf meine Emp- spielreisen. (Siehe mehr bei Sophie Charlotte Acker- findungen. Unter hundert Rollen bekomme ich mann, S.11f.) kaum eine, worinn ich so wenig Schauspielerin Marie Magdalena Charlotte Ackermann (23.8. zu seyn nöthig habe. Du weißt, daß ich die Emi- 1757 Straßburg–14.5.1775 Hamburg), Tochter lia mache. Ich habe sie gestern gemacht und bin von Konrad Ernst Ackermann, wurde von ihrem noch schwach davon. Ich habe den Gram der Halbbru der Friedrich Ludwig Schröder die „ers- Emilia gefühlt, wie sie ihren Vater reizet, sie zu

te Schauspielerin Deutschlands“ genannt. Be- töten; ich habe den Dolchstoß gefühlt, wie er undatiert) Wehrs, von Vorlage nach C.Fritzsch von Museum (Kupferstich Hamburg Abb.:

* Straßennamen auf unterlegtem 1) Herbert Eichhorn: Konrad Ernst Feld verweisen auf Frauenorte, Frau- Ackermann. Emsdetten 1965. enarbeiten und -aktivitäten. 2) Zit. nach Willy Krogmann: Wil- helm Meister in Hamburg. Ein Epilog ** Band 3 online unter: www.ham- zur Eröffnung des Hamburger Stadt- burg.de/maennerstrassennamen theaters Ostern 1827. Hamburg 1965. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:06 Seite 9

Biographien von A bis Z / A 9

nicht schmerzte, wie er Labsal in meinem be- men auf die Vorschlagliste für solch ein Medail- drängten Herzen war.“3) lon, doch ließ er ihn später wieder streichen. Allerdings wurde ihr „unweibliches“ Reiten Der Grund hierfür ist typisch für die damalige „getadelt“, auf das ein Epigramm in Hamburg Sicht des Bürgertums auf den Stand der Schau- zirkulierte: „Das war Emilia, Galottis Tochter? spieler und insbesondere der Schauspielerinnen. Nein, es kann Emilia nicht sein. Sie, die jüngst Letztere entsprachen nicht nur nicht dem bür- andachtsvoll, Um sich nicht sehn’n zu lassen, gerlichen Ideal von einer Frau, sie entsprachen Im Schleier hin zur Messe schlich, Setzt öffent- auch nicht den bürgerlichen Vorstellungen von lich aufs Pferd sich. Und reitet männlich durch dem, was eine Frau geleistet haben müsse, die Gassen.“4) damit man ihr in der Öffentlichkeit ein Denkmal Charlotte starb bereits im Alter von siebzehn setze. Frauen als Wohltäterinnen, das war etwas, Jahren. Ganz Hamburg trauerte. Selbst das Bör- was einem weiblichen Idealbild entsprach, denn sengeschäft wurde bei der Nachricht ihres Todes in dieser Aufgabe kamen die so genannten weib- unterbrochen. Im Trauerhaus im Opernhof wur- lichen Eigenschaften wie das Aufopfern für An- de die Leiche aufgebahrt und eine Menge von dere, Hilfsbereitschaft und Mütterlichkeit be- leidtragenden und Neugierigen drängte sich zum sonders gut zum Tragen. Die Verehrung, die das Sarg. Nach ihrem Tod erschien eine nicht enden Publikum den Schauspielerinnen zu Teil werden wollende Anzahl von Publikationen, so dass der ließ, reichte indes nicht für eine öffentliche Eh- Senat schließlich ein Verbot aussprach. rung, denn eine Schauspielerin und ein Schau- Den realen Tod der Charlotte Ackermann, spieler waren weiter nichts als Personen, die über den unmittelbar danach Spekulationen ein- dem Bürgertum einige Stunden auf eine ange- setzten – von Anklagen wegen des unerbittli - nehme Art zu vertreiben wussten. Bei den Schau - chen Schröders bis zur Selbsttötung wegen einer spielerinnen erschwerend hinzu kam, dass sie Schwangerschaft oder anderer Ursachen – er- vom Bürgertum sexualisiert wurden. Weil die klärte die Familie mit einem Schlagfluss (Schlag- Schauspielerin in der Öffentlich agierte, was in anfall) infolge eines Sturzes vom Pferd wenige Augen des Bürgertums für Frauen als unschick- Monate zuvor. „Ein langes Lebensziel hätte sie lich galt, erhielt sie das Stigma einer „leichtfer- ohnehin gewiß nicht erreicht, sie war zu nervös, tigen“, sexuell freizügigen Person. Mit ihrem zu reizbar, voll romanhafter Ideen“5) urteilte der Spiel sorgte sie also nicht nur für das Theater- Bruder. Zu der psychischen Anstrengung waren vergnügen, sondern das männliche Publikum die physischen gekommen. Das junge Mädchen fühlte sich oft auch in seinen Sinnesfreuden hatte von 1771 bis zu ihrem Tod 116 neue Rollen gereizt, was wohl gern „gelitten“ wurde, was gespielt, in den letzten eineinhalb Jahren ihres aber nicht dem Moralkodex des Bürgertums ent- Lebens allein 39. sprach. So schämten sich die Männer für ihre Als das Hamburger Rathaus Ende des 19. Jahr - Gefühle und gaben den Schauspielerinnen die hunderts gebaut wurde, sollten die Säulen in der Schuld daran. Deshalb war in Augen des Bür- Rathausdiele mit Medaillons berühmter Ham - gertums der Beruf der Schauspielerin kein ehr- burger bestückt werden. Bürgermeister Johann barer und auf alle Fälle kein Verdienst, das öf- Georg Mönckeberg (siehe Ü Mönckebergstraße, fentlich geehrt werden sollte, schon gar nicht in Bd. 3 online**) setzte Charlotte Ackermanns Na- einem Rathaus.

** Band 3 online unter: www.ham- tresse. In: Renate Möhrmann (Hrsg.): burg.de/maennerstrassennamen Die Schauspielerin. Frankfurt a. M. 1989. 3) Ebenda. 5) Zit. nach Willy Krogmann, a. a. O. 4) Barbara Becker-Cantarino: Von der Prinzipalin zur Künstlerin und Mä- Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 10

10 Biographien von A bis Z / A

Dorothea Caroline Ackermann (12.2.1752 Dan- das gute Mädchen scheint sich durch gar zu zig–21.10.1821 Altona), Tochter von Konrad Ernst starke Anstrengung der Leibes- und Seelenkräfte Acker mann, ebenfalls Schauspielerin, auch sie bereits die Schwindsucht zugezogen zu haben, spielte bereits als Zwölf- und vermutlich wird die Bühne diese Schau- jähri ge junge Liebhaberin- spielerin, die in einem gewissen Fache unter nen. „Sie spielte die Minna Deutschlands besten Schauspielerinnen genannt von Barnhelm und die zu werden verdient, nicht lange behalten.“7) Sara Sampson unter den Die Anforderungen an ihre Leistungsfähig- etwa 80 (!) neuen Rollen keit waren ungeheuer gewesen. Jährlich musste vom März 1759 bis Ende sie zwan zig bis dreißig Rollen spielen. Dazu 1771; davon waren 13 im kamen pantomimische, tänzerische und musi- Singspiel.“6) kalische Einlagen sowie zahlreiche Prologe und Trotz ihrer großen Epiloge, die alle ihr zufielen. Eine große tragi- Dorothea Ackermann Begabung behielt Doro- sche Rolle, eine erste Partie im Singspiel oder ein thea Ackermann lebens- anstrengendes Solo im Ballett und ein Prolog an lang einen unüberwindlichen Abscheu gegen die einem Abend waren nichts Seltenes. Johann Bühne. Diese Abneigung, die sich nur verlor, Friedrich Schütze setzte ihr das folgende Denk- wenn sie auf der Bühne stand, lässt sich viel- mal: „Die ältere Dem. Ackermann, erste Liebha- leicht vor allem aus dem Verhalten des Pub- berin im rezitierenden und musikalischen Schau - likums erklären. Die Schwierigkeiten und Un- spiel, hatte damals sich zu einem ho hen Grade beholfenheiten der Anfängerin bedachten die als Kunst- und Darstellungs talent ausgebildet. Kritiker zum Teil mit herben Worten. Und selbst Sanfte, zärtliche Liebhaberinnen im Trauer- und als sie nach einem ersten Erfolg 1769 in Braun- Lustspiel waren ihr Hauptfach; doch zeugte jede schweig auch in Hamburg zunehmend Beach- von ihr übernommene Rolle durchdachtes Spiel, tung fand, schwiegen die Stimmen nicht. Die Verstand, Einsicht, Sinn für das Schöne und Ge- schlichte Natürlichkeit der in Augen des Publi- schmack. Sie hatte Figur für die Bühne, und kums wenig attraktiven Dorothea erschien den wuß te ihren schönen Wuchs durch graziöse Kritikern als dürftig. Ihr Gesicht war von Pocken- körper liche Bewegungen und mahlerische Stel- narben entstellt. Lessing nannte sie „kleinäugi- lungen, und durch ein oft zum Erstaunen be- ges Dortchen“. Und der Hamburger Albrecht deutsames Thea ter spiel zu heben. Sie dekla- Wittenberg schrieb 1774 im zweiten Teil des mierte wahr und rein und traf, war gleich ihre „Allgemeinen Deutschen Wochenblatts“: „Mlle. Brust nicht die stärks te, den Ausdruck der Emp- Dorothea Ackermann hat für ein Frauenzimmer findung und Leidenschaft auch in heftigen tra- eine schöne Länge, sie hat sehr schöne weiße gischen Rollen. Der ächte, damals noch auf me- Hände, einen kleinen niedlichen Fuß, eine sehr hern Bühnen seltne Konversationston war ihr so weiße Haut, und wie sie noch im Aufblühen sehr eigen, daß sie ihrer Mitgängerinnen auch war; schien es, als wenn ihr Busen einst dem darin Muster war. Unbegränzt war ihr Kunstei- Busen (…) der Helena nicht nachgeben würde. fer, unermüdet ihr Fleiß. (…)“8) Doch diese schöne Frucht scheint, bevor sie zur Am 2. Juli 1778 heiratete Dorothea Acker-

völligen Reife gelangt ist, leider schon zu welken; mann, nachdem sie eine frühere Verlobung ge- Hamburg Staatsarchiv | Museum Hamburg v.l.n.r.: Abb.

6) Zit. nach Willy Krogmann, a. a. O., S. 27f. 7) Barbara Becker-Cantarino, a. a. O. 8) Johann Friedrich Schütze: Ham- burgische Theater-Geschichte. Ham- burg 1794. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 11

Biographien von A bis Z / A 11

löst hatte, den Arzt und Schriftsteller Johann auf der Bühne des Opernhauses zu heben. Aber Christoph Unzer, den Neffen von Charlotte Unzer wie diese hatte sie wenig Erfolg. Ihre Truppe war (siehe Ü Unzerstraße, in diesem Band). 1790 wur - zu schwach und das Publikum wollte sich vor de die Ehe geschieden. Danach trat Dorothea allem amüsieren. 1744 musste sie das Vorhaben Ackermann nicht mehr als Schauspielerin auf. wieder aufgeben. So wanderte sie, nachdem sie In ihrem Alter hätte sie die „Alte“ spielen müs- an anderen Orten in der Stadt wie im „Hof von sen, „die auch schauspielerisch wenig attraktiv Holland“ und in der „Fuhlentwietenbude“ an war, weil es nur wenige Partien in der dramati- der Fuhlentwiete 10 ihr Glück versucht hatte, schen Literatur gab (und gibt). Um als Berufs- mit Konrad Ernst Ackermann bis nach Moskau, schauspielerin Erfolg zu haben, musste die Frau wo sie ihn nach dem Tode ihres ersten Eheman- (…) eine ,junge Schöne‘ sein, die den Wünschen nes 1749 heiratete. Von jetzt an hatte Konrad des (männlichen) Publikums entsprach“.9) Ernst Ackermann die führende Rolle inne. 1753 Auch die Ehefrau von Konrad Ernst Acker- übernahm er eine reisende Gesellschaft, mit der mann und Mutter der beiden oben genannten er 1755 in Königsberg und von 1760 bis 1763 in Schau spielerinnen und des Schauspielers Lud- spielte. Danach kehrte das Paar mit der wig Schröder, Sophie Charlotte Ackermann (10.5. Truppe nach Hamburg zurück, wo Ackermann 1714 –13.10.1792 oder 1793 Hamburg), auf eigene Rechnung an der Stelle des Opern- geb. Biereichel, verwitwete Schröder, ist von Be- hofes das Comödienhaus deutung. Nach ihr wurde die Ackermannstraße bauen ließ, das 1765 er- aller dings (noch) nicht mitbenannt. öffnet wurde. Nach zwei Die Tochter eines Goldstickers hatte den Jahren war er ruiniert. Organisten Schröder in Berlin geheiratet, sich Die Bühne ging an Abel jedoch 1738 von ihm getrennt, weil der trunk- Seyler und zwei weitere süchtige Mann sie nicht ernähren konnte. In Kaufleute über, die das Hamburg suchte sie mit Näharbeiten ihr Aus- erste deutsche National- kommen, bis der berühmte Schauspieler Kon- theater gründeten. Nach rad Ekhof sie 1740 mit zur Schönemannschen Seylers Scheitern über- Truppe nach Lüneburg nahm. Ob es um einen nahm Acker mann 1769 Sophie Ackermann Rollenstreit oder eine unerfüllte Geldforderung die Bühne erneut auf ei- ging, 1741 packte Madame Schröder kurz ent- gene Rechnung. Ein hal- schlossen ihre Habe zusammen und gründete bes Jahr vor seinem Tod übergab er sie 1771 offi - eine eigene Truppe, wobei sie die Kollegen Kon- ziell an seine Frau und sei nen Stiefsohn Friedrich rad Ernst Ackermann, ihren späteren zweiten Ludwig Schröder (1744–1816), der aus einer Ehemann, und das Ehepaar Starke mit sich nach kurzzeitigen Wiedervereinigung Sophie Charlot- Hamburg zog. Schönemann reiste ihr nach, um te Schröders mit ihrem ersten Ehemann stamm - seine Privilegien in Hamburg zu sichern. Nach te. 1772 trat die Schauspielerin zum letzten Mal einem sechswöchigen Prozess erhielt jedoch auf die Bühne und kümmerte sich fortan um die Madame Schröder die Genehmigung, in Ham- Finanzverwaltung, um Übersetzungen und die burg zu spielen. Wie Caroline Neuber (1697– Bearbeitungen von Theaterstücken. Den Kostü- 1760) versuchte sie, das Niveau des Schauspiels men widmete sie eine bis dahin nicht dagewe-

9) Barbara Becker-Cantarino, a. a. O. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 12

12 Biographien von A bis Z / A

sene Sorgfalt und zog auch ihre Töchter zum lin ging am 15. August ab, kam aber nie am Be- Nähen, Sticken und Vergolden heran. Bei Gast- stimmungsort, dem Konzentrationslager There- spielen hielt sie mitreißende Begrüßungsreden sienstadt an. Ob sie in einem anderen Vernich- über die Aufgabe des Theaters und die Würde tungslager ums Leben kam, ob sie den Transport des Schauspielerberufes. Vor allem aber war sie nicht überstand oder ob sie ihrem alten Lun- Repetitorin der Truppe und studierte nicht nur genleiden erlag, ist unbekannt. mit Frauen und Kindern, sondern häufig auch „Ich wurde am 4. Juli 1879 in Berlin ge- mit den Männern die Rollen ein. Ihr Sohn Fried- bo ren und erhielt meine Ausbildung auf dem rich Ludwig Schröder hatte die künstlerische Lei- damals für Mädchen allein üblichen Weg der hö- tung der Bühne inne. heren Mädchenschule und des Lehrerinnense- Text über Sophie Ackermann: Brita Reimers minars.“10) So nüchtern beschrieb Agathe Lasch Siehe auch Ü Unzerstraße, in diesem Band. in ihrem Lebenslauf für die Personalakten der Siehe auch Ü Lessingstraße, Hohenfelde, seit Ham burger Universität den Ausschluss der Frauen 1863: Gotthold Ephraim Lessing (1729– 1781), von Abitur und akademischer Bildung. Sie war Schriftsteller, in Bd. 3 online**. das dritte von fünf Kindern einer jüdischen Ber- Siehe auch Ü Mönckebergstraße, Altstadt, seit liner Kaufmannsfamilie. Die Familie lebte in wirt- 1908 und Mönckebergkai, Steinwerder, seit 1902: Johann Georg Mönckeberg (1839–1908), schaftlich beschränkten Verhältnissen. Jurist, Abgeordneter der Rechten in der Ham- Im Herbst 1898 bestand die 19-Jährige die burgischen Bürgerschaft, Senator (1876–1908), Lehrerinnenprüfung, konnte als Jüdin jedoch an Bürgermeister von Hamburg (ab 1890 wieder- holt), in Bd. 3 online**. keiner staatlichen Schule eine Anstellung finden und musste an Privatschulen unterrichten. Ihre Nachmittage waren mit der Erteilung von Pri- Agathe-Lasch-Weg vatunterricht ausgefüllt, da das Gehalt für den Othmarschen, seit 1971; vorher Othmarscher Kir- Lebensunterhalt nicht ausreichte. chenweg, benannt nach Agathe Lasch (4.7.1879 1906 machte sie, nun 27 Jahre alt, ihr Abi- Berlin–am 12.8.1942 deportiert), erste Lehrstuhl - tur an einem Charlottenburger Gymnasium. Als inhaberin an der Universität Hamburg, als Jüdin 1908 in Preußen endlich Frauen zum Studium von den Nationalsozialisten deportiert zugelassen wurden, weigerte sich der Berliner Vor dem Wohnhaus Gustav-Leo-Straße 9 und vor Germanist Roethe weiterhin, Frauen in seine Se- dem Hauptgebäude der Universität Hamburg, minare auf zunehmen. Er lehnte die Zulassung Edmund-Siemers-Allee 1, liegen Stolpersteine für von Agathe Lasch ab und kam damit durch. Sie Agathe Lasch. konnte erst ab ihrem 30. Lebensjahr in Halle Im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Fried- und Heidelberg Germanistik studieren. Nach all hof befindet sich ein Erinnerungsstein für Agathe den Jahren der Entbehrungen und Demütigun- Lasch. gen bekam sie durch Vermittlung Prof. Wilhelm Braunes an der Heidelberger Universität ein ein- Am 12. August 1942 wurde die 63-jährige Agathe jähriges Stipendium. 1909 schrieb die 30-Jährige Lasch in Berlin zusammen mit ihren beiden bei Prof. Braune ihre Doktorarbeit über die „Ber- Schwes tern von der Polizei abgeholt. Der Trans- liner Schriftsprache“. Aussichten auf eine wissen - port jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Ber- schaftliche Karriere bestanden im deutschen

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

10) Akte Agathe Lasch in der Ham- burger Bibliothek für Universitätsge- schichte. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 13

Biographien von A bis Z / A 13

Kaiserreich für Agathe Lasch als Frau und Jüdin Wie kompliziert es für Frauen war, sich in jedoch nicht. So ging sie 1910 an das führende der Männerdomäne Universität adäquat zu ver- amerikanische Frauencollege Bryn Mawn in halten, und wie sie es bei allen Versuchen der An- Pennsylvania und unterrichtete dort deutsche passung offensichtlich doch nie recht machen Philologie. Trotz der in ihrem Geburtsland erleb- konnten, zeigt der aus Wahrheit und männlicher ten Benachteiligung litt Agathe Lasch unter der Dichtung bestehende Nachruf des Direktors des antideutschen Stimmung, die in den USA nach Germanischen Seminars, Conrad Borchling (sie- Ausbruch des Ersten Weltkrieges herrschte, und he zu Borchling in Bd. 1 im Kapitel: Der Umgang war deshalb nicht gewillt, ihren Lehrvertrag zu mit der nationalso zialistischen Vergangenheit): verlängern. Sie kehrte nach Deutschland zurück „Fernerstehenden mochte Agathe Lasch wohl als und erhielt 1917 in Hamburg eine Stelle als Wis- das Urbild einer gelehr ten Dame erscheinen, die senschaftliche Hilfsarbeiterin am Deutschen Se- sich mit fast mönchischer Strenge auf ihre wis- minar. Als sie diese Stelle antrat, hatte sie bereits senschaftliche Arbeit eingestellt hatte, allen Freu- einen überragenden Ruf in der Germanistik, den den dieser Welt ab hold war und sich scheu vor sie sich 1914 mit ihrem Buch über die Mittelnie- der allzu engen Berührung mit anderen auf sich derdeutsche Grammatik erworben hatte. Das selbst und ihre Bücher zurückzog. Es war ge wiss Buch ist bis heute ein Standardwerk. Am Deut- nicht leicht, ihr näher zu kommen; aber wenn schen Seminar erhielt sie Arbeit am Hamburgi- der Bann erst einmal gebrochen war, merkte man schen (nie derdeutschen) Wörterbuch und über- bald, dass bei dieser stren gen Wissenschaftlerin arbeitete das Mittelniederdeutsche Wörterbuch. doch auch die weicheren, mehr weibli chen Cha- Sie untersuchte die Entwicklung der Sprache in rakterzüge nicht zu kurz gekommen waren (…). Abhängigkeit von sozialen Faktoren. Sprachge- Ich will aber auch die Schattenseiten dieses Cha- schichte sah sie eng verknüpft mit der politi- rakters nicht verschwei gen: eine leichte Reizbar- schen Geschichte. Für das Hamburger Wörter- keit und eine starke Emp - buch untersuchte sie die Gegenwartssprache findlichkeit, die wohl aus und führte zahllose direkte Befragungen durch. ihrer zarten körperli chen Nach Eröffnung der Universität Hamburg im Konstitution zu erklären Jahre 1919 habilitierte Agathe Lasch und erwarb sind. So empfand sie auch damit die Lehrberechtigung für die Hochschule. in der wissenschaftlichen Am 29. Juni 1923 wurde die nun 44-Jährige Kontroverse den Wider- durch Senatsbeschluss „zum Professor“ ernannt. spruch viel stärker, als er Als 1926 ein Extra-Lehrstuhl für Niederdeutsche in Wirklichkeit gemeint Philologie eingerichtet wurde, stand sie als ein- war. Dann konnte sie sich zige Kandidatin auf der Berufungsliste. wohl hinsetzen und im Nach der Ernennungsfeierlichkeit zur au - ersten Zorn einen ihrer ßer ordentlichen Professur, bei der die Erwartung fulminanten Briefe schrei - Agathe Lasch ausgesprochen wurde, dass sie sich weiterhin ben, der ihr vielleicht um die Wörterbücher kümmern werde, klagte schon am nächsten Tag leid getan haben mag, Agathe Lasch, dass sie sich durch die zeitinten- denn sie pflegte solche Dinge nie länger nach- 11)

Abb.: bpk/Staatsbibliothek zu Berlin -00087273 bpk/Staatsbibliothek Abb.: sive Tätigkeit eingeengt fühle. zutragen.“

11) Conrad Borchling: Agathe Lasch 1946. zum Gedächtnis. Ansprache auf der Jahresversammlung des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung zu Goslar am 28. September 1946, in: Niederdeutsche Mitteilungen, Jg. 2, Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 14

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Das Portrait wirft wenig Licht auf die Person 1941 bat Agathe Laschs ehemalige Schüle- Agathe Lasch, zeigt dafür aber recht deutlich die rin Claudine de L’Aigle den Leiter der Landesun- Geis teshaltung des Verfassers und seine patriar- terrichtsbehörde, Witt, zugunsten der Professo- chal geprägte Erwartungshaltung an die Wissen- rin eine Eingabe bei der Geheimen Staatspolizei schaftlerin. Berlin zu machen. Aus den Unterlagen der Staats- Bei Machtantritt der Nationalsozialisten verwaltung lässt sich ersehen, wie Schulbe- drohte der jüdischen Professorin auf Grund des hörde, Rektorat der Universität und das Germa- „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbe- nische Seminar die Eingabe mit dem Verweis auf amtentums“ die sofortige Entlassung. Eingaben die jeweilige Nichtzuständigkeit hin und her ihrer Schülerinnen und die Stellungnahme skan- schoben. Borchling beendete den Vorgang: „Wie dinavischer Germanisten verhinderten dies zu- die Dinge einmal liegen, bin ich außerstande, nächst, aber zum 30. Juni 1934 wurde sie, nun von mir persönlich aus Schritte in der Ange - 55 Jahre alt, endgültig in den „Ruhestand“ ver- legenheit von Frl. Prof. Lasch zu unternehmen, setzt. Über die Atmosphäre am Germanischen so sehr ich auch ihre wissenschaftliche Arbeit Seminar im ersten Jahr der NS-Diktatur gibt ein hochschätze und ihr charakterliches Verhalten Brief Agathe Laschs an ihren Nachfolger Aus- anerkennen muss.“14) kunft: „Im übrigen war sie [die Bibliothekarin Die Pensionszahlungen wurden eingestellt. Marie Luise Winter] viele Monate hindurch der Als Claudine de L’Aigle ihre ehemalige Lehrerin einzige Mensch, der die Tätigkeit im Seminar für im Juli 1942 ein letztes Mal besuchte, hatten die mich überhaupt möglich machte. Es wäre ihr Nationalsozialisten deren persönliche Bibliothek leicht genug gewesen, in den Ton der anderen beschlagnahmt. Sie ließ sich aber nicht entmu- einzustimmen, sie hat es damals nicht getan.“12) tigen. In ihrem letzten Brief freute sie sich noch, Agathe Lasch erhielt zwar ihre volle Pen- dass ihre handschriftlichen Zettel nicht fortge- sion, durfte aber nicht mehr in Deutschland pub- nommen worden waren: „Es ist wie eine kleine lizieren. 1937 siedelte sie zu ihren Schwestern handschriftliche Bibliothek, und ich bin nun nach Berlin über. Als ihr 1938 der Zutritt zur dabei, sie zu ordnen.“15) Bibliothek verboten wurde, beschaffte ihr ihre Die Hansestadt Hamburg ehrt heute das letzte Schülerin Martta Jaatinen einige Bücher Andenken ihrer ersten Universitätsprofessorin. aus der Bibliothek. Agathe Lasch, die, wie sie Im Dezember 1992 wurde der vom Hamburger selbst einmal sagte, „niemals einen Menschen Senat mit 5000 DM ausgestattete Agathe-Lasch- leidenschaftlich geliebt“ hat, sondern „die zwei Preis zur Förderung des wissenschaftlichen Abstrakta (…) Germanistik und Deutschland“,13) Nachwuchses auf dem Gebiet der norddeut- empfand diese Beschränkung ihrer wissenschaft- schen Sprachforschung zum ersten Mal verge- lichen Tätigkeit als großen Verlust, denn die Wis- ben. Um 1970 wurde ein Weg nach ihr benannt. senschaft war ihr Lebensinhalt. Bemühungen Aber der erste Eindruck, das Nachkriegs- um Lektorenstellen in Lund und Oslo sowie um deutschland gehe vernünftig mit seiner Vergan- einen Lehrstuhl an der estnischen Universität in genheit um, täuscht. Schon 1948 hatte die Bib- Dorpat scheiterten trotz positiver Beurteilungen lio thekarin des Germanischen Seminars, Marie von Seiten Conrad Borchlings an Interventionen Luise Winter, vorgeschlagen, eine Straße in Ham - des Deutschen Auswärtigen Amtes. burg nach Agathe Lasch zu benennen. Auf die

12) Wolfgang Bachofer, Wolfgang Hamburger Universität 1933–1945. des Vereins für niederdeutsche Beck: Deutsche und niederdeutsche Teil II: Philosophische Fakultät. Sprachforschung. Jg. 82. 1959; Jürgen Philologie. Das Germanistische Semi- Rechts- und Staatswissenschaftliche Meier: Gedenken an Agathe Lasch, nar zwischen 1933 und 1945, in: Fakultät. Berlin, Hamburg 1991 in: Uni-hh, Nr. 5, 1979. Eckart Krause u. a. (Hrsg.): Hoch- 13) Claudine de l‘Aigle: Agathe 14) Wolfgang Bachofer, a. a. O. schulalltag im „Dritten Reich“. Die Lasch. Aus ihrem Leben, in: Jahrbuch 15) Claudine de L’Aigle, a. a. O. Biographien von A bis Z / A 15

entsprechende Anfrage der Behörde teilte Aga- gagierten Bürgerin, Charlotte Rehn, wurde das the Laschs angeblich nur zu seinem Schutz in Schild schließlich ergänzt. Es weist nun aus- die NSDAP eingetretener Schüler, inzwischen an drücklich darauf hin, dass Agathe Lasch die erste ihrer Stelle amtierender Seminardirektor Nieker- Professorin auf einem Lehrstuhl an der Hambur- ken mit: „Bei einer Erfragung im Kollegenkreise ger Universität war und als Jüdin Opfer des Na- (…) war man geteilter Meinung. Die Gegner des tionalsozialismus wurde. Gedankens vertraten die Ansicht, dass man Stra- Text: Ingo Böhle ßennamen nicht zum Gegenstand politischer Siehe auch Ü Borchlingweg, Othmarschen, seit Zwistigkeiten machen sollte und dass es nicht 1950: Prof. Dr. Conrad Borchling (1872–1946), Erforschung der niederdeutschen Sprache. im Sinne dieser bescheidenen, stillen Frau sei, Näheres dazu im Bd. 1. im Kapitel: Straßenbe- wenn sie auf diese Weise an die Öffentlichkeit nennungen: Der Umgang mit der nationalso- gezerrt würde.“ Weiter wurde gesagt, „die Zahl zialistischen Vergangenheit. der um Hamburgs Kulturleben ebenso verdien- ten Männer und Frauen sei so groß, dass es Agathenstraße nicht genug [Straßen] gäbe, sie alle zu ehren“. Eimsbüttel, seit 1899. Frei gewählter Name Die Straßenbenennung nach Agathe Lasch wur- de abgelehnt. Solche Bedenken hatte der Kollegenkreis of- Agnes-Gierck-Weg fensichtlich nicht, als es darum ging, den 1946 Langenhorn-Nord, seit 1997. Vorher Peter-Müh- verstorbenen Direktor des Germanischen Semi- lens-Weg, umbenannt wegen Peter Mühlens nars, Conrad Borchling, zu ehren. Borchling, der NS-Belastung (siehe in Bd. 1 im Kapitel „Der Um- schon im Ersten Weltkrieg den flämischen Teil gang mit der nationalsozialistischen Vergangen- Belgiens als deutsche Provinz reklamiert hatte, heit“) nach Agnes Gierck, geb. Höhne (28.2.1886 hielt es auch 1933 mit den neuen Machthabern. Weimar–12.11.1944 Hamburg), Widerstands- Er wurde bereits im Mai 1933 NSDAP-Mitglied kämpferin gegen das NS-Regime, Hausfrau und richtete seine in einer großgermanischen Ideologie wurzelnde Wissenschaft ganz auf das Besuchte eine Hamburger NS-Regime aus. Nach dem Krieg wurde er von Volksschule bis zur Se- der britischen Militärverwaltung seines Amtes lekta, anschließend Arbeit enthoben und zu Lebzeiten nicht rehabilitiert. als Hausangestellte und All dies hinderte die Stadt Hamburg nicht, Plätterin. 1909 Heirat mit des Verstorbenen öffentlich zu gedenken. Seit dem Arbeiter Karl Gierck, dem 26.7.1950 gibt es in Hamburg einen „Borch - drei Kinder. In den 1920er- Agnes Gierck um 1914 lingweg“, der sich in der Nähe des „Agathe- Jahren trat das Ehepaar in mit den Kindern Wilma Lasch-Weges“, einer an der Autobahn endenden die KPD ein. In der Zeit und Herbert Sackgasse, befindet. des Nationalsozialismus Bis November 1993 trug das Straßenschild sammelte Agnes Gierck Spenden für Familien von neben den Lebensdaten lediglich den Zusatz Verfolgten, kassierte Parteibeiträge und „stand „Phi lologin“. Auf Anregung des Historischen Se- Schmiere“. 1. Oktober 1934 Verhaftung durch die

Abb.: Privatbesitz Gertrud Kelb Privatbesitz Abb.: minars der Universität Hamburg und einer en- , April 1935 wegen Volksverhetzung und

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen 16 Biographien von A bis Z / A

Vorbereitung zum Hochverrat zu zwei Jahren Geboren wurde Agnes Wolffson als Tochter von Jo- Zuchthaus – ihr Mann, ihr Sohn und ihr Schwie- hanna Wolffson, geb. Hirsch und deren Ehemann gersohn zu je anderthalb Jahren Kerker – verur- Dr. Isaak Wolffson (siehe Ü Wolffsonbrücke, Wolffson- teilt. Nach ihrer Entlassung nahm sie die illegale stieg und Wolffsonweg, in Bd. 3 online**), einem Widerstandstätigkeit wieder auf. Rechtsanwalt und Reichstagsabgeordneten. Durch die Jahre der Verfolgung und Haft so- Agnes Wolffson hatte noch vier weitere Ge- wie den Kummer über den Tod beider Söhne er- schwister (eins starb im Kleinkindalter). Als ihr lebte Agnes Gierck das Kriegsende nicht mehr. Vater Witwer wurde, führte sie ihm bis zu sei- Sie starb am 12.11.1944 nach langer Krankheit. nem Tode 1895 den Haushalt. Durch ihre Mutter und die im Wolffsonschen Hause als Hausdame tätige Minna Leppoc be- Agnesstraße kam Agnes Wolffson Zugang zum Frauenverein Winterhude, seit 1866, benannt nach Agnes zur Unterstützung der Armenpflege, in dem sich Ahrens, geb. Repsold. Schwägerin des Unterneh- Frauen der bürgerlichen Revolution von 1848 mers Adolph Sierich – Besitzer des Geländes zusam mengeschlossen hatten, um auf freisinni- ger und humanitärer Basis den Armen zu helfen Tochter des Eichmeisters Georg Repsold (1804– und ihnen Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. 1885), dem zweiten Sohn von Johann Georg Rep - Agnes Wolffson lernte von ihren Eltern sold (siehe Ü Repsoldstraße, in Bd. 3 online**), selbstständiges Handeln, das Entwickeln eigener En kelin von Johann Georg Repsold, Schwester Ideen und deren Umsetzung, aber auch das Die- von Adolph Sierich (siehe Ü Sierichstraße, in Bd. 3 nen und Sorgen für andere. Bereits mit siebzehn online**) zweiter Ehefrau Clara Octavia (siehe Ü Jahren unterrichtete sie unentgeltlich deutschen Klärchenstraße, in diesem Band). Aufsatz und Gedichte in der Schule des Paulsen- Siehe auch Ü Dorotheenstraße, Klärchenbrü- stifts. Später pflegte sie zu Hause ihre beiden cke, Klärchenstraße, Maria-Louisen-Brücke, Schwestern und ihre Mutter bis zu deren Tod. Maria-Louisen-Stieg, Maria-Louisen-Straße, in diesem Band. Da Agnes Wolffson unverheiratet blieb, wur- Siehe auch Ü Repsoldstraße, St. Georg, seit de sie auch von ihrem Bruder, einem Rechtsan- 1843: Johann Georg Repsold (1771–1830), walt, als verfügbare und sorgende Tante seiner Feinmechaniker, Spritzenmeister, Firma Rep- vier Kinder beansprucht. Erst nach dem Tod des sold & Söhne: Werkstatt für astronomische Vaters, nun bereits 46-jährig, begann sie ihr eige- Instrumente, in Bd. 3 online**. nes Leben zu leben, das durch ihren bisherigen Siehe auch Ü Sierichstraße, Winterhude, seit 1863: Adolph Sierich (1826–1889), Grund- Lebensweg bereits stark vorgezeichnet war. So eigentümer, in Bd. 3 online** adoptierte sie 1896 ein neunjähriges Mäd chen, dessen Eltern bei der Cholera gestorben waren. Agnes-Wolffson-Straße Besonders wichtig erschien ihr der Haushal- Bergedorf, seit 1985, benannt nach Agnes Wolff- tungsunterricht für Volksschülerinnen. Hier soll- son (30.11.1849 Hamburg–18.3.1936 Hamburg), ten junge Frauen sparsame Wirtschaftsführung Mäzenin, Wohltäterin, Stifterin. Gründerin von lernen, was für Arbeiterhaushalte sehr notwendig Haushaltungsschulen. Motivgruppe: Verdiente war. Da solch ein Unterricht nicht an den staat- Frauen lichen Volksschulen angeboten wurde, grün dete

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 17

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Agnes Wolffson, die durch ihr väterliches Erbe Volksschülerinnen und -schüler, die in schlech - über ein beträchtliches Vermögen verfügte, eine ten Wohnverhältnissen lebten, zwei Wochen eigene Haushaltungsschule – sprich Schul küche. lang tagsüber erholen konnten. 1911 wurde die Ihre Schule startete am 15. Sep tem ber 1896 mit Kolonie wegen der anstehenden Hafener wei - sechs Kursen mit je 20 Schüle rinnen. Ostern 1897 terung nach Moorwerder verlegt. Agnes Wolff- kam an der Kieler Straße 7 eine zweite Schule son beaufsichtigte die Küche der Ferienkolonie hinzu und um 1900 eine dritte an der Humboldt- und stellte den Küchenzettel zusammen. straße. Schulgeld wurde nicht genommen. Die 1910 gründete sie in der Norderstraße ein Schülerinnen lernten Kochen und Backen, Wa- Arbeiterinnenheim: Das Mar tha-Helenen-Heim, schen und Plätten, Einmachen und Reinmachen, das nach Agnes Wolffsons verstorbenen beiden Kinder- und Krankenpflege sowie Wirtschaften Schwestern benannt war. Das Heim bot 60 er- mit Hilfe eines zu führenden Wirtschaftsbuches. werbstätigen Frauen Unterkunft in Einzelzimmern 1899/1900 gab es achtzehn Kurse mit 465 Schü- sowie die Teilnah me an Lehrkursen, die der För- lerinnen. derung der All ge meinbildung dienten. Am 3. Au- Als 1906 an zwei staatlichen Mädchenvolks- gust 1914 richte te Agnes Wolfsson im Martha-He- schulen Haushaltungsunterricht versuchsweise lenen-Heim die ers te Hamburger Kriegsküche ein. obligatorisch eingeführt wurde, schenkte Agnes Durch die Inflation verlor Agnes Wolffson Wolffson dem Hamburger Staat ihre drei Schul- ei nen beträchtlichen Teil ihres Vermögens, muss - küchen und sah damit ihre Arbeit auf diesem Ge - te das Heim schließen und ihr Haus in der Ba - biet als beendet an. de straße verkaufen. Fort an leb te sie in engen fi- Nun wandte sie sich den Töchtern der nanziellen Verhältnissen. Oberschicht zu und errichtete 1902 in der Tes- 1925 entschloss sich der dorpfstra ße eine Lehranstalt für alle Zweige der Se nat, ihr eine Ehrenren- Haushaltungskunde. Agnes Wolffson stellte die te auszuzahlen. Lehrerinnen ein und entwickelte den Lehrplan, Agnes Wolffson war der sich von dem der Volksschülerinnen wesent- weiterhin in vielen Gre- lich unterschied. Hier ging es z. B. um die Kunst mien und Vorständen tä - der feinen Küche. Auch mussten die Eltern für tig, so im Kuratorium des ihre Töchter ein hohes Schulgeld zahlen. Vereins Soziale Frauen- Doch obwohl die Schule gut angenommen schule, des Sozialpädago- Agnes Wolffson wurde und Agnes Wolffson für den Fortbestand gischen Instituts und des der Schule einen beträchtlichen finanziellen Zu- Paulsen Stifts, war ehrenamtliches Mitglied im Ar- schuss beigesteuert hatte, schrieb die Schule we- menkollegium der Allgemeinen Armenanstalt und gen des zu geringen Startkapitals und der allge- im Vorstand der Hamburger Rentner hilfe tätig. meinen Teuerung rote Zahlen. Agnes Wolffson Noch im Alter von 80 Jahren führte sie als Be- musste schließlich den Hamburger Staat um ei - zirksausschussmitglied für den Stadtteil St. Georg nen Zuschuss bitten – solches tat sie nicht gern. die Rentnerfürsorge fort. So verteilte sie einmal in 1901 gehörte sie dem Vorstand des Vereins der Woche die Essensmarken. für Ferien-Wohlfahrts-Bestrebungen an. Dieser Geehrt wurde sie 1922 wegen ihrer Verdien-

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: gründete die Ferienkolonie Waltershof, in der sich ste um die Haushaltungsschule mit der Anna- Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 18

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Wohlwill-Gedenkmünze (siehe Ü Wohlwillstraße, ab Oktober 1901 in Stade. Im November 1902 in diesem Band). Zu ihrem 80. Lebensjahr be- wurde sie Oberin des Dia konissenhauses Tabea nannte der Senat die Haushaltungsschule in der in Altona. Ihre selbstbewussten Ansichten kolli- Humboldtstraße 99 in Agnes-Wolffson-Schule dierten mit der Weltfremdheit des Hausvorstandes um. Da Agnes Wolffson Jüdin war, wurde ihr die des Diakonissenhauses, und es kam zum Bruch. Ehrenrente nach der Machtübernahme der Na- Alber tine Assor verließ ihre Stelle, gründete am tionalsozialisten gekürzt.16) 1. Mai 1907 zusammen Siehe auch Ü Wohlwillstraße, in diesem Band. mit sieben weiteren ab- Siehe auch Ü Wolffsonbrücke, Alsterdorf, seit trünnigen Schwestern in 1947; Wolffsonstieg, Alsterdorf, seit 1947 und einer kleinen Mietwoh- Wolffsonweg, Alsterdorf, seit 1947: benannt nung in der Fettstraße 20 nach dem Vater von Agnes Wolffson: Isaak Wolffson (1817–1895), Jurist, Reichstagsabge- im Hamburger Stadtteil ordneter, Mitglied der Hamburgischen Bürger- Eimsbüttel ein baptisti- schaft (1859–1883), Präsident der Hamburgi- sches Diakonissen-Mut- Albertine Assor schen Bürgerschaft (1861 und 1862), ab 1879 terhaus mit dem Namen Präsident der Hanseatischen Rechtsanwalts- kammer, in Bd. 3 online**. Siloah (stil le Sendung). Nach eineinhalb Jahren hatte der Verband schon 22 Schwestern. 1908 erfolgte der Umzug in den Schulweg 35/37. Albertine-Assor-Straße Die Schwestern, die eine qualifizierte Aus- Schnelsen, seit 1993, benannt nach Albertine bildung an einer Krankenpflegeschule erhielten Assor (22.3.1863 Zinten/Ostpreußen–22.2.1953 und dort auch ihr Staatsexamen ablegten, arbei- Hamburg), Gründerin und langjährige Leiterin, teten anfangs hauptsächlich in der häuslichen erste Oberin der später nach ihr benannten, in Krankenpflege. Von wohlhabenden PatientInnen der Nähe der Albertine-Assor-Straße gelegenen wurden Honorare verlangt, arme kostenlos be- evangelischen Diakonie- und Krankenanstalten treut. Siloah-Schwestern waren auch in Privat- kliniken tätig. Das verdiente Geld kam in eine Albertine Assor wuchs mit vier Geschwistern auf. Gemeinschaftskasse, aus der alle Kosten bestrit- Ihr Vater gab, nachdem er 44 Jahre als Maurer- ten wurden. Für ihren vierwöchigen Jahresur- polier gearbeitet hatte, seinen Beruf auf, um Pre- laub stand den Schwestern ein Haus in Malente diger in verschiedenen Baptistengemeinden zu und später in Bad Pyrmont zur Verfügung. werden. Ab Januar 1891 wohnte Albertine Assor Weil Albertine Assor nicht wollte, dass in Berlin, um dort eine Ausbildung im Schnei- Schwestern im Alter von ihren jungen Mit- derhandwerk zu absolvieren. Doch das große schwestern finanziell abhängig wurden, wurden so zi ale Elend ließ sie sich anders entscheiden. die Schwestern sozialversichert. Diese Einstel- Sie wandte sich der Gemeindediakonie zu, wurde lung wurde ihr von anderen Diakonissenhäu- ab Juli 1891 Gemeindeschwester in Berlin-Moabit sern als „mangelndes Gottvertrauen“ ausgelegt. und kümmerte sich um arbeitslose junge Frauen Wichtiges Anliegen von Albertine Assor war: und Straßenkinder. 1894 arbeitete sie in einem Frauen helfen Frauen, ein neues Selbstwertge- Bochumer Wohnheim für junge Frauen, ab 1895 fühl zu entwickeln. Deshalb übernahm Alber-

als Gemeindeschwester im Berliner Norden und tine Assor im Januar 1901 auch ein Mädchen- Hubmann 70007051/Hanns Albertinen-Diakoniewerk e. Nr.: bpk | v.l.n.r.: V. Abb.

** Band 3 online unter: www.ham- 1981. H. 9. Hamburg 1980. burg.de/maennerstrassennamen

16) Vgl. Renate Hauschild-Thiessen: Agnes Wolffson, in: Hamburgische Ge - schichts- und Heimatblätter. Bd. 10. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 19

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heim für alleinstehende erwerbstätige Mädchen in Albertinen-Haus umbenannt. Heute trägt das in Hamburg-Eilbek. 1911 erfolgte der Umzug des Werk zu Ehren seiner Gründerin den Namen Heimes in die Alexanderstraße 25 in der Nähe Albertinen-Diakoniewerk e. V. Es gehört zum des Hauptbahnhofes. Dort fanden notleidende Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden. Frauen Unterkunft. Alle Einrichtungen – das Albertinen-Kranken- 1910 gründete Albertine Assor den Schwes- haus und die Altenwohnanlage Albertinen-Haus ternverband und kaufte 1918 ein Haus in der – befinden sich in Hamburg-Schnelsen. Tornquiststraße 50, welches sie zum Mutterhaus umbauen ließ. Eifersucht, Ehrgeiz und Unverstand von Sei- Albertinenstieg ten ihrer Vorgesetzten und Mitschwestern führ- Schnelsen, seit 1993, benannt nach dem von ten im Oktober 1919 zur Suspendierung Alber- Albertine Assor gegründeten Diakonissenhaus tine Assors von ihrem Amt als Oberin bei Siloah. Siloah – heute das nahegelegene Albertinen-Haus Sie reiste daraufhin zu Verwandten nach Ostpreu- ßen, organisierte aber bereits ein Jahr später die Wanderfürsorge. 1921 wurde sie zur ersten Vor- Alexandra-Stieg sitzenden des Schwesternverbandes gewählt Rothenburgsort, seit 2006, benannt nach Ale- und wurde 1922 Leiterin eines christlichen Er- xandra Doris Nefedov, geb. Treitz (19.5.1942 holungsheimes in Schorborn/Solling. Heydekrug, jetzt Silute–31.7.1969 Tellingstedt), Als Siloah in eine Krise geriet, entschlossen populäre deutschsprachige Sängerin der 1960-er sich die Schwestern, Albertine Assor zurückzu- Jahre unter ihrem Namen Alexandra holen. Im März 1925 wurde sie wieder als Obe- rin eingesetzt. 1927 pachtete sie für Siloah das Doris Treitz wuchs mit ihren zwei Schwestern im Krankenhaus Am Weiher, das ab 1928 eine ei- Memelland auf. Ihre Familie flüchtete 1944 vor gene Krankenpflegeschule erhielt. der Roten Armee in den Norden Westdeutsch - Weitere Einrichtungen der Schwesternschaft lands und ließ sich in Kiel nieder, wo Doris Treitz waren: 1928 Kauf des Hauses Tornquiststraße 48 ein Mädchengymnasium besuchte. Sie erhielt als Altenheim, Kauf des Erholungsheims He le - Klavierunterricht, brachte sich das Gitarrenspiel nenquelle in Bad Pyrmont, 1930 Umzug des Mäd - bei und schrieb schon früh eigene Lieder und chenheims in die Heimhuderstraße 78, dort Ein- Gedichte. 1962 nahm sie an der Miss-- richtung eines Leichtkrankenhauses für Frauen. Wahl teil und belegte den Hier wurden u. a. erkrankte Dienstmädchen un- neunten Platz. Kurz vor tergebracht, die bei ihrer „Herrschaft“ nicht aus- dem Abitur verließ sie die reichend versorgt wurden. 1935 Kauf des Hauses Schule; sie wollte Mode- Mittelweg 111 als Leichtkrankenhaus für Männer. designerin werden und Hier konnten u. a. erkrankte Seeleute Unterkunft begann ein Graphikstu- finden. 1938 Kauf der Klinik Johnsallee. dium an der Muthesius- 1941 legte Albertine Assor ihr Amt nieder. Werkkunst schule. Kurz darauf wurde auf staatliches Drängen der 1961 zog sie mit ihrer Alexandra Doris jüdische Name Siloah „gelöscht“ und das Werk geschiedenen Mutter und Nefedov, geb. Treitz Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 20

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einer ihrer Schwestern nach Hamburg in ein psychischer Belastungen für eine Auszeit. Da- Mehrfamilienhaus im Stadtteil Rothenburgsort. mals wollte sie mit ihrer Mutter und ihrem Sohn Alexandra besuchte als 19-Jährige die Meister- auf Sylt Urlaub machen. Am 31. Juli fuhr sie mit schule für Mode, lernte aber bald schon den ihrem ersten eigenen Wagen, einem Mercedes 30 Jahre älteren, russischen Emigranten Nikolai 220 SE Coupé, von Hamburg, wo sie noch einen Nefedov kennen, der bei ihnen zur Untermiete Termin bei ihrer Plattenfirma wahrgenommen wohn te. Sie heirateten und wollten in die USA hatte, auf den Landstraßen Richtung Sylt. Mit der auswandern. Doch bevor es dazu kam, gebar die Technik des Autos soll sie noch nicht vertraut ge- damals Zwanzigjährige ihren Sohn Alexander. wesen sein, denn am Armaturenbrett war ein Damit schien ihr eine Karriere als Sängerin und Notizzettel angeheftet mit Bedienungsanleitun- Schauspielerin nicht mehr realisierbar. Schließlich gen für das Fahrzeug. Auf der Bundesstraße 203 scheiterte die Ehe und Nikolai Nefedov emigrierte bei Tellingstedt kam es an einer schwer einseh- allein in die USA. Alxeandra Do ris Nefedov nahm baren Kreuzung zu einem Unfall mit einem Last- den Künstlerinnennamen Alexandra an, versuchte wagen, da Alexandra das Stoppschild übersehen ihr Studium zu beenden und arbeitete nebenbei hatte. Alexandra starb noch am Unfallort, ihre als Zeichnerin. Ihre Mutter versorgte das Kind. Mutter wenig später im Krankenhaus. Der sechs- Nach dem Abschluss an der Margot-Höpf- jährige Sohn Alexander, der auf der Rückbank ner-Schauspielschule in Hamburg bekam Ale- geschlafen hatte, wurde nur leicht verletzt. Die xandra ein Engagement an einem Theater in genauen Umstände des Unfalls wurden bis heute Neumünster. Sie nahm Gesangsunterricht und nicht geklärt. Selbsttötungs- und Sabotagetheo- wurde von dem Schallplattenproduzenten Fred rien kursierten immer wieder. Wyrich entdeckt. Alexandras Manager wurde Warum nach Alexandra eine Straße in Ham- Hans R. Beierlein. Es folgten erste Tourneen mit burg benannt wurde, berichtete das Hamburger dem Orchester Hazy Osterwald. Abendblatt 2007 kurz vor der Einweihung am Alexandra bediente mit ihrer rauchigen, tie- 19. Mai 2007. Da Alexandra einige Jahre im fen Stimme und ihrem Aussehen ein neues For- Stadtteil Rothenburgsort gewohnt hatte, war mat in der Schlagerindustrie: Russland. dies der Grund für die SPD-Fraktion Hamburg- Im Alter von 25 Jahren hatte sie ihren be- Mitte gewesen, in diesem Stadtteil eine Straße ruflichen Durchbruch. Ihre ersten beiden Erfolge nach Alexandra zu benennen. „Den Stein ins waren „Zigeunerjunge“ und „Sehnsucht“. Rollen brachte SPD-Mitglied Jan Oppermann: Doch Alexandra wollte sich nicht auf das Vor etwa drei Jahren machte er einen Fahrrad- slawisch-folkloristische Format einengen lassen. ausflug durch Schleswig-Holstein. Oppermann Sie bekam Kontakt zu den französischsprachigen kam an der Kreuzung vorbei, auf der die gebür- Chan sonniers wie Yves Montand und Gilbert tige Litauerin den tödlichen Verkehrsunfall hatte. Bécaud und arbeitete in Brasilien mit dem Musi- (…) An der Unfallstelle ‚kam ihm die Idee’, erin - ker und Sänger Antonio Carlos Jobim zusam- nert sich Oppermanns Parteifreund Axel Wieder, men. In Deutschland befreundete sie sich mit der ebenfalls von Beginn an dabei war. Denn: Udo Jürgens. Kurz zuvor war eine Flutschutzmauer in Rothen- 1969 zog sie nach München und entschied burgsort verbreitert worden, auf der Spaziergän- sich im selben Jahr auf Grund physischer und ger und Radfahrer nun Platz hatten – doch die Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 21

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neue Promenade brauchte noch einen Namen. sonen und Frauenversammlungen parallel zur Als ein SPD-Fraktionsmitglied während eines Parteistruktur, aber mit relativer Autonomie. Als Treffens auch noch sagte, dass er in der früheren Delegierte nahm sie an Frauenkonferenzen und Wohnung von Alexandra und ihrer Mutter lebt, Parteitagen teil. war die Entscheidung gefallen.“ 1905 gehörte sie mit zu den Initiatorinnen einer Protestkampagne gegen ein skandalöses Urteil des Altonaer Schwurgerichtshofes, als vier Alma-Wartenberg-Platz junge Männer aus bürgerlichen Kreisen wegen Ottensen, seit Nov. 1996, vorher als Friedensei- Vergewaltigung eines Dienstmädchens über- chenplatz bekannt, aber ohne offizielle Bezeich- führt, aber dennoch freigesprochen wurden. nung, benannt nach Alma Wartenberg, geb. Stähr Entgegen der sozial- (22.12. 1871 in Ottensen–25.12.1928 in Altona), demokratischen Parteili- Frauenrechtlerin, sozialdemokratische Politikerin nie und auch im Wider- aus Ottensen, Vorkämpferin für Geburtenrege- spruch zur Führung der lung und Mutterschutz proletarischen Frauenbe- wegung befürwortete Al- Geboren wurde Alma Stähr in „Mottenburg”, dem ma Wartenberg eine Zu - ärmeren Teil von Ottensen, als eines von zwölf sammenarbeit mit den Kindern einer traditionell sozialdemokratischen „Radikalen“ innerhalb der Zigarrenmacherfamilie. Schon ihre Mutter Maria bürgerlichen Frauenbewe- Alma Wartenberg Stähr betätigte sich unter dem Sozialistengesetz gung. Ausgestattet mit ei - in getarnten Frauenbildungsorganisationen. ner gehörigen Portion Ei- Als junge Frau nahm Alma Stähr Arbeit als gensinn und einem star ken Willen, die Inte r es sen Dienstmädchen an, bis sie den Schlosser Ferdi- der Frauen nicht denen der Partei unterzuordnen, nand Wartenberg heiratete, mit dem sie vier Kin- geriet Alma Wartenberg schon 1906 in Konfron - der bekam. Politisch trat sie in die Fußstapfen tation mit führenden Funktionären: Ein Parteiaus- ihrer Mutter und baute vor Ort die proletarische schlussverfahren gegen sie musste zwar einge - Frauenbewegung maßgeblich mit auf. Von 1902 stellt werden, aber als Vertrauensfrau wur de sie bis 1906 wurde sie auf Frauenversammlungen trotz Unterstützung ihrer Genossinnen abgesetzt. jährlich wieder zur sozialdemokratischen Ver- Von nun an legte Alma Wartenberg den trauensfrau im Wahlkreis Ottensen/Pinneberg Schwer punkt ihres politischen Engagements auf gewählt. das Thema Mutterschutz und Geburtenkontrol - Um das politische Engagement von Arbeiter- le. Ihr lag an der Verbesserung der Lebensver- frauen zu fördern – auch gegen den Widerstand hältnisse und der Gesundheit von Frauen. Die vieler männlicher Parteigenossen –, bereiste hohe Säuglingssterblichkeit, die weite Verbrei- Alma Wartenberg als Agitatorin schleswig-hol- tung der „Frauenleiden“ infolge der vielen Ge- steinische Wahlkreise und erweiterte zu einer burten und Fehlgeburten und auch der häufig Zeit, als Frauen per Reichsgesetz die Mitglied- praktizierten Abtreibungen sowie auch die er- schaft in politischen Organisationen noch ver- schreckende Unkenntnis der Arbeiterfrauen über

Abb.: Stadtteilarchiv Ottensen/Familie Wartenberg Ottensen/Familie Stadtteilarchiv Abb.: boten war, das Netz weiblicher Vertrauensper- körperliche und sexuelle Vorgänge hatten sie Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 22

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alarmiert. Sie forderte einen besseren Schutz der Die Benennung des Alma-Wartenberg-Plat- Mütter und der schwangeren Arbeiterinnen. Ihr zes geht auf historische Forschung und Initiative Spezialgebiet wurde die Aufklärung der proleta- der Frauengeschichtsgruppe im Stadtteilarchiv rischen Frauen. Dabei kamen ihr Kenntnisse zu- Ottensen zurück. gute, die sie als Dienstmädchen in einer Arzt- Text: Birgit Gewehr von der Frauengeschichtsgruppe familie beim Aushelfen in der Sprechstunde im Stadtteilarchiv Ottensen gesammelt hatte. Sie zog mit Lichtbilder-Vorträ- gen über den weiblichen Körperbau, über Emp- Am Botterbarg* fängnisverhütung und Mutterschutz von Stadt Iserbrook, seit 1932: Flurbezeichnung. Rastplatz zu Stadt. Im Anschluss an ihre stark besuchten für vom Melken kommende Mägde, die in Vorträge – mehrere Hundert Zuhörerinnen waren großen Kannen Milch transportierten. keine Seltenheit – verkaufte sie öffentlich Verhü- tungsmittel. Damit brachte sie die Justiz, die Be- amtenärzteschaft und kirchliche Kreise im kon- Am Elisabethgehölz servativen Kaiserreich gegen sich auf. Mehrfach Hamm-Nord, seit 1924, benannt nach dem dort drohten ihr Gefängnisstrafen wegen „Vergehens sich befindenden Elisabethgehölz im ehemaligen gegen das sittliche Empfinden“. Sievekingschen Park Auch innerhalb der Partei blieb Alma War- tenberg sehr umstritten. Als kurz vor dem Ers - Elisabeth Sieveking war die Tochter des Syndikus ten Weltkrieg die Gesetze gegen Verhütungsmit- Dr. Karl Sieveking (siehe Ü Sievekingdamm und tel und das Abtreibungsverbot verschärft werden Sievekingsallee, in Bd. 3 online**) und dessen sollten, erklärte Alma Wartenberg, dass allein Ehefrau Caroline Henriette, geb. de Chapeaurou - die Frau das Recht habe, über ihren Körper und ge (1797–1858). Das Paar hatte sechs Kinder. die Zahl ihrer Geburten zu bestimmen. Entgegen Die Familie lebte auf dem Hammer Hof, einem der offiziellen Parteilinie unterstützte sie inner- Erbe von Caroline Henriette. halb der Sozialdemokratie die heftig debattierte Idee eines „Gebärstreiks“ als Protest gegen den staatlichen „Gebärzwang“, eine Idee, die vor allem bei Arbeiterfrauen auf Zustimmung stieß. In der neuen Republik ließ sich Alma War- tenberg als Abgeordnete für die SPD in das Al- tonaer Stadtverordnetenkollegium wählen und saß ab 1925 als einzige Abgeordnete im schles- wig-holsteinischen Provinziallandtag. 1927 legte sie nach einem Schlaganfall alle Ämter nieder Carl Julius Milde: Kinder des Syndikus Karl Sieveking auf dem Hammerhofe, 2. von links Johanna Elisabeth und starb 1928 im Alter von nur 57 Jahren. Ihr unerschrockenes Engagement für das Siehe auch Ü Sievekingdamm, Hamm-Nord Recht der Frauen auf Selbstbestimmung und seit 1945 und Sievekingsallee, Hamm-Nord, seit 1929: Dr. Karl Sieveking (1787–1847), freien Zugang zu Verhütungsmitteln war weg- Senatssyndikus, in Bd. 3 online**.

weisend und ist immer noch aktuell. v.l.n.r.:Abb. Orth Andrea | Ossietzky/Handschriftensammlung von Carl Universitätsbibliothek und Staats-

* Straßennamen auf unterlegtem Feld verweisen auf Frauenorte, Frau- enarbeiten und -aktivitäten

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 23

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Am Feenteich Nachdem Hamburg Uhlenhorst, seit 1948, benannt nach der angren- 1522 lutherisch gewor- zenden Alsterbucht Feenteich den war, war der Marien- dom bis zu seinem Abriss „Die alten heidnischen Götter und Göttinnen, eine katholische Enklave Stammesvorfahren und PriesterInnen verwan- in Hamburg. delten sich im französischen, deutschen und Im 19. Jahrhundert britischen Volksglauben in ,Feen‘. (…) Walise- kam es im Hamburger rInnen wie Irinnen nannten die Feen ‚Mütter‘ Stadt teil St. Georg zu ei- oder ,Segen der Mutter‘, das Feenland galt ihnen nem Neubau der St. Ma- als das Land der Frauen – eine Reminiszenz an rien-Kirche und zwar im Domkirche St. Marien im Stadtteil St. Georg die matriarchale Gesellschaftsform ihrer Stam- Hinterhof des von Or- mesahnen. (…) Im Book of the Dun Cow be- densschwestern 1861 ge- schrieb die Feenkönigin ihr Reich ,als das Land gründeten Waisenhauses. „Die St. Marien-Kir- des ewigen Lebens, ein Ort, an dem es weder che ist der erste katholische Kirchenneubau in Tod noch Sünde noch Missetaten gibt. Jeder Tag Hamburg seit der Reformation und steht für ein ist ein Festtag. Wir verrichten jedes wohltätige Wiedererwachen katholischen Selbstbewusst- Werk ohne kleinliches Gezänk.‘ (…) Feenhügel seins in der Diaspora.“18) 1995 wurde die St. Ma- galten als Eingänge zum heidnischen Paradies, rien-Kirche zur Domkirche erhoben. das angeblich unter der Erde, dem Wasser oder Zur Namensgeberin des Doms – zur heili- den Hügeln entfernter, irgendwo im westlichen gen Maria: Hamburgs Schutzpatronin hieß nicht Ozean liegender Inseln verborgen war, dort, wo immer Hammonia. Im Mittelalter wachte die die Sonne erlosch.“17) Heilige Maria über Hamburg. Die Herren Senato - ren hatten zu ihr ein sehr enges Verhältnis. Jeden Morgen vor Beginn der Ratssitzung gingen sie in Am Luisenhof die der Heil. Maria geweihten Ratskapelle im St. Farmsen-Berne, seit 1927. Weiblicher Hofname, Marien-Dom auf dem Domplatz, um die Messe benannt nach dem der Straße benachbarten Lui- zu hören und die Heil. Maria um Beistand bei senhof künftigen politischen Entscheidungen zu bitten. Für die damaligen Politiker war Maria die Am Mariendom himmlische Schutzfrau, der man zutraute, einzel- St. Georg, seit 2012, benannt nach dem dortigen nen Menschen, Städten, Ländern und Nationen St. Marien-Dom in weltlichen Belangen wirksam zu helfen. Den Bürgerinnen und Bürgern – so glaubte man – half Der Mariendom wurde im 11. Jahrhundert er- Maria in Nöten und bei Gebrechen. Sie schützte baut, erhielt in den folgenden Jahrhunderten Er- vor Krankheit, Hunger und der Pest. Sie bewegte weiterungen und stand bis zu seinem Abriss im Gott, die Menschen nicht zu bestrafen. Unter Jahre 1806/07 am heutigen „Domplatz“ in Ham- ihrem Mantel fanden die Menschen Zuflucht. burgs Innenstadt, wo sich nun eine Grünfläche Überall in der Stadt Hamburg waren Ma- befindet. rienstatuen zu finden, so etwa in der Nähe des

17) Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen. Ein Lexikon. Frankfurt a. M. 1993, S. 248f. 18) www.mariendomhamburg.de Stand: 26.4.2014. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 24

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Mariendoms auf der Trostbrücke und auch an Geboren wurde Amália Rodrigues 1920 als eines den Stadttoren. Selbst auf zahlreichen Hambur- von zehn Kindern einer armen Familie. Ihr Vater ger Münzen war ihr Portrait abgebildet. Auf dem war Schuster und Musiker. Die Familie stammte silbernen Doppelschilling von 1463 stand sogar: aus einem Bergdorf und versuchte in Lissabon „Conserva nos, Domina – spes nostra virgo Ma- ihr Auskommen zu sichern. Als dies misslang, ria.“ „Erhalt uns Herrin, unsere Hoffnung Jung- kehrte sie zurück, ließ aber die damals vier Mo- frau Maria.“ nate alte Amália bei den Großeltern zurück. Der Hamburger Reformator Johannes Bugen - Erst im Alter von neun Jahren, begann hagen (siehe Ü Bugenhagenstraße, in Bd. 3 onli - Amália die Grundschule zu besuchen. Drei ne**) äußerte sich 1529 über den Marienkult Jahre später erhielt sie ihr Abschlusszeugnis. allerdings wie folgt: „Diese Lobpreisung soll sie Als Amália vierzehn haben. Doch das ist auch genug. Die aber Maria Jahre alt war, zogen die anrufen und aus ihr eine Mittlerin machen, die Eltern mit den Geschwis- uns mit Gott und Christo versöhnen soll, die mö - tern erneut nach Lissabon gen zusehen, womit sie dies verteidigen können.“ und nahmen Amália wie- Auch heute hat die Heilige Maria Bedeu- der auf. Amália musste tung. Der brasilianische Befreiungstheologe Le- nun mithelfen, den kar- onardo Boff wird nicht müde, immer wieder gen Lebensunterhalt der Maria als Anwältin, der nach Gerechtigkeit Hun- Familie aufzubessern und Amàlia Rodrigues gernden anzurufen.19) Und auch für heutige verkaufte mit ihrer Mutter Frauen spielt Maria wieder zunehmend eine und Schwester Obst in den Rolle. Sie ruft jede Frau aufzuwachen, sich zu Docks der Cais da Ro cha im Lissaboner Stadt teil erheben und für die Realisierung ihrer eigenen Alcantara. Würde als Tochter Gottes zu arbeiten. Die kriti- Das Singen war schon früh zu ihrer Leiden- sche Theologin Dorothee Sölle interpretierte schaft geworden. Als sie fünfzehn Jahre alt war, Maria so: „Maria spielt die Rolle einer subversi- war sie in ihrer Nachbarschaft schon eine kleine ven Sympathisantin, die die Macht der Herr- berühmte Sängerin und erntete dafür ersten Lohn schenden zersetzt.“20) in Form von Bonbons. Siehe auch Ü Conventstraße, St. Annenufer, in Mit neunzehn Jahren hatte sie ihr erstes En- diesem Band. gagement als Fado-Sängerin im Nachtclub Retiro Siehe auch Ü Bugenhagenstraße, Altstadt, seit da Severa in Lissabon. 1909: Prof. Dr. Johannes Bugenhagen (1484– 1940 heiratete sie den Gitarristen Francisco 1558), Theologe, Freund Luthers, Reformator, in Bd. 3 online**. da Cruz. Diese Ehe hielt nicht. 1961 ehelichte sie den brasilianischen Ingenieur César Seabra, mit dem sie bis zu seinem Tod 1997 zusammen Amália-Rodrigues-Weg blieb. Bahrenfeld, seit 2003, benannt nach Amália Ro- Amália Rodrigues wurde schnell berühmt. drigues (23. oder 1. Juli 1920 Lissabon–6.10.1999 1943 und 1945 ging sie schon auf Auslandstour- Lissabon), Portugiesische Fado-Sängerin neen. So reiste sie 1945 nach Brasilien und nahm

dort auch ihre erste Schallplatte auf. Es folgten Amália Rodrigues Fundação Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- 20) Klaus Schreiner, a. a. O., S. 8. burg.de/maennerstrassennamen

19) Klaus Schreiner: Maria. Leben, Legenden, Symbole. München 2003, S. 71. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 25

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weitere Tourneen durch Europa und Amerika; im Mai 2003 eine Straße nach Amália Rodrigues, selbst nach Japan und auch weitere Schallplat- um den deutsch-portugiesischen Beziehungen tenaufnahmen. Ihre Anzahl wird auf rund 170 Rechnung zu tragen, die durch zahlreiche kul- geschätzt. Auch wirkte sie in Filmen mit. Späte- turelle und gastronomische Angebote gerade in stens 1956, als sie im L’Olympia, dem damals Hamburg-Altona intensiv gepflegt werden. berühmtesten Varieté-Theater in Paris, auftrat, war sie ein international gefeierter Star. Beson - ders ihre Lieder „Coimbra“ und „Avril au Portu- Amalie-Dietrich-Stieg gal“ wurden ein Welterfolg. Barmbek-Nord, seit 1968, benannt nach Amalie Neben traditionellen portugiesischen Fado- Dietrich, geb. Nelle (21.5.1821 Siebenlehn/Sach- Liedern gehörten auch Flamencostücke, italieni- sen– 9.3.1891 Rendsburg), Botanikerin, For- sche und französische Schlager und Jazzlieder schungsreisende, Kustodin des Museums für zu ihrem Repertoire. Viele be kannte portugiesi- Natur- und Völkerkunde in Hamburg sche Dichter und Komponisten schrieben Lieder für sie. Nach alten Stadtplänen muss das Kontorhaus Musikalisch war sie unumstritten. Ihre un- der Firma Godeffroy (siehe Ü Godeffroystraße, in politische Haltung gegenüber der Diktatur Sala - Bd. 3 online**) gegenüber dem heutigen Spei- zars, unter dessen Einparteiensystem es z. B. cher W in der Hamburger Speicherstadt gestan- Streikverbot, Pressezensur sowie Einschränkung den haben, bevor es 1886 im Zuge des Baus der des Versammlungsrechts gab und Oppositionelle Speicherstadt der Spitzhacke zum Opfer fiel. von der Geheimpolizei ins Gefängnis gebracht Hier konnte man in den 1870-er Jahren die Na- oder auch ermordet wurden, wurde ihr aller- turforscherin Amalie Dietrich treffen, deren Le- dings häufiger übel genommen. Auf der anderen bensarbeit das „Museum Godeffroy“ bewahrte. Seite arbeitete sie aber auch mit erklärten Regime - „Wir Aeltere kennen sie ja noch alle, die be- gegnern zusammen, und als 1966 ihr Freund scheidene Frau in dem dürftigen Kleide, mit dem Alain Oulman von der Geheimpolizei verhaftet verwetterten Gesicht und den gescheiten, so worden war, setzte sie sich für ihn ein und es überaus guten Augen, die ständige Zuhörerin gelang ihr, ihn frei zu bekommen und ins Aus- unserer öffentlichen Vorlesungen in den achtzi- land zu bringen. ger Jahren, die fleißige Arbeiterin an den Samm- Amália Rodrigues, die – wie ein portugiesi- lungen des Museums Godeffroy und des Bota- scher Politiker zu ihrem Tod schrieb – „Stimme nischen Museums. Über ihre eigenen Schicksale Portugals“, wurde 1999 als bisher einzige Frau hörte man manches; vielerlei daran in der Form im Pantheon neben bedeutenden portugiesischen alberner und herzlos verdrehter und weiter ver- Politikern und Künstlern beigesetzt. Zu vor war breiteter Legenden; einer so seltsamen Frau, die anlässlich ihres Todes eine dreitägige Staatstrau - ein Jahrzehnt lang das Leben eines Hinterwäld- er ausgerufen und der damals laufende Wahl- ners geführt hatte (...), der konnte Herz- und kampf für diese Zeit eingestellt worden. Verständnislosigkeit manches anhangen. Wer Der Bezirk Altona, in dem viele der in Ham- sich aber um die Wahrheit über Frau Dietrich burg lebenden Portugiesinnen und Portugiesen bekümmerte – und ihr beredtester Anwalt war eine zweite Heimat gefunden haben, benannte unser Neumayer –, der fand für manche Eigen-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 26

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art und Absonderlichkeit der Frau die Erklärung den Apotheker und Naturaliensammler Wilhelm in ihrer Lebensgeschichte“, schrieb der haupt- August Salomon Dietrich. Der kenntnisreiche amtliche Kustos des Hamburger Zoologischen Mann, der mit Professoren und Studenten der Museums, Dr. Johann Georg Pfeffer, am 27. No- Forstakademie Tharandt und Seminaristen und vember 1909 im „Hamburgischen Correspon- ihren Lehrern Exkursionen in den Zellaer Wald denten“ anlässlich des Erscheinens des Buches machte und mit den Hauslehrern der benach- „Amalie Dietrich. Ein Leben erzählt von Chari- barten Güter verkehrte, leitete auch seine junge tas Bischoff“. Doch bereits 1912 äußerte der Frau zum Pflanzen- und Insektensammeln an. Direktor des Botanischen Gartens in Melbour - Bald beherrschte die gelehrige Schülerin die Er- ne, J. H. Maiden, Zweifel an der Wahrheit der stellung von Herbarien, das Trocknen, Bestim- von Amalie Dietrichs Tochter Charitas Bischoff men, Aufkleben und Beschriften der Pflanzen (1848–1925) (siehe Ü Charitas-Bischoff-Treppe, in ebenso wie den Umgang mit Kunden und ihren diesem Band) aufgezeichneten Lebensgeschich- Bestellungen. Als Anschauungsmaterial waren te, die ein Bestseller geworden war, der auch in Herbarien bei Universitäten und wissenschaft- Schulen gelesen und immer wieder aufgelegt lichen Instituten, Schulen, Apotheken, Botani- wurde; zuletzt auf Betreiben von Anna Seghers schen Gärten, aber auch bei Privatgelehrten und und Günter Wirth 1979 in der DDR: „Jeder, der Sammlern begehrt. Das Interesse an unbekann- das australische Leben und die Flora kennt, wird ten Pflanzen war groß und das Ordnen der Fülle feststellen, dass die Briefe, wie sie publiziert seit Carl von Linné (1707–1778) zum Hauptziel worden sind, von einer Person stammen, die der Botanik geworden. Dennoch war das Leben Australien nicht gesehen hat.“21) Diese Zweifel des Paares finanziell und körperlich beschwer- wurden von der australischen Forscherin Ray lich. Und als Wilhelm Dietrich mit dem aus Sumner bestätigt, die 1988 nachwies, dass die guten Gründen entlassenen Hausmädchen nach Briefe zahlreiche botanische Fehlinformationen Berlin reiste, floh Amalie Dietrich mit ihrer klei- enthalten, die Amalie Dietrich nicht unterlaufen nen Tochter Charitas zu ihrem Bruder Karl nach wären. Stattdessen entdeckte Ray Sumner zum Bukarest. Bei dem angesehenen Handschuhma- Teil wörtliche Zitate aus dem populären Buch cher hätte sie ein sorgenfreies Leben gehabt, „Unter Menschenfressern“ von Carl Sophus aber es trieb sie nach Hause zurück, und die ge- Lumholtz. Aber nicht nur die angeblich authen- meinsame Arbeit begann aufs Neue. Doch schon tischen Briefe von Amalie Dietrich sind erfun- bald zog Wilhelm Dietrich sich von den wo- den, auch der übrige Text erscheint häufig wie chenlangen, anstrengenden Fußmärschen im- die Projektion einer unglücklichen, bei fremden mer mehr zurück. 1857 reiste Amalie Dietrich Leuten herumgereichten Tochter. Dennoch wird zum ersten Mal alleine. Elf Wochen lang wan- bis zum heutigen Tage immer wieder – wenn derte sie mit ihrem Hund Hektor, dem sie einen auch mit aller Vorsicht – aus dem Buch zitiert Handwagen vorspannte, bergauf und bergab und so die Sichtweise Charitas Bischoffs auf ihre durchs Salzburger Land, um seltene Alpenpflan- Eltern weitergetragen. zen zu sammeln. Als sie 1861 von einer Reise 1846 heiratete die Nellen Malle, wie die nach Holland, wo sie Meerespflanzen gesam- Tochter des Beutlermeisters Gottlieb Nelle aus melt hatte, wegen eines schweren Nervenfiebers dem sächsischen Siebenlehn genannt wurde, verspätet zurückkam, hatte Wilhelm Dietrich

21) Zit. aus dem Anhang von: Amalie Dietrich: Ein Leben erzählt von Chari- tas Bischof. Mit einem Nachwort hrsg. Von Günther Wirth. Berlin 1977. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 27

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sich beim Grafen Schönberg als Hauslehrer ver- burg“. Geworben wurde dafür in der „Flora“: dingt. Er glaubte, seine Frau sei gestorben. Man „Ausgabe I enthält sämtliche Farren und Poly- trennte sich zum zweiten Mal. petalen, außerdem die Monochlamyden und Auf einer Verkaufsreise nach Hamburg lern - Gamope talen, von Prof. Dr. H. G. Reichenbach te Amalie Dietrich durch einen ihrer Kunden, fil. bestimmt. Es können Sammlungen bis cirka den Kaufmann Dr. Heinrich Adolf Meyer (sie- 350 Arten geliefert wer- he Ü Meyerstraße, in Bd. 3 online**), Johan Cesar den und ist der Preis Godeffroy kennen. Der wohlhabende Kauf mann einer Centurie auf zehn und Kryptogamenspezialist Dr. Heinrich Adolf Thaler preuss. Crt. fest- Meyer hatte sich ihrer angenommen und sie an gesetzt.“ Und nach Aus - den Überseehändler Caesar Godeffroy vermit - tralien schrieb Godeffroy telt, der ein Museum für Natur- und Völkerkun - am 31. Dezem ber 1868 de errichten wollte. drängend: „Frau Amalie Der „König der Südsee“, wie er genannt Diet rich! Wir schrieben wurde, besaß umfangreiche Sammlungen aus Ih nen am 3. ds. lfd. eine Amalie Dietrich Naturalien und ethnographischen Objekten, die Abschrift und empfingen er an fänglich von seinen Kapitänen, später auch seitdem Ihren lieben Brief vom Lake Elphinstone von speziell zu diesem Zweck engagierten For- vom 29. August. Sie scheinen dort recht fleißig schern und Sammlern zusammentragen ließ. zu sein und viel zu sammeln, was uns große Die zunächst auf einem Speicher seines Kon- Freude macht und sehen wir verlangend Ihren torhauses eingelagerten Sammlungen ließ Go- Sendungen entgegen. deffroy 1860/61 von dem jungen Naturforscher Die Herren Rabone Jeez (oder Feez – unle- Eduard Graeffe aus Zürich ordnen und machte serlich. G. W.) u. Co. in Sydney melden uns mit sie öffentlich zugänglich. Amalie Dietrich erbot uns. Schiffe ‚Cesar Godeffroy‘ 4 Kisten von Ihnen sich, für ihn zu arbeiten. Und während die Toch- an uns abgeschickt zu haben, die Herren erwäh- ter unter der Obhut des Ehepaares Dr. Meyer in nen aber nicht der lebenden Eidechsen. Hamburg zurückblieb, landete Amalie Dietrich Mit der ‚Viktoria‘ sandten wir, wie auch be- am 7. August 1863 auf dem Segelschiff „La Ro- reits früher berichtet, ein ansehnliches Quantum chelle“ in Brisbane. Verpackungsmaterial aller Art für Sie an die Her- Zehn Jahre lang sollte sie die Nordostküste ren B. Amsberg u. Co. und werden wir mit dem Australiens erforschen und Pflanzen, Tiere und ersten Frühjahrsschiffe eine ferner große Sen- ethnographisches Material sammeln, präparie- dung an Sie abrichten. ren und nach Hamburg schicken. Allein in der Wir werden überhaupt dafür sorgen, daß Umgebung von Brisbane sammelte sie über 600 Sie nie Mangel an Material haben und verspre- Pflanzen in so vielen Exemplaren, dass Caesar chen wir uns viel von Ihren Forschungen am Godeffroy nach drei Jahren Herbarien zum Ver- Lake Elphinstone und dessen Umgebung. Zu viel kauf erstellen lassen konnte: „Neuholländische können Sie uns nicht senden, also nur immer Pflanzen, gesammelt von Amalie Dietrich am tapfer gesammelt, und Sie müssen besonders Brisbane river, Col. Queensland im Auftrage den Süßwasserfischen und Krebsen Ihre Auf-

Abb.: Amalie-Dietrich-Gedenkstätte Siebenlehn Abb.: der Herren Joh. Ces. Godeffroy & Sohn in Ham- merksamkeit schenken.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 28

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Der Katalog IV [1864–1884 erschienen in 14 Tochter Charitas. Krieger dagegen werden sehr Heften 9 Verkaufskataloge aus Doubletten] macht feierlich in Baumwipfeln aufgebahrt. Die Urein- immer noch viel Arbeit. Über die Hälfte ist aber wohner fürchten, daß ihre toten Angehörigen in bereits gedruckt und zu Anfang Februar wird er Europa weiße Männer werden und als solche sicherlich fertig sein. Der Katalog wird über schwer arbeiten müssen. Sie begraben sie jetzt 7.000 Nummern enthalten, wovon Sie wohl den versteckt in flachen Hügeln, ‚häufig in Ameisen- dritten Teil geliefert haben. Für den folgenden haufen, vor deren Eingang sie dann einige große Katalog liefern Sie hoffentlich die Hälfte, so muß Steine legen‘.“23) Amalie Dietrich nahm auch ge- es kommen, gute Frau Dietrich! trocknete menschliche Haut der Aborigines mit Ihre Vogelbälge sind schon recht gut und wer - nach Hamburg.24) den Sie ferner bemüht bleiben, es noch immer 1873 kehrte Amalie Dietrich auf der „Susan- besser zu machen. Zum Jahreswechsel senden ne Godeffroy“ nach Hamburg zurück – im Ge- wir Ihnen unsere besten Glückwünsche und grü- päck einen Keilschwanz und einen australischen ßen Sie aufs freundlichste Joh. Ces. Godeffroy.“22) Seeadler, die sie dem Zoo schenkte. Sie erhielt Neben H. G. Reichenbach, dem Direktor des im „Museum Godeffroy“ eine Anstellung auf Le- Botanischen Gartens in Hamburg, bestimmten benszeit und betreute ihre Sammlungen. renommierte Wissenschaftler aus , Halle, Als Joh. Ces. Godeffroy & Sohn 1879 auf Berlin, Kopenhagen und London die Ausbeute Grund fehlgeschlagener Investitionen in Minen- von Amalie Dietrichs Expeditionen. Immer wie- aktien Konkurs anmelden mussten, wurden die der wurden dabei auch Pflanzen oder Tiere nach Sammlungen des Museums verkauft, die Samm- ihr benannt wie Drosera dietrichiana, der Son- lung Dietrich dabei auseinander gerissen. „Das nentau, oder die Wespenarten Nortonia amaliae Naturhistorische Museum zu Hamburg über- und Odynerus dietrichianus. Zum Teil verlief die nahm die zoologische Sammlung (…), später Bestimmung der von Amalie Dietrich gesammel- auch die Mineralien und die Schädel und Ske- ten Objekte allerdings auch recht schleppend, so lette. Waffen, Geräte, Kanus kaufte das Museum dass viele von ihr entdeckte Pflanzen anderen für Völkerkunde Leipzig. (…) Amalie Dietrich Sammlern zugeschrieben wurden, auch wenn zog in ein städtisches Stift. Das Botanische Mu- diese sie erst später mitgebracht hatten. seum stellte sie als Kustodin ein. Doch als sie zu Amalie Dietrich erhielt von Herrn Godeffroy einem Kongreß der Anthropologischen Gesell- auch den Auftrag, Schädel und Skelette der aus- schaft in Berlin fuhr, ließ der Pförtner sie nicht tralischen Ureinwohner mitzubringen. Um an ins Gebäude – für Frauen verboten. Sie blieb am die Knochen und Schädel heranzukommen, ließ Eingang, gab nicht nach, schließlich holte er den Amalie Dietrich Grabstätten von Aborigine plün- Vorsitzenden der Gesellschaft. Die Forscher fei- dern und sogar einen Aborigine erschießen. erten sie stehend mit Ovationen.“25) „Amalie Dietrich stiehlt für Cesar [Godeffroy] Die anthropologische Sammlung von Ama- Leichen von Totenbäumen und von Friedhöfen. lie Dietrich wurde im Zweiten Weltkrieg ver- Kinderskelette könne sie leicht bekommen, ‚denn nichtet. Erhalten blieben die Katalogzettel. Auch die Leichen der Kinder werden meist nur in die zoologische Sammlung erlitt erhebliche Ein- einem hohlen Baum gesteckt, der mit rot und bußen. Hamburg erwarb die Herbarien, die zoo-

weißer Farbe bestrichen wird‘, schreibt sie ihrer logische Sammlung sowie Reste der ethnogra- 00092342 Nr. zu Berlin/Christine Kösser, bpk/Staatsbibliothek Abb.:

22) Zit. aus dem Anhang, a.a.O. tory/articles/turnbull.htm – The Elec- tions, by Paul Turnbull, Department 23) Gabriele Hoffmann: Das Haus tronic Journal of Australian and New of History and Politics, James Cook an der Elbchaussee. Die Godeffroys – Zealand History, Ancestors, not Spe- University of North Queensland, P. O. Aufstieg und Niedergang einer Dynas- ciments: Reflections on the Contro- Q4811. Freundlicher Hinweis von tie. Hamburg 1998, S. 299 und S. 435. versy over the Remains of Aboriginal HMJoniken. 24) http://www.jcu.edu.au/aff/his- People in European Scientific Collec- 25) Gabriele Hoffmann, a.a.O. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 29

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phischen Sammlung. Auch hier wurde vieles im Burg/Fehmarn–25.9.1858, laut Brockhaus, Sche- Krieg zerstört. Erhalten blieb vor allem das Her- nectady/New York), Erzählerin, Redakteurin und barium des Botanischen Museums, das heute im Autorin von Frauenratgebern. Gönnerin Friedrich Institut für Allgemeine Botanik verwahrt wird, Hebbels und die entomologische Sammlung im Zoologi- schen Institut. Amalie Schoppe entstammte einer Arztfamilie und Die größte Ehrung, die Amalie Dietrich ver- verlebte eine glückliche Kindheit, in der sie sich mutlich zuteil wurde, war die Ernennung zum voll entfalten durfte. Doch als sie sieben Jahre ordentlichen Mitglied des entomologischen Ver- alt war, starb ihr Vater. Die Mutter konnte sie eins in Stettin im Jahre 1867. Frauen konnten in aus finanziellen Gründen nicht behalten und dieser Zeit eigentlich noch kein Mitglied in wis- gab ihre Tochter zu einem Onkel nach Hamburg. senschaftlichen Vereinen werden. Dort ging es Amalie nicht gut. Sie wurde von Die „Acacia Dietrichiani“ und die „Bonomia ihrem Onkel – einem „Lüstling“ und Trinker Dietrichiana“ sowie zwei Algenarten wurden misshandelt und vernachlässigt. Sie flüchtete nach ihr benannt. sich in die Literatur – drei Bücher hatte sie zur Amalie Dietrich starb am 9. März 1891 an Verfügung, die sie immer einer Lungenentzündung, als sie bei ihrer Toch- wieder las – schließlich ter in Rendsburg zu Besuch weilte. begann sie selbst Gedich- Wesentlicher Text: Brita Reimers te zu schreiben. Doch Siehe auch Ü Charitas-Bischoff-Treppe, Traun- selbst Papier wurde ihr weg, in diesem Band. nur knapp zugeteilt. Siehe auch Ü Godeffroystraße, Blankenese, vor 1803 konnte Amalie 1928: Joh. Caesar Godeffroy (1813–1885), Ree- endlich zurück zu ihrer der, Kaufmann. Präses der Handelskammer (1845), Mitglied der Hamburgischen Bürger- Mutter, denn diese, die schaft (1859–1864); Kolonialakteur, in Bd. 3 zu vor als Haushälterin online**. bei einem Kaufmann ge- Siehe auch Ü Meyerstraße, Heimfeld, seit 1890: arbeitet hatte, war nun Amalie Schoppe Heinrich Christian Meyer (1832–1886), Stock- mit diesem verheiratet, so fabrikant, Kolonialakteur, in Bd. 3 online**. dass sie in die Lage versetzt war, ihre Tochter in das neue Heim zu holen. Nachdem der Stiefva- Amalienstraße ter sein Vermögen in den Napoleonischen Krie- Harburg, seit 1875, benannt nach Amalie Wenst- gen verloren hatte, nahm die fünfzehnjährige hoff, geb. Kort, Frau des Kaufmanns Ludwig Amalie Schoppe 1806 eine Hauslehrerinnen- Wensthoff stelle an und sorgte fortan für sich selbst. Ein Jahr zuvor hatte die damals Vierzehn- jährige ihren künftigen, vier Jahre älteren, Ehe- Amalie-Schoppe-Weg mann, den Juristen Friedrich Heinrich Schoppe Barmbek-Nord, seit 1930, benannt nach Emma kennengelernt. Er war ganz vernarrt in sie, sie Sophie Katharina Amalia Schoppe, geb. Weise, jedoch liebte ihn nicht, gab aber schließlich Pseudonym: Adalbert von Schonen (9.10.1791 doch seinem Drängen nach und verlobte sich

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 30

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heimlich mit ihm. Diese Verlobung gab sie auch was sie war – nur eine rein geistige, nur eine dann nicht auf, als sie sich wirklich in einen welche die Redlichkeit und Pflicht gebot‘.“28) Mann verliebte. Amalie Schoppe kehrte erst 1817 nach Ham- 1809 erlebte die 17-jährige Amalie Schoppe burg zurück und verließ ihren Ehemann wenige einen ganz besonderen Sommer. Dazu schreibt Zeit später wieder. Allerdings hatte diese Zeit Hargen Thomsen: „Der aus (…) Ludwigsburg ausgereicht, um ein zweites Mal schwanger zu stammende Justinus Kerner (…) kam im Mai werden. Dieser zweite Sohn kam am 18. Mai 1809 nach Hamburg, um bei seinem Bruder 1818 zur Welt. Georg, der hier als Armenarzt angestellt war, ein Dann erfolgte erneut eine Trennung vom Praktikum zu absolvieren. Er lernte dort den Ehemann. Amalie Schoppe versuchte nun, mit gleichaltrigen Assur/Assing kennen und traf ihrer Freundin Fanny Tarnow in Wandsbek eine [Karl August] Varnhagen wieder (…). Dieser Mädchenschule zu gründen. Doch dieses Vorha- brachte aus Berlin Adalbert von Chamisso [sie- ben scheiterte, weil das Zusammenwirken mit he Ü Chamissoweg, in Bd. 3 online**] mit und Fanny Tarnow nicht gelang. Amalie Schoppe ver mittelte die Bekanntschaft zu seiner Schwes- hatte Schulden aufgenommen, um die Schule ter Rosa Maria, die wiederum ihre um acht Jahre einzurichten und stellte Fanny Tarnow kostenlos jüngere Freundin Amalia in den Kreis einführte. eine Wohnung zur Verfügung. Doch diese war (…) [Amalie Schoppe] war [nun] Mitglied einer mehr an sexuellen Affären interessiert als am Grup pe junger Menschen, die sich als poetische Zustandekommen der Schule und war – wie Wi derstandsgruppe gegen eine trostlos prosai- Amalie Schoppe schreibt – „der Großsprecherei sche Zeit verstand und in der es die üblichen ge- zugethan und log, daß ihr völlig der Dampf aus sellschaftlichen Barrieren zwischen Stand, Reli- dem Halse stieg“.29) gion, Herkunft und Geschlecht nicht geben So blieb Amalie Schoppe auf einem Berg sollte.“26) Schulden sitzen und sah in dieser Situation 1813 flüchtete Amalie Schoppe nach Feh- keine andere Möglichkeit, als zu ihrem Ehe- marn, denn sie war unverheiratet schwanger mann zurückzukehren. Sie blieben ein Jahr zu- und gebar dort am 7. Juli 1813 ihren Sohn Carl sammen, und der dritte Sohn Alphons wurde Adalbert. Der Kindsvater war Friedrich Heinrich am 17. Februar 1821 geboren. Über den weiteren Schoppe. Das Kind war nicht das Ergebnis einer Fortgang ihrer Ehe schreibt Amalie rückbli- Liebesnacht, denn, so Amalie Schoppe, „nicht ckend: „Ein feiles Geschöpf gewann endlich sein eine Stunde der Lust und der Vergessenheit Herz gänzlich – er verließ mich und unsre drei setzte es ins Dasein, sondern eine körperliche Kinder, die ich jetzt vom Ertrage meiner Schrif- Hinfälligkeit von meiner Seite“.27) ten ernährte; später konnte ich ihn noch unter- Nun war sie moralisch gezwungen, den un - stützen, als er mich um Hülfe bat. Er hat, trotz geliebten „Kindsvater“ zu heiraten. „Die Ehe seiner Verirrungen, nie aufgehört, mich zu lie- wurde am 19. August 1814 in Burg vollzogen – ben, zu achten; seine Buhlerin musste sogar, oder vielmehr nicht vollzogen, ‚denn er hatte seltsam genug, meinen Vornamen annehmen. mir versprechen müssen, noch die Nacht über An seinem 40sten Geburtstag, den 7. Juli 1829, den Sund zu gehen, damit in den Augen der ging er heiter und glücklich zur Elbe, um, was Welt unsre Verbindung auch als das erschiene, er im Sommer täglich that, zu baden, und vor

** Band 3 online unter: www.ham- destag S. 12f. unter: www.hargen- 29) Zit. nach Hargen Thomsen, burg.de/maennerstrassennamen thomsen.de/.../Amalia+Schoppe,+au a.a.O., S. 20. s+Hebbel-Jb+2008.pdf 26) Hargen Thomsen: „Ich bin auf 27) Zit. nach Hargen Thomsen, einen verlorenen Posten gestellt wor- a. a. O., S. 18. den.“ Amalia Schoppe zum 150. To- 28) Ebenda. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 31

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den Augen des Knaben, der seine Kleidung am suchten mich zugleich, meine Sendungen nicht Ufer bewachte, erfaßte ihn ein Krampf und zog länger an die Redaktion, sondern an Sie selbst zu ihn in die Tiefe hinab, (…). Seine Maitresse adressieren. So knüpfte sich zwischen Ihnen und brachte mir die Todesbotschaft.“30) mir nach und nach ohne vorhergegangene per- Amalie Schoppe wurde eine sehr produk- sönliche Bekanntschaft ein Verhältnis an. (…) tive Schriftstellerin. So war sie die Autorin der Sie kamen mir menschlich und freundlich Schrift „Briefstellerin für Damen“, die in der entgegen und gaben mir Versprechungen, die zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in jeden gut ich, so fern auch die Erfüllung lag, noch jetzt situierten Haushalt gehörte Ab 1822 veröffent- gern als wahre Wohltaten anerkenne, da sie mir lichte sie fast jährlich Erzählungen und Romane. eine Perspektive eröffneten (…). Sie schrieb für über vierzig Journale, u. a. für Inzwischen waren Sie tätig für mich, ohne das Morgenblatt für gebildete Stände, für die Erfolg irgendeiner Art. Endlich meldeten Sie mir, Dresdner Abendzeitung, für die Zeitschrift für Sie hätten Aussichten zum Studieren für mich die elegante Welt. Sie verfasste mehr als 130 und teilten mir das Tatsächliche, daß das Fräu- Unterhaltungsromane, meist für das weibliche lein Jenisch, jetzige Frau Gräfin von Redern, Publikum, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbü- hundert Taler hergeben wolle und daß außer- cher und Sagen. Daneben gab sie u. a. die Pari- dem noch ein paar Beiträge aus Tönning sowie ser Modeblätter (1827–1845) und die Jugend- aus Hamburg zu erwarten stünden, mit. (…) zeitschrift „Iduna“ (1831–1839) heraus. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, hatte Als Redakteurin hatte sie den Schriftsteller äußerlich und innerlich viel erlebt und durfte Friedrich Hebbel (siehe Ü Hebbelstraße, in Bd. 3 mich selbständig fühlen. Welcher Art aber waren online**) kennengelernt, den sie förderte und des- die Verhältnisse, in die ich jetzt eintrat? Jeder sen Gedichte sie in ihrer Zeitschrift „Neue Pariser Unparteiische, der sie prüft, wird bekennen, daß Modeblätter“ abdrucken ließ. Mit ihrer Hilfe lebte sie sehr trübe waren. Den Bedienstetentisch in Hebbel zwischen März 1835 und März 1836 in Wesselburen vertauschte ich mit den Freitischen Hamburg. Sie verschaffte ihm ein kleines Stipen- bei allerlei Leuten, den schlechten Tisch also mit dium. Doch fünf Jahre später kam es zu einem dem Gnadentisch. Auf einer Schulbank, wo schweren Zerwürfnis zwischen den beiden. Er Knaben saßen, mußte ich, da ich mich Ihren An- brach schließlich mit ihr, weil er sich durch sie ordnungen nicht widersetzen durfte, mir einen verletzt fühlte. So schrieb er am 25. Mai 1840 an Platz gefallen lassen, um Dinge zu treiben, die, sie: „Aus Dithmarschen sandte ich an die Redak- wenn ich sie nicht auf Gravenhorsts, meines tion der ‚Neuen Pariser Modeblätter‘ mehrere Ge- Freundes und Lehrers, diktatorischen Imperativ dichte. Sie nahmen dieselben auf und sprachen beiseite geworfen hätte, mir das gründlicherere sich in Ihrem Blatt über diese Gedichte auf eine, Studium des Lateins, worauf doch zunächst dem damals sehr jungen Verfasser schmeichelnde alles ankam, unmöglich gemacht haben würden. Weise aus. (…) Was von mir einging, wurde ge- Als ich indes die Mathematik aufgab, machte der druckt, war also willkommen. Bald erhielt ich von Mann, dessen Stunden ich notgedrungen ver- Ihnen einen Brief, worin Sie mir über meine Pro- säumte, mir auch den Tisch bei sich unleidlich. duktion mehr Freundliches sagten, als sie in ihrer Ein anderer meiner Gönner, in dem Sie mir embryonischen Gestalt verdienen mochten. Sie er- einen Ihrer erprobten vieljährigen Hausfreunde

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

30) Hargen Thomsen, a.a.O., S. 21. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 32

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vorstellten, war plötzlich als S… berüchtigt, so ckenden lag in den Umständen und war als ein daß ich sein Haus mit Abscheu und Ekel fliehen unumgänglich Notwendiges, wenn auch nicht mußte. Ein dritter, Wilhelm Hocker, mir früher leicht, so doch leichter zu tragen; der größere als rein und hochbegabt angepriesen, war aus Teil ging von Ihrer Willkür aus und wäre bei ei- Ihrer Gunst gefallen; desungeachtet bestimmten niger Rücksicht von Ihrer Seite zu vermeiden ge- Sie mich, von ihm die versprochenen zehn Taler wesen. sowie einen Tisch bei seinen Eltern anzuneh- Sie haben mir durch das Vorbereitungsjahr men und mich einem Menschen, dessen Bild Sie geholfen, aber nicht weiter; an meinem eigent- auf der einen Seite nicht nachteilig genug aus- lichen Studieren haben Sie, was dennoch die zumalen wußten, auf der andern zu verpflich- ganze Welt zu glauben scheint, keinen Anteil. ten. So in den meisten Stücken das Widersin- (…)“31) nige, was Mut, Lust und Erfolg aufhob und mich Hargen Thomsen schreibt über dieses Zer- zu Menschen, die ich nicht kennen konnte und würfnis, dass Amalie Schoppe „(…) mit vielen die sich nachher als kleinlich oder wie der an- derjenigen, die sie zunächst zu unterstützen geführte S… als verächtlich auswiesen, in die versuchte, später in Streit geriet. (…) Aber das- bedenklichste aller Stellungen brachte, in die selbe gilt (…) auch für Hebbel, dessen Biogra- unfreie des für Armseligkeiten zu Dank Ver- phie ebenfalls durchsetzt ist mit Streitigkeiten schuldeten. (…) Außerdem muteten Sie mir zu, und großen Abrechnungen. (…) Was die Heftig- daß ich, der Sparsamkeit wegen, die paar Trop- keit des Temperaments angeht, waren die bei- fen Milch, die ich täglich brauchte, in eigener den sich durchaus ebenbürtig, und es ist schade, Person über die Straße holen und auch wohl je daß Amalias Antwort auf Hebbels große Ankla- zuweilen einen kleinen Eßwarenrest mitnehmen geschrift sich nicht erhalten hat. Daß es eine sol- mußte und für Hochmut wurde es mir ausge- che Antwort gegeben hat, ergibt sich aus einem legt, wenn ich diese Indelikatessen, durch die Begleitbrief an einen unbekannten Adressaten ich vor der ganzen Nachbarschaft zum Bettler vom 8. Juni 1840 und in diesem spricht sie gestempelt worden wäre, wenn Sie nicht schon davon, daß Hebbel ‚noch weit empfindlicher vor meiner Ankunft mich dem Stadtdeich durch gegen Beleidigungen ist, als ich es bin‘. (…)“32) mehrere bei Ihnen aus- und eingehende Perso- 1842 zog Amalie Schoppe mit ihrer Mutter nen als solchen angekündigt hätten, auch nur nach Jena. Dies war, wie Hargen Thomsen mit einer Miene zurückzuweisen wagte. Dieses schreibt, „mehr eine Flucht vor den Problemen alles ist tatsächlich, ja stadtkundig. Raisonne- in Hamburg“.33) In Hamburg war 1833 ihr Sohn ments [Einwendungen, Urteil] will ich mir nicht Carl gestorben, 1840 ihre Freundin Rosa Maria erlauben, aber ich will jedes Herz fragen, ob ein Assing und ihr zweiter Sohn hatte mit ihr ge - Mensch und noch dazu einer, in dem das stets brochen. Dieser verschwand nach Java, „wo er mit unendlicher Sensibilität verbundene, dich- 1847 an einem Fieber starb“.34) terische Talent vorwaltet, sich in einer gleichen Aber auch in Jena war Amalie Schoppe vom oder auch ähnlichen Lage wohlfühlen kann. Unglück verfolgt. 1843 starb ihre Mutter und Daß ich mich aber nicht wohlfühlte, war in 1844 erhielt sie „die Nachricht, daß ihr jüngster Ihren Augen ein Verbrechen, dies ist ebenfalls Sohn Alphons in Hamburg wegen Unter schla - tatsächlich. Ein Teil des Drückenden und Ersti- gungen verhaftet wurde“.35)

31) Zitiert nach: Diethard H. Klein: 35) Ebenda. Hausbuch der Hansestädte. Freiburg im Breisgau 1983, S. 242ff. 32) Hargen Thomsen, a.a.O., S. 5f. 33) Hargen Thomsen, a.a.O., S. 26. 34) Ebenda. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 33

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Amalie Schoppe kehrte 1845 zurück nach Amalie-Sieveking-Weg Hamburg und kümmerte sich um ihren Sohn, Volksdorf, seit 1957, benannt nach Amalie Sieve- der bis 1850 inhaftiert blieb. king (25.7.1794 Hamburg–1.4.1859 Hamburg), Als 1848 die bürgerliche Revolution aus- gründete 1832 den weiblichen Verein für Armen- brach, unterstützte und befürwortete Amalie und Krankenpflege diese demokratische Bewegung und schrieb und veröffentlichte darüber. Amalie Sieveking war eine Senatorentochter und „Nach dem Scheitern der Revolution war -enkelin. Ihre Eltern starben früh und hinterlie- ihre Energie aber keineswegs erschöpft. Sie ßen kein Vermögen. Nach dem Tod der Eltern schloß sich dem ‚Frauenverein für Armenpflege‘ wurde Amalie von ihren beiden Brüdern ge- und ihrer Gründerin Charlotte Paulsen an (…), trennt und kam zu Verwandten, bei denen sie war mit den Planungen für die ‚Hochschule für den kranken Sohn des Hauses pflegen und durch das weibliche Geschlecht‘ beteiligt (…).“36) (Sie- Handarbeiten und de ren he auch Ü Bertha Traun bei Traunweg, in diesem Verkauf zu ihrem Lebens- Band.) unterhalt beitragen muss- Nachdem ihr Sohn 1850 aus der Haft ent- te. In diesem Haushalt lassen worden war, wanderte er nach Amerika wurde Amalie vertraut ge- aus. 1851 folgte Amalie Schoppe ihrem Sohn Al- macht mit Religion und phons in die USA. Über ihre Beweggründe äu- Frömmigkeit. ßerte sie: „Es duldet mich nicht länger in dem Ihre berufliche Lauf- verwitterten und verfaulten Europa, und mit bahn führte sie in die pä- den letzten Atemzügen will ich die Freiheit in dagogische Richtung. Sie Amalie Sieveking mich einsaugen, für die ich lebte, strebte und beteiligte sich an der 1815 litt.“37) In Amerika gab sie, um etwas Geld zu gegründeten Freischule für Mädchen und rich- verdienen, befreundeten Frauen Unterricht in tete eigene Schulkurse ein. Durch sittliche und Deutsch und Französisch. religiöse Erziehung wollte sie die Mädchen zu „Der Ruhm der einstigen Erfolgsschriftstel- tüchtigen Hausfrauen und Müttern erziehen. lerin verblaßte bald, und nur die Rolle, die sie „Umschreibend gestand sie sich im Tage- in Hebbels Biographie spielt, sicherte ihr ein buch geheime Sehnsüchte ein, die glücklichste kleines Stückchen Unsterblichkeit und einige Erfüllung jeder Frau an der Seite eines geliebten Zeilen in den Enzyklopädien.“38) Mannes zu erreichen. Später beteuerte sie, an Siehe auch Ü Elise-Lensing-Weg, Geliebte von Gelegenheit habe es ihr nicht gefehlt, es wird Friedrich Hebbel, in diesem Band. aber nicht klar, worin die Barriere bestand, ob Siehe auch Ü Chamissoweg, Nienstedten, seit in ihrem eckigen, schroffen Wesen und ihrer 1936: Adalbert von Chamisso (1781–1838), wenig charmanten Erscheinung oder in ihrer fi- Dichter und Naturforscher, in Bd. 3 online**. nanziellen Blöße? Darüber grübelte Amalie Sie- Siehe auch Ü Hebbelstraße, Uhlenhorst, seit veking nicht weiter, sondern rang sich die Dis- 1899: Friedrich Hebbel (1813–1863), Dichter, in Bd. 3 online**. ziplin ab, je länger desto entschiedener das Faktum der Ehelosigkeit anzunehmen und es ins

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: Positive zu wenden. Als sie mit sich darüber im

** Band 3 online unter: www.ham- 38) Hargen Thomsen, a. a. O., S. 4. burg.de/maennerstrassennamen

36) Hargen Thomsen, a.a.O., S. 29f. 37) Zit. nach: Hargen Thomsen, a.a.O. S. 3. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 34

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Reinen war, bekannte sie sich nachdrücklich zu lang inne – den ersten Besuch bei der empfoh- dem allgemein verspotteten und gewiss nicht er- lenen Armenfamilie. strebenswerten sozialen Stand der ‚alten Jung- Amalie Sievekings Helferinnen kamen aus fer‘.“39) „Ihr Vetter Karl Sieveking [siehe ÜSieve- dem gehobenen Bürgertum, hatten genügend kingdamm und Sievekingsallee, in Bd. 3 online**], Zeit und auch die finanzielle Unabhängigkeit, der ihre Liebe nicht erwiderte, blieb zeitlebens sich unentgeltlich solch einer Tätigkeit zu wid- ihr Freund und Berater.“40) men. Voraussetzung für die Aufnahme in den Religiös wurde Amalie Sieveking durch Pas- Kreis der Helferinnen war eine evangelische tor Rautenberg (siehe Ü Rautenbergstraße, in Bd. 3 Glaubenshaltung und die Überzeugung, dass online**) und Karl Sieveking in die Gemein- der Unterschied zwischen Arm und Reich gott- schaft der Erweckten (Erwecktenbewegung) ein- gewollt sei. Arme sollten als Unmündige ange- geführt. „Die Elemente ihres ‚lebendigen‘ Glau- sehen werden, denen durch Mitgefühl und Zu- bens waren Sünde, Buße, Versöhnung, Heilung, spruch geholfen werden sollte. Sie erhielten Erleuchtung. So sehr sich Amalie zur Gemein- Naturalien, Kleidung, Haushaltungsgegenstände schaft mit diesen Menschen hingezogen fühlte, und es wurde ihnen Arbeit vermittelt. Finan- so wach blieb ihre Kritik. Über die Erleuchtung zielle Unterstützung bekamen die Armen nur schrieb sie: ‚Ist sie nicht nur der Schimmer einer selten. Wer besonders fromm war, erhielt zu- trügerischen Aufklärung, die ihre Fackel nur ge- sätzliche kleine Zuwendungen. „Die bestehende zündet am Licht der eigenen Vernunft ?‘“41) Kluft zwischen Armen und Reichen meinte sie Die Hinwendung zur Armenpflege war die [Amalie Sieveking] in persönlicher Zuwendung Folge ihrer Entscheidung, ehelos zu bleiben. Es zu den Unterschichten überbrücken zu können, erwuchs der Plan, ähnlich den katholischen indem sie auf die Gleichheit aller Menschen vor Frauenorden, eine Gemeinschaft von Protestan- Gott hinwies. Gleichwohl nahm sie ‚ihren‘ Armen tinnen zu gründen. Der Ausbruch der Cholera gegenüber eine paternalistische Haltung ein, so in Hamburg im Jahre 1831 gab den entschei- wie sie auch den Verein für Armen- und Kran- denden Ausschlag, auf dem Gebiet der tätigen kenpflege hierarchisch gliederte. Die ständisch Nächstenliebe zu arbeiten. Amalie Sieveking verfasste Gesellschaftsordnung galt ihr als gott- meldete sich als Pflegerin in der Cholera-Qua- gewollt. Aus dieser sozialkonservativen Über- rantäne des St. Ericus-Hospitals; beließ es je- zeugung heraus hielt sie alle demokratischen doch nicht beim Pflegen der Kranken, sondern Ansätze und gar revolutionären Umstürze für machte sich an die Organisation des chaotischen friedensgefährdend.“42) Krankenhauswesens und entwarf gleichzeitig 1840 gründete sie ein Armenwohnstift, das die Statuten für einen zu gründenden Weib- Amalienstift, welches neun Wohnungen und ein lichen Verein für Armen- und Krankenpflege. Kinderkrankenhaus mit zwei Zimmern und vier- Armen, die unschuldig in Armut geraten waren, zehn Betten enthielt. Die ehrenamtlichen Helfe- sollte geholfen werden. So genannte verwahr- rinnen kontrollierten die Stiftsbewohnerinnen loste Arme erhielten keine Zuwendung. und -bewohner. Hielten diese sich nicht an die Um sich über den Zustand der Armen ins strenge Hausordnung, besuchten nicht die täg- Bild zu setzen, machte Amalie Sieveking als Ver- lichen Andachten, schickten ihre Kinder nicht einsvorsteherin – diese Position hatte sie 27 Jahre regelmäßig zur Schule oder hielten ihre Woh-

** Band 3 online unter: www.ham- king. O. O. 2005, S. 72. (Hamburgi- a.a.O., S. 82. burg.de/maennerstrassennamen sche Lebensbilder in Darstellungen 41) Ulrich Heidenreich, Inge Grolle, und Selbstzeugnissen. Hrsg. vom Ver- a.a.O., S. 80. 39) Ulrich Heidenreich, Inge Grolle: ein für Hamburgische Geschichte, 42) Ulrich Heidenreich, Inge Grolle, Wegbereiter der Diakonie. Johann Bd. 18.) a.a.O., S. 66. Wilhelm Rautenberg, Amalie Sieve- 40) Ulrich Heidenreich, Inge Grolle, Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 35

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nung nicht genügend sauber, mussten sie mit Jenseits richtete. (…) Mit Beklemmung beobach - Strafe rechnen. tete Amalie Sieveking, wie attraktiv für Frauen „Das von ihr begründete Werk lebt bis heute die deutsch-katholische Bewegung war. In deren fort in einer Stiftung, die ihren Namen trägt. Das Zukunftsentwürfen wurde der Weiblichkeit eine Verwaltungsgebäude befindet sich in dem 1840 erlösende Funktion zugeschrieben; die Befrei- erbauten ‚Ersten Amalienstift‘ in der Stiftstraße ung der Menschheit aus den Fesseln weltlicher 65. Hier und in drei weiteren benachbarten Häu- und geistlicher Herrschaft sollte mit der Eman- sern in St. Georg – Minenstraße 11, Alexander- zipation des Weibes beginnen. In den neu gebil- straße 28 und Brennerstraße 77 – wohnen 165 deten freikirchlichen Gemeinden erhielten Frau- bedürftige Menschen zu den günstigen Bedin- en volle Mitbestimmungsrechte. gungen der Stiftung. (…) Die Trägerschaft lag bis Im Spätherbst 1846 entstand in Hamburg 1978 beim ‚Weiblichen (Sievekingschen) Verein eine deutsch-katholische Gemeinde. Um ihr die für Armen- und Krankenpflege‘ und ging dann Finanzierung eines Predigers und des Gottes- auf die Nachfolgeeinrichtung, die ‚Amalie-Sieve- dienstraums zu gewährleisten, bildeten Ham- king-Stiftung‘ über. Die Zweckbestimmung der burger Frauen aus gutbürgerlichen Familien um Einrichtungen als Wohnstifte ist unter veränder- Emilie Wüstenfeld und Bertha Traun [siehe Ü ten Zeitläuften erhalten geblieben. Traunweg, in diesem Band] einen Unterstützungs- Im Gedenken an die von Amalie Sieveking verein“44) gegründete Krankenpflege ist auch das Kranken- Amalie Sieveking verurteilte u. a. Bertha haus in Volksdorf benannt worden,“43) schreibt Trauns und Emilie Wüstenfelds Einstellung zur die Historikerin Inge Grolle. Auch wird Amalie Ehe. Dass Bertha Traun sich scheiden ließ und Sieveking mit einem Medaillon in der Rathaus- Emilie Wüstenfeld diesen Schritt guthieß, sogar diele geehrt. selbst Scheidungsabsichten hegte, stieß nicht Von der 1848 ausbrechenden bürgerlichen nur bei Amalie Sieveking auf heftige Kritik. Revolution hielt Amalie Sieveking überhaupt Amalie Sievekings Armenverein wurde zu nichts. Sie empfand es als völlig widersinnig, einer festen Institution der hamburgischen Ar- der Arbeiterschicht zu erklären, dass diese sich menpflege und von den wohlhabenden Bürgern selbst aus ihrem Elend befreien solle. Demokra- Hamburgs mit reichen Spenden bedacht. Viele tie bedeutete für Amalie Sieveking Anarchie. Städte in Deutschland und im Ausland gründe- Ebenso war sie wenig begeistert von der sich im ten ähnliche Vereine. Zuge der bürgerlichen Revolution formierenden Siehe auch Ü Con vent staße, Elise-Averdieck- religiös-demokratischen Glaubensbewegung, die Straße, Traunweg, Wichernsweg, in diesem gegen Priesterherrschaft und engen Dogmatis- Band. mus anging. Diese Bewegung „erschien ihr in Siehe auch Ü Rautenbergstraße, St. Georg, seit 1899: Johann Wilhelm Rautenberg (1791– höchstem Maße verderblich. Denn die Anhän- 1865), Pastor in St. Georg, in Bd. 3 online**. ger beriefen sich auf eine Religion der Humani- Siehe auch Ü Sievekingdamm, Hamm-Nord, tät, auf ein von traditionellen Dogmen gelös tes seit 1945 und Sievekingsallee, Hamm-Nord, Christentum der Tat, das allein auf Mitmensch- seit 1929: Dr. Karl Sieveking (1787–1847), lichkeit im Hier und Jetzt baute und sich vehe- Senatssyndikus, Cousin von Amalie Sieveking, in Bd. 3 online**. ment gegen die Vertröstung auf ein ungewisses

** Band 3 online unter: www.ham- a.a.O., S. 115ff. Vgl. auch: Inge Hamburg 1997. burg.de/maennerstrassennamen Grolle: „Auch Frauen sind zulässig“. Die Frauensäule in der Hamburger 43) Ulrich Heidenreich, Inge Grolle, Rathausdiele, in: Rita Bake, Birgit a.a.O., S. 64. Kiupel: Auf den zweiten Blick. Streif- 44) Ulrich Heidenreich, Inge Grolle, züge durch das Hamburger Rathaus. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 36

36 Biographien von A bis Z / A

Amandastraße Anita Rée war eine Fremde in der Welt. Der Ma- Eimsbüttel, seit 1865. Vermutlich frei gewählter lerkollege Friedrich Ahlers-Hestermann erinnert Name sich an ihr Leben im Elternhaus: „Darüber schwebte ihre Malerei als eine seltsame Land- schaft, ebenso wie – später – oben auf dem Dach- An der Marienanlage boden sich ihr Atelier befand als ein fremder Marienthal, seit vor 1907, benannt nach einer und zu diesem Hause eigentlich nicht gehöriger hier sich befunden habenden Lehmkuhle, die Raum, ein Raum, der gar nicht so sehr günstig nach der Zuschüttung in eine Grünanlage umge- zum Malen war, für sie aber doch nun das ei- wandelt wurde und die nach dem Stadtteil Ma- gentliche Lebenszentrum wurde. Als sie ihn hatte rienthal benannt war aufgeben müssen, hat sie ihn beklagt wie einen unersetzlichen Toten.“47) Als das Haus am Als - Siehe zur Frage der Namensherkunft „Marien- terkamp 13, ihr Refugium, einziger wirklicher thal“ unter Ü Marienthaler Straße, in diesem Band. Halt in einer Welt, in der sie sich nicht zurecht- Nach Michael Pommerening soll „als sicher an- finden konnte, verkauft wurde, lebte sie in stän- genommen werden, dass die Bezeichnung der dig wechselnden Wohnungen, ärmlich und möb- Marienanlage (…) ihren Ursprung in dem Na- liert, ohne dass ihre finanziellen Verhältnisse das men der ältesten Tochter [des Grundstückspe- erfordert hätten. Schließlich floh sie 1932 nach kulanten Johann Carstenn] haben dürfte“.45) Sylt, wo sie am 12. Dezember 1933 ihrem qual- Siehe auch Ü Marienthaler Straße, in diesem vollen Leben mit Veronal ein Ende setzte. Band. Geboren wurde Anita Rée am 9. Februar 1885 als zweite Tochter des jüdischen Kaufman- Angelikaweg nes Israel Rée, der im Deutsch-Französischen Fuhlsbüttel, seit 1946. Frei gewählter Name Krieg gekämpft, als Unterhändler fungiert und bei der Reichsgründung 1871 die deutsche Staats bürgerschaft erhalten hatte. Die Mutter Anita-Rée-Straße war Anna Clara Hahn, die in Venezuela geboren Bergedorf, seit 1984, benannt nach Anita Rée und katholisch erzogen worden war. (9.2.1885 Hamburg–12.12.1933 Kampen auf Die beiden Mädchen, Emilia und Anita, Sylt), jüdische Malerin der Hamburger Sezession. wuchsen als „höhere Tochter“ in einer kultivier- Motivgruppe: Verdiente Frauen ten Sphäre liberalen Bürgertums auf. Sie gingen Stolperstein vor dem Wohnhaus Fontenay 11. auf eine Privatschule und wurden protestantisch getauft und konfirmiert. „Mein Schmerz, dieser wühlende, nicht zu lin- 1905 wurde Anita Rée Schülerin des Ham- dernde Schmerz, wird grösser von Tag zu Tag burger Malers Arthur Siebelist. Er unterhielt seit und untergräbt meine Gesundheit.“46) Diese 1899 eine Malschule, in der Anita Rée die Frei- Klage, die Anita Rée am Silvestertag des Jahres lichtmalerei und die klassischen Genres lernte. 1930 an Emmy Ruben richtet, kennzeichnet kei- Doch bald stellten sich die immer wieder an ihr nen vorübergehenden Zustand, sie könnte als nagenden Zweifel an ihrem Können ein, auch

Leitmotiv über ihrem gesamten Leben stehen. hielt sie die Ausbildung bei Siebelist für unzu- 68. Abb. 242, S. 1985, Hamburg 1897, von Künstlerclub Hamburgische Der Meyer-Tönnesmann, Carsten Aus: Abb.:

45) Michael Pommerening: Wands- Staats- und Universitätsbibliothek Georg Heise, Friedrich Ahlers-Hester- bek. Ein historischer Rundgang. 2. er- Hamburg. Handschriftenabteilung. mann, Fritz Schumacher und Gustav weiterte u. vollständig überarbeitete 47) Hildegard und Carl Georg Heise Pauli. Hamburg 1969. Vgl. auch: Auflage. Hamburg o. J., S. 66. (1. Aufl. (Hrsg.): Anita Rée 1885 Hamburg Maike Bruhns: Leben und Werk einer erschienen 2000.) 1933. Ein Gedenkbuch von ihren Hamburger Malerin 1885–1933. Ham- 46) Mappe „Nachlass Ruben“. Freunden, mit Beiträgen von Carl burg 1986. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 37

Biographien von A bis Z / A 37

reichend. Ihre Versuche, auswärts einen Lehrer Eltern. Die einzige längere Unterbrechung war zu finden, schlugen fehl. Max Liebermann (sie- 1916 ein Aufenthalt in Blankenheim in Thürin- he Ü Liebermannweg, in Bd. 3 online**) bestätigte gen in einer Erholungsstätte für Künstler und sie zwar in ihrer Begabung, nahm sie jedoch nicht Wissenschaftler. 1913 nahm Anita Rée an einer als Schülerin an. Daraufhin schloss sie sich 1910 Ausstellung bei Commeter teil, gehörte fortan dem Siebelist-Schüler Franz Nölken (sie he Ü Nöl- zur Hamburger Avantgarde. Gustav Pauli, der da- kensweg, in Bd. 3 online**) an, der gerade aus malige Direktor der Hamburger Kunsthalle, er- Paris zurückgekommen war, wo er bei Matisse ge - warb bereits 1915 Arbeiten der jungen Malerin arbeitet hatte, und malte mit ihm zusammen in für die Kunsthalle. Sie wurde Gründungsmitglied seinem Atelier. Nölken, der ein leidenschaftli- der Hamburgischen Sezession und stellte selbst cher Pädagoge war, freute regelmäßig aus. Der dreijährige Aufenthalt in Po- sich zunächst, in Anita sitano in Italien von 1922 bis 1925 wurde für sie Rée jemanden gefunden zum Schlüsselerlebnis. Hier verfestigte sich ihre zu haben, dem er die neu zunächst vom Impressionismus und dann von erworbenen, ihn völlig den französischen Malern Cézanne und Matisse er füllenden Erkenntnis se beeinflusste Malerei zu einem neusachlichen und Überlegungen mit- Stil. Sie wurde bekannt, erhielt nach ihrer Rück- teilen konnte. Anita Rée kehr nach Hamburg zahlreiche Portraitaufträge wurde in den elitär ge- sowie um 1930 von Fritz Schumacher (siehe Ü sinnten Kreis ehemaliger Fritz-Schumacher-Allee, in Bd. 3 online**) Aufträge Siebelist-Schüler der ers- für zwei Monumentalwerke. Das Wandbild der ten Generation, zu dem „klugen und törichten Jungfrauen“ in der Gewer- Anita Rée Nölken und Ahlers-Hes- beschule für weibliche Angestellte in der Ufer- ter mann gehörten, aufge - straße wurde 1942 zerstört, während das in der nommen, die eigentlich auf ihre, die zwei te Gene- Oberrealschule für Mädchen in Hamm in der ration, he rabsahen, glaubten sie doch zeitweilig, Caspar-Voght-Straße gemalte „Orpheus und die sie sei en die neue Generation, von Lichtwark da- Tiere“ heute noch zugänglich ist. zu bestimmt, den Hamburgischen Künstlerclub Mehrere Auszeichnungen (35 zu Lebzeiten, von 1897 abzulösen, eine Kontinuität hamburgi - davon sieben Einzelausstellungen) mit unge- scher Maler zu verbürgen und Lichtwarks Ideen wöhn lich guten Kritiken und hohe Preise doku - reiner zu verkörpern als der Künstlerclub mit sei- mentie ren ihre erstrangige Stellung. Die Maler- ner überwiegend landschaftlichen Betätigung. kollegen und -kolleginnen, das Ehepaar Friedrich Doch bald fühlte sich Nölken in seiner Freiheit Ahlers-Hestermann und Alexandra Povorina, bedroht. Er reiste ab und ließ eine tief gekränkte Alma del Banco (siehe Ü Del-Banco-Kehre, in die- Anita Rée zurück. Im Winter 1912/13 ging sie, sem Band) und Gretchen Wohlwill (sie he Ü Gret- angeregt durch die Erfahrungen Nölkens und chen-Wohlwill-Platz, in diesem Band) waren eben- Ahlers-Hestermanns, nach Paris und wurde Schü - so ihre Freunde wie Magdalene und Gustav Pauli, lerin von Fernand Léger. Hildegard und Carl Heise, Nachfolger von Gus- Von 1913 bis 1922 lebte sie dann als frei- tav Pauli als Direktor der Kunsthalle, Ida und Ri- schaffende Künstlerin in Hamburg im Haus ihrer chard Dehmel (siehe Ü Richard-Dehmel-Straße, in

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 38

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Bd. 3 online**) und die Familie Warburg (sie- Lesenswertes, das man sonst nie zu Gesicht he Ü Warburgstraße, in Bd. 3 online**). Doch we- bekommt, aber auch so viel Tiefergreifendes, der der berufliche Erfolg noch der große Freun- Trostloses enthält, daß ich beim Lesen dieses deskreis, in dem sie zuweilen ausgelassen und entsetzlichen Aufsatzes aus Berlin bitterlich ge- fröhlich war, konnten ihr zerrissenes Wesen hei- weint habe. Diese Dinge bringen mich um alle len. Hinzu kam das Scheitern der Liebe zu dem Fassung; ich kann mich in so einer Welt nie Buch händler und Künstler Christian Selle, die mehr zurechtfinden und habe keinen einzigen ihren Aufenthalt in Italien begleitet hatte. Sie en- anderen Wunsch, als sie, auf die ich nicht mehr dete 1926 ebenso unglücklich wie die unerwider - gehöre, zu verlassen. Welchen Sinn hat es – te frühe Liebe zu Franz Nölken und die zu dem ohne Familie und ohne die einst geliebte Kunst Hamburger Kaufmann Carl Vorwerk Anfang der und ohne irgendeinen Menschen – in so einer 1930-er Jahre. Die Kompromisslosigkeit und Ver- unbeschreiblichen, dem Wahnsinn verfallenen letzbarkeit Anita Rées wird in folgender Episode Welt weiter einsam zu vegetieren und allmäh- besonders deutlich: Als die auch von Gretchen lich an ihren Grausamkeiten innerlich zugrun- Wohlwill als „katastrophal“ empfundene Jury der dezugehen? (…) Wenn ich nicht ans Sterben Sezessionsausstellung von 1927 ihr Bild „Wei ße denke (und Muttis Todestag verdoppelt diese Bäume“, das sie für ihr bestes hielt, nicht aus- Sehnsucht) so kenne ich nur noch den einen, stellen wollte, zog sie alle Bilder zurück, stellte ständigen Gedanken: fort, fort aus diesem Land! bis 1932 gar nicht mehr in der Sezession aus Aber wohin?? Und wo ist es besser?? (…) Den und auch dann nur ein einziges Bild. Töchtern herzliche Grüße von Deinem jetzt Das Aufkommen nationalsozialistischer Ten- ganz weißhaarigen, nicht wiederzuerken nen den denzen kann ihr Weltverhältnis nur bestätigt Reh.“49) ha ben. 1932 wurde ihr für den Neubau der Ans- Die aparte, exotisch aussehende Frau, die garkirche in der Langenhorner Chaussee gemal- ebenso liebenswürdig und bezaubernd wie tes Altarbild aufgrund „kultischer Bedenken“ schwer mü tig, unglücklich und hart sein konnte, vom Kirchenvorstand der Ansgargemeinde ab- setzte ihrem Leben am 12. Dezember 1933 ein gelehnt. Im selben Jahr verlor sie ihre Wohnung Ende. Liest man die einfühlsamen Worte des in der Badestraße. „Ich musste da zu meinem Freundes Gustav Pauli an ihrem Grab, so wird größten Kummer das Zimmer aufgeben, wusste einmal mehr deutlich, dass ihr, wie Heinrich in meiner Not nicht wohin mit all meinen Sa- von Kleist in seinem eigenen Abschiedsbrief an chen, (die nun sehr provisorisch im Keller la- die Schwester schreibt, „auf Erden nicht zu hel- gern) u. da ich in Hbg. Keine Bleibe mehr hatte, fen war“: „Dem praktischen Leben und seinen begab ich mich hierher in tiefste Einsamkeit und Forderungen stand sie hilflos gegenüber, so hilf- ohne je zu malen oder daran zu denken“,48) los, daß sie schließlich das Leben fürchtete. – Im schreibt sie am 14. November 1932 von Sylt aus Norden geboren, doch südlichen Geblüts, ver- an Emmy Ruben. Ein Jahr später, am 2. Dezem- zehrte sie sich in Sehnsucht nach Sonne und der ber 1933, zehn Tage vor ihrem Suizid, heißt es heiteren Sorglosigkeit des Lebens südlicher Völ- in einem Geburtstagsbrief an eine Schweizer ker. Und doch liebte sie das Leben. Wir wissen Freundin: „Ich bin Dir sehr, sehr dankbar, daß es, sie konnte froh sein mit den Fröhlichen, Du mir die Basler Zeitung schicktest, die sowohl scherzen und lachen bis zur Ausgelassenheit

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

48) Mappe „Nachlass Ruben“, a.a.O. 49) Zit. nach: Maike Bruhns, a. a. O., S. 172. Biographien von A bis Z / A 39

und auf Stunden vergessen, was im Grunde Anita Sellenschloh be kam die Möglichkeit, ihrer Seele als Schwermut ruhte.“50) die damalige „Reformschule“ in der Telemann- Die Kunsthalle besitzt die größte Sammlung straße, die die Selbstständigkeit und individuelle der Arbeiten Anita Rées. Entwicklung der Schülerinnen und Schüler för- Text: Brita Reimers derte, zu besuchen. Siehe auch Ü Del-Banco-Kehre, Gretchen-Wohl- Im Alter von sechzehn Jahren trat sie zu- will-Platz, Rosa-Schapiere-Weg, in diesem nächst den „Falken“, der sozialistischen Arbei - Band. terju gend, bei, wechselte aber bald zum Kommu- Siehe auch Ü Fritz-Schumacher-Allee, Langen- nistischen Ju gendverband Deutschlands (KJVD), horn, seit 1920: Prof. Dr. Fritz Schumacher (1869–1947), Oberbaudirektor, in Bd. 3 on- nahm an Demonstrationen teil, spielte politi- line**. sches Straßentheater, so in der Agit-Prop-Truppe Siehe auch Ü Liebermannstraße, Othmarschen, „Rote Kolonne“ und lernte in dieser Zeit Kurt seit 1947: Max Liebermann (1847–1935), von Appen (siehe Ü Von-Appen-Straße, in Bd. 3 Maler, Radierer, Graphiker, in Bd. 3 online**. on line**) kennen. Die beiden verliebten sich in- Nölkensweg, Siehe auch Ü Barmbek-Nord, seit einander und verlobten sich. 1927: Franz Nölken (1884–1918), Maler, in Bd. 3 online**. Im Rahmen ihrer Tätigkeit im KJVD wurde Siehe auch Ü Richard-Dehmel-Straße, Blanke- Anita Sellenschloh 1929 ausgewählt für eine De- nese, seit 1928: Richard Dehmel (1863–1920), legation in die Sowjetun - Schriftsteller, in Bd. 3 online**. ion. „Vier Monate arbeite - Siehe auch Ü Warburgstraße, Rotherbaum, seit te sie in einer Leningra- 1947: Max Warburg (1867–1946), Bankier, in der Zi garettenfabrik und Bd. 3 online**. fand en gen Kontakt zu den russischen Arbeiterin- Anita-Sellenschloh-Ring nen. Zu dieser Zeit schien Langenhorn, seit 2002, benannt nach Anita Sel- ihr Traum von einer sozia- lenschloh (26.12.1911 Hamburg–4.11.1997 Ham- len Gleichheit in der Sow- burg), Lehrerin, Widerstandskämpferin gegen jetunion verwirklicht: Sie den Nationalsozialismus schlief mit der Be triebs - leiterin in einem kleinen Anita Sellenschloh Anita Sellenschloh war die Tochter eines Eims- Zimmer auf dem Fabrik- büttler Bäckers, der wegen einer schweren gelände und fühlte sich wie in einer Familie auf- Kriegsverletzung, die er sich im Ersten Weltkrieg genommen.“51) zugezogen hatte, seinen Beruf nicht mehr ausü- Zurück in Deutschland wurde sie 1930 beauf- ben konnte und die meiste Zeit arbeitslos war. tragt „mit dem Aufbau der Antifa-Jugend in Ham - Anita wuchs in sehr armen Verhältnissen auf. burg. Sie sammelte in dieser Tätigkeit wichtige Der Verdienst der Mutter als Straßenbahn-Kas- Er fahrungen, die zu ihrem klugen Verhalten in siererin reichte nicht aus, um die Familie zu er- der illega len Arbeit während der NS-Zeit beige- nähren. So musste Anita bereits als Kind mit - tragen haben. arbeiten. Die Familie wohnte damals in der Obwohl Anita 1928 nach der mittleren Reife

Abb.: Privatbesitz Petra Fabig Fabig Petra Privatbesitz Abb.: Satoriusstraße und später am Rellinger Weg. die Aufnahmeprüfung für eine Ausbildung als

** Band 3 online unter: www.ham- Freunden, mit Beiträgen von Carl 1986. burg.de/maennerstrassennamen Georg Heise, Friedrich Ahlers-Hester- 51) Rundbrief 1998 der Willi-Bredel- mann, Fritz Schumacher und Gustav Gesellschaft, Geschichtswerkstatt 50) Hildegard und Carl Georg Heise, Pauli. Hamburg 1969. Und: Maike e. V. a.a.O. Und: Anita Rée 1885 Hamburg Bruhns: Leben und Werk einer Ham- 1933. Ein Gedenkbuch von ihren burger Malerin 1885–1933. Hamburg Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 40

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Sozialarbeiterin als Zweitbeste bestanden hatte, entlang und pfiff dieses Lied. Ich ging dann an be kam sie keine Ausbildungsstelle: ein frühes, das Zellen fenster, und so konnten wir uns sehen po litisch motiviertes Ausbildungsverbot. Erst nach und heimlich zuwinken. Natürlich war es verbo- dem Zweiten Weltkrieg konnte sie Lehrerin wer- ten und ich mußte sehr aufpassen. Aber irgend- den. Zwanzig Jahre lang hielt sie sich mit Jobs wie schafften wir es immer. (…) Das letztemal als Bürokraft in den unterschiedlichsten Ham- sah ich ihn vom Zellenfenster aus …‘ Während burger Betrieben über Wasser. Die einzige poli- Anita von diesem letzten Blick, den beide tausch - tisch interessante Tätigkeit war ihre Arbeit im ten, spricht, sucht sie Fotos heraus. ‚Nur wenige Verlag ‚Der Arbeitslose‘ unter dem Chefredakteur Fotos sind mir geblieben.‘ Sie bewahrt sie sorg- Hermann Beuck. Die Zeitung mit dem Untertitel fältig in einem wunderschönen Holzkästchen ‚Kampforgan der Erwerbslosen, Pflicht- und Für- auf. ‚Eine Intarsien arbeit. Kurt hat sie mir ge- sorgearbeiter‘ sollte die Arbeitslosen politisch in- macht – eine kunstvolle Arbeit. Er war ein her- formieren und aktivieren, gleichzeitig umfaßte vorragender Kunsttischler.‘ In diesem Kästchen sie einen umfangreichen Inseratenteil. hütet sie auch seine Briefe.“53) Nach Verbüßung seiner Haft in der Festung Sofort nach ihrer Freilassung schrieb und Bergedorf traf Anita in der Redaktion auch Willi verteilte sie wieder Flugblätter und unternahm Bre del, der Artikel für die Zeitung verfaßte. Kuriertätigkeiten zwischen verschiedenen Wi- Ende 1931 wurde der Hamburger Verlag auf- derstands gruppen. gelöst und die Anzeigenwerbung in Berlin zen- 1937 wurde Anita Sellenschloh erneut ver- tralisiert. (…) Vier bis fünf Akquisiteure besorg- haftet. Nachdem die Gestapo erfahren hatte, ten aus dem ganzen Reich Anzeigen, meist von dass sie Briefe aus Spanien er halten hatte, wo- kleinen Geschäftsleuten. In der Verwaltung ar- hin Kurt von Appen gegangen war, um dort in beiteten acht bis neun Mitarbeiter. Anita leite te den inter na tio na len Brigaden gegen den Fa- zusammen mit Martha Bleckmann die Mahnab- schismus zu kämp fen, teilte „ihr der Chef der teilung. Hier arbeitete Anita mit der Hamburge- Gestapo, Kraus, mit zynischem Lächeln mit: rin Lucie Suhling [siehe Ü Lucie-Suhling-Weg, in ‚Kurt von Appen ist vor Madrid gefallen.‘ Sie diesem Band] zusammen. Zwischen den beiden wird abgeführt – in eine dunkle Einzelzelle ge- entwickelte sich eine enge Freundschaft, (…).“52) sperrt und weiß nicht, soll sie glauben, was er Nach der Machtübernahme der Nationalso- sagte, oder ist es eine Lüge, um sie einzuschüch- zialisten im Januar 1933 wurde die Zeitung ver- tern. Sie ist 25 Jahre alt und will es nicht glau- boten und Anita Sellenschloh kehrte nach Ham- ben.“54) Doch Kurt kam nicht zurück. Er starb burg zurück. Bis 1943 wurde sie neun Mal 1936 im Spanischen Bürgerkrieg. verhaftet, während der Verhöre im „Stadthaus“ 1943 heiratete sie den Gewerbeoberlehrer – dem Gestapo- Hauptquartier – brutal misshan- Sellenschloh, ein politisch Gleichgesinnter. Das delt und mehrere Male inhaftiert. Paar bekam eine Tochter. Aus dem durch die Das erste Mal wurde sie im Juni 1933 ver- Bombenangriffe schwer zerstörten Hamburg haftet und kam in Einzelhaft ins UG Hamburg: floh Anita Sellenschloh mit ihrem Baby aufs „‚Kurt und ich hatten einen Liedanfang. Ich saß Land nach Schleswig-Holstein. im obersten Stockwerk in der Zelle. So oft es Nach Kriegsende absolvierte Anita Sellen- möglich war, kam Kurt unten die Wallanlagen schloh eine Ausbildung im Seminar von Anna

52) Rundbrief 1998, a.a.O. 53) Gerda Zorn: Rote Großmütter, gestern und heute. Köln 1989, S. 28f. 54) Gerda Zorn, a. a. O., S. 29 Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 41

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Siemsen (sie he Ü Anna-Siemsen-Gang, in diesem Ausschluß traf sie tiefer als alle Erniedrigungen Band) zur Lehrerin, ein langgehegter Berufs- in der NS-Zeit: grundlos von den eigenen Freun- wunsch. Ab 1948 unterrichtete sie an der Fritz- den und Genossen geschnitten zu werden, ist Schumacher-Schule, bis sie 1952 an der Volks- weit schlimmer als zu wissen, wofür man kämpft und Realschule Am Heidberg Lehrerin wurde. und Opfer auf sich nimmt. Trotzdem blieb Anita Hier arbeitete sie bis zu ihrer Pensionierung bis zu ihrem Tode eine überzeugte Kommunis- 1974. In dieser Zeit war sie für fast zwei Jahre tin.“56) (1952–1954) mit ihrer Tochter „zu ihrem seit Nach ihrer Pensionierung widmete sie sich 1947 in La Paz/Bolivien lebenden kranken Mann verstärkt ihrem sozialen Engagement, trat als (…) gezogen. Anita lehrt – in der deutschen Ko- Zeitzeugin an Schulen und Universitäten auf, lonie, einem Hort von aus Deutschland geflohe- war eine der Gründerinnen der Willi-Bredel-Ge- nen, ‚ausgewanderten‘ Nazis – an der deutschen sellschaft e. V., Mitglied bei der Vereinigung der Schule. (…) Die Familie kehrt nach Deutschland Verfolgten des Naziregimes (VVN), und Mitglied zurück, die Eltern trennen sich. des Auschwitz-Komitees. Anita Sellenschloh vertieft ihre Zuneigung zu Siehe auch Ü Anna-Siemsen-Gang, Lucie-Suh- ihrem alten (Schul-)Freund Albert-Ali-Bedekow, ling-Weg, in diesem Band. der selbst 3 Jungen in die neue Lebensgemein- Siehe auch Ü Von-Appen-Straße, Eidelstedt, schaft einbringt. Ali ist Verfolgter des Naziregi- seit 1996: Kurt von Appen (1910–1936), Kunst- tischler aus Stellingen, in Bd. 3 online**. mes, war Häftling im KZ Sachsenhausen (…). Ali ist leidenschaftlicher Lehrer an der Peter-Petersen-Schule. Voller Engagement wid- Annaberg men sich beide ihrer pädagogischen Arbeit, sit- Billstedt, seit vor 1938. Frei gewählter Name zen nächtelang zusammen, besprechen ihren Unterricht (…), unterstützen sich gegenseitig. Im Zentrum stehen die ihnen anvertrauten Anna-Hollmann-Weg Schülerinnen und Schüler und das große soziale Blankenese, seit 1942. Romanfigur aus Gustav Engagement beider. Frenssens Roman „Der Untergang der Anna Holl- Diese gegenseitige Unterstützung und ge- mann“, Berlin 1912 [siehe zur Person Gustav meinsame Planung wird immer wichtiger, denn Frenssen in Bd. 1 im Kapitel: Straßennamen als mit der Verschärfung des Kalten Krieges bläst Spiegel der Geschichte: Der Umgang mit der der Gegenwind für mutige, engagierte und ge- nationalsozialistischen Vergangenheit.] schichtsbewusste Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen immer stärker. Ansätze zur Aufar- Der Roman, der in der zweiten Hälfte des 19. beitung des Holocaust, offene Diskussionen über Jahr hunderts spielt, behandelt eine tragische den Nationalsozialismus sind verdächtig.“55) Schicksalsgeschichte. Er beginnt mit dem Tod ei - „Eine bittere Erfahrung mußte sie mit ihrer nes jungen Blankeneser Seemanns, der auf dem eigenen Partei machen: 1951 wurde sie aus der Dampfer „Anna Hollmann“ der Reederei Holl- KPD ausgeschlossen. Ihr angebliches Vergehen mann erkrankt und stirbt. gegen die Parteidisziplin: eine nicht ‚genehmig - Das Schiff befördert Menschen aus Meck- te‘ Fahrt zu Genossen nach Dänemark. Dieser lenburg, die vor der dort wieder eingeführten

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

55) http://www.grundschule-am- heidberg.de/anita-sellenschloh.html 56) Rundbrief 1998, a.a.O. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 42

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Leibeigenschaft fliehen oder von der Strelitzer Ab- den. Guldt klärt ihn daher genau über die Miss- teilung zur Unterstützung der Südstaaten in den stände auf. amerikanischen Bürgerkrieg beordert wurden. Als die Anna Hollmann dennoch in der Bis- Als die schlechten Unterbringungsmöglich- caja sinkt – verschuldet durch ihren schlechten keiten und Arbeitsbedingungen auf den Holl- Zustand und die mangelnden Sicherheitsvorkeh- mann-Schiffen bekannt werden, verlagert die rungen –, verliert Guldt seinen Glauben an Gott. Reederei ihre Aktivitäten in den 1870-er Jahren Der Bootsmann und die gesamte Mannschaft auf den Trans port afrikanischer Sklaven nach sowie der junge Hans Hollmann sterben, Guldt Brasilien – auch dort war Sklaverei zu diesem verliert sein Bewusstsein und als Folge dessen Zeit punkt schon verboten. Die Hollmanns sind in sein Gedächtnis. Letzteres findet er zwar nach zahlreiche solcher illegalen Tätigkeiten involviert. ei nigen weiteren Jahren auf See wieder; bei Auch auf der Anna Hollmann herrschen einem Besuch in seinem Herkunftsort Blanke- schlechte Arbeitsbedingungen und die Verpfle- nese wird aber klar, dass er nicht mehr derselbe gung ist ungenügend. Der Koch bereichert sich ist. Er war dort für seinen Gerechtigkeitssinn an den Vorräten, verkauft sie in verschiedenen und seinen festen Glauben an einen gerechten Häfen. Gott und sein impulsives Wesen bekannt gewe- Auf der letzten Fahrt der Anna Hollmann sen, nun erscheint er den dortigen Freunden als heuert der Protagonist der Erzählung, Jan Guldt müde und gleichgültig. (siehe Ü Guldtweg, in Bd. 3 online**) an, um den Im Zustand „geistiger Umnachtung“ direkt Tod seines Vaters und den vermeintlichen Tod nach dem Untergang der Anna Hollmann sieht seines Großvaters auf dem Schiff zu rächen. Er Guldt zudem seinen Großvater und dessen ehe- erfährt durch den Bootsmann, dass am Zielort maligen Kapitän Heinrich Hollmann, wie sie auf auf Madeira der Chefreeder Hans Hollmann an einer brasilianischen Insel gefangen sind. Sein Bord kommen wird. Diesen will Guldt mit dem Großvater, so stellt sich heraus, war ein gleich- Tod seiner Familienangehörigen konfrontieren. gültiger und grausamer Mensch und quälte den Auch der Bootsmann hat mit Hans Holl- naiven Heinrich Hollmann mit seinem schlech- mann noch eine Rechnung offen: Seit einer Fahrt ten Gewissen. Weiterhin sieht Guldt den Chef- durch die Biscaja, auf der ein Mädchen, nach- reeder Hans Hollmann, der den Tod seines En- dem es von Hans Hollmann sexuell bedrängt kels beinahe wohlwollend empfängt, da er ihn worden war, Suizid begangen hatte, kann der nicht als tauglich für die Übernahme der Firma Bootsmann das Schiff nicht mehr verlassen, da gesehen hatte. er sich mitschuldig am Tod des Mädchens fühlt. Das alte, morsche, verfluchte Schiff, auf Er hofft, mit Hollmann zusammen auf der Anna dem drei Menschen mit guten Absichten unter- Hollmann in der Biscaja unterzugehen, nur so gehen, scheint für Guldt eine Parabel zur Gesell- denkt er im Jenseits Frieden finden zu können. schaft darzustellen. Er verzweifelt an der Untä- Auf Madeira geht aber nicht der Chefreeder tigkeit Gottes, der seine Hoffnung war. Hans Hollmann, sondern sein schöngeistiger Erst Jahre nach dem traumatischen Ereignis Enkel und Namenvetter an Bord. Dieser ist Erbe erinnert er sich an seinen eigenen Namen. Weitere der Reederei und will die Machenschaften seiner Jahre vergehen, ehe er zu der Einsicht gelangt, Familie mit der Übernahme der Reederei been- dass Gott die Menschen zum eigenen Handeln ge-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 43

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schaffen hat. Daraufhin schließt er sich, mit neuer Niemand merkte, dass „Eduard Kruse“ eine Abenteuerlust, einer Expedition nach Alaska an. junge Frau war. Anna Lühring gab sich mutig Der Untergang der Anna Hollmann steht und züchtig, nahm an der Belagerung Jülichs symbolisch für die Desillusionierung eines jun- teil, zog mit nach Frankreich. Durch einen Brief gen, idealistischen Menschen beim Zusammen- des Vaters an das Korps wur de die Identität des treffen mit der manchmal grausamen Realität. Jägers Kruse entdeckt. Inständige Bitten Anna Text: Nina Krienke Lührings und ihr vorbildlicher Lebenswandel Siehe auch Ü Guldtweg, Blankenese, seit waren ausschlag gebend, sie in der Kompanie zu 1947: Romanfigur aus Gustav Frenssens Buch belassen. Allerdings wur den ihre Kameraden nicht „Der Untergang der Anna Hollmann, in Bd. 3 online**. Weitere Romanfiguren von G. Frens- in das Geheimnis um den Soldaten Kruse einge- sen Ü Badendiekstraße, Jörn-Uhl-Weg, in weiht, nur der Hauptmann und der Kom pa nie- Bd. 3 online**. chef wussten Bescheid. Zur Person des Schriftstellers Frenssen siehe Nach dem Einmarsch des Korps in Frank- in Bd.1 im Kapitel: Straßenbenennungen als reich und der Verkündung des Kriegsendes am Spiegel der Geschichte: Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und 8. April 1814 kehrten die Lützower zurück nach bei Ü Emmy-Beckmann-Weg, in diesem Band. Berlin und das Korps löste sich auf. Anna Lüh- ring wurde von Wilhelm von Preußen empfangen Anna-Lühring-Weg und von der Fürstin Rad- Horn, seit 1929, benannt nach Anna Lühring ziwill ausgezeichnet und (3.8.1796 Bremen–25.8.1866 Hamburg), Lützo- beschenkt. wer Jäger, Heldenmädchen Doch Vater Lühring wollte seine Tochter nicht Geboren wurde Anna Lühring als fünftes Kind ei- zurückhaben, grollte mit nes Bremer Zimmermeisters. In der Nacht vom ihr, hatte sie sich in sei- 13. auf den 14. Februar 1814 verließ sie in Klei- nen Augen doch zu un- Anna Lühring dern ihres Bruders ihr Elternhaus in der Bremer anständig verhalten. Der Brautstraße, um zu den Lützower Jägern zu ge- Hofrat und Schriftsteller langen, die vorher durch Bremen gezogen wa- Karl Gottlob Heun intervenierte beim Bremer Se- ren. Sie trat unter dem Namen Eduard Kruse als nator Johann Smidt (siehe Ü Smidtstraße, in Bd. 3 freiwilliger Jäger in das Lützower Korps ein und online**). Daraufhin versprach der Bremer Se - zog mit ihm in den Krieg. Die Motive zu diesem nat, Anna Lühring gebührend zu ehren. Dadurch Schritt sind nicht eindeutig zu ermitteln. Viel- wurde auch Vater Lühring umgestimmt. Anna leicht waren es verklärte Vorstellungen vom Hel- Lühring kehrte 1815 in triumphaler Begleitung denruhm, die damals stark verbreitet waren, nach Bremen zurück. Neben dem Wagen ritten oder die Sehnsucht nach Abenteuer und Freiheit. ehemalige Lützower Jäger, an den Straßenrän- Ihr Vater glaub te an ein Liebesverhältnis zu ei- dern standen jubelnde Menschen. nem Soldaten, das seine Toch ter dazu veranlasst Doch schon bald wurde es still um Anna habe, sich als Mann verkleidet in das Lützower Lühring. 1820 ging sie nach Hamburg, arbeitete

Abb.: Focke-Museum/Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte und Kunst für Landesmuseum Focke-Museum/Bremer Abb.: Jägerkorps ein zuschleichen. dort in einem Geschäft für weibliche Industrie-

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artikel, heiratete 1823 den Kellner Lucks und wur- Zeit unter Migräne. Wegen ihrer Krankheit muss - de 1832 Witwe. Sie lebte an der Horner Land- te sie den Besuch einer höheren Mädchenschule straße in äußerst bescheidenen Verhältnissen, abbrechen. Auf autodidaktischem Wege berei- versuchte sich mit Näharbeiten über Wasser zu tete sie sich auf das Lehrerinnenexamen vor und halten, erhielt gelegentlich private Spenden und war daneben als Privat- später ab 1860, nachdem sich ehemalige Lützo- lehrerin tätig, um die Fa- wer Jäger für sie eingesetzt hatten, eine kleine milie finanziell zu unter- Pension von ihrer Mutterstadt Bremen. stützen. Nach ihrem Tod wurde sie auf dem Kirch- 1909 promovierte sie hof zu Hamm in Hamburg beigesetzt. 43 Jahre nach dem Studium der nach ihrem Tod erhielt die Grabstätte einen Pädagogik und National- neuen Grabstein. Man erinnerte sich an Anna ökonomie und arbeitete Lühring immer dann, wenn patriotische Gesin- dann zehn Jahre als Leh- nung gefragt war – so im Ersten Weltkrieg, als rerin am staatlichen Düs- Anna Siemsen auch die weibliche Bevölkerung zu vaterländi- seldorfer Mädchengym- schen Taten aufgerufen wurde. nasium. Dort, in Düsseldorf wurde sie nach dem Siehe auch Ü Smidtstraße, Hamm-Nord, seit Ersten Weltkrieg zur ersten weiblichen Beigeord- 1929: Johann Smidt (1773–1857), Bremer neten für Erziehungsfragen ernannt. Anna Siem- Bürgermeister, begründete Bremerhaven, sen widmete sich hauptsächlich dem Berufs- Ehrenbürger von Hamburg, in Bd. 3 online**. schulwesen und wurde 1919 Leiterin des Düsseldorfer Fach- und Berufsschulwesens. Im Anna-Siemsen-Gang selben Jahr holte der preußische Kultusminister Bergedorf, seit 1984, benannt nach Dr. Anna Haenisch sie in sein Ministerium nach Berlin. Siemsen (18.1.1882 Mark/Westf.–22.1.1951 Von 1921 bis 1923 war sie Oberschulrätin. 1923 Hamburg), Pädagogin und Frauenrechtlerin. erfolgte die Berufung an die Universität Jena als Motivgruppe: Verdiente Frauen Dozentin und später als Honorarprofessorin für Pädagogik. Sie bekam die Aufgabe übertragen, Anna Siemsen wuchs mit vier Geschwistern in ei- das höhere Schulwesen zu organisieren, konnte nem Pastorenhaushalt auf, wurde schon als Kind aber ihre Tätigkeit nur kurz ausüben, da die dor- mit den sozialen Spannungen der damaligen Zeit tige demokratisch gewählte Arbeiterregierung konfrontiert und machte sich genauso wie ihre durch die Reichswehr aufgelöst worden war. An Geschwister Gedanken um soziale Gerechtigkeit. eine demokratische Schulreform war somit nicht Anna Siemsens Leitspruch hieß: „Nach der Voll- mehr zu denken. 1932 entzog ihr der thüringi- kommenheit und nach der Glückseligkeit der an- sche nationalsozialistische Innenminister Frick deren“ zu trachten. So zu leben wurde ihr nicht die Professur. leicht gemacht, denn sie wurde Zeit ihres Lebens Anna Siemsens politischer Lebensweg: 1918 von den politisch herrschenden Schichten unge- wurde sie Mitglied der Unabhängigen Sozialde- recht behandelt, verfolgt und unterdrückt. mokratischen Partei (USPD), trat während des Anna Siemsens beruflicher Lebensweg: Seit Ersten Weltkriegs in den Bund Neues Vaterland

ihrer Kindheit war sie schwerhörig und litt lange ein, woraus später die Deutsche Liga für Men- Friedrich-Ebert-Stiftung der (AdsD) Demokratie sozialen der Archiv Abb.:

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schenrechte entstand. Sie kämpfte mit Marie gime Mut zu machen. Außerdem richtete sie im Stritt für die rechtliche Gleichstellung der Frau im Auftrag der Zentralstelle für Flüchtlinge interna- Bürgerli chen Gesetzbuch, wurde 1919 Stadtver- tionale und deutsche pädagogische Kurzlehr- ordnete und stellvertretende Bürgermeisterin von gänge ein. Düsseldorf und trat 1923 in die SPD über. Nach Ende 1946 kehrte sie gegen den Widerstand ihrer Jenaer Zeit gehörte sie bis 1929 dem Präsi- ihres Mannes zurück nach Deutschland. Schul- dium der Liga für Menschenrechte an und war senator Landahl (siehe Ü Landahlweg, in Bd. 3 on- eben so im Vorstand der Deutschen Friedensge- line**) holte sie nach Hamburg. Sie sollte die sellschaft und der deutschen Sektion der Interna- Stelle einer Oberstudiendirektorin unter Anrech- tionalen Frauenliga für Frieden und Freiheit tätig. nung ihrer Dienstjahre und mit gleichzeitiger Von 1928 bis 1930 saß sie für die SPD im Übertragung eines Lehrauftrags für neue Litera- Preußischen Reichstag, musste ihr Mandat aus ge - tur an der Universität Hamburg erhalten. sundheitlichen Gründen jedoch vorzeitig (1932) Am 1. Januar 1947 übernahm sie zuerst ein- abgeben. Anna Siemsen trat vehement gegen mal die Leitung des Notausbildungslehrgangs, den Panzerkreuzerbau auf, wurde 1931 Mitglied des, wie es später hieß, Sonderlehrgangs für die der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und setz- Ausbildung von Volksschullehrern. te sich für einen europäischen Zusammenschluss Von ihren Studentinnen und Studenten wur- ein. Bereits 1924 hatte sie ihr Buch „Literarische de Anna Siemsen geliebt und verehrt. Sie war Streifzüge durch die Entwicklung der europäi- damals schon sehr weitschauend, auch was die schen Gesellschaft“ veröffentlicht. Auch schrieb Überforderung der Menschen durch zu viel Ar- sie die Bücher „Parteidisziplin oder sozialistische beit anbelangte und regte gesetzliche und sozi- Überzeugung“ und „Auf dem Weg zum Sozialis- ale Maßnahmen zur Sicherung der lebensnot- mus“. In diesem Buch übte sie Kritik am sozial- wendigen Muße, die Voraussetzung für weitere demokratischen Parteiprogramm. Aufnahmefähigkeit ist, an. Anna Siemsen, Pazifistin und Sozialistin, Während ihrer Tätigkeit als Leiterin des emigrierte 1933 nach dem Reichstagsbrand in Notausbildungslehrgangs hatte Anna Siemsen die Schweiz und blieb dort bis 1946. Auch ihre auf das Einlösen des Versprechens Landahls, ihr Brüder August und Hans verließen Deutschland. eine Planstelle zu geben, gewartet. Am 6. März Nur ihr Bruder Karl blieb als Rechtsanwalt in 1947 teilte ihr das Organisationsamt lapidar mit: Düsseldorf zurück. Wegen der angespannten Haushaltslage könne In Zürich heiratete sie den Sekretär der die Planstelle nicht genehmigt werden. Damit Schweizer Arbeiterjugend, Walter Vollenweider. war Anna Siemsens Tätigkeit nach Abschluss Es war eine politische Heirat, durch die Anna des Sonderlehrgangs Anfang Januar 1948 be- Siemsen die Schweizer Staatsbürgerschaft er- endet. Sie durfte nicht mehr am Entwurf eines hielt. Sie schrieb im Exil viele Artikel über die Schulprogramms und am Aufbau eines neuen Friedens-, Frauen-, Europa- und Arbeiterbewe- demokratischen Schulwesens mitwirken. Im sel- gung, wurde Redakteurin der Zeitschrift „Die ben Jahr, als sie aus dem Schuldienst entlassen Frau in Leben und Arbeit“ und fuhr nach Spa- wurde, erschien in Neuauflage eines ihrer Haupt - nien, als dort der Bürgerkrieg ausbrach, um den werke „Die gesellschaftlichen Grundlagen der Widerständlern gegen das Fran co- und Hitlerre- Erziehung“.

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Ihre pädagogischen Ideen konnte sie fortan Anna Susanna, lediglich noch in der Arbeitsgemeinschaft Sozi- Sta up un böet Füer. ,Och nä, myn lewe Moder, aldemokratischer Lehrer (ASL) Hamburgs vor- Dat Holt is so düer.‘ bringen. Schüer my den Grapen Daneben war sie in der Sozialistischen Be- Un fäg’ my dat Hues, wegung für die Vereinigten Staaten von Europa Hüet Avent kaemt hier aktiv. Die deutsche Sektion erhielt später den Dre Junggesellen int Hues. Namen Anna-Siemsen-Kreis. Wöllt se nich kamen, So wöllt wy se halen Gleich nach ihrem Tod am 22. Januar 1951 Mit Päer un mit Wagen, regte Schulsenator Landahl an, eine Schule nach Mit Isern beflagen. Anna Siemsen zu benennen. Noch im selben Könnt se nich danzen, Jahr wurde die Schule am Zeughausmarkt nach So wöllt wy se leren; ihr benannt. Wy wöllt se de Scho In Botter umkeren. Siehe auch Ü Anita-Sellenschloh-Ring, in die- sem Band. Siehe auch Ü Müllenhoffweg, Groß Flottbek, seit 1950: Prof. Karl Viktor Müllenhoff (1818–1884), Siehe auch Ü Landahlweg, Hummelsbüttel, seit Germanist, Herausgeber der Sagen, Märchen 1975: Heinrich Landahl (1895–1971), Senator und Lieder der Herzogtümer Schleswig-Holstein in Hamburg, in Bd. 3 online**. und Lauenburg, in Bd. 3 online**.

Anna-Susanna-Stieg Anna-von-Gierke-Ring Schnelsen, seit 1948, vorher Mittelweg. Gestalt Bergedorf, seit 1992, benannt nach Anna von aus einem Reimgedicht aus Karl Müllenhoffs Gierke (14.3.1874 Breslau–3.4.1943 Berlin), Kin- (siehe auch Ü Müllenhoffweg, in Bd. 3 online**) derfürsorgerin, leitende Mitarbeiterin verschiede- Buch: Sagen, Märchen und Lieder, 1845, S. 483. ner Kinderfürsorge- und Jugendwohlfahrtsorgani- Motivgruppe: Holsteinische Geschichte, Sagen sationen. Mitglied der Nationalversammlung und Märchen 1919. Motivgruppe: Verdiente Frauen

Im Zuge des Großhamburg-Gesetzes, wodurch Sie war die Tochter von Lili von Gierke, geb. Loe- z. B. Altona, Ottensen und andere Gebiete Ham- ning, und deren Ehemann Otto von Gierke, burger Stadtteile wurden, ergaben sich bei den Sozialpolitiker, Rechtshistoriker und Jurist sowie Straßennamen häufig Doppelungen. Aus diesem Begründer des Genossenschaftsrechts in Deutsch- Grund entschloss sich 1938 das NS-Regime, den land. Mittel weg in Anna-Susanna-Stieg umzubenen- Anna von Gierke wuchs mit fünf Geschwistern nen, denn „insbesondere Namen aus dem nie- auf. Nach dem Besuch der Höheren Töchter- derdeutschen Raum“ und „Personen der schles- schule wurde sie in einem von Hedwig Heyl ge- wig-holsteinischen Geschichte“ sollten bei der gründeten Jugendheim in Berlin Charlottenburg neuen Straßennamensvergabe berücksichtigt als Helferin tätig. 1892 übernahm sie die Leitung werden. Zu der Umbenennung kam es erst nach eines Mädchenhortes und 1898 berief Hedwig dem Zweiten Weltkrieg. Heyl sie zur Leiterin des Vereins „Jugendheim“. Zuvor hatte sich Anna von Gierke einige Zeit im

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Berliner Pestalozzi-Fröbel-Seminar in Kinder - Während des Ersten Weltkriegs, als die Horte gartenpädagogik und Hauswirtschaft weiterge- besonders benötigt wurden, weil viele der Müt- bildet. ter in der Rüstungsindustrie arbeiteten, bereiste Aus diesen Leitungsfunktionen „entwickelte Anna von Gierke im Auftrag des preu ßi schen sie eine umfassende sozialpädagogische Arbeit Kultus ministeriums die preußischen Provinzen, mit Horten für sozial gefährdete Jungen und ins pizierte die dortigen Horte und organisierte Mädchen an den 17 Charlotter Gemeindeschu- Fortbildungen für die in den Horten arbeitenden len, angegliederten Kindergärten und Kinder- Kindergärtnerinnen. Gleichzeitig wurde Anna krippen, einer Schulspeisung für insgesamt 1000 von Gierke Vorsitzende der vom Kriegsamt ein- Kinder und Aus- und Fortbildungskursen für die gesetzten Kommission für Kinderfürsorge. rund 50 angestellten Mitarbeiterinnen, 200 ehren- Auch parteipolitisch engagierte sich Anna amtlichen Helferinnen und etwa 15 Schulpflege- von Gierke. Sie war Gründungsmitglied der 1918 rinnen, die eine frühe Form der Schulsozial- ins Leben gerufenen Deutschnationalen Volks- arbeit entwickelten. In den Ausbildungskursen partei (DNVP) und wurde ab 1919/20 Mitglied legte sie einen besonderen Schwerpunkt auf die der Weima rer National- sozialen und politischen Fächer. Sie schuf so versammlung. Ihre politi- den eigenständigen Beruf der Hort nerin für die schen Schwerpunkte la- außerschulische Arbeit mit älteren Kindern und gen bei der Familien- und Jugendlichen, der 1914 staatlich anerkannt und Sozialpolitik. 1920 wurde dem der Kindergärtnerin gleichgestellt wurde. sie von ihrer Partei für 1910 eröffnet sie auf einem von der Stadt die nächsten Reichstags- zur Verfügung gestellten Grundstück eine Zen- wahlen wegen ihrer jü- trale für die Kinder- und Jugendfürsorge in Char- dischen Herkunft nicht lottenburg, das ‚Jugendheim‘, in dem sie die von wieder aufgestellt. Anna von Gierke ihr geleiteten Einrichtungen zusammenfasste. 1921 gründete sie in Das Haus wurde zu einer Musteranstalt für die Finkenkrug bei Berlin ein Hortarbeit und andere Einrichtungen der Kin- Landjugendheim. Dort fanden Angestellte, Schü - der- und Jugendfürsorge, beherbergte das ‚So- lerinnen und Kinder Erholung. zialpädagogische Seminar‘, eine Ausbildungs- „Eine wichtige Rolle für ihr Engagement stätte, an der Hortnerinnen, Kindergärtnerinnen, spiel te der Einfluß ihres Vaters, des Rechtsgelehr- Jugendleiterinnen und Wohlfahrtspflegerinnen ten Otto von Gierke, und ihre Herkunft aus dem unterrichtet wurden und zugleich in den ver- gebildeten, protestantischen, wertkonservativen schiedenen Einrichtungen des Jugendheimes Bürgertum, zu dessen Ethos es gehörte, durch unter Anleitung praktische Erfahrungen sam- Sozialreform und Wohlfahrtspflege dem Sozialis- meln konnten, und ein Zentralbüro für die ver- mus entgegen zu treten und die negativen Aus- schiedenen Vereine, denen Anna von Gierke wirkungen des Kapitalismus zu begrenzen.“58) vorstand, darunter der Verein Jugendheim, der Anna von Gierke „schuf (…) aus den ihr Charlottenburger Hausfrauenverein, der Stadt- verbundenen Verbänden der Jugendhilfe und verband Berliner Frauenvereine und der Ver- der Frauenbewegung einen in sich gegliederten 57)

Abb.: bpk/Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer, Nr. 50132135 Nr. Römer, Willy SMB, Photothek bpk/Kunstbibliothek, Abb.: band Deutscher Kinderhorte.“ Wohlfahrtsverband für die freien Träger und Ver-

57) http://www.familiewegener.de/ anna.htm 58) Ebenda. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 48

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eine, die bislang nicht einen konfessionellen Siehe auch Ü Theodor-Heuss-Platz, Rother- oder politischen Spitzenverband angeschlossen baum, seit 1965: Theodor Heuss (1884–1963), Bundespräsident, in Bd. 3 online**. waren. Sie nannte diesen Verband, in Abgren- zung zur Caritas, Humanitas. Es gelang ihr aber nicht, die staatliche Anerkennung als eigenstän- Anne-Barth-Weg diger Spitzenverband zu erreichen. 1925 fusio- Stellingen, seit 2006, benannt nach Anne Marie nierte sie die ‚Humanitas‘ deshalb mit Verbän- Barth, geb. Ehlers (10.9.1899 Altona-Stellingen– den aus dem Gesundheitsbereich zum ‚Fünften 25.6.1986 Wennigsen), Verfolgte des Nationalso- Verband‘, dem späteren Deutschen Paritätischen zialismus Wohlfahrtsverband und war bis 1933 dessen zweite Vorsitzende.“59) Anne Marie Barth wurde 1899 in Stellingen geboren 1933 wurde Anna von Gierke wegen ihrer und lebte dort bis 1984 im Brunckhorstweg 2. jüdischen Abstammung aus allen ihren Tätigkei- Nach dem Besuch der Volksschule war sie von ten entlassen. Ihr blieb nur das Landjugendheim 1914 bis 1920 „in Stellung“ und arbeitete von in Finkenkrug. Dort nahm sie auch Kinder auf, 1920 bis 1924 im Fernsprechamt. 1925 heiratete deren Eltern sich verstecken mussten, im KZ sie den acht Jahre älteren Schlosser Johann waren oder getötet worden waren. Barth. Das Ehepaar bekam drei Kinder, das jüng- Anna von Gierke engagierte sich auch in ste wurde 1931 geboren. der Bekennenden Kirche. In ihrer Wohnung in Anne Barth gehörte mit ihrem Mann den in der Carmerstraße 12 hielt sie einen Hauskreis der NS-Zeit verbotenen Zeugen Jehovas an. ab. „An diesen Abenden wurden Informationen Wegen ihrer religiös motivierten Verweigerungs- über die Aktivitäten der Bekennenden Kirche haltung als Zeugen Jehovas geriet das Ehepaar ausgetauscht und biblische Texte oder Werke ins Visier der Verfolger. 1935 wurde Johann der modernen Literatur besprochen. Es wurden Barth, der als Stellwerksführer bei der Reichs- Adressen ausgetauscht, über die Schicksale von bahn tätig war, wegen der Verweigerung des Menschen informiert, die inhaftiert waren oder Diensteides auf Hitler mit 4/5 der Pension ent- Deutschland verlassen wollten, sowie Lebens- lassen. 1936 erfolgten mehrere Hausdurchsu- mittelkarten für Untergetauchte gesammelt und chungen. Am 26. August 1936 wurde Anne Barth vorübergehende Unterkünfte besorgt.“60) verhört. In dem Verhörprotokoll wurde vermerkt: Zu diesem Kreis gehörten u. a. Theodor „Seit dem Jahre 1932 gehöre ich den ‚Ernsten Heuss (siehe Ü Theodor-Heuss-Platz, in Bd. 3 onli - Bibelforschern‘ an. (…) Wenn mir vorgehalten ne**) und Elly Heuss-Knapp (siehe Ü Elly-Heuss- wird, daß in unserer Wohnung noch jetzt immer Knapp-Ring, in diesem Band) sowie Elisabeth von Anhänger der Bibelforscher verkehren, so kann Thadden (sie he Ü Elisabeth-von-Thadden-Kehre, in ich darauf erwidern, dass es stimmt. Es verkeh- diesem Band), die bei Anna von Gierke zur Mie - ren bei uns die Brüder (…) und die Schwestern te wohnte. (…). Mit diesen unterhalten wir uns über das Von Anna von Gierke stammt die Wort- Wort Gottes. Wenn mir vorgehalten wird, daß ich schöpfung „Sozialpädagogik“. doch gewusst habe, daß die ‚Ernsten Bibelfor- Siehe auch Ü Elisabeth-von-Thadden-Kehre scher‘ verboten sind, so kann ich auch darauf und Elly-Heuss-Knapp-Ring, in diesem Band. erwidern, dass ich von dem Verbot wußte. Wir

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

59) Ebenda. 60) Ebenda. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 49

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werden aber von dem Wort Gottes geleitet und belforschertätigkeit verurteilt. Für Anne Barth darum haben wir die Bibel zur Hand genommen. wurde die Strafe zu einer dreijährigen Bewäh- Wenn ich über die weiteren Brüder und Schwes- rung ausgesetzt. tern, die bei uns verkehren, eine Auskunft geben Die Familie stand weiterhin unter Staats- kann, so muß ich sagen, dass ich es nicht tue. kontrolle. Johann Barth wurde eine Zeit lang die Wir wissen ganz genau, dass die Verfolgung so väterliche Gewalt über die beiden älteren Kinder groß ist. Ich mache auch weiter keine Angaben. entzogen, und man be- Ich will kein Judas sein und wir haben auch drohte Anne Barth, ihr eine viel zu große Verantwortung.“ Anne Barth das jüngste Kind zu neh- wurde nach der Vernehmung entlassen, weil sie men, wenn es nicht in drei unmündige Kinder hatte. den BDM eintrete. 1965 Johann Barth wurde im August 1936 wegen starb Johann Barth bei „fortgesetzter Betätigung für die verbotenen einem Unfall. 1984 zog ‚Erns ten Bibelforscher‘ (Zeugen Jehovas)“ fest- Anne Barth zu ihrer Toch- genommen und kam ins Gefängnis Altona in Un- ter nach Wennigsen. tersu chungshaft. Am 1. September 1936 kam es Die Zeugen Jehovas, wegen oben genannter Beschuldigung vor dem wie sich die Angehörigen Schleswig-Holsteinischen Sondergericht in Al- der Internationalen Bi- Anne Marie Barth tona zur An klage. Angeklagt wurden nun auch belforscher-Vereinigung Anne Barth und vier weitere Zeugen Jehovas, seit 1931 nannten, wurden 1933 als erste Glau- denen vorgewor fen wurde, an den Zusammen- bens gemeinschaft verboten. Die Nationalsozia- künften in der Wohnung der Eheleute Barth teil- listen sahen in ihnen „Wegbereiter des jüdi- genommen zu haben. Am 24. September 1936 schen Bolschewismus“, angegriffen wurde ihr erfolgte der Frei spruch für die Angeklagten. Bekenntnis zur Gleichheit der Rassen und ihre Hierzu kam es, weil das Ehepaar Barth in der „Fremdlenkung“ aus den USA. Die Zeugen Je- Verhandlung den Mut aufbrachte, deutlich zu hovas gerieten in scharfen Gegensatz zum na- machen, dass ihre Angaben – in ihrer Wohnung tionalsozialistischen Staat. Sie verweigerten den hätte es Zusammen künf te mit den Brüdern (…) Hitlergruß, nach ihrem Verständnis war nur Gott und der Schwester (…) gegeben – nicht aus „Heil“ zuzusprechen. Sie traten nationalsozia- freien Stücken erfolgt waren, sondern unter An- listischen Vereinigungen nicht bei, gaben ihre drohung massiver Schläge. Da der Kriminal - Kinder nicht in die Hitlerjugend und übten kei- angestellte, der das Ehepaar verhört hatte, nicht nen Kriegsdienst aus wegen des biblischen Ge- beschwören woll te, dass es sich nicht so zuge- bots, nicht zu töten. Nach dem Verbot der Orga- tragen hatte und er weitere Aussagen zu diesem nisation führten sie ihre Religionsgemeinschaft Punkte verweiger te, kam das Gericht zum Frei- illegal weiter. Die Geschlossenheit der Gruppe spruch „mangels ausreichender Beweise“. und ihr starker Glaube führten zu einer hohen Anfang 1937 kam Johann Barth für ein hal- Beteiligung an Widerstandsaktionen. Dagegen bes Jahr in „Schutzhaft“. Im November 1937 gingen Gestapo und Justiz hart vor. Mit Kriegs- wur de er zu zweieinhalb Jahren und Anne Barth beginn nahm die Verfolgung noch zu. Zwischen

Abb.: Archiv Jehovas Zeugen, Selters Zeugen, Jehovas Archiv Abb.: zu einem Jahr Gefängnis wegen verbotener Bi- 1933 und 1945 wurden über 1300 Zeuginnen Je- Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 50

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hovas in den Konzentrationslagern gefangen ge- dort im Kapitel: Der Umgang mit der nationalso- halten und dort wie die rund 3000 männlichen zialistischen Vergangenheit.) Gefangenen in einer eigenen Häftlingskategorie Siehe auch Ü Anna-Hollmann-Weg, zur Person gekennzeichnet mit dem „lila Winkel“. von Gustav Frenssen bei Ü Charitas-Bischoff- Text: Birgit Gewehr Treppe, Emmy-Beckmann-Weg, in diesem Band und in Bd. 1 im Kapitel: Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Anne-Frank-Straße Blankenese und Sülldorf, seit 1986; vorher seit Annemarie-Ladewig-Kehre 1928 Frenssen straße, umbenannt nach Anne Bergedorf, seit 1987, benannt nach Annemarie Frank (12.6.1929 Frankfurt a. M.–März 1945 KZ- Ladewig (5.6.1919 Neidenburg–21.4.1945 KZ Bergen-Belsen), Opfer des Nationalsozialismus Neuengamme), Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Motivgruppe: Verdiente Anna Frank war das Kind einer 1934 aus Deutsch- Frauen land emigrierten und 1940 in Amsterdam unter- Stolperstein vor dem Wohnhaus Blumenstraße 32. chiv. Maike Bruhns chiv. getauchten jüdischen Familie. Zwischen 1942 und 1944 schrieb sie auf dem Dachboden des Hauses Annemarie Ladewig war die Tochter von Hildegard in der Prinzengracht, wo sie sich mit ihrer Familie Ladewig, geb. Bucka, und Rudolf Wilhelm Emil vor der Gestapo versteckt hielt, Tagebuch. Anne Ladewig, Architekt. Frank beschrieb ihr Leben in dem Hinter hof- Hildegard Ladewig, deren Eltern jüdischer versteck und ihre Angst vor Entdeckung. Die Fa- Abstammung waren, hatte Architektur und milie wurde entdeckt und nach Auschwitz de- Kunstgeschichte studiert. portiert. Anne Frank und ihre Schwester starben Die Familie Ladewig lebte zunächst in Nei- im Konzentrationslager denburg/Ostpreußen, wo Tochter Annemarie Bergen-Belsen an Typhus. am 5. Juni 1919 geboren wurde. 1919 wurde Anne Franks Tagebuch- Rudolf Ladewig Stadtarchitekt in Waldenburg/ aufzeichnungen wurden Oberschlesien. Die Familie zog dorthin, Sohn nach dem Zweiten Welt- Rudolf Karl wurde am 19. Februar 1922 geboren. krieg unter dem Titel Beide Kinder wurden als Einjährige evangelisch „Das Tagebuch der Anne getauft. Von November 1925 bis September 1926 Frank“ publiziert und war der vom Bauhaus beeinflusste Rudolf Wil- Anne Frank um 1940 als Theaterstück umge- helm Ladewig bei der Stadt Reichenbach im schrieben. Am 1. Okto- Vogtland als Erster Architekt angestellt und lebte ber 1956 fand im Hamburger Thalia Theater die dort mit seiner Familie. Laut des Berichts seiner Premiere des Stückes statt. Das Stück wurde Schwester Charlotte konnte Rudolf Ladewig ab über hundert Mal aufgeführt. 1934 aus „rassischen“ und politischen Gründen 1986 wurde die nach dem Schriftsteller Gus- nicht mehr ungehindert seiner Arbeit nachge- tav Frenssen benannte Frenssenstraße wegen hen. Er verließ Deutschland und arbeitete kurz- Frenssens NS-Belastung in Anne-Frank-Straße zeitig in Sofia/Bulgarien. Die Familie zog am

umbenannt. (Siehe zu Ü Gustav Frenssen im Bd. 1, 1. September 1935 nach Hamburg und wohnte 1992. | Ar (Hrsg.), Amsterdam Amsterdam v.l.n.r.: Stiftung Abb. Anne Frank Anne Frank, Verhoeven, Rian der Rol, van Aus: Ruud Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 51

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in der Thielengasse 4, der heutigen Georg-Thie- de“, stand aber für „Kampf dem Faschismus“. len-Gas se. Das Haus hatte Rudolf Ladewig mit Ihr Ziel war die Bekämpfung des Nationalsozia- erbaut. Er wurde Mitarbeiter der bekannten lismus, die Schaffung einer demokratischen Re- Architekten Professor Fritz Höger (Erbauer des gierung und später die Chile hauses, siehe Ü Högerdamm, in Bd. 3 onli- Beendigung des Krieges. ne**) und Rudolf Klophaus (siehe Ü Klophaus- Die KdF-Gruppe entstand ring, in Bd. 3 online**). Außerdem war er für die bereits vor dem Krieg aus Deutsche Akademie für Wohnungswesen in Ber- einem losen Freundes- lin tätig. Sein Büro lag in der Armgartstraße 4. kreis in Hamburg, zu dem Die Tochter Annemarie Ladewig wurde 1934 nach und nach weitere konfirmiert und beendete in Reichenbach die Gegner des NS-Regimes Realschule. 1936 wurde ihr wegen der jüdischen aus allen gesellschaftli - Abstammung ihrer Mutter der Zugang zur Han- chen Schichten stießen. Annemarie Ladewig sischen Hochschule verwehrt. Daher besuchte 1939/1940 entstand eine sie von November 1936 bis Januar 1939 die Verbindung zu Widerstandskreisen in Leipzig, Kunstschule von Gerda Koppel, die nach deren die neue Impulse nach Hamburg brachte und zur Emigration von Gabriele Stock-Schmilinsky wei- Bildung von Gruppen in den Betrieben, u. a. AEG tergeführt wurde. Annemarie Ladewig bildete und HEW, führte. Ab 1942 wurden auch Zwangs - sich bis zum 1. Dezember 1940 in freier Malerei arbeiter und Kriegsgefangene in die Grup pe in- und Gebrauchsgraphik aus, sie war eine sehr tegriert. Später kamen Luftschutzbeauftragte und begabte Künstlerin. In der Werbeabteilung der Männer des Volkssturms dazu. Zigarettenfabrik Reemts ma fand Annemarie La- Aus konspirativen Gründen gab es unterein- dewig 1940/41 eine erste Anstellung. Ihr Vorge- ander meistens nur Kontakte zu wenigen Mit- setzter Hans Domizlaff schütz te sie durch Zu- gliedern. Die Gruppe versteckte verfolgte Wider- rückhaltung ihrer Papiere. Obwohl sie dort sehr standskämpfer ebenso wie jüdische Kinder, half gerne arbeitete, versuchte sie sich im Oktober Ausländern mit Lebensmittelkarten und verübte 1942 als Werbezeichnerin in ihrer Wohnung verschleierte Produktionssabotagen. selbstständig zu machen. Da dies nicht gelang, Familie Ladewig zog im August 1943 in die arbei tete sie später als Reklamezeichnerin bei Blumenstraße 32. Laut Aussage seiner Schwes- der Firma Montblanc-Simplo. Von Freunden wur- ter Charlotte fühlte sich Rudolf Ladewig im Som- de Annemarie Ladewig als charmant, warmher- mer 1944 bedroht, weshalb er sich nach Lud- zig, fröhlich, mutig und – ebenso ihr Bruder – wigslust absetzte und bei ihr arbeitete. Die sehr ver schwiegen in Bezug auf die aktuelle Po- Geschwister Annemarie und Rudolf Karl ließen litik beschrieben. 1941 verlobte sie sich mit dem ihre zärtliche, aber verängstigte und verwirrte Blankeneser Arzt Dr. Hermann Sartorius. Mutter Hildegard 1944 durch Hermann Sartorius Rudolf Ladewig sen. galt als konservativer in die Psychia trische und Nervenklinik der Uni- Sozialdemokrat und war seit einem unbekann- versität Eppendorf bei Prof. Bürger-Prinz einwei- ten Zeitpunkt in der „KdF-Gruppe“ aktiv. Das sen. Da sie dort schwer erkrankte, kehrte ihr Namenskürzel deckte sich absichtlich mit der Ehemann nach Hamburg zurück. Ab dem 23. Ok- nationalsozialistischen Parole „Kraft durch Freu - tober 1944 wurde er als Bauarbeiter bei einem

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 52

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Architekten arbeitsverpflichtet. fotos und richteten ihre Kleidung her. Annema- Hildegard Ladewig starb am 30. November rie Ladewig konnte an diesem Tag noch einen 1944 in der Psychiatrischen Klinik Eppendorf. Brief an ihren Verlobten schreiben. Darin er- Offizielle Todesursache war Suizid, doch kann wähnte sie, dass ihr Vater auf einen Spitzel her- Euthana sie nicht ausgeschlossen werden. Rudolf eingefallen war. Ladewig war zutiefst schockiert. Es gab heftige Im Gang des Häftlingsbunkers befand sich Auseinandersetzungen mit seinen Kindern, so ein langer Balken unter der Decke, der als Gal- dass er aus der gemeinsamen Wohnung auszog. gen diente. In der Nacht vom 21. auf den 22. Er lebte nun bei seiner Freundin Anna Elisabeth April 1945 wurden die Frauen dorthin geführt. Rosenkranz in der Armgartstraße 4. Sie mussten sich nackt ausziehen, auf einen Annemarie Ladewig wurde in den Jahren Stuhl steigen, die Schlinge wurde um den Na- 1944/45 aufgrund ihrer zunehmend schwerer cken gelegt, der Stuhl weggezerrt. Es wurde 30 werdenden Lage immer deprimierter, blieb aber Minuten gewartet, dann wurde die nächste Frau lebensbejahend. Im Dezember 1944 wurde in gehenkt, die das Schicksal ihrer Vorgängerin die Wohnung in der Blumenstraße das Ehepaar hatte mit ansehen müssen. Schacht, vermutlich zur Überwachung, einquar- Die 58 Männer, unter ihnen Vater und Sohn tiert. Die Geschwister mussten ab Januar 1945 Ladewig, wurden zwischen dem 21. und 24. April Zwangsarbeit auf der Howaldtswerft leisten. Ru- 1945 ermordet. dolf Karl Ladewig musste im Freihafen Trümmer Ob Annemarie und ihr Bruder Rudolf Karl von Bombenangriffen räumen. tatsächlich Mitglieder der KdF-Gruppe waren, ist Rudolf Ladewig sen. und Elisabeth Rosen- nicht geklärt. Da es das oberste Gebot der Grup - kranz wurden am 22. März 1945 verhaftet. Die pe war, Familienangehörige herauszuhalten, hat- Gestapo durchsuchte die Wohnung der Ge- ten sie eventuell keine Kenntnisse über die Akti- schwister Ladewig, riss die Tapeten ab, schlitzte vitäten ihres Vaters und Elisabeth Rosenkranz‘. Möbel auf, fand nichts und verhaftete sie den- Allerdings besuchte Annemarie häufig einen noch. Alle vier wurden in das Gestapogefängnis Buchladen in der Dammtorpassage, bei dem es Fuhlsbüttel gebracht. Ihre Namen standen auf sich um die „Fundgrube für Bücherfreunde am der so genannten Liquidationsliste, auf der 71 Dammtor“ gehandelt haben könnte. Der Besitzer Menschen zur Vernichtung vorgemerkt waren. Berthold Neidhard gehörte zur KdF-Gruppe.61) Sie wurden am 20. April 1945 aufgrund eines Text: Maike Bruchmann, entnommen aus Räumungsplanes für den Fall der Annäherung www.stolpersteine-hamburg.de alliierter Streitkräfte zusammen mit anderen Ge- Siehe auch Ü Erika-Etter-Kehre, Erna-Behling- Kehre, Hanne-Mertens-Weg, Helene-Heycken- fangenen der KdF-Gruppe in das Konzentra- dorf-Kehre, Margarete-Mrosek-Bogen, Margit- tionslager Neuengamme überführt. Unter den Zinke-Straße, in diesem Band. dreizehn Frauen befanden sich auch Hanne Siehe auch Ü Högerdamm, Hammerbook, seit Mertens (siehe Ü Hanne-Mertens-Weg, in diesem 1956: Fritz (vollst. Johann Friedrich) Höger Band) und Erika Etter (siehe Ü Erika-Etter-Kehre, (1877–1949), Architekt, in Bd. 3 online** und in diesem Band). Da es keinen Gerichtsbeschluss in der Datenbank „Die Dabeigewesenen. Ham- burg Topographie der NS-TäterInnen, Mitläu - gab, dachten die Frauen, dass sie entlassen wür- ferInnen, DenunziantInnen, ProfiteurInnen.

den und freuten sich. Sie zeigten sich Familien- www.hamburg.de/ns-dabeigewesene e. Rahlstedt Bürgerverein Abb.: V.

** Band 3 online unter: www.ham- Ursel Hochmuth/Gertrud Meyer: aus dem Konzentrationslager, Gesta- burg.de/maennerstrassennamen Streiflichter aus dem Hamburger Wi - pogefängnis und KZ-Außenlager derstand 1933–1945, Berichte und Fuhlsbüttel, KZ-Gedenkstätte Neuen- 61) Benutzte Quellen: Amt für Wie - Dokumente, Frankfurt am Main 1980, gamme, Hamburg 1987, S. 46, 52–53; dergutmachung) AfW 050619; AfW S. 379, 449–464; Herbert Dierks: Ge- www.reichenbach-vogtland.de (ein- 190222; AfW 300493; AfW 230583; denkbuch „Kola-Fu“, Für die Opfer gesehen am 19.8.2007); Gertrud Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 53

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Siehe auchÜ Klophausring, Bergedorf, seit 1979: dienstkreuz verliehen und 1989 die Wandsbeker Rudolf Klophaus (1885–1957), Architekt, in Medaille. Bd. 3. online**; siehe auch in der Datenbank Text: Kerstin Klingel Die Dabeigewesenen. Hamburg Topographie der NS-TäterInnen, Mitläufe rIn nen, Denunzi - antInnen, ProfiteurInnen. www.hamburg.de/ ns-dabeigewesene Antonie-Möbis-Weg Eidelstedt, seit 1991, benannt nach Clara Hedwig Antonie Möbis, geb. Schmidt (5.3.1898 Sprem- Annenstraße berg/ Nie der lau sitz–16.8.1976 Hamburg), Wider- St. Pauli, seit 1856. Vermutlich frei gewählter standskämpferin gegen den Nationalsozialis - Name in Anschluss an die im Norderteil der Vor- mus, Arbeiterin, Kommunistin, Mitglied der stadt St. Pauli schon vorhandenen, mit weib- Hamburgischen Bürgerschaft von 1931–1933 lichen Vornamen belegten Straßennamen Antonie Schmidt war das sechstes und jüngste Kind einer Arbeiterfamilie. Der Vater, ein Lokomotiv- Anny-Tollens-Weg führer, starb 1910; zwei Jahre später verstarb Rahlstedt, seit 2002, benannt nach Anny (Anna) auch die Mutter. Tollens (3.12.1911 Hildesheim–10.4.1989 Ham- Antonie Schmidt musste gleich nach dem burg), Kommunalpolitikerin, Leiterin und Ge- Abschluss der Hauptschule ihren Lebensunter- schäftsführerin der Kinderstube Rahlstedt halt selbst verdienen. Sie arbeitete von 1912 bis 1917 als Hausmädchen, dann als Industriearbei- Anny Tollens kam bereits als Kind mit ihren Eltern terin auf der Deutschen Werft in Kiel. Hier setzte nach Hamburg. Bald nach dem Zweiten Welt- sie sich für gewerkschaftspolitische Ziele ein, krieg begann ihr kommunalpolitisches Enga - trat im Januar 1919 in die Gewerkschaft ein und gement. Anny Tollens wurde Mit glied im Orts- war von 1920 bis Juni 1923 Mitglied der SPD ausschuss Rahlstedt und in der Wandsbeker und seit Juni 1923 Mitglied der KPD. Bezirksversammlung. 1964 gründete sie im Rah - Wegen ihres politischen Engagements wur- men ihrer aktiven Mitgliedschaft im Bürger verein de sie arbeitslos und auf die „schwarze Liste“ ge- Rahlstedt e. V. und als Leiterin des Arbeitskreises setzt. Das bedeutete: Sie fand in Kiel keine Arbeit „Soziales“, den bis heu te bestehenden Seni - mehr. Deshalb zog sie 1925 nach Hamburg. Hier orenkreis „Du und ich“. arbeitete sie in verschiedenen Bereichen, z. B. als 1969 rief sie zusammen Hilfspflegerin in der, wie es damals hieß, „Irren- mit der Vereinigung Ju- anstalt Friedrichsberg“ und als Reinmachefrau. gendheim die Kinder- Dazwischen wurde sie immer wieder arbeitslos. stube Rahlstedt, deren Am 1. August 1931 wurde Antonie Schmidt Leitung und Geschäfts- wegen „Zersetzungshochverrats“ inhaftiert. Weil führung sie bis zu ihrem sie aber im September 1931 in die Hamburgische Tod übernahm, ins Le- Bürgerschaft gewählt worden war und deshalb ben. politische Immunität besaß, wurde sie am 4. No- 1976 erhielt Anny vember 1931 aus dem Untersuchungsgefängnis Anny Tollens Tollens das Bundesver- entlassen.

Meyer: Nacht über Hamburg, Berich - 2007 in Blankenese; www.uke. uni- te und Dokumente 1933–1945, Frank- hamburg.de/kliniken/psychatrie furt/Main 1971, S. 84–116; Maike (eingesehen am 3.2.2008) Bruhns: Ausstellungskatalog: Anne- marie Ladewig 1919–1945, Erinne- ** Band 3 online unter: www.ham- rung an eine Vergessene, Ausstellung burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 54

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Bis 1933 war Antonie Schmidt KPD-Abge- Arnemannweg ordnete der Hamburgischen Bürgerschaft. Wäh- Barmbek-Nord, seit 1930, benannt nach Mathilde rend der NS-Diktatur befand sie sich im Wider- Arnemann, geb. Stammann (26.3.1809 Ham- stand. Vom 16. September 1933 bis 20. März 1934 burg– 21.8.1896 Hamburg), Patriotin, Mäzenin, war sie im Hamburger Untersuchungsgefängnis Wohltäterin, Ehrenbürgerin von Karlsbad inhaftiert, anschließend vom 21. März 1934 bis 12. Mai 1936 im Zuchthaus Lauerhof bei Lübeck, Mathilde Stammann wuchs mit vielen Geschwis- davon fünfzehn Monate in Einzelhaft. Nach der tern am Neuen Wall 50 als Tochter des Zimmer- Strafverbüßung kam sie ins KZ Mooringen und meisters und Architekten Johann Christoph wurde dort am 27. August 1936 entlassen. Stammann und seiner Ehefrau Sophia Margare- Im November 1939 wurde sie denunziert the, geb. Paetz, auf. Der Vater starb früh. und daraufhin von der Gestapo verhört. Eine „In der Privatschule des Lehrers Unbehagen Inhaftierung konnte abgewendet werden. Fünf an der Langen Reihe wurde Mathilde gemein- Jahre später erfolgte eine erneute Inhaftierung: sam mit Jungen unterrichtet. Möglicherweise vom 22. August 1944 bis 24. Oktober 1944 war hat diese Koedukation das ,knabenhafte‘ Wesen Antonie Schmidt im KZ-Fuhlsbüttel. Mathildes mitgeprägt; mit den Schulkameraden Nach der Befreiung vom Nationalsozia- blieb sie lebenslang in Kontakt. lismus stellte Antonie Schmidt, die durch Heirat In die Zwanzigjährige verliebte sich der vier den Nachnamen Möbis angenommen hatte, im Jahre ältere hochtalentierte Altonaer Kaufmann Dezember 1946 einen „Antrag auf Ausstellung und schwedische Konsul Carl Theodor Arne- eines Ausweises für politisch, rassisch und reli- mann [siehe Ü Arnemannstraße, in Bd. 3 online**] ; giös durch den Nazismus Verfolgte“. Die darin als Witwer und Vater einer kleinen Tochter war gestellten Fragen: „Wurden Sie in den Konzen- er auf der Suche nach einer zweiten Frau. Seine trationslagern misshandelt? beantwortete sie mit: Eltern waren jedoch gegen eine Verbindung mit „Ja, getreten und gestoßen.“–„Haben Sie ge- Mathilde Stammann und verboten ihm den Um- sundheitliche Schäden erlitten?“ – „Ja. Nerven- gang mit ihr. Als Sohn und Mitinhaber der Firma leiden im rechten Arm.“ war er von ihnen abhängig. Um sie günstiger zu Nach dem Zweiten Weltkrieg fand Antonie stimmen, maß er ihnen gegenüber den Charakter Möbis Arbeit als Stationsfrau im Hamburger seiner Erwählten an dem Klischee der züchtigen Hilfs krankenhaus am Weidenstieg. Politisch trat Hausfrau und wies auf ihre inneren Werte hin: sie nicht mehr hervor. ,Daß Mathilde im Äußeren oft knabenhaft mun- ter ist, tadele ich sehr und wünsche es anders – im Innern sieht es viel, viel schöner aus. – Ein Armgartstraße liebes, treues Herz, ein offener Kopf, den besten Hohenfelde, seit 1872, benannt nach Armgart de Willen und regsten Trieb, recht gut zu werden – Komolressche. Älteste bekannte Müllerin der dabei gesund, lebensfroh und mit, ganz ge wiß, dortigen Kuhmühle. 1481 wird sie in der Mitglie- der tiefsten Liebe zu mir und dem lieben Kinde derliste der Hausdiener Bruderschaft genannt. zugetan – kann ich mehr verlangen?‘“62) „Im Dezember 1829 konnte die Ehe geschlos - sen werden, und Mathilde löste die in sie gesetz-

** Band 3 online unter: www.ham- Hamburg 1935, S. 30. burg.de/maennerstrassennamen

62) Paul Theodor Hoffmann: Der Al- tonaer Kaufmann und Patriot Carl Theodor Arnemann. Ein Lebensbild. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 55

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ten Erwartungen, ,recht gut zu werden‘, im ten. Als Mäzenin ermunterte und unterstützte Laufe eines langen Lebens ein; zu der Tochter sie junge Künstler und vermittelte Kontakte zwi- aus erster Ehe kamen sechs Söhne aus der zwei- schen ihnen. Als Wohltäterin half sie in unzäh- ten. Den ungewöhnlichen Reichtum, den ihr ligen Einzelfällen gegen dringendste Not; außer- Mann durch Erwerb riesiger Ländereien in Nor- dem entstanden auf ihre Initiative hin einige wegen mit ausgedehntem Holzhandel erwarb, wohltätige Stiftungen. (…) nutzte sie für großzügige Wohltätigkeit. Sie ge- Mathilde Arnemann war eine glühende Pa- staltete das Arnemannsche Haus an der Pal- triotin. (…) Sie widmete sich im ersten und noch maille zum geselligen Mittelpunkt und das länd- umfassender im zweiten dänischen Krieg auf ihre liche Anwesen in Nienstedten zum ,anmutigen Weise der patriotischen Sache, nämlich der Pfle- Tusculum‘ für Künstler aller Art. Doch war es ge von Verwundeten. (…) Spontan fanden sich nicht der Glanz des Reichtums allein, der Frau überall in Deutschland Frauen zusammen, bilde- Arnemann bekannt machte. Er war beim Tod ten Ausschüsse, organisierten Unterstützungsak- Carl Theodors 1866 längst verflogen; die Witwe tionen für die not leidende schleswig-holsteinische bezog danach in Hamburg an der Fruchtallee Bevölkerung (…). Mathil de Arnemann schloss eine kleine Wohnung, in der sie nicht mehr ,Hof sich dem Vaterländischen halten‘ konnte. Es muss der Charme ihrer Per- Frauenverein (…) an. (…) sönlichkeit gewesen sein, ihre natürliche Un- Sie richtete zwei Lazarette mittelbarkeit, schlichte Menschenliebe und un- ein. (…) Im sogenannten prätentiöse Bescheidenheit und nicht zuletzt die deutschen Krieg von 1866 bis ins Alter bewahrte Lebendigkeit des Geistes kümmerte sie sich um die und Herzens, was Hamburgs Zeitgenossen fas- österreichischen Verwun- zinierte und in Mathilde Arnemann eine vorbild- deten. (…) Es ist nicht liche Frau verehren ließ. ersichtlich, wie stark die Obwohl Mathilde Arnemann im Umgang ,große Patriotin‘ von den Mathilde Arnemann mit Menschen so unkonventionell war, mit den politischen Hintergründen Leuten Platt sprach und gesellschaftliche Eti- tangiert war. Sie griff ein, wo Hilfe not tat. Ihr Pa- kette ablehnte, gibt es doch kein Zeichen da für, triotismus umfasste sowohl die kriegerisch-natio- dass sie die bestehende Gesellschaft verändern nale als auch die friedlich-gemeinnützige Seite. und die Rolle der Frau neu bestimmen wollte Während einer Überschwemmung organisierte wie die Freisinnigen. Sie hat in Hamburg kein sie ebenso spontan wie im Kriege eine Hilfsaktion Werk hinterlassen, das ihren Namen trägt, hat für die Opfer. sich keiner politischen, religiösen, fraueneman- Sie verstand sich als hamburgische Repub - zipatorischen Richtung, keinem Verein ganz ver- likanerin und lehnte deshalb den Adelstitel ab, schrieben, sondern mit spontanem individuel- der ihr von Kaiser Wilhelm I. [siehe Ü Kaiserhöft, lem Handeln auf jeweilige Situationen reagiert. in Bd. 3 online**] als ,Kriegsauszeichnung‘ an- Dabei zeichnen sich drei Bereiche ab: Als geboten wur de. Statt dessen nahm sie gerne den Patriotin war sie in Kriegszeiten immer zur selten verliehenen preußischen Louisenorden I. Stelle, um Hilfsdienste für Verwundete und Hin - Klasse entgegen, denn er ehrte auf augenfällige

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: terbliebene zu organisieren und selbst zu leis- Weise ihren weiblichen Patriotismus.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 56

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Den Ruf als Wohltäterin verdankte Frau Ar- In jungen Jahren entwarf sie einen Kleider- nemann noch einer ganz anderen Seite ihres schnitt, um von der beengenden Mode loszu- Wesens und ihrer Möglichkeiten. Der Reichtum kommen. Sie hat selbst bis ins Alter Kleider gestattete ihr und ihrem Mann den Erwerb von dieser Art getragen. Durch ihre eigene Haltung Kunstschätzen. Mit dem Sammeln von Kunst propagierte sie eine Lebensreform, jedoch ohne verband das Ehepaar die Förderung junger diese zum verbindlichen Prinzip zu erheben. Künstler. (…) Ihre Kunstliebe und -förderung Von Frauenemanzipation hielt sie nichts, wenn bezog sich auch auf Musik und Dichtung. Wie diese dazu führte, ,daß die jungen Damen zu der Dichter Thorwaldsen logierten bei Arne- Juristen etc. werden‘. Dagegen ermunterte sie manns Felix Mendelssohn Bartholdy [siehe Ü dazu, ,daß wir wieder ordentliche Weiber be- Geschwister-Mendelssohn-Stieg, in diesem Band], kommen, die nähen, stopfen und flicken kön- die ,schwedische Nachtigall‘ Jenny Lind und nen‘“.63) 64) viele andere (…), gelegentlich auch Politiker wie An einer Säule in der Hamburger Rathaus- der spätere Reichskanzler v. Bü low (…). Ma- diele befindet sich ihr Medaillon-Portrait. thilde Arnemanns Ansprechpartner in Hamburg Siehe auch Ü Geschwister-Mendelssohn-Stieg, bei Hilfs- und Unterstützungsaktionen war Se- in diesem Band. nator Versmann [siehe Ü Versmannstraße, in Bd. 3 Siehe auch Ü Arnemannstraße, Ottensen, seit online**], die Familien waren verwandtschaft- 1892 und Karl-Theodor-Straße, Ottensen, seit 1878: Karl Theodor Arnemann (1804–1866), lich und als Nachbarn miteinander verbunden. Bankier, Kaufmann, Geländebesitzer, Konsul, Bei ihren alljährlichen Kuren in Karlsbad in Band 3 online**. fasste Mathilde Arnemann den Plan, eine solche Siehe auch Ü Bülowstraße, Ottensen, seit 1909: Erholung auch Menschen zu ermöglichen, die Bernhard Fürst von Bülow (1849–1929), sich das finanziell nicht leisten konnten und ini - Reichs kanzler, in Bd. 3 online**. tiierte eine Stiftung. Diese erhielt den klingen- Siehe auch Ü Kaiserhöft, HafenCity, seit 1888: Kaiser Wilhelm I (1797–1888); Kaiserkai, den Namen ,Elisabeth-Rosen-Stiftung‘ nach der HafenCity, seit 1871; Kaiser-Wilhelm-Höft, Legende von der heiligen Elisabeth, wonach Steinwerder, seit 1902; Kaiser-Wilhelm-Platz, sich die Gaben in deren Korb, die sie den Armen Bergedorf, seit 1888; Kaiser-Wilhelm-Straße, Neustadt, seit 1890, in Bd. 3 online**. bringen wollten, in Rosen verwandelten, als ihr über die Wohltätigkeit erzürnter Gatte den De- Siehe auch Ü Versmannkai, HafenCity, seit 1890: Johannes Versmann (1820–1899), Senator, ckel hob. Bei der Einweihung 1866 und so auch Bürgermeister von Hamburg, und Versmann- in den kommenden Jahren verkauften junge straße, HafenCity, seit 1935, in Bd. 3 online**. Mädchen Rosen an die begüterten Kurgäste, die sich zum eifrigen Spenden angeregt fühlten. (…) Mathilde Arnemann erschloss finanzielle Aschenputtelstraße Res sourcen für die Unterstützung ärmerer Men- Billstedt, seit 1952. Märchen schen, verstand dies jedoch nicht als Almosen. Es schien ihr wichtig, die Hausfrauen zur Selbst- „Ein Mädchen, sanftmütig und gut, verliert seine hilfe anzuleiten. In Altona richtete sie deshalb Mutter. Es sieht sich eines Tages einer schlim- eine Nähstube ein, freilich ohne großen Erfolg. men Stiefmutter gegenüber und außerdem zwei (…) unguten Stiefschwestern.“65) Aber Ende gut, alles

** Band 3 online unter: www.ham- den zweiten Blick. Streifzüge durch 1883. burg.de/maennerstrassennamen das Hamburger Rathaus. Hamburg 65) Ulf Diederichs: Who’s who im 1997, S. 101–106. Märchen. München 1995. 63) Auszüge aus dem Text von Inge 64) Staatsarchiv Hamburg: Nachlass Grolle über Mathilde Arnemann, in: Eilse Davids 622-1, Briefe von Ma- Rita Bake, Birgit Kiupel (Hrsg.): Auf thilde Arnemann, Brief vom 11. Juni Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 57

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gut: Ein Königssohn verliebt sich in Aschenput- Tod der Mutter die Haushaltung und Pflege ihres tel, und beide werden ein glückliches Paar – die Vaters. falschen Schwestern bestraft. Ulf Diederichs Seit früher Kindheit litt sie unter eine Verbie- schreibt: „Die folgenreichste Adaption gelang gung des Rückens und unter Wachstumsstörun- Walt Disney mit dem Zeichentrickfilm ,Cinde- gen. „Als Kind kränkelte sie stets, als Erwachsene rella‘ (1950). Wie schon mit ,Snow White‘ 1937 kam sie wegen ihrer Verwachsung niemals auf (Schneewittchen) gelang ihm die Kreation eines Bälle und hatte nur Verkehr in der Familie. Sie amerikanischen Idols, einer Leitfigur, die Hoff- liebte und pflegte ihre Eltern und wurde zum Se - nungen, Ängste, Möglichkeiten auf sich vereinte. gen für ihre Geschwister und für deren Kinder. Für die einen ein Aufstiegsmodell, wurde es für (…). [Sie] war musikalisch und spielte hübsch andere zum Triumpf des Guten, zur Belohnung (…), sie hatte ständigen Unterricht (…). Unge - und Anerkennung braven Verhaltens. (…) Fu- achtet des sen, daß sie so rore machte Colette Dowling mit der Enthüllung we nig unter Menschen des ,Cinderella-Complex‘ (1981) als einer regel- kam, hatte sie viele Frei - recht antrainierten weiblichen Angst vor Unab- er. Unter diesen war je- hängigkeit. Das ‚Aschenputtel-Syndrom‘, Kenn- doch einer, den sie wirk- zeichnung einer bestimmten Verhaltensstörung, lich liebte, aber den durfte ging als Terminus in den psychologischen Wort- sie nicht haben. (…) Es schatz ein.“66) wur de gesagt, daß er sich aus ihr nichts mache, daß es nur eine Finanzspeku- Assorweg lation sei (…). Da – gera - Auguste Baur Schnelsen, seit 1993, benannt nach Albertine de als sein Konkurs vor Assor. Siehe Ü Albertine-Assor-Straße, in diesem der Tür steht – bringt er seinen Antrag an und Band. wird natürlich von ihrem Vater abgewiesen, zu ihrem großen Kummer. Man suchte ihr begreif- Augustastraße lich zu machen, der junge Mann habe deutlich gezeigt, daß er sie nur als Kapital ansehe (…). Bergedorf, seit vor 1936, benannt nach der Frau Sie gab dem ganzen eine andere Deutung: ihrer eines Grundeigentümers Meinung nach hatte er mit seinem Antrag ge- zeigt, daß er das Zutrauen zu ihr habe, sie wer - Auguste-Baur-Straße de ihm helfen, und das sei nett von ihm. (…) Blankenese, seit vor 1903, benannt nach Auguste Als Tante Guste etwa vierzig Jahre alt war, Caecilie Baur (14.6.1821 Hamburg–20.4.1895 hatte sie wieder Herzenskummer: sie gewann ei- Hamburg), Wohltäterin und Stifterin nen Mann lieb, dem (…) auch sie gefiel und der jedenfalls um sie freite. Ihr Vater war damals Auguste Baur war das jüngste Kind von elf Kin- hoch in den Achtzigern und sehr hinfällig, so dern des Konferenzrates Georg Friedrich Baur daß man beständig mit seinem Ableben rech- (siehe Ü Baurs Park und Baurs Weg, in Bd. 3 onli - nete, und die Tochter konnte ihn unmöglich ver-

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: ne**). Sie blieb ledig und übernahm nach dem lassen. Das erklärte sie dem Geliebten und bat

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

66) Ebenda. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 58

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ihn zu warten, bis der Vater tot sei, was er auch zur Errichtung einer Siechenanstalt, die als versprach. (…) Sie bat ihn nur, mit seinen fast Tochteranstalt der Diakonissenanstalt in Altona wöchentlichen Teebesuchen fortzufahren, und 1884 eingeweiht und nach ihr „Augustenstift“ dafür lebte sie und war viele Jahre glücklich – benannt wurde. ihr Vater lebte ja noch immer. Plötzlich kam der Siehe auch Ü Baurs Park, Blankenese, seit 1922 Liebhaber [ein Witwer mit Kindern] immer sel- und Baurs Weg, Blankenese, seit vor 1903: tener, zuletzt blieb er ganz weg – sie litt sehr da - Georg Friedrich Baur (1768–1865), Grund- stückseigentümer, Kaufmann, in Bd. 3 online**. runter – und eines Tages las sie in der Zeitung, daß er jemand anderes geheiratet hatte. (…) Diese Geschichte hatte Tante Gustes Charak- Augustenhöh ter völlig verändert, machte sie reizbar, launisch Bahrenfeld, seit 1892, benannt nach der Frau des und schwierig. (…) Sie brauchte viele Jahre, um Grundeigentümers und Hausmaklers Richard zur Ruhe zu kommen, dann wurde sie ihren Mit- Sagermann, der 1892 diese Straße als Privat- menschen gegenüber wieder zugänglich. straße anlegte. Sie war schon immer religiös, nun verstärk- te sich dies noch; sie tat viel Gutes. (…). Ihr Un- glück war, daß sie niemals andere um Rat fragte, Augustenpassage sondern nur nach ihrem eigenen Gutdünken Sternschanze, seit 1954, benannt nach Auguste handelte und keine Ahnung davon hatte, wie Viktoria (22.10.1858 Dolzig/Kr. Sorau–11.4.1921 wenig sie die Welt und die Menschen kannte. Haus Doorn/Niederlande), Deutsche Kaiserin und Daher kam es oft, daß sie Leute vor den Kopf Königin von Preußen, Gemahlin Kaiser Wilhelm II. stieß und es war nicht im mer leicht, mit ihr zu- sammenzuleben.“67) Auguste Viktoria Friederike Luise Feodora Jenny, Dona Nach dem Tod des Vaters wurde der Baur’- genannt war die älteste Tochter des Herzogs Fried - sche Besitz in Blankenese (heute Baurs Park) an rich VIII. zu Schleswig-Holstein-Son der burg-Au - den ältesten Sohn übergeben. Auguste sollte gustenburg und dessen Ehefrau Prinzessin Adel- eine Art Mitbesitzerin sein. „(…) nun, auf den heid zu Hohenlohe-Langenburg. zweiten Platz geschoben zu werden in einem Auguste Viktoria „entstammt keinem der re- Haus, in dem sie immer die erste Rolle gespielt gierenden Fürstenhäuser, gilt als verarmt, und hatte, das behagte ihr gar nicht. Deshalb zog sie auch in Sachen Bildung fehlt ihr Einiges. Sie ist es vor, sich auf dem Grundstück (…) eine eigene ein Mädchen vom Land, das plötzlich ins Ram- Villa zu bauen (…). Als Winterwohnung bezog penlicht gerät. Liebe auf den ersten Blick ist sie eines der zehn Häuser des Großvaters in der Kronprinz Wilhelm wenigsten für sie. Von ihm Palmaille [siehe dazu Ü Georg Friedrich Baur, in ist das so nicht mit Sicherheit zu sagen. Die Zu- Bd. 3 online** unter Baurs Park]. Sie hatte einen stimmung des Kaiserhofs zur Hochzeit gilt als großen Troß dienstbarer Geister, Kutscher und Geste der Wiedergutmachung gegenüber ihrem Diener, Kammerzofe und natürlich eine Gesell- Vater (…). Preußen hatte ihm seine Erbansprü- schafterin.“68) che auf Schleswig und Holstein verweigert. Die Auguste Baur gab zum Bau der Blankeneser Mutter des Kronprinzen freut sich auf Dona. Kirche eine namhafte Summe und spendete Geld Sie ‚ist so gut und liebenswürdig (…). Sie besitzt

** Band 3 online unter: www.ham- burg 1965, S. 132f. burg.de/maennerstrassennamen 68) Julie Grüner, a.a.O., S. 132ff.

67) Julie Grüner geb. Raeder: Erinne- rungen an das Haus meiner Großel- tern Baur im Dänischen Altona. Ham- Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 59

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einen sanften, versöhnlichen Charakter, und das der. Kaiser Wilhelm II. hatte häufiger amouröse ist bei einer so großen Familie so unendlich viel Abenteuer, so z. B. mit der spanischen Tänzerin wert (…).‘ Zugleich erhofft sie von der zukünf- und Sän gerin Carolina Otero (1868–1965). Ca- tigen Schwiegertochter liberale Einflussnahme rolina Ote ro, durch eine brutale Vergewaltigung auf ihren Sohn. Darin wird sie die Prinzessin aus im Alter von elf Jahren unfruchtbar geworden, Pimkenau enttäuschen, deren Markenzeichen war die Geliebte vieler gekrönter Häupter, die Anpassungsfähigkeit und konservative Fröm- sie einander weiterempfahlen. Der sich nach au- migkeit ist. Sie wird die Kreise der Hofgesell- ßen hin sittenstreng gebende Kaiser Wilhelm II. schaft nicht stören.“69) schrieb für Carolina das Stück „Das Modell“. Am 27. Februar 1881 fand die Heirat zwi- Verließ Auguste Vik toria den Palast in Pots- schen Dona und Wilhelm, Prinz von Preußen, dam und fuhr durch die Dörfer der näheren Um- dem späteren Kaiser Wil- gebung, so z. B. durch Nowawes „sieht sie das helm II. statt. „Das poli- Elend in den Arbeiterquartieren der Maschinen- tische Berlin hatte die spinnereien und -webereien. Auf dem Rückweg Kronprinzessin in spe ins Marmorpalais fühlt sie sich schuldig. Das und künftige Kaiserin da- hindert sie nicht, den Luxus am Hof und einen mals nicht sonderlich luxuriösen Lebensstil zu lieben. Georg Hinzpe- höflich empfangen; sie ter, den Erzieher Wilhelms und späteren Gehei- war ihnen zu provinziell, men Regierungsrat des Kaiser, fragt sie: ‚Worin zu ungebildet und sie besteht die Hilfe, die ich in meiner augenblick- Auguste Victoria war drei Monate älter als lichen Stellung diesen unteren Klassen gegen- ihr Bräutigam – damals über beweisen kann?‘ Er bremst sie: die sozialen ein Skandal! Außerdem wurde die Wahl des Reformen könnten nicht von einer Einzelnen Prinzen als unpassend empfunden, da Auguste durch geführt werden. Einer ihrer Bündnispart- Viktorias Familie nach dem Verlust Schleswig- ner, Pastor Friedrich von Bodelschwingh [sie- Holsteins an Ansehen verloren hatte. (…). Am he Ü Bo del schwinghstraße, in Bd. 3 online**], sieht Hof nennt man sie wegen ihrer strengen protes- sofort, von welch großer Bedeutung ihr Engage- tantischen Frömmigkeit ‚Kirchen-Guste‘. Reichs- ment für die Entwicklung der sozialen Frage kanzler ‚Otto von Bismarck‘ [siehe Ü Bismarck- sein wird.“71) straße, in Bd. 3 online**] nannte sie gar die Auguste Viktoria übernahm die Protektorate ‚holsteinische Kuh‘ – gut genug, um frisches über die Deutsche Rot-Kreuz-Gesellschaft und Blut in das von Erbkrankheiten heimgesuchte den Vaterländischen Frauenverein. Unter ihrer Haus Hohenzollern zu bringen!“70) Schirmfrauschaft gründete sich 1890 der Evan- Im Volk war Auguste Viktoria dagegen sehr gelisch-Kirchliche Hilfsverein zur Bekämpfung beliebt und als Idealbild der Mutter verehrt. Das des religiös-sittlichen Notstände in den Städten. Kaiserpaar hatte sieben Kinder und lebte im Durch den Verein wurden mehr Geistliche ein- Marmorpalast des Potsdamer Neuen Garten. gestellt, denn allein in Berlin gab es auf über Familiäre und eheliche Krisen versuchte Au- 10 000 Menschen nur einen Pastoren. guste Viktoria auszugleichen. Doch im Lau fe der 1899 firmierte sie als Stifterin der Frauen-

Abb.: Bundesarchiv Abb.: Zeit lebte sich das Paar immer mehr auseinan- hilfe des Evangelisch-Kirchlichen Hilfsvereins.

** Band 3 online unter: www.ham- Frauenportraits aus Brandenburg- burg.de/maennerstrassennamen Preußen. Berlin 2010, S.86. 70) www.welt-der-rosen.de/namen_ 69) Cornelia Radeke-Engst: Kaiserin der_rosen/kaiserin_auguste_... Auguste Viktoria, in: Antje Leschons - 71) Cornelia Radeke-Engst, a. a. O., ki (Hrsg.): Anna, Lily und Regine. S. 87. Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 60

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„Dabei geht es um konkrete Aufgaben innerhalb Roten Kreuz zur Verfügung stellt. In Friedenszei- der Gemeinden, häusliche Krankenpflege, Fami- ten Krankenpflege und Ausbildung von Kranken- lienhilfe, Kinderbetreuung, Verteilung von Lie- pflegerinnen sowohl in dem Vereinshospital und besgaben und Besuche bei Alten und Einsa- Pflegerinnen-Asyl, als auch in der Privat- und Ar- men. (…) breit gefächert sind die sozial-diakoni- menkrankenpflege, sowie Beteiligung an der Vor- schen Hilfsangebote. Spannend ist jedoch auch bereitung von Reservelazaretten für den Kriegs- das geistige und geistliche Profil, das sich mit - fall und an der Linderung außerordentlicher entwickelt. ‚Der Boden des Evangeliums‘, von Notstände innerhalb des Deutschen Reiches. dem sie [Auguste Viktoria] im Gründungsaufruf Zu ordentlichen Mitgliedern sind unbe- schreibt, ist Nährboden für emanzi patorische scholtene Frauen und Jungfrauen befähigt gegen Frauenarbeit. Diese Entwicklung lag nicht in einen jährlichen Beitrag und unentgeltlicher ihrer Absicht.“72) Ausführung weiblicher Handarbeiten für den Im selben Jahr wurde die evangelische Zweck des Vereins, sowie sonstiger Tätigkeit für „Kaise rin Auguste Victoria Stiftung“ in Jerusa- denselben.”74) lem gegründet, ein Krankenhaus in erster Linie Der VFV wurde vom Adel dominiert. Auch für die ara bische Bevölkerung und eine Begeg- in Hamburg war die erste Vorsitzende eine Adli - nungsstätte für Israelreisende. ge: Gräfin Susanne von Oeynhausen, geb. Kahler Außerdem unterstützte Auguste Viktoria Di- (geb. 8.4.1850–nach 1935), die einer altein geses - akonissen-Stationen. „(…) Nur mit einem Ta- senen Hamburger Kaufmannsfamilie ent stamm - schengeld versehen waren die Frauen in Tracht te. Im Alter von 18 Jahren hatte sie Graf Julius von kostengünstige Arbeitskräfte, mit denen eine un- Oeynhausen geheiratet, der Zeremonienmeis ter entgeltliche kontinuierliche häusliche Kranken- am preußischen Hof war. Gräfin Su sanna von pflege zunächst in Berlin aufgebaut werden Oeynhausen soll der geistige Mittelpunkt der be- konnte.“ 73) rühmten Donnerstags-Teeabende in den Salons Und es wurden unter der Kaiserin viele der Kaiserin gewesen sein. 1886, nach dem Tod neue Kirchen in Berlin erbaut, was erhebliche ihres Gatten, kehrte die Gräfin nach Hamburg kritische Stimmen hervorrief. zurück und nahm bald in der Organisation der Auguste Victoria war mehrmals in Ham- Wohltätigkeit eine führende Stellung ein. Ihre burg, so am 18. Juni 1898 zur Enthüllung des Stellvertreterin war eine Bürgerliche aus Sena- Reiterstandbilds Kaiser Wilhelms I. vor dem Al- torenkreisen: Frau Senator Dr. Mönckeberg (sie- tonaer Rathaus und am 5. September 1904 im he Ü Mönckebergstraße, in Bd. 3 online**) . Rahmen der Herbstmanöver. Das 1878 erbaute Vereinshospital befand Auch der „Vaterländische Frauenhilfsverein sich Beim Schlump 85 und verfügte über 80 Bet- zu Hamburg“ (VFV) stand unter dem Protekto- ten. Im Pflegerinnen-Asyl war Platz für 60 Pfle- rat von Auguste Viktoria. Der Vereinszweck lau- gerinnen. tete: „In Kriegszeiten Fürsorge für die im Felde Während des Ersten Weltkriegs unterstützte Verwundeten und Erkrankten, indem der Verein die Kaiserin die Pflege von Verwundeten. alle dazu dienenden Einrichtungen unterstützt Nach dem Ersten Weltkrieg ging sie mit und die von ihm ausgebildeten Krankenpfle- ihrem Mann ins niederländische Exil und lebte

gerinnen dem Zentralkomitee der Vereine vom mit ihm im Haus Doorn in der Provinz Utrecht, 1907, S. 28a Brokesch). Leipzig Georg (Photograph Frauenbewegung, der deutschen Die Begründerinnen Aus: Anna Plothow, Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- S. 87. burg.de/maennerstrassennamen 74) Hermann Joachim: Handbuch der Wohltätigkeit in Hamburg, 1909. 72) Cornelia Radeke-Engst, a. a. O., S. 89. 73) Cornelia Radeke-Engst, a. a. O., Straßen Bd 2 001-062 Titelei+A:. 27.07.15 10:07 Seite 61

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wo sie nach der Selbsttötung ihres Kindes Joa- schen Frauenverein (ADF) ins Leben. In ihrer chim am 11. April 1921 verstarb. Ein halbes Jahr Rede auf der Gründungsveranstaltung des ADF nach dem Tod seiner Frau heiratete Wilhelm II. sagte Auguste Schmidt, die „Frauenbewegung die verwitwete Prinzessin von Schönaich-Caro- müs se weniger den Widerstand egoistischer lath. Männer als vielmehr die Teilnahmslosigkeit von Siehe auch Ü Auguste-Victoria-Kai, Helenen- Frauen fürchten, die sich in dem Zustand ewiger straße, in diesem Band. Kindheit und Unterordnung glück lich und zu- Siehe auch Ü Adalbertstraße, Osdorf, seit vor frieden fühlten“.75) 1934: Prinz Adalbert von Hohenzollern (1884– 1869 war Auguste Schmidt Mitbegründerin 1948), Sohn von Kaiserin Auguste Victoria und ihrem Ehemann, dem letzten deutschen des Vereins deutscher Lehrerinnen und Erziehe- Kaiser Wilhelm II., in Bd. 3 online**. rinnen und 1890 zusammen mit Helene Lange Siehe auch Ü Bismarckstein, Blankenese, seit (siehe Ü Helene-Lange-Straße, in diesem Band) des 1890 und Bismarckstraße, Eimsbüttel, seit Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins. Von 1869: Fürst Otto von Bismarck (1815–1898), 1866 bis 1895 gab sie zusammen mit Luise Otto- Reichskanzler, in Bd. 3 online**. Peters die Vereinszeitschrift des Allgemeinen Siehe auch Ü Bodelschwinghstraße, Alsterdorf, seit 1908: Friedrich von Boldeschwingh (1831– Deutschen Frauenvereins 1910), Pastor, Gründer der „Anstalt“ Bethel, in „Neue Bahnen“ heraus, Bd. 3 online**. danach fungierte sie als alleinige Herausgeberin dieser Zeitschrift. Auguste-Schmidt-Weg Von 1894 bis 1899 Bergedorf, seit 1987, benannt nach Auguste saß sie dem die bürgerli- Schmidt (3.8.1833 Breslau–10.6.1902 Leipzig), che Frauenbewegung ver- Deutsche Frauenrechtlerin. Mitbegründerin des tretenen Bund Deutscher Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. Motiv- Frauenvereine vor. Auguste Schmidt gruppe: Verdiente Frauen Charakterisiert wird Auguste Schmidt als die- Tochter eines Hauptmanns der Artillerie. Aus- jenige, die stets die „rechte Hand“ anderer Akti- bildung als Lehrerin. Im Alter von 28 Jahren vistinnen war, weil diese mehr das Licht liebten. Leiterin einer privaten höheren Mädchenschule Auguste Schmidt hingegen war die Unauffälli- in Leipzig, danach Leiterin des Erziehungsinsti- gere, jedoch stets unentbehrlich.76) tuts von Ottilie von Steyber. Hier wurde sie u. a. Auguste Schmidt setzte sich besonders für auch Lehrerin von Clara Zetkin. Zusammen mit die freie Berufswahl von Frauen aus allen sozi- Luise Otto-Peters (siehe Ü Luise-Otto-Peters-Weg, alen Schichten ein und nahm sich neben ihren in diesem Band) und Henriette Goldschmidt vielfältigen Vereinsaktivitäten noch die Zeit, No- gründete sie 1865 den Leip ziger Frauenbildungs- vellen zu schreiben, so die von „Tausendschön- verein. Auf der ersten deutschen Frauenkonfe- chen und Veilchen“ (1868) und 1895 die Erzäh- renz, die 1865 in Leipzig stattfand, rief Auguste lung „Aus schwerer Zeit“. Schmidt gemeinsam mit Luise Otto-Peters und Siehe auch Ü Helene-Lange-Straße, Luise-Otto- Marie Loeper-Housselle den Allgemeinen Deut- Peters-Weg, in diesem Band.

** Band 3 online unter: www.ham- http://www.fembio.org/biographie.p burg.de/maennerstrassennamen hp/frau/biographie/auguste-sc...

75) http://de.wikipedia.org/wiki/ Auguste_Schmidt (Stand: 19.3.015) 76) Vgl: Auguste Schmidt in Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 62

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Auguste-Victoria-Kai Steinwerder, seit 1902. Als Kai des Kaiser-Wilhelm- Siehe auch ÜAdalbertstraße, Osdorf, seit vor Hafens nach der deutschen Kaiserin Auguste 1934: Prinz Adalbert von Hohenzollern (1884– 1948), Sohn von Auguste Victoria und ihrem Victoria benannt, siehe Ü Augustenpassage, in Ehemann, dem letzten deutschen Kaiser Wil- diesem Band helm II., in Bd. 3 online**. B

Bacherweg chenschule der Stadt Hamburg, und machte dort Niendorf, seit 1982, benannt nach Clara Bacher zehn Jahre später ihren Lycealabschluss. Noch (15.10.1898 Hamburg–am 19.7.1942 deportiert im selben Jahr (1915) wechselte sie in das der nach Theresienstadt) und Dr. Walter Bacher (30.6. Schule angegliederte Lehrerinnenseminar über. 1893–am 19.7.1942 deportiert nach Theresien- Als sie es 1920 verließ, standen die Zeiten stadt), politisch und rassisch verfolgtes Ehepaar. schlecht für die frisch examinierte Lehrerin: in Motivgruppe: Opfer des Nationalsozialismus den politischen und wirtschaftlichen Krisen der Stolpersteine für beide vor dem Wohnhaus Gott- Nachkriegszeit war es fast aussichtslos, eine An- schedstraße 4; Stolperstein für Clara Bacher vor stellung zu finden. So taucht Clara Haurwitz’ ihrer Wirkungsstätte Gymnasium Klosterschule, Name erst 1922 in der Personalliste einer Schule, Westphalenweg 7. Stolperstein für Walter Bacher des Lyceums von Fräulein Predöhl am Hofweg vor seiner Wirkungsstätte Talmud Tora Schule, 88, auf – mit einem inflationsbedingten Gehalt Grindelhof 30. Mahnmal: Tisch mit 12 Stühlen, von 2256,55 Reichsmark. siehe dazu bei Ü Georg-Appel-Straße, in Bd. 3 on- An dieser kleinen, neunklassigen Privat- line**. schule unterrichtete Clara Haurwitz in den fol- genden Jahren verschiedene naturwissenschaft- Clara Bacher: Lehrerin an der Privatschule Hofweg liche Fächer. Eine spätere Schülerin ihres 88, Mitglied der SPD. Dr. Walter Bacher: Studienrat Mannes schilderte sie als „lebenslustig und gut an der Klosterschule, SPD-Mitglied. aussehend“. Schmal sei sie gewesen, schwarze Clara Bacher: Geboren in der Overbeckstra - Haare hätte sie gehabt und blaue Augen. Im ße 4a, Parterre. Tochter des Kaufmanns Gustav Jahre 1929 erscheint sie auf der Gehaltsliste Haurwitz und seiner Frau Bertha, geb. Hauer. ihrer Schule mit einem neuen Familiennamen: Die Eltern gehörten der jüdischen Religionsge- Clara hatte den Studienrat Dr. Walter Bacher ge- meinschaft an, ließen aber ihre fünfjährige Toch- heiratet, der seit einigen Jahren an ihrer alten ter Clara am 29. Juli 1903 evangelisch taufen. Schule Latein und Griechisch unterrichtete. Mit sieben Jahren trat Clara in die erste Klasse Auch er hatte jüdische Eltern, war evange- der angesehenen „Unterrichtsanstalten des Klos- lisch getauft, war – wie Clara – Mitglied der SPD ters St. Johannis“ ein, der ersten Höheren Mäd- und teilte ihre politischen Überzeugungen: Zu-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 63

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sammen mit Claras Bruder Rudolph nahmen die anderer jüdischer Lehrerinnen und Lehrer schließ - Bachers Ende der 1920-er, Anfang der 1930-er lich doch an der Talmud-Tora-Schule angenom- Jahre aktiv an den Veranstaltungen und Ausflü- men worden war, und ihrer kranken Schwieger- gen der sozialdemokratischen Volksheimbewe- mutter in der Gottschedstraße 4 im Stadtteil gung und der Sozialistischen Arbeiterjugend teil. Winterhude. Zeitweilig unterrichtete sie neben- Dann endeten mit einem Schlag die guten Jahre. amtlich Rechnen und Mathematik in der Fortbil- Wenige Wochen vor dem Machtantritt der Natio- dungsschule, aber ihre Bemühungen um eine re- nalsozialisten war Clara Bacher noch in den Vor- guläre Anstellung blieben erfolglos. stand der neugegründeten Vereinigung ehemali- Auch ihre Auswanderungspläne – wohl zu ger Klosterschülerinnen gewählt worden. Ein spät verfolgt – zerschlugen sich. Ihr Bruder, Dr. dreiviertel Jahr später vermeldet das Protokoll, Rudolph Haurwitz, der ihr und ihrem Mann eng dass „Herr Dr. Bacher (...) beurlaubt“ und verbunden war, musste sein Anwaltsbüro schlie- „Frau Dr. Bacher aus der Vereinigung ausgetre- ßen. Er hielt sich noch einige Zeit mit einem Ra- ten“ sei. Die sofort mit diogeschäft über Wasser. Ei nes Tages nahm er Hitlers Ernennung einset- sich mit einem Pistolenschuss das Leben. Auch zende Repression gegen seine und Claras Mutter schied 1941 durch Frei- politische Gegner und Jü- tod aus dem Leben. dinnen und Juden hatte Nachdem im Juni 1942 alle jüdischen Schu - auch das Ehepaar Bacher len in Deutschland geschlossen worden waren, nicht verschont: Walter war auch die letzte Frist für das Ehepaar Bacher Bacher wurde, möglicher- ab gelaufen. Am 19. Juli, ei nem heißen Sommer- weise auf Grund einer sonntag, brachte sie der Deportationszug in das De nunziation aus Kol le - Konzentra tionslager The resienstadt. Das letzte gen kreisen, im Mai 1933 schriftliche Zeugnis, das in Hamburg zurück- Clara und Walter beurlaubt und im Juli aus blieb, war das Protokoll des Gerichtsvollziehers Bacher dem Schuldienst entlas- über die Versteigerung von vier Silberbestecken sen; Clara Bacher musste ihren Sitz im Vorstand aus dem Besitz der „Clara Sara Bacher“ zu ei - räumen, während sich die restlichen Mitglieder nem Erlös von 65,65 Reichsmark. noch bei derselben Zusammenkunft „rückhaltlos In Theresienstadt überlebte Clara Bacher, in zu der Staatsauffassung (bekennen), wie sie von den Listen als „Arbeiterin“ geführt, noch zwei- der Regierung des Reiches und des hamburgi- einhalb Jahre, bis sie zusammen mit 1549 weite- schen Staates vertreten wird“. Ein halbes Jahr ren Männern und Frauen den Zug nach Au- später – ihr Mann hatte sich vergeblich um eine schwitz besteigen muss te. Dort traf der Transport Anstellung an der jüdischen Knabenschule Tal- am 9. Oktober 1944 ein, eine Woche vor Claras mud Tora beworben – verlor auch Clara Bacher 46. Geburtstag. ihre Arbeit: Das Lyceum von Fräulein Predöhl Ihr Mann war einige Tage vor seiner Frau in schloss wegen finanzieller Schwierigkeiten seine eine der Gaskammern von Auschwitz-Birkenau Pforten. geschickt worden. In den folgenden Jahren lebte Clara Bacher Falls Clara nicht in dem Güterwaggon ge-

Abb.: Gymnasium Klosterschule Gymnasium Abb.: mit ihrem Mann, der infolge der Auswanderung storben ist, wurde sie auf dieselbe Weise umge- Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 64

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bracht. Nur 76 Häftlinge tschechischer Herkunft Die Römer verehrten sie als Anna Perenna, überlebten diesen Transport. ‚Ewige Anna‘ (…). In ihrer christianisierten Form Text: Barbara Brix hatte Anna drei Ehemänner, gebar viele Heilige und wurde die Schutzpatronin der Hebammen und Bergleute. Neumann [Erich Neumann: Art Behnkenkammer and the Creative Uncon scious. Princeton, 1959] Wandsbek, seit 1950, benannt nach der Kammer- sagt da zu: ‚All dies zeugt von ihrem ursprüng- dame der Gemahlin Herzog Johann Adolphs. Er lichen Fruchtbarkeitsaspekt als Mutter Erde.‘ Die schenkte 1613 der Kammerdame auf diesem Ge- heilige Anna war für das Dogma der unbefleck- lände ein Stück Land ten Empfängnis der Jungfrau Maria, das 1854 nach sieben Jahrhunderten der Kontroverse als Glaubensartikel angenommen wurde, von ent- Bei der St. Gertrudkirche scheidender Bedeutung. In der offiziellen katho- Uhlenhorst, seit 1913, benannt nach der Lage der lischen Sicht wurde die Erbsünde durch den Sex- Straße, die an drei Seiten der St. Gertrudkirche ualakt übertragen. Damit Maria ohne den Makel entlangläuft der Erbsünde geboren sein konnte, mußte die Siehe Erklärung für St. Gertrud unter Ü Gertru- heilige Anna deshalb selbst von Sexualität frei denstraße, in diesem Band. sein. In Übereinstimmung damit stellte Johannes Trithemius die These auf, daß Anna ‚von Gott für ihren Dienst vor der Erschaffung der Welt er- wähnt wurde‘. Sie empfing ‚ohne die Tat eines Mannes und war so rein wie ihre Tochter‘. Zuerst akzeptierte die Kirche diese Lehre, weil sie versprach, das Problem der Sündenlo- sigkeit Marias zu lösen. Später wurde sie ver- worfen. Zwei jungfräuliche Geburten waren eine zuviel. Schließlich wurde gesagt, die heilige Anna habe Maria ganz normal empfangen, aber das Kind sei noch im Mutterleib von der Erb- St. Gertruden-Kapelle sünde befreit worden.“1) St. Annen-Kapelle Siehe auch Ü St. Annenbrücke, St. Annenplatz, Bei St. Annen St. Annenufer, in diesem Band. HafenCity, seit 1869, benannt nach der damals abgebrochenen St. Annen-Kapelle Beim Schillingstift Bezug zur Heiligen St. Anna: „Lange bevor die Iserbrook, seit 1982, nach der Lage beim Bibel geschrieben wurde, war die Göttin Anna Schillingstift bereits als Großmutter Gottes bekannt. Deshalb Dieses Stift heißt korrekt „Hermann und Lilly ist die Wahl ihres Namens für die Mutter der Schilling-Stift“ und wird getragen von der „Her-

Gottesmutter nicht besonders überraschend. (…) mann und Lilly Schilling Stiftung“. Schmidt, 1867. v.l.n.r.: P. Abb. Federzeichnung | 1830 um Wildenhagen, C. Lithographie 1975, Hamburg Hamburg. alte Das Schellenberg, Carl Aus:

1) Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen. Frankfurt a. M. 1983, S. 40f. Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 65

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Da das Stift sowohl den Namen des Stifters und an die Preußische Staatsbank abgeführt. als auch den der Stifterin trägt, wurde dieser Stra- „Diese veräußerte die Wertpapiere zunächst zu ßenname in dieser Publikation aufgenommen. Gunsten des Oberfinanzpräsidenten Berlin und Das Stift ist ein christlich geführtes Senioren- später für die jeweiligen Finanzämter“.4) und Pflegeheim, 1958 gegründet von dem ehe ma - Außerdem wurde Schilling 1933 „Vorstands - ligen Staatsfinanzrat der Preußischen Staats bank mit glied der Vereinigten Elektrizitäts- und Berg- und Teilhaber (von 1947–1956) des Bankhau ses werks AG (=Preußische Gesellschaften), der Brinckmann, Wirtz & Co. in Hamburg sowie Trä- Holding-Gesellschaft für den Industriebesitz des ger des Großen Verdienstkreuzes der Bundesre- Landes Preußen“.5) publik Deutschland (verliehen 1953) Hermann Popitz, der 1937 Mitglied der NSDAP gewor- Schilling (1893–1961). Gemeinsam mit seiner den war, be gann, ebenso wie Hermann Schilling, Ehefrau Aloysia (Lilly) Schilling (gest. 1978) woll- sich 1937/1938 gegen das NS-Regime aufzuleh- te er alten Menschen eine preiswerte und im nen. „Popitz reichte daher 1938 ein Rücktritts- christ lichen Sinne geleitete Unterkunft bieten. gesuch ein, das jedoch abgelehnt wurde. Dar- Das Altenheim wurde 1960 an der Isfeldstraße aufhin begann sich der monarchistisch und im Stadtteil Iserbrook eingeweiht und 2013 mo- nationalkonservativ geprägte Popitz in Wider- dernisiert. standskreisen zu engagieren, unter anderem Neun Jahre nach dem Tod Hermann Schil- mit einzelnen Mitgliedern der Mittwochsgesell- lings gründete Aloysia Schilling 1970 die Hermann schaft, einer konservativ-oppositionellen Grup- und Lilly Schilling Stiftung für medizi nische For- pe von hohen Beamten und Wissenschaftlern.“6) schung. Mit ihr wird kliniknahe Grundlagenfor- Popitz stand in Beziehung zum Wider- schung an neurologischen Universitätskliniken standskreis um Claus Schenk Graf von Stauffen- finanziert. berg und den „Männern des 20. Juli 1944“ und Hermann Schilling, gelernter Bankkaufmann wurde nach dem gescheiterten Attentat auf Hit- und von 1923 bis 1933 Leiter der Frankfurter Fi- ler verhaftet, vom Volksgerichtshof unter Roland liale der Commersbank, arbeitete von 1932 bis Freisler zum Tode verurteilt und in Plötzensee 1945 als Staatsfinanzrat unter dem preußischen gehängt. Finanzminister Johannes Popitz (1884–hinge- Hermann Schilling bekam über Popitz Kon- richtet in Berlin-Plötzensee am 2.2.1945). Ab takt zu diesem Widerstandskreis. Auch er wurde 1933 war Hermann Schilling Mitglied der Gene- nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli raldirektion der Preußischen Staatsbank (See- 1944 verhaftet. Er kam in das Berliner Zellenge- handlung). Die Preußische Staatsbank „verwal- fängnis Lehrter Straße 3, wurde dort Sprecher tete und verwertete ab 1938 im großen Umfang der Gefangenen und versuchte noch am selben von antisemitisch Verfolgten zwangsweise ver- Tag seiner Entlassung, dem 21.4.1945, aus dem äußerte oder zur Begleichung der ‚Judenvermö- Gefängnis, die Entlassung der Gestapo-Häftlinge gensabgabe‘ in Zahlung gegebene ‚börsengän- zu erreichen.7) gige Aktien und Kuxe‘“.2) 1941 wurden alle 1947 wurde Schilling nach dem Tod von Paul „zum amtlichen Börsenhandel oder zum gere- Wirtz – in Absprache mit Erich Warburg (sie he Ü gelten Freiverkehr zugelassenen deutschen Ak- War burgstraße, in Bd. 3 online**) – als persönlich tien, Kuxe und Kolonialanteile“3) Reichseigentum haf tender Gesellschafter im Bankhaus Brinck-

** Band 3 online unter: www.ham- durch die Reichsfinanzverwaltung in ses. Hamburg 1998, S. 122. burg.de/maennerstrassennamen Hessen. Frankfurt a. M. 2004, S. 256. 6) Wikipedia: Johannes Popitz. 3) Ebenda. Stand: 28.12.2014. 2) Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Le- 4) Ebenda. 7) Vgl: Johannes Tuchel: „… und ihrer galisierter Raub. Die Ausplünderung 5) Eckart Kleßmann: M. M. Warburg aller wartete der Strick.“ Das Zellen - der Juden im Nationalsozialismus & Co. Die Geschichte eines Bankhau- gefängnis Lehrter Straße 3 nach dem Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 66

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mann, Wirtz & Co. eingestellt. In dieser Zeit ging dass er als Erwerber erst durch eigenes Engage- es auch um die Wiedergutmachungsleistungen ment ein krisengeschütteltes ‚jüdisches‘ Bank- des Bankhauses an die Warburgs. Die Verhand- haus wieder auf Erfolgsspur gebracht habe. Ihm lungen hierzu führten Brinckmann und Schilling und nicht den ehemaligen Inhabern müsse so- mit den Warburgs. mit auch ein Großteil der von dem Unterneh- 1938 hatte die Warburgbank die Firma zwar men in der Entziehungszeit erwirtschafteten Ge- an die Vertrauten Rudolf Brinckmann und Paul winne zugestanden werden.“8) Schließlich kam Wirtz, aber unter dem Zwang des Nationalsozia- es 1949 zu einem Rückerstattungsvergleich, der lismus, abgegeben, d. h. Brinckmann und Wirtz „weitestgehend die ursprünglichen Forderungen wurden persönlich haftende Gesellschafter und der Geschädigten bestätigte“.9) Warburgs erhiel- die Bank in eine Kommanditgesellschaft umge- ten eine 25-prozentige Kommanditbeteiligung. wandelt. Nun stritten sich die Warburgs mit Gleichzeitig wurde ihnen eine Aufstockung der Brinckmann und Schilling um die Entschädi- Beteiligungsquote innerhalb der nächsten fünf gungssumme. „Im Mittelpunkt stand die Bewer- Jahre auf 50% angeboten, wovon die Warburgs tung der Goodwill- und Nutzungsschäden. Weit- – wahrscheinlich aus finanziellen Gründen – gehende Einigung herrschte darüber, dass den keinen Gebrauch machten. Dies sollte sich in Warburgs als Entschädigungs leistung eine Un- den folgenden Jahren 1950-er Jahren als Handy- terbeteiligung an dem Bankhaus Brinckmann, cap erweisen, als nämlich Erich Warburg den Wirtz & Co. eingeräumt werden sollte. Ledig- Wunsch äußerte, als aktiver Partner in das Bank- lich die Höhe der Beteiligung war umstritten. haus wieder einsteigen und der Bank den alten Während Siegmund und Erich Warburg einen Namen wiedergeben zu wollen. „Insbesondere 30-prozentigen Anteil an dem Kapital der Bank Hermann Schilling plädierte wiederholt gegen von rund 15,5 Millionen RM einforderten, hielt eine Aufnahme Warburgs in die Geschäftslei- Brinckmann zehn Prozent für ausreichend, um tung und versuchte die Kommanditisten für die Ansprüche der Geschädigten angemessen seine Position zu mobilisieren. Zu einem voll- abzudecken. Dem Hinweis der Warburgs, dass ständigen Bruch zwischen Schilling und Erich das Bankhaus 1938 zwar an einen Vertrauten, Warburg kam es 1952, als jener, unterstützt von dennoch aber unter Zwang abgegeben worden einem Teil der Anteilseigner, jedoch ohne Ab- sei und sie selbst nie eine Gegenleistung für den stimmung mit Brinckmann, eine vertrauliche Er- immateriellen Firmenwert des 150-jährigen Tra - klärung vorlegte, in der die Warburg-Familie auf- ditionsunternehmens erhalten hatten, stellte gefordert wurde, ihren Geschäftspartnern nicht Brinckmann entgegen, dass trotz alledem nicht noch weitere Wiedergutmachungslasten abzu- von einer ‚Arisierung‘ im eigentlichen Sinne ge- verlangen. In einem höchst provozierenden Ton- spro chen werden könne. Da das Bankhaus be- fall hieß es u. a.: ‚Für die Kommanditisten be- reits durch die Bankenkrise geschwächt war und deuteten die bisherigen Leistungen bereits ein sich 1938 wei tere Geschäftseinbußen ergaben, erhebliches Opfer, da sie – anders als die Familie war laut Brinckmann zum Zeitpunkt der Über- Warburg [sic!] – vermögensmäßig bereits unter gabe längst kein Goodwill mehr vorhanden. In den Kriegs- und Kriegsfolgeschäden schwer zu fast schon klassischer Art und Weise übernahm leiden haben‘. Hiermit stilisierten sich die ei- er das weit verbreitete Argumentationsmuster, gentlichen Nutznießer der Verfolgung selbst zu

20. Juli 1944. Berlin 2014, S. 193 u. 196. Zeitschrift für Unternehmensge- 8) Ingo Köhler: Die „Arisierung“ der schichte Bd. 14.) Privatbanken im Dritten Reich. Ver- 9) Ingo Köhler, a. a. O., S. 516. drängung, Ausschaltung und die Frage der Wiedergutmachung. Mün- chen 2005, S. 515. (Schriftenreihe zur Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 67

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Opfern von Krieg und Wiedergutmachung und übrig gebliebenen preußischen Staatsbesitzes, taten die Vermögensverluste der Geschädigten hat letzten Endes seine Arbeitskraft verzehrt. Als im Vergleich als vernachlässigbar ab. Ebenso un- er 1956 bei Brinckmann, Wirtz & Co ausschied, verständlich musste Erich Warburg die Argu- tat er es, um sich nur noch den Gesellschaften mentation erscheinen, dass der Name Warburg zu widmen, denen er sich entweder in seiner Ei- für die Bank keinen Goodwill mehr darstellen, genschaft als Vorstand oder als Aufsichtsrat ver- sondern sich im Gegenteil die Aufgabe der Fir- bunden fühlte. Dazu zählen u. a. die Vereinigte menbezeichnung Brinckmann, Wirtz & Co. ne- Elektrizitäts- und Bergwerks AG (VEBA), die gativ auf das Geschäft auswirken würde, weil Mut ter gesellschaft der Preußischen Elektrizitäts sie nun den erfolgreichen Aufstieg der Bank AG (Preag), die Bergwerksgesellschaft Hibernia nach 1945 symbolisiere. Während die Ausein- und auch die Preußische Staatsbank (Seehand- andersetzung zwischen Warburg und Schilling lung). (…) Schilling war ein sozial denkender in einer gegenseitigen Androhung rechtlicher Mann im besten Sinne des Wortes. Ein Jahr vor Schritte eskalierte, zog sich Brinckmann auf die seinem Tode schuf er in Hamburg die ‚Hermann Position zurück, dass er über einen Beitritt eines und Lilly Schilling-Stiftung‘, (…). Unvergessen Warburg-Vertreters und die Frage der Namens- sind die von ihm abgehaltenen Pressekonferen- gebung verhandeln würde, ihm aber durch die zen, in denen er mit ungewöhnlich großer Offen- ablehnende Haltung der Gesellschafter-Gruppe heit Ein blick in die von ihm geleiteten Betriebe um Schilling die Hände gebunden seien (…).“10) gab (…), weil er sich der Öffentlichkeit verant- Schilling wollte offenbar „den offenen Bruch mit wortlich fühlte.“12) den Warburgs. (…) 1956 verließ Hermann Schil- Siehe auch Ü Warburgstraße, Rotherbaum, seit ling angesichts der unüberbrückbaren Differen- 1947: Max Warburg (1867–1946), Bankier, in zen das Bankhaus. Die frei werdende Position Bd. 3 online**. wurde Erich Warburg angeboten, der damit 11) sein langjähriges Ziel verwirklichen konnte“, Berta-Kröger-Platz schreibt der Wirtschaftshistoriker Ingo Köhler. Wilhelmsburg, seit 1982, benannt nach Berta Hermann Schilling widmete sich fortan an- Maria Sophie Kröger, geb. Bischoff (24.9.1891 deren Aufgaben, verstarb jedoch bereits im Alter Harburg– 14.1.1962 Hamburg), Bürgerschaftsab- von 68 Jahren. geordnete, Einzelhändlerin, Hausangestellte Die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ schrieb 1961 in einem Nachruf über Hermann Schilling: Berta Kröger kam aus einem Arbeiterhaushalt – „Mit ihm verliert die deutsche Wirtschaft einen der Vater war Maschinist/Heizer. Nach dem Be- Mann, der sich nach dem Kriege an maßgeb- such der Volksschule arbeitete sie als Hausange - licher Stelle innerhalb der Kreditwirtschaft um stellte. Seit 1912 war sie Mitglied der SPD, von ihren Wiederaufbau bemüht und – dies ist jetzt 1919 bis 1927 Mitglied des Gemeinderats Wil- keine Phrase – dabei einen großen Teil seiner Ge- helmsburg, von 1919 bis 1921 Mitglied des Kreis- sundheit geopfert hat. Seine Doppelstellung, er tages Harburg und von 1921 bis 1933 Mitglied war von 1947 bis 1956 persönlich haftender Ge- des Preußischen Landtags, Wahlkreis Hanno- sellschafter im Bankhaus Brinckmann, Wirtz & ver-Ost. Von 1928–1933 fungierte sie als Beisit- Co, Hamburg, und fühlte sich als Hüter des noch zerin im Präsidium des Preußischen Landtages.

** Band 3 online unter: www.ham- www.zeit.de/1961/04/staatsfinanz- burg.de/maennerstrassennamen rat-hermann-schilling

10) Ingo Köhler, a. a. O., S. 517f. 11) Ingo Köhler, a. a. O., S. 518. 12) Die Zeit vom 20. Januar 1961. Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 68

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Im Preußischen Landtag Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem war sie hauptsächlich im Ohlsdorfer Friedhof. Rechtsausschuss und bei der Beratung sozialpoliti- Bertha Keyser wuchs mit vier Geschwistern in ein- scher Fragen tätig. Wäh- fachen Verhältnissen auf. Nachdem der Vater, rend der Zeit des Natio- ein Schmiedemeister, gestorben war, geriet die nalsozialismus betrieb sie Familie in finanzielle Nöte. Deshalb wurde Bertha als Einzelhändlerin ein zu einem Onkel nach Nürnberg geschickt, wo Brotgeschäft am Vogel- sie in dessen Bäckerei mitarbeiten musste. 1885 hüttendeich, das sie auch folgte die Mutter mit den restlichen Kindern. Ber- noch nach dem Zweiten tha arbeitete in einer Spielzeugfabrik, um zum Berta Kröger Weltkrieg neben ihrer po- Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Später litischen Arbeit weiter- ging sie nach Wien, 1902 nach England, arbeitete führte. Gleich nach der Machtübernahme durch dort zunächst als Hausangestellte, dann als Rei- die Nationalsozialisten kam Berta Kröger für sebegleiterin. Nach dem Tod der Mutter gab Ber- kurze Zeit in so genannte Schutzhaft. tha diese Tätigkeit auf und widmete sich ihrer Nach dem Zweiten Welt krieg wurde Berta Berufung, der Arbeit in wohltätigen Einrichtun- Kröger Mitglied des Vorstandes des SPD-Bezirks gen. Sie arbeitete in einem Diakonissenhaus, Hamburg Nord-West, Vor sitzende des SPD-Be- schied dort jedoch ein Jahr später wegen unter- zirksfrauenausschusses Hamburg Nord-West, Lei- schiedlicher Auffassung über die Art und Weise terin der sozialdemokratischen Frauen im Dis trikt wie Hilfe zu leisten sei, wieder aus. Wilhelmsburg, Zweite Vorsitzende der Hambur- Bertha Keyser wollte den Kranken nicht nur ger Arbeiterwohlfahrt, Beiratsmitglied des Haupt - mit Rat und Tat zur Seite stehen, sondern ihnen ausschusses der Arbeiterwohlfahrt, Kuratoriums - auch kleine materielle Wünsche erfüllen. Nach mitglied des Wilhelmsburger Krankenhauses einem Gastspiel als Kammerzofe bei einer fran - und Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft zösischen Gräfin, zog es sie wieder zu den Ar - von Oktober 1946 bis Januar 1962. Ihre politi- men. Sie ging in die Armenwohnviertel von Paris, schen Schwerpunkte lagen bei den Themen Ge- lebte dort in einer Kürschnerwerkstatt, half beim fängnisfragen und Wiedergutmachung. Fellespannen und Pelznähen, malte Bilder und Seit 1957 war Berta Kröger auch Mitglied des verkaufte sie für fünf Francs das Stück. Dann er- Präsidiums der Hamburgischen Bürgerschaft, seit hielt sie das Angebot, als Aufseherin in einem 1952 Mitglied des Bürgerausschusses und vier- Frauengefängnis zu arbeiten. Bertha Keyser führ- zehn Jahre Deputierte der Gefängnisbehörde. te dort einige Neuerungen ein: Sie sang mit den weiblichen Häftlingen, hielt mit ihnen Andacht und betete mit ihnen. Weil sich einige Mädchen Bertha-Keyser-Weg dabei nicht gut betrugen, wurden Bertha Keyser St. Pauli, seit 1983, benannt nach Bertha Keyser diese Tätigkeiten ver boten. Sie kündigte, wurde (24.6.1868 Maroldsweisach b. Coburg–21.12.1964 Erzieherin in einem Mädchenheim im Elsass. Die Hamburg), Helferin der Armen. Gründerin eines Anstaltsleitung monierte Bertha Keysers zu große eigenen Missionswerkes Nachsichtigkeit gegenüber den Mädchen. v.l.n.r.:Abb. J. o. Heimatlosen, der Mutter Lüders: Barbara | Hamburg Staatsarchiv Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 69

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Berthas Weg führte sie nun zur Heilsarmee. ihr Standort war damals dort, wo heute das Em- Doch auch dort schied sie bald wieder aus, weil porio-Hochhaus steht) nahe der Musikhalle. Nun ihr die Heilsarmee zu reglementiert arbeitete. Sie hatte die Mission ein Haus für sich allein. zog nach Nürnberg, um im dortigen Armenvier- 1927 richtete Bertha Keyser ein Frauenob- tel eine eigene Missionsarbeit aufzubauen. Drei- dachlosenheim in der Winkelstraße 7 ein, das den einhalb Jahre später (1912) übergab sie diese Ar- Namen „Fels des Heils“ erhielt. Für obdachlose beit der Landeskirche und zog 1913, dem Ruf Männer fand sie in der des Leiters der Hamburger Strandmission fol- Nähe des Hauptbahnho- gend, nach Hamburg. Dort arbeitete sie ehren- fes – in der Stiftstraße – amtlich im Missionshaus in der Richardstraße. ein neues Domizil. Aber auch hier kam es zu Konflikten, denn Ber- Als die Hamburger tha Keyser behandelte alle Insassen gleich. Das Be hörden aus der Winkel - widersprach allerdings der üblichen Praxis. Neid straße eine Bordellstraße und Missgunst erschwerten ihr obendrein noch machten mit Eisentoren die Arbeit und so kam Bertha Keyser auf die Idee, am Ein- und Ausgang der eine eigene Mission aufzubauen. Die ers ten Räu- Straße, fand Bertha Key- me fand sie dazu am Alten Steinweg 25. Hier ser in der Rothesoodstra - Bertha Keyser schuf sie die Mission unter der Straßenjugend, ße eine neue Unterkunft. hinzu kamen die Betreuung von Obdachlosen 1929 gründete sie ei - und Prostituierten, Armenspeisungen, Straßen- nen Evangelisch-Sozialen Hilfsverein. Die Beiträ- gottesdienste und Gefängnis- und Krankenbesu- ge der Mitglieder dienten zur Unterstützung der che. Die Finanzierung erfolgte durch Spenden Mis sion. reicher Kaufleute, Firmen oder Privatpersonen, Während des Zweiten Weltkrieges konnten, die Bertha Keyser persönlich aufsuchte. trotz der schwierigen Umstände, die Armenspei- Im letzten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs sungen in Kellern und Bunkern weiterhin durch- zog Bertha Keyser in eine größere Wohnung am geführt werden. Als 1943 ihr dreistöckiges Heim Neuen Steinweg, in der ca. 60 Menschen über- „Fels des Heils“ in der Rothesoodstraße den Bom- nachten konnten. Da sich jedoch die Hausbe- ben zum Opfer fiel, suchte Bertha Keyser sofort wohner über den lauten Betrieb beschwerten, nach einem neuen Haus. 1945 konnte sie ein wurde es Bertha Keyser verboten, Obdachlose kleines Zimmer in der Langen Reihe 93 mieten. zu beherbergen. Sie musste ausziehen und fand Dort wohnte sie mit Schwester Anna Bandow, in der Jugendherberge in der Böhmkenstraße ein die ihr den Haushalt führte, und dort wurden neues Zuhause mit 80 Betten. auch die zahlreichen Essensgäste beköstigt. In den Jahren der Wirtschaftskrise richtete Mehrere Großküchen hatten sich bereit erklärt, Bertha Keyser drei Feldküchen ein, über die täg- für Bertha Keysers Missionswerk mit zu kochen. lich 600 Portionen Mittagskost an die Armen Unter Hamburgs Firmen und Kaufleuten verteilt wurden. erwarb sich Bertha Keyser viele Freunde und 1925 fand Bertha Keyser für ihre Obdachlo- Gönner, die sie regelmäßig mit Sach- und Geld- senmission eine neue Bleibe in der Winkelstra- spenden unterstützten. Eine große Hamburger ße, (die Straße ist heute nicht mehr vorhanden; Kaffeefirma zahlte die Miete ihrer kleinen Laden - Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 70

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wohnung im Bäckerbreitergang 7, wohin sie ge- abgehend von der Baron-Voght-Straße in der Nähe zogen war, nachdem sich die Nachbarschaft aus der Flottbeker Reithalle. der Langen Reihe über sie beschwert hatte.13) Um die Jahrhundertwende entstand im auf- strebenden Dorf Groß Flottbek, das sich zu ei - nem Villenvorort entwickelt hatte, der Wunsch Berthastraße nach einer angemessenen Schulbildung für die Barmbek-Süd, seit 1866, benannt nach der Toch- Kinder der bessergestellten Bevöl kerung. Der ter des Grundeigentümers F. H. D. Wagner Pinneberger Landrat Scheiff und der Blankene- Siehe auch Ü Wagnerstraße, Barmbek-Süd, seit ser Propst Paulsen beriefen zum 22. Januar 1901 1877: Hans Heinrich David Wagner (1816– die Groß Flottbeker Ge meinde versammlung ein 1872), Bauer und Grundstücksbesitzer, über dessen Grundstück die Straße verlief, in Bd. 3 und baten die Gemeindever tre ter um finanzielle online**. Unterstützung für die Einrichtung von so ge- nannten Vorschulklassen, die die Flottbeker Kin- der auf die höheren Schulen der Nachbarorte Bertha-Uhl-Kamp Altona und Blankenese vorbereiten sollten. Ge- Groß Flottbek, seit 1979, benannt nach Bertha bildet wurde eine Schule mit einem Kuratorium Uhl (25.12.1867–30.3.1955 Hamburg), Leiterin als Aufsichtsgremium, das nicht der Gemeinde der ehemaligen Kuratoriumsschule in Groß Flott- zugehörte. Die enge Verbindung wurde aber bek, heute Gebäude der Volkshochschule West, dadurch deutlich, dass der Gemeindevorsteher Waitzstraße 31 Lüdemann (siehe Ü Lüdemannstraße, in Bd. 3 on- line**) gleichzeitig auch zum Kuratoriumsvor- Viele Menschen in Flottbek und Othmarschen sitzenden gewählt wurde. Das Kuratorium be- erinnern sich noch an das Bertha-Lyzeum, die stand aus angesehenen Männern der Gemeinde frühere höhere Schule für Mädchen, die heute und hatte u. a. die Aufgabe, die Schulkonzession fortgeführt wird als Koe- zu beantragen und die Schulleiterin zu berufen. dukationsschule Gymnasi - Die ersten Lehrerinnen kamen von einer ge- um Hochrad. Doch kaum scheiterten Privatschule, offizieller Schulleiter jemand weiß etwas über wurde zunächst Propst Paulsen. Die intern ein- die Frau, die mit dem Na- gesetzte Schulleiterin, Fräulein Stehn, konnte men Bertha-Lyceum ge- aus „äußeren Gründen nicht dauernd für die ehrt wird. Selbst ehemali - Schulleitung gewonnen werden“. So übertrug ge Schülerinnen schütteln das Kuratorium zu Ostern 1902 die Schulleitung den Kopf, wenn sie da- an Fräulein Bertha Uhl, die zuvor zwölf Jahre Bertha Uhl 1903 nach gefragt werden, ob lang an einer Schule in Eberswalde gearbeitet sie etwas über Bertha Uhl hatte. Mit 34 Jahren kam sie nach Groß Flottbek. wissen. Es ist das Verdienst des Bürgervereins Auf Grund der guten Arbeit der ersten drei Leh- Flottbek-Othmarschen, dass die Stadt eine neue rerinnen konnte sie die Schule mit großem Er- Straße in Groß Flottbek nach ihr benannte. Seit folg weiter ausbauen. Aus der dreiklassigen Vor- 1979 gibt es den Bertha-Uhl-Kamp, eine kleine schule wurde durch jährlichen Aufbau einer

Sackgasse, in einer Siedlung von Stadthäusern, weiteren Klasse eine zehnklassige Höhere Mäd- v.l.n.r.:Abb. akg-images/bilwissedtion | Eitmann Hochrad/Johann Gymnasium Gedenkschrift

** Band 3 online unter: www.ham- Keyser bearb. von Barbara Lüders. burg.de/maennerstrassennamen Hamburg o. J.

13) Vgl. Bertha Keyser: Mutter der Heimatlosen. Nach der Lebensbe- schreibung von Schwester Bertha Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 71

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chenschule mit Knabenvorschule, die im Jahre nem Klosterinternat in Fritzlar erzogen, dann bei 1909 die Anerkennung als Lyceum erhielt. 1915 ihrer Großmutter La Roche in Offenbach. Später übernahm die Gemeinde Groß Flottbek die bis- lebte sie bei ihrer Schwester Gunda in Marburg, herige Kuratoriumsschule als öffentliches Ly- wo sie auch Karoline von Günderrode (1780– ceum und erkannte damit auch die hervorra- 1806) kennenlernte und sich mit ihr befreunde- gende Arbeit der Direktorin Bertha Uhl an. Doch te. 1806 brach Karoline von Günderrode die Be- eine ernstliche Erkrankung führte dazu, dass ziehung zu Bettina ab und nahm sich wegen Bertha Uhl vom Sommer 1915 bis Ostern 1916 Lie bes kummer das Leben. 34 Jah re später, 1840, beurlaubt werden musste und anschließend ihr gab Bettina von Arnim ihren Briefwechsel mit Amt niederlegte. Ihr zu Ehren erhielt die Schule der Freundin heraus. den Namen Bertha-Lyzeum. Diesen Namen be- Bettina galt in ihrer Kindheit als „äußerst hielt sie bis zur Eingemeindung in die Stadt lebhaftes, den Konventionen trotzendes Mäd- Hamburg 1938. Doch was nun offiziell Ober- chen, das bildungshung rig versuch te, die ihm schule für Mädchen in Hamburg-Groß Flottbek gesetz ten Schranken zu umgehen. Sie studierte hieß, blieb im Bewusstsein der Bevölkerung Musik, komponierte, arbeitete im Garten, inter- noch über Jahre hindurch das Bertha-Lyceum. essierte sich für Naturbeobachtungen und setzte Bertha Uhl zog nach Berlin, kehrte aber nach durch, hebräisch lernen zu dürfen.“14) dem Zweiten Weltkrieg nach Groß Flottbek zu- 1806 befreundete sich Bettina mit Goethes rück und wohnte in der Hölderlinstraße. Sie Mutter. Aus deren Erzählungen über Goethes brachte ihrer alten Schule reges Interesse entge- Kindheit entstanden Bettinas „Briefbücher“. gen und hielt Kontakte zu früheren Schülerin- Bettina besuchte Goethe nen aufrecht. (siehe Ü Goethestraße und Text: Jürgen Timm Goe the allee, in Bd. 3 onli- Siehe auch Ü Lüdemannstraße, Groß Flottbek, ne**) öfter in Weimar. seit 1926: Joachim Lüdemann (1861–1934), Goethe brach später die Gemeindevorsteher in Groß Flottbek, in Bd. 3 online**. Beziehung wegen eines Streits zwischen Bettina und Christiane von Goe- Bettinastieg the ab. Bettina von Arnim Osdorf, seit 1953, benannt nach Elisabeth Catha- 1811 heiratete Bettina rina Bettina(e) von Arnim (4.4.1785 Frankfurt/M.– den Dichter Achim von 20.1.1859 Berlin), Schriftstellerin Arnim (siehe Ü Arnimstra ße, in Bd. 3 online**). Dieser hatte mit Bettinas Bruder Clemens die Bettina wurde als siebtes Kind des Großkauf- Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ manns Pietro Antonio und der Maximiliane La herausgegeben. Sieben Kinder wurden geboren. Roche, Enkelin von Sophie von La Roche und Das Ehepaar stritt sich oft über die Erziehung Schwester von Clemens Brentano (siehe Ü Bren - der Kinder so wie über Geld und Wohnsitz. Die tanostraße, in Bd. 3 online**), geboren. Nach dem Familie wohnte auf Achims Gut Wiepersdorf in Tod der Mutter 1793 wurde sie mit ihren Schwes- der Mark und in Berlin, Bettina bevor zugte die tern bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr in ei- Großstadt Berlin. „Ihre sieben Kinder erzog sie

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

14) Florence Hervé, Ingeborg Nödin- ger: Lexikon der Rebellinnen. Von A bis Z. Dortmund 1996, S. 18. Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 72

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nach modernen Erziehungsidealen. Sie forderte Humboldt (siehe Ü Humboldtstraße, in Bd. 3 on- öffentliche Schulen anstelle der Haus lehrer und line**), Fürst Pückler-Muskau, Caroline und Do- Sportunterricht.“15) rothea Schlegel (siehe Ü Schlegelsweg, in diesem Bettina von Arnims Leben wurde charakte- Band), das Ehepaar Varnhagen von Ense (siehe risiert als „unaufhörliche Bewegung, immer im Ü Rahel-Varnhagen-Weg, in diesem Band), die Ge- Ge gensatz zu sich selber und zu anderen (…), schwister Tieck (siehe Ü Tiecksweg, in Bd. 3 on- ständige Ortswechsel (…), Reisewut (…). Bald line**). lauscht (…) Bettina in Frankfurt zu Füßen der Mit ihrem Buch „Dies Buch gehört dem Kö- Frau Rath Goethe den Erzählungen der mütter- nig“, eine empirische Studie über die Armut, die lichen Freundin, bald plant sie mit der Schwes- sie dem preußischen König Friedrich Wilhelm ter Lulu in eine Reise nach Berlin – in IV. widmete, wurde Bettina zur Sozialkämpferin. Männerkleidern. Eben noch hing sie auf dem In diesem Band machte sie die Obrigkeit ver - Brentanoschen Landgut zu Winkel im Rheingau antwortlich für das Elend der Untertanen. Am auf mitternächtlichen Spaziergängen melancho- 15. Mai 1844 ließ Bettina von Arnim in allen lischen Gedanken nach, wenige Tage später, und großen Zeitungen Deutschlands die Veröffentli- sie bringt auf dem Starnberger See aus Zorn und chung ihres „Armenbuches“ ankündigen. Mutwillen das Boot der Familie Jacobi fast zum Auch forderte Bettina den König auf, die Kentern (…). Wilhelm von Humboldt beschei- Todes strafe abzuschaffen. nigt ihr: ‚Solche Lebhaftigkeit, solche Gedanken- Die Folge ihres sozialen und demokrati- und Körpersprünge (…), so viel Geist und so schen Engagements war: Bettina von Arnim viel Narrheit ist unerhört.‘ Bettina weiß den wurde bespitzelt, ihre Briefe von der Polizei auf- Schüchternsten anzuziehen und den Gutwillig- gebrochen. sten abzustoßen, sie ist die stillste und die lau- Die dauernden Zusammenstöße mit der teste, die verträumteste und die bizarrste, die Zensur veranlassten sie, einen eigenen Verlag zu feinfühligste und die taktloseste, ein Engel und gründen: die Arnim’sche Verlagsexpedition. Um ein Irrwisch.“16) Bettina von Arnim auch bei diesem Unterfangen Nachdem Achim von Arnim 1831 gestorben zu behindern, beschuldigte sie 1847 der Berliner war, lebte Bettina fortan ausschließlich in Berlin, Magistrat der Steuerhinterziehung, weil sie bei dort in der Straße Unter den Linden 21. Auch be- der Gründung ihres Verlages versäumt hatte, die gann sie nun „als Schriftstellerin an die Öffent- Bürgerrechte zu erwerben. Bettina von Arnim lichkeit zu gehen – nicht nur als Goethevereh- wurde zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. rerin, sondern vor allem mit ihrem sozialen und Doch durch Intervention seitens einflussreicher politischen Engagement“.17) Leute wurde die Strafe nicht vollstreckt. Bettina veröffentlichte in den nächsten drei- Bettina von Arnim erkannte, dass man sie zehn Jahren fünf Bücher. Außerdem pflegte sie mundtot machen wollte. Bereits in ihrem Günder- Cholerakranke, kümmerte sich um Arme, setzte rode-Buch (1840) hatte sie über die Fürstendiener sich für die schlesischen Weber und für die Ge- geschrieben: „Je dringender die Forderungen der brüder Grimm ein (siehe Ü Grimmstraße, in Bd. 3 Zeit ihnen auf den Hals rücken, je mehr glauben online**) und hielt einen literarischen Salon. sie sich mit Philistertum verschanzen zu müssen Unter den Gästen waren u. a. Alexander von und suchen sich Notstützen an alten, wurmsti-

** Band 3 online unter: www.ham- fen, Dokumenten und Bildern. Stutt- burg.de/maennerstrassennamen gart 1961, S. 500f. 17) Florence Hervé, a. a. O., S. 19. 15) Ebenda. 16) Helga Haberland, Wolfgang Pehnt: Frauen der Goethezeit in Brie- Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 73

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chigen Vorurteilslasten und erschaffen Räte aller Gewinn, sich in ihr zu finden. (…) Du liebst in Art, geheime und öffentliche, die weder heimlich dem Geliebten nur den eigenen Gewinn.‘ (…) noch öffentlich anders als verkehrt sind – denn Der Zwang, aus sich selber bestreiten zu müs- das rechte Wahre ist so unerhört einfach, daß sen, was die Welt versagt – das scheint der bit- schon deswegen es nie an die Reihe kommt.“18) tere Preis zu sein für den Zauber dieser zier- Bettina von Arnim „begrüßte und unter- lichen Person (…), der dunkle Grund, vor dem stützte energisch die 48er Revolution, ließ nicht sich dieses Feuerwerk von Übermut und Witz, ab, ‚jenen Traum‘ ernstzunehmen, ‚indem eine von leicht entzündbarer Begeisterung und pa- menschliche, eine versöhnte Welt beschworen thetischer Gefühlskraft entfalten konnte.“20) wird‘“.19) Siehe auch Ü Fanny-Lewald-Ring, Geschwister- 1852 erschien die Fortsetzung ihres Romans Mendelssohn-Stieg, Rahel-Varnhagen-Weg, Schlegelsweg, Schumannstraße, in diesem „Dies Buch gehört dem König“, in der Bettina Band. den König auffordert, demokratische Tendenzen Siehe auch Ü Arnimstraße, Osdorf, seit 1941: zu fördern und ein Volkskönig zu werden. Das Achim von Arnim (1781 Berlin–1831 Wiepers- Buch wurde in Bayern verboten, Bettina von dorf), Dichter, in Bd. 3 online**. Arnim als „Communistin“ beschimpft. Siehe auch Ü Beethovenallee, Lokstedt, seit vor 1854 erlitt Bettina von Arnim einen Schlag- 1934 und Beethovenstraße, Barmbek-Süd, seit 1863. Ludwig von Beethoven (1770– 1827), anfall und starb fünf Jahre später. Komponist, in Bd. 3 online**. „Zeit ihres Lebens [hatte Bettina von Arnim] Siehe auch Ü Brentanostraße, Osdorf, seit 1941: heftige Kritik erfahren, und gerade von denen, Clemens Brentano (1778 Ehrenbreitstein/Ko- vor die sie mit dem ganzen Überschwang ihrer blenz–1842 Aschaffenburg), Dichter, Bruder Verehrung trat. Der Lieblingsbruder Clemens, von Bettina von Arnim, in Bd. 3 online**. zum gläubigen Katholiken geworden, schreibt Siehe auch Ü Geibelstraße, Winterhude, seit 1888: Emanuel Geibel (1815–1884), in Bd. 3 1824 nach einem Wiedersehen mit der Schwes- online**. ter, er fühle sich ‚sehr traurig in der Nähe dieses Siehe auch Ü Goetheallee, Altona-Altstadt, seit großartigen, reichstbegabten, einfachsten, krau- 1928: Johann Wolfgang von Goethe (1749– sesten Geschöpfes‘ und ihrem ‚steten Re den, 1832), Dichter. 1782 geadelt, seitdem „von“ G, Singen, Urteilen, Scherzen, Fühlen, Helfen, Bil- in Bd. 3 online**. den, Zeichnen, Modellieren, alles in Beschlag Siehe auch Ü Grimmstraße, Iserbrook, seit 1930: Brüder Grimm, Jacob (1785–1863) und Wil- nehmen und mit Taschenspielerfertigkeit sich helm Grimm (1786–1859), in Bd. 3 online**. alle und jede platte Umgebung gewalttätigen‘. Siehe auch Ü Tiecksweg, Eilbek, seit 1904: Und Goethes negative Urteile über Bettina reichen Ludwig Tieck (1773–1853), Dichter, Drama- bis zu jenem, in dem er die Arnims schlechtweg turg, in Bd. 3 online**. als ‚Tollhäusler‘ bezeichnet. Bettina nahm diese Kränkungen und Ab- weisungen, so sehr sie trafen und verletzten, mit Betty-Levi-Passage erstaunenswerter Geduld hin. ‚Soll ich klagen, Ottensen, seit Nov. 1996, benannt nach Betty wenn Du nicht wieder liebst‘, fragt sie in Goethes Levi (1882–11.7.1942 Deportation ins KZ Ausch - Briefwechsel mit einem Kinde. (…) Es sucht je- witz, Todesdatum unbekannt), Altonaer Bürgerin der in der Liebe nur sich, und es ist der höchste jüdischen Glaubens

** Band 3 online unter: www.ham- 19) Florence Hervé, a. a. O., S. 19. burg.de/maennerstrassennamen 20) Helga Haberland, a.a.O., S. 502.

18) Bettina von Arnim: Die Günder- rode. Kapitel 11, unter: www.guten- berg.spiegel.de/buch/-3944/11 Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 74

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Stolperstein vor dem Wohnhaus Rissener Land- aus am 11. Juli 1942 ins Vernichtungslager Ausch- straße 127. witz deportiert. Sie starb vermutlich wenig später. Betty Levi steht für viele jüdische Altonaer Betty Levi, als Betty Lindenberger 1882 in Ost- und Altonaerinnen, die in selbstverständlicher preußen geboren (und amtlich unter dem „deut- Gemeinschaft mit den übrigen Einwohnerinnen schen“ Namen Berta registriert), wuchs in Berlin und Einwohnern ein alltägliches, gänzlich un- auf. Der Vater war im Fisch geschäft tätig; es spektakuläres Leben führten, bis ihre Religions- mögen verwandtschaftli- zugehörigkeit zum todeswürdigen Makel wurde. che Beziehungen zu den Seit 1999 informiert eine (vom Stadtteilarchiv Altonaer Fischhandelsfir- Ottensen initiierte und gestaltete) Gedenktafel men Lindenberg bestan- am Straßenschild unter dem Titel „Eine Altonaer den haben. Betty war Familie” über Schicksal, Stammbaum und Stadt- musikalisch begabt und geschichte.21) erhielt eine profunde pia- Text: Ulla Hinnenberg, entnommen aus: www.stolper- nistische Ausbildung. Sie steine-hamburg.de liebte die Beschäftigung mit textilen Handarbeiten. Blättnerring Anlässlich einer Hoch- Langenbek, seit 1988, benannt nach Georgine Betty Levi zeitsfeier begegnete sie Blättner, geb. Goldschmidt (2.11.1871 Weener, am dem Altonaer Juristen Dr. 15. 7.1942 deportiert nach Theresienstadt, dort Moses Levi, Mitglied der alteingesessenen Fami- am 9.12.1942 verstorben), Opfer des Nationalso- lie Cohn/Levi und heirate te ihn 1905. Sie wurde zialismus Hausfrau und Mutter von vier Kindern, geboren Stolperstein vor dem Wohnhaus Bansenstraße 13 zwischen 1908 und 1916. Das Ehepaar erwarb in Heimfeld. das Haus in der Klopstockstraße 23 in Ottensen. Hervorstechende Charakterzüge Betty Levis Georgine und Arondine Blättner (4.7.1875 Wee- wa ren: höchste Ansprüche an Genauigkeit in ner–20.10.1943 KZ Theresienstadt) wuchsen als künst lerischen und hauswirtschaftlichen Belan- Töch ter des jüdischen Ehepaares Aron und Lina gen und Unbeugsamkeit in für Jüdinnen und Goldschmidt, geb. Rosenblatt, in ihrem Geburts- Juden schwieriger Zeit. ort Weener an der deutsch-niederländischen 1938 verlor Betty Levi ihren Ehemann. Die Grenze auf. Tochter Elisabeth und der Sohn Walter hatten Georgines späterer Ehemann Martin Blätt- 1932 und 1936 das Elternhaus durch Heirat nach ner (geb. 16.6.1863) war acht Jahre älter als sie Dänemark bzw. Emigration nach England verlas- und Inhaber eines Schuhwarengeschäfts in Har- sen. 1939 emigrierten die Töchter Käthe und Her - burg. Die Ehe blieb kinderlos. Martin Blättner ta ebenfalls nach England. Bemühungen, auch für starb im Alter von 69 Jahren am 7. Juli 1932 und die Mutter eine Einreisegenehmigung zu erhalten, wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Harburg scheiterten. Nach erzwungenem Verkauf ihres begraben. Wohnhauses wurde die Witwe Betty Levi in ein Auch Arondine Blättner lebte später in Har-

jüdisches Altersheim eingewiesen und von dort burg a. d. Elbe. Ihr Ehemann, der Kaufmann Le- (VVN) Naziregimes des Verfolgten der Vereinigung Abb.:

21) Quellenangaben für den gesam- National sozi alismus. Gedenkbuch, Familiäre Dokumente; Gespräche und ten Text: Staatsarchiv Hamburg Veröffentlichung aus dem Staatsar- Korrespondenz mit Herta Grove, geb. (StaH), 522-1, jüdische Gemeinden, chiv Hamburg, Bd. XV, bearbeitet von Levi; Broschüre „Unauslöschliche Er- 99b, Kul tussteu erkartei der Deutsch- Jürgen Sielemann unter Mitarbeit von innerungen“ (von Herta Grove) des Israelitischen Gemeinde Hamburg; Paul Flamme, Hamburg 1995; Infor- Gymnasiums Allee, Altona, 1998; Amt Hamburger jüdische Opfer des mationen von M. Edelmann, Enkel; für Wie dergutmachung (AfW), Akte Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 75

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opold Blättner (geb. 22.7.1876), führte zwar den Im Juli 1942 wurden Arondine und Geor- gleichen Nachnamen wie sein Schwager, war gine Blättner ins KZ Theresienstadt deportiert. aber nach bisherigen Erkenntnissen nicht direkt Arondine Blättners Leben endete am 9. De- mit ihm verwandt. Am 11. Juli 1901 wurden zember 1942. Ihre jüngere Schwester Georgine Arondine und Leopold Blättner Eltern eines Soh- starb zehn Monate später am 20. Oktober 1943, nes namens Albert. Leopold Blättner starb mit angeblich an Herzschwäche, wie es in ihrer To- 48 Jahren, und wurde wie seine Eltern auf dem desfallanzeige heißt.22) Jüdischen Friedhof in Harburg begraben. Text: Klaus Möller, entnommen aus www.stolpersteine- Nach dem Tod ihrer Ehemänner bewohnten hamburg.de die beiden Schwestern Arondine und Georgine Blättner offenbar eine gemeinsame Wohnung in Bozenhardweg der Bansenstraße 13. Hohenfelde, seit 1958, benannt nach Albert Bo- Ab 1933 litten sie unter den Folgen der na- zenhard. Ergänzt 2001/2002 um die ebenso tionalsozialistischen Machtübernahme. Am 1. bedeuten de Ehefrau Karli B. Neuer Erläuterungs- April 1933 standen Posten der Harburger SA text: be nannt nach dem Schauspielerehepaar auch vor dem Schuhwarengeschäft Blättner in Karli (Karoline) B., geb. Hükker (11.6.1866 Wien– der Bansenstraße, das Georgine Blättner nach 1.2.1945 Hamburg), als erste Frau Ehrenmitglied dem Tod ihres Mannes weiterzuführen ver- des Thalia-Theaters, und Albert B. (1860–1939), suchte. Die Auswirkungen dieses Boykotts und Ehrenmitglied des Deutschen Schauspielhauses der wachsende politische Druck trugen vermut- und des Thalia-Theaters. lich dazu bei, dass das Geschäft in den folgen- Der Grabstein steht im Garten der Frauen auf den Jahren geschlossen wurde. dem Ohlsdorfer Friedhof. Als nicht weniger schmerzlich dürfte Geor- gine Blättner den Abschied von ihrem einzigen Der Name Bozenhard ist aus der Geschichte des Sohn Albert empfunden haben, der im Septem- Thalia-Theaters nicht wegzudenken. Über 40 ber 1938 seine Wohnung in der Eißendorfer Jahre gehörten Albert und Karli Bozenhard dem En- Straße 15 aufgab und mit seiner Frau Frieda semble des Thalia-Theaters an, hier lernten sie nach Argentinien auswanderte. Andere Ver- sich kennen und standen oft gemeinsam auf der wandte hatten bereits vorher den Weg ins Exil Bühne. angetreten. Ihren Werdegang soll die gebürtige Wiene- Eine weitere Folge der zunehmenden Bedro- rin im folgenden selbst erzählen, da ihre Worte hung war der Umzug der beiden Schwestern in viel von ihrer frischen und volkstümlichen Art die Großstadt Hamburg, wo sie in den folgenden und Begabung verraten: „Ich bin wie jeder Monaten und Jahren immer wieder ihre Woh- Mensch geboren, und zwar in Wien, im Josef- nung wechselten – oder vermutlich wechseln städter Theater, somit ein richtig gehendes (d. h. mussten. Schnell schmolzen ihre Ersparnisse gehend erst nach 11 Monaten) Theaterkind; mein dahin, von denen sie weitgehend ihre Lebens- Vater war am k. k. priv. Theater in der Josefstadt haltungskosten zu bestreiten hatten, sofern Hausinspektor, und ich war das, verzeihen Sie, nicht Verwandte ihnen gelegentlich etwas zu- zwölfte, aber dafür auch das letzte Kind meiner kommen ließen. Eltern, gerade gewachsen, nicht hässlich, nicht

100382 Berta Levi geb. Lindenberger. 314-15, Akten des Oberfinanzpräsi- Mitarbeit von Paul Flamme, Hamburg 22) Quellenangaben für den gesam- denten (F149); Hamburger jüdische 1995; Gedenkbuch. Opfer der Verfol- ten Text: Staatsarchiv Hamburg (StaH), Opfer des Nationalsozialismus. Ge- gung der Juden unter der national - 522-1, jüdische Gemeinden, 99b, Kul- denkbuch, Veröffentlichung aus dem sozialistischen Gewaltherrschaft in tussteuerkartei der Deutsch-Israeliti- Staatsarchiv Hamburg, Bd. XV, bear- Deutschland 1933–1945, Bd. I-IV, her- schen Gemeinde Hamburg; StaH, beitet von Jürgen Sielemann unter ausgegeben vom Bundesarchiv Ko- Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 76

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schüchtern – und schon mit 2½ Jahren spielte königliche Schauspiel in Berlin, und Förster vom ich meine erste Rolle, einen Ritter in dem Kinder- Wiener Burgtheater bot Maurice eine Entschä- märchen ‚Der verzauberte Apfelbaum‘; nach 5 digung, wenn er mich freiließ, aber Maurice be- Jahren sang ich schon Couplets, spielte alle stand auf meinem Kommen und – ich bin froh Haupt rollen in den Kindervorstellungen und war – denn wie hätte ich sonst meinen Mann ge- in meinem 7. und 8. Jahr gleichzeitig an drei kriegt? Was ich in den 28 Jahren meines Ham- Wiener Bühnen engagiert. Es kam einmal vor, burger Wirkens teils gut, teils weniger gut, teils dass ich an einem Abend an allen drei Theatern schlecht gemacht – ich weiß es nicht. Als ich spiel te, im Josefstädter den kleinen Hamlet in herkam waren es die Louisen, die Galottis und ‚Therese Krones‘, im Burg theater das blutige Heros, später die Anzengruber-Jungfrauen, noch Kind in ,Macbeth‘ und im später die Röss’l-Wirtin, dann Gina (Wildente) Carltheater den kleinen und jetzt sind’s die melierten, grauen und weiß- Gottlieb in ‚Mein Leo- köpfigen guten und bösen Mütter – aber nur auf pold‘ – immerzu im Fia- den Brettern –, sonst fühle ich mich noch wie in ker hin und her – es war der Zeit meiner Wunderkindreisen, von denen ich ein richtiges ‚Geriss‘ um immer noch meinem Mann erzählen muss.“23) die kleine Hücker. Später Diesem autobiographischen Text aus dem reiste ich dann als so ge- Jahre 1917 ist nur noch hinzuzufügen, dass Karli nanntes Wunderkind mit Bozenhard anlässlich ihres 40. Bühnenjubi- Soloszenen und Vorträ- läums 1929 als erste Frau am Thalia-Theater gen und erspielte mir ein zum Ehrenmitglied ernannt wurde. 1930 trat das Vermögen; Nicht wie an- Ehepaar Bozenhard in den Ruhestand und ver- dere Kinder mit Puppen ließ die Stadt, um sich in Stuttgart niederzulas- Karli Bozenhard und Spielzeug verbrachte sen. Am 13. Januar 1939 starb Albert Bozen- ich meine Jugend – mein hard. Seine Frau kehrte nach Hamburg zurück Tummelplatz war immer das Theater! Trotzdem und trat von 1941 bis 1943 erneut am Thalia- war ich eine Muster- und Vorzugsschülerin und Theater auf. durfte nach einer Extraprüfung die Schule ein Text: Brita Reimers Jahr früher verlassen – um gastieren zu können. Als erwachsener Mensch blieb mir nichts erspart Brigittenstraße in meiner Laufbahn, ich habe die Misere des St. Pauli, seit 1897. Frei gewählter Name Meerschweinchens (sprich: Schmiere) kennen- gelernt und könnte darüber Dramen und Humo- resken schreiben – vielleicht tue ich’s auch noch. Brunhildstraße Dann kamen zwei herrliche Jahre mit dem Mün- Rissen, seit 1939, benannt nach der Brunhild im chener Ensemble unter Max Hofpauer – das Nibelungenlied um 1200 waren fortwährend Triumphzüge. Von da weg war wieder einmal das ,Geriss‘ um mich: Mau- Straßenschilder nach mythologischen Figuren rice engagierte mich für das Hamburger Thalia- erzählen viel über Sehnsüchte und Wunsch-

Theater, gleichzeitig wollte mich Anno für das träume, die in der jeweiligen Zeit ihrer Einwei- Hamburg Staatsarchiv Abb.:

blenz. Koblenz 2006; Theresienstäd- em.org; StaH, 430-5 Dienststelle sches Leben in Harburg 1933–45. ter Gedenkbuch. Die Opfer der Juden- Harburg, Ausschaltung jüdischer Ge- Norderstedt 2009; Amtlicher Anzei- transporte aus Deutschland nach schäfte und Konsumvereine, 1810–08, ger des Hamburgischen Gesetz- und Theresienstadt 1942–1945. Prag 2000; Bl. 89ff.; Matthias Heyl (Hrsg.): Har- Verordnungsblattes vom 16.2.1988. Yad Vashem, The Central Database of burger Opfer; Matthias Heyl: „Viel- 23) Zitiert nach: Richard Ohnsorg: Shoa Victims’ Names: www.yadvash - leicht steht die Synagoge noch“ Jüdi- Fünfundsiebzig Jahre Hamburger Tha- Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 77

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hung lebendig waren. Aber es erfordert Feinar- heißt es in neuhochdeutscher Orthographie Brün - beit, die Hintergründe für diese Benennungen hild, in altnordischen Texten hingegen Brynhildr, und ein Who’s who, also knappe Personenbe- heutzutage Brynhild, da die alte Nominativen- schreibungen dieser sagen haften Männer und dung -r weggelassen wird. Frauen aus den vielen unterschiedlichen Fas- In diesen Erzählungen ist Brünhild eine mit sungen der Sagen herauszuarbeiten. Oft bleibt übernatürlichen Kräften ausgestattete isländi- unklar, auf welche Quellen sich die Vorschläge sche Königin, die nur einen ihr ebenbürtigen, ja und Entscheidungen für die Straßennamen be- stärkeren Mann heiraten würde. Der König der rufen haben – waren es z. B. aktuelle Romane, Burgunder, Gunther, wirbt um sie, konnte sie Theaterstücke, Opern oder Filme? aber nicht bezwingen und gewinnt Siegfried Die Brunhildstraße ist dafür ein anschauli- von Xanten zu einem Betrug. Dieser junge Held ches Beispiel, denn möglicherweise wird hier an darf Kriemhild (siehe Ü Kriemhildstraße, in diesem mindestens zwei imposanten Frauengestalten Band), Gunthers Schwester, heiraten, aber nur gleichen Namens erinnert, die in den mytholo- unter der Bedingung, dass er Gunther bei der gischen und historischen Quellen unterschiedli- Brautwerbung und den kämpferischen Freier- che Rollen spielen. proben beisteht, also ihn mit einer Tarnkappe So gibt es die mächtige und kämpferische unterstützt. Der Plan gelingt, Brünhild muss als isländische Königin Brünhild aus dem Nibelun- Ehefrau Gunthers und Königin von Burgund genlied, einem Heldenepos aus dem Mittelalter, nach Worms ziehen. das um 1200 in Deutschland aufgezeichnet wur- Das Interesse am Nibelungenlied wuchs vor de, in diversen Sagenüberlieferungen auch in dem Hintergrund der nationalen Bewegungen Skandinavien weit verbreitet war. „Die Nibelun- im 19. Jahrhundert und wurde auch für die gensage um fasst 1. die Jung-Siegfried-Aben teu er, Bühne bearbeitet, etwa von Friedrich Hebbel 2. die Siegfried-Brünhild-Sage [Siegfrieds Tod], (siehe Ü Hebbelstraße, in Bd. 3 online**) in sei- 3. den Untergang der Burgunden und 4. Atilas nem Trauerspiel in drei Abteilungen „Die Nibe- Tod.“24) Es ist in 35 Handschriften überliefert lungen“ (1861). Auch hier verliebt sich der bur- und eine Rekonstruktion der ursprünglichen Text- gundische König Gunther in die Königin Brunhild gestalt scheint nicht möglich. von Isenland, die im Lied eines Spielmanns als Als mögliches reales Vorbild gilt Brunichild schön, aber unbesiegbar geschildert wird. Doch (geb. um 545/550–613), eine politisch einfluss- Brunhild will nur einen Mann, der stärker ist als reiche Frankenkönigin westgotischer Herkunft, sie. Zweimal täuscht Siegfried (siehe Ü Siegfried- Tochter des Westgotenkönigs Athanagild und straße, in Bd. 3 online**) sie in Gestalt Gunthers der Königin Goswintha (Goiswintha), die Sigi- mit einer Tarnkappe, um ihren Wil len zu bre- bert I. (535–575), den König des fränkischen Ost- chen: Bei Kampfspielen während der Braut-Wer- reichs, heiratete. (Dieser galt lange als reales Vor - bung besiegt Siegfried sie, worauf sie samt Ge- bild für den Drachentöter Siegfried.) folge an den Hof Gunthers zieht. Und beim Die Schreibweise ihres Namens wandelt Beischlaf setzt Siegfried als vermeintlicher Gunt- sich in den Erzählungen der Nibelungensage: In her seinen Willen durch, beraubt sie aber ihres den deutschen Texten wird später aus dem u ein Gürtels. Den entdeckt Siegfrieds Gattin Kriem- ü, und in den nordischen Texten ein y. Daher hild. Sie entlockt Siegfried das Geständnis seines

lia-Theater. Vergangenheit und ** Band 3 online unter: www.ham- Gegenwart. Festschrift zum 9. No- burg.de/maennerstrassennamen vember 1918. Hamburg 1918. 24) Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittel- alter. München 2004, S. 196. Straßen Bd 2 062-078 B:. 27.07.15 10:18 Seite 78

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Betruges. Am Haupteingang des Wormser Doms Siehe auch Ü Gernotstraße, Rissen, seit 1949: kommt es zu Rangstreitigkeiten um den Vortritt, Ger not, Gestalt aus der Nibelungensage, in Bd. 3 online**. in dessen Verlauf Kriemhild, die Schwester Gun- thers, ihre Schwägerin Brunhild als „Kebsweib“ Siehe auch Ü Hildebrandtwiete, Rissen, seit 1951: Gestalt aus den Nibelungenlied, in Bd. 3 (Hure/Mätresse) ihres Gatten Siegfried be- online**. schimpft. Die gedemütigte Brunhild fordert von Siehe auch Ü Mimeweg, Rissen, seit 1951: König Gunther den Tod Siegfrieds, den Hagen, Mime der weise Schmied im Nibelungenlied, Gefolgsmann Gunthers, ausführt. in Bd. 3 online**. Richard Wagner verarbeitete diverse Figuren Siehe auch Ü Rüdigerau, Rissen, seit 1949: und Erzählstränge der Nibelungen-Sagenwelt Sagenmotiv aus der Nibelungensage, in Bd. 3 online**. mit nordischen Göttermythen zu seiner Tetra- Siehe auch Ü Siegfriedstraße, Rissen, seit logie „Ring des Nibelungen (UA 1876), die sehr 1933: Gestalt aus dem Nibelungenlied, in Bd. 3 po pulär wurde. In „Die Walküre“ („Erster Tag“) online**. spielt Brünnhilde, Tochter des Götterpaares Erda Siehe auch Ü Tronjeweg, Rissen, seit 1985: und Wotan, eine bedeutende Rolle. Als Walküre Hagen von Tronje, Gestalt aus der Gudrun- sorgt sie mit ihren Schwestern dafür, die getöte- und Nibelungensage, in Bd. 3 online**. ten Krieger per Pferd nach Walhalla zu tragen. Siehe auch Ü Volkerweg, Rissen, seit 1949: Volker von Alzey Nibelungensage, in Bd. 3 on- Zunächst ist Brünnhilde die selbstbewusste line**. Lieblingstochter Wotans, wird dann aber, nach- dem sie sich für das liebende Zwillingspaar Sieg- mund und Sieglinde eingesetzt hat, von Wotan Bussestraße auf einem Berg in einen „wehrlosen Schlaf“ ver- Winterhude, seit 1876, benannt nach Johanna setzt. Sie kann Wotan aber noch die Zusage ab- Magdalena(e) Busse (10.9.1828–19.11.1886), Ehe- ringen, dass sie vor den vorbeiziehenden Män- frau des Geländebesitzers Claes Joachim Rippens nern durch einen Feuerring geschützt werde, den nur ein Held durchschreiten könnte. Diesen überwindet dann der junge und unerfahrene Held Siegfried in der folgenden Oper „Siegfried“ („Zweiter Tag“) – und er und Brünnhilde verlie- ben sich ineinander. Nach Wagners Angaben setzt sich ihr Name zusammen aus „Brünne“ für ihren Brustpanzer und „Hilde“ in Anlehnung an „hild“, eine alt- hochdeutsche/altsächsische Bezeichnung für „Kampf.“ Text: Birgit Kiupel Siehe auch Ü Kriemhildstraße, Siegrunweg, Uteweg, in diesem Band. Siehe auch Ü Alberichstieg, Rissen, seit 1951; Gestalt aus der Nibelungensage, in Bd. 3 online.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd2079-090C:.27.07.1510:26Seite79

Abb.: Aus: Heinrich Reincke, Hamburg am Vorabend der Reformation, Hamburg, 1966. he num“. Münster1996, S.68. Klosters „In Harvestehude valle virgi- Silke Urbanski: Geschichte des 1) burg.de/maennerstrassennamen ben“ Harvestehude ein„Zwistüberdenrechten Glau- ** muß.“ vieler Hamburger Nonnenangenommenwerden daß einenähere oderfernere Verwandtschaft vielfältige Weise miteinanderverschwägert, so milien der Hamburger Oberschicht waren auf oder zweiten Grades imKloster[vor]. DieFa veste derHar ins KlosterHarvestehude ein.„45% und ihre Cousine Alleke von Oldessem traten zehn Geschwister. Auch ihre Schwester Gertrud Caecilia hatte drei-von Oldessem (1524–1542). Oldessem undSchwester desDomherrnJohann Wandschneiders und Flandernfahrers Cord von des (Äbtissin von 1522–1543),war dieTochter dann Kloster St. Johannis, Die ÄbtissindesKlosters Harvestehude, später Domina desKlostersSt. Johannis von Oldessem. Winterhude, seit1914,benanntnach Cäcilienstraße C kam der Reformator Johannes Bugenha cilia von Oldessem involviert war. Zurselben Zeit Evangelium herbegründete Form derLebensge- en‘ (…),indererdasKlosterlebenalsnichtvom meyst vor de Nunnen vnde Bagynen geschreu me van dem Closter leuende holden schal aller- sernonnen. Soverfasste er1529„dieSchrift‚Wat sich derReformation widersetzenden Zisterzien a. mit den bis 1529tätigundbeschäftigtesichu. Hamburg. Er wurde in der Hansestadt von 1528 Ü Band 3online Im ZugederReformation wurde imKloster 2) Bugenhagenstraße, huder Nonnen[fanden]Verwandte ersten 1) ausgetragen, indenauchdieÄbtissinCae Um 1522ersteprotestantische unter: www.ham- in Bd.3online**) Caecilia von Oldessem von Caecilia )SilkeUrbanski, a.O.,S.46ff. 5) Silke Urbanski, a. a. O., S. 101. 4) 27.9.2014. wikipedia: Bugenhagen,Stand: 3) Silke Urbanski,a.O.,S.46ff. 2) Caecilia gen nach (sie------ordnung, welche nur evangelischen Gottesdienst Hamburg entwickelte BugenhagenscheKirchen- Das Klosterhieltsichaußerdem nichtandiefür nen zum Widerstand aufgestachelt haben. (…) Nonnen dasHeiraten erlaube, sollerdieNon- Teufel kommen, wenn sie neue Lehre müsse vom Mit demArgument, die mation zuwiderstehen. den Nonnen,„derRefor- germeister Salsborch riet zu verlassen.“ anempfohlen, dasKlos ben“ und„denNon einen Bürger festgeschrie- tung [desKlosters] durch 1529 wurde dieVerwal- „Im Langen Rezeß von Kloster Harveste hude. Undsieschreibt weiter: den,“ Frau mehrerlauben,BegineoderNonnezuwer- heit. (…)Bugenhagenschrieb, mansollekeiner ser alseinunwillkommener Versuch derKeusch käme. Vorsichtig empfahl er die Ehe, sie wäre bes versorgen. Er nahm nicht an, daß dies häufig vor in der Familie nützlich machen und ihre Eltern chen, diezumJungfernseintaugten,solltensich keine Frau solltedazugezwungenwerden. Mäd- sei des Teufels. (…) Er pries das Eheleben, aber diesem durch denGanginsKlosterwidersetze, gen, die Gott ihr als Nächste gab. (…) Wer sich der Rolle der Frau. „Die Frau sollte jene ver ters empfahl. staltung kritisierte“ Bugenhagen hatteklare Vorstellungen von 4) so Silke Urbanski in ihrem B ihrem so Silke Urbanskiin 5) Biographien von AbisZ/C Doch Bür 3) und die Auflösung des Klos nen ter - Harvestehude Zisterzienserklosters Äbtissinnensiegel des uch über das sor - 79 - - - - Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 80

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erlaubte. Aus diesen Gründen beschlossen Rat auch ein, daß sie wie zuvor an der Geschäfts- und Bürgerschaft (...), das Kloster abzureißen.“ führung beteiligt werde.“7) Doch man kam den Nach dem Abriss war sich der „Konvent (…) un- Forderungen der Äbtissin nicht nach. „Viele Be- eins. Etliche Nonnen wollten das Kloster ver- quemlichkeiten, Möglichkeiten und Verfügungs- lassen. Wohl blieb aber eine Gruppe übrig, die gewalten waren [nun] dem Zugriff der Konven- weiter als Konvent unter derselben Äbtissin tualinnen vollends entzogen. Sie selbst erfüllten [Cae cilia] weiterleben wollte. Auch sie wechsel- hingegen viele der ihnen gestellten Bedingungen ten bald zur lutherischen Konfession. (…) (…). Zu den Bedingungen für ein Weiterleben 1531 wurde im Rezeß über die Zukunft der als Konvent gehörte unter anderem, weiterhin Konventualinnen verfügt: Sie sollten in das leere in Keuschheit zu leben und Unterricht zu geben. St. Johanniskloster ziehen. Wollten sie nicht, so Caecilia von Oldessem hat bis in die vierziger täten dies andere ehrbare Frauen. ‚Nonnen‘ durf- Jahre versucht, ihre Lage durch Anfragen bei ten sie sich nicht mehr nennen. Wer auch immer den Drosten von Pinneberg, den Statthaltern der im St. Johanniskloster lebte, der sollte von den Grafen von Schauenburg in der Grafschaft Hol- Einkünften der ehemaligen Klostergüter profitie- stein-Pinneberg zu ändern.“8) ren. Eine Wahlmöglichkeit war nicht vorhanden, 1536 kam es zur Gründung des „Evangeli- denn die Verfügungsmöglichkeit über die Güter schen Conventualinnenstiftes für unverheiratete des Klosters bestand weder für die Ausgetretenen Hamburger Patrizier- und Bürgertöchter”. Es exis - noch für die Konventualinnen. Sollten die ehe- tiert heute noch als „Evangelisches Damenstift maligen Nonnen dort nicht leben wollen, so Kloster St. Johannis” an der Heilwigstraße in Ep- würden sie nur ihre Aussteuer erhalten. (…) pendorf. Viele Straßennamen erinnern an das alte Trotzdem haben die Konventualinnen mit dem Frauenkloster im Harvestehuder Jungfrauenthal. Rat verhandelt und sich einige Zusicherungen Siehe auch Ü Abteistraße, Elebeken, Frauen- geben lassen. Davon und gleichzeitig von deren thal, Heilwigbrücke, Heilwigstraße, Innocentia- straße, Jungfrauenthal, Nonnenstieg, Nichteinhaltung erfahren wir durch einen Be- in diesem Band. schwerdebrief der Caecilia von Oldessem. In ihm Siehe auch Ü Bugenhagenstraße, Altstadt, seit fordert sie einen Ratsbeschluß wegen mehrerer 1909: Prof. Dr. Johannes Bugenhagen (1484– Übertretungen der Klosterverwalter und wegen 1558), Theologe, Freund Luthers, Reformator, der ihr zugesicherten Besitzstände.“6) in Bd. 3 online**. 1531 zogen neunzehn ehemalige Nonnen mit ihrer Äbtissin Caecilia von Oldessem in einem Catharina-Fellendorf-Straße Teil der von den Mönchen geräumten Klosteran- Bergedorf/Allermöhe, seit 1995, benannt nach lage St. Johannis am heutigen Rathausmarkt Catharina Fellendorf, geb. Elsäßer (7.11.1884– ein. Die Räumlichkeiten entsprachen „aber nicht 31.3.1944, hingerichtet im Zuchthaus Berlin-Plöt- ihren Ansprüchen. Sie mußten die hohen Kosten zensee), Widerstandskämpferin gegen den Na- der Renovierung der ‚drech li ke(n)‘ Räumlichkei- tionalsozialismus. Stand der Widerstandsgruppe ten tragen. Weiterhin beschwerte sich die ehe- Bästlein-Jacob-Abshagen nahe malige Äbtissin [Caecilia] darüber, Rechenschaft über die Geschäfte vor der Auflösung des Klos- Catharina Fellendorf kam aus einer Arbeiterfamilie. ters vor dem Rat ablegen zu sollen. Sie forderte Nach dem Abschluss der Volksschule arbeitete

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

6) Silke Urbanski, a. a. O., S. 46ff. 7) Ebenda. 8) Ebenda. Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 81

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sie als Plätterin und lebte in Hamburg in der Rich - Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit terstraße 3. Sie wurde Mitglied der KPD, opponier- 1988: Karl Kock (1908–1944), Gummifachar- beiter aus Harburg, Kommunist, Widerstands- te gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Auch ihr Sohn Wilhelm (Willi), ein Kraft- Bd. 3 online**. fahrer, war Mitglied der KPD. Gleich nach der Siehe auch Ü Kurt-Schill-Weg, Niendorf, seit Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1982: Kurt Schill (1911–1944), KPD-Wider- war er 1933 in die Sowjetunion emigriert. Im standskämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Mai 1942 kehrte er als Fallschirmagent nach Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit Deutschland zurück, landete mit dem Fallschirm 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- bei Allenstein in Ostpreußen und sollte nach munistischer Widerstandskämpfer gegen den Berlin zu einer ihm angegebenen Anlaufstelle. Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Da diese nicht mehr existierte, begab er sich Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Aller- ohne Geld und Lebensmittelkarten nach Ham- möhe, seit 2002: Werner Schroeder (1916–1993), Bäcker, Kommunist, Widerstandskämpfer gegen burg zu seiner Mutter, die versuchte, für ihren den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Sohn illegale Quartiere zu besorgen. Dadurch kam sie in Kontakt mit der Widerstandsgruppe Bästlein-Jacob-Abshagen. Charitas-Bischoff-Treppe Ein Mitbewohner aus der Richterstraße 3 Blankenese, seit 1928, benannt nach Charitas denunzierte Wilhelm Fellendorf, der daraufhin Bischoff, geb. Dietrich (7.3.1848 Siebenlehn/ am 15. Oktober 1942 verhaftet wurde. Ohne ihm Sachsen–24.2.1925 Blankenese), Schriftstellerin einen Prozess zu machen, wurde Wilhelm Fel- lendorf in der Hamburger Gestapohaft am 28.10. Charitas Bischoff war die Tochter der Botanikerin 1942 ermordet. und Forschungsreisenden Amalie Dietrich (sie- Auch Catharina Fellendorf wurde verhaftet he Ü Amalie-Dietrich-Stieg, in diesem Band). Sie und wegen „Feindbegünstigung“ zum Tode ver- erlebte in ihrer Kindheit viel Strenge. Während ur teilt. Am 31. März 1944 wurde sie im Gefäng- ihre Eltern auf Forschungsreisen gingen, blieb nis Berlin-Plötzensee hingerichtet. Charitas bei Verwandten Siehe auch Ü Erna-Behling-Kehre, Gertrud- oder auch Fremden und Meyer-Straße, Helene-Heyckendorf-Kehre, litt unsäglich unter der Katharina-Jacob-Weg, Lisbeth-Bruhn-Stieg, Trennung von ihrer Mut- Margit-Zinke-Straße, Marie-Fiering-Kehre, ter, der die häufigen Tren- Thüreystraße, Tennigkeitweg, in diesem Band. nungen ebenso schwerfie- Siehe auch Ü Bittcherweg, Wilstorf, seit 1984: len. Kehrten die Eltern Herbert Bittcher (1908–1944), Mitglied der SPD, Widerstandskämpfer gegen den National- nach Hause zurück, muss - sozialismus. Herbert Bittcher: Verwandter von te Charitas beim Präparie- Charitas Bischoff Katharina Fellendorf, in Bd. 3 online**. ren von Pflanzen und In- Siehe auch Ü Ernst-Mittelbach-Ring, Niendorf, sekten helfen. Dazu schreibt Charitas Bischoff seit 1982: Ernst Mittelbach (1903–1944), Ge- in ihren Lebenserinnerungen: „Wenn ich mein werbeoberlehrer, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittelbach- Leben mit dem Leben anderer Kinder verglich,

Abb.: Amalie-Dietrich-Gedenkstätte Siebenlehn Abb.: Stieg, Niendorf, seit 1987, in Bd. 3 online**. so sah ich schon früh, daß ich andere Pflichten,

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 82

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aber auch andere Freuden und Genüsse hatte Form gab, die sie im frischen Zustand hatte. als meine Gefährtinnen. Äußerlich und innerlich Wenn sie am nächsten Tage aus der ersten Presse war ein großer Unterschied. Fast alle waren bes- kamen und sie trugen Spuren oberflächlichen ser gekleidet als ich. Wenn die anderen die Einlegens, so nahm der Vater die betreffende Schule und die Schularbeiten hinter sich hatten, Pflanze, riß sie mitten durch und warf sie mir so waren sie frei (…) und konnten nach Her- zornig vor die Füße. ‚Untersteh dich und bring zenslust herumspielen. Sie brauchten nicht wie mir solche schlampige Arbeit unter die Augen‘, ich zu anderen Leuten, sie durften Kinder mit rief er entrüstet. O, wie ich unter seinen Worten in ihr Heim bringen, sie bekamen gelegentlich zitterte, was für Angst ich hatte, wie ich mich kleine Geldgeschenke, die sie in Lakritzen oder nach solchem Zornausbruch bemühte, die Pflan- Süßholz anlegten. Bei mir kam das nicht vor. zen gut einzulegen! Diese Strenge ließ keine Ver- Kinder durfte ich nur mit nach Hause bringen, traulichkeit meinerseits aufkommen. Ich konnte wenn wir alle Gefäße voller Pflanzen hatten und ihn bewundern, ich konnte stolz auf ihn sein, viele Hände brauchten, die das Gesammelte in aber ich konnte mich nicht unbefangen hinge- Papier legten. Zu dieser eigentümlichen Art ‚Kin- ben. Meine kindlichen Angelegenheiten waren dergesellschaft‘ drängten sich meine Gefährtin- seiner Beachtung nicht wichtig genug, ich wagte nen, obgleich sie still sitzen und stundenlang mich ihm gegenüber gar nicht damit hervor.“10) unter der strengen Aufsicht des Vaters arbeiten Mit ihrer Mutter Amalie Dietrich ging Cha- mußten. Die Bewirtung fiel nur mager aus, denn ritas oft zum Pflanzensammeln und Insekten- sie bekamen nach der Arbeit eine Sirupsbemme fangen in die Natur. „Den wohltuendsten Ge- von der Mutter. Was lockte sie? Vielleicht das gensatz zu den Stunden stiller Arbeit bildeten Außergewöhnliche, was ihnen durch die Eltern die botanischen Wanderungen mit der Mutter. und die ganze Umgebung geboten wurde, viel- Meine Ausrüstung war ebenso vollständig wie leicht aber auch mehr das Erzähltalent des Va- die ihrige. Ich hatte eine Botanikerkapsel, ein ters. Um die Kinder willig zu machen, erzählte Schmetterlingsnetz, ein Käferglas mit Spiritus der Vater an solchen Tagen Märchen aus dem und eine Schachtel mit durchlöchertem Deckel Tier- und Pflanzenleben, und er erzählte so für Raupen. So ausgerüstet wanderte ich an der spannend, so lebendig, daß wir jede Störung Seite der Mutter weit herum im sächsischen wie einen häßlichen Mißton empfanden, und Lande. Wie reich und glücklich fühlte ich mich doch musste dann und wann neues Arbeitsma- an solchen Tagen! Mir war zumute, als würde terial und Anweisungen gegeben werden. Wie mir durch die Mutter die ganze Welt mit ihren gern hörte ich es, und wie stolz war ich, wenn Schätzen und Freuden erschlossen. Daß auch die Kinder beim Nachhausegehen zu mir sagten: sie herb und streng sein konnte, das vergaß ich ‚O du, aber die Vater kann scheen derzählen!‘“9) an solchen Tagen, da entfaltete sie eine Fülle rei- Der Vater stellte höchste Ansprüche an das chen, sonnigen Innenlebens. Sie ging auf alles Können seiner Tochter und wenn sie ihm nicht ein, was mich beschäftigte, sie ermunterte mich gut genug arbeitete, wurde er zornig. „Wie lange zum Singen, sie lobte mein tapferes Wandern, saß ich da oft an einer einzigen Pflanze. Ich be- sie rezitierte lange Balladen, die sich der Stim- schwerte die einzelnen Zweige mit rechteckigen mung der Gegend einfügten, sie hatte Bewun- Eisenstücken, bis ich der ganzen Pflanze die derung für Wolkenbildung und den feurigen

9) Charitas Bischoff: Bilder aus mei- nem Leben. Berlin 1922, Kapitel 8. http://gutenberg-spiegel.de/buch/ bilder-aus-meinem-leben-2298/8 10) Ebenda. Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 83

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Sonnenuntergang. Mit wie vielerlei Menschen hochherrschaftlichen Haus in der Straße „An der kamen wir zusammen, und mit allen wußte die Alster“ 24a wohnte. Mutter den rechten Ton zu treffen. Mir prägte Als Amalie Dietrich ihre Tochter zu den sie ein, mich von niemand und vor nichts zu Meyers brachte und ihr mitteilte, dass sie einen fürchten. Wo sich nur Gelegenheit bot, sollte ich Vertrag mit Cäsar Godeffroy hätte, wonach sie hilfreich zufassen.“11) sich verpflichtet habe, zehn Jahre lang als Bota- Als die Mutter einmal sehr lange auf Reisen nikerin nach Australien zu gehen, fragte Chari- war, kein Geld schickte und sich auch nicht mel- tas ihre Mutter, ob sie mitkönne. Darauf Amalie dete – sie lag schwer erkrankt in einem hollän- Dietrich: „Nein, ich nehme dich nicht mit! (…) dischen Krankenhaus –, schickte der Vater, der jede Reise hast du mir durch dein Jammern zu Hause geblieben war, seine Tochter zu frem- extra schwer gemacht! Glaubst du etwa, daß nur den Menschen und nahm eine Hauslehrerstelle du leidest? Du bist ja noch zu jung, als daß in einem anderen Ort an. Charitas lebte nun bei du einen Begriff haben könntest von Kämpfen, einem fremden Ehepaar und musste nach der die mir auferlegt sind. Ich konnte ja nicht zu Schule für dieses arbeiten. Da sie nicht gut be- Hause bleiben, und das was mich immer so handelt wurde, wechselte sie die Stelle. niederdrückte, das war, daß ich trotz der größ- Als ihre Mutter zurückkehrte, fand sie in ten Anstrengung nichts für deine Erziehung tun ihrem Haus fremde Menschen vor. Sie kannte konnte. Das ist von nun an anders! Ich bin fest weder den Aufenthaltsort ihrer Tochter noch den angestellt, habe eine bestimmte Einnahme, und des Ehemannes. Nachdem sie ihre Tochter den- das kommt in erster Linie jetzt dir zugute. Du noch wiedergefunden hatte, kam Charitas aber- hast immer den Wunsch gehabt, etwas zu ler- mals zu fremden Leuten, denn die Mutter mus- nen, ich biete dir jetzt die Möglichkeit! Leichter ste Geld verdienen. Ihre Arbeit ließ es nicht zu, wäre es mir, dich mitzunehmen, richtiger ist es ihre Tochter bei sich zu haben. auf alle Fälle, daß du hier bleibst.“12) Als Amalie Dietrich nach Hamburg fuhr, um Charitas, die von Kind an weder eine äu- dort Geld mit ihren Pflanzen zu verdienen, ßere noch eine innere Heimat hatte, wohnte nun konnte sie vorerst ihre Tochter nicht mitnehmen. bei den Meyers und verbrachte die Sommer mit Erst als sie dort einen neuen Arbeitgeber fand – ihnen in deren Villa „Haus Forsteck“ am Kieler den Kaufmann Cäsar Godeffroy (siehe Ü Godeffroy - Fördeufer. Später wurde sie von den Meyers zur straße, in Bd. 3 online**) – und der Elfenbein- Ausbildung nach Eisenach und Wolfenbüttel ge- importeur/kaufmann Heinrich Adolph Meyer schickt. (siehe Ü Meyerstraße und Stockmeyerstraße, in Bd. 3 In Wolfenbüttel arbeitete Charitas einige online**), der Godeffroy Amalie Dietrich emp- Jahre als Lehrerin, ging dann für zwei Jahre fohlen hatte, sich bereit erklärte, gemeinsam mit nach London und kehrte im Alter von 23 Jahren seiner Ehefrau Marie die Aufsicht über die da- nach Deutschland zu den Meyers, die in der mals 15-jährige Charitas zu übernehmen, wenn Zwischenzeit nach Kiel gezogen waren, zurück. Amalie Dietrich für zehn Jahre nach Australien Charitas lernte den Kandidaten der Theolo- ginge, konnte Amalie Dietrich ihre Tochter nach gie, Christian Bischoff, kennen. Als ihre Mutter Hamburg nachholen. Nun lebte Charitas bei aus Australien zurückkehrte, war Charitas be- dem kinderlosen Ehepaar Meyer, das in einem reits verlobt. Die Mutter war sehr enttäuscht da -

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11) Ebenda. 12) Charitas Bischoff, a. a. O., Kapi - tel 20. Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 84

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rüber, hatte sie sich doch vorgestellt, dass ihre rich“ und ihre Autobiographie „Bilder aus mei- Tochter ihr nun wieder beim Präparieren der nem Leben“ (1914). Pflanzen und Insekten helfen würde. Doch Cha- Siehe auch Ü Amalie-Dietrich-Stieg, Traunweg, ritas heiratete ihren Pastor (Hochzeit 1873), zog in diesem Band. mit ihm nach Roagger in Nordschleswig und Siehe auch Ü Godeffroystraße, Blankenese, vor bekam drei Kinder (1874, 1876, 1886). 1928: Joh. Caesar Godeffroy (1813–1885), Ree- der, Kaufmann, Präses der Handelskammer Aber auch in der Ehe fand Charitas keine (1845), Mitglied der Hamburgischen Bürger- Heimat, die ihr das Gefühl gab, sich aufgehoben schaft (1859–1864), in Bd. 3 online**. und zugehörig zu fühlen; Charitas litt an Verein- Siehe auch Ü Meyerstraße, Heimfeld, seit samung. 1890: Heinrich Christian Meyer (1832–1886), Als verheiratete Frau begann Charitas schrift - Stockfabrikant (Stuhlrohr- und Spazierstock- fabrik), Bruder von Heinrich Adolph Meyer. stellerisch zu wirken. Durch ihre 1886 in den Kolonialakteur, in Bd. 3 online**. Kieler Nachrichten veröffentlichten Skizzen aus Siehe auch Ü Stockmeyerstraße, HafenCity, Nordschleswig wurde sie so bekannt, dass von seit 1854: Heinrich Christian Meyer (1797– nun an selbstständige Veröffentlichungen mög- 1848), genannt Stockmeyer. Stockfabrikant, Vater von Heinrich Adolph Meyer und Chris- lich waren. Charitas Bischoff arbeitete als Schrift- tian Meyer. Kolonialakteur, in Bd. 3 online**. stellerin, Journalistin und Übersetzerin aus dem Dänischen. 1890 zog das Ehepaar Bischoff mit seinen Charlotte-Mügge-Weg Kindern nach Rendsburg. Ein Jahr später starb Jenfeld, seit 2014, benannt nach Charlotte Mügge Amalie Dietrich, die ihre Tochter in den letzten (15.2.1912–1993 Köln), Widerstandskämpferin Jahren immer mal wieder für längere Zeit be- gegen den Nationalsozialismus, wurde 1942 ver- sucht hatte. 1884 verunglückte Charitas’ Mann haftet wegen Beihilfe zur Fahnenflucht und tödlich. Unterstützung von Deserteuren, war von Januar Charitas Bischoff begab sich wieder auf die bis November 1943 an verschiedenen Stellen in- Suche nach Heimat und reiste eine Zeitlang mit haftiert, Mutter von sieben Kindern; verzog 1978 ihren Kindern durch Sachsen, die Heimat ihrer nach Köln und starb dort 1993 Kindheit, kehrte aber schließlich in die Groß- stadt Hamburg zurück, wo sie mit ihrem jüng- Charlotte Mügge wurde am 24. August 1942 von sten Kind – das Älteste, eine Tochter, hatte ge- der Gestapo verhaftet. Sie hatte zwei Frauen un - heiratet, die Mittlere hatte eine Stelle in einem terstützt, die den Sohn einer dieser Frauen ver- Landpastorat angenommen – in einem Etagen- steckten, nachdem er als Soldat desertiert war. haus lebte. Aber auch dort fühlte sich Charitas Charlotte Mügge, die den jungen Mann kannte, Bischoff einsam und verlassen. „Es waren soviel versteckte ihn ebenfalls. Menschen, daß der eine sich vor dem andern Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung war Char- wehrte, daß er sich abschloss. Man legte die ei- lotte Mügge verlobt und hochschwanger. Aus serne Kette vor die Tür – vielleicht auch ums ihrer ersten Ehe hatte sie sechs Kinder, damals Herz!“13) im Alter von zehn Monaten bis zu zehn Jahren. Charitas Bischoffs bekanntesten Bücher sind Ihr ehemaliger Ehemann saß wegen Desertion ihre Biographie über ihre Mutter „Amalie Diet - in der Festung Torgau ein.

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13) Charitas Bischoff, a. a. O., Kapi - tel 47. Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 85

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Weil sie ihre sechs Kinder zu versorgen hatte, und Arbeitslager Flußbach bei Köln transportiert. wurde Charlotte Mügge während des Ermitt- Hier hatte sie unter erschwerten Haftbedingun- lungsverfahrens auf freien Fuß gesetzt. Eine Wo - gen zu leiden, musste schwere Arbeit verrichten che nach ihrer Verhaftung kam es am 31. August und bekam nur wenig zu essen. Am 6. Novem- 1942 zur Anklage wegen Verstoßes gegen § 5, ber 1943 wurde Charlotte Mügge entlassen. Abs. 3 KSSVO. Die Staatsanwaltschaft beantragte Siehe auch zu hingerichteten Deserteuren der ein Schnellverfahren, d. h. ohne Rechtsvertre- NS-Militärjustiz Ü Erich-Hippel-Weg, Kurt-Elvers- Weg, Kurt-Oldenburg-Straße, tung, da die Angeklagte schon früher Deserteu- in Bd. 3 online**. ren geholfen hatte, sich zu verstecken. Charlotte Mügge erhielt noch nicht einmal einen Pflicht- Charlotte-Niese-Straße verteidiger. Am 19. September 1942 kam es zum Osdorf, seit 1929, benannt nach Charlotte Niese Hauptverfahren. Die Staatsanwaltschaft forderte (7.6.1851 Burg/Fehmarn–8.11.1935 Altona). Hei- zehn Monate Gefängnis. Das Urteil lautete: acht matdichterin Monate Gefängnis. Die daraufhin erfolgten Gna- dengesuche wurden abgelehnt. Charlotte Niese entstammte einer Pastorenfamilie. Am 7. Januar 1943 trat Charlotte Mügge ihre Ihr Vater Emil August Niese war Pastor in Burg Haft im Frauengefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel auf Fehmarn, ihre Mutter Benedicte Marie Niese, an. Ihr Verlobter trennte sich von ihr, und ihre geb. Matthiessen, war Hausfrau und Mutter. sechs Kinder wurden während der Haftzeit ihrer Charlotte Niese hatte sieben Geschwister. Bis Mutter in einem Waisenhaus untergebracht. zu ihrem neunten Lebensjahr durfte sie mit ihren Charlotte Mügges Wunsch, ihr Kind zu Hau- sechs Brüdern spielen, lernte so die Welt der Jun- se zu gebären und ihre anderen Kinder aus dem gen kennen und brauchte noch nicht nach den Waisenhaus zu holen, wurde nicht stattgegeben. Regeln, die für Mädchen als schicklich galten, zu Weil das Jugendamt die Kinder nicht freigeben agieren. Dazu Charlotte Niese: „Ich bin wohl an- wollte, wurde das Gnadengesuch zur Strafunter- ders aufgewachsen wie viele andere Mädchen. brechung nicht befürwortet. Auch weitere Gna- Zunächst wurde ich im Hause von einer sehr dengesuche, gestellt von den Eltern und Groß- alten, sehr klugen Dame unterrichtet, und spielte eltern Charlotte Mügges, wurden abgelehnt. Am bis zu meinem neunten Jahr ausschließlich mit 23. Juni 1943 gebar Charlotte Mügge in der Frau- meinen Brüdern und deren Freunden. Mädchen enklinik Finkenau ihr siebtes Kind. Gut zwei Wo- galten bei ihnen wie bei mir für ‚falsch‘.“14) chen später, am 9. Juli, wurde Charlotte Mügge Doch dann trennten sich die Wege der Ge- ins Frauengefängnis zurückverlegt. schwister. Die sechs Brüder gingen mit dem Nach den Bombenabgriffen im Juni und Vater, der nach Eckernförde versetzt worden August 1943 auf Hamburg, bei denen das Frau- war, um dort als Seminardirektor zu arbeiten. engefängnis Fuhlsbüttel zerstört worden war, Charlotte musste bei ihrem Großvater, dem Jus- wurde Charlotte Mügge am 1. August 1943 in das tizrat Matthiessen bleiben. Die Brüder erhielten Frauenzuchthaus Lübeck-Lauerhof und von dort Latein- und Griechischunterricht und schlugen am 31. August in das Frauenstrafgefängnis Witt- eine wissenschaftliche Laufbahn ein. Solch ein lich verlegt. In Wittlich blieb sie nur zwei Tage wissenschaftlicher Weg war für Charlotte Niese und wurde am 2. September 1943 in das Straf- nicht vorgesehen, war sie doch „nur“ eine Frau.

** Band 3 online unter: www.ham- unter: www.gutenberg.spiegel.de/ burg.de/maennerstrassennamen buch/mamsell-van-ehren-3607/1.

14) Über Charlotte Niese. Von Her- mann Krüger-Westend, in: Charlotte Niese: Mamsell van Ehren – Kapitel 1 Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 86

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Für sie als bürgerliches Mädchen musste der Leh- die beiden ein Jahr bei einem Bruder von Char - rerinnenberuf ausreichen. Und so begann Char- lotte Niese in New York. Als sie nach Deutsch- lotte Niese nach der Konfirmation das Lehrerin- land zurückkehrten, zogen die beiden Frauen nenseminar zu besuchen. Warum sie schon so auf Rat eines Bruders nach Altona, denn dort jung diese Ausbildung beginnen musste, erklärt wohnte ein Teil der Verwandtschaft. Hier in Al- Charlotte Niese folgendermaßen: „Hernach [nach tona lebte Charlotte Niese bis 1900 zusammen der Konfirmation] trat dann bald an mich die mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester im Frage heran, wie es mit der Selbstständigkeit Philosophenweg. Hier begann auch der schrift- werden sollte. Die Verhältnisse zwangen zu Er- stellerische Erfolg. Charlotte Niese wurde eine wägungen solcher Art. Mein Vater wurde näm- der bekanntesten Holsteinischen Heimatdichte- lich plötz lich kränklich und starb im Alter von rinnen, sogar in Schulbüchern wurden ihre Er- zweiundfünfzig Jahren. Ich kam danach sehr zählungen abgedruckt. „In meinen Geschichten früh zum Lehrerinnenberuf – vor dreißig Jahren muss immer etwas Schleswig-Holsteinisches der einzige Frauenerwerb, von dem die Rede sein, sonst fühle ich mich selbst darin fremd“, sein konnte. Schon in sehr jun gen Jahren machte äußerte sie. ich das Examen für den Unterricht an höheren Charlotte Niese befasste sich auch mit der Töchterschulen, und ich Frauenfrage. So war sie eine Zeit lang erste Vor- kann wohl sagen, dass ich sitzende der Altonaer Ortsgruppe des Verbandes danach gern und freudig Norddeutscher Frauenvereine. Ziel dieses kon- unterrichtet habe.“15) servativen Vereins waren bessere Bildungs- und Charlotte unterrich- Berufschancen für Frauen. tete in mehreren Familien Auch in ihren Romanen setzte sich Char- in Nordschleswig, in der lotte Niese mit der Rolle der Frau auseinander. Rheinprovinz und als In - Sie zeigte immer wieder die gesellschaftspoliti- ternatserzieherin in Mon - schen Grenzen auf, an die Frauen stießen. Je- Charlotte Niese treux. doch trat sie, die selbst unter diesen Gegeben- Als dann die Mutter, heiten litt, nicht für eine Überwindung dieser die damals in Plön wohnte, die Tochter „wieder Verhältnisse ein. Charlotte Niese akzeptierte den nötig hatte“, zog Char lotte Niese zu ihr und gab Status quo. Die traditionellen Geschlechtsrollen- ihren Beruf auf. Fortan lebte Charlotte Niese mit muster zu durchbrechen, entsprach nicht ihrem ihrer Mutter bis zu deren Tod im Jahre 1907 zu- Temperament und Weltbild. sammen. Nicht mehr als Lehrerin tätig, schaffte sich Charlotte Niese den Freiraum, um ihrem lang Charlottenstraße gehegten Wunsch zu schreiben, nachzugehen. Eimsbüttel, seit 1865. Verschiedene Versionen: Ihre ersten Prosatexte veröffentlichte sie unter Benannt wahrscheinlich nach Charlotte Fett, dem männlichen Pseudonym „Lucian Bürger“ geb. Hellberg, Schwiegermutter des Sohnes in der Kieler Zeitung. des Geländevorbesitzers Alexander Bentalon Zwischen 1873 und 1876 wohnte Charlotte Tornquist (siehe Ü Tornquiststraße, in Bd. 3

Niese mit ihrer Mutter in Plön. Dann verbrachten online**) Theater | Ohnsorg Ottensen/OBV-Archiv v.l.n.r.: Stadtteilarchiv Abb.

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15) Ebenda. Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 87

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Siehe auch Ü Emilienstraße, Henriettenstraße, schen Frau besondere Stammesmerkmale ver- Henriettenweg, in diesem Band. körpern. Siehe auch Ü Maxstraße, Eilbek, seit 1867: Nach der Uraufführung von Focks ,Dogger- nach dem Sohn des Grundeigentümers Alexan- bank‘ (1912) bedeutete die Inszenierung und der B. Tornquist in Bd. 3 online**. Aufführung der ,Cili Cohrs‘ schon kurze Zeit spä- Siehe auch Ü Tornquiststraße, Eimsbüttel, seit 1868: Alexander Bentalon Tornquist (1813– ter so etwas wie den ,Durchbruch‘ des Versuches 1889), Großgrundbesitzer, Grundstückbesitzer, von Richard Ohnsorg, Niederdeutsches Theater in Bd. 3 online**. als ein Segment von kultureller Öffentlichkeit in Hamburg zu etablieren. Die Uraufführung wurde Christinenstraße nicht nur im engeren Zirkel der ,Niederdeut- schen‘ mit viel Zustimmung rezensiert.“16) Bergedorf/Lohbrügge, seit 1865, benannt nach Im Theaterstück wird der Vorname von Frau Christina Johanna Georgine Ohl, geb. Petersen Cohrs mit einem „l“ geschrieben. (20.6.1834 Flensburg–20.2.1894 Hamburg), Ehe- In Finkenwerder erzählt man sich über Cilli frau des Geländebesitzers Heinrich Albrecht Ohl Cohrs, die hier mit zwei „l“ geschrieben wird, eine andere Geschichte: Cilli Cohrs war das äl - Cilli-Cohrs-Weg tes te Kind von Greta Cohrs, geb. Horstmann, die Finkenwerder, seit 1941, Romanfigur von Gorch bereits im Alter von 30 Jahren, wenige Tage vor Fock der Geburt ihres fünften Kindes Maria, welches ihr Le ben lang kränklich bleiben sollte, Fischers- „Weibliche Hauptfigur des gleichnamigen ein- witwe geworden war. Um aktigen ‚irnsthaftig Spill‘ von Gorch Fock [siehe Ü sich und ihre fünf kleinen Gorch-Fock-Straße und Gorch-Fock-Wall, in Bd. 3 on- Kinder zu ernähren, näh - line**], am 24. Januar 1914 uraufgeführt von dem te Greta Cohrs für ande- Laienensemble, ‚Gesellschaft für dramatische re Leute Festtagskleidung. Kunst‘ unter der Leitung des Hamburger Biblio- Ihre Tochter Cilli war das thekars Dr. Richard Ohnsorg [siehe Ü Ohnsorgweg, blühende Leben und sehr in Bd. 3 online**]. Die titelgebende Rolle ist eine schön. Gorch Fock verlieb- Hommage des Autors an die von ihm tief be- te sich in sie. Cilli Cohrs wunderte Aline Bußmann, die schon einige Zeit starb jedoch bereits im Heidi Kabel als Cilli Cohrs, Ohnsorg zum Ohnsorg-Spielkreis gehörte. Thema und Alter von achtzehn Jah- Theater 1954 Handlungsaufbau des Einakters waren in Abspra- ren an einer Mandelent- che mit Ohnsorg entstanden, der den Autor zum zündung. Gorch Fock setzte ihr mit seinem Ro- schnellen Abschluss der Niederschrift drängte. man „Cilli Cohrs“ ein bleibendes Denkmal. Fock schrieb nach der Uraufführung euphorisch Siehe auch Ü Gorch-Fock-Straße, Eimsbüttel, an die Bußmann: ,Die Sonnenkraft Ihrer Seele seit 1921, und Gorch-Fock-Wall, Neustadt, seit gab mir die Kraft, die ,Cili Cohrs‘ zu entwerfen.‘ 1933. Johann Kinau (Gorch Fock, Pseudonym) (1880–1916), Dichter, in Bd. 3 online**. Die Figur der ,Cili Cohrs‘ ist der von der Hei - Der Gorch-Fock-Wall wurde 1933 von den Natio- matkunst inspirierten Vorstellung geschuldet, nalsozialisten benannt, die dafür die dort ver- dass sich in dieser zugleich harten und heldi- laufende Friedrich-Ebert-Straße umbenannten.

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16) Mitteilung von Ulf-Thomas Lesle, Institut für niederdeutsche Sprache. Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 88

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Siehe auch Ü Ohnsorgweg, Groß Flottbek, seit aufgeteilt waren. Im 14. Jahrhundert wohnten 1950: Dr. Richard Ohnsorg (1876–1947), Grün- einige Beginen auch im Hospital zum Heiligen der der Niederdeutschen Bühne, später be- Geist am Ende des Großen Burstahs, und es gab nannt: Ohnsorg-Theater, in Bd. 3 online**. für einige Zeit noch eine zweite Beginen-Wohn- gemeinschaft am Pferdemarkt. Conventstraße Da ein hohes Eintrittsgeld gezahlt werden Eilbek seit 1866: nach dem dortigen alten Con- musste, kamen die Beginen meist aus der Mittel- vent, einem Jungfrauenstift, das aus dem und Oberschicht. Sie legten kein Gelübde ab, Beginenkonvent in der Steinstraße hervorging konnten also jederzeit aus dem Konvent aus - treten. Doch Austritte waren selten. Die wegen Um 1255 wurde in der Steinstraße gegenüber ihrer blauen Tracht mit weißem Schleier auch der St. Jakobi Kirche ein Teil des zum Schauen- „blaue Süstern“ genannten Beginen erhielten burger Hofs gehörenden Apfelgartens mit einem eine Leibrente. Über ihr Vermögen konnten sie von einer hohen Mauer umgebenen zweige- zur Hälfte testamentarisch frei verfügen. Die an- schossigen Beginenkonvent bebaut, gestiftet vor dere Hälfte fiel nach ihrem Tod dem Konvent zu. dem 8. Januar 1255 von den Schauenburger Gra - Die hierarchische Einstufung einer Begine fen Johann und Gerhard von Holstein (siehe Ü erfolgte nach deren Lebensalter und ihrer Dauer Schauenburgerstraße, in Bd. 3 online**) und ihrer im Beginenkonvent. Der Vorsitz lag bei der Meis - Mutter, der Ehefrau (siehe Ü Heilwigstraße und Heil - terin. Ihr unterstanden als nächste die Ältesten, wigbrücke, in diesem Band) des Grafen Adolfs IV. die u. a. über das Eintrittsbegehren einer jeden (siehe Ü Adolphsplatz und Adolphsbrücke, in Bd. 3 Be gine entschieden. Auf den absteigenden Hier- online**). Die Beginenbewegung war die größte archiestufen standen die Schwestern, dann die Frauenbewegung des Mittelalters und entstand Schülerinnen. Die Beginen waren der Meisterin in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in meh- zum Gehorsam verpflichtet. Verstöße wurden zu- reren Regionen Nordeuropas. „Ursache für die nächst mit Entzug des Almosens bestraft. Half Entstehung dieser Bewegung ist der Wunsch dies nicht, erfolgte der Ausschluss aus dem Kon- zahlreicher Frauen, ein geistliches Leben zu füh- vent. ren. Die alten Orden nehmen jedoch meist nur Selbst die Meisterin, die vom Rat der Ältes- Adlige auf, und die neuen Bettelorden sind dem ten gewählt wurde und vom Domdekan bestätigt Ansturm der interessierten Frauen nicht gewach- werden musste, war dem Domdekan zu Gehor- sen. So entsteht der Wunsch, eine neue geistli- sam verpflichtet. Er beriet sie bei ihren Entschei- che Lebensform für Frauen zu finden (...)“,17) dungen und konnte sie ihres Amtes entheben, heißt es in der „Chronik der Frauen“ aus dem wenn sie nicht nach den Konventsstatuten han- Jahre 1982. delte. Zur Zeit der Konventsgründung lebten zehn, Im 14. Jahrhundert formierte sich in Deutsch- und in seiner Blütezeit während des 15. Jahrhun- land Widerstand gegen die Beginen. Man unter- derts zwanzig bis 27 Frauen im Beginenkonvent. stellte „ihnen sämtliche moralische Verfehlungen, Das Gebäude bestand aus vier übereinan der - weil sie durch keinen Orden kontrolliert werden. liegenden Böden, die in große Gemeinschafts räu- (...) Dazu kommen Anklagen, die den Beginen me und einen großen Gemeinschaftsschlafsaal religiöse Abweichungen und Häresien unterstel-

* Straßennamen auf unterlegtem 17) Annette Kuhn (Hrsg.): Die Chro- Feld verweisen auf Frauenorte, Frau- nik der Frauen. Dortmund 1982, enarbeiten und -aktivitäten. S. 180.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 079-090 C:. 27.07.15 10:26 Seite 89

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len. Bereits 1311 hebt das Konzil von Vienne den der gläubigen Seele und Christus“,19) schrieb die Stand der Beginen wegen Häresie und Ketzerei Geschichtsprofessorin Hedwig Röckelein. auf. 1397 kommt es in Köln zu ersten Beginen- Anders als die Nonnen unterlagen die Begi- verfolgungen“.18) Um die Beginen vor der Inqui- nen jedoch keinen strengen Klausurvorschriften. sition zu schützen, legte 1360 die Hamburger Wann und aus welchem Grund die Frauen den Kir che für den Beginenkonvent, der bis dahin Konvent verlassen durften, bestimmten die Sta- ohne Verordnungen ausgekommen war, Statuten tuten und die von der Meisterin festgelegten fest. Es wurde die gesellschaftliche, rechtliche Schließzeiten. Nächtliches Ausgehen wurde nur und religiöse Stellung der Beginen festgeschrie- dann erlaubt, wenn Beginen zum Totendienst ben und die Gestaltung des täglichen Lebens oder zu einem Krankenlager gerufen wurden. fest gelegt. Obwohl rechtlich seit 1360 von der Kirche Ein Jahrhundert später verbot Papst Eu - abhängig, blieb der Konvent wirtschaftlich selb- gen IV. (um 1383–1447) zwar weitere Inquisitio- ständig. Die Meisterin musste zwar Buch führen nen, forderte aber eine strengere Aufsicht über und am Ende eines Jahres dem Rat die Bilanzen die Beginen. In Hamburg oblag dem Domdekan vorlegen. Dieser mischte sich jedoch nicht in die nun die oberste Strafgewalt über die Meisterin Wirtschaftsführung ein. Da sich die Beginen und jede Begine. nicht wie die Nonnen als Bräute Christi verstan- In den ersten hundert Jahren des Bestehens den, die in der Meditation ihr Heil suchten, son- des Konventes waren die Beginen nicht auf die dern als Dienerinnen und Haushälterinnen Got- monastischen Vorschriften der Keuschheit, Ar- tes, verdienten sie ihren Lebensunterhalt z. B. mut und des Gehorsams verpflichtet worden. mit Unterrichten, Stricken und durch das Auf- Erst mit dem Statut von 1360 bekam das Keusch- setzen von Schriftstücken. Auch leisteten sie in heitsgebot große Wichtigkeit. Um sich in ihrem fremden Haushaltungen Krankenpflege und To- Verhalten gegenseitig zu kontrollieren, hatten tenwache. Das meiste Geld verdienten sie aber die Beginen den kurzen morgendlichen Weg zur als Kreditgeberinnen auf dem Rentenmarkt. Sie Frühmesse in die St. Jakobi Kirche zu zweit besaßen so viel Geld, dass sie sogar dem Rat der zu gehen. Besonders auf die unter dreißigjähri- Stadt Kredit geben konnten. Neben diesen Ein- gen Beginen wurde ein scharfes Auge geworfen. künften erhielt der Konvent Spenden von Ham- Ihnen war das Herumlaufen auf Plätzen und der burger Familien.20) Besuch von Schauspielen verboten. Verletzte Mit Inkrafttreten der Bugenhagenschen Kir- eine Begine das Keuschheitsgebot, drohte ihr die chenordnung (siehe Ü Bugenhagenstraße, in Bd. 3 Ausweisung aus dem Konvent. online**) im Jahre 1529 und dem Durchbruch Leitfigur der Beginen wurde die Heilige der Reformation sollte der Konvent aufgelöst wer- Maria (siehe Ü Am Mariendom, in diesem Band). den. Im Gegensatz zu anderen Konventen in „Die Konventsordnung aus dem Jahre 1490 emp - Deutschland durfte er jedoch bestehen bleiben, fahl den Beginen und den von ihnen betreuten wurde aber 1537 ein Jungfrauenstift für unver- Schülerinnen die reine Jungfrau als Vorbild für heiratete Frauen. Bis 1866 blieb er in der Stein- ein keusches Leben. (...) Die Beginen verehrten straße, seit Ende des 18. Jahrhunderts jedoch Maria als Mutter Christi, als Gottesgebärerin, als in einem kleinen Haus, in dem nur sieben Frau- Mitleidende am Kreuz, als Mittlerin zwischen en wohnten. Im 19. Jahrhundert wurde das Ge-

** Band 3 online unter: www.ham- in: Die Kunst des Mittelalters in Ham- Lorenz, Beatrix Piezonka, Heidi Rei- burg.de/maennerstrassennamen burg. Hrsg. von Volker Plagemann für ling, Gordon Uhlmann, Gisela Jaacks: die Stiftung Denkmalpflege Ham- „Finsteres Mittelalter“? – „Gute alte 18) Ebenda. burg. Hamburg. o. J. Zeit“? Zur Situation der Frauen bis zum 19) Hedwig Röckelein: Marienvereh- 20) Vgl. auch: Rita Bake, Karin Grö- 19. Jahrhundert, in: Hamburg Porträt. rung im Mittelalterlichen Hamburg, wer, Andrea Kammeier-Nebel, Sabine Heft 21/85. Museum für Hamburgi - Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 90

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bäu de abgerissen und 1867 ein Neubau an der Siehe auch Ü Am Mariendom, Amalie-Sieve- Wands beker Chaussee 34 bezogen. Hier erhiel- king-Weg, Heilwigstraße, Heilwigbrücke, in die- sem Band. ten ledige über 40-jährige Töchter aus Hambur- ger Bürgerfamilien gegen ein hohes Eintrittsgeld Siehe auch Ü Adolphsplatz, Altstadt, seit 1821: Graf Adolph IV. von Holstein, Gründer des am eine Wohnung und eine jährliche Rente. Elf ab- Adolphsplatz gelegenen Maria-Magdalenen- geschlossene 2-Zimmer-Wohnungen mit Küche, Klosters, und Adolphsbrücke, Altstadt, seit Keller- und Bodenraum standen zur Verfügung. 1843, in Bd. 3 online**. Im Parterre befand sich ein Versammlungssaal, Siehe auch Ü Bugenhagenstraße, Altstadt, seit 1909: Prof. Dr. Johannes Bugenhagen (1484– im Keller eine Waschküche und ein Badezimmer. 1558), Theologe, Freund Luthers, Reformator, 1943 wurde das Gebäude zerstört, ein neues Ge- in Bd. 3 online**. bäude wurde nicht mehr errichtet. Die Erträge Siehe auch Ü Schauenburgerstraße, Altstadt, der Stiftung „Convent“ fließen heute in die Ama- seit 1843: nach den Grafen von Schauenburg, lie Sieveking-Stiftung (siehe Ü Amalie-Sieveking- in Bd. 3 online**. Weg, in diesem Band). D

Del-Banco-Kehre Künstlerinnen, nicht zuletzt dank der Bemü- Bergedorf, seit 1985, benannt nach Alma del hungen von Maike Bruhns, ins Bewusstsein der Banco (Alina Henriette del Banco) (24.12.1862 Öffentlichkeit zurück. Mit der Machtübernahme Hamburg–8.3.1943 Blankenese), Malerin der durch die Nationalsozialisten wurde ihr Werk Hamburgischen Sezession. Motivgruppe: Ver- verfehmt, zum Teil zerstört, vergessen. diente Frauen Alma del Banco entstammte einer alten por- Stolperstein vor dem Wohnhaus Hasenhöhe 95. tugiesisch-jüdischen, zum Christentum konver- tierten großbürgerlichen Kaufmannsfamilie. Erst „1933 war sie in Hamburg eine geachtete selb- um 1895, als gut Dreißigjährige, begann Alma ständige Künstlerin, frei von Eklektizismen, kom - del Banco ihre künstlerische Ausbildung. Ernst promißlos ihren Intentionen folgend“1), schrieb Eitner (siehe Ü Eitnerweg, in Bd. 3 online**) und die Kunsthistorikerin Maike Bruhns über Alma Arthur Illies (siehe Ü Illiesweg, in Bd. 3 online**) del Banco im Katalog zur Ausstellung der drei waren ihre Lehrer an der Malschule Valesca Rö- jüdischen Malerinnen der Hamburgischen Se- ver. In Paris, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wa- zes sion Alma del Banco, Anita Rée (siehe Ü Ani - ren es dann Fernand Léger und Jacques Simon. ta-Rée-Straße, in diesem Band) und Gretchen Nach der Auseinandersetzung mit ihnen fand Wohlwill (siehe Ü Gretchen-Wohlwill-Platz, in die- die Künstlerin um 1918 zu einem eigenständigen sem Band), die 1995 im BAT KunstFoyer in Ham- Malstil. „Die formale Gestaltung wurde ihr wich- burg gezeigt wurde. Erst heute kehren die drei tig wie die Strukturierung und Organisation der

sche Geschichte zur Ausstellung: schichte – Geschichte ohne Frau en? schrift des Vereins für Hamburgische Ham monias Töchter. Frauen und Frau- Hamburgs Museen – kein Ort für Frau- Geschichte. Bd. 3. Hamburg 1996. enbewegung in Hamburgs Geschichte. engeschichte? Hamburg 1997. Und vgl.: Rita Bake, Julia Bartelt, Tan ja Und vgl.: Marina Boese, Kathrin Tiede- ** Band 3 online unter: www.ham- Bethan, Eva Gelhar, Stephanie Hoff - mann: Der Beginenkonvent im spät- burg.de/maennerstrassennamen mann, Ulrike Maris: Frauen ohne Ge- mittelalterlichen Hamburg, in: Zeit- Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 91

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Bildfläche. Aus Kubismus und Expressionismus nis tischen, fauvistischen und kubistischen Ten- übernahm sie ein eckiges, spitzes Lineament denzen. sowie gedehnte, ausfahrende Formen. Grundie- Mit den Sezessionskolleginnen und -kolle- rung und zeichnerische Anlage bleiben unter gen Kurt Löwengard, Karl Kluth, Erich Hart- einem dünnen Kolorit stets erkennbar, wodurch mann, Willem Grimm, Lore Feldberg-Eber, Gret- die Malerei einen zarten, aquarellhaften Cha - chen Wohlwill (siehe Ü Gretchen-Wohlwill-Platz, in rakter annahm, während die Bildgestalt leicht, diesem Band), Friedrich Ahlers-Hestermann und gelegentlich improvisiert wirkt. Die Heiterkeit Alexandra Povorina verband Alma del Banco der Malerin fand in diesen Bildern äquivalenten bald Freundschaft. Man traf sich zum gemeinsa- Ausdruck“,2) beschrieb die Kunsthistorikerin men Modellzeichnen und beteiligte sich an den Maike Bruhns. Jahresausstellungen der Sezession. Ihre Studien- Ab 1919 wohnte Alma del Banco bei ihrem reisen führten die Künstlerin nach Frankreich, Halbbruder, dem Kaufmann Siegmund del Banco, Italien, Jugoslawien, Dalmatien und Rumänien. in verschiedenen Wohnungen in Hamburg, am 1929 bekam Alma del Banco eine schwere Neuen Jungfernstieg 2, am Gänsemarkt 61 und Lungenentzündung und geriet zunehmend in am Jungfernstieg 50. Als Atelier hatte ihr der wirtschaftliche Bedrängnis, zumal sie bald nicht Bruder Räume in der nahegelegenen Großen mehr ausstellen durfte. 1933 wurde sie aus der Theaterstraße 34/35 gemietet. Dies wurde bald Hamburgischen Künstlerschaft ausgeschlossen, ein beliebter Künstlertreffpunkt. Ab 1934 wohn- vor Juni 1938 dann auch te Alma del Banco auch in diesem Atelier. aus der Reichskulturkam- 1919 wurde Alma del Banco Gründungsmit- mer. Sechs Bilder und acht glied der Hamburgischen Sezession, die sich Graphiken wurden bei der zum Ziel setzte, in Hamburg ein geistig lebendi- Ak tion „Entartete Kunst“ ges Klima zu schaffen, wie es in Paris, Berlin in der Hamburger Kunst- und München herrschte, in dem die Künstler halle beschlagnahmt. wei - „geistige Reibung, Verständnis und damit Unter- tere im Deutschen Reich. stützung zum mindestens bei Gleichgesinnten“ Nach dem Tod des fänden. Es ging nicht um ein neues künstleri- Bru ders musste Alma del sches Programm, sondern um „Duldsamkeit Banco Wohnung und Ate- gegenüber jeder Richtung”, Unduldsamkeit da- lier aufgeben. Sie zog 1938 Alma del Banco gegen gegenüber „leichtfertigem Schlendrian, zu ihrem Schwager Dr. (...) geistlos herabgeleiertem Handwerk, (...) ge- Hans Lübbert nach Dockenhuden in die Hasen- wissenlosem Sichgehenlassen“, eine Absage an höhe 95. Als Richthofen-Flieger konnte er sie zu- die Mittelmäßigkeit also und zugleich eine Spit - nächst vor der Deportation bewahren, nicht je- ze gegen den 1897 gegründeten Hamburgischen doch vor dem Haus arrest. Als dann aber doch Künstlerclub, der mit seiner weitgehend impres- der Deportationsbescheid ins KZ Theresienstadt sionistischen Ausrichtung eine führende Rolle kam, nahm Alma del Banco sich mit Morphium in der bildenden Kunst der Hansestadt spielte. das Leben. Zur Auswanderung hatte sie sich zu Die Hamburgische Sezession entwickelte dage- alt gefühlt.

Abb.: Archiv Maike Bruhns Archiv Abb.: gen einen eigenständigen Malstil mit expressio - Text: Brita Reimers

1) Maike Bruhns: Kunst in der Krise. 2 Bde. Bd. 2. Hamburg 2001, S. 50. 2) Maike Bruhns, a. a. O., S. 49. Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 92

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Siehe auch Ü Anita-Rée-Straße, Gretchen-Wohl- born“, mit dem er seinen Ruhm als neunieder- will-Platz, Rosa-Schapire-Weg, in diesem Band. deutscher Dichter begründete, schon sehr weit Siehe auch Ü Eitnerweg, Hummelsbüttel, seit fortgeschritten gewesen, schreibt er in seinem 1965: Prof. Ernst Eitner (1867–1955), Maler, in Aufsatz „Sophie Dethlefs un ik“. Was aus der Bd. 3 online**. Distanz so sachlich vorgetragen ist, hat zur Zeit Siehe auch Ü Illiesbrücke, Ohlsdorf, seit 1956: Artur Illies (1870–1952), Maler, Lehrer an der des Erscheinens des „Quickborn“ eine ganz an- Landeskunstschule, und Illiesweg, Steilshoop, dere Heftigkeit. In einem Brief an E. F. Chr. Grie- seit 1955, in Bd. 3 online**. bel heißt es: „Schon öfter habe ich den Vergleich mit der Dethlefs ertragen müssen. Ich will aber Dethlefstwiete mein Buch sogleich verbrennen, wenn ich mit Bergedorf/Lohbrügge, seit 1948, benannt nach ihr auf gleicher Linie stehe. Ihre Sachen sind Sophie Auguste Dethlefs (10.2.1809 Heide– durchaus Dilettantenarbeit. Sie hat keinen Vers 13.3.1864 Hamburg). Im Sterberegister der mit Kunstbewußtsein geschrieben. Plattdeutsch Katharinenkirche wird sie „Dethleffs“ geschrie- versteht sie nicht; einige läppische Worte wie ben.3) Niederdeutsche Dichterin Petzen und Detzen sind noch kein Plattdeutsch. Ihre ‚Fahrt na de Isenbahn’ empört mich. Harms „Der Ruhm der ersten plattdeutschen Dichterin sagt mit Recht davon, daß sie eigentlich etwas von Bedeutung gebührt Sophie Dethlefs“, schrieb auf die Finger haben müßte, weil sie das Volk Albrecht Janssen am 7. Oktober 1925 in seinem so erbärmlich ansehe, so erbärmlich zeichne. Artikel „Plattdeutsche Dichterinnen“ im „Ham- Denn das ist eben der Grundmangel: Achtung burger Fremdenblatt“, und Klaus Groth (siehe Ü vor dem Volke! Und darum kann sie keine feste Klaus-Groth-Straße, in Bd. 3 online**), der neben Konzeption fassen und harmonisch, ohne Ab- Fritz Reuter (siehe Ü Fritz-Reuter-Straße, in Bd. 3 schweifung, zu Ende führen. Ich verlange natür- online**) und John Brinckmann als Begründer lich nicht, daß sie gegen die Dethleffs polemisie - der neuniederdeutschen Lyrik gilt, sah in Sophie ren sollen. Allein ich könnte es nicht ertragen, Dethlefs seine bedeutendste Wegbereiterin. wenn meine Arbeit als Dilettantenwerk darge- Nicht nur, weil die begeisterte Aufnahme stellt würde.“5) ihres Gedichtes „De Fahrt na de Isenbahn“ ihn Sophie Dethlefs teilte den Ehrgeiz und das darin bestärkte, dass die plattdeutsche Sprache Konkurrenzdenken Klaus Groths in keiner Weise. doch noch nicht vergessen und die Tradition der Nach der Lektüre des „Quickborn“ schickte sie plattdeutschen Dichtung wieder zu beleben war, ihm ein rührendes Widmungsgedicht. sondern besonders deshalb, weil Sophie Deth- Sophie Dethlefs wurde am 10. Februar 1809 lefs einen anderen Ton anschlug als die Kolle- in Heide geboren, wo auch der um zehn Jahre gen, die sich nur über die Dummheit der Bauern jüngere Klaus Groth aufwuchs. Trotz der Ge- lustig machten: „... dar weer wat Smucks in dat meinsamkeiten kam es nie zu einer ernsthaften Gedicht, de Welt, de se beschreev, weer doch le- Annäherung zwischen den beiden. Sophie Deth- benswert.“4) Einen tiefer gehenden Einfluss auf lefs und Klaus Groth sprachen in Heide nur ein sein eigenes Schaffen weist er jedoch zurück: einziges Mal miteinander, etwa im Jahre 1845 Als Sophie Dethlefs erster Gedichtband erschien, auf einem Polterabend, auf dem sie plattdeutsche

sei sein zwei Jahre später veröffentlichter „Quick - und er hochdeutsche Gedichte vortrug. Dieses Frontispiz. 1898, Hamburg Kittler, Mundart, Aufl., plattdeutscher und hochdeutscher in verm. 5., Gedichte wikipedia.org/Aus: Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- und Universitätsbibliothek aufbe- Heide/Holstein 1981. burg.de/maennerstrassennamen wahrten Brief unterschreibt sie selbst 5) Zitiert nach: Sophie Dethleffs Ge- mit ff. dichte. Hrsg. von Michael Töteberg. 3) Die Schreibweise des Namens ist 4) Klaus Groth: Sophie Dethlefs un Heide/Holstein 1989. (Der Band ent- unterschiedlich. In einem in der ik, in: Sämtliche Werke. Hrsg. von Ivo hält ein Werkverzeichnis.) Hand schriftenabteilung der Staats- Braak und Richard Mehlem. Bd. 4. Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 93

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Ausbleiben eines näheren Kontaktes war wohl noch das Unglück einer unerfüllten Liebe. Eine nicht nur im Altersunterschied begründet, son- höhere Schul- oder gar eine Ausbildung hat sie dern vor allem in einem Standesunterschied, vermutlich nie genossen. Den Mädchen wurde denn Sophie Dethlefs gehörte den so genannten laut Heider Schulordnung eine „zweckmäßige besseren Kreisen an. Sophie war die Tochter des Ausbildung für das häusliche Leben“ zuteil. So- Branddirektors Dethlefs. Die Mutter starb bei phie fand eine Stellung im Haus des Justizrats ihrer Geburt. Der Vater engagierte eine Haushäl- Paulsen. Das Ehepaar Paulsen war kinderlos, terin und lebte mit seinen drei Töchtern und und da Frau Paulsen ebenso gerne las wie So- dem Sohn sehr zurückgezogen in einem schö- phie Dethlefs, freundeten die beiden sich an. Sie nen Haus mit großem Garten. Nur manchmal „weer mehr er Fründin as er Herrschaft“.8) So- gingen die Schwestern auf dem Dorfplatz spa- phie Dethlefs machte Gelegenheitsgedichte, „oft zieren. Klaus Groth erinnert sich: „Oewer den drullig un nich ahn en beten dristen Humor“.9) groten Plaats voer min Va- Wenn es in Heide ein Fest gab, holte man sie. derhus in de Heid spa- Sie trug Widmungsgedichte vor und gestaltete zeern mitto gegen Abend, die Auftritte der Gratulanten zu kleinen Theater- wen’t warm un still Wed- rollen, indem sie veranlasste, sich als Zigeuner, der weer, twee öllerhafte Fischersfrau u. ä. zu verkleiden. Manchmal ent- Mädens, ‚Mamselln‘ war warf sie ganze Szenarien. Für einen Polterabend wul seggt, denn se hören ließ sie in einem Lokal einen ganzen Jahrmarkt nich recht to de Hand- aufbauen. warkers, Arbeiders, lütt Mit ihrem Gedicht „De Fahrt na de Isenbahn“ Hüerslüd un wat dar sunst wurde sie, für sie selbst offenbar ganz überra- um den Lüttenheid, as de schend, mit einem Schlag in ganz Schleswig- Sophie Dethlefs grot Gemeenplaats het, Holstein bekannt. Das Gedicht ging von Mund wahn (...). Wenn de bei- zu Mund und von Hand zu Hand, bevor es in den Mamselln achter rutgungn, so blev en lütten Karl Bier natz kis „Volksbuch auf das Jahr 1850 oln Mann torügg un mak de Port wedder to.“6) für Schleswig, Holstein und Lauenburg“, in dem Noch deutlicher wird der Abstand, den Klaus Theodor Storms (sie he Ü Theodor-Storm-Straße, in Groth empfindet, wenn er lapidar formuliert: „Dat Bd. 3 online**) „Immensee“ zu finden war, zum awer Glück un Freden dar ok nich blot regeer, ersten Mal gedruckt wurde. Damit war ihr der dat keem mi al glik to Ohrn, as man mit Schre- Schritt von der dilettierenden Verseschmiede in cken vertell, Branddirektor Dethlefs weer afsett. die literarische Öffentlichkeit gelungen. Durch Sin Kaß weer in Unordnung, sin lütt Gehalt harr den Zuspruch von Freunden ermuntert, ließ sie nich reckt voer de Familje. Hus un Garn warn im selben Jahr den Band „Gedichte“ drucken. verkofft. Wat war ut de armen Lüd? Se verswunn Die erste Auflage war so schnell vergriffen, dass voer uns Börgerslüd, dat weer allns.“7) schon 1851 die zweite erschien und 1857 eine Das war im Jahre 1835, Sophie war 26 Jahre dritte. Die vierte erweiterte Auflage (1861) trug alt. Nach der Entlassung ging der Vater zu sei- den Titel „Gedichte in hochdeutscher und platt- nem Sohn, der Kirchspielvogt in Delve war. So- deutscher Mundart“. Die Gedichtbände enthal- phie musste alleine zurechtkommen. Dazu kam ten neben der „Fahrt na de Isenbahn“ weitere

** Band 3 online unter: www.ham- 9) Ebenda. burg.de/maennerstrassennamen

6) Klaus Groth, a. a. O. 7) Ebenda. 8) Ebenda. Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 94

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epische Gedichte, die auch von den Menschen Sie konnte eine alte Tasse, ein ausgedientes Kleid ihrer Heimat erzählen, lyrische Klagen über das oder das erste Stiefmütterchen andichten; es gibt erfahrene Liebesleid und patriotische Gedichte, unfreiwillig komische Wendungen, so daß man die Sophie Dethlefs 1848 während des Krieges manchmal denkt, hier sei eine plattdeutsche zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark Friederike Kempner am Wirken. Und doch ist es verfasst hatte. Die fünfte, mit einem Vorwort ihr gelungen, in schwermütigen Versen individu- und einem Lebensabriss versehene Auflage gab elles Schicksal zu artikulieren. Ein unruhiges Klaus Groth im Jahre 1878 heraus. Nun, nach- Herz, einsam und traurig, spricht sich hier aus.“11) dem er seines eigenen Ruhmes längst sicher Zu dem privaten Elend kam die Bedrängnis war, konnte er entspannt mit dem Werk Sophie durch den Krieg gegen Dänemark. Auch wenn Dethlefs umgehen. Im Vorwort nannte er „De Sophie Dethlefs’ patriotische Gedichte häufig Fahrt an de Isenbahn“ ihr Hauptwerk, mit dem recht plakativ sind, ist ihr politisches Engage- sie ihren Ruf begründet habe: „Das Idyll erwarb ment doch bemerkenswert, zumal sich die all- sich allein durch seinen inneren Wert seine zahl- gemeine Begeisterung für die Befreiungskriege reichen Freunde und der Verfasserin einen in Dithmarschen sich in Grenzen hielt. Namen, der nicht ausgelöscht werden kann, so Nach dem Tode des Justizrats Paulsen im lange eine plattdeutsche Literatur und Sprache Jahre 1849 wurden Sophie Dethlefs’ Lebensver- bestehen.“10) hältnisse immer drückender. Pastor Rehhoff von Der Herausgeber des 1989 erschienenen der Hamburger Michaeliskirche nahm sich ihrer Ban des „Sophie Dethleffs Gedichte“, Michael an und brachte sie 1853 zusammen mit ihrer Töteberg, beurteilt ihr Werk folgendermaßen: blinden Schwester Annette Dorothea im neu er- „Mit Kunstbewußtsein hat Sophie Dethleffs kei- öffneten Schröder-Stift in Hamburg unter (sie - nen Vers geschrieben. Sie war eine naive Poe - he Ü Schröderstiftstraße, in Bd. 3 online**), das tin. Doch finden sich in ihrem Gedichtband nicht sein Erbauer, der Kaufmann und Freiherr Schrö- bloß Juxgedichte für Polterabend, Taufe und der, ausdrücklich für „Hilfsbedürftige aus besse- Konfirmation. Die ernsten und wehmütigen Töne ren Ständen“ bestimmt hatte. Die Wohnung war sind unüberhörbar; häufig wiederkehrende Mo- miet frei, und jeder Bewohner erhielt 120 Mark tive sind soziale Not und unerfüllte Liebe – Wei- im Jahr für den Lebensunterhalt. berthemen nach damaligem Verständnis. Das Klaus Groth hat Sophie Dethlefs 1857 dort Stichwort Frauenlyrik ist bereits gefallen, es hat besucht: „Ik söch er in Hamborg int Schröder- einen abfälligen Beiklang. Mit männlicher Arro- stift op, wo se ja wenigstens mit er Swester Op- ganz wurde den in den Gedichten zum Aus- nahm un Pfleg funn harr. Dat harrn er Gedichte druck kommenden Empfindungen und Gefühlen makt. Awer trurig, möd in sik, eensam, as man höherer Wert abgesprochen. Sophie Dethleffs seggt, dalknickt, seet se dar mit er blinde Swes- war privates Glück versagt geblieben; in ihren ter. Klag’ weer de Anfang. Klag’ weer allns, wat Versen flüchtete sie oft ins Sentiment oder setzte ik to hörn kreeg. All min Trost weer as Wa- als Schlußmoralität christliches Gottvertrauen. terdrip pens op en hitten Stehn. Wer will er’t oe- Gewiß ist manches, was sie zu Papier brach - welnehm? Wo weer de Welt, wo wi na opkeken te, lediglich konventionelle Erbauungsliteratur, harrn as na en Märkenwelt, wo se in levt harr? wirkt weder originell noch sonderlich inspiriert. Kaspelvagt, Landvagt, Landschriwer, Pennmeister,

** Band 3 online unter: www.ham- 11) Ebenda. burg.de/maennerstrassennamen

10) Zitiert nach: Sophie Dethleffs Ge- dichte. Hrsg. von Michael Töteberg, a. a. O. Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 95

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– wo weern se?“12) In seiner Bitterkeit gegenüber zwischen geweihten Königen statt. Der Verlierer den sogenannten Honoratiorenskreisen übersieht starb als der Gott Hippolytos, der Sieger wurde Klaus Groth ganz offenbar, dass die Lebens - mit dem Beinamen Verbius als Priester der Diana verhältnisse der Sophie Dethlefs niemals mär- eingesetzt. (…) Der Dianakult war in der vor- chenhafte Züge getragen hatten. Es ist geradezu christlichen Zeit so weit verbreitet, daß die er- folgerichtig, wenn dieses einsame und dürftige sten Chris ten sie als die Hauptrivalin ihres Gottes Leben in der anonymen Großstadt unter frem- betrachteten. Deshalb wurde sie später die ‚Kö- den Menschen endete. „Vor nur wenigen Wo- nigin der Hexen‘ [siehe Ü Hexenberg, Hexenstieg, chen ist eine Holsteinische Dichterin, Sophie Hexentwiete, in diesem Band] genannt. Die Evan- Dethlefs, verschieden, und unsere Tagesblätter gelien verlangten die völlige Zerstörung aller sind mit zwei Zeilen flüchtig darüber hingegan- Tempel der Diana, der Großen Göttin, die ‚von gen“, schrieben die Itzehoer Nachrichten am der ganzen Provinz Asien und von der ganzen 4. April 1864. Sophie Dethlefs wurde auf dem Welt ver ehrt wird‘ (Apostel 19, 27). (…). In Friedhof St. Katharinen beigesetzt. Ephesos wurde die Göttin auch Mutter der Tiere, Text: Brita Reimers Gebieterin der wilden Geschöpfe und vielbrüs- Siehe auch Ü Fritz-Reuter-Straße, Bramfeld, tige Artemis genannt. Letztere wurde mit einem seit 1890: Fritz Reuter (1810–1874), Schriftstel- von Brüsten bedeckten Körper dargestellt, um ler, in Bd. 3 online**. sie als Ernährerin aller Geschöpfe der Welt zu Siehe auch Ü Klaus-Groth-Straße, Borgfelde, zeigen. Im 4. Jahrhundert n. Chr. übernahm die seit 1899: Klaus Groth (1819–1899), nieder- deutscher Dichter, in Bd. 3 online**. Kirche das Heiligtum in Ephesos und weihte es Siehe auch Ü Schröderstiftstraße, Rotherbaum, der Jungfrau Maria. (…) Einige Christen hielten seit 1858: Johann Heinrich Schröder (1784– Dia na sogar für die Dreifache Gottheit, die vor- 1883), Gründer des Schröderstiftes. Kaufmann, mals die Welt beherrscht hatte. (…) Die Beamten Bankier, Gründer der Firmen J. Henry Schröder & Co., London und J. H. Schröder & Co. Liver- der Inquisition hielten Diana jedoch für die ‚Göt- pool, in Bd. 3 online**. tin der Heiden‘, mit deren Hilfe die Hexen ihre Siehe auch Ü Theodor-Storm bei: Stormsweg, nächtlichen Reisen durch die Lüfte unternahmen Uhlenhorst, seit 1903: Theodor Storm (1817– (…)“.13) Trotz alledem blieb Diana „das ganze 1888), Schriftsteller, in Bd. 3 online**. Mittelalter hindurch die Gebieterin der dichten und dunklen Wälder Europas.“14) Dianaweg Siehe auch Ü Hexenberg, Hexenstieg, Hexen - Lokstedt, seit 1952, benannt nach der Göttin der twiete, in diesem Band. Jagd. 1599 stand hier ein Eichenwald, und es Siehe auch zu Frauen, die als Hexen beschul- digt wurden Ü Mette-Harden-Straße, in diesem wurde darin Jagd betrieben Band und im Nachtrag Albeke-Bleken-Ring.

In Rom hieß Diana „Himmelsgöttin“, in Grie - chen land „Artemis“. Diana war die Schutzgöttin Dornröschenweg der gebärenden und stillenden Frauen und der Schnelsen, seit 1950. Märchen Krankenpflege. Diana galt auch als Göttin des Mondhains und als Jägerin (Zerstörerin). „In ih- Eine Königstochter fällt, nachdem sie sich mit ren Heiligtümern fanden regelmäßig Kämpfe der Nadel einer Spindel in den Finger gestochen

** Band 3 online unter: www.ham- Frankfurt a. M. 1983, S. 165ff. burg.de/maennerstrassennamen 14) Barbara G. Walker, a. a. O., S. 167. 12) Klaus Groth, a. a. O. 13) Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen. Ein Lexikon. Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 96

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hat, in einen hundertjährigen Tiefschlaf. Auch feld. Aus Anlass des 90-jährigen Bestehens des alles um sie herum versinkt in einen tiefen Schlaf. Gymnasiums setzten sich Schülerinnen und Um das Schloss wächst mit der Zeit eine Dor- Schüler in einer Arbeitsgemeinschaft, die von nenhecke, die für alle Königssöhne, die zur schö- Schulleiter Hans-Walter Hoge geleitet wurde, mit nen Königstochter wollen, zur Todesfalle wird. der Geschichte ihrer Schule von 1933 bis 1945 Nach genau hundert Jahren kommt der richtige auseinander. In diesem Rahmen erforschten sie Königssohn; er küsst Dornröschen wach. auch das Schicksal von Dorothea Bernstein. Auf Ricarda Huch (siehe Ü Ricarda-Huch-Ring, in Initiative der Schule wurde ein Stolperstein für diesem Band) machte ein lyrisches Spiel aus sie vor ihrer ehemaligen Wirkungsstätte verlegt. dem Dornröschentext. „Der Tiefenpsychologie Anlässlich der Einweihung des Stolpersteins bot Dornröschen zahlreiche Ansätze. Der lange am 14. November 2005 hielt die damalige Schü- Schlaf im Schutz der Dornenhecke, die schein- lerin Maris Hubschmid folgende Rede: „Die Ge- bare Passivität der Heldin wurden als Latenz- schichte unserer Schule während der schreck- phase im Entwicklungs- und Reifungsprozeß ge- lichen Jahre von 1933 bis 1945 ist lange im sehen, die lustig springende Spindel, der Stich in Dunkeln geblieben. Kaum einem lag daran, in den Finger als sexuelles Erwachen gedeutet.“15) den Nachkriegsjahren und bis in die Sechziger- Siehe auch Ü Ricarda-Huch-Ring, in diesem und Siebzigerjahre hinein das Licht auf die dunk- Band. len Flecken deutscher Vergangenheit zu richten. Flecken, die da heißen: Wegschauen, Schweigen, die Gefahr nicht erkennen wollen, Verdrängen. Dorothea-Bernstein-Weg Den Schülern unserer Generation hat man in der Uhlenhorst, seit 2010, benannt nach Dr. Dorothea Schulchronik große Lücken hinterlassen. Die Henriette Bernstein (geb. 10.8.1893, am 25.10.1941 Zeit von 1933 bis 1945 wird darin nur äußerst nach Lodz deportiert, dort gestorben am 5.6. spärlich behandelt. Einige Anekdoten, einige 1942), jüdische Lehrerin. 2014 wurde die Julius- Daten, viel über Kinderlandverschickung und ei- Fresselstraße, die 2010 benannt worden war, niges über die Bombardierung 1943 – mehr nicht. wegen Fressels NS-Belastung umbenannt in Doro- Nichts, was darin hinweist auf die Veränderun- thea-Bernstein-Weg, der in den ehemaligen Julius- gen des Schulalltags am Lerchenfeld während Fresselstieg mündet und damit verlängert wurde dieser Zeit, kein Vermerk über Schicksale ein- (siehe dazu in Bd. 1 im Kapitel Der Umgang mit zelner Schülerinnen, nur ungenaue Angaben der nationalsozialistischen Vergangenheit). über das Aus-dem-Dienst-Scheiden einiger Leh- Motivgruppe: Opfer des Nationalsozialismus rer und Lehrerinnen. Vor zwei Jahren haben ei- Stolpersteine vor der Schule Lerchenfeld 10 und nige von uns es sich gemeinsam mit unserem vor dem Wohnhaus Hauersweg 16. Schulleiter Herrn Hoge zur Aufgabe gemacht, diese Lücken zu füllen. Wir wollten mehr wis- Dorothea Bernstein wurde in Tilsit geboren. Seit sen über die Geschichte des Gymnasiums Ler- ungefähr 1919 lebte sie in Hamburg. Als Lehrerin chenfeld, mehr wissen über eine Generation, die unterrichtete sie von März 1927 bis September einmal im selben Alter und am selben Ort eine 1933 an der Oberrealschule für Mädchen am so andere Schulzeit erlebt hat, als wir es heute Lerchenfeld, dem heutigen Gymnasium Lerchen- tun. Also haben wir uns auf die Suche begeben.

15) Ulf Diederichs: Who’s who im Märchen. München 1995. Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 97

Biographien von A bis Z / D 97

Informationen gesucht, Zeitzeugen gesucht, Ant - die man gegenüber anderen Lehrern nicht zu äu- worten gesucht. Der ‚Stolperstein‘, den wir heute ßern gewagt hätte. einweihen, ist Symbol für ein Ergebnis unserer Am 25. September 1933 wurde Dr. Dorothea Suche. Er soll erinnern an Frau Dr. Dorothea Bernstein auf Grund § 3 des Reichsgesetzes zur Bernstein, die von 1927 bis 1933 Lehrerin unse- Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom rer Schule war, und die 1942 im Konzentrations- 7. April desselben Jahres ohne jedes Gehalt in lager (…) ermordet wurde, weil sie Jüdin war. den Zwangsruhestand versetzt (…). Am 1. Juni Er soll aufmerksam machen darauf, dass unsere 1939 wurde sie an der letzten jüdischen Schule Schule Vergangenheit hat, dass wir alle eine Ver- Hamburgs eingestellt, die aus der Zusammenle - gangenheit haben. Er soll mit seinen 10x10 cm gung der Mädchenschule der Deutsch-Israe li ti - eine erste Lücke füllen. schen Gemeinde mit der Talmud-Tora-Ober re al- Dorothea Henriette Bernstein wurde am schule für Jungen hervorgegangen war und sich 10. Au gust 1893 in Tilsit in Ostpreußen geboren. ‚Volks- und Höhere Schule für Juden‘ nennen Ihre Eltern Aaron und Sophie Bernstein waren musste. Diese Schule wurde von der Reichsver- beide jüdischen Glaubens. 1914 legte sie ihre Rei- einigung der Juden in Deutschland unterhalten feprüfung in Danzig ab, studierte Deutsch, Fran- (…). Diese war allerdings kaum noch zahlungs- zösisch und Philosophie in Königsberg, München fähig und sah sich gezwungen, viele der letzten und Hamburg und legte hier 1922 ihre Prüfung jüdischen Lehrer zu entlassen. So bekam Dr. Do- für das höhere Lehramt ab. Im gleichen Jahr pro- rothea Bernstein im Juni 1941 das Kündigungs- movierte sie zum Doktor der Philosophie. schreiben und schied am 16. Juli 1941 aus dem An die Mädchen-Oberrealschule am Ler- Schuldienst aus. chenfeld kam sie zunächst als Vertretung für Eine Lehrerin namens Dr. Duhne, zu der Frau eine erkrankte Lehrkraft, im März 1927, nach- Bernstein engen Kontakt hatte, berichtet von ei- dem sie am Oberlyzeum in Altona und an der nem Anruf, in dem Dorothea Bernstein ihren Ab- Helene-Lange-Schule einen Vorbereitungsdienst transport für den kommenden Tag ankündigte. absolviert hatte. Zweieinhalb Jahre später wurde Sie soll gesagt haben, sie habe noch einmal eine sie zur außerplanmäßigen Beamtin ernannt. warme, menschliche Stimme hören wollen. Fräulein Bernstein unterrichtete Französisch und Am 25. Oktober 1941 wurde Frau Dr. Bern- Deutsch in allen Klassenstufen. Zeitzeugen be- stein mit dem ersten Deportationszug und 1033 schreiben sie als sozial engagierte Lehrerin, anderen Juden nach Lodz (ehemals Litzmann- deren Unterricht streng, aber ausgezeichnet war. stadt) in Polen deportiert (…). Seit dem Jahr Sie gehörte zu den jüngsten Kolleginnen und 2000 verlegt der Künstler Gunter Demnig so ge- stand den Problemen ihrer Schülerinnen sehr nannte Stolpersteine und erinnert so an die Opfer aufgeschlossen gegenüber. Eine ehemalige Schü- der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbst- lerin erinnerte sich daran, dass Frau Bernstein gewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing jeden Morgen einem Mädchen, dessen alkohol- ins Trottoir einlässt (…). Der ‚Stolperstein‘, den kranker Vater sie stark vernachlässigte, ein Früh- wir heute für Dorothea Bernstein einweihen, stück mitbrachte. unterscheidet sich etwas von den meisten ande- Die Schüler schätzten ihre Art. Es heißt, man ren. Statt der üblichen Zeile ‚Hier wohnte‘ sind erlaubte sich in ihrer Gegenwart Bemerkungen, auf ihm die Worte ‚Hier lehrte‘ eingraviert. Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 98

98 Biographien von A bis Z / D

Wir haben ihn bewusst hier verlegen las- teren Ausbildung auf die Kunsthochschule ge- sen, um auszudrücken, dass Frau Bernstein als gangen, aber dazu fehlte ihr das Geld. 1910 hei- Lehrerin und Mensch an unserer Schule unver- ratete sie den Elektromeister Franz Gartmann gessen ist. Und um deutlich zu machen, dass sie und bekam mit ihm zwei Söhne, 1911 Franz und für uns hier hergehörte, an diese Schule, und 1912 Friedrich. dass sie damit für immer ein Teil unserer Schule Während ihrer Ehe begann Dorothea Gart- und der Geschichte des Gymnasiums Lerchen- mann freiberuflich als Malerin zu arbeiten. Nach - feld bleiben wird. dem ihre Ehe 1928 geschieden war, musste sie ‚Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein ihre Söhne und sich durch ihre Malerei finan- Name vergessen ist‘, sagt Günter Demnig. Mit ziell unterhalten. Sie strebte die Ausbildung zur diesem Stein vor unserem Schuleingang wollen technischen Zeichnerin an, um so eine regelmä- wir die Erinnerung an diesen Menschen, Frau ßige Anstellung zu erhalten. Sie nahm Aufträge Dr. Dorothea Bernstein, die einst hier lehrte, le- für Ölgemälde an; ihr Œvre umfasst mehr als bendig halten (...).“ 1000 Aquarelle, die inzwischen mit Hilfe der Ein weiterer Stolperstein für Dorothea Bern- Hochschule für Bildende Künste Hamburg kata- stein liegt im Hauersweg 16, vor ihrer letzten logisiert wurden. Wohnung, die sie selbst wählen konnte. Ihre Als ihre Söhne zum allerletzte Adresse in Hamburg vor ihrer Deporta- Kriegseinsatz im Zweiten tion war die Klosterallee 11, wo sie zur Unter mie - Weltkrieg eingezogen wur - te wohnte. Dorothea Bernstein starb am 5. Juni den, ging sie aus Protest 1942 in Lodz. gegen diesen Krieg bar- Text: Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums fuß. Sie wollte erst wieder Lerchenfeld Strümpfe anziehen, wenn die Söhne zurückkämen. Dorothea Gartmann Dorothea-Gartmann-Straße Ihr Sohn Friedrich, Stu- dienreferendar am Wilhelm-Gymnasium, wurde Wilhelmsburg, seit 2012, benannt nach Dorothea 1942 als Soldat getötet. Gartmann (4.2.1891 Wilhelmsburg–1961 Wil- Auch in den im Bunker verbrachten Kriegs- helmsburg), freiberuflicher Malerin, bevorzugte nächten zeichnete Dorothea Gartmann: „Eines Wilhelmsburger Motive und setzte damit dem Nachts erschien eine Dame der Frauenschaft der Stadtteil ein wertvolles Denkmal; ihre Arbeiten NSDAP in Begleitung eines Polizeibeamten im wurden 1999 erstmalig im Bürgerhaus Wilhelms- 7. Stock des Bunkers, in dem ich zeichnete, und burg ausgestellt schrie durch den großen Raum, indem sie auf Die Malerin Dorothea Katharina Mary Gartmann wur - mich zeigte: ‚Diese Frau ist in höchstem Grade de am 4. Februar 1891 am Ernst-August-Deich der Spionage verdächtig! Sie muß sofort verhaf- in Wilhelmsburg als Tochter der alteingesesse- tet werden! Reißen sie ihr das Buch weg!‘ nen Familie Wolkau geboren. Mit vierzehn Jah- Da alle Leute, die im 7. Stock diese Worte ren verließ sie die Schule Fährstraße und fand hörten, dagegen protestierten, weil sie mich als eine Anstellung beim Postkartenmaler Witthoff Wilhelmsburgerin kannten, sah der Polizeibe-

in den Großen Bleichen. Gern wäre sie zur wei- amte von der Festnahme ab und nahm nur meine Dehning-Bargmann Iris Privatbesitz Abb.: Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 99

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letzte Zeichnung mit. Am folgenden Tag war Ver- Dorothea Alma Elise Marie Kasten wurde handlung bei der Polizei über die Anzeige der am 6. März 1907 in der Wohnung ihrer Eltern in Dame. Man erkannte die Haltlosigkeit der Ver- der Sachsenstraße 96 in Hamburg-Hammerbrook dächtigung und gab mir meine Zeichnung zu- geboren. Sie war das erste Kind von Friedrich rück.“16) Adolf Heinrich Kasten, Buchhalter von Beruf, Noch während des Krieges studierte Doro- und seiner Ehefrau Dorothee Margarete Karo- thea Gartmann, bereits 50-jährig, bei Carl Otto line, geb. Lange. Beide Eltern stammten aus kin- Czeschka an der Landeskunstschule Hamburg. derreichen Familien und gehörten der evange- Dieses Studium wurde jäh durch die Bomben lisch-lutherischen Kirche an. Im Alter von drei im Sommer 1943 beendet, als auch das Atelier Monaten wurde Dorothea in der St. Kathari- Czeschkas in der Hochschule am Lerchenfeld nen-Kirche getauft. Ein Jahr nach ihr kam die zerstört wurde. Schwester Hildburg zur Welt. Sooft es ihr ihre bescheidenen Einkünfte er- Dorothea, genannt Thea, war von Geburt laubten, besuchte sie in den 1950-er Jahren Ita- an krank, doch lernte sie mit eineinhalb Jahren lien. Besonders in Rom, Neapel und Taormina Laufen und mit zwei Jahren Sprechen. An In- auf Sizilien fand sie Motive für ihre Malerei. fektionskrankheiten machte sie Masern und Kurz nach ihrer letzten Ausstellung im Wil- Keuchhusten durch. Sie wurde in die Volksschu - helmsburger Rathaus 1961 starb sie im Alter von le eingeschult und besuchte sie bis zur dritten 70 Jahren. Klasse, was der heutigen sechsten entspricht. Sie Text: Maria Koser ging gern zur Schule. Außer Rechnen gefielen ihr alle Fächer. Sie behielt den Stoff und konnte das Gelernte anwenden. Dorothea-Kasten-Straße Als sie acht war, machte sich eine Wirbel- Alsterdorf, seit 1993, benannt nach Dorothea säulenerkrankung bemerkbar, die trotz einer Kasten (6.3.1907 Hamburg–2.5.1944 in der Heil- zweijährigen orthopädischen Behandlung zur und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ in Wien), Opfer Bildung eines Buckels führte. der NS-Euthanasiemaßnahmen. Eine der 629 Nach ihrer Entlassung aus der Schule im Jahr behinderten Bewohnerinnen und Bewohner der 1921 lernte sie ein halbes Jahr lang in einem Kin- Alsterdorfer Anstalten, die deportiert wurden und derheim in Springe am Deister Hauswirtschaft: von denen nur 79 die Deportation überlebten Kochen, Backen, Schneidern. Im Anschluss da- Stolperstein vor dem Wohnhaus Caspar-Voght- ran arbeitete sie ein Jahr lang unter der Leitung Straße 79. einer Schwester Hedwig in einer Kinderkrippe in Hannover, eine Tätigkeit, die sie sehr befriedigte „Wenn mich jetzt keiner wegbringt, bringe ich und zu der sie gern zurückgekehrt wäre, als sie mich selber weg.“ Mit diesen Worten drückte wieder zuhause lebte. Dorothea wollte gern, wie Dorothea Kasten aus, wo sie sich zu Hause fühlte: ihre Schwester, die als Krankenschwester im All- in den Alsterdorfer Anstalten. Dort war sie gemeinen Krankenhaus Eppendorf lebte, einen wegen einer geistigen Behinderung unterge- „freien Beruf“ haben, in dem sie mit Kindern ar- bracht. Wurde ihr ein Urlaub zu lang, forderte beiten könne. Sie gab ihren Eltern die Schuld, sie die Rückkehr auf ihre Weise. dass sie dafür nicht genug gelernt habe.

16) Staatsarchiv Hamburg 351-11 gang 1999/2000. Amt für Wiedergutmachung, 12912; Ursula Falke: Dorothea Gartmann, Eine Wilhelmsburger Künstlerin, in: DIE INSEL, Zeitschrift des Vereins für Heimatkunde in Wilhelmsburg, Jahr- Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 100

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Dorothea spielte Klavier und Harmonium enberg, ein Erbgesundheitsgutachten, bei dem und schloss sich dem Jungmädchenverein von es auch um die Frage der Sterilisierung ging. Es Pastor Hagedorn in Dulsberg an, wo die Familie hatte keine persönlichen Folgen für Dorothea, nun in der Angelnstraße lebte. Während sie im da sie ständig unter Aufsicht stand, entweder Umgang mit anderen Personen sehr freundlich in der Anstalt oder Zuhause. Ihr Weihnachts - war, war sie gegenüber ihren Eltern aufsässig bis besuch 1933 bei den Eltern, die inzwischen dahin, dass sie ihre Mutter tätlich angriff. Ihre nach Hamburg-Hamm gezogen waren, wurde Stimmung schwankte zunehmend, sie wurde un- ihr trotz einer allgemei- selbstständig und musste ständig beaufsichtigt nen Urlaubssperre gestat- werden, um Selbstverletzungen zu vermeiden. tet, wenn auch verkürzt. Als die Belastung für ihre Mutter zu groß wur- Gute Phasen wech- de, kam als Ausweg Dorotheas Unterbringung in selten mit schlechten, in einer Anstalt in Frage. denen sie widerspenstig Am 15. Juli 1931, 24 Jahre alt, wurde sie war und sich selbst Scheu- erstmals in den damaligen Alsterdorfer Anstalten erwunden zufügte. Dann aufgenommen. Die ärztliche Untersuchung ergab wurde sie zu ihrem Selbst- eine Mikrocephalie, eine Kleinköpfigkeit und schutz in den Wachsaal Dorothea Kasten einen „Schwachsinn mittleren Grades“. Trotz gebracht, wo es eine Auf- ihrer geistigen Behinderung konnte sie kleine sicht gab. Sie schaffte dann auch ihre Körper- Arbeiten verrichten, z. B. half sie den Schwes- und Kleiderpflege nicht mehr allein. Am 15. Au- tern beim Frühstück und spielte gern Harmo- gust 1934 holten ihre Eltern sie wieder nach nium. Ihre Mutter besuchte sie häufig, und Do- Hause. rothea wurde regelmäßig nach Hause beurlaubt. Dorothea äußerte An fang des Jahres 1935 Zunächst trug der Vater die Kosten von drei großes Heimweh nach Alsterdorf und wurde am Reichsmark täglich für die Unterbringung. Da er 20. März zum dritten Mal aufgenommen. Ihr Ver- aber auch noch für seine Mutter und die Tochter halten blieb unausgeglichen, sie wurde wie zuvor Hildburg aufzukommen hatte, bat er im Septem- behandelt. Am 12. Oktober 1936 wurde sie noch ber unter Hinweis auf Dorotheas Arbeitsfähigkeit einmal nach Hause entlassen, kehrte aber bereits um eine Ermäßigung auf zwei Mark. Der Antrag vor Monatsende in die Anstalt zurück. wurde genehmigt. Im Mai 1932 holten die Eltern Am 16. August 1943 wurde Dorothea Kas- Dorothea auf eigenen Wunsch nach Hause. ten zusammen mit 227 anderen Frauen und Mäd- Zehn Monate später, einen Tag nach ihrem chen direkt aus den Alsterdorfer Anstalten in 26. Geburtstag, kehrte Dorothea in die damali- die Heilanstalt Wagner-von-Jauregg-Heil- und gen Alsterdorfer Anstalten zurück. Im Mädchen- Pflegeanstalt der Stadt Wien, den früheren Stein- heim, wo sie nun untergebracht wurde, arbeitete hof, verlegt. Der Anstaltsleitung ging es neben sie in der Küche beim Abwasch und Kartoffel- der Erfüllung der erbhygienischen Vorgaben der schälen, ganz zur Zufriedenheit des Pflegeper- Reichsführung konkret darum, Platz für Bom- sonals. Gern spielte sie auch hier Harmonium. benopfer zu schaffen. Als sich herausstellte, dass Dem Erbgesundheitsgesetz entsprechend, er- die ausgebombten Hamburger im Umland unter-

stellte der Oberarzt der Anstalt, Gerhard Krey- kamen, war die Transportmaschinerie schon an- Röder Petra Privatbesitz Abb.: Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 101

Biographien von A bis Z / D 101

gelaufen und wurde nicht mehr gestoppt. Die Siehe auch Ü Agnesstraße, Klärchenbrücke, Wiener Heilanstalt diente der „stillen Euthana- Klärchenstraße, Maria-Louisen-Brücke, Maria- Louisen-Stieg, Maria-Louisen-Straße, in diesem sie“, nachdem die erste Phase der Euthanasie Band. 1941 wegen öffentlicher Proteste beendet wor- Siehe auch Ü Andreasstraße, Winterhude, seit den war. Nicht zwangsläufig alle Neuzugänge 1866, Andreas Meyer (?–?), benannt nach dem aus Hamburg wurden der „Euthanasie“ unter- Freund und Helfer des Grundstücksbesitzers worfen; wer arbeitsfähig war, blieb am Leben. Adolph Sierich, in Bd. 3 online**. Wie aus einem Brief ihrer Schwester Hild- Siehe auch Ü Sierichstraße, Winterhude, seit 1863: Adolph Sierich (1826–1889), Grund- burg hervorgeht, den diese 1985 an die Evange- eigentümer, in Bd. 3 online**. lische Stiftung Alsterdorf schrieb, fuhr im Mai 1944 Dorothea Kastens Mutter nach Wien, um ihre Tochter zu besuchen. Sie habe sie in einem Dorotheenstraßenbrücke erbarmungswürdigen Zustand vorgefunden. Von Winterhude, seit 1904, benannt in Anlehnung an 49 kg Körpergewicht bei ihrer Abreise sei sie auf die Dorotheenstraße 33 kg abgemagert gewesen. Dorothea habe ge- wollt, dass ihre Mutter sie mit zurück nach Ham- burg nähme. Die Anstaltsärzte hätten das nicht Droste-Hülshoff-Straße zugelassen. Sie hätten der Mutter erklärt, dass Osdorf, seit 1929, benannt nach Annette (Anna Dorothea an einer Darmfistel leide und am bes - Elisabeth) Freiin Droste zu Hülshoff (10.1.1797 ten eingeschläfert würde. Am 2. Mai 1944 hat Schloß Hülshoff bei Münster/Westf.–24.5.1848 „nach hartem Kampf … meine Mutter eingewil- im äußeren Gartenturm des Alten Schlosses ligt, ihr Kind in die geistige Welt zurückzuschi- Meersburg/Bodensee), Dichterin cken. (Sie) kaufte für alle Kuchenmarken Sü- ßigkeiten und Kuchen. Sie tranken zusammen Annette von Droste-Hülshoff entstammte einer adli- Kaffee. Um 14.00 Uhr, … nachdem sie mit Freude gen, katholischen, streng konservativen Familie. und Vergnügen ihren Kuchen aufgegessen hatte, Sie war die Tochter des Gutsbesitzers Clemens meinte sie: ‚Jetzt bin ich müde und will schla- August II. von Droste-Hülshoff (1760–1826) und fen, vergiss nicht, mich mitzunehmen.‘“ der Freiin Therese Luise, geb. von Haxthausen Frau Kasten konnte ihre Tochter im Sarg mit (1772–1853) und wurde auf dem Wasserschloss nach Hamburg nehmen und beerdigen.17) Hülshoff bei Münster geboren. „Die Pflege des Text: Hildegard Thevs, entnommen der Datenbank kaum lebensfähigen Siebenmonatskind über- www.stolpersteine-hamburg.de nahm die Amme Catharina Plettendorf, der Droste zeitlebens eng verbunden blieb. Wohl- behütet wuchs sie auf, wurde erzogen in der Dorotheenstraße Enge und Abgeschlossenheit der westfälischen 18) Winterhude, seit 1863, benannt nach Anna Doro- Adelswelt.“ Annette erhielt gemeinsam mit ih- thea Sierich, geb. Meyer. Mutter des Unterneh- ren drei Geschwistern einen häuslichen Unter- mers und Grundeigentümers Adolph Sierich (sie- richt: den Elementarunterricht durch die Mutter, he Ü Sierichstraße, in Bd. 3 online**) später ab 1807 dann Unterricht durch einen Theo - logen.

** Band 3 online unter: www.ham- rald Jenner: Auf dieser schiefen che Irma, zusammengestellt von burg.de/maennerstrassennamen Ebene gibt es kein Halten mehr, Ham- Antje Kusemund, Hrsg.: VVN, 2. Aufl. burg, 2. Aufl., 1988, S. 231f.; Michael 2005, S. 32–42. 17) Quellen für den gesamten Text: Wunder: Die Euthanasie-Morde im 18) Droste-Portal Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 184; Steinhof am Beispiel der Hamburger www.IwI.org/LWL/Kultur/Droste/Bio- Michael Wunder, Ingrid Genkel, Ha- Mädchen und Frauen, in: Spurensu- graphie/leben Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 102

102 Biographien von A bis Z / D

Schon im Alter von sieben Jahren begann digten beide in einem gemeinsam verfaßten Brief Annette mit ersten literarischen Versuchen (klei - der Droste die Freundschaft. Das so durch eine ne Gelegenheitsgedichte, Stammbuchverse). Die Intrige herbeigeführte Scheitern der Verbindung Familie war begeistert. Ihr Onkel Werner von zu Straube war für die 23jährige ein mit vielerlei Haxthausen nannte sie eine „zweite Sappho“. Demütigung verbundenes traumatisches Erleb- Zwischen 1812 und 1819 erfuhr sie literarische nis.“19) Beratung und Unterricht durch Anton Matthias Neben der Schriftstel- Sprickmann, einem ehemaligen Mitglied des Göt - lerei beschäftigte sich An- tinger Hainbundes und Professor für Staatsrecht nette von Droste-Hülshoff in Münster. 1814 entstand das Fragment „Berta“. auch mit Musik und Kom- Ein Jahr später erkrankte Annette schwer. position. Auch ihr Vater „Es ist überliefert, daß Droste schon als Kind war ein begeisterter Mu- immer wieder von beständigen Krankheiten siker und spielte Violine. heimgesucht wurde, insbesondere konstatierte Mit zwölf Jahren erhielt man schon früh eine starke nervliche Überreizt- Annette Klavierun terricht heit. Die lebenslange Krankengeschichte der und gab 1820 ihr erstes Annette von Droste-Hülshoff Dichterin, die literarisches Arbeiten manchmal öffentliches gesang liches monatelang unmöglich machte, läßt sich in Konzert. Durch ihren Onkel Maximilian-Friedrich ihren Briefen nachverfolgen. (…) von Droste, der Komponist war, erhielt sie 1821 In ihrer Jugendzeit hatte Droste nur selten eine Ausgabe seiner Kompositionslehre – und Gelegenheit, den engen Grenzen des Elternhau- begann ebenfalls zu komponieren. 74 Lieder für ses zu entfliehen. Neben kleineren Ausflügen in Singstimme und Klavier sind von ihr erhalten. die Umgebung sorgten nur einige Besuche in Bö- Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1826 kendorf bei Brakel für Abwechslung. Hier (…) übernahm Annettes Bruder den Familienbesitz hatte die Verwandtschaft ihrer Mutter, die Familie und Annette zog mit ihrer älteren Schwester von Haxthausen, ihren Wohnsitz. Auf Schloß Bö- Jenny und der Mutter auf deren Witwensitz kelhof traf sich der ‚Bökendorfer Märchenkreis‘ Rüschhaus – einer Mischung aus Bauernhaus um die Brüder August und Werner von Haxt hau - und Herrensitz – bei Münster. Hier lebte sie zu- sen und Wilhelm Grimm [siehe Ü Grimmstraße, in rückgezogen in ihrem Schneckenhäuschen, wie Bd. 3 online**]. Auch Droste beteiligte sich in sie ihr Wohnzimmer nannte, las, träumte, dich- dieser Zeit an der Sammlung von Sagen, Mär- tete und schrieb. chen und literarischem Volksgut. Auch wenn sich Annette von Droste-Hüls- Im Jahr 1820 wurde der Bökerhof Schau- hoff als Dichterin berufen fühlte, unterbrach sie platz der sogenannten Jugendkatastrophe der stets ihre literarische Arbeit, wenn sie von der Annette von Droste-Hülshoff, ihrer unglückli- Familie als Krankenpflegerin gebraucht wurde. chen Beziehung zu dem Göttinger Jura-Studen- 1838 erschien in Münster/Westfalen ihr ers- ten Heinrich Straube. In Absprache mit Straube ter, aus Rücksicht auf die Familie anonymer Ge- hatte August von Arnswaldt versucht, die Liebe dichtband mit dem Titel „Gedichte von Annette Drostes auf die Probe zu stellen und auch kurz- Elisabeth von D... H...“. Nur 74 von 500 Exem-

fristig ihre Zuneigung gewonnen. Hierauf kün- plaren wurden verkauft. 1820) Stiehl, Wilhelm (Gemälde akg-images Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

19) Ebenda. Straßen Bd 2 090-104 D:. 27.07.15 10:32 Seite 103

Biographien von A bis Z / D 103

Um der häuslichen Zurückgezogenheit, in 1842 wurde in den Cottaschen Morgenblät- der sie mit ihrer Mutter auf Rüschhaus lebte, zu tern die Novelle „Die Judenbuche“ veröffent- entfliehen, unternahm Annette Reisen, so z. B. licht. Im selben Jahr erschienen bei Cotta „Ge- an den Rhein, wo ihr Cousin Clemens-August dichte“. von Droste zu Hülshoff lebte. Dort befreundete Von dem Vorschusshonorar, das der Verlag sie sich u. a. mit Johanna und Adele Schopen- ihr gezahlt hatte, kaufte sich Annette von Dros te- hau er (siehe Ü Schopenhauerweg, in diesem Band) Hülshoff während ihres zweiten Aufenthalts auf an und lernte in Bonn August Wilhelm Schlegel Meersburg, der von September 1843 bis Septem- kennen (siehe Ü Schlegelsweg, in diesem Band). ber 1844 dauerte, im November 1843 das „Für- Nachdem ihre Schwester Jenny den Frei- stenhäuschen“ mit Rebgut oberhalb Meersburgs. herrn Joseph von Laßberg geheiratet hatte und Im Mai 1844 besuchte Schücking Meersburg in den Kanton Thurgau auf Schloss Eppishausen in Begleitung seiner jungen Frau Louise von Gall. gezogen war, besuchte Annette 1835 dort ihre Annette von Droste-Hülshoff soll wohl in Schü- Schwester. cking verliebt gewesen sein, so dass „die Heirat Hauptansprechpartner in Literaturfragen war Schückings [sie] nicht unbeeindruckt gelassen für Annette von Droste-Hülshoff in den 1830-er [hatte] – in ihren Briefen hat sie ihn immer Jahren der Münsteraner Philosophiedozent Chris - wieder vor einer überstürzten Heirat gewarnt. toph Bernhard Schlüter. Später wurde der sieb- Obwohl die Beziehung zwischen Droste und zehn Jahre jüngere Levin Schücking, der Sohn Schücking nun abkühlte und eine Entfremdung ihrer Freundin Catharina Busch, ihr literarischer eintrat, blieb er bis 1845 wichtiger Anreger und Vertrauter und engster Freund. Er kannte sich im Initiator weiterer literarischer Texte.“21) 1844 ga- Literaturbetrieb aus, knüpfte für sie Verbindun- ben sie sogar zusammen eine Sammlung lyri- gen, spannte sie aber auch für eigene Projekte ein. scher Gedichte heraus. Im selben Jahr verließ Besonders literarisch produktiv wurde An- Annette von Droste-Hülshoff Schloss Meersburg net te, als sie 1841/42 ihre Schwester besuchte, die und kehrte nach Westfalen zurück. „Obwohl ge- seit 1838 mit ihrem Mann auf Schloss Meersburg sundheitlich stark angeschlagen, hat sie dort li- am Bodensee lebte. „Meersburg wurde für An- terarisch noch einiges schaffen können. Belas- nette von Droste-Hülshoff zum Dreh- und Angel- tend war die Pflege ihrer Amme, die inzwischen punkt einer neuen Welt. Hier konnte sie freier at - im Rüschhaus wohnte und 1845 dort starb.“22) men, hier war sie befreit von vielen Pflichten und Im selben Jahr bat die Komponistin und Pianis- Drangsalierungen unter denen sie in der Heimat tin Clara Schumann (siehe Ü Schumannstraße, in litt, hier erholte sie sich gesundheitlich und fand diesem Band) Annette um ein Libretto, damit ihr mannigfache Anregungen und Abwechslung.“20) Mann, der bereits ein Gedicht von ihr vertont Auch Schücking war auf Meersbusch, da er hatte, auch dieses vertonen könne. dort, durch Vermittlung von Annette von Dros- Mit ihren Musikwerken war Annette von te-Hülshoff, bibliothekarische Aufgaben über- Droste-Hülshoff nie öffentlich aufgetreten. Erst nommen hatte. Annette von Droste-Hülshoff knapp dreißig Jahre nach ihrem Tod – sie starb verbrach te insgesamt drei Mal längere Zeit auf 1848 auf Schloss Meersburg – veröffentlichte Schloss Meersburg. In dieser Zeit schrieb sie Christoph Bernhard Schlüter einige Werke aus über 50 Gedichte. ihrem Nachlass.

20) Ebenda. 21) Ebenda. 22) Ebenda. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 104

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Als Annette von Droste-Hülshoff starb, wa- Jah ren 1961 und 2002 wurde sie abgebildet. ren ihre Werke kaum bekannt. Sie selbst hatte Außerdem gibt es u. a. den Droste-Preis der Stadt zu Lebzeiten einmal formuliert: „Ich mag und Meersburg und die Annette von Droste zu Hüls- will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hun- hoff-Stiftung. dert Jahren möchte ich gelesen werden.“ Das Siehe auch Ü Schlegelsweg, Schopenhauerweg, scheint gelungen zu sein. Besonders die „Juden- Schumannstraße, in diesem Band. buche“ wurde ein viel gelesenes Werk. Siehe auch Ü Grimmstraße, Iserbrook, seit 1930: Ihr Portrait, gemalt von ihrer Schwester Brüder Grimm, Jacob (1785–1863) und Wil- helm Grimm (1786–1859), in Bd. 3 online**. Jenny, zierte später die Vorderseite des 20-DM- Scheins. Auch auf zwei Briefmarken aus den E

Ebner-Eschenbach-Weg ihr soll Marie ein gutes Verhältnis gehabt haben. Bergedorf, seit 1984, benannt nach Marie Freifrau Die Gräfin förderte das schriftstellerische Talent von Eber-Eschenbach, geb. Gräfin Dubsky, Freiin von Marie und machte sie bekannt mit der Thea - von Trebomyslyce (13.9.1830 Zdislawitz/Mähren– terwelt, indem sie sie oft ins Wiener Burgtheater 2.3.1916 Wien), österreichische Schriftstellerin mitnahm. Durch ihre Stiefmutter lernte Marie auch den Schriftsteller Franz Grill parzer kennen 1898 erhielt Marie von Ebner-Eschenbach als erste (siehe Ü Grillparzerstraße, in Bd. 3 online**). Frau den höchsten Zivilorden Österreichs: das Marie wurde von Gouvernanten und ande- Ehrenabzeichen für Kunst und Wissenschaft. ren Hauslehrern erzogen und erlernte mehrere 1900 wurde sie als erste Frau in Österreich zum Sprachen. Auch bekam sie bereits im Alter von Dr. h. c. der Philosophischen Fakultät der Univer- elf Jahren die Aufgabe übertragen, den Bücher- sität Wien ernannt. nachlass ihrer verstorbenen Großmutter in die Marie von Ebner-Eschenbach wurde auf Bibliothek auf Schloss Zdislawitz einzuarbeiten. Schloss Zdislawitz bei Kremsier in Mähren als 1848, im Alter von achtzehn Jahren, heira- Freiin Dubský geboren. Ihre Mutter war Baro- tete sie ihren fünfzehn Jahre älteren Cousin nesse Marie von Vockel, die zweite Ehefrau ihres Moritz von Ebner-Eschenbach, einen Physiker, Vaters Baron Franz Dubský (ab 1843 Graf). Professor an der Ingenieur-Akademie in Wien, Kurz nach der Geburt von Marie verstarb später Feldmarschallleutnant und Mitglied der die Mutter. Marie bekam eine Stiefmutter, zu der Akademie der Wissenschaften. Das Paar hatte sie ein gutes Verhältnis hatte. Diese verstarb, als keine Kinder und wohnte zwischen 1848 und Marie sieben Jahre alt war. Im Alter von zehn 1850 in Wien, dann bis 1856 in Klosterbruck bei Jahren bekam Marie eine neue Stiefmutter, die Znaim, danach in Wien und Zdislawic. Moritz Gräfin Xaverine Kolowrat-Krakowsky. Auch zu von Ebner-Eschenbach soll seine Frau stets in

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 105

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ihrer schriftstellerischen Entwicklung unterstützt bis zu diesem Taschentuch erhoben sich manch- haben. mal meine Augen. Aber mein Herz schwoll vor 1879 machte Marie von Ebner-Eschenbach, Entzücken, wenn er von Zeit zu Zeit ‚gut‘ oder die leidenschaftlich Uhren sammelte, eine Uhr- sogar ‚sehr gut‘ sagte. Mehr als einmal fragte ich, macher-Ausbildung. Damals ungewöhnlich für ob ich ihn nicht ermüde und aufhören solle. Frauen. 1900 wurde sie in die Zunft der Wiener Nein, er wollte das Ganze hören. Am Schluß Uhrmacher aufgenommen und 1908 sogar „Fah- schlug er einige geringe Veränderungen vor, nenmutter“ der Innung. Ihr Faible für Uhren ver- fällte aber ein Urteil über die Arbeit nicht. Mit arbeitete sie auch in ihrer bekannten Erzählung sehr gemischten Gefühlen trat ich den Heimweg „Lotti, die Uhrmacherin“. an. Sehr bald aber gab es keine Mischung mehr. Später wandte sie sich dann ganz der Lite- Die Reue über das Wagnis, das ich unternommen ratur zu und schrieb über zwanzig Jahre lang hatte, stellte sich nicht langsam ein, sie kam Dramen. Doch als Dramatikerin hatte Marie von plötzlich, stürzte über mich her wie ein wildes Ebner-Eschenbach wenig Erfolg. So wandte sie Tier über einen träumend Dahinwandelnden. sich schließlich der Prosa zu. Grillparzer hatte mein Stück gewiß miserabel ge- Franz Grillparzer hatte sie sowohl in ihren Be - funden, und es ist ja miserabel. Wie konnte ich mühungen als Dramatikerin als auch als Schrift- darüber in Zweifel sein? ... Ich weiß, daß ich je- stellerin ermutigt. Marie von Ebner-Eschen bach den Bettler, dem ich begegnete, um sein gutes schreibt darüber: „(…) Ich habe Grillparzer, den Bewußtsein beneidete. Ihm wäre es doch nicht ich erst vor kurzem persönlich kennengelernt eingefallen, dem größten jetzt lebenden Dichter hatte, gefragt: ‚Herr Hofrat, darf ich Ihnen ein ein selbstverfaßtes Drama vorzulesen. (…) Nie Theaterstück, das ich geschrieben habe, vorle- mehr ist es mir eingefallen, seine Teilnahme für sen?‘ Ob er ein Zeichen des Unwillens gegeben, eine meiner Arbeiten anzurufen, und er wußte, ob er mich nur erstaunt angesehen hat, weiß ich daß es aus Ehrfurcht und Schonung geschah. nicht mehr. Aber die Erlaubnis, vorzulesen, er- (…) In seiner Güte fühlte er sich von Zeit zu Zeit hielt ich und erschien denn auch schon am fol- bewogen, mich zu fragen, was ich denn jetzt ar- genden Tage mit meinem Manuskript. Und nun, beite, gab sich aber stets mit einer ausweichen- nicht um einen Hauch weniger deutlich als da- den Antwort zufrieden. Ich erinnere mich, ihm mals, sehe ich ihn vor mir am Schreibtisch sit- einmal erwidert zu haben: ‚Weiß nicht, weiß zen, klein und schmal in seinem alten Lehnsessel, selbst nicht, vielleicht eine Novelle. Einige mei- mit dem Rücken gegen das Fenster. In seinem ner Freunde behaupten, ich hätte mehr Talent ehrwürdigen Gesicht alle Zeichen überstandener zur Novelle als zum Drama.‘ Er lächelte. (…) Leiden, einer schmerzvollen Ergebung. Mit ein Zwei Dinge hatte ich bei ihm nie gesehen. paar gütigen Worten hatte er mich ermutigt an- Nie die Spur eines Stäubchens und nie eine Zei- zufangen, und ich las und las und wagte kein ein - tung; vielleicht liest er gar keine und weiß nichts ziges Mal, ihn fragend anzusehen. Er hatte ein von den Strafpredigten, die mir gehalten worden blaues Taschentuch in seinen feinen, schlanken sind. So faßte ich Mut und stieg eines Vormittags Händen, mit dem er sich fortwährend beschäf- die vier Treppen des lieben Hauses Nummer tigte, das er auf den Schoß legte, entfaltete, zu- 1097 in der Spiegelgasse, wie immer mit einigem sammenknüllte, wieder entfaltete. Und gerade nur Herzklopfen, empor. Bald darauf gehörte ich zu Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 106

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den Glücklichen der Erde, denn Grillparzer be- be kanntester Roman „Das Gemeindekind“, in grüßte mich mit den Worten: ‚Sie sind’s. Nun dem es um soziale Probleme geht. endlich. Ich hätt Ihnen gern schon lange gesagt, Nachdem 1898 ihr Ehemann verstorben war, daß sich niemand in ganz Wien über den Erfolg unternahm Marie von Ebner-Eschenbach noch von Ihrem Doktor Ritter so gefreut hat wie ich.‘ mehrere Reisen, die sie nach Italien führten. 1906 Ich hätte ihm am liebsten die Hand geküßt, wagte veröffentlichte sie ihre Erinnerungen „Mei ne Kin- es nicht, kam in Verlegenheit und brachte nur derjahre“. kleinlaut: ‚Ach, Herr Hofrat, aber die Kritik!‘ her- Siehe auch Ü Grillparzerstraße, Uhlenhorst, seit vor. Das war albern und heuchlerisch, denn in 1948, und Grillparzerbrücke, Uhlenhorst, seit diesem Augenblick lag mir wirklich nichts an der 1960. Franz Grillparzer (1791–1872), Dichter, in Bd. 3 online**. Kritik. ‚So? hab nichts gelesen.‘ Ein Achselzu- cken, eine wegwerfende Handbewegung. Machen Sie sich nichts daraus, sagte er nicht, er wußte zu Edith-Stein-Platz 1) gut, daß man sich was draus macht (…).“ Bergedorf, seit 1993, benannt nach Edith Stein, Mit ihren Erzählungen hatte die inzwischen Ordensname Theresa Benedicta a Cruce (12.10.

40-jährige Marie von Ebner-Eschenbach Erfolg. 1891 Breslau–vermutlich ermordet am 9.8.1942 1948. gewonnen aus Erinnerungen und Briefen, Nürnberg Ein Lebensbild „Die Ebner-Eschenbach ist sicherlich keine Re vo- im KZ Ausch witz), Philosophin und Karmeliterin lutionärin, aber in ihrer Beschreibung von Lieb- losigkeit, Dummheit, Ge- Geboren wurde Edith Stein als eines von elf Kin- dankenlosigkeit, Ar ro ganz dern (vier Kinder waren, als Edith geboren wur- und Unbildung, auch von de, bereits verstorben) einer jüdischen Familie. Güte, Verzicht, von Lie- Als Edith ein Jahr alt war, starb der Vater, und besfähigkeit und Glück, die Mutter Auguste Stein, geborene Couran, besitzt sie eine solch kri- führte den Holzhandel ihres verstorbenen Man- tische Radikali tät, daß die nes allein weiter und konnte somit finanziell ih- LeserInnen ihrer Werke in ren Kindern eine gute Bildung ermöglichen. ungewöhn liche Spannung Bereits als Kind entwickelte Edith Stein eine versetzt werden. In der große Sensibilität: „Was ich am Tag sah und hör- Schilderung menschlicher te, das wurde dort [in ihrem Innern] verarbeitet. Stärken und Schwächen Der Anblick eines Betrunkenen konnte mich Marie von macht sie nicht halt vor tage- und nächtelang verfolgen und quälen. (…) Ebner-Eschenbach Adel und Klerus, bürgerli- Es blieb mir immer unbegreiflich, wie man über chen und bäuerlichen Schichten, sondern zeigt, so etwas lachen konnte, und ich habe in meiner erfüllt von liberalem Geist, die Brüchigkeit der Studentenzeit angefangen, ohne einer Organisa- ständischen Gesellschaft,“2) heißt es bei Susanne tion beizutreten oder ein Gelübde abzulegen, je- Gret ter und Luise Pusch in ihrem Buch „Be- den Tropfen Alkohol zu meiden, um nicht durch rühmte Frauen 2“. eigene Schuld etwas von meiner Geistesfreiheit 1879/1880 erschienen Ebner-Eschenbachs und Menschenwürde zu verlieren. (…) Ja, ein „Aphorismen“; es folgten Sprüche, Parabeln, etwas derber Ausdruck, den meine Mutter in

Märchen, Erzählungen, Novellen und 1887 ihr meiner Gegenwart erregt aussprach, schmerzte Philosophin und Karmeliterin, de Spiritu Sanctu, Edith Stein, Renata Teresia | Aus: Schwester 10009426 bpk-Nr. v.l.n.r: Abb.

** Band 3 online unter: www.ham- Schriften. München 1956–1958, burg.de/maennerstrassennamen S. 886–917. 2) Susanne Gretter, Luise F. Pusch: 1) Marie von Ebner-Eschenbach: Ge- Berühmte Frauen 2. Frankfurt a. M. sammelte Werke in drei Bänden. Bd. 3: 2001, S. 92. Erzählungen. Autobiographische Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 107

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mich so, daß ich die kleine Szene (eine Ausein- manche Bücher ins Haus, die nicht gerade für andersetzung mit meinem Bruder) nie vergessen ein Mädchen von 15 Jahren berechnet waren. konnte.“3) Außerdem waren Max und Else völlig ungläu- Edith Stein, die nach eigener Einschätzung big, Religion gab es in diesem Hause überhaupt als Kleinkind sprunghaft, immer in Bewegung, nicht. Hier habe ich mir auch das Beten ganz übersprudelnd, zornig, wenn es nicht nach ihrem bewußt und aus freien Stücken abgewöhnt.“6) Willen ging und eigenwillig gewesen sein soll, Nach ca. zehn Monaten in Hamburg ent- wurde ab ca. dem siebten Lebensjahr gehorsam schloss sich Edith Stein nach Breslau zurückzu- und so Edith Stein: „(…) Zornesausbrüche ka - kehren und wieder zur Schu le zu gehen. 1911 men kaum noch vor; ich erreichte schon früh leg te sie das Abitur ab. Anschließend begann sie eine so große Selbstbeherrschung, daß ich fast an der Universität Breslau ein Lehramtsstudium ohne Kampf eine gleichmäßige Ruhe bewahren und belegte die Fächer konnte. Wie das geschah, weiß ich nicht; ich Geschichte, Germanistik, glaube aber, daß der Abscheu und die Scham, die Psychologie und Philoso- ich bei Zornesausbrüchen anderer empfand, das phie. Nach vier Semestern lebhafte Gefühl für die Würdelosigkeit eines sol- wechselte sie an die Uni - chen Sich-gehen-lassens mich geheilt haben.“4) versität Göttingen und stu- Edith Stein, die in der Schule zu den „Be- dierte fortan Phänomeno- sten“ gehörte, verließ die Schule, als sie vier- logie bei dem Philosophen zehn Jahre alt war. Ihr damaliges Desinteresse Professor Husserl. Sie pro - am Unterricht erklärte sie so: „ zum Teil [lag es] movierte mit summa cum wohl daran, daß mich mancherlei Fragen, vor lau de, folgte Husserl an Edith Stein 1925 allem weltanschauliche, zu beschäftigen began- die Freibur ger Universität nen, von denen in der Schule wenig die Rede war. und arbeitete dort als sei - Hauptsächlich ist es aber wohl durch die kör- ne Assistentin. 1917 begann sie mit ihrer Habi- perliche Entwicklung zu erklären, die sich vor- litation. Da Frauen damals dieser akademische bereitete.“5) Abschluss verwehrt wurde, nützte auch die Mit Erlaubnis ihrer Mutter zog Edith Stein Unterstützung durch Husserl nichts. Edith Steins für fast ein Jahr nach Hamburg zu ihrer ältesten, Antrag auf Habilitation wurde abgelehnt. Durch verheirateten Schwester Else Gordon, um ihr im diese bittere Erfahrung, als Frau diskriminiert zu Haushalt und bei der Erziehung ihrer zwei Kin- werden, wandte sie sich dem Thema Gleichbe- der zu helfen. Dazu Edith Stein: „Die Zeit in Ham - rechtigung und Frauenrechte zu und engagierte burg kommt mir, wenn ich jetzt darauf zurück- sich fortan für die Emanzipation der Frauen in blicke, wie eine Art Puppenstadium vor. Ich war der Gesellschaft und Kirche. Edith Stein setzte auf einen sehr engen Kreis eingeschränkt und sich für das Frauenstimmrecht ein und themati- lebte noch viel ausschließlicher in meiner inne- sierte auch das Priestertum für Frauen. ren Welt als zu Hause. Soviel die häusliche Ar- Sie kehrte nach Breslau zurück und verbrach- beit es erlaubte, las ich. Ich hörte und las auch te 1921 einige Monate bei ihrer Freundin Hedwig manches, was mir nicht guttat. Durch das Spe- Conrad-Martius in Bergzabern auf deren Obst- zialfach meines Schwagers [Dermatologe] ka men plantage, die ein PhänomenologInnentreffpunkt

3) Zit. nach: http://www.karmel.at/ edith/gg/gg1.htm 4) Ebenda. 5) Ebenda. 6) Ebenda. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 108

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war. In dieser Zeit wandte sich Edith Stein, die Von dort wurde Edith Stein einige Tage spä- sich seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr als Athe - ter in das Vernichtungslager Auschwitz-Birke- istin bezeichnete, dem Christentum zu, ausge- nau deportiert und dort am 9. August 1942 in löst auch durch die Begegnung mit den Schriften der Gaskammer ermordet. von Teresa von Avila. 1921 konvertierte sie zum 1987 wurde Edith Stein von Papst Johannes Katholizismus, wurde 1922 getauft und ging Paul II. in Köln selig- und 1998 in Rom heiligge- 1923 als Lehrerin an die Mädchenbildungsan- sprochen. stalt der Dominikanerinnen nach Speyer. Dort arbeitete sie acht Jahre lang und hielt Vorträge und Seminare zum Thema „qualifizierte Bildung Elebeken für Frauen“. Im Jahre 1932 lehrte sie am Deut- Winterhude, seit 1906, benannt nach Margaretha schen Institut für wissenschaftliche Pädagogik Elebeke (gest. 26.3.1701), Domina des Nonnen- in Münster. klosters Harvestehude im St. Johanniskloster, 1933, nach der Machtübernahme der Natio- damals schon ein Damenstift nalsozialisten, erhielt sie Berufsverbot und durfte auch nicht mehr veröffentlichen. Dies gab den Seit dem 27. Februar 1671 fungierte Margaretha Ausschlag, nur noch ihrem Glauben zu leben, Ele beke als Domina des Nonnenklosters Harves - und so trat sie am 15. April 1934 in den Kölner tehude im St. Johanniskloster. Sie bestand auf der Karmeliterorden ein. 1935 empfing sie den von Anrede „Domina“, galt als erste Dame der Hanse- ihr gewählten Namen Teresia Benedicta a Cruce. stadt und wollte ihre Souveränität über das Klos- Edith Stein fühlte sich auch nach ihrem tergelände nicht mit dem Rat der Stadt teilen. Glaubenswechsel dem jüdischen Volk zugehörig Im Oktober 1699 starb der Klosterbürger und so schrieb sie einen Brief an den damaligen Kronenburg, der von Seiten der Hansestadt über Papst Pius XI. und bat ihn, sich öffentlich gegen Klosterfragen mitzubestimmen hatte und damit die Judenverfolgung zu wenden. Eine Antwort die Position eines Klosterverwalters und die ei - erhielt sie nicht. nes Verbindungsmanns zwischen dem Hambur- In ihre Zeit im Kloster schrieb sie ihr Haupt- ger Rat und dem Kloster inne hatte. Domina Ele- werk „Endliches und unendliches Sein“. Als ihr beke ernannte den Oberalten Albert Kohlbrand Klosteraufenthalt zu einer Gefährdung des Klos- zum Nachfolger Kronenburgs, ohne jedoch zu- ters wurde, floh sie 1938 in das holländische vor die beiden Bürgermeister, die laut Hambur- Karmeliterkloster Echt. Aber auch dort war sie gischer Verfassung über die Besetzung dieses bald nicht mehr sicher. Nachdem die Nieder- Postens mitzuentscheiden hatten, gefragt zu ha - lande von den Nationalsozialisten besetzt wor- ben. Der Hamburger Rat war empört und über- den waren und holländische Bischöfe einen Hir- legte sich entsprechende Schritte. Kurt Grobe- tenbrief gegen die Verfolgung der Juden verlesen cker und Kerstin von Stürmer schreiben dazu in hatten, wurden am 2. August 1942 244 zum ka- ihrem Buch „Hamburg skandalös“: „Als die Do- tholischen Glauben konvertierte Menschen jüdi- mina das merkte, wurde sie übermütig (…), und scher Herkunft von der Gestapo verhaftet und setzte dem Skandal die Krone auf, indem sie in das Durchgangslager Westerbork verbracht – einen regelrechten Staatsstreich inszenierte. Der darunter auch Edith Stein. Trumpf, den sie dafür in der Hand hielt, lag in Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 109

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den Kellergewölben ihres Klosters. Dort nämlich gewesen, das um 1236 begründet worden war unterhielt die Hamburger Artillerie (...) ein Ka- und sich auf dem Gelände des heutigen Rathaus - nonen- und Munitionslager. (…) marktes befand. Als (…) die Bürger des Artillerie-Departments Zu Beginn des 16. Jahrhunderts lebten in am 20. Oktober des Jahres 1700 zu einer Routi- dem Kloster 41 Mönche und 13 Novizen. Nach nekontrolle in das Arsenal wollten, (…) [hatte] der Reformation wurde die Klostergemeinschaft die Jungfer Elebeck das Magazin-Gewölbe mit 1529 aufgelöst, und die Mönche mussten das einem neuen Schloß ausstatten lassen. (…) Das Kloster verlassen. In die Gebäude zogen die Ge- war ein Affront gegen die Staatsgewalt (…). Und lehrtenschule des Johanneums und 1531 die zum auch diesmal schätzte der Rat die Lage offenbar Luthertum übergetretenen Nonnen des 1247 ge- falsch ein: denn wieder zog das erlauchte Gre- stifteten Klosters Harvestehude ein (siehe da- mium den Schwanz ein, in der Hoffnung, daß zu Ü Cäcilienstraße, in diesem Band). Fünf Jahre sich alle Beteiligten schon wieder irgendwie be- später, 1536, wurde diese Gemeinschaft der Frau- ruhigen würden. (…) en in das Evangelische Conventualinnenstift für Die Domina Elebeck wurde im Bewußtsein unverheiratete Hamburger Patrizier- und Bürger- ihres vermeintlichen Sieges über Hamburgs wohl- töchter umgewandelt. weisen Rat übermütig. Sie verlangte (…) zur Hamburger Bürger ließen ihre Töchter be- Äb tissin befördert zu werden und darüber hin - reits in deren jungen Jahren ins „Jungfrauen- aus noch als Zeichen ihrer Würde den Krumm- stift“ einschreiben, um ihnen dort einen Platz stab führen zu dürfen. Das allerdings war ein zu sichern, falls sie nicht verheiratet werden Rechtsakt, zu dessen Durchführung man wich- konnten. Blieben die Töchter ledig und war eine tige Dokumente aus der Klosterlade benötigte. Wohnung im Kloster frei, konnten die „Jung- Die aber war fest verschlossen und durfte nicht frauen“ in das Kloster aufgenommen werden. ohne weiteres geöffnet werden.“7) Durch Verheiratung, Tod oder Verzicht erloschen Margaretha Elebeke wollte die Lade gewalt- die Ansprüche auf einen Platz im Stift. sam öffnen lassen. Der Rat kam ihr zuvor und Im 19. Jahrhundert zog das Stift in die zwi- ließ die Lade an einen sicheren Ort abtranspor- schen 1835 und 1836 erbauten Gebäude am Klos- tieren. Margaretha Elebeke wandte sich nun hil - terwall und 1914 in die Heilwigstraße 162, in fesuchend an den Kaiser, der aber nicht reagierte. eine, für diese Zeit großzügige Wohnanlage mit Der Rat der Stadt Hamburg forderte Margare- großem Garten direkt bis zur Alster. tha Elebeke auf, ihre Forderungen zurückzuneh- Heute ist das Kloster St. Johannis an der men und den Schlüssel für das Artilleriemagazin Heil wigstraße ein Evangelisches Damenstift mit herauszugeben. Letzteres tat sie, ihre Forderun - 69 abgeschlossenen Wohnungen, in denen allein- gen, zur Äbtissin befördert zu werden und den ste hende Frauen im Alter von über 60 Jahren Krumm stab führen zu dürfen, nahm sie aber leben. nicht zurück. Bevor der Rat nun weitere Schritte Die Leitung des Klosters St. Johannis hat unternehmen musste, um den Skandal zu been- seit der Reformation ein vom Hamburger Senat den, verstarb Margaretha Elebeke. genehmigter ehrenamtlich tätiger Vorstand, der Das St. Johannis Kloster, in dem Margaretha aus den beiden Patronen, das sind der/die je- Elebeke lebte, war einst ein Dominikanerkloster weils amtierende Erste und Zweite Bürgermeis-

7) Kurt Grobecker, Kerstin von Stür- mer: Hamburg skandalös. Chronik der Peinlichkeiten. Erweiterte Neu- ausgabe. Hamburg 2005, S. 60ff. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 110

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terIn, den drei Vorständen und der Vorsteherin, nach Holland. Ihren Eltern schlug er eine mor- der Domina, besteht. ganatische Ehe vor, eine Heirat zur linken Hand. Siehe auch Ü Abteistraße, Cäcilienstraße, Frau- Eine andere Heiratsform war nicht möglich, enthal, Heilwigbrücke, Heilwigstraße, Innocen- denn der Herzog hatte, nachdem er seine Verlo- tiastraße, Jungfrauenthal, Nonnenstieg, in die- bung mit Lieselotte von der Pfalz gelöst und sei- sem Band. nen Bru der Ernst August Siehe auch Ü Große Johannisstraße, Altstadt, seit dem 13. Jahrhundert. In der Nähe vom gebeten hatte, seine ehe- St. Johanniskloster: 1231 begründet als Domi- malige Braut zu heiraten, nikanerkloster, in Bd. 3 online**. versprochen, künftig im Siehe auch Ü Jarrestraße, Winterhude, seit Zö libat zu leben und sei- 1892: Lic. Nikolaus Jarre (1603–1678), 28 nen Bruder bzw. dessen Jahre Bürgermeister der Stadt Hamburg, Sena- tor, Patron des Klosters St. Johannis-Kloster Kinder zu Thronerben zu (des Jungfrauenstiftes), in Bd. 3 online**. machen. Eleonores Eltern Siehe auch Ü Johanniswall, Altstadt, seit 1922, willigten in eine Heirat nach dem neuen, von 1834 bis 1836 erbauten ihrer Tochter zur linken Eleonore Jungfrauenstift „Kloster St. Johannis“, das auf Desmier d’Olbreuse Hand ein, und das Paar den Heiligen St. Johannis hinweist, in Bd. 3 online**. zog in das Celler Schloss. Siehe auch Ü Kleine Johannisstraße, Altstadt, Da Eleonore von der Familie des Herzogs seit dem 13. Jahrhundert, das auf das Domi- nicht als ihresgleichen anerkannt wurde, bot ihr nikanerkloster St. Johannis hinweist, in Bd. 3 der Herzog einen höheren Titel und neuen Be- online**. sitz an. Eleonore durfte wählen zwischen einer „Frau von Hoya“ oder der „Frau von Harburg“. Eleonorenweg Sie entschied sich für Harburg. Als dem Paar Wilhelmsburg, seit 1956, benannt nach Eleonore eine Tochter geboren wurde, bemühte sich Her- Olbreuse (1639 d’Olbreuse/Südfrankreich– zog Georg Wilhelm um eine weitere Rangerhö- 1722), seit 1665 Gattin des Herzogs Georg hung für seine Frau. So erwirkte er, dass seine Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg. Madame Gevatternschaft der Groten aus Stillhorn ihm d’Harbourg ihre Besitzungen auf den Elbinseln abtraten, wo - für sie als Gegenleistung die Insel Kirchhof (Neu - Herzog Georg Wilhelm (1624–1705) besaß die hof) und eine große Geldsumme erhielten. Her- Fürstentümer Hannover, Calenberg und Göttin- zog Georg Wilhelm ließ die an ihn abgetretenen gen. Er soll nicht gerade ein Kind von Traurigkeit drei Inseln Stillhorn, Georgswerder und Reiher- gewesen sein. Lieber vergnügte er sich, als zu stieg/Rotehaus, aus denen das heutige Wilhelms- regieren. burg besteht, zu einer Insel zusammendeichen, Seine zukünftige Frau, die Hofdame und nannte sie Wilhelmsburg und ließ Eleonore und Hugenottin Eleonore Desmier d’Olbreuse, die von ihre damals achtjährige Tochter in Wien durch niederem Adel war und in Holland lebte, lernte Kaiser Leopold zu Gräfinnen zu Wilhelmsburg er am Hofe des Landgrafen von Hessen in Kassel ernennen. Fortan durfte sich Eleonore Reichsgrä- kennen, als sie dort zu Besuch war. Herzog Georg fin von Wilhelmsburg nennen. 1675 fand dann

Wilhelm verliebte sich in sie und folgte ihr bald doch eine offizielle Heirat mit Eleo nore statt und 1886. Hannover 1665–1725, d’Olbreuse Desmier Eleonore Celle von Herzogin letzte Die Beaucaire, de H. Vicomte Abb.:

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Eleonore wurde Herzogin von Braunschweig- Ein Erinnerungsstein steht im Garten der Frauen Lüneburg. auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Damit Herzog Georg Wilhelms Bruder Ernst August nicht um seine Erbrechte fürchten muss - Aufgewachsen in einem bürgerlichen Elternhaus, te, verheirateten sie ihre Kinder Sophie Dorothea der Vater kaufmännischer Angestellter und Ver- (siehe Ü Sophie-Dorothea-Stieg, in diesem Band) sicherungsagent, versuchten die Eltern die künst- und Georg Ludwig, der spätere König Georg I. lerische Laufbahn ihrer Tochter als Malerin zu von England, miteinander. Damit blieb das Erbe verhindern. 1915 begann Elfriede Lohse-Wächtler ein in der Familie. Studium an der Königlichen Kunstgewerbeschule Siehe auch Ü Sophie-Dorothea-Stieg, in diesem . Der Vater wollte, dass sie „Mode und Band. weibliche Handarbeiten“ studiere, um Kostüm- Siehe auch Ü Georg-Wilhelm-Straße, Wilhelms- und Modellschneiderin zu werden, was einem burg, seit 1947: Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg (1665–1705), in Bd. 3 „züchtigen Weibe“ in seinen Augen entsprach. online**. Doch Elfriede Lohse-Wächtler hatte ihren eige- nen Kopf und wechselte 1916 das Fach, studierte Elfenwiese nun „Angewandte Graphik“, um freischaffende Marmstorf, seit 1950. Motivgruppe: Märchen- Künstlerin zu werden. Daraufhin gab es Streit geister mit dem Vater, und Elfriede Lohse-Wächtler ver- ließ ihr Elternhaus im Alter von sechzehn Jahren. „Elfen wurden für verstorbene Ahnen gehalten, Sie teilte sich nun ein Zimmer mit ihrer Freundin die in ihren Grabhügeln weiterlebten. Im Elfen- Londa Freiin von Berg, der späteren Ehefrau des land herrschte das Matriarchat. Hier wohnten Malers Conrad Felixmüller. Ihren Lebensunterhalt die weiblichen Lichtgeister, die die Sonne schu- verdiente sie sich mit Batikarbeiten. Außerdem fen.“8) Die Elfen konnten „sowohl wunderschön belegte sie von 1916 bis 1919 Mal- und Zeichen- als auch häßlich sein und damit einerseits die kurse an der Dresdner Kunstakademie. Geburt und das Leben, andererseits den Tod Elfriede Lohse-Wächtler verkehrte in der verkörpern. Die Christen lehnten diese alte Dresdner Boheme, war eine Anhängerin des Da- Theologie, die das weibliche Geschlecht in den daismus, bildete sich politisch und sozial und Mittelpunkt stellte, ab. Dies belegen christliche besuchte Veranstaltungen des Spartakusbundes. Berichte, die die Feste zu Ehren der Elfen als Sie schnitt sich die Zöpfe ab, trug Herrenhüte Dämonensabbate beschrieben, bei denen ‚Tän- und Männerhosen, rauchte Pfeife und Zigarren zer und Tänzerinnen mit Pferdefüßen‘ ihre Feen- und gab sich den männlichen Namen „Niko- reigen stampfen würden.“9) laus“, um dem Makel der damaligen verpönten „Frauenkunst“ entgegenzuwirken. Sie fand An- schluss bei der Dresdner „Sezession Gruppe 1919“ Elfriede-Lohse-Wächtler-Weg und lernte den Freundeskreis um Otto Dix, Otto Barmbek-Süd, seit 2008, benannt nach Elfriede Griebel und Conrad Felixmüller kennen. Im Ate- Lohse-Wächtler (4.12.1899 Dresden-Löbtau– lier von Conrad Felixmüller mietete sie sich ein 31.7.1940 Pirna), Malerin, Opfer des Nationalso- und finanzierte ihren Lebensunterhalt mit Bati- zialismus ken, Postkarten- und Illustrationsarbeiten.

** Band 3 online unter: www.ham- 9) Ebenda. burg.de/maennerstrassennamen

8) Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen. Ein Lexikon. Frankfurt a. M. 1993, S. 214. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 112

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1921 heiratete sie den Maler und Opern- Auf Grund ihrer materiellen Schwierigkei- sänger Kurt Lohse. Sie zogen in die Sächsische ten und emotionalen Vereinsamung erlitt Elfrie - Schweiz oberhalb von Wehlen und führten dort de Lohse-Wächtler 1929 einen Nervenzusam- ein ungebundenes Leben. Doch Kurt Lohse soll menbruch. Sie kam für sieben Wochen in die verschwenderisch und rücksichtslos gewesen psychiatrische Klinik Hamburg-Friedrichsberg. sein und nicht nur sein Geld, sondern auch das Ihr Bruder und der gemeinsame Freund Johan- seiner Frau ausgegeben haben, so dass Armut nes A. Baader – bekannt geworden als Dadaist – und Schulden der Wegbegleiter des Paares wur- hatten sie dorthin gebracht. Im März 1929 schrieb den. Das Paar trennte sich. Kurt Lohse zog 1925 Johannes A. Baader an Otto Dix: „Wären Geld nach Hamburg, wo er eine Stelle als Chorsänger und Haus und Menschen, die sich ihr ausschließ- annahm. Dort erkrankte er, und Elfriede Lohse- lich widmen könnten, vorhanden gewesen, so Wächtler folgte ihm, um ihn zu pflegen. Bald hätte sich die Einweisung in die psychiatrische hatte Kurt Lohse eine andere Frau. 1926 trennte Klinik (vielleicht) erübrigt. Das Einschnappen in man sich erneut. Kurt Lohse zog zu seiner Freun - die pathologische Situation ist ausgelöst worden din, die 1927 das erste von fünf Kindern mit Kurt durch das allmählich eintretende völlige Ver- Lohse bekam. Für Elfriede Lohse-Wächtler, die sagen der Existenzmöglichkeit; dazu kam das aus wirtschaftlichen Gründen ihre Schwanger- Ringen zwischen Kurt Lohse und ihr, und die schaften abgebrochen und darüber hinaus auch Notwendigkeit, den Besitz von K. L. (dem sie noch eine Fehlgeburt erlitten hatte, ein tiefer zu tiefst und unaufhörlich verknüpft ist) mit Schock. einer anderen Frau zu teilen. So rettete sie sich, Elfriede Lohse-Wächt - wie der psychologische Terminus lautet, in die ler lebte weiterhin in fi- Krankheit.“ nanziell sehr engen Ver- In der Klinik malte sie die „Friedrichsberger hältnissen. Dennoch hatte Köpfe“, ca. 60 Zeichnungen und Pastelle als sie in Hamburg eine ihrer Kopf- und Körperstudien von psychisch Kranken. kreativsten Schaffenszei- Diese Bilder wurden in einem Hamburger ten. Zwischen 1927 und Kunstsalon gezeigt und erhielten gute Kritiken. 1931 entstanden einige Elfriede Lohse-Wächtler wurde bekannt, was ih rer Hauptwerke in Öl, sich allerdings finanziell nicht positiv auswirkte. Pastell und Aquarell. Sie Bis 1931 nahm Elfriede Lohse-Wächtler an zahl- Elfriede Lohse-Wächtler malte Portraits, Paarbe- reichen Ausstellungen teil, u. a. in der Hambur- ziehungen, Bilder aus dem ger Kunsthalle. Die Hamburger Kritikerin Anna Prostituierten- und Arbeitermilieu. Banaschewski widmete der Künstlerin den ers - Im Jahre 1928 hatte sie mit dem „Bund Ham- ten monographischen Aufsatz in der Zeitschrift burger Künstlerinnen und Kunstfreundinnen“ „Der Kreis“. Sie hob insbesondere die „eminente ihre erste, viel beachtete Aus stellung im Stil der psychologische Intuitionsgabe“ von Elfriede Loh- Neuen Sachlichkeit. Ein Kritiker lobte sie als „eine se-Wächtler hervor. Im Anschluss an die Aus- der stärksten Hamburger Begabungen“ und hob stellung im Kunstsalon Maria Kunde erwarb die besonders die „ausgezeichneten Aquarelle“ der Hamburger Kunsthalle im Jahr 1929 zwei Bilder

bis dahin unbekannten Malerin hervor. der „Friedrichsberger Köpfe“. Die meisten dieser 1996. Köln Werk, 1899–1940, und Lohse-Wächtler Elfriede Leben versunken, Lebens des Malstrom Im (Hrsg.), Reinhardt Georg Aus: Abb.: Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 113

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Bilder sind heute verschollen, einige sind in Pri- Sonnenstein, sollte sie die Klinik Arnsdorf nicht vatbesitz. mehr verlassen. Nur in der Anfangszeit ihres Die Stabilisierungsphase nach dem ersten Aufenthaltes in Arnsdorf hatte sie das Recht, ge- Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik war nicht meinsam mit ihren Eltern Ausflüge in die Um- von langer Dauer. Innerlich zerfahren, rastlos ar- gebung zu machen, wo sie gerne skizzierte und beitend, in größter Armut – es fehlte manchmal zeichnete; u. a. zum Schloss Wesenstein in der sogar an Geld für das Briefporto –, trieb es die näheren Umgebung von Pirna. Künstlerin zu anderen gesellschaftlichen Außen- Anfangs konnte sie in der Anstalt noch seiterinnen und Außenseitern. Vorübergehend schöpferisch tätig sein. Sie hielt z. B. mit dem lebte sie als Obdachlose im Hamburger Prosti- Farbstift die Frauen in der Krankenstube fest. tuiertenmilieu. Bahnhofswartehallen, der Hafen, Doch nachdem sich Kurt Lohse 1935 von ihr die Straßen wurden zu ihren häufigsten Aufent- wegen ihrer „unheilbaren Geisteskrankheit“ hatte haltsorten und zu Themen großartiger Bilder. scheiden lassen und sie entmündigt und zwangs- Ihre Selbstportraits, aber auch die Bilder von sterilisiert worden war, zerbrach vollends ihre Arbeitern, Marktfrauen, Prostituierten und „Zi- Schaffenskraft. geunern“ sind einerseits geprägt von fast schon 1937 wurde Elfriede Lohse-Wächtlers Werk übersteigertem Realismus, andererseits von ihrer von den Nationalsozialisten als „Entartete Kunst“ schonungslosen Anteilnahme an der Not ande- diffamiert und zum Teil zerstört. 1940 kam sie rer Menschen. in die Landes-Heil- und Pfleganstalt Pirna-Son- Im Jahr 1931 kehrte sie vollkommen mittel- nenstein und wurde dort im Rahmen der natio- los und psychisch stark angegriffen in ihr Eltern- nalsozialistischen Euthanasie-Aktion T4 getötet. haus nach Dresden zurück. Sehr bald schon kam 1989 erfuhren ihre Werke bei einer Präsen- es hier zu erneuten heftigen Auseinandersetzun- tation in Reinbek bei Hamburg eine Rehabilita- gen mit ihrem Vater. Als sie im darauf folgenden tion. 1994 wurde der Förderkreis Elfriede Lohse- Frühjahr wegen einer Fußverletzung im Kran- Wächtler gegründet. 1996 kam eine Monographie kenhaus in Dresden behandelt werden musste, über sie heraus: „Elfriede Lohse-Wächtler 1899– nutzte der Vater diese Gelegenheit, sie von dort 1940. Leben und Werk von Georg Reinhardt“. ohne Umweg über das Elternhaus in die Kran- Es folgten Ausstellungen u. a. in Dresden, Ham- kenanstalt Arnsdorf bringen zu lassen. Die dor- burg-Altona und Aschaffenburg. tige Diagnose lautete: Schizophrenie. Elfriede Lohse-Wächtlers Zeichnungen und Das war im Juni 1932, ein gutes halbes Jahr Aquarelle werden als kunsthistorisch einmalig vor der Machtübernahme durch die Nationalso- gelobt. Die Kunsthistorikerin Hildegard Rein- zialisten. Als der Vater die Aufnahme seiner Toch- hardt schreibt: „Es ist kein anderer Fall bekannt, ter in Arnsdorf erwirkte, konnte er nicht ahnen, in dem eine Malerin während der eigenen Hos- dass er sie damit letztlich ihren Mördern auslie- pitalisierung die Verbildlichung psychisch Kran- ferte. Schon nach wenigen Wochen in der Kran- ker zu ihrem Thema erhob.“ kenanstalt Arnsdorf flehte sie ihre Eltern an, sie Der im Allgemeinen Krankenhaus Eilbek wieder heimzuholen. Doch alle ihre verzweifel- wiederhergestellte Rosengarten ist nach Elfriede ten Bitten blieben vergebens. Acht Jahre, bis zu Lohse-Wächtler benannt.10) ihrer Ermordung in der Tötungsanstalt Pirna-

10) Einige Textpassagen sind dem erschienen ist in der Pu blikation: Rita Artikel von Marianne und Rolf Ro- Bake: Der Garten der Frauen. Ham- sowski, Nachlassverwaltung von El- burg 2013, S. 143ff. friede Lohse-Wächt ler entnommen. Auch die hier aufgeführten Zitate sind diesem Artikel entnommen, der Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 114

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Elfriedenweg reformpädagogischen Gesichtspunkten gestal- Fuhlsbüttel, seit 1946. Frei gewählter Name te te. Alle Konfessionen waren zugelassen, und nach der Schließung einer benachbarten jüdi- schen Schule 1932 wuchsen die von dort kom- Elisabeth-Flügge-Straße menden jüdischen Mädchen ganz selbstverständ- Alsterdorf, seit 2002, benannt nach Elisabeth lich mit den nicht-jüdischen auf. Elisabeth Flügge Flügge (4.2.1895 Hamburg–2.2.1983 ebd.), machte die im Lau fe der 1930-er Jahre begin- Schulleiterin, Gegnerin des NS-Regimes, leistete nende Ausgrenzung der jüdischen Mitbürgerin- Hilfe für NS-Opfer nen und Mitbürger nicht mit: Sie pflegte Freund- schaften zu den Eltern der jüdischen Kinder und Als Nachkommin einer Familie mit Freimaurer- nahm ihre jüdi schen Schülerinnen, als ihnen Tradition wuchs Elisabeth Flügge in einer Umge- Reisen verboten war, mit in die Feri en in ein von bung auf, die geprägt war von Toleranz, Vor- ihr gemietetes Haus in der urteilslosigkeit und sozialem Engagement. Ihr Lüneburger Heide. Eli sa - Vater, ein Kaufmann, sorgte dafür, dass seine beth Flügge setz te sich drei Töchter eine Berufsausbildung absolvierten. sehr für ihre jüdischen Elisabeth machte das Lehrerinnenexamen, was Freunde ein, so dass ihre sie 1916 an der Klosterschule abschloss. 1916 bis Familie in ständiger Angst 1919 unterrichtete sie an einer privaten Vor- vor ihrer Verhaftung lebte. schule für Jungen. Von dieser blieb sie je- Als Jugendliche, noch während ihrer Aus- doch verschont. bildung, hatte sie sich den „Wandervögeln“ an- Elisabeth Flügge gab geschlossen, und genoss diese Zeit der Natur- auch nicht dem Druck der Elisabeth Flügge verbundenheit und der damit verbundenen Schulbehörde nach, in die individuellen Freiheit sehr. Bei diesem Verein NSDAP einzutreten. lernte sie auch ihren zukünftigen Mann kennen, Mit wachsender Besorgnis hatte Elisabeth vor dem sie ihr Vater wegen dessen deutsch-na- Flüg ge die Veränderung der Gesellschaft nach tionaler Einstellung vergebens gewarnt hatte: der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Elisabeth Flügge heiratete ihn nach dem Tod des Januar 1933 beobachtet. Sie wollte die politi - Vaters 1919. 1920 wurde Sohn Herrmann, 1922 schen Zusammenhänge verstehen und begann Tochter Maria geboren. Die Ehe hielt jedoch nicht im Februar 1933, Zeitungsar tikel vorwiegend der lange: 1924 trennte sich Elisabeth Flügge von Frankfurter Zeitung und des Hamburger Frem - ihrem Mann, 1926 folgte die Scheidung. Auf- denblattes auszuschneiden und diese, um eige - grund ihres Berufs als Lehrerin war es Elisabeth ne Notizen ergänzt, in schwarzen Kladden zu Flügge auch als alleinerziehender Mutter Zeit sammeln. So entstand bis 1935 eine eindrucks- ihres Lebens möglich, ein finanziell unabhängi- volle Darstellung der öffentlich dokumentier- ges und selbstbestimmtes Leben zu führen. ten Facetten der beginnenden Schreckensherr- Ab 1926 unterrichtete sie an der Ria-Wirth- schaft der Nationalsozialisten, die die kritische Schule, einer privaten Realschule für Mädchen Elisabeth Flügge bereits damals klarsichtig er- 11)

am Mittelweg, die ihren Unterricht nach liberalen, kannte. Holst Privatbesitz Abb.:

11) Rita Bake (Bearb.): Wie wird es weitergehen … Zeitungsartikel und Notizen aus den Jahren 1933 und 1934 gesammelt und aufgeschrieben von Elisabeth Flügge. Hamburg 2001. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 115

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Nachdem die Ria-Wirth-Schule 1938 aufge- 1981 bekam sie das Bundesverdienstkreuz. löst worden war, arbeitete Elisabeth Flügge an Text: Kerstin Klingel einer öffentlichen Mädchen-Volksschule in St. Siehe auch Ü Geschwister-Beschütz-Bogen, in Pauli. In dieser Zeit wehrte sie sich erfolgreich diesem Band. gegen einen Einsatz in der Kinderlandverschi- ckung (siehe zum Thema Einsatz in der Kinder- Elisabeth-Lange-Weg landverschickung auch die Vita von Yvonne Me- Langenbek, seit 1988, benannt nach Elisabeth wes Ü Yvonne-Mewes-Weg, in diesem Band). Lange (7.7.1900 in Detmold–28.1.1944 im KZ „Als der Deportationsbefehl im Herbst 1941 Hamburg-Fuhlsbüttel), Gegnerin des National - zwei befreundete Ehepaare traf, half Elisabeth sozialismus Flügge ihnen tage- und nächtelang beim Packen und Aufstellen von Inventarlisten. Mehr noch Stolperstein vor dem Wohnhaus Hoppenstedt- gefährdete sie sich später durch ihre – letztlich straße 76. vergebliche – Intervention bei der Gestapo, um die Rückstellung einer jüdischen Freundin von Anton und Luise Höppner, die Eltern Elisabeth der Deportation zu erreichen. 1943 nahm sie den Langes, stammten aus Thüringen und Berlin. ausgebombten, in so genannter ‚Mischehe‘ le- Nach ihrer Heirat im Jahre 1890 zogen sie nach benden jüdischen Arzt Dr. Bernhard Hannes mit Detmold. Dort eröffneten sie zunächst eine Woll- seiner Frau und seinem Sohn in ihrem Haus [in manufaktur. Ihre Kinder verbrachten einen Teil der Erikastraße] auf. Die Familie überlebte.“12) ihrer ersten Lebensjahre in einer „Kinderbewahr- Von seiner Mutter nach demokratischen Ge- anstalt“, die von Nonnen geführt wurde. sichtspunkten zum überzeugten Gegner des na- 1921 heiratete Elisabeth Höppner den Ober- tionalsozialistischen Regimes erzogen, lehnte steuersekretär Friedrich Wilhelm Obenhaus. Sohn Herrmann Ende 1944 während eines Lehr- Ihr gemeinsamer Sohn Karl-Friedrich wurde am gangs eine Beförderung zum Leutnant ab. Seiner 1. November 1921 in Geestemünde (heute Bre- zwangsläufig drohenden Hinrichtung entging er merhaven) geboren. durch die Äußerung seines unwissenden Vaters, Zehn Jahre später heiratete Elisabeth ein sein Sohn habe eine psychische Störung. Die zweites Mal. Ihr Mann Alexander Lange, geb. am darauf folgende Abkommandierung in den Kur- 8. Juli 1903 in Eisenach, arbeitete als Handels- landkessel in Russland überlebte Hermann nur vertreter im Dienste der Firma Maggi. Ihr neuer um wenige Wochen: er wurde im Januar 1945 Lebensabschnitt war verbunden mit einem Um - als Soldat getötet. Für Elisabeth Flügge war dies zug nach Harburg, wo sie mit ihrem Mann und die „schmerzlichste Konsequenz der Erziehung ihrem Sohn in der Hoppenstedtstraße 76 eine ihrer Kinder“. modern eingerichtete 3½-Zimmer-Wohnung in Nach 1945 war Elisabeth Flügge bis zu ihrer einer Neubausiedlung bezog. Pensionierung 1958 Schulleiterin an einer Ham- Elisabeth Lange wird von früheren Freun- burger Volksschule. den und Bekannten als eine attraktive, freundli- 1976 verlieh ihr der israelische Staat die che Frau mit gepflegtem Aussehen beschrieben, höchste Auszeichnung für Nichtjüdinnen und -ju- die viele Nachbarschaftskontakte unterhielt und den, die Medaille „Gerechte unter den Völkern“. im mer Rat wusste. Sie ha ben sie als liebevolle

12) Ursula Randt: Elisabeth Flügge, in: Franklin Kopitzsch, Dirk Brietzke (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Per- sonenlexikon. Bd. 1. Hamburg 2001, S. 100. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 116

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und hilfsbereite Frau in Erinnerung, die am po- Ihr wurde wie anderen „Vorbereitung zum Hoch- litischen Tagesgeschäft nicht sonderlich in te res- verrat, Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung siert war, aber in menschlichen Grundsatzfragen und das Abhören und Verbreiten von Nachrich- durchaus klar Stellung bezog. ten ausländischer Rundfunksender“ vorgewor- Unbeeindruckt von fen. Nach Auffassung des Generalstaatsanwalts der antisemitischen Poli- reichte der „zersetzende Einfluss“ der Verhafte- tik der Nationalsozialis- ten weit über ihren engeren Kreis hinaus. ten hielt sie zu ihrer jü di - Die polizeilichen Voruntersuchungen lagen schen Freundin Ka tharina in den Händen der Gestapo- und SS-Männer Hans Leipelt (sieheÜ Leipelt stra - Reinhardt und Paul Stawitzki, die beide wegen ße, in Bd. 3 online**). Die ihres Zynismus und ihrer Brutalität gefürchtet beiden Frauen hatten sich waren und als erfahrene Spezialisten im Um- über ihre Kinder kennen- gang mit politischen Gegnern des NS-Regimes gelernt, die zeitweilig ge- galten. Auch Willi Tessmann, der Kommandant meinsam ei ne Klasse der des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel, schaltete Harburger Oberschule für sich aktiv in die Ermittlungen ein und beteiligte Elisabeth Lange Jungen am Alten Postweg sich persönlich an zahlreichen Verhören und in Heim feld (ehemals: Stre - vielen Misshandlungen. semann-Real gym na si um, heute: Friedrich-Ebert- Nach ihrer Festnahme wurde Elisabeth Lan - Gymnasium) besuchten. Diese Freundschaft der ge in das Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel über- beiden Mütter hatte für Elisabeth Lange tragische führt und dort in eine enge Einzelzelle in der Sta - Folgen. Als Hans Leipelt im April 1943 seine Fami- tion B 2 eingewiesen, in der sich außer einem lie zu Ostern besuchte, gelangte auch das sechs- Holzhocker nur noch das tagsüber hochgeklapp- te Flugblatt der „Wei ßen Rose“ nach Hamburg, te Metallbettgestell befand. Häufig wurden die das hier bei Freunden und Verwandten lebhafte Frauen tief in der Nacht, wie eine Überlebende Diskussionen auslöste. Viele beteiligten sich an später berichtete, aus dem Schlaf gerissen, ge- der Geldsammlung für die Familie Professor Kurt schlagen und gefoltert, um weitere Aussagen von Hu bers, der mit den Geschwistern Scholl (sie - ihnen zu erpressen. Viele wurden in den ersten he Ü Geschwis ter-Scholl-Straße, in diesem Band) Wochen Tag für Tag mit der „Grünen Minna“ zusammengearbeitet hatte und drei Monate spä- (Polizeiauto) zur Gestapo-Zentrale im Stadthaus ter ebenfalls zum Tod verurteilt wurde. gebracht und dort weiter gefoltert und verhört. Nachdem Hans Leipelt verhaftet worden Unter diesen Haftbedingungen verlor Elisabeth war, wurden bald darauf auch viele seiner Ham- Lange bald auch ihre letzten Hoffnungen. In der burger und Münchener Freunde festgenommen. Nacht vom 27. zum 28. Januar 1944 erhängte sie Elisabeth Lange wurde am 10. Dezember 1943, sich am Fensterkreuz ihrer Zelle – einen Monat, drei Tage nach der Festnahme ihrer Freundin Ka- nachdem auch ihre Freundin Katharina Leipelt tharina Leipelt, verhaftet. Ob sie das Flugblatt der sich das Leben genommen hatte. „Weißen Rose“ überhaupt kannte und sich an Elisabeth Langes Leiche wurde anschlie- der Geldsammlung für Professor Hubers Familie ßend verbrannt, und die Asche später ihrem

in irgendeiner Form beteiligt hat, ist ungeklärt. Sohn in einer Urne übergeben. Sie wurde auf der v.l.n.r.:Abb. – 73. S. 1990, Gleiche Rechte Hamburg KZ-Gedenkstätte Neuengamme | Hagemann/Kolossa, Hamburg, in Archiv Frauenbewegung und Frauenalltag zu Gleiche Pflichten? Ein Bilder-Lese-Buch

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 117

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Grabstätte seiner Großeltern Anton und Luise 1863) nach Hamburg und besuchte eine Privat - Höppner auf dem Landfriedhof an der Blomber- schule, dann von 1877 bis 1879 die Präparandin - ger Straße in Detmold beigesetzt. nen-Anstalt und 1879/80 das staatliche Lehrerin- An ihr Schicksal erinnern die Gedenktafeln nenseminar in Hamburg. Im Alter von 20 Jahren für die Harburger und Wilhelmsburger Opfer des begann sie ihre Tätigkeit als Volksschullehrerin. Nationalsozialismus im Harburger Rathaus und Fünf Jahre später wurde Elisabeth Seifahrt von für die Detmolder Opfer der nationalsozialisti- der Ober schulbehörde als schen Gewaltherrschaft an der Gedenkstätte „Alte Volks schullehrerin fest an- Synagoge“ in Detmold sowie die beiden Gedenk- gestellt und arbeitete in tafeln für die Toten des Hamburger Zweiges der die ser Position bis zu ihrer „Weißen Rose“ vor der einstigen evangelischen Pensionierung im Jahre Buchhandlung Anneliese Tuchel am Jungfern- 1924. stieg 50, einem der damaligen Treffpunkte der op- Elisabeth Seifahrt hei- positionellen Freundesgruppen, und am Weiße- ratete nicht; eine Heirat Rose-Mahnmal in Hamburg-Volksdorf.13) hätte auch die Entlassung Text: Klaus Möller, entnommen aus www.stolper- aus dem Staatsdienst be- steine-hamburg.de deutet. Sie lebte mit ihrer Elisabeth Seifahrt Siehe auch Ü Geschwister-Scholl-Straße, Mar- Schwester, auch eine Leh- garete-Mrosek-Bogen, in diesem Band. rerin, die sich ebenfalls Siehe auch Ü Leipeltstraße, Wilhelmsburg, seit 1924 hatte pensionieren lassen, in der Schröder- 1964: Hans Leipelt (1921–1945), Student, Mit- glied des nach der Zeit des Nationalsozialis - stiftstraße 20 im Stadtteil Hamburg-Rotherbaum. mus bezeichneten Hamburger Kreis der Wider- Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin war Eli - standsgruppe „Weiße Rose“, in Bd. 3 online**. sa beth Seifahrt ständepolitisch tä tig. So war sie 1894 eine der Gründerinnen des Vereins Ham- burger Volksschul lehrerinnen, dessen Vorsitzen - Elisabeth-Seifahrt-Weg de sie bis 1924 war. Gleichzeitig war sie von Ohlsdorf, seit 2007, benannt nach Elisabeth Sei- 1921 bis 1927 stellvertretende Bundesvorsitzende fahrt (2.9.1860 Homberghausen bei Homberg– des All gemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins 17.1.1933 Hamburg), Volksschullehrerin, von 1919 (ADLV) und von 1921 bis 1926 Erste Vorsitzende bis 1927 für die DDP (Deutsche Demokratische im Landesverband Hamburger Lehrerinnenver- Partei)-Fraktion Mitglied der Hamburgischen Bür- eine. Sie arbeitete in der staatlichen Kommission gerschaft, stellvertretende Bundesvorsitzende für Leibesübungen mit, war Mitglied fast aller des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins Schulausschüsse, engagierte sich für die Gestal- Ein Erinnerungsstein steht im Garten der Frauen tung des modernen Hamburger Schulwesens auf dem Ohlsdorfer Friedhof. und half bei der Verstaatlichung einer Reihe hö- herer Mädchenschulen (Bergedorf, Cuxhaven, Elisabeth Seifahrt wurde auf Gut Homberghausen Emilie-Wüstenfeld-Schule) mit. bei Homberg geboren. Ihr Vater war Landwirt. Auf sozialem und frauenpolitischem Gebiet Als sie fünf Jahre alt war, kam sie mit ihren El- engagierte sie sich im Vorstand der Sozialen Hilfs- tern und ihrer jüngeren Schwester Bertha (geb. gruppen, eines 1900 gegründeten Zweigvereins

** Band 3 online unter: www.ham- 1944, 148; StaH, 351-11, AfW, Abl. Ursel Hochmuth. Hamburg 1971; Mar- burg.de/maennerstrassennamen 2008/1, 070700; VVN-BdA Hamburg tin Brunckhorst u. a.: Elisabeth Lange (Hrsg.): candidates of humanity. Do- und ihr Weg. Hamburg 1993; Miche- 13) Quellenhinweise zum Text: Staats - kumentation zur Hamburger Weißen line Prüter-Müller: Elisabeth Lange. archiv Hamburg (StaH), 331-5 Polizei- Rose anlässlich des 50. Geburtstags Eine Frau aus Detmold im Umfeld der behörde, unnatürliche Todesfälle, 3 von Hans Leipelt, bearbeitet von „Weißen Rose, in: Stadt Detmold Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 118

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der Hamburger Ortsgruppe des Allgemeinen Deut - Sparkasse von 1850“. Elisabeth Thomann begann schen Frauenvereins (ADF), dem sie von 1906 bis zu schreiben. Zum 50-jährigen Stiftungsfest des 1919 angehörte. Bergedorfer Bürgervereins verfasste sie das Fest- Darüber hinaus arbeitete sie auch parteipo- spiel „Dat ole Bardörp“. Sie schrieb Prologe und litisch. Von 1919 bis 1927 war sie für die DDP- Heimatgedichte in plattdeutscher Sprache. Auch Fraktion Mitglied der Hamburgischen Bürger- verfasste sie das Lied „Uns Bardörp is doch schaft und damit die erste Frau, die diese Partei schön“, das von der Bergedorfer Bevölkerung in die Bürgerschaft geschickt hatte. Elisabeth als Nationallied gesungen wurde. Zu aktuellem Seifahrt kam auf den aussichtsreichen Listen- Ruhm gelangte das Lied zu Beginn des 21. Jahr- platz 18, denn 33 Mitglieder der DDP wurden in hun derts, nachdem der Bergedorfer Bürgerver- die Bürgerschaft gewählt. In der Bürgerschaft ein die Melodie 2003 auf beschäftigte sich Elisabeth Seifahrt hauptsäch- seine Internetseite gesetzt lich mit Erziehungs- und Bildungsfragen. 1927 hat te. Die Melodie wurde ließ sie sich nicht wieder für die Bürgerschafts- als Filmmusik genutzt und wahl aufstellen. von Musikgruppen inter- pretiert. Elisabeth Thomann Elisabeth-Thomann-Weg kümmerte sich auch in- Bergedorf, seit 1949, benannt nach Elisabeth tensiv um die Gründung Thomann, geb. Harmsen (10.3.1856 Bergedorf– eines Bergedorfer Heimat - 27.11.1919 Bergedorf), Heimatdichterin museums. So stellte sie Einnahmen aus den Auf- Elisabeth Thomann Geboren als Tochter aus zweiter Ehe des Sattlers, führungen ihres Stückes Tapezierers und Kunstmalers Johannes Nikolaus „Ein Bergedorfer Zunftmeister“ für den Aufbau Harmsen. Da ihre Mutter krank war, wuchs Eli- des Museums zur Verfügung. Das Projekt schei- sabeth Thomann bei ihrem Onkel, dem Ratsherrn terte an der Inflation. Julius Behrens, und dessen Frau auf. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit en- Elisabeth Thomann besuchte mit der Schrift- gagierte sich Elisabeth Thomann – wie viele stellerin Ida Boy-Ed (siehe Ü Ida-Boy-Ed-Straße, bürgerliche Frauen – auch auf sozialem Gebiet. in diesem Band) die höhere Töchterschule von Sie war ehrenamtliche Armenpflegerin, beriet in Dr. Mager in Bergedorf. Im Alter von 25 Jahren Fragen der Jugendfürsorge und bei Eheschwie- heiratete sie ihren Jugendfreund, den Lohgerber rigkeiten – und war bitter enttäuscht, wenn ihre Paul Thomann. Er wurde arbeitslos, als die Ratschläge nicht auf fruchtbaren Boden fielen. Technisierung in dieses Gewerbe einzog. Um die Bis zu ihrem Lebensende war sie 1. Vorsitzende materielle Existenz des Ehepaares zu sichern, des Vaterländischen Frauenvereins und betreute übergab Elisabeth Thomanns Onkel den beiden im Ersten Weltkrieg Kriegerfrauen und -waisen. sein Lebensmittelgeschäft in der Bergedorfer Siehe auch Ü Ida-Boy-Ed-Straße, in diesem Großen Straße 26. Band. 1899 verpachtete Paul Thomann das Ge- schäft und wurde Kassierer bei der „Bergedorfer

(Hrsg.): Nationalsozialismus in Det- mold. Bielefeld 1998, S. 849ff. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 119

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Elisabeth-von-Thadden-Kehre den arbeitete nun beim Roten Kreuz und musste Bergedorf, seit 1987, benannt nach Elisabeth von dort erleben, dass auf Hitlers Befehl hin Briefe Thadden (29.7.1890 Mohrungen/Ostpreußen– von deutschen, sich in Russland befindenden 8.9.1944 hingerichtet), Gegnerin des Nationalso- Kriegsgefangenen vernichtet wurden. zialismus. Motivgruppe: Verdiente Frauen 1943 arbeitete sie in verschiedenen Solda- tenheimen in Frankreich. Elisabeth von Thadden war die Tochter von Ehren- Elisabeth von Thad- gard von Gerlach, die mit dem Gutsbesitzer den gehörte den christ- Dr. jur. Adolf von Thadden, königlich preußi- lich-konservativen Krei- scher Landrat des Kreises Greifenberg, Mitglied sen an. Als sie am des pommerschen Provinz-Landtags sowie Vor- 10. September 1943 Mit- sitzender des Verbands pommerscher Landkrei - glieder dieser Kreise zu se, verheiratet war. einer Teegesellschaft lud, 1905 zog die Familie auf das Gut Trieglaff in war auch ein junger Mann Pommern. Als die Mutter starb, war Elisabeth 20 dabei, den ihr eine Freun- Jahre alt. Sie führte nun den Gutshaushalt und din aus der Schweiz ans erzog die jüngeren Geschwister. „Beflügelt von Herz gelegt hatte, weil er Elisabeth von Thadden den Ideen der Helene Lange [siehe Ü Helene-Lange- schlechte Erfahrungen mit Straße, in diesem Band], wußte sie, daß ihr mehr dem NS-Regime gemacht zukam, als die Enge des bürgerlichen Frauen - hätte. Es stellte sich jedoch später heraus, dass daseins.“14) Nachdem der Vater 1920 eine zweite er ein Spitzel war, der die bei der Teegesellschaft Ehe eingegangen war, ergriff Elisabeth von Thad- geführten Gespräche an die Gestapo weitergelei- den den Erzieherinnenberuf und machte bei Anna tet hatte. Daraufhin wurden alle Gäste in der von Gierke (siehe Ü Anna-von-Gierke-Ring, in die- Folgezeit verhaftet. Elisabeth von Thadden wur- sem Band) das Jugendleiterinnen exa men. Danach de am 1. Juli 1944 vom Volksgerichtshof wegen arbeitete sie im Jugendlager Heuberg auf der „Wehrkraftzersetzung und Hochverrats“ zum Schwäbischen Alb und in der Schloss schule Tode verurteilt und enthauptet. Salem. „Geprägt von christlicher Ethik und den 1986 wurden die Namen Lilo Gloeden, pä dagogischen Vorstellungen Kurt Hahns, gründe - Marie Terwiel, Gertrud Seele und Elisabeth von te sie 1927 ein Internat für Mädchen in der Nähe Thadden für die Benennung von Straßen vorge- von Heidelberg. Das Heim gewinnt Anerkennung, schlagen. Das Staatsarchiv Hamburg nahm dazu die Unternehmung ist erfolgreich. Elisabeth von Stellung: „Die vier für Straßenbenennungen vor- Thaddens pädagogische Prinzipien ‚Verantwort- geschlagenen Frauen (...) waren während des lichkeit‘, ‚Vertrauen‘ und ‚Gemeinschaft‘ machten Dritten Reiches oppositionellen Kreisen in Berlin sie zunächst für nationalsozialistische Ideen emp- zuzurechnen, unterstützten zum Teil Verfolgte fänglich (…). Erste Konflikte treten auf, als sie von und wurden vom Volksgerichtshof bzw. Reichs- einer Schülerin wegen ‚mangelnder Erziehung im gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. neuen Sinne‘ denunziert wird.“15) Dem Bezirksamt Bergedorf wurde im Rahmen 1941 nahmen ihr die nationalsozialistischen einer Vorabstimmung mitgeteilt, dass bisher Per-

Abb. v.l.n.r.: Archiv Ludwig Uphoff | Annedore Leber, Das Gewissen steht auf, 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933–1945,Widerstand deutschen dem aus S. 49. 1956, Berlin, Frankfurt/M. Lebensbilder 64 auf, steht Gewissen Das v.l.n.r.:Abb. Leber, Annedore | Uphoff Ludwig Archiv Machthaber die Heimleitung. Elisabeth von Thad- sonen, nach denen Straßen benannt wurden, ent-

14) Susanne Gretter, Luise F. Pusch (Hrsg.): Berühmte Frauen 2. Frankfurt a. M. 2001, S. 286. 15) Ebenda. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 120

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weder eine Beziehung zu Hamburg oder über- nug vom Hausstand und dessen Erzählungen; örtliche Bedeutung hatten. Letzteres mag bei dann geht er aus und sucht sich bessere Unter- den hier vorliegenden Namen auch eine Frage haltung, und die arme Frau sitzt mit ihrem stu- der politischen Wertung sein, die die Bezirksver- dierten Hausstand allein. sammlung mit ihren Vorschlägen getroffen hat.“ Aber so sind die Männer; sie verlangen viel Siehe auch Ü Anna-von-Gierke-Ring, Helene- und erfüllen wenig! Lange-Straße, in diesem Band. Was willst du, Weibertyrann, denn eigent- lich? Laß einmal hören, willst du wirklich nur eine Frau, um deinen Hausstand zu führen? Da Elise-Averdieck-Straße nimm dir eine Haushälterin, die du bezahlst!17) Borgfelde, seit 1896, benannt nach Elise Aver- Nach ihrer Tätigkeit als Gesellschafterin dieck (26.2.1808 Hamburg–4.11.1907 Hamburg), pflegte sie fünf Jahre lang kranke Kinder in der Leiterin des Diakonissenhauses „Bethesda“, Privatklinik des Arztes Dr. Günther am Borgesch, Kinderbuchschriftstellerin wo man versuchte, verwachsene Mädchen ohne Streckbetten oder sons- Elise Averdieck war das zweitältestes von zwölf tige Hängevorrichtungen Kindern einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Sie zum Gebrauch ihrer Glie- half ihrer Mutter im Haushalt und bei der Erzie- der zu bewegen. hung der jüngeren Geschwister. Als 1827 das Als Dr. Günther als Geld in der Familie knapp wurde, ging Elise als Professor nach Kiel beru- Gesellschafterin zu Madame Schmilinsky nach fen wurde, eröffnete Elise St. Georg. Dabei wurde ihr klar: „Es ist doch was Averdieck in St. Georg ei- einzig Liebliches um das alte, schmutzige Geld, ne Vorschule für Knaben, wenn man es so selbst verdient hat. (…) Bald die sie dreizehn Jahre lang könnte ich eine Frau ernähren, wenn ich ein leitete. In dieser Zeit ent- Elise Averdieck Mann wäre.“16) wickelte sie „aus der Pra- Zur Stellung von Frau und Mann machte sich xis heraus (…) eine eige- Elise Averdieck auch einige Zeit später so ihre ne originelle Leselernmethodenfibel. Weil ihr die Gedanken. So schrieb sie 1829: „Ein Weib soll üblichen Fibeln ‚die die Silben ganz ohne Zu - nichts gründlich lernen als den Hausstand, und sam menhang aneinanderreihen‘, nicht geeignet allenfalls deutsche Sprache; Naturgeschichte schienen, stellte sie ein Lesebuch, ‚Gott schuf und Geographie oberflächlich, und fremde Spra- die Welt‘ aus lauter kurzen Sätzen zusam- chen gar nicht!! (…) Das Weib hat eine schöne, men“18) und verfasste selbst Kinderbücher, weil herrliche Bestimmung, und die ist nicht allein, ihr die angebotenen nicht kindgerecht erschie- den Hausstand zu führen; das Weib soll den nen. Elise Averdieck wollte Stoffe, die die Le- Mann fesseln, soll ihn die Sorgen vergessen ma- benswelt des Kindes ansprachen. So schrieb sie chen. Das kann sie nicht allein durch Hausstand Kinderbücher, die im Hamburger Milieu spielten führen und deutsche Sprache. Sie fesselt ihn und die Alltagswelt des Kindes darstellten. Ihre durch ersteres vielleicht bei Tisch, und wenn es Bücher hießen z. B. „Karl und Marie“ oder „Ro-

hochkommt, beim Kaffee, aber dann hat er ge- land und Elisa beth“. Hamburg Staatsarchiv Abb.:

16) Zit. nach: Frieda Radel: Lebens- 18) Inge Grolle: Auch Frauen sind zu- aufzeichnungen von Elise Averdieck. lässig. Die Frauensäule in der Ham- Hamburg o. J. burger Rathausdiele, in: Rita Bake, 17) Zit. nach: Hannah Gleiss (Hrsg.): Birgit Kiupel: Auf den zweiten Blick. Lebenserinnerungen von Elise Aver- Streifzüge durch das Hamburger Rat- dieck. Hamburg 1908. haus. Hamburg 1997, S. 83. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 121

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Am 3. November 1835, als bereits 27-Jäh- Gefühle statt eines irdischen den himmlischen rige, erlebte Elise Averdieck ihre „Bekehrung“. Bräutigam gewonnen und überträgt auf ihn alle Der Glaube wurde das Fundament ihres Lebens. ihre Gefühle. Wird aber eine solche Interpreta- Gott führte und liebte sie. tion dem Gehalt einer Bekehrung in der erwe- „Elise Averdiecks äußere Biographie wurde ckungsgläubigen Zeit gerecht? Noch heute be- von einer sehr bewußt empfundenen inneren eindruckt, zu welchem Lebensmut und zu Entwicklung begleitet, die im Zusammenhang welchen Taten der ‚geschenkte‘ kindliche Glaube mit der Erweckungsbewegung steht. Entschei- Elise Averdieck befähigte. Was ihr auch begeg- dend wurde die Begegnung mit Pastor Rauten- nete, vor welchen Entscheidungen sie auch berg, [siehe Ü Rautenbergstraße, in Bd. 3 online**] immer gestellt war, sie fühlte sich ‚geführt vom dem Begründer und Mittelpunkt der ‚Kapellen- Herrn‘, bezog die kleinsten Freuden und Wid- gemeinde‘ in St. Georg. Anders als die rationa- rigkeiten jeden Tag auf diesen ganz persönlichen listischen Kanzeltheologen wollte er gemeinde- Freund ihres Lebens“,20) formuliert Inge Grolle. nah arbeiten. Seit 1825 sammelte er Kinder der Und weiter schreibt Inge Grolle über Elise ärmeren Schichten, die sonst keinen Unterricht Averdiecks Aktivitäten: „Außer zur Lehrtätigkeit erhielten, um ihnen in der ‚Sonntagsschule‘ bi- fühlte sich Elise Averdieck nach wie vor zur blische Geschichten zu erzählen und ihnen das Krankenpflege berufen. Sie freute sich deshalb, Lesen beizubringen.“19) als die von ihr bewunderte Amalie Sieveking 1843 wurde Elise Averdieck Lehrerin der (siehe Ü Amalie-Sieveking-Weg, in diesem Band) Mädchenklasse in Pastor Rautenbergs Sonntags- sie als Leiterin der weiblichen Abteilung des All- schule. Bei ihm arbeitete als Lehrer auch der gemeinen Krankenhauses vorschlug. Gerne hätte Theologe Johann Hinrich Wichern (siehe Ü Wi- sie diese Aufgabe übernommen, wollte aber ihre chernsweg, in diesem Band). Knabenschule nicht im Stich lassen (…).“21) „Der Sonntagsunterricht fand in ärmlichen Schließlich kam sie auf den Gedanken, selbst Hinterhofräumen statt. 1852 gelang es den Mit- ein christliches Krankenhaus zu gründen. Der arbeitern, an der Stiftstraße eine eigene ‚Kinder- Zufall wollte es, dass ein Bekannter seine not- kirche‘ zu bauen. wendige Krankenhausbehandlung nicht bezah- Im religiösen ‚Fundamentalismus‘ der Ka- len konnte. Elise Averdieck nahm ihn bei sich pellenbewegung um Pastor Rautenberg fand zu Hause auf und pflegte ihn zusammen mit Elise Averdieck ihre geistliche Heimat. Wie viele ihrer Freundin Dora Anderssohn. Ein Arzt unter- ‚Erweckte‘ hatte auch sie ihr Bekehrungserleb- suchte den Kranken unentgeltlich. Bald kamen nis, das sie ganz genau auf einen Tag, den 3. No- weitere Kranke aus der Armutsschicht, und Elise vember 1835, datieren konnte. Bis in alle Ein- Averdiecks Zimmer, das sie als Krankenzimmer zelheiten zeichnete sie den seelischen Vorgang zur Verfügung gestellt hatte, wurde zu eng. Und auf. Er führte vom Bekenntnis der Sünden – Ver- wieder eine Fügung: Zur selben Zeit zog ein säumnis und Nachlässigkeit – bis zur Gewißheit Großteil ihrer Schüler aus Hamburg weg oder der erlösenden Liebe: ‚Da hatte ich den Herrn! wurde aus der Schule entlassen, so dass Elise Oder nein, er hatte mich, und ich schlief selig in Averdieck kaum noch Kinder zu unterrichten seinem Arm.‘ Die psychologische Deutung liegt hatte. Außerdem wurde das Haus frei, in dem nahe: eine Frau hat durch Sublimierung ihrer sie ehemals die kranken Kinder von Dr. Günther

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

19) Inge Grolle, a. a. O., S. 84. 20) Ebenda. 21) Inge Grolle, a. a. O., S. 85. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 122

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gepflegt hatte. Damit war der weitere Lebensweg mit Händen und Füßen, – die schwerste Arbeit Elise Averdiecks vorbestimmt. Sie widmete sich hat das Herz.“23) von nun an ausschließlich der Kran kenpflege. Am Im Jahre 1881 legte Elise Averdieck die Lei- 30. Oktober 1856 erfolgte der Umzug in die neu- tung der Anstalt aus Altersgründen nieder. en Räume des ehemaligen Kinderkrankenhauses Siehe auch Ü Wichernsweg, Johann Heinrich von Dr. Günther. Das Haus wurde „Bethesda“ Wichern und Amanda Wichern, in diesem (Haus der Barmherzigkeit) genannt. Es fi nan- Band. zier te sich über Spenden. Außerdem schenkte der Siehe auch Ü Rautenbergstraße, St. Georg, seit 1899: Johann Wilhelm Rautenberg (1791– reiche Kaufmann August Behn das Kapital zum 1865), Pastor in St. Georg, in Bd. 3 online**. Ankauf eines Grundstückes bei der Stiftskirche, auf dem zwei Häuser standen und Valentin Lo- renz Meyer stiftete 30 neue Bettstellen. Elise-Lensing-Weg Es gründete sich ein Komitee; den Vorsitz Barmbek-Nord, seit 1948, benannt nach Maria übernahmen zwei Geistliche. Elise Averdieck wur - Dorothea Elisabeth Lensing (14.10.1804 Lenzen de als Vorsteherin für das zu erbauende Kran ken- an der Elbe–18.11.1854 Hamburg), Förderin und haus gewählt und sie bildete Schwestern aus. Freundin Friedrich Hebbels Dafür wurden eigens neue Räume errich tet. 1860 fand dann „die Einsegnung der ersten Hamburger Ende März 1835 lernte die damals 31-Jährige Diakonissin durch Pastor Rau tenberg statt. Sie den 22-jährigen Friedrich Hebbel (siehe Ü Heb- hatte ein Gelöbnis zu Treue, Demut, Selbstver- belstraße, in Bd. 3 online**) kennen. Hebbel war leugnung und Gehorsam abzulegen. von der in Hamburg lebenden Schriftstellerin Trotz Elise Averdiecks eifrige Werbung dräng- Amalie Schoppe (siehe Ü Amalie-Schoppe-Weg, in ten sich junge Frauen nicht gerade nach der diesem Band) aus der Enge seiner Heimatstadt Unterordnung unter die strengen Diakonissen- Wesselburen in Nord-Dithmarschen nach Ham- gebote, und die Frage des Nachwuchses wurde burg geholt und vor dem Steintor bei Elise Len- zu einem größeren Problem.“22) sing, ihrer Mutter und Elises Stiefvater Ziese un - Zur Krankenpflege kam die Gemeindepflege tergebracht worden. Elise war die Tochter des hinzu. „1869 verfaßte Elise Averdieck Instruk- Chirurgen Johann Friedrich Arnold Lensing und tionen für die Gemeindepflegerinnen. Sie sollten seiner Ehefrau Karoline Maria. Elise verlebte un- nicht bloße Dienstleisterinnen, sondern ‚Mütter glückliche Kindertage: der Vater, alkoholkrank, der Armen‘ sein, denn: ‚Eine Mutter dient ihren cholerisch, prügelte seine Kinder. Nachdem ihn Kindern sicher treuer, hingebender, aufopfern- seine Frau hatte entmündigen lassen, heiratete der als eine Dienerin, aber sie hat dabei das gei- diese einen Schiffer. Aber auch er behandelte stige Wohl der Kinder mehr im Auge als das Elise schlecht. leibliche. Sie ist nicht allein Helferin und Trös- Elise war es nicht gewohnt, dass man ihr terin, sondern Ratgeberin, Erzieherin; sie mahnt etwas Gutes tat, und so konnte sie sich auch die Ungezogenen und übt auch – in Mutterliebe nicht darüber freuen – vielleicht misstraute sie – das Strafamt, was wahrlich in unserer zucht- auch Männern, da sie diese bisher nur als ge- losen Zeit nicht fehlen darf. (…) Eine Mutter ar- walttätig kennengelernt hatte –, als ein Haupt- beitet nicht allein mit den Armen und Beinen, mann, dem ihr schüchternes Wesen gefiel, sich

** Band 3 online unter: www.ham- 1931, S. 35. burg.de/maennerstrassennamen

22) Ebenda. 23) Inge Grolle, a. a. O., S. 86 und zit. nach: 75 Jahre Bethesda. Hamburg Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 123

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entschloss, sie ausbilden zu lassen und nach kehrte er nach Hamburg und zu Elise zurück. Magdeburg ins Pensionat des Pädagogen J. C. Bald wurde Elise schwanger. Hebbels Tagebuch A. Heyse zu geben. aus dieser Zeit ist voller Liebe, Zärtlichkeit und Mit neunzehn Jahren kehrte sie als junge Anerkennung für Elise. Aber auch Selbstankla- Pädagogin nach Hamburg zurück, lebte wieder gen und Reue fehlen nicht, denn das Verhältnis bei ihren Eltern und verdiente ihren Lebens- war nicht wirklich harmonisch. Wie im Finan- unterhalt mit Privatstunden, Nähkursen und ziellen war Elise auch im Emotionalen die Ge- als Gesellschafterin. Eine kleine Erbschaft von bende und Ausgleichende. Am 5. November 1840 ihrem leiblichen Vater gab ihr eine gewisse fi- wurde der gemeinsame Sohn Max geboren, ge- nanzielle Freiheit. heiratet wurde nicht. Hebbel hatte bereits in sei- Als Hebbel auftauchte, entwickelte sich nem Brief vom 19. Dezember 1836 aus München schnell ein Liebesverhältnis zwischen den bei- ausführlich auseinandergesetzt, dass und warum den. Nach sechs Wochen zog Hebbel in ein eine Ehe für ihn undenkbar sei: „Ich kann alles, Nach barhaus, vermutlich, um den Klatsch zur nur das nicht, was ich muß. Das liegt zum Teil in Ruhe zu bringen. Beide liebten jedoch nicht meiner Natur, zum Teil in der Natur des Künst- gleich intensiv. Elise liebte Hebbel stets mehr. lers überhaupt. Wenn ein Genie sich verheiratet, Hebbel blieb nur ein Jahr in Hamburg. Im so geschieht immer ein Wunder, so gut, als wenn März 1836 zog er nach Heidelberg, um dort Jura ein anderer sich nicht verheiratet. Nimm es als zu studieren. Als er feststellte, dass er dazu keine den höchsten Beweis meiner Achtung auf, daß Berufung hatte, ging er im September desselben ich Dir diese dunkelste Seite meines Ichs ent- Jahres nach München, weil er sich dort mehr schleiere; es ist zugleich unheimlich und gefähr- Möglichkeiten für seine schriftstellerische Tätig- lich, wenn ein Mensch zum Fundament seines keit erhoffte. Elise unterstützte nicht nur ihn aus Wesens hinuntersteigt und er tut gar wohl, wenn ihren geringen finanziellen Mitteln, sondern auch er niemals daran rüttelt, denn drunten lauern die seine Mutter – ohne einen anderen Lohn zu for- Finsternis und der Wahnsinn.“24) dern als einen nicht gar zu unfreundlichen Brief. Als Elises Ersparnisse aufgebraucht waren Nur wenn Hebbel sich einsam und unglück- und die spärlichen Einnahmen kein Auskommen lich in einer fremden Umgebung fühlte, liebte er mehr ermöglichten, reiste Hebbel im November Elise, schrieb sehnsuchtsvolle Briefe an sie. Sobald 1842 nach Kopenhagen, um seinem Leben eine er aber wieder festen Boden unter den Füßen hat- Wendung zu geben. Er erbat vom dänischen te, verblasste seine Zuneigung. Aus München kam König eine Professur für Ästhetik an der Univer- z. B. eine drastische Klarstellung seinerseits an sität Kiel. Die Professur erhielt er nicht, aber ein Elise: Freundschaft sei es, was ihn mit Elise ver - Reisestipendium für zwei Jahre. Das Ziel hieß binde, alles andere sei ein Irrtum gewesen. Wenig Paris, wo Hebbel nach einem Zwischenstopp in später dann ein völlig anders ausgerichteter Brief Hamburg im September 1843 eintraf. Und hier an Elise, in dem er ihr seine Liebe gestand. begann wieder, was schon auf der ersten Reise Elise ertrug diese Stimmungsschwankungen deutlich geworden war: Einsam in einem Land, mit unendlicher Geduld. Immer wieder bedank- das ihm fremd war, sehnte er sich nach Elise. te sich Hebbel für ihre Festigkeit und Teilnahme. Als Elise ihm den Tod des Sohnes Max mel- Als er im März 1839 vollkommen mittellos war, dete, der am 2. Oktober 1843 nach einem Sturz

24) Friedrich Hebbel: Werke. Hrsg. Leipzig 1928; siehe auch unter: von Gertrud Fricke, Werner Keller und www.gutenberg.spiegel.de/deut- Karl Pörnbacher. Bd. 3 und 4. Darm- sche-liebesbriefe-7648/64 stadt 1966 und 1967; Elise Lesing: Briefe an Friedrich und Christine Heb- bel. Hrsg. von Rudolf Kardel. Berlin. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 124

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auf den Kopf an einer Gehirnentzündung ver- Verhältnisse von ehemals jetzt unmöglich sind storben war, und zugleich ihre erneute Schwan- und daß mein Leben entweder einen höheren gerschaft, die sie durch Fußbäder abzubrechen Schwung oder – ein Ende nehmen muß. So steht versucht hatte, war Hebbel außer sich vor Kum- die Sache, täusche Dich nicht“ (Brief vom 6.12. mer und Sorge und wollte sofort heiraten. Aber 1845). schnell stellten sich Zweifel ein. Als Elise die Sein Leben nahm „einen höheren Schwung“: Koffer schon gepackt hatte, kam die Anweisung: In Wien wurde ihm Anerkennung zuteil, und Bleibe, wo Du bist, hier verhungern wir beide! hier verliebte er sich 1846 in die Burgschauspie- Hebbel führte immer wieder die finanzielle lerin Christine Enghaus. Elise verlor jetzt die Ge- Lage an, die eine Heirat unmöglich machte. Er duld, sie hatte seine Reisen und Liebschaften sprach davon, eine Geschwister-Ehe mit Elise zu lang genug ertragen. Bitter beklagte sich Hebbel führen. Eine Trennung im wahren Sinne des in seinem Tagebuch über ihr ungewohntes Aufbe- Wortes könne nie stattfinden. Auch das zweite gehren: „(…) kaum aber nannte ich ihren [Chris- Kind solle selbstverständlich auf seinen Namen tine Enghaus] Namen, in einem Brief nach Ham- getauft werden, aber heiraten … burg, als Elise, die sich schon über mein bloßes Als Elise ihre alles erduldende Haltung auf- Verweilen in Wien auf die rücksichtsloseste Wei- gab, Vorschläge machte, wie eine Heirat auch bei se geäußert hatte, mir die ärgsten Schmählichkei - der finanziellen Misere möglich sei, und ihr wah- ten über sie schrieb, und in einem Ton gemach- res Verhältnis zu Hebbel nicht länger verleugnete, ter Nai vität, der mich noch mehr verdroß, als indem sie sich dem dänischen König als Hebbels die Sache selbst“ (Tagebuch, 29.12. 1846). Am Verlobte vorstellte, antwortete er: „Warum muß- 26. Mai heiratete Hebbel Christine Enghaus. Elise test Du? Hundert Mal in ähnlichen Fällen warst blieb nur der gemeinsame Sohn Ernst. Aber auch Du nur meine Cousine“ (Brief vom 16.12.1844). den muss te sie hergeben. Ernst starb wie sein Bru - Am Ende des Jahres 1844, dem Jahr, in dem der im Alter von knapp drei Jahren am 12. Mai der zweite Sohn Ernst am 14. Mai geboren 1847. Christine Enghaus’ Reaktion, die auch gera- wurde, gab Hebbel sich selbst wie an jedem Jah- de ein Kind verloren hatte: „Laß sie – die Mutter resende Rechenschaft: „Kann ich, muß ich hei- – zu uns kommen“ (Tagebucheintragung 4170). raten? Kann ich, muß ich einen Schritt tun, der Elise lebte eineinhalb Jahre bei Hebbel und mich auf jeden Fall unglücklich und dich! Nicht Christine Enghaus in Wien. Christine begegnete glücklich machen wird? (…) Elise ist das beste ihr schwesterlich. Elise übertrug all ihre Liebe Weib der Erde, das edelste Herz, die reinste Seele, zu Hebbel auf seine Frau und das Kind Tinchen, aber sie liebt, was sie nicht wiederlieben kann, das am 25. Dezember 1847 geboren wurde. die Liebe will besitzen, und wer nicht liebt, kann Im August 1849 reiste Elise zurück nach sich nicht hingeben, sondern sich höchstens op- Ham burg, weil sie die ständige Gegenwart Chris - fern!“ (Tagebuch 31.12.1844). Später verstieg er ti nes und Hebbels wohl doch nicht ertragen sich dazu, Liebe als „die höchste Spitze des Ego- konnte. Mit ihr fuhr der uneheliche Sohn Christi- ismus“ (Brief vom 6.12.1845) zu interpretieren nes, Carl, den Christine Enghaus aus einer ande- – ein Selbstschutz vermutlich! Als er nach Wien ren Beziehung hatte. Ihn sollte Elise erziehen, was ging, wurden die Worte noch schroffer, ja dro- sie auch mit aufopfernder Hingabe tat. Carl wur - hend: „(…) das mußt Du doch fühlen, daß die de zu Elises ganzer Freude in ihrer Einsamkeit. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 125

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Die Briefe, die Elise nach ihrer Rückkehr aus ver und trat erstmals am 31. März 1876 in Ham - Wien an Christine und Friedrich Hebbel schrieb, burg am Altonaer Stadttheater auf. Franziska Ell - wobei der größte Teil an Christine gerichtet war, menreichs Wirkungskreis in Hamburg waren dokumentieren ein Leben allein in Bezug auf das Stadttheater und das Deut sche Schauspiel- Hebbel, übertragen auf dessen Ehefrau Christine haus. Ab 1881 spielte sie zeitweilig mit einer eige- und die Tochter Tinchen. Die Briefe vermitteln nen Truppe in Amerika und England und kam auch den Eindruck, dass es wieder einmal Elise 1887 nach Hamburg zurück, gastierte in den war, die mehr liebte, als sie geliebt wurde. 1890-er Jahren viel in Berlin und Wien. Franzis - Elise Lensing starb nach einem qualvollen ka Ellmenreich beteiligte sich an der Gründung Lungenleiden. Sie erhielt ein Armengrab auf dem des Schauspielhauses, sie Friedhof in St. Georg. Als der Friedhof eingeeb- gehörte zu den vier Künst- net wurde, kaufte ihr Christine Hebbel eine Grab - ler-Sozietairen, denen als stätte auf dem Friedhof Ohlsdorf. Aktionäre auch ein künst- Text, im Wesentlichen von Brita Reimers lerisches Mit sprache recht Siehe auch Ü Amalie-Schoppe-Weg, in diesem eingeräumt war. 1913 ver- Band. abschiedete sich Franzis - Siehe auch Ü Hebbelstraße, Uhlenhorst, seit ka Ellmenreich von der 1899, Friedrich Hebbel (1813–1863), Dichter, in Bd. 3 online**. Bühne. Sie war Hamburgs beliebteste Schauspielerin – spielte alles, von der Elisenstraße sentimentalen Liebhabe- Franziska Ellmenreich Hohenfelde, seit 1866. Vermutlich benannt nach rin und jugendlichen Hel- Anna Catharina Elisabeth, geb. Diebenau (1808– din bis zu reifen Frauengestalten der Klassiker. 1836), Ehefrau des Grundeigners H. F. Stucken- Als sie 1913 die Bühne am Schauspielhaus ver- berg ließ, wurde sie als erstes Mitglied des Ensembles mit der Ernennung zum Ehrenmitglied ausge- Ellmenreichstraße zeichnet. Der große Theatermann Paul Möhring be- St. Georg, seit 1948, benannt nach Franziska richtet auch von gewissen Allüren der Franziska Ellmenreich (28.1.1847 Schwerin–20.10.1931 Ellmenreich. So soll sie sich, nachdem sie durch Herrsching am Ammersee), Schauspielerin Heirat mit dem Dramatiker Richard Freiherr von Franziska Ellmenreich stammte aus einer der großen Fuchs-Nordhoff in den Stand einer Baronin ge- deutschen Schauspielerfamilien des 19. Jahrhun - setzt worden war, geweigert haben, als Ekdals derts: die Großmutter Friederike Ellmenreich, eine Frau Gina in Ibsens „Wildente“ mit einer Schür- Hamburger Schauspielerin, der Vater, Albert Ell- ze auf der Bühne aufzutreten. Darsteller kleine- menreich, Sänger und Theaterdirektor, der Groß- rer Rol len mussten, wenn sie aus ihrer Gardero - vater Johann Baptiste, Schauspieler und Bassist. be kam, zur Seite springen und der Dame Platz Bereits mit fünfzehn Jahren stand Franziska machen. auf der Bühne, debütierte 1862 in Meiningen un- Nach ihrem Abgang von der Bühne im Jahre

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Hamburg Staatsarchiv Abb.: ter der Regie ihres Vaters, kam 1867 nach Hanno- 1913 zog sich Franziska Ellmenreich auf ihren

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 126

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Besitz in Herrsching am Ammersee zurück, spiel - Elly Heuss-Knapp unterstützte ihren Mann te jedoch in späteren Jahren noch einige Male in seiner publizistischen Tätigkeit. Ihr Arbeits- am Hamburger Schauspielhaus. schwerpunkt lag aber bei der Sozialarbeit. 1910 Franziska Ellmenreich hatte einen Sohn, wurde ihr Sohn Ernst Ludwig geboren. Wegen der später Kunstmaler wurde (Felix Freiherr von der sehr schweren Geburt, konnte sie danach Fuchs-Nordhoff, später verheiratet mit der Kunst- keine Kinder mehr bekommen. malerin Irene von Fuchs-Nordhoff, geb. Lühr- Elly Heuss-Knapp unterrichtete auch nach sen). der Heirat weiter, so in Berlin an sozialen Frau en- und Fortbildungsschulen die Fächer Bürgerkun- de und Volkswirtschaftslehre. Außerdem arbei- Elly-Heuss-Knapp-Ring tete sie ehrenamtlich als Wohlfahrtspflegerin. Bergedorf, seit 1991, benannt nach Elly Heuss- Während des Ersten Weltkrieges gründete sie in Knapp (25.1.1881 Straßburg–19.7.1952 Bonn), Heil bronn die erste Arbeits beschaffungsstelle Sozialpolitikerin, Gründerin des Müttergene- des Roten Kreuzes. 1919 ließ sie sich als Kandida- sungswerkes. Tochter des Nationalökonomen tin der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) Georg-Friedrich Knapp. Lehrerin, dann Studium zum Reichstag aufstellen. der Volkswirtschaft bei Friedrich Naumann in Ber- In den 1920-er Jahren verstärkte sich ihr In- lin. Ehefrau des Bundespräsidenten Theodor teres se an theologischen Fragen. Sie arbeitete in Heuss. Motivgruppe: Verdiente Frauen der evangelischen Gemein de von Pastor Otto Di- belius mit. Kurz nach der Geburt von Elly Knapp erlitt deren Mit der Machtüber- Mutter eine psychische Erkrankung und lebte nahme durch die Natio- seitdem in einem Sanatorium. Elly Knapp wurde nalsozi alisten wurde ihr deshalb von ihrem Vater allein großgezogen. Mann seiner Ämter ent- Nach dem Lehrerinnenexamen 1899 gründete hoben. Elly Heuss-Knapp Elly Knapp in Straßburg eine Fortschrittsschule übernahm nun das Geld - für Mädchen mit, die nur die siebenjährige verdie nen für die Familie. Volksschule besucht hatten. Ab 1905 studierte Sie wurde im Bereich Wer- sie Volkswirtschaftslehre in Freiburg und Berlin. bung tätig und hier eine Ihr politisches Vorbild war Friedrich Naumann Wegbereiterin der Schall - Elly Heuss-Knapp (siehe Ü Friedrich-Naumann-Straße, in Bd. 3 onli- platten- und Rundfunk wer - ne**). Sie hielt Vorträge zu den Themen Tarifver - bung. „Elly Heuss-Knapp träge und Mindestlöhne. gilt als Erfinderin des Jingles als akus tisches Wa- 1908 heiratete sie den damaligen Journalis- renzeichen eines Unternehmens. Diese Idee ließ ten und Mitarbeiter Friedrich Naumanns Theo- sich Heuss-Knapp patentieren und setz te sie dor Heuss (siehe Ü Theodor-Heuss-Platz, in Bd. 3 auch für andere Unternehmen und Produk te ein: online**), der später Bundespräsident wurde. etwa für Nivea, Erdal, Kaffee Hag, Blaupunkt Getraut wurde das Paar in Straßburg von Elly und Persil.“25) Heuss-Knapps Jugendfreund Albert Schweitzer Während der NS-Zeit trafen sich im Hause

(siehe Ü Albert-Schweitzer-Ring, in Bd. 3 online**). Heuss-Knapp Verfolgte und GegnerInnen des Deutsches Müttergenesungswerk Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

25) Wikipedia: Elly Heuss-Knapp: Stand 19.10.2014 Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 127

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NS-Regimes, unter ihnen z. B. auch Pastor Mar- Elsa-Bauer-Weg tin Niemöller. Alsterdorf, seit 1985, benannt nach Elsa Bauer Nach dem Abwurf der Atombombe auf Hi- (9.5.1875 Hamburg–6.3.1942 Hamburg), jüdi- roshima am 6. August 1945 entwickelte Elly sches Opfer des Nationalsozialismus. Lehrerin an Heuss-Knapp zusammen mit der Atomphysike- der Schule Curschmannstraße rin Freda Wuesthoff und anderen Frauen ein Netzwerk von Friedensgruppen. Zwischen 1945 Als rassisch Verfolgte nahm sie sich wegen der und 1949 war sie – wie ihr Mann – Mitglied des bevorstehenden Deportation das Leben. württembergisch-badischen Landtages und zwar zunächst für die DVP (Deutsche Volkspartei) und dann für die FDP. Politisch war sie im sozi- Elsa-Brändström-Straße alpolitischen Ausschuss tätig. Als ihr Mann Jenfeld, seit 1936. (Von 1936 bis 1965: Elsa- Bundespräsident wurde, legte sie ihr Landtags- Brandström-Straße. Seit 1965: Elsa-Brändström- mandat nieder und wurde Deutschlands erste Straße), benannt nach Elsa Brändström (26.3. First Lady. Gemeinsam mit ihrem Mann wirkte 1888 St. Petersburg–4.3.1948 Cambridge/Mass., sie 1949 auch an der Gründung des Deutschen USA), schwedische Wohltäterin deutscher Kriegs- Rates der Europäischen Bewegung mit, dessen gefangener, „der Engel von Sibirien“, Erfinderin Vizepräsidentin sie wurde. der „Care-Pakete“ 1950 gründete sie zusammen mit Antonie Nopitsch – mit einem Anfangskapital von 20 000 Elsa Brändström war die Tochter von Anna Wilhel- DM – das Deutsche Müttergenesungswerk (Elly- mine Brändström, geb. Eschelsson und deren Heuss-Knapp-Stiftung – Deutsches Müttergene- Ehemann, dem schwedischen Militärattaché in sungswerk). Der Ehrenname Elly Heuss-Knapps Russland, Pehr Edvard Brändström. Bis zu ihrem lautet: Mutter der Mütter. dritten Lebensjahr lebte Elsa mit ihren Eltern in Siehe auch Ü Anna-von-Gierke-Ring, in diesem St. Petersburg, dann verbrachte sie ihre weitere Band. Kindheit und Jugend in Schweden. Nach ihrem Siehe auch Ü Albert-Schweitzer-Ring, Tonndorf, Schulabschluss besuchte sie ein Lehrerinnensemi- seit 1975: Albert Schweitzer (1875–1965), nar und kam im Alter von zwanzig Jahren nach Arzt, ev. Theologe, Musiker, Kulturphilosoph. Friedenpreis des deutschen Buchhandels, 1952 St. Petersburg zurück, wo ihr Vater als schwe - Friedensnobelpreis, in Bd. 3 online**. discher Gesandter amtierte. Dort wurde Elsa in Siehe auch Ü Friedrich-Naumann-Straße, Heim- die Gesellschaft eingeführt, amüsierte sich auf feld, seit 1929: Dr. Friedrich Naumann (1860– Bällen, nahm an Reitpartien teil. „Als der Erste 1919), Mitbegründer der DDP (Deutsche Weltkrieg ausbrach, absolvierte sie gemeinsam Demokratische Partei), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, Reichstagsabgeordne- mit ihrer Freundin Ethel (…) einen Schnellkurs ter, in Bd. 3 online**. in Krankenpflege. Solche Kurse wurden damals Siehe auch Ü Theodor-Heuss-Platz, Rother- für die Damen der oberen Gesellschaft angeboten, baum, seit 1965: Theodor Heuss (1884–1963), um die Berufsschwestern zu unterstützen. Viele Bundespräsident. Bundespräsident von 1949 Frauen bekundeten hieran ihr Interesse, doch die bis 1959, in Bd. 3 online**. meisten von ihnen beließen es dabei, für einige Zeit in den Spitälern Kissen zurechtzurücken und

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 128

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Verwundeten die Stirn zu trocknen, um dann bei NSDAP mit dem Regime Schwierigkeiten. Die der nächsten Soirée davon zu berichten.“26) wohl tätige Arbeit seiner Frau hingegen wurde Doch bei Elsa Brändström und ihrer Freun- vom NS-Regime hoch gelobt, das die Popularität din war das anders. Nachdem sie 1914 als jun - Elsa Brändströms für sein Win terhilfswerk nut- ge Schwesternhelferinnen den vielen verwun- zen woll te. Doch als Elsa Brändström die Anfra - de ten deutschen Kriegsgefangenen begegnet ge Hitlers, ob sie für sein Win terhilfswerk Pro - waren, die im Nikolaihospital in Petograd unter paganda machen wolle, telegraphisch mit einem schlimms ten Bedingungen untergebracht waren entschiedenen und knappen „Nein“ beantwor- und kaum versorgt wurden – nur ein russischer tete, musste auch sie mit Repressalien rechnen. Zahnarzt war für die Gefangenen zuständig – Als das Telegramm von Hitler kam, lebte das wussten sie, sie müssen helfen. So half Elsa Ehe paar Brändström-Ulrich in ei ner Villa der Brändström unter Gefahren den Kriegsgefange- Hamburger Bankiersfamilie Warburg (siehe Ü nen in Sibirien mit Decken, Lebensmitteln und Warburgstraße, Bd. 3 online**) an der Elbe. Elsa medizinischer Versorgung. Mit Hilfe des Roten Brändström war mit den Warburgs befreundet, Kreuzes organisierte Elsa Brändström gemein- be sonders mit Anna Warburg, Eric Warburgs sam mit ihrer Freundin Hilfsgütertransporte Tante. Diese, gebürtige Schwedin und Mitbe- nach Sibirien und überwachte vor Ort in den La- gründerin des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes in gern die Austeilung der Güter. In diesen Jahren Hamburg, kannte Elsa Brändström seit Jugend- besuchte sie ca. 700 000 Kriegsgefangene – und zeiten und war ihr in den 1920-er Jahren, als wurde dafür „Engel von Sibirien“ genannt. Elsa Brändström Erziehungsprobleme in ihrem Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde ihr Kinderheim hatte, mit Rat behilflich gewesen. die Arbeit erschwert, sie erhielt keine Arbeitser- Als die Warburgs 1938 Deutschland verlas- laubnis mehr und wurde sogar 1920 in Sibirien sen mussten, weil sie als Juden in größter Ge- verhaftet. fahr waren, emigrierten sie nach Schweden, Eng - Elsa Brändström kehrte nach Schweden zu- land und in die USA. Max und Eric Warburg rück und arbeitete von dort aus. So war sie den nutzten von New York aus alle Möglichkeiten, heimkehrenden Kriegsgefangenen beim Neuan- um Verfolgten die Flucht aus Nazi-Deutschland fang behilflich. 1922 ließ sie in Marienborn in zu ermöglichen. Eric Warburgs Schwestern Anita Sach sen ein Sanatorium und bei Dresden eine und Gisela bemühten sich um die Eingliederung Einrichtung für Kinder von Kriegsge fan genen er- der Flüchtlinge in Amerika. Durch dieses Enga- richten. Von ihrer Reise 1923 nach Amerika brach- gement entstand eine intensive Zusammenarbeit te sie Spenden in nicht unerheblicher Höhe mit. mit Elsa Brändström. 1927 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Nach Elsa Brändströms „Nein“ zu Hitlers An- Uni versitäten Uppsala und Tübingen. sinnen verließ das Ehepaar Deutschland und 1929 heiratete die damals 41-Jährige den emigrier te nach Amerika. Auch dort führte Elsa Pädagogikprofessor Robert Ulrich. Sie zog zu Brändström ihre Hilfstätigkeit fort. Sie bemühte ihm nach Dresden und gebar 1932 eine Tochter. sich intensiv um Ein reise geneh migungen für po- Robert Ulrich, christ li cher Sozialist und als litisch Ver folgte aus Deutschland. Hoch schullehrer an der TU Dresden beschäftigt, Elsa Brändström erfand auch die „Care-Pa - bekam schon bald nach dem Machtantritt der kete“. Sie waren in den Hungerjahren der Nach-

** Band 3 online unter: www.ham- Pionierinnen der Naturheilkunde. burg.de/maennerstrassennamen Berlin 2014, S. 108.

26) Annette Kerckhoff: Heilende Frauen. Ärztinnen, Apothekerinnen, Krankenschwestern, Hebammen und Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 129

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kriegszeit ein Segen für tausende Hamburger Fa- in Elsa-Brandström-Weg umbenannt werden. Als milien. Begründung heißt es: „Da die Straße nahe dem Am 4. März 1948 starb Elsa Brändström an Eppendorfer Krankenhaus liegt, so erscheint die einem Krebsleiden. gewählte Bezeichnung hier geeignet.“ Die Bau- Die Benennung einer Straße nach Elsa Bränd- behörde teilte daraufhin eine Woche später dem ström hat eine lange Geschichte. Bereits 1932 Staatsamt mit, dass es bereits eine Elsa-Brand- und 1933 forderte die Reichsvereinigung ehema- ström-Straße gäbe, und schlug für die Umbe nen- liger Kriegsgefangener den Hamburger Senat auf, nung der Löwenstraße (siehe Ü Löwenstraße, in eine Straße nach Elsa Brändström zu benennen. Bd. 3 online**) den Namen Wiesinger straße vor, Da nichts geschah, wurde nach dem früheren Oberarzt Dr. Wie singer vom am 14. April 1936 ein er- Allgemeinen Krankenhaus St. Ge org.27) Die Lö- neutes Schreiben an den wenstraße wurde jedoch weder in Elsa Bränd- Senat gerichtet. Diesmal ström noch in Wiesingerstraße umbenannt. Es antwortete das Hambur - gibt sie glücklicherweise heute noch. gische Staatsamt prompt. Seit 1949 gibt es an der Kösterbergstraße 62 In seinem Schreiben vom das Elsa-Brändström-Haus. Vor dem Zweiten 23. April 1936 sicherte das Weltkrieg hatte die jüdische Bankiersfamilie War- Staatsamt der Reichsver - burg am Kösterberg zwei große Villen bewohnt, einigung zu, bei passen- die während des Zweiten Weltkriegs als Lazarett der Gelegenheit eine Stra- genutzt wurden. Elsa Brändström, 1929 ße nach Elsa Brändström Als Eric Warburg nach dem Zweiten Welt- zu benennen. Gleichzeitig krieg als US-Soldat nach Hamburg zurückkam, richtete es ein Schreiben an die Behörde für fand er die Häuser in einem baufälligen Zu- Technik und Arbeit, aus dem deutlich wird, wa- stand. Er ließ sie wieder herrichten und Kinder rum es dem Staats amt nun so dringlich wurde, dort unterbringen, die zuvor von den Alliierten eine Straße nach Elsa Brändström zu benennen: aus den Konzentrationslagern befreit worden 1937 sollte der Heldengedenktag gefeiert und waren und deren Eltern und Verwandte gesucht Elsa Brändströms Verdienste damit in den Dienst wurden. Drei Jahre später wohnten hier keine der Nationalsozialisten gestellt werden. Deshalb Kinder mehr. Die Familie Warburg entschloss erfolgte auch bald eine Straßenbenennung nach sich aber, die Häuser für soziale Arbeiten weiter- Elsa Brändström. Allerdings hatten dies wohl hin zur Verfügung zu stellen. 1949, ein Jahr nicht alle Behördenvertreter mitbekommen. Ob- nach Elsa Brändströms Tod, wurde unter dem wohl bereits eine Straße nach Elsa Brändström Vorsitz von Baronin Louise Sophie Freifrau von benannt worden war, sollte Anfang 1937 auf Knigge der Verein „Elsa-Brändström-Haus“ im Vorschlag des Ingenieurswesens und im Rah- deutschen Roten Kreuz gegründet. In den bei- men der Umbenennungen von Straßennamen, den Häusern, dem „Weißen Haus“ und dem die nach Menschen jüdischer Herkunft benannt „Roten Haus“, wurden im Laufe der Zeit ver- waren, die Löwenstraße in Hamburg-Eppendorf, schiedene Aufgaben verfolgt. So gab es hier eine die 1879 auf Antrag des jüdischen Grundeigen - Zeit lang ein Müttergenesungsheim und den Bil-

Abb.: Bundesarchiv Abb.: tümers Samuel Ephraim so benannt worden war, dungsverein an Müttern sowie Kurse zur Fort-

** Band 3 online unter: www.ham- weg. burg.de/maennerstrassennamen

27) Nach Prof. Dr. August Wiesinger ist seit 1848 bereits eine Straße in Hoheluft-West benannt: Wiesinger- Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 130

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bildung sozialpädagogischer Kräfte. Auch junge Erfolge erzielt, und habe die Ehre gehabt Mädchen wurden hier untergebracht, die einen Deutschlands-Farben wiederholt international pflegerischen Beruf erlernen wollten, dazu aber vertreten zu dürfen, Kopenhagen, Zappot, Prag noch nicht das geforderte Alter erreicht hatten etc. etc. u. a. konnte ich auch einen Ehrenpreis und so die Zeit bis zu drei Jahren mit einer all- des Reichssportführers gewinnen“.28) gemeinen theoretischen und praktischen Einfüh- Elsa Bromeis war Mitglied im 1923 gegrün- rung überbrückten. Auch wurde eine Tagungs- deten Hamburger „Alstereck Verein für Wasser- stätte des Roten Kreuzes hier installiert und sport“, ansässig in Hamburg-Fuhlsbüttel. Auf Jugendliche untergebracht und unterrichtet, die ei ner Regatta in Kopenha gen 1934 erreichte sie das freiwillige soziale Jahr absolvierten. Auch den zweiten Platz über 500 Meter im Einer-Ka - heute ist das Elsa Brändström Haus eine inter- jak. 1935 wurde Elsa Bromeis im Einer-Kajak nationale Bildungs- und Tagungsstätte und bie- schnellste Deutsche. „Zu dieser Zeit gab es noch tet u. a. das freiwillige soziale Jahr an. keine offizielle Deutsche Siehe auch Ü Löwenstraße, Hoheluft-Ost, seit Meisterschaft für Frau en. 1879: Samuel Ephraim, Grundeigentümer, in Die Rennen wurden bei Bd. 3 online**. den Sportveranstaltungen Siehe auch Ü Warburgstraße, Rotherbaum, seit der Männer mitgefahren. 1947: Max Warburg (1867–1946), Bankier, in Bd. 3. online**. Durch weitere Erfolge, wie einem Sieg bei einer in ter nationalen Regatta Elsa-Bromeis-Kanal im pol nischen Sopot (…), Wilhelmsburg, seit 2012, benannt nach Elsa Bro- die wohl heute am ehes- Elsa Bromeis meis (1.10.1914 Hamburg–1992), deutsche Kanu- ten mit einer Europameis- tin, wurde im Einer-Kajak 1934 in Kopenhagen terschaft gleichzusetzen Vize-Europameisterin, dann 1935 über 500 Meter- ist, und Siegen und Platzierungen auch im Einer-Kajak Deutsche Meisterin sowie 1949 in die- Mannschaftsboot und bedeutenden Regatten, ser Disziplin deutsche Vize-Meisterin förderte sie [Elsa Bromeis] durch ihre sport- lichen Erfolge mit die Bedeutung der Frauen im Nach der Kanutin Elsa Bromeis, verheiratete von Kanu-Rennsport. Ab 1937 wurden dann auch Staden, wurde 2012 in Hamburg-Wilhelmsburg endlich Titelkämpfe für die Damen ausgetra- ein Kanal für kleine Kanu-Touren benannt. Er gen.“29) führt durch das neu erschlossene Wohngebiet Elsa Bromeis’ schulischer und beruflicher auf dem Gelände der Bau- und Garten-Ausstel- Werdegang ist aus ihrem Lebenslauf zu ermit- lung von 2013. teln. In Hamburg besuchte sie das Emilie-Wüs- Elsa Bromeis entstammte einer Hamburger tenfeld-Lyceum, „und später die Realschule Ria Kaufmannsfamilie. Schon im Alter von fünf Jah- Wirth bis zur Obersekunda-Reife. Anschließend ren kam sie, wie sie in ihrem handschriftlichen war ich dann im Haushalt bei meinen Eltern Lebenslauf – entnommen der Akte des Rasse- tätig, besuchte ein Jahr das Konservatorium für und Siedlungshauptamtes – schreibt, „zum Sport Musik, und war dann während einer Saison zur

und habe auf allen Sportgebieten viele schöne besseren Ausbildung in den Hauswirtschaften, Brügmann Werner v.l.n.r.: e.V.VfW Abb. Privatbesitz | Alstereck Krüger, Tiemo

** Band 3 online unter: www.ham- sport e. V. 2/2013 August, S. 27. burg.de/maennerstrassennamen

28) BArch R 9361 III/197662. 29) Die Alsterecke. Vereinszeitung des Alstereck Vereins für Wasser- Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 131

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besonders im Kochen, im Ostseebad Scharbeutz Grundschule für Knaben, Lutterothstraße 78 als Haustochter tätig. Stolperstein vor dem Wohnhaus Grindelallee 152 Anschließend lernte ich Stenographie, Ma- und vor der Wirkungsstätte Schule Lutteroth- schinenschreiben etc. um auch kaufmännisch straße 78. gebildet zu sein. Als Stenotypistin habe ich dann verschiedene Stellungen inne gehabt. Von Ham- Else Rauch wurde in Lüneburg geboren und war burg wurde ich beruflich nach Berlin versetzt, das ältestes von drei Kindern von Emma Rauch, später kam ich nach München und auch heu - geb. Rosenbaum und Gustav Meyer, ein Produk- te bin ich noch als Stenotypistin bei der Steyr- tenhändler. 1890 zog die Familie nach Hamburg, Dai m ler-Puch (…) Wien, [zu dem damaligen wo der Vater als Kaufmann für Elektroartikel ar- Zeitpunkt ihrer Beschäftigung ein Rüstungskon- beitete. 1903 traten die Eltern zum evangelisch- zern] beschäftigt.30) lutherischen Glauben über. Else wurde 1904 Elsa Bromeis trat Ende 1935 der NS-Frauen- konfirmiert und gleichzeitig getauft. schaft bei. Dazu schreibt sie in ihrem Lebens- Nach dem Abschluss des Lyceums, besuch- lauf: „Im Jahre 1935 bin ich in die Frauenschaft te Else Rauch von 1911 bis 1913 das Lehrerinnen - eingetreten und wurde von hier aus als Ober- seminar und arbeitete danach als Lehrerin, so gaufachwartin in den BDM gerufen.“31) an der Volksschule Hum - Bis zum 19. Mai 1938 war Elsa Bromeis boldtstraße 78. Bis zu ih - Mit glied der NS-Frauenschaft und trat dann am rer Heirat wohnte sie in 19. Mai 1938 in die Hitlerjugend ein.32) der Wagnerstra ße 23. 1922 Nach dem Zweiten Weltkrieg, mittlerweile heiratete sie den Ingenieur verheiratet, war Elsa von Staden 1949 Deutsche Gustav Rauch. Das Paar Vize-Meisterin über 500 Meter-Einer-Kajak. lebte an der Stadthausbrü- cke 3, wo Gustav Rauch auch seine Firma be trieb. Elsastraße 1923 trat Else Rauch aus Else Rauch Barmbek-Süd, seit 1886, soll auf die Ehefrau dem Schul dienst aus, 1926 des Grundbesitzers F. H. D. Wagner zurückzu - aber wieder ein. 1928/29 wurde die kinderlose führen sein, nach dem die Wagnerstraße be - Ehe geschieden; Else Rauch ließ sich fortan wie- nannt wurde der als „Fräu lein“ ansprechen. Siehe auch Ü Wagnerstraße, Barmbek-Süd, seit Von 1926 bis zur Entlassung aus dem Schul- 1877: Hans Heinrich David Wagner (1816– 1872), Grundstücksbesitzer, in Bd. 3 online**. dienst im Jahre 1933 arbeitete sie als Lehrerin an der Grundschule für Knaben, Lutterothstraße 78 und unterrichtete in allen damals in der Unter- Else-Rauch-Platz stufe üblichen Fächern. Eimsbüttel, seit 1995, benannt nach Else Rauch, 1933 wurde Else Rauch nach Einführung des geb. Meyer (28.6.1888 Lüneburg–am 25.10.1941 „Arierparagraphen“ aus dem Schuldienst ent - deportiert nach Lodz, am 10.5.1942 deportiert ins lassen. Sie wohnte damals in einer kleinen Zwei- Vernichtungslager Chelmno, vergast), jüdisches zimmerwohnung der Grindelallee, zurückgezo- Opfer des Nationalsozialismus. Lehrerin an der gen und einsam.

** Band 3 online unter: www.ham- gliederkartei der NS-Frauenschaft, burg.de/maennerstrassennamen Bromeis, Elsa, geb. 01.10.1914.

30) BArch R 9361 III/197662. 31) Ebenda. 32) Vgl: BArch (Sammlung BDC), Mit- Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 132

132 Biographien von A bis Z / E

Am 25. Oktober 1941 wurde Else Rauch ins Durch Emilie Günthers Bemühungen erhielt Getto Lodz nach Polen deportiert. „Frau Rauch der heutige Stadtteil Lohbrügge, der durch die verließ das Haus [Grindelallee] ganz allein und Zusammenlegung der Orte Sande und Lohbrüg- ging ohne Begleitung zuerst zum Polizeirevier, ge entstanden war, seinen Namen. um den Schlüssel abzugeben, und dann zum Lo- 1917 wurde sie Witwe, und auch ihre er- genhaus an der Moorweidenstraße [Sammelplatz wachsene Tochter starb. Durch die Inflation ver- für die Deportationen]. Niemand in ihrem Haus lor Emilie Günther ihr Vermögen. fühlte sich stark genug, um sie zu verabschieden. Das mag für Else Rauch besonders bitter ge we - Emilienstraße sen sein“, schreibt ihr ehemaliger Schüler Arthur Eimsbüttel, seit 1865, benannt nach Emilie Torn- Riegel, der ein Buch über Else Rauch verfasste. quist (19.11.1846 Hamburg–25.11.1905 Bre men), Von dort wurde sie am 10. Mai 1942 ins Ver- Tochter von Alexander Bentalon Tornquist (sie- nichtungslager Chelmno transportiert und ver- he Ü Tornquiststraße, in Bd. 3 online**). Besitzer gast.33) des Geländes Siehe auch Ü Charlottenstraße, Henrietten- straße, Henriettenweg, in diesem Band. Emilie-Günther-Weg Siehe auch Ü Maxstraße, Eilbek, seit 1867: Bergedorf/Lohbrügge, seit 1942, benannt nach nach dem Sohn des Grundeigentümers Alexan- Emilie Günther, geb. Siemers (1.2.1870 Loh- der B. Tornquist, in Bd. 3 online**. brügge–10.2.1942, Heimatschriftstellerin Siehe auch Ü Tornquiststraße, Eimsbüttel, seit 1868: Alexander Bentalon Tornquist (1813– 1889), Großgrundbesitzer, Grundstückbesitzer, Geboren wurde Emilie Siemers als Tochter der al- in Bd. 3 online**. teingesessenen Lohbrügger Bauernfamilie Sie- mers. 1892 heiratete sie den Ziegeleibesitzer Her - Emmastraße mann Günther aus Havighorst. Er unterstützte Stellingen, seit vor 1915, benannt nach Emma die schriftstellerische Arbeit seiner Frau und ließ Wieck. Tochter des damaligen Grundeigentümers ihre in platt- und hochdeutscher Sprache ver- und Erbauers Johann Ad. Wieck fassten Gedichte drucken. Zudem erschienen heimatliche Forschungsartikel, Erzählungen und Gedichte in der Oldesloer und Bergedorfer Zei- Emmy-Beckmann-Weg tung und im plattdeutschen Blatt „De Eckboom“. Niendorf, seit 1980, benannt nach Emmy Beck- Für Veranstaltungen des Vaterländischen Frau- mann (12.4.1880 Wandsbek–24.12.1967 Ham- envereins und für das Rote Kreuz verfasste Emi- burg), Hamburgs erste Oberschulrätin, Bürger- lie Günther Märchenspiele. Ihr Weihnachtsmär- schaftsmitglied vor und nach dem Zweiten chen „Die beiden Schneiderlein“ wurde sogar Weltkrieg (DDP und FDP), maßgeblich an der im Hamburger Operettenhaus aufgeführt. Auch bürgerlichen Frauenbewegung beteiligt der Rundfunk sendete einige ihrer Märchen. Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit Ohlsdorfer Friedhof. Auf ihm ist auch der Name malte Emilie Günther. Anregungen dazu holte ihrer Schwester verewigt. Der Grabstein ihres sie sich auf Reisen im In- und Ausland. Bruders liegt vor dem Garten der Frauen.

** Band 3 online unter: www.ham- S. 23. burg.de/maennerstrassennamen

33) Arthur Riegel: Else Rauch. Das Schicksal einer Hamburger Lehrerin und ihrer Familie. Hamburg 1995, Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 133

Biographien von A bis Z / E 133

Neben ihrer Zwillingsschwester Hanna hatte Beckmann kennen lernte, bereits seit 1890 mit Emmy Beckmann noch einen Bruder, der später als Anna, geb. Warft, verheiratet. Das hielt Frenssen Pastor arbeitete. Ihre Mutter starb nach der Geburt jedoch nicht davon ab, mehr mit Emmy Beck- der Zwillinge am Kindbettfieber. Der Vater ging mann „im Sinn“ zu haben, wie Helmut Stubbe eine neue Ehe ein, zu den drei Kindern kamen im da Luz in seinem Aufsatz über Emmy Beck- Laufe der Zeit noch vier Geschwister hinzu. mann schreibt. „Ein Jahr lang diskutierten er Trotz zweier Dienstmädchen mussten die und Emmy Beckmann (…), ob es moralisch ver- Zwillingsschwestern im Haushalt stark mithel- tretbar sei (…), daß ein ‚edles Weib‘ sich ‚ihrem fen und die jüngeren Geschwister hüten. In die Helden‘ hingebe, wobei Frenssen darauf brann- Berufslaufbahn der drei Geschwister aus erster te, die Rolle dieses Helden zu übernehmen und Ehe griff der Vater allerdings nicht ein. Die leib- auch Wendungen genug fand, den beabsichtig- liche Mutter hatte für den Zweck der Ausbildung ten Ehebruch (einem von vielen, wie er 1941 in und Bildung der beiden Mädchen eine Erbschaft seinem Lebensbericht angegeben hat) in schön- hinterlassen. Nach dem dreijährigen Besuch des stem Licht erscheinen zu lassen: ‚Wenn ‚dieser Seminars der Klosterschule in Hamburg bestand Held‘ in das Leben eines Weibes nicht hinein- Emmy Beckmann im Jahre 1900 das Examen für tritt, so wird sie mit Recht meinen, daß es ihr die Lehrbefähigung an mittleren und höheren Schicksal ist, ohne Liebe durchs Leben zu ge- Schulen. Danach arbeitete sie fast drei Jahre hen. Wenn er aber kommt und bittet sie um Lie- lang als Erzieherin in England. Nach einem drei- be (…), so soll sie ihm ihre Liebe geben (…). Es monatigen Studienaufenthalt in Paris wurde sie ist wahr, daß sie [die Frau, wenn sie Liebe gibt] 1903 Lehrerin an der Töchterschule in Husum. sich auch Leid und Not schafft; aber ich bin der Ihr Bruder arbeitete damals als zweiter Pastor Meinung, daß diese Not für die Seele fruchtbar der Gemeinde Hennstedt bei Heide. ist, während die Not lebenslänglicher Jungfern- In dieser Zeit lernte Emmy Beckmann „durch schaft nach dem, was wir sehen, auf die Wei- eine kritische Auseinandersetzung mit Peter berseele verdorrend wirkt.‘ (…) Frenssen hoffte Moors ‚Fahrt nach Südwest‘, in der es unter an- ganz allgemein, daß die gebildeten, berufstäti- derem um die Frage geht, wie sich Kolonialpoli- gen Frauen, denen die Gesellschaft (…) formal tik und Glaube ans Evangelium vertragen oder oder informell den Ehestand bis zur Unmöglich- nicht vertragen können“,34) den Schriftsteller keit erschwerte, sich gegen diese ‚Unnatürlich- und ehemaligen Pastor Gustav Frenssen (1863– keit und Ungesundheit und ungeheure Unge- 1945) kennen. Nach ihm, der lange Zeit in Blan- rechtigkeit‘ wenden und ‚sich ein Liebesglück kenese gelebt hatte, wurde dort nach seinem außerhalb der Ehe suchen‘ würden. Die ‚Lehre- Tod eine Straße benannt. In den 1980-er Jahren rinnen, Künstlerinnen, Krankenschwestern‘ hät- wurde die Straße wegen Frenssens nationalso- ten dafür nach Frenssens abstruser Erwartung zialistischer Nähe umbenannt. (Siehe dazu in auch bald weitgehende Billigung erwarten dür- Band 1 im Kapitel: Über den Umgang mit der na- fen, ‚weil damit die Schweinerei der Prostitution tionalsozialistischen Vergangenheit.) so ziemlich abgeschafft sein‘ würde.“36) Frenssen, der als Gegenpol seiner schrift- Bei Emmy Beckmann sah Frenssen die „Ge- stellerischen Arbeit „(…) das Spiel mit einem ge - fahr, ihr ‚Schönstes und Bestes als Schuld‘ an- sunden jungen Weib“35) liebte, war, als er Emmy zusehen und ‚darüber zum Krüppel‘ zu werden.

34) Kay Dohnke, Dietrich Stein O., S. 37. (Hrsg.): Gustav Frenssen in seiner 36) Helmut Stubbe-da Luz: Emmy Zeit. Von der Massenliteratur im Beckmann, Hamburgs einflussreich- Kaiserreich zur Massenideologie im ste Frauenrechtlerin, in: Zeitschrift NS-Staat. Heide 1997, S. 44. des Vereins für Hamburgische Ge- 35) Kay Dohnke, Dietrich Stein, a. a. schichte 73, 1987, S. 105f. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 134

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Diese mag ihrerseits in dem Dichter (…) jenen Beckmann wurde deren stellvertretende Direk- Typus des ‚ewigen‘ Mannes erblickt haben, den torin. 1924 ging sie als Studienrätin an eine der sie fast zwei Jahrzehnte später unter freilich fast neu eingerichteten Aufbauschulen für begabte ausschließlich politischem Aspekt geißeln sollte Volksschülerinnen. Zwei Jahre später berief sie (…). ‚Der ‚ewige Mann‘ ist unbeirrbar eitel auf das Kollegium der staatlichen Oberrealschule seine Überlegenheit als Mann, unbelehrbar Hansastraße, der späteren Helene-Lange-Schule, durch eigenes Fiasko und skrupellos in der Be- zur Schulleiterin. Dort führte Emmy Beckmann hauptung seiner Machtstellung‘“.37) die Schülerselbstverwaltung ein und sorgte da- Frenssen stellte auch pubertierenden Mäd- für, dass die Schule 1927 in Helene-Lange-Ober- chen nach, weil er meinte, sich einer so genann- realschule umbenannt wurde. Im selben Jahr ten ‚Jungmädchennot‘ annehmen zu müssen. Er wurde Emmy Beckmann Hamburgs erste Ober- fragte sie nach ihren Vorstellungen von Liebe und schulrätin. Ihre Nachfolgerin an der Oberreal- Sexualität aus, ohne dabei auf ihre meist scham- schule wurde ihre Schwester Hanna, mit der sie haften Gefühle Rücksicht zu nehmen. Derartige zusammen in der Oberstraße 68 lebte. „Beschäftigungen“ mit jungen Mädchen dienen Die Kontakte zu Frenssen waren in der Zeit oft der Befriedigung männlicher sexueller Lust immer seltener geworden, nicht nur wegen Zeit- und werden von jungen Frauen als sexuelle Über- mangels, sondern auch, weil ihre politischen griffe empfunden, über die sie aber oft schweigen. Meinungen und Wege auseinandergingen. 1906 ging Emmy Beckmann nach Göttingen 1933 wurden Emmy Beckmann und ihre und Heidelberg und studierte sieben Semester Schwester Hanna wegen „nationaler Unzuver- Geschichte, Englisch und Philosophie. Gustav lässigkeit“ von den Nationalsozialisten vorzeitig Frenssen, der nun doch gemerkt hatte, dass Em - pensioniert. Die Schwestern zogen sich in die my Beckmann mit ihm keine sexuelle Beziehung innere Emigration zurück. wünschte, stellte 1907 resigniert fest: „,Ich sehe, „Den alternden Frenssen des Dritten Reiches, daß da nichts zu machen ist (…). Es sind ver- der sich nun selbst als Vorläufer des Nationalso - schiedene Geister in uns. (…) Sie sind mehr Kul- zia lismus ausgab, überging die zwangs pensio nier - tur, ich mehr wilde Natur (…).‘“38) te Emmy Beckmann forthin mit Schweigen.“39) 1909 machte Emmy Beckmann Examen. Nach 1945 setzte die Schulbehörde Emmy Von Ostern 1910 bis Ostern 1912 arbeitete sie als Beckmann wieder in ihrem Amt als Oberschul- Oberlehrerin an der Privatschule von Fräulein rätin mit dem Ressort Mädchenschulwesen ein. Schneider und dann bis Ostern 1914 an der Schu - Dort blieb sie, obwohl sie eigentlich nur bis 1948 le des Paulsenstifts (siehe zum Paulsenstift auch Ü arbeiten wollte, bis 1949 tätig. Für ihre Verdien- Wohlwillstraße, in diesem Band) als Vertretung ste in der Frauen- und Mädchenbildung erhielt einer studierenden Lehrerin. 1914 bewarb sie sie 1953 als erste Hamburgerin das Große Bun - sich an der privaten Hamburger Gewerbeschule desverdienstkreuz, und 1955 verlieh ihr der Senat für Mädchen. Sie erhielt eine Anstellung und den Professorentitel. 1961 erhielt Emmy Beck- blieb dort bis 1924. mann als erste Frau vom Hamburger Senat die Zwei Jahre vor Emmy Beckmanns Ausschei- Bürgermeister-Stolten-Medaille. den, 1922, wurde die Schule verstaatlicht, erhielt Einen Teil ihrer Lebenszeit hatte sich Emmy den Namen Schule für Frauenberufe, und Emmy Beckmann stets auch der Literatur gewidmet. So

37) Helmut Stubbe-da Luz, a. a. O., S. 106. 38) Helmut Stubbe-da Luz, a. a. O., S. 107. 39) Helmut Stubbe-da Luz, a. a. O., S. 110. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 135

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war sie von ca. 1914 bis in die 1950-er Jahre Mit- schrift der bürgerlichen Frauenbewegung „Die glied literarisch-philosophischer Kreise, in denen Frau“. Zudem verfasste sie Broschüren, und zwi - sie auch Vorträge hielt. Zudem trat sie vor allem schen 1926 und 1936 gab sie zusammen mit in den 1920-er Jahren mit der Veröffentlichung Irma Stoß die Reihe „Quellen hefte zum Frauenle- von Aufsätzen und Literaturkritiken hervor. Meis - ben in der Geschichte“ (26 Bände) heraus. 1955 tens schrieb sie über Dichter, die die Themen setzte sie die Arbeit auf diesem Gebiet fort und Krieg, Niederlage und Revolution behandelten. gab, zusammen mit der Vor sitzenden der Ar beits - Ihre ersten Berührungspunkte mit der bür- gemeinschaft für Mäd chen- und Frauenbildung, gerlichen Frauenbewegung hatte sie 1906 in Dr. Elisabeth Kardel, die „Quellen zur Geschichte Göttingen in den von ihr besuchten Oberlehre- der Frauenbewegung“ heraus, die vornehmlich rinnenseminaren. 1914 gründete sie in Hamburg für Schulen gedacht waren. 1956 und 1957 ver- den Verband der akademisch gebildeten Lehre- öffentlichte sie die Briefsammlungen von Ger- rinnen mit und wurde bald dessen Vorsitzende. trud Bäumer (siehe Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, in die- Auch war sie 1915 Gründungsmitglied des Stadt- sem Band). bundes Hamburgischer Frauenvereine, dessen 1945 bildete Emmy Beckmann u. a. auch stellvertretende Vorsitzende sie bis 1918 und in mit Olga Essig den Frauen aus schuss. 1946 ge- dessen Vorstand sie bis 1933 war. hörte sie zu den Mitbegründerinnen des Ham - Ihre pädagogischen Fähigkeiten stellte sie bur ger Frauenringes, in dem sie bis 1952 im Vor- der Frauenbewegung durch stundenweisen Un- stand tätig war. 1947 war sie an der Bildung der terricht an der Sozialen Frauenschule zur Verfü- Ar beits ge mein schaft für Mäd chen bildung be- gung. teiligt. 1948 grün dete sie Außerdem war sie in der 1912 gegründeten den Ham burger Akademi- Vereinigung für Frauenstimmrecht aktiv, der es kerinnenbund mit. Von in erster Linie um die Gleichstellung von Frau 1949 bis 1952 leitete sie und Mann im vorgegebenen Wahlrecht ging. Die den Deutschen Akademi- Forderung nach Einführung des allgemeinen und kerinnenbund. gleichen Wahlrechts stand erst an nächster Stelle. Ihren politischen Weg Emmy Beckmann wurde Helene Langes (sie- schlug Emmy Beckmann he Ü Helene-Lange-Straße, in diesem Band) Nach- wohl erst ein, nachdem sie folgerin als Bundesvorsitzende des Allgemeinen in der bürgerlichen Frau- Deutschen Lehrerinnenvereins. Dieser Verband enbewegung führende Po - Emmy Beckmann forderte neben dem gleichberechtigten Zugang sitionen errungen hatte. von Mädchen zu allen Bildungseinrichtungen Durch ihren Bruder lernte sie die Schriften des auch die gesonderte Mädchenschule, denn er Liberalen Friedrich Naumann (siehe Ü Friedrich- war der Überzeugung, dass nur in gesonderten Naumann-Straße, in Bd. 3 online**) kennen. 1914 Mädchenschulen dem „spezifischen Wesen der besuchte sie eine Veranstaltung der Hamburger Frau“ Rechnung getragen werden könne. 1933 Vereinigten Liberalen, und 1918 nahm sie an löste sich der ADLV auf. einer außerordentlichen Mitgliederversammlung Emmy Beckmann schrieb weit über 100 Zei- der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) teil. Als

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: tungs- und Zeitschriftenartikel, u. a. für die Zeit- Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei

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(DDP) wurde sie 1921 in die Hamburgische Bür- Gustav Frenssen auch Ü Anna-Hollmann-Weg, gerschaft gewählt. Dort war sie hauptsächlich Anne-Frank-Straße in diesem Band. für Schul- und Bildungsfragen zuständig. Sie Siehe auch Ü Babendiekstraße, Guldtweg, Jörn- Uhl-Weg, in Bd. 3 online**. wehrte sich auch gegen die Kampagne gegen Siehe auch Friedrich-Naumann-Straße, Heim- das Doppelverdienertum, die forderte, dass Be- Ü feld, seit 1929: Dr. Friedrich Naumann (1860– amtinnen nach der Hochzeit ihre Stellung kün- 1919), Mitbegründer der DDP, Mitglied der digen sollten. Von verheirateten Beamten, wenn Weimarer Nationalversammlung, Reichstag- deren Ehefrauen einen gut besoldeten Posten im sabgeordneter, in Bd. 3 online**. öffentlichen Dienst hatten, wurde dies nicht ver- langt. Erika-Etter-Kehre Emmy Beckmann erreichte sogar, dass in Bergedorf, seit 1985, benannt nach Erika Ilse Hamburg eine Widerspruchskommission zur Etter, geb. Schulz (22.9.1922 Hamburg–erschla- Prüfung von Härtefällen eingerichtet wurde. gen am 23.4.1945 im KZ Neuengamme), Wider- Außerdem sprach sie sich für Frauen in leiten- standskämpferin. Mitglied der Widerstands- den Positionen aus und forderte, dass analog zu gruppe Etter-Rose-Hampel Männern auch Frauen im gleichen Maße verbe- Stolpersteine vor dem Wohnhaus Alsterdorfer amtet werden sollten. Bis 1932 stieg sie inner- Straße 40. halb ihrer Bürgerschaftsfraktion auf den zweiten Platz. Nach 1933 saß Emmy Beckmann nicht Während des Zweiten Weltkrieges gehörte Erika mehr in der Bürgerschaft. 1949 nahm sie ihre Etter, die Hausfrau aus der Alsterdorfer Straße 40, Tätigkeit aber wieder auf, diesmal für die FDP. mit ihrem Mann Werner Etter einer Hamburger Als 1952 über die einzelnen Abschnitte der Widerstandsorganisation an, die nach Kriegs- neuen Hamburger Verfassung abgestimmt wurde, ende als Gruppe Etter-Rose-Hampel bezeichnet beantragte Emmy Beckmann, den Artikel 33 um wurde (Etter: Werner Etter; Rose: Elisabeth (Lies- den Satz „Dem Senat müssen Frauen angehören“ beth) Rose; Hampel: Ernst Hampel). zu erweitern. Damit forderte sie schon damals „Erika Schulz entstammte einer sozialde- das, was später mit der Frauenquote erreicht wer- mokratischen Familie aus Barmbek, der Vater den sollte. Diese Forderung löste jedoch damals Adolf war Tischler, die Mutter Charlotte Haus- nur „allgemeine Heiterkeit“ im hauptsächlich frau. Erika besuchte die Versuchsschule Tieloh männlich besetzten Parlament aus. und die Mädchenschule Langenfort und war 1957 schied Emmy Beckmann aus Alters- Mitglied im Sportverein USC Paloma. Nach dem gründen aus der Bürgerschaft aus. Ihre Bitte, als hauswirtschaftlichen ‚Pflichtjahr‘ absolvierte sie Politikerin ihre Nachfolgerin bestimmen zu dür- eine Lehre als Verkäuferin. Beim Sport lernte sie fen, wurde von der FDP-Bürgerschaftsfraktion den neun Jahre älteren Orthopädie-Mechaniker ig noriert. Werner Etter kennen und lieben. Dieser gehörte Siehe auch Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, Helene- nach 1933 zur illegalen Leitung des KJVD-Unter- Lange-Straße, in diesem Band. bezirks Uhlenhorst-Winterhude und wurde des- Siehe auch zur Person Gustav Frenssens in halb 1935 zu zwei Jahren Haft verurteilt. Bd. 1. im Kapitel: Der Umgang mit der natio- Erika Schulz und Werner Etter heirateten im nalsozialistischen Vergangenheit. Siehe zu September 1941 und zogen in die Alsterdorfer

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Straße 40. Gemeinsam arbeiteten sie in der Wi- klage in Haft. Als Hamburg kurz vor der Über- derstandgruppe ‚Etter-Rose-Hampel‘ gegen die gabe an die Engländer stand, wurde ihr ihre Ver- Nationalsozialisten. legung angekündigt und sie glaubte an ihre bal- Nach der Bombardierung Hamburgs 1943 dige Freilassung. Tatsächlich stand sie mit 12 verließ Erika Etter die Stadt und brachte am weiteren Frauen und 58 Männern auf einer Liste 8. März 1944 im Mütterheim Wittenburg ihren von Häftlingen, die noch vor der Kapitulation Sohn Jan zur Welt, am gleichen Tag erhielt sie exekutiert werden sollten. Sie wurde mit ihren auch Besuch von ihrer Mutter und Werner Etter. Leidensgefährten nach Neuengamme gebracht. Ebenfalls am 8. März wurde in Hamburg ihr Über das, was dort folgte schreibt Gertrud Meyer: Vater verhaftet und nach Fuhlsbüttel gebracht. ‚Aus den Aussagen von Beteiligten geht folgen- Am 21. März 1944 wurden ihre Mutter und ihr des hervor: Die Morde fanden in den Nächten Ehemann inhaftiert. zwischen dem 21. und 24. April 1945 statt. Die Erika Etter kehrte da - Frauen waren die ersten Opfer. Sie mussten sich raufhin nach Hamburg zu- völlig entkleiden. Dann wurden sie in zwei Grup- rück und erfuhr, dass man pen, je sechs nebeneinander, gehängt. Erika Etter, ihren Eltern und ihrem die jüngste, war noch übriggeblieben, da für sie Mann vorwarf, den (ehe- kein Haken mehr frei war. [Es gelang ihr zu- mals zur Gruppe um Wer- nächst, sich unter einer Bank zu verstecken.] ner Etter gehörigen und Die Männer wußten, was ihnen bevorstand. jetzt zu Spitzeldiensten er - Sie verbarrikadierten die Bunkertüren und setz- pressten) Wehrmachtsde- ten sich zur Wehr, als die Türen gewaltsam von Erika Etter serteur Herbert Lübbers der SS geöffnet wurden. [...] Die SS warf schließ- beherbergt zu haben. In lich Handgranaten durch die Bunkerfenster [...]. den letzten Märztagen wurden auch ihr Bruder Dann fand man Erika Etter, deren Fuß unter Erich Schulz und seine Verlobte Lotte Becher fest - Mauerstücken hervorragte. Man zerrte sie her- genommen. Erika Etter war nun jedes mensch - aus. Erika Etter lebte noch. Mit einem Steinbro- lichen und wohl auch materiellen Rückhalts be- cken wurde sie erschlagen.‘ raubt. Als ihr erst wenige Wochen altes Kind an Nach dem Krieg wurde die Urne mit der Diphterie erkrankte, schrieb sie einen Brief an Asche Erika Etters im Ehrenhain der Wider- die Gestapo, und bat um Haftunterbrechung für standskämpfer auf dem Ohlsdorfer Friedhof bei- ihren Mann. Das Kind starb am 7. Mai 1944, gesetzt. ohne dass sein Vater es noch einmal gesehen Werner Etter wurde in Hamburg geboren. hatte. Sein Vater fiel 1915 in Frankreich, die Mutter zog Am 17. Mai suchte Erika Etter das Ziviljus- ihn und seinen Bruder Ewald allein auf. Er er- tizgebäude auf, um sich für ihre Verwandten zu lernte den Beruf des Orthopädie-Mechanikers, verwenden. Dort traf sie zufällig auf den Verrä- schloss sich dem Kommunistischen Jugendver- ter Lübbers und fuhr ihn unbedacht an: ‚Du hast band Deutschland (KJVD) an und wurde in Ar- meine Familie auf dem Gewissen!‘ Sie wurde auf beitersportvereinen aktiv. Nach 1933 leitete er der Stelle festgenommen und nach Fuhlsbüttel zusammen mit Werner Stender den illegalen

Abb.: Gedenkstätte Ernst Thälmann Gedenkstätte Ernst Abb.: gebracht. Sie blieb ohne Prozess und ohne An- KJVD-Unterbezirk Uhlenhorst-Winterhude. Er Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 138

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wurde deshalb am 16. Juni 1934 verhaftet und und Lisbeth Rose endete für alle Angeklagten im Januar 1935 zu zwei Jahren Haft verurteilt, mit dem Todesurteil. Am 19. Februar 1945 wur- die er im Jugendgefängnis auf Hahnöfersand de Werner Etter im Zuchthaus Brandenburg- absaß. Nach seiner Entlassung nahm er wieder Görden enthauptet.“40) Kontakt zu seinen Freunden auf, u. a. Willy Text: Ulrike Sparr, entnommen aus der Datenbank: Haase, Max Kristeller, Ernst Hampel, Lisbeth www.stolpersteine-hamburg.de Rose (‚Gruppe Etter-Rose-Hampel‘). Man traf Siehe auch Ü Annemarie-Ladewig-Kehre, Erna- Behling-Kehre, Hanne-Mertens-Weg, Helene- sich im Sportclub USC Paloma oder auf Wande- Heyckendorf-Kehre, Liesbeth-Rose-Stieg, Mar- rungen. In dieser Zeit lernte er auch seine spä- garete-Mrosek-Bogen, Margit-Zinke-Straße, tere Frau Erika Schulz kennen. Überlebende der Wilhelmine-Hundert-Weg, in diesem Band. Gruppe beschrieben ihn später als frohe, starke Persönlichkeit mit klaren politischen Vorstellun- Erika-Mann-Bogen gen und Führungsqualitäten. Die Gruppenmit- Barmbek-Süd, seit 2006, benannt nach Erika glieder schulten sich politisch und entwickelten Mann (9.11.1905 München–27.8.1969 Zürich), Strategien, wie mit Einberufungen zum Kriegs- erste Tochter des Schriftstellers Thomas Mann, dienst umzugehen sei: ‚Wenn sich ‚Soldatsein’ dessen Nachlassverwalterin und Biographin; nicht mehr vermeiden lässt, ist die Truppe unser selbst ebenfalls Schriftstellerin, aber auch Jour- politischer Arbeitsplatz.‘ Ziel der Gruppe war nalistin und Korrespondentin, Rallyefahrerin, eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges Schauspielerin und Kabarettistin; Verfolgte des und der Sturz des Hitler-Regimes. Nationalsozialismus Im September 1941 heirateten Werner Etter und Erika Schulz. Sie bezogen eine Wohnung in Erika Julia Hedwig Mann war die älteste Tochter des der Alsterdorfer Straße 40. Werner wurde im Fe- Schriftstellers Thomas Mann (siehe Ü Thomas- bruar 1943 als Sanitäter zur Wehrmacht einbe- Mann-Straße, in Bd. 3 online**) und dessen Frau rufen, aber bald wieder freigestellt, weil er in Katia, geb. Pringsheim. seinem Zivilberuf als Prothesenbauer gebraucht Erika Mann war „das Allroundtalent der Fa- wurde. Er unterstützte seine Schwiegereltern, milie [Mann]: Schriftstellerin, Journalistin, Schau- als diese Erwin Ebhardt, ein Mitglied der Gruppe spielerin, Kinderbuchautorin und politische Red- Bästlein-Jakob-Abshagen, versteckten und ah- nerin – eine eigenständige Figur, deren Talente nungslos den von der Gestapo ‚umgedrehten‘ auch ohne Protektion des Vaters ausgereicht hät- Herbert Lübbers aufnahmen. Am 21. März 1944, ten, Karriere zu machen, wenngleich Erika Mann kurz nach der Geburt seines Sohnes (8. März) auch nie ganz darauf verzichten wollte, seinen wurde Werner Etter aufgrund von Lübbers’ De- Namen für ihre Zwecke zu nutzen. (…) Erika nunziation gemeinsam mit Willy Haase und sei- Mann war der eigentliche Dreh- und Angelpunkt ner Schwiegermutter Charlotte Schulz festge- der Familie, der Motor, der die Firma Mann am nommen und ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel Laufen hielt.“41) eingeliefert. Am 31. Mai 1944 wurde er ins KZ 1919 gründete sie mit ihrem Lieblingsbruder Neuengamme überstellt, im Dezember 1944 be- Klaus Mann eine Kindertheaterbühne, den „Lai- fand er sich im Landgerichtsgefängnis Potsdam. enbund deutscher Mimiker“. Nach dem Abitur Der Prozess gegen Werner Etter, Ernst Hampel 1924 begann sie eine Ausbildung zur Schauspie-

** Band 3 online unter: www.ham- Frauen, Hamburg 1997, S. 309f.; Her- 2005; Ursel Hochmuth u. Gertrud burg.de/maennerstrassennamen bert Diercks: Gedenkbuch Kola-Fu, Meyer: Streiflichter aus dem Hambur- Hamburg, 1987; Ursel Hochmuth: Nie- ger Widerstand 1933–1945 Frankfurt 40) Quellen zum Text: AfW (Amt für mand und nichts wird vergessen, Bio- 1980, S. 422ff.; Gertrud Meyer: Nacht Wiedergutmachung) 220184; Rita gramme und Brie fe Hamburger Wider- über Hamburg, Berichte und Doku- Bake u. Brita Reimers: Stadt der toten standskämpfer 1933–1945, Hamburg mente 1933–1945, Frankfurt 1971, Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 139

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lerin in Berlin. Nach ihren ersten Engagements übernahme durch die Nationalsozialisten verbo- spielte sie 1925 in Hamburg in Klaus Manns ten wurde. Stück „Anja und Esther“ an den Kammerspielen Im März 1933 flüchtete Erika Mann mit ei - mit. Dabei lernte sie, die Frauen und Männer nem Teil ihrer Familie in die Schweiz. Von dort liebte, den Schauspieler Gustav Gründgens (sie- machte sie die „Pfeffermühle“, die ihren Spiel- he Ü Gründgensstraße, in Bd. 3 online**) kennen. betrieb im September 1933 in Zürich wie der auf- In Juli 1926 heirateten die beiden, obwohl sie nahm, zum wichtigsten deutschsprachigen Exil- wussten, dass ihre Ehe nicht von Dauer sein kabarett. würde. Erika Mann, die zu Gründgens nach 1935 wurde ihr als der „geistigen Urhe- Hamburg zog, behielt inoffiziell ihren Geburts- berin“ der „deutschfeindlichen Pfeffermühle“ namen Mann weiter. die deutsche Staatsange- 1927/28 gingen die Geschwister Klaus und hörigkeit aberkannt. Um Erika Mann als „Literary Mann Twins“ auf eine einen englischen Pass zu neunmonatige Welttournee. Als sie nach Deutsch - bekommen, heiratete sie land zurückkehrten, trennten sich 1928 Erika 1935 den homosexuellen Mann und Gründgens. Anfang 1929 ließen sie Dichter Wystan H. Auden sich scheiden. (Siehe zur Ehe von Erika Mann (1907–1973). und Gustav Gründgens bei Ü Gründgensstraße, in 1936 emigrierte sie in Bd. 3 online**.) die USA. Dort ging sie bis Erika und Klaus Mann gehörten vor 1933 zu Ende des Zweiten Welt- den enfants terribles der Münchener Künstlersze - krieges auf viele Vortrags- Erika Mann ne. 1930 lernte Erika Mann Annemarie Schwar- reisen, um über das Hit- zenbach kennen, die sich in Erika verliebte. Die ler-Regime aufzuklären. Zu diesem Zweck ver- Liebe blieb unerwidert. öffentlichte sie 1938 ihre Dokumentation über 1931 gewann Erika Mann, die eine begei- das NS-Erziehungswesen: „School for Barbarians. sterte Autofahrerin war, eine Rallye durch Eu- Education under the Nazis“ und 1940 „Wah re ropa. Geschichten aus dem dritten Reich: the lights go 1932 beteiligte sie sich an einer von der down“. „Internationalen Liga für Frieden und Freiheit“ Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges war organisierten pazifistischen Veranstaltung. Im Erika Mann als Kriegsberichterstatterin für ame- Juni desselben Jahres verhinderten Nationalso- rikanische Zeitungen tä tig. Unter persönlicher zialisten Erika Manns Auftreten bei den „Wei- Ge fahr fuhr sie immer wieder nach Europa, so ßenburger Festspielen“, indem sie die Veran- 1938 nach Spanien, um über den Bürgerkrieg zu stalter unter Druck setzten. Es folgten weitere berichten. Auch rief sie in Sendungen der Lon- massive Angriffe, so dass dies das Ende der The- doner BBC zum Widerstand gegen das Hitler-Re- aterlaufbahn von Erika Mann bedeutete. gime auf. Anfang 1933 gründete Erika Mann mit The- Ab 1937 lebte Erika Mann einige Jahre mit rese Giehse (siehe Ü Therese-Giehse-Bogen, in die- dem Schauspieler Martin Gumpert (1897–1955) sem Band) das literarisch-politische Kabarett „Die zusammen und unterzog sich im selben Jahr

Abb.: bpk 10008564 Abb.: Pfeffermühle“, das allerdings mit der Macht- einem Schwangerschaftsabbruch.

S. 106; Totenliste Hamburger Wider- Philosophischen Fakultäten der Al- standskämpfer und Verfolgter 1933– bert-Ludwigs-Universität zu Freiburg 1945, Hamburg 1968. i. Br. 2003, S. 6. 41) Anja Maria Dohrmann: Erika Mann – Einblicke in ihr Leben. Diss. ** Band 3 online unter: www.ham- zur Erlangung der Doktorwürde der burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 140

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In den 1940-er Jahren verliebte sich Erika Namen auf humanistischer Ebene – (…) an die Mann in den dreißig Jahre älteren Dirigenten Regierungen und Völker der Erde (richten soll- Bruno Walter, zeitweilig hatte sie eine lesbische ten). (…) Ein Stück Prosa, so kurz wie eindring- Beziehung zu Betty Knox, die wie Erika Mann lich, war zu entwerfen – mit dem Ziel, den Ein- Kriegskorrespondentin war. zelnen, die vielen Millionen von Einzelnen, die Die Zeit von 1933 bis 1943, dem „,kritischs- der Ruf erreichte, nicht nur zu warnen vor der ten Zeitraum der modernen Geschichte‘“ war finalen Gefahr (gewarnt wa ren sie längst), son- „ihr eigenes stärkstes Jahrzehnt, in dem sie das dern sie zur Stellungnahme, zur Tat zu bestim- meiste erreicht hat: Kabarett, Reden, persönli- men, auf Grund der Verantwortung, die wir alle cher Einsatz in Kriegsgebieten, gefährliche Reisen tragen und zu deren Unabdingbarkeit das Mani- nach London, um für die BBC zu sprechen“.42) fest sich bekennen sollte.‘ 1945/46 berichtete Erika Mann als einzige Um die notwendigen Vorbereitungen zu tref- Frau über die Nürnberger Kriegsverbrecherpro- fen, war Erika Mann noch im Juli 1955 nach zesse. Ab 1947 wurde sie die engste Mitarbeite- London geflogen. Dass über die Gefahren des rin ihres Vaters, der mit seiner Frau und der Atomkrieges endlich auch von intellektueller Tochter Elisabeth 1938 in die USA emigriert war. Seite ein klares Wort fallen müsse, darin bestand Schon in Amerika war Erika Mann seine Dol- Einigkeit zwischen allen, die sich dem Komitee metscherin gewesen. Sie redigierte seine Texte, anzuschließen bereit waren. Doch man musste organisierte seine Reisen und war seit 1936 die auch Absagen hinnehmen. Das Argument von Triebkraft für seine politischen Stellungnahmen. dieser Seite lautete, ‚der Geist solle sich nicht in Nachdem ihr Bruder Klaus Mann sich 1949 Dinge mischen, für die er – beruflich – nicht zu- das Leben genommen hatte, verwaltete sie des- ständig sei und die er also in keinem Ernstfall‘, sen literarischen Nachlass. würde zu verantworten haben.‘ 1952 zog sie mit ihren Eltern in die Nähe Erika Mann führt diesen Plan des Vaters von Zürich. Hauptgrund für die Übersiedlung nicht mehr aus, das Projekt wird nach seinem war die Kampagne des Senators Joseph McCar- Tode abgebrochen. Ihre Aktivitäten konzentrie- thy gegen Liberale und Kommunisten, von der ren sich jetzt auf die Nachlassverwaltung.“43) auch Erika Mann und ihr Vater betroffen waren. Und so wurde Erika Mann nach Thomas Manns Erika Mann wurde in dieser Zeit des Kalten Krie- Tod Bevollmächtigte seines Nachlasses und ges vier Jahre lang vom FBI verfolgt, der ihr setzte sich vehement für die Anerkennung der „kommunistische Umtriebe“ nachweisen wollte. Werke ihres Bruders Klaus ein. Sie selbst be- „Der Tod Thomas Mann am 12. August 1955 zeichnete sich einmal als „bleicher Nachlass- markiert den letzten großen Einschnitt in Erika schatten“. Von 1961 bis 1965 gab sie die drei- Manns Leben. bändige Ausgabe der Briefe ihres Vaters heraus. Noch vieles hatten sie miteinander geplant, Nachdem Gustav Gründgens sich im Okto- allein der Tod kam ihnen zuvor. Gemeinsam ber 1963 das Leben genommen hatte, versuchte woll ten sich Vater und Tochter für einen weltwei- sein Adoptivsohn Peter Gorski gegen die Veröf- ten Appell [gegen den Atomkrieg] engagieren, fentlichung von Klaus Manns Roman „Mephis- den ‚eine kleine Anzahl führender Geister – to“ gerichtlich anzugehen und hatte damit Er-

Dichter, Historiker, Philosophen, Träger großer folg. Erika Mann versuchte daraufhin vergeblich v.l.n.r: 1989. Abb. von Krieges“ des während Widerstand im „Frauen zu Schulveranstaltung öffentlichen einer zu Bergedorf Gesamtschule der Einladung | Kiupel Birgit Illustration

42) Anja Maria Dohrmann, a. a. O., S. 18. 43) Anja Maria Dohrmann, a. a. O., S. 168. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 141

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vom damaligen Bundespräsidenten Gustav Hei- Im Alter von neun Jahren nahm eine Pfle- nemann Unterstützung zu bekommen, um das gefamilie Erna auf. Dort blieb sie sechs Jahre, Urteil rückgängig zu machen. bis die Pflegefamilie Erna ins Waisenhaus zu- 1969 starb Erika Mann an einem Gehirntu- rückbrachte. Es folgten viele neue Stationen. mor. Nach dem Abschluss ihrer Schulausbildung war Siehe auch Ü Therese-Giehse-Bogen, in diesem Erna Behncke in verschiedenen Stellungen als Band. Dienstmädchen/Plätterin tätig. Gründgensstraße, Siehe auch Ü Steilshoop, seit Im Alter von 20 Jahren heiratete Erna den 1971: Gustaf Gründgens (1899–1963), Schau- spieler, Regisseur, Intendant, in Bd. 3 online**. vier Jahre älteren Arbeiter Johann Carl Bogu- Siehe auch Ü Thomas-Mann-Straße, Bramfeld, mil, den sie im Waisenhaus kennengelernt hatte. seit 1961: Thomas Mann (1875–1955), Schrift- Das Paar bekam ein Kind, das aber nur wenige steller, in Bd. 3 online**. Wochen alt wurde. Nach dem Tod des Kindes trennte sich das Paar und ließ sich 1910 schei- den. Erna arbeitete als Krankenpflegerin. Sie soll 1923 am Hamburger Aufstand der KPD teilge- nommen und sich einen Namen als „Rote Kran- kenschwester“ gemacht haben. Leider ist die Aktenlage für den Lebenszeitraum Erna Beh- lings zwischen 1910 und 1940 sehr lückenhaft, so dass die dokumentarischen Belege fehlen. 1940 heiratete Erna den Witwer, Kommu- Die 1885 in Hamburg-Eppendorf benannte nisten und Schneider August Friedrich Behling, Erikastraße heißt nach keiner Frau, sondern der aus seiner ersten Ehe nach der Heidepflanze Erika. neun Kinder hatte. In sei- ner Wohnung in der Lö- Erna-Behling-Kehre wenstraße 5 A trafen sich Bergedorf, seit 1987, benannt nach Erna Behling in der NS-Zeit u. a. die Wi- (5.10.1884–21.4.1945 KZ Neuengamme), Wider- derständler Franz Reetz standskämpferin der Gruppe Bästlein-Jacob-Abs- und das Ehepaar Zinke hagen (siehe Ü Margit-Zinke-Stra- Stolperstein vor dem Wohnhaus Löwenstraße 5. ße, in diesem Band), die später im KZ Neuengam - Erna Behling Erna Behling, geb. Behncke, entstammte einer Ar- me ermordet wurden. Sie beiterfamilie und wuchs mit ihren drei Ge- hörten die „Feindsender“ und besprachen ihre schwistern am Borstelmannsweg 137 auf. Nach Widerstandsformen. dem Tod des Vaters kam die fünfjährige Erna Ende 1944 wurden Friedrich und Erna Beh- mit ihrer elf Jahre alten Schwester Bertha ins ling denunziert. Erna Behling kam ins KZ Ham- Waisenhaus, denn die schwerkranke Mutter burg-Fuhlsbüttel. Sie gehörte zu den dreizehn konnte ihre vier Kinder nicht allein ernähren. Frauen, die ohne Urteil auf Anweisung der Ge-

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stapo in den Nächten vom 21. bis 23. April 1945 Als Tochter eines Lehrers schlug Erna Mohr eben- im KZ Neuengamme erdrosselt wurden.44) falls die Lehrerinnenlaufbahn ein, obwohl ihre Siehe auch Ü Annemarie-Ladewig-Kehre, Catha- Liebe der Natur und den Tieren galt. Ihre Schul- rina-Fellendorf-Straße, Erika-Etter-Kehre, Ger- ferien verbrachte sie auf dem Lande in Wisch - trud-Meyer-Straße, Hanne-Mertens-Weg, He- reihe bei Siethwende (Kreis Steinburg) und half lene-Heyckendorf-Kehre, Katharina-Jacob-Weg, Lisbeth-Bruhn-Stieg, Margarete-Mrosek-Bogen, dort in Hof und Stall. Im Alter von achtzehn Margit-Zinke-Straße, Marie-Fiering-Kehre, Thü- Jahren nahm sie am 1843 gegründeten, weltbe- reystraße, Tennigkeitweg, in diesem Band. rühmten Zoologischen Museum am Steintorplatz Siehe auch Ü Ernst-Mittelbach-Ring, Niendorf, eine Tätigkeit als Spinnenzeichnerin auf. Auch seit 1982: Ernst Mittelbach (1903–1944), Ge- während ihrer Ausbildung und später als Leh- werbeoberlehrer, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittelbach- rerin – von 1914 bis 1919 war sie an der Volks- Stieg, Niendorf, seit 1987, in Bd. 3 online**. schule für Mädchen am Rhiemsweg, von 1919 Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit bis 1930 in den gemischten Klassen der Hilfs- 1988: Karl Kock (1908–1944), Gummifachar- schule Bramfelder Straße und von 1930 bis 1934 beiter aus Harburg, Kommunist, Widerstands- in der Volksschule am Alten Teichweg tätig – ar - kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. beitete sie weiterhin am Zoologischen Museum. Siehe auch Ü Kurt-Schill-Weg, Niendorf, seit So wurde sie 1913 Mitarbeiterin in der Fische- 1982: Kurt Schill (1911–1944), KPD-Wider- reibiologischen Abteilung bei Professor Ehren- standskämpfer gegen den Nationalsozialismus, baum. Hier gelang es ihr, Altersbestimmungen in Bd. 3 online**. bei Fischen anhand von Ctenoidschuppen durch- Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit zuführen – eine wissenschaftliche Pionierleis- 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- munistischer Widerstandskämpfer gegen den tung. Nach einiger Zeit wechselte Erna Mohr in Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. die Abteilung für niedere Wirbeltiere, wo sie Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Aller- sich in die Systematik der Fische einarbeitete möhe, seit 2002: Werner Schroeder (1916– und auf diesem Gebiet viele wertvolle Arbeiten 1993), Bäcker, Kommunist, Widerstandskämp- veröffentlichte, die ihr internationale Anerken- fer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. nung einbrachten. In der Museumsabteilung für niedere Wir- beltiere wurde Erna Mohr vertraut mit der An- Erna-Mohr-Kehre lage von Sammlungen und deren Ordnung. Sie Bergedorf, seit 1984, benannt nach Erna Mohr erkannte die Wichtigkeit dieser Arbeiten für die (11.7.1894 Hamburg–10.9.1968 Hamburg), Zoo - Wissenschaft und setzte sich das Ziel, möglichst login. Kustodin im Zoologischen Museum. viele Bestände dem Museum zuzuführen. Dabei Dr. h. c., Mitglied der „Leopoldina“ halfen ihr ihre plattdeutschen Sprachkenntnisse, Ihr Grabstein und daneben eine, vom Verein Gar - denn dadurch kam sie schnell mit den Men- ten der Frauen in Auftrag gegebene, Skulptur schen auf dem Lande in Kontakt, von denen sie einer Baumratte – Erna Mohr hatte u. a. das Ver - so manches Stück für ihre Sammlung erhielt. hal ten der Baumratten erforscht – stehen im Gar - Als 1934 ihr Chef, Professor Duncker, in ten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Pension ging, wurde Erna Mohr aus dem Schul-

dienst beurlaubt, um die Abteilung für niedere Museums Hamburg Grindel und des des Zoologischen Biozentrums Archiv Abb.:

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44) Siehe auch: Johannes Gross- mann: Erna Behling in der Stolper - steindatenbank www.stolpersteine- Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 143

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Wirbeltiere zu übernehmen. Dort bewies sie von Material für spätere Arbeiten anderer For- enormes didaktisches Talent, als sie die öffentli- scher durchdrungen. Sie empfand, dass Zeug- che Schausammlung neu gestaltete. Überhaupt nisse tierischer Mannigfaltigkeit in wissenschaft- war es Erna Mohr ein großes Anliegen, ihr Fach- lichen Sammlungen eine der entscheidenden wissen so verständlich wie möglich zu vermit- Grundlagen für die Zoologie als einer sicher fun- teln, um auch einer breiten Öffentlichkeit Zu- dierten Wissenschaft sind. (…) Erna Mohr hat gang zu ihren Forschungen zu verschaffen. ihre Überzeugung nicht nur in Hamburg durch- 1936 folgte ein neuer Schritt: Erna Mohr er- zusetzen gewusst. Sie arbeitete in Museen vieler hielt auch die Abteilung für höhere Wirbeltiere Städte und wies auch dort auf die Notwendig- und damit die Verantwortung für entscheidende keit des Sammlungsausbaus hin. Erna Mohr Teile der Schausammlung des alten Zoologi- suchte auch kleine alte Museen auf, welche dem schen Museums. Untergang geweiht schienen. Dort hob sie die Erna Mohr war so fasziniert von ihrer Arbeit, Schätze und verstand die Verantwortlichen mit dass sie selbst während des Zweiten Weltkrieges schlichten, eindringlichen Worten über die Be- ihre als Soldaten einge- deutung dieser Bestände für die Geschichte der zogenen Kollegen bat, im Wissenschaft und für zukünftige Forschungen Feld Mäuse zu sammeln zu überzeugen“45). und sie ihr zwecks Be- Noch heute besteht der von ihr zusammen- stimmung der verschiede- getragene Grundstock der wissenschaftlichen nen Arten zu schicken. Sammlung. Und auch darin lebt sie weiter: in 1943 zerstörten Bom- den Etiketten an den Sammlungsstücken. Die ben Erna Mohrs Werk. ließ sie nicht schreiben, das machte sie lieber Sie ließ sich jedoch nicht selbst. Aber sie lebt auch weiter in ihren ca. 400 entmutigen und machte Veröffentlichungen. Gekleidet in einen Loden- sich sofort nach dem Krieg mantel, mit Wanderschuhen an den Füßen und Erna Mohr 1942 an den Wiederaufbau der einer Einkaufstasche aus Plastik am Arm, in der Sammlungen. Als Aner- ihre Manuskripte lagen, begab sie sich zu ihren ken nung für ihren Einsatz wurde sie an 1. Janu- Verlegern. Zuhause in ihrer Wohnung am Krae- ar 1946 von der Hochschulverwaltung als Kus- merstieg warteten ihre Dackel und eine große tos der Wirbeltierabteilung des Zoologischen Menagerie aus Porzellantieren auf sie. Museums übernommen. Erna Mohr erhielt hohe Auszeichnungen Prof. Wolf Herre schrieb in einem Nachruf und Ehrungen: 1944 wurde sie zum Mitglied der auf Erna Mohr: „Sie hat eine schwere Aufgabe Kaiserlichen-Leopoldinisch-Karolinischen Aka- gemeistert, weil sich damals in der Zeit der demie der Naturforscher in Halle berufen. 1950 Raumnot in der Öffentlichkeit, aber auch in der erhielt sie von der Universität München die Eh- Wissenschaft, eine Strömung breit zu machen rendoktorwürde, und 1954 wurde sie Ehrenmit- versuchte, welche in der Hortung von Beständen glied des „Verbandes deutscher Zoodirektoren“. für spätere Arbeiten keine Aufgabe oder gar Ver- Letztere Ehrung begründete sich auf dem engen pflichtung sah. Erna Mohr war in ihrem Idea- Kontakt, den Erna Mohr zu den Zoodirektoren lismus von der Notwendigkeit des Sammelns Deutschlands hielt.

45) Zeitschrift für Säugetiere. Bd. 33, 1968. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 144

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Bereits als Zwanzigjährige hatte sie die Zoo- schnuller großzuziehen. Daneben waren auch logischen Gärten bereist und photographiert. Ratten, Birkenmäuse, Kängurus, Schlitzrüssler, Daraus entstand eine umfangreiche Dokumen- Leoparden und Robben ihre Schützlinge. tensammlung über die Entwicklung der Zoolo- Erna Mohr befasste sich auch intensiv mit gischen Gärten Deutschlands. Diese Zoobesuche der Tierwelt Schleswig-Holsteins. Im Rahmen waren für Erna Mohrs Forschungen sehr wich- dieser Studien begann Erna Mohr, Tiere zu hal- tig: „Bedeutsam waren die Anregungen, welche ten. Professor Wolf Herre schrieb dazu: „Ich er- sie durch die Besuche erhielt: die Säugetiere und innere mich noch immer, wie Erna Mohr mit ihre Biologie rückten immer stärker in der wis- ihren dicken, großen Baumratten auf der Galerie senschaftlichen Tätigkeit von Erna Mohr nach des alten Zoologischen Museums umherwan- vorn. Sie nahm sich mancher Merkmale an, wel- delte, diese seltsamen Tiere belauschte und in che andere Forscher vernachlässigten, weil sie ihren Eigenarten kennenlernte. (…) Erna Mohr spürte, dass sich Großes auch im Kleinen verber- hat als einer der Pioniere auf dem Gebiet der gen kann. Kennzeichnend dafür ist schon ihre Verhaltensforschung der Säugetiere zu gelten. erste Arbeit über Säugetiere, die im Biologischen Erna Mohr hat stets auf Experimente verzichtet Zentralblatt 1917 erschien und sich mit dem und Einsichten vom unbeeinflussten Tier er- ‚Knacken‘ der Rentiere beim Laufen befasste“,46) strebt. Daß dies ein Verfahren von außerordent- berichtete Professor Wolf Herre. lichem Wert ist, wird heute immer klarer aner- Und um noch ein weiteres „kleines“ Thema kannt“47). zu nennen: Erna Mohr schrieb auch über „Ohr- Als Erna Mohr 1968, im Alter von 74 Jah- taschen“ und andere taschenähnliche Bildungen ren, starb, trafen aus ganz Europa Kranzspenden am Säugetierohr (1952). und Kondolenzschreiben ein. Vertreter zoolo- Erna Mohr leistete viel für den Naturschutz, gischer Gesellschaften und von Tiergärten der aber nicht auf einer sentimentalen Ebene, wie Bun desrepublik nahmen am feierlichen Ab- Prof. Schliemann vom Zoologischen Institut, der schied teil. Erna Mohr noch persönlich kennengelernt hatte, betont. Sie kämpfte für einen wissenschaftlich begründeten Naturschutz. So setzte sie sich Erna-Stahl-Ring für das vom Aussterben bedrohte europäische Ohlsdorf, seit 2007, benannt nach Erna Stahl Wisent ein und arbeitete im Vorstand der „inter- (15.2.1900 Hamburg–13.6.1980 Hamburg), nationalen Gesellschaft zur Erhaltung des Wi- Reformpädagogin, Gründerin der Albert-Schweit- sents“. Einer ihrer Spitznamen war „Wisent- zer-Schule; Widerstandskämpferin gegen den Mama“. Sie wurde die erste Zuchtbuchführerin Nationalsozialismus aller in den Zoos lebenden Wisente und erreich- Ein Erinnerungsstein befindet sich im Garten der te dadurch, dass die europäischen Wisente nicht Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. mit ihren nordamerikanischen „Verwandten“ ge- kreuzt wurden. Erna Stahl entstammte einer musischen Familie. Auch den Fledermäusen widmete sie sich. Ihr Vater war Inhaber einer Konzertagentur, ihre Sie war der erste Mensch, dem es gelang, ver- Mutter, eine Wienerin, kam aus dem Arbei - waiste Fledermausbabys mit einem Puppen- termilieu und war vor ihrer Heirat zeitweise als

46) Ebenda. 47) Ebenda. Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 145

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Musikerin tätig gewesen. Die musikalische Welt waren verpönt, stattdessen standen spielerisches der Mutter faszinierte die Tochter, aber ebenso Miteinander auf der Grundlage von Fairness und faszinierten sie von Kindesbeinen an Bücher. Toleranz im Mittelpunkt. Trotzdem wurde auf Ab dem sechsten Lebensjahr besuchte Erna Disziplin und Leistungsbereitschaft nicht ver- Stahl zehn Jahre lang eine Privatschule. Ihre zichtet. Kein Wunder, dass die Schule mit die- frühe Eigenwilligkeit und sehr große Selbststän- sem Konzept den Nationalsozialisten ein Dorn digkeit führten in der Schule hin und wieder zu im Auge war. 1933 wurde der Schuldirektor, Auseinandersetzungen. Nach dem Schulab- Heinrich Landahl (siehe Ü Landahlweg, in Bd. 3 schluss mit dem so genannten Einjährigen be- online**), entlassen. Man ersetzte ihn durch suchte Erna Stahl das Lehrerseminar, was sie einen Nationalsozialisten und hob 1937 auch aber nicht zum Abschluss brachte, denn schon die Koedukation auf. Von dem Konzept der bald hörte sie an der Universität Gastvorlesun- Lichtwark-Schule blieb nichts mehr übrig. gen. Zu einem richtigen Universitätsstudium be- 1935 wurde auch Erna Stahl entlassen. Sie durfte es aber des Abiturs, das sie 1925 nach hatte sich mutig den „neuen Kräften“ entgegen- dem Besuch der Helene-Lange-Schule ablegte. gestellt. Nationalsozialistische Ideen fanden in Eine Unterstützung von zu Hause bekam sie ihrem Unterricht keinen Platz. Den Hitlergruß in nicht. Erna Stahl verdiente ihren Lebensunter- der Schule lehnte sie ab und las in ihrer Woh- halt selbst, durch Unterricht oder aber, was sehr nung mit ihren Schülerinnen und Schülern die häufig geschah: Sie spielte zum Tanz auf bei „verbotene Literatur“. Auf diesen Leseabenden Freunden, in Gesellschaften oder bei Veranstal- machte sie ihre Schüler und Schülerinnen be- tungen. Ganz besonders gerne gab sie auch kannt mit Werken verbotener Dichter und Kurse für Arbeiter in Deutsch und Geschichte. Schriftsteller wie Werfel (siehe Ü Werfelring und 1928 begann sie an der Hamburger Licht- Werfelstieg, in diesem Band), Hofmannsthal, wark-Schule zu unterrichten. Diese Schule war Georg Kaiser und Thomas Mann (siehe Ü Tho- keine klassische Lehranstalt, sondern eine mas-Mann-Straße, in Bd. 3 online**) und stellte Modellschule der Reformpädagogik. Mädchen auch die Malerei des Expressionismus vor, wies und Jungen erhielten gemeinsamen Unterricht, auf Werke vom Marc (siehe Ü Franz-Marc-Straße, den musischen Fächern wurde breiter Raum in Bd. 3 online**), Kandinsky (siehe Ü Kandins- gewährt. Es wurde Englisch und Französisch ge- kyallee, in Bd. 3 online**) und Münter (siehe Ü lehrt und ein Kurssystem eingeführt, um unter- Münterweg, in diesem Band) hin. Erna Stahl schiedlichen Begabungen und Neigungen ent- wurde an das Alstertalgymnasium strafversetzt sprechen zu können. Schülerinnen und Schüler und musste in der Klasse von Hilde Ahlgrimm, bekamen ein Mitbestimmungsrecht, es gab einen die Biologie, Mathematik und Chemie gab, den Schülerinnen- und Schülerrat und eine Schulzei- Deutsch-, Geschichts- und Religionsunterricht tung. Die bis dahin übliche, autoritär geführte übernehmen. Was zunächst in einem negativen Schulleitung wurde abgelöst, und es bildete sich Licht erschien, erwies sich als Glücksfall, denn eine Zusammenarbeit zwischen Schülern, Schü- zwischen beiden Frauen entwickelte sich eine lerinnen, Eltern und Lehrkräften. Zum ersten Lebensfreundschaft. Gelegentlich unterschrie- Mal standen Klassenreisen auf dem Schulplan. ben die beiden Freundinnen ihre gemeinsamen Leistungssport oder vormilitärische Ausbildung Briefe mit „Stahl-Grimm“.

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Aber auch am Alstertal-Gymnasium hielt heraus. Zwanzig Seiten schrieb sie, zwanzig Sei- sich Erna Stahl nicht streng an den von den Na- ten Anklage, ihre große Anklage gegen den der- tionalsozialisten vorgeschriebenen Lehrplan. zeitigen Verbrecherstaat und die nationalsozia- An vielen Abenden trafen sich Erna Stahls listischen Machthaber. Doch damit hatte sie ehemalige Schülerinnen und Schüler der Licht- selbst ihre Verurteilung heraufbeschworen. Doch wark-Schule weiterhin bei ihrer alten Lehrerin. die Kriegsereignisse nahmen einen stürmischen Unter ihnen waren auch Heinz Kucharski und Verlauf. Von Berlin aus setzte sich am 12. April seine Freundin Margaretha Rothe (siehe Ü Mar- 1945 der Volksgerichtshof nach Bayreuth ab. Am garetha-Rothe-Weg, in diesem Band), die einen 15. April 1945 besetzten die Amerikaner die Widerstandskreis bildeten, der nach dem Krieg Stadt. Die Freiheit war wieder gewonnen. als Hamburger Zweig der Widerstandgruppe Nach der Befreiung nahm Erna Stahl ihre „Weiße Rose“ bezeichnet wurde. Tätigkeit als Lehrerin wieder auf. Mit ihrer Als die Bespitzelungen durch die National- Freundin übernahm sie die Leitung der Ober- sozialisten immer schärfer wurden, stellte Erna schule für Mädchen im Alstertal. Da Schulbü- Stahl ihre Leseabende ein. Dennoch wurde sie cher fehlten, schrieb Erna Stahl ein Lesebuch für am 4. Dezember 1943 verhaftet, nachdem einige den Deutschunterricht mit dem Titel „Im Kreis- Monate zuvor bereits vier Mitglieder der Ham- lauf des Jahres“, das 1947 erschien. burger „Weißen Rose“ verhaftet worden waren – Erna Stahl stellte auch einen Antrag auf darunter Heinz Kucharski und Margaretha Rothe. Koedukation an ihrer Schule. Sie musste lange Erna Stahl wurde des „Hochverrats“ beschul- darum kämpfen – aber 1949 war es soweit. Als digt, sie hätte in „staatsfeindlichem Sinne“ die man ihr anbot, die Lichtwark-Schule neu zu er- ihr anvertrauten Jugendlichen verführt und für öffnen, lehnte sie ab, ebenso das Angebot, die ihre Anschauungen missbraucht. Odenwaldschule zu leiten. Ihr schwebte inzwi- Erna Stahl erhielt zehn Monate lang Einzel- schen ein anderes, eigenes Schulmodell vor, das haft im Hamburger Gestapogefängnis-Fuhls - u.a. Elemente der Lichtwark-Schule mit denen büttel. Dann begann ein der Waldorfschule verbanden. Nach vier Jahren langer Leidensweg durch erhielt Erna Stahl 1950 endlich grünes Licht für mehrere Gefängnisse. Zu- ihren pädagogischen Modellversuch. Diesen be- nächst kam sie nach Cott- gann sie im Albert-Schweitzer Gymnasium (sie- bus, dann wurde sie über heÜ Albert-Schweitzer-Ring, in Bd. 3 online**) mit Berlin und Leipzig nach zwei Klassen, die nach dem zehnten Schuljahr Bayreuth verlegt. Erna ihren Abschluss machten. Stahl verlor in diesen Wo- 1954 konnte Erna Stahl die erste Gesamt- chen in Bayreuth die Spra- schule Hamburgs, die Albert-Schweitzer-Schu- che, sie konnte keinen le, gründen, die bis zum Abschluss der zehnten Erna Stahl Satz mehr herausbringen. Klasse führte. Man brauchte aber ihre Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Aussage, man musste ein Geständnis haben. Des- Zeit des Nationalsozialismus nahmen Erna Stahls wegen, und nur deswegen, erhielt sie Schreib- pädagogische Ideen eine neue Wendung, die sie

werkzeug und Papier. Nun aber brach es aus ihr in ihrer Gesamtschule verwirklichen woll te. Die Privatbesitz Abb.:

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Reformpädagogik der Weimarer Zeit hatte zwar tionierenden Rad in der Industriegesellschaft viele Neuerungen gebracht; sie hatte aber nicht präpariert“. Der übersteigerte Leistungswahn er- vermocht, junge Menschen im Denken und Han- schien Erna Stahl als Bedrohung des Kindes und deln so zu leiten, dass „sie später der politischen der Zukunft überhaupt. Verführung aktiv begegnen“ konnten. Deshalb Im März 1965 legte Erna Stahl die Schullei- plädierte Erna Stahl für folgenden pädagogi- tung nieder. Zum Ende ihrer Abschiedsfeier schen Ansatz: „Versuchen wir das im Kinde an- stand Erna Stahl mit ihrer Freundin Hilde Ahl- zusprechen, was ewig und unzerstörbar ist, bin- grimm auf, hielt dann jedoch einen Augenblick den wir es damit – ohne viel davon zu reden – inne und, so heißt es in einem auf sie gehalte- an eine höhere Welt. Es ist die einzige Bindung, nen Nachruf, „wandte sich um und, die Hand aus der alles rechte Maß, alle rechte Kraft, alle leicht erhebend, rief sie: ‚Singt mir noch einmal rechte Liebe und alle rechte Freiheit fließt. Wer zum Schluss. Viele verachten die edle Musik‘. dieses Maß hat, oder doch als Ziel anstrebt, Festen Schrittes durcheilte sie den Raum, ver- kann überall – ganz gleich in welchem Beruf, in harrte aber kurz vor dem Ausgang noch einmal, welcher Partei, in welcher Konfession er einmal hob den Kopf und sprach in den Gesang: ‚Ver- stehen will und wird, ein ganzer Mensch sein. gesst die Kinder nicht.‘“48) Dazu sollten wir erziehen, nicht zum Beruf, Text: Kirsten Leppert nicht zu weltanschaulicher oder politischer Ver- Siehe auch Ü Margaretha-Rothe-Weg, Münter- festigung. Welcher Art auch immer.“ weg, Werfelring, in diesem Band. Erna Stahls Erziehung war eine Erziehung Siehe auch Ü Albert-Schweitzer-Ring, Tonndorf, ohne Auslese. In den ersten Schulklassen wur- seit 1975: Albert Schweitzer (1875–1965), Arzt, ev. Theologe, Musiker, Kulturphilosoph. den keine Noten erteilt. Dies sollte die Individu- Friedenpreis des deutschen Buchhandels, 1952 alität stärken. Von der ersten Klasse an fanden Friedensnobelpreis, in Bd. 3 online**. die musischen Fächer besondere Betonung. Siehe auch Ü Franz-Marc-Straße, Billstedt, seit Ein anderer Schwerpunkt war der Weg nach 1971: Franz Marc (1880–1916), Maler, in Bd. 3 online**. außen, hin zu anderen Völkern. So wurde z. B. Englisch schon ab der ersten Klasse, Französisch Siehe auch Ü Kandinskyallee, Billstedt, seit 1971: Wassili Kandinsky (1866–1944), Maler, ab der fünften Klasse unterrichtet. Erna Stahl in Bd. 3 online**. stellte sich gegen den „hochgezüchteten Intel- Siehe auch Ü Landahlweg, Hummelsbüttel, seit lekt“ der so genannten „wissenschaftlichen Ober- 1975: Heinrich Landahl (1895–1971), Senator schule“, die die seelische Entwicklung der Kin- in Hamburg, in Bd. 3 online**. der vernachlässige. In ihrer Schule sollte der Siehe auch Ü Thomas-Mann-Straße, Bramfeld, Mensch im Mittelpunkt stehen und jeder im seit 1961: Thomas Mann (1875–1955), Schrift- steller, in Bd. 3 online**. Rahmen seiner Möglichkeiten gefördert werden. Natürlich war es selbstverständlich, dass Mäd- chen und Jungen gemeinsam unterrichtet wur- Ernastraße den. In der Wirtschaftswunderzeit wuchs bei Wilhelmsburg, vor 1928. Frei gewählter Name Erna Stahl die Sorge „vor einer heraufkommen- den Bildungspolitik, die alles streicht, was nicht unmittelbar das Rädchen Kind zu einem funk-

** Band 3 online unter: www.ham- bert-Schweitzer-Schule Hamburg bis 4. April 1991; Erna Stahl (Hrsg.): burg.de/maennerstrassennamen 1950–1975. Festschrift zum fünfund- Jugend im Schatten von Gestern. Auf- zwanzigsten Bestehen; Angela Bot- sätze Jugendlicher zur Zeit. Hamburg 48) Quellen: Zwei Ansprachen bei der tin: Katalog zur Ausstellung „Enge 1948; Erna Stahl: Ansprache anläss- Trauerfeier für Erna Stahl am 27. Juni Zeit“ im Auditorium Maximum der lich des Besuches von Albert Schweit - 1980. (Unveröffentl. Manuskript); Al- Universität Hamburg vom 23. Februar zer in Hamburg. Unveröffentl. Manu - Straßen Bd 2 104-149 E:. 27.07.15 10:51 Seite 148

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Erste Luisenbrücke Neuen Wall, und bekam zwischen 1757 und 1768 Hamm-Mitte, seit 1930, siehe Luisenweg sieben Kinder. Drei von ihnen starben bald nach der Geburt. Das Paar führte ein gastfreund liches Haus, in das es regelmäßig Künstlerinnen und Eva-König-Bogen Künstler, Dichter und Schauspielerinnen und Bergedorf, seit 2003, benannt nach Eva König, Schauspieler einlud, so auch Lessing (siehe Ü geb. Hahn (22.3.1736 Heidelberg–10.1.1778 Wol- Lessingstraße, in Bd. 3 online**). Zwischen ihm fenbüttel), verheiratet in erster Ehe 1756–1769 und dem Hausherrn entwi ckelte sich eine enge mit dem Hamburger Kaufmann Engelbert König, Freundschaft. Als Engelbert Kö nig unerwar tet in zweiter Ehe 1776–1778 mit Gotthold Ephraim während einer Geschäftsrei - Lessing, berühmt wegen ihres Briefwechsels mit se in Ve nedig an ei ner Dar- Lessing 1770–1776 merkrankung mit Darmver - schluss starb, küm merte sich Geboren wurde Eva Hahn in einem dreigeschos- Lessing um Eva König. In sigen Wohn- und Geschäftshaus in der Heidel- geschäftlichen Dingen ver- berger Hauptstraße 169. Ihr Vater Heinrich Cas- mochte er ihr jedoch nicht par Hahn war Tuchhändler, ihre Mutter Eva zu helfen. Eva König über- Catharina Hahn, geb. Gaub, Tochter eines Hut- nahm die Geschäfte ihres machers. Das Ehepaar bekam sieben Kinder, Mannes, reiste auf Messen, von denen zwei nur kurz lebten. Heinrich Cas- führte die Seiden- und Tape- Eva König par Hahn starb, als seine Tochter Eva zwei Jahre tenlager und leitete die Wie- alt war. Aus dieser Erfahrung heraus schrieb sie ner Samt- und Tapetenmanufaktur. Damit war Lessing zum Tod seines Vaters: „Sie haben ein sie eine der wenigen Manufakturbesitzerinnen Glück gehabt, das wenig Menschen zu Theil des 18. Jahrhunderts. Die Manufaktur war in wird: Ihren Vater so lange zu behalten, bis es der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit 64 nach dem Lauf der Natur fast nicht mehr mög- Gesellen, Seidenwinderinnen und Lehrjungen lich ist. Ich Unglückliche! Habe den meinigen und mit 36 Stühlen und 15 Maschinen die zweit- gar nicht gekannt. Ich muß nun hiervon abbre- größte Seidenmanufaktur Österreichs. Eva König chen.“ (30.9.1770).49) legte allen unternehmerischen Geist daran, die Eva Hahn erfuhr eine gute Erziehung und Manufaktur noch weiter auszubauen. Bildung. Trotz des frühen Todes des Vaters blieb Lessing und Eva König verliebten sich in- die Familie in vermögenden Verhältnissen. Im einander. Doch wegen der vielen Geschäfte, die Alter von achtzehn Jahren lernte Eva Hahn auf Eva König in Wien tätigen musste, sahen sich der Hochzeitsfeier ihrer drei Jahre älteren Schwes - die beiden Liebenden nur sehr selten. Ebenso ter ihren ersten Mann Engelbert König (21./22. wegen der Geschäfte musste Eva König ihre Kin- 10.1728 Lüttringhausen–20.12.1769 Venedig) der oft sehr lange in fremde Obhut geben. kennen. Er war in Hamburg Samt- und Seiden- 1771, als sie sich während einer Rückreise händler und besaß in Wien eine Samt- und eine von Wien nach Hamburg bei Lessing in Braun- Tapetenmanufaktur. Das Paar wohn te in Ham- schweig aufhielt, machte er ihr einen Heiratsan-

burg zuerst in der Nähe der Börse, später am trag. Allerdings nahmen sie sich vor noch vor Hamburg Staatsarchiv Abb.:

skript 1959. ** Band 3 online unter: www.ham- 49) Brief vom 30.9.1770, in: Lessings burg.de/maennerstrassennamen sämtliche Schriften, Hrsg. von Karl Lachmann, Bd. 13, Berlin 1840, S. 241f. Straßen Bd 2 149-156 F:. 27.07.15 11:11 Seite 149

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der Hochzeit, ihre finanziell ungesicherten Ver- geburt einen Sohn geboren hatte. Das Kind lebte hältnisse zu bereinigen. So versuchte Eva bei nur einen Tag. ihrem letzten Wienaufenthalt, der drei Jahre dau- Nach dem Tod seiner Frau schrieb Lessing erte und in denen sie weder ihre Kinder noch an Elise Reimarus (siehe Ü Reimarusstraße, in die- ihren Geliebten sah, die gewinnbringende Samt- sem Band): „Ich muß ein einziges Jahr, das ich und Tapetenmanufaktur zu verkaufen, was auch mit einer vernünftigen Frau gelebt habe, theuer gelang. In diesen drei Jahren hielt das Liebespaar bezahlen (…). Wie oft möchte ich es verwün- den Kontakt zu einander über Briefe auf recht. Al- schen, daß ich auch einmal so glücklich seyn lerdings vergingen oft Mona te, bis Les sing einen wollen, als andere Menschen!“50) Brief von Eva König erwiderte. Siehe auch Ü Klopstockstraße, Reimarusstraße, Lessing hielt das Getrenntsein nicht aus. Er in diesem Band. verfiel immer mehr in ei ne schon lange wäh- Siehe auch Ü Claudiusstraße, Marienthal, seit rende Melancholie, bekam Schreibblockaden 1890: Matthias Claudius (1740–1815), Dichter, in Bd. 3 online**. und ging noch lustloser seiner Arbeit als Biblio- Siehe auch Ü Lessingstraße, Hohenfelde, seit thekar in Wolfenbüttel nach. 1775 setzte er sich 1863: Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), kurzentschlossen in eine Postkutsche und reiste in Bd. 3 online**. zu Eva König nach Wien. Ein Jahr später heira- Siehe auch Ü Schubackstraße, Eppendorf, seit teten sie endlich. Die Hochzeit fand in York im 1910: Familie Schuback, Bürgermeister Niko- Haus ihres Freundes Johannes Schuback (1732– laus Schuback (1700–1783), seinen Söhnen Jakob (1728–1784), Syndikus; Johannes Schu- Schubackstraße, 1817) (siehe Ü in Bd. 3 online**) back & Söhne (1732–1817), Firmengründer, in statt. Danach zog das Paar mit dreien von Eva Bd. 3 online**. Königs Kindern aus erster Ehe nach Wolfenbüt- tel, wo es eine glückliche Ehe führte, die durch den Tod Eva Königs jäh beendet wurde. Sie starb Evastraße am 10. Januar 1778 am Kindbettfieber, nachdem Eilbek, seit 1887. Frei gewählter Name sie am 25. Dezember 1777 mittels einer Zangen- F

Fanny-David-Weg Stolperstein vor dem Wohnhaus Haynstraße 5. Bergedorf/Lohbrügge, seit 1964, benannt nach Geboren in Berlin als ältestes Kind des Kaufmanns Fanny David (2.12.1892 Berlin–ermordet im Mai Max David und Martha, geborene Brach. Ca. 1944 in Auschwitz), jüdisches Opfer des National- um 1900 zog die Familie nach Altona, wo Max sozialismus. Fürsorgeinspektorin, seit 1933 in David einen Importhandel mit Wein- und Spiri- der Jüdischen Beratungsstelle für Auswanderer tuosen betrieb. Die Familie lebte in schwierigen tätig finanziellen Verhältnissen.

** Band 3 online unter: www.ham- S. 508. Vgl. Eva Horvath: Die Frau im burg.de/maennerstrassennamen gesellschaftlichen Leben Hamburgs, Meta Klopstock, Eva König, Elise Rei- 50) Brief vom 9.8.1778, in: Lessings marus, in: Wolfenbütteler Studien zur sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Aufklärung. Bd. III. Wolfenbüttel Lachmann. Bd. 12. Berlin 1840, 1976. Straßen Bd 2 149-156 F:. 27.07.15 11:11 Seite 150

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Nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1929 ihrer Schwester auf die Transportliste ins Ver- wohnte Fanny David mit ihrer Mutter zusammen. nichtungslager Auschwitz gesetzt. Am 28. Okto - Als der Hamburger Senat 1921 auf Beschluss der ber 1944 erfolgte der Abtransport. Dort wurden Bürgerschaft ein Wohlfahrtsamt einrichtete, wur- die Schwestern gleich nach der Ankunft in der de Fanny David dort tätig. Ihre Menschenkennt- Gaskammer ermordet. nis, Geduld, Verständnis, innere Ausgeglichen- heit und Fachkompetenz bereiteten ihr den Weg in Leitungsfunktionen. Von 1930 bis 1933 stand Fanny-Elßler-Bogen sie einer der wichtigsten Wohlfahrtsstellen in Bergedorf, seit 1987, benannt nach Fanny, ei- Hamburg vor, der Wohlfahrtsstelle Barmbek- gentlich Franziska Elßler (23.6.1810 Gumpendorf Nord, und war damit in den elf damals vorhan- bei Wien–27.11.1884 Wien), österreichische Bal- denen Wohlfahrtsstellen die einzige Frau in solch letttänzerin. Motivgruppe: Verdiente Frauen einer Leitungsposition. Die engagierte Sozialde- mo kra tin wurde außerdem enge Beraterin des Tochter von Johannes Elßler, dem Kammerdiener Prä sidenten des Wohlfahrtsamtes, Os kar Martini. und Notenkopisten Joseph Haydns. Die Mutter Nach der Machtüber nahme durch die National- war Modistin. Zusammen mit ihrer Schwester sozialisten wurde Fanny David sofort entlassen. Therese besuchte Fanny Elßler in Wien die Kin- Die Jüdische Gemeinde bat sie, in der neuge grün - derballettschule von Friedrich Horschelt. Im Al- deten Beratungsstel le für jüdische Wirtschafts - ter von zwölf Jahren tanzte sie ihre ersten Solo- hilfe mit zuarbeiten. 1939 partien. Bei ihrem ersten Engagement am Teatro wurde Fanny Da vid dort San Carlo in Neapel lernte sie 1827 Leopold von verantwortliche Leiterin Neapel-Sizilien, Prinz von Salerno, kennen und des gesamten Wohl fahrts- lieben. Aus dieser Liebesbeziehung stammte wesens. Obwohl auch sie Fannys Sohn Franz. Er wuchs in Eisenach auf in den Jahren von 1938 bis und nahm sich 1873 das Leben. 1943 in ständiger Angst 1829 lernte Fanny Elßler den 46 Jahre älteren um ihr Le ben war, blieb Friedrich von Gentz, den Sekretär von Metternich, sie äußer lich ruhig und kennen, mit dem sie zwischen 1830 bis zu Gentz’ war damit Stütze für viele Tod 1832 eine enge Beziehung pflegte. Gentz för- Fanny David ande re Leidende. derte sie, führte sie an Bildung heran und machte Nachdem die Jüdische sie mit einflussreichen Leuten bekannt. Gemeinde im Juni 1943 aufgelöst worden war, 1830 debütierte Fanny Elßler in Berlin. Da- wurde Fanny David mit den meisten ihrer Kol- mit begannen ihre Erfolge. In Berlin wurde sie legInnen am 23. Juni 1943 ins KZ Theresienstadt besonders als Schweizer Milchmädchen gefeiert, deportiert. Unter den Deportierten waren auch und dort begegnete sie ihrem Jugendfreund An - Fannys Mutter und Schwester. ton Stuhlmüller wieder. Die beiden bekamen die Im KZ Theresienstadt mussten die Frauen Tochter Therese, geboren 1833, verstorben 1870. schwere körperliche Arbeiten verrichten. Die Im Jahr der Geburt der Tochter ging Fanny Elß- Mut ter verstarb dort am 12. Oktober 1944. Im sel - ler nach London. Dann folgte Paris, wo sie 1836

ben Monat wurden die Namen von Fanny und ihren größten Erfolg in der Rolle Florindas, der Nr.:10006289 v.l.n.r.:Abb. bpk/Teich-Hanfstaengl | 1850 um Künstlerin, unbekannte Ölgemälde, Museum, Hamburg | Hamburg Staatsarchiv Straßen Bd 2 149-156 F:. 27.07.15 11:11 Seite 151

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Chachucha-Tänzerin, in J. Corallis B. Le Dia ble sie vom jüdischen zum protestantischen Glau- boiteux hatte. Damit führte sie den spanischen ben übertreten müsse. Volkstanz auf der Ballettbühne ein. Ihretwegen Mit knapp vierzehn Jahren war ihre Schul- stürzten sich junge Aristokraten in Schulden, zeit beendet. Sie hatte nun, wie es sich für junge duel lier ten sich. Sehr erfolgreich trat Fanny Elß- Mädchen ihrer Schicht gehörte, ihre Zeit bis zur ler auch in Amerika auf. 1842 nach Europa zu- Verheiratung mit Malen, Musizieren und Hand- rückgekehrt, tanzte sie in Wien, Berlin, Brüssel, arbeiten auszufüllen. Dublin und Hamburg. Am 30. September 1843 Fanny Lewald widersetzte sich jedoch allen gab sie in Hamburg ihr erstes Gastspiel am Ham- Heiratsplänen ihres Vaters. Sie interessierte sich burger Stadttheater. Im selben Jahr erhielt sie von für die emanzipatorischen Ideen der 1848-er Re- der Universität Oxford den volution und beschäftigte sich vor allem auch Ti tel „Docteur en l’art de mit der Frauenfrage. Besonders ihr Erinnerungs- la danse“. 1851 gab sie, buch „Meine Lebensgeschichte“ ist ei ne wichti- die eine Vertreterin des ro - ge Dokumentation der Lebensverhältnisse bür - mantischen Stils war, in ger licher Frauen im 19. Jahrhundert. Dieses, den Wien zwölf Abschieds - Frauen vorge schrie be ne einge schränkte Leben, vor stel lungen, obwohl sie war für Fanny Lewald An lass, sich intensiv mit noch auf der vollen Höhe der Frauenfrage zu beschäftigen. Ihr Cousin Au- Fanny Elßler ihres Könnens war. gust Le wald, der die Zeitschrift „Europa“ her- Mit ihrer Tochter The- ausgab, unter stützte sie in ihren literarischen rese wohnte sie nach 1850 zunächst in Hamburg, Bemü hungen. In ihrem ersten Roman „Clemen- kehrte aber 1855 nach Wien zurück, wo sie bis tine“ (1843) schrieb Fanny Lewald über das Pro- zu ihrem Tode lebte. Fanny Elßler war eine der blem der Konvenienz ehe, in ihrem zweiten größten Ballerinen der romantischen Epoche. „Jen ny“ (1843) über die Unterdrückung von Ju- den und Frauen, in ihrem dritten „Eine Lebensfra- Fanny-Lewald-Ring ge“ (1845) über die Ehe- Bergedorf, seit 1984, benannt nach Fanny Lewald, scheidung und in ihrem geb. Markus. Lewald: angenommener Name. vierten Roman „Der drit - Verh. Stahr. Pseudonym Iduna, Adriana (24.3.1811 te Stand“ (1846) forderte Königsberg–5.8.1889 Dresden), Schriftstellerin, sie, dass der Lebensstan- Erzählerin. Motivgruppe: Verdiente Frauen dard der Ar muts schicht auf Kosten der besitzen- Tochter des jüdischen Kaufmanns David Markus den Schichten zu heben und Zipora Marcus. Später nahm die Familie den sei. Das Manuskript ihres Fanny Lewald Nachnamen Lewald an, um die jüdische Her- ersten Romans legte sie kunft zu verbergen. ihrem Bru der und Vater Der Vater bestimmte den Werdegang seiner vor und erhielt nur unter der Bedingung die Er- Tochter, schickte sie in eine pietistische Schule laubnis zur Publizierung, wenn sie ihn anonym und befahl, als Fanny siebzehn Jahre alt war, dass veröffentlichen würde. Straßen Bd 2 149-156 F:. 27.07.15 11:11 Seite 152

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Erst nach der Herausgabe ihres ebenfalls ano- streben sollte. In ihrer Fiktion sind die interes- nym erschienenen zweiten Romans entschloss santesten Figuren die wandlungsfähigen Frauen, sie sich, unter ihrem Namen zu veröffentlichen. die eine ungewöhnliche Laufbahn wählen, oder Durch ihre schriftstellerischen Erfolge konn- mütterliche Männer“.2) te sie sich 1845 eine eigene Wohnung in Berlin 1863 und 1870 veröffentlichte Fanny Lewald leisten. Während einer Italienreise im selben zwei Schriften zur Frauenfrage: „Osterbriefe für Jahr lernte sie ihren späteren Ehemann, den die Frauen“ und „Für und wider die Frauen“. In Gymnasiallehrer und Philologen Adolf Stahr, ihnen forderte sie das Recht der Frauen auf Er- kennen, der damals noch mit Marie, geb. Kraetz werb und bessere Arbeitsbedingungen. Beide (1813–1879), verheiratet war, die nach der Schei - Publikationen riefen ein großes Echo hervor. dung als Lehrerin in Halle arbeitete. Erst zehn Obwohl sich Fanny Lewald für die Rechte Jahre später, nachdem Stahrs Frau die Schei- der Frau einsetzte, tastete sie den männlichen dung eingereicht hatte, gingen Fanny Lewald Herrschaftsanspruch nicht an. Im Alter wurde und Adolf Stahr eine Ehe ein. Sie lebten nun in sie politisch konservativer. So meinte sie, in der Fanny Lewalds Berliner Wohnung zusammen Monarchie Vorzüge entdecken zu können. mit den beiden Söhnen Stahrs aus erster Ehe Siehe auch Ü Bettinastieg, in diesem Band. und unternahmen viele Reisen durch Europa. Siehe auch Ü Fontanestraße, Osdorf, seit Nach dem Tod ihres Vaters 1846 entschloss 1928/29: Theodor Fontane (1819–1898), Dich- sich Fanny Lewald, ganz die schriftstellerische ter, in Bd. 3 online**. Laufbahn einzuschlagen und ihr Berufs- und Siehe auch Ü Gottfried-Keller-Straße, Groß Flottbek, seit 1928: Gottfried Keller (1819– Privatleben öffentlich zu machen. 1890). Schweizer Dichter, in Bd. 3 online**. Nach der bürgerlichen Revolution von 1848 Siehe auch Ü Heinrich-Heine-Straße, Wilstorf, gründete sie, die auch als „deutsche George seit 1945, und Heinrich-Heine-Weg, Bergedorf, Sand“ bezeichnet wurde, einen politisch-litera- seit 1945: Heinrich Heine (1797–1856), Dich- rischen Salon in Berlin. Er zählte zwischen 1850 ter, Schriftsteller, in Bd. 3 online**. und 1860 zu den dreizehn großen Berliner Sa- lons, in denen Menschen verkehrten, die den li- Fanny-Mendelssohn-Platz beralen bis demokratischen politischen Tenden- Eimsbüttel, seit 2004, be- zen zugeneigt waren. Das Ehepaar Lewald-Stahr nannt nach Fanny Men- fühlte sich „nach anfänglichem Zögern zu den delssohn-Bartholdy von Bismarck eingenommenen Nationallibera- (1805–1847), Komponis- len“1) hingezogen. tin und Pianistin, Schwe s - Fanny Lewald verkehrte u. a. mit Heinrich ter des Komponisten Felix Heine (siehe Ü Heinrich-Heine-Straße und Heinrich- Mendelssohn Bartholdy Heine-Weg, in Bd. 3 online**), Theodor Fontane (siehe Ü Fontanestraße, in Bd. 3 online**), Gottfried Siehe Vita bei Ü Geschwister-Mendels- Gottfried-Keller-Straße, in Bd. 3 on- Keller (siehe Ü sohn-Stieg, in diesem line**) und Bettina von Arnim (siehe Ü Bettina- Band. stieg, in diesem Band). Sie „glaubt an eine an- Siehe auch Ü Men- Fanny Mendelssohn- drogyne Menschlichkeit, nach der jede Person delssohnstraße, Bartholdy

** Band 3 online unter: www.ham- 2) www.fembio.org/biographie.php burg.de/maennerstrassennamen /frau/biographie/fanny-lewald/

1) Krimhild Stöver: Leben und Wir- ken der Fanny Lewald. Oldenburg 2004, S. 77. Straßen Bd 2 149-156 F:. 27.07.15 11:11 Seite 153

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Bahrenfeld, seit 1952: Jacob Ludwig Felix Men- auch den Todesmarsch 1945 Richtung Westen delssohn-Bartholdy (1809–1847), Komponist, in das KZ Ravensbrück (damaliger brandenbur- in Bd. 3 online**. gischer Landkreis Temp lin-Uckermark). Nach der Befreiung traf sie ihren Mann, der das KZ Feenteichbrücke Bu chenwald überlebt hatte, in Brüssel wieder. Uhlenhorst, seit 1904, benannt nach der Lage. Im 1951 kehrte sie gemeinsam mit ihrem Mann Zuge des Weges „Schöne Aussicht“ über den nach Hamburg ins Karolinenviertel zurück. Für Ausfluss des Feenteiches führend (siehe bei Ü Am jeden Tag, den sie im KZ hatten verbringen müs- Feenteich, in diesem Band) sen, erhielten sie eine Entschädigung von 5 DM. Mit dem Betrag eröffneten sie in der Karolinen- Flora-Neumann-Straße straße ei ne Wäscherei. Flora Neumann war ein außerordentlich ak - St. Pauli, seit 2010, benannt nach Flora Neumann ti ves Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Ham- (23.3.1911 Hamburg–19.9.2005 Hamburg), jüdi- burg. 2005 starb Flora Neumann im Alter von 94 sche Widerstandskämpferin gegen den National- d Hamburg Jahren. Im November 2010 wurde ein Teil der bis - sozialismus herigen Grabenstra ße im Karolinenviertel nach Flora Neumann hat an den Hamburger Schulen ihr benannt. Im Rah men des städtebaulichen Er- bis ins hohe Alter als Zeitzeugin Tausende von neuerungskonzeptes St. Pauli-Nord/Karolinen- Schülerinnen und Schülern über die NS-Zeit und viertel ist mit dem Richtfest für das jüdische Kul- den Holocaust aufgeklärt; zugleich zur Erinne- turhaus Karolinenviertel in der Turnhalle der rung an ihren Ehemann Rudolf N. (1908–1999), ehe maligen Israelitischen Töchterschule an der Elektriker, Widerstandskämpfer gegen den Na- Flora-Neumann-Straße „ein weiterer Schritt ge- tionalsozialismus, sowie an ihren Sohn Bernd, gen das Vergessen getan“.3) der mit den Eltern Auschwitz überlebte. Die jü- Flora Neumanns Lebenserinnerungen mit dische Widerstandskämpferin Flora Neumann dem Titel „Erinnern, um zu leben“ (mit einem wurde 1911 in Hamburg geboren und war Schü- Nachwort von ihrer Nichte Peggy Parnass. Ham- lerin an der Israelitischen Töchterschule in der burg 2006) sind ein bewegendes und seltenes Karolinenstraße 35 (das Hauptgebäude ist unzer- autobiographisches Zeugnis jüdischen Wider - stört erhalten geblieben. In einigen Klassenräu- men hat die Hamburger Volkshochschule eine Gedenkstätte als Museum Dr. Albert-Jonas-Haus eingerichtet). 1938 floh Flora Neumann mit ih- rem Sohn nach Belgien und Frankreich und war im Widerstand gegen Hitler aktiv. Das Ehepaar wurde verraten und auf der Flucht getrennt. Ih- ren Sohn Bernhard konnten sie in einem belgi- schen Kloster verstecken. 1943 wurde Flora Neu- mann verhaftet und in das Konzentrationslager Auschwitz bei Krakau (Polen) deportiert. Sie

Abb. v.l.n.r.:Abb. Wohlfahrtsverban Alternativer SOAL, | 74 P22:H Handschriftensammlung Hamburg Universitätsbibliothek Staats-und überlebte nicht nur das KZ Auschwitz, sondern Flora Neumann und Ihr Ehemann Rudolf

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

3) QN-Karolinenviertel, Nr. 61/Juni 2011, S. 5. Straßen Bd 2 149-156 F:. 27.07.15 11:11 Seite 154

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standes während der NS-Zeit sowie des Überle- durch einen wohlwollenden Brief Theodor Vi- bens in Vernichtungslagern. Peggy Parnass be- schers, dem sie einige Manuskripte geschickt schrieb in ihrem Nachwort zu den Le bens er in - hatte, quittierte sie 1883 den Schuldienst und nerungen Flora Neumann so: „Die kleine, große ging mit ihrer Freundin, der Malerin Esther Man- Widerstandskämpferin. Klein, kulleräugig, sinn- delbaum, nach Stuttgart, um dort am Polytech - lich, lebenslustig, liebevoll, charmant, fröhlich, ni kum Theodor Vischers Vorlesungen über Äs- warm, spontan, unendlich großzügig. Ihre KZ- thetik zu hören. Ilse Frapan avancierte zunächst Nummer: 74559. Hübsch und leserlich am lin- zur Hausautorin der renommierten Zeitschrift ken Arm. Nicht auszuradieren. Flora, ihr Mann „Deutsche Rundschau“. Aber bald stellten sich und ihr Sohn sind die einzigen Hamburger Miss erfolge ein. Zurückgekehrt nach Hamburg, Juden, die als Familie überlebt haben. Die Bilder schrieb sie den sozialkritischen Roman „Erich von Auschwitz haben Flora nie losgelassen. Bis Helebrink“, der im Hamburger Arbeitermilieu zuletzt hat sie politisch Stellung bezogen, gegen des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielt. Er wur - Gleichgültigkeit und Ungerechtigkeit gekämpft. de jedoch nicht angenommen und kam erst kurz Wer sie kannte, liebte sie.“4) vor ihrem Tod heraus. Finanziell ruiniert, zogen Text: Cornelia Göksu die beiden Freundinnen 1892 nach Zürich und blieben dort zehn Jahre. In Zürich hatten Frauen Frapanweg seit den 70-er Jahren des Iserbrook, seit 1965, benannt nach Elise Therese 19. Jahrhunderts die Mög- Levien, Pseudonym: Ilse Frapan-Akunian lichkeit, an der Universität (3.2.1849 Hamburg–2.12.1908 Genf), Schriftstel- zu studieren. Ilse Frapan lerin. Motivgruppe: Jugendschriftstellerin nahm im Wintersemester 1892/93 das Stu dium der Tochter des Instrumentenmachers und späteren Botanik und der Zo o logie Pianofortefabrikanten Carl Heinrich Eduard Le- auf. Ihr Wunsch war es, vien und dessen Ehefrau Marie Therese Antoi- zu promovieren und in Ilse Frapan nette, geb. Gentzsch. Ilse Frapan wurde evange- Hamburg irgend ein klei- lisch-lutherisch getauft. Um nicht als Jüdin nes Pöstchen zu bekom- erkannt zu werden, nahm sie den Namen Ilse men, wo sie ihr finanzielles Auskommen hät te Frapan an und ergänzte ihn später um den zwei- und nebenher schrei ben könnte. Aber die Stu - ten Namen Akunian. Bevor Ilse Frapan Schrift- dienge bühren waren enorm hoch, die Anfein- stellerin wurde, arbeitete sie vierzehn Jahre lang dungen gegen studierende Frauen unerträglich. als Lehrerin an verschiedenen Hamburger Schu- Ilse Frapan brach ihr Studium ab und zog daraus len, so auch im Paulsenstift (siehe zum Paulsen - die po litischen Konsequenzen, was für sie be- stift auch Ü Wohlwillstraße, in diesem Band). Der deutete, sich der sozialistischen Bewegung an- Beruf der Lehrerin befriedigte sie aber nicht. Des - zuschließen. In ihrem Kurzroman „Wir Frauen halb begann sie neben ihrer Tätigkeit als Lehre- haben kein Vaterland“ (1899), in dem sie über rin, die ihre finanzielle Unabhängigkeit garan- die Heimatlosigkeit der Frauen in einer patriar-

tierte, schriftstellerisch tätig zu werden. Er mutigt chalen Gesellschaft schreibt, lässt sie ihre Roman- Hamburg Staatsarchiv Abb.:

4) Flora Neumann: Erinnern, um zu leben. Vor Auschwitz, in Auschwitz, nach Auschwitz. Hamburg 2006. Straßen Bd 2 149-156 F:. 27.07.15 11:11 Seite 155

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heldin die Sätze sagen: „Ich sollte eine Bitte an sie dennoch in der armenischen Freiheitsbewe- die Behörde schreiben, an irgend einen Senator gung und unterstützte sie nicht nur politisch, bei uns und ihn fragen, ob es nicht irgend eine sondern auch finanziell. Um das Geld hierfür Staats hülfe für mich giebt. (...) Mir bleibt kein aufzubringen, schrieb sie Novellen, die sehr er- and rer Weg. Bin ich nicht ein Hamburger Kind? folgreich waren. So erschienen z. B. die „Ham- Gibt es nicht Stipendien für arme Studierende? burger Novellen“ in drei, die „Hamburger Bilder Bin ich nicht arm genug? Ich werde ihnen alles für Hamburger Kinder“ in zehn Auflagen. Ihre schildern und alles beilegen: meine Studienaus- sozialkritischen Theaterstücke, die 1902 und weise, mein Aufnahmezeugnis an der Zürcher 1905 am Altonaer Stadttheater und am Ernst- Universität, die Zeugnisse über meine Befähi- Drucker-Theater aufgeführt wurden, waren da- gung zur Matu ra. Und ich werde herzlich bitten: gegen ein Misserfolg. ,Verhelfen Sie mir zur Matura, zur Vollendung Ilse Frapans naturalistisch-sozialkritischen meiner Studien, zur Promotion. Ich werde alles Schriften beleuchten die Lebensbedingungen zurückzahlen, wenn es mir möglich ist. Ich habe der Hamburger Unterschicht des ausgehenden den dringenden Wunsch, etwas Nützliches zu 19. Jahrhunderts. Dieses Engagement für die Ar- leisten, ich werde meiner Vaterstadt keine Un- beiterklasse, ihre Arbeit in der armenischen Frei- ehre machen, ich fühle die Kräfte in mir, etwas heitsbewegung und ihre jahrelange lesbische Le- für andere zu sein.‘ Ist das zu stolz gesprochen? bensgemeinschaft mit einer Frau bewogen darf ich mir das nicht getrauen? Ist die Bitte un- Ham burgs Politische Polizei, sie zu bespitzeln. bescheiden? Die Stadt ist ja reich, voller Wohl- Im Staatsarchiv Hamburg befindet sich eine ent- thätigkeitsanstalten, voller Stiftungen. ,Leben sprechende Akte, die den Zeitraum von 1900 bis und leben lassen‘, das ist der Hamburger Wahl- 1927, also weit über den Tod Ilse Frapans hinaus, spruch. Eine große hülfsbereite Gutmütigkeit durch Texte und Zeitungsausschnitte abdeckt. geht durch alle Klassen. (...) Wir sind ja auch Als Ilse Frapan im November 1908 erfuhr, eine Republik, der einzelne Bürger steht nicht dass sie unheilbar an Krebs erkrankt sei, nahm so weit vom Zentrum wie in den monarchischen sie sich zusammen mit ihrer Freundin am 2. De- Staaten.“5) zember 1908 das Leben. Aufgrund ihrer Erfahrungen an der Univer- sität in Zürich beschränkte Ilse Frapan ihren Kampf nicht auf die Emanzipation der Frau, son- Frauenthal dern erweiterte ihn auf das große Feld der Unter- Harvestehude, seit 1870, benannt nach dem drückung und Ausbeutung. Sie befreundete sich Nonnenkloster mit dem Armenier Iwan Akunoff, der nach Zü- rich emigriert war, und engagierte sich fortan in Das Nonnenkloster Herwardeshude, das in der der armenischen Freiheitsbewegung. 1901 wur- Nähe des heutigen Stadtteils St. Pauli lag, besaß den sie und Iwan Akunoff aus politischen Grün- viel Grundbesitz. Dazu gehörten Eppendorf, Win- den aus Zürich ausgewiesen. Zusammen mit terhude, Alsterdorf, Groß-Borstel, Niendorf, Lok- Esther Mandelbaum – die drei führten eine mé- stedt, Ohlsdorf, Eimsbüttel, Bahrenfeld, Ottensen, nage à trois – gingen die beiden nach Genf. Als Othmarschen, Rissen. Im August 1295 wur de Ilse Frapan sich von Iwan Akunoff trennte, blieb das Kloster in die Gegend der heutigen Straßen

5) Ilse Frapan: Wir Frauen haben kein Vaterland. Monologe einer Fle- dermaus. Berlin 1899, S. 89. Straßen Bd 2 149-156 F:. 27.07.15 11:11 Seite 156

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Harvestehuder Weg, Abteistraße, Heilwigstraße kenschwestern der Gewerkschaft an. Diese grün- und Krugkoppel verlegt. Das neue Kloster erhielt deten 1928 die ‚Schwesternschaft der Reichssek- den Namen Vrouwendal. Dieser Name findet tion Gesundheitswesen‘ innerhalb der Gewerk- sich in dem Straßennamen Frauenthal wieder. schaft der Gemeinde- und Staatsarbeiter. (...) Gleichzeitig nahm das Kloster seinen alten Na- Die gewerkschaftlich organisierten Schwestern, men, Herwar deshude, mit. Nach ihm wurde spä- seit 1949 im ‚Bund freier Schwestern‘ in der Ge- ter der Stadtteil, in dem das neue Kloster stand, werkschaft Öffentliche Dienste, Transport und benannt. Verkehr (ÖTV) zusammengeschlossen, wuchsen Siehe auch Ü Abteistraße, Cäcilienstraße, Ele- schnell zur größten freien Organisation heran. beken, Heilwigbrücke, Heilwigstraße, Innocen- Im Jahr 1962 zählte der Bund bereits über 10.000 tiastraße, Jungfrauenthal, Nonnenstieg, in die- Mitglieder, während der nächst- größere Berufs- sem Band. verband, der ‚Agnes Karll-Verband‘ (heute: Deut- scher Berufsverband für Pflegeberufe) 1961 we- Friedastraße niger als 9.000 Mitglieder hatte. Seither hatten Marienthal, seit 1909. Frei gewählter Name Pflegekräfte ihren festen Platz in der Gewerk- schaft ÖTV, wo sie zunächst in den Abteilungen Frieda-Wieking-Stieg ‚Bund freier Krankenschwestern und Kranken- Uhlenhorst, seit 2010, benannt nach Frieda Her- pfleger‘ (...) ihre beruflichen und fachlichen In- 6) tha Martha Wieking (1893–1988), Schwester, teressen vertreten konnten.“ Frieda Wiedeking Gewerkschafterin, Betriebsrätin bis 1933, 1933 war möglicherweise Mitglied der BO; nach 1945 als politisch unzuverlässig entlassen, 1935 engagierte sie sich weiterhin politisch ehrenamt- wieder eingestellt als Schwesternaushilfe, 1945 lich im Bezirksvorstand ihres Berufsverbands, erneut Gewerkschafterin, 1946/47 Vertreterin dem „Bund freier Schwestern“. Die ehemalige der Belange des Bundes freier Schwestern im Frauenklinik Finkenau wurde 1911/14 als „In- Hamburger Bezirksvorstand, Provisorin an der stitut für Geburtshilfe“ gegründet (geschlossen Frauenklinik Finkenau, 1948 Betreuung der 2000). Die Klinik war auch Lehranstalt für Schwes- Schwestern als Bezirksschwester, 1951–1960 im tern- und Hebammenschülerinnen. Frieda Wie- Bezirksfrauenausschuss, 1958 pensioniert king hatte mit ihrer Position einer Provisorin vermutlich die Verantwortung als Verwalterin „Als die Pionierin in der freiberuflichen Pflege, der Apotheke inne. Agnes Karll (1868–1927), 1903 die erste Berufs- Text: Cornelia Göksu organisation der Krankenpflegerinnen in Deutsch- land (BO; nach Verbot 1933 Neugründung als Deutscher Berufsverband für Pflegekräfte) grün- dete, gab es bereits gewerkschaftlich organisierte Pflegekräfte. Schon im Jahr 1900 wurde das erste Mal eine eigene ‚Sektion Gesundheitswe- sen‘ in einer Gewerkschaft gebildet. Waren es zunächst vorwiegend ‚Wärterinnen‘ und ‚Irren- pfleger‘, schlossen sich zunehmend auch Kran-

6) Artikel „Gewerkschaftliche Tradi- tion im Gesundheitswesen“ unter: www.ausbildung.info/ausbildung-a- z/letter_g. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 157

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Gänselieselweg geschlagner Kopf unter dem Torbogen hängend, Billstedt, seit 1952. Motivgruppe: Märchen - als Hüter und Wächter. gestalten Durch die anschließenden Erfahrungen fin- det für die Prinzessin ein Erziehungsprozess zu Die Gänseliesel ist eine Gestalt aus dem Märchen einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung „Die Gänsemagd“ der Gebrüder Grimm (siehe Ü statt. (…) Grimmstraße, in Bd. 3 online**) und „stellt eine Die ungetreue Magd ist als eine erste Her- Entwicklungs- und Erziehungsgeschichte“ zum ausforderung durch das ‚andere‘ der Welt anzu- Erwachsen- und Selbstständig-Werden dar.1) Da- sehen, nämlich das Böse und Feindliche. (…) bei „wird ein Erziehungsweg gezeigt, der den Bruno Bettelheim bezieht den Erziehungs- Wert der Erziehung in einer flexiblen und le- faktor der drei Blutstropfen leider ausschließlich bendigen Wandlung in der Anpassung an neue auf den biologischen Anteil des Lebens, nämlich Gegebenheiten deutlich machen soll. (…) auf die sexuelle Reifung einer jungen Frau. (…) Eine Kind-Prinzessin erfährt (…) den Weg Bettelheim ist der Ansicht, dass diese drei Bluts- der Erziehung zur Königin (…), eine Prinzessin tropfen im Märchen ‚Die Gänsemagd‘ vor allem (…), die von ihrer Mutter bisher aus aller Eigen- ein Hinweis auf das Erwachsenwerden der Prin- verantwortlichkeit herausgehalten wurde. Statt- zessin sind: auf ihre werdende sexuelle Reife als dessen erhält sie in einer entscheidenden Le- Sinnbild für die Menstruation. Dies ist sicherlich benssituation von ihrer Mutter Gaben, derer sie ein Hinweis, aber ein eingeschränkter, der an sich aber nicht zu bedienen weiß: Sie begreift einer erziehungsrelevanten Aussage vorbeigeht, sie nämlich zunächst nur als äußere Gaben. Sie es sei denn, der Erziehungssinn läge nur darin, erfasst diese Gaben – die drei Blutstropfen wie das junge Mädchen auf die kommenden Verän- auch das Pferd Falada – nicht in ihrer symboli- derungen ihres Körpers vorzubereiten. Sicher- schen Bedeutung, nämlich als Lebens entschei- lich ist es ein Hinweis, der zu beachten ist, zu dende Hinweise, sondern lediglich als materiel - der gesamten Sinngeschichte des Märchens aber le, für sie nicht weiter verständliche Beigaben. schlecht passt. (…) Keine wirkliche Mutter je- Hätte sie diese Gaben in ihrer symbolischen Be- denfalls könnte so einfältig sein (…) und sich in deutung verstanden, dann hätte sie diese mit ihren Gedanken und Wünschen für ihre Tochter großer Sorgfalt aufbewahrt und dementspre- nur mit deren Funktionsfähigkeit als weiblich- chend behandelt. sexuelles Wesen beschäftigen. (…) (…) die drei Blutstropfen [lassen] sich als Als der Hütejunge im weiteren Verlauf des eine Weitergabe des Lebens von der Mutter an Märchens [die Königstochter] bedrängt, er wür - die Tochter verstehen. Das Pferd Falada steht in de ihr gerne einen Teil ihrer schönen goldenen seiner symbolischen Bedeutung für das Tragen Haare ausreißen – und Haare sind Sinnbild se- ins Leben, als lebendes Pferd, aber auch als ab- xueller Lebenskraft (…) – weiß sie sich zu weh-

** Band 3 online unter: www.ham- würde der Philosophischen Fakultät burg.de/maennerstrassennamen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität zu Bonn. Bonn 2001, 1) Rose Marie Feyen-Müllhausen: S. 163 bis 174. Märchen – erlebte und gelebte Erzie- hung. Diss. zur Erlangung der Doktor- Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 158

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ren, weil sie an den Schwierigkeiten bzw. den tik und Rhetorik unterrichtet. Gerberga las mit Aufgaben schon gewachsen ist. Ihre Entwick- ihr die römische Literatur von Ovid und Tacitus. lung und Erziehung hat inzwischen in ihr zu Im Stift Gandersheim schrieb Roswitha von einer solchen Klarheit und Entschiedenheit ge- Gandersheim ab 960 ihre Dichtungen in lateini- führt, dass sie die (sexuelle) Bedrängung des scher Sprache nieder. Ihre Werke entstanden Hütejungen ablehnt und abwehrt. Nicht zuletzt etwa zwischen 950 und 970. Es wird angenom- lernt sie dabei, eigene Wünsche zu erkennen men, dass sie nach 973 verstarb. und danach zu handeln (…).“2) Roswitha von Gandersheim schrieb acht Siehe auch Ü Grimmstraße, Iserbrook, seit 1930: Hei ligenlegenden und sechs Dramen. Inhaltlich Brüder Grimm, Jacob (1785–1863) und Wil- ging es dabei um den Sieg der Reinheit über die helm Grimm (1786–1859), in Bd. 3 online**. Verführung. Darüber hinaus verfasste sie die „Gesta Ottonis“: Loblieder auf Otto I. (912–973) Gandersheimer Weg und eine Abhandlung über die Geschich te des Niendorf, seit 1948, benannt nach der Abtei, in der Stiftes. Mit ih ren Lobliedern auf Otto I. wollte Ende des 10. Jahrhunderts die Nonne Ros witha sie ihn dafür gewinnen, sich Gandersheim hin- von Gandersheim wirkte. Motivgruppe: Personen zu wenden, doch Otto I. kam nie nach Ganders- und Orte aus der altniedersächsischen Geschichte heim. „In ihren Dramen verarbeitete Roswitha das Roswitha oder Hrotsvith von Gandersheim, lateinisch Thema des Heiligen und der Dirne, das schon in Hrotsvitha Gandeshemensis (um 935–nach 973), der vorchristlichen Literatur von den Griechen deren Vorname im Althochdeutschen „die sehr und auch in der Bibel aufgegriffen worden war. Ruhmreiche“ bedeutet, gilt als erste nachantike Meist wurde die sinnliche Gier des Mannes nach Dichterin im Frühmittelalter, wurde als Mysti- dem keuschen Weib dramatisiert. Roswitha war kerin und erste weibliche Schriftstellerin im sich offensichtlich klar darüber, welches Wagnis deutschsprachigen Raum und der gesamten sie einging, als sie dieses Problem in Verse über- christlichen Welt bekannt. trug. So stellte sie den Dramen ein ausführliches Vermutlich entstammte sie einem nieder- Vorwort zur Seite: ‚Doch daß dabei nicht selten sächsischen Adelsgeschlecht. Früh – ca. um 945 – ich blöde vor tiefem Schamgefühl erröte, zwingt fand sie Aufnahme im Stift Gandersheim (Bad mich des Stoffs Natur und Art: verbuhlter Buben Gandersheim in Niedersachsen). Sie lebte nicht wüste, wirre Verrücktheit und verliebt Gegirre, im Stand einer Nonne, sondern als „Kanonisse“ des sonst sich selbst die Ohren schämen, in oder „Stiftsfräulein“ und genoss deshalb mehr Geist und Griffel aufzunehmen.‘“3) Freiheiten als die Nonnen. So verfügte sie z. B. Je nach Zeitgeschmack wurde die Gestalt über Eigentum und Bedienstete. Als ihre Lehre- der Roswitha von Gandersheim entweder als rinnen nannte sie eine Rikkardis sowie Gerber - außergewöhnliche Figur stilisiert oder als Fäl- ga II (940–1001), Tochter des Herzogs Heinrich schung „entlarvt“. Die Stadt Gandersheim erkor von Bayern und Nichte Ottos des Großen, die ab die dichtende Stiftsdame zu ihrer Werbeträgerin. 949 Äbtissin des Stiftes war. 1952 feierte Gandersheim sein 1100-jähriges Be- Roswitha von Gandersheim wurde in Arith- stehen, unter anderem mit einem Hrotsvit ge- metik, Musik, Astronomie, Dialektik, Gramma- widmeten Dichterinnentreffen. Seit 1959 finden

** Band 3 online unter: www.ham- 2007, S. 143. burg.de/maennerstrassennamen

2) Ebenda. 3) Manfred Below: Literarische Aus- flüge rund um Hannover. Cadolzburg Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 159

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vor der romanischen Stiftskirche die Ganders- diene immer noch soviel, dass ich meine Kinder heimer Domfestspiele statt. u. mich ganz gut durchbringen kann, u. uns das Im 20. Jahrhundert entdeckte die Frauenbe- Notwendigste kaufen kann. Ich könnte das in kei- wegung Hrotsvit als „gleichgesinnte Schwester“, nem anderen Beruf verdienen. Es gibt natürlich denn „sie war vom Selbstwert des Frauseins zu- Tage, die sind grauenvoll u. zum Davon-Laufen, tiefst überzeugt und setzte sich für ihre Über- andere Tage sind wieder ganz amüsant u. inhalts- zeugung ein. In ihren Texten ließ sie ihre Frauen reich, d. h. es sind ja die Nächte, ich fange nach- immer die Oberhand gewinnen“.4) mittags um 4 Uhr an u. komme vor 4 oder 5 Uhr früh morgens nicht raus hier. Der Sturm setzt erst um 12 Uhr ein. Zuweilen verlaufen sich auch Gerda-Gmelin-Platz Menschen unserer Klasse nach hier, u. ich darf HafenCity, seit 2013, benannt nach Gerda Gmelin sagen, dass ich wohl beliebt bin u. das Lokal, seit (23.6.1919 Braunschweig–14.4. 2003 Hamburg), ich hier bin, einen etwas Schauspielerin, Intendantin, Prinzipalin des Thea- besseren Ruf hat! Nun wä- ters im Zimmer. re es ja auch traurig, wenn Ihr Grab befindet sich im Garten der Frauen auf das nicht so wäre, denn dem Ohlsdorfer Friedhof. ich bleibe trotz al lem was ich bin, ich fasse alles rein Brief von Gerda Gmelin an ihren Vater, 2. Novem- geschäftlich auf u. habe ber 1949. den Bogen schon ganz gut „Lieber Vati! raus, da, wo ich sehe, dass Seit Langem habe ich vor Dir zu schreiben, etwas ist, tüchtig zu kas- Gerda Gmelin aber es fehlt mir wirklich die Zeit, ich muss sieren. Im Trinken bin ich mich auch jetzt kurz fassen. Aber ich habe das ja sehr fest u. kann viel vertragen. Äusserlich Gefühl, als müsste ich doch noch etwas von mir muss ich mich wohl sehr verändert haben, denn hören lassen, trotzdem ich von Dir gar nichts es heisst, ich sei eine ‚schöne Frau‘, u. ‚sehr mehr höre, höchstens mal von der Aussenwelt, char mant‘. Jetzt lachst Du! Ich bin allerdings aber es ist anzunehmen, dass es Dir gut geht. durch das Nachtleben sehr schmal u. schlank ge- Wenn ich es äusserlich nehme, kann ich worden u. Kleider machen Leute. Ich habe jetzt von mir dasselbe behaupten. Aber wenn ich Dir einen Locken-Wuschelkopf, wie Theklachen. schrei be was ich im Moment tue, wirst Du wirk- Mein Mann [Leo Masuth] (…) hat eine Gage lich staunen. Ich fungiere seit 8 Wochen als Bar- von 250 M u. so habe ich von ihm auch für die dame, und zwar in einem der verrufensten Lo- Kinder kaum etwas zu erwarten, aber so lange kale von Koblenz. Es verkehrt bei mir zum ich es schaffe, ist es mir ebenso recht, wenn ich grössten Teil die Unterwelt u. Leute, die Geld sie selber durchbringen kann. Verzweiflung u. haben zum bummeln. Träumereien gibt es jetzt nicht mehr. Z. zt. geht In den ersten 8 Tagen hatte ich das Gefühl in es mir um’s Verdienen. Ich denke bewusst nicht der Hölle zu sein, ich kam hier hin, als es neu er- mehr an irgendwelche Ideale, denn sowie ich öffnet wurde u. der Betrieb war unheimlich, all- die sen Gedanken nachgehe, habe ich keine

Abb.: Privat Abb.: mählich hat es etwas nachgelassen, aber ich ver- Energie mehr u. es muss ja weitergehen. Es wird

4) Ebenda. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 160

160 Biographien von A bis Z / G

schon einmal der Tag kommen, wo man wieder „Mein liebes, gutes Gerdalein! sich selbst leben kann. Der verfluchte Hetzvater dankt Dir mal wie- Ich muss dankbar sein, dass ich nach all der für alle Deine lieben Briefchen und beson - den Ereignissen noch die Kraft habe, auf diese ders für den letzten, woraus ich wieder ersehe, nervenaufreibende Art mein Geld verdienen zu wie tapfer Du Dich durchschlägst durch Dein können. Einen besonderen Verehrer habe ich schweres Leben. hier in einem älteren Herrn, der früher Sänger Ich fände es für unsere Beziehung sehr, sehr u. Theaterhase war, er kennt Stiebner u. die Laja schön, wenn Du mit den Enkeln i. Lüneburg sicher gut von Berlin, u. hat soviel Ähnlichkeit landen würdest u. habe darum gleich meine mit Dir, ein netter Komödiant u. Bohèmiens ge- Fühler bei Arnemann ausgestreckt. (…) Arne- blieben, trotzdem er jetzt in der Industrie ist. Es mann wird, ohne daß Deine Sache berührt wird, ist sehr gut, dass ich an ihm einen Halt hab‘, er dieser Tage bei Schmidt vortasten, wen er für die ist vielleicht nur ein paar Jahre jünger wie Du nächste Spielzeit wieder engagieren will u. u. besorgt u. grosszügig zu mir. meint daß es im Falle Masuth so sein wird. Ich Im Laufe der nächsten Zeit werde ich es schreibe Dir sofort, wenn ich es weiß. Feste Ver- wohl auch zu einer Wohnung bringen u. die träge laufen allerdings nur für eine 6 Monate Kinder zu mir nehmen können, u. diesen Winter Spielzeit, woraus sich aber nachher meistens muss ich durchhalten, bis zur nächsten Saison, noch 1–2 Monate Vor od. Nachspielzeit ergibt. vielleicht gibt’s dann ein Engagement. Ich würde an deiner Stelle mich noch nicht Nun schreib‘ mir doch endlich auch einmal. selbst bewerben. Da könnte Schmidt stutzig Ich hätte schon so oft Gelegenheit gehabt mit Ge- werden wegen Doppelengagement u.s.w. So was schäftsleuten nach Hambg. fahren zu können, mögen die Intendanten im allgemeinen nicht aber wenn ich ein paar Tage aussetze, verliere ich gerne. Aber nach Arnemanns Beschreibung fehlt zuviel. Also schreib‘ endlich mal. Es ist doch zu i. so einem kleinen Ensemble oft eine Kraft so traurig, wenn wir so auseinanderkommen. (…) daß dann doch gute Aussicht besteht, daß Du Es grüsst u. küsst Dich herzlich Dein Gerda- für ein Stück geholt wirst. chen.“5) Vor allem aber wäre es, wenn Du so nahe Der Name Gerda Gmelins und ihre Person bei Hamburg stationiert bist, für mich viel eher sind untrennbar mit dem Theater im Zimmer in möglich, Dich auch mal bei mir auszuprobieren. Hamburg verbunden. Die Gründung des kleinen Ich kenne Dich ja garnicht mehr in deiner Schau - Theaters geht auf ihren Vater Helmuth Gmelin spielerei u. würde mich riesig freuen, wenn es zurück. Er eröffnete das Theater am 24. März mal klappte. (…) Ganz davon abgesehen, freue 1948 in seiner Wohnung an der Alsterchaussee ich mich auch so, wenn ich Dich u. die Jungens 5 und verwirklichte damit seine lang gehegte öfters mal zu Besuch haben könnte. (…) Idee, ein „Theater ohne Vorhang und Rampe“ Ich lebe z. Z. in sehr gemischter Stimmung. zu gründen – in einer zwanglosen, privaten Um- Mein Theater hat schöne Erfolge, die ich aber gebung, im direkten Kontakt zu den Zuschauer- innerlich garnicht so als echten Erfolg sehe, da innen und Zuschauern. sie meinem Wesen nicht entsprechen. Aber seit Brief Helmuth Gmelins an seine Tochter Ger - ungefähr 1 Jahr habe ich i. d. Presse immer dann da, Hamburg Sonnabend 23. Februar 1952 Ablehnung, wenn ich selbst etwas inszeniere

5) Briefe in Privatbesitz. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 161

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od. spreche. Es ist schwer darüber hinwegzuse- ist ja sowieso da.“ Zehn Jahre arbeitete Gerda hen – trotzdem die Zeitungsleute ja nicht immer Gmelin unter diesen aufgezeigten Bedingungen u. in allem recht haben. Der Ärger ist nicht ge- rund um die Uhr. Sie betonte, dass sie weder kränkte Eitelkeit, sondern die Tatsache, daß man von großen Rollen noch von Regieführung sich mit dem, was man eigentlich will, nicht träum te. Sie fühlte sich wohl in der Verantwor- durchsetzt. – Nun, es muß durchgestanden wer- tung für einzelne Bereiche, freute sich, guten Re- den. Jedenfalls wird ab 6. März angefangen mit gisseuren zu assistieren, war weit entfernt von dem Umbau des neuen Hauses und wenn Gott dem Gedanken, das Theater eines Tages selbst will steht es Mitte Mai zum Besprechen frei. zu leiten. Allmählich veränderte sich die Sicht Herzliche Grüße von allen. Helmuth Gmelins auf das schauspielerische Ta- Sei innigst umarmt vom bösen Vati. lent seiner Tochter. Gerda Gmelin bekam grö- Vielen Dank für Christians schönen Brief. ßere Rollen und wurde von den Assistenz- und Küsse ihn u. Mathias vom Opa.“6) Inspizienzaufgaben befreit. Nach dem plötz- Im März 1955 – das Theater im Zimmer hatte lichen Weggang einer engen Mitarbeiterin übte inzwischen sein neues Domizil in der Alster- sie sich nun in ersten Engagements. In diese Zeit chaussee 30 bezogen – holte Helmuth Gmelin fiel eine schwere Erkrankung Helmuth Gmelins, seine Tochter mit ihren beiden Söhnen an sein die 1959 zu seinem Tode führte. Von dieser Zeit Theater. Gerda Gmelin war inzwischen Schau- an begann für Gerda Gmelin ein neuer Lebens- spielerin geworden und hatte ein Engagement abschnitt. Ohne dass sie es je beabsichtigt hatte, an einer Wanderbühne in Neuwied. Sie war ver- war sie nun die Prinzipalin, die Intendantin des heiratet mit dem Schauspieler Leo Masuth, des- Theaters im Zimmer. Zuerst fühlte sie sich nicht sen Namen sie nach der Scheidung 1958 ablegte, wohl mit dieser neuen Aufgabe, wollte „gehen“, um wieder ihren Geburtsnamen anzunehmen. doch die nächsten Aufführungen (z. B. von An- In Hamburg wohnte Gerda Gmelin mit ihren bei- ouilh) waren solch ein großer Erfolg, dass sie den Söhnen über dem Theater in den Gardero- sich dem Publikum verpflichtet fühlte. So wuchs ben. Der ältere Sohn Christian kam bald auf ein sie in die größere Verantwortung hinein – unter- Internat, Matthias, der Jüngere, blieb in Ham- stützt vom Freundeskreis des Theaters, von der burg und schlief hinter einem Paravent. Auch Volksbühne und von langjährigen Theaterweg- Gerda Gmelin lebte sehr beschränkt. Der Begriff gefährtinnen und -gefährten, weiterhin geleitet des Wohnens konnte hierfür kaum angewendet von der Idee Helmuth Gmelins. Gerda Gmelin werden. Gerda Gmelin lernte den Theaterbetrieb pflegte einen familiären Stil im Umgang mit in allen seinen Facetten kennen und musste ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Jede auch alles, was zum reibungslosen Ablauf da- und jeder war ihr wichtig für das Gelingen der zugehörte, mitmachen. So äußerte sie sich ein- Theaterarbeit. Sie zeigte ein ausgesprochenes mal dazu: „Schauspielerin war ich zu aller-, Gespür für avantgardistische, wenn auch nicht allerletzt, zu 99 Prozent war ich halt Regieassis- immer publikumswirksame Stücke, gute Regis- tentin, Requisiteuse, Souffleuse, Tonmeister, In- seure und Schauspielerinnen und Schauspieler. spizientin – alles, was es so gab.“ Ihre ersten Brecht, Miller, de Sade u. a. standen auf dem kleinen Rollen bekam sie nach Vater Helmuths Spielplan. Im Winter 1967 begann sie eine er- Motto: „Och, das kann Gerdachen spielen, die folgreiche jährliche Agatha-Christie-Krimireihe,

6) Ebenda. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 162

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später folgte ein sonntäglicher Jazz-Frühschop- Gerlindweg pen, inspiriert durch Gottfried Böttger (Piano) Rissen, seit 1957. Gestalt aus der Gudrunsage. und Andreas von der Meden (Banjo) – eigent- Anonymes Heldenepos um 1240. Motivgruppe: lich der Beginn der Hamburger Musik-Szene, Gestalten aus der Gudrunsage wie Gerda Gmelin einmal betonte. In dieser Zeit des Erfolgs hatte Gerda Gmelin einen schweren Gerlind ist die Mutter von Hartmut von Ormanie Unfall mit langer Rekonvaleszenz. Sie musste und lebt mit ihm auf einer Burg. Sie überredet „kürzertreten“, erhielt aber viel Unterstützung ihn, um Gudrun zu werben und falls diese ihn für das Theater, besonders durch Friedrich Schüt- ablehnen sollte, sie gewaltsam zu entführen. ter (siehe Ü Friedrich-Schütter-Platz, in Bd. 3 onli- Tatsächlich weist Gudrun Hartmut ab, und ne**) und sein Ensemble. Sohn Christian Ma- Hartmut tut, was seine Mutter ihm für diesen suth, bis dahin zur See gefahren, kam zurück, Fall geraten hat und entführt Gudrun auf seine übernahm die handwerklichen Arbeiten und Burg. entwickelte sich zum anerkannten Bühnenbild- Doch Gudrun gibt nicht auf; standhaft wei- ner des Theaters im Zimmer. Mit der Spielzeit gert sie sich, Hartmut zum Mann zu nehmen. 1977/78 übernahm Gerda Gmelin wieder die Ganz „böse Stiefmutter in spe“ tyrannisiert und ganze Theaterarbeit mit der Aufführung „Gas- erniedrigt Gerlind sie deshalb, lässt sie niedere licht“ und weiteren Stücken von Ayckbourn, Dienste verrichten und am Strand Wäsche wa- Pinter u. a. Die Volksbühne ehrte Gerda Gmelin schen. mit der Silbernen Maske. 1982 begann Gerda Siehe auch Ü Gudrunstraße, Hildeweg, in die- Gmelin mit einem neuen Projekt: einer Musical- sem Band. Tradition. Bis zur Schließung des Theaters im Siehe auch Ü Hartmutkoppel, Herwigredder, Zimmer im Jahre 1999 steuerte Gerda Gmelin Ortwinstieg, Wateweg, in Bd. 3 online**. immer wieder mit großem Elan, mit eigenen er- folgreichen Rollen in Stücken von Pinter, Be- ckett, Kroetz u. a. durch alle Fährnisse des Thea- Gertrud-Bäumer-Stieg terlebens. Für ihre Verdienste erhielt sie die Bergedorf, seit 1984, benannt nach Gertrud Bäu- Medaille für Kunst und Wissenschaft des Ham- mer (12.9.1873 Hohenlimburg–25.3.1954 Be- burger Senats, die Biermann-Ratjen-Medaille und thel), Frauenrechtlerin, Politikerin. Motivgruppe: den Max-Brauer-Preis. Ihre letzte in der Winter- Verdiente Frauen huder Komödie gespielte Rolle der „Winnie“ in Becketts „Glückliche Tage“ war eine ihrer Lieb- Gertrud Bäumer entstammte einer protestantischen lingsrollen. Gerda Gmelin starb am 14. April Theologenfamilie und hatte noch zwei Ge- 2003 in Hamburg. schwister. „Entsprechend den sozial-liberalen Text: Christian Masuth (†), Sohn von Gerda Gmelin Ansichten ihres Vaters besucht Bäumer (…) statt Siehe auch ÜFriedrich-Schütter-Platz, Uhlen- der höheren Töchterschule die Volksschule, wo horst, seit 2001: Friedrich Schütter (1921– sie mit Kindern aus allen Schichten in Berührung 1995), Schauspieler, Intendant des Ernst- 7) Deutsch-Theaters, Gründer des Jungen Thea- kommt.“ ters, in Bd. 3 online**. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1883 ge- riet die Familie in finanzielle Schwierigkeiten.

** Band 3 online unter: www.ham- tive auf Helene Lange und Gertrud burg.de/maennerstrassennamen Bäumer. Königstein/Taunus 2000, S. 29f. 7) Margit Göttert: Macht und Eros. Frauenbeziehungen und weibliche Kultur um 1900 – ein neue Perspek- Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 163

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Die Mutter zog mit ihren drei Kindern zur Groß- Kriegswirtschaft mit organisieren. Den interna- mutter nach Halle an der Saale, wo die damals tionalen Frauenfriedenskongress [siehe dazu Ü zehnjährige Gertrud „ihre weitere Kindheit im Heymannstraße, in diesem Band], der 1915 im Kreis einer Großfamilie mit ‚matriarchalem Cha- Haag stattfindet, lehnt Bäumer wie viele ihrer rakter‘ (so Bäumer selbst) und protestantisch- Vorstandskolleginnen ab und ist maßgeblich an konservativer, asketischer Grundhaltung unter dem Beschluss beteiligt, den Funktionsträgerin- großmütterlichem Regiment verbringt“.8) nen des Bundes die Teilnahme zu untersagen.“10) Nach dem Besuch einer höheren Mädchen- In (Hamburg)-Altona übernahm Bäumer schule absolvierte Gertrud Bäumer ein Lehre- 1916 die Leitung des „Frauenreferates des Kriegs- rinnenseminar und unterrichtete ab 1892 an amtes, das 1916 wie in allen Städten des Deut- Mädchenvolksschulen. Sie engagierte sich im schen Reichs gegründet worden war, um Frauen Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein und für die Industrie und die Übernahme von fürsor- bekam durch ihn Kontakt zur bürgerlichen Frau- gerischen Maßnahmen zu rekrutieren. Unter enbewegung. In diesen Kreisen lernte sie auch ihrer Führung fordert der BDF 1917 auf seiner die Frauenrechtlerin Helene Lange kennen (sie- Kriegskonferenz das Stimmrecht [Wahlrecht für he Ü Helene-Lange-Straße, in diesem Band). Als Frauen] mit dem Hinweis auf die Leistungen, sie 1898 von deren Augenkrankheit erfuhr, bot die die Frauen an der ‚Heimatfront‘ erbräch- sie sofort ihre Hilfe an. „Innerhalb kürzester Zeit ten“.11) Selbst noch im Jahre 1918 verfasste Ger- wird sie zu Langes engster Mitarbeiterin und trud Bäumer Durchhalteparolen für die Frauen- zieht schon 1899 zu ihr in die [Berliner] Woh- organisationen. nung, die Helene Lange damals noch mit ihrer Als im Kriegsjahr 1917 Lebensgefährtin Dora Sommer teilte.“9) in Hamburg die Doppelins- 1900 bestand Gertrud Bäumer die Oberleh- titution Soziale Frauen- rerinnenprüfung und begann daraufhin ein Stu- schule und Sozialpädago- dium der Philosophie und Theologie. Vier Jahre gisches Institut gegründet später schloss sie das Studium mit der Promo- wurde, wurde Gertrud Bäu - tion ab. mer als Leiterin eingesetzt. Während des Studiums und danach schrieb Die Frauenschule bot eine sie für die von Helene Lange herausgegebene zweijährige allgemeine so- Zeitschrift „Die Frau“ und übernahm ab 1907 ziale Ausbildung, das Ins - Gertrud Bäumer die Redaktion der Zeitschrift „Neue Bahnen“. titut eine fachliche Ausbil - 1910 wurde Gertrud Bäumer Vorsitzende dung für Sozialarbeiterinnen. Neben Gertrud des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF). Als Bäumer unterrichtete am Sozialpädagogischen der Erste Weltkrieg begann, gehörte Gertrud Bäu- Institut auch ihre Freundin Helene Lange. mer zu den Befürworterinnen des Krieges. Unter 1918 gründete Gertrud Bäumer mit Fried - ihrer Leitung wurde gleich nach der Mobil- rich Naumann (siehe Ü Friedrich-Naumann-Straße, machung 1914 der Nationale Frauendienst ge- in Bd. 3 online**) die Deutsche Demokratische gründet. „Er soll die soziale Arbeit im Innern Partei (DDP). Zwei Jahre später wurde sie als des Reiches koordinieren, die Folgen der Mobil- erste Frau in Deutschland zu einer Ministerial-

Abb.: Aus: Agnes von Zahn-Harnack, Die Frauenbewegung, Berlin 1928, S. 24/Bestand Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung. deutschen der Archiv Stiftung 24/Bestand S. 1928, Berlin Frauenbewegung, Die Zahn-Harnack, von Agnes Aus: Abb.: machung auffangen und die Umstellung auf die rätin ernannt und betreute im Reichsinnenmi-

8) Margit Göttert, a. a. O., S. 30. 9) Margit Göttert, a. a. O., S. 31. 10) Margit Göttert, a. a. O., S. 33. 11) Ebenda. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 164

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nisterium das Schulreferat. Gleichzeitig fungier - eine gemeinsame Wohnung in Bonn/Bad-Go- te sie zwischen 1919 und 1933 als Abgeordnete desberg.“12) (DDP) des deutschen Reichstages. In dieser Zeit 1949 wurde Bäumer Mitbegründerin der lebte sie mit Helene Lange wieder in Berlin. „Als Partei der CSU. Lange, mit der sie zuletzt zusammengelebt hat, Siehe auch Ü Emmy-Beckmann-Weg, Helene- 1930 stirbt, zieht Bäumer mit ihrer Freundin Ger- Lange-Straße, Ricarda-Huch-Weg, Suttner- straße, trud Hamer, geb. von Sanden, die sie seit 1922 in diesem Band. kennt, in eine gemeinsame Wohnung in Berlin. Siehe auch Ü Friedrich-Naumann-Straße, Heim- feld, seit 1929: Dr. Friedrich Naumann (1860– Am 14. März 1933, kurz nach dem Machtantritt 1919), Mitbegründer der DDP, Mitglied der der Nationalsozialisten, wird sie beurlaubt und Weimarer Nationalversammlung, Reichstag- am 21. April 1933 wegen ‚politischer Unzuverläs - sabgeordneter, in Bd. 3 online**. sigkeit‘ aufgrund des Gesetzes zur Wiederher- stellung des Berufsbeamtentums mit verkürztem Gertrudenkirchhof Ruhegeld aus dem Staatsdienst entlassen. Sie Altstadt, seit dem 18. Jahrhundert. Benennung er- mietet sich daraufhin zusammen mit von San- folgte durch Übertragung der Bezeichnung des den ein kleines Schloss in Gießmannsdorf bei angrenzenden Kirchhofes der St. Gertrud-Kapelle Bunzlau in Niederschlesien, wo sie sich fortan (vgl. Abb. S. 64) vor allem ihrer schriftstellerischen Tätigkeit wid- met, aber weiterhin auch Vorträge in privatem Rah men und in christlichen Kreisen hält. (…) Gertrudenstraße Bis 1944, als Papiermangel eintritt, kann sie ihre Altstadt, seit 1843, benannt nach Gertrud von Zeitschrift ‚Die Frau‘ mit Genehmigung der Na- Nivelles (geb. um 626 in Nivelles, ursprünglich tionalsozialisten weiterführen. Darin kommen ein Landsitz der Pippiniden in Brabant, 20 km nicht nur Frauen aus der alten Frauenbewegung südlich von Brüssel, gest. 17.3.659), Patronin der zu Wort, sondern auch aktive Nationalsozialistin- während des Großen Brandes 1842 ausgebrann- nen, häufig ehemalige Schülerinnen, die unter ten und danach abgerissenen St. Gertrud-Kapel - dem neuen Regime Karriere gemacht haben. (…) le, zu der die Straße führt Während der letzten Jahre in Gießmannsdorf betreut Bäumer den Enkel ihrer 1940 an Krebs Die heilige Gertrud von Nivelles war die Tochter verstorbenen Freundin Gertrud von Sanden und Pippins von Landen, dem Älteren, und der sel. tritt mit ihm 1945, als sich die russischen Solda- Itta oder Iduberga. Durch den Einfluss ihrer Mut- ten nähern, die Flucht in den Westen an. (…) ter legte sie bereits im Alter von zwölf Jahren Bäumer kommt (…) bei einer Bekannten in Bam- das Keuschheitsgelübde ab und schlug später berg unter (…). Sie führt ihre schriftstellerische eine Heirat mit dem Sohn des Herzogs von Aus- Tätigkeit weiter und reist (…) mit Vorträgen trasien aus. Nach dem Tod des Vaters führte sie durch Deutschland, die vor allem die christlich- bei ihrer Mutter ein sehr zurückgezogenes Le- soziale Erneuerung im Nachkriegsdeutschland ben. Auf Rat des Bischofs von Maastricht ließ und die umstrittene Verteidigung der Frauenbewe- Itta ihren Landsitz und die Ländereien in Nivel- gung zum Inhalt haben (…). 1947 erhält Bäumer les in ein Kloster umwandeln, in das Mutter und (…) zusammen mit ihrer Schwester Else (…) Tochter eintraten.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

12) Margit Göttert, a. a. O., S. 35f. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 165

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Nach dem Tod der Mutter wurde Getrud zur Gertrud-Meyer-Straße ersten Äbtissin des Klosters ernannt. Sie hielt Ohlsdorf, seit 2014, benannt nach Gertrud Meyer ihre Nonnen zu Spinn- und Webarbeiten an, ließ (21.1.1898 Köln–21.12.1975 Hamburg), Autorin, sie von irischen Priestern unterrichten, richte- KPD-Mitglied ab 1920, Stadtverordnete in Köln te eine Klosterbibliothek 1924–1925, Umzug mit Familie nach Moskau ein und begründete neben 1930, Verhaftung 1936, Abschiebung aus Russ- dem Kloster eine Herber - land nach Deutschland 1938, dort Verhaftung, ge für Wanderer und Pil- 1940 entlassen, Zwangsarbeit als Laborantin, ge- ger. hörte der Widerstandsgruppe „Bästlein-Jacob- Einen Großteil ih res Abshagen“ an, erneut Verhaftung 1944, baute Vermögens gab sie auch nach dem Krieg ein antifaschistisches Archiv für den Bau von Kirchen des Widerstandes auf und publizierte die Ergeb- aus, weshalb sie oft mit nisse; Widerstandskämpferin gegen den Natio- einer Kirche im Arm dar- nalsozialismus gestellt ist (z. B. auf ei - nem Bild in der Hambur- Gertrud Meyer, die den größten Teil ihres Lebens ger St. Jacobi-Kirche). in Hamburg verbrachte, war eine überzeugte Ihre Gesundheit hielt Kommunistin und wurde von den Nationalsozi- jedoch die star ke Arbeits- alisten verfolgt und inhaftiert – doch trotz oder belastung nicht aus. Ger- gerade wegen der erlittenen Qualen gründete trud starb während der sie gleich nach Kriegsende ein Archiv für anti- Heiligen Mes se im Alter faschistischen Widerstand. von 33 Jahren. Am 21. Januar 1898 wurde Gertrud Meyer Nach ihrem Tod wur- in Köln als Tochter eines engagierten sozialde- Gertrud von Nivelles, de sie zur Schutzpatronin mokratischen Handwerkerehepaares geboren. Altarrelief, St. Jacobi- Kirche, Hamburg der Reisenden und Kauf- Als Gertrud Meyer zwölf Jahre alt war, starb ihr leute. Fast alle Hansestäd te Vater an Schwindsucht. Die Familie zog nach besaßen im 14. Jahrhundert eine Kapelle oder Hamburg. „Schon dieser erste Schicksalsschlag einen Altar zu Ehren der Heiligen Gertrud. Au- (der Tod des Vaters und die daraus resultierende ßerdem war sie die Schutzpatronin gegen Rat- Verarmung der Familie) hatte sie tief verwundet, ten- und Mäuseplage. Im Volksglauben gehört zugleich aber ihr Bedürfnis nach Selbstbehaup- sie zu den Frühlingsbotinnen und wird als tung, ihren Widerstand und ihre Energie unge- „Sommerbraut“ oder „erste Gärtnerin“ bezeich- mein gesteigert. So fand sie den Weg zur aktiven net. Teilnahme an der sozialistischen Jugendbewe- Eine Holzfigur (geschaffen um 1520), ver- gung,“13) schreibt die Herausgeberin von Gertrud mutlich die der heiligen Gertrud, kam aus der Meyers Autobiographie. Gertrudenkirche an die Sammlung der Hambur- Gertrud Meyer war begabt, sie besuchte die gischen Altertümer. Da allerdings die Attribute Selekta, was nur den besten Schülerinnen aus fehlen, war eine Identifizierung der Heiligen den letzten Volksschulklassen Hamburgs erlaubt

Abb.: Hauptkirche St. Jacobi/Hagen Wehrend Jacobi/Hagen St. Hauptkirche Abb.: schwierig. wurde. Ihr Wunsch, Lehrerin zu werden, wurde

13) Mathijs C. Wiessing (Hrsg.): Ger- trud Meyer – Die Frau mit grünen Haaren. Erinnerungen von und an G. Meyer. Hamburg 1978, S. 7. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 166

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jedoch von der Armenverwaltung mit einer un- vershanghaiten. Ich wurde von ihnen nach Quick - glaublichen Begründung abgelehnt: „Ich war da- born in Holstein, fünfzig Kilometer von Hamburg mals vierzehn Jahre alt (...). Aus der Selekta entfernt, vermittelt. Da war ein Komplex von Mu - konnten zu jener Zeit Volksschülerinnen ein Sti- nitionsfabriken, der der Dynamit-No bel-AG und pendium bekommen und konnten eine höhere der Norddeutschen Sprengstoff-AG gehörte. Dort Lehranstalt besuchen, entweder ein Lehrersemi- habe ich an der Presse gearbeitet – Schwarz- nar oder ein Lyzeum und hatten damit die Mög- pulver –, wir haben Leuchtkörper hergestellt. Es lichkeit eines qualifizierten Berufes. Bei mir gab gab keine Verbindung mit den Jugend or ga ni - es zwei Möglichkeiten. Ich zeichnete sehr gut, sationen. (...) In Quickborn, wo ich arbeitete, meine Zeichnungen wurden ausgestellt in der war nicht eine Stelle, war kein Gewerkschafter, Kunstgewerbeschule am Lerchenfeld (...). Ich der sich darum kümmerte, daß wir Milch haben konnte Zeichenlehrerin oder Lehrerin werden. mußten, da wir doch dieses Gift schlucken muß- Auf alle Fälle mußte ich dazu das Lehrerseminar ten.“15) besuchen und nebenbei die Kunstgewerbeschu- Die Arbeit in der Munitionsfabrik machte le im Lerchenfeld. (...) Nun ging die Verhand- Gertrud Meyer krank – sie brach zusammen – lung, ob ich aufs Lehrerseminar soll. Da schalte- kehrte nach Hamburg zurück und musste sich te sich die Armenverwaltung bzw. die Gemeinde einige Zeit auskurieren und: „nachher wieder - ein und bestimmte: wenn die Gertrud nicht um zum ,Vaterländischen Frauenverein‘. Die fei- Dienstmädchen wird, wörtlich: ,Dann ziehen nen Damen mit den reingewaschenen Hälsen wir die milde Hand zurück und Frau Meyer be- haben uns dann im Mai 1917 nach Leverkusen kommt ihre fünf Mark nicht mehr.‘ So mußte ich geschickt. In Leverkusen habe ich in einem Ge- Dienstmädchen werden und mich auch konfir- schoßfüllwerk gearbeitet“.16) Dort lernte sie Mit- mieren lassen.“14) glieder der sozialdemokratischen Arbeiterbewe- Nach einiger Zeit kündigte Gertrud Meyer gung kennen. 1917 trat sie der USPD bei, 1920 ihre Dienstmädchenstelle und begann eine Tä- dann der KPD. tigkeit in einer Schraubenfabrik im Hamburger In der Munitionsfabrik in Leverkusen er- Stadtteil Hammerbrook, wo sie sehr anstren- krankte sie durch ihre Arbeit mit Piktrinsäure, gende Arbeiten verrichten musste. die Gertrud Meyers Haare grün und ihre Haut Nachdem sie dort gekündigt hatte, arbeitete gelb werden ließ. „Es kam die Revolution vom sie eine Zeit lang auf dem Gut des Barons von November 1918 – die Munitionsarbeit war vor- Ohlendorff (siehe Ü Heinrich-von-Ohlendorff-Straße, bei, und allmählich verschwand nicht nur Ger- in Bd. 3 online**). Nachdem sie auch diese Stel- truds widerliche Färbung, sondern auch der lung verlassen hatte, versuchte sie eine neue An- damit verbundene Minderwertigkeitskomplex. stellung zu finden und sprach deshalb in Ham- Gertrud spielte eine wesentliche Rolle im Arbei- burg beim Vaterländischen Frauenverein vor, der ter- und Soldatenrat und später auch in der als Arbeitsvermittlungsstelle fungierte. Diesem Kommunistischen Partei in Köln,“17) so Gertrud Verein: „gehörten u. a. die Damen Sieveking, Meyers Biographin Mathijs C. Wiessing. Heydorn und Mönckeberg, also die Hautevolee Nachdem Gertrud Meyer die Munitionsfa- von Hamburg [an]. Die machten auf diese Weise brik in Leverkusen verlassen hatte, zog sie zu

Vaterlandsverteidigung, indem sie uns Mädchen Verwandten nach Köln. Dort lernte sie in ihrem 1978. Hamburg Verlag, VSA Gertrud (Hrsg.), Wiessing ..., Meyer Aus: Mathijs C. Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- S. 30. burg.de/maennerstrassennamen 16) Mathijs C. Wiessing, a. a. O., S. 37 und 41. 14) Mathijs C. Wiessing, a. a. O., 17) Mathijs C. Wiessing, a. a. O., S. 7. S. 23. 15) Mathijs C. Wiessing, a. a. O., Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 167

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politischen Umfeld Kurt Meyer kennen, einen nig besser ging, übernahm sie die „Rote Hilfe“ Mann aus bürgerlichen Kreisen, Architekt von und die Frauenarbeit der KPD. Als ihr Mann 1930 Beruf und Mitbegründer der Zeitung „Sozialisti- zum Städtebaudirektor befördert werden sollte, sche Republik“. Am 14. April 1920 heirateten ließ Adenauer ihn zu sich kommen und forderte die beiden. Zusammen mit ihrem Mann setzte ihn und seine Frau auf, aus der KPD auszutre- Gertrud Meyer ihre politische Arbeit fort, so als ten – ansonsten könne er die Beförderung nicht Angestellte in der Expedition der „Sozialisti- unterschreiben. Kurt Meyer bat um Bedenkzeit, schen Republik“. Mit dieser Arbeit verdiente sie um sich mit seinen Genossen zu beraten. Bei die- ihr Geld, nebenher war sie als Referentin der sen handelte es sich um Vertreter der Sowjeti- USPD, ab 1920 dann der KPD tätig. Außerdem schen Handelsgesellschaft und des Obersten wurde Gertrud Meyer in Köln zur Stadtverord- Volkswirtschaftsrates. Sie rieten ihm, sich für neten gewählt und arbeitete in verschiedenen mindestens zwei Jahre beurlauben zu lassen und Ausschüssen, auch in der Bezirksleitung der nach Moskau zu gehen – um sich somit Adenau- KPD für die Frauenarbeit, ers Forderung elegant zu entziehen. mit. Gleichzeitig hatte sie 1930 folgte das Ehepaar Meyer diesem Rat noch ihren kleinen Sohn und zog mit ihrem neunjährigen Sohn nach Mos- zu versorgen. kau. Dort arbeitete Gertrud Meyer in einem Da Gertrud Meyers Dynamowerk, wollte aber eigentlich Biologie Gesundheit bereits sehr studieren. Man schlug ihr jedoch vor, ein Politik - angeschlagen war, stand studium aufzunehmen, und zwar an der West- sie diese vielfältigen Tä- universität, einer Hochschule für ausländische tigkeiten nicht durch – Studentinnen und Studenten, die auch einen neue Erkrankungen stell- deutschen Sektor besaß. Kurt Meyer wurde zum Gertrud Meyer ten sich ein: „Ich hatte Leiter eines der Moskauer Bezirksämter ernannt eine ganze Zeit das Stadt- und erhielt die Einbürgerung. verordnetenmandat, aber dann wurde meine Doch auch in der Sowjetunion waren der Stirnhöhlenentzündung immer schlimmer. Das Familie nur knapp neun Jahre gegönnt, denn in wurde dann so furchtbar, daß es passierte, daß die politischen Auseinandersetzungen innerhalb ich während der Stadtverordnetenversammlung der KPdSU, die sich ab 1934 zuspitzten, wurden einfach zusammenbrach und diese entsetzlichen auch die Emigranten einbezogen. Gertrud Mey- Kopfschmerzen hatte, an denen ich tagelang litt ers Biographin schreibt zu den politischen Ereig- und mich wie ein totgeschlagener Hund fühlte. nissen: „Kirow, Parteisekretär von Leningrad, Es wurde so schlimm, daß ich gar keine Funk- seit dem XI. Parteitag 1922 Kandidat des ZK der tion mehr richtig ausüben konnte, weil ich ein- KPdSU, seit 1927 Mitglied des Politbüros, wird fach keine Termine einhalten konnte, so daß ich am 1. Dezember 1934 ermordet. Noch am Abend damals dann alle Funktionen niederlegen mußte, des Mordtages gibt Stalin, ohne Konsultation des mit Ausnahme der Stadtteilleitung.“18) Politbüros, eine Verordnung zur beschleunigten Ihr Mann war in dieser Zeit Stadtarchitekt. Aburteilung sogenannter Terroristen und zur un- 1929 zogen sie von Deutz nach Köln. Nachdem verzüglichen Hinrichtung aller bislang zum Tode es Gertrud Meyer gesundheitlich wieder ein we- verurteilten Oppositionellen heraus. Die Ermor-

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dung Kirows wird so zum Auftakt einer immen- keit relativ frei in den Valvo-Werken bewegen sen Repressionswelle, in deren Verlauf tausende konnte, wurde sie von ihrer Partei zur Kontakt- Kommunisten verhaftet und verschleppt wer- person für die Zwangsarbeiterinnen und -arbei- den.“19) Von diesen politischen Spannungen war ter gewählt. Gertrud Meyer setzte sich für diese auch das Ehepaar Meyer betroffen. Gertrud und ein und überzeugte die restliche Belegschaft der Kurt Meyer wurden 1936 aus der Partei ausge- Valvo-Werke, sich solidarisch mit den „Ost“-Ar- schlossen, Kurt Meyer am 26. November 1936 beitern und -arbeiterinnen zu zeigen. So wurde verhaftet. Er starb 1942 und wurde später post- ihnen mehr oder weniger offen geholfen. Gleich- hum in der Sowjetunion rehabilitiert. Weil Ger- zeitig versuchte Gertrud Meyer ihre Kolleginnen trud Meyer deutsche Staatsbürgerin war und zu und Kollegen zum Widerstand gegen das NS-Re- den Kadern der Komintern gehörte, erfolgte 1938 gime aufzurufen. ihre Ausweisung aus der SU. Ihr Sohn blieb zu- Als Hamburg im Sommer schwer bombar- rück und wuchs in einem Kinderheim auf. Die diert wurde, entwarf Gertrud Meyer ein Flug- beiden sollten sich erst nach dem Krieg wieder- blatt, das in den Betrieben Hamburgs verteilt sehen. wer den sollte. Es lautete: „An die Bevölkerung So kehrte Gertrud Meyer 1938 in ein Deutsch- der Stadt Hamburg! Das vierte Kriegsjahr nimmt land zurück, in dem die Nationalsozialisten re- seinen Lauf. Es begann mit der Niederlage von gierten. Als sie über Polen kommend Berlin er- Stalingrad. Mehr als hunderttausend deutsche reichte, wurde sie in Gestapo-Haft genommen Männer und Söhne mußten dort elend für eine und mehrere Tage verhört. Im Oktober 1938 kam verlorene Sache zugrunde gehen. Unaufhaltsam sie ins Gefängnis Moabit in „Schutzhaft“. Im folgen die Rückschläge an allen Fronten. Jeder März 1939 wurde sie zu zwei Jahren Zuchthaus kann jetzt erkennen: Dieser Krieg ist nicht mehr wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verur- zu gewinnen! Verbreitet die Wahrheit über die- teilt. Die Strafe saß sie in Cottbus ab und kam, sen Krieg! Arbeitet langsamer! Macht keine da die Untersuchungshaft angerechnet worden Überstunden! Blockiert die Lieferungstermine! war, endlich Ende September 1940 nach Ham- Alles, was Ihr tut, um den Krieg zu beenden, burg zu ihrer Mutter und Schwester. dient der Rettung der Heimat und unzähliger Kurz nach ihrer Ankunft in Hamburg nahm Menschenleben!“ Gertrud Meyer Kontakt zur illegalen Organisa- Für die Verteilung des Flugblattes blieb je- tion der KPD auf, deren Angehörige sie zum Teil doch keine Zeit mehr. Die Gestapo war der Wi- von früher kannte. Sie wurde Mitglied der Bäst- derstandsgruppe auf den Fersen. Im Jahre 1944 lein-Jacob-Abshagen-Gruppe, der illegalen Be- begannen die Verhaftungswellen. Gertrud Meyer zirksleitung der KPD Hamburg und begann als wurde am 25. Februar 1944 in ihrem Betrieb ver- Laborantin in der Rüstungsfabrik des Valvo-Wer- haftet, nachdem sie noch einige Freunde hatte kes in Hamburg-Lokstedt tätig zu werden. Hier warnen können. Weil sie keine Freunde und Ge- arbeiteten auch viele „Ost“-Arbeiterinnen aus nossen verriet, wurde sie gefoltert. Ihr Prozess besetzten Gebieten. Sie waren unterernährt, un- sollte im März 1945 vor dem Volksgerichtshof ter primitivsten Umständen untergebracht, und stattfinden. Da sich ihr Prozess jedoch immer ihr Lohn war meist geringer als ein Taschengeld. wieder durch Bombenangriffe und andere Um- Da sich Gertrud Meyer wegen ihrer Labortätig- stände, z. B. durch den Tod des Vorsitzenden des

19) Mathijs C. Wiessing, a. a. O., S. 79. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 169

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Volksgerichtshofs verzögerte, wurde Gertrud Me - Gesundheitlich war Gertrud Meyer sehr an- yer der Prozess nicht mehr gemacht. Am 1. Mai geschlagen. Aufgrund der erlittenen Qualen un- 1945 wurde Hamburg den Engländern überge- ter der Folter und während der Haft hatte sie ben, Gertrud Meyer aber erst am 26. Mai 1945 sich ein schweres Herzleiden zugezogen. Ger- aus dem Gefängnis entlassen. trud Meyer starb am 21. Dezember 1975 in ihrer Trotz dieser schweren Erlebnisse baute Ger- Hamburger Wohnung in der Maria-Louisen-Stra- trud Meyer gleich einen Monat nach ihrer Ent- ße 65 im Stadtteil Winterhude. lassung aus der Haft zusammen mit anderen Text: Anja Bögner früheren Widerstandskämpferinnen und -kämp- Siehe auch Ü Catharina-Fellendorf-Straße, fern das Komitee ehemaliger politischer Gefan- Erna-Behling-Kehre, Helene-Heyckendorf- Kehre, Katharina-Jacob-Weg, Lisbeth-Bruhn- gener auf, das der britischen Militärregierung Straße, Margit-Zinke-Straße, Marie-Fiering- bei der Entnazifizierung half. Außerdem hatte Kehre, Tennigkeitweg, Thüreystraße, in diesem das Komitee die Aufgaben, sich um ehemals Ver- Band. folgte und ihre Familienangehörigen zu küm- Siehe auch Ü Heinrich-von-Ohlendorff-Straße, mern, bei der Arbeitssuche zu helfen, Trüm- Bergstedt, seit 1936: Christian Heinrich Freiherr von Ohlendorff (1836–1928), und Ohlendorffs meraufräumarbeiten zu organisieren und andere Tannen, Volksdorf, seit 1948: Kaufmann, Besit- soziale Hilfe zu leisten. Gertrud Meyer sammelte zer des Gutshofes Volksdorf, in Bd. 3 online**. Berichte und Dokumente über die Verfolgung in der NS-Zeit und war maßgeblich an den Kriegs- verbrecherprozessen in Hamburg beteiligt. Gertrud-Pardo-Weg In der Zeit des Kalten Krieges wurde das Ko- Alsterdorf, seit 1985, benannt nach Gertrud Hen- mitee verboten. Aber nicht nur das war ein har- riette Pardo (10.7.1883 Hamburg–am 25.10.1941 ter Schlag für Gertrud Meyer. Ihr und ihrem deportiert nach Lodz, am 3.6.1942 weiter de por - neuen Lebensgefährten, dem österreichischen tiert ins Vernichtungslager Chelmno), jüdisches Sozialdemokraten und ersten Sekretär des Ko- Opfer des Nationalsozialismus. Gewerbeoberleh- mitees, Hans Schwarz, wurde von den eigenen rerin an der staatlichen allgemeinen Berufsschu le Genossen vorgeworfen, dass sie mit den Englän- für die weibliche Jugend, Bezirksschule III, dern, den ehemaligen Verbündeten, die nun zu Schrammsweg 34. Leiterin der Haushaltungs- Feinden geworden waren, zusammengearbeitet schule Heimhuder Straße 70 hatten. Gertrud Meyer wurde aus der KPD aus- Stolperstein vor dem Wohnhaus Rainweg 9 und geschlossen. Kurze Zeit später wurde die KPD vor der Wirkungsstätte der Schule an der Kelling- verboten und Gertrud Meyer vom ZK der nun husenstraße 11. illegalen KPD wieder aufgenommen. Gertrud Meyer organisierte die Parteiarbeit in der Illega- Im Jahre 2013 beschäftigten sich zwei Klassen lität, erstellte ein neues Archiv des Widerstandes (HH11/1 und HH11/2) der Höheren Handels- und half beim Aufbau des KZ Neuengamme als schule der Beruflichen Schule Eppendorf mit Gedenkstätte. Außerdem schrieb sie mehrere dem Schicksal der an der Gewerbeschule Ep- Bücher über die NS-Zeit, z. B. „Nacht über Ham- pendorf tätig gewesenen jüdischen Lehrerin burg“, „Frauen gegen Hitler“ und „Streiflichter Gertrud Pardo, die 1942 ins Vernichtungslager aus dem Hamburger Widerstand“. Chelmno deportiert wurde. Dieses Schulprojekt

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 170

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mündete in einer Ausstellung, die vom 27. Mai Bevor Gertrud Pardo die Leiterin der Haus- bis zum 7. Juni 2013 im Erdgeschoss der Beruf- haltungsschule in der Heimhuder Straße 70 wur- lichen Schule Eppendorf gezeigt wurde, und in de, hatte sie bereits den Haushaltungskursus der einem Begleitheft zur Ausstellung.20) Beratungsstelle für jüdische Wirtschaftshilfe, Gertrud Pardo war das älteste Kind von fünf ebenfalls in der Heimhuder Straße 70, geführt. Kindern der Eheleute Isaac (1858–1938) und So- Das Ziel der jüdischen Wirtschaftshilfe war phie (1853–1931), geb. Fränckel. Isaac Pardo er- es, berufliches Wissen und Können zu vermitteln, nährte seine Familie durch seine Regen- und damit sich die Auswanderungswilligen in den Sonnenschirmfabrik. Kibuzim von Palästina oder in den Emigrations- Gertrud Pardo besuchte die Höhere Mäd- ländern eine neue Existenz aufbauen konnten. chenschule, danach das Lehrerinnenseminar, Die Häuser Heimhuder Straße 70 und 68 welches sie 1903 mit dem Lehrerinnenexamen hat te die Deutsch-Israelitische Gemeinde von für höhere und mittlere Schulen abschloss. An- Pri vatleuten zur Verfügung gestellt bekommen. schließend unterrichtete sie zwei Jahre in einer In Nr. 70 richtete die Beratungsstelle für jüdische Privatschule und ging dann für ein Jahr als Leh- Wirtschaftshilfe zwei Ausbildungslehrgänge ein: rerin in ein Internat nach Paris. im Keller einen hauswirtschaftlichen Kurs, und Zurück in Hamburg war sie von 1906 bis im zweiten Stock fanden Nähkurse statt. 1919 an einer Volksschule angestellt. Gleichzei- Um 1937 wurden die beiden Ausbildungs- tig absolvierte sie auf Veranlassung der Schul- lehrgänge zu Schulen erweitert: in die jüdische behörde eine Ausbildung zur Gewerbelehrerin. Haushaltungsschule, Abt. B: Externat, und in Nach Abschluss dieser Aus bildung war sie dann die jüdische Fachschule für Schneiderinnen. Die dreizehn Jahre bis 1933 als Gewerbelehrerin an Haushaltungsschule bot hauswirtschaftliche und der Gewerbeschule Eppendorf am Schramms- hauswirtschaftlich-gewerbliche Jahreskurse an. weg 34 tätig. Ausbildungsziele waren a) Grundlagen kennt nis- Um die Interessen der Gewerbelehrerinnen se für soziale und pflegerische Berufe sowie für zu vertreten, war Gertrud Pardo im Verein der den Beruf der Hausgehilfin zu vermitteln und Lehrerinnen an beruflichen Schulen in Hamburg b) Frauen auf handwerkliche Berufe vorzuberei- aktiv tätig. So war sie z. B. eine Zeitlang auch ten (z. B. durch Zeichnen, Schneidern, Wäsche- dessen erste Vorsitzende. nähen). Diese Ausbildung wurde als Hachscha- Nach der Machtübernahme der Nationalso- rah anerkannt, d. h. als Vorbereitung jüdischer zialisten wurde Gertrud Pardo im April 1933 auf- Jugendlicher auf ein Leben in Palästina. grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Gertrud Pardo, die während ihrer Tätigkeit Berufsbeamtentums“ als Jüdin aus dem Staats- als Gewerbelehrerin an der Beruflichen Schule dienst entlassen. Eppendorf in der Eppendorfer Landstraße 12 ge- Nach der Entlassung richtete sie im Oktober wohnt hatte, zog 1937 in den Rainweg 9, dorthin, 1933 „auf Veranlassung der Bera tungs stelle für wo sie nach dem Tod der Mutter 1931 bereits mit jüdische Wirtschaftslehre eine jüdische Haus- ihrem Vater gelebt hatte. Zwei Jahre später zog haltsschule in Hamburg ein, die es sich zur Auf- auch ihre Schwester Angela Pardo, die bis dahin gabe setzte, jüdische Frauen und Mäd chen für die in Leipzig als Oberin in einem Krankenhaus ge- Auswanderung vorzubereiten“.21) arbeitet hatte, zu ihr in den Rainweg.

20) Vgl.: Die Pardos. Vom osmani- Lutz Thalacker. Hamburg 2013. schen Reich über die neue Welt nach 21) Handschriftlicher Lebenslauf von Hamburg. Begleitheft zur Ausstellung Gertrud Pardo, erstellt am Spurensuche. Ein Stolperstein für 30.12.1938, abgedruckt in: Die Par- Gertrud Pardo. Bearbeiter: Nicol dos, a. a. O., S. 29. Trepka, Maria Koser. Michael Halévy, Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 171

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Am 1. Juni 1941 wurde die Haushaltungs- 1941 wurde ihre Tochter Michaela geboren. schule auf Anweisung der Gestapo geschlossen. Ihr Bruder Paul war inzwischen als Soldat ein- Vier Monate später, am 25.10.1941, wurden die gezogen worden. Schwestern Pardo ins Ghetto Lodz deportiert, „Nach den wochenlangen schweren Luftan- wo sie mit elf weiteren Personen in einem Zim- griffen auf Berlin reist Gertrud auf Einladung der mer in der Rauchgasse 27 wohnen mussten. Landwirtin Mose zu Ostern 1943 in den Ort Mer- Acht Monate später wurden die Schwestern ins ke in der Lausitz. Die beiden Frauen verstehen Vernichtungslager Chelmno deportiert. sich gut und Gertrud darf im August, als Berlin erneut von schweren Angriffen betroffen ist, ge- meinsam mit ihrer Tochter für einige Zeit nach Gertrud-Seele-Kehre Merke übersiedeln. (…) Gegenüber der Hausher- Bergedorf, seit 1987, benannt nach Gertrud rin macht Gertrud Seele in den nächsten Wochen Seele (22.9.1917 Berlin–12.1.1945 hingerichtet ebenso wenig einen Hehl aus ihrer Abneigung in Berlin-Plötzensee), Gegnerin des National - gegen Krieg und national- sozialismus. Motivgruppe: Verdiente Frauen sozialistische Re gierung wie in Gesprächen mit Be- Gertrud Seele entstammte einer sozialdemokrati- suchern oder Angestell- schen Arbeiterfamilie mit zwölf Kindern. Ihre ten der Landwirtin. (…). Mutter war Luise, ihr Vater Ferdinand Seeler. Während Gertrud im Ok - Sie besuchte die Volksschule, später die Elbe- tober 1943 nach Britz zu- Aufbauschule in Neukölln. Dort kam Gertrud rückkehrt, hat sich der Seele „kurz nach der Machtübernahme der Na- Bürgermeister in Merke tionalsozialisten (…) in Konflikt mit den neuen bereits ein umfassendes politischen Verhältnissen. Die mit einem ausge- Bild über die junge Berli- prägten Gerechtigkeitssinn ausgestattete selbst - nerin gemacht. Frau Mose Gertrud Seele bewusste junge Frau wird der Elbe-Schule ver- hat gegenüber dem Amts- wiesen, da sie sich spöttisch gegenüber ihrem vorstand und der örtlichen Polizei die Äußerun- vormals sozialdemokratischen, nun national so - gen Gertruds gemeldet und Zeugen benannt. zialistisch eingestellten Rektor äußert.“22) Der Nachbar Lindner bestätigt die Aussagen.“24) Im Alter von achtzehn Jahren begann Ger- Als Gertrud Seele Ende 1943 noch einmal trud Seele eine Ausbildung zur Krankenpflege- nach Merke fuhr, um nach ihrer dort gelagerten rin, später absolvierte sie noch ein Fürsorgerin- Aussteuerwäsche zu schauen, wurde sie im Ja- nenexamen. Nach Abschluss der Ausbildung nuar 1944 von der Gestapo verhaftet und in die arbeitete sie als Krankenschwester und Fürsor- Untersuchungshaftanstalten nach Frankfurt/Oder gerin am Robert-Koch-Krankenhaus in Berlin. und später ins Frauengefängnis Barnimstraße Gertrud Seele war eine entschiedene Geg- nach Berlin überführt. nerin des Naziregimes. Sie „unterstützt ihren Am 6. Dezember 1944 wurde Gertrud Seele Bruder Paul bei der Hilfe verfolgter jüdischer vom Volksgerichtshof wegen „gehässiger und Menschen, die in ihrer unmittelbaren Nähe kriegshetzerischer Äußerungen, Wehrkraftzer- 23)

Abb.: Aus: Annedore Leber, Das Gewissen steht auf, 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933–1945, Berlin, Frankfurt/Main 1956. Frankfurt/Main Berlin, 1933–1945, Widerstand deutschen dem aus Lebensbilder 64 auf, steht Gewissen Das Leber, Annedore Aus: Abb.: leben“. setzung und Feindbegünstigung“ zum Tode ver-

22) Museum Neukölln: Das tragische Leben der Gertrud Seele, unter: www.museum-neukoelln.de/blog/ ‘?p=2640 23) Museum Neukölln, a. a. O. 24) Museum Neukölln, a. a. O. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 172

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urteilt. Ihr Vater, der bei der Urteilsverkündung gers und Herausgebers der Wilhelmsburger Zei- im Gerichtssaal anwesend war, erlitt daraufhin tung, Willi Thaden, führte nach dessen Tod in den einen Schlaganfall, an dem er wenig später ver- 1950-er Jahren die Geschäfte des Verlages bis starb. 1981 fort, galt als bedeutende Persönlichkeit des Ihr Wunsch, noch einmal ihr Kind sehen zu kulturellen und öffentlichen Lebens in Wilhelms- dürfen, wurde Gertrud Seele nicht erfüllt. Der burg, engagiert in und verdient um Wilhelmsburg Ab schiedsbrief an ihre damals dreijährige Toch- ter blieb erhalten: Gertrud von Thaden, 1913 in Wilhelmsburg gebo- „Meine liebe kleine Tochter Michaela! ren, war eine bedeutende Person des öffent- Heute muß deine Mutti durch … sterben. lichen und kulturellen Lebens der Elbinsel. Als Ich habe nun eine große Bitte an Dich, kleines ihr Mann Willy von Thaden 1958 starb, führte Dirndlein. Du mußt ein braver und tüchtiger sie die Geschäfte des Verlages der Wilhelmsbur- Mensch werden und den Großeltern viel Freude ger Zeitung weiter und setzte dessen journalis- machen. Dein Vater ist … geboren am 5. März tische Arbeit fort, zunächst mit nur wenigen, 1907 in Leipzig. Durch die Großeltern wirst Du meist ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mit- alles Nähere erfahren. Ich gebe Dir alle lieben arbeitern, später auch mit ihrer Tochter Anke. Wünsche mit auf Deinen Lebensweg und möch- Ihre Zeitung kommentierte kritisch die Verän- te Dich bitten, mich immer lieb zu behalten und derungen Wilhelmsburgs von den 1950-er bis mich nie zu vergessen. Ich weine innerlich heiße in die 1980-er Jahre. Tränen um Dich und die Eltern, sei immer lieb Das Redaktionsbüro zu ihnen und mache ihnen recht viel Freude, der Wilhelmsburger Zei- indem Du ein tüchtiger und aufrechter Mensch tung in der Fährstraße wirst. Lebe wohl, geliebtes kleines Töchterchen, war Anlaufstelle für poli- in Gedanken umarme und küsse ich Dich. tisch engagierte Bewoh- Deine verzweifelte Mutti.“25) nerinnen und Bewohner Das Urteil wurde am 12. Januar 1945 in der Elbinsel. 1981 konnte Berlin-Plötzensee vollstreckt. sich die Zeitung gegen die „Im Jahr 1948 werden die Landwirtin Mose Konkurrenz der aufkom- und der Nachbar Lindner wegen Verbrechens menden Wochenblätter, Gertrud von Thaden gegen die Menschlichkeit vom Landgericht Cott- die umsonst verteilt wur- bus gemäß Kontrollratsrecht zu Zuchthausstra- den, nicht mehr durchsetzen. Die Wilhelmsbur- fen von zehn beziehungsweise acht Jahren ver- ger Zeitung war durch Anzeigen nicht mehr urteilt.“26) finanzierbar und musste eingestellt werden. Siehe auch Ü Elisabeth-von-Thadden-Kehre, in Gertrud von Thaden hielt das Redaktionsbüro diesem Band. aber weiterhin regelmäßig geöffnet und veran- staltete nach wie vor die von vielen sehr gelieb- ten Leserreisen.27) Gertrud-von-Thaden-Platz Text: Maria Koser Wilhelmsburg, seit 2012, benannt nach Gertrud von Thaden (1913–16.3.1998), Ehefrau des Verle-

25) http://www.gerechte-der-pflege. 26) Museum Neukölln, a.a.O. net/wiki/index.php/Gertrud_Seele 27) Geschichtswerkstatt Wilhelms- (Hinweis: die in diesem Brief fehlen- burg; Museum Elbinsel Wilhelms- den Worte wurden von der Zensur- burg. Und: Wilhelmsburger Insel- stelle des Volksgerichtshof herausge- rundblick, 4. Jg. Ausgabe April 1998, schnitten, zitiert nach: Bracher 1984). S. 3 Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 173

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Gertrud-Werner-Weg auch Erna Fedde aus Nordfriesland zu Gertrud Bergedorf, seit 1984, benannt nach Gertrud Werner, um bei ihr ihren Sohn zur Welt zu brin- Werner (31.1.1887 Bromberg–August 1971), gen. Die beiden Frauen wurden Freundinnen, von 1912–1957 Hebamme in Allermöhe. Motiv- Erna Fedde blieb und versorgte den Haushalt. gruppe: Verdiente Frauen Sie kochte für die Kinder und die Frauen, die zur Geburt und Nachsorge gekommen waren. Gertrud Marie Charlotte Werner wuchs in Schneide- Da Hebammen auch damals für Geburt und mühl, heute Pila, auf und ließ sich zur Lehrerin Nachsorge nur wenig Geld erhielten, nahmen die ausbilden. Eine Liebesbeziehung zum Schuldi- bei den Frauen Pflegekin- rektor ihrer Schule beendete ihre Karriere als der auf. So lebten, nach- Lehrerin: sie wurde aus dem Schuldienst ent- dem die Söhne von Ger- lassen, als ihre Schwangerschaft bekannt wurde. trud und Erna im Zweiten Gertrud Werner zog nach Hamburg, wo ihr Sohn Weltkrieg getötet worden Hubert Franz im Januar 1912 zur Welt kam. waren, bis Ende der 1940- Da Hamburg in der Zeit vor dem Ersten er Jahre Pflegekinder am Weltkrieg Hebammen zur Versorgung der Land- Allermöher Deich. bevölkerung suchte, erlernte Gertrud Werner 1946 ging Erna Fedde diesen Beruf. 1913 stellte ihr der Hamburgische zurück nach Nordfries- Gertrud Werner Staat ein kleines Haus in den Marschlanden am land, um ihre kranke Mut- Allermöher Deich zur Verfügung und bezahlte ter zu pflegen. Gertrud Wer ner verschrieb sich ihr ein geringes Grundgehalt. Gertrud Werner ganz ihrem Be ruf und bot auch in der Nach- war nun als Hebamme für die Gebiete Aller- kriegszeit vielen ledigen schwangeren Frauen möhe, Reitbrook, Moorfleet und einen Teil von eine Zuflucht. Fünfhausen zuständig. Nachdem sie das Rentenalter erreicht hatte, Wenn bei einer Frau die Geburt eines Kin- arbeitete sie noch weitere fünf Jahre als Hebam - des anstand, musste Gertrud Werner bei jedem me. 1957, inzwischen 70 Jahre alt, gab sie ihren Wetter und zu jeder Tageszeit zu Fuß in die Häu- Beruf auf. ser der Gebährenden. Nach der Entbindung kam sie noch zehn Mal zu den Wöchnerinnen, um sie zu untersuchen und die Entwicklung der Säug- Geschwister-Beschütz-Bogen linge zu überwachen. Groß-Borstel, seit 1993, benannt nach Olga und Frauen, die keine Möglichkeit hatten, bei Marie Beschütz. (Olga: 28.6.1876 Hamburg–de- sich zu Hause zu entbinden oder ledige schwan- portiert am 6.12.1941 nach Riga, genaues Todes- gere Frauen – auch aus dem weiteren Um- datum unbekannt), (Marie: 11.2.1882 Hamburg– kreis – kamen zur Geburt ins Haus von „Mudder deportiert am 6.12.1941 nach Riga, genaues Griebsch“ – wie Gertrud Werner auch genannt Todesdatum unbekannt), jüdische Opfer des wurde. Dort durften sie nach der Entbindung Nationalsozialismus. Lehrerinnen noch zehn Tage bleiben. Für die Säuglinge der Stolpersteine vor dem Wohnhaus Husumer ledigen Frauen konnte Gertrud Werner auf Straße 37 und für Olga Beschütz vor der Wir-

Abb. v.l.n.r.:Abb. Mrosz Peter & Hafen | Privatbesitz WIlhelmsburg Geschichtswerkstatt Wunsch Pflegeeltern vermitteln. So kam 1929 kungsstätte Schule Schwenckestraße 100. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 174

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Seit 2002 heißt die Grundschule an der Schott- sie ihrer Mutter, die sie hätten zurücklassen müllerstraße 23 nach Marie Beschütz. müssen, ein Schlafmittel. Es war jedoch nicht stark genug. Frau Beschütz kam, nachdem ihre Olga und Marie sowie Clara Beschütz waren die Töch- Töchter deportiert worden waren, in das Jüdi- ter von Bertha (1850–13.12.1941 Hamburg) und sche Heim an der Schäferkampsallee, wo sie Dr. jur. Siegmund Beschütz (1840–1912). Seit 1880 bald darauf verstarb. waren sie getaufte Christen. Als Siegmund Beschütz starb, hinterließ er seiner Witwe ein Villengrundstück in der Wer der - straße 63. Bertha Beschütz lebte nun von ei ner Beamtenwitwenrente und zog 1931 mit ihren un- verheirateten Töchtern in die Hochallee 123. 1939 musste Bertha Beschütz das Grund- stück Werderstraße 63 verkaufen; damals lebte sie schon mit ihren Töchtern in der Husumer Stra ße 37. Olga Beschütz war seit 1904 im Ham- Clara, Mutter Bertha und Marie Beschütz (v.l.n.r.) burger Schuldienst tätig. Von 1908 bis 1911 ar- Elisabeh-Flügge-Straße, beitete sie als Lehrerin an der privaten höheren Siehe auch Ü in die- sem Band. Mädchenschule Elsa Weis-Mann, von 1911 bis 1920 an der Schule Marie Busse, dann an der Volks schule Dehnhaide 60, ab 1926 an der Schu- Geschwister-Mendelssohn-Stieg le Schwenckestraße 100. Neustadt, seit 1999, benannt nach Fanny Men- Marie Beschütz war zwischen 1903 und delssohn, verh. Hensel (14.11.1805 Hamburg– 1908 als Lehrerin an der privaten höheren Mäd- 14.5.1847 Berlin), und ihrem Bruder Felix Men- chenschule Margarethe Fleck, Milchstraße, tätig, delssohn-Bartholdy (3.2.1809 Hamburg– von 1908 bis 1919 an der Mädchenschule Hübbe 4.11.1847 Leipzig). Fanny M.: Komponistin, Pia- in der Maria-Louisen-Straße, ab 1922 an der nistin, Dirigentin. Felix M.: Komponist Schu le Koppel 18 und ab 1928 an der Schule Eri- kastraße 23. Marie Beschütz war auch mit der Im Park an der Ludwig-Ehrhard-Straße gegenü- Lehrerin Elisabeth Flügge befreundet (siehe Ü ber dem Michel, in der Nähe, wo das im Zweiten Elisabeth-Flügge-Straße, in diesem Band). Weltkrieg zerstörte Geburtshaus des Geschwis- Die Geschwister Olga und Marie Beschütz terpaares in der Michaelisstraße 19a gestan- wurden nach der Machtübernahme der Natio- den hat, steht ein Doppeldenkmal für Felix und nalsozialisten 1933 wegen ihrer jüdischen Her- Fanny Mendelssohn. Eigens hierfür wurde dort ein kunft aus dem Schuldienst entlassen. Am 6. No- Weg mit dem Namen „Geschwister-Mendels- vember 1941 wurden sie zusammen mit ihrer sohn-Stieg“ angelegt. Schwester Clara, die im Kinderschutzverein tätig Fanny und Felix Mendelssohn stammten aus gewesen war, nach Riga deportiert. einem Bankiershaushalt (Vater: Abraham Men - Kurz vor der Deportation gaben die Schwes- delssohn, Bankier). Die Mutter, Lea, geb. Salo-

tern ein Abschiedsessen. Dabei verabreichten mon (1777–1842), war eine hervorragende Pia- Beschütz Privatbesitz Abb.: Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 175

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nistin. Sie entdeckte die Begabung ihrer ältesten Doch trotz aller Behinderungen: es gab auch Kinder Fanny und Felix und erteilte ihnen schon Glück in Fannys Leben. Glück hatte sie zum Bei- früh Klavierunterricht. spiel mit der Wahl ihres Ehemannes. Er, der acht Fanny, eines der vier Kinder des Ehepaares Jahre ältere Maler Wilhelm Hensel, den sie 1829 Mendelssohn, begann bereits als Kind zu kom- geheiratet hatte, unterstützte seine Frau mit all ponieren und erhielt mit ihrem vier Jahre jünge- seinen Kräften. Er glaubte an sie und hatte des- ren Bruder Kompositionsunterricht bei Carl Frie- halb auch nichts dagegen, dass sie in ihrer ge- drich Zelter. 1811 zog die Familie nach Berlin. meinsamen Wohnung Chor- und Orchester- 1816 wurden die Kinder, 1822 die Eltern, protes- werke aufführte. tantisch getauft. Die Familie nahm den Beina- Glück hatte sie eigentlich auch mit ihrem men „Bartholdy“ an. Die musikalischen Wege Bruder Felix. Sie liebte ihn inniglich, und die bei- der Geschwister trennten sich, als Felix be gann, den Geschwister beeinflussten sich künstlerisch sich auf den Musikerberuf vorzubereiten, wozu gegenseitig. Doch obwohl ihr Bruder ihr Können u. a. weite Reisen durch halb Europa gehörten. schätzte, konnte er es nicht lassen, ihr die einer Fanny hingegen musste zu Hause bleiben. Frau vorgeschriebenen Rolle zu verdeutlichen – Ihr war nur die Laufbahn einer Hausfrau und aus Angst vor Konkurrenz oder im Bewusstsein Mut ter vergönnt. Obwohl sie professionell ausge - männlicher, gesellschaftlich legitimierter Rollen- bildete Musikerin war, sollte „die Musik immer dominanz? So ermahnte er seine Schwester: nur Zierde, niemals aber Grundbaß ihres Tuns „Deine Komposition ist herrlich, aber wenn Du und Seins werden“,28) bestimmte ihr Vater. So be- so weitermachst, was wird dann aus Deiner Fa- schränkten sich ihre musikalischen Aktivitäten milie?“ Und als Fanny ihm nach der Geburt ihres auf die „Sonntagsmusiken“ im elterlichen Hause Sohnes einmal klagte, dass sie kei ne musikali- in der Leipziger Straße 3 in Berlin. Ursprünglich schen Einfälle mehr hätte, erwi derte er nur, sie für Felix gedacht, damit er vor einem geladenen könne schließlich nicht alles haben – ein Kind Publikum seine Kompositionen aufführen konn - auf dem Arm und musikalische Gedanken. te, nahm sich Fanny dieser jeden Sonntag statt- Die Geschwisterliebe blieb dennoch beste- fin denden Ma tineen an. Sie stellte die Program - hen. Fanny füllte die damals gesellschaftlich vor - me zusammen, ließ Sängerinnen und Sänger der geschriebene Frauenrolle aus, doch manchmal könig li chen Oper und Mitglieder der Hofkapelle rebellierte ihr Herz und sie äußerte unmutig: auftreten, spielte und dirigierte selbst und baute „Dass man übrigens seine elende Weibsnatur sich ei nen eigenen Chor auf. Auf diese Weise jeden Tage, auf jedem Schritt seines Lebens von bestimmte sie entscheidend das Berliner Musik- den Herren der Schöpfung vorgerückt bekömmt, leben mit. ist ein Punkt, der einen in Wut, und somit um Aber auch diese musikalischen Aktivitäten die Weiblichkeit bringen könnte.“30) (22. März waren dem Vater ein Dorn im Auge. Er ermahnte 1839 an Carl Klingemann, Freund der Familie). Fanny immer wieder mit den Worten: „Du musst Dennoch, Fanny Mendelssohn komponierte Dich mehr zusammennehmen, mehr sammeln. über 400 Lieder, Kammermusikwerke, den Kla- Du musst Dich ernster und emsiger zu Deinem vierzyklus „Das Jahr“, ein Oratorium, die Sym- eigentlichen Beruf, zum einzigen Beruf eines phoniekantaten „Hiob“ und „Lobgesang“ etc. Ei- Mädchens, zur Hausfrau, bilden.“29) nige davon gab jedoch ihr Bruder unter seinem

28) Sebastian Hensel (Hrsg.): Die Fa- Frankfurt a. M. 1991, S. 52 milie Mendelssohn 1729 bis 1847. Frankfurt a. M. 1995, S. 124. 29) Sebastian Hensel, a. a. O., S. 126. 30) Zit. nach: Eva Weissweiler: Fanny Mendelssohn. Ein Portrait in Briefen. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 176

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Namen heraus. Ob es ihm unangenehm gewesen elterlichen Hause – wenn ich dabei gute Mittel war, als er 1846 England besuchte und dort bei und guten Willen von allen Seiten zu Gebote einer privaten Audienz bei Queen Victoria gebe- stehen habe, ob es mir hier nicht gefallen muß? ten wurde, eines der Lieblingslieder der Queen (…)“32). Diese von Felix geliebte Häuslichkeit in zu spielen, von dem sie meinte, es sei von Felix der Ehe behinderte den fünffachen Vater „nicht komponiert, er aber, nachdem das Lied verklun- bei seinen diversen Tätigkeiten. Er war ja auch gen war, der Queen gestehen musste, dieses Lied die Hälfte dieser Jahre auf Reisen. Fern der Fa- habe seine Schwester komponiert? milie sehnte er sich nach zu Hause.“33) Erst kurz vor Problematisch für die neun Jahre jüngere ihrem Tod begann Ehefrau war wohl das weitere Verhältnis zwi- Fanny Hensel ge- schen Felix und Fanny. „Er schreibt niemals ei- gen den Willen ih- nen Gedanken nieder, ohne ihn meinem Urteil res Bruders, aber unterworfen zu haben“, äußerte Fanny. mit Unterstützung Felix Mendelssohn lernte in seinem kurzen ihres Mannes ihre Leben viele Frauen kennen: „Gönnerinnen in Werke zu publizie - Kindertagen wie die legendäre ‚Rahel‘ [siehe Ü Geschwister Fanny Hensel und ren. Im Alter von Rahel-Varnhagen-Weg, in diesem Band] oder Ottilie Felix Mendelssohn-Bartholdy 41 Jahren starb sie von Goethe, die Schwiegertochter des Dichters. an einem Gehirnschlag. Ein Großteil ihres kom- Adele Schopenhauer [siehe Ü Schopenhauerweg, positorischen Nachlasses befindet sich im Men- in diesem Band], die Schwester des Philosophen, delssohn-Archiv der Berliner Staatsbibliothek. Bettina von Arnim [siehe Ü Bettinastieg, in diesem Felix Mendelssohn hatte vielfältige Bezie- Band], die er nicht ausstehen konnte. Die fünf hungen zu Frauen. So waren z. B. seine Schwes- Jahre ältere Wilhelmine Schröder-Devrient, Beet- tern Rebecca (1811–1859) und Fanny Zeit seines hovens berühmte ‚Leonore‘ und spätere Wagner- Lebens seine wichtigsten weiblichen Vertrauten. Sängerin, lernte Mendelssohn bereits im Berli - Besonders zu Fanny gab es eine innige Bezie- ner Elternhaus kennen.“34) hung. Verheiratet war Felix seit 1837 mit Cécile Auf seinen vielen Bildungs- und Auftrittsrei- Jeanrenaud (1817–1853), Tochter eines früh ver- sen und durch seine ab 1835 ausgeführte Tätigkeit storbenen Pastors der reformierten Gemeinde in als Gewandhauskapellmeister in Leipzig lern te Frankfurt. „Alle Freunde Felix’ durften von dieser Felix Mendelssohn viele Sängerinnen und Pianis- Wahl Beruhigung seiner Reizbarkeit, behagliche tinnen kennen. So begegnete er vor seiner Ehe mit Arbeitsstille seines häuslichen Lebens hoffen.“31) Cécile Jeanrenaud in Mailand 1831 „der fünfzig- Und das bekam er auch. Er fühlte sich mit jährigen Klavierspielerin Dorothea von Ertmann Cécile, wie damals bei seiner Mutter, zu Hause (…). Eine andere, weitaus jüngere Pianistin (…) und so schreibt er an seinen Freund Ferdinand war erst sechzehn, als er sie 1830 in München Hiller 1837: „Denke Dir es nur, wenn ich als Ehe - kennenlernte: Delphine von Schauroth. Aus seiner mann in einer netten, bequemen Wohnung mit Verliebtheit befreite sich der Zwanzigjährige, in - freier Aussicht über Garten und Felder und die dem er ihr sein Klavierkon zert g-Moll op. 25 wid- Stadttürme wohne, mich so behaglich glücklich, mete. Andere Berühmt heiten kreuzten seinen Le-

so ruhig, froh fühle, wie niemals wieder seit dem bensweg: die spanische Mezzosopranistin Maria Commons Wikimedia über Gemeinfrei Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- 32) Ebenda. burg.de/maennerstrassennamen 33) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., S. 160. 31) Zit. nach: Hans-Peter Rieschel: 34) Brigitte Richter: Frauen um Felix Komponisten und ihre Frauen. Düs- Mendelssohn-Bartholdy. Frankfurt seldorf 1994, S. 153. a. M. 1997, S. 115; S. 8ff. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 177

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Malibran (…), Jen ny Lind, (…) Cla ra Schumann rühmte Frauen nie leiden können, die immer wie (…).“35) (siehe Ü Schumannstraße, in diesem Band) auf dem Dreifuß säßen und deren Orakelsprü che Mit einigen trat er gemeinsam auf, musi- umhergetragen würden; auch für Bettina [von zierte mit ihnen, bewunderte sie und ging so Arnim] konnte er später keine Sympathie gewin- manche Künstlerfreundschaft mit ihnen ein, so nen.“38) „Eine andere, ebenfalls berühmte Ber- z. B. mit der Sopranistin Pauline von Schätzel linerin im Mendelssohnschen Freundeskreis, (1811–1882). Er unterrichtete auch einige sehr Henriette Herz [sie he Ü Henriette-Herz-Ring und begabte Pianistinnen wie Josephine Caroline Henriette-Herz-Garten, in diesem Band] (…) hatte Lang (1815–1880). Er, damals 21 Jahre alt, Jose- Mendelssohn stets ohne Einschränkung bewun- phine 15 Jahre. In seiner gesicherten und aner- dert. Es beeindruckte ihn, daß sie noch im Alter, kannten Stellung als Gewandhauskapellmeister statt von neuesten Erziehungsidealen nur zu förderte er auch viele weibliche Talente. Meist reden, sich aufopfernd und tatkräftig der Aus- waren diese noch sehr jung: 14, 15 Jahre alt, wie bildung junger Mädchen widmete“39) eine dem die Sopranistin Libia Virginia Frege (1818–1891). gesellschaftlichen Rollenverhalten für Frauen ge- Konkurrenzneid und die gegenüber Fanny ver- mäße Beschäftigung, im Gegensatz zu den intel- tretene Einstellung zur Rolle der Frau, spielten lektuellen Gesprächen, die eine Rahel Varnha- hier keine Rolle. Mit diesen Frauen kommuni- gen mit dem „Verstand eines Mannes“ führte. zierte er auf einer anderen Ebene. Er „hatte ein Befreundet war Felix Mendelssohn auch mit ganz ursprüngliches Talent, dem schönen Ge- Clara Schumann (siehe Ü Schumannstraße, in die- schlecht zu gefallen: Er geizte nicht mit Kompli- sem Band). Beide begegneten sich zum ers ten menten, verstand zu flirten, mit Gefühlen zu Mal 1835 in Leipzig. Er wurde Clara Wiecks, wie spielen (…), verlor aber wohl kaum je die Kon- die damals noch ledige Pianistin hieß, Freund trolle über sich selbst. Er wußte sich durch spöt- und Förderer. tisch-überlegene Bemerkungen zu schützen vor Siehe auch Ü Arnemannweg, Bettinastieg, allzu aufdringlicher Anhimmelei (…). Die ver- Fanny-Mendelssohn-Platz, Henriette-Herz-Ring, Henriette-Herz-Garten, Königskinderweg, schiedenen Verhaltensweisen, das perfekt be- Rahel-Varnhagen-Straße, Schopenhauerweg, herrschte gesellschaftliche Rollenspiel gehörten Schumannstraße, in diesem Band. zu Mendelssohns Persönlichkeit. (…)“36) Seine Siehe auch Ü Mendelssohnstraße, Bahrenfeld, „Trilogie der Leidenschaft“ waren „Musik, hüb- seit 1952: Jacob Ludwig Felix Mendelssohn- Bartholdy (1809–1847), Komponist, in Bd. 3 sche Lieder und junge Mädchen. ‚Die drei Sa- online**. chen kann ich gut leiden‘“ äußerte er einmal. Siehe auch Ü Moses-Mendelssohn-Brücke, Har- Wen Felix Mendelssohn nicht mochte, war burg, seit 1998: Moses Mendelssohn (1729– die Schriftstellerin und Salonniere Rahel Varnha- 1786), Philosoph, Großvater von Fanny und gen. Er und seine Freunde sowie Geschwister Felix, in Bd. 3 online**. „betrachteten das gesellige, geistig elitäre Treiben und die Zusammenkünfte solch’ überwitz’ger Geschwister-Scholl-Straße Leute, die Gott und die Welt und was sie selbst Eppendorf, seit 1947, benannt nach Sophie und bedeuten, begriffen längst mit Hegelschem Ver- Hans Scholl (Sophie: 9.5.1921 Forchtenberg/ stande‘, wie Heinrich Heine dichtete, zuneh- Kocher–hingerichtet am 22.2.1943 in München- mend kritisch.“37) Felix Mendelssohn hatte „be-

** Band 3 online unter: www.ham- 38) Ebenda. burg.de/maennerstrassennamen 39) Ebenda.

35) Ebenda. 36) Hans-Peter Rieschel, a. a. O. 37) Brigitte Richter, a. a. O., S. 56f. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 178

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Stadelheim, (Hans: 22.9.1918 Ingersheim/Jagst– bestimmung und dem eigenen liberalen Den- hingerichtet am 22.2.1943 in München-Stadel- ken.“41) So schrieb sie wenige Tage nach Kriegs- heim). Gegner des Nationalsozialismus, die für beginn im September 1939 an ihren Freund Fritz die Freiheit des Geistes kämpften, Widerstands- Hartnagel, den sie als 16-Jährige kennengelernt kreis „Weiße Rose“ hatte und der nun angehender Berufssoldat war: „Ich kann es nicht begreifen, daß nun dauernd Sophie und Hans Scholl waren die Kinder von Mag- Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von dalena, geb. Müller (1881–1958), und Robert anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen Scholl (1891–1973). Die Eltern hatten sich wäh- und ich finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist rend des Ersten Weltkriegs 1915 in einem Laza- für’s Vaterland.“42) rett kennen und lieben gelernt, wo Magdalena Sophie erlangte immer mehr eine Abnei- als Diakonisse und Krankenschwester tätig war gung gegen den NS-Staat, hilfreich waren dabei und der Jurist Robert Scholl wegen zivilen Un- der Einfluss ihrer Eltern und die Eindrücke, die gehorsams eine Strafe abarbeiten musste. Mag- Sophie während ihres Arbeits- und Kriegshilfs- dalena trat aus dem Haller Mutterhaus aus und dienstes gewann. Sophie Scholl, die nach dem das Paar heiratete 1916. Während ihrer Ehe be- Abitur im März 1940 eine Ausbildung zur Kinder- kam es sechs Kinder. Der politisch liberal eingestellte Robert Scholl wurde Bürgermeister in Ingersheim an der Jagst, dann in Forchtenberg, später ab 1930 Leiter der Handelskammer in Stuttgart und ab 1932 be- trieb er in Ulm, wohin er mit seiner Familie ge- zogen war, eine Kanzlei für Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung.40) Die Eltern, die ihre Kinder stets liberal und christlich erzogen hatten und von Anfang an das Hans und Sophie Scholl NS-Regime ablehnten, hatten größte Schwierig- keiten mit der anfangs begeisterten Haltung ihrer Kinder Hans und Sophie zum Nationalsozialis - gärtnerin begann, und damit hoffte, nicht zum mus. Hans Scholl war in der Hitlerjugend (HJ), Reichsarbeitdienst eingezogen zu werden, mus- Sophie Scholl Mitglied im Bund Deutscher Mädel ste dennoch den Reichsarbeitsdienst absolvieren (BDM) und hatte dort auch Führungsaufgaben. und „durfte erst im Mai 1942 zum Biologie- und 1937 wurden beide zum ersten Mal von der Philosophiestudium nach München ziehen. Dort Gestapo kurzzeitig verhaftet, weil sie, bestärkt wird Sophie schnell in den Freundeskreis ihres durch ihre Eltern, ihre „bündische Jugendarbeit“ Bruders Hans [der Medizin studiert] aufgenom- fortgesetzt hatten. (Die Bündische Jugend war men.“43) Auch dieser musste erst den Krieg mit- von den Nationalsozialisten verboten worden.) erleben und in einem Feldlazarett arbeiten, um „Ein Jahr später verliert Sophie ihren Rang als sich in den Widerstand zu begeben. Gruppenführerin. Zunehmend entdeckt sie Wider - „Die jungen Leute besuchen die Vorlesun-

sprüche zwischen der parteigesteuerten Fremd - gen des Philosophieprofessors Kurt Huber und (2) alliance/dpa picutre Abb.:

40) Vgl. und zit. nach: www.ge- dung, unter: www.bpb.de/ge- rechte-der.pflege.net/wiki/index.php schichte/nationalsozialismus/weisse /Magdalena_Scholl,_geb._Müller -rose/60995/sophie-scholl 41) Kirsten Schulz: Sophie Scholl 42) Kirsten Schulz, a. a. O. und die „Weiße Rose“, Dosier 43) Kirsten Schulz, a. a. O. Bundeszentrale für politische Bil- Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 179

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diskutieren philosophische und religiöse Fragen, lung vor dem Volksgerichtshof statt.“45) Der Prä- etwa inwiefern Christen als politisch denkende sident des Volksgerichtshofes Roland Freisler und handelnde Menschen gefordert sind. Die fällte um 12.45 Uhr das Todesurteil. Die Eltern Gruppe, aber besonders Sophie wird von den Scholl stellten daraufhin sofort das Gnadenge- Arbeiten des katholischen Publizisten Theodor such: Haecker beeinflusst, der unter den Nationalso- „Robert und Lisa Scholl zialisten nicht mehr veröffentlichen darf. Und München, den 22. Februar 1943 schließlich eint die Freunde, dass sie Hitler und Betrifft: Gnadengesuch für Hans und Sofie sein Regime ablehnen. Inwieweit Sophie im Scholl und Christoph Probst. Sommer 1942 bereits an den Flugblatt-Aktionen An den ihres Bruders und seines Freundes Alexander Volksgerichtshof Schmorell beteiligt ist, ist heute ungewiss.“44) z.Zt. München 35 In der leidenschaftlichen Sprache der Empö- Wir, die Eltern, der beiden zum Tode Verur- rung riefen die Geschwister Scholl und ihre Mit- teilten Geschwister Scholl kamen heute hierher, streiter in ihren Flugblättern zum Sturz des NS- um unsere beiden Kinder zu besuchen. Zu un- Regimes und zur Beendigung des Krieges auf. serem Entsetzen erfuhren wir, dass bereits die Als im Mai und Juni 1942 die ersten vier Verhandlung gegen unsere Kinder vor dem Flugblätter der „Weißen Rose“ herausgebracht Volksgerichtshof stattfand. wurden, die dann im November 1942 an der Wir bitten, die so schwere Strafe in eine Münchener Universität verteilt wurden, wurde Freiheitsstrafe umzuwandeln. Dadurch ist un- Robert Scholl, der Vater der Geschwister Scholl, sern Kindern und dem anderen Angeklagten wegen einer kritischen Äußerung über Hitler zu doch noch die Möglichkeit geboten, sich in Zu- vier Monaten Haft verurteilt und erhielt Berufs- kunft als nützliche Glieder der Volksgemein- verbot. schaft zu erweisen. Bei unseren Kindern handelt „Im Januar 1943 engagiert Sophie sich bei es sich um arglose Idealisten, die noch nie in der Herstellung und Verbreitung des fünften ihrem Leben irgend jemand etwas Unrechtes zu- Flugblatts; ihr Freund Fritz kämpft derweil in gefügt haben. Sowohl in der Schule waren sie Stalingrad. Das sechste ist bereits gedruckt, als als beste Schüler immer wohl gelitten und auch sie von einem Eltern-Besuch nach München zu- nachher haben sie überall ihre Pflicht erfüllt. rückkehrt. Am 18. Februar legt sie gemeinsam Was das jetzige Unglück über sie herbeigeführt mit ihrem Bruder Hans Flugblätter in der Uni hat, ist allein der Umstand, dass sie weltan- aus und wirft dabei einen Stoß Blätter von einer schaulich andere Ideale hegten, als es heute gut Brüstung in den Lichthof hinab. Beide werden ist. Die Erregung meiner Kinder ist vielleicht entdeckt und verhaftet. In den Verhören kann auch dadurch etwas verständlich, dass der Bräu- Sophie den Gestapo-Beamten Robert Mohr zu- tigam unserer Tochter Sophie als aktiver Haupt- nächst von ihrer Unschuld überzeugen, doch mann in Stalingrad lag. dann ist die Beweislast erdrückend. Wir bitten doch zu berücksichtigen, dass es Sie gesteht ihre Mitarbeit und versucht, sich sich bei den Verurteilten noch um blutjunge Men- und Hans als Hauptakteure darzustellen. Vier schen ohne Lebenserfahrung handelt. Unsere Fa- Tage nach ihrer Festnahme findet die Verhand- milie hatte innerhalb der letzten Jahre schwere

44) Kirsten Schulz, a. a. O. 45) Kirsten Schulz, a. a. O. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 180

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Schicksalsschläge durchzumachen. Der Ernährer Robert Scholl der Familie kam wegen einer unbedachten, unter Vater vier Augen einer vertrauten Angestellten gegen- Lisa Scholl über, gemachten Äusserung vor das Sonderge- Mutter richt. Daraufhin wurde ihm dann die Zulassung Werner Scholl zu seinem Beruf entzogen und dadurch die Exis- Bruder u. Gefr. der Einheit Feldpostnum- tenzgrundlage für die ganze Familie genommen. mer: 32 063.“46) Da die Familie unter sich sehr verbunden ist, lies- sen sich die Geschwister Scholl in eine Erbitte- Das Gnadengesuch fand kein Gehör. Noch rung hineinsteigern, die wahrscheinlich das Mo- am selben Tag, vier ¼ Stunden nach der Ver- tiv ihrer jetzigen Verfehlungen bildetete. kündung des Gerichtsurteils, wurden um 17 Uhr Unserem Sohn Hans hat während seiner ak- die Geschwister Scholl durch das Fallbeil hinge- tiven Militärdienstzeit sein Schwadronchef H. richtet. Rittmeister Skubin in Stuttgart-Cannstadt das „Zurück bleiben die Eltern Scholl bei Kriegs- Zeugnis ausgestellt, er sei der beste Soldat seiner ende mit ihren Töchtern Inge und Elisabeth. Schwadron. Unser jüngster Sohn Werner liegt Thilde ist im Kindesalter verstorben, Hans und als Gefreiter im Mittelabschnitt der Ostfront. Er Sophie sind hingerichtet worden und Werner ist kam vorgestrigen Samstag überraschend zu seit 1944 in Russland vermisst. Einzig der Stolz einem dreiwöchigen Heimaturlaub nach Hause. auf den Mut ihrer Kinder kann ihnen ein Trost Auch für ihn ist es furchtbar, was er jetzt über sein. Noch am Morgen des 22. Februars 1943, seine beiden so geliebten Geschwister heute er- kurz bevor ihn die Gefängniswärter in Fesseln fahren musste. Er war auch bei der Gerichtsver- zum Gerichtssaal bringen, hat Hans mit einem handlung zugegen und schliesst sich als Front- Bleistift eine Notiz an der Zellenwand hinterlas- soldat gleichfalls dem Gnadengesuch an. sen: ‚Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten‘. Durch eine Begnadigung wäre unserem Das Goethe-Zitat ist ein letzter Gruß von Hans Sohn Hans die Möglichkeit geboten, sich freiwil- und gilt seinen Eltern. Es ist die Losung der Fa- lig an die Ostfront zu melden. Er stand während milie Scholl.“47) des Westfeldzugs im Jahre 1940 an der Seite des Nach der Verhaftung seiner Kinder wurde Obersten SA-Arztes von Deutschland im Felde. Robert Scholl wegen Hörens ausländischer Sen- Dieser war begeistert von ihm, und nannte ihn der zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. nur seinen ,Schatten‘. Soviel wir wissen, steht Siehe auch Ü Elisabeth-Lange-Weg, Margarete- er auch heute noch mit ihm im Briefwechsel. Mrosek-Bogen, in diesem Band. Seine militärische Führung, sowie seine militä- Siehe auch Ü Leipeltstraße, Wilhelmsburg, seit rische Qualifikation seiner jeweiligen Dienstvor- 1964: Hans Leipelt (1921–1945), Student, Mit- glied des nach der Zeit des Nationalsozialis - gesetzten sind ein Beweis dafür, dass er seine mus bezeichneten Hamburger Kreis der Wider- ganze Person einsetzte, um sich als echt Deut- standsgruppe „Weiße Rose“, in Bd. 3 online**. scher zu erweisen und dies auch in Zukunft stets tun würde. Gleichzeitig bitten wir um eine Sprecherlaubnis für unsere beiden Kinder Hans und Sofie Scholl.

** Band 3 online unter: www.ham- hier: BArch, ZC 13267/Bd. 12 und-sophie-scholl-erzogen-zum- burg.de/maennerstrassennamen 47) Karoline Kuhla: Geschwister widerstand-a-951049.html Scholl. Erzogen zum Widerstand, in: 46) Vgl. und zit. nach: www.ge- spiegel online. Eines Tages, vom rechte-der.pflege.net/wiki/index.php 21.2.2013, unter: www.spiegel.de/ /Magdalena_Scholl,_geb._Müller einestages/hinrichtung-von-hans- Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 181

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Geschwister-Witonski-Straße einer Geheimaktion in die Schule am Bullenhu- Schnelsen, seit 1993, benannt nach Eleonora Wi- ser Damm gebracht. Diese Schule war am 1. Ok- tonska (5 Jahre alt) und Roman Witonski (7 Jahre tober 1944 zu einem Außenkommando des KZ alt), Opfer des Nationalsozialismus. In der Nacht Neuengamme erklärt und mit elektrisch gelade- vom 20. auf den 21. April 1945 im Keller der Ham- nem Stacheldraht umzäunt worden. 592 Häft- burger Schule am Bullenhuser Damm ermordet linge wurden hier von sechzehn SS-Männern bewacht. Als die Kinder dorthin kamen, war die Eleonora und ihr Bruder Roman waren die Kinder Schule wegen der vier Kilometer vor Hamburg des Kinderarztes Dr. Seweryn Witonski aus der verlaufenden Front bereits geräumt. 20 Jungen polnischen Industriestadt Radom. „Nach der Be- und Mädchen im Alter zwischen fünf und zwölf setzung Polens durch die deutsche Wehrmacht Jahren, ihre beiden französischen Häftlingsärzte, wurden die Witonskis am 21. März 1943 gemein - ihre zwei holländischen Häftlingspfleger und etwa sam mit anderen Juden zum Erschießen auf den 30 sowjetische Kriegsgefangene wurden, nach- Friedhof des Nachbarortes Szydlowiec gebracht. dem sie Morphiumspritzen bekommen hatten, im Die Mutter, Rucza Witonska, konnte sich und Keller der Schule an Schlingen erhängt, die an an ihre beiden Kinder Roman und Eleonora hinter der Decke befestigten Fleischerhaken hingen. Grabsteinen verstecken. Von dort aus sahen sie Die Mutter der Geschwister Witonski über- die Erschießung des Vaters. Als sie entdeckt wur- lebte das Lager. Nach ihrer Befreiung vom den, war die ,Aktion‘ bereits beendet. Mutter Nationalsozialismus suchte sie nach ihren bei- und Kinder wurden ins Konzentrationslager den Kindern. „Erst 1982 erfuhr sie vom Kinder- Auschwitz transportiert. Dort wurden die Kinder mord am Bullenhuser von ihr getrennt und mit achtzehn anderen ins Damm in Hamburg. (…) KZ Neuengamme gebracht (...).“48) Dort führte Als sie zum ersten Mal in der SS-Arzt Dr. med. Kurt Heißmeyer an den der Hamburger Gedenk- Geschwistern Witonski und weiteren achtzehn stätte war und hörte, in Kindern Impfversuche mit Tuberkulosebazillen Burgwedel werde eine durch, mit dem Ziel, nachzuweisen, dass eine Straße nach ihren Kin- zusätzlich gespritzte Dosis Tuberkelbazillen in dern benannt, sagte sie: einen bereits erkrankten Körper die Immunität ,Ich bin all diesen Men- des an TBC Erkrankten erhöhen würde. Diese schen so dankbar, daß Methode war allerdings längst als äußerst ge- mei ne Kinder nicht ver- fährlich erkannt und verworfen worden. Die gessen sind.‘“49) Roman mit seiner Kinder erlitten durch die Impfung starke Schmer- Zu verdanken ist die Mutter, 1940 zen und gesundheitliche Schäden. Sie bekamen Gedenkstätte am Bullen- hohes Fieber, wurden bettlägerig, verloren den huser Damm dem Hamburger Journalisten Günt- Appetit. Die durch die injizierten Tuberkulose- her Schwarberg (sie he Ü Günther-Schwarberg-Weg, bazillen angeschwollenen Drüsen wurden ope- in Bd. 3 online**). Dieser hatte intensiv nach rativ entfernt. Die SS war sich der Unmensch- den Schicksalen der Kinder vom Bullenhuser lichkeit dieser Experimente durchaus bewusst. Damm recherchiert und nach den Angehörigen

Abb.: KZ-Gedenkstätte Neuenamme/Sammlung Schwarberg KZ-Gedenkstätte Neuenamme/Sammlung Abb.: Um sie geheim zu halten, wurden die Kinder in der Kinder geforscht.

** Band 3 online unter: www.ham- e. V.“, Hamburg 1992. burg.de/maennerstrassennamen 49) Günther Schwarberg, a. a. O.

48) Günther Schwarberg: Straßen der Erinnerung. Hrsg. von der Vereini- gung „Kinder vom Bullenhuser Damm Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 182

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Siehe auch Ü Jacqueline-Morgenstern-Weg, Goldmariekenweg Lelka-Birnbaum-Weg, Mania-Altmann-Weg, Riwka-Herszberg-Stieg, Wassermannpark, Schnelsen, seit 1948. Märchengestalt. Aus: Karl Zylberbergstieg, Zylberbergstraße, in diesem Müllenhoff [siehe Ü Müllenhoffweg, in Bd. 3 on- Band. line**]: Sagen, Märchen und Lieder. Kiel 1845. Siehe auch Ü Brüder-Hornemann-Straße, Motivgruppe: Holsteinische Geschichte, Sagen Schnelsen, seit 1993: Alexander und Eduard und Märchen Hornemann, acht und zwölf Jahre alt, nieder- ländische Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Goldmariken ist eine Gestalt aus dem Märchen „Goldmariken und Goldfeder“. Sie ist die wun- Siehe auch Ü Eduard-Reichenbaum-Weg, Schnel sen, seit 1993: Eduard Reichenbaum derschöne Tochter eines Edelmannes. (1934–1945), zehnjähriges polnisches Kind, Als sich ihre Eltern bei einer Ausfahrt verir- Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- ren, hilft ihnen ein Pudel, den rechten Weg nach line**. Hause zu finden. Als Belohnung fordert er, das Siehe auch Ü Georges-André-Kohn-Straße, Schnelsen, seit 1992, zwölfjähriges Opfer des zu bekommen, was den Eltern beim Nachhause - Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. kommen zuerst begegnen würde. Als die Eltern Siehe auch Ü Jungliebstraße, Schnelsen, seit zu Hause eintreffen, läuft ihnen ihre Tochter 1995, zwölfjähriger Jugoslawe, Opfer des Na- Goldmariken freudig entgegen, die ihre Eltern tionalsozialismus, in Bd. 3 online**. schon vermisst hatte. Siehe auch Ü Marek-James-Straße, Schnelsen, Bevor Goldmariken nun aber zum Pudel seit 1995: Marek James, sechs Jahre alter Pole, muss, der in Wirklichkeit eine Hexe ist, lehrt sie Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- line**. eine Nachbarin „das Wünschen“. Mit dieser Fä- Siehe auch Ü Marek-Steinbaum-Weg, Schnel- higkeit ausgestattet, hat es Goldmariken bei der sen, seit 1993: Marek Steinbaum, zehn Jahre Hexe leicht. Alle Arbeit, die ihr aufgetragen wird alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in und zu der sie gar nicht fähig ist, gelingt ihr. Bd. 3 online**. Denn sie braucht sich nur die Erledigung dieser Siehe auch Roman-Zeller-Platz, Schnelsen, Ü Arbeit wünschen. seit 1995: Roman Zeller, zwölfjähriger Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- Eines Tages bringt die Hexe einen Prinzen line**. mit Namen Goldfeder, der sich im Wald verirrt Siehe auch Ü Sergio-de-Simone-Stieg, Schnel- hat, ins Hexenhaus. Goldmariken und Goldfeder sen, seit 1993: sieben Jahre alter Italiener. Opfer freunden sich an, und Goldmariken ist ihm stets des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. behilflich. Schließlich gelingt es ihnen, zu flie- Siehe auch Ü Günther-Schwarberg-Weg, Schnel- hen und zu Goldfeders väterlichem Schloss zu sen, seit 2013: Günther Schwarberg (1926– 2008), Autor, Journalist, recherchierte und gelangen. Bevor jedoch Goldfeder das Schloss schrieb über das Schicksal der 20 jüdischen Kin - betritt, beschwört ihn Goldmariken, sich ja von der, die am 20.4.1945 in der Schule Bullenhuser niemandem küssen zu lassen, denn sonst würde Damm ermordet wurden, in Bd. 3 online**. er sie auf der Stelle vergessen. Es kommt, wie es kommen muss, um die Giselaweg Spannung dieser Handlung aufrechtzuhalten: Fuhlsbüttel, seit 1951. Frei gewählter Name Goldfeders ehemalige Freundin begrüßt ihn mit einem Kuss, und Goldfeder vergisst Goldma ri -

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 183

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ken auf der Stelle. Die todunglückliche Gold ma - Siehe auch Ü Müllenhoffweg, Groß Flottbek, riken zieht in ein Haus ganz in der Nähe des seit 1950: Prof. Karl Viktor Müllenhoff (1818– 1884), Germanist, Herausgeber der Sagen, Mär- Schlosses. Ihren Lebensunterhalt verdient sie chen und Lieder der Herzogtümer Schleswig- mit Nähen. Holstein und Lauenburg, in Bd. 3 online**. Da Goldmariken von schöner Gestalt ist, versuchen die drei Brüder von Goldfeder, mit ihr anzubandeln. Nacheinander erscheinen sie ein- Gordonkehre zeln bei Goldmariken und bringen ihr Kleidung Bergedorf, seit 1985, benannt nach Klara Gordon zum Nähen. Und jedes Mal bittet Goldmariken (20.11.1866–20.12.1937 Hamburg), Oberin des sie, über Nacht zu bleiben – was die jungen Her- Israelitischen Krankenhauses. Motivgruppe: Ver- ren natürlich mit Freuden annehmen. Aber in diente Frauen diesen Nächten kommt es nicht zu dem, was sich die jungen Männer erhoffen. Statt eine zau- 1893 gehörte Klara Gordon „zu den ersten in Frank- berhafte Liebesnacht zu erleben, erfahren die furt am Main ausgebildeten jüdischen Kranken- liebestollen Jünglinge einen anderen Zauber. schwestern. Den Frankfurter jüdischen Schwes- Goldmariken zaubert den einen an der Haustür, ternverein hat sie mitbegründet.“50) Am 1. März den anderen an der Gartentür fest und lässt den 1898 kam Klara Gordon an das Israelitische Kran- dritten jungen Prinzen die ganze Nacht mit ei - kenhaus in Hamburg. 1908 wurde sie dort Oberin nem Kalb an der Leine durch die Gegend laufen. und leitete die krankenhauseigene Krankenpfle- An dem Tag, an dem Goldfeder mit seiner geschule und das Schwesternheim, das seit 1902 Freundin Hochzeit halten will, fährt das Paar als unabhängige Stiftung geführt wurde. Klara mit der Kutsche an Goldmarikens Haus vorbei. Gordons Ziel war es, „eine Pflegerinnenschule In diesem Moment wünscht sich Goldmariken, in Anlehnung an das Krankenhaus zu errichten, die Kutsche möge vor ihrer Tür in einem tiefen um jüdische Mädchen und Frauen zu tüchtigen Morast versinken. Und so geschieht es dann Krankenpflegerinnen heranzubilden, die in der auch. Schule übernommenen Krankenpflegerinnen Da die Leute nicht wissen, dass Goldmari- (Schwestern) sowohl in Kranken- und Siechenan - ken diesen Unfall verursacht hat, sie aber mit- stalten zu beschäftigen als auch der Pflege von bekommen haben, dass Goldmariken wünschen Kranken aller Konfessionen in Familien (gegen kann, bitten sie sie zu helfen. Als Lohn für ihre ein der Stiftung zu entrichtendes Honorar) und Dienste wünscht sich Goldmariken, an der in die Armenpflege unentgeltlich zu entsenden, Hochzeitsfeier teilnehmen zu dürfen. Zur Feier den Schwestern in Krankheitsfällen bei Erwerbs- erscheint sie mit ihren zwei Tauben, setzt sich unfähigkeit und im Alter eine auskömmliche Ver- an die gedeckte Festtafel, isst aber nichts und sorgung zu sichern.“51) Für alte Schwestern war blickt nur traurig. Als man sie fragt, was sie durch einen Pensionsfonds gesorgt. habe, antwortet sie: „Täubchen, Täubchen mag Während des Ersten Weltkrieges wurde das nicht essen, Goldfeder hat Goldmariken auf dem Israelitische Krankenhaus zum Reservelazarett. Stein vergessen.“ Daraufhin erkennt Goldfeder Klara Gordon tat „in der Verwundetenpflege endlich Goldmariken, lässt seine Braut sitzen Dienst für Deutschland; sie wurde mit der ‚Rot- und heiratet sein Goldmariken. Kreuz-Medaille‘ ausgezeichnet“.52)

** Band 3 online unter: www.ham- unter: Recherche. burg.de/maennerstrassennamen 51) Mary Lindemann (Hrsg.): 140 Jahre Israelitisches Krankenhaus in 50) www.juedische-pflegege- Hamburg, Hamburg 1981. schichte.de. Biographien und Institu- 52) www.juedische-pflegege- tionen in Frankfurt am Main. Hier schichte.de. Ebenda. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 184

184 Biographien von A bis Z / G

Nach 1933 war das Krankenhauspersonal Ergänzt 2001/2002 um die ebenso bedeutende starken Repressalien ausgesetzt. Klara Gordon Ehefrau Luise Adelgunde Gottsched, geb. Kul- verhielt sich in all diesen Zeiten vorbildlich und mus. Neuer Erläuterungstext: benannt nach dem aufopfernd gegenüber ihren Kranken. Bei ihrer Schriftstellerehepaar Luise Adelgunde Victoria Verabschiedung sagte der Kuratoriumsvorsit- Gottsched, geb. Kulmus (11.4.1713 Danzig– 26.6. zende Dr. Fritz Warburg (siehe Ü Warburgstraße, 1762 Leipzig), erste vollbeschäftigte Journalistin in Bd. 3 online**): „Sie war eine aufrechte Jü- Deutschlands, und Prof. Johannes Christoph din, allgemein anerkannt Gottsched (1700–1766), Literaturtheoretiker als vorzügliche Vertrete- rin ihres Berufes, die voll „Nie mehr würde ich einen berühmten Mann hei - tiefem Mitgefühl für alle raten“, soll die „Frau Professor Gottsched“ kurz körperlichen und seeli- vor ihrem Tod geäußert haben. schen Schmerzen ihrer Den berühmten Literaturtheoretiker, Sprach - Glaubensgenossen für sie erzieher und geistigen Führer der Frühaufklä- sorgte und doch auch rung, Johannes Christoph Gottsched, hatte die Toch- gern Liebestätigkeit den ter des königlich-polnischen Leibarztes Johann Nichtjuden zuwand te, da- Georg Kulmus und seiner Frau Katharina Doro- Klara Gordon mit jeder den Segen unse- thea, geb. Schwenk, bereits im Alter von sieb- res Kranken hauses emp- zehn Jahren kennengelernt. Da war sie, die zwei finde. (...). Stolz und bescheiden, aufrecht und Fremdsprachen beherrschte, schon schriftstelle- anspruchslos, überlegt und zurückhaltend, streng risch tätig. Fünf Jahre später heiratete das Paar. gegen sich selbst und andere, aber voll Nachsicht „‚Verliebte Schwachheiten‘, wie sie es nannte, er- und Verständnis für die Schwächen und Fehler wartete er von ihr allerdings vergeblich, und die ihrer Mitmenschen, trat uns Clara Gordon entge- lange Verlobungszeit erklärt sich vor allem gen. Indem sie mit ihrer Würde und unermüdli - daher, dass sie die Eheschließung solange es chen Willenskraft das innere Leben im Kranken- ging hinauszögerte. Als aber ihre Eltern gestor- haus leitete, straffte sie auch den Willen der ben waren, stimmte sie der Versorgungsehe mit Kranken und war allen eine Quelle des Trostes dem 13 Jahre älteren Johann Christoph zu“,54) und des Lebensmutes. (...) Wir wollen uns ihre schreibt Luise Pusch. wundervolle Hingabe an unser Krankenhaus, Luise Gottsched wurde nun die „Gottschedin“ dessen wahre Mutter sie war, die Charakterstärke und zur „geschickten Freundin“ ihres Mannes, und Energie, in der sie eine schöne Tradition auf- der in Leipzig eine Professur hatte und Heraus- recht erhielt, zum Muster nehmen.“53) geber von „Die vernünftigen Tadlerinnen“, der Siehe auch Ü Warburgstraße, Rotherbaum, seit ersten Wochenschrift für Frauen, war. Das Ehe- 1947: Max Warburg (1867–1946), Bankier, in paar setzte sich für eine bessere Frauenbildung Bd. 3 online**. ein, was jedoch nicht implizierte, dass Herr Gottsched die berufliche Laufbahn seiner Frau Gottschedstraße wohlwollend unterstützte. Recht war es ihm Winterhude, seit 1910, nach Johannes Christoph zwar, dass seine Frau für ihn wissenschaftliche

Gottsched benannt. Hilfsarbeiten verrichtete – „Galeerenarbeit“ – | V. S. 1981, Hamburg Entwicklung, und v.l.n.r.:Abb. Vorgeschichte Hamburg, in Krankenhaus Israelitisches Jahre 140 Lindemann, Mary Aus: : 3. Handschriftensammlung CS 9 : Gottsched Hamburg, und Universitätsbibliothek Staats-

** Band 3 online unter: www.ham- phie/php/frau/biographie/luise- burg.de/maennerstrassennamen adelgunde-victorie-gottsched/

53) Mary Lindemann, a. a. O. 54) Luise Pusch: Luise Gottsched, in: Fembio. www.fembio/org/biogra- Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 185

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wie sie diese Tätigkeiten einmal in einem Brief jekte ‚Die deutsche Schaubühne‘ (1741–1745) an ihre Freundin bezeichnete. und ‚Die deutsche Sprachkunst‘ (1748)“.56) „Das Paar hatte keine Kinder, und so entwi- Nach dem Tod von Luise Gottsched brachte ckelte [ Luise] Gottsched sich unter der Aufsicht deren Freundin Dorothea von Runckel zwischen ihres Gatten zum Inbegriff der gelehrten Frau 1770 und 1771 Gottscheds Lieblingsdrama „Pan- der frühen Aufklärung. Auf Wunsch Johann thea“ und ihre Briefe heraus. „‚Nach 28jähriger Christophs lernte sie Latein und lauschte hinter Produktion literarischer Werke für die Projekte der geöffneten Tür des Vor lesungssaals seinen ihres Gatten, von denen die meisten ihm zuge- Vorlesungen über Rhetorik und Dichtkunst. So schrieben wurden, war es Runckel, die endlich präpariert, plagte sich Gottsched jahrzehntelang – unter dem Namen der Autorin – die Werke pub- im Dienste der literarischen und wissenschaft- lizierte, die Gottsched schreiben wollte – ihre lichen Projekte ihres Man- Tragödie und ihre Briefe‘ (Kord 1989:164).“57) nes, bis zu ihrem Tod im „Die neun Meilen entfernt wohnende, elf Jahre 1762 im Alter von Jah re jüngere Runckel war für Gottsched wäh- nur 49 Jahren.“55) rend ihrer letzten zehn Jahre der Mit telpunkt ih - Ihre selbstständigen res Lebens. Sie schickte ihr Liebesgedichte und Arbeiten wie das Überset- ein Bild von sich (was sie Johann Christoph in zen von Voltaire, Molière, der Verlobungszeit verwei gert hat te), die ‚feu- J. Addison und A. Pope rigste Umar mung‘ und ‚tausend Küsse‘. Sie und ihre schriftstelleri- schrieb von ‚ewiger Liebe‘ und war ei fersüchtig schen Arbeiten – sie ver- auf andere Frau en in Runckels Leben. Luise Gottsched öffentlichte mit Erfolg Nach Gottscheds Tod heiratete Johann Chris- Dramen und Lustspiele – toph eine Neunzehnjährige und schrieb eine Bio- waren dem Gatten wohl ein Dorn im Auge. So graphie seiner ‚fleißigen Gehülfin‘, die für die beschwerte sich Luise Gottsched in Briefen an nächsten 200 Jahre sein Bild von ihr in der Lite- ihre Freundin über seine Bevormundungen. raturgeschichte festschrieb. Erst mit der jüngeren Besonders die Molière Übersetzungen hat- feministischen Forschung (vor allem Goodman, ten auch wesentlichen Einfluss auf Lessings (sie- Heuser und Kord) erfährt diese bedeutende Au- he Ü Lessingstraße, in Bd. 3 online**) Minna von torin und Gelehrte der Frühaufklärung späte Ge- Barnhelm. Aber auch dieser Mann dankte dies rechtigkeit und die ihr gebührende Anerken- nicht der Gotteschedin, sondern verriss die Lust- nung“, so Luise Pusch in ihrer Biografie über spiele der großen Dichterin. Luise Gottsched, veröffentlicht in Luise Pusch’ Luise Gottsched wurde Deutschlands erste biographischer Datenbank www.fembio.org/ vollberufliche Journalistin und schrieb viele Ar- Siehe auch Ü Lessingstraße, Hohenfelde, seit tikel in den unter dem Namen ihres Mannes her- 1863: Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Dichter, Schriftsteller, in Bd. 3 online**. ausgegebenen Zeitschriften. Allerdings waren nur wenige ihrer Artikel mit ihrem Namen ge- zeichnet. Die meisten erschienen unter seinem Gretchenkoppel Namen, „als Teil der von ihm herausgegebenen Poppenbüttel, seit 1947. Flurname und volkstüm- Zeitschriften und literarischen Monumentalpro- liche Bezeichnung „Gretgen-Coppl“

** Band 3 online unter: www.ham- von: Susanne Kord: Luise Gottsched phies and indexes in women’s stu- burg.de/maennerstrassennamen (1713–1762), in: Frederiksen, Elke dies, 8.) (Hrsg.): Women writers of Germany, 55) Luise Pusch, a. a. O. Austria, and Switzerland. An annota- 56) Luise Pusch, a. a. O. ted bio-bibliographical guide. New 57) Luise Pusch, a. a. O. und Zitat York u. a. 1989, S. 164. (Bibliogra- Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 186

186 Biographien von A bis Z / G

Gretchen-Wohlwill-Platz Vorliebe, die viel über ihre künstlerische Auf - HafenCity, seit 2013, benannt nach Gretchen fassungsgabe und ihr Wesen aussagt. Nach der Wohlwill (27.11.1878 Hamburg–17.5.1962 Ham- Rückkehr von ihrem ersten Parisaufenthalt richtete burg), jüdische Malerin und Mitglied der Ham- Gretchen Wohlwill sich im elterlichen Haus in der burgischen Sezession, deutsche Schülerin der Johnsallee 14 ein Atelier ein. Da sie, selbstkritisch Académie Matisse in Paris, 1933 Entlassung aus wie sie ihre Leben lang blieb, überzeugt war, es dem Schuldienst, 1940 Emigration nach Portu- nicht zu außerordentlichen Leistungen zu bringen gal, 1952 Rückkehr nach Hamburg; Verfolgte des und das Gelernte praktisch anwenden wollte, be- Nationalsozialismus gann sie zu unterrichten und bereitete sich selbst- Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem ständig auf das Zeichenlehrerexamen vor, das sie Ohlsdorfer Friedhof. 1909 in Berlin ablegte. In Hamburg hätte sie dafür ein dreijähriges Studium an der Gewerbeschule Gretchen Wohlwill wurde als viertes Kind des Che- absolvieren müssen. Ihr Sinn fürs Praktische zeigt mikers Emil Wohlwill und seiner Frau Luise, geb. sich auch darin, dass sie 1897 ihre Malstudien Nathan, in Hamburg geboren. Der Vater, und ganz bewusst für ein halbes Jahr unterbrach, um durch seinen Einfluss auch die Mutter, wandten eine Haushaltsschule zu besuchen. 1910 wurde sich vom jüdischen Glauben ab und ließen auch Gretchen Wohlwill als Kunster zieherin an der Emi- in die Geburtsscheine ihrer Kinder „konfessions- lie-Wüstenfeld-Schule eingestellt. Diese Tätigkeit los“ eintragen. Emil Wohlwill lehnte als Liberaler schien ideal. Sie verschaffte ihr eine finanzielle und Arbeiterfreund auch die so genannten Stan- Grundlage, die sie selbstbewusst und noch in den desschulen ab, so dass Gretchen die Privatschule Zeiten der Weltwirtschaftskrise einigermaßen un- von Robert Meisner besuchte. Nach einem Jahr abhängig machte, und da sie nur vier Tage in der Selecta erfüllte sich 1894 Gretchen Wohlwills größ- Woche unterrichtete, blieb ihr Zeit für das eigene ter Wunsch: Sie wurde an der Kunstschule von Schaffen. Doch im Unterricht machte ihr nur die Valeska Röver angemeldet und bekam eine Aus- Arbeit mit den Begabten wirklich Freude, und die bildung bei Ernst Eitner (sie he Ü Eitnerweg, in Bd. Reduktion ihrer künstlerischen Existenz auf eine 3 online**) und Arthur Illies (siehe Ü Illiesweg, in Dreitagewoche und die Reisen während der Schul- Bd. 3 online**). 1904/5 ging sie zur Fortsetzung ferien führten dazu, da sie sich ständig gehetzt ihrer Studien nach Paris und besuchte die Privat- fühlte. Kurz nach dem Tode des Vaters im Jahre akademien Stettler und Dannenberg bei Lucien 1912 wurde der Familie das Haus in der Johnsallee Simon und Jacques Emile Blanche. Wirkli chen gekündigt, weil es verkauft werden sollte. Man Gewinn aber zog sie erst aus einem zweiten Pari- erwarb das Haus Magdalenenstraße 12, wo Gret- saufenthalt 1909/10, und das nicht nur, weil sie chen Wohlwill sich wiederum ein Atelier einrich- in der Matisse-Schule arbeiten konnte, sondern tete, das sie auch nach dem aus wirtschaftlichen auch, weil ihr „endlich die Augen aufgegangen Gründen notwendigen Umzug in den Mittelweg waren für die Großen der Gegenwart und die nach dem Tod der Mutter behielt. Es wurde zum Kunst vergangener Zeiten“58). Das stimmt aller - Treffpunkt junger Künstlerinnen und Künstler. dings nicht ganz – hatte sie doch schon früh den 1928 zogen Gretchen und ihre Schwester Sophie, Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckten Ver- die Pianistin war, aus der riesigen kalten Wohnung meer als ihren Lieblingsmaler auserkoren, eine am Mittelweg in die Flemingstraße 3. 1933 wurde

** Band 3 online unter: www.ham- Hamburg 1984. burg.de/maennerstrassennamen

58) Gretchen Wohlwill: Lebenser- innerungen einer Hamburger Malerin. Bearbeitet von Hans-Dieter Loose. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 187

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Gretchen Wohlwill wie die meisten Beamten und gebaut hatte, gekündigt wurde, weil dort eine Beamtinnen jüdischer Herkunft aus dem Schul- Flugzeugwerft entstehen sollte, verbrachte Gret- dienst entlassen. Doch obwohl sie 1933 aus der chen Wohlwill die Sommer auf Finkenwerder, Hamburgischen Künstlerschaft ausgeschlossen malte und segelte mit Bargheer auf dem gemein- wurde und miterlebt hatte, dass die Hamburgische samen Boot. Auf Dauer konnte sie jedoch nicht Sezession sich auflöste, um ihre jüdischen Mit- an den Tatsachen vorbeisehen. 1937 wurden vier glieder nicht ausschließen zu müssen, blieb sie ihrer Arbeiten als entartet beschlagnahmt, 1938 wie viele andere seltsam sorglos. Sie war mit ihrer ihre 1931 im Auftrag Fritz Schumachers (siehe Ü Kündigung „nicht unzufrieden“59), konnte sie doch Fritz-Schumacher-Allee, in Bd. 3 online**) für die endlich ihrer eigentlichen Emilie-Wüstenfeld-Schule gemalten Wandbilder Arbeit frei nachgehen. Ei- mit Bildern im Stil der nationalsozialistischen ne Emigration zog sie zu- Propaganda übermalt.60) Die Verordnungen der nächst nicht in Erwägung. Nazis gegen die Juden machten das Leben Stattdessen fasste sie den „schwer und schwerer“, bis es „fast unerträglich Plan, sich auf der Fischer- geworden war“61). Sie begann mit der Schwester und Bauerninsel Finken- das Für und Wider der Auswanderung zu erör- werder ein Haus neben tern. Sophie konnte sich nicht entschließen. Sie dem des Malers Bargheer wurde ins KZ Theresienstadt deportiert und starb zu bauen, den sie 1926 dort, wie auch der Bruder Heinrich, ehemaliger kennengelernt hatte und Direktor der Norddeutschen Affinerie. Gretchen Gretchen Wohlwill mit dem sie seitdem eng emigrierte, nachdem sie eine frühere Einreiseer- befreundet war. Gretchen laubnis hatte verfallen lassen, quasi im letzten Wohlwill besuchte den Freund oft und baute sich Moment, im März 1940, im Alter von 61 Jahren, bald einen Anbau an sein Atelier, um in den Ferien nach Portugal. In Lissabon konnte sie bei der und am Wochenende hier zu leben und zu arbei- Familie ihres Bruders Fritz, Professor der Medi- ten. Gemeinsam unternahmen die beiden Reisen zin, unterkommen, bis er in die USA emigrierte. nach Holland und Belgien (1928), England (1929) Da sie so schnell wie möglich unabhängig wer- sowie Italien und Paris (Dezember 1930 bis Ostern den wollte, versuchte sie, ihren Lebensunterhalt 1931, Gretchen Wohlwill war von der Schulbe- mit Stoffmalerei, Ta schennähen und Sprach-, Li- hörde ein Studienaufenthalt und ein Zuschuss teratur- und Malunter richt zu verdienen. Es war von 400 M zu ihrem Gehalt gewährt worden). schweres Emigrantendasein in unbeheizbaren, 1933 fuhren sie erneut nach Paris, und 1936 mit primitiven Behausungen, voll Einsamkeit und dem Motorrad nach Dänemark. Sie besuchten auf Krankheit. Nach dem Krieg änderte sich das. ihren Reisen Museen, in denen sie auch zeichne- Gretchen Wohlwill errang als Künstlerin nicht ten und kopierten, und quartierten sich an Orten nur Anerkennung, sondern sogar Auszeichnun- ein, wo sie tagsüber in der Natur arbeiteten und gen: 1948 und 1952 erhielt sie den „Premio Fran- abends über das Gemalte diskutierten, sich korri- cisco da Holanda“. Sie hatte eigene Ausstellun- gierten und – keines wegs unwichtig – aßen und gen und nahm an Gruppenausstellungen in tranken. Bis zum Frühjahr 1939, als das von der Lissabon und Porto teil. Nach zwei Besuchen in

Abb.: Archiv Eduard-Bargheer-Haus, Hamburg Eduard-Bargheer-Haus, Archiv Abb.: Stadt gepachtete Gelände, auf dem sie ihr Haus Hamburg in den Jahren 1950 und 1951 entschloss

** Band 3 online unter: www.ham- 61) Gretchen Wohlwill: Lebenser- burg.de/maennerstrassennamen innerungen, a. a. O.

59) Ebenda. 60) Die Wandbilder wurden 1993 freigelegt und restauriert. Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 188

188 Biographien von A bis Z / G

sie sich 1952 zur Rückkehr. Am Ende ihre Lebens Gretelstieg be zeichnet sie diese Hamburger Jahre, in denen Schnelsen, seit 1970. Märchengestalt, im An- sie in den Grindelhochhäusern eine Wohnung schluss an die Motivgruppe: Holsteinische Ge- hatte, als die schönsten ihres Lebens, weil die schichte, Sagen und Märchen Politik sie nicht mehr direkt berührte. Wie Kriti- ken und Rezensionen zeigen, war Gretchen Der Germanist und Erzählforscher Heinz Rölleke Wohlwill in den 1920-er und frühen 1930-er Jah- schreibt über die Rolle der Gretel im Märchen ren eine geschätzte Malerin und Graphikerin. „Hänsel und Gretel“ der Brüder Grimm (siehe Ü Sie gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Grimmstraße, in Bd. 3 online**), dass dort jener Hamburgischen Sezession und beteiligte sich an Typus Frau als Heldin vorkommt, der sich sowohl deren jährlichen Ausstellungen. Bis 1933 nahm passiv als auch aktiv verhält. „(…) Gretel beginnt sie an mindestens 15 Ausstellungen im In- und als die ängstliche, passive, bloß dulden de, die Ausland teil. Die Hamburger Kunsthalle und das vorläufige Rettung durch Hänsel nur taten los be- Altonaer Museum kauften Bilder von ihr. Heute wundernde Heldin. Sobald aber ihr männliches existiert ihr Werk nur noch in Fragmenten. Vie- Bruder-Pendant hilflos und auch nicht mehr zur les, was sie bei ihrer Auswanderung Freunden Hilfe für die Schwester fähig im Hexenkäfig sitzt, zur Aufbewahrung gegeben hatte, fiel den Bom- da verändert sich ihre Haltung sozusagen um ben zum Opfer. Der Teil ihrer Arbeiten aber, den 180 Grad. Sie wird aktiv, sie wird listig, bewirkt sie für den wesentlichsten hielt, ging aus dem die Befreiung. Sie kennt sozusagen ihren Kairos, Versandlift verloren, der nach Kriegsende nach den Augenblick, in dem dieser Umschlag sinn- Portugal geschickt werden sollte. Arbeiten von voll, ja im wörtlichsten Sinn notwendig ist.“62) Gretchen Wohlwill befin den sich in der Kunst- Und Elke Feustel charakterisiert Gretel als halle, im Altonaer Muse um und im Museum für die „tapfere Erlöserin“.63) „Als solche läuft sie Hamburgische Geschichte. Der im Staatsarchiv Hänsel insofern den Rang ab, als er im Laufe der aufbewahrte Nachlass ist 1989 an die Familie Handlung auf die Rolle des rettungsbedürftigen zurückgegangen. Nebenakteurs zurückfällt, während sie sich Text: Brita Reimers durch besondere Charakterstärke hervortut“, re- Siehe auch Ü Anita-Rée-Straße, Rosa-Schapire- sümiert Madelaine Neumayr in ihrer Diplomar- Weg, in diesem Band. beit über „Hänsel und Gretel“64) Siehe auch Ü Eitnerweg, Hummelsbüttel, seit Siehe auch Ü Königskinderweg, in diesem 1965: Prof. Ernst Eitner (1867–1955), Maler, Band. in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Grimmstraße, Iserbrook, seit 1930: Siehe auch Ü Fritz-Schumacher-Allee, Langen- Brüder Grimm, Jacob (1785–1863) und Wil- horn, seit 1920: Prof. Dr. Fritz Schumacher helm Grimm (1786–1859), in Bd. 3 online**. (1869–1947), Oberbaudirektor, in Bd. 3 on- line**. Siehe auch Ü Hänselstieg, Schnelsen, seit 1970: Märchengestalt, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Illiesbrücke, Ohlsdorf, seit 1956, und Illiesweg, Steilshoop, seit 1955: Artur Illies (1870–1952), Maler, Lehrer an der Lan- deskunstschule, in Bd. 3 online**. Grete-Nevermann-Weg Rissen, seit 1981, benannt nach Grete Never-

mann, geb. Faden (14.1.1907 Klein-Flottbek– Hamburg der SPD-Landesorganisation Archiv Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- S. 206. bilderbuch. Diplomarbeit an der Uni- burg.de/maennerstrassennamen 63) Elke Feustel: Rätselprinzessin- versität Wien 2012, S.46. nen und schlafende Schönheiten. Hil- 62) Heinz Rölleke: Die Märchen der desheim 2004, S. 245. Brüder Grimm: Quellen und Studien. 64) Madelaine Neumayr: Hänsel und Gesammelte Aufsätze. Trier 2000, Gretel im zeitgenössischen Märchen- Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 189

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25.12.1973 Hamburg/Rissen),Vorsitzende des Siehe auch Ü Paul-Nevermann-Platz, Altona- Ortsausschusses Blankenese Altstadt, seit 1984: Paul Nevermann (1902– 1979), Erster Bürgermeister von Hamburg, in Bd. 3 online**. Grete Faden wurde als zweite Tochter der Eheleute Wilhelm und Ida Faden geboren. Ihr Vater war Handwerker (Maler) und nach dem Zweiten Welt- Grete-Zabe-Weg krieg als Betriebshandwerker bei Oetker tätig. Barmbek-Süd, seit 2008, benannt nach Grete Nach dem Besuch der achtjährigen (preußi- Marie Zabe, geb. Tischowski (18.3.1877 Danzig– schen) Volksschule absolvierte Grete Nevermann 1.12.1963 Hamburg), Mitglied der Hamburgi- eine Lehre als Verkäuferin bei der Konsum-Ge- schen Bürgerschaft von 1919–1933; Verfolgte nossenschaft (Produktion) und engagierte sich des Nationalsozialismus in der SPD. 1930 heiratete sie den Rechtsanwalt Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem Dr. jur. Paul Nevermann (siehe Ü Paul-Nevermann- Ohlsdorfer Friedhof. Platz, in Bd. 3 online**). Das Ehepaar wurde während der Zeit des Nationalsozialismus von Grete war fünf Jahre alt, als ihre Eltern, der Vater jeglicher politischer Arbeit ausgeschlossen. 1935 ein Schiffszimmerergeselle, die Mutter ein Dienst- wurde der Sohn Jan, 1937 die Tochter Anke und mädchen, verstarben. Sie kam in ein Waisen- 1944 der Sohn Knut geboren. haus, später zu Pflegeeltern. Gleich nach Ende des Nationalsozialismus Sie besuchte die Volksschule, wurde Dienst- kehrte Grete Nevermann in die aktive Kommu- mädchen, später Arbeiterin in einer Zigarrenfa- nalpolitik zu rück. So war sie von 1950 bis 1972 brik. Mit 20 Jahren heiratete sie einen Malerge- SPD-Mitglied im Ortsausschuss Blankenese: von hilfen. Ein Jahr später wurde das erste Kind, drei 1958 bis 1961 stellvertretende Vorsitzende und Jahre darauf das zweite und nach weiteren vier von 1969 bis 1972 Vor sit- Jahren das dritte Kind geboren. Da das Gehalt zen de. Sie engagierte sich ihres Mannes nicht für den Lebensunterhalt der besonders in der Woh- Familie ausreichte, übernahm Grete Zabe zwi- nungs- und Baupolitik. schenzeitlich Aushilfsarbeiten. 1906 zog das Ehe- Vier Jah re lang, von 1961 paar nach Hamburg. bis zur Trennung von ih- 1907, nach dem Umzug der Familie nach rem Mann 1965, fungierte Hamburg, wurde Grete Zabe auf Anregung ihres sie als Frau des Ersten Bür- Mannes, einem aktiven Sozialdemokraten und germeisters Dr. Paul Ne- Gewerkschafter, Mitglied der SPD. Grete Zabe, die vermann als „First Lady“ großes Redetalent besaß, machte Parteikarriere: der Hansestadt. 1913 wurde sie in den SPD-Distriktvorstand Ham- Am 25. Dezember 1973 burg-Uhlenhorst gewählt und leitete während des verstarb Grete Nevermann Ersten Weltkrieges die Kriegsküche dieses Stadt- Grete Nevermann mit an einer Lungen embolie teils. Von 1919 bis 1933 war sie Mitglied der Ham- Tochter Anke in ihrem Haus in der Ris- burgischen Bürgerschaft und im Ausschuss für sener Land straße 17, in dem die Familie seit Wohnungsfragen sowie in der Behörde für das 1939 wohnte. Gefängniswesen als einzige Frau in der Deputa-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 157-192 G:. 27.07.15 11:27 Seite 190

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tion vertreten. Dort machte sie sich für eine Re- Frauentätigkeit und Frauenerwerbsarbeit, wenn form des Strafvollzuges stark. Zwischen 1922 diese Arbeit für die Kattundruckereien getätigt und 1933 agierte sie als Mitglied des Landesvor- wurde. standes und des Frauenaktionsausschusses der Die Bleicherinnen legten die Tücher im Gras aus SPD. Von 1922 bis 1927 war sie Vorsitzende des und spannten sie zwischen Pflöcken. Mehrmals Frauenaktionsausschusses. Dieser hatte sich das am Tag begossen sie die Tücher mit Wasser, das Ziel gesetzt, möglichst vie- sie in Gießkannen oder Eimern vom Fleet zur le Wäh le rin nen zu gewin- Rasenfläche herbeischleppen mussten. nen. Allerdings erreichten Die Erfindung eines Röhrensystems brachte die Genos sinnen mit ihren große Erleichterung. Von der Wasserstelle wur- Frauenversammlungen, den halbrunde Holzröhren zum Rasen geleitet. Plakaten und Flugblättern Dort stand ein großer Bottich, in dem das Was- nicht die breite Masse. Die ser aufgefangen und dann mit Schöpfkellen auf bürgerlichen Parteien hin- die Kattunstücke gegossen werden konnte. Diese gegen hatten schon länger Erleichterung und „Technisierung“ machte an- Grete Zabe erkannt, wie die „Frau von scheinend diese Arbeit auch für Männer attrak- der Straße“ am besten an- tiv. Wenigstens sind auf den entsprechenden zusprechen sei – nämlich mit Angeboten im Frei- technischen Abbildungen des 18. Jahrhunderts zeitbereich. So wurde ab 1924 auch die SPD in nur noch Arbeiter mit dieser Tätigkeit beschäf- dieser Richtung aktiv, bot „Frauenfeierstunden“ tigt zu sehen. und Film- und Lichtbildabende mit kurzen poli- tischen Referaten an. Die zentralen Forderungen der SPD und des Gudrunstraße Frauenaktionsausschusses waren u. a.: Gleicher Rissen, seit 1949, benannt nach Kudrun (Anony- Lohn für gleiche Arbeit, Verbesserung des Ar- mes Heldenepos, entst. um 1240) beits- und Mutterschutzes für erwerbstätige Frau- en, gleiches Recht auf Erwerbstätigkeit für Mann „Gudrun (Kudrun) ist die Tochter von König He- und Frau, Reform des Paragraphen 218. tel [siehe Ü Hettelstieg, in Bd. 3 online**] von He- 1933 und 1944 wurde Grete Zabe von der gelingen und seiner Frau Hilde [der Hildeweg Gestapo mehrere Tage inhaftiert, und auch Haus- ist nicht nach dieser Hilde benannt, sondern durchsuchungen musste ihre Familie über sich nach deren Mutter Hilde von Indien]. Sie wird ergehen lassen. von Hartmut von Ormanie entführt [siehe Ü Nach 1945 war Grete Zabe wieder für die Hartmutkoppel, in Bd. 3 online**], gibt aber seiner SPD und die Arbeiterwohlfahrt aktiv. Werbung nicht nach. Sie muß deshalb [bei Hart- muts Mutter Gerlind (siehe Ü Gerlindweg, in die- sem Band)] 13 Jahre Magddienst tun.“65) Bei Große Bleichen* solch einer Tätigkeit, Gudrun muss am Strand Neustadt, seit 1718/29: Wiesen auf denen die Wäsche waschen, wird sie von Herwig von Se- Bürgerinnen ihre Wäsche bleichen konnten. Das lant (siehe Ü Herwigredder, in Bd. 3 online**), der Bleichen der Wäsche auf den Wiesen war meist auch um Gudrun geworben und mit dem sie sich

* Straßennamen auf unterlegtem 65) Annemarie und Wolfgang van Feld verweisen auf Frauenorte, Frau- Rinsum: Lexikon literarischer Gestal- enarbeiten und -aktivitäten. ten, Stuttgart 1988.

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verlobt hatte, und ihrem Bruder Ortwin (siehe Ü Siehe auch Ü Ortwinstieg, Rissen, seit 1955. Ortwinstieg, in Bd. 3 online**) entdeckt. Sie sind Nach einer Gestalt aus der Gudrunsage: Ortwin ist der Bruder von Gudrun, in Bd. 3 online**. auf Geheiß von Gudruns Mutter Hilde mit einem großen Heer gekommen, um Gudrun zu befreien. Siehe auch Ü Wateweg, Rissen, seit 1949. Nach Wate, dem Held aus der Gudrunsage: Bote von Gudrun wirft die Wäsche ins Meer. Daraufhin König Hetel von Hegelingen, in Bd. 3 online**. droht ihr Gerlind mit Strafe. Dieser entgeht Gud- run nur, indem sie vorgibt, nun doch Hartmut heiraten zu wollen. Während der Hochzeitsfest- Guttmannring vorbereitungen rückt das Heer mit Ortwin und Langenbek, seit 1988, benannt nach Helene, Herwig vor. Es kommt zu einem schweren Kampf, geb. Goldberg, und Jacob (im Amtlichen Anzei- in dem Herwig den Vater (Ludwig) von Hartmut, ger: Jakob, im Jüdischen Gedenkbuch: Jacob) tötet, und Wate (Bote: Verwandter von Hilde und Guttmann (Helene: 24.8.1877 Pölitz–am 8.11. ihrem Mann König Hetel) (siehe Ü Wate weg, in 1941 deportiert nach Minsk, im KZ umgekom- Bd. 3 online**) die Mutter (Gerlind) von Hartmut men, genaues Todesdatum unbekannt), (Jacob: umbringt. Hartmut wird verschont, aber mit in 19.2.1877 Stewnitz–am 8.11.1941 deportiert nach Hildes Land genommen. Gudrun ist befreit. Minsk, im KZ umgekommen, genaues Todesda- Als alle wieder in Hildes Land sind, möchte tum unbekannt), jüdische Opfer des Nationalso- Gudrun die Feinde miteinander versöhnen und zialismus. Kaufmannsehepaar aus Wilhelmsburg ar rangiert deshalb eine Großhochzeit: Sie heiratet Stolpersteine vor dem „Judenhaus“ Bornstraße Herwig. Ihr Bruder Ortwin vermählt sich mit Ort- 18 und dem Wohnhaus Veringstraße 47. run, der Schwester, von Hartmut und Hartmut ehe licht Hildburg, die Gefährtin Gudruns. Sieg- Jacob (genannt James) Guttmann wurde in Stewnitz fried von Morlant heiratet die Schwester Herwigs. im Kreis Flatow in Westpreußen (heute: Staw- Die Figur Gudruns wird unterschiedlich inter- nica, Polen) als Sohn von Johanna und Hermann pretiert: von wankelmütig und undiszipliniert, Guttmann geboren. Er heiratete Helene Goldberg, über sich den Idealen der Treue und Aufrichtig- die aus Pölitz in Pommern (heute: Police, Polen) keit verpflichtenden Braut bis zur selbstbewuss - stammte. Jacob und Helene Guttmann lebten ten, über ihr Leben selbst entscheidenden, mo- seit dem 2. März 1908 in Wilhelmsburg. Am dernen Frau. 21. November 1909 wurde dort ihr einziges Kind, Siehe auch Ü Gerlindweg, in diesem Band. Edith, geboren. Siehe auch Ü Hartmutkoppel, Rissen, seit 1952. Edith Guttmann heiratete am 9. Oktober Nach einer Gestalt aus der Gudrunsage: der 1931 den Kaufmann Fritz Rosenschein aus Har- Entführer Gudruns, in Bd. 3 online**. burg. Das Paar konnte am 23. Februar 1938 in Siehe auch Ü Herwigredder, Rissen, seit 1949. die USA emigrieren. Nach einer Gestalt aus der Gudrunsage: Her- Jacob Guttmann betrieb seit 1908 eine Weiß- wig von Selant, Bewerber um Gudrun, den sie erhört und heiratet, in Bd. 3 online**. warenhandlung in Wilhelmsburg. Sein Woll- Siehe auch Ü Hettelstieg, Rissen, seit 1954. und Wäschewarengeschäft befand sich zuerst Nach einem Motiv aus der Gudrunsage: Vater im Haus Fährstraße 45 und ab dem 1. November (auch „Hetel“ geschrieben ) von Gudrun, in 1927 in der Veringstraße 47, wo die Familie auch Bd. 3 online**.

Abb.: Karen Hagemann/Jan Kolossa, Gleiche Rechte – Gleiche Rechte 1990, S. 72. Hamburg Hagemann/Jan Kolossa, Hamburg, Karen Abb.: in und Frauenbewegung zu Frauenalltag Bilder-Lese-Buch Ein Gleiche Pflichten? lebte. Neben dem Ehepaar arbeiteten im „Kauf-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 192

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haus“ zwei bis drei Verkäuferinnen. 1925 oder Am 1. Juli 1936 lösten die Eheleute Gutt- 1926 trat Jacob Guttmann aus der jüdischen Ge- mann den Haushalt in Wilhelmsburg auf und meinde in Harburg aus, blieb jedoch in Hamburg zogen nach Hamburg. Im Haus Rutschbahn 3 im weiter Gemeindemitglied. Aufgrund der Folgen 2. Stock hatten sie eine Wohnung gefunden. der Weltwirtschaftskrise 1929/1930 entließen Jacob Guttmann arbeitete als Vertreter für Tex- viele Firmen in Wilhelmsburg und im Hamburger til- und Kurzwaren. Ende September 1937 wech- Hafen ihre Arbeiter. Diese Situation hatte Folgen sel te das Ehepaar Guttmann ins Erdgeschoss des für die ansässigen Gewerbetreibenden, deren Um - „Judenhauses“ Bornstraße 18. Es bereitete seine sätze zurückgingen. Neben den gesunkenen Um- Auswanderung in die USA vor und gab im April sätzen führte eine Herzerkrankung von Helene 1941 an, ein Gesamtvermögen von nur noch 827 Guttmann, die „der führende Teil im Geschäft ge- RM zu besitzen. Das Paar hatte fast alle Erspar- wesen“ war, schließlich 1932 zum Konkurs. nisse aufgebraucht. In der vom Magistrat angefertigten Aufstel- Am 8. November 1941 wurden Helene und lung der jüdischen Geschäfte und Warenhäuser Jacob Guttmann, beide im Alter von 64 Jahren, der Stadt Harburg-Wilhelmsburg vom 6. April deportiert. Dieser Transport Hamburger Jüdin- 1933 findet sich zwar noch der Eintrag für „J. nen und Juden kam am 11. November 1941 in Guttmann, Kaufmann, Veringstr. 47“, am 12. De- Minsk an. Die Menschen wurden im Getto unter zember 1934 wurde die Firma allerdings aus menschenunwürdigen Umständen unterge- dem Handelsregister gelöscht. bracht. Die Insassen mussten Zwangsarbeit leis- Seinen Textilwarenhandel betrieb Jacob Gutt - ten. Viele überstanden den Winter 1941/42 mann weiter. Doch 1936 musste das Geschäft an nicht. Wie lange das Ehepaar Guttmann unter der Veringstraße, auch aufgrund der „starken diesen Umständen überlebte, wissen wir nicht. antisemitischen Strömungen in Wilhelmsburg“, Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wur- schließen. Käufer Hermann Johannsen hatte den beide für tot erklärt.66) vorher ein Geschäft in der Kanalstraße betrie- Text: Barbara Günther ben. Die „Arisierung“ war damit vollzogen. H

Hanne-Darboven-Ring Als Tochter von Kirsten und Caesar Darboven Eißendorf, seit 2011, benannt nach Hanne Darbo- 1941 in München geboren, wuchs die mittlere ven (29.4.1941 München–9.3.2009 Hamburg), von drei Töchtern in einer Harburger Kauf- international renommierte Harburger Konzept- mannsfamilie auf. Der Vater war Inhaber der künstlerin, die sich in ihren Werken insbesondere Kaffeefirma Johann Wilhelm Darboven. (Diese mit dem Sichtbarmachen von Zeiträumen be- Firma bestand bis 1972 und ist nicht zu ver-

schäftigte wechseln mit der Kaffeefirma von Johann Joa- 140/ S. 1999, Hamburg Ausstellungskatalog, Kunsthalle, Das Hamburger Darboven, Hanne Frühwerk, Vogelsang, Constance und Pippus Elke mit Giesen Sebastian Westheider, Ortrud Aus: Abb.: Lewandowski V. Bernd Foto:

66) Benutzte Literatur: Staatsarchiv Harburg, VII B 101; StaH, 332-8 Mel- Hüttenmeister: Der jüdische Friedhof Hamburg (StaH), 430-64 Amtsgericht dewesen, K 4439; StaH, Wilhelmsbur- Harburg. Hamburg 2004, S. 213f.; Harburg, VII B 1001; StaH 430-5 Ma- ger Adressbücher; Beate Meyer: Die Linde Apel (Hrsg.): In den Tod ge- gistrat der Stadt Harburg Wilhelms- Verfolgung und Ermordung der Ham- schickt. Die Deportation von Juden, burg, 1810-08; StaH, 351-11, AfW, burger Juden 1933–1945. Hamburg Roma und Sinti aus Hamburg 1940– 35142; StaH, 430-64 Amtsgericht 2006, S. 175; Eberhard Kändler, Gil 1945. Ausstellungskatalog. Hamburg Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 193

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chim Darboven, gegründet 1886 in Hamburg. „ich schreibe, aber ich lese nicht“, so die Künst- Dessen erhalten gebliebene kostbare historische lerin über das Ritual ihres Schreibwerks, wel- Einrichtung der Dampf-Kaffeerösterei mit Laden- ches schließlich zehntausende Seiten umfasste, geschäft von 1895 in der Lüneburger Straße 7 gefüllt „mit nimmer enden wollenden Schriftzei- befindet sich im Bestand des Helms-Museums len (...), Kästchen und Linien, Abschreiben aus Harburg.1) dem Brockhaus, aus ,Spiegel‘-Magazinen, Ge- Schon als Kind bekam sie in ihrem Eltern- dichten und Schriften von Lao Tse über Martin haus Klavier- und Zeichenunterricht. Zwischen Luther zu Charles Baudelaire und Friedrich Höl- 1962 und 1965 studierte sie an der Hamburger derlin.“2) Sie bezog Monumentalwerke, etwa Hochschule für Bildende Künste bei Willem Ho mers „Odyssee“ oder Heinrich Heines Frag- Grimm und Almir Mavi g - ment „Atta Troll“, in ihre kulturgeschichtlichen nier. Von 1966 bis 1968 Diagramme ein. In ihnen dokumentierte sich vor lebte und arbeitete sie in allem eines: der unbewusste Zeitfluss – auf dem New York. Dort begeg- Hintergrund historischer und damals aktueller nete sie Künstlern der Mi- geistesgeschichtlicher Parameter. Frühe akusti- nimal Art wie Sol LeWitt sche und optische Eindrücke fanden Eingang in oder Carl André. In dieser ihr Œvre: Verlesen von Kaffeebohnen, Bildungs- Zeit entstanden die ersten bürgerliches, Buchhalterisches. In der Arbeit seriellen Zeichnungen auf „Fried rich II, Harburg 1986“ verwendete sie vier- Millimeterpapier. Im Rah- hundert Mal das Motiv einer Postkarte von 1910, Hanne Darboven 1969 men einer extremen Kon- auf der in Harburgs Zentrum der Kaffeeladen der zept- und Minimal-Kunst Darbovens zu sehen ist. Auf 19 Blättern schrieb entwickel te Hanne Darboven Sys teme einfacher sie die Biographie Friedrichs II. von Preußen Zahlenabläufe und Zahlenkolonnen und Kästchen (1712–1786) ab. Vier Blätter ermöglichen die aus scheinbar beliebigen Kalenderda ten in streng Überleitung zum Heute, sieben nimmt sie für die vorbestimmten Strukturen (zum Beispiel 3-5-7-5- Jahresrechnungen und 365 für Tagesrechnun- 3) mit komplexen Variationsfolgen. Ihre erste Ein- gen. Das von ihr entwickelte „Konzept zur Fort- zelausstellung hatte sie 1967 in Düsseldorf bei schreibung der Zeit“ besteht aus dem Weiter- dem Maler und Galeris ten Konrad Fischer (vertrat rechnen von Quersummen, so dass am Ende die wegweisende Kunstrichtung des „Kapitalisti- jeder Tag seine eigene Zahl, seine eigene Einma- schen Realismus“). 1973 stellte Hanne Darboven ligkeit erhält. ihre Arbeiten bei Leo Castelli in New York aus. Als begabte Pianistin setzte sie ab 1980 ihre Nach dem Tod ihres Vaters kehrte sie 1969 Zahlensysteme in Notationen um, die sie für In- nach Hamburg zurück und lebte in ihrem Atelier strumente arrangieren ließ. 1994 erhielt die Künst- in Rönneburg, hielt aber weiterhin Kontakt zu lerin in Hamburg u. a. den angesehenen Licht- der New Yorker Szene. Ihre Werke wurden dort, wark-Preis. Zuletzt auf der documenta 11-2002 aber auch in anderen Städten der USA sowie in (sie nahm mehrmals an der documenta in Kassel Europa regelmäßig ausgestellt. teil) auch in Filmdokumentationen zu erleben, In Rönneburg begann nun ihre Schreibzeit: versetzte sie dort drei Stockwerke des Frideri - „Ich schreibe, aber ich beschreibe nichts“ oder cianums mit mehr als 4000 einzeln gerahmten

2008, S 115. 1) Christian Bittcher, hanonline.de. 2) Mirja Rosenau in art-magazin 13.3.2009. Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 194

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Photokopien von Zahlenfolgen ihres Opus „Kon - Alfred Beller (geb. 20.12.1907 in Berlin-Steglitz). trabassolo, opus 45 (1998–2000) in optische Er war Rechtsassesor und Scharführer der SA. Schwingungen. Zwei Jahre zuvor hatte sie eine Die Ehe wurde bereits am 8. November 1933 wie- nach ihr benannte Stiftung begründet, die „das der geschieden. umfangreiche Schaffen ihrer Stifterin als inter- Ihre Ausbildung ab- national anerkannter Künstlerin bewahren und solvierte Hanne Mertens der Öffentlichkeit zugänglich machen“ sowie von 1928 bis Oktober 1930 junge Künstlerinnen und Künstler unterstützen an der staatlichen Schau- soll. Vorsitzender ist ihr Cousin Albert Darbo ven. spielschule in Berlin. Von Die resolute, stets politisch wachsa me Künst - 1930 bis 1932 war sie am lerin verstarb 2009 mit 67 Jahren an Lymphdrü- Berliner Staatstheater en- senkrebs. Ihr Credo ist zugleich Schlüssel für ihr gagiert und spielte kleine Hanne Mertens Lebenswerk: „Eins und eins ist eins zwei. Das Rollen. Im August 1932 ist meine Urthese für alle Gesetze, die bei mir ging sie nach Düsseldorf und war dort bis 1934 mathematisch durchlaufen. Ich schreibe mathe- am Schauspielhaus und Städtischen Theater be- matische Literatur und mathematische Musik.“3) schäftigt. Ab 1934 war sie in Berlin am Theater Text: Cornelia Göksu am Nollendorfplatz und der Volksbühne enga- giert. 1938 spielte sie erstmals eine kleine Ne - benrolle im Film ‚Unsere kleine Frau‘, 1938/ Hanne-Mertens-Weg 1939 dann ‚Ich verweigere die Aussage‘ mit Olga Niendorf, seit 1982, benannt nach Hanne Mer- Tschechowa. 1941 drehte sie mit Liesel Karlstadt tens (13.4.1909 Magdeburg–22.4.1945 KZ Neu- ‚Alarmstufe V‘. engamme), Schauspielerin 1938 ging Hanne Mertens an die Münch- Stolpersteine vor dem Wohnhaus Sierichstraße 66 ner Kammerspiele unter dem Intendanten Otto und vor der Wirkungsstätte Thalia-Theater, Falckenberg. Ihre erste Rolle dort hatte sie in Alstertor 1. Mahnmal: Tisch mit 12 Stühlen (siehe Friedrich Schillers ‚Kabale und Liebe‘. Sie war dazu Ü Georg-Appel-Straße, in Bd. 3 online**). beim Münchner Publikum sehr beliebt, bekannt als Lady Milford, Königin Elisabeth und Zarin „Die Schauspielerin Hanne Mertens war das zwei- Katha rina. te von vier Kindern einer evangelischen Magde- Bereits am 9. März 1940 kam es zu einer burger Rechtsanwaltsfamilie. Dort wurde sie als Auseinandersetzung mit Otto Falckenberg. Eine Hanna Hermine am 13.4.1909, ihr Bruder Knut Premiere, ‚Das Einhorn von den Sternen‘ von am 5.11.1912 geboren. Ihre Mutter Johanna war William Butler Yeats, endete in einer Massen- gebürtige Hamburgerin. Der Vater Hermann schlägerei. Hanne Mertens war nicht besetzt Mertens wurde 1914 als Hauptmann im Ersten worden, saß aber im Publikum und äußerte sich Weltkrieg getötet. Die Mutter zog mit den Kin- gegen das Stück. Dies hatte eine Abmahnung dern 1915 nach Berlin. Hanne Mertens besuchte von Falckenberg zur Folge, und die Gestapo leg- dort bis 1928 das Lyzeum. te eine Karteikarte für sie an. Die Gestapo beließ Am 15. Oktober 1932 heiratete Hanne Mer- es jedoch nach dem Eingreifen von Martin Bor-

tens in Düsseldorf-Oberkassel Heinz Gustav Adolf mann, dem damaligen Sekretär der NSDAP- Neuengamme KZ-Gedenkstätte der Archiv Abb.:

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3) wikipedia, NetPalnet Harburg, Stiftungs-Website. Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 195

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Kanzlei, bei dem Eintrag ‚Störung des Betriebs- Bestehen das Ensemble aufstockte, nahm sie friedens‘. Ab diesem Zeitpunkt gab es ständige sein Angebot zum Wechsel nach Hamburg gerne Streitereien zwischen der Intendanz und Hanne an. Sie sah darin auch die Chance, weiteren Kon- Mertens. Im Juni 1942 bot Falckenberg ihr die flikten mit der Gestapo in München zu entge- Vertragsauflösung an. hen. Die Spielzeit 1943/44 eröffnete das Thalia Unter ihren Kollegen galt Hanne Mertens als Theater im September mit einer Tournee. Da die Nazispitzel, unter anderem wegen des Kontakts Staatsoper bei Luftangriffen zerstört worden zu NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann, den sie war, bezog diese die Räume des Thalia Theaters. 1939 kennengelernt hatte. Andererseits war sie Das Sprechtheater wich in das ehemalige jüdi- mehrfach von der Gestapo vorgeladen und ver- sche Kulturhaus in der Hartungstraße aus, wel- warnt worden, da sie sich offen gegen den Krieg ches Robert Meyn ‚Kammerspiele des Thalia und den Nationalsozialismus ausgesprochen hatte Theaters‘ nannte. Ihren ersten Auftritt hatte und immer wieder über Hitler und Goebbels spot - Hanne Mertens am 6. Oktober 1943 in der Ko- tete. Laut Falckenberg äußerte sie sich ‚heute ge- mödie ‚Das unterschlug Homer‘. Es folgte die gen die Nazis, morgen gegen die Alliierten‘ und Mutter Wolffen in der Komödie ‚Der Biberpelz‘ stand wohl seit 1937 unter Gestapo-Beobachtung, von Gerhart Hauptmann und die Hauptrolle in auch wegen häufiger Reisen nach Prag zu einem Henrik Ibsens ‚Hedda Gabler‘. Bekannten, einem tschechischen Offizier. Hanne Mertens galt in Hamburg als große Hanne Mertens wurde immer als sehr begabt Neuentdeckung und spielte sich in die Herzen und ehrgeizig beschrieben, aber auch als Unruhe- des Publikums. Sie erwarb sich einen Ruf als stifterin und durch ihr Temperament in politi- star ke Persönlichkeit, die auch langweilige Rol- schen Äußerungen unberechenbar. Einige En- len in unverwechselbare Figuren verwandelte. semble-Mitglieder hielten sie auch für intrigant. Intendant Meyn bezeichnete sie als hochgradig Im Januar 1943 war Hanne Mertens über nervös, gereizt, unbeherrscht in ihren Äußerun- die Besetzung einer Hauptrolle, der Orsina, in Les- gen und bat sie öfters, sich zusammenzunehmen. sings ‚Emilia Galotti‘ erbost, da sie die von Fal- Auch in Hamburg sagte sie ihre Meinung, wider - ckenberg vorgesehene Schauspielerin für nicht setzte sich gesellschaftlichen Zwängen und schien qualifiziert genug hielt. Sie versuchte ihre Kolle- sich dabei aufgrund ihrer Prominenz und ver- gen davon zu überzeugen, die bevorstehende meintlich guten Beziehungen sicher zu fühlen. Premiere zu sprengen und einen Theaterskandal Ab August 1943 bis Ende 1944 gab sie zu inszenieren. Intendant Otto Falckenberg er- Schau spielunterricht in ihrer Wohnung. Zu ihren fuhr davon. Es folgten gegenseitige schwere An- Schüle rinnen zählten: Angelica Krogmann (Toch - schuldigungen politischer Natur. Hanne Mertens ter des damaligen Hamburger NS-Bürgermeisters, wandte sich an den Oberbürgermeister Mün- spä ter Schriftstellerin), Susanne von Almassy chens. Auch die Gestapo und der Leiter der Lan- (später Filmschauspielerin) und Margund Som- destheaterkammer wurden einbezogen. Am 17. mer (später u. a. bei Gründgens am Schauspiel- Februar 1943 bat Hanne Mertens um fristlose haus). Vertragslösung. Am 1. September 1944 wurden die Theater Als im Frühjahr 1943 Robert Meyn, der In- und Schauspielschulen auf Grund eines Erlas- tendant des Thalia Theaters, zum 100-jährigen ses von Goebbels geschlossen, Schauspieler und Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 196

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Techniker in der Rüstungsindustrie oder mit fangene, bezeugte später: Hanne Mertens habe Heim arbeit beschäftigt. Hanne Mertens sollte angegriffen ausgesehen, ein Bein nachgezogen Putzfrauenarbeiten im Theater verrichten. Sie und Dunkelarrest im Käfig erhalten. Der Grund teil te Robert Meyn mit, dass sie dazu gesund- war, dass Hanne Mertens sich Soldatenstrümpfe heitlich nicht in der Lage sei. Bereits seit der übergezogen hatte, die sie stopfen sollte. Für Ger- Lyzeumszeit war sie lungenkrank. Am 22. Sep- trud Meyer rezitierte sie Gedichte.“4) tember 1944 unterzog sie sich im Krankenhaus Über die Begegnung mit Hanne Mertens Eppendorf einer überfälligen Unterleibsopera- schrieb Gertrud Meyer: „Es ist ein eisiger Tag, tion und wurde am 31. Oktober in den Erholungs - dieser 5. Februar 1945. Soeben trifft im Gestapo- urlaub entlassen. Im Dezember 1944 wurde das Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel der Transport Ausweich-Theater in der Hartungstraße in ein mit den heute verhafteten Frauen ein. Man hört Kino umgewandelt, die UFA-Kammerspiele. Das das Schließen der Außentür, Tritte von vielen Thalia Theater nahm seine Arbeit im Januar Füßen. Mit grellen Kommandostimmen jagen 1945 in seinem eigenen Haus mit dem Stück die SS-Aufseherinnen die Angekommenen die ‚Der Biberpelz‘ wieder auf. Kellertreppe hinunter. Erschreckt und beklom- Als Hanne Mertens eines Abends im Januar men drängen sich die Ankömmlinge in dem fast 1945 noch spät bei einer Nachbarin vorbeischau - dunklen Keller zusammen. Während eine SS- te, hatte diese Besuch. Es entwickelte sich Aufseherin mit der Taschenlampe leuchtet, hakt schnell eine gesellige Runde und Hanne Mertens die andere auf der Transportliste die aufgerufe- spottete über Hitler und andere Parteigrößen nen Namen ab. Die andere Aufseherin stochert und sang ein Lied: ‚Es geht alles vorüber, es geht mit einer Stricknadel in den Haaren und sucht alles vorbei ... erst Adolf Hitler und dann die nach Läusen. Danach befiehlt sie den Frauen, Partei‘. Doch wusste sie nicht, dass zwei der Gäs- die Schuhe auszuziehen und diese ausgerichtet te von der Gestapo und nicht, wie behauptet, nebeneinander an die Wand zu stellen. Nun Beamte des Wirtschaftsamtes waren. Der Schla- müssen sie sich ausziehen. Wäsche, Kleider, ger ‚Es geht alles vorüber‘ war in dieser Zeit sehr Mäntel zu einem Bündel zusammenrollen. Dann beliebt. Er wurde nicht mehr im Rundfunk ge- schließt die Aufseherin den Duschraum auf und spielt, da folgende Version kursierte: ‚Es geht schaltet das Licht ein. Zwei Frauen haben blut- alles kopfüber, es geht alles entzwei; erst fliegt unterlaufene Striemen und Flecke. Jetzt sehe ich Adolf Hitler, dann seine Partei.‘ auch die Frau, die mir auf dem Flur schon auf- Hanne Mertens wurde am 6. Februar 1945 gefallen ist und auf den Namen Mertens antwor- auf der Straße verhaftet und mit der Hochbahn tet, gut gewachsen, dunkelhaarig, ein herbschö- in das Gestapogefängnis Fuhlsbüttel gebracht. nes Gesicht. Ihre Bewegungen sind fast hölzern, Der Grund: ‚Wehrkraftzersetzung‘. entweder ist sie krank oder sie wurde bei der Es folgten Verhöre mit Beschimpfungen, Gestapo mißhandelt. Sie streckt die Arme nach Misshandlungen und der Drohung, die ‚Akte oben, dreht und wendet sich und läßt das war- aus München‘ liege vor, sie käme unter keinen me Wasser mit sichtbarem Genuß an sich her- Umständen davon. Sie wurde ohne Schutzhaft- unterrieseln (...). Nach mehrtägigen Verhören im befehl festgehalten. Gertrud Meyer [siehe Ü Ger- Gestapohaus erscheint Frau Mertens heute zum trud-Meyer-Straße, in diesem Band], eine Mitge- erstenmal in der Freistunde. Wir wissen inzwi-

4) Text: Maike Bruchmann; von ihr 56–57; Ursel Hochmuth/Gertrud Das Kulturlexikon zum Dritten Reich, benutzte Literatur: Herbert Diercks: Meyer: Streiflichter aus dem Hambur- Wer war was vor und nach 1945, Gedenkbuch „Kola-Fu“, Für die Opfer ger Widerstand 1933–1945, Berichte Frankfurt a. M. 2007, S. 406–407; An- aus dem Konzentrationslager, Gesta- und Dokumen te, Frankfurt am Main dreas Klaus: Gewalt und Widerstand pogefängnis und KZ-Außenlager 1980, S. 462; www.filmportal.de (ein- in Hamburg-Nord während der NS- Fuhls büttel, Hamburg 1987, S. 46, gesehen am 19.8.2007); Ernst Klee: Zeit, Hamburg 1986, S. 35; VVN-BdA Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 197

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schen, dass sie die Schauspielerin Hanne Mer- langen Balken unter der Decke erhängt. Eine der tens vom Thalia Theater ist. Für uns Politische Frauen hatte sich unter einer Bank versteckt, ist sie die Kameradin Hanne, um die wir uns Sor- wurde entdeckt, brutal an den Haaren hervorge- gen machen. zogen und von einem SS-Mann erschlagen oder Hanne sieht angegriffen aus und zieht ein erschossen. Dabei soll es sich um Hanne Mer- Bein nach. Die SS-Weiber treiben Hanne mit tens gehandelt haben. Schlägen und Fußtritten vor sich her. Die Haupt- Die Ermordung der 71 Menschen löste spä- wachtmeisterin schließt die Käfigzelle auf, stößt ter mehrere Prozesse aus. Auf welche Weise aber Hanne hinein. Ein anderes SS-Weib geht um den das gesungene Lied bei der Gestapo gemeldet Käfig herum zum Fenster und zieht das schwar - und ob der Vorfall absichtlich provoziert worden ze Rollo herunter – also Dunkelarrest! Der Rie- war, konnten die Gerichte nie aufklären.“ gel knallt vor, die Zellentür wird verschlossen. Wesentlicher Text: Maike Bruchmann aus www.stol- Wir alten Häftlingshasen wissen, was dieser persteine-hamburg.de Arrest bedeutet: als Nahrung täglich zwei Schnit - Siehe auch Ü Annemarie-Ladewig-Kehre, Erika- Etter-Kehre, Erna-Behling-Kehre, Gertrud-Me - ten trockenes Brot und einen Becher Wasser, yer-Straße, Helene-Heyckendorf-Kehre, Marga- jeden vierten Tag eine warme Mahlzeit, im Käfig rete-Mrosek-Bogen, Margit-Zinke-Straße, in das Klosett und eine nackte Pritsche ohne De- diesem Band. cke. Die Haftdauer ist verschieden, mindestens aber eine Woche.“5) Heidi-Kabel-Platz „Für das Gestapogefängnis Fuhlsbüttel exis- St. Georg, seit 2011, benannt nach Heidi Kabel tierte seit 1944 für den Fall der Annäherung alli - (27.8.1914 Hamburg–15.6.2010 Hamburg), ierter Streitkräfte ein Räumungsplan, der sich bundesweit beliebte Volksschauspielerin am 1945 als undurchführbar erwies. Die Gefange- Ohnsorg-Theater von 1932 bis 1996, erlangte nen wurden in drei Gruppen geteilt. Die erste Popularität durch die ab 1954 gesendeten Fern- Gruppe wurde entlassen, die zweite musste nach sehübertragungen, bereits zu Lebzeiten eine Kiel-Hassee marschieren. Die dritte Gruppe um- hochverehrte „Hamburger Legende“ fasste 71 Menschen, die auf der sogenannten Liquidationsliste zur Ermordung vorgemerkt wa ren. Sie enthielt vorwiegend politische Gefan - Heidi Bertha Auguste Kabel kam aus „gutem Hau - ge ne, welche am 20. April 1945 in das Konzen- se“: Ihre Wiege stand in den Großen Bleichen 30, trationslager Neuengamme überführt wurden. direkt gegenüber dem ehemaligen Gebäude des Unter den dreizehn Frauen waren außer Hanne Ohnsorg-Theaters. Ihr Vater war der Druckerei- Mertens auch Annemarie Ladewig [siehe Ü Anne- besitzer Ernst Kabel (siehe Ü Ernst-Kabel-Stieg, in marie-Ladewig-Kehre, in diesem Band], Elisabeth Bd. 3 online**), zeitweilig Vorsitzender des Ver- Rosenkranz und Erika Etter [siehe Ü Erika-Etter- eins geborener Hamburger. Der von ihm begrün- Kehre, in diesem Band]. Da es keinen Gerichts- dete Betrieb Kabel Druck sowie sein Kabel-Verlag beschluss gab, dachten die Frauen, dass sie ent- existieren bis heute. Heidi Kabels Mutter war lassen würden. Doch sie wurden in der Nacht Hausfrau. vom 21. auf den 22. April 1945 ermordet. Sie wur- Heidi Kabel kam eher durch Zufall zum den im Gang des Häftlingsbunkers an einem Theaterspielen. 1932 begleitete sie eine Freundin

Kreisvereinigung Hamburg-Nord, 1997, S. 58–60; Schüler des Gymna- Akte „Hanne Mertens“, darin u. a. Willi-Bredel-Gesellschaft-Geschichts- siums Ohmoor informieren, Geden- Gerichtsakten 14 Js. 191/48 und Az. werkstatt e. V. (Hrsg.), Gestapo-Ge- ken heißt: Nicht schweigen, 11 neue (50) 27/49 14 Js. 259/47; ... fängnis Fuhlsbüttel, Erinnerungen – Straßen in Niendorf zu Ehren von Dokumente – Totenliste, Initiativen Frauen und Männern des Widerstan- ** Band 3 online unter: www.ham- für eine Gedenkstätte, Hamburg des, Hamburg 1984, S. 37–39; GET, burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 198

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zum Vorsprechen in die „Niederdeutsche Bühne Familienvater. Er half mir mit im Haushalt, ohne Hamburg“ (gegründet 1902 im Restaurant Kers- daß ich ihn dazu auffordern musste, und es ten am Gänsemarkt als „Dramatische Gesellschaft machte ihm nichts mehr aus, wenn ich nach der Hamburg“ durch den Philologen, Bibliothekar Theatervorstellung noch tingeln musste, Jan und Schauspieler Dr. Richard Ohnsorg) (siehe Ü [der Sohn] von meinen Eltern abzuholen und Ohnsorgweg, in Bd. 3 online**). Dabei wurde sie ihn im Kinderwagen in die Steinstraße [die dor- von Ohnsorg entdeckt und erhielt 1933 ihr ers- tige Wohnung] zu schieben, ihn sauber zu ma- tes Engagement in dem Stück „Ralves Carstens“. chen und ins Bett zu bringen“.7) Heidi Kabel nahm Schauspielunterricht. Dass Dann kam die Zeit des Nationalsozialismus. sie ursprünglich Konzertpianistin werden wollte, „(…) auch die beiden Jungvermählten spürten geriet bald in Vergessenheit. 1937 heiratete sie die widrigen Zeiten. Immer offensichtlicher wur - ihren Kollegen, den Schauspieler und Regisseur de das grausame Regiment der Nationalsozialis- Hans Mahler (siehe Ü Hans-Mahler-Straße, in Bd. 3 ten. Juden wurden deportiert. Menschen aus dem online**). Der Ehe entstammten drei Kinder (ge- Bekanntenkreis waren urplötzlich wie vom Erd- boren 1938, 1942 und 1944); Tochter Heidi Mah- boden verschwunden. Doch Heidi Kabel schloss ler wurde ebenfalls Volksschauspielerin und trat die Augen vor dem politischen Horror, wie so mit ihrer Mutter häufig gemeinsam auf. viele andere auch. Im privaten wie im Berufsle- Die erste Zeit ihrer Ehe war für Heidi Kabel ben bewies die junge Frau Rückgrat. In überge- sehr anstrengend: Nun erging es ihr so wie den ordneten Dingen nicht unbedingt. Eine Revolu- meisten berufstätigen Ehefrauen: Sie wurde dop- tionärin war das spätere SPD-Mitglied nie. Es pelt belastet, musste einen eigenen Haushalt und passt ins Bild, dass Hans Mahler und Heidi Kabel einen Mann versorgen und darüber hinaus noch [1936] gemeinsam in die NSDAP [Heidi Kabel ihre Rollen lernen. Das „Los“, dass ihre haus- war kein Mitglied der NSDAP; sie war Mitglied fraulichen Bemühungen nicht genügend gewür- der NS-Frauenschaft, die Verf.] eintraten. Viel- digt und als Zeitvertreib beurteilt wurden, teilte leicht nicht unbedingt aus ideologischer Über- sie mit den meisten Hausfrauen. Dazu Heidi Ka- zeugung, der Karriere wegen schon. Für die an- bel in ihren Erinnerungen über ihren Ehemann sonsten couragierte Künstlerin spricht wiederum, Hans Mahler: „Glaubte er wirklich, ich koche dass sie die Verantwortung nicht anderen zu- und schrubbe aus Zeitvertreib? Merkte er nicht, schob. ‚Ich habe Hänschen dazu gedrängt‘, er- wie schwer es mir fiel, unseren winzigen Haus- klärte sie“.8) Heidi Kabel schreibt dazu in ihren halt am Laufen zu halten? Heute weiß ich, daß Erinnerungen, sie habe ihren Mann nur deshalb Mahler keine Ausnahme war. Noch heute wis- zur Mitgliedschaft in der NSDAP gedrängt, weil sen die meisten Männer nicht, welche Anstren- sie ihn endlich habe heiraten wollen. Dazu be- gungen es kostet, Hausarbeit zu verrichten.“6) nötigte das Paar aber finanzielle Mittel, z. B. um Erst nach dem Tod seiner Mutter, der ihn Möbel kaufen und eine Wohnung mieten zu kön - sehr getroffen hatte, änderte sich seine Einstel- nen. Deshalb erschien ihr die 1936 ausgeschrie- lung zu häuslichen Verrichtungen. Mahler „ver- bene Stelle des Intendanten am Lüneburger The- grub sich noch mehr in seine Bücher, in seine ater als Hoffnungsschimmer und sie drängte Rollen und beschäftigte sich immer mehr mit ihren Mann, sich zu bewerben. Voraussetzung seinem Sohn. Plötzlich wurde er ein besorgter für die Stelle war allerdings die Mitgliedschaft in

** Band 3 online unter: www.ham- Schaufenster der Diktatur. Theater im Teil 2, L–Z, München 1999, S. 661; burg.de/maennerstrassennamen Machtbereich Hitlers, Stuttgart 1995, Gertrud Meyer: Nacht über Hamburg, S. 253; Friedjof Trapp u. a. (Hrsg.): Berichte und Dokumente 1933–1945, ... Ute Kiehn: Theater im„Dritten Handbuch des deutschsprachigen Frankfurt/Main 1971, S. 103–109, Reich“: Volksbühne Berlin, Berlin Exiltheaters 1933–1945, Biographi- 113–114, 131–132; Franklin Kopitzsch/ 2001, S. 175, 245; Hans Daiber: sches Lexikon der Theaterkünstler, Dirk Brietzke (Hrsg.): Hamburgische Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 199

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der NSDAP. Mahler war damals aber kein NSDAP- nisten Beiswanger, siehe bei Ü Horst-Mahler-Straße Mitglied und wollte dies auch nicht sein. Doch und Ohnsorg-Weg, in Bd. 3 online**] zu mir: ‚Das Heidi Kabel empfand solch eine Mitgliedschaft glaubst du doch wohl nicht (…)?‘ Ich wußte nur als Formsache: „Es war alles eine Formsache. nun überhaupt nicht mehr, was ich noch glauben Es wurden nun mal eben Parteimitglieder bei sollte. Für mich war eine Regierung immer das der Vergabe von Anstellungen bevorzugt. (…) Symbol für Gerechtigkeit und Ordnung gewesen, ich kam nur immer zu demselben Schluß, Mah- und ich konnte mir nicht vorstellen, daß derarti- ler musste der NSDAP beitreten, um Intendant ge gewaltsame Zerstörungen mit staatlicher Dul- in Lüneburg zu werden. Nur wenn er den Pos- dung vor sich gegangen waren. Sicher war es ten bekäme, wäre unsere gemeinsame Zukunft wieder nur die SA gewesen, diese Truppe junger gesichert. (…) Raufbolde, die immer übers Ziel hinausschoß Hans Mahler trat 1936 der NSDAP bei. Um (…). Zu Hause (…) sprach ich mit Mahler dar- ihm meine Verbundenheit zu zeigen, trat ich in über (…). Zum erstenmal hörte ich nun, was ich die NS-Frauenschaft ein. Für mich war dieser nicht in der Zeitung lesen konnte: Daß es Lager Beitritt zu einer NS-Organisation nichts weiter, gab, in die man Andersdenkende einsperrte, daß als wenn ich irgendeinem Verein beigetreten es eine Presse-Zensur gab (…), und hätte mir wäre. (…).“9) nicht all’ das mein Mann erzählt, ich hätte es Doch Mahler bekam die Stelle nicht, denn nicht geglaubt. In mir sperrte sich immer noch andere Bewerber, die schon seit Längerem in etwas. (…) Millionen in unserem Land konnten der NSDAP waren, wurden bevorzugt. „Damals sich doch nicht so sehr irren. (…)“11) keimte in mir ein Gefühl, mich rechtfertigen zu Der im August 1938 geschlossene Nichtan- müssen. Nachträglich wollte ich Mahler und mir griffspakt zwischen Hitler und Stalin erschüt- beweisen, daß ich Recht hatte, ihn zu diesem terte Heidi Kabel: „(…) über Nacht wurden aus Schritt gedrängt zu haben. Ich ertappte mich unseren Erzfeinden, den bolschewistischen Un- dabei, daß ich immer öfter den politischen Teil termenschen, unsere Freunde. (…) Ich war er- in der Zeitung las, mir die vorfabrizierte Mei- schüttert. Wie konnte ein deutscher Staatsmann, nung zu eigen machte und schönredete. (…) der uns allen immer wieder als höchste Tugenden Mahler wich jedem Gespräch mit mir über Poli- Ehre, Glaube und Treue gepredigt hatte, über tik aus (…). “10) Nacht mit unseren Erzfeinden paktieren. (…) „Am Morgen des 10. November 1938 be- Abends nach der Vorstellung saß ich mit Mahler merkte ich auf dem Weg ins Theater Menschen- in unserem Wohnzimmer. Es fiel mir schwer, ansammlungen vor Geschäften, (…) auf denen zu mit ihm in ein Gespräch zu kommen (…). Dann lesen war ‚Jude‘ oder ‚kauft nicht beim Juden‘. platzte ich damit heraus, (…) ‚Hans, ich will (…) Im Theater erwischte ich eine Morgenzei- raus aus dem Verein!‘ Ich sagte wirklich Verein tung, und da war zu lesen, daß der deutsche Ge- und meinte die Partei. ‚Ich will mit den Leuten sandtschaftsrat in Paris von einem jungen Juden nichts mehr zu tun haben, deren Ziele sind nicht ermordet worden war und daraufhin im ganzen meine. Die belügen uns von morgens bis abends Deutschen Reich das Volk Synagogen und jüdi- (…). Ich will keinen Krieg, ich will in Ruhe und sches Eigentum angezündet und zerstört hätte. im Frieden leben (…). Ich möchte nicht immer Leise sagte Rudolf Beiswanger [zu dem Kommu- vor vollendete Tatsachen gestellt werden, und

Biografie Personenlexikon, Band 3, Fragebogen Reichsfachschaft Film, Erik Verg: Hamburg 1945 – 20 Tage Göttingen 2006, S. 250–251; Doku- Fragebogen Reichstheater kammer/ zwischen Tod und Leben, Hamburg mente aus dem Privatbesitz von Ger- Fachschaft Bühne, sowie H. H. Kräft, 1945, S. 10. not Sommer; Universität Hamburg, Die Haken am Kreuz, Gedanken zu 5) Gertrud Meyer: Begegnung mit der Zentrum für Theaterforschung, Ham- Hanne Mertens. Schauspielerin am Schauspielerin Hanne Mertens, in: burger Theater archiv: Heiratsurkun de, Thalia Theater 1943–1945, nach 1983; Gerda Zorn, Gertrud Meyer: Frauen Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 200

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ich möchte meine Meinung wenigstens sagen ten, was wir dachten, was wir fühlten, genauso, dürfen. Durch meinen Austritt möchte ich erklä- wie wir es von ihnen wußten. ren, daß ich mit vielem nicht einverstanden bin. Oder es nur zu wissen glaubten? Denn wie Das Recht habe ich doch?‘ Er sprach leise und sonst konnte sich die Mehrzahl von ihnen wei- langsamer als sonst (…): ‚Vielleicht hast du das gern, mit uns auf der Bühne zu stehen. Wir Recht, deinen Austritt zu erklären, aber was dann waren ja nicht die beiden einzigen Parteimitglie- kommen wird, hat mit dem Recht, das du zu der des Ensembles gewesen, und wie oft hatten haben glaubst, nicht mehr viel zu tun. Du wirst wir mit allen darüber gesprochen. Ich war ja vielleicht für einige Zeit verschwinden, verhört diejenige gewesen, die mit allen mir zur Verfü- werden, aber auf jeden Fall Arbeitsverbot be- gung stehenden Mitteln meinen Mann überredet kommen, man wird uns die Existenzgrundlage hat te, 1936 in die NSDAP einzutreten. Gegen nehmen (…). Man kann heute nicht mehr von seine Überzeugung. Mir zuliebe. (…) Jede Kol- diesem fahrenden Zug springen (…).‘“12) legin und jeder Kollege kannte meine damali- Den Verlust der Existenzgrundlage hätte gen, egoistischen Beweggründe und wie oft hat- Heidi Kabel nicht zu fürchten brauchen. Trat je- ten wir vor allen offen bekannt, daß wir die mand in der Zeit des Nationalsozialismus aus Rechnung ohne den Wirt gemacht hatten! So der NSDAP aus, kam es in der Regel zu Nach- kam ich darauf, daß noch andere Gründe eine fragen oder Schikanen durch die Partei, nicht Rolle gespielt haben mußten. Wem standen wir aber zum Verlust der bürgerlichen Existenz.13) im Weg? Wer wollte unsere Rollen? Wer witterte Nach dem Ende der NS-Herrschaft wurde für sich eine Chance, wenn wir ausgeschaltet Heidi Kabel mitgeteilt, ein Komitee habe beschlos- waren? Da fielen mir dann etliche ein, auch Par- sen, dass sie wegen ihrer Mitgliedschaft in der teimitglieder wie wir, Kollegen, die wir für NS-Frauenschaft und Hans Mahler wegen seiner Freunde gehalten hatten, die es vielleicht sogar Zugehörigkeit zur NSDAP nicht mehr auf der waren bis zu diesem Tag, als sie die Gelegenheit Ohnsorg-Bühne stehen dürften. Dazu Heidi Ka- nutzten, ihren Vorteil zu unseren Lasten wahr- bel in ihren Erinnerungen: „Wir wurden zu den zunehmen.“14) Proben eingeteilt, es war Mitte Juli 1945. Wir Im Hamburger Staatsarchiv befindet sich standen in den Startlöchern. eine Copy eines Schreibens vom Richard Ohn- Als wir dann eines Morgens pünktlich zu sorg-Theater an Herrn Stadtamtmann Cousin den Proben erschienen, trafen wir schon vor der Hamburg, Rathaus vom 6. September 1945. Aus Tür auf Dr. Ohnsorg, der wohl auf uns gewartet diesem Schreiben geht hervor, wer die Entschei- hatte. (…) ‚Kinners, es tut mir furchtbar leid, dung traf, dass Heidi Kabel und Hans Mahler aber ihr könnt nicht proben, die Kollegen haben Auftrittsverbot bekamen. sich geweigert, sie wollen nicht mehr mit euch In diesem Schreiben wird mitgeteilt, dass auf der Bühne stehen.‘ (…) am 25. August 1945 ein Treffen – gemeint ist das Als wir zu unseren Männern ins Wohnzim- Treffen des Ent nazifizierungs-Kommitees – statt- mer zurückkamen, hatte ich meine Sprache wie - fand unter dem Vorsitz von Captain Davies und dergefunden. Ausgerechnet die Kollegen! Mit dem Beisitz von Mr. Olden (John Olden war da- de nen ich fast dreizehn, mein Mann zwanzig mals der britische Theateroffizier, späterer Ehe- Jahre auf der Bühne gestanden hatte, die wuß- mann der Schauspielerin Inge Meysel). In Vertre-

gegen Hitler. Frankfurt a. M. 1974. Serie über Heid Kabel Teil 3: Famili- 11) Heidi Kabel, a. a. O., S. 161. 6) Heidi Kabel: Manchmal war es enmensch in guten und schlechten 12) Heidi Kabel, a. a. O., S. 174. nicht zum Lachen. Hamburg 1979, Zeiten, Hamburger Abendblatt vom 13) Siehe dazu Wolfgang Benz S. 145. 19.6.2010. (Hrsg.): Wie wurde man Parteige- 7) Heidi Kabel, a. a. O., S. 166. 9) Heidi Kabel, a. a. O., S. 119. nosse? Frankfurt a. M. 2009. 8) Jens Meyer-Odewald: Abendblatt 10) Heidi Kabel, a. a. O., S. 121. 14) Heidi Kabel, a. a. O., S. 202ff. Biographien von A bis Z / H 201

tung für die Deutsche Schauspieler Vereinigung Damit war der Weg für die beiden Schau- waren vertreten Frau Ida Ehre (siehe Ü Ida-Ehre- spieler, die im Entnazifizierungsverfahren als Platz, in diesem Band) und Herr Cecil Goeri cke. Mit läufer (Hans Mah ler) und als Entlastete (Hei - Die Schauspielerin Ida Ehre hatte in der ge sam - di Kabel) eingestuft worden waren, wieder frei ten Zeit des Nationalsozialismus wegen ihrer jü- für die Bühne. dischen Herkunft Auftrittsverbot gehabt und im 1949 wurde Hans Mah ler Intendant des Ohn - Sommer 1945 das Haus an der Har tungstra ße 9 sorg-Theaters. Von da an hatte er großen Ein- als neues Theater erhalten (Hamburger Kammer- fluss auf die Karriere Heidi Kabels. Über 66 spiele). Die Niederdeutsche Bühne war vertreten Jah re blieb sie auf der Büh ne. Mehr als 80 Fern- durch Herrn Beiswanger und Herrn Streblow. seh über tragun gen der vom Niederdeutschen Weiter heißt es in dem Schreiben: In der Ver- ins „Mis singsch“ („Hamburgisch“ mit plattdeut- sammlung wurden alle Fälle individuell behandelt schem Satzbau) adaptierten Theaterstücke aus und Captain Davies fällte folgende Entscheidung: dem Hamburger Ohnsorg-Theater machten sie Magda Bäumken-Bullerdiek, Heidi Mahler-Ka bel, überregional bekannt. Die Volksschauspielerin Otto Lüthje und Hans Mahler werden für 12 Mo- wurde zum Markenzeichen des guten, tapferen nate suspendiert, danach werde eine neue Dis- Nachkriegsdeutschlands – Trümmerfrau im Wirt- kussion stattfinden. Irmgard Deppisch-Harder schaftswunder. Populäre Bühnenstücke aus dem und Christina Hansen dürfen spielen.15) TV mit Kolleginnen wie Erna Raupach-Petersen, Nach der Suspendierung vom Ohnsorg-Thea - Christa Wehling, Gisela Wes sel, Anni Hartmann, ter tourte Heidi Kabel, um die Familie finanziell Her ma Koehn oder den Kollegen Werner Riepel, durchzubringen, über Land und sang Seemanns- Jo chen Schenk, Heini Kauf feld, Jürgen Pooch, lieder. Edgar Bessen, um nur einige zu nennen, sind et- Da ihnen, wie Heidi Kabel in ihren Lebens - wa: Tratsch im Treppenhaus – Mein Mann, der er in nerungen schreibt, die Auftrittssperre nicht fährt zur See – Verteufelte schriftlich mitgeteilt worden sei, erkundigte sich Zeiten – Das Hörrohr (al - das Ehepaar Kabel bei dem Besatzungsoffizier, le mit Henry Vahl) – Kein der die Rechte der Theaterkammer wahrnahm Auskommen mit dem Ein - und erfuhr – so erinnert sich Heidi Kabel –, dass kommen – Die Kartenle- es gar kein Auftrittsverbot gä be. Heidi Kabel gerin – Mensch sein muss dazu in ihren Erinnerungen: „Der Offizier (…) der Mensch – Wenn der lächelte freundlich und sagte: ‚Gehen sie sofort Hahn kräht – Der Bürger- in die großen Bleichen ins Theater. Sie können meisterstuhl – Amanda beide sofort wieder arbeiten. (…) Sie können Voss wird 106. Ihre Dra- mir glauben, es liegt nichts gegen sie vor.‘ ‚Ja, matik zwischen Klamauk, Heidi Kabel 1970 aber könnten sie mir [sagte Heidi Ka bel] nicht Schwank und Tiefgang vielleicht einen Brief, einen Zettel mitgeben, wo hat Heidi Kabel 1992 so charakterisiert: „Boule- dann …‘, ich kam nicht mehr weiter, denn er vard ist sehr schwierig. Die meisten verwechseln sagte: ‚Sie müssen wissen, ich kann kein Berufs- Heiterkeit mit Oberflächlichkeit“. Geprägt hat die verbot aufheben, das gar nicht bestanden markante Stimme Heidi Kabels auch zahllose 16)

Abb.: Theater Abb.: Ohnsorg hat.‘“ Hörspiele und den Schulfunk des N(W)DR seit

15) Staatsarchiv Hamburg: Be- 16) Heidi Kabel, a. a. O., S. 214f. standsnummer: 131-14 (Verbindungs- stelle zur Militärregierung), Signatur der Archiguteinheit: III 1 Band 1 29.6.–29.9.1945. (Hinweis zur Quelle: Dr. Brigitta Huhnke). Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 202

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den 1950-er Jahren. Ihre Bäuerin Emma Piepen- Auch als Sängerin wurde Heidi Kabel be- brink ist ebenso wie die Schulfunkreihe „Neues kannt. Sie nahm einige Schallplatten mit meist aus Waldhagen“ längst Radio-Kult. Hamburger Liedern auf. Die bekanntesten sind Ihre Karriere als Filmschauspielerin lief „Hammonia – Mein Hamburg, ich liebe dich“, über ein dreiviertel Jahrhundert. Auch dort ver- „In Hamburg sagt man Tschühüß“, „An de Eck körperte sie die „einfache Hausfrau“ mit Ehr- steiht’n Jung mit’n Tüdelband“, „Hamburg ist lichkeit, Naivität und einer gehörigen Portion ein schönes Städtchen“, „Tratschen, das tu ich Mutterwitz; eine „gute Seele, die mit hanseati- nich“, „Der Junge von St. Pauli“, „Kleine Möwe, schem Charme als liebenswerte, aber auch pfif- flieg nach Helgoland“ und „Ich bin die Oma aus fige Dame das Publikum vereinnahmte. Zu ihren dem Internet“, wobei Letzteres nur als Werbe- bekanntesten Filmen zählen der Heimatkrimi slogan bekannt wurde. ‚Wenn die Heide blüht‘ (1960), der hanseatische Heidi Kabel war ebenfalls für ihr soziales Witzklassiker ‚Klein Erna auf dem Jungfern- Engagement bekannt. Sie sammelte 1992 im stieg‘ und ‚Auf der Reeperbahn nachts um halb Hamburger Hafen Geld für die Aktion Sorgen- eins‘ (beide 1969) sowie die TV-Mehrteiler kind und wandte sich 1994 mit einer Petition an ‚Rummelplatzgeschichten‘ (1983/84) und ‚Tante den Hamburger Senat, um auf das Schicksal Tilly‘ von 1987“, in dem sie die Miss Marple von einer vor dem Krieg geflohenen und nun von Altona gibt.“ (Zitat nach WHO’s Who online). Abschiebung bedrohten jugoslawischen Familie Für ihre mehr als 100 Fernsehauftritte – in Serien aufmerksam zu machen. Sie unterstützte unter wie „Hafenpolizei“ bis „Großstadtrevier“ – wur - anderem Hamburger Obdachlosenprojekte, das de sie mit den renommiertesten Preisen der deut - Kinderheim von St. Pauli und den Verein der schen Medien bedacht, z. B. „Goldener Bild- Freunde des Tierparks Hagenbeck. Sie starb am schirm“ 1967 und 1972, „Bambi“ 1984 sowie 15. Juni 2010 im Alter von 95 Jahren. Die „Bot- 2004 für ihr Lebenswerk, „Goldene Kamera“ und schafterin des Herzens“ und „Göttin des trocke- 1985 sowie 1994 sogar zur „Ehrenkommissarin nen Humors“ (Nachruf Hauke Brost in Bild, der Hamburger Polizei“ ernannt. 25.6.2010) wurde auf dem Nienstedtener Fried- Am Silvesterabend 1998 nahm die mittler- hof in Hamburg neben ihrem Ehemann beige- weile 84-jährige Schauspielerin mit einer Auf- setzt. Auf dem Grabstein steht eingemeißelt: führung des Stückes „Mein ehrlicher Tag“ im To’n Leben hört de Dood. Hamburger Kongresszentrum CCH Abschied von Text: Rita Bake und Cornelia Göksu der Bühne. Als Schauspielerin und Persönlich- Siehe auch Ü Ernst-Kabel-Stieg, Hohenfelde, keit war sie längst Legende. 2003 verschlechterte seit 1957: Ernst Kabel (1879–1955), Vorsitzen- der des Vereins „Geborene Hamburger e. V.“, sich ihr Gesundheitszustand. Sie zog in eine Se- in Bd. 3 online**. niorenresidenz in Hamburg-Othmarschen. Ob- Siehe auch Ü Hans-Mahler-Straße, Steilshoop, wohl Heidi Kabel sich seit 2002 zunehmend aus seit 1977: Hans Mahler (1900–1970), Schau- der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, über- spieler, in Bd. 3 online**. nahm sie im Alter von 92 Jahren in Detlev Bucks Siehe auch Ü Ohnsorgweg, Groß Flottbek, seit Verfilmung „Hände weg von Mississippi“ eine 1950: Dr. Richard Ohnsorg (1876–1947), Grün- der der Niederdeutschen Bühne (heute: Ohn- klei ne Rolle an der Seite ihrer Tochter Heidi sorg-Theater), in Bd. 3 online**. Mahler.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 14:47 Seite 203

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Heilwigbrücke liche Bestätigung der Güter wurde eingeholt, Harvestehude, seit 1904, siehe Heilwigstraße. und der Erzbischof von Bremen gewährte allen, die beim Bau der Abtei halfen, einen Ablass. Siehe auch Ü Abteistraße, Cäcilienstraße, Ele- beken, Frauenthal, Heilwigstraße, Innocentia- Geistlich versorgt wurden die Nonnen durch straße, Jungfrauenthal, Nonnenstieg, in diesem ihren Propst und drei Kaplane, die von den Non- Band. nen entlohnt wurden. Siehe auch Ü Abteistraße, Cäcilienstraße, Ele- Heilwigstraße beken, Frauenthal, Heilwigbrücke, Innocentia- straße, Jungfrauenthal, Nonnenstieg, in diesem Harvestehude, seit 1870, benannt nach Heilwig Band. (1200–1248), Gemahlin des Grafen Adolf IV. von Siehe auch Ü Adolphsbrücke, Altstadt, seit Holstein und Schauenburg 1843, und Adolphsplatz, Altstadt, seit 1821: benannt nach Graf Adolph IV. von Holstein, Heilwig von der Lippe, auch Heilwig von Schaum- Gründer des am Adolphsplatz gelegenen Maria-Magdalenen-Klosters, in Bd. 3 online**. burg (1200–1248), Tochter von Hermann II. von der Lippe und Oda von Tecklenburg, war verhei - ratet mit Graf Adolf IV. (siehe Ü Adolphsplatz, in Heimburgstraße Bd. 3 online**) von Holstein und Schauenburg Osdorf, seit 1928, benannt nach Wilhelmine (vor 1205–1261). Das Paar hatte vier Kinder. Heimburg, Pseudonym für Bertha Behrens Heilwig gab 1246 den Ausschlag für die Er- (7.9.1848 Thale/Harz–9.9.1912 Kötzschenbroda), richtung des Klosters Harvestehude. Die „religiö - volkstümliche Erzählerin. Hauptmitarbeiterin se Orientierung [ihres Gatten Adolf IV.] mag [sie] der „Gartenlaube“ dazu bewogen haben, ein Kloster in der Nähe Hamburgs zu gründen, um ihr Leben als Nonne Bekannt wurde Bertha Behrens unter ihrem Pseu- weiterzuführen. Naheliegend ist aber auch, daß donym Wilhelmine Heimburg als wichtigste Mit- sie selbst Nähe zur ‚vita contemplativa‘ verspür- arbeiterin der Zeitschrift „Die Gartenlaube“. Sie te“, schreibt Silke Urbanksi in ihrem Buch über war aber nicht „nur“ Mitarbeiterin; sie war ei ne das Kloster Harvestehude.17) Das Zisterzienserin- eigenständige Schriftstellerin, die ihre Romane nenkloster befand sich in der Nähe des Dorfes vorab in der „Die Gartenlaube“ veröffentlichte. Herwardeshude bei dem heutigen Stadtteil St. Ende des 19. und Anfang Pauli. Die Gebäude scheinen ca. 1250 fertigge- des 20. Jahrhunderts galt stellt worden zu sein. Heilwig war bis 1258 Äb- Wilhelmine Heimburg als tissin des Klosters. eine der meist gelesenen „Vom Domkapitel wurde für die Neugrün- deutschen Schriftstellerin- dung zur Bedingung gemacht, daß sich Äbtissin nen. Doch nach ihrem Tod und Propst dem Erzbischof von Hamburg-Bre- wurde sie schnell verges- men und eben dem Hamburger Kapitel unter- sen. So wurde denn auch ordnen. (…) Unterstützung erhielt das Kloster bis erst 2001 ihr genaues Ge- zu seinem Umzug an die Alster hauptsächlich burtsjahr bekannt. Nicht von den Grafen von Holstein und Schauenburg 1850, wie allgemein ver- 18)

Abb.: bpk –Abb.: 70002978 – und dem Adel aus deren Umfeld.“ Eine päpst- öffentlicht wurde, so auch Wilhelmine Heimburg

** Band 3 online unter: www.ham- politische Entwicklung eines Nonnen- burg.de/maennerstrassennamen klosters bei Hamburg 1245–1530. Münster 1996, S. 16. 17) Silke Urbanski: Geschichte des 18) Silke Urbanski, a. a. O., S. 20. Klosters Harvestehude „In valle virgi- num“. Wirtschaftliche, soziale und Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 204

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im Hamburger Amtlichen Anzeiger, sondern Nach deren Tod vollendete sie deren begonne- 1848 ist ihr Geburtsjahr. nen Roman „Das Eulenhaus“. Bertha Behrens war die Tochter des prakti- Wilhelmine Heimburg, die Zeit ihres Lebens schen Arztes und Schriftstellers Hugo Behrens ledig blieb, konnte gut von ihrem Honorar leben und seiner Frau Karoline, geb. Daude, und wurde und dazu noch ihre Familie finanziell unterstüt- in Thale geboren. 1852 zog die Familie nach zen. 1889 erlitt sie jedoch ein Nervenleiden. Auf Quedlinburg. Dort machte der Vater als Militär- Anraten ihres Arztes zog sie aus dem Elternhaus arzt Karriere, und dort verbrachte Bertha ihre aus und gründete mit 41 Jahren in Dresden erst- Schulzeit. Schon damals interessierte sie sich in mals einen eigenen Haushalt, in dem sie allein erster Linie für Literatur und deutsche Sprache lebte. und wenig für andere Schulfächer. Nach der Sie verfasste gut 20 Werke, von denen viele Konfirmation bekam Bertha Privatunterricht. In in mehrere Sprachen übersetzt (englisch, franzö- dieser Zeit begann sie mit größter Faszination sisch, holländisch, italienisch, tschechisch, dä- die Bücher von Marlitt zu lesen. nisch, schwedisch) und bis in die 1980-er Jahre 1868 wurde der Vater nach Glogau und 1873 verlegt wurden. Obwohl sie in ihren Familienge- nach Salzwedel versetzt. Dort machte Bertha schichten – häufig Dramen – die gesellschaftli- Behrens ihre ersten literarischen Gehversuche, chen Veränderungen der Zeit realistisch beschrieb, unterstützt von ihrem Vater, der ebenfalls eine wurden ihre erstklassigen Unterhaltungsromane Vorliebe für die Literatur hegte. Als sie ihm zu oftmals als Trivialliteratur abgetan.19) Weihnachten 1875 eine von ihr verfasste Novel- le schenkte, bot er diese – ohne Absprache mit seiner Tochter – der Frauenzeitschrift „Viktoria“ Helene-Heyckendorf-Kehre in Berlin an. Die Novelle erschien im folgenden Bergedorf, seit 1987, benannt nach Helene Jahr. Danach folgte der erste Roman. Auch für Heyckendorf, geb. Bendixen (15.11.1893 Ham- diesen nahm der Vater die Vermarktung in die burg–21.4.1945 KZ Neuengamme), Widerstands- Hand und sandte ihn an die Redaktion der „Die kämpferin der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe. Gartenlaube“. Doch das Manuskript „Aus dem Schneiderin. Motivgruppe: Verdiente Frauen Leben meiner alten Freundin“ wurde abgelehnt, Stolperstein vor dem Wohnhaus Vereinsstraße 59.20) weil es für die Veröffentlichung in einem Wo- chenblatt als ungeeignet erschien. Es wurde Helene Bendixen wurde am 15. November 1893 schließlich dann doch als Buch herausgegeben in Hamburg geboren. Sie war seit dem 28. August und zu einem großen Erfolg. 1920 mit Max Heyckendorf (geb. 11.7.1896 in Nun öffentlich bekannt, erhielt Wilhelmine Hamburg) verheiratet, der von Beruf Maschinen - Heimburg einen festen Vertrag bei der Zeitschrift schlosser war. Das Ehepaar wohnte lange Jahre „Die Gartenlaube“ und fortan wurden dort ihre in der Susannenstraße 8. Später zog es in die Romane als Vorabdruck veröffentlicht. Vereinsstraße 59 II. Helene und Max Heycken - Nachdem die Familie nach der Pensionie- dorf waren Mitglieder der KPD. Sie war gelernte rung des Vaters 1881 nach Kötzschenbroda bei Schneiderin. In den Gedenkbüchern wird sie in Dresden gezogen war, bekam Wilhelmine Heim- der Liste der Opfer aus der Widerstandsorganisa- burg Kontakt zu der von ihr verehrten Marlitt. tion um Bästlein u. a. aufgeführt. Über ihre Ver-

19) Vgl: Urszula Bonter: Der Populär- samten Beitrag zu Heyckendorf: Zeitgeschichte Hamburg (FZH) 11/O 1 roman in der Nachfolge von E. Mar- Staatsarch iv Hamburg (StAH) 213-9 (Geert Otto): Gemeinschaftsbriefe der litt. Wilhelmine Heimburg, Valaska Staatsanwaltschaft Oberlandesge- Turnerschaft Armin von 1893 e.V.; FZH Gräfin Bethasy-Huc, Eufemia von Ad- richt OJs 1016/43g, Band 1–5; Infor- 12 A/Ahrens (Personalakten); FZH 12 lersfeld-Ballestrem. Würzburg 2005. mationen der KZ-Gedenkstätte Neu - K/Kaufmann (Personalakten), Bl 243, 20) Benutzte Literatur für den ge - en gamme; Forschungsstelle für 248 und 257; FZH 12 D/Drescher (Per- Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 205

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haftung liegen aber nur wenige Informationen Prozessvorbereitungen so weit vorangetrieben vor. Sie stand im Zusammenhang mit der Verhaf- waren, dass mit einer Prozesseröffnung in Berlin tung ihres Mannes, der am 18. Novem ber 1942 gerechnet werden konnte, den vorrückenden mit Angehörigen der Bästlein-Organisation fest- britischen Truppen zu entziehen und in das Ge- genommen wurde. fängnis Kiel-Hassee zu überstellen; andere war- Bevor es in Hamburg zur Prozesseröffnung en bereits früher in das Untersuchungsgefängnis ge gen die inhaftierten Mitglieder der Wider - Hamburg-Stadt eingeliefert worden und standen stands gruppe kam, wurde die Stadt vom 23. Juli zur Verfügung der Hamburger Staatsanwalt- bis 3. August 1943 von alliierten Luftstreitkräften schaft. In Fuhlsbüttel zurückgeblieben war eine in Tages- und Nachtangriffen bombardiert und Gruppe von 71 inhaftierten politischen Gefange- großflächig zerstört; auch das Untersuchungsge- nen (13 Frauen und 58 Männer). Über sie ver- fängnis wurde bei diesen Angriffen, in Mitleiden- fügte weiterhin die Gestapo. Da durch den Reichs- schaft gezogen. Die Generalstaatsanwaltschaft in führer der SS und Chef der deutschen Polizei, Hamburg entschied, am Hols tengla cis einsit- Himmler, angeordnet wor den war, für den Fall zende Un ter suchungsgefangene „auf Ur laub“ für der Annäherung alliierter Streitkräfte politische sechs bis acht Wochen freizulassen, damit sie Häftlinge zu liquidieren, ihren Angehörigen in der Not zur Hilfe kommen wurden die verbliebenen konnten. Unter den Freigelassenen befand sich 71 Gefangenen jetzt auf auch Max Heyckendorf. Er kam mit anderen Be- Befehl des Höheren SS- urlaubten überein, sich nach dem Hafturlaub und Polizeiführers Georg nicht wieder im Untersuchungsgefängnis zu- Henning Graf von Basse- rückzumelden, so dass die Gestapo nach Ablauf witz-Behr am 18. April – der Frist (Oktober 1943) die Suche nach ihm und nach anderen Informatio- anderen Untergetauchten aufnahm. Es gelang nen – am 20. April 1945 in ihm jedoch, sich nach seinem Untertauchen bis das Konzentrationslager Kriegsende der Verhaftung durch die Gestapo zu Neuengamme überführt. entziehen. Diese konzentrierte sich auf die Be- Am 21. oder 23. April 1945 Helene Heyckendorf obachtung seiner Ehefrau Helene, da sie sich er- wurden sie dort ermordet. hoffte, über sie eine Spur zu Max Heyckendorf Michael Müller, als Mitglied der KPD am ausfindig zu machen. Am 22. Dezember 1944 7. Januar 1937 wegen Vorbereitung zum Hoch- wurde Helene Heyckendorf verhaftet. Auch in verrat zu sechs Jahren Zuchthaus und anschlie- den dann folgenden Vernehmungen machte sie ßender dauernder Polizeiaufsicht verurteilt, be- keine Angaben zum Aufenthalt ihres Mannes. fand sich bis Kriegsende im Konzentrationslager Helene Heyckendorf saß ab dem 22. Dezem- Neuengamme. Er überlieferte Helene Heycken- ber 1944 (nach anderen Angaben ab 12. Dezem- dorfs letzte Worte für ihre Angehörigen. ber 1944) im Gefängnis Fuhlsbüttel ein. Der Vor- Sowohl die Ermordung der Frauen aus die- wurf lautete auf Vorbereitung zum Hochverrat – ser Gruppe als auch der verzweifelte Aufstand eine Beschuldigung, die die Todesstrafe nach der Männer und ihre anschließende Hinrichtung sich ziehen konnte. Im April 1945 entschied die wurden beobachtet und in Zeugenaussagen fest-

Abb.: Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg für Zeitgeschichte Forschungsstelle Abb.: Gestapo, eine Gruppe der Inhaftierten, deren gehalten. Das „Komitee ehemaliger politischer

sonalakten); FZH 12 H/Helms (Per - (Frauen im Widerstand 1933–1945); Widerstand, Hamburg 1969, S. 351/ sonalakten): Aussagen von Hildegard Ab; Sammlung VVN-BdA (Hamburg); 369f.; Herbert Diercks: Gedenkbuch Lembke und Ursula Prüssmann; An- Ursula Puls: Die Bästlein-Ja cob-Abs- „Kola-Fu“. Hamburg 1987; Klaus Bäst- zeige Max Heyckendorf; FZH 12 M/ hagen-Gruppe, Berlin 1959, S. 135; lein: „Hitlers Niederlage ist nicht un- Mertens (Personalakten); FZH 13-3-1- Ursel Hochmuth/Gertrud Me yer: sere Niederlage, sondern unser Sieg!“ 2 (Gestapo in Hamburg); FZH 13-3-3-2 Streiflichter aus dem Hamburger Die Bästlein-Organisation. Zum ... Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 206

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Gefangener“ (Hamburg) erstellte darüber am Als Helene Lange sieben Jahre alt war, starb ihre 12. August 1945 einen Bericht, in dem das bru- Mutter, neun Jahre später auch der Vater, ein tale Vorgehen der Henker im Konzentrationslager Kaufmann. Helene Lange erhielt einen Vormund, Neuengamme dokumentiert ist. Zu den Toten ge - der ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, unter- hörte auch Helene Heyckendorf. sagte. Deshalb arbeitete sie bis zur Volljährigkeit Text: Peter Offenborn, aus www.stolpersteine-ham- als Au Pair-Mädchen in einer Elsässer Erziehungs- burg.de anstalt. Autodidaktisch bereitete sie sich auf das Siehe auch Ü Annemarie-Ladewig-Kehre, Lehrerinnenexamen vor, das sie 1871 in Berlin Catharina-Fellendorf-Straße, Erika-Etter-Kehre, Erna-Behling-Kehre, Gertrud-Meyer-Straße, bestand. Zwischen 1875 und 1890 war sie Leite- Hanne-Mertens-Weg, Katharina-Jacob-Weg, rin des Lehrerinnen-Seminars in Berlin, von 1890 Lisbeth-Bruhn-Stieg, Margarete-Mrosek-Bogen, bis 1900 Leiterin der Realschulkurse und ab 1893 Margit-Zinke-Straße, Marie-Fiering-Kehre, auch von Gymnasialkursen für Frauen. Thüreystraße, Tennigkeitweg, in diesem Band. Helene Lange setzte sich für die Verbesse- Siehe auch Mitglieder der Widerstandsgruppe Bästlein-Jacob-Abshagen Ü Ernst-Mittelbach- rung der Bildungs- und Ausbildungsmöglichkei- Ring, Niendorf, seit 1982: Ernst Mittelbach ten von Frauen ein. 1890 gründete sie mit Auguste (1903–1944), Gewerbeoberlehrer, Wider stands - Schmidt den Allgemeinen Deutschen Lehrerin- kämpfer gegen den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittelbach-Stieg, Niendorf, seit 1987, in nenverein (ADLV), dessen Vorsitzende sie bis Bd. 3 online**. 1921 war. Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit Ungefähr in den 1880-er Jahren fand Helene 1988: Karl Kock (1908–1944), Gummifachar- Lange „Eingang in die Kreise des politischen Li- beiter aus Harburg, Kommunist, Widerstands- beralismus (…). Hier findet sie ihre politische kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in 21) Bd. 3 online**. Heimat“. Gemeinsam mit anderen Frauen richtete sie Siehe auch Ü Kurt-Schill-Weg, Niendorf, seit 1982: Kurt Schill (1911–1944), KPD-Wider- 1887 eine Petition an das preußische Kultusmi- standskämpfer gegen den Nationalsozialismus, nisterium und das Abgeordnetenhaus, „in der in Bd. 3 online**. verschiedene Forderungen zur Verbesserung des Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit Mädchenschulwesens gestellt werden. Die von 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- munistischer Widerstandskämpfer gegen den der 39-jährigen Lange verfasste Begleitschrift, die Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. sogenannte ‚Gelbe Broschüre‘, erscheint 1887, er- Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Allermö - regt großes öffentliches Aufsehen und verschafft he, seit 2002: Werner Schroeder (1916–1993), ihr auch außerhalb der pädagogisch interessier- Bäcker, Kommunist, Widerstandskämpfer gegen ten Öffentlichkeit mit einem Schlag einen uner- den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. wartet hohen Bekanntheitsgrad. Für sie selbst markiert dieses Jahr den Beginn ihrer eigent- lichen ‚Kampfzeit‘, in der die Frauenbewegung Helene-Lange-Straße und vor allem die Fragen der Frauenbildung im Harvestehude, seit 1950, benannt nach Helene Vordergrund stehen“.22) Lange (9.4.1848 Oldenburg–13.5.1930 Berlin), „Aufgrund ihrer Initiativen machen 1896 Pädagogin und Frauenrechtlerin der bürgerlichen erstmals sechs Frauen die Reifeprüfung in Ber- Frauenbewegung, Bürgerschaftsabgeordnete lin. Helene Lange hat entscheidend dazu beige-

** Band 3 online unter: www.ham- (1939–1945), in: Beate Meyer (Hrsg.): Heyckendorf.de (Durchblick von links: burg.de/maennerstrassennamen Vom Zweifeln und Weitermachen. ‚Helene Heyckendorf – am 20. April Fragmente der Hamburger KPD-Ge- 1945 im KZ-HH-Neuengamme ermor- ... Widerstand aus der Arbeiterbewe- schichte. Festschrift für Helmuth det‘) vom 15.8.2010. gung in Hamburg und Nordwest- Warnke zum 80. Geburtstag. Ham- 21) Margit Göttert: Macht und Eros. deutschland während des Krieges burg 1988, S. 44ff.; http://dielinke. Frauenbeziehungen und weibliche Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 207

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tragen, Frauen bürgerlicher Schichten das Stu- teiligung am ‚Nationalen Frauendienst‘ (…), dium in Deutschland zu ermöglichen und ihnen dessen Gründerin Gertrud Bäumer [war], die als Berufschancen zu eröffnen,“23) schreibt die Au- [Langes] Nachfolgerin im BDF die Gleichschal- torin Hiltrud Schroeder über Helene Lange. tung der bürgerlichen Frauenbewegung im Na- 1893 gründete Helene Lange die Zeitschrift tionalsozialismus maßgeblich verantworte te“,26) „Die Frau, Monatsschrift für das gesamte Frauen - schreiben Florence Hervé und Ingeborg Nödin- leben unserer Zeit“, die sie ab 1916/17 gemein- ger in ihrem „Lexikon der Rebellinnen“. sam mit Gertrud Bäumer (1873–1954) (siehe Ü 1916 zogen Helene Lange und Gertrud Bäu- Gertrud-Bäumer-Stieg, in diesem Band) herausgab mer nach Hamburg, wo Gertrud Bäumer die Lei- und die bis 1944 erschien. 1894 wurde sie Mit be - tung der neugegründeten Sozialen Frauenschule gründerin des Bundes Deutscher Frauen (BDF), und Helene Lange dort als in dessen Vorstand sie bis 1906 tätig war. Lehrerin den Psychologie- 1898 lernte Helene Lange Gertrud Bäumer unterricht übernahmen. kennen. Damals war bei He lene Lange ein altes In Hamburg lernte He - Au genleiden wieder ausgebrochen, so dass sie lene Lange Emmy Beck- Hil fe benötigte, die sie in der damals 25-jährigen mann [siehe Ü Emmy-Beck- Gertrud Bäumer fand. „In nerhalb kurzer Zeit mann-Weg, in diesem Band] entwickelt sich eine enge Arbeits- und Lebens- kennen, „die sie zu ihrer ge meinschaft zwischen den beiden Frauen, die Nachfolgerin im ADLV kürt bis zum Tod Langes 1930 Bestand hat. Bereits von und zu der sie in ih rem 1901 an teilen sie sich ei ne gemeinsame Woh- letzten Lebensjahrzehnt Helene Lange nung.“24) eine ähnlich enge Bezie- 1902 wurde Helene Lange Leiterin des All- hung wie zu Gertrud Bäumer unterhält“.27) gemeinen Deutschen Frauenvereins, dem sie bis Helene Lange betätigte sich auch parteipo- 1921 vorstand. Eine Zusammenarbeit mit der litisch. Von März 1919 bis Dezember 1920 war proletarischen Frauenbewegung lehnte sie ab, sie für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) auch kritisierte sie den radikalen Flügel der bür- Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und gerlichen Frauenbewegung (siehe dazu Ü Hey- hielt dort am 24. März 1919 als Alterspräsidentin mannstraße, in diesem Band). die Eröffnungsrede. 1920 legte sie ihr Mandat Helene Lange sah in der Mütterlichkeit „die nieder, weil sie Gertrud Bäumer nach Berlin folg- Wesensbestimmung der Frau, auch der kinder- te. Dort publizierte sie weiterhin Artikel in Zeit- losen. Als Ziel schwebt ihr vor, die männlich ge- schriften und Zeitungen. 1922 wurde sie Ehren- prägte Welt mit all ihren Fehlentwicklungen bürgerin ihrer Geburtsstadt Oldenburg; etliche durch den weiblichen Kultureinfluß zu verbes- Mädchenschulen wurden nach ihr benannt, und sern. Sie leistet allerdings damit der Gefahr Vor- 1928 verlieh ihr die Preußische Regierung die schub, Frauen auf Ehe und Familie oder auf die große Staatsmedaille. typisch weiblichen Lehr- und Sozialberufe zu In ihren letzten Lebensjahren klagte Helene beschränken“,25) so Hiltrud Schroeder. Lange in ihren Briefen an Emmy Beckmann oft- „Zu Beginn des Ersten Weltkrieges bezog mals über ihre Einsamkeit. „Mitgehen will ich; ich

Abb.: Landesarchiv Berlin Berlin Landesarchiv Abb.: sie militaristische Positionen, sie war für die Be- habe die Einsamkeit so schrecklich satt. G. B.

Kultur um 1900 – eine neue Perspek- (Hrsg.): Berühmte Frauen. Dreihun- ger: Lexikon der Rebellinnen. Dort- tive auf Helene Lange und Gertrud dert Porträts. Frankfurt a. M. 1999, mund 1996, S. 151. Bäumer. Königstein/Ts., 2000, S. 24. S. 167. 27) Margit Göttert, a. a. O., S. 28. 22) Margit Göttert, a. a. O., S. 25. 24) Margit Göttert, a. a. O., S. 27. 23) Hiltrud Schroeder: Helene Lange, 25) Hiltrud Schroeder, a. a. O., S. 167. in: Luise Pusch, Susanne Gretter 26) Florence Herve, Ingeborg Nödin- Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 208

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kommt erst morgen, und es war so mancherlei Donner veranlassten Abriss des Sieveking’schen wenig Behagliches dieser Tage, so daß ich mich Landhauses erbaut worden war, wurde der Mit - sehr allein fühlte! (…)“28) telpunkt der Gesellschaft. Offiziere, Künstler, Ge- „Dass die Beziehung von Lange und Bäu- lehrte und Adlige waren dort zu Gast, so z. B. mer so gut funktionierte, mag unter anderem an General Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke den klaren Grenzen gelegen haben, die beide für (sieheÜ Moltkestraße, in Bd. 3 online**), Kaiser sich zogen – so betont Bäumer, häufiger die ‚fei - Wilhelm I. (sieheÜ Kaiser-Wilhelm-Straße, in Bd. 3 ne Distanz‘, die zwischen ihr und Lange trotz online**), Kaiserin Auguste Viktoria (sieheÜ aller Innigkeit geherrscht habe –, und die, trotz Augustenpassage und Auguste-Victoria-Kai, in die- allem Zusammenspiel, jede ihr eigenes Arbeits- sem Band). und Tätigkeitsfeld behalten ließ. Der Respekt Nachdem Helene Donners Ehemann 1865 und die Bewunderung, die eine für die andere verstorben war, widmete sich die damals 46-Jäh- aufbrachte, ließen offensichtlich selbst im hohen rige verstärkt der Wohltätigkeit. So stiftete sie Alter Langes nie nach.“29) die Sonntagsschule in Alto na, gründete 1882 an Siehe auch Ü Auguste-Schmidt-Weg, Emmy- der Allee, der heutigen Max-Brauer-Allee das Beckmann-Weg, Gertrud-Bäumer-Stieg, Hey- He le nen stift – ein Krankenpflegerinnenheim und mannstraße, in diesem Band. eine Ausbildungsstätte für Kran kenschwestern – und Helenenstieg ließ 1894 auf dem Gelände des Helenenstiftes eine Ka- Altona, seit 1953, benannt nach Helene Donner, pelle (heute: Kirche der geb. Schröder. Wohltäterin. In Anlehnung an die Stille) einweihen, die ei - Helenenstraße nen eigenen Seelsorger be - kam. Als die Stadt Altona Helenenstraße 1885 mit dem Ausbau des Altona-Nord, seit 1893, benannt nach Helene Neumühlener Strandwe- Donner, geb. Schröder (27.12.1819 Hamburg– ges begann, gab Helene 30.11.1909 Hamburg), Etatsrätin, Wohltäterin Donner den benötigten Teil ihres Geländes ab. Helene Donner stammte aus der Hamburger Fami- Helene Donner gehör- Helene Donner lie des Freiherrn von Schröder (sieheÜ Schröder- te dem Vorstand der Ot- stiftstraße, in Bd. 3 online**). Mit achtzehn Jah- tensener Krippe an und ren heiratete sie den damaligen Chef des großen wurde 1870 in den Vorstand des Vaterländischen Handelshauses C. H. Donner (sieheÜ Donnerstra- Frauenvereins gewählt. Sie wurde Ordensdame ße, in Bd. 3 online**), den dänischen Etatsrat des Luisenordens am Band und Besitzerin des Bernhard Donner (1808–1865), Sohn von Con- Wilhelm-Ordens am Band. Letzteren Orden rad Hinrich Donner, und wurde fortan „Etatsrä- überreichte ihr Kaiser Wilhelm II. am 18. Juni tin Donner“ genannt. Das Paar bekam sieben 1889 anlässlich der Enthüllung des Denkmals Kin der. Ihr Haus, das Donner-Schloss an der Flott- seines Großvaters in Altona. Außerdem erhielt

beker Chaussee, welches nach dem von Bernhard sie den Orden des Roten Kreuzes. Hamburg Staatsarchiv Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- 29) Margit Göttert, a. a. O., S. 137. burg.de/maennerstrassennamen

28) Brief von 1924 an Emmy Beck- mann, zit. nach: Margit Göttert, a. a. O., S. 136. Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 209

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Siehe auch Ü Augustenpassage, Auguste-Victo- vermutlich aus finanziellen Gründen geschlos- ria-Kai, in diesem Band. sene Ehe verlief unglücklich; schon nach kurzer Siehe auch Ü Babendiekstraße, Blankenese, Zeit ließ Helma Steinbach sich scheiden. seit 1947. Roman von Gustav Frenssen, in Wie die meisten bürgerlichen Mädchen ihrer Bd. 3 online**. Zeit hatte auch Helma Steinbach eine Er ziehung Siehe auch Ü Donnerstraße, Ottensen, seit 1865, nach der Familie Donner, besonders in Haushaltsführung und Handarbeit erhal ten, nach Conrad Hinrich Donner (1774–1854), konnte rechnen, lesen und schreiben. Daher war gründete 1798 die Handelsfirma „Conrad Hin- sie nach ihrer Scheidung in der Lage, sich ihren rich Donner“ und dann die „Conrad Hinrich Lebensunterhalt als Wirtschafterin, Schnei derin, Donner Bank“ in Bd. 3 online**. Näherin, Plätterin (Bügelfrau) und Vorlese rin bei Siehe auch Ü Kaiserhöft, HafenCity, seit 1888, Kaiserkai, HafenCity, seit 1871, Kaiser-Wil- den Hamburger Zigarrenarbeitern selbst zu ver - helm-Höft, Steinwerder, seit 1902, Kaiser-Wil- dienen. Anfang der 1880-er Jahre lernte Helma helm-Platz, Bergedorf, seit 1888, Kaiser-Wil- Steinbach den aus dem Exil in den USA zurück- helm-Straße, Neustadt, seit 1890, benannt nach Kaiser Wilhelm I., in Bd. 3 online**. gekehrten Zigarrensortierer Adolf von Elm (sie- he Ü Adolf-von-Elm-Hof, in Bd. 3 online**) kennen, Siehe auch Ü Moltkestraße, Hoheluft-West, seit 1873: Helmuth Graf von Moltke (1800–1891), den späteren Gewerkschaftsführer, sozial de mo - Generalfeldmarschall, in Bd. 3 online**. kratischen Reichstagsabgeordneten (1894–1907), Siehe auch Ü Schröderstiftstraße, Rotherbaum, Mitbegründer der Genossenschaft „Produktion“ seit 1858, und Schröderstiftweg, Rotherbaum, und der Versicherungsgesellschaft „Volks fürsor - seit 1973: Johann Heinrich Schröder (1784– ge“. Zwischen ihnen entwickelte sich eine fast 1883), Gründer des Schröderstiftes, Kaufmann, Bankier, Gründer der Firmen J. Henry Schröder dreißig Jahre dauernde tiefe Freund schaft. & Co., London und J. H. Schröder & Co. Liver- In den 1880-er Jahren schloss sich Helma pool, in Bd. 3 online**. Steinbach der politischen Bewegung der Arbei- ter und Arbeiterinnen an. Besonders aktiv war Helgaweg sie im Verein der Hand-, Weiß- und Maschinen- Fuhlsbüttel, seit 1946. Frei gewählter Name näherinnen Hamburgs, einem 1887 ins Leben gerufenen Fachverein, der aus dem 1885 gegrün- deten Verein für Vertretung der gewerblichen Helma-Steinbach-Weg Interessen der Frauen und Mädchen Hamburgs Horn, seit 1929, benannt nach Helma Steinbach (mit 150 Mitgliedern) hervorgegangen war. Dort (1.12.1847 Hamburg–7.7.1918 Glünsing/Lauen- wurden die Arbeiterinnen nicht nur in ihren ge- burg), Gründungsmitglied der „Produktion“ werblichen Interessen unterstützt, es fand auch Ein Erinnerungsstein steht im Garten der Frauen Aufklärungs- und Erziehungsarbeit im Sinne der auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Sozialdemokratie statt. Helma Steinbach bekam jedoch Schwierigkeiten mit den Genossinnen we- Helma Steinbach wurde geboren als Tochter der gen ihres „unweiblichen“ Auftretens und wurde verarmten Hamburger Kaufmannsfamilie Steiner. bereits 1888 wegen „Eigenmächtigkeit“ aus dem Da die Familie den wirtschaftlichen Bankrott vor Verein ausgeschlossen. Im Februar 1890 grün de - der Gesellschaft verbergen wollte, wuchs Helma te sie den Zentralverein der Plätterinnen, der ca. unter großen Opfern und Entbehrungen auf. Eine 1000 Mitglieder besaß.

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Als 1890 das Sozialistengesetz aufgehoben finanzieller Mittel erfolglos aufgegeben werden, wurde, konnte in Halle der erste sozialdemokra- die Idee einer Großeinkaufsmöglichkeit blieb je- tische Parteitag abgehalten werden. Von den doch bestehen, und es entwickelte sich daraus fünf weiblichen Delegierten ergriffen nur Emma eine Initiative für einen Konsum- und Sparver- Ihrer und Helma Steinbach das Wort. Als eine ein. Im August 1897 wurde ein Ausschuss von von vier Frauen unter 208 Delegierten nahm die neun Personen, darunter Helma Steinbach als 55-jährige Helma Steinbach 1892 am ersten Ge- einzige Frau, gewählt, den Satzungsentwurf für werkschaftskongress in Halberstatt teil und ver- eine Kosumgenossenschaft auszuarbeiten. Am trat dort die Interessen der Arbeiterinnen. In ei- 3. Februar 1899 wurde die „Produktion“ ins ner Resolution, die gegen Handelsregister eingetragen. Als die Nationalso- eine Stimme angenom- zialisten die Macht übernahmen, war ihnen der men wurde, vertrat sie die 1929 benannte Helma-Steinbach-Weg ein Dorn Ansicht, Frauen sollten im Auge. Helma Steinbach war in ihren Augen gemeinsam mit Männern eine Marxistin. Aus diesem Grunde machten im in einer Organisation ar- Januar 1937 das Ingenieurwesen und das Ham- beiten. Außerdem forder- burgische Staatsamt im Rahmen der Aktion te sie die Gewerkschaften „Umbenennung der nach Juden oder Marxisten auf, auch Frauen als Mit- benannten Straßen in Hamburg“ den Vorschlag, glieder aufzunehmen und den Helma-Steinbach-Weg in Souchonstraße Helma Steinbach gezielt um sie zu werben. umzubenennen, denn: „Admiral Souchon, der Helma Steinbach hielt die ,Goeben‘ und ,Breslau‘ durch die Straße von nicht viel von Frauengewerkschaften und Arbei- Messina nach Konstantinopel führte [hat] (…) terinnen- und Frauenbildungsvereinen, ihrer An- dadurch mit (…) [beigetragen], daß die Türkei sicht nach „Klatsch- und Zankvereine“. Sie wollte, auf die Seite der Mittelmächte trat.“ Auch wurde dass Frauen und Männer Seite an Seite marschie- der Vorschlag unterbreitet, den Helma-Stein- ren. Auch forderte sie die Aufgabe des Sonder- bach-Weg in Oskar-König-Weg umzubenennen, rechtes, wonach Frauen spezielle Frauenvertrete- einem Opfer der „nationalen Erhebung“ – also rinnen zu den Parteitagen entsenden konnten. den Nationalsozialisten zuzurechnen. Eine Um- Als im November 1896 ein wilder Streik unter benennung fand nicht statt. Hamburgs Hafenarbeitern ausbrach, wurden auch Text: Helene Götschel für die Frauen der streikenden Hafenarbeiter und Siehe auch Ü Adolf-von-Elm-Hof, Eißendorf, Seeleute Versammlungen organisiert, um die seit 1925, Von-Elm-Stieg, Horn, seit 1945, und Von-Elm-Weg, Horn, seit 1929: Adolf von Elm vom Streik genauso hart betroffenen Frauen zu (1857–1916), Sozialpolitiker und Mitbegrün- unterstützen und für den Streik zu gewinnen. der der „Volksfürsorge“ und der „Produktion“ An der Frauenagitation beteiligte sich auch (Pro), in Bd. 3 online**. Helma Steinbach. Als das Geld in der Streik kasse knapp wurde, entstand die Idee, die Streikenden künftig durch Lebensmittel zu unterstützen, die Henny-Schütz-Allee en gros und damit preisgünstig ein gekauft wer- Langenhorn, seit 2010, benannt nach Henriette

den sollten. Der Streik musste zwar mangels Wilhelmine Schütz, geb. Winkens (1.6.1917– Horn (Hrsg.), S. 31. Geschichtswerkstatt Buchauflage, 1. überarbeitete Komplett Bedeutung, ihre und Straßennamen Horner 111 Die Borstel, von Gerd Aus: Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Biographien von A bis Z / H 211

15.3.2001), Sozialdemokratin, Sozialistische Ar- Henriette-Herz-Garten beiter Jugend (SAJ) Winterhude bis 1933, 1935/36 Bergedorf, seit 1984, benannt nach Henriette ein Jahr Schutzhaft Fuhlsbüttel, Untersuchungs- Julie, geb. de Lemos. Schriftstellerin. In Anleh- haft Hamburg, wegen Vorbereitung zum Hochver- nung an den Namen Henriette-Herz-Ring rat (Prozess Winkens, SAJ Winterhude), KZ Mo- ringen/Solling, seit 1945 Wohnbezirkskassiererin der SPD Langenhorn-Nord. Motivgruppe: Ver- Henriette-Herz-Ring folgte des Nationalsozialismus Bergedorf, seit 1984, benannt nach Henriette Julie, geb. de Lemos (5.9.1764 Berlin–22.10.1847 Henriette Winkens wurde am 1. Juni 1917 in Ham- Berlin), Schriftstellerin burg-Langenhorn geboren. Als Jugendliche war sie Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend Henriette Herz war die Tochter des sephardischen (SAJ, Jugendorganisation Arztes und Leiter des jüdischen Krankenhauses der SPD) bis zu deren Ver- Benjamin de Lemos aus Berlin und seiner Frau bot 1933. Als weiterhin Esther, geb. Charleville. Ihr Vater gab seiner Toch - widerstandspolitisch Ak- ter eine gute Bildung. Henriette lernte Hebräisch, tive wurde sie 1935/36 in Griechisch und Latein und las sehr viel. Im Alter so genannte Schutzhaft von zwölf Jahren wurde sie – entsprechend dem genommen. Diese Will- jüdischen Brauch – verlobt und zwar mit dem kürhaft wurde seit der so ihr unbekannten und siebzehn Jahre älteren Arzt genannten Reichsbrand- und Philosophen Markus Herz. Drei Jahre später, verordnung, der „Verord- 1779, war für die Fünfzehnjährige Hochzeit. Henny Schütz nung zum Schutz von Volk Henriette empfand damals die Ehe als Befreiung und Staat vom 28.2.1933“, und freute sich auf das „reiche und schöne Le- eingesetzt und diente der Verfolgung missliebiger ben“. Ihr Mann hielt als Mediziner und Philo- Personen. Rechtsanwälte waren für die Wahrneh - soph in seinem Haus Vorlesungen über Kants mung der Rechte ihrer Mandantinnen und Man- Philosophie und über Experimentalphysik ab. danten ausgeschlossen. Dadurch kamen viele Menschen ins Haus – meist Moringen liegt ca. 100 südlich von Hanno- älteren Semesters. Auch Henriette nahm zu- ver und 20 km nordwestlich von Göttingen. Zwi- nächst als Zuhörerin an diesen Vorlesungen teil, schen 1933 und 1945 bestanden – mitten im sammelte aber bald einen Kreis junger, litera tur - Ortskern – drei Konzentrationslager, darunter begeisteter Menschen um sich. „Während man zwischen 1933 und 1938 ein Frauen-KZ, in dem in Marcus’ Räumen einen aufklärerisch-wis sen- viele Frauen des politischen Widerstands „ein- schaftlichen Diskurs pflegte, versammelte sich sitzen“ mussten. Dort war auch die Sozialdemo- [in einem Nebenraum des Wohnhauses an der kratin Henny Schütz inhaftiert. Spandauer Straße 35, später in der Neuen Fried- Text: Cornelia Göksu richstraße [heute: Littenstraße] die jüngere Ge - neration der RomantikerInnen um Henriet te.“30) Damit war um 1780 der erste Berliner Salon

Abb.: Hamburger Wochenblatt/Biehl/Willi Bredel Gesellschaft Bredel Wochenblatt/Biehl/Willi Hamburger Abb.: gegründet. Bisher gab es im Zeitalter der Auf-

30) Katharina von Hammerstein: Henriette Herz, in: Luise F. Pusch, Su- sanne Gretter (Hrsg.): Berühmte Frauen. Dreihundert Porträts. Frank- furt a. M. 1999, S. 126. Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 212

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klärung, in dem viele der gebildeten Menschen Die Salonnieren taten damit nicht nur etwas das Bedürfnis hatten, sich über die unterschied- für sich und ihr Renommee. Das Geld ihrer Ehe- lichsten Themen auszutauschen, zwar viele Ge- männer, das zur Aufrechterhaltung solcher Sa- sellschaften, wie z. B. die Montags- und Mitt- lons notwendig war, war gut angelegt, brachte wochsgesellschaft. An solchen Gesellschaften solch ein Salon auch für nahmen aber nur Männer teil. Mit Henriette die Ehegatten ein Gewinn Herz’ Salon war das nun anders. Hier verkehrten an gesellschaftlichem An- Frauen wie auch Männer, so z. B. neben den Brü- sehen. dern Humboldt (siehe Ü Humboldtbrücke und Hum- Eine besonders enge boldtstraße, in Bd. 3 online**) u. a. Ludwig Börne Freundschaft pflegte Hen- (siehe Ü Börnestraße, in Bd. 3 online**), Schil ler riette Herz mit dem pro- (siehe Ü Schillerstraße, in Bd. 3 online**), Fried - testantischen Theologen rich Schleiermacher, Rahel Varnhagen (siehe Ü Friedrich Schleiermacher, Rahel-Varnhagen-Weg, in diesem Band), Madame den sie 1794 kennen lern- Henriette Herz de Stael und Dorothea Schlegel (siehe Ü Schle- te. Sie wurde „seine engs - gelsweg, in diesem Band). Letztere verliebte sich te Vertraute bei der Ab- in Henriette Herz’ Salon in Friedrich Schlegel fassung seiner ‚Reden über die Religion‘. Er und Wil helm von Humboldt traf hier seine spä- vermittelt ihr die Übersetzung zweier Reisebe- tere Ehefrau Caroline von Dacheröden. richte aus dem Englischen, die um 1800 erschei- „Geprägt von den Idea len der Aufklärung nen. Das äußerlich so ungleiche Paar erregt Auf- und inspiriert von der aufkommenden Literatur sehen, und Schleiermacher wird in Berlin als des Sturm und Drang herrscht hier eine frühro- ‚Parasol de Madame Herz‘ verspottet.“32) mantische Aufbruchstimmung, die einen gesell- Gemeinsam mit Dorothea Schlegel war Hen- schaftlichen Freiraum schafft, den Henriette riette Herz auch Mitbegründerin eines Tugend- Herz selbstbewusst zu nutzen weiß, um ihren bundes „zur Übung werktätiger Liebe“, dem u. a. Salon als genuin weiblicher Form der Gesellig- Alexander und Wilhelm von Humboldt und spä- keit zu etablieren.“31) ter auch F. D. E. Schleiermacher angehörten. Grundvoraussetzung für solche literari- Dass mehrere Männer in Henriette Herz, die als schen Salons, die ausschließlich von Frauen ini- äußerst schön und mit prächtigem Haar beschrie- tiiert wurden, war das Vorhandensein geeigneter ben wird, verliebt waren, beobachtete verständ- Räumlichkeiten, d. h. ein großes Haus, wie man nisvoll die Schauspielerin Karoline Bauer (1807– es im begüterten Bürgertum oder im Adel besaß. 1877). Sie konnte es verstehen, dass der damals Die Salonnieren mussten also über einen wirt- siebzehnjährige Börne „die um volle zweiund- schaftlichen Rückhalt verfügen, den sie meist zwanzig Jahre ältere Henriette Herz bis zum über ihre gut situierten Ehemänner besaßen und Wahnsinn – ja bis zum projektierten Rattengift der es ihnen auch erlaubte – z. B. angesichts unglücklich lieben konnte, und daß der Staats- des Vorhandenseins von Dienstpersonal –, ge- minister Graf Dohna-Schlobitten aller gesell- nügend Freizeit zu haben, um sich zu bilden, schaftlichen und höfischen Vorurteile nicht ach- eine Voraussetzung, um solch einen Salon füh- tete und der Witwe des jüdischen Arztes Markus

ren zu können. Herz, Hand und Namen bot. Sie aber dankte 1792) Graff Anton von Leinwand auf (Öl Nr.:00017690 SMB/Andres Kilger, bpk/Nationalgalerie, Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- 32) Kerstin Reimers, a. a. O. burg.de/maennerstrassennamen

31) Kerstin Reimers: Henriette Herz, in: www.fembio.org/biographie.php/ frau/biographie/henriette-herz/ Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 213

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ihm herzlich für beides und – blieb Schleierma- Siehe auch Ü Humboldtstraße, Barmbek-Süd, chers geistige Freundin“.33) Auch der siebzehn- seit 1859, und Humboldtbrücke, Uhlenhorst, seit 1970: Alexander von Humboldt (1769– jährige Wilhelm von Humboldt war in die mehr 1859), Gelehrter, Naturforscher, in Bd. 3 on- als zwanzig Jahre ältere Henriette Herz verliebt. line**. Nach dem frühen Tod ihres Mannes im Siehe auch Ü Schillerstraße, Altona-Altstadt, Jahre 1803 und der napoleonischen Besetzung seit 1859 und 1950: Friedrich von Schiller Berlins 1806 „ging die Blütezeit ihres Salons“ (1759–1805), Dichter, Bd. 3 online**. zur Neige. Henriette Herz musste sich nun fi- nanziell einschränken und konnte sich solch ein Henriettenstraße Haus und einen entsprechenden Salon nicht Eimsbüttel, seit 1865, benannt nach Henriette mehr leisten. Fortan war sie auf einen Neben- Tornquist (27.3.1843–10.4.1914), Tochter von verdienst angewiesen, arbeitete als Erzieherin Alex ander Bentalon Tornquist, Geländevorbesitzer junger Mädchen, Übersetzerin und Sprachlehre- rin und ließ sich, um nicht auf die Salonkultur verzichten zu müssen, in die Salons der Freun- Anlässlich ihrer Hochzeit 1865 benannte ihr Va- din Fanny von Arnstein in Wien und der Herzo- ter Alexander Bentalon Tornquist die Straße nach gin Dorothea von Kurland einführen. ihr. Auch nach seinen Kindern Emilie und Max Auch begab sie sich auf Reisen, so verbrach- ließ Herr Tornquist Straßen in der Umgebung te sie einige Zeit in Rom bei den Brüdern Veit, benennen. Alle diese Straßen verliefen über den Söhnen von Dorothea Schlegel, in deren Tornquist’s Grundstücke. deutschen Künstlerkolonie. Siehe auch Ü Charlottenstraße, Emilienstraße, „Zusammen mit dem Schriftsteller Joseph Henriettenweg, in diesem Band. Fürst erarbeitet sie in den 1830er Jahren ein Ma- Siehe auch Ü Maxstraße, Eilbek, seit 1867: nuskript ihrer Erinnerungen, das 1850 posthum nach dem Sohn des Grundeigentümers Alexan- der B. Tornquist, in Bd. 3 online**. veröffentlicht wird und bis heute zusammen mit Siehe auch Ü Tornquiststraße, Eimsbüttel, seit ihrer Niederschrift eine wertvolle Quelle über 1868: Alexander Bentalon Tornquist (1813– die frühe Berliner Romantik darstellt. Scharfsich- 1889), Großgrundbesitzer, Grundstückbesitzer, tig beschreibt sie den Einfluss von Frauen auf in Bd. 3 online**. das geistige Leben ihrer Zeit und stellt angesichts restaurativer Entwicklungen nach dem Wiener Kongress enttäuscht fest: ‚die Frauen herrschen Henriettenweg nicht mehr in der Gesellschaft.‘“34) Eimsbüttel, seit 1961. Siehe Henriettenstraße. Im hohen Alter erhielt sie auf Anregung von Alexander von Humboldt eine Pension vom Preu - Hermine-Albers-Straße ßischen König Friedrich Wilhelm IV. Jenfeld, seit 2014, benannt nach Dr. Hermine Siehe auch Ü Rahel-Varnhagen-Weg, Schlegels- Albers (21.7.1894 Bitburg–24.4.1955 Hamburg), weg, in diesem Band. seit 1928 Aufbau einer behördenübergreifenden Siehe auch Ü Börnestraße, Eilbek, seit 1866: Familienfürsorge in der Sozialverwaltung Ham- Ludwig Börne (1786–1837), Schriftsteller, in Bd. 3 online**. burgs, Mitglied der SPD, 1933 aus dem öffent-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

33) Walther G. Oschilewski (Hrsg.): Frauen in Berlin. Berlin 1959, S. 22. 34) Kerstin Reimers, a. a. O. Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 214

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lichen Dienst entlassen, nach dem Krieg Führung 1928 verlegte sie ihre berufliche Tätigkeit des Landesjugendamtes und Neuaufbau der Ju- nach Hamburg. Dort erhielt sie eine Anstellung gendfürsorge; seit 1955 wird ihr zu Ehren der in der Sozialbehörde. Hermine Albers wurde Re- Hermine-Albers-Preis (heute: deutscher Jugend- gierungsrätin und beriet in dieser Funktion auch hilfepreis) vergeben. Verfolgte des Nationalsozi- den Stadtbund Hamburger Frauenvereine. alismus 1933, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, wurde Hermine Albers we- Hermine Albers wurde 1894 als einziges Kind von gen ihrer Mitgliedschaft in der SPD – sie war seit Klara Helene, geb. Linden und Hermann Albers 1919 Mitglied der SPD – und der Arbeiterwohl- geboren. Ihr Vater, ein Kreisschulrat, starb kurze fahrt (AWO) aus ihrem Amt als Regierungs- Zeit vor Hermines Geburt. Klara Helene Albers rätin entlassen. Fortan arbeitete sie, eingesetzt gab ihrer Tochter eine sorgfältige Erziehung mit von der Handelskammer wegen ihrer fachlichen auf den Weg. Als Hermine zwölf Jahre alt war, Kenntnisse – als Wirtschaftsprüferin und Treu- zog ihre Mutter mit ihr nach Köln, wo Hermine händerin in verschiedenen Wirtschaftsunterneh- das humanistische Mädchengymnasium be- men. Hermine Albers wohnte damals im Wie- suchte. Nach dem Abitur studierte sie zwischen sen kamp 9 und unterstützte ihre Freundin Hilde 1914 und 1917 Sozial- und Staatswissenschaften. Wulff (siehe Ü Hilde-Wulff-Weg, in diesem Band), Als im Ersten Weltkrieg Frauen im stärkeren die das Kinderheim „Im Erlenbusch“ betrieb, in Maße als Arbeitskraft zur Aufrechterhaltung der der Geg nerinnenschaft gegen den Nationalso - „Heimatfront“ z. B. in den Rüstungsbetrieben zialis mus. Bereits 1930 hatte sich Hermine Al- arbeiten mussten, stellte sich die junge Volks- bers als Sprecherin der Sozialbeamtinnen für die wirtschaftslehrerin Hermine Albers dem Frauen- Frauenfront gegen den Nationalsozialismus en- referat der Kriegsamtsstelle Koblenz als Hilfs - gagiert. referentin zur Verfügung. Dabei lernte sie die Gleich nach Ende der Herrschaft des Natio- praktischen Notwendigkeiten und Möglichkei- nalsozialismus wurde Hermine Albers Mitglied ten der Arbeitsfürsorge an Frauen kennen. des Entnazifizierungskomitees. Beruflich wurde Nach Kriegsende übernahm Hermine Albers sie zur Senatsrätin ernannt und mit dem Aufbau als Geschäftsführerin den Verein für Säuglings- und der Leitung des Hamburger Landesjugend- fürsorge und Wohlfahrtspflege in Düsseldorf. Ab amtes betraut. Drei Jahre später ernannte der 1921 unterrichtete sie auch Volkswirtschaft und Senat sie zur Regierungsdirektorin. Rechtswesen am Frauenseminar für soziale Be- In den Jahren 1945 bis 1948 waren rund rufsarbeit in Frankfurt am Main und leitete von 20 000 Jugendliche unter achtzehn Jahren, die 1923 bis 1926 eine Abteilung des Wohlfahrtsam- durch die Bunker zogen, in Erdhöhlen schliefen, tes in Solingen. Gleichzeitig setzte sie ihre sozi- keine Lehrstellen und oft kein Elternhaus mehr alwissenschaftlichen Studien an den Universitä- hatten, zu betreuen. Hermine Albers versuchte ten in Köln und Bonn fort und promovierte 1926 den jungen Menschen Obdach und Nahrung zu zum Dr. rer. pol. der Staatswissenschaften. verschaffen und die Eltern wiederzufinden. Wie 1927 ging sie als Dozentin an die Wohl- dieses Chaos in den Griff zu bekommen war, fahrtsschule für Hessen und Hessen-Nassau nach wurde als Hermine Albers’ Geheimnis und das Frankfurt am Main. ihrer Mitstreiterinnen und -streiter bezeichnet. Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 215

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Als sich die Wirtschaftslage gebessert hatte, ligung und dem Vermögen, die Dinge von der Eltern für ihre Kinder Erziehungshilfen bekamen, Wurzel her zu erfassen.“ (Gedenkwort von Übernachtungs- und Tagesheime sowie Schulen Stadtarzt Marx, Nürnberg) wieder aufgebaut waren, kümmerte sich Her- Pastor Wilhelm Engelmann, Direktor des mine Albers um arbeitslose Jugendliche und um Centralausschusses für die Innere Mission, Be- eine sinnvolle Frei zeit ge - thel, fasste Hermine Albers’ Leben wie folgt zu- staltung für Jugendliche. sammen: „Sie gehörte zu denen, die Glück und Durch Hermine Al- Qual dieses Zeitalters in sich aufgenommen und bers’ langjährige Erfah- verarbeitet haben, die wissend geworden sind. rungen in der Jugend- Diese Menschen sind äußerlich nicht leicht be- und Wohlfahrtshilfe ent- geisterungsfähig, vielleicht scheinen sie ver- stand der Grundgedanke schlossen, zurückhaltend und manchmal auch für den späteren Bundes- hart. Aber in ihnen wohnt – oft nur dem Kundi- jugendplan, an dem Her- gen erkennbar – eine stille Güte und Barmher- mine Albers einen großen zigkeit, die die Not und das Leid des Bruders Hermine Albers Anteil hatte. und der Schwester mitträgt, und die recht zu Mittlerweile war ihre helfen wissen. Diese Menschen wissen es auch, Arbeit über den Rahmen Hamburgs hinausge- daß sie dazu bestimmt sind, daß von ihnen ge- wachsen. In ganz Westdeutschland fand sie Be- fordert wird, ihre Erkenntnisse und Erfahrun- achtung und Würdigung. Als Mitbegründerin gen, ihren Verstand und ihre Fähigkeiten und und Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft für Ju- nicht zuletzt ihre Liebe ganz darzubringen. Dies gendpflege und Jugendfürsorge übernahm sie wird eine selbstverständliche Haltung. Diese von 1952 bis 1955 auch die Arbeit der zweiten Menschen verzehren sich im Dienst. Sie hassen Vorsitzenden. Zwischen 1949 bis zu ihrem Tod das Laute und Vordergründige, denn sie kennen 1955 arbeitete sie als Mitherausgeberin der Zeit- die Hintergründe des Lebens. In ihnen lebt das schrift für Jugendhilfe in Wissenschaft und Praxis, Wissen um das Wesentliche.“ „Unsere Jugend“, München, Forum der Jugend - Seit 1955 vergibt die Arbeitsgemeinschaft ämter in Stadt und Land. Hier nahm sie vor allem für Kinder- und Jugendhilfe alle zwei Jahre den laufend zu den wichtigsten Gesetzesvorschlägen Hermine-Albers-Preis (auch Deutscher Jugend- in Fragen der Erziehung und Wohlfahrt Stellung hilfepreis genannt). und vertrat ihre Idee des lebendigen Jugendam- Siehe auch Ü Hilde-Wulff-Weg, in diesem tes. Darüber hinaus war Hermine Albers Mitglied Band. des deutschen Landesausschusses der UNESCO. Hermine Albers starb 1955 im Alter von 60 Jahren. In einem der Nachrufe hieß es ganz der Herschelstraße Rollencharaktere der Frau folgend über sie: „Sie Rahlstedt, seit 1958, nach William Herschel. konnte beides – mit männlich scharfem Verstand Ergänzt 2001/2202 um die ebenso bedeutende planen und mit einem unbestechlich nüchternen Schwester Caroline Herschel Blick für das Sachliche abwägen. Dabei war sie Neuer Erläuterungstext: benannt nach dem Geschwisterpaar Caroline Lucretia H. (16.3.1750 Abb.: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ – Jugendhilfe und Kinder- für Arbeitsgemeinschaft Abb.: gleichzeitig ganz Frau mit starker Gefühlsbetei- Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 216

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Hannover–9.1.1848 Hannover), Astronomin, Eh- störung erlitten hatte und schließlich nur 140 cm renmitglied der Royal Astronomical Society, und groß wurde, nicht die Laufbahn einer Hausfrau Sir William H. (1738–1822), Astronom, Entdecker und Mutter vor, sondern die einer Konzertsän- des Planeten Uranus gerin. Doch die Mutter beanspruchte ihre Toch- ter stark im Haushalt. Sie war immer „die kleine Schwester“, die „liebe Nachdem ihr Vater 1760 aus dem Krieg zu- Lina“, die Tochter des Militärmusikers Isaak Her- rückgekehrt war, pflegte ihn Caroline bis zu sei- schel, der ihr Gesangsunterricht gegeben hatte, nem Tod im Jahre 1767. Inzwischen war ihr Bru - und seiner Frau Anna Ilse Moritzen. der William (Friedrich Wilhelm), der um 1757 Caroline Herschel sah stets voller Bewunde- nach England gezogen war, 1766 Organist und rung auf ihren Bruder, den Regimentsmusiker Konzertleiter in Barth geworden. 1772 holte er und Astronomen William Herschel. Ihre eigenen seine Schwester nach England, um ihr dort eine Leistungen leugnete sie, obwohl sie ebenso wie Gesangskarriere zu ermöglichen. Hierfür muss- ihr Bruder große Verdienste auf dem Gebiet der te er sie von seiner Mut- Astronomie erlangte. „Bis an das Ende ihres Le- ter um den mehrjährigen bens versucht sie jeglichen Hinweis auf eine ei- Lohn einer Hausangestell- gene Leistung lediglich als das Verdienst ihres ten „abkaufen“. berühmten Bruders herauszustellen. […] Sie In England führte Ca- wagt zu wissen, will aber dieses Wagnis nicht roline ihrem Bruder den öffentlich eingestehen. Fortgesetzt betont sie, Haushalt; er unterrichtete wie nichtsnutzig, wie unfähig, wie untauglich sie in Gesang, Mathema- sie sei. Dies ist ihre lebenslängliche Demutsgeste tik und Englisch. Schon und Entschuldigung dafür, dass sie sich erkühnt, bald avancierte sie zur leise, aber nachhaltig gegen die Gewalt von Ge- ersten Sängerin bei den wohnheiten anzugehen und sich auf ihre Weise von ihrem Bruder aufge- Caroline Herschel zu nehmen, was einem menschlichen Wesen zu - führten Oratorien. steht: das Recht auf Erkenntnis.“35) In seiner Freizeit wandte sich William Her- Neider nannten Caroline Herschel auch „die schel immer mehr der Astronomie zu. Caroline Kometenjägerin“. wurde seine wissenschaftliche Hilfsarbeiterin. Carolines Eltern bekamen zehn Kinder. Vier Gemeinsam bauten sie Teleskope. Damit ent- von ihnen starben im Kleinkindalter. Der Vater deckte er 1781 den Planeten Uranus, wurde auf wollte allen seinen sechs überlebenden Kindern einem Schlag berühmt und erhielt in Slough (vier Jungen und zwei Mädchen) eine gute Aus- eine Stelle als Astronom König Georg’s III. Ca- bildung in Musik, Mathematik und Französisch roline gab ihre erfolgreiche Laufbahn als Kon- zukommen lassen. Die Mutter empfand dies zertsängerin auf und folgte ihrem Bruder. Der für ihre Töchter jedoch als Zeitverschwendung. englische Hof stellte sie für ein Jahresgehalt von Durch ihren Vater bekam Caroline aber dennoch 50 Pfund Sterling als Gehilfin ihres Bruders ein. Zugang zur Astronomie. Er sah für seine Tochter, Doch schon bald wurde auch Caroline zu einer die auf Grund einer im Alter von zehn Jahren zu- Entdeckerin. Zwischen 1786 und 1797 entdeckte gezogenen Typhuserkrankung eine Wachstums - sie acht Kometen, vierzehn Nebel, berechnete

35) Renate Feyl: Caroline Herschel 1990, zitiert nach: wikipedia: Caroline (1750–1848). Aufbruch in die nicht Herschel (Stand: 28.11.2014). gewollte Selbständigkeit, in: Sophie & Co. Bedeutende Frauen Hannovers. Biographische Portraits. Herausgege- ben von Hiltrud Schroeder. Hannover Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 217

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diese und erstellte einen Katalog für Sternhaufen Hertha-Feiner-Asmus-Stieg und Nebelflecke. Außerdem schrieb sie einen Er- Winterhude, seit 1992, benannt nach Hertha-Fei- gänzungskatalog und ein Gesamtregister zu ner-Asmus (8.5.1896 Hamburg–vermutlich am Flamsteeds Atlas, in dem 561 Sterne aufgeführt 12.3.1943 Selbsttötung während des Transports sind. Für diese Leistung bekam sie höchste An- nach Auschwitz), jüdisches Opfer des National - erkennung. Sie wirkte an 63 Publikationen mit – sozialismus. Lehrerin an der Schule Meerwein- ohne dass ihr Name dort erwähnt wurde. straße Während Caroline Kometen und Nebelfle- Stolperstein vor dem Wohnhaus Stammann- cke entdeckte, hatte ihr Bruder 1788 geheiratet straße 27. und 1792 einen Sohn bekommen. Es schmerzte Caroline, dass sie nun nicht mehr so eng mit Hertha Feiner war die Tochter von Josef Feiner, ihm zusammen sein konnte, denn William inter- Rektor der Anton-Rée-Schule. Sie studierte Päda- essierte sich schließlich nun auch für seine Frau gogik und arbeitete bis 1933 als Lehrerin an der Mary, geb. Pitt und den gemeinsamen Sohn John. Schule Meerweinstraße. Mit 25 Jahren heiratete Als dieser geboren wurde, gab es aber auch für sie Johannes Asmus und bekam mit ihm zwei Caroline fortan noch etwas anders als nur Him- Töchter, geboren 1925 und 1927. melskörper: Sie widmete sich der Erziehung Nach der Machtübernahme durch die Natio- ihres Neffens und konzentrierte sich nicht mehr nalsozialisten wurde Hertha Feiner-Asmus 1933 so intensiv auf ihre eigenen Forschungen, half wegen ihrer jüdischen Herkunft aus dem Schul- ihrem Bruder aber weiterhin bei seinen For- dienst entlassen. Ihr Mann schungen. Durch seine Tante wurde John an die ließ sich von ihr schei den. Naturwissenschaften herangeführt und später Hertha Feiner-As mus ar- Mathematiker und Astronom. beitete nun als Hilfs leh- Nach dem Tod ihres Bruders im Jahre 1822 rerin an einer jüdischen zog Caroline Herschel nach Deutschland zurück Schule. und lebte wieder in ihrer Heimatstadt Hannover, „Im April 1935 bot wo sie weiterhin astronomische Studien betrieb sich ihr die Möglichkeit und von berühmten Gelehrten besucht wurde. einer Anstellung an einer Caroline Herschel erhielt viele Auszeich- jüdischen Schule in Ber- nungen. So bekam sie 1828 als erste Frau von lin, und sie wagte gemein- Hertha Feiner-Asmus der „Royal Astronomical Society“ die Goldme- sam mit ihren Kindern daille verliehen. 1835 wurde sie deren Ehrenmit- den Umzug. Bis Mitte 1938 konnte sie an der glied. 1846 erhielt sie vom preußischen König ‚Jüdischen Waldschule‘ in Grunewald tätig sein, Friedrich Wilhelm IV. die Goldene Medaille der danach wechselte sie an eine Schule in der Nähe Preußischen Akademie der Wissenschaften. Ein des jüdischen Gemeindezentrums in der Fasa- Mondkrater im Sinus erhielt den Namen Caro- nenstraße. Sie versuchte weiter, mit ihren Töch- line Herschel, und der Kleinplanet Lucretia wur- tern ein halbwegs normales Leben zu führen de nach Carolines zweitem Vornamen benannt. und die wachsenden Repressionen der National- sozialisten von ihrer Welt fernzuhalten. Der No-

Abb. v.l.n.r.:Abb. Thälmann Busse 1847) | Gedenkstätte Ernst Heinrich Georg (Stich Kupferstichkabinett Kunsthalle, Hamburger vemberpogrom 1938 veranlasste sie allerdings, Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 218

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nach einer Möglichkeit zu suchen, ihre Kinder Deportation durch das ‚halbjüdische‘ Kind er- außer Landes zu bringen. Durch die Vermittlung hoffte. Gleichzeitig erkannte sie, dass ihr Ex- des Vaters konnten die Mädchen ab Anfang 1939 Mann mit Hilfe von Harald Baruschke, dem auf ein Internat in der Schweiz wechseln. Im Internatsleiter in der Schweiz, versuchte, ihren Sommer 1939 besuchten sie noch einmal ihre Briefkontakt zu den Töchtern zu behindern oder Mutter in Berlin, danach waren nur noch Brief- gar zu unterbinden. (…) kontakte und gelegentliche Telefonate möglich. Anfang 1943 unterbanden der Vater und Dennoch nahm sie aus der Ferne lebhaften An- seine zweite Frau Hermine Asmus jeden Brief- teil am Wohlergehen der Töchter, erkundigte kontakt zwischen Hertha Feiner und ihren Kin- sich, wie es ihnen auf der Schule erging und ver- dern, ihre letzten Briefe aus Berlin wurden den suchte, ihnen Rat und Hilfe mit auf den Lebens- Mädchen vorenthalten. weg zu geben. Am 10. März 1943 wurde Hertha Feiner ver- Die Lebensumstände von Hertha Feiner in haftet und am 12. März 1943 auf den Transport Berlin wurden weiter erschwert, insbesondere nach Auschwitz geschickt. Während der Zug- seit dem Kriegsbeginn im September 1939: Über fahrt nahm sie sich das Leben mit einer Zyanka- jüdische Bürgerinnen und Bürger wurde eine likapsel, die ihr ein befreundeter Apotheker be- abendliche und nächtliche Ausgangssperre ver- schafft hatte. hängt, und sie durften nur noch in bestimmten An der Schule Meerweinstraße erinnern Läden einkaufen. Die jüdische Gemeinde konnte eine Gedenktafel und das ‚Denk-Mal gegen Aus- Hertha Feiner ihr knappes Gehalt nicht immer grenzung‘ an Hertha Feiner und ihre ebenfalls pünktlich zahlen, sodass sie Untermieter in ihre ermordete Kollegin Julia Cohn [siehe Ü Julia-Cohn- Wohnung aufnahm. Bei alldem genoss sie noch Weg, in diesem Band].“36) das ‚Privileg‘ ihre Wohnung behalten zu dür- Text: Ulrike Sparr fen, da ihre ‚halbjüdischen‘ Kinder weiterhin Siehe auch Ü Julia-Cohn-Weg, in diesem Band. zu ihrem Haushalt zählten. Seit dem Frühjahr 1940 begann sie, ihre Auswanderung in die USA vorzubereiten – zu spät, um noch vor dem im Herthastraße Okto ber 1941 verhängten Auswanderungsverbot Bramfeld, um 1887, benannt nach der Tochter Deutschland verlassen zu können. des Bramfelder Bauern Siemers Das jüdische Schulwesen wurde zu Beginn der 1940-er Jahre stark eingeschränkt, sodass zahlreiche Lehrer und Lehrerinnen entlassen Hexenberg werden mussten. Im November 1941 traf dies Altona, früher Wilhelminenstraße, 1950 umbe- auch Hertha Feiner, die daraufhin zur Arbeit in nannt in Hexenberg. Flurname der jüdischen Gemeinde zwangsverpflichtet wurde. Dort musste sie bei den administrativen Hexenstieg Vorbereitungen der Deportationen mitarbeiten. Rissen, seit 1980. Benennung in Anlehnung an Seit dem Sommer 1942 versuchte sie zu errei- Hexentwiete chen, dass zumindest die jüngere ihrer Töchter zu ihr zurückkehrte, da sie sich Schutz vor der

36) Benutzte Literatur: Hertha Fei- lerinnen und Schülern der Schule ner: Vor der Deportation, Briefe an Meerweinstraße, ca. 1990); Aus- die Töchter Januar 1939–Dezember künfte von Frau Dr. Inge Flehmig, Au- 1942, Frankfurt 1993; Hertha Feiner- gust 2008. Asmus (Dokumentation einiger Briefe, zusammengestellt von Schü- Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 219

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Hexentwiete und ihr Frauenhaus erinnert) eine Art Frauenhaus Rissen, seit 1928, benannt nach dem Hohlweg, ein, wo sich Frauen Rat und Schutz holen konn- der durch einen dunklen Tannenwald führt. Dem ten. 1899 eröffnete sie eine Handelsschule für Volksglauben entsprechend sollen sich dort Mädchen. Hexen aufgehalten haben Ab ihrem 35. Lebensjahr studierte sie in Ber- lin und München sechs Semester Sozialwissen- Siehe auch Ü Dianaweg, in diesem Band. schaften. Gleichzeitig engagierte sie sich in der Siehe auch Ü zu Frauen, die als Hexen beschul- digt wurden: Mette-Harden-Straße, in diesem radikalen bürgerlichen Frauenbewegung und Band und im Nachtrag Albeke-Bleken-Ring. gründete 1896 mit Helene Bonfort die Ortsgrup pe Siehe auch Ü Teufelsbrück, Nienstedten, seit Hamburg des Allgemeinen Deutschen Frauen- 2003. Nach der benachbarten Landungsbrücke vereins. Hier stellten sich Teufelsbrück, siehe Bd. 3 online**. Differenzen zwischen den „Gemäßigten“, zu denen Helene Bonfort gehörte, Heymannstraße und den „Radikalen“ ein. Eimsbüttel, seit 1950, benannt nach Lida Gustava Die „Radikalen“, zu denen Heymann (15.3.1868 Hamburg–31.7.1943 im Exil Lida Gustava Heymann in Zürich), Frauenrechtlerin der radikalen bürger- zählte, wollten sich nicht lichen Frauenbewegung nur mit Wohlfahrtsange- legenheiten beschäftigen, Lida Gustava Heymann Lida Gustava Heymann wuchs mit vier Geschwis- sondern forderten ein stär- tern in einem reichen Hamburger Kaufmanns- keres politisches Engage- haus auf. Sie besuchte eine Höhere Töchterschule ment. Vehement traten sie für die volle staatsbür- und später fünf Jahre lang ein Mädchenpensio- gerliche Gleichstellung der Frau ein. 1898 kam nat in Dresden. Zurückgekehrt ins Elternhaus, es zur Abspaltung der „Radikalen“. Lida Gusta va weigerte sie sich, das Dasein einer höheren Toch- Heymann gründete 1900 mit den Abtrünnigen ter zu führen und unterrichtete stattdessen an eine Ortsgruppe des Vereins Frauenwohl, der einer Armenschule. Von ihrem Vater wurde sie 1888 in Berlin entstanden war. Um der Forde- als Verwalterin seines Sechs-Millionen-Nach - rung nach der staatsbürgerlichen Gleichstellung lasses bestimmt. Als er starb, bedurfte es immen- der Frau Nachdruck zu verleihen, gründeten 1902 ser Auseinandersetzungen mit dem Hamburger Lida Gustava Heymann, Dr. Anita Augspurg und Staat, bis Lida Gustava Heymann dieses Amt an- Minna Cauer in Hamburg den Deutschen Verein treten konnte. für Frauenstimmrecht. Hamburg wurde damit In ihrer Funktion als Nachlassverwalterin zum Zentrum der Stimmrechtsbewegung. Der versuchte sie soziale Not zu lindern und sich für Verein, der 1903 in Deutscher Verband für Frau- Fraueninteressen einzusetzen. 1896 gründete sie enstimmrecht umbenannt worden war, organi- einen Mittagstisch für erwerbslose Frauen mit sierte 1904 in Berlin den Gründungskongress angegliedertem Kindergarten. 1897 richtete sie in des Weltbundes für Frauenstimmrecht. der Paulstraße 9 (heute steht hier die Europapas - Die Frauenstimmrechtsbewegung war zu-

Abb.: Bundesarchiv Abb.: sage, in der eine Tafel an Lida Gustav Heymann nächst sehr erfolgreich. Als aber infolge der preu-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 220

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ßischen Wahlrechtsreformbestrebungen der Deut - ten und arbeiteten sie in Hamburg und Berlin, sche Verband für Frauenstimmrecht seine For- ab 1907 waren München und Berlin ihre Haupt- derung konkretisierte und auf der zweiten Ge- wirkungsstätten. Im März 1916 erhielt Lida Gus- neralversammlung im Jahre 1907 das allgemeine tava Heymann vom bayerischen Kriegsministe- und gleiche Stimmrecht für alle einklagte, kam rium ein Schreiben, aus dem hervorging, dass es zu heftigen Kontroversen. Ein Teil der Frauen die von der Deutschen Friedensgesellschaft, der meinte, diese Forderung widerspräche der „Neu- Friedens vereinigung München und dem Bund tralität“ der Frauenbewegung und schlösse sich Neues Vaterland betriebene pazifistische Agita- der SPD an, die sich auch zum gleichen und all- tion die öffentliche Sicherheit gefährde. Das Mi- gemeinen Wahlrecht für Frauen und Männer be- nisterium drohte Lida Gustava Heymann, ihr den kannte. Es kam zur Spaltung der Frauenstimm- Aufenthalt in Bayern zu verbieten. 1917 wurde rechtsbewegung. Lida Gustava Heymann und sie ausgewiesen. Zwei Jahre später kehrte sie zu- ihre Lebensgefährtin Dr. Anita Augspurg gründe- rück und nahm am Münchner Rätekongress teil. ten daraufhin 1913 zusammen mit Minna Cauer Von 1919 bis 1933 gab sie zusammen mit Dr. Ani - den Deutschen Frauenstimmrechtsbund. ta Augspurg die Zeitschrift „Die Frau im Staat“ Seit Beginn des Ersten Weltkrieges stand in heraus. Schwerpunktthemen waren: Friedens- der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung der politik und Völkerverständigung. Ein parteipoli- Kampf für Frieden an erster Stelle. Die Frauen- tisches Engagement lehnten beide Frauen ab. Sie stimmrechtsfrage wurde dabei aber nicht verges- hatten 1908 ihre negativen Erfahrungen mit der sen. Vielmehr wurde ein enger Zusammenhang liberalen deutschen freisinnigen Partei gemacht. zwischen der politischen Gleichberechtigung der Männerpolitik und Männerparteien kamen für Frauen und der Friedensfrage gesehen. Man war sie nicht mehr in Frage. der Überzeugung, dass erst dann, wenn Frauen Als sich Lida Gustava Heymann und Dr. Einfluss auf die Politik hätten, Kriege vermeid- Anita Augspurg Ende Januar 1933 im Ausland bar würden. Lida Gustava Heymann und zahl- befanden, wurde Lida Gustava Heymanns nicht reiche andere Frauen aus vielen Ländern der unerheblicher materieller Besitz beschlagnahmt Welt organisierten den ersten internationalen Frie - und sie selbst expatriiert. Die beiden Frauen blie- denskongress, der vom 28. April bis 1. Mai 1915 ben in der Schweiz im Exil. Auch in der Emi- in Den Haag stattfand. gration ging ihr Kampf für den Frieden weiter, Lida Gustava Heymann und Dr. Anita Augs- immer wieder riefen sie zum Boykott gegen Hit- purg waren auch Mitbegründerinnen der Inter- ler-Deutschland auf. nationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit Beide starben kurz nacheinander im Jahre (IFFF), die im Mai 1919 in Zürich gegründet wur- 1943.37) de und im Juni 1919 in Frankfurt am Main eine Siehe auch Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, in diesem Band. deutsche Sektion erhielt, in der Heymann und Augspurg führend tätig waren. Lida Gustava Heymann wohnte mit ihrer Hilda-Monte-Weg Lebensgefährtin Dr. Anita Augspurg, die sie 1896 Bergedorf, seit 1986, benannt nach Hilde Meisel. auf dem Internationalen Frauenkongress in Ber- Pseudonym: Hilda Monte (31.7.1914 Wien– 18.4.

lin kennengelernt hatte, zusammen. Zuerst leb - 1945 Tisis bei Feldkirch), Schriftstellerin, Wider- 1956, S.19. Frankfurt/Main Berlin, 1933–1945, Widerstand deutschen dem aus Lebensbilder 64 auf, steht Gewissen Das Leber, Annedore Aus: Abb.:

37) Vgl.: Lida Gustava Heymann in bürgerlicher Frauenvereine in Ham- Zusammenarbeit mit Anita Augspurg: burg. Hamburg 1997. Erlebtes und Erschautes. Hrsg. v. Margrit Twellmann. Frankfurt a. M. 1982; Kirsten Heinsohn: Politik und Geschlecht: Zur politischen Kultur Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 221

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standskämpferin gegen den Nationalsozia- Nachdem der jüdische Händler Berthold Wal- lismus. Motivgruppe: Verdiente Frauen ter (19.3.1877 München–7.8.1935 Suizid Ham- burg) wegen der ihm durch die Nationalsozialis- Hilde Meisel, so ihr richtiger Namen, war jüdischer ten zugefügten Repressalien und Schikanen aus Herkunft. Im Alter von fünfzehn Jahren schrieb dem siebten Stock des Gebäudes der Hamburger sie für das Berliner Blatt des Internationalen Finanzbehörde am Gänsemarkt in den Tod ge- Sozialistischen Kampfbundes „Der Funke“. Als sprungen war,38) schrieb Hilda Monte aus Betrof- die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, fenheit über seinen Tod das nachstehende Ge- war sie in England und dicht. nahm von dort ihre Wider- Hamburg 1935 standstätigkeit gegen Hit- Von dieser Brüstung werde ich gleich springen. ler-Deutschland auf. Über Gleich wird mein Körper auf dem Hof den Internationalen So- zerschellen. zialistischen Kampfbund Ich höre noch den Bettler drüben singen, Ich höre einen Hund ein Pferd anbellen. fand sie Kontakt zu poli- Bleich werde ich gestorben sein. tischen Freunden in ver- schiedenen Ländern. Un- Ich sterbe mitten im Gewühl der Stadt, und nicht im Kämmerlein mit Veronal, ter dem Decknamen Hilda denn wer den Todessprung verschuldet hat, Monte brachte sie ihren Hilda Monte wer schuldig ist an meiner Lebensqual, GesinnungsgenossInnen soll ihren schreckensvollen Ausgang sehn. in Deutschland Literatur Zwei Jahre lebte ich als Emigrant und Informationen und half auch so manchem Und konnte Frau und Kinder nicht ernähren, bei der Flucht aus Deutschland. Während des und sehnte mich nach meinem Heimatland. Krieges schrieb sie in englischer Sprache die Schließlich entschloss ich mich, zurückzu- Novelle „Where Freedom Perished“. Mit dieser kehren, Schrift wollte sie im Ausland die Lage der Deut- verzweifelt, und verängstigt, und verzagt. schen, die unter der nationalsozialistischen Ein alter Jude, schwach und hoffnungslos, Diktatur litten, verständlich machen. Sie veröf- Kehrt’ ich zurück ins Deutschland der Barbaren. fentlichte außerdem das Buch „The Unity of Eu- Ich wollte arbeiten. Ich wollte bloß rope“. den Kindern, die so lange hungrig waren, Selbst während des Krieges versuchte sie ein wenig Brot und Kleidung noch verschaffen. immer wieder, nach Deutschland zu kommen. Ihr ließet es nicht zu. Ihr seid so roh! 1939 unternahm sie diesen Versuch über Lissa- Ach, wüsstet ihr, wie meine Kinder froren, bon, musste jedoch auf halbem Wege umkehren als ich von ihnen ging. Sie weinten so … Doch ihr habt eure Seelen längst verloren, seit und nach England zurückkehren. 1944 gelang euch das Hitlerreich die Freiheit nahm. es ihr, über die Schweiz und Österreich nach Er ist so mächtig! Kann ich meine Kinder Deutschland zu kommen. Im Frühjahr 1945 schützen wurde sie auf dem Rückweg von Deutschland vor Banden, die sich frech Regierung nennen? in die Schweiz von einer SS-Patrouille beim ille- Was kann ich alter Jud den Kleinen nützen? galen Grenzübertritt erschossen.

38) Vgl. Thomas Nowotny, Enkel von Berthold Walter, zu Berthold Walter, in: Rita Bake: Verschiedene Welten II. 109 historische und aktuelle Statio- nen in Hamburgs Neustadt. Hamburg 2010, S. 192. Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 222

222 Biographien von A bis Z / H

Vielleicht, wenn sie mich nicht mehr kennen, ers von Hugdietrich, König von Konstantinopel, wird ihnen irgendwo ein Tor zur Welt. und Hildburg geschildert. Hildburg wurde von Drum geh ich fort. Doch geh ich nicht im Stillen. ihrem Vater in einen Turm eingeschlossen, um SA-Mann dort: in einem Augenblick sie vor sexuellen Abenteuern und Übergriffen zu hörst du die aufgeschreckte Masse brüllen: schützen. Doch Hugdietrich verschaffte sich, ver- „Ein Mann fiel, und er brach sich das Genick. kleidet als seine Schwester, Zutritt zu Hildburg. Und dieser Mann – es war ein armer Jude.“ Sie wurde schwanger und gebar Wolfdietrich JUDE (siehe Ü Wolfdietrichweg, in Bd. 3 online**). Die- Man drängt um seinen Leichnam. Zieht den Hut. ser wurde im Wald ausgesetzt und von Wölfen Doch wenn du kommst, weicht angstvoll man als Wolfskind angenommen und aufgezogen. zurück. Eines Tages wurde Wolfdietrich von seinem Dein braunes Hemd, es riecht so stark nach Blut – und aus dem toten Körper saugt ein Blick Großvater gefunden, der das Kind zu seiner anklagend sich an deinem Auge fest. Tochter Hildburg brachte. Nun hatte Hildburg Beklommen starrst du auf den toten Mann, ihren Sohn wieder. Und damit alles seine Ord- siehst Kinder um den alten Juden weinen, nung hatte, wurde ihr erlaubt, ihren Schwänge- und selbst die arischdeutsche Marktfrau kann, rer, den Vater Wolfdietrichs, zu heiraten. so sehr sie sich bemüht, nicht teilnahmslos Siehe auch Ü Wolfdietrichweg, Lokstedt, seit erscheinen – 1956, Wolfdietrichsage, in Bd. 3 online**. Barsch forderst du zum Weitergehen auf. Man geht. Man wendet sich noch einmal um – Hildegardweg ein letzter Blick – birgt er nicht ein Verstehen? Fuhlsbüttel, seit 1951. Frei gewählter Name Birgt er die Frage nicht an diese Zeit: Warum müssen wir über dieses Juden Leiche gehen? Und das Geständnis: Unser ist die Schuld? Hildeweg Ich bin ein Jude. Und ich sterbe hier, Rissen, seit 1954, benannt nach Hilde von In- damit ihr denken möget an das Leben dien. Gestalt aus der Gudrunsage, anonymes der Abertausend, über die, gleich mir, ihr euer Todesurteil abgegeben. Heldenepos um 1240 Wer seid ihr, dass ihr unsere Richter seid? „Es gab eine germanische Hildesage, die durch skandinavische Quellen bezeugt ist. Danach ist Hildburgweg Hilde, König Högnis (Hagens) Tochter, mit Hedin Lokstedt, seit 1965, benannt nach der Sagenge- entflohen, wurde von Högni verfolgt, und es stalt aus dem Wolfdiet rich-Epos B (von Saloniki). kam zur Schlacht, in der Högni und Hedin [Het- 13. Jahrhundert tel] sich gegenseitig töteten. Hilde soll die am Tag Gefallenen nachts wieder zum Leben er- Der Stoff des „Wolfdietrich“-Epos wird auf eine weckt haben, so dass der Kampf immer von fränkisch-merowingische Tradition zurückgeführt neuem begann. Ob es daneben eine eigene Kud- und ist in mehreren Fassungen überliefert, die runsage gab oder ob der ‚Kudrun‘-Dichter die sich inhaltlich unterscheiden. Im „Wolfdietrich Handlung des Hauptteils selbständig komponiert B“ wird der Held als Frucht eines Liebesabenteu- hat, ist umstritten.“39)

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

39) Joachim Bumke: Geschichte der deutsche Literatur im hohen Mittelal- ter. München 2004, S. 272. Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 223

Biographien von A bis Z / H 223

Hagen, Sohn des irischen Königs Sigbant, Hilde-Wulff-Weg wird im Alter von sieben Jahren von einem Greif Jenfeld, seit 2014, benannt nach Hilde (Hilde- auf eine Insel entführt, auf der bereits drei ent- gard) Wulff (7.1.1898 Dortmund–23.7.1972 Ham- führte Königstöchter leben. Hagen besiegt den burg), Gründerin und langjährige Leiterin des Greif und kehrt mit den Mädchen, darunter Hil - Heimes „Im Erlenbusch“ in Volksdorf; Verfolgte de von Indien, nach Irland zurück. Hagen und des Nationalsozialismus (Text laut Amtlichem An- Hilde heiraten und bekommen eine Tochter, die zeiger vom 14.11.2014). Da Hilde Wulff Gegnerin sie ebenfalls Hilde nennen. Hilde juniora wird des Nationalsozialismus war und Widerstand von König Hetel (siehe Hettelstieg, Ü in Bd. 3 on- leis tete, wurde sie in dieser Publikation in die Ka- line**) von Dänemark begehrt. Er läßt sie durch tegorie „Widerstandskämpferinnen/Gegnerinnen seinen Lehnsmann, den Sänger und Krieger Ho- des Nationalsozialismus“ eingeordnet. rand (siehe Ü Horandstieg, in Bd. 3 online**) und Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem dessen Freund Frute (siehe Ü Fruteweg, in Bd. 3 Ohlsdorfer Friedhof. online**), die sich als Kaufleute verkleiden, ent- führen. König Hagen versucht seine Tochter zu befreien, doch wird nach heftigem Kampf Frie- Hildegard Wulff zählt zu jenen Hamburger Per- den geschlossen: Hagen gibt seine Zustimmung sönlichkeiten, die Bereiche des öffentlichen Le- zur Eheschließung seiner Tochter Hilde mit dem bens maßgeblich beein- Entführer Hetel. Die Tochter des Paares ist Kud - flusst und die Geschichte run (siehe Ü Gudrunstraße, in diesem Band), um der Stadt entscheidend deren Hand später drei Könige kämpfen: Sieg- mitgeprägt haben. Trotz fried von Morland, Hartmut von Ormanie (sie- ihres beruflichen Engage- he Ü Hartmutkoppel, in Bd. 3 online) und Herwig ments für Kinder, die von von Seeland (siehe Ü Herwigredder, in Bd. 3 on- der Gesellschaft als behin- line**), die zunächst alle abgewiesen werden. dert eingestuft wurden, Daraus ergeben sich andauernde kriegerische weil sie nicht der gesell- Auseinandersetzungen. schaftlichen Norm ent- Text: Birgit Kiupel sprachen, und ihrer ent- Hildegard Wulff Siehe auch Ü Gerlindweg, in diesem Band. schiedenen Ablehnung des Siehe auch Ü Fruteweg, Rissen, seit 1949: Hel- NS-Regimes ist sie in der Öffentlichkeit jedoch dengestalt aus der Gudrunsage, in Bd. 3 on- nur einem kleineren Kreis bekannt. line**. Geboren wurde sie als Tochter eines begü- Siehe auch Ü Hartmutkoppel, Rissen, seit 1952, terten Kaufmanns in Dortmund. Im Alter von nach einer Gestalt aus der Gudrunsage, in Bd. 3 online**. zwei Jahren erkrankte Hildegard Wulff, die mit ihren Eltern und den zwei Schwestern nun in Siehe auch Ü Herwigredder, Rissen, seit 1949, Gestalt aus der Gudrunsage, in Bd. 3 online**. Düsseldorf wohnte, an Kinderlähmung und ent- Siehe auch Ü Hettelstieg, Rissen, seit 1954, sprach ab diesem Zeitpunkt nicht mehr der ge- König Hettel, Gestalt aus der Gudrunsage, in sellschaftlichen Norm. 1920 begann sie eine Aus - Bd. 3 online**. bildung zur Heilpädagogin. Nach Abschluss der

Abb.: Aus: Petra Fuchs, Hilde Wulff 1898–1972. Leben im Paradies der Geradheit, Münster 2003. der Geradheit, im Paradies 1898–1972. Leben Wulff Hilde Fuchs, Aus: Petra Abb.: Ausbildung übernahm sie eine leitende Funktion

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 192-225 H:. 27.07.15 12:27 Seite 224

224 Biographien von A bis Z / H

in der von ihr und ihrem Vater ins Leben gerufe- Noch im selben Jahr erhielt Hildegard Wulff nen Stiftung „Glückauf für Kinderfürsorge Düs- für den „Erlenbusch“ die staatliche Anerken- seldorf“. 1923 wurde sie Mitglied im „Selbsthil- nung als privat geführtes Kinderheim für Kinder febund der Körperbehinderten“ in Düsseldorf und Jugendliche mit „Behinderung“. und Berlin. Hildegard Wulff engagierte sich stark 1937 gründete Hildegard Wulff, in deren für die Autonomie von Menschen mit „Behinde- Heim rund 25 als „körperbehindert“, „psychisch rung“. Außerdem belegte sie in dieser Zeit Vor- krank“ sowie „schwer erziehbar“ eingestufte Kin- lesungen in Psychologie und Pädagogik an den der lebten, eine Heimschule und stellte dazu Universitäten Frankfurt a. M. und Hamburg. eine staatlich finanzierte Lehrerin ein. Hildegard Wulff setzte sich in den 1920-er Gemeinsam mit ihrer in unmittelbarer Nach- Jahren zunächst in Düsseldorf und später in barschaft lebenden Freundin und Vertrauten Ber lin insbesondere für eine gute Schulbildung Hermine Albers (1884–1955) (siehe Ü Hermine-Al- für Kinder mit körperlicher so genannter Behin- bers-Straße, in diesem Band), die in der Hambur- derung ein und für die gemeinsame Erziehung ger Jugendhilfe arbeitete, leistete Hildegard Wulff „behinderter“ und „gesunder“ Kinder. 1931 grün- Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Ihr dete sie die „Krüppelhilfe und Wohlfahrt GmbH“ Heim wurde Zufluchtsort für Kinder kommu - in Düsseldorf, die sie aus der Erbschaft ihres Va- nistischer, inhaftierter Eltern. Auch half Hilde- ters finanzierte. Hildegard Wulff war die alleini - gard Wulff vielen jüdischen Emigrantinnen und ge Gesellschafterin und Geschäftsführerin dieser Emigranten und kommunistischen Widerstands- Einrichtung, deren Ziel es war, „unentgeltliche kämpferinnen und -kämpfern. Hilfe für Krüppel“ zu leisten. Von 1933 bis 1935 1941 konnte sie durch hartnäckiges Verhan- führte Hilde gard Wulff ein Heim für Kinder mit deln mit den Hamburger Behörden verhindern, „körperlicher Behinderung“ und sozial benach- dass ihr Heim beschlagnahmt wurde. teiligte Kinder in Berlin-Charlottenburg. Dieses 1945, nach dem Ende des NS-Regimes, über- Heim bot Platz für zehn Kinder. gab Hildegard Wulff die Schule an die Schulbe- Nachdem 1935 der Mietvertrag für das Heim hörde. Ihr Volksdorfer Heim führte sie noch bis ausgelaufen war, zog Hilde Wulff mit diesen Kin- 1964 selbst und übergab es dann der Martha- dern in die Klöppersche Villa nach Hamburg- Stiftung, die ihre Lebensarbeit seitdem weiter- Volksdorf. Dieses Haus hatte sie bereits 1931 er- führt. worben, nachdem sie in Düsseldorf für ihre Siehe auch Ü Hermine-Albers-Straße, in diesem „Krüppelhilfe und Wohlfahrt GmbH“ keine Bau- Band. genehmigung für einen Neubau erhalten hatte. Doch sie hatte das Haus wegen finanzieller Pro- bleme zunächst noch nicht genutzt und es un- Himmelstraße entgeltlich der Hamburger Wohlfahrtsbehörde für Winterhude, seit 1877, benannt nach der Ehefrau die Kinder- und Jugendfürsorge überlassen. Nun des Grundbesitzers, die mit ihrem Geburtsnamen aber, im Oktober 1935, bezog sie mit ihren Kin- Maria Himmel hieß dern die Villa in Volksdorf, der sie wegen der die Villa um ge benden Landschaft den Namen „Im Erlenbusch“ gab. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 225

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Hohe Bleichen* Neustadt, seit 18. Jahrhundert (sieheÜ Große Bleichen, in diesem Band). Wiesen, auf denen die Bürgerinnen ihre Wäsche bleichen konnten. I

Ida-Boy-Ed-Straße In Berlin versuchte Ida Boy-Ed sich als Jour- Bergedorf, seit 1927, benannt nach Ida Boy-Ed, nalistin eine Existenz aufzubauen. Auch begann geb. Ed (17.4.1852 Bergedorf–13.5.1928 Trave- sie Theaterkritiken zu schreiben und sich wieder münde), Schriftstellerin ihrer schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Doch ihre Freiheit währte nur ca. zwei Jahre. Ihr Ehe- Ida Ed wurde als Tochter des Reichstagsabgeord- mann willigte nicht in die Scheidung ein und die neten und Verlegers Christoph Marquard Ed und Lübecker Familie nötigte sie zur Rückkehr nach seiner Frau Friederike Amalie, geb. Seltzam, die Lübeck. So kam sie 1880 vor ihrer Ehe als Putzmacherin gearbeitet hatte, zu rück, wurde aber fort an in Bergedorf geboren. Als Ida dreizehn Jahre alt nicht mehr am Schreiben war, zog die Familie nach Lübeck. Ihr Vater gab gehindert. 1882 veröffent- die Eisenbahn-Zeitung (Vorläuferin der Bergedor- lichte Ida Boy-Ed ihr ers- fer Zeitung) heraus und veröffentlichte Romane tes Buch, die Novel len- und Erzählungen. Das Wohn- und Verlagshaus in sammlung „Ein Tropfen“. der Petersgrube 29 wurde zu einem literarischen Bis zu ihrem Tod schrieb Mittelpunkt. Vater Marquard Ed unterstützte die und veröffentlichte sie ca. literarischen Ambitionen seiner Tochter. 70 Bücher. Als Ida Ed achtzehn Jahre alt war, heiratete Ihre Romane spielen Ida Boy-Ed sie den Großkaufmann Karl J. Boy. Ein Jahr nach hauptsächlich in Kreisen der Hochzeit kam das erste Kind zur Welt; es des hanseatischen Bürgertums, so z. B. der Ro - folg ten bis 1877 noch weitere drei Kinder. Da Idas man „Ein königlicher Kaufmann“ (1910) und literarisches Schaffen im Haus ihrer Schwie - „erweisen sich als typisch kultivierte Frauenli- gereltern belächelt und dann sogar verboten teratur, als literarisch gehobene Abwandlungen wurde und darüber hinaus die Ehe nicht harmo- der Motive der Marlitt und ihrer Nachfolgerin- nisch verlief, trennte sich Ida Boy-Ed 1878, ein nen, gekennzeichnet durch Schwanken zwischen Jahr nach der Geburt des vierten Kindes, von ih- Konservativismus der Moralregeln und Libera- rem Mann und zog mit ihrem ältesten Sohn (geb. lismus des Handelns“, heißt es in der Neuen 1872) nach Berlin, während ihre drei anderen Deutschen Biographie über Ida Boy-Eds literari-

Abb.: Aus: Michael Holzinger (Hrsg.), Ida Boy-Ed: Essays und Autobiographisches, Umschlagfoto. Essays und Autobiographisches, Aus: Michael Holzinger (Hrsg.), Ida Boy-Ed: Abb.: Kin der bei ihrer verwitweten Schwester blieben. sches Schaffen.

* Straßennamen auf unterlegtem Feld verweisen auf Frauenorte, Frau- enarbeiten und -aktivitäten. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 226

226 Biographien von A bis Z / I

Nach dem Tod ihres Vaters wurde Ida Boy- Ida-Ehre-Platz Ed Mitherausgeberin der Eisenbahn-Zeitung, in Altstadt, ab Mitte 2000. Umbenennung des Teils der z. B. auch Heinrich Mann veröffentlichte. des Gerhart-Hauptmann-Platzes, welcher von der Durch ihn lernte sie Heinrichs jüngeren Bruder Mönckebergstraße zur Steinstraße führt. Benannt Thomas Mann (siehe Ü Thomas-Mann-Straße, in nach Ida Ehre (9.7.1900 Prerau/Mähren–16.2.1989 Bd. 3 online**) kennen, den sie in seinen jungen Hamburg), Schauspielerin, Regisseurin und Prin- Jahren auf seinem Weg zum Schriftsteller för- zipalin der Hamburger Kammerspiele in der Har- derte. Bis zu ihrem Tod 1928 standen beide in tungstraße. Erste Ehrenbürgerin Hamburgs Korrespondenz miteinander. Er besuchte sie Ihr Grab befindet sich auf dem Ohlsdorfer Fried- auch des Öfteren in ihrer Lübecker Wohnung im hof Lage: O 6,6. Zöllnerhaus am Burgtor, in der sie einen kultu- rellen Salon führte und in der sie dauerhaftes Wohnrecht besaß. Dieses hatte ihr der Lübecker Ida Ehre wuchs mit fünf Geschwistern auf und Senat 1912 anlässlich ihres 60. Geburtstages als musste durch den frühen Tod ihres Vaters, einem Dank für ihre Verdienste eingeräumt. Oberkantor, „äußeren“ Mangel erfahren. Ihre Mut - „Ida Boy-Eds politisches Weltbild hat Tho- ter Berta Ehre versuchte mit Nähen den Lebens- mas Mann glücklicherweise nicht lange geteilt. unterhalt zu verdienen. Eine Wiederverheiratung Mit den ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘ be- kam für sie nicht in Frage, sie wollte ihren Kin- wegte er sich noch auf ihrer Wellenlänge, und dern keinen zweiten Vater geben. Die Mutter so hat sich die alte Dame, als diese im Oktober verstand es, ihre Kinder mit Einfühlungsvermö- 1918 erschienen, denn auch beeilt, das Buch in gen, Herzenswärme und Toleranz zu freien Men- den ‚Lübeckischen Blättern‘ mit den Worten: schen zu erziehen und ihnen „viele, viele Tugen- ‚Dies Werk ist in höchstem Grade aktuell‘, anzu - den“ zu vermitteln, um deren Erhalt Ida Ehre zeigen und als Beleg dafür Thomas Mann zu zi- sich zeitlebens bemühte. Besonders wurde ihr tieren: ‚Ich bekenne mich tief überzeugt, daß der Satz zum Leitfaden, den ihr die Mutter am das deutsche Volk die politische Demokratie nie- Abend vor ihrem Abtransport nach Theresien- mals wird lieben können, (…) daß der vielver- stadt, als sie schon in einer Schule interniert war, schrieene ‚Obrigkeitsstaat‘ die dem deutschen durchs Fenster zugerufen hatte: „Mein geliebtes Volke angemessene, zukömmliche und von ihm Kind, die Welt kann nur miteinander leben, wenn im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.‘“1) das Wort Liebe großgeschrieben ist. Liebe und Ida Boy-Ed, die 1904 Witwe geworden war, Toleranz – nicht hassen, nur lieben.“ Die Mutter förderte auch den Dirigenten Wilhelm Furtwäng - und eine Schwester wurden im KZ ermordet. ler und machte sich für seine Berufung nach Lü- Die Mutter war es auch, die Ida Ehres schau- beck stark. spielerische Begabung, die schon in der Schul- Seit 1906 war Ida Boy-Ed gehörleidend. Häu - zeit auffiel, ernst nahm. fig weilte sie in den Wintermonaten in Ägyp ten. Ida Ehre erhielt in Wien, wohin die Mutter Am 13. Mai 1928 starb sie in einem Travemün- mit ihren Kindern gezogen war, ein Stipendium der Sanatorium. an der K. u. K.-Akademie für Musik und darstel- Siehe auch Ü Thomas-Mann-Straße, in Bd. 3 lende Kunst. Nach der dreijährigen Ausbildung online**. und den folgenden vielen Aufenthalten an ver-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

1) Matthias Wegner: Hanseaten. Von stolzen Bürgern und schönen Le- genden. München 2008, S. 267. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 227

Biographien von A bis Z / I 227

schiedenen Bühnen kam Ida Ehre 1931 nach von neuem. Siebzehn Jahre lang lebten Bern- Ber lin, wo sie für den Rundfunk arbeitete und hard Heyde, Ida und Wolfgang in einer gemein- einen Filmvertrag erhielt. Doch der Film wurde samen Wohnung in der nicht mehr gedreht. Mit der Machtübernahme Hallerstraße. Dann stellte durch die Nationalsozialisten erhielt Ida Ehre Wolfgang ein Ultimatum. Be rufsverbot. Ida Ehre bat ihren Mann, Ihr Mann, der Arzt Dr. Bernhard Heyde, den sie gehen zu lassen. Er je- sie geheiratet hatte, als die gemeinsame Tochter doch weigerte sich mit der Ruth (geb. 1928) unterwegs war, kündigte seine Begründung, wer so lange Stellung als Oberarzt. Gemeinsam ging die Fami- verheiratet sei wie sie bei - lie nach Böblingen und eröffnete dort eine Pra- de, solle sich nicht mehr xis. Doch die NS-Ideologie machte auch vor dem trennen. Ida Ehre blieb Privatleben des Paares nicht halt. Als überzeug- aus Nibelungentreue. Ida Ehre ter Deutschnationaler erklärte Bernhard Heyde 1945 gründete Ida seiner Frau 1934, er werde zwar sie und die Toch - Ehre die Kammerspiele in der Hartungstraße. ter nicht verlassen, als deutscher Mann könne er Das Haus hatte ihr der damalige britische Thea - aber nicht mehr mit ihr intim sein. Er erwarte von teroffizier John Olden, später verheiratet mit der ihr keine Treue, und wenn sie schwan ger werden Schauspielerin Inge Meysel, verschafft. Ein Jahr soll te, so würde er das Kind als das seine akzep- später fand hier die legendäre Uraufführung von tieren. Wolfgang Borcherts (siehe Ü Borchertring, in Bd. Ida Ehre lernte Wolfgang (der Nachname ist 3 online**) „Draußen vor der Tür“ statt. „Bei nicht bekannt) kennen. Und es begann ein Drei - der Verwirklichung des Programms, das sich die er- bzw. Vierecksverhältnis, denn auch Bern- Prinzipalin vorstellte, standen ihr zwei wunder- hard Heyde ging eine außereheliche Liebesbezie - bare, unbezahlbare Helfershelfer zur Seite. Der hung ein. bri tische Theateroffizier John Olden, der sie Während Bernhard Heyde als „wehruntüch- schon bei der Erteilung der Theaterlizenz unter- tig“ galt, da er sich zum Schutze seiner Frau stützt hatte, und, etwas später, Hugh Carlton weigerte, sich scheiden zu lassen, und so die Fa- Greene [siehe Ü Hugh-Greene-Weg, in Bd. 3 on- milie mit Praxisvertretungen über Wasser halten line**], der 1946 Chief-Controller des Nordwest- konnte, wurde Wolfgang als Soldat eingezogen. deutschen Rundfunks (NWDR) wurde. John Als ihn sein Bruder unter Druck setzte, das Ver- Olden liebte das Theater, und er öffnete Ida Ehre hältnis mit einer Jüdin aufzugeben, verließ Wolf- immer wieder neue Türen auf ihrer Suche nach gang seine Geliebte und heiratete die Freundin den Stücken, die während des Dritten Reiches Bernhard Heydes, Maria, um, wie er sagte, bei in Deutschland nicht gespielt werden durften. der Rückkehr von der Front, jemanden zu haben, Mindestens ebenso wichtig als Gesprächs- mit dem er reden könne. partner, Helfer und Freund war für Ida Ehre Hugh 1943 kam Ida Ehre für sechs Wochen ins KZ Carlton Greene, der später, in den sechziger Jah- Fuhlsbüttel. ren, als Generaldirektor der BBC zum Sir geadelt Nach dem Krieg, 1948, tauchte Wolfgang wurde. (…)“2) Und auch Bürgermeister Max Brau-

Abb.: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Handschriftensammlung, NRI: Handschriftensammlung, 1.8. Ca: Ossietzky, von Carl Hamburg Universitätsbibliothek und Staats- Abb.: wieder in Hamburg auf, das Verhältnis begann er (siehe Ü Max-Brauer-Allee, in Bd. 3 online**)

** Band 3 online unter: www.ham- und Gerd Bucerius) burg.de/maennerstrassennamen

2) Anna Brenken: Ida Ehre. Ham- burg 2002, S. 51. (Hamburger Köpfe. Hrsg. von der ZEIT-Stiftung Ebelin Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 228

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unterstützte Ida Ehre und „sorgte auf Drängen Siehe auch Ü Heidi-Kabel-Platz, in diesem Ida Ehres dafür, daß das Haus in der Hartung- Band. straße von der Stadt angekauft und der Prinzi- Siehe auch Ü Borchertring, Steilshoop, seit palin zur Verfügung gestellt wurde“.3) 1973: Wolfgang Borchert (1921–1947), Schrift- steller, in Bd. 3 online**. Einer ihrer Kinderdarsteller war der spätere Siehe auch Ü Hans-Mahler-Straße, Steilshoop, Hubert-Fichte- Schriftsteller Hubert Fichte (siehe Ü seit 1977: Hans Mahler (1900–1970), Schau- Weg, in Bd. 3 online**). Er war damals zwölf spieler, Theaterleiter, in Bd. 3 online**. Jahre alt und „gleich bei den ersten Aufführun- Siehe auch Ü Hubert-Fichte-Weg, Lokstedt, seit gen dabei. ‚Wie sollten wir leben ohne das 2012: Hubert Fichte (1935–1988), Schriftsteller, Geld, das ich dazuverdiente?‘ Der Kinderdarstel- in Bd. 3 online**. ler sauste zwischen Schule und Theater hin und Siehe auch Ü Hugh-Greene-Weg, Lokstedt, seit 2001: Sir Hugh Carleton Greene (1910–1987), her (…).“4) Journalist, Chef des Nordwestdeutschen Rund- „Ida Ehre war von 1946 bis 1948 Vizepräsi- funks in Hamburg in der Nachkriegszeit, in dentin des Deutschen Bühnenvereins.“5) Als des- Bd. 3 online**. sen Vertreterin saß sie auch im Entnazifizie- Siehe auch Ü Max-Brauer-Allee, Altona-Alt- rungs-Komitee, das sich mit der NS-Belastung stadt/Altona-Nord, seit 1975: Max Brauer (1887–1973), Erster Bürgermeister von Ham- von SchauspielerInnen beschäftigte. In diesem burg, in Bd. 3 online**. Komitee wurde am 25. August 1945 entschie- den, dass u. a. Heidi Kabel (siehe Ü Heidi-Kabel- Platz, in diesem Band) und ihr Mann Hans Mah- Ilse-Fromm-Michaels-Weg ler (siehe Ü Hans-Mahler-Straße, in Bd. 3 online**) Othmarschen, seit 2008, benannt nach Ilse eine zwölfmonatige Auftrittssperre bekamen. Fromm-Michaels, geb. Bauch (30.12.1888 Ham- Ida Ehre „gehörte von 1948 bis 1952 dem burg–22.1.1986 Detmold), Pianistin, 1946 an die Hauptausschuß des Nordwestdeutschen Rund- Hamburger Schule für Musik und Theater und funks an, war 13 Jahre Mitglied des Verwal- später als Professorin an die Musikhochschule tungsrates des Norddeutschen Rundfunks. Sie Hamburg berufen. 1959 als erste Frau in die freie setzte sich mit all der Kraft, die ihr zur Verfü- Akademie der Künste in Hamburg gewählt, seit gung stand, jahrelang für die Interessen sämt- 1964 Trägerin der Johannes-Brahms-Medaille, licher Privattheater in Hamburg ein. (…) Sie Verfolgte des Nationalsozialismus hatte zwei Weltkriege durchlitten. Und sie hatte daraus gelernt, sich einzumischen. Laut zu schrei- Ilse Fromm-Michaels, als ältestes Kind eines Ma- en gegen den Krieg, für den Frieden, für Freiheit, thematikers und Schuldirektors in Hamburg- für Toleranz, nicht opportunistisch zu handeln, Barmbek geboren, war eine musikalische Dop- sondern mutig und gradlinig.“5) pelbegabung, deren außergewöhnliches Talent Für ihre Verdienste um den kulturellen Wie- sich in so früher Kindheit zeigte, dass sie leicht deraufbau der Stadt erhielt sie 1970 die Medaille als Wunderkind hätte verschlissen werden kön- für Kunst und Wissenschaft, 1975 den Profes - nen. Die Eltern ließen ihre Tochter jedoch gründ- sorentitel, 1983 das große Bundesverdienstkreuz lich ausbilden. Bereits mit fünf Jahren bekam und 1985 die Ehrenbürgerschaft Hamburgs. das kleine Mädchen, das schon bevor es lesen Text im Wesentlichen: Brita Reimers und schreiben konnte, Lieder nach Gehör gespielt

** Band 3 online unter: www.ham- Vgl. auch: Ida Ehre: Gott hat einen burg.de/maennerstrassennamen größeren Kopf, mein Kind … 5. Aufl. München, Hamburg 1989. 3) Anna Brenken, a. a. O., S. 53. 4) Anna Brenken, a. a. O., S. 57. 5) Anna Brenken, a. a. O., S. 11. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 229

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und sich zu den Melodien Harmonien gesucht mühelos auswendig vorgespielt, und das war hatte, die ersten Klavierstunden. Mit neun erhielt umso erstaunlicher, als diese wegen ihrer extrem sie zusätzlich Unterricht in Harmonielehre. Im weitgriffigen Anforderungen gerade für Frauen Jahr zuvor hatte sie ihr erstes Stück komponiert, als fast unspielbar galten. Ilse Fromm gelang es eine Polka, die „Formsinn“, „Phantasie“ und „Hu- jedoch, dieses Problem spieltechnisch zu über- mor“ verriet. Einige Jahre später entstand ihre winden – insbesondere auch durch die Verwen- c-moll-Fantasie, die der Dreizehnjährigen bei der dung speziell erdachter Aufnahme in die Hochschule half. Da es in Ham- Fingersätze. burg keine wirklich guten Ausbildungsmöglich- Bei einem ihrer Kon- keiten gab, ging sie an die Hochschule für Musik zerte lernte die junge Pia- nach Berlin. Sie wohnte bei einer Tante, studierte nistin in Cuxhaven den Klavier bei Prof. Bender und Komposition bei Richter Dr. Walter Micha- H. van Eyken. Mit sechzehn wechselte sie inner- els kennen. Er stammte halb Berlins ans Sternsche Konservatorium, als aus einer musikalischen sich ihr die Chance bot, in die Klavierklasse von jüdischen Familie und hat- James Kwast, eines der bedeutendsten Pädago- te bis zum Verlust eines Ilse Fromm-Michaels gen seiner Zeit, aufgenommen zu werden. Er Armes ausgezeichnet Gei - förderte auch ihr Verständnis und Interesse für ge gespielt. 1915 heiratete das Paar. Doch es folg - neue Musik. Kompositionsunterricht erhielt sie ten keine unbeschwerten Jahre, der Erste Welt- bei Hans Pfitzner. 1908 verließ sie das Sternsche krieg überschattete ihr Leben. Ilse Fromm hatte Konservatorium, schloss ihre Ausbildung end- kaum Auftrittsmöglichkeiten, zudem erkrankte gültig aber erst 1913 nach einem zweijährigen sie aufgrund der schlechten Versorgungslage an Studium an der Kölner Musikhochschule ab. Hungertyphus. Nach Kriegsende zog das Paar Schon während ihrer letzten Studienzeit begann nach Bergedorf, wo 1922 der gemeinsame Sohn sie mit dem Aufbau einer pianistischen Lauf- Jost geboren wurde. Er wurde später ein welt- bahn. Da ihr der Name Ilse Bauch als ungeeignet bekannter Klarinettist. Zwischen den Jahren für eine Künstlerin erschien, nahm sie den Ge- 1923 und 1924 wirkte Ilse Fromm-Michaels re- burtsnamen ihrer Mutter an und nannte sich gelmäßig in Hamburg bei dem von Hans Heinz künftig Ilse Fromm. Bedeutende Dirigenten ver- Stuckenschmidt und Josef Rufer veranstalteten pflichteten sie zu Konzerten. Zudem veranstaltete Konzertzyklus „Neue Musik“ mit. Unter Arnold sie – zumeist in Berlin – eigene Klavieraben de, Schönberg spielte sie den Klavierpart in seinem bei denen sie sich vor allem für zeit genössische wunderbaren „Pierrot Lunaire“. Daneben erwarb Musik einsetzte, die allgemein erst nach dem sie sich einen hervorragenden Ruf als Klavierpä- Ersten Weltkrieg größere Beachtung fand. Sie stell- dagogin. 1925 zog die Familie nach Hamburg in te Werke von Reger (siehe Ü Regerstraße, in Bd. 3 die Enzianstraße. 1933 wurde Walter Michaels online**), Pfitzner, Hindemith, Busoni, Stra- aus „rassischen Gründen“ aus dem Staatsdienst winsky, Schönberg, Bartok und Berg vor. Bereits entlassen. Ilse Fromm-Michaels hatte als seine als 18-Jährige hatte sie 1906 Max Regers Bach- Ehefrau in der Folgezeit nicht minder unter den Variationen op. 81, die zu den schwierigsten da- sich zunehmend verschärfenden Ausgrenzungen

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: mals komponierten Klavierwerken gehörten, zu leiden, anfangs „nur“ als „unerwünschte“

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 230

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Künstlerin. Später erhielt sie Auftrittsverbot, und sie ihren Fähigkeiten entsprochen hätte, als sie ihre Werke durften nicht mehr gespielt werden. 1946 an der Hamburger Schule für Musik und In dieser Zeit tiefster Bedrängnis schuf Ilse Theater als Dozentin tätig wurde. Die jungen Pi- Fromm-Michaels ihre bedeutendsten Werke, die anisten und Pianistinnen wussten oft nichts von ihren Ruf als Komponistin begründeten. So ent- der Bedeutung und dem Ruhm, die Ilse Fromm- stand 1938 die c-Moll-Symphonie, mit der sie Michaels besessen hatte, und wählten lieber 1961 bei einem von der GEDOK (Gemeinschaft Lehrer, die noch konzertierten. Sie selbst hatte deutscher und österreichischer Künstlerinnen) keine Kraft mehr, sich stark zu machen. Nach in Mannheim veranstalteten Wettbewerb in Kon- dreizehn Jahren beendete sie 1959 ihre Dozen- kurrenz mit 150 in- und ausländischen Kompo- tinnentätigkeit. nistinnen zusammen mit der Kanadierin Sonja Auch wenn Ilse Fromm-Michaels zu Lebzei- C. Eckhardt-Grammaté den ersten Preis erhielt. ten manche Anerkennung und Ehrung erfuhr, Die Symphonie wurde bereits 1946 durch das wie durch die Akademie der Freien Künste, die Symphonie-Orchester des NWDR unter Hans sie als erste Frau als Mitglied wählte und ihr Schmidt-Isserstedt in Hamburg uraufgeführt. Ihr 1956 die Ehrenplakette verlieh, oder durch die letztes großes Werk war die „Musica Larga“ für Stadt Hamburg, die sie anlässlich ihres 75. Ge- Streichquartett und Klarinette, die sie 1944 für burtstages mit der Brahmsmedaille auszeich- ihren Sohn Jost komponierte. Danach trat eine nete, so ist ihr als Komponistin doch nicht die Lähmung im Schaffen der Künstlerin ein. Jahre- Würdigung zuteil geworden, die sie verdient ge- lange Kränkungen, Ängste und Entbehrungen, habt hätte.6) die räumliche Enge durch Einquartierungen nach Text: Brita Reimers dem Krieg, die schmerzliche Trennung oder gar Siehe auch Ü Regerstieg, Bahrenfeld, seit 1970, der endgültige Verlust vieler ihr geistig verwand- und Regerstraße, Bahrenfeld, seit 1950: Max Reger (1873–1916), Komponist, in Bd. 3 ter Freunde und Bekannter, 1946 schließlich der online**. Tod von Walter Michaels als Folge der Inhaftie- rung ein Jahr vor Kriegsende – all das hatte die Energie dieser starken Frau gebrochen. Dazu Ilsenweg kamen neue Tendenzen in der Musik, wie z. B. Sasel, seit 1941, benannt nach Ilse, geb. Terfloth die Aleatorik und andere Kompositionsrichtun- (geb. 7.4.1904), Ehefrau des Besitzers Lind gen, deren Charakter und Zielsetzungen sie mit ihren eigenen Ideen und Vorstellungen nicht Innocentiastraße mehr in Einklang bringen konnte. 1948/49 kom- Harvestehude, seit 1870 ponierte sie ein letztes großes Werk, „Drei Rilke- Gesänge“, das in zwei verschiedenen Fassungen Für die Straßenbenennung auf dem ehemaligen für Bariton und Klavier sowie für Orchesterbe- Landsitz des Nonnenklosters Harvestehude gibt gleitung vorliegt. es zwei Deutungen: Die Benennung erfolgte ent- Ihre Konzerttätigkeit nahm Ilse Fromm-Mi- weder nach Papst Innocenz IV., der dem 1247 chaels nach dem Krieg nicht wieder auf. Das erbauten Nonnenkloster seine Rechte bestätigte, war ein Grund, weshalb es ihr nicht gelang, eine oder nach einer Sage um 1350. Danach wurde SchülerInnenschaft um sich zu versammeln, wie eine Nonne beschuldigt, das Keuschheitsgelübde

** Band 3 online unter: www.ham- Hamburg. Hamburg 1968; Frank burg.de/maennerstrassennamen Wohlfahrt: Eigenständige Phantasie. Ilse Fromm-Michaels zur Vollendung 6) Vgl.: Karl Grebe: Lebenswerk ihres 75. Lebensjahres, in: Antwor- einer Komponistin, in: Zwanzig. Jahr- ten. Jahrbuch. Freie Akademie der buch. Freie Akademie der Künste in Künste in Hamburg 1963. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 231

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gebrochen zu haben, weil sie sich heimlich mit von zwölf Kindern wuchs sie in ärmlichen Ver- ihrem ehemaligen Verlobten getroffen hatte. Die hältnissen auf. Ihr Vater, Bruno Sperling, arbei- Nonne beteuerte vergeblich ihre Unschuld. Sie tete als Angestellter bei der „Allgemeinen Orts- wurde zum Tode verurteilt und sollte auf freiem krankenkasse Hamburg“. Da er aktiv in der Felde in ungeweihter Erde bestattet werden. Vor Arbeiterbewegung tätig gewesen war, wurde er ihrer Hinrichtung bat sie, dass ihr Leib im Hügel am 5. Mai 1933 von der Gestapo verhaftet und auf dem Klosterfelde begraben und darauf ein verlor während der Haft seine Anstellung. Da- Lindenbaum gesetzt werde. Dazu sprach sie die nach geriet die Familie in immer größere finan- Worte: „Ich verwünsche den Lindenbaum, daß zielle Not. er niemals höher wachsen werde, als er jetzt ist, Die Mutter, Anna Katharina Helene Sper- und das soll als Zeugnis gelten für meine Un- ling, geb. Pappermann, war zu dem Zeitpunkt schuld; denn so gewißlich er hinfort nicht mehr schon lange krank und musste unter anderem höher wachsen wird, so gewißlich sterbe ich, wie wegen einer Herzbeutelentzündung und Rheu- ich gelebt, als eine reine und unschuldige Braut matismus auch stationär behandelt werden. Christi.“ Trotz der schwierigen Verhältnisse, in denen Siehe auch Ü Abteistraße, Cäcilienstraße, Ele- sich Familie Sperling befand, blieb zu Hause beken, Frauenthal, Heilwigbrücke, Heilwig- immer noch Zeit für schöne Momente. Die Kin- straße, Jungfrauenthal, Nonnenstieg, in diesem der und ihre Eltern sangen und musizierten ge- Band. meinsam, und auch Irma zeigte als kleines Mäd- chen eine musikalische Begabung. Ihre zwei Irma-Sperling-Weg Jahre ältere Schwester Antje Kosemund erinner - Alsterdorf, seit 1985, benannt nach Irma Sperling te sich später daran, dass Irma oft in ihrem Bett- (20.1.1930 Hamburg–getötet am 8.1.1944 in der chen saß, sich zur Musik wiegte und im Takt zu Heilanstalt „Am Steinhof“ in Wien), Opfer der klatschen versuchte. Euthanasiemaßnahmen des Nationalsozialismus. Damit Irma Sperlings Behinderung behan- Gehörte zu den 228 Mädchen und Frauen, die am delt werden konnte, wurde sie für mehrere Mo- 16.8.1943 aus den Alsterdorfer Anstalten in als nate ins Krankenhaus Rothenburgsort eingelie- „Reichspost“ getarnten Bussen in die Tötungs- fert. Dort entwickelte sie sich gut, erlernte das anstalt „Am Steinhof“ in Wien gebracht wurde Sitzen, Stehen und Laufen. Ihr Vater schickte sie Stolperstein vor dem Wohnhaus Adolph-Schön- danach in eine Tageskrippe. Im August 1933 at- felderstraße 31. testierte ihr jedoch ein Arzt „Schwachsinn“ und forderte die Eltern auf, Irma Sperling in die da- Irma Sperling wurde nur dreizehn Jahre alt. Da sie maligen Alsterdorfer Anstalten zu verlegen. Die eine geistige Behinderung hatte, wurde sie von Einweisung erfolgte dann am 21. Dezember 1933. Ärzten in der Heilanstalt „Am Steinhof“ in Wien Dort bekam das kleine Mädchen weder die För- ermordet und somit ein Opfer der Euthanasie. derung noch die Zuwendung, die sie dringend Bei ihrer Geburt deutete alles auf ein gesun- benötigte. Deshalb dauerte es auch nicht lange, des Kind hin, laut Bericht der Geburtsklinik Fin- bis sie ihre Fähigkeiten wieder verlernte und kenau war sie 50 cm groß, 3200 gr. schwer und sogar aggressive Züge zeigte. Für Antje Kose- hatte keine weiteren Auffälligkeiten. Als siebtes mund blieb Irma immer wie folgt in Erinnerung: Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 232

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„Lange braune Locken hatte sie und schöne Irma Sperlings Gehirn wurde nach ihrem Tod braune Augen – ein ausdrucksvolles Gesicht. Heu - präpariert und zu anderen Präparaten in eine te würde man so ein Kind auf die Förderschule Gehirnkammer gestellt. Erst 1996 erreichte ihre schicken, wo sie sich hätte entwickeln können.“ Schwester Antje Kosemund eine Überführung Zusammen mit 227 anderen Mädchen und der Überreste nach Hamburg. Frauen wurde Irma Sperling am 16. August 1943 Am 8. Mai 1996 wurden die sterblichen Über- in als „Reichspost“ getarnten Bussen in die Heil- reste von Irma, sieben weiteren Kindern bzw. anstalt „Am Steinhof“ in Wien gebracht. Dort be- Jugendlichen und zwei Frauen feierlich auf dem gannen ihre Qualen. Das Ehrenfeld der Geschwister-Scholl-Stiftung auf Mädchen wurde kaum dem Friedhof Ohlsdorf bestattet. noch ernährt und erhielt 2002 erreichte Antje Kosemund die Nach- stattdessen eine Überdo- richt, dass die Krankenakte von Irma aufge- sierung der Medikamente. taucht sei. Jahrelang hatte sie nach dieser Akte Nach acht Wochen wog immer wieder gefragt. Man hatte in Wien einen sie statt 40 nur noch 28 verschlossenen Metallschrank aufgebrochen und Kilo gramm. In ihrer Kran - dort vier Akten von Opfern noch aus der Alster- kenakte vom 26. Septem- dorfer Zeit entdeckt. Auch fanden sich weitere ber 1943 wurden zudem präparierte Gehirnschnitte von Irma und unzäh- Irma Sperling auch ihre zunehmenden ligen weiteren Menschen auf einem Dachboden Aggressionen vermerkt: des Wiener Institutes, die am 28. April 2002 in „[Sie] schlägt eine große Fensterscheibe ein, ohne der Gedenkstätte auf dem Wiener Zentralfried- sich zu verletzen. Zwangsjacke.“ hof beigesetzt wurden.7) Mit dreizehn anderen Kindern wurde Irma Text: Stefanie Rückner/Carmen Smiatacz Sperling schließlich in die Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund“, Pavillon 15, verlegt. Keines der Kinder überlebte die „Behandlung“. Isoldeweg Zwischen 1942 und 1945 wurden mehr als Rissen, seit 1972. Gestalt aus Richard Wagners 300 Kinder in der Heilanstalt „Am Steinhof“ in Oper „Tristan und Isolde“ (1859). Motivgruppe: Wien getötet. Ihre Gehirne wurden gesammelt Werke von Richard Wagner und nach 1945 von Dr. Heinrich Gross, der bis in die achtziger Jahre hinein nahezu unbehelligt Sie galten bis in das 19. Jahrhundert als ein Lie- praktizierte, für gehirnanatomische Forschungen bespaar, das vom Schicksal und Zaubertrank weiterverwendet. untrennbar und tragisch verbunden war: Tristan Irma Sperling starb am 8. Januar 1944. In (siehe Ü Tristanweg, in Bd. 3 online**) und Isolde. der Sterbeurkunde wurde die damals übliche To- In Gottfried von Straßburgs Dichtung um 1200 desursache angegeben: Grippe und Lungenent- wird Isolde, eine irische Königstochter, an ihren zündung, sowie zusätzlich angeborene zerebra- Onkel, den englischen König Marke, zwangs- le Kinderlähmung. verheiratet. Sein Brautwerber ist Markes Neffe Tatsächlich starben die meisten Kinder an Tristan, Vollwaise, begabter Musiker und Dra -

den Folgen des Medikaments Luminal. Auch chentöter. Auf der Fahrt nach England trinken v.l.n.r.:Abb. Schwarberg Neuengamme/Sammlung KZ-Gedenkstätte der Archiv | Kosemund Antje Privatbesitz

** Band 3 online unter: www.ham- 2009; Michael Wunder (Hrsg.): Auf mund: Sperlingskinder. Faschismus burg.de/maennerstrassennamen dieser schiefen Ebene gibt es kein und Nachkrieg: Vergessen ist Verwei- Halten mehr. Hamburg 2002, S. 23ff., gerung der Erinnerung! Hamburg 7) Vgl.: Antje Kosemund: Spurensu- S. 222; Spiegelgrund – ein Film von 2011. che Irma; persönliche Gespräche mit Angelika Schuster und Tristan Sindel- Frau Antje Kosemund, Hamburg gruber, Österreich 2000; Antje Kose- Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 233

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Tristan und Isolde versehentlich einen Liebes- stan und Isolde einen weltabgewandten Frei- trank, der eigentlich für Marke und Isolde be- raum, dessen Glücksversprechen sich den Lie- stimmt war. Auch nach der Eheschließung Isol- benden zeichenhaft in Nacht und Tod kund- des mit König Marke lebt sie ihre Liebe zu tut.“8) Aber Isolde ist eine durchsetzungsfähige Tristan weiter. Eifersüchtig beäugt vom alten Kö- Heilerin und bekennt sich zu Tristan. Ruth Berg- nig und der Hofgesellschaft können die beiden haus hat in ihrer bahnbrechenden „Tristan und listigen Liebenden alle täuschen, bis es keinen Isolde“-Inszenierung, die am 13. März 1988 an Ausweg mehr gibt und Tristan aus England in der Hamburgischen Staatsoper Premiere hatte, das Herzogtum Arundel flieht. Hier verliebt er neue Perspektiven auf das Paar herausgearbei- sich in die „Isolde mit den weißen Händen“ und tet. So stirbt Isolde nicht wie oft üblich über Tri- ist hin und hergerissen zwischen seinen Lieben stan drapiert den Liebestod, sondern umarmt als zu den zwei Isolden. eine machtvolle Königin, vor dem Bühnenvor- Richard Wagner nutzte Gottfrieds Tristan- hang stehend, den Mond. Epos als Vorlage, nimmt aber dem Paar „aus der Text: Birgit Kiupel Unmöglichkeit dieseitiger Liebeserfüllung eben Siehe auch Ü Tristanweg, Rissen, seit 1972, diesen Lebenswillen. Solche schopenhauerisch nach der Oper von Richard Wagner, in Bd. 3 online**. inspirierte, pessimistische Weltsicht eröffnet Tri- J

Jacqueline-Morgenstern-Weg sicher. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehr- Schnelsen, seit 1993, benannt nach Jacqueline macht in Marseille und der beginnen den Hatz Morgenstern, zwölf Jahre alte Französin aus auf die Juden, wurden die Paris. Opfer des Nationalsozialismus. Kinder- Morgensterns denunziert. mord in der Schule am Bullenhuser Damm Die Familie wurde an Jac- quelines Geburtstag, dem Jacqueline Morgenstern war die Tochter des jüdi- 26. Mai 1944, durch die schen Friseurs vom Place de la Republique in französische Polizei ver - Paris, Charles Morgenstern. Ihre Eltern stammten haf tet und ins KZ Ausch - aus Czernowitz in der rumänischen Bukowina witz deportiert. Dort wur - und waren nach dem Ersten Weltkrieg nach de Jacqueline von ihren Frankreich gekommen. Eltern getrennt und in ei- Jacqueline Morgenstern Nachdem im Zweiten Weltkrieg die deutsche ner Kinderbaracke unter - Wehrmacht Paris besetzt genommen hatte, flüch- gebracht. Die Mutter starb tete das Ehepaar Morgenstern mit seiner Tochter in Auschwitz, der Vater wurde „im Januar 1945 nach Marseille. Aber auch dort waren sie nicht in einem offenen Güterwagen nach Dachau trans-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

8) Leopold, Silke; Maschka, Robert: Who’s who in der Oper. Kassel 1997, S. 152. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 234

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portiert, erlebte noch die Befreiung und starb schrieb über das Schicksal der 20 jüdischen am 23. Mai 1945 im Krankenhaus Feldafing“.1) Kinder, die am 20.4.1945 in der Schule Bullen- huser Damm ermordet wurden, in Bd. 3 on- Jacqueline Morgenstern „wurde vom KZ-Arzt line**. Josef Mengele zu den Tuberkulose-Versuchen ausgesucht, nach Neuengamme gebracht und als Zwölfjährige erhängt“.2) Jeanette-Wolff-Ring Siehe auch Ü Geschwister-Witonski-Straße, Bergedorf, seit 1992, benannt nach Jeanette Lelka-Birnbaum-Weg, Mania-Altmann-Weg, Wolff, geb. Cohen (22.6.1888 Bocholt–19.5.1976 Riwka-Herszberg-Stieg, Wassermannpark, Zyl- Berlin), Widerstandskämpferin, Bundestagsab- berbergstieg, Zylberbergstraße, in diesem Band. geordnete (SPD), führende Mitarbeiterin in ver- Siehe auch Ü Brüder-Hornemann-Straße, schiedenen jüdischen Organisationen Deutsch- Schnelsen, seit 1993: Alexander und Eduard lands. Motivgruppe: Verdiente Frauen Hornemann, acht und zwölf Jahre alt, nieder- ländische Opfer des Nationalsozialismus, in Geboren wurde Jeanette Wolff als Tochter von Dina Bd. 3 online**. Cohen, geb. Wolf (1859–1938) und Isaac Cohen Siehe auch Ü Eduard-Reichenbaum-Weg, Schnelsen, seit 1993: Eduard Reichenbaum (1855–1929). Isaac Cohen, Mitglied der Sozia- (1934–1945), zehnjähriges polnisches Kind, listischen Arbeiterpartei Deutschlands und An- Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- hänger August Bebels „hatte, statt sich den So- line**. zialistengesetzen zu beugen, seinen Lehrerberuf Siehe auch Ü Georges-André-Kohn-Straße, aufgegeben. Beide Eltern handelten mit Textilien Schnelsen, seit 1992, zwölfjähriges Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. und zogen mit ihrer Ware über Land, um sie Siehe auch Ü Jungliebstraße, Schnelsen, seit auf den Bauernhöfen der Region zu verkaufen. 1995, zwölfjähriger Jugoslawe, Opfer des Na- Nach Jeanettes Geburt eröffneten sie einen La- tionalsozialismus, in Bd. 3 online**. den in ihrer Wohnung (…) im Bocholter Armen- Siehe auch Ü Marek-James-Straße, Schnelsen, viertel (…). Die Symbiose von Judentum und seit 1995: Marek James, sechs Jahre alter Pole, Sozialismus in ihrem Elternhaus prägte Jeanette Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- line**. Wolff zeitlebens. Von Mutter Dina [Mutter von Siehe auch Ü Marek-Steinbaum-Weg, Schnel- acht Kindern] häufig mit Esswaren zu armen sen, seit 1993: Marek Steinbaum, zehn Jahre Wöchnerinnen entsandt, wurde zudem [Jeanette alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Wolffs] frauenpolitischer Sinn früh geschärft“.3) Bd. 3 online**. Nach dem Besuch der jüdischen Elementar- Siehe auch Ü Roman-Zeller-Platz, Schnelsen, schule ging Jeanette Cohen als Sechzehnjährige seit 1995: Roman Zeller, zwölfjähriger Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- nach Brüssel, „wo bessergestellte kinderlose line**. Verwandte ihr eine einjährige Kindergärtnerin- Siehe auch Ü Sergio-de-Simone-Stieg, Schnel- nen-Ausbildung ermöglichten“.4) Nach dem Exa- sen, seit 1993: sieben Jahre alter Italiener. men arbeitete sie als Kindergärtnerin und später Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- als Erzieherin in einer Unternehmerfamilie. line**. Auch politisch begann sich Jeanette Cohen Siehe auch Ü Günther-Schwarberg-Weg, Schnel- sen, seit 2013: Günther Schwarberg (1926– zu engagieren und trat 1905 in Brüssel der Sozial- 2008), Autor, Journalist, recherchierte und demokratie bei. Gleichzeitig wandte sie sich der

** Band 3 online unter: www.ham- 3) Birgit Seemann: Jeanette Wolff. burg.de/maennerstrassennamen Politikerin und engagierte Demokra- tin (1888–1976). Frankfurt a. M. 1) Günther Schwarberg: Straßen 2000, S. 11 und S. 15. der Erinnerung. Hamburg 1992. 4) Birgit Seemann, a. a. O., S. 17. 2) Ebenda. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 235

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Frauenpolitik zu, besuchte neben ihrer Erwerbs- Ihre Kinder bezog sie stets in ihr kommu- arbeit das Abendgymnasium, bestand das „außer - nalpolitisches Leben mit ein. Dadurch „vermied ordentliche Abitur“ und heiratete, bereits schwan - Jeanette Wolff die besonders von männlichen ger, 1908 den Gemüsehändler Philip Fuldauer Politikern gezogene Grenze zwischen ‚Privat- (1887–1909). Ihre 1908 geborene Tochter starb heit‘ und ‚Öffentlichkeit‘“.7) im Alter von neun Monaten, wenige Wochen spä- Gleich am Tag der Reichstagswahl, dem ter verstarb auch der Ehemann. Ihre zweite Ehe 5. März 1933, wurde Jeanette Wolff „als eine der ging Jeanette Cohen 1911 mit dem Diplomkauf- ersten weiblichen Oppositionellen in so genann- mann Hermann Wolff (1888–1945) ein. te ‚Schutzhaft‘“ 8) genom- Noch „am Vorabend der Hochzeit [ent- men und erst zwei Jahre schloss] sich Hermann Wolff zum SPD-Beitritt. spä ter entlassen. Sie be- Dass sich der mittelständische Unternehmer aus tätigte sich fortan in der national-liberalem, jüdischen Elternhaus (…) illegalen Parteiarbeit der aus Liebe sozialistischen Ideen öffnete, markiert von den Nationalsozialis - aus Geschlechterperspektive ei nen eher untypi- ten verbotenen SPD. Ihr schen Weg der Politisierung: Diesmal näherte Mann wurde als „führen - sich nicht die Frau, sondern der Mann der poli- des Mitglied der SPD“ und tischen Überzeugung des Lebenspartners an“.5) wegen angeblicher „Ver- Jeanette Wolff Jeanette Wolff bekam drei Kinder, engagier- breitung unwahrer Ge - te sich politisch unvermindert weiter und orga- rüch te“ für einige Wochen nisierte die Büroarbeit in der von ihrem Mann im Duisburger Zuchthaus inhaftiert. Seine Firma in Bocholt aufgebauten kleinen Textilfabrik. Wäh- durf te er nicht mehr betreten. 1938 kam er für rend des Ersten Weltkriegs leitete Jeanette Wolff ein knappes Jahr ins KZ Sachsenhausen. „Eine die Fabrik, ihr Mann war als Soldat an der Front. Emi gration schien auch jetzt nicht möglich: Die „Trotz ihres kriegsversehrten Mannes – Hermann bekannte Regimegegnerin Jeanette Wolff durf- Wolff war mit einer schweren Verwundung von te Deutschland nicht verlassen.“9) 1942 wurden der Front zurückgekehrt und bedurfte bis 1924 Jeanette Wolff, ihr Mann und zwei ihrer drei Kin- der Pflege – und der 1920 geborenen dritten Toch- der ins Getto Riga deportiert. Ihr Ehemann und ter Käthe – zog es Jeanette Wolff zu Beginn der die zwei Kinder kamen im KZ um. Jeanette Wolff Weimarer Republik noch stärker in die Politik.“6) wurde 1945 aus dem KZ Stutthof befreit und kehr - 1919 wurde sie Stadtverordnete und Stadträtin te mit ihrer Tochter Edith nach Berlin zurück. in Bocholt. Außerdem war sie Vorstandsmitglied Jeanette Wolff widmete sich fortan ganz der des SPD-Bezirks Westliches Westfalen. Damit Politik. Für die Berliner SPD-Zeitung arbeitete gehörte die „Sozialistin religiöser Prägung“ zu sie als Hilfsredakteurin; kurze Zeit war sie auch den ersten deutschen Kommunal- und Regional- Mitglied einer Spruchkammer zur Entnazifizie- politikerinnen. rung. Gemeinsam mit Kurt Schumacher (siehe Ü Seit 1920 in der Funktion eines Vorstandsmit- Kurt-Schumacher-Allee, in Bd. 3 online**) „berie- gliedes des Zentralvereins deutscher Staatsbür- ten sie Maßnahmen gegen die geplante ‚Zwangs - ger jüdischen Glaubens und des Jüdischen Frau- vereinigung‘ von SPD und KPD“.10) Von 1946 bis

Abb.: Aus: Gunter Lange, Jeanette Wolff, 1888 bis 1976, Eine Biografie, Bonn 1988, S. 105. 1888 bis 1976, Eine Biografie, Wolff, Aus: Gunter Lange, Jeanette Abb.: enbundes trat sie gegen den Antisemitismus ein. 1952 fungierte sie als SPD-Stadtverordnete in

** Band 3 online unter: www.ham- 8) Birgit Seemann, a. a. O., S. 30. burg.de/maennerstrassennamen 9) Birgit Seemann, a. a. O., S. 35 10) Birgit Seemann, a. a. O., S. 67. 5) Birgit Seemann, a. a. O., S. 21. 6) Birgit Seemann, a. a. O., S. 24. 7) Birgit Seemann, a. a. O., S. 28. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 236

236 Biographien von A bis Z / J

Groß-Berlin. „Ihr entschlossener Einsatz gegen 1952 wurde Jeanette Wolff Abgeordnete des die Verfechter einer staatssozialistischen Diktatur Deutschen Bundestages (Vertretung Berlins). machte Jeanette Wolff in ganz Berlin bekannt.“11) Das Mandat hatte sie fast ein Jahrzehnt bis 1961 „Gemeinsam mit Kurt Schumacher, Annemarie inne. Im Bundestag setzte sie sich hauptsächlich Renger, Otto und Susanne Suhr, Ernst Reuter, für die so genannten Randgruppen ein: Jugend- Louise Schroeder [siehe Ü Louise-Schroeder-Straße, liche, ältere Menschen, Kranke, NS-Opfer. Be- in diesem Band], Klara und Paul Löbe und vor reits 1948 forderte sie eine Frauenquote bei der allem dem Freund Franz Neumann (1904–1974) Verteilung der politischen Mandate. Zum Thema war Jeanette Wolff von Berlin aus an der Errich- Gleichberechtigung sagte sie einmal: „(…) es tung der jungen deutschen Demokratie betei- gab eine ganze Anzahl von [Frauen], die sich ligt.“12) gegen eine gesetzliche der bei- Besonders die Entnazifizierungspraxis lag den Geschlechter wandte. Manche taten es aus Jeanette Wolff am Herzen. Hierfür wünschte sie Gründen politischer Beeinflussung anderer, weil eine Verbesserung. „Für wenig ergiebig hielt Je- sie in glücklichen und materiell gesicherten anette Wolff (…) die Klassifizierung in NS-Tä- Ehen lebten oder weil sie ohnehin zu Hause ‚die tergruppen: ‚Ob jemand das Volk mit dem Wort, Hosen anhatten‘. Jene Frauen, die beruflich tätig mit dem Lied oder mit der Schrift vergiftet hat, waren und im Leben ihre eigenen Belange errin- oder ob jemand mit dem Dolch einen Menschen gen mussten, erklärten sich alle für eine unein- umgebracht hat – sie haben die Atmosphäre geschränkte Gleichberechtigung.“15) geschaffen, aus der die menschlichen und bau - Besonders lag ihr daran, dass das Bundes- li chen Ruinen entstanden sind (…)‘. Um aus entschädigungsgesetz voranschritt. Doch auch eigener Kraft demokratisch zu werden, dürfe nach seiner Verabschiedung 1953 schleppte sich Deutschland die Entnazifizierung nicht allein die Wiedergutmachung weiter hin, was Jeanette den alliierten Behörden überlassen, sondern Wolff empörte. Wenn sie im Bundestag in ihren müsse sich selbst von der NS-Diktatur befreien. Reden auf dieses Thema zu sprechen kam, sprach Doch vergebens: Die Mehrheit der nichtjüdi- sie häufig vor halbleeren Parlamentsrängen. schen Deutschen lehnte die Entnazifizierungs- „Oft musste sie sich mit Verharmlosungsargu- Spruchkammern ab, teils wegen ihrer Distanz menten gerade seitens konservativer Abgeord- zu den ‚Besatzungsmächten‘, teils aus Furcht neter auseinandersetzen. In den ‚Wiedergutma- vor einer Aufdeckung ihrer eigenen NS-Verstri- chungsdebatten‘ scheute Jeanette Wolff dann ckung.“13) auch keineswegs den Vergleich materiell abge- Auf dem SPD-Parteitag 1949 in Berlin for- sicherter pensionierter Hitler-Generäle mit be- derte „Jeanette Wolff ein neues Entschädigungs- dürftigen NS-Opfern, die auf den Abschluss amt, das alle NS-Verfolgten gleich behandelte und ihrer Anerkennungsverfahren warteten. In die- Missbrauch durch Unberechtigte ahndete: ‚(…) sem Zusammenhang warnte sie vehement vor wir werden in der Lage sein, die Spreu vom Wei- allem vor einem Wiederaufleben ehemaliger NS- zen zu scheiden, und dann wird das Märchen Organisationen (…). Angesichts eines seit den ad acta gelegt werden, dass nur die Kommunis- neunziger Jahren ansteigenden Rechtsextremis - ten Kämpfer gegen den Nationalsozialismus ge- mus haben ihre 1955 dem deutschen Bundestag wesen wären‘“.14) vorgetragenen Bedenken, ‚dass in Bezug auf die

** Band 3 online unter: www.ham- 14) Birgit Seemann, a. a. O., S. 79. burg.de/maennerstrassennamen 15) Birgit Seemann, a. a. O., S. 96f.

11) Birgit Seemann, a. a. O., S. 70. 12) Birgit Seemann, a. a. O., S. 72. 13) Birgit Seemann, a. a. O., S. 77. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 237

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Abwehr neofaschistischer Elemente und der Ein Erinnerungsstein steht im Garten der Frauen ewig Unbelehrbaren etwas zu wenig in der Bun - auf dem Ohlsdorfer Friedhof. desrepublik und seitens der Bundesregierung getan‘ würde, nicht an Aktualität verloren.“16) Zitronenjette wurde zum Hamburger Original, Neben ihrer Abgeordnetentätigkeit für den weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm ent- Bundestag leistete Jeanette Wolff auch Gewerk- sprach. Über ihre Kleinwüchsigkeit, ihren so ge- schaftsarbeit. Nach ihrem Ausscheiden aus dem nannten Schwachsinn und ihre Alkoholerkran- Bundestag im Jahre 1961 verstärkte sie ihre Ver- kung belustigte sich Hamburgs Bevölkerung. bandsarbeit. So war Jeanette Wolff Ehrenvorsit- Menschen, die anders sind als die Masse, ob ge- zende der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in wollt oder auch ungewollt, scheinen beim Gros Deutschland, Vorsitzende des Jüdischen Frauen- der Bevölkerung sowohl Faszination als auch bundes, Mitglied der Repräsentantenversamm- Ablehnung hervorzurufen. Mit der Etikettierung lung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (zeit- solcher „ungewöhnlicher“ Menschen als „Ori- weise deren Vorsitzende). Als sie diesen Sitz aus ginale“ kann die Bevölkerung ihnen einen Platz Altergründen aufgab, übergab sie ihn an Hans zuweisen. Gibt sie dem Original gar noch den Ro senthal, vielen bekannt als Fernsehentertai- Zusatz ihrer Heimatstadt – z. B. Hamburg –, lässt ner. Sie war u. a. stellvertretende Vorsitzende die Bevölkerung ein Stück Integration dieser Per- des Direktoriums des Zentralrats der Juden in son zu. Damit wird dem Gefühl der Faszination Deutschland, Vorsitzende der Gesellschaft für Rechnung getragen. Gleichzeitig bleiben diese christlich-jüdische Zusammenarbeit, Vorstands- „anderen“ Menschen durch den ihnen zugewie- mitglied der Liga für Menschenrechte sowie senen Platz als „Original“ außerhalb der Gesell- Rundfunkratsmitglied der Deutschen Welle. schaft. Dies wiederum ist Ausdruck der ableh- Siehe auch Ü Louise-Schroeder-Straße, in die- nenden Haltung ihnen gegenüber. sem Band. Geboren wurde Johanne Henriette Müller Siehe auch Ü Kurt-Schumacher-Allee, St. Georg, als uneheliches Kind. Wenige Monate nach der seit 1962: Dr. Kurt Schumacher (1895–1952), Geburt zog ihre Mutter mit ihr nach Hamburg. SPD Parteivorsitzender, SPD-Fraktionsvorsit- zender, Mitglied des Reichstages, Mitglied des Die Mutter heiratete und die Familie wohnte im Bundestages, in Bd. 3 online**. Gängeviertel. Als der Vater an einem Schlagan- fall starb, zog Johanne Henriette mit ihrer jün - g eren Schwester zusammen. Sie lebten zuerst in Jette-Müller-Weg der Rothesoodstraße und zuletzt am Teilfeld, Ohlsdorf, seit 2007, benannt nach Johanne Hen- Ecke Herrengraben. riette Marie Müller (18.7.1841 Dessau–8.7.1916 In ihrer Kindheit war sie bereits von ihrer Hamburg). Als „Zitronenjette“ bekannt, verkaufte Mutter zum Handeln mit Zitronen angehalten sie tagsüber am Graskeller und nachts in den worden. Diese Tätigkeit übte sie bis zu ihrer Ein- Knei pen Hamburgs Zitronen; ihre Lebensgeschich - weisung in die „Irrenanstalt Friedrichsberg“ aus. te wurde noch zu ihren Lebzeiten in ein Theater- Zu diesem Zeitpunkt war sie 53 Jahre alt. Zitro- stück gefasst, dadurch wurde sie zu einem Ham- nenjette hatte ein leidvolles Leben ertragen müs- burger Original sen. Johanne Henriette Müller war kleinwüchsig, 130 cm lang und 35 Kilo leicht, und fiel damit

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

16) Ebenda. Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 238

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aus dem Rahmen des als normal angesehenen licher Rollen dieser Art berühmte Wilhelm Sey- Erscheinungsbildes. Aber damit nicht genug: Jo- bold. 1940 schrieb Paul Möhring eine neue „Zi- hanne Müller galt auch als geistig ein wenig zu- tronenjette“. Er wollte keine Lokalposse auf Kos- rückgeblieben. Das führte dazu, dass viele Kun- ten der Zitronenjette, sondern ein Stück, das die dinnen und Kunden sie übers Ohr hauten, wenn Zuschauerinnen und Zuschauer sowohl zum La- sie in den Gassen und Straßen der Innenstadt chen als auch zum Weinen bringen sollte. Meh- ihre Zitronen feilbot. Niemand machte sich Ge- rere Hundert Male wurde seine „Zitronenjette“ danken über Zitronenjettes desolate wirtschaft- aufgeführt.17) liche Situation: sie war arm. Und kaum jemand dachte daran, was man ihr seelisch antat, wenn Johanne-Reitze-Weg sie zum Gespött der Straßenjugend wurde, die Ohlsdorf, seit 2007, benannt nach Johanne grölend hinter ihr herlief. Wenn Zitronenjette Reitze (16.1.1878 Hamburg–22.2.1949 Hamburg), abends in den Kneipen ihre Zitronen anbot, von 1919 bis 1921 Mitglied der Hamburgischen machten sich Kneipenbesucher einen Spaß dar- Bürgerschaft, von 1919 bis 1933 Mitglied des aus, ihr ein großes Glas Schnaps bringen zu las- reichsweiten SPD-Parteiausschusses, 1919 eine sen, welches sie zur allgemeinen Belustigung auf von 35 weiblichen Mitgliedern der deutschen Na- einen Zug leerte. Die Folge war: sie wurde alko- tionalversammlung holkrank und trank nun auch schon am Tage Siehe Vita von Johanne Reitze unter Reitze- eine Flasche Kümmelschnaps aus. Danach fand Ü weg, in diesem Band. sie oft kaum noch den Heimweg in die Neustadt zum Teilfeld 56. 1894 wurde Zitronenjette schließlich von Julia-Cohn-Weg der Polizei in die „Irrenanstalt Friedrichsberg“ ein- Alsterdorf, seit 1985, benannt nach Julia Cohn, geliefert. Dort lebte sie fast zwanzig Jahre lang geb. Cohen (14.10.1888 Hamburg–am 6.12.1941 und wurde mit Kartoffelschälen und Gemüse- deportiert nach Riga, gestorben zwischen De- putzen beschäftigt. Zeitungsberichten und Er- zember 1941 und 1944 in einem Lager bei Riga), zählungen zufolge soll sie dort einen „friedli- jüdisches Opfer des Nationalsozialismus. Lehre- chen Lebensabend“ genossen haben. Kein Wort rin an der Schule Meerweinstraße und an der von schmerzhaften Entzugserscheinungen, denn Schule für Sprach- und Handelskurse für Auswan- dort wurde ihr der Alkohol selbstverständlich derer in der Beneckestraße 6 vorenthalten. Berühmt und zum Hamburger Ori- Stolperstein vor dem Wohnhaus Lattenkamp 82. ginal wurde die Zitronenjette, weil sie „anders“ war und weil Menschen sich auf Kosten die- Jacob Cohn kam als Sohn von Moritz und Fru- ses Umstandes belustigten. Ihren Leiden wurde met (Flora) Cohn, geb. Schwartz, in Hamburg kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Stattdessen zur Welt.18) Sein Vater starb, als er zwölf Jahre gab sie den Stoff für eine Lokalposse, die um alt war. Als einziger Mann im Haushalt – er hatte 1900, also noch zu Lebzeiten der Zitronenjette, noch vier Schwestern – musste Jacob Cohn schon von Theodor Francke geschrieben und im Ernst- früh durch eigene Arbeit zum Lebensunterhalt Drucker-Theater auf St. Pauli aufgeführt wurde. der Familie beitragen. Später wurde er Kaufmann In der Hauptrolle der damals als Darsteller weib- und nach seiner Heirat mit Julia Mathilde Cohen

17) Vgl. Paul Möhring: Die Hambur- gutmachung) 080124; Forschungs- straße (Hrsg.) Hamburg 1983; Frank ger Originale. Hamburg o. J.; Emilie stelle für Zeitgeschichte in Ham- Bajohr: ‚Arisierung‘ in Hamburg. Die Weber: Meine Jugenderinnerungen burg/Werkstatt der Erinnerung, Verdrängung der jüdischen Unterneh- von 1836 bis 1851. Leipzig 1901. WdE/FZH 095 Cohn, Paul M.: „Es ist mer 1933–1945, Hamburg 1997 (Ham- 18) Für die gesamte Darstellung zu ganz klar, daß sie noch ’ne Hoffnung burger Beiträge zur Sozial- und Zeit- Julia Cohn vgl.: AfW (Amt für Wieder- hatten ...“, Gesamtschule Meerwein- geschichte, Band 35); Rüdiger Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 239

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am 18. Februar 1921 zunächst Gesellschafter, ab Auch Julia Cohn verlor infolge der national- 1926 dann Inhaber der von seinem Schwieger- sozialistischen Machtergreifung ihre Arbeitsstel- vater mitbegründeten Zigarren-Großhandels-Fir- le. 1930 war sie an die neu gebaute Schule Meer- ma Maass & Cohen. Seine spä tere Ehefrau Julia weinstraße versetzt worden. Auf Grundlage des Mathilde Cohn wurde als Tochter des Kauf- „Reichsgesetzes zur Wie - manns Ferdinand Siegmund Cohen und der derherstellung des Berufs - Rebecca Cohen, geb. Seeler, in Hamburg gebo- beamtentums“ wurde sie ren. Sie arbeitete als Volksschullehrerin seit dem jedoch mit Ablauf des 31. 1. Ok tober 1914 im Hamburger Staatsdienst und Oktober 1933 wegen ihrer un ter richtete unter anderem an der Schule Hum- jüdischen Herkunft ent- boldtstraße 30. 1924 wurde das einzige Kind lassen. Danach konnte sie des Ehepaares, Paul Moritz Cohn, geboren. Die keiner regelmäßigen be- Familie lebte zunächst in der Isestraße in der ruflichen Tätigkeit mehr Wohnung von Julia Cohns Mutter und bezog nachgehen, gab lediglich Julia Cohn nach deren Tod 1925 eine Neubauwohnung am gelegentlich Privatstun- Latten kamp 82. den. Auf ihr Ersuchen hin Das Unternehmen von Jacob Cohn florierte und wohl auch, nachdem sich einige Schulräte, indes nicht, „die Zeiten waren schlecht für ihn“, die sie aus ihrer Tätigkeit an der Schule Hum- erinnert sich der Sohn Paul Cohn. Laut der Han- boldtstraße kannten, für sie eingesetzt hatten, delskammerakte war die Firma bereits seit 1923 gestand die Landesunterrichtsbehörde ihr ein nicht mehr im Großhandels- und Export-/Import - geringes Ruhegeld zu, das ihr vom 1. November geschäft tätig; seit 1926 habe nur noch der Fir - 1933 bis zum 30. November 1941 gezahlt wur- menmantel bestanden, und es seien keine Ge - de. Die Familie war auf diese Pension angesichts schäfte mehr getätigt worden. Jacob Cohn soll der Arbeitslosigkeit von Jacob Cohn angewie- während dieser Zeit teilweise krank gewesen sein. sen; auch mussten sie von ihren Ersparnissen 1933 wurde die Firma stillgelegt, 1938 schließlich leben. aufgelöst und am 6. Januar 1939 im Handelsre- Bis Ende der 1930er Jahre diente den Cohns gister gelöscht. Zwischen 1933 und 1938 arbei- ein kleiner Schrebergarten in Groß Borstel als tete Jacob Cohn verschiedentlich als Buchhalter, Rückzugsort von den Sorgen und Nöten des All- zuletzt bei der Transithandelsfirma J. Jacobi & tags. Hier verbrachten sie ihre Wochenenden und Co. Dem Inhaber der Firma wurde am 13. März ihren Urlaub, hier trafen sie sich mit Verwand - 1938 von der Hamburger Devisenstelle durch ten und Bekannten, und hier konnte Jacob Cohn eine Sicherungsanordnung die Geschäftsfüh- zumindest etwas Gartenarbeit verrichten. Auch rungs- und Vertretungsbefugnis für seine Firma schrieb er gelegentlich kleine Gedichte. Den entzogen. Die Firma wurde schließlich liquidiert Schrebergarten gaben die Cohns schließlich auf, und das noch vorhandene Vermögen einem „ari- nicht auf spezifischen Druck hin, aber – so erin- schen“ Kaufmann überlassen. Der Angestellte nert sich Paul Cohn – „es schien eben so besser, Jacob Cohn wurde entlassen. Danach fand er daß man das aufgab“. nur noch Gelegenheitsarbeiten, so etwa bei der Nach Paul Cohns Erinnerung waren seine

Abb.: Stadtteilschule Winterhude/Winterhuder Reformschule Winterhude/Winterhuder Stadtteilschule Abb.: Jüdischen Gemeinde. Eltern keine religiösen Juden, obwohl zumindest

Wersebe: Julia Cohn. Eine Kollegin Landesgeschichtskommission der verschwand spurlos, in: Ursel Hoch- VVN/Bund der Antifaschisten, mit muth/Hans Peter de Lorent (Hrsg.), einem Geleitwort von Pro fessor Joist Hamburg: Schule unterm Haken- Grolle, Hamburg 1985, S. 201f. kreuz. Beiträge der ‚Hamburger Leh- rerzeitung‘ (Organ der GEW) und der Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 240

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der Vater in seiner Kindheit religiös erzogen wor - gelang ihnen jedoch, den 15-jährigen Sohn im den und mit den religiösen Bräuchen vertraut Mai 1939 mit einem Kindertransport nach Eng- gewesen sei: „Wir waren bewußte Juden, aber land zu schicken. In England angekommen, be- wir waren nicht religiös.“ An hohen Feiertagen mühte sich Paul Cohn vergebens beim dortigen seien die Cohns in die Synagoge am Bornplatz Flüchtlingskomitee (Refugee Committee) um gegangen. Auch politisch sei der Vater nicht be- eine Ausreisemöglichkeit für seine Eltern. Nach sonders aktiv gewesen, habe jedoch nach seinen dem Beginn des Krieges war ein solches Unter- Erfahrungen während des Ersten Weltkrieges, in fangen aussichtslos. dem er als Frontkämpfer mehrfach verwundet Jacob und Julia Cohn hatten zunächst noch worden war, Krieg abgelehnt. In der Reichspo- Briefkontakt mit ihrem Sohn; auch versuchte gromnacht im November 1938 wurde Jacob Cohn Jacob Cohn, seinem Sohn das Fahrrad nach Eng- verhaftet und in das Konzentrationslager Sach- land nachzuschicken. Doch selbst der Briefkon- senhausen verbracht. Nach mehreren Wochen takt wurde in der Folgezeit zusehends schwie - wurde er entlassen und man legte ihm dringend riger. Einige Zeit, so erinnert sich Paul Cohn, sei nahe, Deutschland zu verlassen. Jacob Cohn ist es möglich gewesen, Briefe über Freunde oder wohl seine Vergangenheit als Frontkämpfer im Bekannte in die USA zu schicken – wobei diese Ersten Weltkrieg zugute gekommen; er war Briefe so geschrieben werden mussten, dass aus unter anderem mit dem Eisernen Kreuz ausge- dem Inhalt nicht ersichtlich wurde, von wem zeichnet worden. Es sollte indes nur eine Ent- und woher die Briefe eigentlich kamen. lassung auf Zeit werden. Seit dem 19. September 1941 waren Jacob Als die Nationalsozialisten an die Macht und Julia Cohn verpflichtet, den „Judenstern“ kamen, glaubten Jacob und Julia Cohn zunächst zu tragen. Im Oktober 1941, so erinnert sich Paul nicht daran, auswandern zu müssen. Sie fühlten Cohn, habe er das letzte Mal durch das Rote sich ganz selbstverständlich als Deutsche – und Kreuz Nachricht von seinen Eltern erhalten. Er sie fühlten sich sicher. Das Gefühl der Sicherheit sah sie nicht wieder. Am 6. Dezember 1941 wur- nahm jedoch in der Folgezeit ab: Im Sommer den Jacob und Julia Cohn auf Anordnung der 1937 zogen die Cohns in die Klosterallee um, Geheimen Staatspolizei, Leitstelle Hamburg, vom eine jüdisch geprägte Gegend, in der sie sich bes- 4. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Sie über- ser aufgehoben fühlten als in Winterhude. Pa- lebten nicht. rallel bemühten sie sich seit dieser Zeit – und Paul Cohn erfuhr erst nach Kriegsende vom besonders nach der Inhaftierung Jacob Cohns – Tod seiner Eltern, auch wenn er vorher bereits dann um Auswanderungsmöglichkeiten – auch mit dieser Nachricht gerechnet hatte. Über die um den Preis, all ihren Besitz und ihr gesamtes genauen Todesumstände von Jacob und Julia Vermögen zurücklassen zu müssen. Zwar erhiel- Cohn ist nichts bekannt, ihr Todesdatum wurde ten sie im Mai 1939 die Genehmigung zur Emi- auf den 8. Mai 1945 festgesetzt. gration, doch mehrere Faktoren hinderten sie Text: Alexander Reinfeldt aus www.stolpersteine- anscheinend, umgehend auszureisen: So fand hamburg.de sich kein Land, in das sie hätten einreisen kön- Siehe auch Ü Hertha-Feiner-Asmus-Stieg (Kol - legin von Julia Cohn), in diesem Band. nen, zumal ihnen die finanziellen Mittel fehlten;

auch soll Jacob Cohn erkrankt gewesen sein. Es 1955. Gayen, Die Hamburg Marchtaler, von Hildegard Aus: Abb.: Straßen Bd 2 225-242 I-J:. 27.07.15 11:51 Seite 241

Biographien von A bis Z / J 241

Julienstraße Im Begriff „Jungfer“ spiegelt sich die Bedeu- Bahrenfeld, seit 1898, benannt nach Julie Gayen, tung weiblicher Jugend und Keuschheit für eine geb. von Lenz (28.8.1832 Hamburg–29.11.1886 patriarchale Gesellschaft wider. „Rein“ und öf- Altona-Ottensen), Ehefrau von Th. A. Gayen fentlich verehrungswürdig erschienen nur dieje- nigen jungen Frauen, die noch keine sexuellen Mit knapp 21 Jahren heiratete Julie von Lenz 1853 Kontakte hatten, keinem Mann „gehörten“, also den acht Jahre älteren Kaufmann, Reeder und potenziell von allen Passanten umworben wer- Konsul Theodor Alexan- den konnten, wie z. B. die Jungfern, die es lieb- der Gayen (siehe Ü Gayens ten, auf dem mit Bäumen bepflanzten Reesen- Weg, in Bd. 3 online**). damm an der Binnenalster zu promenieren, so Innerhalb von zehn Jah- dass der Volksmund im 17. Jahrhundert begann, ren, im Alter zwischen 23 den Damm Jungfernstieg zu nennen (siehe Ü und 33 Jahren gebar Julie Jungfernstieg, in diesem Band). (Offiziell wurde Gayen sechs Kinder. Das er aber erst 1931 so benannt.) erste kam knapp zwei Jah - Doch auch Jünglinge gelten als verführe- re nach der Hochzeit, im risch, unerfahren und frei von sexuell konnotier- Septem ber 1855 zur Welt. ter Sünde. Ihre Androgynie, ihre vermeintlich Julie Gayen Gustav Carl Heinrich wur- „weiblichen“ Anteile, ihre Bartlosigkeit wecken de nur drei Jahre alt. Das auch das Begehren von älteren Männern. Dies zweite Kind (Thekla 1856–1901) wurde ein Jahr darf in den vorherrschenden Künsten allerdings nach dem Tod des ersten Kindes geboren. Es folg - nur andeutungsweise thematisiert werden. Mög- ten 1860: Theodor; 1861: Amalie; 1863: Olga und licherweise ist das einer der Gründe dafür, dass 1865 Jan Peter Albert. flanierende und Straßen benennende Männer Siehe auch Ü Gayens Weg, Bahrenfeld, seit 1939, den heterosexuellen Normen entsprechend die und Theodorstieg, Bahrenfeld, seit 1995, und Jünglinge als Sehnsuchtsnamen ausklammerten. Theodorstraße, Bahrenfeld, seit 1890: Theodor Hinzu kommt, dass es ein Kriterium von patri- Alexander Gayen (1824–1900), Kaufmann, Reeder, Konsul, hatte in Bahrenfeld großen archaler Männlichkeit ist, eben nicht als Objekt Grundbesitz. Kolonialakteur, in Bd. 3 online**. des Begehrens zu gelten. Diese Rolle wird den Mäd chen und Frauen zugewiesen. Männer hin- Jungfernbrücke gegen, die sich als Subjekte setzten, werden nicht angeschaut – sondern schauen. Ältere Frauen, die HafenCity, seit 1887, Name ohne Bezug verliebt Jünglingen nachschauten, galten eh als Ganz unspezifisch nach Jungfern wurden vier lächerlich und saßen auch nicht in den entspre- Straßen in Hamburg benannt. Nach dem Pen- chenden Straßennamensvergabe-Gremien, von dant: den Jünglingen, heißen keine Straßen. den Jungfern und Jünglingen ganz zu schweigen. Mit der Benennung von Verkehrsflächen Text: Birgit Kiupel nach Jungfern begann es 1887. Damals wurde die Jungfernbrücke eingeweiht. 1944 endeten solche Benennungen, als eine Straße den Na- men Jungfernmühle bekam.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 242

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Jungfernmühle Jungfrauenthal Hausbruch, seit 1944 Harvestehude, seit 1870. Hochdeutsche Form eines der mittelalterlichen Namen des Frauen- Eine ehemalige Mühlenbesitzerin soll sich an klosters Harvestehude dieser Stelle ein Haus in Form einer Windmühle ohne Flügel gebaut haben. Im Volksmund wurde Als 1295 die Zisterzienserinnen des Klosters Har- das Haus „Jungfernmühle“ genannt, weil die vestehude von der Elbe an die Alster zogen, er- Hausbesitzerin unverheiratet gewesen war. hielt das Kloster den Namen „Frauenthal“ nach seiner Patronin Maria.19) Jungfernstieg Siehe auch Ü Abteistraße, Cäcilienstraße, Ele- beken, Frauenthal, Heilwigbrücke, Heilwig- Altstadt, offiziell benannt seit 1931 straße, Innocentiastraße, Nonnenstieg, in die- sem Band. Seit dem 17. Jahrhundert im Volksmund Jung- fernstieg genannt, nachdem der Reesendamm 1665 mit Bäumen bepflanzt worden war und Juttaweg diese Straße bevorzugt vom weiblichen Ge- Fuhlsbüttel, seit 1961. Frei gewählter Name. schlecht als Promenade genutzt wurde. Motivgruppe: Weibliche Vornamen

K

Käte-Latzke-Weg 1924 wurde Käte Latzke Mitglied der KPD und Bergedorf/Allermöhe, seit 1996, benannt nach des Zentralverbandes der Angestellten (ZdA). In Käte Latzke (8.5.1899 Königsberg–31.3.1945 dieser Zeit wurde sie wegen der Teilnahme an KZ Ravensbrück), Stenotypistin, Widerstands- einer nicht genehmigten Demonstration zu ei - kämpferin gegen den Nationalsozialismus nem Monat Gefängnis verurteilt. Zwischen 1926 und 1930 arbeitete sie im Büro der Roten Hilfe Käte Latzke entstammte einer Arbeiterfamilie. Hamburg. 1929 oder 1930 wurde sie von der Par- Nach dem Besuch der Volksschule in Königsberg tei wegen „Versöhnlertums“ ausgeschlossen und wurde sie Stenotypistin. 1916 lernte sie den Ham- arbeitslos. burger Schneider und Bürgerschaftsabgeordne- Durch ihre Verbindung mit Hans Wester- ten Hans Westermann (KPD) kennen, durch den mann gehörte Käte Latzke der Westermann- sie 1918 dem Kommunistischen Jugendverband Grup pe an, einem Zusammenschluss ehemaliger Deutschlands (KJVD) beitrat. KPD-Mitglieder, die sich schon vor der Macht- Um 1919 ging sie mit Westermann nach übernahme durch die Nationalsozialisten orga- Ham burg. Hier lebten die beiden zusammen. nisiert hatten und von der KPD als „Versöhnler“

19) Vgl.: Silke Urbanski: Geschichte des Klosters Harvestehude „In valle virginum“. Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung eines Nonnenklosters bei Hamburg 1245– 1530. Münster 1996, S. S. 22.. Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 243

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bezeichnet wurden, weil sie für eine Verständi- Jacob-Abshagen-Gruppe verhaftet und ins KZ gung mit der SPD eintraten. Aus diesem Grunde Ravensbrück deportiert. Dort starb sie infolge waren die Mitglieder der Westermann-Gruppe der erlittenen Folterungen und der Schwerstar- auch aus der KPD ausgeschlossen worden. Nach beit, die sie verrichten musste, an Typhus. der Machtübernahme durch die Nationalsozia- Siehe auch Ü Thüreystraße, in diesem Band. listen leistete die Gruppe illegale Widerstands- tätigkeit. Karolinenplatz 1933 wurde Hans Westermann von der Ge- St. Pauli, seit 2009, benannt in Anlehnung an die stapo verhaftet und im August 1934 wieder frei- Karolinenstraße gelassen. Er versuchte die Wiederaufnahme sei- ner MitstreiterInnen in die KPD zu erreichen, was 1935 nach Verhandlungen mit Funktionären Karolinenstraße der illegalen KPD schließlich auch gelang. We- St. Pauli, seit 1841, benannt nach Caroline Lucie nig später, in der Nacht vom 5. auf den 6. März Spalding, geb. Reuter. Vermutlich nach der Mut- 1935, wurden die Mitglieder der Westermann- ter des damaligen Patrons der Vorstadt St. Pauli, Gruppe verhaftet. Hans Westermann starb am Senator Spalding 16. März im Gestapogefängnis Fuhlsbüttel an den Folgen der Misshandlungen. Andere Quellen nennen den Vornamen: Chris- Käte Latzke wurde am 26. Juni 1935 vom tina, geboren 1744, gestorben 1804. Pastoren- Oberlandesgericht zu ei ner mehrjährigen Zucht- tochter aus Westfalen. Verheiratet mit dem Kauf- hausstrafe wegen Hochverrats verurteilt. Sie mann Thomas Heinrich Spalding (1728–1803) muss te die Strafe zuerst (siehe Ü Spaldingstraße, in Bd. 3 online**). Das in Lübeck-Lauerhof und Paar hatte neun Kinder, geboren: 1766, 1767, anschließend im KZ Mo- 1768, 1770, 1772, 1773, 1774, 1778 und 1780. ringen verbüßen. Siehe auch Ü Spaldingstraße, Hammerbrook, Im Gefängnis musste seit 1842: Andreas Friedrich Spalding (1778– sie unsäglich leiden. Sie 1859), Senator, in Bd. 3 online**. hatte Ödeme an den Bei- nen, Hungertyphus und Katharina-Jacob-Weg Herzanfälle. 1940 wurde Groß-Borstel, seit 1992, benannt nach Katharina sie aus der Haft entlassen, Jacob, geb. Emmermann (6.3.1907 Köln–23.8. Käte Latzke es wurde ihr aber verbo- 1989 Hamburg), Widerstandskämpferin gegen ten, in Hamburg zu blei- den Nationalsozialismus. Mitglied der Wider- ben. So zog sie nach Stralsund, wo sie als Buch- standsgruppe Bästlein-Jacob-Abshagen. Kauf- halterin Arbeit fand. männische Angestellte, Lehrerin Am 14. Dezember 1943 wurde sie auf Ver- anlassung der Hamburger Gestapo wegen ihres Katharina Emmermann war ein Kölner Arbeiterkind. Kontaktes zu ihrer früheren Hamburger Genossin Sie hätte gern die höhere Schule besucht, doch Magda Thürey (siehe Ü Thüreystraße, in diesem die Familie besaß dazu nicht die finanziellen

Abb.: Gedenkstätte Ernst Thälmann Gedenkstätte Ernst Abb.: Band) und Hamburger Mitgliedern der Bäst lein- Mittel. Katharina Emmermann wurde Kontoris-

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tin und engagierte sich in der Jugendgruppe der schen Jugendverband Deutschlands gewesen Gewerkschaft der Angestellten (GDA). Wegen waren. Das Paar heiratete im Dezember 1941. politisch linksgerichteter Tendenzen wurde die Mit ihrem Mann und anderen Genossen führ- Jugendgruppe bald verboten. Katharina Emmer- te Katharina Jacob die illegale KPD weiter und mann gründete daraufhin mit anderen Jugend- baute die Widerstandsorganisation „Bästlein- lichen die Jugendgruppe „Florian Geyer“. 1926 Jacob-Abshagen-Gruppe“ mit auf. In über drei- trat Katharina Emmermann dem Kommunisti- ßig Betrieben und Werften entstanden illegale schen Jugendverband Deutschlands bei – ab Gruppen, um den Kampf gegen das Nazi-Regime 1927 in Hamburg – und 1928 der KPD. zu führen. Katharina Jacobs Arbeit bestand u. a. Im kommunistischen Jugendverband hatte darin, Treffs zu vereinbaren, Geld zu sammeln sie Walter Hochmuth kennen- und lieben ge- und Geldspenden an die Organisation zu über- lernt. Das Paar heiratete 1927 und zog von Köln bringen, mit denen ausländische Zwangsarbeiter nach Hamburg, wo Walter Hochmuth 1931 Mit- und Kriegsgefangene unterstützt wurden. glied (KPD) der Hamburgischen Bürgerschaft 1942 bekam das Ehepaar Jacob die Tochter wurde. Im selben Jahr wurde ihre gemeinsame Ilse Jacob. Tochter Ursel Hochmuth geboren. Als Franz Jacob steckbrieflich gesucht wur- Nach der Machtübernahme durch die Natio- de, tauchte er unter und setzte den Widerstand nalsozialisten befand sich das Ehepaar Hoch- in Berlin mit Bernhard Bästlein und Anton Saef- muth im illegalen Widerstand. Walter Hochmuth kow fort. Dort bauten diese eine große Wider- wurde daraufhin steckbrieflich gesucht und ging standsorganisation auf. Katharina Jacob belie- in den Untergrund. Katharina Hochmuth wurde ferte sie mit Nachrichten aus Hamburg. im Juli 1933 wegen Verteilens von Flugblättern Nachdem Franz Jacob entdeckt und am verhaftet und am 20. Dezember 1934 zu einem 4. Juli 1944 verhaftet worden war, wurde Ka- Jahr Gefängnis wegen Vorbereitung zum Hoch- tharina Jacob zwei Tage später ebenfalls verhaf- verrat verurteilt. Sie war bis zum 20. Dezember tet. Die beiden wurden in der Prozessserie gegen 1935 in der Haftanstalt Lübeck-Lauerhof, zusam- die Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe vor den men u. a. mit Lucie Suhling (siehe Ü Lucie-Suh- Volksgerichtshof gestellt. Franz Jacob wurde am ling-Weg, in diesem Band) inhaftiert. 5. September 1944 zum Tode verurteilt und am 1938 kam es zur nächsten Festnahme; Ka- 18. September 1944 hin- tharina Hochmuth wurde im Polizeigefängnis gerichtet. Katharina Ja cob Fuhlsbüttel inhaftiert. wurde am 20. Septem ber 1939 ließ sich das Ehepaar Hochmuth 1944 aus Mangel an Be- schei den. 1940 begegnete Katharina, gesch. weisen freigesprochen, Hochmuth, ihrem späteren zweiten Ehemann, dennoch von der Gestapo dem ehemaligen KPD-Bürgerschaftsabgeordne- als „Schutzhäftling“ ins ten Franz Ja cob, wieder, der 1940 nach langjäh- Frauenkonzentrationsla- riger „Schutzhaft“ aus dem KZ Sachsenhausen ger Ravensbrück gebracht, entlassen wor den war und nun nach Hamburg wo sie bis zur Befreiung zurückkehrt war. Die beiden kannten sich schon vom Hitlerfaschismus in- aus Zeiten, als sie Mitglieder im Kommunisti- haftiert war. Katharina Jacob Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 245

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1947 besuchte Katharina Jacob einen Son- Katharinenbrücke derlehrgang bei Anna Siemsen (siehe Ü Anna- Altstadt, seit der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, Siemsen-Gang, in diesem Band), um Lehrerin zu benannt nach Katharina von Alexandrien, Prinzes- werden. Ab 1948 unterrichtete sie 25 Jahre lang sin aus Zypern (im 4. Jahrhundert am 25.11. in an der Schule Winterhuder Weg in Hamburg. Au- Alexandria den Märtyrertod gestorben). Ihr wurde ßerdem war sie in der Friedensarbeit aktiv, war die benachbarte St. Katharinen-Kirche geweiht. Vorsitzende des Kuratoriums Ehrenhain Ham - burger Widerstandskämpfer, im Landesvorstand Katharina von Alexandrien hatte sich geweigert, an der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes dem heidnischen Opferfest des Kaisers Maxan- (VVN), Mitglied der DKP und Seniorenvertrete- tius teilzunehmen. Sie warf dem König Abgöt- rin in der Lehrergewerkschaft GEW. terei vor und bekannte sich mit gelehrten Worten Siehe auch Ü Anna-Siemsen-Gang, Catharina- zum Christentum. 50 Philosophen sollten Katha - Fellendorf-Straße, Erna-Behling-Kehre, Ger - rina widerlegen – sie überzeugte jedoch alle. Die trud-Meyer-Straße, Helene Heyckendorf-Kehre, Folge: Die Philosophen bekannten sich zum christ - Lisbeth-Bruhn-Stieg, Lucie-Suhling-Weg, Mar- git-Zinke-Straße, Marie-Fiering-Kehre, Thürey- lichen Glauben, und auch die Kaiserin und 200 straße, Tennigkeitweg, in diesem Band. Ritter ließen sich von Katharina bekehren. Darauf- Siehe auch Ü Bittcherweg, Wilstorf, seit 1984: hin wurden alle auf kaiserlichen Befehl gemartert Herbert Bittcher (1908–1944), Mitglied der und enthauptet. Katharina wurde an ein Rad ge- SPD, Widerstandskämpfer gegen den National- nagelt und gefoltert. Als das Rad zerbrach, wurde sozialismus, in Bd. 3 online**. Katharina mit dem Schwert enthauptet. Siehe auch Ü Ernst-Mittelbach-Ring, Niendorf, seit 1982: Ernst Mittelbach (1903–1944), Ge- Die Legende erzählt, werbeoberlehrer, Widerstandskämpfer gegen dass Engel ihren Leib zum den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittel- Berg Sinai trugen und ihn bach-Stieg, Niendorf, seit 1987, in Bd. 3 on- line**. dort bestatteten. Auf die- sem Platz steht ein Katha- Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit 1988: Karl Kock (1908–1944), Gummifachar- rinenkloster. beiter aus Harburg, Kommunist, Widerstands- Dargestellt wird Ka- kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in tharina oft in fürstlicher Bd. 3 online**. Bekleidung, mit einem zer- Siehe auch Ü Kurt-Schill-Weg, Niendorf, seit brochenen Rad und ei nem 1982: Kurt Schill (1911–1944), KPD-Wider- standskämpfer gegen den Nationalsozialismus, Schwert. in Bd. 3 online**. Katharina gilt für Non - Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit nen, Schülerinnen, Mägde, 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- Konfektionsarbeiterinnen munistischer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. und Krankenpflegerinnen als Vorbild der Reinheit. Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Aller- möhe, seit 2002: Werner Schroeder (1916– Wegen ihrer gelehrten Dis- 1993), Bäcker, Kommunist, Widerstandskämp- putation war sie Schutz- fer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 herrin der Philosophie, online**.

Abb. v.l.n.r.:ViertelAbb. – und ihr Die Hauptkirche Katharinen. (Hrsg.): St. Katharinen St. KZ-Gedenkstätte Neuengamme | Aus: Hauptkirche 2013, S. 137/ Hamburg Wiederentdeckung. eine Katharinen) St. Kirche der in 1500, um (Holzfigur Hettchen Heinz-Joachim Fotograph: der Universitäten, der Bib - Heilige Katharina

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liotheken und der Studierenden. Durch die erlit- tende Ehefrau Clara Klabunde. Neuer Erläute- tenen Folterungen am Rad wurde Katharina die rungstext: benannt nach dem Ehepaar Clara K. Schutzpatronin der Spinnerinnen, Wagner, Mül- (30.12. 1906 Hamburg–7.7.1994 Hamburg), ler, Scherenschleifer, Chirurgen und Barbiere. Rechtsanwältin, Richterin, 1966 erste Gerichts- Als Nothelferin wurde sie u. a. angerufen gegen präsidentin in der Bundesrepublik Deutschland das „Gehemmtsein der Zunge“. als Präsidentin des Landesarbeitsgerichts Ham- Da Katharina sehr bekannt und beliebt war, burg, und Erich K. (1907–1950), Journalist und wurde sie die Patronin der St. Katharinen-Kirche. Bürgerschaftsabgeordneter (SPD) Ihr Grab befindet sich auf dem Ohlsdorfer Fried- Katharinenfleet hof, Lage: Z 11, 169. Altstadt, seit 1960, benannt nach dem ehemals Ein Urteil müsse tragbar sein – ob es richtig ist, sich dort befindenden Katharinenfleet lasse sich nicht immer eindeutig sagen, äußerte Clara Klabunde über ihre Tätigkeit als Richte- Katharinenkirchhof rin. Altstadt, seit dem 15. Jahrhundert, benannt nach Anfang des 20. Jahr- dem Kirchhof der St. Katharinen-Kirche hunderts geboren, gehör- te Clara Klabunde zu den Katharinenstraße wenigen Frauen, die in Altstadt, seit dem 14. Jahrhundert, benannt nach einem seit Jahrhunderten der Patronin der St. Katharinen-Kirche den Männern vorbehalte- nen Beruf tätig wurden: Kattunbleiche* der Juristerei. In diesem Bereich brachte sie es zur Wandsbek, seit 1951, benannt nach den Bleich- ersten Gerichtspräsiden- Clara Klabunde flächen der Kattundruckerei im 18. und 19. Jahr- tin der Bundesrepublik hundert Deutschland. Das Bleichen wurde oft von Frauen ausgeführt. Verheiratet war sie mit dem Journalisten Die Bleicherinnen wuschen die Tücher, breiteten Erich Klabunde, dem unter den Nationalsozialis - sie dann auf den Bleichflächen, die sich stets ten verboten wurde, zu publizieren, und der im Freien und am Wasser befanden, aus und seine Arbeit aufgeben musste. Zwischen 1933 spannten die Tücher an Pflöcken fest. Das Tuch und Anfang der 1950-er Jahre arbeitete sie als wurde mehrmals am Tag mit Wasser begossen. Rechtsanwältin. Gemeinsam mit Wilhelm Dre- Siehe auch Ü Große Bleichen und Hohe xelius (siehe Ü Wilhelm-Drexelius-Weg, in Bd. 3 on- Bleichen, in diesem Band. line**) führte sie eine Kanzlei am Neuen Wall. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Clara Klabunde, deren Mann nun Vorsitzender der Klabundeweg SPD-Bürgerschaftsfraktion war, ehrenamtliches Bergstedt, seit 1962, benannt nach Erich Klabun - Mitglied in einer Reihe von Gremien. Im Rah-

de. 2001/2002 ergänzt um die ebenso bedeu- men der Entnazifizierungsverfahren war sie als v.l.n.r.:Abb. (2) Hamburg Staatsarchiv

* Straßennamen auf unterlegtem Feld verweisen auf Frauenorte, Frau- enarbeiten und -aktivitäten.

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Spruchkammervorsitzende, außerdem im bera- Freund und Helfer des Grundstücksbesitzers tenden Ausschuss für das Pressewesen, im Vor- Herrn Sierich, in Bd. 3 online**. Sierichstraße, stand des Hamburgischen Anwaltsvereins und Siehe auch Ü Winterhude, seit 1863: Adolph Sierich (1826–1889), Grundei- der Vereinigung weiblicher Juristen und Volks- gentümer, in Bd. 3 online**. wirte tätig. Nachdem ihr Mann 1950 gestorben war, ging Clara Klabunde in den Staatsdienst Klärchenstraße und wurde Richterin. Winterhude, seit 1866, be- Neben dieser Tätigkeit fungierte sie 25 Jah- nannt nach Clara Octavia, re als Verfassungsrichterin am Hamburgischen geb. Repsold. Zweite Frau Verfassungsgericht und gehörte außerdem lange des Unternehmers und dem Vorstand des Hamburgischen Richterver- Grundeigentümers Adolph eins an. Sierich 1952 wurde Clara Klabunde zur Vorsitzen- den am Landesarbeitsgericht Hamburg und zur Mit ihm hatte sie drei Kin- Landesarbeitsgerichtsdirektorin berufen und war der. Clara Octavia war die entscheidend bei der Entwicklung des damals Enkelin von Johann Georg nur teilweise kodifizierten Arbeitsrechts betei- Repsold sowie Schwes ter Clara Octavia Sierich ligt, welches den sozialen Gegebenheiten der von Agnes Ahrens, geb. Nachkriegszeit angepasst werden musste. Repsold (siehe Ü Agnesstra- Am 1. September 1966 wurde Clara Klabun - ße, in diesem Band). de als erste Frau in der Bundesrepublik Deutsch- Siehe auch Ü Agnesstraße, Dorotheenstraße, land zur Präsidentin eines Landesarbeitsgerichtes Klärchenbrücke, Maria-Louisen-Brücke, Maria- Louisen-Stieg, Maria-Louisen-Straße, ernannt. Fünf Jahre wirkte sie als Gerichtsprä- in diesem Band. sidentin und trat 1971 in den Ruhestand. Für Siehe auch Ü Andreasstraße, Winterhude, ihre Verdienste um das Rechtswesen erhielt seit 1866, Andreas Meyer (?–?), benannt nach Clara Klabunde die Medaille für Treue Arbeit im dem Freund und Helfer des Grundstücks- Dienste des Volkes in Silber. besitzers Adolph Sierich, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Wilhelm-Drexelius-Weg, in Bd. 3 Siehe auch Ü Repsoldstraße, St. Georg, seit online**. 1843: Johann Georg Repsold (1771–1830), Feinmechaniker, Spritzenmeister, besaß die Firma Repsold & Söhne, eine Werkstatt für astronomische Instrumente, in Bd. 3 online**. Klärchenbrücke Siehe auch Ü Sierichstraße, Winterhude, seit Winterhude, seit 1904, benannt in Anlehnung an 1863: Adolph Sierich (1826–1889), Grundei- die Klärchenstraße. (Im Zuge der Klärchenstraße gentümer, in Bd. 3 online**. über den Leinpfadkanal führend) Siehe auch Ü Agnesstraße, Dorotheenstraße, Kleine Marienstraße Klärchenstraße, Maria-Louisen-Brücke, Maria- Altona, vor 1737, benannt nach Anna Maria Eiff- Louisen-Stieg, Maria-Louisen-Straße, in diesem Band. ler, geb. Kupferschmidt (gest. 1715) aus Mar- Siehe auch Ü Andreasstraße, Winterhude, seit schacht. Ehefrau des Bürgermeisters Hans Chris- 1866, Andreas Meyer (?–?), benannt nach dem tian Eiffler (siehe Ü Eifflerstraße, in Bd. 3 online**)

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Siehe auch Ü Eifflerstraße, Sternschanze, seit Schwester Elisabeth Schmidt ist ein Bericht er- 1950: Hans Christian Eiffler (1630–1703), Bür- halten, der auf eindrückliche Weise die Vorge- germeister in Altona, in Bd. 3 online**. schichte ihrer Begegnung mit Klopstock dar- stellt. Diese hält im Rückblick eine Geschichte Klopstockstraße fest, die uns auch einen Eindruck in gelegentlich Ottensen, seit 1846, benannt nach dem Dichter seltsame Zugangswege von Frauen zur Literatur Friedrich Gottlieb Klopstock. 2001/2002 ergänzt verschaffen kann: ,Meta hat den Messias da- um die ebenso bedeutende Ehefrau Meta Moller. durch zuerst kennen lernen, daß sie etwas von Neuer Erläuterungstext: benannt nach Friedrich den 3 ersten Gesängen, in Papillotten (Haarwick- Gottlieb K. (1724–1803), Dichter, und dessen ler) zerschnitten, auf der Toilette einer ihrer Ehefrau Margaretha, genannt Meta K. (16.3.1728 Freundinnen gefunden, welches sie zusammen Hamburg–28.11.1758 Hamburg), unter dem geklebt, und mit großem Beyfall gelesen; Giseke Namen Meta Moller bekannt, Schriftstellerin vielem Feuer gefragt: Ist mehr von diesen (!) gött- lichen Gedicht zu haben und wo? Und wer ist Meta Moller, Tochter aus gutem Hause, wurde im der Verfasser. Gisekens Antwort war: Es sind erst Alter von acht Jahren Halbwaise, als ihr Vater 3 Gesänge heraus in den Beyträgen ich will sie Peter Moller, ein Kaufmann, verstarb. Ein Jahr mitbringen; und der Verfasser heißt Klopstock, spä ter heiratete Metas Mutter Catharina Margare - ja wen sie den kennen lernten, so würde ich tha, geb. Persent, ein zweites Mal. Doch das Ver- ganz ausgethan das wäre ganz der Freund für hältnis zu dem Stiefvater Martin Hulle war so die Mollern (...)“1) schlecht, dass Meta zu ihrer Schwester Elisabeth Giseke vermittelte die Begegnung, nach der Schmidt in die Große Reichenstraße zog. Meta verlangte. Bei seinem nächsten Zusam - Meta Moller war „eine sprachenkundige und men treffen mit Klopstock in Braunschweig sagte literarisch interessierte junge Frau, die im Kreise er: „Höre Klopstock du must in Hamburg: ein des Dichters Friedrich von Hagedorn [siehe Ü Mädchen besuchen die heist Mollern. Ich gehe Hagedornstraße, in Bd. 3 online**] verkehrte und nicht nach Hamburg: um Mädchen zu sehen, eine Reihe der Mitarbeiter der ‚Bremer Beiträge‘ nur Hagedorn will ich sehen; ach Klopstock das persönlich kannte. Für die 1744 gegründeten Mädchen must du sehen daß ist so ein ganz ‚Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes ander Mädchen als andere, sie ließt den Messias und Witzes‘, die wegen ihres Erscheinungsortes mit Entzücken, sie kent dich schon, sie erwartet kurz die ‚Bremer Beiträge‘ genannt wurden, war dich, nun noch lang und breit Meta beschrieben Klopstock eine Zentralfigur, zumal, seitdem er Klopstock: geräth dabey in tiefes Nachsinnen.“2) dort 1748 die ersten drei Gesänge des ‚Messias‘ Über ihre erste Begegnung mit Klopstock im veröffentlicht hatte. Um dieses Zentralgestirn April 1751 schrieb Meta: „Nun mache ich die herum kreisten Namen wie Nikolaus Dietrich Thür auf, nun sehe ich ihn – Ja hier mußte ich Giseke, Karl Christian Gärtner oder Johann An- Empfindungen malen können. – Ich hatte schon dreas Cramer, mit denen Meta Moller in Kontakt so viele Fremde gesehen, aber niemals hatte ich war. Eben jene ersten drei Gesänge des ‚Messias‘ einen solchen Schrecken, einen solchen Schauer aber sollten der jungen 23-jährigen Frau gewis- empfunden. Auch hatte gar nicht die Meynung, sermaßen zum Schicksal werden. Von ihrer daß ein ernsthafter Dichter finster und mürrisch

** Band 3 online unter: www.ham- 1751–1785. München 1980, S. 15. burg.de/maennerstrassennamen 2) Franziska und Hermann Tiemann, a. a. O., S. 13. 1) Franziska und Hermann Tiemann: Es sind wunderschöne Dinger, meine Briefe. Meta Klopstocks Briefwechsel Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 249

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aussehen, schlecht gekleidet seyn und keine Ma- send, daß bei ihnen die Empfänglichkeit für die nieren haben müsse aber ich stellte mir doch ‚Bewegung der ganzen Seele‘ besonders ausge- auch nicht vor daß der Verfasser des Messias so prägt vorhanden war, und am ehesten ‚verste- süß aussehe, und so bis zur Vollkommenheit hend empfinden‘ konnten, was er meinte“, im schön wäre (Denn das ist Klopstock in meinen Alter von 23 Jahren seine erste Liebe erlebt. Klop - Augen, ich kanns nicht helfen, daß ichs sage).“3) stock, der „nach dem Erscheinen der ersten drei Nach dieser Begeg- ‚Messias‘-Gesänge sein Theologiestudium abge- nung fuhr Klopstock nach brochen [hatte] und (..) im Frühjahr 1748 Haus- Kopenhagen, wohin ihn lehrer bei einer entfernt verwandten Familie ei - der dänische König Fried- nes Kaufmannes (…) in Langensalza geworden rich V. eingeladen hatte, [war],“ glaubte, da er über ein gewisses dichte- um dort den „Messias zu risches Selbstbewusstsein verfügte, „er könne vollenden“. Dafür erhielt seine geliebte Kusine Maria Sophia Schmidt in Klopstock eine Pension Langensalza, (…) über den tiefen materiellen von 400 Reichstalern. Standesunterschied hinweg für sich gewin- Im Sommer 1752 ver- nen“.4) Doch seine Liebe wurde nicht erwidert: Meta Moller lobten sich Meta Moller einen Dichter zu heiraten, war eine unsichere und Klopstock, allerdings materielle Basis für eine junge Frau. Klopstocks gegen den Willen von Metas Familie. Zwei Jahre unerwiderte Liebe „enttäuschte ihn nicht nur später fand die Hochzeit statt. Das Paar zog (…), sondern verunsicherte tief sein religiöses nach Dänemark, wo es in Lyngby bei Kopenha- Selbst- und Weltverständnis, sein göttliches Aus- gen lebte. erwähltheitsbewußtsein. (…) Die Liebe war für Meta unterstützte ihren Mann bei seiner den Liebenden (…) vor allem eine Sache zwi- schriftstellerischen Tätigkeit, war seine erste Kri- schen dem Liebenden und dem allerhöchsten tikerin. Da sie mehrere Sprachen sprach, ver- Verursacher dieser Liebe: Gott. (…) Seine uner- mittelte sie ihm auch englische Literatur. Selbst füllt gebliebene Liebe störte (..) die harmonische war auch sie schriftstellerisch tätig. Ihre Briefe Weltordnung Gottes, deren Getriebe nur Liebe, sind später veröffentlicht worden. So schrieb sie nicht auch Hunger (…) zusammenhält“.5) z. B. das Drama „Abels Tod“. Aber zurück zu Meta: Der Tod Metas war Als Meta, die bereits zwei Fehlgeburten für Klopstock eine Katastrophe, an dem er noch durchlitten hatte, erneut schwanger wurde, zog Jahre zu tragen hatte. „Das Gefühl für Meta sie nach Hamburg, um dort zu entbinden. Sie blieb in Klopstock, auch nach ihrem Tod offen- starb 1758 nach der Entbindung ihres ersten sichtlich unvermindert lebendig, sie blieb der Kindes, das tot geboren wurde. Beide wurden Maßstab für eine neue Beziehung. Die Überlie- auf dem Kirchhof von Ottensen an der Chris- ferungen geben Auskunft, dass er diese neue Be- tianskirche beerdigt. Das Grab befindet sich ziehung gesucht hat, sie ihm aber nicht gelun- heute noch dort. gen ist. Wir wissen von zwei Beziehungen, die Vor der Liebe zu Meta hatte Klopstock, der beide nach fast gleichem Muster abgelaufen zu empfindsame Schriftsteller, der sich mit seinen sein scheinen. Das ist einmal 1762 die Begeg-

Abb.: Hamburg Museum Hamburg Abb.: Werken bewusst an Frauen wandte, „wohl wis- nung mit der 18 Jahre jüngeren Sidonie Diede-

3) F. u. H. Tiemann, a. a. O., S. 9. 4) Klaus Hurlebusch: Friedrich Gott- lieb Klopstock. Hamburg 2003, S. 30. 5) Klaus Hurlebusch, a. a. O., S. 31ff. Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 250

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rich [sie 20 Jahre, er 38 Jahre alt] aus Blanken- Lesegesellschaft (Kloppstock-Büsch’sche Lese- burg.“6) „Es ist eine Liebe zu dritt (…), die ge- gesellschaft) abgehalten, die er kurz nach seiner liebte Frau, die nicht mehr lebt, wird gleichsam Ankunft in Hamburg 1770 gegründet hatte. Les- mitgenommen in die neue Beziehung, weil noch sing (siehe Ü Lessingstraße, in Bd. 3 online**) immer sie das Maß ist. Soll die verlorene Liebe schrieb darüber am 12. Februar 1770 in einem in der neuen fortleben? (…)“7) Oder musste der Brief an Eva König (siehe Ü Eva-König-Bogen, in Dichter „Schuldgefühle gegenüber der toten Ge- diesem Band) nach Wien: Klopstock habe viele liebten“ haben, „wenn er sich einer neuen Liebe Frauen und Mädchen in Hamburg beredet: „auf zuwendet?“8) den Schrittschuhen laufen zu lernen, um ihm Aber auch diese Liebe kam nicht zum Ziel: Gesellschaft zu leisten. Aber das ist noch gar der Vater der Angebeteten hatte schon einen an- nichts gegen eine Lesegesellschaft, die er bei der deren Mann für seine Tochter ausersehen. Frau von Winthem errichtet hat, und von der Auch eine weitere Liebe zu einer sehr viel alle unsere Freundinnen sind“.9) Eva König ant- jüngeren Frau, die ebenfalls einem anderen wortete darauf: „Die Klopstockischen Schritt- Mann versprochen war, scheiterte. schuh- und Lesegesellschaften haben mich herz- Doch das Jahr 1770 brachte eine Wende in lich zu lachen gemacht. Meine Imagination stellte Klopstocks Leben. Klopstock, der in Dänemark mir gleich den ganzen Kreis von Damen vor, und ge lebt hatte, zog, nachdem sein Gönner und ihn mitten darinnen voller Entzückung, in dem Freund, der dänische Minister Graf von Berns- er bei einer rührenden Stelle die Tränen von den torff, 1770 durch Struensee (siehe Ü Struen see stra - Wangen seiner Zuhörerinnen herunterrollen ße, in Bd. 3 online**) aus seinem Amt verdrängt sah.“ (16.3.1771).10) worden war, mit ihm nach Hamburg. Dort nahm Johanna von Winthem stand an der Spitze Klopstock bei dem Kaufmann Johann Martin von dieses schöngeistigen Kreises, über den Lessing Winthem Quartier auf. Dieser war mit Klopstock und Eva König spotteten. In diesem Kreis war durch die 1769 geschlossene Heirat mit dessen es nicht nur vorgeschrieben, dass die Damen in angeheirateter Nichte Johanna Elisabeth, geb. der Überzahl zu sein hatten, sie hatten auch al- Dimpfel (1747–1821) (eine Nichte von Meta), ver- lein über die zu lesenden Texte zu befinden, wandt. Klopstock kannte Johanna Elisabeth seit „damit nicht unmoralische Sachen zu Gehör ge- ihrer Kindheit im Alter von fünf Jahren. Nun bracht wurden. (...) Vor allem die Empfindung für war sie Mitte zwanzig, verheiratet; Mutter von Klopstocks eigene Dichtung sollte geschult wer- vier Kindern, und führte einen aufwendigen den“.11) Und es musste für die Abende Eintritts- Lebenstil. Als Johann Winthem 1773 Bankrott geld bezahlt werden. Damit war die Lesegesell- machte, fühlte sich Klopstock verpflichtet, sei- schaft, von der nicht genau gesagt werden kann, ner Nichte mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. wie lange sie bestand (nachweisbar bis 1784), Er teilte mit ihr sein Geld und zog auch mit der auch eine gute Einnahmequelle für Klopstock. Familie, die sich nun räumlich verkleinern mus- Als Eva König zurück nach Hamburg kam, ste, in die Königstraße (heute Poststraße). Hier konnte sie feststellen, dass ihre Freundinnen Klop- war Klopstock der eigentliche Hausherr (die Ehe stocks Lesegesellschaft mit Begeisterung aufge- der Winthem verlief nicht glücklich). Er empfing nommen hatten. Die Damen trafen sich zuerst viele Besuche, und hier wurde seine legendäre bei von Winthems, später gingen sie zu Madame

** Band 3 online unter: www.ham- man von liebenswürdigen Leserinnen VII: Schriftenreihe des Klopstockhau- burg.de/maennerstrassennamen verehrt wird.“ Sonderausstellung im ses.) Klopstockhaus Quedlinburg vom 14. 7) Heidi Ritter, a. a. O., S. 13. 6) Heidi Ritter: Klopstocks (Ver)Bin- März 2003 bis 31. Dezember 2003. 8) Ebenda. dungen zu Frauen, in: Klopstocks Hrsg. Städtisches Museum Quedlin- 9) Paul Raabe: Eva König. Hamburg. (Ver)Bindungen zu Frauen „… wenn burg. Quedlinburg 2003, S. 12. (Bd. 2005, S. 67. Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 251

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Büsch, „die sich für diese Vorlesegesellschaft en- Frauen der oberen, bürgerlichen oder auch adli- gagierte (…)“.12) gen Gesellschaft [ist], die eine hohe Bildung, Den Versammlungsraum der Lesegesell- meist eine große Fähigkeit zu eigenem künstle- schaft schmückte das große Bild jener Leserin, rischen Ausdruck hatten. Es fällt auf, dass er sich das Tischbein 1773 für die Gesellschaft gemalt nicht abwertend über dieses weibliche künst le - hatte. Auf ihm ist in repräsentativer Haltung die rische Bemühen äußert, es nicht Dilettantismus Muse der Deklamation zu sehen, gekleidet in nennt, wie später Goethe [siehe Ü Goetheallee, in einem antikisierenden Gewand; der Muse zur Bd. 3 online**] und Schiller [siehe Ü Schillerstra- Seite: ein aufgeschlagenes Buch mit Klopstocks ße, in Bd. 3 online**]. Die dichterischen Versuche Ode „Teone“. Metas (…) sind von Klopstock nach ihrem Tod Johanna von Winthem und ihre älteste mit Hochachtung herausgegeben worden, die Tochter Meta wurden die Sängerinnen der Klop- Kunst der Angelica Kauffmann hat er bewundert, stock Oden, die die Hamburgerin Luise Reichardt die Sängerin Johanna Elisabeth v. Winthem ge- (siehe Ü Reichardtstraße, in diesem Band) in Mu- schätzt. (…) Klopstock hat es offensichtlich ver- sik umgesetzt hatte. mocht, mit den Frauen, deren Begabungen ihn Klopstock widmete der damals 23-jährigen überzeugten, ganz partnerschaftlich umzugehen. Johanna von Winthem das Lied „Ich bin ein Sein eigenes hohes Selbstverständnis vom Dich- deutsches Mädchen“. Beide übersetzten es auch ter und seinem Beruf, in dem er sich als Mittler ins Plattdeutsche. zwischen Gott und den Menschen verstanden Johanna besuchte mit Klopstock auch die wissen wollte, gab ihm ein Gefühl von Unabhän- Hamburger Gesellschaften und übernahm seine gigkeit und Freiheit, das auch in seinem gesell- Korrespondenz. schaftlich-sozialen Handeln sich ausdrückte“. 13) Nachdem Johannas Mann 1789 gestorben Durch solch ein seelisches Rüstzeug ausgestattet, war, wartete Klopstock noch zwei Jahre, bis er waren Frauen keine Konkurrenz für ihn. 1791 im Alter von 67 Jahren seine „Windeme“, Siehe auch Ü Eva-König-Bogen, Reichardt- wie er Johanna zärtlich nannte, heiratete. straße, in diesem Band. Sie und ihre Tochter Meta wurden Klop- Siehe auch Ü Claudiusstraße, Marienthal, seit stocks treueste Pflegerinnen, als er in seinen 1890: Matthias Claudius (1740–1815), Dichter, in Bd. 3 online**. letzten Lebensjahren zunehmend an Kraft verlor Siehe auch Ü Goetheallee, Altona-Altstadt, seit und von Fieberschüben geplagt wurde. 1928: Johann Wolfgang von Goethe (1749– Johanna Klopstock überlebte ihren zweiten 1832), Dichter, in Bd. 3 online**. Mann um achtzehn Jahre. Sie starb am 19. Ja- Siehe auch Ü Hagedornstraße, Harvestehude, nuar 1821 und wurde neben Klopstock beige- seit 1870: Friedrich von Hagedorn (1708– setzt. Auf ihrem Grabstein steht: „Klopstocks 1754), Dichter, in Bd. 3 online**. zweite Gattin Johanna Elisabeth – Seine geliebte Siehe auch Ü Lessingstraße, Hohenfelde, seit Gefährtin und Trösterin auf dem letzten Lebens- 1863: Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), in Bd. 3 online**. wege. Metas Liebling. An Herz und Geist ihr Siehe auch Ü Schillerstraße, Altona-Altstadt, ähnlich.“ seit 1859 und 1950: Friedrich von Schiller Bei Klopstocks Verhältnis zu Frauen fällt (1759–1805), Dichter, in Bd. 3 online**. auf, dass hierfür kennzeichnend „der Kontakt zu

** Band 3 online unter: www.ham- 13) Heidi Ritter, a. a. O., S. 27f. burg.de/maennerstrassennamen

10) Ebenda. 11) Paul Raabe, a. a. O., S. 71f. 12) Ebenda. Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 252

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Siehe auch Ü Struenseestraße, Altona-Altstadt, aufgezeichnet hat: Hero, die Priesterin der Aphro- seit 1950: Johann Friedrich von Struensee dite in Sestos an der Meerenge Hellespont, heute (1737–1772), Stadtphysikus in Altona, in als Dardanellen bekannt, und Leander aus Aby - Bd. 3 online**. dos, einer damals bedeutenden Hafenstadt. Da sie ihre Liebe nur heimlich leben konnten, Klosterallee* durchschwamm Leander jede Nacht diese Meer- Harvestehude/Hoheluft-Ost, seit 1870: nach dem enge, geleitet durch Lichter, die Hero heimlich Landsitz des Nonnenklosters Harvestehude aufgestellt hatte. Doch eines Nachts löschte der Sturm diese kleinen Leuchtfeuer der Liebe, Lean- der verlor die Orientierung und ertrank. Als Hero Klosteralleebrücke* am nächsten Morgen seine Leiche entdeckte, Harvestehude, seit 1904: siehe Klosterallee stürzte sie sich ins Meer. Dieses kleine Epos über eine tragisch en- dende, große Liebe wurde seither in etlichen Klostergarten* Kunstwerken neu erzählt, in einigen Variationen Harvestehude, seit 1896: In Erinnerung an den des Stoffes ist es eine neidische Priesterin oder Klostergarten des Zisterzienserinnen-Klosters Nonne, die das Licht verlöschen und Leander er- Harvestehude trinken lässt, wie etwa in einer Volksballade, in der es in der ersten Strophe heißt: Klosterstern* Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb, Harvestehude, seit 1884: nach dem benachbar- sie konnten zusammen nicht kommen, ten Zisterzienserinnen-Kloster Harvestehude das Wasser war viel zu tief.

Das Schicksal dieser Königskinder wird zeit- Klostertor* typisch bearbeitet, z. B. in Friedrich Schillers Hammerbrook, seit 1856: benannt nach dem be- (siehe Ü Schillerstraße, in Bd. 3 online**) Ballade nachbarten Kloster St. Johannis, dass in dieser „Hero und Leander“, in Franz Grillparzers (sie- Zeit und an diesem Ort als Damenstift genutzt he Ü Grillparzerstraße, in Bd. 3 online**) Trauer- wurde spiel „Des Meeres und der Liebe Wellen“ oder in Fanny Hensels (siehe Ü Geschwister-Mendelssohn- Siehe auch Ü Abteistraße, Cäcilienstraße, Elebeken, Frauenthal, Heilwigbrücke, Heilwig- Stieg, in diesem Band) dramatischer Szene für straße, Innocentiastraße, Jungfrauenthal, in Singstimme und Orchester „Hero und Leander.“ diesem Band. Dabei werden den Liebenden geschlechts- spezifische Handlungsräume zugewiesen: Hero Königskinderweg muss als Priesterin eingeschlossen und keusch Schnelsen, seit 1948, Märchenmotiv leben – und auf den Geliebten warten. Dieser muss erst eine lebensgefährliche Mutprobe Antike Ahninnen der „Königskinder“ sind zwei wagen, also in der Nacht durch die Meerenge Liebende aus der griechischen Mythologie, wie schwimmen, um Liebe und Sexualität zu genie- sie der Dichter Musaios im 6. Jahrhundert v. Chr. ßen.

* Straßennamen auf unterlegtem Feld verweisen auf Frauenorte, Frau- enarbeiten und -aktivitäten.

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Eine andere Perspektive auf dieses sagen- mit gesprochenen Texten wurden die Königskin- hafte Paar entwickelt Elsa Bernstein alias Ernst der 1897 im Münchner Hoftheater mit Erfolg ur- Rosmer (1866–1949) in ihrer Dichtung „Königs- aufgeführt; es folgten darauf noch Aufführungen kinder“, die sie für Engelbert Humperdinck (sie- an rund 130 Bühnen. Als durchkomponierte he Ü Humperdinckweg, in Bd. 3 online**) zu einem Oper gingen die Königskinder dann am 28. De- Libretto für die Oper „Königskinder“ umarbeitete. zember 1910 in der Metropolitan Opera in New Als Tochter des Wagnermitarbeiters, Diri- York über die Bühne und wurden gefeiert als genten und Musikschriftstellers Heinrich Porges „die Krone des nachwagnerianischen Opern- (1837–1900) kam sie früh mit Wagners Mythen- schaffens“. Engelbert Humperdinck war dazu ei- welten und antisemitischer Haltung in Berüh- gens mit Frau Hedwig mit dem Dampfer „Kaiser rung. Ihre Eltern waren jüdischer Herkunft und Wilhelm der Große“ angereist. ließen ihre zwei Töchter protestantisch taufen. Geraldine Farrar, die Sängerin der Gänse- Verheiratet war sie mit dem Rechtsanwalt und magd, wurde auch sehr gelobt wegen ihrer vir- späteren Justizrat Max Bernstein (1854–1925), tuos dressierten Gänse. der Sozialisten verteidigte und das Sozialisten- Im künstlich märchenhaft gewebten Königs- gesetz bekämpfte, sich für Demokratie, Rechts- kinder-Stoff, in dem sich auch Elemente des Ju- staat und soziale Gerechtigkeit einsetzte und gendstils und Symbolismus nachweisen lassen, gegen den „Völkerwahnsinn genannt Krieg“. wird auch Gesellschaftskritik deutlich: Ein jun- Das Ehepaar Bernstein veranstaltete in Mün - ges Mädchen, uneheliches Kind einer Henkers- chen einen „kultivierten, intellektuellen Salon“, tochter und eines Henkersknechtes, der ihren wie sich Katia Mann erinnert, die dort ihre Be- Beinahe-Vergewaltiger umgebracht und dafür kanntschaft mit Thomas Mann (siehe Ü Thomas- zum Tode verurteilt wurde, wächst bei einer Mann-Straße, in Bd. 3 online**) festigte. Außer- alten, weisen und zauberkundigen Frau im Wald dem trafen sich hier Prominente wie Rainer auf. Das junge Mädchen, das diese Frau für ihre Maria Rilke (siehe Ü Rilkeweg, in Bd. 3 online**), Großmutter hält, hütet Gänse. Als eines Tages Ricarda Huch (siehe Ü Ricarda-Huch-Ring, in die- ein Königssohn im Jägerdress vorbeikommt, er- sem Band), Ludwig Ganghofer, Franz von Stuck fahren beide die Liebe auf den ersten Blick. Der etc. Königssohn schenkt der Gänsemarkt eine Krone; Märchenhaft waren die Entstehungsbedin- sie will ihn begleiten, doch der Zauber der Hexe gungen der Königskinder nur bedingt. Heinrich hält sie zurück. Er zieht verständnislos weiter. Porges hatte seinem Freund Engelbert Humper- Kurz darauf erscheinen drei Bürger der Stadt dinck, mit dem er zusammen etliche Wagner- Hellabrunn, um die Hexe um Rat zu fragen, Opern auf die Bühne gebracht hatte, das neueste denn eine Königin oder ein König werden ge- Mädchendrama von Elsa zum Lesen gegeben sucht. Die Hexe rät: mit der Frage, ob er dazu nicht Musik kompo- So macht Eure Ohren lang! nieren wolle. Humperdinck, der gerade zu einer Solche Wahrworte mögt Ihr den Bürgern sagen: Aufführung von Hänsel (siehe Hänselstieg, in Ü Wenn morgen die Mittagsglocken schlagen, Bd. 3 online**) und Gretel (siehe Ü Gretelstieg, in und Ihr zum Hellafeste bereit diesem Band) unterwegs war, las das Buch in auf Anger und Wiese versammelt seid – der Bahn und war sehr angetan. Als Melodram der erste, der schlendert zum Stadttor herein,

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er sei ein Schalk die Prominentenhäuser im KZ Theresienstadt. oder Wechselbalg, Gerhart Hauptmann (siehe Ü Gerhart-Hauptmann- der mag Euer König sein. Platz, in Bd. 3 online**), in dessen Arbeitszim- mer eine Adolf-Hitler-Büste stand, wie etliche In Hellabrunn wird der Königssohn von der ZeitzeugInnen berichten, sah sich nicht veran- Wirtstochter umworben und verdingt sich als lasst, sich für seine Bekannte – er hatte im lite- Schweinehirt. Unterdessen hat der Spielmann rarischen Zirkel der Bernsteins verkehrt – und die Gänsemagd über ihre wahre Herkunft auf- angeheirateten Verwandten Elsa Bernstein ein- geklärt, worauf sie die Hexe verlässt, die sie ver- zusetzen. Elsa Bernsteins Tochter Eva (1894– flucht. Hellabrunn erwartet die Ankunft des Kö- 1986), Geigerin und nach dem Zweiten Welt- nigs, doch die Wut ist groß, als um zwölf im krieg Professorin an der Musikhochschule in Stadttor die Gänsemagd, die Gänse und der Ham burg, war verheiratet mit Klaus Haupt- Spielmann erscheinen. Königssohn und Gänse- mann, einem Sohn von Gerhart Hauptmann.14) magd, die sich endlich wiederhaben, werden Text: Birgit Kiupel verjagt, der Spielmann ins Gefängnis geworfen Siehe auch Ü Geschwister-Mendelssohn-Stieg, und die Hexe verbrannt. Am Schluss sterben die Gretelstieg, Reichardtstraße, Ricarda-Huch- Ring, in diesem Band. vertriebenen Königskinder. Sie hatten im verlas- Siehe auch Ü Gerhart-Hauptmann-Platz, Alt- senen Hexenhaus ihre Krone gegen ein Brot ein- stadt, seit 1946: Gerhart Hauptmann (1862– getauscht, – das ihnen die zufällig anwesenden 1946), Schriftsteller, in Bd.3 online. Holzhacker und Besenbinder reichen. Es han- Siehe auch Ü Grillparzerbrücke, Uhlenhorst, delt sich jedoch um ein tödliches Zauberbrot, seit 1960: Franz Grillparzer (1791–1872), Dich- das den beiden schönste Träume beschert. Mit ter, in Bd.3 online. Bildern höchsten Glücks schlafen sie miteinan- Siehe auch Ü Hänselstieg, Schnelsen, seit 1970: Märchengestalt, in Bd. 3 online**. der im Schnee ein und erfrieren, wo sie vom kla- Humperdinckweg, genden Spielmann entdeckt werden. Siehe auch Ü Bahrenfeld, seit 1957: Engelbert Humperdinck (1854– Das Operntextbuch Königskinder war ein 1921), Opernkomponist, in Bd.3 online. großer buchhändlerischer Erfolg. Doch mit Be- Siehe auch Ü Rilkeweg, Groß Flottbek, seit ginn der Herrschaft der Nationalsozialisten ge- 1950: Rainer Maria Rilke (1875–1926), Dich- riet die betagte und erblindete Dichterin Elsa ter, in Bd.3 online. Bernstein in den Fokus der Verfolger. Ihr Pseu- Siehe auch Ü Schillerstraße, Altona-Altstadt, donym Ernst Rosmer schützte das Büchlein, seit 1859 und 1950: Friedrich von Schiller (1759–1805), Dichter, in Bd. 3 online**. 1941 war das 191000ste Exemplar erschienen, Siehe auch Ü Thomas-Mann-Straße, Bramfeld, bis 1943 sind noch Opernaufführungen nach- seit 1961: Thomas Mann (1875–1955), Schrift- weisbar. Nach der Machtübernahme durch die stelle, in Bd. 3 online**. Nationalsozialisten wurde Elsa Bernstein zu- sammen mit ihrer Schwester Gabriele Porges aus der Münchener Wohnung in der Brienner Kösterstraße Straße vertrieben. Sie kamen in kleineren Woh- Eppendorf, seit 1901, benannt nach den dort lie- nungen unter und wurden schließlich 1942 in genden Stiftswohnungen der Heinrich und Caro- das KZ Dachau verschleppt und von da aus in line Köster-Testament-Stiftung

** Band 3 online unter: www.ham- 3. Auflage, Hamburg 2011. burg.de/maennerstrassennamen Siehe auch: Elke Liebs: Königskinder, in: Helga W. Kraft, Dagmar C. G. Lo- 14) Rita Bake, Birgit Kiupel (Hrsg.): renz (ed): From Fin-de-Siècle to There - Elsa Bernstein – Das Leben als Dra - sienstadt. New York 2007, S. 45–56. ma. Erinnerungen an Theresienstadt. Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 255

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Heinrich Köster (13.1.1803 Hamburg–30.8.1884 gebaut, die an der heutigen Kellinghusen straße Hamburg) vermachte 1 Million Goldmark für ei- standen (damals Kirchentwiete) und die dort spä- ne wohltätige Stiftung, die den Namen „Heinrich ter abgerissen wurden. und Caroline Köster Testament-Stiftung“ tragen Heute unterhält die Stiftung am Amalie-Diet- sollte. Vorgesehen war der Bau von Wohnungen rich-Stieg 2 eine Altenwohnheimanlage. Im 1995 für bedürftige kinderreiche Familien und alte Men- errichteten Neubau wurde die Skulptur von Mar- schen, die diesen zu einer geringen Miete über- garethe Elisabeth Milow, geb. Hudtwalcker (sie- lassen werden sollten. he Ü Hudtwalckerstraße, in Bd. 3 online**) aufge- Nach dem Tod von Heinrich Köster nahm stellt. Sie war die Großmutter des Stifters Heinrich sei ne Witwe Caroline, geb. Benjamin (16.9.1824– Köster. 10.9.1894), seine Wünsche und Anordnungen in Sein Vermögen hatte Heinrich Köster als ihr Testament auf und rief damit die Stiftung Kaufmann und Reeder hauptsächlich mit Aus- rechtswirksam ins Leben. Die Verwirklichung landsgeschäften vornehmlich nach der Karibik- die ser testamentarischen Anordnungen wurde insel St. Thomas gemacht, von der auch seine gleich nach ihrem Tod in Angriff genommen. Frau Caroline stammte. „Schon zu seinen Lebzeiten, in den Siebzigerjah- St. Thomas bildete von 1666 bis 1917 zusam - ren des [19. Jahrhunderts] men mit den beiden anderen Jungferninseln unterhielt Heinrich Kös- St. John und St. Croix die dänische Kolonie Dä- ter 16 kleine einstöckige nisch-Westindien. Diese spielte eine große Rolle Häus chen mit 2- und 3- im atlantischen Dreieckshandel. Bei diesem lie- Zimmer-Wohnun gen an ferten europäische Kaufleute v. a. Branntwein, der (…) heutigen Kelling- Pulver und Gewehre nach Guinea (Westafrika) husenstraße (…). Er über- und tauschten die Waren dort gegen Sklavinnen ließ diese Wohnungen in und Sklaven, Gold und Elfenbein. Die Sklavinnen Not Geratenen und Be- und Sklaven verschifften sie in die Karibik nach dürftigen kos tenlos oder St. Thomas, wo sie auf den dortigen Tabak-, Zu- Caroline Köster zu geringer Miete. Da er ckerrohr- und Indigoplantagen grausame Skla- auch in der Nähe (…) heu - venarbeit leisten mussten. Diese war so unbarm- te Ludolfstraße sein Privathaus hatte, sammelte herzig hart, dass die meisten Versklavten jung Heinrich Köster durch den engen Kontakt mit starben. Im Tausch gegen die Afrikanerinnen und den Bewohnern Erfahrungen, die sich später in Afrikaner erhielten die Kaufleute Waren wie Zu- den Abordnungen seines Testamentes nieder- cker, Baumwolle, Indigo, Tabak und Kautschuk, schlugen. Die 16 kleinen Häuschen in Eppendorf die sie wiederum mit Gewinn auf dem europäi- waren sein Modell für die Stiftung, (…) [es] soll- schen Märkten verkauften.16) ten (…) nach dem Tode der Eheleute ‚kleine Häu- Text zur Berufstätigkeit Kösters: Frauke Steinhäuser ser mit Gärten, für die Arbeiterbevölkerung gün- Siehe auch Ü Hudtwalckerstraße, Winterhude, stig gelegen, zum halben Mietwert wie ähnliche seit 1899: Dr. Martin Hironymus Hudtwalcker (1787–1865), Senator, und Johann Michael Wohnungen in der gleichen Gegend gebaut wer- Hudtwalcker (1747–1818), in Bd. 3 online**. den (…).‘“15) So wurden ab 1901 an der heutigen

Abb.: Heinrich und Caroline Köster-Stiftung Caroline und Heinrich Abb.: Kösterstraße 23 Reihenhäuser im Stil der Häuser

** Band 3 online unter: www.ham- 16) Christopher Nwanaga: Flensburg burg.de/maennerstrassennamen im Transatlantischen Dreieckshandel, in: Heiko Möhle (Hrsg.): Branntwein, 15) Heinrich und Caroline Köster Tes- Bibeln und Bananen, Neuaufl., Berlin tament-Stiftung in Hamburg. Ham- 2011, S. 15f. burg 1996, S. 5. Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:21 Seite 256

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Kollwitzring Max Liebermann (siehe Ü Liebermannstraße, Billstedt, seit 1971, benannt nach Käthe Kollwitz, in Bd. 3 online**) war sehr beeindruckt von die- geb. Schmidt (8.7.1867 Königsberg–22.4.1945 sem Werk und schlug vor, Käthe Kollwitz die Moritzburg bei Dresden), Graphikerin, Bildhaue- Kleine Goldene Medaille zu verleihen. Kaiser Wil- rin, Malerin helm II. lehnte dies jedoch ab mit der Begrün - dung, er wolle die Auszeichnung nicht durch eine Käthe Kollwitz entstammte einem sozial engagier- weibliche Preisträgerin herabwürdigen. ten Elternhaus. Der Vater Karl Schmidt (1825– 1899 erfolgte Käthe 1898) gab sein Jurastudium auf, um sich als Kollwitz’ Aufnahme in die Maurermeister sozial engagieren zu können. Die Berliner Secession, einer Mutter Katharina, geb. Rupp kam aus einer un- oppositionellen Künstler- dogmatischen, freireligiösen Theologenfamilie. Innengruppe. 1907 erhielt Käthe Kollwitz’ Maltalent wurde von ihren sie den „Villa-Romana- Eltern sehr gefördert. Von 1885 bis 1886 studier - Preis“ und mit ihm ein te sie an der Künstlerinnenschule Karl Stauffer- Atelier in Florenz. Durch Berns in Berlin; zwischen 1888 und 1889 absol- ihren Zyklus „Bauern- vierte sie ein Malstudium bei Ludwig Herterich krieg“ hatte Käthe Koll- in München. 1890 kehrte sie in ihre Heimatstadt witz internationale Bedeu - Käthe Kollwitz Königsberg zurück. Durch realistische Darstel- tung gewonnen und stellte lungen, vor allem des Arbeitermilieus, ergriff sie in London, Paris, Wien und Moskau aus. für das Proletariat Partei. 1891 heiratete sie ihren Als sie nach Berlin zurückkehrte, entwarf langjährigen Verlobten, den sozialdemokrati- sie Plakate, Aufrufe und Flugblätter. 1910 be- schen Kassenarzt Karl Kollwitz, und zog mit ihm gann sie mit der Bildhauerei. nach Berlin. 1892 und 1896 wurden ihre beiden Käthe Kollwitz vertrat den Standpunkt, dass Söhne geboren. Kunst die sozialen Bedingungen darzustellen Käthe Kollwitz’ Arbeitsbereiche waren die hätte. So arbeitete sie auch für die sozialistische der Mutter, Hausfrau, Arzthelferin in der Praxis Internationale Arbeiterhilfe (IAH). ihres Mannes und die der Künstlerin. Ein we- Im Ersten Weltkrieg wurde einer ihrer bei- sentliches Thema ihres künstlerischen Schaffens den Söhne als Soldat im Krieg getötet. Dadurch war die Frau, die Menschlichkeit und Gefühl ver- wandelte sich Käthe Kollwitz patriotische Ein- mittelt und Partei ergreift. Käthe Kollwitz kämpf- stellung in eine pazifistische. te mit ihrer Malerei für Frieden und so ziale Ge- 1932 setzte sie ihrem Sohn durch das von rechtigkeit. Sie stellte immer wieder Menschen ihr geschaffene Mahnmal „Eltern“, das auf dem in Not dar. Nach der Uraufführung von Gerhart Soldatenfriedhof in Roggevelde/Belgien aufge- Hauptmanns Drama (siehe Ü Gerhart-Hauptmann- stellt wurde, ein Denkmal. Platz, in Bd. 3 online**) „Die Weber“ entstand 1919 wurde sie als erste Frau Professorin 1898 ihr Zyklus „Ein Weberaufstand“. Hier ist, und zum ersten weiblichen Mitglied an der Preu - wie in ihrem Zyklus „Bauernkrieg“ (1901–1907), ßischen Akademie der Künste ernannt. Ebenfalls die arme, verhärmte, aber nicht resignierende als erste Frau erhielt sie 1929 den preußischen

Frau die zentrale Figur. Orden Pour le Mérite. In den 1920-er Jah ren schuf Hamburg Staatsarchiv Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 242-257 K:. 27.07.15 12:22 Seite 257

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sie diverse Plakate gegen den Krieg und 1924 das lungenhortes“. Nach der Ermordung von Sieg- sehr bekannt gewordene Plakat gegen den Ab- fried, auf Betreiben von Hagen und Kriemhilds treibungsparagraphen 218. Bruder Gunther, versenkt Hagen den Nibelungen- 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten hort im Rhein. Die Witwe sinnt auf Rache. Nach aus der Preußischen Akademie der Künste ent- ihrer erneuten Eheschließung mit dem Hunnen- lassen und ihres Amtes als Leiterin der Meister- könig Etzel/Attila lädt sie ihre Brüder ein. Doch klasse für Grafik enthoben – sie hatte Aufrufe das Wiedersehen mit Kriegsgefolge endet in ei- gegen den Nationalsozialismus unterschrieben. nem Gemetzel. Kriemhild enthauptet Hagen Auch ihr Mann verlor seine Stellung als Arzt. nach seiner Weigerung, das Versteck des Hor - 1936 erhielt Käthe Kollwitz Ausstellungsverbot; tes preiszugeben, ehe sie dann von Hildebrand ihre Arbeiten wurden als „entartet“ aus der Aka- (siehe Ü Hildebrandtwiete, in Bd. 3 online**), dem demie und dem Kronprinzenpalais entfernt. Waffenmeister von Dietrich von Bern, umge- Käthe Kollwitz zog sich in die innere Emigration bracht wird. zurück. In dieser Zeit war sie voller Resignation. Text: Birgit Kiupel Besonders schlimm wurde es für sie, als 1940 ihr Siehe auch Ü Brunhildstraße, in diesem Band. Mann starb, 1942 ihr Enkel in Russland als Sol- Siehe auch Ü Alberichstieg, Rissen, seit 1951: dat getötet und 1943 ihre Wohnung in Berlin aus- Gestalt aus der Nibelungensage, in Bd. 3 on- line**. gebombt wurde. 1944 zog Käthe Kollwitz auf Einladung von Ernst Heinrich von Sachsen in Siehe auch Ü Gernotstraße, Rissen, seit 1949: Gernot, Gestalt aus der Nibelungensage, in den Rüdenhof nach Moritzburg bei Dresden. Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Vera-Brittain-Ufer, in diesem Siehe auch Ü Hildebrandtwiete, Rissen, seit Band. 1951: Gestalt aus den Nibelungenlied, in Bd. 3 Siehe auch Ü Barlachstraße, Harburg, seit online**. 1947: Ernst Barlach (1870–1938), Bildhauer, Siehe auch Ü Mimeweg, Rissen, seit 1951: in Bd. 3 online**. Mime der weise Schmied im Nibelungenlied, Siehe auch Ü Gerhart-Hauptmann-Platz, Alt- in Bd. 3 online**. stadt, seit 1946: Gerhart Hauptmann (1862– Siehe auch Ü Rüdigerau, Rissen, seit 1949: 1946), Schriftsteller, in Bd. 3 online**. Sagenmotiv aus der Nibelungensage, in Bd. 3 Siehe auch Ü Liebermannstraße, Othmarschen, online**. seit 1947: Max Liebermann (1847–1935), Siehe auch Ü Siegfriedstraße, Rissen, seit Maler, Radierer, Graphiker, in Bd. 3 online**. 1933: Gestalt aus dem Nibelungenlied, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Tronjeweg, Rissen, seit 1985: Kriemhildstraße Hagen von Tronje, Gestalt aus der Gudrun- Rissen, seit 1933, Gestalt aus dem Nibelungen- und Nibelungensage, in Bd. 3 online**. lied, anonymes Heldenepos um 1200 Siehe auch Ü Volkerweg, Rissen, seit 1949: Volker von Alzey, Gestalt aus der Nibelungen- In der Nibelungensage ist Kriemhild die Schwes- sage, in Bd. 3 online**. ter von Gunther, dem König von Burgund, und mit dem Helden Siegfried (siehe Ü Siegfriedstraße, in Bd. 3 online**) verheiratet, der noch dazu der Hüter eines sagenhaften Schatzes ist, des „Nibe-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 258

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Lagerlöfstraße Lagerlöf auf ihr Gut ein, damit sie dort – ein Jahr Wellingsbüttel, seit 1947, früher Buchenweg, be- lang von der Tätigkeit als Lehrerin befreit – nannt nach Selma Lagerlöf (20.11.1858 auf Gut schriftstellerisch tätig werden konnte. Ein Jahr Marbacka/Värmland–16.3.1940 auf Gut Marba- da rauf erschien ihr Roman „Gösta Berling“ cka), schwedische Schriftstellerin. Nobelpreisträ- (1891). Er wurde Selma Lagerlöfs erster großer li- gerin für Literatur (1909) terarischer Erfolg. Der Ro- Selma Lagerlöf war das zweitjüngste von fünf man wurde verfilmt und Kindern von Louise Lagerlöf, geb. Wallroth, und kam 1929 mit Greta Garbo ihrem Mann, dem Gutsbesitzer Leutnant Erik als Gräfin Dohna in die Gustaf Lagerlöf. deutschen Kinos. Selma Lagerlöf, die mit einem Hüftleiden zur 1895 gab Selma La- Welt gekommen war, wurde mit ihren Schwes- gerlöf ihre Tätigkeit als tern von einer Gouvernante erzogen; die Brüder Lehrerin auf und wid- durften zur Schule gehen. Doch Selma Lagerlöf, mete sich nun ganz der die schon als Kind gern gelesen hatte und sich Schriftstellerei. Zum Welt- für die Sagen und Geschichten ihrer Heimat erfolg wurde Selma La- Selma Lagerlöf interessierte – mehr als für Hausarbeit –, setzte gerlöfs Roman „Nils Hol- gegen den Willen ihres Vaters durch, dass sie gerssons wunderbare Reise“ (in Schwedisch 1881 nach Stockholm ziehen durfte, um dort bis 1906/07, in Deutsch 1907/08 erschienen). 1909 1882 ein Mädchengymnasium zu besuchen. erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Lite - Nach Abschluss der Schulausbildung absolvier - ratur „in Würdigung des hochstrebenden Idea- te sie zwischen 1882 und 1885 eine Ausbildung lismus, der reichen Phantasie und der vergeis - zur Volksschullehrerin und war dann von 1885 tigten Darstellung, die sich in ihrer Dichtung bis 1895 in Landskrona als Pädagogin in einem offenbaren“. 1914 wurde Selma Lagerlöf als erste Mädchenpensionat tätig. Frau in die Schwedische Akademie gewählt. 1890, der Vater war 1885 verstorben, muss - 1908 war Selma Lagerlöf finanziell in der te das elterliche Gut verkauft werden. Diesen Lage gewesen, den Gutshof von Marbacka zu- Heimatverlust verarbeitete Selma Lagerlöf später rückzukaufen. Mit dem Geld des Nobelpreises in ihren Werken. konnte sie dann auch noch das Land zurücker- Sie hatte das Glück, einer Mäzenin zu be- werben. Nun lebte sie wieder an ihrem Geburts- gegnen. Die Baronin Sophie Lejonhufvud Adler- ort, betrieb dort Landwirtschaft und eine Fabrik sparre hatte einige Sonetten von Selma Lagerlöf zur Produktion von Hafermehl. gelesen und verhalf ihr nicht nur zu einer Ver- Eine enge Freundschaft verband sie mit zwei öffentlichung in „Dagny“, einem literarischen Frauen, Sophie Elkan und Valborg Olander. Mit

Blatt der Frauenrechtlerinnen, sondern lud Selma Valborg Olander scheint Selma Lagerlöf eine Lie- v.l.n.r.:Abb. Neuengamme/Sammlung Schwarberg | KZ-Gedenkstätte Bundesarchiv Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 259

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besbeziehung gehabt zu haben. Sie nannte sie, Lelka-Birnbaum-Weg die ihr beim Redigieren von Manuskripten half, Schnelsen, seit November eine „richtige Schriftsteller-Ehefrau“. 1996, benannt nach Lelka In ihren Romanen stellte Selma Lagerlöf häu- Birnbaum, zwölf Jahre, fig starke, selbstbewusste Frauen dar, die sich Polin; gehörte zu den 20 gegen schwache und unfähige Männer durch - fünf bis zwölf Jahre alten setzten. jüdischen Kindern aus 1907 nahm Selma Lagerlöf einen sechsjäh- fünf Nationen, die in der rigen Jungen als Pflegesohn auf, der später Bau- Nacht vom 20. auf den Lelka Birnbaum arbeiter wurde und in die USA auswanderte. 21. April 1945 im Keller Selma Lagerlöf war in der Frauenstimm- der Schule Bullenhuser Damm von Angehörigen rechts- und Friedensbewegung aktiv. Während der SS erhängt wurden, nachdem an ihnen im KZ der Zeit des Nationalsozialismus half sie politi- Neuengamme medizinische Experimente vorge- schen und jüdischen Flüchtlingen. nommen worden waren Siehe auch Ü Geschwister-Witonski-Straße, Jacqueline-Morgenstern-Weg, Mania-Altmann- Leinpfad* Weg, Wassermannpark, Riwka-Herszberg-Stieg, Winterhude, seit 1866: In Erinnerung an das Trei- Zylberbergstieg, Zylberbergstraße, in diesem Band. deln der Alsterschuten, was Frauenarbeit war. Beiderseits des Leinpfades wurden die Schuten Siehe auch Ü Brüder-Hornemann-Straße, Schnelsen, seit 1993: Alexander und Eduard mit Leinen flussaufwärts gezogen. Vier Frauen Hornemann, acht und zwölf Jahre alt, nieder- zogen einen Kahn vom Leinpfad bis zum Treudel- ländische Opfer des Nationalsozialismus, in berg in Lehmsahl-Mellingstedt. Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Eduard-Reichenbaum-Weg, Schnel - sen, seit 1993: Eduard Reichenbaum (1934– Leinpfadbrücke 1945), zehnjähriges polnisches Kind, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Winterhude, seit 1904: Siehe Leinpfad Siehe auch Ü Georges-André-Kohn-Straße, Schnelsen, seit 1992: zwölfjähriges Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Leiserweg Siehe auch Ü Jungliebstraße, Schnelsen, seit Langenbek, seit 1988, benannt nach Hedwig und 1995: zwölfjähriger Jugoslawe, Opfer des Na- Julius Leiser, Jüdisches Ehepaar aus Harburg-Wil- tionalsozialismus, in Bd. 3 online**. helmsburg. Siehe auch Ü Marek-James-Straße, Schnelsen, seit 1995: Marek James, sechs Jahre alter Pole, Hedwig, geb. Goldberg (27.11.1879 Straßburg– Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- am 6.12.1941 deportiert nach Riga). Julius (24.12. line**. 1876 Köln–am 6.12.1941 deportiert nach Riga) Siehe auch Ü Marek-Steinbaum-Weg, Schnel- Stolperstein vor dem Wohnhaus Hansastraße 47. sen, seit 1993: Marek Steinbaum, zehn Jahre alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Ihr Grabstein befindet sich auf dem Jüdischen Bd. 3 online**. Friedhof in Hamburg-Harburg. Siehe auch Ü Roman-Zeller-Platz, Schnelsen, seit 1995: Roman Zeller, zwölfjähriger Pole,

* Straßennamen auf unterlegtem Feld verweisen auf Frauenorte, Frau- enarbeiten und -aktivitäten.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 260

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Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- sich als Kaufmann selbstständig. Dann arbeitete line**. er als Buchhalter und später als Bücherrevisor bei Siehe auch Ü Sergio-de-Simone-Stieg, Schnel- der Firma Siegfried Halberstadt, Hohe Bleichen 31, sen, seit 1993: sieben Jahre alter Italiener. Opfer und verdiente dort durchschnittlich 350 RM im des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Monat, mit denen er seine Familie zu ernähren Siehe auch Ü Günther-Schwarberg-Weg, Schnel- sen, seit 2013: Günther Schwarberg (1926– versuchte. 2008), Autor, Journalist, recherchierte und Bis März 1935 besuchte Rolf Levisohn die schrieb über das Schicksal der 20 jüdischen Lichtwarkschule, eine bekannte reformpädago- Kinder, die am 20.4.1945 in der Schule Bullen- huser Damm ermordet wurden, in Bd. 3 on- gische Schule, die er verlassen musste, weil er line**. jüdisch war. Seine ehemaligen Schulkameraden erinnerten sich später zwar noch an ihn, doch wirkliche Freunde besaß er dort nicht. Nach sei- Levisohnweg ner Entlassung aus der Lichtwarkschule wech- Barmbek-Süd, seit 2014, benannt nach der jüdi- selte er zur Talmud Tora Schule, der orthodoxen schen Familie Levisohn; dem Vater Albert L. jüdischen Volks- und Oberrealschule in Hamburg. (17.3.1891–18.2.1942), Kaufmann, 1941 nach Lodz Im November 1938, kurz nach dem Novem- deportiert und 1942 dort verstorben; der Mutter berpogrom, wurde der 18-jährige Rolf Levisohn Cilly L. (31.12.1894–Mai 1942) sowie dem Sohn festgenommen und zusammen mit rund 6000 Rolf L. (11.9.1920–Mai 1942), Schlosserlehrling; jüdischen „Schutzhäftlingen“ aus dem gesamten beide wurden mit dem Vater 1941 nach Lodz Reich ins Konzentrationslager Oranienburg-Sach- deportiert und 1942 in Chelmno ermordet senhausen gebracht. Dort erwarteten ihn zahl- Stolperstein vor dem Wohnhaus Gluckstraße lose Quälereien und Schikanen. So musste er un- 22–26. ter anderem 24 Stunden lang regungslos in eisiger Kälte ausharren oder im Laufschritt schwere Albert Levisohn wurde als Sohn des jüdischen Ehe- Steine transportieren. Bei „Ungehorsam“ wurden paares William und Bertha Levisohn in Hamburg die Häftlinge zu stundenlangem Stehen vor ei- geboren. Seine spätere Ehefrau war die gebürtige nem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun ge- Hamburger Jüdin Cilly Magnus, die Tochter von zwungen. Rolf Levisohn berichtete, dass sich vie - Adolf und Jenny Magnus. le Häftlinge in den Zaun stürzten, nur um nicht Albert und Cilly Levisohn lebten allein in mehr stehen zu müssen. Nach sechs Wochen ihrer Wohnung in der Gluckstraße 24, bis im Haft kehrte er nach Hamburg zurück. Spätestens September 1920 ihr erstes gemeinsames Kind seit diesen Erfahrungen konzentrierte sich Rolf Rolf geboren wurde. Ihr Sohn war von Geburt Levisohn darauf, Deutschland zu verlassen. an körperlich behindert, er litt an Kleinwuchs. Da er schon über 18 Jahre alt war, bestand Acht Jahre später kam im Februar ihre Tochter für ihn nicht mehr die Möglichkeit, mit einem Ruth zur Welt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse Kindertransport auszureisen. Insbesondere seine der Familie waren bescheiden. Albert Levisohn Mutter Cilly Levisohn bemühte sich sehr, Ver- war als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg aktiv wandte und Bekannte in der ganzen Welt zu gewesen und mit dem Hanseatenkreuz ausge- kontaktieren, um ihren Sohn irgendwo unterzu- zeichnet worden. Nach dem Krieg machte er bringen. Mehr Glück hatte seine damals elfjäh-

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rige Schwester Ruth. Sie gelangte im Juni 1939 Bevor Rolf Levisohn mit seiner Ausbildung mit einem Kindertransport nach England und beginnen konnte, musste er dort zunächst eine entging so weiterer Verfolgung. Zeitweise schien Probezeit überstehen. Doch am 4. März 1940 er- es so, als könne auch Rolf Levisohn mit Hilfe hielt sein Vater die Benachrichtigung, dass sein eines Schülerzertifikats zu Bekannten über Basel Sohn eine Ausbildung zum Schlosser beginnen nach Palästina fliehen, doch alle unternomme- könne. Henry Halle, ebenfalls Auszubildender in nen Schritte scheiterten. der Schlosserei und ein Freund Rolfs, berichtete Das letzte Abitur an der Talmud Tora Schule später, dass es Rolf Levisohn mit seiner Behinde- fand im Schuljahr 1939/40 statt. Nur noch zwei rung in der Schlosserei oft nicht leicht fiel. Er sei Schüler waren übrig geblieben, die sich den Prü- wesentlich zierlicher und zerbrechlicher gewe- fungen stellten: Oskar Judelowitz und Rolf Le- sen als die anderen Jungen dort. Deswegen habe visohn. Im Fach Deutsch absolvierte Rolf Levi- man ihn an einen Schraubstock in der hintersten sohn sein schriftliches Abitur zum Thema: Ecke gestellt, so dass er nicht von den anderen „Unglück selber taugt nicht viel, doch es hat drei Auszubildenden angerempelt werden konnte. gute Kinder: Kraft, Erfahrung, Mitgefühl“. Die Im Oktober 1941 kam die Wende im Leben Erinnerungen an seine Internierung im KZ Sach- der Familie Levisohn. Sie erhielten die Aufforde- senhausen, die Stigmatisierung durch seine Be- rung, sich am 24. Oktober in der „Provinzialloge hinderung und das Leben als Jude im Deutschen für Niedersachsen“ in der Moorweidenstraße ein- Reich beeinflussten seinen Abituraufsatz sicher- zufinden, von wo aus sie einen Tag später mit lich zutiefst. Das Fazit seines Aufsatzes zeigt dem ersten Transport von Hamburg nach Lodz dies deutlich: „So dürfen wir wohl zusammen- deportiert wurden. Die Fahrt dauerte insgesamt fassend sagen, dass wohl das Unglück für den zwei Tage und führte in ein völlig überfülltes Menschen im Augenblick etwas Entsetzliches Getto, in dem katastrophale Lebensbedingungen ist, dass aber gerade durch das Unglück ein herrschten. Die Häuser, in denen die BewohnerIn- Mensch zur Vollkommenheit gelangt.“ Am 12. Ja- nen leben mussten, besaßen keine sanitären Ein- nuar 1940 bestand Rolf Levisohn die Reifeprü- richtungen und waren zum größten Teil baufällig. fung, die unter dem Vorsitz von Oberschulrat Die hygienischen Bedingungen waren erschre- Oberdörffer abgenommen wurde. ckend; es herrschten Hunger, Typhus und rote Nach seinem Abitur bemühte sich Rolf Le- Ruhr. Zudem fehlte es an Medikamenten, Klei- visohn weiterhin um seine Auswanderung. Aus dung und Heizmaterial. Familie Levisohn wohnte diesem Grund gehörte er dem zionistischen Ju- in der Rubensgasse 2, und Rolf Levisohn wurde gendbund Habonim an, mit dem er auch an als Schlosser in den Listen geführt. Vier Wochen Sommerlagern teilnahm und so etwas Abwechs- nach der Ankunft der Familie in Lodz, am 18. Fe- lung und Hoffnung erhielt. Zudem begann Rolf bruar 1942, starb Albert Levisohn im Alter von 51 Levisohn eine Lehre in einer Lehrwerkstatt für Jahren. Die Todesursache ist nicht bekannt. Schlosserei, die zu der „Volks- und Höheren Ein Großteil der Gettobewohner erhielt im Schule für Juden“ gehörte und ihren Sitz in der April die Aufforderung, sich zu medizinischen Weidenallee 10b hatte. Dies war eine jüdische Un tersuchungen einzufinden. Diese Nachricht Einrichtung zur Förderung und Vorbereitung der löste Aufruhr unter den BewohnerInnen aus, Auswanderung nach Palästina. weswegen sich auch nicht genügend Personen Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 262

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meldeten. Als Konsequenz daraus holte die SS (8.11.1910–am 2.2.1945 in Berlin-Plötzensee hin- einzelne EinwohnerInnen gewaltsam aus ihren gerichtet), Widerstandskämpferin, Mitglied der Wohnungen. Am 25. April wurden auch Rolf und Widerstandsgruppe Etter-Hampel-Rose, Schnei- Cilly Levisohn abgeholt und zu einer Sammel- dermeisterin stelle gebracht. Dort blieben sie acht Tage lang, wurden untersucht und erhielten einen Stempel Die Schneidermeisterin Liesbeth Rose wohnte in auf den Brustkorb und eine Suppe. der Gärtnerstraße 5 und gehörte in der Zeit des Am 4. Mai 1942 wurden Cilly und Rolf Le- Nationalsozialismus der Widerstandsgruppe Et- visohn nach Chelmno „ausgesiedelt“, was für sie ter-Rose-Hampel an, benannt nach dem Ortho- den sicheren Tod durch Giftgas bedeutete. Zu- pädie-Mechaniker Werner Etter, der Schneider- sammen mit anderen BewohnerInnen des Gettos meisterin Liesbeth Rose und dem Maler Ernst Lodz wurden die beiden auf Lastwagen verladen Hampel. Die Gruppe war 1936 aus einem Kreis und auf den Schlosshof von Chelmno gefahren. junger befreundeter Menschen entstanden, „die Dort wurde den Deportierten erzählt, sie würden sich nicht in die nationalsozialistischen Jugend- in ein Arbeitslager nach Österreich kommen und verbände integrierten, sondern stattdessen ge- müssten vorher noch entlaust und gebadet wer- meinsam über Fragen des wissenschaftlichen den, weswegen sie sich zu entkleiden hätten. Sozialismus, Probleme der internationalen Ar- Nach der Entkleidung wurden sie durch den beiterbewegung und Methoden des illegalen Keller auf eine hölzerne Rampe geführt, an deren Kampfes diskutierten. Sie nutzten Wander- und Ende ein Gaswagen stand. Die Möglichkeit zur Sportgruppen, um sich treffen zu können.“2) Ei- Flucht war ausgeschlossen. Nachdem 30 bis 40 nige dieser Gruppe gehörten auch dem Kommu - Personen in den Wagen gezwängt waren, wur- nistischen Jugendverband (KJVD) an. den die Flügeltüren geschlossen. Schließlich „Ab Mitte 1942 wurde die Staatspolizeileit- wurde die Verbindung von Auspuff und Wagen- stelle Hamburg auf die Gruppe aufmerksam. innerem hergestellt und der Motor angestellt. Man betrachtete sie als Nachfolgeorganisation Daraufhin waren Schreie und Stöhnen der Kin- der zerschlagenen Bästlein-Jacob-Abshagen-Grup- der, Frauen und Männer zu hören. Nach zehn pe (siehe Ü Katharina-Jacob-Weg, in diesem Band) Minuten verstummten diese Geräusche. Die und nannte sie Gruppe der Nichtvorbestraften. Opfer wurden später in einem Massengrab in Ein V-Mann der Gestapo namens Alfons Pannek den Wäldern rund um Chelmno vergraben. Cilly wurde in die Gruppe eingeschleust, doch ob- Levisohn war 46 Jahre, ihr Sohn Rolf 21, als sie wohl deren Mitglieder ihn nicht als Spitzel ent- auf diese Art getötet wurden. Ihr wahrscheinli- tarnten, konnte er keine relevanten Informatio- ches Todesdatum ist der 5. Mai 1942.1) nen weitergeben. Im Mai 1943 setzte dennoch Text: Carmen Smiatacz, entnommen: www.stolper- eine erste Verhaftungswelle gegen die Gruppe steine-hamburg.de ein und die Gestapo nahm Max Kristeller als An- führer sowie einige weitere Personen fest, in der Hoffnung nähere Informationen über diesen Zu- Liesbeth-Rose-Stieg sammenschluss zu erhalten. Anfang 1944 setzte Bergedorf/Allermöhe, seit Ende 1995. Vorher: Eli- die Polizei den Wehrmachtshäftling Herbert sabeth-Rose-Stieg, benannt nach Liesbeth Rose Lübbers ein, der in früheren Jahren dem Kreis 1956, S. 77. Frankfurt/M. 1933–1945, Berlin, Widerstand dem deutschen aus v.l.n.r.: Lebensbilder 64 Abb. Das Gewissen steht auf, Leber, Thälmann | Aus: Annedore Gedenkstätte Ernst

1) Benutzte Literatur: Staatsarchiv burg-Wandsbek mit den Walddörfern. Pritzlaff: Entrechtet – ermordet – ver- Hamburg 362-2/20, Lichtwarkschule, Biographische Spurensuche. Ham- gessen. Jüdische Schüler in Ham- 45; Ursel Hochmuth, Hans-Peter de burg 2008, S. 120; Peter Offenborn: burg. Hamburg 1996, S. 16ff. Lorent: Hamburg: Schule unterm Ha- Jüdische Jugend in Hamburg 2) http://de.wikipedia.org/wiki/ kenkreuz. Hamburg 1985, S. 98; As- 1933–1941. Privatdruck, 2. Aufl. Ham- Etter-Rose-Hampel-Gruppe (Stand: trid Louven: Stolpersteine in Ham- burg 2008, S. 837, S. 1211; Christiane 9.4.2015) Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 263

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ebenfalls angehört hatte. Es wurde eine Deser- Zu den Angehörigen dieser Gruppe, die eben - tation fingiert, auf der vermeintlichen Flucht falls verhaftet wurden, gehörte u. a. auch Wilhel- nahm er die Hilfe ehemaliger Freunde in An- mine Hundert (siehe Ü Wilhelmine-Hundert-Weg, in spruch. Diese und ihre Familien wurden in der diesem Band). Folge von der Gerstapo wegen ‚aktiver Beihilfe Siehe auch Ü Erika-Etter-Kehre, Wilhemine- zur Desertation‘ verhaftet (…).“3) Hundert-Weg, in diesem Band. Liesbeth Rose wurde am 20. Mai 1944 verhaf- tet. Sie hatte Soldatenbrie- Lilo-Gloeden-Kehre fe mit antifaschistischem Bergedorf, seit 1987, benannt nach Dr. jur. Elisa- Inhalt an die Front ge- beth Charlotte, genannt Lilo, geb. Kusnitzky schickt und illegales Wi- (19.12.1903 Köln–am 30.11.1944 in Berlin hinge- derstandsmaterial verteilt. richtet), Gegnerin des Nationalsozialismus. Mo- Sie kam in die Sonder- tivgruppe: Verdiente Frauen haftanstalt Potsdam und Liesbeth Rose mit hoffte bis zuletzt, dass sie Tochter des Kölner Sanitätsrats Kusnitzky und ihrer Tochter nur wegen „aktiver Bei- seiner Ehefrau, geb. Freiin von Liliencron. 1938 hilfe zur Desertion“ angeklagt werden würde. Heirat mit dem Architekten Erich Gloeden. Das Doch noch bevor das Gericht zusammenkam, Ehepaar lebte in Berlin, war entschiedener Geg- war ihr Todesurteil gefällt. Begründung: „Wehr- ner des NS-Regimes und half Widerstandskämp- kraftzersetzung, Feindbegünstigung und Vorbe- ferInnen und jüdischen Bekannten und Ver- reitung zum Hochverrat“. In ihrem Todesurteil wandten, im Untergrund zu leben. heißt es: „Die Angeklagte hat gemeinsam mit Nach dem missglückten Anschlag auf Hit - dem halbjüdischen kommunistischen Funktio- ler am 20. Juli 1944 flüchtete der an dem An- när Kristeller kommunistische Propaganda be- schlag beteiligt gewesene General der Artille - trieben und insbesondere junge Wehrmachtsan- rie Fritz Lindemann, (siehe Ü Fritz-Lindemann-Weg, gehörige mit diesem Gift verseucht.“4) in Bd. 3 online**) zum Ehepaar Gloeden. Linde- In ihrem Abschiedsbrief an ihre Mutter mann wurde denunziert und am 3. September schrieb sie: „Nun ist es doch vorbei. Behüte 1944 in der Wohnung der Gloedens in der Kas - mein Kind und seid alle tapfer, wie ich es auch tanienallee 23 verhaftet, sein will. Macht aus Ursel einen starken, tapfe- mit ihm auch Erich und ren Menschen. Hoffentlich kann sie mir einmal Charlotte Gloeden sowie verzeihen, dass ich sie allein lasse. Ich habe Elisabeth Kusnitzky, Char- nichts Schlechtes gewollt. Seid mir nicht böse. lotte Gloedens Mutter. Die Sagt allen Menschen, die mich trotzdem noch drei wurden am 27. No- lieb haben, einen letzten Gruß. Ich denke an vember vom Volks ge richts- Euch bis zum letzten Atemzug.“5) hof ver urteilt und am 30. Mit Liesbeth Rose wurden auch Ernst Hampel November 1944 hingerich- und Werner Etter zum Tode verurteilt und hinge- tet. Bis zuletzt hatte Erich richtet. (siehe Ü Erika-Etter-Kehre, in diesem Band). Gloeden versucht, seine Lilo Gloeden

** Band 3 online unter: www.ham- zug“, in TAZ.de vom 26.2.2005 unter: burg.de/maennerstrassennamen www.taz.de/1/archiv/?dig=2005/02/ 26/a0097 3) Ebenda. 5) Ebenda. 4) Zit. nach: Bernhard Röhl: „Ich denke an Euch bis zum letzten Atem- Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 264

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Frau und seine Schwiegermutter zu schützen, gar nicht gerne und hält sie durch häusliche indem er aussagte, die beiden Frauen hätten nicht Aufgaben so oft wie möglich davon ab. Immer- gewusst, wen sie beherbergten, zumal der Gene- hin darf Lily sich in der väterlichen Bibliothek ral einen falschen Namen führte. Nach der Ver- bedienen und findet Mittel und Wege, sich in hängung des Todesurteils gegen Erich Gloeden, anderen Bibliotheken und Archiven ihr Wissen erklärte Lilo Gloeden jedoch, dass sie sehr wohl zusammenzusuchen. (…) über die Identität des Generals Bescheid wusste. Eine besondere Prüfung war der quälende Auch ihre Mutter bekannte sich zu der politischen Aufenthalt bei einer Tante, die ihr den letzten Überzeugung ihrer Kinder. In Zeitabständen von Schliff geben sollte. Dazu wollte sie [die Tante] je zwei Minuten wurden Erich und Lilo Gloeden Lily von Kretschmanns Wissensdrang brechen, sowie Elisabeth Kusnitzky in Berlin-Plötzensee denn zu denken und zu wissen hat eine Frau enthauptet. nicht, sie hat nur dem Mann zu dienen. Verzwei - Siehe auch Ü Fritz-Lindemann-Weg, Berge- felt beugt sich Lily in ihrer Jugendzeit immer dorf/Lohbrügge, seit 1964: Fritz Lindemann wieder solchen Forderungen, flieht in schwere (1894–1944), Widerstandskämpfer gegen den psychosomatische Erkrankungen, gebrochen Nationalsozialismus, Schriftsteller, General, in Bd. 3 online**. wird sie nicht. (…) Schon in ihrer Kindheit und Jugend war ihr soziales Gewissen erwacht, sie lehnt sich auf Lily-Braun-Straße gegen Unterdrückung, erkennt Ausbeutung und Bergedorf, seit 1985, benannt nach Lily Braun, Heuchelei, verurteilt Rassismus und Standes- geb. als Amalie v. Kretschmann, verw. Gizycki dünkel.“6) Mit Mitte zwanzig kam Lily zu der Er- (2.7.1865 Halberstadt–9.8.1916 Berlin-Zehlen- kenntnis: „Die Macht des Kapitalismus muß ge- dorf, laut Brockhaus), Schriftstellerin und Frauen- brochen werden.“7) rechtlerin Als der Vater den Kaiser im Manöver bei- nahe geschlagen hätte, musste er seinen Ab- Amalie von Kretschmann war die Tochter von Jenny schied nehmen. Dadurch änderte sich das Leben von Kretschmann, geb. von Gustedt, und deren der Familie von Kretschmann schlagartig, denn Gatten, dem preußischen General Hans von nun musste sie sich finanziell einschränken. Kretschmann. Amalie war mütterlicherseits die Nach einer unglücklichen Liebe, die Lily von Enkelin der Baronin Jenny von Gustedt, illegi- Kretschmann erleiden musste, fragte sie sich: „Ist time Tochter von Jerôme Bonaparte, König von wirklich das Schicksal des Weibes nur der Mann? Westphalen. Und hat es kein Recht auf eigenes Leben?“8) Lily lebte das standesgemäße Leben einer Im Alter von 28 Jahren heiratete sie den 47 Aristokratin, übte aber schon früh heftige Kritik Jahre älteren und gelähmten Universitätsprofes- an dieser Lebensweise, was sehr missbilligt wur- sor Georg von Gizycki, Nationalökonom, Kathe - de. „Bei den privaten Unterrichtsstunden, die dersozialist, Herausgeber der Zeitschrift „Ethi- sich für ein Mädchen aus adligen Kreisen schick- sche Kultur“ und schwerkrank. Dass sie mit ihm ten, sitzt die Mutter immer dabei und unterbin- die richtige Wahl getroffen hatte, davon war sie det jeden Anflug von kritischem Bewusstsein. überzeugt: „Im übrigen bin ich sehr glücklich

Lilys Wissensdrang und ihre Lesesucht sieht sie durch meine innige Verbindung mit dem Mann, Frauenbewegung. deutschen der Archiv Stiftung O/Bestand S. J., o. Berlin-Grunewald 1, Bd. Vogelstein, Julie von hrsg. Werke, Gesammelte Braun, Lily Aus: Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- kämpfenden Frau“ Frauen schreiben 8) Zit. nach: Monika Kubrova: Vom burg.de/maennerstrassennamen über Frauen in der Arbeiter-Zeitung guten Leben. Adelige Frauen im von 1900–1933. Wien 2013, S. 155. 19. Jahrhundert. Berlin 2011, S. 264. 6) Eva Geber: Lily Braun. „Hätten 7) Lily Braun: Memoiren einer So - wir die Frauen – wir hätten die Welt!“, zialistin. Lehrjahre. Bremen 2010, in: Eva Geber (Hrsg.): „Der Typus der S. 245. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 265

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dessen unglücklichen Körper ich über seinem schen Partei und schließt die Türe zu ihrer Her- herrlichen Geist ganz vergessen habe, während kunft, ihre Familie distanziert sich von ihr, und ich früher über dem herrlichen Körper den Geist die reiche Tante enterbt sie. Sie trennt sich auch vergaß und erst erkannte, wenn es zu spät war.“9) von der bürgerlichen Frauenbewegung und ar- Und weiter urteilte sie über ihre Ehe mit Gizy- beitet zunächst gemeinsam mit Clara Zetkin an cki: „Wir würden keine Liebes-, sondern eine der Herausgabe der Zeitschrift Gleichheit. Den- Freundschafts- und Arbeitsehe führen; wir wür- noch bemüht sie sich immer wieder, die bürger- den wie die Zukunftsmenschen leben, wo auch liche und die proletarische Frauenbewegung zu die Frau sich durch eigene Arbeit erhält.“10) Und vereinigen. Damit scheitert sie und zieht sich so brauchte Lily Braun Zetkins Feindschaft zu. Diese besteht auf einer auch keine Hausarbeit ver- ‚reinlichen Scheidung‘, Kooperation mit bürger- richten und die Mahlzei- lichen Frauen ist grundsätzlich auszuschließen. ten wurden in einer Gast- Clara Zetkin befürchtet die Verwässerung ihrer stätte eingenommen. Ziele: um Reformen würde es gehen, nicht um Durch ihren Mann Klassenkampf.“11) lernte sie die sozialisti- Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes heirate- schen Theorien kennen, te Lily Braun 1896 den vermögenden, aus Wien und durch ihn wurde sie stammenden Sozialdemokraten und Chefredak- mit führenden Männern teur des „Vorwärts“, Dr. Heinrich Braun. Das der sozialdemokratischen Paar bekam ein Kind und gründete später die Lily Braun 1902 Partei und mit amerikani- Zei tschrift „Die Neue Gesellschaft“. Heinrich schen Frauenrechtlerinnen Braun zählte zu den Revisionisten. Sie wollten die bekannt. Knapp zwei Jahre nach der Hochzeit bestehende Gesellschaftsordnung durch Refor men starb Georg von Gizycki. verändern. Auch Lily Braun verfolgte dieses Ziel, Lily Braun engagierte sich im Verein Frau- und so blieb Clara Zetkin ihre entschiedene Fein- enwohl, der zum radikalen Zweig der bürger - din. Ihre Auseinandersetzungen wurden zu ei- li chen Frauenbewegung gehörte, und wollte nem offenen Machtkampf. Clara Zetkin erreichte zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung es, dass Lily Braun aus der Redaktion der „Gleich- und den Arbeiterinnen vermitteln. „,Wer vorur- heit“ ausgeschlossen wurde und auch keine Arti- teilslos und logisch denkt und sich eingehend kel mehr von ihr dort erscheinen durften. mit der Frauenfrage – wohlgemerkt, der gan- Lily Braun reagierte darauf 1901 mit ihrem zen Frau enfrage, nicht mit der Damenfrage – be- bedeutendsten Buch „Die Frauenfrage, ihre ge- schäftigt, der muss notwendig zur Sozialdemo- schichtliche Entwicklung und wirtschaftliche kratie gelangen!‘ Mit diesen Worten schockiert Seite“. Darin befasste sie sich „mit der Doppel - sie beim Berliner Frauenkongress der bürger- belastung der Frauen und den daraus entstehen- lichen Frauenbewegung 1896, wüste Beschimp- den Schwierigkeiten, sich gewerkschaftlich zu fungen folgen, drohend erheben sich behand- organisieren; und sie bot Lösungen an, die noch schuhte Damenfäuste – ihr Abgang wird zum heute revolutionär klingen. Sie untersuchte Pro- Spießrutenlauf. Sie bekennt sich nun offen zum bleme wie zum Beispiel die Minderqualifikation Sozialismus, wird Mitglied der sozialdemokrati- von Frauen und die Konkurrenz der Geschlech-

9) Eva Geber, a. a. O., S. 157. 10) Ebenda. 11) Eva Geber, a. a. O., S. 158. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 266

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ter auf dem Arbeitsmarkt. Sie forderte gleichen Nachdem er 1903 Reichstagsabgeordneter Lohn für gleichwertige Arbeit“,12) schreibt Inge geworden war, gab er mit seiner Frau die Wo- Stolten. chenzeitschrift „Die Neue Gesellschaft“ heraus, Durch ihr Muttersein veränderte sich Lily „die unabhängig von der offiziellen Partei den Brauns Einstellung zur Frauenarbeit. Und so Diskurs mit der deutschen Intelligenz anstrebt. schrieb sie: „,Indem sich die Frauenarbeit aus- Beim Dresdner Parteitag 1903 erfolgt der Angriff dehnt, untergräbt sie zu gleicher Zeit die alte auf die Revisionisten, besonders Lily Braun wird Form der Familie, erschüttert die Begriffe der heftig und beleidigend attackiert. Der neuen Zeit- Sittlichkeit, auf denen der Moralkodex der bür- schrift wird mit Polemik und Ablehnung (…) gerlichen Gesellschaft beruht, und gefährdet die der Garaus gemacht. 1905 unternehmen die Existenz des Menschengeschlechts, deren Bedin- Brauns einen neuen Versuch, diesmal hält sich gung gesunde Mütter sind. Es bleibt der Mensch- die Zeitschrift zwei Jahre. Lily Braun weist darin heit schließlich nur die Wahl: entweder sich auf das Recht der persönlichen Entwicklung selbst oder die kapitalistische Wirtschaftsord- jedes einzelnen Menschen hin: ‚Der Sozialismus nung aufzugeben.‘ Als Konsequenz aus dieser ist ebenso die Voraussetzung des Individualis- Erkenntnis plant Lily die Gründung einer Mut- mus, wie der Individualismus die notwendige terschaftsversicherung. Diese Versicherung sollte Ergänzung des Sozialismus sein muss.‘ Das Mutter und Kind zumindest für einige Wochen bringt weitere entscheidene Anfeindungen. Die vor und nach der Geburt schützen“,13) so Asta Neue Gesellschaft wird eingestellt, und die Fa- von Oppen in einem Kurzporträt über Lily Braun. milie befindet sich in einer verzweifelten wirt- Lily Brauns Ideen machten sie zur Außen- schaftlichen Lage.“15) Um diese zu verbessern, seiterin. Sie stellte die traditionelle Familienform begann Lily Braun die Kriegsbriefe ihres Vaters in Frage, forderte Zentralküchen und „für be- herauszugeben, und sie schrieb auch die Le- stimmte Häusergruppen (...) Turn- und Spiel- bensgeschichte ihrer Großmutter auf, der außer- plätze, mit Kindergärtnerinnen und Erzieherin- ehelichen Tochter des Königs von Westphalen. nen, die von den Eltern gemeinsam bezahlt Mit dieser Veröffentlichung hatte sie großen Er- werden“,14) so Inge Stolten. Und sie forderte eine folg. Auch ihre Publikation „Memoiren einer Herabsetzung der Erwerbsarbeitszeit, damit sich Sozialistin“ wurde zu einem Bestseller, so dass sowohl die Mütter als auch die Väter ihren Kin- die finanziellen Probleme vorübergehend gelöst dern widmen können. waren. „Nur die Parteigenossen kritisierten sie. August Bebel (siehe Ü August-Bebel-Park, Au- Lily bemerkt dazu: ‚Ich weiß jetzt, dass sie mir gust-Bebel-Straße und Bebelallee, in Bd. 3 onli- in Wahrheit nichts anhaben können und ich ne**) rezensierte Lily Brauns Buch über die gräme mich nicht mehr über Urteile wie diese, Frauenfrage sehr positiv, Clara Zetkin hingegen weil ich sie verstehe. Ja, ich verstehe sie, uns verriss es. trennt ein unüberbrückbarer Abgrund, der der Lily und ihr Mann lebten finanziell in be- inneren Kultur. Wie die Genossinnen sich stän- scheidenen Verhältnissen, denn sein Vermögen dig über mein Äußeres ärgerten, weil ich eben gab Heinrich Braun für seine ideellen Ziele aus. anders war als sie, so muss der Durchschnitt Er war Mitbegründer der „Neuen Zeit“ und des der Genossen an meinem Wesen Anstoß neh- Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik. men.‘“16)

** Band 3 online unter: www.ham- 13) Asta von Oppen: Lily Braun, in: 15) Eva Geber, a. a. O., S. 159f. burg.de/maennerstrassennamen Antje Leschonski (Hrsg.): Anna, Lily 16) Asta von Oppen, a. a. O., S. 104. und Regine. Frauenporträts aus 12) Inge Stolten: Frauen, Porträts Brandenburg-Preußen, Berlin 2010, aus zwei Jahrhunderten“. Hrsg. v. S. 102f. Hans Jürgen Schultz, Stuttgart 1981. 14) Inge Stolten, a. a. O. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 267

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Lily Braun wurde schließlich wegen angeb - Siehe auch Ü August-Bebel-Park, St. Georg, seit licher Unzuverlässigkeit aus der Berliner Frau- 2006: August Bebel (1840–1913), Reichstags- abgeordneter (SPD), August-Bebel-Straße, Ber- enorganisation ausgeschlossen und zog sich gedorf, seit 1927, Bebelallee, Alsterdorf, Win- allmählich aus der aktiven Politik zurück. Sie ar- terhude, seit 1945, in Bd. 3 online**. beitete nun vorwiegend literarisch – und trat für die freie Liebe ein. „Ihre erotischen Wünsche, die über die monogame Einschränkung hinausgehen, Lisa-Niebank-Weg lassen sie (…) die Ehe kritisieren.“17) So schreibt Horn, seit 2001, benannt nach Lisa Catarina Nie- sie an ihren Mann: „Ich glaube, dass ich nicht für bank (22.7.1913 Hamburg–4.4.1980 Peking), die Ehe geschaffen bin, jedenfalls nicht für die gut Lehrerin, Widerstand gegen den Nationalsozia- bürgerliche mit ihrem Gebot unbedingter körper- lismus, verdient um demokratische staatsbürger- licher Treue. Dass ich diese Treue nie verletzte, liche Erziehung und Förderung internationaler war eine Vergewaltigung meiner Natur. Ich habe Verständigung viel Glück verpasst, viel Jugendkraft aufgegeben. Ich war ‚treu‘ nicht aus moralischen, sondern Lisa Niebank besuchte als Schülerin die „Reform- mehr […] aus Angst, Angst vor meines Sohnes schule“ in der Telemannstraße. Während der Zeit hellem Blick, Angst vor Dir, der es nie verstehen des Nationalsozialismus war sie in einer schu - würde, dass ich ihm gar nicht untreu sein kann, lischen/studentischen Widerstandsgruppe aktiv, auch wenn ich die ‚Treue‘ bräche. Ich habe, ohne die Flugblätter gegen die Nationalsozialisten ver- dass Du es ahntest, im Laufe unserer Ehe oft teilte und Plakate an Hauswände klebte. Nach- starke sinnliche Leidenschaft empfunden, ohne dem die Gruppe von den Nationalsozialisten dass der Gegenstand den Wunsch in mir erweckt zerschlagen und mehrere Gruppenmitglieder in- hätte, mit ihm zu leben. Wahrscheinlich hätte ich haftiert worden waren, unterstützte Lisa Niebank Dich sogar lieber gehabt, wäre froher, frischer ge- politisch verfolgte Mitglieder, besorgte ihnen wesen, wenn ich meinen starken Instinkten ge- Geld, Unterkünfte oder Lebensmittelkarten. folgt wäre.“18) Einmal, als Lily Braun Ende vierzig Nach dem Zweiten Welt krieg arbeitete Lisa ist, geht sie ein Verhältnis ein. Niebank ab 1950 als Lehrerin in Bergedorf, zwi- Als der Erste Weltkrieg ausbrach, „gehörte schen 1954 und 1965 an der Volks- und Realschu - sie – ganz im Widerspruch zu ihrem früheren le Beim Pachthof und an Engagement – zu den Befürwortern des Ersten der Grundschule Stengele- Weltkriegs und des deutschen Nationalismus“. 19) straße. Dann ging sie nach „Ihr Buch ‚Die Frauen und der Krieg‘ enthält Peking und unterrichte - schauderhafte Appelle an die Frauen als Gebä- te Deutsch am dortigen rerinnen, wie auch deren höhere Pflicht, sich für Fremd spracheninstitut bis Kranken- und Verwundetenpflege zur Verfügung zu ihrem Tod 1980. In Pe- zu stellen, als sich für ihr Stimmrecht einzuset- king wurde sie in einem zen, dass sie auch konservative Ansichten weit Ehrengrab beigesetzt. rechts überholt.“20) Die überzeugte De- Lily Braun starb 1916, ihr Sohn Otto als Sol- mokratin setzte sich aktiv

Abb.: Gedenktafel in der Schule Beim Pachthof, Fotograf unbekannt Fotograf Pachthof, Beim Schule der in Gedenktafel Abb.: dat zwei Jahre später. für die Völkerverständi- Lisa Niebank

** Band 3 online unter: www.ham- 19) Florence Herve, Ingeborg Nödin- Eva Geber, a. a. O., S. 162. burg.de/maennerstrassennamen ger: Lexikon der Rebellinnen. Dort- mund 1996, S. 48. 17) Eva Geber, a. a. O., S. 160. 20) Julia Braun-Vogelstein: Lily Braun. 18) Zitiert nach: Eva Geber, a. a. O., Ein Lebensbild, in: Gesammelte Wer - S. 160f. ke, Band 1, 5. Kapit. CIV. Zitiert nach: Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 268

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gung und insbesondere für die Versöhnung mit I. Marinedivision in Kiel einberufen. 1912 trat er Israel ein. in Hannover in die SPD ein und war seitdem in Text: Kerstin Klingel der Arbeiterbewegung politisch aktiv. Elisabeth Bruhn, geborene Holz, stammte aus einer Arbeiterfamilie. Ihre Eltern, der Land- Lisbeth-Bruhn-Straße arbeiter Johann Heinrich Holz und Catharina Bergedorf, seit 1985, benannt nach Elisabeth Margaretha, geborene Peters, fühlten sich der Bruhn, geb. Holz (26.12.1893 Nesserdeich bei Arbeiterbewegung zugehörig. Sie lebten mit Groven Lunden/Norderdithmarschen–ermordet ihren sechs Kindern lange in Lunden nahe Gro- am 14.2.1944 im KZ Neuengamme). Widerstands- ven in Dithmarschen. 1921 war Elisabeths Vater kämpferin Mitglied der Widerstandsgruppe Leiter der KPD-Ortsgruppe Lunden. Bästlein-Jacob-Abshagen. Hausfrau. Elisabeth musste schon früh als Kindermäd- Stolperstein vor dem Wohnhaus Schellingstraße chen zum Lebensunterhalt der Familie beitra- 16 und vor dem Wohnhaus Bogenstraße 23, in gen. Nach der Schulzeit ging sie nach Kiel. Dort dem sie Unterschlupf gefunden hatte. fand sie eine Anstellung als Haushaltshilfe. Spä- ter verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Ar- Mit der Benennung einer Straße in Bergedorf – beiterin. also unweit des ehemaligen KZ Neuengamme – Gustav Bruhn und Elisabeth Holz lernten nach Lisbeth Bruhn wurde eine Frau geehrt, die sich in Kiel kennen. Sie heirateten am 25. Januar für ihre politische Überzeugung und ihren Wider- 1913 in Lunden. Ihr Sohn Heinrich, der spätere stand gegen die Nazi-Diktatur ermordet wurde. Hochschullehrer in Leipzig, wurde am 29. Janu- Für ihren Ehemann Gustav Bruhn, ebenfalls ar 1913 in Lunden geboren. Ihre spätere Schwie- Widerstandskämpfer und an demselben Tag wie gertochter berichtete nach dem Zweiten Welt- Lisbeth im KZ Neuengamme ermordet, fehlt bis- krieg von einem zweiten Sohn, der Otto hieß her eine vergleichbare Ehrung.21) und als Soldat der Wehrmacht bei Stalingrad Das Ehepaar Bruhn war seit seiner Jugend verschollen sei. Über diesen Sohn ist Näheres politisch tätig. 1942 schloss sich Gustav Bruhn nicht überliefert. (16.3.1889 Angermünde–ermordet am 14.2.1944) Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der Bästlein-Jacob-Abshagen-Widerstandsgruppe Gustav Bruhn zur Matrosen-Division nach Wil- an. Elisabeth und Gustav Bruhn wurden am helmshaven eingezogen. Bis 1915 fuhr er auf 14. Fe bruar 1944 ohne Gerichtsurteil im KZ Neu- dem Linienschiff „Woerth“. Dann wurde er dem engamme erhängt. „Marinecorps Flandern“ zugeteilt und diente bis Gustav Bruhn stammte aus einer Eisenbah - Kriegsende in einer Pionierkompanie in Flan- nerfamilie in Angermünde in der Uckermark. dern. Der Kriegsgegner Gustav Bruhn entwi- Sein Vater war der Stellwerksmeister Wilhelm ckelte sich in einem längeren Prozess zum An- Bruhn, seine Mutter Minna, geborene Ziegler. hänger des Spartakusbundes. Dahin führten ihn Gustav besuchte die Volksschule. Nach dem Ab- nicht zuletzt die Nachrichten vom Sturz des Za- schluss der Tischlerlehre arbeitete er in mehre- renregimes in Russland und von den Matrosen- ren Städten Deutschlands in seinem Be ruf. 1909 aufständen auf dem Schlachtschiff „SMS Prinz- wurde er zum dreijährigen Militärdienst bei der regent Luitpold“ Anfang August 1917.

21) Für den gesamten Text zu Elisa- lein, Reincke, Abshagen, Bohne und Klaus Bästlein: „Hitlers Niederlage ist beth Bruhn: Bundesarchiv SAPMO Ry Bruhn (10 J 423/43g); Gedenkstätte nicht unsere Niederlage, sondern 1/I3/16/36; Gedenkstätte deutscher Ernst Thälmann – Archiv; Gedenk- unser Sieg!“ Die Bästlein-Organisa- Widerstand, Anklageschrift des Ober- stätte Sachsenhausen, Archiv, Haft- tion. Zum Widerstand aus der Arbei- rechtsanwalts beim Volksgerichtshof daten Gustav Bruhn im KZ Sachsen- terbewegung in Hamburg und Nord- vom 1. November 1943 gegen Bäst- hausen; Hamburger Adressbücher; westdeutschland während des Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 269

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Elisabeth Bruhn teilte die politischen Über- Reichsregierung zu stürzen (Kapp-Putsch), unter- zeugungen ihres Mannes und nahm zeitlebens stützte in Heide der Garnisonsälteste Hauptmann an seinen politischen Kämpfen teil. Sie war seit von Liliencron zusammen mit dem örtli chen 1919 politisch organisiert. Während der Kriegs- Postdirektor die Putschisten. Der Bürgermeister zeit zog Elisabeth Bruhn nach Hannover. Sie verhielt sich unentschieden. Der Heider Arbeiter- verdiente ihren Lebensunterhalt als Kolonnen- rat verhaftete von Liliencron in der Nacht vom arbeiterin bei der Eisenbahn. In dieser Zeit kam 13. auf den 14. März. Während der am Sonntag, auch sie in Kontakt mit dem Spartakusbund. dem 14. März, im Heider Tivoli abgehaltenen Nach dem Ersten Welt krieg fand die Familie großen Volksversammlung sprachen Carl Metze Bruhn wieder zusammen. Sie bekam in Heide/ und Gustav Bruhn. Bruhn: „Man sucht uns zu Holstein in der Westerstra- entreißen, was wir an Freiheit errungen haben. ße eine Wohnung. Noch Die neue Regierung bringt uns weder Frieden in den Tagen der Novem- noch Brot, dafür aber Krieg! Und das Volk soll berrevolution 1918 sprach geknebelt und geknutet werden.“ Gustav Bruhn Gustav Bruhn in Solda- wurde in einen neuen Arbeiterrat gewählt und tenuniform zur Heider Be - zum Beigeordneten für den nationalkonservati- völkerung und war bald ven Landrat bestimmt. Unbeschadet seiner zu- als „Roter“ in Dithmar- nehmend auch überregionalen Wirksamkeit schen bekannt. Er wech- konzentrierten sich Gustav Bruhns politische selte noch während des Aktivitäten in den nächsten Jahren auf Heide Krieges von der SPD zur und Dithmarschen. Als exponierter Kommunist Elisabeth Bruhn USPD, anderen Quellen hatte Gustav Bruhn bald kaum noch eine Chan - zufolge erst 1919. Zusam- ce auf einen Arbeitsplatz. Es wird berichtet, dass men mit dem Redakteur Carl Metze und dem Arbeitgeber, die ihn einstellen wollten, davon Kaufmann Paul Burmähl war er in Heide und abgehalten wurden. Also versuchte Elisabeth Umgebung einer der bekanntesten USPD-Vertre- Bruhn, den Lebensunterhalt für die Familie zu ter. Im Oktober 1920 gründete er die Ortsgruppe verdienen. Heide der Kommunistischen Partei Deutschlands Als am frühen Morgen des 23. Oktober 1923 mit. 1921, auf dem VII. KPD-Parteitag in Jena, der Hamburger Aufstand begann, standen von zählte er bereits zu den Delegierten. 1923 wurde Gustav Bruhn und seinen Genossen geführte Ar- er Vorsitzender der KPD in Heide. beiter und Bauern auch in Heide bereit einzu- Auch Elisabeth Bruhn trat 1920 in die KPD greifen. Dazu kam es jedoch nicht. Die Polizei ein. Sie leitete in Heide zunächst den Jung-Spar- verhaftete Gustav Bruhn und einen Teil seiner takus-Bund, in dem Kinder von 10 bis 14 Jahren politischen Freunde. Angesichts von drei Hun- organisiert und an die Ziele der KPD herange- dertschaften der „Roten Arbeiterwehr“ der Ma- führt werden sollten. schinenfabrik Köster, die die Freilassung notfalls Als am 13. März 1920 unter Leitung von erzwingen wollten, wurden die Gefangenen von Wolfgang Kapp und Walther von Lüttwitz Reichs - Heide nach Flensburg überführt und in „Schutz- wehrangehörige und ehemalige Angehörige der haft“ genommen. Eine Inhaftierung ohne Verur-

Abb.: Gedenkstätte Ernst Thälmann Thälmann Gedenkstätte Ernst Abb.: alten Armee und Marine versuchten, die legale teilung oder dringenden Tatverdacht wurde schon

Krieges (1939–1945), in: Beate Meyer Vom Heider Marktplatz bis zum KZ Widerstand 1933–1945, Frankfurt/M. (Hrsg.): Vom Zweifeln und Weiterma- Neuengamme, Heide 1993; Ursel 1980, S. 344f., S. 369ff.; Knappe: chen. Fragmente der Hamburger KPD- Hochmuth: Niemand und nichts wird Meuterei im Jugendgefängnis, in: Geschichte. Festschrift für Helmuth vergessen, Hamburg 2005, S. 43ff.; Gerda Zorn, Gertrud Meyer: Frauen Warnke zum 80. Geburtstag. Ham- Ursel Hochmuth, Gertrud Meyer: gegen Hitler, Frankfurt/M. 1974, burg 1988, S. 44ff.; Georg Gerchen: Streiflichter aus dem Hamburger S. 41ff.; Gertrud Meyer: Die Frau mit Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 270

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in der Weimarer Republik als „Schutzhaft“ be- 1922 war es, alle republikfeindlichen monarchis- zeichnet. In den ersten Krisenjahren der Weima- tischen Organisationen zu verbieten oder hand- rer Republik wurden „Schutzhäftlinge“, wobei lungsunfähig zu machen, es richtete sich in der es sich meist um Kommunisten handelte, in La- Praxis zugleich gegen linke Bestrebungen. Gus- gern untergebracht. tav Bruhn sollte die Haftstrafe auf der Festung Nach seiner Haftentlassung 1924 setzte Gollnow in der damaligen preußischen Provinz Gustav Bruhn seine politische Tätigkeit fort. Er Pommern in der Nähe von Stettin (heute: Szcze- wurde zum Stadtverordneten in Heide und zum cin) verbüßen. Kreistagsabgeordneten von Norderdithmarschen Während der Festungshaft erhielt Gustav gewählt. Außerdem war er Abgeordneter des Bruhn zwei Tage Hafturlaub für die Teilnahme an Provinziallandtages in Kiel. 1924 delegierte ihn der Jugendweihe seines Sohnes. Über die Haft - die KPD zum V. Weltkongress der Kommunisti- bedingungen ist nur wenig bekannt. Am 20. Mai schen Internationale nach Moskau. Ab 1925 ar- 1928 wurde Gustav Bruhn für die KPD als Abge- beitete er als Parteisekretär und Unterbezirkslei- ordneter des Preußischen Landtags gewählt, dem ter in Heide und Itzehoe. er bis 1932 angehörte. Die durch das Landtags- Am 30. Januar 1926 gründete sich die Orts- mandat gewonnene parlamentarische Immunität gruppe Heide der NSDAP im Heider Tivoli. Be- beendete seine Festungshaft. Nun zog die Familie reits vorher hatten sich mehrere NSDAP-Orts- in das damals preußische Altona. Der Sohn Hein- gruppen in Dithmarschen gebildet, darunter rich wechselte nach Beendigung der Schulzeit auch in Lunden, dem früheren Wohnort der Fa- nach Berlin und begann dort 1928 eine kaufmän- milie Bruhn. Diese Entwicklung erfüllte Gustav nische Lehre bei der Firma „Derutra“ (Deutsch- Bruhn mit großer Sorge. In einem Bericht des Russische Transport-Aktiengesellschaft). damaligen Ortsgruppenleiters in der Festschrift Gustav Bruhn übernahm nun zusätzlich die zum zehnjährigen Bestehen der NSDAP wird Funktion des Unterbezirkssekretärs in Kiel, spä- Gustav Bruhns oppositionelles Auftreten in der ter in Hamburg. 1930 lautete seine Adresse Kiel, Gründungsversammlung erwähnt. Annenstraße 59. Er gehörte dem Plenum und Ab 1927 arbeitete Gustav Bruhn als Partei- der Bezirksleitung Wasserkante der KPD an. In sekretär und Unterbezirksleiter der KPD in Lü- den Akten der Kriminalpolizei Lübeck ist für beck. Seine Familie blieb in Heide. Als Gustav Ende 1931 als Adresse die Beckergrube 29 in Lü- Bruhn von einer Versammlung aus Meldorf beck festgehalten. kam, wurde er auf dem Heider Bahnhof verhaf- Es kann davon ausgegangen werden, dass tet. Ihm wurde der Vertrieb einer illegalen Bro- Gustav Bruhn unter polizeilicher Beobachtung schüre (Willy Sachse: Anti-Nautikus – Deutsch- stand. Eine „Nachrichtensammelstelle“ des Reichs - lands revolutionäre Matrosen) vorgeworfen. Der ministeriums des Innern zog Informationen über 4. Strafsenat des Reichsgerichts verurteilte Gus- „KPD-Zersetzung – Tätigkeit in der Reichswehr tav Bruhn am 25. September 1927 zu neun Mo- und Polizei“ in der gesamten Republik ein. Die naten Festungshaft und 100 Mark Geldstrafe Kriminalpolizei Lübeck hatte einen V-Mann auf wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Tatein- Gustav Bruhn angesetzt und berichtete ab An- heit mit Vergehen gegen § 7 des Republikschutz- fang Oktober 1931 nach Berlin. Danach soll Gus- gesetzes. Ziel dieses Gesetzes aus dem Jahre tav Bruhn mit einer in einem Ministerium be-

den grünen Haaren, Hamburg 1978, Weimarer Republik, Heide 1989, Heider KPD 1920–1935, in: Demokra- S. 114ff.; Gertrud Meyer: Nacht über S. 19f.; VAN-Totenliste S. 18f.; Her- tische Geschichte X – Jahrbuch zur Ar- Hamburg, Frankfurt/M. 1971, S. 92f.; mann Weber, Andreas Herbst: Deut- beiterbewegung und Demokratie in Ursula Puls: Die Bästlein-Jacob-Abs- sche Kommunisten, Berlin 2004, Schleswig-Holstein, Bd. 10, (1996), hagen-Gruppe, Berlin 1959; Johann S. 128f.; Ulrich Pfeil: Die KPD im länd- S. 171–206; Anni Wadle: Mutti, wa - Wilhelm Thomsen: Landleben in der lichen Raum – Die Geschichte der rum lachst du nie? Erinnerungen an Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 271

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schäftigten weiblichen Person befreundet gewe- tionslager Sachsenhausen als „rückfälliger Schutz- sen sein, die ihm Zuträgerdienste geleistet habe. häftling“ eingeliefert. Zu derselben Zeit befan- Wenig später wurde berichtet, „die Ermittlungen den sich dort auch andere führende Kommunis- über die ‚Freundin‘ des Bruhn und die angebliche ten, u. a. aus Hamburg Bernhard Bästlein, Robert Villa in Tempelhof [seien] ergebnislos verlaufen“. Abshagen, Hans Christoffers, Franz Jacob, Adolf In Erwartung der Machtübernahme der Wendt. NSDAP traf die KPD Vorsorge für den Fall ihres Auch Elisabeth Bruhn bekam die Verfolgung Verbots und des dann folgenden illegalen Wider- durch die Nationalsozialisten zu spüren. Sie stands in Hamburg und Schleswig-Holstein. wurde verhaftet und am 5. April 1934 in das KZ Daran beteiligt waren viele Funktionäre der Be- Fuhlsbüttel eingeliefert. Als ihre Adresse wurde zirksleitung Wasserkante, darunter auch Gustav Heinrich-Dreckmannstraße 1 (heute: Susannen- Bruhn. straße im Stadtteil Sternschanze) notiert. Es Vom 26. April bis zum 17. Juni 1933 wurde folgten Untersuchungshaft und die Verurteilung Gustav Bruhn in so genannte Schutzhaft im KZ zu zwei Jahren Gefängnis wegen Wiederaufbaus Fuhlsbüttel genommen. Nach seiner Entlassung der verbotenen Kommunistischen Partei. Die nahm er die Parteiarbeit für die KPD sofort wie- Haftstrafe begann am 25. September 1934. Voll- der auf. Sein Aktionsfeld erweiterte sich jetzt bis zugsanstalt war das Frauengefängnis Lauerhof nach Hannover. Überliefert ist auch ein Aufent- in Lübeck. Lina Knappe, eine ebenfalls in Lü- halt in Minden mit dem Ziel, Verbindung zur dor- beck-Lauerhof einsitzende junge Kommunistin, tigen illegalen KPD-Organisation aufzunehmen. äußerte sich später: „Wir hatten das Gefühl, als Im September 1933 wurde er erneut verhaf- wären sie [Elisabeth Bruhn und die weitere Ge- tet. Seine Haftkarteikarte weist aus, dass er am fangene Maria Cords] unsere Mütter, die sich 13. Oktober 1933 in das Untersuchungsgefängnis um uns sorgten. Das gab uns Kraft und Zuver- Hamburg eingeliefert und am 27. Juni 1934 nach sicht, und wir holten auch gesundheitlich wieder Hannover überstellt wurde. Der Grund dafür ist auf.“ Am 5. April 1936 wurde Elisabeth Bruhn nicht bekannt. Am 9. August 1934 brachte man entlassen und nahm die politische Arbeit unver- Gustav Bruhn nach Hamburg in das Untersu- züglich wieder auf. Schon im Herbst 1936 wur- chungsgefängnis zurück. Er wurde am 1. März de sie erneut verhaftet und wieder ins KZ Fuhls- 1935 nach Berlin überstellt. Am 14. März 1935 büttel eingeliefert. Mit ihr wurden auch ihr Sohn verurteilte ihn der Volksgerichtshof in Berlin we- Heinrich und dessen Ehefrau gefangen genom- gen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu drei Jah- men. Aus Mangel an Beweisen kam Elisabeth ren Zuchthaus. Unter Anrechnung der bereits er- Bruhn am 18. Januar 1937 wieder frei. littenen Untersuchungshaft endete diese Haftzeit Das nationalsozialistische Regime fühlte 1937. Es ist nicht bekannt, wo Gustav Bruhn die sich in den Jahren 1937 bis 1940 seiner Macht Haftzeit verbrachte. Sein Sohn Heinrich berich- sehr sicher. Nur so lässt sich erklären, dass in tete später, Gustav Bruhn habe die Zuchthaus- dieser Zeit eine Anzahl führender Kommunisten strafe in Rendsburg abgesessen. Dafür lassen aus der KZ-Haft freigelassen wurden, darunter sich Belege jedoch nicht finden. im April 1939 auch Gustav Bruhn. Nach seiner Anschließend an die Zuchthausstrafe wurde Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen war Gustav Bruhn am 16. April 1937 im Konzentra- Gus tav Bruhn erneut im Widerstand gegen die

Zeiten der Verfolgung und des Krie- sozialismus, Bremen 2013, S. 124; schutzhaft.html (Zugriff 8.5.2012). ges, Drensteinfurt 1988; Herbert http://www.bildung-brandenburg.de Diercks: Der Einsatz von V-Leuten im /schulportraets/index.php?id=stam Sachgebiet „Kommunismus“ der mdaten&schulnr=100638 (Zugriff Hamburger Gestapo, in: Polizei, Ver- 11.9.2012); http://www.preussen- folgung und Gesellschaft im National- chronik.de/begriff_jsp/key=begriff_ Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 272

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Nationalsozialisten aktiv. Auch die anderen Frei- Hans Köpke, der am 26. Juni 1944 nach einem gelassenen suchten die Verbindung zu Hambur- Todesurteil des Volksgerichtshofes im Untersu- ger Kommunisten und anderen Widerständlern. chungsgefängnis Hamburg hingerichtet wurde. Im Herbst 1941 konstituierte sich eine Wider- Die Aktivitäten der Bästlein-Jacob-Absha - standsgruppe unter Einbeziehung bereits vor- gen-Gruppe blieben den Nationalsozialisten handener illegaler Zirkel und Widerstandsgrup- nicht verborgen. Sie starteten eine umfangreiche pen. Sie sollte hauptsächlich in den Hamburger Verhaftungswelle, deren erste Opfer am 18. Ok - Großbetrieben verankert sein und wurde als tober 1942 neben anderen Gustav und Elisabeth Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe bekannt. Ro- Bruhn wurden. Beide waren intensiven Verhören bert Abshagen gewann Gustav Bruhn laut An- und schweren Folterungen ausgesetzt. Ihr Sohn klageschrift des Oberreichsanwalts am Volksge- Heinrich erfuhr von der Gefangennahme da - richtshof im Frühjahr 1942 zur Mitarbeit. Zum durch, dass Post zurückkam mit dem Vermerk: inneren Kern der Gruppe zählten etwa 210 Män- „Verhaftet“. Ein Mithäftling (Heinz Gerhard Nils- ner und Frauen, darunter auch einige SPD-Leute son) berichtete später, Gustav Bruhn sei wäh- und Gewerkschafter. In den Jahren 1943 bis 1945 rend der Vernehmungen misshandelt worden. wuchs die Gruppe auf mindestens 300 Personen Am 23. März 1943 waren die Voruntersu- an. Sie unterhielt u. a. Kontakte zum Widerstand chungen der Gestapo gegen Gustav und Elisa- der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe in Berlin beth Bruhn so weit fortgeschritten, dass beide und bildete einen bedeutenden Schwerpunkt aus dem inzwischen in Polizeigefängnis umbe- des Widerstandes in Deutschland. nannten KZ Fuhlsbüttel in das Untersuchungsge - Die Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe war fängnis Hamburg überstellt wurden. Ihre Adresse zunächst in Einzelgruppen in diversen Groß - auf beiden Haftkarteikarten lautete Schelling- betrieben organisiert, bald schon wurden Indus - straße 33. trie gruppen für einzelne Branchen, z. B. Bau- Es wird angenommen, dass die Prozesse ge- industrie, Metallindustrie, gebildet. Gustav Bruhn gen das Ehepaar Bruhn und weitere Angehörige übernahm die Leitung der Industriegruppe „Me - der Hamburger Widerstandsorganisation im Früh - tall“ von Oskar Reincke, einer der Leitungsperso - sommer 1943 beginnen sollten. Doch dazu kam nen der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe, und es nicht. Elisabeth und Gustav Bruhn saßen wäh- lernte wenig später Paul Thürey (siehe Ü Thürey- rend der verheerenden Luftangriffe der engli schen straße, in diesem Band) kennen, der die Wi- Luftwaffe Ende Juli 1943 im Untersuchungsge- derstandsarbeit bei den Conz-Elektromotoren- fängnis an der Straße Holstenglacis. Durch diese Werken in Hamburg-Bahrenfeld organisierte. als „Aktion Gomorrha“ bezeichnete Luftoffensive, Gustav Bruhn erhielt Informationen über Beleg- die große Teile Hamburgs Ende Juli/Anfang Au- schaftsstärke, Produktion, Stimmung unter der gust 1943 in Schutt und Asche legte, entstand Belegschaft, Lohnverhältnisse und Akkordsys- auch in den staatlichen Sicher heits organen ein tem. Auf diesem Wege beschaffte er auch Infor- Chaos. Das Stadthaus, die Ham burger Gestapo- mationen über russische Zwangsarbeiterinnen zentrale, wurde zerstört. Die Gestapo und der bei den Conz-Werken. Über die Klöckner Flug- Justizapparat waren vorübergehend nicht arbeits- motorenbau GmbH in Hamburg-Billbrook erhielt fähig. Unter dem Eindruck der Verwüstungen be- er Informationen von dem Maschinenschlos ser schloss die Hamburger Staatsanwaltschaft, etwa Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 273

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2000 Hamburger Untersuchungshäftlingen Haft- Elisabeth Bruhn fand Unterschlupf bei ihrer verschonung zu gewähren. Rund 70 Mitglieder Freundin, der Kommunistin Klara Dworznick in der Bästlein-Jacob-Abs hagen-Gruppe erhielten der Bogenstraße 23 in Hamburg-Eimsbüttel, die zwei Monate Hafturlaub vom 31. Juli 1943 bis sie schon viele Jahre kannte. Auch Gustav Bruhn 1. Oktober 1943, verbunden mit der Auflage, hielt sich tageweise in der Bogenstraße 23 auf. keine „Verbindung mit Tatgenossen“ aufzuneh- Alfons Pannek erschlich sich Gustav Bruhns Ver- men. Gustav Bruhn kam am 2. August 1943 frei. trauen und verschaffte ihm ein Quartier in sei- Er hatte seinen Genossen noch vor der Entlas- ner und Else Panneks Wohnung im Eppendorfer sung vorgegeben, sich in den nächsten Tagen zu Weg 256. Hier glaubte Gustav Bruhn, sicher zu einer Beratung über die neue Situation zu- sein. Sein Vertrauen in Pannek ging so weit, dass sammenzufinden. Etwa 20 der Beurlaubten be- er ihn und seine Frau mehrmals in die Wohnung schlossen dabei, sich nach Ablauf der Frist nicht von Klara Dworznik mitnahm. wieder verhaften zu lassen, sondern sich bis zum Im Dezember 1943 wollte Gustav Bruhn Kriegsende verborgen zu halten. ganz nach Hannover übersiedeln und dort unter- Gustav und Elisabeth Bruhn tauchten unter tauchen. Pannek hatte ihm falsche Papiere be- und wechselten fortlaufend die Quartiere. Gus- schafft. Als Gustav Bruhn Hamburg am Abend tav Bruhn wohnte illegal bei Käthe und Richard des 13. Dezember 1943 mit dem Zug verlassen Tennigkeit (siehe Ü Tennigkeitweg, in diesem Band) wollte, wurde er bei einer scheinbar zufälligen in Hamburg-Berne, die ihren Widerstand gegen Fahrkarten- und Ausweiskontrolle verhaftet. Gus - die NS-Diktatur mit dem Leben bezahlten. Adolph tav Bruhns Haftkarteikarte im Untersuchungsge- Kummernuß, der spätere ÖTV-Vorsitzende, be- fängnis enthält die Notiz „15.12.43 18.00 vom richtete nach dem Kriege, er habe Gustav Bruhn Urlaub zurück“. ein- oder zweimal bei Tennigkeits getroffen. Gus - Am 3. Februar 1944 wurde auch Elisabeth tav Bruhn nahm die illegale politische Arbeit Bruhn verhaftet und zwar zusammen mit Rudolf wieder auf, u. a. mit seinen kommunistischen Steinfatt und Klara Dworznick in deren Woh- Freunden Walter Bohne und Hans Hornberger. nung in der Bogenstraße 23 sowie mit dem am Walter Bohne wurde bei seiner Verhaftung am 6. Januar 1945 im KZ Neuengamme umgekom- 5. Januar 1944 von Gestapobeamten erschossen. menen Adolf Schröder. Der Oberreichsanwalt Zwischen Ende September und Ende Okto - beim Volksgerichtshof Berlin hatte ungeachtet ber 1943 hielt sich Gustav Bruhn in Hannover auf. des Untertauchens von Mitgliedern der Bästlein- Zurück in Hamburg wohnte er zunächst bei dem Jacob-Abshagen-Gruppe bereits am 1. Novem- Kommunisten Friedrich (Fiete) Löhn in der Kanal- ber 1943 eine Anklageschrift gegen Bernhard straße 33, den er durch Adolf Schröder, einen ille- Bästlein, Oskar Reincke, Robert Abshagen, Wal- gal bei Klara Dworznick in der Bogenstraße 23 le- ter Bohne und Gustav Bruhn fertig gestellt. benden Kommunisten, kennengelernt hatte. Bei Bevor der Strafprozess gegen Gustav Bruhn Fiete Löhn wurde Gustav Bruhn mit dem verdeckt stattfinden konnte, veranlasste der Gestapo- arbeitenden früheren Kommunisten, Spanien- mann Henry Helms dessen Liquidierung. Dies kämpfer und späteren Gestapo-Agenten Alfons geschah auf Betreiben von Alfons Pannek, des- Pannek bekannt. Dieses Zusammentreffen sollte sen Tätigkeit als Gestapo-Spitzel bei der Verhaf- ihm schließlich zum Verhängnis werden. tung von Gustav Bruhn aufgedeckt worden war. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 274

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Pannek wollte offenbar durch Gustav Bruhns tralfriedhofs in Berlin-Friedrichsfelde. In Anger- Tod seine Rolle als Gestapo-Spitzel sichern. Am münde trägt eine Grundschule den Namen von 14. Februar 1944 wurden Elisabeth und Gustav Gustav Bruhn. Bruhn in das KZ Neuengamme verschleppt und Text: Ingo Wille, aus: www.stolpersteine-hamburg.de ohne Gerichtsurteil gehenkt. Über die Gescheh- Siehe auch Ü Ernst-Mittelbach-Ring, Niendorf, nisse dort schrieb Alfred Baumbach, ein Freund seit 1982: Ernst Mittelbach (1903–1944), Ge- werbeoberlehrer, Widerstandskämpfer gegen der Familie Bruhn: „Als wir am 14. Februar 1944 den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittel- morgens in den Transportwagen stiegen, der uns bach-Stieg, Niendorf, seit 1987, in Bd. 3 on- von Fuhlsbüttel nach Neuengamme brachte, sah line**. ich, wie Gustav und Lisbeth Bruhn und einige Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit 1988: andere Häftlinge in einem schrecklichen Zu- Karl Kock (1908–1944), Gummifacharbeiter aus Harburg, Kommunist, Widerstandskämp- stand von begleitender SS und den Gestapomän- fer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 nern Helms und Litzow in den Wagen getrieben online**. wurden. Ich ahnte, dass etwas Furchtbares be- Siehe auch Ü Kurt-Schill-Weg, Niendorf, seit vorstand. Im Wagen versuchte ich, neben Lis- 1982: Kurt Schill (1911–1944), KPD-Wider- standskämpfer gegen den Nationalsozialismus, beth zu gelangen, um ihr durch eine freundliche in Bd. 3 online**. Geste mein Mitgefühl auszudrücken. Sie war Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit vollkommen verstört. Beim Aussteigen in Neu- 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- engamme wollte Gustav sich neben uns stellen. munistischer Widerstandskämpfer gegen den Er wurde von Helms und den anderen SS-Män- Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. nern mit höhnischen Bemerkungen: ‚Das könnte Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Aller- euch so passen!’ und durch Faustschläge und möhe, seit 2002: Werner Schroeder (1916– 1993), Bäcker, Kommunist, Widerstandskämp- Fußtritte von uns getrennt. Die Gruppe Gustav fer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 und Lisbeth Bruhn, Hans Hornberger und Kurt online**. Schill (siehe Ü Kurt-Schill-Weg, in Bd. 3 online**), den Fünften kannten wir nicht, wurde dann von der SS abgeführt. Helms und Litzow gingen mit. Liseistieg Am gleichen Abend wussten schon alle Genos- Rahlstedt, seit 1971. Gestalt aus Theodor Storms sen im Lager, dass die fünf im Bunker gehängt Erzählung „Pole Poppenspäler“. Motivgruppe: worden waren.“ Theodor Storms Werke Die Morde an Elisabeth und Gustav Bruhn, Hans Hornberger, Kurt Schill und Walter Bohne Lisei ist die neunjährige Tochter eines Puppen- wurden sofort an den Reichsführer SS und Chef spielers. Paul (Pole Poppenspäler) (siehe Ü Poppen- der Deutschen Polizei gemeldet. Von dort wurde spälerweg, in Bd. 3 online**), die Hauptfigur der der Reichsjustizminister unterrichtet. Erzählung, und Lisei lernen sich als Kinder Im Ehrenhain Hamburger Widerstandskämp - kennen. Paul macht aus Versehen die Mechanik fer auf dem Friedhof Hamburg-Ohlsdorf liegt ein ei ner Puppe kaputt, und Lisei wird dafür be- Gedenkstein für Elisabeth und Gustav Bruhn. schuldigt. Aus Angst vor Strafe verstecken sich Die Namen von Elisabeth und Gustav Bruhn die beiden nach einer Puppenspielaufführung im finden sich auch auf der Gedenkmauer des Zen- Aufführungsraum. Es entwickelt sich zwischen

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 275

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ihnen eine Kinderliebe. Lisei muss jedoch mit in Bd. 3 online**). Zuvor hatte sie schon zu Leb- ihren Eltern weiterziehen. Erst zwölf Jahre später zeiten ihres Vaters bei ihm die Geschäfte erlernt. sehen sich beide durch Zufall wieder. Sie heira- „‚Inspiration für diese Arbeit war mein Vater‘. ten, bekommen ein Kind und führen bis zu ih- Beim ihm lernte sie von der Pieke auf das Ree- rem Lebensende eine harmonische Ehe. dereigeschäft kennen. Erst als Lehrling, später Siehe auch Ü Poppenspälerweg, Rahlstedt, seit als seine Sekretärin und ständige Begleiterin. 1964, nach einer Novelle von Theodor Storm, Seine Arbeitshaltung, sein zielbewusster Einsatz in Bd. 3 online**. für das Familienunternehmen und für Afrika Siehe auch Ü Stormsweg, Uhlenhorst, seit waren (…) für Frau von Rantzau Vorbild und 1903: Theodor Storm (1817–1888), Schriftstel- 22) ler, und Theodor-Storm-Straße, Rahlstedt, vor Ver pflichtung zugleich.“ 1989 stand „sie einer 1949, in Bd. 3 online**. Flotte von 456 Schiffen vor. Die Reedereigruppe beschäftigte [damals] rund 360 Mitarbeiter an Land und 920 Leute auf See. ‚Die Seeleute sagten Liselotte-von-Rantzau-Platz am Anfang, sie würden mich nicht akzeptieren HafenCity, seit 2013, nach Liselotte von Rantzau …, aber sie taten es dann doch.‘ Von starkem (9.10.1918–25.1.1993), übernahm als Tochter von Willen geprägt, platzte Liselotte von Rantzau mit John T. Essberger 1959 die Tankreederei Essber- Energie und Durchsetzungsvermögen in traditio- ger, die Anfang der 1920er-Jahre in Hamburg ge- nell männliche Stammplätze hinein. (…)“23) Sie gründet wurde und die Reederei Deutsche Afrika- galt „als hervorragende Afrika-Kennerin, und alle Linien hinzukaufte; wirkte auch als Mäzenin Bundesregierungen suchten ihren Rat und ihre Hilfe als Vermittlerin und Liselotte von Rantzau-Essberger wurde 1918 in Kiel Botschafterin (…).“24) Li- als Tochter des Korvettenkapitäns John T. Ess- selotte von Rantzau war berger geboren, der der Gründer der gleichna- vom Zeitpunkt der Grün- migen Tankreederei war. In den 1930er-Jahren dung 1971 bis zu ihrem kaufte er von den Godeffroys (siehe Ü Godeffroy- Tode Vorsitzende der Af- straße, in Bd. 3 online**) die Villa an der Elb- rika-Stiftung, gleichzeitig chaussee 547. Stellvertretende Vorsitzen- Seine Tochter Liselotte wurde nach dem de des 1934 gegründeten Abitur am Realgymnasium in Hamburg in einem Afrika-Vereins und dessen Pensionat bei Lausanne als Höhere Tochter aus- Vorsitzende von 1988 bis Liselotte von Rantzau-Essberger gebildet. 1942 heiratete sie Cuno von Rantzau, 1990 sowie im Vorstand ebenfalls aus einer Reederfamilie stammend. des Afrika-Kollegiums und Mitglied in mehreren Da mit waren zwei Reederfamilien verbunden deutsch-afrikanischen Gesellschaften. „Ein Drit- worden. tel ihrer Arbeitszeit verbrachte sie auf Reisen. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1959 Niederlassungen wollten besucht, Geschäftsbe- übernahm Liselotte von Rantzau das Komman - ziehungen aufrechterhalten werden. Neue tech- do über die Doppelreederei: Deutsche Afrika-Li- nische Entwicklungen und den Fortschritt im nien/Tankreederei John T. Essberger (zu den Geist der Zeit begriff sie als Chance. Und so war

Abb.: Hans W. Wulff W. Hans Abb.: Deutschen Afrika-Linien siehe Ü Woermannstieg, sie die erste, die auf den Schiffen das Satelliten-

** Band 3 online unter: www.ham- Gedai, Birgit Kiupel: Leinen los! Eine 24) Ebenda. burg.de/maennerstrassennamen Expedition zur neuen und alten Ge- schichte der Frauenarbeit im und für 22) Helga Mack (†): Portrait über den Hamburger Hafen. Hamburg Liselotte von Rantzau, in: Rita Bake, 1989, S. 122f. Jutta Dalladas-Djemai, Martina 23) Helga Mack (†), a. a. O., S. 122ff. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 276

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Navigationssystem einführte und den Afrika-Ter- jährigen ‚Familienphase‘ war sie nur zeitweise minal als modernsten seiner Zeit erbauen ließ.“25) im Reedereigeschäft tätig. (…)“.28) Die Aktivitäten des Afrika-Vereins und der Deut- In ihrer Freizeit sammelte Liselotte von schen Afrika-Linie in den 1980er-Jahren werden Rantz au Nilpferd-Plastiken. Die Reederin war von postkolonialen Initiativen allerdings kritisch auch Mä zenin. So baute sie u. a. die Hamburger gesehen. So schreibt Heiko Möhle: „Obwohl sich Musikfeste mit auf und mitbegründete 1985 den der Hamburger Senat in den achtziger Jahren Förderkreis der Philharmonie, förder te die Ziele wiederholt für Boykott und Sanktionen gegenü- der Stiftung Hamburgische Kunstsammlungen, ber Südafrika [we gen dessen Apartheid-Politik] deren langjährige Vorsitzende sie war, und enga - aussprach, setzte der Hafen seine Entwicklung gierte sich in der Städtepartnerschaft zwischen zum ‚Tor zu Südafrika‘ fort. Ein Großteil des Hamburg und Dresden. Liselotte von Rantzau Handels wurde weiter mit den Schiffen der Deut- erhielt das Große Bundesverdienstkreuz; den schen Afrika-Linie abgewickelt, deren Vorsitzen - Order of Good Hope des Verdienstordens der Re- de Liselotte Rantzau-Essberger in den achtziger publik Südafrika; den Ordre du Mono des Ver- Jahren den Vorsitz des Afrika-Vereins übernahm. dienstordens der Republik Togo und noch ande- Ihre Schiffe transportierten nicht nur Äpfel und re Auszeichnungen. Orangen, sondern auch Uran aus Namibia, das Siehe auch Ü Godeffroystraße, Blankenese, vor von Südafrika wie eine Kolonie verwaltet wurde. 1928: Joh. Caesar Godeffroy (1813–1885), Ree- Der Abbau in der ‚Rössing-Mine‘, der größten der, Kaufmann, Präses der Handelskammer (1845), Mitglied der Hamburgischen Bürger- Uranmine der Welt, führte zu schwersten ge- schaft (1859–1864), in Bd. 3 online**. sundheitlichen Schädigungen der Minenarbeiter Siehe auch Ü Woermannstieg, Ohlsdorf, seit und Umweltzerstörungen im Abbaugebiet.“26) 1948: Adolph Woermann (1847–1911), Reichs- „Anerkennungsprobleme hatte [Liselotte tagsabgeordneter, Kolonialer Handelsherr, und Woermannsweg, Ohlsdorf, seit 1922, in Bd. 3 von Rantzau-Essberger] nur am Anfang bei der online**. Übernahme der Reederei. (…) Ihre Kenntnisse, ihre sachlich-bestimmte Art, Verhandlungen zu führen, und ihr zielbewusstes Voranschreiten Lise-Meitner-Park ließen das männliche Gemurmel auf Konferen- Bahrenfeld, seit 1997, umbenannt nach der jüdi- zen und in den Vorständen der vielen Gremien, schen Kernphysikerin Prof. Dr. Lise Meitner in denen sie tätig war, bald verstummen.“27) (7.11.1878 Wien–27.10.1968 Cambridge), vorher Liselotte von Rantzau war z. B. auch Mit- hieß das ehemalige Landschaftsschutzgebiet glied der internationalen Versicherungsorganisa- „Flottbeker Drift“ tion Lloyd’s of London, stellvertretende Vorsit- zende des Aufsichtsrats der Nord-Deutschen Seit 1997 wird westlich des DESY-Geländes die Versicherungs-Aktiengesellschaft, Mitglied des bedeutende österreichische Physikerin Lise Meit- Aufsichtsrats der Hamburgischen Landesbank, ner gewürdigt. Mitglied des Präsidiums des Verbandes Deut- Lise Meitner wurde in Wien als drittes Kind scher Reeder. „Ihre drei Söhne, geboren 1943, des jüdischen Ehepaares Hedwig Meitner-Skov- 1944 und 1948, erzog sie allein, denn die Ehe ran und Philipp Meitner, Rechtsanwalt, geboren. wurde [1957] geschieden. Während ihrer zehn- Lise Meitner besuchte eine Bürgerschule, weil

** Band 3 online unter: www.ham- sche Kolonialismus in Afrika. Eine burg.de/maennerstrassennamen Spurensuche. Neuaufl. Berlin 2011, S. 154f. 25) Ebenda. 27) Helga Mack (†), a. a. O., S. 122ff. 26) Heiko Möhle (Hrsg.): Brannt- 28) Ebenda. wein, Bibeln und Bananen. Der deut- Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 277

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sie auf dem Mädchengymnasium nicht ange- scheiden, Otto Hahn lebhaft. So kam es, daß er nommen worden war. Nach dem Schulabschluss immer im Vordergrund stand, sie dagegen die absolvierte sie eine Ausbildung am Lehrerinnen- Rolle seiner ‚Mitarbeiterin‘ übernahm. Auch bei seminar; nach diesem Examen holte sie das Abi- Arbeiten, die Lise Meitner weitgehend alleine tur nach und begann Physik, Mathematik und gemacht hatte, setzte er seinen Namen als Autor Philosophie zu studieren. 1906 promovierte sie mit auf die Veröffentlichung. Allerdings merkte im Hauptfach Physik. sie später an: ‚Er war ja soviel bekannter als ich‘, 1907 zog die protestantisch erzogene Lise und sie glaubte: ‚Es war kein schlechter Wille Meitner nach dem Studium in Wien nach Berlin, bei ihm, es war Gedankenlosigkeit.‘ (…) Erst wo sie sich wissenschaftlich weiterbildete und mit zunehmendem Alter wurde Lise Meitner be- Vorlesungen von Max Planck besuchte. Dieser wußt, daß sie Nachteile durch ihr Geschlecht hielt wenig von Frauen in der Wissenschaft und wie durch das forsche Auftreten ihres Kollegen äußerte sich abfällig über „die Befähigung der Hahn erlitten hatte.“29) Frau zum wissenschaftlichen Studium und Be- Ab 1912 arbeitete Otto Hahn nun gegen ruf“. Dennoch erlaubte er ausnahmsweise Lise Entgelt in der von ihm aufgebauten Forschungs- Meitner die Teilnahme an seinen Vorlesungen. abteilung Radioaktivität des Kaiser-Wilhelm- Dabei lernte sie den Chemiker Otto Hahn kennen. In stituts für Chemie der Kaiser-Wilhelm-Gesell - Gemeinsam arbeiteten sie als „un be zahlter Gast“ schaft in Berlin-Dahlem. Lise Meitner arbeitete im Chemischen Institut der Berli ner Universität. zunächst noch unbezahlt in Hahns Abteilung Allerdings durfte sich Lise Meitner nur in der weiter. Als sie 1914 „von der Prager Universität „Holzwerkstatt“ im Souterrain be wegen, denn das Angebot einer festen Anstellung mit der der Institutsdirektor verweigerte ihr als Frau den Aussicht auf eine spätere Professur [erhielt], Zugang zu den anderen Räumen. Glücklicher- wurde in Anerkennung ihrer Leistungen auch weise gab es eine Hintertür, die Zugang zum Che- für sie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie mischen Institut bot und durch die Lise Meitner eine bezahlte Stelle als wissenschaftliches Mit- in die Holzwerkstatt gelangen konnte. Allerdings, glied geschaffen.“30) wenn sie zur Toilette wollte, dann musste sie in Als der Erste Weltkrieg begann, war Lise eine Gastwirtschaft gehen. Erst, nachdem 1908 Meitner – wie auch ihre Kollegen – begeistert endlich auch Frauen in Preußen das Recht zu stu- und beglückwünschte Otto Hahn zu seinen Ent- dieren bekommen hatten, konnte sich Lise Meit- wicklungen des Chlorgaseinsatzes in der Zwei- ner wissenschaftlich freier entfalten. ten Flandernschlacht. 1909 entdeckte Otto Hahn den radioaktiven 1917 entdeckten Hahn und Meitner das che- Rückstoß und mit Lise Meitner zusammen ver- mische Isotop Protactinium 231. Ein Jahr später schiedene radioaktive Nuklide. Dadurch machte bekam Lise Meitner eine ihrem Können entspre- sich Lise Meitner einen Namen, lernte Albert chende Stel le und ein angemessenes Gehalt: sie Einstein (siehe Ü Albert-Einstein-Ring, in Bd. 3 on- wurde Leiterin der physikalisch-radioaktiven Ab - line**) und Marie Curie kennen und wurde Max teilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. Plancks’ inoffizielle Assistentin. 1922 habilitierte sie sich, durfte nun als Dozentin Doch Lise Meitner stand immer im Hinter- arbeiten und wurde 1926 außerordentliche Pro- grund: Sie „war ruhig, zurückhaltend und be- fessorin für experimentelle Kernphysik an der

** Band 3 online unter: www.ham- Idole, Mythen. München 1999, Bd. 64) burg.de/maennerstrassennamen S. 199f. 30) Werner Stolz: Otto Hahn/Lise 29) Jeanne Rubner: Das 91. Element: Meitner. Leipzig 1983, S. 26. (Biogra- Lise Meitner, in: Cathrin Kahlweit phien hervorragender Naturwissen- (Hrsg.): Jahrhundertfrauen. Ikonen, schaftler, Techniker und Mediziner, Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 278

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Universität Berlin – und damit die erste deutsche glauben, daß mich der Skandal mit Deinem Um- Professorin für Physik. zug mehr Nerven kostet als alle Trans-Urane Nach der Machtübernahme durch die Na- und sonstigen nicht immer angenehmen Dinge tionalsozialisten wurde Lise Meitner gemäß dem zusammengenommen.‘ Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs beam - Schließlich erlangte er doch die Erlaubnis, ten tums wegen ihrer jüdischen Herkunft die Teile des Hab und Guts der ‚Nicht-Arierin‘ Lise Lehr befugnis entzogen. Am Kaiser-Wilhelm-Ins- ‚Sarah‘ Meitner nach Schweden zu senden. (…) ti tut durfte sie jedoch noch ihre Arbeit weiter Die ausgesprochen ungünstigen Arbeitsbe- fortsetzen. dingungen am neugegründeten Nobel-Institut 1938 konnte Lise Meitner durch Hilfe von für Physik waren für die sechzigjährige Wissen- Otto Hahn Deutschland illegal verlassen und schaftlerin in höchstem Maße deprimierend. (…) kam nach Schweden. Dort arbeitete sie am No- ‚Mir geht es sehr wenig gut. Ich habe hier eben bel-Institut unter schlechten Arbeitsbedingungen einen Arbeitsplatz und keinerlei Stellung, die und gegen geringen Lohn. Entsprechend waren mir irgendein Recht auf etwas geben würde. Ver- ihre Lebens- und Wohn- suche Dir einmal vorzustellen, wie das wäre, verhältnisse. „Erst im Mai wenn Du statt Deines schönen eigenen Instituts 1939 konnte sie gemein- ein Arbeitszimmer in einem fremden Institut hät- sam mit ihren ebenfalls test, ohne jede Hilfe, ohne alle Rechte (…).‘“31) emigrierten Geschwistern Noch im selben Jahr ihrer Emigration nach in Stockholm eine kleine Schweden entdeckte Otto Hahn die Kernspal- Wohnung mieten. Endlich tung. Er ließ Lise Meitner an seinen Forschungen stand ihr ein bescheide- teilhaben und fragte sie um Rat. Lise Meitner nes Leerzimmer zur Ver- interpretierte seine Ergebnisse und über prüfte fügung. In zähen Verhand- sie. Gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Frisch lungen mit den Nazi be- publizierte sie 1939 die erste theoretische Erklä- Lise Meitner hörden ließ unter dessen rung der Kernspaltung. Otto Hahn in Berlin nichts Inzwischen war Lise Meitner zu einer über- unversucht, die Genehmigung zur Nachsendung zeugten Pazifistin geworden. „Gewiss hätten ihrer Einrichtungsgegenstände und Bücher zu er - sich ihre Arbeitsbedingungen und Lebensum- wirken. In ihrer verzweifelten Lage schrieb Lise stände schlagartig verbessert, wenn sie die wäh- Meitner am 10. April 1939 an ihn: ‚Heute hat mir rend des Krieges mehrfach gemachten Ange- ein Rechtsanwalt, den ich vor 14 Tagen mit der bo te angenom men hätte, sich an den Arbeiten Bitte aufgesucht habe, mir doch etwas be hilflich der englischen und amerikanischen Physiker zur zu sein, meine Sachen endlich zu bekommen, te- Schaffung der Atombombe zu beteiligen. Das lephonisch angeboten, mir ein Bett und Bettzeug Ansinnen, mit ihren Kenntnissen die Entwick- zu leihen. Ich habe es also nach mehr als 30jäh- lung einer furchtbaren Massenvernichtungs- riger Arbeit immerhin so weit gebracht, daß mir waffe zu begünstigen, lehnte sie konsequent ein wildfremder Mensch ein Bett leiht.‘ ab. (…) Otto Hahn antworte ihr: ‚Es wird zwar kei - Erst in der Nachkriegszeit verbesserte sich

ne Beruhigung für Dich sein, aber Du kannst mir Lise Meitners Lage schrittweise. 1946 wurde sie 10008646 Nr.: Meitner-Graf, bpk/Lotte Abb.:

31) Werner Stolz, a. a. O., S. 55f. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 279

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für ein halbes Jahr als Gastprofessor an die Ka- 1966 erhielt sie zusammen mit Otto Hahn tholische Universität in Baltimore berufen. (…) und Fritz Strassmann den Enrico-Fermi-Preis für Im Jahre 1947 verließ sie das Forschungsin- die Entdeckung der Kernspaltung. Der Nobel- stitut für Physik der Schwedischen Akademie der preis für Chemie für diese Entdeckung war 1944 Wissenschaften und übernahm die Leitung eines allerdings nur an Otto Hahn gegangen. Lise kleinen Laboratoriums an der Technischen Hoch- Meitner wurde nicht bedacht. Dazu schrieb sie schule in Stockholm. Als Beraterin wechselte sie an ihre Freundin: „Hahn hat sicherlich den No- schließlich 1953 an ein von S. Eklund geleitetes belpreis für Chemie voll verdient, da ist wirklich Institut über, an dem im Auftrage der König- kein Zweifel. Aber ich glaube, dass Frisch und lichen Akademie der Ingenieurwissenschaften ich etwas nicht Unwesentliches zur Aufklärung ein Forschungsreaktor aufgebaut wurde.“32) des Uranspaltungsprozesses beigetragen haben Als Lise Meitner 1948 das Angebot erhielt, – wie er zustande kommt und dass er mit einer die Leitung des Otto-Hahn-Instituts in Mainz zu so großen Energieentwicklung verbunden ist, übernehmen, lehnte sie mit folgenden Worten lag Hahn ganz fern.“ ab. „(…) Jedenfalls glaube ich, daß ich nicht die Lise Meitner musste auch feststellen, dass Stelle in Mainz übernehmen kann. Ich habe „,Hahn (…) in keinem der Interviews, wo er we nig Angst vor den ungünstigen Lebensverhält- über unsere Lebensarbeit sprach, unsere lang- nissen, aber sehr erhebliche Bedenken ge gen - jährige Zusammenarbeit oder auch nur meinen über der geistigen Mentalität. Allem, wo ich etwa Namen erwähnt‘. (…) Lise Meitner war ein vor- außerhalb der Physik anderer Meinung sein nehmer Mensch, und gegenüber Otto Hahn würde als die Mitarbeiter, würde sicher mit den empfand sie noch immer Freundschaft, obwohl Worten begegnet werden: Sie versteht natürlich ihr Verhältnis nun gespalten war. Nur einmal die deutschen Verhältnisse nicht, weil sie Öster- wehrte sie sich, nachdem sie von einem Artikel reicherin ist oder weil sie jüdischer Abstam- und Vortrag erfuhr, in dem sie als langjährige mung ist. (…) Das bedeutet, daß ich nicht mit Mitarbeiterin Hahns bezeichnet wurde: ‚Versu- dem Vertrauen der jüngeren Mitarbeiter rechnen che, Dich in meine Lage hineinzudenken! Soll könnte, das ich einmal besessen habe (…). Es mir nach den letzten 15 Jahren (…) auch noch würde ein ähnlicher Kampf werden, wie ich ihn meine wissenschaftliche Vergangenheit genom- in den Jahren 33–38 mit sehr wenig Erfolg ge- men werden? Ist das fair? Und warum geschieht führt habe – und heute ist mir sehr klar, daß ich es? Was würdest Du sagen, wenn Du auch cha- ein großes moralisches Unrecht begangen habe, rakterisiert würdest als der langjährige Mitarbei- daß ich nicht 33 weggegangen bin; denn letzten ter von mir?‘“34) Endes habe ich durch mein Bleiben doch den Im Alter von 82 Jahren ging Lise Meitner in Hitlerismus unterstützt. Dieses moralische Be- den Ruhestand und zog 1960 zu ihrem Neffen denken besteht ja heute nicht, aber meine per- Otto Frisch nach Cambridge, um nicht allein zu sönliche Situation würde bei der allgemeinen sein. Ein Jahr zuvor war in Berlin das Hahn- Mentalität nicht sehr verschieden von der dama- Meitner-Institut für Kernforschung eingeweiht ligen sein und ich würde nicht wirklich das worden. Vertrauen meiner Mitarbeiter haben und daher Lise Meitner starb wenige Monate nach nicht wirklich von Nutzen sein können (…).“33) dem Tod Otto Hahns.

32) Werner Stolz, a. a. O., S. 56f. 33) Werner Stolz, a. a. O., S. 73. 34) Jeanne Rubner, a. a. O., S. 123f. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 280

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Siehe auch Ü Albert-Einstein-Ring, Bahrenfeld, tung Loki Schmidt zum Schutze gefährdeter seit 1990: Prof. Albert Einstein (1879–1955). Pflanzen, Ehrensenatorin der Universität Ham- Begründer der allgemeinen Relativitätstheorie, burg, Ehrenbürgerin der Freien und Hansestadt Nobelpreisträger für seine Forschungen zur Quantentheorie, in Bd. 3 online**. Hamburg

Laut Amtlichem Anzeiger vom 8. Juni 2012 unter Lißmannseck der Rubrik „Bekanntmachung, Benennung von Barmbek-Nord, seit 1929, nach dem Maler Fritz Verkehrsflächen“ wurde in den Stadtteilen Groß Lißmann (1880 –1915) und seinen Eltern, dem Flottbek und Osdorf der bisher dort inoffiziell Opernsänger Friedrich Lißmann (1847–1894) als „Neuer Botanischer Garten“ bezeichnete Gar- und der Opernsängerin Marie Lißmann, geb. ten der Universität Hamburg als Loki-Schmidt- Gutzschbach (22.4.1847 Döbeln/Sachsen–1928) Garten benannt. Er wird an seiner Nordseite vom Henningstedter Weg, an seiner Ostseite von Die Sopranistin Anna Marie Gutzschbach war die der Heinrich-Plett-Straße sowie an seiner Süd- Tochter eines Pfarrers. 1871 begann sie ihre Büh- seite von der Ohnhorststraße begrenzt. nenkarriere als Soubrette am Opernhaus in Leip- Seit dem 1. August 2012 gibt es auch eine zig. Mit 28 Jahren heiratete sie den Bass-Ba riton Loki-Schmidt-Schule; so heißt nun die Offene Friedrich Heinrich Lißmann. Das Paar bekam drei Ganztagsschule am Othmarscher Kirchenweg 145. Kinder: Hans (1885–1964), der später ein Büh- „Frau Mantel“ war der erste Pflanzenname, nen- und Konzerttenor wurde, Eva-Katharina den die kleine Hannelore Glaser lernte. Der Frau- (geb. 1883), die zu einer bedeutenden Konzert - enmantel mit seinen schönen, gezähnten Blät- sängerin avancierte, und Fritz, der Maler und tern und den darauf glitzernden Wassertropfen, Holzschneider wurde. 1879 erhielt Anna Marie brachte das kleine Mädchen zum Staunen, noch Lißmann ein festes Engagement am Hamburger bevor es richtig sprechen konnte. Als Bilderbü- Stadttheater. Von 1880 bis 1883 war sie mit ih- cher dienten ihr die Kupferstiche der „Flora von rem Mann am Stadttheater in Bremen engagiert Deutschland“. und von 1883 bis 1893 wieder in Hamburg. 1893 Im Arbeiterstadtteil Hammerbrook geboren, nahm sie von der Bühne Abschied, arbeitete wuchs Hannelore Glaser mit drei jüngeren Ge- aber weiterhin als Konzertsängerin und Gesangs - schwistern in „bescheidenen“ Verhältnissen auf. pädagogin in Hamburg. Ihr Vater Hermann Glaser war Betriebselektriker, Mutter Gertrud arbeitete als Näherin. Mit dem Größerwerden ihrer Familie zogen die Glasers Loki-Schmidt-Garten aus der Wohnung der Großeltern zunächst nach Groß Flottbek, seit 2012, nach Hannelore (Loki) Borgfelde, dann in einen Neubau für kinderrei- Schmidt, geb. Glaser (3.3.1919 Hamburg– che Familien nach Horn. 21.10.2010 Hamburg), in den 1950-er Jahren Leh- Als kleines Kind gab sich Hannelore Glaser rerin an der Volksschule Hirtenweg/Schule selbst den Rufnamen „Loki“. Ihre außergewöhn- Othmarscher Kirchenweg, Botanikerin, Begrün- liche schulische Bildung entsprach dem Bil- derin und Ehrenvorsitzende der Stiftung Interna- dungswillen eines Teils der Arbeiterfamilien in tionaler Gärtneraustausch, Gründerin der Stif- den 1920-er Jahren: Ab 1925 besuchte sie die re-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 281

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formorientierte Schule Burgstraße und von 1929 Nachdem Helmut Schmidt 1945 aus der bri- bis 1937 die musisch geprägte Lichtwarkschule tischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden am Grasweg in Winterhude (aufgelöst 1937). war, studierte er bis 1949 Staatswissenschaf- Dort lernte sie ihren späteren Ehemann Helmut ten und Volkswirtschaftslehre an der Universität Schmidt kennen. Klassenlehrerin mit dem Fach Ham burg. Während dieser Zeit sorgte Loki Biologie war Ida Eberhardt, die 1935 entlassen Schmidt allein für den Unterhalt der Familie. wurde, weil sie sich gegen den Aushang der NS- 1974 wurde der SPD-Politiker Helmut Schmidt Hetzschrift „Der Stürmer“ in der Lichtwarkschu - Bundeskanzler. Als er dieses Amt übernahm, le ausgesprochen hatte. Ihre zeitweilige Deutsch- gab Loki Schmidt ihm folgenden Satz mit auf lehrerin Erna Stahl (siehe Ü Erna-Stahl-Ring, in den Weg: „Du hast ja wohl einen Vogel, dich diesem Band) gehörte zum Umfeld der Wider- irgendwie zu verbiegen.“ Solche Autonomie im standsgruppe Weiße Rose Hamburg. In beiden Denken und Handeln blieb Maßstab für beide. Schulen wurde ein partnerschaftliches Verhält- Bis zu seinem Amtsrücktritt 1982 nahm Loki nis zwischen Lehrkräften und SchülerInnen ge- Schmidt vor allem protokollarische Aufgaben als pflegt, selbstständiges Arbeiten der Schülerin- Ehefrau des Bundeskanzlers in der damaligen nen und Schüler gefördert und eine Beteiligung Bundeshauptstadt Bonn wahr. In seinen Erinne- der Eltern am Schulleben erwartet. rungen schreibt Helmut Schmidt dazu: „Heute Nach bestandenem Abitur wurde Hanne- weiß ich, dass ich einen nicht unerheblichen lore Glaser 1937 zum Reichsarbeitsdienst einge- Teil des öffentlichen Ansehens, das mir im Lau - zogen. Ihr Wunsch, Biologie zu studieren, schei- fe der Zeit zugeflossen ist, Loki zu verdanken terte an den Studiengebühren, die Hannelores habe.“35) Eltern nicht aufbringen konnten. Zurück in ihrer Heimatstadt Hamburg, wid- Von 1938 bis 1940 absolvierte Hannelore mete sich Loki Schmidt der Unterstützung von eine Ausbildung zur Volksschullehrerin an der Schulkindern in schwierigen sozialen Verhält- von den Nationalsozialisten neu eingerichteten nissen. Auch verstärkte sie ihren bisherigen Ein- Hochschule für Lehrerbildung und trat im Mai satz für gefährdete Pflanzen und ließ sich in die 1940 in den Hamburger Schuldienst ein. Bis zu Deputation der Behörde für Bezirksangelegen- ihrer Pensionierung 1971 knüpfte sie an die re- heiten, Naturschutz und Umweltgestaltung in formpädagogischen Erfahrungen aus ihrer eige- Hamburg wählen. Auf eigene Kosten begleitete nen Schulzeit an. Meist führte sie ihre Grund- sie Forschungsreisen von WissenschaftlerInnen, schulklassen über vier Jahre, um sie zu Lern- und meistens der Max-Planck-Gesellschaft, beispiels- selbstbewussten Sozialgemeinschaften zu entwi- weise zum Nakuru-See nach Kenia, auf die Ga- ckeln. Mehr als drei Jahrzehnte unterrichtete sie lapagos-Inseln, nach Ecuador, Malaysia, Nord- fächerübergreifend und projektorientiert. So blieb borneo oder Brasilien. Bereits 1976 hatte sie das sie zeitlebens eine geschätzte und anregende Ge- Kuratorium zum Schutze gefährdeter Pflanzen sprächspartnerin auch für jüngere Lehrkräfte. gegründet (1979 mit Stiftung Naturschutz Ham- 1942 heirateten Loki Glaser und Helmut burg fusioniert zur heutigen Loki-Schmidt-Stif - Schmidt. Das Paar bekam zwei Kinder. Ihr erstes tung). Die Stiftung vergibt seit 1977 die „Loki- Kind, geboren 1944, starb im Alter von acht Mo- Schmidt-Silberpflanze“; seit 1980 wählt sie auch naten an Hirnhautentzündung. die Blume des Jahres.

35) Helmut Schmidt: „Was ich noch tionen auf den Websites der von ihr sagen wollte“. München 2015. Zitiert initiieren Institutionen, außerdem nach: Ich hatte eine Beziehung zu Reiner Lehberger: Schmidt, Loki, in: einer anderen Frau, in: stern, Nr. 11 Hamburgische Biografie, Band 6, vom 5.3.2015, S. 37. Vgl.: Loki Göttingen 2012, S. 293–296. Schmidt in Wikipedia sowie Informa- Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 282

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Seit den 1970-er Jahren setzte sich Loki Aufsehen erregte drei Jahre nach dem Tod Schmidt zudem für den Botanischen Garten in von Loki Schmidt Helmut Schmidts öffentliches Hamburg und dessen Aufgabe zur Erforschung „Geständnis“, dass er einmal eine Beziehung zu und Erhaltung biologischer Vielfalt ein. 1986 ini- einer anderen Frau gehabt hatte. Diese Äuße- tiierte sie den internationalen Gärtnertausch, der rung des Alt-Kanzlers wurde von der Presse be- mit einer von ihr finanzierten Reise von Gärt- gierig aufgenommen und war für einige Zeit Ta- nern des Hamburger Botanischen Gartens zur gesgespräch. Mitbepflanzung des ersten tropischen Gewächs- Text: Cornelia Göksu hauses in Israel begann. Für einen 1997 veröf- Siehe auch Ü Erna-Stahl-Ring, in diesem Band. fentlichten Bildband „Die Botanischen Gärten in Deutschland“ recherchierte sie zwei Jahre lang und legte 26 000 Reisekilometer zurück. Noch in Lola-Rogge-Platz ihrem 90. Lebensjahr machte ihr Erinnerungs- HafenCity, seit 2013, benannt nach Lola Rogge buch „Erzähl doch mal von früher“ sie zur Best- (20.3.1908 Altona–13.1.1990 Hamburg), Tänze- sellerautorin. rin, Choreografin und Pädagogin Loki Schmidt starb Ihr Grab befindet sich neben dem Ausgang des am 21. Oktober 2010 in Gartens der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. ihrem Haus in Langen- horn. Nach einer promi- Dass Lola Rogge eine tänzerische Laufbahn ein- nent besetzten Trauerfei- schlagen würde, stand keineswegs von Anfang er in der Michaeliskirche an fest. Widerstände der Eltern waren zu über- wurde ihre Urne am 2. No- winden, die ihre Tochter in dem für Frauen an- vember 2010 im schlicht erkannten Beruf der Fürsorgerin sahen, und spä- Loki Schmidt gehaltenen Grab der Fa- ter, während der Ausbildung, Selbstzweifel: milie Schmidt auf dem Zweifel an der eigenen Begabung und körper- Hauptfriedhof Hamburg-Ohlsdorf beigesetzt. lichen Belastbarkeit. Doch ihr kämpferisches Auszeichnungen (Auswahl): 1990 Ernen- und zielstrebiges Naturell ließen sie alle diese nung zur Ehrensenatorin der Universität Ham- Schwierigkeiten überwinden und den Namen burg; zu ihrem 80. Geburtstag 1999: Ehren- Lola Rogge weit über Hamburgs Grenzen hinaus doktorwürde der Universität Hamburg des FB bekannt machen. Begonnen hatte für die Tochter Biologie, verliehen für ein „Lebenswerk von her- von Christiane Rogge, geb. Schönfelder, und ih- ausragender Bedeutung und Engagement in rem Ehemann, dem Stadtbaumeister in Altona allen Bereichen des wissenschaftlichen und und Architekten Hans Rudolf Rogge, alles, als praktischen Naturschutzes“; 2004: Deutscher sie aufgrund ihres zarten Gesundheitszustandes Umweltpreis der Bundesstiftung Umwelt für ihre 1920 aus dem Lyzeum in der Altonaer Chaussee, Lebensleistung; 2009 ernannte Hamburg sie zur das sie seit 1914 besuchte, in die jüdische Pri- Ehrenbürgerin. Am 30. März 2009 eröffnete das vatschule von Alice Blömendal umgeschult neue Museum für Nutzpflanzen der Universität wurde, wo statt des ihr aus gesundheitlichen Hamburg als „Loki-Schmidt-Haus“ im Botani- Gründen untersagten Sportunterrichts rhythmi-

schen Garten Klein Flottbek. sche und tänzerische Gymnastik auf dem Lehr- alliance/dpa picture Abb.: Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 283

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plan stand. Das junge Mädchen war sofort Feuer und -schülerinnen gehörten. Die Lehre Labans und Flamme, gern hätte sie auch außerhalb der musste bei Lola Rogge, die einen besonderen Schule Tanzunterricht genommen, doch die El- Sinn für Humanität und Toleranz besaß, auf tern waren strikt dagegen. Erst ein Tanzsolo in fruchtbaren Boden fallen, auch wenn sie den einer Schulaufführung nach Gedichten aus Goe- Schwerpunkt in ihrem eigenen Unterricht später thes „West-östlichem Divan“, die Fürsprache ei- etwas verlagerte. Während es Laban primär um ner Lehrerin, die mit Lola und ihren Freundin- das gesteigerte Ich-Erlebnis in der Gemeinschaft nen eine Tanzszene in einem Theaterstück für ging, darum, den Menschen aus der Gemein- den Handwerkertag in Hamburg eingeübt hatte, schaft heraus zu tragen, legte Lola Rogge Wert und vor allem ihr eigenes tägliches Insistieren auf die Durchbildung des Körpers, auf techni- führten schließlich dazu, dass die Mutter sich sches Können. Aus dem Gefühl heraus, selbst bereit erklärte, an einer Unterrichtsstunde in der keine ausreichende Technik gelernt zu haben, Tanzschule des Ungarn Rudolf von Laban zu hos - nahm sie nach Abschluss ihrer Ausbildung am pitieren. Der Anblick halb nackter, schwitzender Laban-Institut klassischen Tanzunterricht bei Männer ließ sie entsetzt zurückschrecken. Doch Olga Brandt-Knack, der damaligen Ballettmeis- die Tochter gab nicht nach, und beim zweiten terin und Choreographin des Hamburger Stadt- Besuch hatte sie Glück. Die feinfühlige Jenny theaters. Eine Karriere als Solotänzerin kam für Gertz, die dieses Mal den Unterricht erteilte, be- Lola Rogge nicht in Frage. Nach ihrem Examen griff die Situation und richtete es so ein, dass im Jahre 1927 gründete sie eine eigene Schule in keine exzessiven Bewegungen bei den Übungen Altona, die „Altonaer Labanschule Lola Rogge“, vorkamen. Lola Rogge hatte es geschafft: Auch wo sie die ersten Kinderbewegungschöre ins Le- wenn die Eltern sich niemals mit der Künstler- ben rief. Um für ihre SchülerInnen mit geringem laufbahn ihrer Tochter abfanden, willigten sie Einkommen den Beitrag erschwinglich zu hal- in ihre Wünsche ein. 1925 begann Lola Rogge ten, gründete sie den „Altonaer Bewegungschöre ihre Ausbildung an der Schule „Hamburger Be- e. V.“. Als eingetragenem Verein standen ihm wegungschöre Rudolf von Laban“. Labans Be- Turnhallen als Trainingsräume zu günstigen Kon- wegungslehre basierte auf der Überzeugung, ditionen zur Verfügung. 1931 erweiterte sich ihr dass das gesamte Sein seinen Ursprung im Tanz SchülerInnenkreis noch einmal erheblich, als habe. Daraus ergaben sich alle weiteren Ein- sie Gymnastikunterricht über den Rundfunk er- sichten, dass nämlich in jedem Menschen ein teilte. 1934 übernahm Lola Rogge die Laban- Tänzer stecke, der Gruppentanz die eigentliche Schule am Schwanenwik. Sie war inzwischen adäquate Form und die zwecklose Freude der nicht mehr allein, denn sie hatte 1931 den Ham- Tänzerinnen und Tänzer im gemeinsamen Er- burger Kaufmann Hans Meyer geheiratet, der leben die Zielsetzung des Tanzes sei. Vor diesem nach der Eheschließung den Namen seiner Frau Hintergrund ist es auch verständlich, dass Labans als zweiten Namen angenommen hatte. Hans Interesse nicht nur der Ausbildung von Profis, Meyer hatte zunächst Pianist werden wollen, sondern vor allem auch der von tanzbegeisterten schlug aber dann, als sein Vater starb und er für Laien galt. Aus der Arbeit mit ihnen gingen die seinen eigenen Lebensunterhalt und den der Bewegungschöre hervor, deren Übungsstunden Mutter sorgen musste, eine kaufmännische Lauf- zum Pflichtprogramm der Ausbildungsschüler bahn ein. Als er Ende der 1920er Jahre mit Ein- Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 284

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bruch der Weltwirtschaftskrise wie viele andere er in seinem Tagebuch: „Das ist alles so intel- arbeitslos wurde, besann er sich auf seine mu- lektuell. Ich mag das nicht. Geht in unserem sikalische Begabung und wurde zum Begleiter Gewande daher und hat gar nichts mit uns zu und Berater seiner damaligen Freundin und spä- tun.“36) Als Laban Deutschland 1937 verließ, teren Ehefrau. Er saß während ihres Unterrichts musste sein Name aus den Titeln aller Laban- am Klavier und half ihr bei der Musikauswahl schulen gestrichen werden. Lola Rogge führte für ihre kleinen Choreographien. Später, bei den ihre Schule unter der Bezeichnung „Lola-Rogge- großen chorischen Tanzwerken, wurde er zu Schule“ weiter. Auf Grund ihrer Erfolge erhielt einem wichtigen musikalischen und dramatur- Lola Rogge am Schauspielhaus einen Vertrag als gischen Mitarbeiter, der die Musik und den Stoff Bewegungsregisseurin. Über 20 Jahre, bis zum auswählte und die dramaturgische Konzeption Ende der Spielzeit 1958/59, arbeitete Lola Rogge der Cho reographie entwarf. Doch waren beide neben all ihren anderen Verpflichtungen auch sich stets bewusst, dass sie die begabtere von noch am Schauspielhaus. Gleich nach dem Zwei- ihnen war. Ihren „Prinz- ten Weltkrieg erhielt sie von der englischen Be- gemahl“ nannte sie ihn satzungsmacht die nötige Unterrichts- und Auf- dann auch. Dieser über- trittsgenehmigung. Die Tanzschule war bereits nahm allerdings eine sehr 1938 in das Haus Tesdorpfstraße 13 verlegt wor- zentrale Funktion, als das den, das das Ehepaar erwarb, als ihm der Miet- Ehepaar sich entschloss, vertrag für das Haus am Schwanenwik, in dem die Laban Schule zu kau- sich die Tanzschule Laban bis dahin befand, ge- fen. Hans Meyer-Rogge kündigt wurde. Hier in der Tesdorpfstraße wurde zum geschäftsfüh- wohnte die Familie auch. Die Zusammenlegung renden Direktor des Insti- von Wohnung und Arbeitsstätte erleichterte man- Lola Rogge tuts. Schon ein Jahr vor ches, besonders die Betreuung der Kinder, der der Übernahme der Tanz- 1935 geborenen Zwillinge Jan und Klaus und schule hatte sich Lola Rogge nach ersten kleinen der Töchter Christiane (1944) und Andrea (1948). Erfolgen als Choreographin an ein abendfüllen- Zudem gab es eine Hausangestellte, die von des Programm auf eigene Verantwortung und Kos- frühmorgens bis spätabends für die Kinder da ten gewagt. 1935 führte sie das Stück „Amazo- war. 1950 wurde ihr mit der Komponistin Aleida nen“ mit ihren Bewegungschören im Deutschen Montijn geschaffenes Werk „Vita Nostra“, das Schauspielhaus auf. Das Stück war so erfolg- auf alttestamentarischen Psalmen basiert, urauf- reich, dass es 1935 im Rahmen des deutschen geführt. Der renommierte Ballettkritiker Chris- Tanzfestspiels in Berlin gezeigt wurde und 1936 tian E. Lewalter wertete das Werk, das die durch- zusammen mit dem Weihespiel Labans „Vom lebten Schrecken des Krieges zum Ausdruck Tauwind und der neuen Freude“ für die Eröff- brachte, in der „DIE ZEIT“ als einzigartiges Werk. nungsfeier der Olympischen Spiele gedacht war. Auch das letzte große Werk, das Lola Rogge Bei der Generalprobe entschied Goebbels sich schuf, hatte einen religiösen Hintergrund und jedoch anders. Über Labans chorisches Werk, be schäftigte sich mit dem Tod: der „Lübecker das sich zunächst so mühelos in die nationalso- Totentanz“. Nach dem Tod ihres Mannes am

zialistische Ideologie zu fügen schien, notierte 5. September 1975 gab Lola Rogge die Leitung 1991. Wilhelmshaven Tanzes, Freien des Choreographin und Pädagogin Rogge, Lola Stöckermann, Patricia Aus: Abb.:

36) zitiert nach: Nils Jockel, Patricia Stöckermann: „Flugkraft in goldene Ferne ...“ Bühnentanz in Hamburg seit 1900. Hamburg 1989. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 285

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ihrer Schule an ihre Tochter Christiane ab. Die schichte – das Recht gewährt worden, sich in Ausbildung für Tänzerinnen und Tänzer hatte politischen Parteien zu betätigen. Das parlamen- sie bereits 1969 aufgegeben. Lola Rogge konzen - tarische Wahlrecht wurde ihnen weiterhin vor- trierte sich ganz auf ihr Lieblingskind, den Lai- enthalten. Politisches Engagement von Frauen entanz. Darin war sie so erfolgreich, dass sie war damals selbst in Altona und Hamburg, den 1972 eine Zweigstelle in dem klassizistischen Hochburgen der Arbeiter- und Frauenbewegung, Gebäude im Hirschpark in Blankenese einrich- noch sehr umstritten.“37) tete. Bis zu ihrem Tode am 13. Januar 1990 lei- Von 1919 bis 1933 war Louise Schroeder tete sie einen Laienkurs. Stadtverordnete in Altona, von 1919 bis 1920 ge- Text: Brita Reimers hörte sie zu den ersten 41 weiblichen Abgeordne- ten der Verfassung gebenden Nationalversamm- lung in Weimar. 1919 wurde sie Mitbegründerin Lottestraße der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Louise Schroeder Lokstedt, um 1900. Von der Terraingesellschaft arbeitete auch als Dozentin an der Schule der „Jägersche Erben Berlin und Schlesien“ angelegt Arbeiterwohlfahrt in Berlin und an der Deut- und benannt schen Hochschule für Politik. Von 1920 bis 1933 war sie Mitglied des Deut- schen Reichstags. „Viele altgediente Parlamenta - Louise-Schroeder-Straße rier versuchten, ihre Kolleginnen zu verunsichern. Altona, seit 1960, benannt nach Louise Schroe- Ein Beispiel schildert die damalige Abgeordnete der (2.4.1887 Altona–4.6.1957 Berlin), Bürger- der Demokratischen Partei und spätere FDP-Ab- meisterin von Berlin, Präsidentin des Deutschen geordnete Marie-Elisabeth Lüders. Gegen den Städtetags, Stadtverordnete in Altona Willen des Finanzministers und vieler moralisch empörter Kollegen war es Louise Schroeder ge- Louise Schroeder war die Tochter einer Gemüse- lungen, gemeinsam mit Christine Teusch von händlerin und eines Bauarbeiters, der in der SPD der Zentrumspartei eine finanzielle und gesetz- politisch aktiv war. liche Besserstellung für unverheiratete Mütter Sie besuchte bis zu ihrem vierzehnten Le- durchzusetzen. Lüders berichtet: ‚Der Wettlauf bensjahr die Mittelschule in Altona, ging dann dieser beiden Frauen um die Gewährung von anderthalb Jahre zur Gewerbeschule für Mäd- Unterstützung auch für das zweite uneheliche chen in Hamburg. 1902 begann sie als kaufmän- Kind ging schließlich dem widerstrebenden nische Angestellte in einer Versicherung tätig zu Reichsfinanzminister so auf die Nerven, dass er werden. 1918 wechselte sie ans Altonaer Fürsor- sich zu der Erklärung verstieg: ‚Meine Damen geamt, dessen Leitung sie zwischen 1923 und und Herren, die Reichsregierung ist bereit, der 1925 innehatte. Kollegin Teusch auch noch das zweite uneheli- 1910 trat sie der SPD bei. Ihre politischen che Kind zu bewilligen.‘ (…) Schwerpunkte lagen bei der Sozialpolitik und der Louise Schroeder lässt sich nicht einschüch- Gleichstellung der Frau. „(…) Seit 1915 arbeitete tern. Das erste Mutterschutzgesetz ist wesent- sie im Ortsvorstand der Partei mit. Erst 1908 war lich von ihr geprägt und wird zuweilen ‚Lex Frauen – zum ersten Mal in der deutschen Ge- Schroeder‘ genannt.“38)

37) Louise Schroeder Schule Ham- Am 12. Mai 1949 versammeln sich burg: Louise Schroeder. Ein Leben für Hunderttausende Westberliner vor Demokratie, soziale Gerechtigkeit dem Schöneberger Rathaus, in: Berli- und Völkerverständigung. Aufl. ner Morgenpost vom 3.6.2007. 12/2009, S. 7. 38) Ursula Trüper: „Louise! Louise!“ Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 286

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Am 23. März 1933 verweigerte Louise Schroe - nicht der SED-Mann Acker, sondern die Sozial- der ihre Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz. demokratin Schroeder die Amtsgeschäfte des Die Folge: Verbot des politischen Wirkens, Be- gewählten sozialdemokratischen Oberbürgermeis - rufsverbot, unter Polizeiaufsicht gestellt, tägli- ters übernehmen mußte.“40) So amtierte die da - che Meldepflicht auf dem Revier, mehr mals zu mals 61-jährige Louise Schroeder vom Juni 1947 Verhören vorgeladen, keine Arbeitslosenunter- bis Dezember 1948 als Oberbürgermeisterin von stützung. Berlin. Doch „Ernst Reuter macht kein Geheim- Louise Schroeder zog von Altona nach Ham - nis daraus, dass er sein Amt auszuüben ge- burg und versuchte sich dort eine bescheidene denkt. Bei wichtigen Entscheidungen konsultie- Existenz mit einem Bäckerladen aufzubauen. ren die West-Alliierten ihn, nicht die amtierende Sie verweigerte den Hitlergruß „und das Hissen Oberbürgermeisterin. Und Reuter zeigt sich der Hakenkreuzfahne an Festtagen. Das kleine nach solchen internen Gesprächen oft wenig mit- Geschäft lief schlecht, die neuen Machthaber teilsam, was Louise Schroeders Amtsführung boykottierten es. Immer weniger Menschen wag- nicht gerade erleichtert.“41) ten dort einzukaufen“.39) Dennoch übernahm sie loyal und zuverläs- 1938 suchte sie in Berlin Zuflucht. Hier mie- sig ihre Amtsaufgaben. „In dieser Stellung ist sie tete sie sich eine Hinterhofwohnung, wurde ar- (…) im Jahre 1948 in den Tagen der internatio- beitslos, arbeitete später als Sekretärin und dann nalen Hochspannung im Zeichen der ,Blockade als Sozialbetreuerin in einem Bauunternehmen. Berlins‘ weltbekannt geworden.“42) Die New Während des Zweiten Weltkrieges wurde sie York Times schrieb im Mai 1948: „Wenn es in viermal ausgebombt. der Welt eine Aufgabe gibt, deren Lösung einen Gleich nach Kriegsende wurde Louise Schroe- ‚ganzen Mann’ benötigt, so ist es sicher die, die der politisch wieder aktiv, gehörte zu den Neu- zerstörte, hungrige Stadt Berlin zu regieren. Nie- begründerInnen der SPD und AWO. 1945 wurde mals hat bis jetzt eine deutsche Frau eine so sie in den Vorstand der Berliner SPD und 1946 wichtige Stellung innegehabt, noch wurde je- in die Stadtverordnetenversammlung von Berlin mals eine Stadt von vergleichbarer Größe ir - gewählt. Im Dezember 1946 wurde sie Bürger- gendwo in der Welt von einem Mitglied des ‚zar- meisterin von Berlin und blieb dies bis 1951. ten Geschlechts‘ verwaltet (…). Da, wo Männer Außerdem wurde sie 3. Stellvertreterin des Ober- aller Parteien Fehlschläge erlitten, gelang es ihr, bürgermeisters von Berlin, Dr. Ostrowski (SPD). Erfolge zu erzielen. (…) Ihre außerordentliche Nachdem dieser im Mai 1947 hatte zurücktreten Gemütsveranlagung ist von solcher Art, daß sie müssen, weil er ohne Rücksprache mit seiner fähig ist, mit fast jedermann fertig zu werden Par tei versucht hatte, sich mit der SED zu arran- (…) unter welchen Umständen dies auch immer gieren, wählte die Stadtverordnetenversammlung sein mag. (…) Frau Schroeders materielle Lage im Juni Ernst Reuter (SPD) zu seinem Nachfol- besserte sich nicht erheblich mit ihrer De-facto- ger. Doch die Vertreter der sowjetischen Besat- Erhöhung zur Oberbürgermeisterin. Tatsächlich zungsbehörde versagten dem entschiedenen besitzt dieser Verwaltungschef einer der größten Gegner der Sowjetunion ihre Zustimmung. „Es Städte der Welt noch keine eigene Wohnung. Sie war selbstverständlich, daß unter den drei Bür- wohnt in einem Zimmer als Untermieterin bei germeistern nicht der CDU-Mann Friedensburg, einer Freundin.“43)

39) Louise Schroeder Schule, a. a. O., 41) Ursula Trüper, a. a. O. S. 10. 42) Ruth Schüler zum 10. Todestag 40) Antje Dertinger: Frauen der er- Louise Schroeders, in: Die Jarrestadt, sten Stunde. Aus den Gründerjahren Kommunales Mitteilungsblatt der der Bundesrepublik. Bonn 1989, SPD, Juni 1967. S. 172f. 43) Zitiert nach Ruth Schüler, a. a. O. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 287

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Mangelernährung und die immens starke „1949 legte sie ihre Berliner Ämter nieder, Arbeitsbelastung blieben nicht ohne Folgen. nachdem sie als Vertreterin Berlins in den Deut- Während der Berlin-Blockade erkrankte Louise schen Bundestag gewählt worden war. Ihm ge- Schroeder im August 1948 so schwer, dass sie hörte sie bis zu ihrem Tod 1957 an. mit einem „Rosinenbomber“ aus Berlin nach Der Stadtrat von Paris verlieh Louise Schroe- Ham burg ausgeflogen werden musste, um sich der Mitte Juni 1949 die Plakette der Stadt Paris. im Hamburg medizinisch versorgen zu lassen; Sie gehörte auch im gleichen Jahr der deutschen ihr Herz war schwer geschädigt. Delegation des Vorbereitenden Europarates in Trotz ihrer politischen Erfolge blieb Louise Brüssel an und war bis Januar 1957 im Europa- Schroeder nur bis Dezember 1948 amtierende rat in Straßburg als deutsches Mitglied tätig.“46) Oberbürgermeisterin. Dann erfolgte eine aber- Zu ihrem 70. Geburtstag erhielt Louise Schroe - malige Wahl Reuters zum Oberbürgermeister, der als erster Frau in der Geschichte Berlins die und Louise Schroeder wurde zu seiner Stellver- Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen. Sie bekam treterin gewählt – auch mit den Stimmen der auch das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern SED-Stadtverordneten. „Das ist bemerkenswert; und Schulterband. Ihr En- denn Louise Schroeder hatte sich vehement der gagement galt besonders durch die sowjetische Besatzungsmacht betrie- den Frauen. Sie stritt für benen Zusammenführung von SPD und KPD eine Liberalisierung des entgegengesetzt: ‚Nein, das kann nicht unser Paragraphen 218, für die Weg sein! Ich bleibe der alten Sozialdemokratie, soziale Besserstellung le - den Idealen von demokratischer Freiheit treu!‘“44) diger Mütter, Landfrauen Als die Berlin-Blockade am 12. Mai 1949 auf- etc. und war Landesvorsit- gegeben wurde, versammelten sich Hunderttau- zende der Ar bei ter wohl- sende WestberlinerInnen vor dem Schöneberger fahrt Schleswig-Holstein. Rathaus. „Politische Prominenz aus dem Westen Louise Schroeder wur - ist angereist, darunter der künftige Bun des kanz- de nach ihrem Tod auf Louise Schroeder ler Konrad Adenauer [siehe Ü Adenauerallee, in dem Friedhof Hamburg- Bd. 3 online**]. Auch der neue Oberbürgermeister Altona beigesetzt. Ernst Reuter spricht. Dann sind die Reden eigent- 1998 wurde auf Anregung von Parlamenta- lich zu Ende. Doch plötzlich brechen Sprechchöre rierinnen des Abgeordnetenhauses von Berlin los ,Louise! Louise!‘ Die Sprechchöre verlangten die Louise-Schroeder- Medaille gestiftet. Sie wird Louise Schroeder, die nicht als Rednerin vorgese- jährlich zum Geburtstag von Louise Schroeder hen war.“45) Doch die Bevölkerung wusste genau, durch die/den PräsidentIn des Abgeordneten- was diese Frau für die Menschen geleistet hatte. hauses von Berlin verliehen. Damit „soll eine Und deshalb gehörte Louise Schroeder auch zu Persönlichkeit oder eine Institution geehrt wer- den beliebtesten PolitikerInnen Deutschlands. den, die dem politischen und persönlichen Ver- Zwischen 1948 und 1949 amtierte Louise mächtnis Louise Schroeders in herausragender Schroeder auch als Präsidentin des Deutschen Weise Rechnung trägt“.47) Städtetages und war von 1948 bis 1956 Mitglied Siehe auch Ü Jeanette-Wolff-Ring, in diesem Band. Abb.: Bundesarchiv Abb.: des SPD-Parteivorstandes.

** Band 3 online unter: www.ham- 47) www.parlament-berlin.de/ burg.de/maennerstrassennamen de/Das-Parlament/Louise Schroed...

44) Antje Dertinger, a. a. O., S. 172. 45) Ursula Trüper, a. a. O. 46) Ruth Schüler, a. a. O. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 288

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Siehe auch Ü Adenauerallee, St. Georg, seit gibt Krieg“ her. Außerdem malten sie mit einem 1971: Konrad Adenauer (1876–1967), Bundes- befreundeten Ehepaar Parolen an Häuserwände. kanzler, in Bd. 3 online**. Das Ehepaar Suhling wohnte bei Lucies Schwiegereltern. Da diese fürchteten, ebenfalls Lucie-Suhling-Weg verhaftet zu werden, mussten sich Lucie und Bergedorf, seit 1985, benannt nach Lucie Suh- Carl eine andere Bleibe suchen. Sie zogen 1938 ling, geb. Wilken (20.6.1905 Bochum– 28.10.1981 mit ihrer Tochter zu Katharina Hochmuth (sie- Hamburg), Widerstandskämpferin, Mitglied der he Ü Katharina-Jacob-Weg, in diesem Band), der KPD, Kaufmännische Angestellte späteren Frau von Franz Jacob.49) Dort traf man sich mit anderen KommunistInnen zu geselligen Nach dem Besuch der Volks- und Handelsschule Abenden und diskutierte über politische Ereig- absolvierte Lucie Suhling eine Lehre als kaufmän- nisse. Am 30. Dezember 1938 wurden Lucie und nische Angestellte. Ab 1927 war sie Mitarbeiterin Carl wieder festgenommen und im KZ Fuhlsbüt- der Internationalen Arbeiterhilfe in Essen, später tel inhaftiert. Die Tochter Mitarbeiterin der KPD, Bezirk Ostpreußen, und kam ins Waisenhaus. 1943 freie Mitarbeiterin der Partei-Zeitung in Königs- kam Carl Suhling in das berg. 1932 heiratete sie und arbeitete dann bei berüchtigte Strafbataillon der „Ham burger Volkszeitung“ bis zum endgül- 999. Er kehrte nicht zu- tigen Verbot der kommunistischen Zeitungen rück. Lucie Suhling über- und der KPD. Ab 1933 war sie erwerbslos. Im lebte, war nach der Be- September 1933 wurde ihre Tochter geboren; freiung aktiv in der Partei 1940 und 1942 kamen noch zwei Söhne auf die und im VVN/Bund der Welt. Antifaschisten tätig. Sie Lucie Suhling und ihr Mann Carl waren Mit- berichtete als Zeitzeugin glieder der KPD. Ihre illegale Tätigkeit bestand an Schulen und an der Lucie Suhling u. a. darin, Personalunterlagen von KPD-Mitglie- Universität über ihre Er- dern in ihrem Siedlungshaus in Hamburg-Lan- fahrungen während der Nazizeit. In ihren letz- genhorn zu verstecken. Nachdem Carl Suhling ten Lebensjahren schrieb sie ihre Erinnerungen 1933 drei Monate in Haft gesessen hatte und auf. „Der unbekannte Widerstand“ erschien mehrere Hausdurchsuchungen durchgeführt wor- 1980 und in 2. Auflage 1998. den waren, vernichtete das Ehepaar Suhling die Siehe auch Ü Anita-Sellenschloh-Ring, Helene- Dokumente.48) Heyckendorf-Kehre, Katharina-Jacob-Weg, in Von 1934 bis 1936 war Lucie, 1933 und 1934 diesem Band. bis 1937 war Carl inhaftiert. Nach ihrer Entlas- sung führten Lucie und Carl in kleinerem Um- Lucy-Borchardt-Straße fang illegale Tätigkeiten aus, da der Kontakt zu HafenCity, seit 2013, benannt nach Lucy Bor- alten Freunden weitestgehend abgebrochen war. chardt, geb. May (10.12.1877 Breslau–4.2.1969 Die beiden arbeiteten nun meist allein. Mit dem London), jüdische Reederin und Eigentümerin Kinderdruckkasten ihrer Tochter stellten sie der 1905 in Hamburg gegründeten Fair-Play

Flugblätter mit der Aufschrift: „Wehrt Euch! Es Suhling Ulla Privatbesitz Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- Widerstand in Hamburg-Nord wäh- burg.de/maennerstrassennamen rend der NS-Zeit. Hamburg 1986.

48) Vgl: Gerda Zorn: Frauen gegen Hitler. Frankfurt am Main 1974. 49) Vgl: Andreas Klaus: Gewalt und Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 289

Biographien von A bis Z / L 289

Schleppdampfschiffs-Reederei Richard Borchardt die Auswanderung von Juden, um „(...) die Be- bis zur Enteignung 1938, Emigration nach Lon- siedlung Palästinas durch Einwanderung der don; Verfolgte des Nationalsozialismus Juden (…) und durch gezielte Berufsausbildung (hebr. Hachschara) zu fördern“,52) so die Histo- Lucy Bochardt, geb. May, entstammte einer jüdi- rikerin Ina Lorenz. Die britische Regierung, die schen Arztfamilie. 1902 heiratete sie den Ham- die Mandatsmacht über Palästina hatte, ver- burger Kaufmann und Reeder Richard Borchardt folgte eine restriktive Einwanderungspolitik. Sie (1875–1930). Vor ihrer Heirat war sie fünf Jahre wollte das Entstehen einer „Arbeitslosenklasse“ als Lehrerin, hauptsächlich an der Emilie-Wüs- in Palästina verhindern. Deshalb mussten die tenfeld-Schule, tätig gewesen. Das Paar bekam Einwandernden entweder über Kapital verfügen, fünf Kinder und wohnte in einem Haus am Rain- ein Handwerk nachweisen oder zwischen acht- weg in Hamburg-Eppendorf. Richard Borchardt zehn und 25 Jahre alt und arbeitsfähig sein. Je- arbeitete zum Zeitpunkt seiner Heirat als Kauf- doch erfüllten nur die wenigsten Juden diese mann in einer Hamburger Stauerei. „1905 wurde Voraussetzungen. Sie hatten meist in anderen er Direktor der neugegründeten Schleppdampf- Berufen gearbeitet, so z. B. als Kaufleute, Juris- schiffs-Reederei Carl Tiedemann und Plaus & ten oder Mediziner. Deshalb war eine schnelle Blohm AG. Im Jahre 1909 wurde Richard Bor- Umschulung in handwerkliche Berufe notwen- chardt persönlich haftender Gesellschafter des dig. Hier sprang Lucy Borchardt als Inhaberin in eine Kommanditgesellschaft umgewandelten der Fairplay Schlepperdampfschiffs-Reederei Ri- Unternehmens. Als er 1915 zur Marine eingezo- chard Borchardt ein. Zusammen mit dem Zio- gen wurde, bestimmten er und seine Komman- nisten Naftali Unger – auch Lucy Borchardt war ditisten Mitreeder seine Frau zur Prokuristin.“50) Zionistin –, der 1934 als Abgesandter der Ge- Nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1930 werkschaft von Palästina nach Deutschland ge- wurde Lucy Borchardt alleinige Eigentümerin kommen war, organisierte sie die Ausbildung und Geschäftsführerin der Fairplay Reederei und von Juden in der Seefahrt. Die Ausbildung jun- damit die einzige jüdische Reederin der Welt. ger Juden auf den Schiffen der Fairplay-Reederei Nach der Machtübernahme durch die National- zum Zwecke der Auswanderung nach Palästina sozialisten erkannte Lucy Borchardt die Gefahr wurde von den NS-Behörden anerkannt. Gleich- für die jüdische Bevölkerung und „eröffnete zeitig wurde, ohne dass die Behörden es merk- zahlreichen Hamburger Juden Wege zur Flucht ten, eine jüdische Handelsflotte für Palästina aus Deutschland. Dazu bot die Schleppertätig- aufgebaut. Dorthin war Lucy Borchardts ältester keit der Fairplay gute Möglichkeiten zur illegalen Sohn Jens (1903–1987) 1934 ausgewandert und Emigration. Auf legalem Wege vermittelte sie bis hatte in Haifa zunächst eine Schiffsmaklerfirma Mai 1938 wenigstens 38 jüdischen Jugendlichen gegründet. Später baute er zusammen mit dem eine seemännische Berufsausbildung auf ihren Londoner Geschäftspartner der Fairplay-Reede- Schiffen, die auf diese Weise die Zertifikatsvor- rei, Schiffsmaklerei und Agentur Barnett Brot- aussetzungen für eine Einwanderung nach Pa- hers in Palästina eine gemeinsame Reederei auf. lästina erfüllen konnten.“51) Viele der Seemänner, die bei Fairplay gelernt „Zwischen 1934 und 1941 bemühte sich die hatten, konnten nach ihrer Auswanderung nach zionistische Bewegung Hechaluz (Pionier) um Palästina bei der sich im Aufbau befindenen jü-

50) Ina Lorenz: Seefahrts-Hach- 51) Ina Lorenz: Lucy Borchardt, in: schara in Hamburg (1935–1938). Lucy Das jüdische Hamburg. Göttingen Borchardt: „Die einzige jüdische Ree- 2006, S. 40. derin der Welt“, in: Zeitschrift des 52) Ebenda. Vereins für Hamburgische Ge- schichte. Bd. 83/1. Hamburg 1997. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 290

290 Biographien von A bis Z / L

dischen Handelsflotte weiter beschäftigt werden. Luisenhofstieg Aus diesem Grunde wurde Lucy Borchardt später Billstedt, seit 1948. Früher Louisenweg. Benannt auch als „Mutter der jüdischen Seefahrt“ bezeich - nach dem Öjendorfer Freihof, der nach der Toch- net. 1938 verschärfte sich die wirtschaftliche Lage ter des Besitzers Wöhler „Luisenhof“ hieß. Der für jüdische Firmen. Die „Entjudung der deut- 94 ha umfassende Hof wurde 1920 parzelliert schen Wirtschaft“ stand auf dem Plan der NS- Herrschaft. Lucy Borchardt erkannte, dass sie Deutschland verlassen muss te. Ihr Steuerbe ra ter Luisenstraße erreichte, dass das Vermö - Marienthal, vor 1938. Motiv unklar, wahrschein- gen in eine Stiftung um- lich frei gewählter Name gewandelt wurde. Einen Teil des Betriebs ver mö - Luisenweg gens, den Frachtdampfer Hamm-Mitte, seit 1865, benannt nach Julie Luise „Lucy Borchardt“ und die (geb. 1848), der Tochter des Senators P. H. W. Schleppdampfer „Fairplay Großmann aus Hamm X, XIV und XV“ durfte Lucy Borchardt bei ihrer Siehe auch Ü Zweite Luisenbrücke, in diesem Band. Emigration nach Lon don Lucy Borchardt Siehe auch Ü Großmannstraße, Rothenburgsort, im Jahre 1938 mitnehmen. seit 1893: P. H. W. Großmann (1807–1886), Das ungewöhnliche Ent- Senator, in Bd. 3 online**. gegenkommen der NS-Regierung beruhte wahr- scheinlich darauf, dass die Reederei Fairplay im Ausland großes Ansehen genoss und die Nazi- Luise-Otto-Peters-Weg herrschaft es vermeiden wollte, dass „(...) in aus- Bergedorf, seit 1985, benannt nach Luise-Otto- ländischen Schifffahrts- und Wirtschaftskreisen Peters, Pseudonym: Otto Stern (26.3.1819 Mei- ein zwangsweises Vorgehen bekannt und zum ßen –13.3.1895 Leipzig), Schriftstellerin, Frauen- Gegenstand der im NS-Jargon sogenannten Aus - rechtlerin der bürgerlichen Frauenbewegung lands het ze wurde“. 53) Lucy Borchardts zweiter Sohn Kurt setzte sich nach Rotterdam ab. Ihre bei- Luise Otto hatte vier ältere Schwestern und war den Töchter waren bereits 1933 nach Palästina die Tochter von Charlotte Otto und ihrem Ehe- bzw. nach London ausgewandert. Die Fairplay- mann, dem Gerichtsdirektor Fürchtegott Wilhelm Reederei wurde in eine so genannte arische Stif- Otto. Luise Otto begeisterte sich für die Be- tung umgewandelt, die Betriebsführung über- wegung „Junges Deutschland“. Die Schule durfte nahm das NSDAP-Mitglied und frühere Mitglied sie nur bis zu ihrem 14. Lebensjahr, also bis zur des Vertrauensrats der Reederei, Herr Allger - Konfirmation, besuchen. „Diese Zurücksetzung missen. Glücklicherweise handelte er nicht linien - ihres Geschlechts empfand sie früh als Unrecht. treu, sondern im Sinne der Reederei. 1948 bekam Hier lagen die Wurzeln ihres unermüdlichen frau- Lucy Borchardt ihr Vermögen zurückerstattet. enemanzipatorischen Wirkens, denn von Anfang Bis kurz vor ihrem Tod im Jahre 1969 arbeitete an verband O. Forderungen nach rechtlicher

sie noch im Management der Reederei mit. Gleichstellung von Frau und Mann mit dem not- – bpk | 63. S. 2002, Hamburg Frauen, außergewöhnlicher Spuren den Auf Ausschnitt) 1880, um Neumann, Adolf 20003466 (Holzstich ZONTA-Club, deutsche erste Der Hoffmann, Nr. Traute Aus: Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

53) Ina Lorenz: Seefahrts-Hach- schara ..., a. a. O. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 291

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wendigen Zugang der Mädchen und Frauen zu Während der Märzrevolution 1849 gab Luise Bildung.“54) Otto in Meißen die politische „Frauen-Zeitung“ Im Alter von sechzehn Jahren wurde Luise heraus, die von Frauen des Mittelstandes gelesen Otto Vollwaise. Sie suchte sich selbst ihren Vor- wurde. Das Motto der Zeitung lautete „Dem Reich mund und begann, sich der Schriftstellerei zu- der Freiheit werb ich Bür- zu wenden. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie gerinnen.“ Luise Otto for- haupt sächlich aus ihrer Erbschaft und später derte Demokratie und ei - auch aus ihrer schriftstellerischen und publizis- nen Bürgerinnenstatus mit tischen Tätigkeit. allen Rechten und Pflich- Luise Otto reiste durch viele deutsche Län- ten. Gleichzeitig empörte der, sah im Erzgebirge und in Schlesien das sie sich in ihrer „Frauen- Elend und die Not der Arbeiterschicht. „1840 Zeitung“ über die in Ber- kam sie bei einem Besuch in Oederan erstmals lin lebende Luise Aston, mit dem Elend des Industrieproletariats in Be- die das Recht der Frauen Luise Otto-Peters rührung, was ihre soziale Einstellung lebenslang auf eine freizügige Sexua - prägte. Ein weiterer tiefer Lebens einschnitt war lität forderte. In Luise Ottos Augen waren dies 1841 der Tod ihres ersten Verlobten Gustav Mül- unmoralische Forderungen, durch die das Verlan- ler. O. konzen trierte sich nun verstärkt auf ihre gen nach Gleichstellung der Frau in Verruf gera- Studien und schriftstellerischen Fähigkeiten.“55) ten würde. Ende 1850 wurde die „Frauen-Zei- 1846 veröffentlichte sie den sozialkritischen Ro - tung“ verboten. Um dieses Verbot durchführen man „Schloß und Fabrik“, dessen zweiter und zu können, war zuvor extra das sächsische Pres- dritter Teil beschlagnahmt wurden. Sie setzte die segesetz (Lex Otto) geändert worden. Nun war Veröffentlichung beim sächsischen Kultusminis- in Sachsen Frauen die Herausgabe von Zeitun- ter durch, indem sie Überarbeitungen vornahm. gen untersagt. Luise Otto wurde polizeilich ob- Luise Otto setzte sich nicht nur für die Rech - serviert und verhört. Zusätzlich wurden Haus- te der Arbeiterschaft ein, sondern auch für die durchsu chun gen durchgeführt und auch die der Frauen. 1847 publizierte sie politische Lyrik, von ihr mitgegründeten Dienst boten- und Ar bei - so z. B. die „Lieder eines deutschen Mädchens“. te rinnenvereine auf Grund des preußischen Ver- Im selben Jahr „erschien in [Robert] Blums ‚Vor- einsgesetzes von 1851 verboten. wärts. Volkstaschenbuch für das Jahr 1847‘ O.s Luise Otto ging zwar mit ihrer Redaktion grundlegender Artikel ‚Über die Theilnahme der nach Gera, um dort die Zeitung weiterhin her- Frauen am Staatsleben‘. Darin entwickelte sie ausgeben zu können. Aber auch dort ereilte sie program ma tische Ideen für eine Frauen be we - bald das end gültige Verbot durch ein 1852 er- gung, v. a. die Forderung nach Bildungsmöglich- lassenes, ähnlich reußisches Gesetz. keiten für Frauen. Daneben warb sie in ihren Ar- Luise Otto war mit dem Schriftsteller und tikeln ve hement für die Verbesserung der Lage Journalisten August Peters liiert. Ihn hatte sie der Arbei terinnen und Arbeiter sowie für ein ge- 1849 in Oederan kennengelernt. Als Teilnehmer eintes Deutschland“.56) an der bürgerlichen Revolution 1848/49 musste In Zeitungen veröffentlichte Luise Otto zu- er sieben Jahre lang eine Kerkerhaft verbüßen. nächst unter dem Pseudonym „Otto Stern“. Das Paar verlobte sich im Gefängnis. 1858 fand

54) Johanna Ludwig: Otto-Peters, Online-Ausgabe: http://www.isgv.de Louise (Pseudonyme: Otto Stern, /saebi/(7.3.2015) Malwine von Steinau), in: Sächsische 55) Ebenda. Biografie, hrsg. vom Institut für Säch- 56) Ebenda. sische Geschichte und Volkskunde e. V., bearb. Von Martina Schattkowsky, Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 292

292 Biographien von A bis Z / L

die Hochzeit statt und das Ehepaar Otto-Peters Lydiastraße zog nach Leipzig. Dort gab es bis zum Tod Au- Wandsbek, seit 1884, benannt nach Lydia More- gust Peters im Jahre 1864 die „Mitteldeutsche wood (15.12.1818 Wandsbek–28.8.1904 Wands- Volks-Zeitung“ heraus, deren Feuilleton Luise bek), Tochter des Kaufmanns und Grundstückbe- Otto-Peters leitete. sitzers Joseph Morewood Luise Otto-Peters gehörte neben Auguste Schmidt (siehe Ü Auguste-Schmidt-Weg, in diesem Lydia Morewood war die Tochter von Sophie Mar- Band) und Henriette Goldschmidt zu den Grün- garethe Morewood, geb. Dallmer (1778–1865), derinnen des Leipziger Frauenbildungsvereins. und Joseph Morewood (1757–1841). Sie hatte „O. wurde Vorsitzende und verantwortlich für die noch elf Geschwister, von denen sie und ihre Organisation der ersten gesamtdeutschen Frau - Schwester Nelly (Helene) (1807–1883) unverhei - enversammlung in Leipzig (15.–18.10.1865), die ratet blieben. Beide Schwestern, so heißt es in mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen den Chroniken über die Familie Morewood, sol- Frauenvereins (ADF) endete. Dieses Ereignis mar- len sich nichts aus Männern gemacht haben, ob - kierte den Beginn der organisierten deutschen wohl sie sicherlich einen Mann „abbekommen“ Frauenbewegung.“57) Luise Otto-Peters war 30 hätten, waren sie doch eine „gute Partie“. Jah re lang dessen Vorsitzende. Ziel dieses Ver- Im Alter von 77 Jahren machte Joseph Mo- eins war u. a. die ökonomische Unabhängigkeit rewood 1834 sein Testament, um seine Witwe der unverheirateten Frau, das Recht der Frau auf und die beiden unverheirateten Töchter finan- Bildung und Erwerbsarbeit sowie der Zugang ziell abzusichern. Seine Frau, die damals 56 zum Universitätsstudium. Jahre alt war, setzte er als Universalerbin seines Bis zu ihrem Tod war Luise Otto-Peters Mit- Vermögens ein, das in erster Linie aus Grund- herausgeberin der Zeitschrift „Neue Bahnen“, eigentum bestand. Nach dem Tod seiner Frau dem Vereinsorgan des Allgemeinen Deutschen sollte das Grundeigentum an die „unversorgten“ Frauenvereins. 1866 erschien ihre Schrift „Das ledigen Töchter gehen. Recht der Frauen auf Erwerb“. So geschah es dann auch. Nachdem ihre Siehe auch Ü Auguste-Schmidt-Weg, in diesem Mutter 1865 gestorben war, erbten die beiden Band. Töchter ein großes Vermögen. Um 1870 entspra- Siehe auch Ü Robert-Blum-Straße, Niendorf, chen sie einem Wunsch ihres Vaters und ließen seit 1948: Robert Blum (1807–1848), Mitglied den schlichten Backsteinbau an der Böhme- der Frankfurter Nationalversammlung, Führer der demokratischen Linken, Teilnehmer am straße 20 in Hamburg Wandsbek errichten, um Oktoberaufstand, standrechtlich erschossen, in dort die Morewood-Stiftung einzurichten. „In Bd. 3 online**. einem Erbvertrag und der angeschlossenen Stif- tungsurkunde setzten Helene und Lydia More- Luxweg wood sich zunächst gegenseitig für Lebzeiten Billwerder, seit 1956, benannt nach Frieda Lux als alleinige Erben des verbliebenen Vermögens (8.1.1890–9.2.1953). Sie war nach 1913 in der Frau - ein, soweit es nicht durch die Stiftung festgelegt enbewegung in Billwerder tätig. Mitglied des El- würde. (…) In der eigentlichen Stiftungsakte ternrats, nach 1945 Leiterin der Arbeiterwohlfahrt heißt es dann wörtlich: ‚Demnach unser in Gott entschlafener Vater Joseph Morewood, als er vor

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

57) Ebenda. Straßen Bd 2 258-293 L:. 27.07.15 12:51 Seite 293

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vielen Jahren nach Hamburg übersiedelte, das tern aus der Familie von Predigern, Lehrern, Ärz - Gelübde geleistet hat, daß, wenn die Vorsehung ten, Juristen, Kaufleuten, Fabrikanten oder ähn- ihn mit irdischen Gütern segnen sollte, er solche lichen Ständen. Sollten sich im Laufe der Zeit zum Besten seiner hilfebedürftigen Mitmen- nicht immer genügend Anwärter zum Genuß schen verwenden werde, und da wir durch gün- der Stiftung finden, so ist es den Direktoren der stige Veräußerungen des nachgelassenen Grund- Stiftung freigestellt, aus den erübrigten Mitteln besitzes in den Stand gesetzt worden sind, in ein Stipendium für Studierende und Künstler seinem Geiste zu verfahren, so fühlen wir uns aus Wandsbeker Familien zu begründen.‘ (…) verpflichtet, diesen Segen zum größten Teile Zur Aufnahme der Bedürftigen wurde in der zum Besten unserer Mitmenschen zu verwen- früheren Stiftstraße ein besonderes Gebäude er- den, und nunmehr in dankbarer Erinnerung an richtet, das 8 kleine Wohnungen enthält, den In- unseren Vater dasjenige auszuführen, was ihm sassen außerdem eine jährliche Unterstützung zu verwirklichen nicht beschieden war. Wir ge- gewährt und ein Stück Gartenland zur Verfü- nannten beiden Schwestern ordnen an und be- gung stellt.“58) gründen demnach unter Vorbehalt Landesherr- 1991 überließ der Stiftungsvorstand das Ge- licher Genehmigung aus dem uns nach dem bäude dem Wandsbeker Heimatverein, der in Testamente unseres seligen Vaters erb- und ei- dem Haus sein Heimatmuseum errichtete. gentümlich angefallenen und uns gerichtlich zu- Siehe auch Ü Josephstraße, Wandsbek, vor geschriebenen Grundbesitz zu Wandsbek mit 1938, und Morewoodstraße, Wandsbek, um Zubehörungen unter dem Namen: Das More- 1843: Joseph Morewood (1757–1841), Kauf- mann, in Bd. 3 online**. woodsche Stift eine immerwährende Stiftung und milde Anstalt zu dem Zwecke der Unterstüt- zung bedürftiger Mitmenschen mit freier Woh- nung und bestimmten Revenuen (Einkünften) in der Weise, daß, wenn bedürftige Nachkom- men in direkter Linie von unsern Eltern Joseph Morewood und Sophia Margaretha Morewood geborene Dallmer vorhanden sind, diese vor an- deren die Anwartschaft auf Beteiligung an die - ser Stiftung haben sollen und treffen für diese Stiftung folgende nähere Bestimmungen. (…) Vorbedingung für Personen, die in das More- wood-Stift aufgenommen oder aus derselben Unterstützung genießen wollen, sind Würdigkeit und Hilfsbedürftigkeit. Wenn keine Aspiranten (Anwärter) aus der Morewoodschen Familie vor- handen sind, so sollen die Wohnungen und Ein- künfte aus der Stiftung anderen Hilfsbedürftigen der Stadt Wandsbek gegeben werden und zwar namentlich Witwen und unverheirateten Töch-

** Band 3 online unter: www.ham- Heft 11, November 1963. burg.de/maennerstrassennamen

58) Familie Morewood, in : Der Wandsbeker. Zeitschrift des Bürger- vereins Wandsbek von 1848 e. V., Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 294

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Maetzelweg ken kann. Ich spüre, daß es heute noch so stark Volksdorf, seit 1960, benannt nach Emil Maetzel ist wie in der Kindheit und daß es wohl stets so (1877–1955), Maler und Baudirektor, und seiner bleiben wird. Und daß es einfach für mich le- Ehefrau Dorothea Maetzel, geb. Johannsen bensnotwendig ist, zuzeiten mich dem Gefühl (6.2.1886 Lensahn/Holstein–8.2.1930 Hamburg), hinzugeben. Was natürlich die Gefahr in sich Malerin schließt, daß es das eingeborene Hinneigen zur Ohlsdorfer Friedhof, Grab Nr. S 12, 139–140. Inaktivität (sagen wir ruhig Faulheit) unter- stützt“,2) wird Dorothea Maetzel-Johannsen spä- „Wie man immer wieder inwendig gezwungen ter schreiben. Und die Natur ist es auch, die sie wird, sich von allem loszumachen, weil man in ihren Bildern zu fassen sucht: „Man sieht die doch wieder ein Stückchen schaffen möchte, Unmöglichkeit, das Vibrierende, das fortwäh- ehe man ganz fortgeht.“1) Auf eine prägnantere rend sich Wandelnde zu geben, daß die Natur Formel als diese von ihr selbst in einem Brief eigentlich unfaßlich ist. Man möchte ein Gleich- gewählte kann man das Leben der Malerin, Ehe- nis dafür finden, und das ist so schwer. Und frau und vierfachen Mutter Dorothea Maetzel-Jo- doch muß mans können oder man soll die Fin- hannsen kaum bringen. Spricht aus ihr doch nicht ger davon lassen.“3) nur der immer neu zu bewältigende Interessens- Dora war schon als Kind von zarter Ge- konflikt zwischen Leben und Kunst, sondern sundheit. Die damals übliche Behandlung ihres auch die ungeheure Energie und Spannkraft, die Gelenkrheumatismus mit Arsen führte zu einem diese Malerin auszeichnete, die ihr umfang - lebenslänglichen Herzleiden, an dem sie im reiches Werk im Wesentlichen in einem einzigen Alter von nur 44 Jahren starb. Dora besuchte Jahrzehnt, zwischen 1919 und 1929, schuf. keine öffentliche Schule, sondern wurde von Dorothea Maetzel-Johannsen wurde am einer Hauslehrerin unterrichtet. Sehr früh be- 6. Februar 1886 als fünftes von sechs Kindern in gann sie zu malen und zu zeichnen. Von 1906 Lensahn in Holstein geboren. Die Eltern, der bis 1909 besuchte sie die Gewerbeschule für Amtmann Christian August Johannsen und Mädchen in Hamburg in der Brennerstraße, um seine Ehefrau Friederike Auguste, geb. Körner, Zeichenlehrerin zu werden. Mehr konnte sie nannten die Tochter Dora. Den Namen Dorothea sich zunächst offenbar nicht vorstellen. Als aber legte sich das Mädchen selbst zu, als es ent- der Maler Kuchel ihre Arbeiten ansah, berichtete deckte, dass sein Geburtstag, der 6. Februar, Do- sie stolz und voller Sehnsucht nach einer Aus- rothea, der Schutzheiligen der Gärtner, geweiht bildung als Malerin an die Schwester: „Der ist. „Die Natur ist mir eine holde Freundin, die Maler K. war hier und sah sich auch meine Ar- mich versenkt in einen schönen Traum. Mehr, beiten an. Er sagte, ich solle doch sehen, eine sie gibt mir zuzeiten das Gefühl einer grenzen- Zeitlang in Berlin bei einem Maler, den er mir losen Wollust, in dem ich vollkommen versin- nannte, zu arbeiten. Ja, er hat gut reden! Papa

1) Der Kreis. Zeitschrift für künstle- rische Kultur. Hrsg. v. d. Hamburger Bühnen. Nr. 8 1931. 2) Ebenda. 3) Ebenda. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 295

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werde ich aber nichts davon sagen. Er kann es ben. Ist es bitter oder süß?“6) Nicht ohne eine doch nicht, und es würde ihn nur traurig ma- gewisse Traurigkeit erzählt auch Tochter Monika chen. Ich freue mich aber doch, daß K. meine Maetzel: „Im Grunde wollte sie frei sein. Sie Sachen mal richtig kritisiert hat. Nun weiß ich liebte ihre Kinder, aber im Grunde wollte sie un- jedenfalls, daß ich etwas kann. Oh, wenn ich gebunden sein.“ doch mal so ordentlich lernen könnte, wie ich Nach kurzer Lehrerinnentätigkeit in Schles- möchte, wie wäre das herrlich.“4) wig begann mit der Heirat im Frühjahr 1910 für Dass sie „etwas kann“, bemerkte auch je- das Paar jedoch zunächst mand anderes, der spätere Oberbaurat und Leiter eine Zeit intensivsten ge- der Städtebauabteilung der Hansestadt unter Fritz meinsamen Lebens und Schumacher Emil Maetzel, der selbst gern Malerei Arbeitens: „Vom Künstle- studiert hätte, auf Wunsch des Vaters aber einen rischen gebildet hat mein bürgerlichen Beruf ergriff, Architekt wurde und Vater sie.“ Immer wieder – malte. Er sah bei Freunden eine aquarellier te betont die Tochter Monika Zeichnung der 19-jährigen Dorothea Johannsen, im Gespräch, dass der Va- die ihn so beeindruckte, dass er wusste: Die muss ter anerkannt habe, dass ich kennenlernen! Er klemmte sich hinter seine die Mutter die Begabtere Schwester. Sie riet ihm ab. Eine Frau, die Malerin von beiden gewesen sei, Dorothea Maetzel werden wolle, könne bestimmt nicht kochen. Das sie aber dennoch enorm war ihm, der sich vier Kinder wünschte, ganz gefördert habe, da sie sehr wenig von moderner egal. Hauptsache, sie war begabt! Kunst gewusst, er ihr den Expressionismus erst Als die beiden sich kennenlernten, muss es nahe gebracht habe. „Sie war natürlich emanzi- wie ein Blitz- und Donnerschlag bei beiden ge- piert in ihrer Art. Aber sie wäre es ohne die an- wesen sein, erzählt Monika Maetzel, die jüngere fängliche Unterstützung meines Vaters nicht so Tochter des späteren Ehepaares. Doch während geworden. Sie wäre sicher auch eine sehr gute er zur Ehe drängte, wollte sie nicht nur ihr Exa- Malerin geworden, aber wer weiß, ob sie diesen men machen, sondern zumindest noch eine Durchbruch geschafft hätte ... das fragen wir zeitlang als Zeichenlehrerin arbeiten. Dieses Be- uns oft.“ An dieser innigen Verbindung des Ehe- dürfnis nach Freiheit, das sie schon in dem ein- paares änderten weder der Ausbruch des Ersten gangs zitierten Brief als Grundbedingung ihres Weltkrieges noch die Geburt der vier Kinder Schaffens nennt, formulierte sie immer wieder: (Ruth 1911, Bogumil 1913, Peter 1915, Monika „Ich könnt mir denken, daß es Dir zuweilen 1917) etwas. Dorothea Maetzel-Johannsen war geht wie mir, wenn man der Menschen über- oft bei ihrem Mann in Berlin, wo er als Offizier drüssig ist und mal ganz alleine sein möchte. in einem Eisenbahner-Ersatz-Bataillon statio- Von rechtswegen darf keiner wissen, wo man niert war. Gemeinsam besuchten sie Abendakt- ist. So hab ich mir immer schon als Kind eine kurse und zogen durch die Kneipen, um zu heimliche Laube gebaut ins grüne Gebüsch. Der zeich nen. „Aus den Berliner Jahren gibt es phan - Mensch ist wohl ein Tier, das gern Verstecken tastische Skizzenbücher. Da haben sie in Knei- spielt.“5) Und an anderer Stelle: „Ich glaube, die pen gesessen und Typen gezeichnet, einfach

Abb.: Aus: Dagmar Lott-Reschke, „Dies ist mein Morgen, der Tag hebt an ...“ Zu Aufbruch und Weiblichkeit im Werk von Dorothea von Werk im Weiblichkeit und Aufbruch Zu ...“ an hebt Tag der Morgen, mein ist „Dies Lott-Reschke, Dagmar Aus: Abb.: S. 16. Kunsthalle, zwischen 1890 und 1933, Band 2, Hamburger in Hamburg in: Künstlerinnen der Avantgarde Maetzel-Johannsen, schönsten Stunden kann man nur alleine erle- doll!“ erzählt Monika Maetzel. Sie selbst und

4) Zitiert nach: Mathias F. Hans (Hrsg.): Dorothea Maetzel-Johannsen 1886–1930. Monographie und kriti- scher Werkkatalog. Hamburg 1986. 5) Der Kreis, a. a. O. 6) Ebenda. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 296

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ihre Geschwister waren bald in Berlin unter der verrät ihre „Reise nach Paris“, vom biographi- Obhut einer Tante, bald wurden sie mit einem schen Standpunkt ein Schlüsselbild. Kleinforma- Schild um den Hals auf die Bahn gesetzt – Rich- tig, nur 27 x 23 cm groß, zeigt das Bild eine tung Lensahn zu den Großeltern und Tanten: nackte Frau, die ihren Kopf an den rückwärts- „Das nahm man nicht so kompliziert, wir Kin- gewandten des Rehes schmiegt, auf dem sie der wuchsen so nebenher auf. Also an sich ein einem offenen Tor entgegenreitet. Die Sonne be- bißchen schlimm.“ In dieser Berliner Zeit hatte gleitet sie auf ihrem Weg. Dorothea Maetzel-Johannsen auch eine Weile Dorothea Maetzel-Johannsen blieb ein hal- Unterricht bei Lovis Corinth (siehe Ü Corinthstra- bes Jahr in Paris, malte den Pont Neuf, Häuser ße, in Bd. 3 online**). an der Seine, den Pont Michel und Notre Dame. Nach Kriegsende bezog die Familie eine ge- Die Farben und Konturen ihrer Bilder wurden räumige Wohnung am Erlenkamp 20. Das Ehe- weicher. paar arbeitete zusammen und war sich dabei so Nach ihrer Rückkehr bezog die Familie 1926 nahe, dass man oft nicht unterscheiden kann, das von Emil Maetzel entworfene Haus in Volks- ob ein Bild von ihr oder von ihm stammt. In die- dorf. Sie behielt ihr Atelier in der Stadt. Ende ser Zeit zwischen 1919 und 1921 entstanden Do- 1926 malt sie überlebensgroße figürliche Kom- rothea Maetzel-Johannsens großformatige ex- positionen an zwei Wände eines Kinderheimes pressionistische Kompositionen, die sie, ebenso in Lüneburg, im Winter 1927/28 drei große Bil- wie ihr Mann Gründungsmitglied der Hambur- der für die Ausstellung „Raumgestaltung“ des gischen Sezession, auf den ersten Sezessions- Architekten Karl Schneider. ausstellungen zeigte. Doch dann kam wieder der Mit der künstlerischen Trennung von ihrem Freiheitsdrang. Beide mieteten sich jeweils ein Mann lockerte sich auch die menschliche Bezie- eigenes Atelier, einige Minuten von der Woh- hung. Für die Kinder machte das freilich keinen nung entfernt. Unterschied. Sie hatten eigentlich nie mit den 1923 erhielt Dorothea Maetzel-Johannsen Eltern zusammengelebt: „Wir hatten eine Hen- von Gustav Pauli, dem damaligen Direktor der ny, die alles machte, und die wir alle sehr lieb- Kunsthalle, den Auftrag, vier große, gerahmte ten, aber sie war eben ganz einfach. Wir aßen Supraporten in Öl für den Vorraum zum großen nie mit unseren Eltern. Wir aßen mit Henny. Vortragssaal der Kunsthalle zu malen. Sie ent- Mein Vater behauptete immer, Kinder müßten standen in den Jahren 1923 und 1924 und sind aufwachsen wie das Unkraut“, erzählt Monika nur dank der mutigen Tat eines Museumstisch- Maetzel, nicht ohne hinzuzufügen, dass sie das lers erhalten, der sie in einer Zwischenwand ver- rückblickend für falsch hält, dass sie vieles spä- steckte, als sie als entartete Kunst entfernt wer- ter hätten mühsam nachholen müssen, was an- den sollten. 1925 dann eine Zäsur. dere Kinder spielerisch erlernten. Der Expressionismus neigte sich zum Ende. Im September 1929 brach Dorothea Maet- Emil Maetzel wendete sich der Neuen Sachlich- zel-Johannsen zu einer letzten Reise nach Visby keit zu, malte Bilder, die seine Frau nicht sehr auf Gotland auf. Trotz ihrer angeschlagenen Ge- schätzte, sie suchte eigene Wege ... er redete ihr sundheit stellte sie sich dem rauen, stürmischen zu, nach Paris zu gehen. Wie feinfühlig Emil Klima und malte. „Es donnert und blitzt den Maetzel damit die Existenz seiner Frau begriff, ganzen Tag (...) das erstemal in den Wochen,

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und ich finde das Gewitter herrlich. Als es von weg 39 in Ahrensburg auf Gut Wulfsdorf (heu- neuem begonnen, bin ich in die Kathedrale, die tige Adresse der Werkstatt, die 2009 von Birgit geliebte, gegangen und hab vor dem schönen Best übernommen wurde). Fenster gesessen. Dem Fenster, das manchmal Geboren wurde Monika Maetzel als viertes wie weiche blaue Seide ist, manchmal jauch- und jüngstes Kind des Hamburger Künstler-Ehe- zend wie Gesang der Engel, und heute, in der paares Emil Maetzel und Dorothea Maetzel-Jo- düsteren Kirche, mit den Blitzen dahinter, ge- hannsen. Seit den 1940-er Jahren setzte Monika heimnisvoll, ich weiß nicht wie. Ich glaube, Maetzel ihren eigenen Weg durch: Als Töpfer- wenn ich sterbe, dann sehe ich diese Fenster vor meisterin erwarb sie Beachtung und Anerken- mir. Man ist hier den Dingen so nahe, und doch nung und entwickelte einen bis heute gültigen behalten sie ihre Größe und Würde und ihr Ge- Stil. Von 1947 bis 2003 leitete sie ihre Keramik- heimnis – ich werde Sehnsucht nach der Kathe- werkstatt im Volksdorfer Elternhaus. drale haben, sie ist mir fast wie eine Heimat.“7) Die Geschichte des Künstlerhauses Volks- Dorothea Maetzel-Johannsen starb am 8. Fe - dorf liest sich kurios: „Das ‚Paradies‘ war ein bruar 1930, wenige Monate nach ihrer Rückkehr feuchtes Waldgrundstück, das Monikas Vater von Gotland. Das für die Wandelhalle des Plane- Emil Maetzel (1877–1955) vor 100 Jahren von tariums entworfene Deckengemälde konnte sie einem kleinen Erbe erworben hatte – was des- nicht mehr selbst ausführen. „Und ich bin doch sen Mutter nach der Erstbesichtigung schockier- nun mal so vergnügungssüchtig, daß ich am lieb- te: ‚Ach mein Junge, jetzt hast du das schöne sten einen langen Spaziergang mit Dir machte. Geld in den Sumpf geschmissen‘, soll sie geklagt Also auf Wiedersehen in einer etwas rosigeren ha ben. Doch der Architekt Emil Maetzel (…) Welt (...)“,8) schreibt sie an den Bildhauer Fried - hatte eine Vision. Für seine Familie (…) baute rich Wield, der ebenfalls Gründungsmitglied der er im Eichenwald 1924 ein Sommerhaus und Hamburgischen Sezession war und der 1931 für verband dieses 1926 mit einem Wohnhaus. Auf Dorothea Maetzel-Johannsen eine Gedächtnis- einer Lichtung dahinter war schon vorher zur ausstellung im Kunstverein organisierte, in der Entwässerung ein kreisförmiger Teich entstan- 120 ihrer Werke zusammen mit seinen gezeigt den, den Maetzel wegen der Himmelsspiegelun- wurden. gen auf der Oberfläche ‚das Auge Gottes‘ nann - Text: Brita Reimers te.“9) So wurde der Garten in den 1920er-Jahren Der Maetzelweg könnte auch nach Monika Maet- zum Ausflugsziel der Hamburgischen Sezession, zel (12.2.1917 Hamburg–18.10.2010 Hamburg), die sich als „vitale expressionistische Künstler - der Tochter des Ehepaares Maetzel mit benannt grup pe“ – nicht unähnlich der späteren Hippie- werden. kultur – in Hamburg organisiert hatte. Emil Maet - Monika Maetzel war Keramikmeisterin, -ma - zel war zeitweise ihr Vorsitzender. lerin, -bildhauerin und -lehrerin und langjährige Mit sechzehn Jahren begann „Monja“, wie Obermeisterin der Hamburger Innung für das die Jüngste gerufen wurde, eine pädagogische Töpfereihandwerk. Sie wohnte lange im elter- Ausbildung. Auf ein anschließendes Praktikum lichen Haus am Langenwiesen 15, wo sie auch bei dem Bauplastiker Richard Küöhl folgten drei ihre Werkstatt betrieb, später am Bornkamps- Jahre Studium von 1936 bis 1938 bei dem Kera-

7) Zitiert nach: Mathias F. Hans keramik für Generationen entstand, nika“, in: Hamburgische Biografie, (Hrsg.), a. a. O. in: Hamburger Abendblatt vom Personenlexikon. Hrsg. v. Franklin 8) Ebenda. 7.7.2006. Vgl.: maetzel-keramik.de Kopitzsch und Dirk Britzke, Band 6, 9) Lutz Wendler: Das bedrohte Pa- und gutwulfsdorf.de/keramikwerk- Göttingen 2012, S. 203–204 sowie radies in Volksdorf: Wo Sezessionis- statt. kuenstlerhaus-maetzel.de dort angegebene weiterführende ten baden gingen und Gebrauchs- Vgl.: Karin von Behr: „Maetzel, Mo- Literatur. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 298

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miklehrer Max Wünsche an der Hamburger Lan- Möglichkeit eigener Erfahrungen und der Werk- deskunstschule am Lerchenfeld. Nach dem statt eine höhere Auslastung. In ihrer bes ten Zeit frühen Tod der Mutter Dorothea 1930 und den belieferte sie mehr als 150 Fachgeschäfte. Sanktionen der Nationalsozialisten an ihrem Monika Maetzel war auch eine der wenigen Vater (er erhielt Malverbot und wurde als Ober- Keramikmalerinnen ihrer Zeit. Im Laufe ihres baurat von seinem Posten suspendiert) wurde rund 50-jährigen Schaffens bildete Hamburgs es still um das Künstlerhaus Maetzel. „dienstälteste Keramikerin“ 45 Lehrlinge aus. Die erste Kunstreise mit ihrem Bruder Peter Als Obermeisterin der Hamburger Töpferinnung zur Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 nach nahm sie 35 Jahre lang Prüfungen ab und wurde München ließ in Monika Maetzel einen Ent- 1955, im Todesjahr ihres namhaften Vaters, auf schluss reifen: Gegen den Willen ihres Vaters der internationalen Keramikausstellung im ita- setzte sie ihr Studium der Keramik und Bildhau- lienischen Faenza mit der Silbermedaille ausge- erei an der Akademie der Angewandten Künste zeichnet. 1982 erhielt sie den Justus-Brinck- in München fort. 1940 bestand sie die Gesellen- mann-Preis. Zwischen 1955 und 1992 nahm sie prüfung als Töpferin; auf drei Werkstattjahre bei an 21 Ausstellungen von Hamburg bis Birming- Helma Klett in Fredelsloh im Solling folgte vier ham, von Darmstadt bis Hyogo (Japan) teil. Jahre später ihre Meisterprüfung vor der Hand- Exponate von ihrer Hand und aus ihrer werkskammer in Hildesheim. Werkstatt befinden sich in öffentlichen Samm- Im März 1947 eröffnete die junge Meisterin lungen. in dem von ihrem Vater umgebauten Elternhaus Zu den Hinterlassenschaften der Töpferin, im Stadtteil Volksdorf ihre Töpferwerkstatt. Die die am liebsten Bildhauerin geworden wäre, ge- Aufbaujahre nach den Zerstörungen des Zwei- hört auch das einzige erhaltene Künstlerhaus ten Weltkriegs, die regelmäßige Teilnahme an der 1920er- Jahre in Hamburg, das von ihr ge- den Frankfurter Frühjahrs- und Herbstmessen pflegt und bewahrt wurde. Der 2003 gegründete und an der Hamburger Jahresmesse des Nord- „Freundeskreis Künstlerhaus Maetzel“ bemüht deutschen Kunsthandwerks im Museum für sich um Erhalt und Nutzung des unter Natur- Kunst und Gewerbe sowie eigene Atelierausstel- und Denkmalschutz stehenden Künstlerhauses. lungen machten sie bekannt und sicherten den Die Keramikmeisterin Birgit Best betreibt Absatz von formschönen, charmanten Geschir- mit ihrer Werkstatt die Tradition der Werkstatt ren, Gebrauchsgeräten, Vasen, Schalen, Fliesen, von Monika Maetzel weiter. Deckeldosen oder erzählender Kleinplastik mit Zusammengestellt von Cornelia Göksu Motiven aus ihrem paradiesischen Garten wie Siehe auch Ü Rosa-Schapire-Weg, in diesem Gräser, Blätter, Früchte, Vögel. Band. Dass die von ihr entwickelten Rezepturen Siehe auch Ü Corinthstraße, Othmarschen, seit 1950: Lovis Corinth (1858–1925), Maler, Gra- alle Trends bis zum aktuellen „Landhaus-Stil“ phiker, in Bd. 3 online**. überstanden, war auch einem „Kniff“ zu verdan- ken. Nicht exklusive Unikate waren Monika Met- zels Ziel: Die Formen sollten so gebildet sein, Magdalenenstraße dass sie Abweichungen vertrugen. Das ermög- Rotherbaum, seit 1860, benannt nach Catharina lichte Auszubildenden und Mitarbeitenden die Magdalena, geb. Kalckbrenner (getauft

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26.2.1777 Hamburg–17.11.1864 Hamburg), Ehe- Schwank. Wer denkt da nicht an ein delikates frau des Oberalten, Gärtnerei- und Geländebesit- Corpus delicti, das, im Hotelzimmer versehent- zers Johann Heinrich Böckmann lich liegengelassen, von einer eifersüchtigen Siehe auch Ü Böckmanstraße, St. Georg, seit Ehefrau entdeckt, zum Angelpunkt einer turbu- 1841: J. H. Böckmann (1767–1854), Grundei- lenten Verwechslungsgeschichte französischen gentümer, Oberalter, in Bd. 3 online**. Einschlags wird? Weit gefehlt. Als Boßdorf seine Komödie plante, hatte er am Anfang nur den Maike-Harder-Weg Titel ‚De rode Ünnerrock‘. Dies Kleidungsstück Poppenbüttel, seit 1984. Gestalt aus einem Werk sollte darin aber eine ganz andere Rolle spielen des niederdeutschen Dichters Hermann Boßdorf als in der jetzt vorliegenden Hallig Komödie; es sollte geradezu ein treibender Faktor der Hand- Richtige Schreibweise bei Hermann Boßdorf (sie- lung sein. Der Dichter wollte eine Dorfklatsch- he Ü Boßdorfstraße, in Bd. 3 online**) „Meike“. geschichte in den Mittelpunkt stellen. Doch „Einzige tragende weibliche Figur in Hermann dann kam ihm eines Tages, ‚wie ein Blitz‘ die Boßdorfs (1877–1921) Hallig-Schwank ,De rode Idee: ‚Vier Männchen, ein Weibchen. Hallig- Ünnerrock‘ – vom Autor selbst als ,Volkskomee- döns.‘ Und es entstand eine Komödie, die eine di‘ bezeichnet, ein Klassiker der niederdeutschen gewisse Spannung beinhaltet und einen Schluß Bühnenliteratur. (Uraufführung 26. November parat hält, der für viele Zuschauer überraschend 1921, Niederdeutsche Bühne Hamburg.) verläuft. Das Stück führt uns in eine Welt, die Als ,Wittfru‘ von ungefähr 40 Jahren bleibt der Dichter aus eigener Anschauung nicht kann - die Bühnenfigur Meike Harder oberflächlich im te. Einsam und allein wohnen die beiden Brüder Gegensatz zu den Männerrollen, die eher durch- Rickmers auf einer Hallig. Draußen ist diesiges gestaltet sind. Boßdorf gelingt es nicht, die Figur Wetter. Sie sitzen in der Stube und sprechen in der Meike Harder so differenziert anzulegen, abgerissenen Sätzen von der toten, guten Mut- daß hier von einem Charakter gesprochen wer- ter. Und schließlich bekennen beide gleichzeitig: den könnte. Die Figur gehorcht einem bloß äuße- es muß wieder eine Frau auf die Hallig. Wäh- ren Pragmatismus (,Nod brickt Keden‘) – im Ver - rend sie noch reden, kommt ihr Ohm, der reiche ständnis des Autors Ausdruck einer spezifisch Bauer Wessels, ein noch stattlicher Witwer von niederdeutschen Lebenshaltung und Grund mit allerdings schon sechzig Jahren. Er hat den bei- da für, dass auch heute noch der Schwank als ver - den ‚Walroßküken‘ allerlei mitgebracht: vor allen meintliche ,Charakterkomödie‘ etikettiert wird. Dingen guten Rum und einen roten Unterrock. Das Motiv der ,getrösteten Witwe‘ ist in vielerlei Für dieses Kleidungsstück haben die beiden Varianten ein ubiquitäres Schwankmuster.“10) aber keinerlei Verwendung; jedoch beim Grog Als vor Jahren die Niederdeutsche Bühne klärt er die Jungen auf: er hat eine Haushälterin das Stück „de rode Ünnerrock“ im Theater am bestellt, und die soll den Rock als Geschenk ha - Meer in Wihelmshaven aufführte, berichtete das ben. Allerdings schildert er diese Person als ein Jeversche Wochenblatt darüber wie folgt: „(…) altes, häßliches, puckeliges, schielendes Weib, ‚De rode Ünnerrock‘, niederdeutsche Volks ko - das schon vier Männer zu Tode geärgert hat. mödie, wer das hört, erwartet zunächst ein un- Und so erscheint die junge Witwe Maike Harder, beschwertes Lustspiel, vielleicht sogar einen (…), auf der kleinen Hallig. Sie verwirrt nicht

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10) Auskunft von Ulf-Thomas Lesle, Institut für niederdeutsche Sprache. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 300

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nur die beiden Rickmers Brüder Bohle und Jülf, Siehe auch Ü Geschwister-Witonski-Straße, (…), sondern auch dem Halligpaster (Clans Jacqueline-Morgenstern-Weg, Lelka-Birnbaum- Weg, Riwka-Herszberg-Stieg, Wassermannpark, Miehl ke) den Kopf. Aber auch der reiche Bauer Zylberbergstieg, Zylberbergstraße, in diesem Wessels (…) führt irgendetwas im Schilde. Die Band. Ereignisse auf dem Eiland spitzen sich zu. Siehe auch Ü Brüder-Hornemann-Straße, Schier unerträglich wird die Situation auf der Schnelsen, seit 1993: Alexander und Eduard Hallig, als Maike ein Kind erwartet. Doch wer Hornemann, acht und zwölf Jahre alt, nieder- ländische Opfer des Nationalsozialismus, in ist der Vater? Bohle, der ohne sie nicht mehr Bd. 3 online**. leben kann, oder Jülf der fast vor Liebe nach ihr Siehe auch Ü Eduard-Reichenbaum-Weg, vergeht. Vielleicht ist es auch der Paster, der be- Schnel sen, seit 1993: Eduard Reichenbaum reits sechs Kinder hat und Witwer ist. Und da (1934–1945), zehnjähriges polnisches Kind, ist noch Ohm Bauer Wessels, der dringend einen Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- line**. Erben braucht für seinen Hof. Die Spannung Siehe auch Ü Georges-André-Kohn-Straße, bleibt bis zuletzt, dank der hervorragenden Schnelsen, seit 1992, zwölfjähriges Opfer des schauspielerischen Leistungen der Darsteller, Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. bestehen. Die Aufführung hat ein Ende, das kei- Siehe auch Ü Jungliebstraße, Schnelsen, seit ner erwartet!“11) 1995, zwölfjähriger Jugoslawe, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Boßdorfstraße, Eimsbüttel, seit 1922: Hermann Boßdorf (1877–1921), Dichter, Siehe auch Ü Marek-James-Straße, Schnelsen, niederdeutscher Schriftsteller, in Bd. 3 online**. seit 1995: Marek James, sechs Jahre alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- line**. Mania-Altmann-Weg Siehe auch Ü Marek-Steinbaum-Weg, Schnel- sen, seit 1993: Marek Steinbaum, zehn Jahre Schnelsen, seit 1992, benannt nach Mania Alt- alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in mann, fünf Jahre alte Polin aus Radom. Opfer des Bd. 3 online**. Nationalsozialismus. Kindermord in der Schule Siehe auch Ü Roman-Zeller-Platz, Schnelsen, am Bullenhuser Damm seit 1995: Roman Zeller, zwölfjähriger Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- Manias Vater wurde im KZ line**. Mauthausen ermordet. Be- Siehe auch Ü Sergio-de-Simone-Stieg, Schnel- vor Mania und ihre Mutter sen, seit 1993: Sergio-de-Simone, sieben Jahre alter Italiener. Opfer des Nationalsozialismus, nach Auschwitz deportiert in Bd. 3 online**. wurden, waren sie in ver- Siehe auch Ü Günther-Schwarberg-Weg, schiedenen anderen La- Schnelsen, seit 2013: Günther Schwarberg gern gewesen. Die Mutter (1926–2008), Autor, Journalist, recherchierte überlebte das Lager, sie und schrieb über das Schicksal der 20 jüdi- schen Kin der, die am 20.4.1945 in der Schule starb 1971. Sie hat nie er- Bullenhuser Damm ermordet wurden, in fahren, was mit Mania ge- Bd. 3 online**. schah, nachdem man ihr das Kind in Auschwitz

Mania Altmann weggenommen hatte. v.l.n.r.:Abb. Grove Ottensen/Familie | Stadtteilarchiv Schwarberg KZ-Gedenkstätte Neuengamme/Sammlung

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11) www.theater-am-meer.de/29-ar- chiv/archiv/407-de-roode-uenner- rock Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 301

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Margarete-Mrosek-Bogen München studierte und der Weißen Rose nahe- Bergedorf/Allermöhe, seit 1995, benannt nach stand, der Widerstandsgruppe der Geschwister Margarethe (Margarete) Mrosek, geb. Schram Scholl (siehe Ü Geschwister-Scholl-Straße, in die- (25.12.1902–21.4.1945 KZ Neuengamme), Geg- sem Band). Dort wurden zwischen Juni 1942 nerin des Natio nalsozialis mus. Hausfrau und Februar 1943 sechs Flugblätter verfasst und verbreitet, die zum passiven Widerstand aufrie- Stolperstein vor dem Wohnhaus Up de Schanz 24. fen. Auch in den Hamburger oppositionellen Kreisen kursierten diese verbotenen Flugblätter. Margarethe Schram kam 1902 in Gablonz an der Maria Leipelt tippte sie in ihrer Sprachschule ab Lausitzer Neiße im nordöstlichen Böhmen im und wirkte so aktiv an der Vervielfältigung und heutigen Tschechien als Tochter von Karl und Verbreitung mit. Camilla Schram, geborene Pan, zur Welt. Ihre Dorothea Zills jüngerer Bruder Hans Bern- Mutter war Jüdin. 1911 wurde ihr Bruder Walter hard, Jahrgang 1926, war damals als Flakhelfer geboren. 1928 starb der Vater.12) eingesetzt und daher nur manch mal bei seiner Während des Zweiten Weltkriegs lebte Mar- Familie im Hause Mrosek zu Besuch. Grete Mro- garethe Mrosek als Hausfrau mit ihrem nichtjü- sek schildert er als eine „liebenswerte Person“. dischen Ehemann Alois Mrosek zur Miete in Die äl teren Jugendlichen, so erinnert er sich, tra- Hamburg-Nienstedten, Up de Schanz 24 b. Ihr fen sich bis Juli 1943 im Zimmer seiner Schwes- Mann war als Abteilungsleiter bei einer Versi- ter in der Conventstraße 6 in Eilbek, wo die Zills cherung tätig. bis zu ihrer Ausbombung wohnten. Sie hörten Noch war Margarethe Mrosek durch die Mu sik oder musizierten selbst, lasen verbotene „privilegierte Mischehe“ vor der Deportation ge- Bücher, in teressierten sich für MalerInner und schützt. Sie wurde aber zur Zwangsarbeit in der Bildhauer, deren Werke in- Parfum- und Seifenfabrik Dralle in Altona-Otten- zwi schen als „entartete sen verpflichtet. Kunst“ galten. Hans und Anfang Oktober 1943 nahm das Ehepaar Dorotheas Väter warnten Mrosek vorübergehend die befreundete Familie ihre Kinder, dass dies ge- Zill nach deren Ausbombung im Juli auf, bevor fährlich sei, doch die Ju- diese Mitte November 1943 in die Blankeneser gendlichen wollten sich in Landstraße 9 zog. Johannes Paul und Emma Zill ihrer Freiheit nicht einen- und ihre Tochter Dorothea waren mit der jüdi- gen lassen. Die allgegen- schen Familie Leipelt bekannt. Um Käthe und wärtige nationalsozialisti- Konrad Leipelts Kinder Hans und Maria Leipelt sche Ideologie und Gewalt Margarethe Mrosek (siehe Ü Leipeltstraße, in Bd. 3 online**) hatten bedrückte sie. sich regimekritische Freunde versammelt. Dieser Im Februar 1943 wurden die Geschwister Widerstandskreis wurde nach dem Zweiten Scholl nach ihrer spektakulären Flugblattaktion Weltkrieg als „Hamburger Zweig der Weißen an der Münchener Universität verhaftet. Ihr letz- Rose“ bezeichnet. Die Freunde lasen und disku- tes Flugblatt wurde in Hamburg mit dem Zusatz tierten verbotene Literatur. Insbesondere Doro- „Ihr Geist lebt weiter!“ nachgedruckt und ver- thea Zill war mit Hans Leipelt befreundet, der in teilt. Nachdem die Münchener Beteiligten in

** Band 3 online unter: www.ham- Veröffentlichung aus dem Staatsar- 1933–1945, Frankfurt a. M. 1980; Ge- burg.de/maennerstrassennamen chiv Hamburg Bd. XV, bearbeitet von denkbuch KOLA-FU; aus den Unterla- Jürgen Sielemann unter Mitarbeit von gen von Holger Martens: Vortrag am 12) Für den gesamten Text zu Mro- Paul Flamme, Hamburg 1995; Ursel 9.2.1946 und Abschrift handschrift- sek: Hamburger Jüdische Opfer des Hochmuth, Gertrud Meyer: Streiflich- licher Notizen von Johannes Paul Zill, Nationalsozialismus. Gedenkbuch, ter aus dem Hamburger Widerstand Privatbesitz H.B. Zill; Mathias Ku- Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 302

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einem Schnellverfahren verurteilt und hinge- den. Es fiel damals auf, daß Frau Mrosek nicht richtet worden waren, kam die Gestapo auch auf mit ins UG bzw. nach Cottbus kam wie die an- die Spur der Hamburger regimefeindlichen Krei- deren weiblichen Gefangenen.“ se. Anfang Oktober 1943 wurden Hans Leipelt Margarethe Mrosek saß ab dem 8. Januar in München und am 9. November die siebzehn- 1944 in Fuhlsbüttel ein. Zwei Tage später wurde jährige Maria Leipelt in Hamburg festgenom- auch das Ehepaar Zill dort inhaftiert. In einem men. Weitere Verhaftungen aus dem Kreis des Prozess wegen Vorbereitung zum Hochverrat Hamburger Zweigs der Weißen Rose folgten, wurde den Zills das Abhören ausländischer insgesamt wurden 25 Personen bis zum März Rundfunksender, die Verteilung von Flugblättern 1944 festgenommen. und das Sammeln von Geld für die Witwe des Margarethe Mrosek hatte sich mit der Fami- in München hingerichteten Professors Kurt lie Leipelt angefreundet, besonders mit Katha- Huber zur Last gelegt. Auch die Tochter Doro- rina Leipelt, die ebenfalls als Jüdin galt. Beide thea Zill wurde im Januar 1944 verhaftet. standen unter der Bedrohung der Nürnberger Margarethe Mrosek hatte von den Flugblät- Rassegesetze. Das wird deutlich aus handschrift- tern der Weißen Rose und den politischen Akti- lichen Notizen von Johannes Zill: „Sie lernte vitäten des Kreises um die Leipelts vermutlich Leipelt bei mir kennen, war aus gemeinsamem keine Ahnung. Das Belastungsmaterial reichte Schicksal heraus öfter mit ihr bei uns zusam- offenbar auch nicht aus, um sie vor ein Gericht men, telefonierte auch öfter mit ihr. Ich nehme zu stellen. In der Anklageschrift des Hochver- an, daß der (Gestapo-) Sachbearbeiter Reinhardt ratsprozesses gegen „Kucharski, Leipelt und Ge- der kleinen Maria Leipelt auferlegt haben wird, nossen“ ist ihr Name nicht enthalten. alle ihre Bekannten aufzuschreiben. So ist auch Alois Mrosek bezeugte nach dem Krieg vor Grete Mrosek mit in den Kreis geraten.“ dem Amt für Wiedergutmachung: Johannes Zill erklärte 1951 in einem Schrei- „Meine arme Frau geriet am 14.12. gemein- ben an das Amt für Wiedergutmachung: sam mit der ihnen schon bekannten Familie Zill „Margarethe Mrosek war Jüdin. Sie wurde wegen angeblichen Hochverrats in Schutzhaft. am 14. Dezember 1943 morgens von den Gesta- Obwohl die Haltlosigkeit der Anklage bald erwie- pobeamten Voigt und Konrad in ihrer Wohnung sen sein musste, wurde sie nicht mehr entlassen, verhaftet. Am nächsten Tag wurden meine Frau weil sie das Kind jüdischer Eltern war. (…) Ich und ich verhaftet. Ich kann bestätigen, daß Frau selbst wurde wegen meiner so genannten Misch- Mrosek mit uns zusammen zunächst bis 7.1.44 ehe drangsaliert und das letzte halbe Jahr vor in der Jugend-Arrest-Anstalt Bergedorf, [denn dem Zusammenbruch zur Zwangsarbeit für das zu dem Zeitpunkt soll Flecktyphus in Fuhlsbüt- Aufräumungsamt Hamburg dienstver pflichtet.“ tel geherrscht haben], anschließend in Fuhlsbüt- Ende Oktober 1944 leistete er Zwangsarbeit als tel in Schutzhaft gewesen ist, und zwar mindes- „jüdisch Versippter“ zusammen mit „Mischlin- tens bis Oktober 1944, zu welchem Zeitpunkt gen“ und italienischen und polnischen Kriegs- die übrigen Teilnehmer an diesem Verfahren ins gefangenen und wurde zum Kohletrimmen im Untersuchungsgefängnis überführt und nach Elektrizitätswerk Neuhof und zu Kanalisierungs- kurzer Zeit – ein Teil der Männer nach Stendal, und Trümmeraufräumarbeiten eingesetzt, unter der Frauen nach Cottbus – weitergeschickt wur- anderem bei der Tiefbaufirma Erich Möller.

schinski, Emma Zill, und Henrike Göhl, von Johannes Zill, am 20.9.2007. Johannes Paul Zill, www.politisch-ver- folgte.de, Zugriff 28.8.2007; Staats- archiv Hamburg 351-11 Amt für Wider- gutmachung, 15275 Mrosek, Alois: Gepräch mit Hans Bernhard Zill, Sohn Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 303

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Am 18. April 1945, zwei Wochen vor dem Margaretha-Rothe-Weg Einrücken der Engländer, wurde Margarethe Niendorf, seit 1982, benannt nach Margaretha Mrosek zusammen mit zwölf Frauen und 58 Rothe (13.6.1919 Hamburg–15.4.1945 Leipzig), Männern aus dem Polizeigefängnis Fuhlsbüttel Gegnerin des Nationalsozialismus. Studentin der in das schon fast geräumte Lager Neuengamme Medizin. Motivgruppe: Opfer des Nationalsozia- überführt. Da den Frauen kein Prozess gemacht lismus worden war, ahnten sie nicht, was ihnen bevor- Stolpersteine vor dem Wohnhaus Heidberg 64 stand. Sie dachten, sie würden entlassen. Doch und vor dem Hauptgebäude der Universität Ham- alle standen auf einer Liquidationsliste der Ge- burg, Edmund-Siemers-Allee 1; Erinnerungsstein stapo und wurden in den Nächten vom 21. bis für Margaretha Rothe im Garten der Frauen auf 23. April umgebracht. Margarethe Mrosek wur- dem Ohlsdorfer Friedhof; 1988 wurde eine Schule de mit den anderen Frauen am 21. April 1945 nach Margaretha Rothe benannt: Margaretha- gehenkt. Rothe-Gymnasium. Seit 1987 heißt ein Gebäude Text: Birgit Gewehr, entnommen: www.stolpersteine- hamburg.de auf dem Gelände des Universitätskrankenhauses Eppendorf (UKE) Rothe-Geussenhainer-Haus; Siehe auch Ü Annemarie-Ladewig-Kehre, Elisa- beth-Lange-Weg, Erika-Etter-Kehre, Erna-Beh- Mahnmal: Tisch mit 12 Stühlen (siehe dazu bei ling-Kehre, Geschwister-Scholl-Straße, Hanne- Ü Georg-Appel-Straße, in Bd. 3 online**). Mertens-Weg, Helene-Heyckendorf-Kehre, Margit-Zinke-Straße, in diesem Band. Margaretha Rothe war Lichtwarkschülerin, später Siehe auch Ü Leipeltstraße, Wilhelmsburg, seit Medizinstudentin an der Universität Hamburg. 1964: Hans Leipelt (1921–1945), Student, In der Zeit des Nationalsozialismus traf sie sich Mitglied des nach der Zeit des Nationalsozia- lismus bezeichneten Hamburger Kreis der mit anderen ehemaligen LichtwarkschülerInnen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, in Bd. 3 on- bei der bis zu ihrer Versetzung 1935 an der line**. Lichtwarkschule tätig gewesenen Lehrerin Erna Stahl (siehe Ü Erna-Stahl-Ring, in diesem Band), wo sie politische Themen diskutierten und die Margaretenhof von den Nationalsozialisten verbotene Literatur Lehmsahl-Mellingstedt, seit 1946. Bezeichnung und Malerei kennenlernten. des an diesem Wege gelegenen Bauernhofs Margaretha Rothe schloss sich dem antifa- schistischen Kreis ihres Schulkameraden Heinz Margaretenstraße Kucharski an. Zusammen mit ihm verbreitete sie auf Flugblättern die Sendezeiten und die Eimsbüttel, seit 1870, vermutlich benannt nach Wellenlänge des „Deutschen Freiheitssenders“. Margaretha Auguste, geb. Ahlff (1.2.1815–27.6. Durch ihr Studium lernte sie auch den Ordina- 1890), Ehefrau des Geländevorbesitzers Heinrich rius für Kinderheilkunde, Prof. Rudolf Degkwitz, Jacob Fett kennen, der ihre antinazistische Haltung teilte Siehe auch Ü Fettstraße, Eimsbüttel, seit 1870: und sie darin bestärkte. 1941/42 erweiterte sich H. J. Fett (1817–1894), Grundeigentümer, Bau- unternehmer, in Bd. 3 online**. der Freundeskreis, zu ihm stieß auch der Che- miestudent Hans Leipelt (siehe Ü Leipeltstraße, in Bd. 3 online**). Margaretha Rothe war durch

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Heinz Kucharski mit Reinhold Meyer (siehe Ü die Kasernen der Vergangenheit.‘ Die wurden ab- Reinhold-Meyer-Straße, in Bd. 3 online**), dem Ju- geschrieben mit der Maschine und weiterverteilt. niorchef der am Jungfernstieg 50 gelegenen (...) Sie haben ein Netz gesponnen. Und davor Buchhandlung „Agentur des Rauhen Hauses Jos. hatte die Gestapo am meisten Angst. (...) Lei der P. Meyer“, bekannt geworden. (Die Buchhand- ließ man ihnen nicht viel Zeit. Ihre Treffen flogen lung wurde von Reinhold Meyers Schwester An- auf durch Verrat,“ so Anneliese Tuchel14). neliese Tuchel bis zu deren Tod im Jahre 2000 Am 9. November 1943 wurden Margaretha unter dem Namen „Buchhandlung Anneliese Tu- Rothe, Heinz Kucharski und Marie Leipelt ver- chel“ geführt.) Reinhold Meyer, der gleichzeitig haftet. Im November 1944 wurde Margaretha auch Germanistikstudent war, befreundete sich Rothe aus dem Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel mit Margaretha Rothe. Sie trafen sich nachts mit über Berlin nach Cottbus transportiert. Seit dem Heinz Kucharski und dem Medizinstudenten 10. Februar 1945 befand sie sich im Frauenge- Albert Suhr im Keller der Buchhandlung, um, fängnis Leipzig-Kleinmeusdorf. Als sie dort wie Anneliese Tuchel schreibt, „die verbotene ankam, war sie bereits schwer erkrankt und Literatur zu lesen und zu wurde deshalb am 18. Februar 1945 ins Gefäng- diskutieren. Wir ahnten, nislazarett und von dort am 6. März 1945 ins daß Rein hold etwas Ge- Städtische Krankenhaus St. Jacob gebracht. Dort fährliches tat, aber keiner starb sie am 15. April 1945 an den Folgen einer fragte danach. Denn sein Lungentuberkulose. Zur Todesursache schrieb Freundeskreis setzte sich ihre Schwester Ingeborg Staudacher-Rothe am ja zusam men aus Leuten, 13. Juni 1989 in ihrem „In memoriam“ (befind- von denen wir wußten, lich im Staatsarchiv Hamburg). Sie starb „an das sind alles Nazigegner. den Krankheiten, die sie sich während der Haft Es verband diese ganze zugezogen hatte und für die sie zum Teil von Margaretha Rothe Gruppe vor allem der Zorn klein auf eine Disposition zeigte. Gretha ver- gegen die geistige Unfrei- brachte die letzten 5 Wochen ihres kurzen Le- heit. Das Wort ,Widerstandskämpfer‘ ist hier si- bens als Privatpatientin in dem o. g. Kranken- cher nicht angebracht, das ist besetzt durch haus bei optimaler Pflege und erfuhr hier große Leute wie Stauffenberg. Diese jungen Menschen menschliche Zuwendung seitens des Personals haben gekämpft für die Freiheit des Geistes, und einer Mitpatientin. Alle anderen Darstellun- indem sie Texte abschrieben, verbreiteten und gen ihres Todes und Sterbeortes, wie sie erst auch über die Zeit nach dem ,Dritten Reich‘ dis- kürzlich noch trotz vorherigen Hinweises auf die kutierten. (...) Der Freundeskreis begann nach Unrichtigkeit publiziert wurden, entsprechen der Hinrichtung der Scholls aktiv zu werden“.13) nicht der Wahrheit.“ Margaretha Rothe selbst Traute Lawrenz, Medizinstudentin und Freun- schrieb am 9. März 1945 aus dem Städtischen din von Margaretha Rothe, und Hans Leipelt Krankenhaus St. Jacob: „Ich liege als Privatper- „brachten zumindest das letzte Flugblatt der Wei- son!!!!! Abteilung BG. Kein Brief geht durch die ßen Rose nach Hamburg. Das wurde gemeinsam Zensur, solange ich hier bin! Ohne Alarme wäre gelesen und solche Texte wie von Erich Kästner: es ein Paradies! Warum muß es nur so weit von 15)

,Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen in Hamburg entfernt sein?!“ 93. 1969, S. 609, Nr. Frankfurt/Main Dokumente, und Berichte 1933–1945, Widerstand Hamburger dem aus Streiflichter Gertrud Hochmuth, Ursel Aus: Meyer, Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- 14) Anneliese Tuchel, a. a. O. burg.de/maennerstrassennamen 15) Angela Bottin: Enge Zeit. Berlin, Hamburg 1992, S. 85. 13) Anneliese Tuchel: Der braucht keine Blumen. Erinnerungen an Rein- hold Meyer. Hamburg 1994. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 305

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Der Freundeskreis um Margaretha Rothe, ihrem 80. Geburtstag. Als Dreizehnjährige kam Reinhold Meyer, Heinz Kucharski etc. wurde sie mit ihren Geschwistern zu ihrem Großvater nach dem Krieg „Hamburger Zweig der Weißen nach Marienburg, ging auf die Höhere Handels- Rose“ benannt. schule, besuchte das Lehrerinnenseminar, erwarb Siehe auch Ü Elisabeth-Lange-Straße, Erna- die Lehrbefähigung an Mädchenschulen und ab- Stahl-Ring, Geschwister-Scholl-Straße, Marga- solvierte eine dreijährige Berufsausbildung, um rete-Mrosek-Bogen, in diesem Band. die Befähigung zum Studium zu bekommen. Siehe auch Ü Felix-Jud-Ring, Bergedorf/Allermö- Mittlerweile 23 Jahre alt, ging sie mit ihrem he, seit 1995: Felix Jud (1899–1985), Buchhänd - ler, Widerstandskämpfer, in Bd. 3 online**. 20-jährigen Bruder nach Berlin zum Studieren. Dort belegte sie – formal getrennt von der Uni - Siehe auch Ü Kurt-Ledien-Weg, Niendorf, seit 1982: Dr. Kurt Ledien (1893–1945), Richter, versität – in Oberlehrerinnenkursen die Fächer Mitglied des Hamburger Zweiges der Weißen Ge schich te, Deutsch und Philosophie. Nach dem Rose, in Bd. 3 online**. Staatsexamen wurde sie 1904 Lehrerin an einem Siehe auch Ü Leipeltstraße, Wilhelmsburg, seit Berliner Lyzeum und unterrichtete nebenamtlich 1964: Hans Leipelt (1921–1945), Student, Mit- glied des nach der Zeit des Nationalsozialis mus an der Frauenschule von Alice Salomon. bezeichneten Hamburger Zweigs der Wider- Margaretha Treuge schloss sich dem ADLV standsgruppe „Weiße Rose“, in Bd. 3 online**. (Allgemeiner Deutscher Lehrerinnenverein) an Siehe auch Ü Reinhold-Meyer-Straße, Niendorf, und war von 1910 bis 1921 Schriftleiterin der Ver- seit 1982: Reinhold Meyer (1920–1944), Stu- bandszeitschrift „Die Lehrerin“. dent, Juniorchef der Evangelischen Buchhand- lung des Rauhen Hauses am Jungfernstieg 50, Für die vom ADF (Allgemeiner Deutscher Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in Frauenverein) 1909 herausgegebene Publikation Bd. 3 online**. „Politisches Handbuch für Frauen“ schrieb Mar- garetha Treuge umfangreiche Abhandlungen zu den Themen „Verfassung in Gemeinde, Staat Margaretha-Treuge-Weg und Reich“ und „Die deutschen politischen Par- Ohlsdorf, seit 2007, benannt nach Margaretha teien“. Außerdem veröffentlichte Margaretha Treuge (4.8.1876 Elbing–2.4.1962 Hamburg), von Treuge im selben Jahr eine „Einführung in die 1920 bis 1933 Direktorin der Sozialen Frauen- Bürgerkunde – ein Lehrbuch für Frauenschulen“, schule und des Sozialpädagogischen Instituts in welches zu einem Standardwerk wurde. Marga- Hamburg, 1933 entlassen, 1946 Mitbegründerin retha Treuge wollte in ihren Publikationen we- des Hamburger Frauenringes, 1949 Mitinitiatorin der sozialdemokratischen noch konservativen zur Bildung der Arbeitsgemeinschaft Hamburger Parteien das Wort reden. Den Schwerpunkt legte Frauenorganisationen sie auf die Darstellung der kommunalen Selbst- Ein Erinnerungsstein steht im Garten der Frauen verwaltung. Denn sie war der Überzeugung, die auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Betätigung auf dieser untersten politischen Ebene sei für Frauen, die sich gerade erst politi- „Ich bin gebürtige Westpreußin. Meine Eltern sierten, angemessen – zumal auf dieser Ebene habe ich früh verloren. Aber wir drei Kinder er- die Arbeit im sozialen Bereich im Vordergrund hielten bei Verwandten eine liebevolle und sorg- stand, wofür nach damaliger Geschlechtsrollen- fältige Erziehung“, erzählte Margaretha Treuge an zuweisung Frauen besonders geeignet schienen.

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Gerade in Zeiten des Krieges erhielt die so - Margaretha Treuges Vorbehalte, die „berufsethi- zia le Arbeit eine neue Wichtigkeit. Und so be- sche Vertiefung“ könne durch die Koedukation grüß ten es auch die Vertreter der Stadt Hamburg, beeinträchtigt werden und der gesamte Unter- dass im Kriegsjahr 1917 die Dop pel lehran stalt richt verflachen, fand in den verantwortlichen Soziale Frauenschule und So zial pädagogisches Kreisen kein Gehör. Und so musste Margaretha In s ti tut gegründet wurde. An dieser Doppellehr- Treuge Ostern 1930, nachdem Preußen 1927 be- anstalt wurde Margaretha Treuge Oberlehrerin reits die staatliche Anerkennung männlicher für Geschich te und Bürgerkunde. Wohlfahrtspfleger geregelt hatte, fünf bis zehn Als 1919/1920 die Schulleiterinnen Gertrud männliche Schüler in die Unterklasse des Sozi- Bäumer (siehe Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, in diesem alpädagogischen Instituts aufnehmen. Band) und Dr. Marie Baum Hamburg verließen Im Herbst 1933 wurde Margaretha Treuge, – Gertrud Bäumer wurde 1920 als erste Frau die 1918 der Deutschen Demokratischen Partei Deutschlands Ministerialrätin in Berlin und Dr. beigetreten war und ihre Vorstellungen von Marie Baum ging 1919 als Referentin für Wohl - einem demokratischen Staat weiterhin öffentlich fahrts pflege in das badische Arbeitsministeri - vertrat, von den Nationalsozialisten ihres Amtes um –, übernahm die 44-jährige Margaretha Treu- enthoben. Margaretha Treuge wurde an eine ge die Leitung der Sozialen Frauenschule. Im Volksschule strafversetzt und ein Jahr darauf sel ben Jahr wurde die Schule als Wohl fahrts - vorzeitig in den Ruhestand entlassen. Während schu le staatlich anerkannt, was bedeutete, dass der Zeit des Nationalsozialismus hielt sie in die Schülerinnen nun die Qualifikation einer Privathäusern Kurse zu Literatur, Geschichte, staatlich geprüften Wohlfahrtspflegerin erwer- Frauenbewegung und Nationalökonomie ab. ben konnten. Margaretha Treuge betrachtete Während des Krieges wurde ihre Wohnung aus- diese Entwicklung zur Verstaatlichung mit ge- gebombt und sie verlor ihre Schwester. mischten Gefühlen, denn sie befürchtete eine Nach 1945 arbeitete allzu starke Schematisierung und Rou tine in der die nun über 70-Jährige Ausbildung. Am 1. April 1923 wurde die Schule noch kurze Zeit erneut als verstaatlicht und war damit die erste deutsche Dozentin am Sozialpäda- Wohlfahrtsschule unter staatlicher Leitung. gogischen Institut. 1946 ge - Als der Hamburger Se nat 1926 Nachschu- hörte Margaretha Treu ge lungslehrgänge für männliche Angestellte der zu den Mitbegründerin nen Wohlfahrtsbehörde beschloss, weil die meisten des Hamburger Frauenrin- der männlichen Angestellten nach den Lehrsät- ges e. V., dessen Presse- zen der alten Armenpflege arbeiteten, bedeutete aus schuss sie leitete. 1949 dies für das Sozialpädagogische Institut, Lehr- initiierte sie mit anderen Margaretha Treuge gänge auch für Männer einzurichten. Das fiel die Bildung der Arbeitsge- Margaretha Treuge und ihren Mitarbeiterinnen meinschaft Hamburger Frauenorganisationen. schwer. Für sie galt das Berufsfeld Sozialpäda- Außerdem war Margaretha Treuge aktive Mitar- gogik als ein typisch weibliches, das die den beiterin der WOMAN.16) Frauen „angeborene Mütterlichkeit“, die sich in Siehe auch Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, in diesem Pflege und Hege ausdrücke, professionalisierte. Band.

16) Vgl. Helmuth Stubbe-da Luz: Die Bd. 7, Hamburg 1994. Stadtmütter: Ida Dehmel, Emma Ender, Margaretha Treuge. Hamburgi- sche Lebensbilder in Darstellungen und Selbstzeugnissen. Hrsg. vom Ver- ein für Hamburgische Geschichte. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 307

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Margit-Zinke-Straße den Elektriker Paul Zinke kennen und lieben. Er Bergedorf/Allermöhe, seit 1995, benannt nach war KPD-Mitglied und beteiligte sich nach 1933 Margit Zinke (18.1.1914 München–21.4.1945 KZ am illegalen Widerstand. Dafür saß er 1935/36 Neuengamme), Mitglied der Widerstandsgruppe für zehn Monate im Gefängnis. Nach seiner Ent- Bästlein-Jacob-Abshagen, Hausfrau lassung arbeitete er auf der Stülkenwerft, auf der sich während des Krieges kommunistische Wi- Stolperstein vor dem Wohnhaus Falkenried 26. derstandsgruppen organisiert hatten, die der Widerstandsorganisation Bästlein-Jacob-Abs ha - Margit Zinke wurde von dem Offizier Woldemar gen angehörten. Auch um Paul Zinke und das Emil Fleischner und seiner Ehefrau Martha, geb. Ehepaar Fiering (siehe Ü Marie-Fiering-Weg, in die- Eha, adoptiert, wovon sie wahrscheinlich erst sem Band) bildete sich eine Widerstandsgruppe, im Alter von siebzehn Jahren erfuhr. 1919 schied deren Haupttreffpunkt die Kellerwohnung der Woldemar Fleischner aus dem Militärdienst aus. Fierings war. 1943 wurde Paul Zinke als politisch Es ist nicht genau geklärt, ob gesundheitliche Vorbestrafter zum Bewährungsbatallion 999 ein- Gründe oder Woldemar Fleischners antinazisti- gezogen. Im selben Jahr half Margit Zinke dem sche Einstellung dafür ausschlaggebend gewesen kom munistischen Widerstandskämpfer Hans waren. Die Familie zog nach Hamburg und be- Horn verger (ohne Gerichtsurteil 1944 im KZ wohnte eine großbürgerliche Wohnung im Jung- Neuengamme gehenkt) un terzutauchen. Am 23. frauenthal. Die sportliche Margit Zinke besuchte April 1944 wurde Paul Zinke aus dem Bewäh- die katholische höhere Mädchenschule am Holz- rungsbatallion entlassen. damm; später ging sie in ein Internat nach Eutin. Am 1. Juli 1944 heirateten Als sie sich in einen drei Jahre älteren Poli- Margit und Paul Zin ke. zeiwachtmeister verliebte, der ihren Eltern nicht Im selben Jahr kam ihre standesgemäß erschien, kam es zu einem großen Tochter auf die Welt. Am Streit. Kurz darauf, im Jahre 1934, starb der Va - 27. November 1944 wur- ter. Die Mutter gab der Tochter eine Mitschuld. de Paul Zinke und zwi - Margit zog aus dem Elternhaus aus, die Mutter schen dem 3. und 8. Fe- kehrte nach Süddeutschland zurück und der bruar 1945 Margit Zinke Kontakt zwischen Mutter und Tochter brach ab. verhaftet und ins Gestapo - Ein Jahr später heiratete Margit ihren Poli- gefängnis Fuhlsbüttel ge- Margit Zinke zeiwachtmeister und wohnte mit ihm, der 1933 bracht. Die Kinder kamen aus dem Polizeidienst ausgeschieden war und in ein Kinderheim nach Reinbek und wurden nun im Hafen arbeitete, in sehr bescheidenen von dort auf verschiedene Pflegestellen verteilt. Verhältnissen. 1936 wurde das erste Kind gebo- Margit Zinke gehörte zu den 13 Frauen, die ohne ren, welches wegen der beengten Verhältnisse Urteil im KZ Neuengamme in den Nächten vom bei Margit Zinkes Schwiegermutter aufwuchs. 21. bis zum 24. April 1945 erdrosselt wurden. 1937 und 1939 wurden die beiden Söhne gebo- Recherchen zu Margit Zinke, erstellt von dem ren. 1941 ließ sich das Ehepaar scheiden. Namensausschuss der Gesamtschule Berge dorf, der über Margit Zinke eine kleine Biographie Margit Zinke zog mit ihren Söhnen in den geschrieben hat.

Abb.: v.l.n.r.: Aus: Helmut Stubbe-da Luz, Die Stadtmütter Ida Dehmel ,Emma Ender, Margarete Treuge, Verein für Hamburgische Geschichte (Hrsg.), Bd. 7, Hamburg 1994 | Privatbesitz (Hrsg.), Bd. 7, Hamburg Geschichte Hamburgische für Verein Treuge, v.l.n.r.: Margarete Abb.: Ender, ,Emma Dehmel Ida Stadtmütter Die Luz, Stubbe-da Helmut Aus: Falkenried 26, Haus 10, und lernte dort ca. 1942 Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 308

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Siehe auch Ü Annemarie-Ladewig-Kehre, Maria-Louisen-Stieg Ca tha rina-Fellendorf-Straße, Erika-Etter-Kehre, Erna-Behling-Kehre, Gertrud-Meyer-Straße, Winterhude, seit 1953. In Anlehnung an die Han ne-Mertens-Weg, Helene Heyckendorf-Kehre, Maria-Louisen-Straße Katharina-Jacob-Weg, Lisbeth-Bruhn-Stieg, Siehe auch Ü Agnesstraße, Dorotheenstraße, Margarete-Mrosek-Bogen, Marie-Fiering-Kehre, Klärchenbrücke, Klärchenstraße, Maria-Loui- Thüreystraße, Tennigkeitweg, in diesem Band. sen-Brücke, Maria-Louisen-Straße, in diesem Siehe auch Ü Ernst-Mittelbach-Ring, Niendorf, Band seit 1982: Ernst Mittelbach (1903–1944), Siehe auch Ü Andreasstraße, Winterhude, seit Gewerbeoberlehrer, Widerstandskämpfer gegen 1866, benannt nach Andreas Meyer (?–?), dem den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittel- Freund und Helfer des Grundstücksbesitzers bach-Stieg, Niendorf, seit1987, in Bd. 3 on- Herrn Sierich, in Bd. 3 online**. line**. Siehe auch Ü Sierichstraße, Winterhude, seit Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit 1863: Adolph Sierich (1826–1889), Grundei- 1988: Karl Kock (1908–1944), Gummifachar- gentümer, in Bd. 3 online**. beiter aus Harburg, Kommunist, Widerstands- kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Maria-Louisen-Straße Siehe auch Ü Kurt-Schill-Weg, Niendorf, seit 1982: Kurt Schill (1911–1944), KPD-Wider- Winterhude, seit 1863, benannt nach Maria- standskämpfer gegen den Nationalsozialismus, Louise, geb. Lembcke (19.2.1825–8.5.1863), in Bd. 3 online**. erste Ehefrau des Grundeigentümers Adolph Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit Sierich, Besitzer des Geländes 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- Siehe auch Agnesstraße, Dorotheenstraße, munistischer Widerstandskämpfer gegen den Ü Klärchenbrücke, Klärchenstraße, Maria-Loui- Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. sen-Brücke, Maria-Louisen-Stieg, in diesem Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Aller- Band. möhe, seit 2002: Werner Schroeder (1916– Siehe auch Andreasstraße, Winterhude, seit 1993), Bäcker, Kommunist, Widerstandskämp- Ü 1866, benannt nach Andreas Meyer (?–?), dem fer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 Freund und Helfer des Grundstücksbesitzers online**. Herrn Sierich, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Sierichstraße, Winterhude, seit 1863: Adolph Sierich (1826–1889), Grundei- Maria-Louisen-Brücke gentümer, in Bd. 3 online**. Winterhude, seit 1904. In Anlehnung an die Maria-Louisen-Straße Mariannenweg Siehe auch Ü Agnesstraße, Dorotheenstraße, Klärchenbrücke, Klärchenstraße, Maria-Loui- Fuhlsbüttel, seit 1946. Frei gewählter Name sen-Stieg, Maria-Louisen-Straße, in diesem Band. Siehe auch Ü Andreasstraße, Winterhude, seit Marianne-Wolff-Weg 1866, benannt nach Andreas Meyer (?–?), dem Barmbek-Nord, seit 1930, benannt nach Marian - Freund und Helfer des Grundstücksbesitzers ne Wolff, geb. Niemeyer (8.9.1819 Magdeburg– Herrn Sierich, in Bd. 3 online**. 17.2.1886 Hamburg), Witwe des Dichters Karl Siehe auch Ü Sierichstraße, Winterhude, seit 1863: Adolph Sierich (1826–1889), Grundei- Immermann. Sie gab dem geselligen, musikali- gentümer, in Bd. 3 online**. schen Leben Hamburgs Anregungen

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 309

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Marianne Niemeyer wurde in Magdeburg als älteste Oktober 1827 wurde in Göttingen Hochzeit ge- Tochter des Kreisphysikus Carl Eduard Niemeyer feiert“.18) und seiner Frau Lotte, geb. Nitze, geboren. Sie Mit dreizehn Jahren ging Marianne bereits starb, als Marianne sechs Jahre alt war. Marian- von der Töchterschule ab, weil der Vater der nes Großmutter sorgte dafür, dass ihr Sohn nicht Meinung war, dass Mädchen nicht viel zu lernen „unbeweibt“ blieb. Dazu schreibt Marianne Wolff: bräuchten. Sie sollte sich von nun an selbst be- „Die Großmutter wünschte nach dem Tode sei- schäftigen und ein wenig Französisch lernen. ner Lotte ihm das Leben so leicht als möglich zu Nach dem Tod des Vaters 1837 zog Marian- machen, und da er zu seiner Schwester Karoline ne, dem Wunsche ihres Vaters folgend, zu ihrer eine ganz besondere Liebe hatte, so gestattete Großmutter nach Halle. Die jüngeren Schwes- sie derselben, zu dem Bruder zu gehen, obgleich tern kamen aufs Land. Da es dort aber keine sie erst 16 Jahre alt (…) war. Sie war nicht reif Schule gab, holte Marianne ihre Schwestern zu genug für die Erziehung der Kinder und die Füh- sich nach Halle und unterrichtete sie dort. „Ich rung eines größeren Hauswesens; wir wurden in sorgte für die Schwestern und war mehr die der ungebundensten Freiheit gelassen. Es sorg- strenge als die liebevolle Schwester.“19) te niemand für meine Arbeiten, ich trieb mich Die Vormundschaft über die Kinderschar im Garten, vor der Tür, auf dem Fürstenwall hatte der Lehrer Ferdinand Immermann übernom- ausschließlich mit wilden Knaben umher. Die men. In seinem Haus lernte Marianne Wolff Delbrücksche Familie, die den ersten Stock des 1838 bei einem Familientreffen den 23 Jahre äl- väterlichen Hauses bewohnte, war kinderreich. teren Dichter Karl Immermann (1796–1840) Mehrere Söhne standen mir im Alter nah, (…). (siehe Ü Immermannstraße, in Bd. 3 online**), Ein wildes Mädchen muß ich gewesen sein. Klet- Bru der von Ferdinand Immermann, kennen. Sie tern war meine Passion; mein liebster Aufenthalt verliebten sich ineinander und er trennte sich war auf der Gartenmauer, von der ich alle Nach- ihretwegen von seiner langjährigen Freundin, bargärten übersah. Ich kam mir erhaben vor der Gräfin Elise von Ahlefeldt (1788–1855). In über das gewöhnliche Leben und baute einen der Brautzeit schrieben sich beide viele Briefe. Märchenpalast um mich, las mit früh erwachter Dazu Marianne Wolff in Leidenschaft. Lernte meine Aufgaben oder ihren Erinnerungen: „Im- weinte auch wohl über das Geschick, wenn wie- mermanns Briefe an mich der einmal das Kleid hängengeblieben war, und enthalten wohl mehr wie ein trauriger Riß mir Schelte verhieß.“17) alles, was er geschrieben, Zwei Jahre blieb die Schwester von Marian- den Vollgehalt seines We- nes Vaters bei ihren Neffen und Nichten, dann sens. Was ihm das Leben heiratete sie, und Mariannes Vater „musste da ran geschenkt an Wissen und denken, sich wieder eine Häuslichkeit zu schaf- Erfahrung, was sein for- fen. Er hatte noch bei Lebzeiten meiner Mut - schender Geist sich ange- ter eine Verwandte unserer Hausgenossen Del- eignet auf den verschie- Marianne W0lff, 1854 brück, Julie Göschen, (…) kennengelernt (…) densten Gebieten, was sein ganz überlegt ging er zu Werke, besprach seine Gemüt ergriffen und seine Phantasie gestaltet,

Abb.: Aus: F. Wolff, Auf dem Berliner Bahnhof (nach einer Zeichnung von Wilhelm Camphausen) Wilhelm von Zeichnung einer (nach Bahnhof Berliner dem Auf Wolff, F. Aus: Abb.: Wünsche mit der Mutter der Erwählten (…). Im was Gott ihm im Glauben offenbart, damit woll te

** Band 3 online unter: www.ham- Hamburg 1926, S. 13f. burg.de/maennerstrassennamen 18) Felix Wolff, a. a. O., S. 14. 19) Felix Wolff, a. a. O., S. 25. 17) Felix Wolff (Hrsg.): Marianne Wolff, geborene Niemeyer, die Witwe Karl Immermanns. Leben und Briefe. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 310

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er die künftige Gefährtin seines Lebens berei- Am 12. August 1840 gebar Marianne eine chern, vor der er auch seine Fehler und Irrthü- Tochter. Zur gleichen Zeit erkrankte Karl Immer- mer mit hohem Vertrauen aussprach. Bald erzog mann an einer Lungenentzündung und starb er sein bräutliches Kind, wie er mich gern nann- knapp zwei Wochen nach der Geburt des Kindes. te, in ernster väterlicher Rede, bald trat er zu mir Nun begann eine schwere Zeit für die Witwe mit jugendlich hingerissenen Gefühlen, die Kluft Immermann. Um sich mit ihrem Kind finanziell der Jahre vergessend (…).“20) über Wasser zu halten, unterrichtete sie Töchter 1839 wurde geheiratet. Das junge Ehepaar befreundeter Familien. Außerdem ordnete sie zog nach Düsseldorf. „Nun sollte ich eintreten in den Nachlass ihres Mannes und verhandelte mit den Kreis, dessen geistigen Ansprüchen ich mich Verlegern. wenig gewachsen fühlte, dessen Atmosphäre Als 1847 ihre Tante starb, ging die 28-jähri - mich ganz anders umgab als die gewohnte; aller ge Marianne Wolff mit ihrer Tochter nach Ham- Augen waren auf mich gerichtet, die junge Frau, burg, um ihrem 44-jährigen Onkel Julius Guido um derentwillen der Dichter sich von der lang- Wolff (1803–1880) und seinen sechs Kindern jährigen Freundin getrennt hatte, dem bisher die den Haushalt zu führen. Acht Monate später hei- Jugend und manche der Frauen sich nur schüch- ratete der Direktor der 1846 eröffneten Eisen- tern genaht hatten. Immermann ermahnte mich, bahnlinie Berlin-Hamburg, Guido Wolff, die jun - nicht anders sein zu wollen wie bisher, beschei- ge Witwe. den und ohne Ansprüche den Menschen unbe- Julius Guido Wolff bekleidete viele Ehren- fan gen und vertrauensvoll entgegenzutreten, zu ämter und genoss hohes Ansehen in Hamburg. denen er durch mich erst ein rechtes Verhältnis Der strenggläubige Mann war Mitglied des Kir- gewonnen, und versicherte mich, daß ich auch chenvorstandes der St. Katharinen-Kirche, Ver- in Düsseldorf einfache und wohlwollende Leute waltungsratsmitglied des Rauhen Hauses, damals finden würde.“21) Marianne Wolff war damals unter der Leitung von Johann Hinrich Wichern zwan zig Jahre alt und hatte, wie sie selbst fest- (siehe Ü Wichernsweg, in diesem Band), und wid- stellte, nur als Immermanns Frau eine gesell- mete sich den Aufgaben der Inneren Mission. schaftliche Stellung. Über ihrer Einführung in die „Seine Klugheit ließ ihn ohne Eifersucht Düsseldorfer „Geselligkeit“ schreibt sie: „Bis da - seine geliebte Frau ihre eigenen Wege gehen, wo hin hatte ich zu den jungen Leuten gehört, nun sie solche dank ihrem früheren Leben suchte rückte ich in die Sphäre der älteren auf; die jungen und fand. (…) Wie auch Mariannes innerer Männer, unter denen ich nachher meine Freun de Reichtum sie erfüllte, so gingen doch die Pflich- fand, saßen beim Theetisch am anderen Ende, ten der Hausfrau und Mutter ihr allem anderen und zu Tisch führten mich nur die älteren Her- vor.“23) Zu den sieben Kindern (sechs Kinder ren, was zwar sehr ehrenvoll war; aber es hätte von Guido Wolff, ein Kind aus Mariannes erster mich doch auch amüsiert, wenn ich mit meinen Ehe) gesellten sich im Laufe der Zeit vier weitere 20 Jahren auch einmal mich mit einem jüngeren aus der Verbindung von Guido und Marianne Herrn unterhalten hätte, und ich glaube, ich er- Wolff. 1855 fand auch noch eine zehnjährige schien im Abglanz meines Mannes ganz dieser Verwandte Aufnahme im Hause Wolff. Neben Sphäre entrückt, hatte nur als Immermanns Frau der Erziehung dieser zwölf Kinder musste Ma- meine Stelle, gar nicht mehr als ich selbst.“22) rianne Wolff auch noch dem großen Haus vor-

20) Felix Wolff, a. a. O., S. 30f. 21) Felix Wolff, a. a. O., S. 37. 22) Felix Wolff, a. a. O., S. 39. 23) Felix Wolff, a. a. O., S. 43f. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 311

Biographien von A bis Z / M 311

stehen. Die Familie wohnte in der großen, mit tige von auswärts und mancher Träger klangvol- vielen Zimmern ausgestatteten Amtswohnung len Namens Unterkunft fanden.“25) im Dienstgebäude des Berliner Bahnhofes. Marianne Wolff galt als sehr klug und hilfs- Marianne Wolff war – wie so viele Mütter bereit. Sie half bei Konflikten und Eheschwierig- und Hausfrauen dieser Welt – eine Multitas king- keiten, gab werdenden Müttern Ratschläge, nahm Person. So schreibt denn auch ihr Biograph zu Menschen mit Eheproblemen für einige Zeit auf, einer Zeit, als der Begriff Multitasking in Deutsch- half in seelischen Nöten. Gleichzeitig hatte sie land noch gar nicht bekannt war: „Das aber war noch Zeit, ein Buch zu schreiben: „Karl Immer- eine wunderbare Gabe Mariannes, daß sie viele mann und seine Werke“ (1870) und Briefkontak- Dinge auf einmal besorgen konnte, ohne dabei te z. B. zu den Dichtern Ludwig Tieck (siehe Ü eins zu vernachlässigen. Sie pflegte wohl in (…) Tiecksweg, in Bd. 3 online**), Emanuel Gei bel [einem] Zimmer zu sitzen, hatte eine Flickarbeit (siehe Ü Geibelstraße, in Bd. 3 online**) und Paul oder ein Strickzeug in der Hand, las mit vollem Hey se (siehe Ü Heysestraße, in Bd. 3 online**) zu Verständnis ein vor ihr liegendes Werk ernsten führen. Inhalts und beaufsichtigte dabei die um sie he r- Im Laufe der Jahre erlitt ihr Mann mehrere um sitzenden Kinder bei ihren Schul- und Hand- kleine Schlaganfälle, wodurch er immer weniger arbeiten. Alles das hinderte sie aber nicht, den am geistigen Leben teilnehmen konnte. Er starb Arbeitstag damit einzuleiten, daß sie das Wirt- am 14.5.1880. Marianne Wolff zog in ein klei- schaftsbuch führte und dann bei immer sich neres Haus in einem Hamburger Vorort. Für län- wiederholenden Anfragen der Köchin genau zu gere Zeit sorgte sie noch für den nach jahrelan- bestimmen, was und wie das Essen zu bereiten ger Abwesenheit heimgekehrten ältesten Sohn. und was einzukaufen sei. Mehr als einmal ent- Am 17.2.1886 starb sie nachmittags, in ihrem schuldigte sie die angebliche Nachlässigkeit Lehnstuhl sitzend. eines Briefes damit, daß sie ihr Baby auf dem Siehe auch Ü Amalie-Sieveking-Weg, Wicherns- Schoß habe.“24) weg, in diesem Band. Neben ihren umfangreichen hausfraulichen Siehe auch Ü Geibelstraße, Winterhude, seit und mütterlichen Pflichten übernahm Marianne 1888: Emanuel Geibel (1815–1884), Schriftstel- ler, in Bd. 3 online**. Wolff auf Wunsch von Amalie Sieveking (sie- Siehe auch Ü Heysestraße, Bergedorf, seit he Ü Amalie-Sieveking-Weg, in diesem Band) zwei 1949: Paul Heyse (1830–1914), Dichter, in Jahre lang den Unterricht einer Reihe junger Bd. 3 online**. Mädchen. Außerdem erzog sie in ihrem Haus, Siehe auch Ü Immermannstraße, Altona-Nord, welches im Ruf stand, ein mit christlichem Geist seit 1910: Karl Immermann (1796–1840), Dichter, Dramaturg, in Bd. 3 online**. erfülltes Haus ohne Engherzigkeit zu sein, eine Tiecksweg, Anzahl junger Baslerinnen und Engländerinnen. Siehe auch Ü Eilbek, seit 1904: Ludwig Tieck (1773–1853), Dichter, Drama- Ferner „entfaltete sich [in dem Haus] mit der turg, in Bd. 3 online**. Zeit eine Geselligkeit, die bei größter Einfachheit der Bewirtung von geistigem und künst lerischem Geiste erfüllt war, und niemals stand die stattli- Maria-Terwiel-Kehre che Anzahl der Gastzimmer leer, in de nen jeder- Bergedorf, seit 1987, benannt nach Maria Terwiel zeit der Unterstützung oder Belehrung Bedürf- (7.6.1910 Boppard–5.8.1943 hingerichtet Berlin-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

24) Felix Wolff, a. a. O., S. 45. 25) Felix Wolff, a. a. O., S. 47. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 312

312 Biographien von A bis Z / M

Plötzensee), Widerstandskämpferin gegen den von Pässen und Lebensmittelkarten für gefähr- Nationalsozialismus. Motivgruppe: Verdiente dete Jüdinnen und Juden. Frauen Im September 1942 wurde Maria Terwiel ver - haftet und im Januar 1943 zusammen mit ihrem Maria Terwiel war die Tochter des Vizepräsidenten Lebenspartner Helmut Himpel vom Reichs- beim Oberpräsidenten der Provinz Pommern, Jo- kriegsgericht zum Tode verurteilt. Das Urteil hannes Terwiel, und dessen Ehefrau Rosa Terwiel. wurde am 5. August 1943 vollstreckt. Maria Ter- 1929 machte Maria Terwiel Abitur und be- wiel wurde durch das Fallbeil im Strafgefängnis gann in Freiburg und München das Studium der Berlin-Plötzensee hingerichtet. Rechtswissenschaften. Da ihre Mutter jüdischer Siehe auch Ü Elisabeth-von-Thadden-Kehre, in Herkunft war, wurde sie nicht zum Referendar- diesem Band. examen zugelassen. Ihr Vater – Sozialdemokrat Siehe auch Ü Bittcherweg, Wilstorf, seit 1984: und Katholik – wurde 1933 in Stettin seines Am- Herbert Bittcher (1908–1944), Mitglied der SPD, Widerstandskämpfer gegen den National- tes enthoben. sozialismus, in Bd. 3 online**. Während des Studiums in Freiburg lernte Maria Terwiel Helmut Himpel kennen und lie- ben. Sie verlobten sich, doch durften sie wegen Marie-Fiering-Kehre der von den Nationalsozialisten erlassenen Nürn - Bergedorf, seit 1985, benannt nach Marie Fiering berger Rassegesetze nicht heiraten. (28.9.1897 Hamburg–21.4.1945 KZ Neuengam - Helmut Himpel eröffnete 1937 in Berlin eine me), Widerstandskämpferin gegen den National- Zahnarztpraxis in der Lietzenburger Straße 6. sozialismus. Mitglied der KPD, Hausfrau Maria Terwiel und er leb- Stolperstein vor dem Wohnhaus St. Georgs Kirch- ten zusammen und gaben hof 26. in ihrer Freizeit – Maria war eine gute Pianistin – Das Ehepaar Ernst (1887–21./23.4.1945 KZ Neu- Hauskonzerte. engamme) und Marie Fiering gehörte als Mitglie- Maria Terwiel arbei- der der KPD der illegalen Widerstandsorganisa- tete nun als Sekretärin in tion Bästlein-Jacob-Abshagen an (BJA). Marie einem französisch-schwei- Fiering war Hausfrau, Ernst Fiering arbeitete als Maria Terwiel zerischen Textilunterneh- Elektriker auf der Stülcken-Werft und hatte dort men. Als der Zweite Welt- mit Franz Reetz eine Zelle der Widerstandsor- krieg ausbrach und der französische Firmenleiter ganisation aufgebaut, welche auch Verbindun- als Kriegsgefangener behandelt wurde, setzte gen zu Zwangsarbeitern aus Osteuropa unter- Maria Terwiel durch, dass er seine Zwangsar- hielt. Nachdem im Herbst 1942 ein Großteil der beitsstunden in seiner Firma ableisten durfte. BJA-Gruppe durch die Gestapo zerschlagen Die überzeugte Katholikin nahm Kontakt zu wurde, setzten einige der nicht Festgenomme- der Widerstandsgruppe Rote Kapelle um den nen, darunter das Ehepaar Fiering, die Wider- Hauptmann Schulze-Boysen auf und nutzte de - standstätigkeit fort, bis sie ungefähr ein Jahr ren Beziehungen zur Verbreitung der Predigten später dasselbe Schicksal ereilte wie zuvor ihre

des Bischofs von Galen und zur Beschaffung MitkämpferInnen. In ihren Fällen kam es zu kei- Hamburg 1956, S.115 | Staatsarchiv Frankfurt/Main Berlin, 1933–1945, Widerstand deutschen dem aus v.l.n.r.: Lebensbilder 64 Abb. auf, steht Gewissen Das Leber, Annedore

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ner Gerichtsverhandlung mehr, Ernst und Marie dung ihres Mannes durch SA-Männer am 14. März Fiering wurden zusammen mit 69 anderen Män- 1931 war Marie Henning, die seit 1920 ebenfalls nern und Frauen des politischen Widerstands der KPD angehörte und u. a. in der frauenpoliti - noch zwei Wochen vor Kriegsende im KZ Neuen - schen Arbeit der KPD-Bezirksleitung Wasser kan - gamme gehenkt. te tätig war, von 1931 bis zur Machtübernahme Text: Benedikt Behrens durch die Nationalsozialisten 1933 ebenfalls Mit- Siehe auch Ü Catharina-Fellendorf-Straße, glied (KPD) der Hamburgischen Bürgerschaft. Erna-Behling-Kehre, Gertrud-Meyer-Straße, He- 1936 heiratete sie den ehemaligen Reichs - lene-Heyckendorf-Kehre, Lisbeth-Bruhn-Stieg, Katharina-Jacob-Weg, Margit-Zinke-Straße, banner führer Carl Rohde, der 1944 bei der Ex- Thüreystraße, in diesem Band. plosion einer Panzerfaust Siehe auch Ü Ernst-Mittelbach-Ring, Niendorf, tödlich verunglückte. seit 1982: Ernst Mittelbach (1903–1944), Ge- Marie Henning wohn- werbeoberlehrer, Widerstandskämpfer gegen te mit ihren drei Kindern den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittel- bach-Stieg, Niendorf, seit 1987, in Bd. 3 on- in Hamburg-Bergedorf in line**. der Hassestraße 11. Wäh- Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit rend der NS-Zeit wurde sie 1988: Karl Kock (1908–1944), Gummifachar- mehrfach von der Gestapo beiter aus Harburg, Kommunist, Widerstands- kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in inhaftiert, so von Mai bis Marie Henning Bd. 3 online**. Juni 1933, im März 1936 Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit und von August bis Ende 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- September 1944. munistischer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Nach der Befreiung vom Nationalsozialis - mus war Marie Henning bis zu ihrem Krebstod Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Aller- möhe, seit 2002: Werner Schroeder (1916– im Komitee ehemaliger politischer Gefangener 1993), Bäcker, Kommunist, Widerstandskämp- in Hamburg-Bergedorf aktiv.26) fer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 Siehe auch Ü Boldtstraße, Bergedorf, seit 1949: online**. Carl Boldt (1887–1945), Maschinenschlosser, Mitglied der SPD, später der USPD und dann der KPD, Widerstandskämpfer, KZ-Häftling, in Marie-Henning-Weg Bd. 3 online**. Bergedorf/Allermöhe, seit 1995, benannt nach Siehe auch Ü Ernst-Henning-Straße, Bergedorf, Marie Henning, geb. Mancke, verwitwete Rohde, seit 1949: Ernst Henning (1892–1931), kom- verwitwete Henning (26.12.1895 Nossentiner munistischer Bürgervertreter, NS-Opfer, Gegner der NSDAP, von SA-Leuten erschossen, in Bd. 3 Hütte–5.1.1948 Hamburg), Mitglied (KPD) der online**. Hamburgischen Bürgerschaft, Gegnerin/Opfer/ Siehe auch Ü Ernst-Thälmann-Platz, Eppendorf, Verfolgte des Naziregimes seit 1985: Ernst Thälmann (1886–1944), Ha- fenarbeiter, Bürgerschaftsabgeordneter, KPD- Vorsitzender, Gegner und Opfer des National- Marie Henning war seit 1913 mit dem KPD-Bür- sozialismus, in Bd. 3 online**. gerschaftsabgeordneten Ernst Henning (siehe Ü Siehe auch Ü Rudolf-Roß-Allee, Horn, seit Ernst-Henning-Straße, in Bd. 3 online**) verheira- 1959: Rudolf Roß (1872–1951), Bürgermeister tet. Das Paar hatte drei Kinder. Nach der Ermor- von Hamburg, in Bd. 3 online**.

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26) Vgl: wikipedia.org/wiki/ Marie_Henning (Stand: 12.4.2015) Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 314

314 Biographien von A bis Z / M

Siehe auch Ü Wiesnerring, Bergedorf, seit 1960: Als Dr. Alberto Jonas 1924 Direktor der Isra- Wilhelm Wiesner (1867–1934), Bürgermeister eli tischen Töchterschule in der Karolinenstra - in Bergedorf, Bürgerschaftsabgeordneter, in ße 35 wurde, übernahm Dr. Marie-Anna Jonas die Bd. 3 online**. Stelle der Schulärztin. Am 13. März des Jahres wurde das einzige Kind Esther geboren. Bis 1929 Marie-Jonas-Platz wohn te die Familie in der Grindelallee 12 und zog Eppendorf, seit 2009, benannt nach Dr. Marie- dann nach Eppendorf in den Woldsenweg 5. Anna Jonas, geb. Levinsohn (12.1.1893 Fischhau- Ihre Tochter Esther beschrieb ihre Mutter als sen/Ostpreußen– 1944; Deportation, Todesdatum sehr sanft, zärtlich und liebevoll. War ihre Toch- unbekannt), jüdische Ärztin, Ehefrau von Dr. Alber - ter erkrankt, blieb die Mutter zu Hause. Dr. Ma - to Jonas, dem letzten Leiter der Mädchenschu le rie-Anna Jonas liebte Mo zarts „Kleine Nachtmu- der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg; sik“, ging gern und häufig ins Theater und in die wie ihr Mann Opfer des Nationalsozialismus Oper, besuchte Konzerte und hatte viele Freun- Stolperstein vor dem Wohnhaus Woldsenweg 5. dinnen und Freunde, die sie einmal wöchentlich zum Essen zu sich nach Hause einlud. Dr. Marie-Anna Levinsohn war das dritte von Marie-Anna Jonas war sehr stolz auf ihren insgesamt vier Kindern des liberal-jüdischen Werdegang. Sie legte Wert darauf, dass der aka- Ehepaares Levinsohn. Der Vater betrieb die Apo- demische Titel ‚Frau Dr. Jonas‘ Ergebnis ihrer ei- theke am Ort. Ab 1895 wohnte die Familie in genen Leistung und nicht durch Eheschließung Königsberg, wo Marie-Anna die höhere Mädchen- erworben war. In ihrem sozialen Engagement schule mit angeschlossenem Lehrerinnensemi- orientierte sie sich nicht an der Haltung ihres Gat- nar besuchte. Als Marie-Anna fünfzehn Jahre alt ten, der vehement jede innerjüdisch-politische Po- war, starben ihre Eltern. sitionierung ablehnte. Nach Aussagen ihrer Toch- Nachdem sie mit achtzehn Jahren die Lehre- ter gehörte sie der WIZO (Women’s International rinnenprüfung bestanden hatte, ging sie für zwei Zionist Organisation) an und ließ sich zur Grup- Jahre nach England und Frankreich, um sich penvorsitzenden wählen. Das Israelitische Fami- weiterzubilden. 1914 kehrte sie nach Deutsch- lienblatt verzeichnete sie im Oktober 1938 sogar land zurück und war gemeinsam mit ihrer älte- als Vorstandsmitglied des Hamburger Zionis - ren Schwester im Ersten Weltkrieg als Rote-Kreuz- tischen Ortsverbandes. Gemeinsam mit ihrem Schwester tätig. Ab September 1917 begann sie Mann gehörte sie außerdem der Henry-Jones-Lo - sich auf das Abitur vorzubereiten, was sie Os- ge an. Schon im Ersten Weltkrieg war Marie-Anna tern 1919 bestand. Nun studierte sie an der Uni- Jonas massivem Antisemitismus von Solda ten be- versität Königsberg Medizin und promovierte gegnet, die sich nicht von jüdischen Rote-Kreuz- 1922 über Komplikationen bei eitriger Mittelohr- Schwestern behandeln lassen wollten. Obwohl sie entzündung. 1923 erfolgte ihre Approbation, im für diese Tätigkeit 1934 das „Ehrenkreuz“ verlie- selben Jahr heiratete sie Dr. Alberto Jonas, einen hen bekam, war sich Marie-Anna Jonas früh der vier Jahre älteren Altphilologen, der Oberlehrer Gefahr für die Juden bewusst, die der Machtantritt an der traditionsreichen Hamburger Talmud Tora der Nationalsozialisten bedeutete. Sie drängte zur Schule war. Die beiden hatten sich bei einer Zug- Auswanderung, wollte nach Palästina, was für fahrt nach Bad Harzburg kennengelernt. ihren Mann jedoch nicht zur Debatte stand.

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Ihre Arbeit als Schulärztin hatte Marie-Anna lager nachzureisen. Es war ein Transport nach Jonas verloren: Seit Mai 1932 konnten verbe am - Auschwitz. Esther überlebte. Marie-Anna Jonas te te verheiratete Frauen aus dem Staatsdienst wurde am 12. Oktober 1944 nach Au sch witz de- entlas sen werden, wenn das Familieneinkommen portiert und dort ermordet. anderweitig gesichert war. Sie wirkte ehren- Text: Stadtteilarchiv Eppendorf amt lich, zunächst am Universitätskrankenhaus Siehe auch Ü Mary-Marcus-Kehre, in diesem Eppendorf, dann am Is raelitischen Kran kenhaus Band. in der Simon-von-Utrecht-Stra ße. Als dann 1938 jüdischen Ärzten und Ärz - Marienhöhe tinnen die Approbation Blankenese, seit 1928. 1906 erwarb die neu ge- entzogen wurde, war sie gründete Blankeneser-Marienhöhe-Terrain-A. G. als Krankenpflege rin tätig zu Hamburg von den Erben des Vorbesitzers von und versorgte – insbeson - Heeren das Gut Marienhöhe. Seit ca. 1872 wird de re nachts – alte Men- das Gut Marienhöhe genannt schen. In den Räumen der Israelitischen Töch terschu - Im Jahre 1800 wurde das Gut gegründet. 1871 le unterrichtete sie Biolo- kaufte es der Kaufmann Simon von Heeren und gie und Gesundheits leh- nannte es Marienhöhe. Woher der Name kommt Marie Jonas mit re. Ihre Schülerinnen und ist nicht nachgewiesen. 1921 erwarb der jüdische Tochter Esther Schüler waren jugendli- Kaufmann im Im- und Export, Julius Asch (1875– che Teilnehmende an Berufslehrgängen zur Vor- Suizid 1939), das Gelände. „Er ließ das Herren- bereitung der Auswanderung, darun ter auch haus umbauen, das umliegende Gelände auf- ihre Tochter Esther. forsten und die Parkanlage verschönern. Jeden Für Familie Jonas gab es kein Entkommen; Sommer öffnete er das Gut für jüdische Kinder. viel zu spät war ein Ausreiseantrag in die USA Julius Asch war Mitglied der Hochdeutschen Is- gestellt worden. Im Frühjahr 1942 musste sie die raeliten-Gemeinde in Altona, die zum Zentrum Wohnung am Woldsen weg räumen und in ein für die vermehrt aus dem Osten kommenden so genanntes Judenhaus am Laufgraben 39 zie- Juden wurde. Überlebende Juden erinnerten sich hen. Am 19. Juli 1942 wurde Marie-Anna Jonas noch Jahrzehnte später an die idyllischen Fe- mit ih rem Mann und ihrer Tochter nach There- rienlager in Marienhöhe.“27) sienstadt de portiert. Sechs Wochen später starb In der Hoffnung, aus Nazi-Deutschland emi - Dr. Alberto Jonas an Hirnhautentzündung. grieren zu können, verkaufte Julius Asch 1938 Marie-Anna Jonas begann, im Ghetto als das Gut Marienhöhe an den damaligen Präses Ärztin zu arbeiten. Sie hatte kaum Medikamen - der Handelskammer Bremen, Gustav Scipio.28) te, konnte aber, so ihre Tochter, „den Leuten ein gutes Wort geben und nett zu ihnen sein“. Verge- bens versuchte sie Anfang Oktober 1944, Es ther, Marienhof die in Theresienstadt geheiratet hatte, daran zu Poppenbüttel, umbenannt, 1950, benannt nach hindern, ihrem Mann (einem Aufruf der Lager- Marie Henneberg. Ehefrau des Gutsbesitzers

Abb.: Privatbesitz Esther Bauer Privatbesitz Abb.: leitung folgend) in ein vermeintliches Arbeits - Albert Cäsar Henneberg (1835–20.11.1906)

27) Lars Ole: Vita über Julius Asch, unter www.stolpersteine-hamburg.de 28) Ebenda. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 316

316 Biographien von A bis Z / M

Albert Cäsar Henneberg ließ im Park Marienhof Marienterrasse die Burg Henneberg erbauen und den Park im Uhlenhorst, seit 1863, vermutlich benannt Stil eines englischen Landschaftsgartens anlegen. nach Maria, geb. Wollmer, der Ehefrau des Grundeigentümers Söllner Marienring Marienthal, vor 1938. Benennung unklar, wahr- Marienthaler Straße scheinlich in Anlehnung an den Stadtteilnamen Hamm-Nord, seit 1899, benannt nach dem Stadt- Marienthal teil Marienthal. Ein von der Baronin von Kiel- Siehe dazu unter Ü Marienthaler Straße und mannsegg als Witwensitz erbautes Haus gab Marienhöhe, in diesem Band. dem Ort den Namen

So lautet die offizielle Erläuterung zur Straßen- Marienstraße benennung. Nach neuesten Forschungen erklärt Harburg, seit 1860, vielleicht benannt nach dem sich der Ursprung des Namens für den Stadtteil 1844 eröffneten Krankenhaus „Marienstift“ (Lei- Marienthal wohl anders: Zwar heißt es unter tung: Ludolph Gazert) (siehe Ü Gazertstraße, in wikipedia zum Stadtteil Marienthal: „1857 er- Bd. 3 online**) an der Bremer Straße, das nach warb der Grundstücksspekulant Johann Anton der Ehefrau des späteren Königs Georg V. von Wilhelm von Carstenn das Gut Wandsbeck von Hannover benannt wurde Schimmelmanns Nachfahren. Carstenn ließ 1861 das intakte Schloss abreißen und parzellierte Prinzessin Marie von Sachsen-Altenburg (14.4.1818 das gesamte Gebiet, um die Grundstücke ge- Hildburghausen–9.1.1907 Gmunden/Oberöster- winnbringend zu verkaufen. Auf diese Weise reich) lernte im Alter von 21 Jahren den blinden wurde der Bereich erschlossen, es entstand eine Kronprinzen und späteren König Georg V. von Villenbebauung, ein Villenvorort Wandsbeks. Hannover kennen. Vier Jahre später im Jahr 1843, Ebenfalls 1861 beantragte Carstenn, das gesamte heiratete das Paar und Marie von Sachsen-Al- Gebiet Marienthal zu benennen. Er erhielt die tenburg wurde durch diese Heirat die letzte Kö- Genehmigung und der Ort den gewünschten nigin von Hannover (von 1851 bis 1866). neuen amtlichen Namen. Er geht auf die Freifrau Königin Marie von Hannover, die mit ihrem Maria von Kielmannsegg (1643–1709) zurück, Gatten drei Kinder hatte, war Anhängerin des deren Ehemann Friedrich Christian von Kiel- Pietismus. 1859 stiftete sie das in Hannover gele- mannsegg 1684 ganz in der Nähe, am Wands- gene evangelisch-lutherische Diakonissenmut- beker Mühlenteich, einen Witwensitz für seine terhaus mit angeschlossenem Krankenhaus (Hen - Ehefrau errichten ließ.“ riettenstiftung). Doch die Freifrau soll den 1684 erbauten Siehe auch Ü Gazertstraße, Harburg, seit 1950: Witwensitz nie bewohnt haben, schreibt Tatjana Dr. med. L. Friedrich Gazert (1813–1892), Ceynowa in ihrem Buch „Das Wandsbeker Her- Arzt, Armenarzt, Direktor des Krankenhauses renhaus des Heinrich Rantzau“, Kiel 2004. Und Harburg, in Bd. 3 online**. der Autor Alfred Pohlmann äußert: „Über das Haus Marienthal schrieb im Jahre 1773 der

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 317

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Gutsverwalter Richter: ,Das Haus Marienthal (SAJ) und trat mit etwa siebzehn Jahren (1928) allda war an Gastwirte vermietet, welche ein dort wieder aus, weil sie sich an der Bele gung heil loses Handwerk daraus machten, jungen un- der Kredite für den „Panzer kreuzer A“ (später: bändigen Leuten Gelegenheiten zu geben, Ge- „Deutschland“) nicht beteiligen wollte. Als Folge sundheit, Vermögen und Ehre bei liederlichen einer früheren Begegnung mit dem sozialistischen Metzen aufzuopfern.‘“28) Philosophen Leonhard Nelson trat sie 1925 dem Nach Pohlmann soll der „heutige Ortsteil Ma- In ternationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) rienthal (...) mit diesem Haus Marienthal nicht bei, der die „Anpassungs- das geringste zu tun“ haben. In dem von Micha- politik“ der SPD ab lehn- el Pommerening verfassten Buch „Wandsbek. te. Von 1929 bis 1932 war Ein historischer Rundgang“ aus dem Jahre 2000 Marta Damkowski Höre - heißt es, „dass die Namensgebung zumindest rin an der Philosophisch- offiziell [Antrag Carstenns zur Namensänderung Politischen Akademie des vom 18. März 1861: ‚Unter diesen Umständen ISK in Melsungen. Ab 1933 und da ich selbst statt der Bewohnung des Schlos- steuerte der ISK seine Ar- ses schon im vorigen Jahre den Neubau eines beit zunächst vom Aus- bürgerlichen Wohngebäudes für mich vorgezo- land aus. Marta blieb in Marta Damkowski gen habe, glaube ich meinen Wunsch wohl mo- Deutschland und arbeitete tiviert zu haben, indem ich für den neu en und in der Illegalität. Sie musste in diesen Jahren viel völlig umgeschaffenen sogenannten Privat An- reisen und innerhalb Deutschlands oft umziehen theil eine neue Benennung untertänigst vorschla- – von einer illegalen An laufstel le zur nächsten. ge und solche nach dem Namen meines ältesten Damit ihre Arbeit nicht aufflog, musste sie Kindes wähle.‘] nach der ältesten Tochter Car- der Gestapo jeden politischen Freund als ihren stenns [Marie Henriette Martin, geb. Carstenn] neuesten Liebhaber ausgeben. Deshalb galt sie erfolgte. (…) Vermutlich liegt aber dennoch eine dort als Hure und wurde später während ihrer Anlehnung an den in Wandsbek wohlbekannten Haft zeit oft unflätig beschimpft. Namen des Witwensitzes vor.“29) 1937/38 initiierten die Nationalsozialisten Siehe auch Ü An der Marienanlage, Marienring, eine große Verhaftungswelle. Trotz einer ver- in diesem Band. schlüsselten Warnung konnte Mar ta Damkows - ki, die sich damals in Bremen aufhielt, nicht Marta-Damkowski-Kehre mehr rechtzeitig fliehen. Sie, ihr Bruder und auch Bergedorf, seit 1986, benannt nach Marta Dam- ihr späterer Mann – beide Männer gehörten der kowski (16.3.1911 Stade–11.8.1982 Hamburg), SAJ an – wurden verhaftet. Der Volks gerichts hof Politikerin, Widerstandskämpferin, SPD-Bürger- verurteilte Marta Dam kows ki 1938 zu einer ein- schaftsabgeordnete jährigen Gefängnisstrafe wegen „Vor bereitung zum Hochverrat“. Da sie keine Aussagen mach- Marta Damkowski entstammte einer sozialdemokra - te, wurde sie wochenlang in Dunkelhaft gehalten. tischen Arbeiterfamilie. Im Alter von zwölf Jah - 1940, gleich nachdem Marta Damkows ki und ren trat sie den „Kinderfreunden“ bei, später wur - ihr Freund aus der Haft entlassen worden wa ren,

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: de sie Mitglied der Sozialistischen Arbeiter Jugend heirateten sie. 1941 kam ihr Sohn zur Welt. Ihr

28) Alfred Pohlmann: Unser Wands- 2. Aufl. o. J., S. 66. bek. Hamburg 1975, S. 41. 29) Michael Pommerening: Wands- bek. Ein historischer Rundgang. 2. er- weiterte u. vollständig überarbeitete Auflage. Hamburg (1. Auflage 2000), Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 318

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Mann wurde 1944 als Soldat getötet. Nach Kriegs- vierte 1923 mit einer Arbeit über Studien zur Psy - ende trat Marta Damkowski der SPD bei. Von chologie des Erziehers, gilt als Pionierin der öko- 1946 bis 1949 arbeitete sie als Frau en se kretärin logischen Psychologie, nach Entlassung ihres der Hamburger Landesorganisation der SPD. Lehrers Prof. Wilhelm Stern wurde sie 1933 denun - Später war sie als Verwaltungsangestellte der ziert und ihrer Ämter enthoben, zwei Tage nach Gefängnisbehörde tätig und leitete bis 1958 die einem Suizidversuch daran verstorben. Motivgrup - Frauenstrafanstalt Hamburg. Sie war auch we - pe: Verfolgte des Nationalsozialismus sentlich am Aufbau von „pro familia“ und dem Stolpersteine vor dem Wohnhaus Bundesstraße Re ferat „Familienförderung“ in der Sozial be hör- 74 und vor dem Hauptgebäude der Universität de beteiligt und arbeitete in der Arbeitsge mein - Hamburg, Edmund-Siemers-Allee 1. Die Bibliothek schaft Hamburger Frau en organi sa tio nen mit. der Fakultät 4 Erziehungswissenschaft, Psycho - Von November 1946 bis Oktober 1953 gehör te logie und Bewegungswissenschaft der Universi - sie der Hamburgi schen Bür gerschaft an und setz- tät Hamburg, Binderstraße 40, heißt Martha- te sich dort immer wie der für eine grundlegende Muchow- Bibliothek. An der Außenwand der Bib - Reform des Paragra phen 218 ein. Auch stritt sie liothek zum Joseph-Carlebach-Platz hin be fin det im Nach kriegsparlament für eine bessere Nah- sich ein Graffiti des Portraits von Martha Muchow. rungszuteilung für Säuglinge. Neben ihrer par - Seit 2010 gibt es auch die Martha-Muchow-Stif- la men tari schen Arbeit war Marta Damkowski in tung. Sie dient der wissenschaftli chen Forschung der Zeit von 1947 bis 1953 Mitglied im Bun des - mit Schwerpunkt zwischen Kindheitsforschung frauenausschuss, im Parteirat der SPD und ar- und Schulpädagogik. bei tete mit am Godesberger Programm (Frau Erinnerungsstein im Garten der Frauen auf dem und Familie). Noch im Alter war Marta Dam- Ohlsdorfer Friedhof. kowski im Vor stand der Arbeitsgemeinschaft so- zialdemokratischer Frauen Altona, im Distrikts- Martha Muchow war die Tochter von Dorothee vorstand Sülldorf-Rissen und im Landesverband Muchow, geb. Korff, und ihres Ehemannes, des der Arbeiterwohlfahrt Hamburg tätig.30) Zollinspektors Johannes Muchow. Das Ehepaar Siehe auch Ü Curt-Bär-Weg, Bergedorf/Aller- hatte noch ein weiteres Kind. Nachdem Martha möhe, seit 1995: Curt Bär (1901–1981), Lehrer, Muchow 1912 das Abitur gemacht hatte, absol- Mitglied des Internationalen Sozialistischen vierte sie eine einjährige Lehrerinnenausbildung. Kampfbundes (ISK), Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Danach war sie zwei Jahre in Tondern an einer Siehe auch Ü Schärstraße, Bergedorf/Loh- Höheren Mädchenschule tätig. In ihrer Freizeit brügge, seit 1964: Alfred Schär (1887–1937), besuchte sie Vorlesungen von William Stern (ge- Lehrer an der Taubstummenschule in Ham- boren als Wilhelm Louis Stern) (siehe Ü Stern - burg, Gegner und Widerständler gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. twiete, in Bd. 3 online**) am Hamburgischen Ko- lonial-Institut (erste staatliche Hochschule vor Gründung der Universität Hamburg). Das Inte- Martha-Muchow-Weg resse für Psychologie erwachte, als sie sich ab Uhlenhorst, seit 2010 , benannt nach Dr. Martha 1917 an der Ausarbeitung von Beobachtungsbö- Muchow (25.9.1892 Hamburg–29.9.1933 Ham- gen für Intelligenzprüfungen an Schulen betei- burg), Volksschullehrerin, Psychologin, promo- ligte. 1919 nahm sie ihr Studium der Psychologie,

** Band 3 online unter: www.ham- AsF Hamburg 1983, S. 25ff. burg.de/maennerstrassennamen

30) Frauen im Faschismus. Frauen im Widerstand, Hamburger Sozialdemo- kratinnen berichten. Hrsg. von der Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 319

Biographien von A bis Z / M 319

Philosophie, der deutschen Philologie und Lite- ben und dort zu forschen. So schrieb sie im No- raturgeschichte an der frisch gegründeten Ham- vember 1930 aus Washington: „Wenn ich nicht burger Universität auf. In den Jahren davor hatte so tief in meiner Ar beit verwurzelt wäre, könn- sie bereits im Hamburger Schuldienst als Volks- ten mich vielleicht ei nige Angebote verlocken, schullehrerin gearbeitet. William Stern, Professor hier zu bleiben, wenigstens für ein paar Jahre. für Psychologie, wurde schnell auf die Studentin Aber gerade hier mer ke ich doch, wie sehr kul- aufmerksam und erwirkte schon ein Jahr, nach- tur- und schicksalsverwachsen ich im Grunde dem Martha Muchow mit dem Studium begon- bin, so daß selbst ungeahnte Mittel für unge- nen hatte, bei der Schulbehörde ihre Beurlaubung ahnte Forschungsarbeiten mir nichts sagen kön- aus dem Schuldienst, um sie als wis senschaft li - nen; meine ganzen Arbeitsplä ne für die kom- che Hilfsarbeiterin am psychologischen Labora- menden Jah re sind unverpflanzbar (...).“32) torium der Universität einzustellen. 1923 promo - Als Dr. Martha Muchow nach Hamburg zu- vierte Martha Muchow mit einer Arbeit über rückkehrte, musste sie mit Schrecken die Macht- „Stu dien zur Psychologie des Erziehers“. Die übernahme durch die Nationalsozialisten mit- Forschung auf dem Gebiet der Psychologie hatte er leben: Die Freiheit der Leh re und Forschung in dieser Zeit eine große Wandlung genommen gab es nicht mehr, und die politische Entwick- – weg von der zergliederten, von naturwis sen- lung wirkte sich zuneh- schaftlich-experimentellen Methoden beeinfluss - mend be drohlich und da - ten Forschung in Einzeldisziplinen hin zu einer mit ne ga tiv auf die Arbeit Betrachtung des Menschen in seiner Gesamtheit. am Psychologi schen Insti- Zudem gewann William Sterns kinder- und ju- tut aus. Es kam zu diver- gendpsychologischer Forschungsschwerpunkt sen Zusam menstößen mit immer mehr an Bedeutung. der Landesunter richts be - Beeinflusst von all diesen Forschungsansät- hörde, da Dr. Martha Mu- zen arbeitete Dr. Martha Muchow u. a. darauf chow die von den Natio- hin, dass in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung nalsozialisten geforderten ein sozialpädagogisches Praktikum eingeführt Erziehungsmethoden aus Martha Muchow-Büste, Universität Hamburg wurde. „Seit 1926 war Martha Muchow ständige huma nistischen Gründen Mitarbeiterin der renommierten Fachzeitschrift nicht mittragen wollte. Ihr physischer und psy- ‚Kindergarten‘. Parallel dazu hatte sie engen chischer Zustand wurde immer schlechter; sie Kontakt zur Fröbel-Bewegung und zum Ham- war überarbeitet, gönnte sich jedoch keine Er ho- burger Fröbel-Seminar, wo sie Psychologie un- lungspause. Als dann am 9. April 1933 auch noch terrichtete.“31) ihre Mutter starb, fühlte sie starke Verzweif lung Während ihrer Tätigkeit am Psychologi- und war am Ende ihrer Kräfte. Doch zur Trau er schen Institut erhielt Dr. Martha Muchow die und zum Rückzug hatte sie keine Zeit, keine Gelegenheit, in den USA die amerikanischen Möglichkeit. Täglich kamen verzweifelte Men- Methoden der psychologischen Forschung ken- schen zu ihr, Verfolgte und Geächtete. nenzulernen und dort in verschiedenen Groß- „Als nach der Machtübernahme der Natio- städten über ihre eigene Arbeit zu berichten. Sie nalsozialisten ihr Lehrer William Stern entlassen

Abb.: Martha-Muchow-Bibliothek der Universität Hamburg, Künstlerin: Karin Bohrmann Künstlerin: Karin Martha-Muchow-Bibliothek Hamburg, der Universität Abb.: bekam mehrere Angebote, in den USA zu blei- wurde, denunzierte man sie in einem Brief vom

31) wikipedia: Martha Muchow, Stand: 6.8.2011. 32) Angela Bottin: Enge Zeit, Spuren Vertriebener und Verfolgter der Ham- burger Universität. Berlin 1992, S. 43. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 320

320 Biographien von A bis Z / M

10. Juli 1933 als ‚Judengenosse‘: ‚Fräulein Dr. Mary Marcus wuchs in finanziell bescheidenen Mu chow, die engste Vertraute von Prof. Stern, Verhältnissen auf. Schon als Kind musste sie die die ihn auch heute täglich besucht und mit ihm Benachteiligung und Zurücksetzung als Jüdin, alle Pläne ausarbeitet, ist die gefährlichste. Sie als Mädchen und als Kind armer Eltern erleben, war aktives Mitglied des marxistischen ‚Weltbun- schreibt Ursula Randt.34) des für Erneuerung der Erziehung‘ (…). Ihr Ein- Mary Marcus’ schulische und pädagogische fluß ist unheilvoll und einer deutschen Staats- Lauf bahn verlief wie folgt: 1851 bis 1859 Besuch auffassung direkt zuwiderlaufend.‘“33) der Töchterschule von Fräulein Johanna Lenning Zu ihrem 41. Geburtstag am 25.9.1933 er- und zusätzlicher Besuch des Seminarkurses von hielt Martha Muchow den Bescheid, das Insti - Herrn Voß. Von Oktober 1859 bis März 1862 un - tut, in dem sie als wissenschaftliche Rätin tätig terrichtete sie an der hö heren Töchter schule von war, zu verlassen und in den Schuldienst zu- Fräulein Min na Sam son. Zwischen 1862 und rückzukehren. Zutiefst erschüttert äußerte sie 1868 Erzieherin bei der Familie S. Spitz in Brünn. zwar noch den Wunsch, eine Anfängerklasse zu Ab April 1868 Schulvorsteherin der Isra eli tischen übernehmen – aber in Wahrheit sah sie wohl Mädchenschule von 1798. Ab 1. April 1884 zu- keine Perspektiven mehr für sich. Zwei Tage sammen mit Mathilde Lippmann Direktorin der nach ihrer Suspendierung wurde sie bewusstlos zur selben Zeit eröffneten Israelitischen Töch ter - in ihrer Wohnung in der Bundesstraße 78 aufge - schu le der Deutsch-Israelitischen Ge meinde in funden. Sie starb zwei Tage später im Jerusalem- Hamburg. Die Schule in der Karolinenstraße 35 Krankenhaus an den Folgen ihres Versuches, setzte sich aus der israelitischen Mädchenschule sich das Leben zu nehmen. von 1798 und der Armen-Mädchenschule der Siehe auch Ü Sterntwiete, Bergedorf/Lohbrüg- Deutsch-Israelitischen Gemeinde von 1818, von ge, seit 1964: Prof. Dr. William Stern (1871– der Mathilde Lippmann kam, zusammen. 1938), Mitbegründer der Universität Hamburg. Das Amt einer Schulvorsteherin war damals Verfolgter des Nationalsozialismus. Siehe in Bd. 3 online**. etwas Besonderes. Denn die Leitung staatlicher Schulen hatten ausschließlich Männer. Ursula Randt schreibt: „Die Israelitische Töchterschule Marthastraße war von den 113 Schulen, die der Aufsicht der Eimsbüttel, seit 1870, vermutlich benannt nach II. Sektion der Oberschulbehörde unterstellt wa - einer dem Geländebesitzer Adolph Hermann ren, nach Klassen- und Schülerinnenzahl die um - Meißner nahestehenden Person fangreichste.“35) Auf die neue Schule gingen Siehe auch Ü Meißnerstraße, Eimsbüttel, seit mehr als 500 Schülerinnen, die zwischen sechs 1867: Adolf Hermann Meißner (1816–1880), und vierzehn Jahre alt waren und aus der ärme- Grundeigentümer, in Bd. 3 online**. ren Bevölkerungsschicht kamen. Mary Marcus strebte eine gründliche Ausbildung der Mädchen Mary-Marcus-Kehre an, denn nur so sah sie eine Chance für diese, Bergedorf, seit 1985, benannt nach Marianne aus ihrer sozialen Schicht aufzusteigen. Mary Marcus (16.8.1844 Hamburg–22.4.1930), Direk- Mar cus zeichnete Strenge, Korrektheit, aber auch torin der Israelitischen Töchterschule. Motiv- Zartgefühl und Behutsamkeit aus. Neuen Unter-

gruppe: Verdiente Frauen richtsmethoden stand sie aufgeschlossen gegen- Alberto-Jonas-Haus Töchterschule, Dr. Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- Beitrag zur Erforschung der frühkind- schule der Deutsch-Israelitischen Ge- burg.de/maennerstrassennamen lichen Sozial-, Denk- und Bewusst- meinde in Hamburg 1884–1942. Ham- seinsentwicklung. Unveröffentlichte burg 1996. 33) wikipedia: Martha Muchow, Diplomarbeit. München 2001, S. 197. 35) Ursula Randt, a. a. O. Stand: 6.8.2011 und zitiert nach: Karl- 34) Vgl. Ursula Randt: Carolinen- Heinz Hitze: Martha Muchow und ihr straße 35. Geschichte der Mädchen- Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 321

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über. Besonderen Wert legte sie auf freies und vermachten die Niendorfer Bauern Ulfer und Sig- fließendes Sprachvermögen der Kinder. Der frid der Eppendorfer Kirche eine Geldrente zum Lehrplan reichte über den der staatlichen Ham- Andenken an ihre Eltern Ulfer und Mechthild burger Volksschulen hinaus. Neben Hebräisch wurde Englisch und Literatur und als Wahlfach Französisch gelehrt. 1930 erfolgte die offizielle Meckelburgsweg Veddel, seit 1922, benannt zu Ehren des Veddeler Anerkennung als Real- Brauereibesitzers Johann Andreas Paul Meckel- schule. Nach dem Tod burg und seiner Schwester Margarete, die 1882 von Mathilde Lippmann ein nicht unbedeutendes Vermögen stifteten, da - leitete Mary Marcus die mit aus den Zinsen unbescholtene, unverschuldet Schule allein weiter. Sie in Not geratene oder arbeitsunfähige Personen, trat erst im Alter von 80 die auf dem Stadtdeich, in der anliegenden Straße Jahren, 1924, in den Ru- und auf der Veddel wohnten, unterstützt wurden hestand. Ihr Nachfolger wurde Dr. Alberto Jonas Mary Marcus (siehe Ü Marie-Jonas-Platz, Meriandamm in diesem Band). Billstedt, seit 1948, benannt nach dem Radierer Zu ihrem Abschied erhielt sie die Urkunde und Kupferstecher Matthäus Merian. 2001/2002 einer „Mary-Marcus-Stiftung“, die, wie Ursula ergänzt um die ebenso bedeutende Tochter Maria Randt schreibt, „aus Beiträgen des Schulvorstan- Sibylla Merian. Neuer Erläuterungstext: benannt des, ehemaliger Lehrer, Schülerinnen und Freun- nach Matthäus M. (1593–1650), Kupferstecher, de der Jubilarin hervorgegangen war; das Geld Verleger und Schöpfer zahlreicher Stadtansichten, war für die berufliche Fortbildung von Schüle- und dessen Tochter Maria Sibylla M. (2.4.1647 rinnen der Israelitischen Töchterschule nach Frankfurt a. M.–13.1.1717 Amsterdam), Forscherin, 36) dem Schulabschluß bestimmt“. Blumen- u. Insektenzeichnerin, Herausgeberin, Au- Siehe auch Ü Marie-Jonas-Platz, in diesem torin und Illustratorin von Büchern über Insekten Band. Bekannt als Naturforscherin wurde die Tochter des berühmten Kupferstechers und Verlegers Mat - Mathildenstraße thäus Merian der Ältere und seiner Frau Johan - St. Pauli, seit 1865, wahrscheinlich benannt nach na Catharina Sibylla Heim durch die Veröffent- der Schwägerin oder der Nichte des Grundeigen - lichung ihres Werkes „Der Raupen wunderbare tümers Eduard Buhbe Verwandlung und sonderbare Blumennahrung“ im Jahre 1679 (Teil 1) und 1683 (Teil 2). Maria Sibylla, deren Vater starb, als sie drei Mechthildweg Jahre alt war, erhielt ersten Malunterricht von Niendorf, umbenannt 1948. Früherer Name: Quel- ihrem Stiefvater, dem Stilllebenmaler J. Marell. lental, benannt nach Mechtildis, Bäuerin in Nien- Dieser betrieb in Utrecht noch einen Kunsthan- dorf vor 1347. Mechthild ist vermutlich eine der del und hielt sich deshalb wenig in Frankfurt ältesten Niendorfer Hufnerinnen. Weit vor 1347 auf, wo Sibylla mit ihrer Mutter lebte.

36) Ursula Randt, a. a. O. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 322

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Sibyllas Mutter unterstützte die künstleri- ihr Stiefbruder Caspar wohnte. Dieser war es sche Begabung ihrer Tochter nicht. Deshalb ko- auch gewesen, der seine Schwester auf diese Le- pierte Sibylla oft heimlich in einer Dachkammer bens- und Wohngemeinschaft aufmerksam ge- Kunstblätter und bildete sich so selbst weiter macht hatte. „Das Schloss gehörte drei Schwes- fort. Künstlerischen Unterricht erhielt sie später tern des Gouverneurs von Surinam, Cornelis van von einem Schüler ihres Stiefvaters. Aerssen van Sommelsdijk; sie hatten es der früh- Sibylla begann, Seiden- und andere Raupen pietistischen Sekte der Labadisten als Zufluchts- zu züchten. Sie malte Raupen, Käfer und Schmet - ort zur Verfügung gestellt. Die etwa 350 Personen terlinge und ergänzte z. B. ihre Blumenbilder der Kolonie fühlten sich urchristlichen Idealen damit. verpflichtet, jenseits der naturfernen Orthodoxie Mit achtzehn Jahren heiratete sie den zehn der Amtskirche. Al ler dings hatte sich gerade Jahre älteren J. A. Graff, einen Schüler ihres Va- diese Gruppe unter Leitung ihres Predigers Yvon ters, zog mit ihm in seine Heimatstadt Nürnberg, (…) zu einer strengen, moralisch engherzigen, bekam zwei Kinder und gründete eine Mal- und dabei zu schwärme rischer Übertreibung neigen- Stickschule für Mädchen. den Gemeinschaft entwickelt, die Merians We- Ihr „als Frau [waren] in der Freien Reichs- sen kaum entsprach. Sie nahm denn auch in der stadt Nürnberg beruflich enge Grenzen gesetzt. Kolonie eine gewisse Sonderstellung ein. Ihren Die ‚Maler-Ordnung‘ vom Ende des 16. Jahrhun- Töchtern vermittelte sie ei - derts erlaubte es nur Männern, mit Ölfarben auf ne umfassende künstleri- Leinwand zu malen, und sicherte ihnen damit sche Ausbildung, (…) be - jene Aufträge, die Ansehen und gute Einkünfte gann all mählich wieder, versprachen. Frauen durften allenfalls kleine For- Schmetterlinge und Blu- mate bearbeiten, mit Aquarell- und Deckfarben men zu malen und stu- auf Papier oder Pergament. Zur Haupteinnah - dierte die Sammlung exo- mequelle der Familie wurde schließlich der Han- tischer Schmetterlinge aus del mit Farben, Firnis und Malutensilien, den Surinam, die sie in Waltha Maria Sibylla Merian betrieb. Sie übernahm da- vorfand. Nach dem Tod neben eine Vielzahl von Auftragsarbeiten, stick- ihrer Mutter – ihr Stiefbru- te zum Beispiel Seidendecken oder bemalte Ta- der war schon 1686 ge- Maria Sibylla Merian feltücher für die Patrizierhaushalte der Stadt.“37) storben – verließ sie die Nachdem ihr Stiefvater 1681 gestorben war, Gruppe der Labadisten“38) und zog 1691 mit zog Maria Sibylla Merian mit ihren zwei Töch- ihren Töchtern nach Amsterdam, wo sie einen tern nach Frankfurt zu ihrer Mutter, um ihr zu Handel mit gefärbten Stoffen und selbst herge- helfen und zu unterstützen. stellten Farben betrieb. Sibylla Merian war 53 Vier Jahre später trennte sich Maria Sibylla Jahre alt, als sie – unterstützt durch die Stadt Merian von ihrem Mann und zog mit ihrer Mut- Amsterdam – mit einer ihrer Töchter nach Suri- ter und den Kindern nach Schloss Waltha im nam segelte. Dort verbrachte sie zwei Jahre mit niederländischen Westfriesland, wo sie in der Sammeln, Präparieren und Zeichnen von Tie- Gemeinschaft der pietistischen Labadisten leb- ren. 1705 veröffentlichte sie ihre Ergebnisse in ten und wo bereits seit einigen Jahren ebenfalls dem Buch „Metamorphosis Insectorum Surina-

37) http://de.wikipedia.org/wiki/ Maria_Sibylla_Merian (Stand: 4.3.2015) 38) Ebenda. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 323

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mensium“. Diese erste wissenschaftliche Arbeit viens durch Übersetzungen dem deutschen Pub- über Surinam/Süd amerika enthält 60 Kupfersti- likum zugänglich zu machen. che. Sibylla Merian wurde zu einer bedeutenden Johanna Mestorf war Mitglied der Anthro- Kupferstecherin und Forscherin. pologischen Gesellschaft und später Gründerin „1717 im Alter von 69 Jahren [starb sie] in seines Schleswig-Holsteinischen Zweigvereins. Amsterdam. Zwei Jahre zuvor hatte sie einen Sie nahm 1869 am anthropologischen Kongress Schlaganfall erlitten und konnte sich danach nur in Kopenhagen teil, und der Hamburger Senat noch im Rollstuhl fortbewegen. Im Totenregister schickte sie 1871 als Vertreterin zum Anthro- wurde sie als ‚unvermögend‘ bezeichnet, man pologenkongress nach Bologna. Ihren Lebens- beerdigte sie in einem Armengrab, das heute unterhalt verdiente sie in dieser Zeit als Sekre- nicht mehr aufzufinden ist.“39) tärin für die ausländische Korrespondenz bei der Hamburger Lithographischen Anstalt C. Adler. Da Frauen erst 1900 Zugang zur Universität Mestorfweg bekamen, hatte Johanna Mestorf sich ihre archä- Sülldorf, seit 1953, benannt nach Johanna Mes- ologischen Kenntnisse autodidaktisch aneignen torf (15.4.1828 Bramstedt–20.7.1909 Kiel), „Fräu- müssen. Zu Beginn der 1870er-Jahre war ihr wis- lein Professor“, Direktorin des Schleswig-Holstei- senschaftliches Ansehen bereits so hoch, dass nischen Museums für vaterländische Altertümer sie 1873, als 45-Jährige, Kustodin am Muse um für in Kiel vaterländische Altertümer in Kiel wurde. Als ihr Vorgesetzter, Professor Handelmann, 1891 starb, Johanna Mestorf war das vierte von neun Kindern wurde Johanna Mestorf zur Direktorin des Mu- von Anna Maria Sophia Mestorf, geb. Rosen, und seums ernannt und erhielt im Alter von 71 Jah- des Arztes Jacob Heinrich Mestorf. Der Vater ren den Titel „Professor“. Johanna Mestorf war widmete sich mit Leidenschaft der Altertums- die erste Frau, die in Preußen einen Professoren- forschung, was seine Tochter Johanna sicherlich titel bekam. Sie wurde außerdem von der medi- beeinflusste. Er starb, als Johanna neun Jahre zinischen Fakultät der Universität Kiel anlässlich alt war. Johannas Mutter zog mit ihren fünf Kin- der Vollendung ihres 81. Lebensjahres zum Ehren- dern nach Itzehoe. Dort besuchte Johanna das doktor ernannt. Weiter besaß sie die ihr von der Blöckersche Institut und zog mit zwanzig Jahren Kaiserin verliehene silberne Frauenverdienst- als Gesellschafterin und Erzieherin nach Schwe- Me daille am weißen Bande, die kleine goldene den zum Grafen Piper-Engsö. Hier lernte sie die Medaille für Wissenschaft und die schwedische Archäologie Germaniens und nordische Sprachen Medaille der Gemahlin König Oskars I. kennen. Wegen ihrer zarten Gesundheit musste Neben ihrer Tätigkeit als Direktorin förderte sie Schweden nach einigen Jahren verlassen und sie die Wissenschaft durch eine umfangreiche lebte eine Zeit lang als Begleiterin der Gräfin literarische Tätigkeit. Neben Übersetzungen der Falletti di Villa Felletto in Italien. 1859 zog sie Arbeiten nordischer Gelehrter auf archäologi- mit ihrer Mutter zu ihrem Bruder nach Hamburg. schem und anthropologischem Gebiet lieferte Hier beschäftigte sie sich vornehmlich mit My- Johanna Mestorf zahlreiche eigene Arbeiten, thologie und Archäologie und machte sich zur von denen eine ganze Reihe, namentlich dieje-

Abb.: De groote Schouburgh, Der Nederlantsche Konstschilders En Konstschilderessen, HET III. Deel, S. 220, Amsterdam 1721/Ham burger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Kunsthalle, HET burger III. Konstschilderessen, En 1721/Ham Deel, S. 220, Amsterdam Konstschilders Der Nederlantsche Schouburgh, De groote Abb.: Aufgabe, die archäologische Literatur Skandina- nigen über Moorleichen, weit über den Kreis der

39) Ebenda. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 324

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Fachgelehrten hinaus Aufsehen erregten, so z. B. Mette-Harden-Straße ihre Werke „Urnenfriedhöfe in Schleswig-Hol- Kirchwerder, seit 1995, benannt nach Mette Har- stein“ und „Vorgeschichtliche Altertümer aus den, Einwohnerin aus Kirchwerder-Sande. 1612 Schleswig-Holstein“. der Zauberei angeklagt und gefoltert, beteuerte Eigene Ausgrabungen führte Johanna Mes- standhaft ihre Unschuld torf nicht durch. Neben ihren wissenschaft- lichen Veröffentlichungen schrieb sie im Alter Mette Harden geriet in die Mühlen des Gerichts, von 39 Jahren einen Roman mit dem Titel „Wie- als Joachim Witte aus Kirchwerder angeklagt beke Kruse, eine holsteinische Bauerntochter“. war und während seiner Gerichtsverhandlungen Erst drei Monate vor ihrem Tod, im Juli 1909, Mette Harden als Zauberin beschuldigte. trat sie von ihrem Amt als Direktorin des Mu- Wie kam es dazu? Joachim Witte hatte ge - seums zurück. gen den Landvogt von Kirchwerder geklagt, weil In einem Nachruf brachte der Hamburgi- dieser ihn einen Zauberer, Schelm und Dieb sche Korrespondent vom 22. Juli 1909 Johanna genannt hatte. Im Laufe des Prozesses wurde Mestorf in Beziehung zur modernen Frauenbe- der Ankläger Witte jedoch selbst zum Angeklag - wegung bzw. grenzte sie davon ab: „Mit ihr ist ten, denn der Landvogt konnte seine einst gegen eine Frau dahingegangen, die, der modernen Witte vorgetragenen Beschuldigungen glaub haft Frauenbewegung fernstehend, durch ihren Geist machen. Unter der Folter gestand Witte, Vieh- und ihre unermüdliche Tatkraft gezeigt hat, daß verzauberungen begangen zu haben, und be- die wirklich talentierte, ernst schreibende Frau schuldigte drei Frauen der Zauberei, unter ihnen zu den höchsten Leistungen befähigt ist auch Mette Harden. Nach seinen Aussagen hatte sie auf solchen Gebieten, die sonst den weiblichen ein Strohbündel als Zaubermittel benutzt, wel- Interessen im allgemeinen fernliegen.“ ches Joachim Witte auf ihr Verlangen hin auf Auch ihr Mitarbeiter und Nachfolger, Dr. das Land des Landvogts gelegt hatte. Den Grund Fried rich Knorr meinte wohl, seine Kollegin ge - für Mettes Schadenszauber gegen den Landvogt gen die frauenbewegten lieferte Witte gleich mit: Mettes Sohn hatte vor Frauen ab grenzen zu müs- einigen Jahren den Bruder des Landvogts totge- sen. So heißt es in seinem schlagen und wurde seitdem vom Landvogt ver- Nachruf über Johanna folgt. Mette Harden wollte sich dafür rächen. Mes torf: „Sie hat, abseits Den der Zauberei beschuldigten Frauen stehend von der lauten wur de der Prozess gemacht. Die Frauen blieben modernen Gleichberech ti - jedoch unter der Folter standhaft und beteuerten gungs bestre bung der Frau - immer wieder ihre Unschuld. Daraufhin wandte en, aus sich heraus ein sich der Amtmann an das Lübecker Gericht und neues Maß geschaffen für bat um weitere Instruktionen. Das Gericht unter- die Beurteilung der Leis- suchte den Fall und stieß auf eine Ungeheuer- tungsmöglichkeit ih res Ge- lichkeit: Ohne Indizien und ohne wohlbeleum- schlechts.“40) dete Zeugen angehört zu haben, war es zu den Folterungen gekommen. Da das Gericht niemals

Johanna Mestorf nur allein dem Ankläger hätte glauben dürfen, Gottorf Schloss Landesmuseum Archäologisches Abb.:

40) Nicolaus Dethlefsen: Johanna Mestorfs Grab auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, in: Die Heimat, Nr. 9/10. Jg. 82. 1975. Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 325

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wurden die drei Frauen freigelassen. Aber damit te wegen Zauberei angeklagte Hamburgerin. Sie war die Sache noch nicht erledigt. Selbst als der wurde am 22.8.1642 zum Tod durch das Feuer alte Witte seinen Tod nahen fühlte, blieb er bei verurteilt. seinen Beschuldigungen gegen die drei Frauen. Zwischen 1444 und 1642 wurden in Ham- Diese Standhaftigkeit angesichts des Todes war burg mindestens 40 Frauen durch das städtische für Bürger und Landleute der Beweis, dass die Gericht wegen Schadenzauber bzw. Teufelspakt drei Frauen doch schuldig sein müssten. Die verurteilt. Stimmung in der Bevölkerung war aufgewühlt Die systematische Hexenverfolgung begann und man stachelte sich gegenseitig auf. Als die Ende des 15. Jahrhunderts mit der Verbreitung Frauen aus dem Gefängnis entlassen werden des Hexenhammers (1487). In den auf Denun- soll ten, schalten die Landleute die Frauen „Zau- ziation und Folter beruhenden Prozessen wur- bersche“ und bedeuteten ihnen, dass sie im den den Angeklagten neben dem Schadenzau- Land unerwünscht seien. Selbst die Androhung ber der Pakt und der Beischlaf mit dem Teufel, einer Geldstrafe seitens der Obrigkeit konnte die der Hexenflug und der als Hexensabbat bezeich- Landleute nicht davon abhalten, mit ihren Be- nete Tanz mit anderen „Hexen“ vorgeworfen. schuldigungen aufzuhören. Der Zorn gegen die In Mitteleuropa fanden 50 000 bis 60 000 Frauen war so massiv, dass der Amtmann sich „Hexen“ und „Zauberer“ im 16. und 17. Jahrhun- gezwungen sah, die Frauen weiterhin gefangen dert den Tod. Das Heilige Römische Reich bil- zu halten. Doch die Obrigkeit bestand darauf, dete das Zentrum der Verfolgung; hier wurden die Frau en freizulassen. Die Landleute hingegen zwischen 20 000 und 30 000 Menschen hinge- forderten einen neuen Scharfrichter, der die richtet. Die meisten Opfer waren Frauen. Frauen befragen sollte. Die Gerichtsbarkeit ließ Heute erinnern diverse Ortschaften und Städ- sich jedoch nicht beirren und entließ die Frauen te in Deutschland an die unschuldig hingerich- aus dem Gefängnis. Es kam zum Tumult. teten Opfer der Hexenprozesse. Dort ist eine Die Landleute wandten sich nun selbst an Rehabi litation der als so genannte Hexen hinge- die Lübecker Obrigkeit und verlangten eine er - richteten Frauen durch die Stadtverordnetenver- neu te Inhaftierung und peinliche Befragung der sammlung und durch Kirchen erfolgt. Der Verein Frauen oder deren Landesverweis. Doch die Lü- Garten der Frauen gedenkt seit Juni 2015 mit becker Obrigkeit blieb hart, denn hätte sie solch einem im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer einem Begehren stattgegeben, wäre ihre Auto- Friedhof aufgestellten Erinnerungsstein der in rität untergraben gewesen und ihre Beamten Hamburg als Hexen beschuldigten und getöteten hätten in Zukunft ihrer Pflicht nach Ausführung Frauen. der von der Gerichtsobrigkeit erlassenen Rechte Frauen wurden als Hexen beschuldigt, weil nicht mehr nachkommen können. Die aufrühre- sie als Sündenziegen für Alltagsängste und gesell - rischen Landleute mussten empfindliche Geld- schaftliche Missverhältnisse in einer patriarchal strafen zahlen. strukturierten Gesellschaft herhalten mussten. Katherina Hane war die erste urkundlich In solch einer Gesellschaft ist es nicht verwun- überlieferte wegen Zauberei verurteilte Hambur- derlich, dass allen Frauen von Natur aus der gerin. Sie wurde 1444 auf dem Scheiterhaufen Hang zum Bösen nachgesagt wurde, so wie es verbrannt. Cillie Hempels war die letzte bekann - die beiden deutschen Dominikanermönche in Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 326

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ihrem 1486 verfassten Hexenhammer verbreite- rungsmodell herangezogen wurde, um Un glücks - ten. Schließlich seien die Frauen Töchter Evas, fälle und Konflikte in der Nachbarschaft zu deu- die sich im Paradies von der Schlange hatte ver- ten. Häufig wurden heilkundige Frauen beschul - führen lassen. Daher seien die Frauen auch für digt; zu ihnen gehörte Katherina Hane. Auch der den Einfluss des Teufels und damit der Hexerei evangelische Reformator Bugenhagen (siehe Ü besonders empfänglich. Bugenhagenstraße, in Bd. 3 online**), der 1528 Vor diesem Hintergrund galt die Frau an nach Hamburg gezogen war, kam dort mit den sich als die Wurzel vieler Übel. Und so konnten damaligen Hexenverfolgungen ins Gehege, denn Männer in ihrer Angst, die Macht über die seine Köchin wurde der Hexerei beschuldigt. Frauen zu verlieren, diese leicht der Hexerei be- Abelke Bleken (siehe Ü Abelke-Bleken-Ring, schuldigen. So wurden zum Beispiel Frauen, so- im Nachtrag dieses Bandes) aus Ochsenwerder bald die wachsende Rivalität zwischen männ- wurde am 18. März 1583 als Hexe verbrannt. Sie lichen und weiblichen Tätigkeiten als bedrohlich soll ein Viehsterben auf dem Landsitz des Ham- erlebt wurde, schnell als zerstörerische Wesen burger Ratsherrn Johann Huge sowie Krankhei- gebrandmarkt. Davon betroffen waren tüchtige ten und einen Todesfall im Haus des Ochsen- Geschäftsfrauen, die Männern Konkurrenz mach- werder Vogts Dirick Kleater verursacht haben. ten, oder heilkundige, mit speziellem Wissen Abelke hatte ihr Hab und Gut an die Geschädig- ausgestattete Frauen. ten abgeben müssen und sich – in den Augen Zahlreiche der Hexerei beschuldigte Frauen der Zeitgenossen – für ihre Not gerächt. in Europa waren unverheiratet oder Witwen, Metke Poleuer wurde im Januar 1591 zum lebten allein, isoliert von der patriarchalen Ge- Tod durch Verbrennen verurteilt, obwohl sogar sellschaft und waren deshalb extrem gefährdet, angesehene Stadtbewohner bei ihr Rat gesucht wenn sie aus der Norm fielen. Aber auch Frauen hatten. nach der Menopause, sehr arme, sehr reiche, sehr Lemke Meyer wurde wegen Weiden- und schöne oder rothaarige sowie zugezogene Frau- Viehzauber im November 1594 zum Feuertod en, deren fremde Sitten und Gebräuche oft als verurteilt. befremdlich empfunden wurden, – kurzum ei- Im Jahre 1606 verurteilte das städtische Ge- gentlich jedes weibliche Wesen, das die vorge- richt Engel Reimers zum Feuertod. Die der He- schriebenen Verhaltensnormen im Allgemeinen xerei Angeklagte Anneke Petersen starb 1610 in und die Regeln sexueller Kontrollierbarkeit im der Fronerei, dem Hamburger Untersuchungsge- Besonderen überschritt, war gefährdet, als Hexe fängnis, vermutlich an den Folgen der Folterun- beschuldigt zu werden. gen. Dennoch sollte die Leiche „zum Abscheu Die Strategie, die Frauen der gesellschafts- und zum Exempel“ verbrannt werden. Von An- bedrohenden Hexerei zu beschuldigen, wurde neke weiß man, dass sie Ilsabe Duckers einen im frühen Europa oft schematisch auf von der Beutel Rattengift verschafft hatte. Ilsabe soll Norm „abweichende“ Frauen angewandt – ein damit vorgehabt haben, die Ehefrau ihres Ge- Mechanismus, der in verschiedenen anderen liebten aus dem Weg zu räumen. Gesellschaften bis heute lebendig ist. Das letzte Hamburger Prozessopfer war Im Zentrum der überlieferten Hamburger Cillie Hempels. Sie hatte ein unglückliches Ehe- Pro zesse stand der Schadenzauber, der als Erklä- leben geführt und war 1642 in diesem Zusam -

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menhang der Zauberei beschuldigt und hinge- Über Paulas Mutter bestanden freundschaft- richtet worden. liche Kontakte zu Künstlerkreisen. Paula be- schloss im Alter von sechzehn Jahren, nachdem Wesentliche Informationen von Roswitha Rogge sie 1892 in Bremen Zeichenunterricht genom- Siehe auch Ü Hexenberg, Hexenstieg, Hexen - men und 1892/93 während eines Aufenthaltes twiete, in diesem Band und Abelke-Bleken- bei ihrer Tante in London die School of Arts be- Ring im Nachtrag. sucht hatte, ein eigenständiges Leben als Künst- Siehe auch Ü Bugenhagenstraße, Altstadt, seit lerin zu führen. Doch besonders ihr Vater wollte, 1909: Prof. Dr. Johannes Bugenhagen (1484– 1558), Theologe, Freund Luthers, Reformator, dass sie zuerst einmal in Bremen das Lehrerin- in Bd. 3 online**. nenseminar absolvierte, damit sie sich selbst er- Siehe auch Ü Teufelsbrück, in Bd. 3 online**. nähren könne. Nach Abschluss des Lehrerinnen- examens im Jahre 1895 studierte Paula von 1896 bis 1897 in Berlin an der Zeichen- und Malschu le Modersohnstraße des Berliner Künstlerinnenvereins, da an staat li - Wilhelmsburg, seit 1951, benannt nach Paula chen Akademien keine Frauen zugelassen waren. Mo dersohn-Becker (8.2.1876 Dresden–20.11. 1897, als sich die finanzielle Situation des 1907 Worpswede), Malerin. Motivgruppe: Vaters verschlechtert hatte, bat er seine Tochter, Worpsweder Künstlerkreis eine Gouvernantenstelle anzunehmen. Doch Pau- la Becker hatte Glück: sie brauchte solch eine Das Gesamtwerk von Paula Modersohn-Becker um- Stelle nicht anzutreten, denn sie erhielt eine fasst rund 750 Gemälde, mehr als 1000 Hand- kleine Erbschaft und von einem Onkel einen fi- zeichnungen und 13 Radierungen. Doch zu ih- nanziellen Zuschuss für drei Jahre. Damit waren ren Lebzeiten konnte sie nur ein einziges Bild die nächsten Jahre finanziell gesichert. So nahm verkaufen. Paula Becker 1898 in Worpswede Unterricht bei Paula Becker entstammte bürgerlichen, aber Fritz Mackensen. Die Werke der Worpsweder nicht wohlhabenden Verhältnissen. Ihr Vater Ma ler hatte sie bereits drei Jahre zuvor kennen- Carl Woldemar Becker war Ingenieur, ihre Mut- gelernt, als diese in der Bremer Kunsthalle aus- ter Mathilde kam aus der thüringischen Adels- gestellt worden waren. familie von Bültzingslöwen. Das Ehepaar Becker Paula Becker war fasziniert von der Worps- hatte sieben Kinder; Paula war das dritte. weder Landschaft mit seinen Birken, dem Moor, Weil ihr Onkel Oskar Becker, der Bruder den Weiden, und angetan von der ärmlichen ihres Vaters, 1861 ein Attentat auf den damali- bäuerlichen Bevölkerung, so dass sie im Herbst gen König Wilhelm von Preußen verübt hatte, 1898 ganz nach Worpswede zog. Dort gab es be- verlor Paulas Vater seine Beamtenstelle. Die Fa- reits einige Frauen, die der Malkunst nachgingen. milie zog daraufhin 1888 nach Bremen, wo Carl Verächtlich wurden sie „Malweiber“ genannt. Woldemar Becker eine Anstellung als Baurat er- „Die männlichen Künstler schätzen die Einnah- hielt. Die Familie wohnte in einem Haus an der men durch Schülerinnen und wissen das Ange- heutigen Schwachhauser Heerstraße (damals bot an Heiratskandidatinnen zu nutzen. An das Hausnummer 23). Dort hatte Paula auch ihr ers- Talent der Frauen glauben nur wenige. Auf An- tes Atelier. raten Heinrich Vogelers [siehe Ü Vogelerstraße, in

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Bd. 3 online**], jedoch ohne Erfolg, beteiligt Pau - Otto Modersohn. Nun hatte sie die Pflichten la sich an Wettbewerben und fertigt Werbegra- einer Hausfrau und Mutter für Modersohns fiken im Jugendstil an. Zuspruch erhält sie auch Tochter zu übernehmen. Gleichzeitig behielt sie durch Otto Modersohn, dessen junge Frau an ihr Atelier bei Brünjes in Ostendorf bei Worps- Tuberkulose erkrankt ist, und durch den Mu- wede und arbeitete dort täglich bis zu acht Stun- seumsdirektor Gustav Pauli, der im Dezember den. „(…) denn daß ich mich verheirate, soll 1899 drei ‚Schülerinnen‘ aus Worpswede, Marie kein Grund sein, dass ich nichts werde“, war ihr Bock, Clara Westhoff und Paula Becker, in der fester Wille und Entschluss. Bremer Kunsthalle präsentiert“,41) heißt es in Ihre Eltern rieten ihr, einen Kochkurs in Ber- einem sehr lesenswerten Comic über Paula Be- lin zu besuchen, was Paula auch tat. Dort traf ckers weiteren künstlerischen Werdegang. sie sich mit Rilke, der nach der Verlobung von Die Kunstwerke, die die drei Frauen in Bre- Paula mit Otto Modersohn im Jahre 1900 über- men ausstellten, erhielten durch den Maler und stürzt Worpswede verlassen hatte und zu einer Kunstkritiker Arthur Fitger (siehe Ü Fitgerstraße, Freundin nach Berlin ge- in Bd. 3 online**) eine vernichtende Kritik. We- zogen war. Auch die Bild- nige Stunden nach dem Erscheinen der Kritik in hauerin Clara Westhoff der Weser-Zeitung, hängte Paula ihre Bilder in be suchte Paula und traf der Kunsthalle ab und nahm sie mit nach Hause. auf Rilke. Das Ergebnis: Doch Paula Becker gab nicht auf. Sie reiste Clara Westhoff und Rilke nach Paris, um sich künstlerisch weiterzubilden. heirateten und bekamen Dort wartete schon Clara Westhoff (1878–1954), eine gemeinsame Tochter. mit der Paula Becker befreundet war, auf sie, und Später trennte sich das dort lernte sie auch den Bauernsohn Emil Han- Paar, und Clara Westhoff sen kennen, den späteren „Nolde“ (siehe Ü Nol- zog nach Fischerhude in Paula de weg, in Bd. 3 online**). Er „nimmt Paula und die Straße In der Brede- Modersohn-Becker Clara nur als ‚zwei seltsame Mädchen wahr‘“.42) n au 81, wo sie auch ihr Nach der Rückkehr aus Paris, traf Paula Otto Atelier hatte. Heute befindet sich in ihrem Haus Modersohn als Witwer vor, der schon bald nach ein Café, benannt nach Rilke, der dort allerdings dem Tod seiner Frau wieder auf Brautschau ging. nie gelebt hat. „Otto Modersohn feilt eifrig an seiner Strichliste Über die Ehe zwischen Paula Becker-Mo- möglicher Ehekandidatinnen. Aber auch der auf dersohn und Otto Modersohn schreibt Willi Blöß Besuch in Worpswede weilende Dichter Rainer in seinem bezaubernden Comic „Paula Moder- Maria Rilke [siehe Ü Rilkeweg, in Bd. 3 online**] sohn-Becker und von Worpswede sei die Rede“: schwärmt plötzlich nicht ganz realitätsnah von „Es ist eine seltsame Ehe. (…) Da eine Schwan- ‚den beiden Schwestern‘, von ‚der blonden (Pau - gerschaft ihre Arbeit gefährden würde, bittet sie la) und der dunklen Malerin‘ (Clara) (…)“43), Otto über Jahre um Keuschheit. Ablenkung bie- heißt es weiter in dem oben bereits vorgestellten ten Reisen. (…) Über Jahre zieht sich das zer- Comic. mürbende Wechselspiel aus Necken und Hinhal- Paula, deren Erbe aufgebraucht war, heira- ten hin. Paula berichtet freimütig von ihren Flirts tete im Mai 1901 den gut verdienenden Maler mit bulgarischen Kunststudenten in Paris. Auch

** Band 3 online unter: www.ham- denscheid 2010, S. 12f. burg.de/maennerstrassennamen 42) Willi Blöß, a. a. O., S. 14. 43) Willi Blöß, a. a. O., S. 16. 41) Willi Blöß: Comic-Biographie. Paula Modersohn-Becker und von Worpswede sei die Rede. 12. Aufl. Lü- Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:06 Seite 329

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beim Nacktturnen lässt sie sich von Otto zeich- miterlebt hätten. (…) Meine Malerei sehen sie nen. Als Ottos Nerven nach fünf Jahren endgül- sehr misstrauisch an, und in der Pause, wenn tig zerrüttet sind, beklagt Paula sich über ihr ich den Platz vor meiner Staffelei verlassen habe, nicht vorhandenes Liebesleben bei Clara West- stehen sie mit sechsen davor und debattieren hoff (…).“44) darüber. Eine Russin fragte mich, ob ich denn In der ersten Ehezeit hatte Otto Modersohn das auch wirklich so sähe, wie ich das mache, die künstlerische Arbeit seiner Frau noch be- und wer mir das beigebracht hätte. Da log ich wundert: „‚Mich interessiert tatsächlich nicht und sagte stolz: ‚Mon mari‘. Darauf ging ihr ein einer hier in Worpswede auch nur annähernd so Talglicht auf und sie sagte erleuchtet: ‚Ach so, wie Paula. (…) sie hat einen prächtigen Farben- Sie malen wie Ihr Mann malt.‘ Daß man so malt sinn und Formensinn. (…) Wundervoll ist dies wie man selber, vermuten sie nicht.“46) wechselseitige Geben und Nehmen; ich fühle, 1906 malte sie in Paris „den wohl ersten wie ich lerne an ihr und mit ihr‘, notiert er im Selbstakt einer Frau in der Kunstgeschichte. (…) Juni 1902 in sein Tagebuch. Jedoch schon weit Dass sie dem Akt einen hohen Stellenwert bei- weniger begeistert schreibt er im September 1903: misst, muss sicherlich in dem Zusammenhang ‚Geistige Interessen hat Paula mehr als irgend- gesehen werden, dass sie zur ersten Künstlerin- eine. Sie malt, liest, spielt etc. Der Haushalt geht nengeneration gehört, die überhaupt die Mög- auch ganz gut – nur das Familiengefühl und Ver- lichkeit erhält, an dem ursprünglich männlichen hältnis zum Hause ist zu gering. Ich hoffe, daß Privileg teilzunehmen. (…).“47) das noch besser wird. Paula haßt das Konventio- In dieser Zeit entschloss sich Paula Becker- nelle und fällt nun in den Fehler, alles lieber Modersohn, sich von ihrem Mann zu trennen, eckig, hässlich, bizarr und hölzern zu machen. und teilte ihm dies auch mit. Sie wollte sich aus- Die Farbe ist famos – aber die Form? Der Aus- schließlich ihrer Kunst widmen.Otto Modersohn druck?‘“45) reiste ihr – gegen ihren Willen – nach, um sich Da auch Paulas Mann ihre künstlerischen mit ihr auszusprechen und blieb den Winter Leistungen nicht genügend anerkannte, wurde 1906/07 in Paris. Da er ihr ein eigenes, großes es ihr in Worpswede zu eng. 1903 ging sie erneut Atelier versprach und sie darüber hinaus fest- für einige Monate nach Paris und lernte dort die stellen musste, dass sie von ihren Bildern allein Malerei Cezannes, van Goghs und Gauguins ken- finanziell nicht leben konnte, kehrte sie mit ihm nen. Durch Rilke wurde sie mit Rodin bekannt. im März 1907 nach Worpswede zurück; da war Dass sie eine außergewöhnliche Künstlerin sie bereits seit kurzem schwanger. Am 2. No- war, die sich aus der Masse anderer Künstlerin- vember kam ihre Tochter auf die Welt. Achtzehn nen hervorhob, machen die folgenden Zeilen Tage nach der Geburt starb die 31-jährige Paula deutlich, die Paula Modersohn-Becker am 23. Fe- Modersohn-Becker an einer Embolie. bruar 1905, als sie wieder einmal für einige Zeit Siehe auch Ü Fitgerweg, Wilhelmsburg, seit in Paris weilte, an ihren Mann Otto Modersohn 1951: Arthur Fitger (1840–1909), Schriftsteller, schrieb: „Im Atelier [der Académie Julian] ist es Maler, Kunstkritiker, in Bd. 3 online**. komisch, lauter Französinnen, die sehr amüsant Siehe auch Ü Noldering, Steilshoop, seit 1962: Emil Nolde (1867–1956), Maler, Graphiker, in sind (…). Sie malen aber wie vor hundert Jah- Bd. 3 online**.

Abb.: Aus: Die Gemälde aus den Sammlungen der Kunsthalle Bremen, Paula Modersohn-Becker der Paula Modersohn-Stiftung und der Kunstsammlungen Böttcherstraße in Bremen, in Bremen, Böttcherstraße Kunstsammlungen der und Modersohn-Stiftung Paula der Modersohn-Becker Paula Bremen, Kunsthalle der Sammlungen den aus Gemälde Die Aus: Abb.: 1997. Bremen (Hrsg.), Bremen Modersohn-Becker-Stiftung, Paula ren, als ob sie die Malerei von Courbet an nicht

** Band 3 online unter: www.ham- nata Holz, Birgit Nachtwey, Bärbel men 2007, S. 85. burg.de/maennerstrassennamen Schönbohm: … und sie malten doch! 46) Zitiert nach Bärbel Schönbohm, Geschichte der Malerinnen. Worps- a. a. O., S. 82. 44) Willi Blöß, a. a. O., S. 18f. wede, Fischerhude, Bremen. Hrsg. 47) Bärbel Schöhnbohm, a. a. O., 45) Bärbel Schönbohm: Paula Mo- von der Lilienthaler Kunststiftung S. 87. dersohn-Becker, in: Alice Gudera, Do- Monika und Hans Adolf Cordes. Bre- Straßen Bd 2 294-331 M:. 27.07.15 13:07 Seite 330

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Siehe auch Ü Rilkeweg, Groß Flottbek, seit punkt der „Neuen Künstlervereinigung Mün- 1950: Rainer Maria Rilke (1875–1926), Dich- chen“, die Gabriele Münter mitbegründet hatte, ter, in Bd. 3 online**. in Opposition zur „Münchner Secession“. Siehe auch Ü Vogelerstraße, Heimfeld, seit Ab 1911 stellte sie mit der von Wassily Kan- 1950: Heinrich Vogeler (1872–1942), Maler, in Bd. 3 online**. dinsky und Franz Marc (siehe Ü Franz-Marc-Stra- ße, in Bd. 3 online**) initiierten Künstlergruppe „Blauer Reiter“ aus. Das war ihr künstlerischer Monikastraße Durchbruch. Eilbek, seit 1957. Frei gewählter Name Als der Erste Weltkrieg begann, musste Kan - dinsky Deutschland verlassen und zog nach Russ - Münterweg land. Um ihm näher zu sein, lebte Gabriele Mün - Billstedt, seit 1971, benannt nach Gabriele Mün- ter zwischen 1915 und 1920 in Skandinavien. ter (19.2.1877 Berlin–19.5.1962 Murnau), Male- Kandinsky heiratete 1917 zum zweiten Mal, rin. Motivgruppe: Moderne Maler ohne Gabriele Münter davon in Kenntnis zu set- zen. Als sie davon Jahre später erfuhr, war es ihr, Die Ausbildung zur Malerin wurde von Gabriele „als wenn Sand gestreut worden wäre. – Asche Münters deutsch-amerikanischen Eltern unter- – und eine dicke Schicht auf meinem Leben und stützt. Nach deren frühem Tod erhielt sie 1897 meinen Gefühlen läge (…). Jemand muß kom- privaten Zeichenunterricht an einer Düsseldorfer men und aufkratzen und wegschaufeln (…).“48) Damen-Kunstschule. Danach unternahm sie eine Nach der endgültigen Trennung von Kan- zwei Jahre dauernde Reise nach Amerika. 1901 dinsky lernte sie 1927 Johannes Eichner kennen, begann sie – da es damals für Frauen nicht mög- einen kunstinteressierten Privatgelehrten, der lich war, einen Studienplatz an einer Kunstaka- ihr Lebensgefährte wurde, ihre Pressearbeit über- demie zu bekommen – ein Studium an der Schu- nahm und Ausstellungen organisierte. le des Künstlerinnenvereins in München und Während der Zeit des Nationalsozialismus besuchte danach die private „Phalanx-Schule“ galt die Kunst von Münters Freunden und Gefähr- des Malers Wassily Kandinsky (siehe Ü Kandinsky- ten als „entartet“, ihre Kunst hingegen nicht, straße, in Bd. 3 online**). Der verheiratete Kan- „d. h. sie wurde auch nicht verfolgt und durfte dinsky blieb nicht nur ihr Lehrer, sondern wurde an Ausstellungen teilnehmen, aber sie wurde auch ihr Geliebter. Die beiden unternahmen zwi- auch nicht mehr zur Avantgarde oder den Weg- schen 1904 und 1908 viele Reisen, so nach Tunis bereitern der Moderne gezählt“.49) und Paris. In ihrem Haus in Murnau versteckte sie Gabriele Münter interessierte sich für den Wer ke Kandinskys. gesellschaftlichen Aufbruch, las Texte von Fran- 1949 präsentierte sie sich „mit der Gedächt- ziska von Reventlow, besuchte Club-Abende der nisausstellung ‚Der Blaue Reiter in München‘ Damenakademie, hörte Vorträge über Frauen- wieder der Öffentlichkeit (…) [und konnte sich] emanzipation. mit darauffolgenden Ausstellungen aus dem 1909 kaufte sie in Murnau ein Haus, in dem Schatten Kandinskys lösen. 1926 noch hatte sie sie die Sommermonate verbrachte. Dieses so ge- enttäuscht festgestellt: ‚Ich war in vieler Augen nannte „Russenhaus“ entwickelte sich zum Treff- doch nur eine unnötige Beigabe zu Kandinsky.

** Band 3 online unter: www.ham- Dreihundert Porträts. Frankfurt a. M. burg.de/maennerstrassennamen 2001, S. 211. 49) Hildegard Möller: Malerinnen 48) Susanne Gretter: Gabriele Mün- und Musen des „Blauen Reiters“. ter, in: Susanne Gretter, Luise F. München Zürich 2007, S. 108f. Pusch (Hrsg.): Berühmte Frauen 2. Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 331

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Daß eine Frau ein ursprüngliches, echtes Talent gegründet wurde. Zu dieser Stiftung gehörte haben und ein schöpferischer Mensch sein auch das ‚Russenhaus‘, das ja seit 1936 Eich ner kann, das wird gern ver- gehörte, so wie ihr gesamter künstlerischer gessen.‘“50) Nachlass. In Murnau befanden sich au ßer dem In den 1950er-Jahren noch zahlreiche Gemälde Kandins kys, hunderte wurde sie in diversen Aus- Bilder Münters aus allen Epochen und sowie stellungen als Malerin ge- zahlreiche Sammelobjekte der Volkskunst.“51) ehrt und erhielt 1956 den Siehe auch Ü Kandinskyallee, Billstedt, seit Kulturpreis der Stadt Mün- 1971: Wassili Kandinsky (1866–1944), Maler, chen für Malerei. „Im Juli in Bd. 3 online**. 1958 unterzeichnete Ga- Siehe auch Ü Franz-Marc-Straße, Billstedt, seit Gabriele Münter 1971: Franz Marc (1880–1916), Maler, in Bd. 3 briele Münter einen Erb- online**. vertrag mit der Stadt Mün- chen, dem zufolge eine Stiftung mit dem Namen ‚Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung‘ N

Neuer Jungfernstieg Siehe auch Ü Klabautermannweg, Schnelsen, seit 1986, nach der Motivgruppe: Holsteinische Neustadt, um 1825, im Anschluss an den Namen Geschichten, Sagen und Märchen, in Bd. 3 „Jungfernstieg“ online**.

Nixenstieg Nonnenstieg Marmstorf, umbenannt 1950. Früher Rosenweg. Harvestehude, seit 1870. Benannt nach dem Motivgruppe: Märchengeister Kloster Harvestehude (1295–1530)

Germanische Wasserfeen sind seit der Romantik 1246 gründete ein Konsortium, darunter Heilwig häufiges Motiv in der Literatur. Wasserfrauen, (siehe Ü Heilwigstraße, in diesem Band), die Frau Melusinen, Undinen bewohnen eine Gegenwelt des Grafen Adolph des IV. von Holstein (siehe Ü zur Gesellschaft. Sie sind Naturwesen, die ero- Adolphsplatz, in Bd. 3 online**), und das Hambur- tische Verführung symbolisieren und den Män- ger Domkapitel, in dem bei Hamburg (beim heu- nern den Tod bringen, wenn diese sich aus ihrer tigen Stadtteil St. Pauli) gelegenen Dorf Her- christlich-zivilisatorischen Ordnung reißen las- wadeshude ein Zisterzienserinnenkloster. Die sen. Nixen sind Wunsch- und Schreckbilder zu- Prosperität des Klosters steigerte sich langsam, gleich. wurde aber zeitweilig gebremst, als der kleine

Abb.: bpk/Staatsbibliothek zu Berlin, Nr. 00095360 zu Berlin, Nr. bpk/Staatsbibliothek Abb.: Mühl bach, an dem es lag, versiegte.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

50) Susanne Gretter, a. a. O., S. 115. 51) Hildegard Möller, a. a. O., S.115. Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 332

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Da das Kloster Herwadeshude teilweise in - für das Kloster aus und übernahm seine Land- nerhalb des Hamburger Weichbilds lag und der wehrpflicht. Rat der Stadt darauf abzielte, auf diesem Gebiet Die meisten Nonnen stammten aus angese- einen freien Plafond zu schaffen, zog das Kloster henen Hamburger Bürgerfamilien, wobei der Ein- 1295 nach Odersfelde an die Oberalster zwischen tritt in das Kloster selten aus freiem Entschluss den heutigen Straßen: Heilwigstraße, Harveste- der Töchter erfolgte. Häufig stand geziel te Fami- huder Weg, Jungfrauenthal bis zur Krugkoppel- lien- oder Erbschaftspolitik dahinter. Anderer seits brücke. Der alte Klostername „Herwadeshude“ bildete das Klosterleben eine Alternative zum blieb erhalten. Eheleben, da es den Frauen ermögli chte, ledig zu Das Kloster erwarb große Besitzungen, so bleiben und trotzdem gesellschaftliches Ansehen Hof Heimischhude sowie Odersfelde, Eppendorf, und wirtschaftliche Absicherung zu genießen. Winterhude, Alsterdorf, Groß-Borstel, Niendorf, Das Ordensrecht bestimmte, dass die Non- Lokstedt, Ohlsdorf, Eimsbüttel, Bahrenfeld, Ot- nen keinen Privatbesitz zu haben hätten, – was tensen, Othmarschen und Rissen. Fast alle diese auch bedeutete, dass die Nonnen von ihren Fa- Ländereien gingen im 19. Jahrhundert in den milien nichts erben durften. Dies war ein we- Besitz der Stadt Hamburg über. sentlicher Grund, warum viele Bürgerfamilien Obwohl dem Frauenkloster Herwadeshude ihre Töchter ins Kloster steckten. Dadurch konn- eine gewählte Äbtissin vorstand, wurden die te ein Familienvater, der mit einer großen Töch- Nonnen in wichtigen religiösen, rechtlichen und terschar gesegnet war, eine Aufsplittung seines ökonomischen Angelegenheiten durch Männer zu vererbenden Vermögens verhindern. vertreten. Die Äbtissin war nicht frei in ihren Da das Nonnenkloster Harvestehude, das Ent scheidungen, sondern durch Eid dem Erz- durchschnittlich aus ca. 40 Mitgliedern bestand, bischof von Bremen verpflichtet. Ein von der hauptsächlich eine Versorgungs- und Erziehungs- Äbtissin und ihrer Stellvertreterin, der Priorin, ge- einrichtung für Hamburger Bürgertöchter war, wählter Praepositus (Propst), stand dem Gottes- schienen die so „berufenen“ Nonnen nicht gera- dienst vor, da Frauen in der katholischen Kirche de prädestiniert für ein Leben nach den strengen von der Durchführung des Gottesdienstes aus- Klosterregeln, die da lauteten: Armut, Keusch- geschlossen waren und heute noch sind. Dane- heit und Gehorsam. Darüber hinaus war das ben ordnete der Probst auch die geschäftlichen Leben im Kloster stark reglementiert durch Got- Angelegenheiten des Klosters. Er gehörte meist tesdienste, Gebetsstunden, Arbeiten beim Acker- dem weltlichen Stand an und war häufig durch bau und Kultivieren des Ödlandes sowie durch verwandtschaftliche Beziehungen mit einigen standesgemäße Arbeiten wie Verwaltungsange- Frauen des Klosters verbunden. Ein Advocatus legenheiten, Handarbeiten und Unterrichten von (Kirchenvogt) war zuständig für die Verwaltung Töchtern aus reichen Bürgerfamilien. der Sach- bzw. Geldwerte und der Ländereien. Es entwickelte sich bald ein eher bürgerli- Wollte das Kloster Land kaufen, übernahm cher Lebensstil, und es gab manche Annehmlich- der Rat der Stadt Hamburg, dessen Mitglieder keit im täglichen Nonnendasein. So ignorierten dem Kloster ebenfalls durch verwandtschaftli- die Nonnen z. B. die Anordnung nach gemeinsam che Beziehungen nahestanden, die Schirmherr- eingenommenen Mahlzeiten und aßen lieber für schaft. Er übte darüber hinaus die Jurisdiktion sich allein. Auch die Anforderungen an die Küche Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 333

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wuchsen, so dass 1460 das Brauhaus und 1462 Universums enthüllten und das Buch des Schick- die Küche erweitert werden mussten. sals schrieben. Die älteste Norne war Mutter Für die Hausarbeit und Landwirtschaft wur- Erde, Ertha, Urth, die das Schicksal und das den Hilfskräfte eingestellt. Die übrigen täglichen Schöpfungswort verkörpert. Die Nornen lebten Arbeiten wie Kochen, Putzen, Waschen, Garten- in der Höhle, am Grund des Lebensquells, in arbeit und Viehhaltung besorgten so genannte Urdabrunn, dem kosmischen Mutterleib unter Laienschwestern – meist Frauen aus der Unter- der Wurzel des Weltbaumes. Sie waren älter als oder Mittelschicht. Sie waren aus dem Wunsch der älteste ,himmlische Vater‘ und hatten Macht heraus, Gott zu dienen, oder, weil sie unverhei- über jeden Gott. Die Todesnorne Skuld war eine ratet blieben oder bleiben, aber dennoch finan- Variante von Skadi, der namensgebenden Mutter ziell existieren wollten, ins Kloster eingetreten. Skandinaviens, die eine typische Zerstörergöttin Da die Laienschwestern keine eigenen Einkünfte war. Es hieß, daß Skuld am Jüngsten Tag das besaßen, waren sie vom Kloster finanziell abhän- ganze Universum mit dem Todesfluch belegen gig. Die Folge war: sie mussten die „unteren“ würde. Skuld zerschnitt, wie die dritte der Moi- Tätigkeiten verrichten. ren, den Lebensfaden aller Geschöpfe. In der Er- Im 15. Jahrhundert legten die Nonnen ihre zähltradition heidnischer Balladen wurden die durch Landwirtschaft, Memorienlesungen, Erb- Nornen zu Feen.“1) fall und Nonnenausstattungen erworbenen Gel- der auf dem städtischen Rentenmarkt an, liehen gegen die Nutzung aus Grundstücken Geld an Nymphenweg Hamburger Bürger und wurden die größten geist- Wilstorf, seit 1935. Märchenmotiv lichen Geldgeberinnen auf dem Hamburger Ka- pitalmarkt. Sie erwirtschafteten jährlich Beträge, Wesen aus der griechischen Mythologie, die das die dem 4–10-fachen des Einkommens der reich- Band zwischen Göttern und Menschen knüpfen. sten Hamburger Großkaufleute entsprachen. „Die unerschöpfliche Dichtungskraft der Alten 1530 wurde das Kloster im Zuge der Refor- schuf sich Wesen, wodurch die Phantasie die mation gegen den Willen der Nonnen aufgelöst leblose Natur beseelte. Die Quellen, die Berge, (siehe Ü Cäcilienstraße, in diesem Band). die Wälder, die einzelnen Bäume hatten ihre Siehe auch Ü Abteistraße, Cäcilienstraße, Nymphen. Man knüpfte gern die Idee von etwas Elebeken, Frauenthal, Heilwigbrücke, Heilwig- Göttlichem an das Feste und Bleibende, was die straße, Innocentiastraße, Jungfrauenthal, in einzelnen Menschengeschlechter überlebt, an diesem Band. den festgegründeten Berg, den immerströmen- Siehe auch Ü Adolphsplatz, in Bd. 3 online**. den Quell und die tausendjährige Eiche. Alle diese Dichtungen aber waren gleichsam nur der Nornenweg Widerschein vom Gefühl erhöhter Menschlich- Rahlstedt, seit 1946. Altnordische Schicksalsgöt- keit, der sich aus dem Spiegel der ganzen Natur tinnen zurückwarf und wie ein reizendes Blendwerk über der Wirklichkeit gaukelnd schwebte. „Die Edda-Dichtung erwähnt sie als ,drei ge- So schweifte die Oreade auf den Bergen heimnisvolle Wesen‘, die die Geheimnisse des umher, um mit ihren Schwestern im Gefolge der

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

1) Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen. Ein Lexikon, Frankfurt a. M. 1993, S. 796f. Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 334

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Diana die Spur des Wildes zu verfolgen, jeder einer Klinik für Drogenabhängige. Auf Grund zärtlichen Neigung ihr Herz verschließend, so ihrer dort gemachten Erfahrungen mit der Be- wie die strenge Göttin, die sie begleitete. hand lung von Drogenabhängigen begann Marie Mit ihrem Wasserkruge saß in der einsamen Nyswan der ein Psycho- Mittagsstunde die Najade am Quelle und ließ mit logiestudium, um später sanftem Murmeln des Baches klare Flut hinströ- Drogen ab hän gigen mit tels men. Gefährlich aber waren die Liebkosungen Psychotherapien helfen zu der Najaden; sie umarmten den schönen Hylas, können. Zwischenzeitlich des Herkules Liebling, als er Wasser schöpfte, war sie kurz mit einem und zogen ihn zu sich in den Brunnen herab. Ver- Anatomie-Dozenten ver- gebens rief Herkules seinen Namen, nie ward heiratet. sein Liebling mehr gesehen. Nach dem Psycholo- Im heiligen Dunkel des Waldes wohnten die giestudium praktizierte sie Dryaden; und die Hamadryade bewohnte ih- ab 1953 als Psycho thera - ren einzigen Baum, mit dem sie geboren ward peutin und Ärztin. Marie Nyswander und starb. Wer einen solchen Baum erhielt, dem In dieser Zeit war Ma- dankte die Nymphe ihr Leben. rie Nyswander mit dem Psychoanalytiker Leo- So ward selbst die leblose Natur ein Gegen- nard Robinson verheiratet. Das Paar ließ sich stand des teilnehmenden Wohlwollens der Sterb- 1965 scheiden. lichen.“2) 1955 war sie Mitbegründerin des Narcotic Addiction Research Project in New York. In ihrem 1956 erschienenen Buch „The Drug Addict as a Nyswanderweg Patient“ beschreibt sie Drogenabhängigkeit als Eidelstedt, seit 1994 benannt nach Dr. Marie eine Krankheit. Nyswander (13.3.1919 Reno/Nevada–1986 New Da Marie Nyswander feststellen musste, dass York), amerikanische Spezialistin für die Behand- Psychotherapien bei der Behandlung von Dro- lung Drogenabhängiger, Mitentwicklerin der genabhängigen allein nichts nützen, suchte sie Methadontherapie nach weiteren Therapieformen. Zusammen mit ihrem dritten Ehemann, dem Internisten und Lei- Marie Nyswander war die Tochter der in den USA ter einer Kommission für die Behandlung Dro- bekannten Gesundheits-Erzieherin Dorothy Bird genabhängiger, Dr. Vincent Dole, stieß sie in den Nyswander (1898–1998) und eines Mathematik- 1960-er Jahren auf den Wirkstoff Methadon, professors. Kurz nach der Geburt von Marie lie- welcher gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von ßen sich die Eltern scheiden. Marie wuchs bei deutschen Wissenschaftlern der Firma Hoechst ihrer Mutter auf. entwickelt worden war und unter dem Namen Nach dem Schulabschluss studierte Marie „Dolorphine“ als Schmerzmittel eingesetzt wer- Nyswander Medizin und versuchte nach dem den sollte. Während Marie Nyswander die Ar- Studium während des Zweiten Weltkriegs als beit mit den Patienten übernahm, führte Dr. Vin- Chirurgin bei der US-Navy zu arbeiten. Da ihr cent Dole die Gespräche und Verhandlungen mit

dies nicht gelang, begann sie eine Tätigkeit an Behörden und Institutionen. 1919–1986, 12, 1998 Nyswander, Marie The American Journal of Psychiatry Psychiatry, Images in Thomas Kosten, Abb.:

2) Karl Philipp Moritz: Götterleben oder Mythologische Dichtungen der Alten, in: Karl Philipp Moritz: Werke. Hrsg. von Horst Günther. 2. Aufl. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1993. Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 335

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Auf die Idee, eine Straße nach Marie Nys- tive für humane Hilfe Drogenabhängiger in Ham- wander zu benennen, kam der Arzt Dr. Josh von burg (IHHD). Es ist die erste Straße in der Welt, Soer, der Koordinator der „Palette I“, der Initia- die nach Marie Nyswander benannt wurde. O

Ortrudstraße Weib – seinem natürlichen starken Liebesbedürf- Barmbek-Süd, seit 1904. Gestalt aus Richard nisse – etwas lieben muß und der Ahnenstolz, Wagners Oper „Lohengrin“, 1850 der Hang zum Vergangenen, somit zum mörde- rischen Fanatismus wird. Wir kennen in der Ge- Im „Lohengrin“ stehen sich in einem Erbfolge- schichte keine grausameren Erscheinungen als streit zwei Fürstinnen gegenüber, die als Proto- politische Frauen. (…) Mit der ganzen Wucht typen idealer und gefürchteter Weiblichkeit kon- ei nes – eben nur verkümmerten, unentwickelten, struiert wurden: die Herzogstochter Elsa von gegenstandslosen – weiblichen Liebesverlangen Brabant, die den Ritter Lohengrin hingebungs- nimmt diese Leidenschaft sie ein: und daher ist voll liebt, und ihre Gegenspielerin Ortrud, Nach- sie furchtbar großartig. Nicht das mindeste Klein- fahrin eines Friesenfürsten und Gattin des Fried - liche darf daher in ihrer Darstellung vorkommen; rich von Telramund, für den sie die Herrschaft niemals darf sie etwa nur maliziös oder pikiert über Brabant beansprucht. Mithin ist Ortrud die erscheinen; jede Äußerung ihres Hohnes, ihrer als gefährlich, intrigant und zauberisch gezeich- Tücke, muß die ganze Gewalt des entsetzlichen nete Gegnerin Lohengrins, die noch die alten Wahnsinns durchblicken lassen, der nur durch „entweihten Götter“ Wotan und Freia anruft. die Vernichtung anderer oder – durch die eigene Wagner schildert Ortrud als Drahtzieherin des Vernichtung zu befriedigen ist.‘“1) Komplotts gegen Elsa, gestaltet sie als unkon- Text: Birgit Kiupel trollierbar rachsüchtig und dämonisch – As- Siehe auch Ü Lisztstraße, Ottensen, seit 1929: pekte, die Frauen zugewiesen werden, wenn sie Franz Liszt (1811–1886), Komponist, Pianist, in Bd. 3 online**. machtbewusst und dominant eigene Interessen Siehe auch Ü Lohengrinweg, Rissen, seit 1945: verfolgen. Wagner charakterisierte Ortrud 1852 Gralsritter, Hauptheld, Sohn Parzivals, mittel- in einem Brief an Franz Liszt (siehe Ü Lisztstraße, hochdeutsches Gedicht, in Bd. 3 online**. in Bd. 3 online): „Ihr Wesen ist Politik. Ein po- litischer Mann ist widerlich, ein politisches Weib aber ist grauenhaft: diese Grauenhaftigkeit hatte Ottilie-Baader-Straße ich darzustellen. Ihre ‚Liebe‘ kann sich nur als Bergedorf, seit 1985, benannt nach Ottilie Baa- Haß gegen alles Lebende, wirklich Existierende der (30.5.1847 Raake/Kreis Oels, Reg.-Bez. äußern. Beim Manne wird solche Liebe lächer- Breslau–23.7.1925 Berlin), führend in der prole- lich, bei dem Weibe aber furchtbar, weil das tarischen Frauenbewegung

** Band 3 online unter: www.ham- 2009, S. 81. burg.de/maennerstrassennamen

1) Eva Rieger: „Leuchtende Liebe, lachender Tod“. Richard Wagners Bild der Frau in der Musik. Düsseldorf Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 336

336 Biographien von A bis Z / O

Als Ottilie Baader sieben Jahre alt war, starb ihre ken gewöhnen, daß die Tochter zu Versammlun - Mutter, die von Beruf Näherin gewesen war, an gen ging. Vorbehalte gegen eine politische Betäti- Tuberkulose. Bereits in diesem jungen Alter hatte gung der Frauen gab es auch unter den Arbeitern. sich Ottilie fortan um den kranken Vater Gustav Ottilie Baaders erste Rede in einer Versamm- Baader, einem Zuckerscheider (1812–1897) und lung von Schäftearbeiterinnen im Jahre 1879 ihre drei jüngeren Geschwister zu kümmern. schaffte der Heimarbeiterin den Durchbruch in Zwischen Tochter und Vater entstand eine die Öffentlichkeit und stellte den Vater vor voll- enge Beziehung. „Sie hatte Verantwortung im endete Tatsachen.“7) Haushalt noch bevor sie in die Schule kam. Drei „Ab 1885 engagierte Jahre nur dauerte der Schulbesuch; trotzdem sie sich [in der SPD] für schaffte sie es, sich eine relativ gute Ausbildung die sozialen und politi- zu erwerben. Der Vater hatte nicht wieder ge- schen Rechte von Frauen heiratet und gab seiner Tochter an Abendstun- und wurde in den folgen- den Unterricht, wozu ihm seine gute Schulbil- den Jahren zu einer an- dung und die Erfahrungen eines Facharbeiters erkannten Vertreterin der befähigten.“2) Berliner Arbeiterinnen. Seit Nachdem Ottilie mit ihrem Vater und den Ge - 1891 war sie auch im Vor- schwistern nach Berlin gezogen war, musste sie stand der Berliner Arbei- bereits als Dreizehnjährige „als Handnäherin in terbildungsschule tätig. Ottilie Baader einer Weißnäherei in der Berliner Neanderstraße, Nach dem Verbot al ler der heutigen Heinrich-Heine-Straße“3) arbeiten. sozialdemokratisch geprägten Frauenvereine, in „In der Zeit des Sozialistengesetzes schloss Preußen war es Frauen grundsätzlich verboten, sie sich zunächst dem bürgerlichen Arbeiterin- sich politisch zu organisieren, gründete die SPD nenverein Lina Morgensterns an. Eine Reihe 1891 Frauenagitationskommissionen, um Frauen schlecht bezahlter Anstellungen hatten ein un- trotz des Vereinsgesetzes politische Tätigkeit zu erschütterliches Klassenbewusstsein in ihr her- ermöglichen, jedoch wurden auch diese im Jahr vorgerufen.“4) 1895 verboten. In dieser Zeit unterlag Baader 1866 nahm Ottilie Baader am Kampf der Ber - beständigen Schikanen der Polizei, erhielt An- liner Mantelnäherinnen gegen eine drohende Er- klagen und Verurteilungen.“8) höhung der Nähgarnzölle teil und erreichte „Das politische Vereins- und Versammlungs - 1870/71 „gemeinsam mit 50 streikbereiten Näh- recht billigte in den meisten deutschen Ländern maschinennäherinnen der Berliner Kragen- und den Frauen noch nicht einmal das Recht zu, sich Manschettenfabrik (…), dass die vorgesehene politisch zu organisieren. Sie durften in der Re - Lohnreduzierung um die Hälfte zurückgenom- gel noch nicht einmal schweigend an Veranstal- men wird.“5) tungen derartiger Organisationen teilnehmen, „Über ihre gewerkschaftliche Arbeit und eine Parteimitgliedschaft war bei Strafe verboten durch den Eintritt in die freireligiöse Gemeinde (…), wirklich betroffen waren davon aber nur Berlin im Jahr 1877 näherte sie sich der SPD an.“6) die Linken, denn die bürgerliche Frauenbewegun- „Der Vater, selbst ein Anhänger der Sozialde- gen, ausgenommen ihr radikaler Flügel, konnte

mokratie, konnte sich nur schwer an den Gedan- ungehindert Politik treiben. (…) Friedrich-Ebert-Stiftung der (AdsD) Demokratie sozialen der Archiv Abb.:

2) Roswitha Freude: Ottilie Baader 3) Roswitha Freude, a. a. O. 6) Ottilie Baader, in: hpd Humanis- – ein biographischer Beitrag zur Ge- 4) Claudia Sucker: Ottilie Baader, tischer Pressedienst, unter: schichte der deutschen Frauenbewe- unter: http://archiv.spd-berlin.de/ge- http://hpd.de/node/5001 gung. Diss. 1985, S. 3 unter: schichte/personen/a-k/baader-ottilie/ 7) Roswitha Freude, a. a. O. www.roswitha-freude.de/baader/ 5) Wikipedia: Ottilie Baader, Stand: 8) Ottilie Baader, in: hpd Humanis- Baader-biographie.pdf 16.6.2014. tischer Pressedienst, a. a. O. Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 337

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Ottilie Baader warnte wiederholt die pro - allee, in Bd. 3 online**), Wilhelm Liebknecht letarischen Frauen sich von den bürgerlichen und Emma Ihrer aufgetreten, um das Frauen- Frauenorganisationen fernzuhalten, damit ver- wahlrecht zu fordern. trat sie eine andere Meinung als Lily Braun (sie- 1908 beschloss der Reichstag ein neues Ver- he Ü Lily-Braun-Straße, in diesem Band), die Otti- eins- und Versammlungsrecht. Von nun an konn- lie Baader später vorwarf, nur das Sprachrohr ten Frauen in Parteien und Gewerkschaften für Clara Zetkins zu sein.“9) ihre Rechte eintreten. Und so setzte sich Ottilie „Um den sozialdemo kratischen Frauen Or- Baader „auch für die Gleichstellung von Frauen ganisationsformen zu schaffen, die nicht dem innerhalb der SPD ein. Auf ihre Initiative geht Vereinsgesetz unterlagen, entstand die Funktion zurück, dass die SPD 1909 für die Parteivorstän- der ‚Vertrauensperson‘, die in jedem Wahlkreis de eine erste Quotenregelung beschloß.“11) für die politische und gewerkschaftliche Agita- 1911 heiratete sie den sozialdemokratischen tion unter den Arbeiterinnen zuständig war.“10) Gastwirt August Dietrichs. 1914 zog sie sich aus Ottilie Baader wurde 1894 solch eine Vertrauens- der aktiven Parteipolitik zurück. 1921 veröffent- person, von 1900 bis 1908 sogar die „Zentralver- lichte sie ihre Memoiren: „Ein steiniger Weg“. trauensperson“ der Frauen in der SPD und ab Siehe auch Ü Lily-Braun-Straße, in diesem Band. 1904 die erste besoldete Funktionärin der SPD. Siehe auch Ü Bebelallee, Alsterdorf, seit 1945: Ottilie Baader gehör te zu den wichtig sten August Bebel (1840–1913), Reichstagsabge- Kämp ferinnen für das Frauenwahlrecht in ordneter, Führer der Sozialdemokratie, und August-Bebel-Park, St. Georg, seit 2006 sowie Deutsch land und war z. B. auf Großkund ge bun - August-Bebel-Straße, Bergedorf, seit 1927, in gen gemeinsam mit August Bebel (siehe Ü Bebel- Bd. 3 online** P

Paula-Karpinski-Platz Paula Karpinski, geb. Thees, war Hamburgs erste Neustadt, seit 2012, benannt nach Paula Kar- Senatorin. Bereits im Alter von vierzehn Jahren pinski (6.11.1897 Hamburg–8.3.2005 Hamburg), trat sie in den „Arbeiterjugendbund“ und mit seit 1913 Mitglied der SPD, 1928 Mitglied des sechzehn Jahren in die SPD ein. Ihre Eltern – SPD-Parteivorstandes, 1931–1933 Abgeordnete Vater: Hafenarbeiter, Mutter: vor der Heirat Dienst - der Hamburgischen Bürgerschaft, 1946–1949 mädchen – waren Sozialdemokraten. Aufbau der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokra- Nach dem Handelsschulabschluss arbeitete tischer Frauen, 1946–1953 und erneut 1957–1961 Paula Karpins ki von 1913 bis 1925 als Kontoris- Jugendsenatorin, bundesweit erste Frau in einer tin, Stenotypistin und Buchhalterin. Von 1925 Landesregierung nach dem Kriege, 1954–1957 bis 1927 besuchte sie das Sozialpädagogische und erneut von 1961–1968 Abgeordnete der Institut, absolvierte ein einjähriges Praktikum in Hamburgischen Bürgerschaft der Berufsberatung beim Arbeitsamt und schloss

** Band 3 online unter: www.ham- 11) Ebenda. burg.de/maennerstrassennamen

9) Claudia Sucker, a. a. O. 10) Ottilie Baader, in: hpd Humanis- tischer Pressedienst, a. a. O. Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 338

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ihre Ausbildung als staatlich geprüfte Wohl- In einem Interview, das Rita Bake 1994 mit fahrtspflegerin ab. Ein Jahr später begann ihre der damals 96-Jährigen führte, sagte Paula Kar - politische Karriere in der SPD. Paula Karpinski pins ki: „Wir waren das erste Ehepaar, welches war zu diesem Zeitpunkt schon acht Jahre mit als Bürgerschaftsabgeordnete tätig war. Mein einem Architekten verheiratet. Er, ebenfalls So- Mann arbeitete auf dem Gewerkschaftssektor zialdemokrat, unterstützte sie in ihrem Engage- und war erster Vorsitzender beim Bund Deut- ment. 1928 wurde Paula Karpinski Mitglied des scher Architekten. Bei uns zu Hause arbeitete Hamburger Parteivorstandes der SPD und des eine Hauswirtschafterin, die für alles sorgte. Das Frauenaktionsausschusses. Von 1931 bis 1933 geht nicht anders, wenn zwei Menschen voll er- war sie Mitglied der Hamburgischen Bürger- werbstätig sind. Außerdem hatten wir ja auch schaft und arbeitete vor allem in der Behörde für noch einen Sohn. Unser Privatleben fand nur Jugend mit. Im Juni 1933 wurde sie zu sammen sonntags oder spätabends statt. In der Zeit, in mit dem Parteivorstand und dem Parteiaus- der ich auch noch die Leitung des Sportamtes schuss verhaftet – nach einigen Tagen aber wie- übernommen hatte (von 1951 bis 1953), waren der freigelassen. Von 1933 bis 1945 stand sie in selbst die Sonntage nicht immer für die Familie ständiger Verbindung mit illegalen Gruppen. frei. Denn oft musste ich zu Sportveranstaltungen, Nach dem Attentat auf Hit ler am 20. Juli 1944 die nun mal üblicherweise am Sonntag stattfin- war sie sieben Wochen im KZ Fuhls büttel in - den. Mein Sohn war während meiner Senatorin- haf tiert. Nach Kriegsende beteiligte sich Paula nen-Tätigkeit schon Jugendlicher, 1930 geboren. Karpinski am Wiederauf- Ein siebzehnjähriger Sohn hat viele Interessen, bau der SPD. Sie wurde so dass er von der Mutter nicht mehr so intensiv in den Parteivorstand be- betreut zu werden braucht. Außerdem wurde er rufen und später offiziell ja versorgt. Mittags, wenn er aus der Schule kam, gewählt. Sie war Mitglied erhielt er sein Essen, und er kam trotzdem zu des Parteiausschusses für uns, wenn er irgendetwas auf dem Herzen hatte. die Westzonen. Im April Abends waren wir ja zusammen. 1946 trat sie als eine der Ein schwieriges Unterfangen war die Errich- Rednerinnen auf der Grün- tung der Jugendherberge auf dem Stintfang. Im dungsversammlung des Senat saßen damals Dudek [Finanzsenator] [sie- „Hamburger Frauenrings he Ü Walter-Du dek-Brü cke, in Bd. 3 online**], Schil- e. V.“ auf. Sie baute die ler [Wirtschaftssena tor] und Brauer [Bürgermeis - Paula Karpinski „Arbeitsgemeinschaft sozi - ter] [siehe Ü Max-Brau er-Allee, in Bd. 3 online**]. aldemokratischer Frau en“ Sie alle waren gegen diesen Standort. Brauer zum (AsF) mit auf, deren Vorsitzende sie von 1946 Beispiel, weil er über zeugt war, dass an dieser bis 1949 war. wichtigen Stelle ein Hotel stehen sollte. Ich rief 1946 wurde sie als erste Frau in Hamburgs die Jugendverbände zusammen und bat sie: Geschichte Se natorin. Paula Karpinski übernahm ‚Also, Kinder, jetzt müsst ihr mir helfen.‘ Dann die Jugendbehörde. Dieses Amt hatte sie zunächst warb ich Nevermann [siehe Ü Paul-Nevermann-Platz, bis 1953 inne und von 1957 bis 1961 dann noch in Bd. 3 online**] und begründete diesen Stand-

einmal. ort mit den Worten: ‚Die Jugendherberge ist der Hamburg | Staatsarchiv Fremke Heinz 1995, S. 64, Hamburg Bürgerschaft, Hamburgischen der in Frauen geübt“. Bällen drei mit Jonglieren habe „Ich Bake, Rita Grolle, Inge Aus: v.l.n.r.: Abb.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 331-340 N-O-P:. 27.07.15 13:21 Seite 339

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Ort, zu dem viele junge Menschen aus allen 1925). Später ließ sie sich scheiden und wurde Städten, ja sogar aus allen Ländern kommen. Sie 1949 wieder berufstätig. Schon vorher war Paula sehen auf den Hafen, erblicken dieses rege Leben Westendorf politisch tätig gewesen. So wurde sie dort und sind begeis tert. Wenn sie älter werden, 1947 Beisitzerin des Verwaltungsgerichts, De- erinnern sie sich und kommen wieder und sind putierte der Kulturbehörde (1947, 1953) und der dadurch für Hamburg ein Wirtschaftsfaktor.‘ Da- Baubehörde (1948) und außerdem stellvertre- mit konnte ich die Herren überzeugen.“1) tendes Mitglied des beratenden Ausschusses für 1961 schied Paula Karpinski aus dem Senat das Pressewesen (1949). aus und übernahm ihr Bürgerschaftsmandat bis Bereits in der ersten Wahlperiode (ab 30. 1968. Dann schied sie auch dort aus und war November 1946) nach dem Zweiten Weltkrieg fortan ehrenamtlich tätig. So war sie z. B. Vor- saß sie bis 1953 als SPD-Abgeord nete im Ham- sitzende der Deutschen Hilfsgemeinschaft. 1967 burger Parlament. Als Mitglied der Bür gerschaft erhielt Paula Karpinksi vom Senat die Bürger- brachte Paula Westendorf meister-Stolten-Medaille verliehen. Die SPD-Bür- 1947 einen ergänzenden gerschaftsfraktion verleiht alle zwei Jahre den SPD-Antrag zum KPD-An- Paula-Karpinski-Preis. Damit fördert die Fraktion trag von Magda Langhans beispielhafte Projekte der Jugendhilfe. zur Einstellung der Straf- Siehe auch Ü Max-Brauer-Allee, Altona-Alt- verfahren bei Verstoß ge- stadt/Altona-Nord, seit 1975, und Max-Brauer- gen den Paragraphen 218 Kai, Kleiner Grasbrook, seit 1984: Max Brauer ein. Sie forderte die Ein- (1887–1973). Erster Bürgermeister von Ham- burg, in Bd. 3 online**. richtung öffentlicher Ehe- Siehe auch Ü Paul-Nevermann-Platz, Altona- und Sexualberatungsstel- Paula Westendorf Altstadt, seit 1984: Paul Nevermann (1902– len und setzte sich für die 1979), Erster Bürgermeister von Hamburg, in soziale Indikation ein. In Bd. 3 online**. diesen Beratungsstellen wollte sie das Thema Siehe auch Ü Walter-Dudek-Brücke, Harburg, des Schwangerschaftsabbruchs nicht biologisch seit 1985: Walter Dudek (1890–1976), Ober- bürgermeister von Harburg, Senator in Ham- behandelt wissen, sondern im Zusammenhang burg, in Bd. 3 online**. mit der „Menschheitsfrage“, aus Ehrfurcht vor dem Leben im Sinne Albert Schweitzers (siehe Ü Albert-Schweitzer-Ring, in Bd. 3 online**) und im Paula-Westendorf-Weg Gegensatz zu den „menschheitszerstörenden Ohlsdorf, seit 2007, benannt nach Paula Praktiken der Nazis“. Als einseitigen Machtaus- Westendorf, geb. Gühlk (26.10.1893 Hamburg– druck des Staates lehnte sie Strafverfolgung 3.10.1980 Hamburg), von 1946 bis 1953 SPD-Ab- wegen Abtreibung ab und gab grundsätzlich zu geordnete in der Hamburgischen Bürgerschaft bedenken, dass Verbote die Menschheit nicht er- Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem zögen, weil Moral nicht befohlen werden könne. Ohlsdorfer Friedhof. Paula Westendorf versicherte dem Parla- ment, dass die Beratungsstellen nicht leichtfertig 1917, im Alter von 24 Jahren, heiratete Paula Gühlk Schwangerschaftsabbrüche anempfehlen, son- und bekam vier Söhne (geb. 1918, 1922, 1923, dern das Verantwortungsbewusstsein dem Leben

** Band 3 online unter: www.ham- Bürgerschaft 1946 bis 1993. Hamburg burg.de/maennerstrassennamen 1995, S. 631.

1) Inge Grolle und Rita Bake: „Ich habe jonglieren mit drei Bällen geübt“. Frauen in der Hamburgischen Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 340

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gegenüber stärken würden. Trotz lebhaften Bei- Steinvase. Sie trägt die Inschrift „Pauline“. Der falls war die Reaktion der Männer im Parlament Weg, an dem sie einst stand, wurde Paulinen- hinhaltend. Der Gesundheitsausschuss verwarf allee genannt. aus juristischen Gründen den Antrag der KPD. Siehe auch Ü Sophienallee, nach dem Vorna- Erfolg hatte nur Paula Westendorfs ergänzender men der Ehefrau von Samuel Ephraim, in die- Antrag. Und so wurde in den Räumen des Ge- sem Band. sundheitsamtes eine öffentliche Ehe- und Sexu- Siehe auch Ü Eduardstraße, Eimsbüttel, seit 1868: nach dem 1867 geborenen Sohn Eduard alberatungsstelle eingerichtet, die als erste ihrer des Grundeigentümers Samuel Ephraim und Art in den Westzonen im August 1948 ihre Ar- seiner Frau Sophie, in Bd. 3 online**. beit aufnahm. Siehe auch Ü Löwenstraße, Hoheluft-Ost, seit Auch Paula Westendorfs Einsatz zur Frei- 1879: Samuel Ephraim, Grundeigentümer, in gabe des Vertriebes von Verhütungsmitteln hatte Bd. 3 online**. Erfolg. Am 1. Juni 1948 gab der Senat bekannt, dass die Polizeiverordnung des früheren Reich- Paulinenplatz sinnenministers vom Juni 1941 über „Verfahren, St. Pauli, seit 1869. In Anlehnung an die Pauli- Mittel und Gegenstände zum Schwangerschafts- nenstraße abbruch“ aufgehoben sei. Siehe auch Ü Albert-Schweitzer-Ring, in Bd. 3 online**. Paulinenstraße St. Pauli, seit 1860. Frei gewählter Name Paulinenallee Altona, seit 1863, benannt nach Pauline Edelhein, geb. Arnthal (23.3.1843–28.12.1905), Schwäge- Poppenpriel rin des Geländebesitzers Samuel Ephraim Finkenwerder, seit 1933. Hier befand sich beim Haus einer alten Frau namens Meta Popp ein Im Heckengarten-Freilichtmuseum auf dem Ohls- Wasserloch, im Volksmund genannt: Meta Pop- dorfer Friedhof steht eine über zwei Meter hohe pen ehr Lock R

Rahel-Varnhagen-Weg bedeutendste Vertreterin der Romantik. Motiv- Bergedorf, seit 1984, benannt nach Rahel (Anto- gruppe: Verdiente Frauen nie Friederike) Varnhagen von Ense, geb. Levin (19.5.1771 Berlin–7.3.1833 Berlin), 1810 umbe- Rahel Varnhagen ist eine der bekanntesten Berliner nannt in Rahel Robert, Autorin literarischer Briefe Jüdinnen des 19. Jahrhunderts. Sie war die äl- und Tagebücher, Kritikerin und Salonnière, teste Tochter des jüdischen Juwelenhändlers und

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 341

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Bankiers Markus Levin und seiner Frau Chaie Rahel Varnhagen hatte zwei große Lieben: Levin. Die Familie lebte in Berlin. Nach dem Tod die zu dem Grafen Karl von Finckenstein; ihr ihres Vaters 1790 übernahm Rahel Levin die Er- Verlöbnis scheiterte 1800, und die zu dem spa- ziehung ihrer Geschwister und führte zwischen nischen Gesandschaftssekretär Don Rafael de 1790 und 1806 in der Dachstube des elterlichen Urquijo, mit dem sie 1804 eine Liebesbeziehung Hauses in der Jägerstraße 54 einen Salon. Es war einging, die aber auch in die Brüche ging. der erste Salon einer unverheirateten Frau. Ihre Über die Liebe zwischen Rahel und Fin- Bildung hatte sie als Autodidaktin durch Lesen ckenstein schreibt Werner Liersch in seinem erworben. Buch „Dichterland Brandenburg“: „Der Graf In Rahels erstem Salon, für den – bedingt und die Jüdin lernten sich in Berlin des Jahres durch den Tod ihres Vaters – die finanziellen Mit- 1796 kennen und Rahel hegt Hoffnungen, die tel fehlten, um großen gastgeberischen Aufwand der Adelige meint, weder erfüllen noch auf sie zu betreiben, verkehrten in den 1790er Jahren verzichten zu können. Eine Geschichte, wie sie u. a. Prinz Louis Ferdinand von Preußen, Fried - Fontane im nächsten Jahrhundert noch immer rich Schlegel (siehe Ü Schlegelsweg, in diesem schreiben kann. Auch die geht so, dass der Graf Band), Jean Paul, die Brüder Humboldt (sie he Ü immer wieder neu seine Liebe beteuert, wäh- Humboldt straße und Humboldtbrücke, in Bd. 3 onli - rend die Unebenbürtige einfach liebt, und dass ne**), F. Schleiermacher, die Brüder Tieck (sie- es der Graf in diesem Zustand sehr viel besser he Ü Tiecksweg, in Bd. 3 online**), Clemens von aushält als Rahel, denn eine Geliebte zu haben Brentano (siehe Ü Brentanostraße, in Bd. 3 onli- ist keine Schande, wohl aber eine zu sein. (…) ne**) u. a. Die gelehrten Männer schätzten nicht Es ist Rahel, die den Schlusstrich zieht. (…) nur den Charme Rahel Varnhagens, sondern auch Rahel schreibt Karl Finckenstein im Februar ihre große Bildung, die gerne als „männlicher 1800, dass sie den Wunsch habe, von nun an Geist“ bezeichnet wurde. unbekannt mit ihm zu sein. Rahel hat diese Edda Ziegler schreibt über den Salon Rahel Liebe, die nie aufhört und darum zur nie enden Lewins, der in Konkurrenz zu Henriette Herz’s wollenden Ablehnung des anderen wird. Karl (siehe Ü Henriette-Herz-Ring, in diesem Band) Sa - dagegen kann sie unbefangen einen Tag nach lon stand und in dem es prunkvoller zuging: ihrem vierzigsten Geburtstag, 19. Mai 1811, tref- „Bei ihr verkehrt eine provokativ gemischte Ge- fen und ihr von seiner Karriere (…) und der Gat- sellschaft christlicher wie jüdischer Herkunft. tin auf dem Sofaplatz neben ihr erzählen. Er hat Hier mischt sich die ortsansässige Intelligenz mit keine Fantasie für die Kränkungen einer verta- Hochadel und Diplomatie. (…) Diese außerge- nen Liebe. Scheinbar ruhig auch sie. ,Dein Mör- wöhnliche gesellschaftliche Mischung, die Stan- der! Dachte ich und blieb sitzen. Tränen kamen des- und Religionsgrenzen bewusst überschrei- mir in den Hals und zu den Augen, daß ich ihn tet, soll – so Rahels Wunsch und Intention – ganz ruhig, ganz beruhigt über mich, sitzen sah. neue Kräfte freisetzen, künstlerische Kreativität Wie eine ihm zugestandene Kreatur fühlte ich ebenso wie die Kritik der gesellschaftlichen Zu- mich; er hat mich verzehren dürfen‘, steht in stände. So entsteht in der Dachstube der Rahel ihrem Tagebuch.“2) Levin eine europaweit gerühmte ‚Republik des Als Preußen 1806 von Frankreich besetzt freien Geistes‘.“1) wurde, geriet Rahel Varnhagen in wirtschaftliche

** Band 3 online unter: www.ham- 2) Werner Liersch: Dichterland burg.de/maennerstrassennamen Brandenburg. Literarische Entde- ckungen zwischen Havel und Oder. 1) Edda Ziegler: Heinrich Heine. Der Berlin 2012, S. 78f. Dichter und die Frauen. Düsseldorf 2005, S. 135. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 342

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Bedrängnis und es ging mit dem Salon zu Ende, nen, mit eben solcher Unbefangenheit und tie- denn „jüdische Salons sind nun – im Zeichen fen Wahrheit sprach, als hätte sie nur Günstiges eines neu erwachten Nationalgeistes – nicht und Schmeichelhaftes anzuführen.“4) mehr gefragt“.3) In dieser Zeit intensivierten sich 1814 heiratete die damals 43-Jährige den 29- Rahels Frauenfreundschaften, wie z. B. zu der jährigen Karl August. Kurz vor der Heirat hatte ehemaligen Geliebten Louis Ferdinands, Pauline sich Rahel Varnhagen von Ense evangelisch tau- Wiesel. Zu Rahels männlichen Gesprächspart- fen lassen und ihren jüdischen Namen abgelegt. nern gehörte ab 1808 auch der vierzehn Jahre Sie hieß nun Antonie Friederike Varnhagen von jün gere Student Karl August Varnhagen von Ense Ense. (1785–1858), der sie verehrte und unterstützte. Karl August Varnhagen war als Diplomat Ihn hatte sie schon in ihrem Salon in der Berli- tätig. Das Ehepaar lebte in Frankfurt a. M., Wien ner Jägerstraße kennengelernt. Darüber schrieb und Karlsruhe und kehrte 1819 nach Berlin zu- er: „Rahel wohnte damals rück. Dort eröffnete Rahel Varnhagen von Ense in der Jägerstraße (…) in in ihrer Wohnung in der Französischen Straße Obhut und Fürsorge der ihren zweiten Salon, der zum Treffpunkt der Ro- trefflichen Mutter (…). mantiker und des Jungen Deutschland wurde. Noch heute ist mir Rahel Dort trafen sich u. a. Bettina von Arnim (siehe Ü das Neueste und Frisches- Bettinastieg, in diesem Band), deren Freundin te meines ganzen Lebens; Rahel wurde, Heinrich Heine (siehe Ü Heinrich- in ihrer Gegenwart hatte Heine-Weg, in Bd. 3 online**), Grillparzer (sie- ich das volle Gefühl, ei- he Ü Grillparzerstraße, in Bd. 3 online**), Hegel, nen ächten Menschen vor Mendelssohn-Bartholdy, Fanny Hensel (siehe Ü Rahel Varnhagen mir zu haben, überall or- Geschwister-Mendelssohn-Stieg, in diesem Band), ganisches Gebild, zucken- Schelling (siehe Ü Schlegelsweg, in diesem Band) de Faser, mitlebender Zusammenhang für die und Ludwig Börne (siehe Ü Börnestraße, in Bd. 3 ganze Natur, überall originale und naive Geis tes- online**). und Sinnesäußerungen, großartig durch Un- Die Schauspielerin Karoline Bauer (1807– schuld und durch Klugheit, und dabei in Worten 1877) schrieb über Rahel und ihren Salon: „Ra - wie in Handlungen die rascheste, gewandteste, hel war enthusiastisch bis zum Exzeß. Alles, zutreffendste Gegenwart. Das alles war durch- was ihr gefiel: Menschen, Briefe, Bücher, Kleider wärmt von der reinsten Güte, der schönsten, – war himmlisch, göttlich, feenhaft! (…) Einst stets regen und thätigen Menschenliebe, der zar- aßen wir zum Tee geröstete Kastanien. Das war testen Achtung für jede Persönlichkeit, der leb- ein olympisches Götteressen! – Sooft ich später- haftesten Theilnahme für fremdes Wohl und hin Austern sah, musste ich an Rahels Aus- Weh. (…) Hier fand ich das Wunder anzustau- spruch denken: ‚In Austern kann man sich tief- nen, daß Rahel in gleichem Maße, als Andere sinnig essen!‘“5) sich zu verstellen suchen, ihr wahres Innere zu In Heinrich Heine hatte Rahel einen geisti- enthüllen strebte, von ihren Begegnissen, Lei- gen Verbündeten. Zum ersten Mal begegneten den, Wünschen und Erwartungen, mochten ihr sie sich 1821 in Berlin. Ihre Verbindung hielt bis

dieselben auch als Gebrechen und Fehl erschei- zu Rahel Varnhagens Tod 1833. „In Rahel Varn- Friedel) Schmidt 1800, nach Peter von 00029124 (Pastell zu Berlin, Nr.: bpk/Staatsbibliothek Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- 5) Karoline Bauer: Geist und Phan- burg.de/maennerstrassennamen tasie: Rahel, in: Walther G. Oschi- lewski, a. a. O., S. 21. 3) Edda Ziegler, a. a. O., S. 136. 4) Walther G. Oschilewski (Hrsg.): Frauen in Berlin. Berlin 1959, S. 23f. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 343

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hagen begegnet Heine einer Frau, die das Kor- Siehe auch Ü Humboldtbrücke, Uhlenhorst, seit sett der geltenden gesellschaftlichen Konventio- 1970: Alexander von Humboldt (1769–1859), Gelehrter, Naturforscher, und Humboldtstraße, nen sprengt. Sie lebt die Idee der Emanzipation Barmbek-Süd, seit 1859, in Bd. 3 online**. – sei es in der Gleichheit der Geschlechter, sei Siehe auch Ü Schellingstraße, Eilbek, seit es in der Religion – in ihrer eigenen Existenz vor, 1866: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling einschließlich der damit verbundenen Anfein- (1775–1854), Philosoph, Text siehe unter dungen. Und er begegnet in Rahel Varnhagen Schlegelsweg, in diesem Band. zugleich einer Frau, deren Nähe und Umgang Siehe auch Ü Tiecksweg, Eilbek, seit 1904: Ludwig Tieck (1773–1853), Dichter, Drama- ihm Ersatz bietet für die familiären Defizite, turg, in Bd. 3 online**. denen er sich ausgesetzt fühlt.“6) Rahel Varnhagen von Ense plädierte für die freie Liebe und setzte sich für die Gleichberech- Rautendeleinweg tigung von Frau und Mann sowie der Jüdinnen Billstedt, seit 1952, Märchenmotiv und Juden ein. Ihre umfangreiche Korrespondenz publizierte sie seit 1812 anonym in Zeitschriften. Rautendelein ist eine Wasserfee mit langem, rot- Doch „Zeit ihres Lebens litt Rahel an den goldenem Haar, die Schwester von Undine und ihr als Jüdin und Frau auferlegten Grenzen und Melusine, bekannt aus der antiken griechischen sah darin die Ursache ihrer vielen Krankhei- Mythologie. Ein Denkmal gesetzt hat ihr der ten.“7) Dramatiker Gerhart Hauptmann (siehe Ü Gerhart- Nach ihrem Tod veröffentlichte ihr Mann Hauptmann-Platz, in Bd. 3 online**). Der als Re- ihre Briefsammlung in drei Bänden unter dem volutionär, später als Volksdichter Gefeierte ver- Titel „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre ewigte die Meerjungfrau Rautendelein in seinem Freunde“. Märchendrama „Die versunkene Glocke“: Der Siehe auch Ü Bettinastieg, Geschwister- Glockengießer Heinrich ist untröstlich über den Mendelssohn-Stieg, Henriette-Herz-Garten, Verlust der von ihm gegossenen Glocke. Schuld Henriette-Herz-Ring, Schlegelsweg, in diesem sind die Waldgeister. Sie vereitelten den Trans- Band. port der Glocke zu einer Kapelle in den Bergen, Siehe auch Ü Börnestraße, Eilbek, seit 1866: Ludwig Börne (1786–1837), Schriftsteller, in indem sie den Transport zum Umstürzen brach- Bd. 3 online**. ten. Dabei versank die Glocke im Bergsee und Siehe auch Ü Brentanostraße, Osdorf, seit der Glockengießer verletzte sich schwer. 1941: Clemens Brentano (1778–1842), Dichter, Als die Fee Rautendelein den Schwerver- Bruder von Bettina von Arnim, in Bd. 3 on- letzten im Wald liegen sieht, rettet sie ihm das line**. Leben und verliebt sich gleichzeitig in den Fa- Siehe auch Ü Goetheallee, Altona-Altstadt, seit 1928: Johann Wolfgang von Goethe (1749– milienvater. 1832), Dichter, und Goethestraße, Altona-Alt- Vor Kummer über den Verlust der Glocke stadt, seit 1867, in Bd. 3 online**. depressiv geworden, erliegt Heinrich den Ein- Siehe auch Ü Heinrich-Heine-Straße, Wilstorf, flüsterungen der Erdgeister und plant, ein Glo- seit 1945: Heinrich Heine (1797–1856), Dich- ckenspiel für einen heidnischen Tempel zu gie- ter, Schriftsteller, und Heinrich-Heine-Weg, Ber- gedorf, seit 1945, in Bd. 3 online**. ßen. Dabei plagen ihn trotz seiner Verblendung heftige Gewissensbisse.

** Band 3 online unter: www.ham- Pusch (Hrsg.): Berühmte Frauen 2. burg.de/maennerstrassennamen Dreihundert Porträts. Frankfurt a. M. 2001, S. 295. 6) Edda Ziegler, a. a. O, S. 134. 7) Gabriele Koch: Rahel Varnhagen von Ense, in: Susette Gretter, Luise F. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 344

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Als Heinrich seine versunkene Glocke aus verschlossenen Wandschrank zu öffnen, in dem der Tiefe tönen hört, verkünden ihm seine bei- sich die Schlüssel befanden. Die beiden verlieb- den Söhne im Traum, seine Frau habe sich vor ten sich ineinander. Kummer im See ertränkt. Ernüchtert wacht Hein- Am 15. März 1772 heiratete Rebecca den rich auf und stößt die Nixe Rautendelein von vierzehn Jahre älteren Claudius und wurde „sein sich. Diese muss nun dem Nickelmann in die Bauernmädchen“ sowie Adressatin vieler seiner Unterwasserwelt folgen und der Tempel geht in Gedichte und Ruhepol, an dem er Halt und Frie- Flammen auf. den fand. Sechs Monate nach der Hochzeit, im Noch einmal steigt Rautendelein aus dem September 1772, wurde ihr Sohn Matthias zu Brunnen zu Heinrich hinauf. Dieser möchte nicht früh geboren. Er starb wenige Stunden nach der mehr leben und bittet Rautendelein um einen Geburt. Im Laufe der Jahre kamen noch elf wei- Zaubertrank. Nachdem sie ihm diesen Trunk ge- tere Kinder auf die Welt – Fehlgebur ten nicht geben hat, stirbt ihr geliebter Heinrich bei Son- mitgerechnet: 1774 Karoline, 1775 Christiane, nenaufgang in ihren Armen. 1777 Anna, 1779 Auguste, 1781 Henriette (Clau- „Rautendelein“ wurde in zweierlei Fassungen dius wünschte sich nun sehnlichst einen Jungen), in Hamburg uraufgeführt: das Drama 1896 am 1783 Johannes, 1784 Rebekka, 1786 Matthi as Deutschen Schauspielhaus, die gleichnamige Oper (starb im Alter von zwei Jahren), 1789 Fried rich, von Ottorino Respighi 1927 an der Staatsoper. 1792 Ernst, 1794 Franziskus. Text: Cornelia Göksu Wegen der ständigen Geldsorgen nahm Mat - Siehe auch Ü Gerhart-Hauptmann-Platz, Alt- thias Claudius, der hin und wieder Lotto spielte, stadt, seit 1946: Gerhart Hauptmann (1862– in der Hoffnung, damit Geld zu gewinnen, 1776 1946), Schriftsteller, in Bd. 3 online**. eine Stelle in Darmstadt als Beamter bei der Land-Commission und als erster Redakteur der Rebeccaweg Hessen-Darmstädtischen privilegirten Land-Zei- Marienthal, seit 1970, benannt nach Anna Rebec ca tung an. Doch das Ehepaar wurde krank vor Claudius, geb. Behn (1754 Wandsbek–26.7.1832 Heimweh und kehrte 1777 nach Wandsbek zu- Wandsbek), Ehefrau von Matthias Claudius rück. Dort lebte es mit seinen Kindern in einer kleinen Idylle. Der Dichter Johann Heinrich Voß Anna Rebecca war die älteste Tochter des Zimmer- (siehe Ü Voßweg, in Bd. 3 online**), der zwi- meisters Joachim Friedrich Behn und seiner schen 1775 und 1778 mit seiner Frau Ernestine Frau Ilsabe Martens. Matthias Claudius (siehe Ü in Wandsbek wohnte und mit Rebecca und Mat- Claudiusstieg, Claudiusstraße, Asmusweg, in Bd. 3 thias Claudius befreundet war, beschreibt ein online**), der Redakteur des „Wandsbecker Bo- sonniges Gartenidyll bei Claudius in Wandsbek: then“, lernte seine Rebecca kurz vor Weihnach- „Wir sind den ganzen Tag bei Bruder Claudius ten 1770 kennen, als er sich die Haustürschlüssel und liegen gewöhnlich bei seiner Gartenlaube für sein zu mietendes Haus am Lübecker Stein- auf einem Rasenstück im Garten und hören den damm in Wandsbek beim örtlichen Zimmer- Kuckuck und die Nachtigall. Seine Frau liegt mit mann Behn abholen wollte. Die damals sech- ihrer kleinen Tochter im Arm neben uns (…). So zehnjährige Anna Rebecca war allein zu Hause trinken wir Kaffee oder Thee, rauchen ein Pfeif- und versuchte gemeinsam mit Claudius, den chen dabei, und schwatzen oder dichten (…).“8)

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

8) Abraham Voß (Hrsg.): Briefe von Johann Heinrich Voß. Halberstadt 1829, S. 192 Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 345

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Diese Inszenierung der ländlichen poeti- blieb angespannt. Noch 1810, als Rebecca 56 schen Idylle war ohne die im Hintergrund statt- Jahre und Matthias 70 Jahre alt waren, mussten findende unermüdliche Arbeit Rebeccas nicht sie für vier Söhne das Studium finanzieren und möglich. Rebecca Claudius, die sich aufrieb zwi- drei Töchter unterhalten, da diese noch nicht schen Hausarbeit, Schwangerschaften, Nieder- durch Heirat versorgt waren. Diese Töchter (da- künften und Kindererziehung und als Hilfe nur mals 31 Jahre, 29 Jahre und 26 Jahre alt) lebten eine Magd hatte, „konnte keine geistige (nur im elterlichen Haushalt und gingen zeitweise zu physische) Zuarbeit für die literarische Karriere ihren zwei verheirateten Schwestern als „Tan- des Mannes leisten; sie half ihm nicht bei der li- ten“, um dort bei der Kinderpflege zu helfen. terarischen Korrespondenz, und sie stand bei Der Musikwissenschaftler Martin Geck schreibt Claudius’ adeligen und literarischen Freund- in seiner Biographie über schaften abseits (als liebenswerte Gattin) (…). Matthias Claudius: „Dem Matthias war wohl auch nicht an der geisti- Denken der Zeit gemäß gen Förderung und eigenständigen Entwicklung ist es für Claudius eine Re beccas interessiert; sei ne verhüllende, gleich- reine Selbstverständlich- sam oblique Darstellung des Ehe- und Familien- keit, dass die Töchter sei- glücks läßt auch auf fehlende Wahrnehmung ner Gattin bei der Versor- der Ehefrau als Person (…) schließen“.9) gung der Söhne zu helfen Freundschaftlichen Kontakt pflegte das Ehe- haben. Gleichwohl wach- paar Claudius auch mit Margarethe Milow, geb. sen sie nicht bildungslos Rebecca Claudius Hudtwalcker, und ihrem Mann Johann Milow, auf: Zum einen versteht Pastor in Wandsbek. (Siehe zu Margarethe Mi - sich das Wandsbeker Haus low bei Ü Hudtwalckerstraße, in Bd. 3 online**.) als ein permanentes Erziehungsinstitut; zum an- Claudius hatte nur einen schmalen Ertrag deren tragen die Eltern Sorge, dass ihre Töchter aus seinen Werken und Übersetzungen. So un- in gebildeten Kreisen verkehren und am gesell- ter richtete er nebenbei Kinder, die Rebecca und schaftlichen Leben teilhaben, soweit es dort ge- er in Pension nahmen. Daneben gab es noch eini - sittet zugeht. Da spielt die Musik eine große ge adlige Gönner, die ihn finanziell unterstützten. Rolle: Sowohl im kleinen Wandsbek als auch im Mit der Zeit reichten die gemieteten Räum- großstädtischen Hamburg gehen die Claudius- lichkeiten am Lübecker Steindamm nicht mehr Töchter nicht nur in Konzerte, wirken vielmehr aus, und Matthias Claudius kaufte 1782 ein Haus beim Singen und Musizieren aktiv mit.“10) an der Lübecker Straße. Die Weide hinterm Haus Haushalt und Kinder zehrten an Rebeccas hatte das Ehepaar Claudius unentgeltlich von Kräften. Sie litt an chronischen Kopfschmerzen Gräfin Caroline Tugendreich von Schimmelmann und wurde mehrmals von lebensbedrohlichen bekommen, dazu noch eine Kuh, die dort wei- Erkrankungen heimgesucht. Ihr Mann machte den konnte. Den Hauskauf finanzierten Freunde. sich große Sorgen, und so schrieb er an seinen Als Matthias Claudius 1788 eine Bankrevi- Sohn Franz im Februar 1810: „Gott erhalte uns sorstelle bei der Schleswig-Holsteinischen Spe- die Mama, wir finden so eine nicht wieder.“11) ciesbank in Altona erhielt, gab dies mehr mate- Damit sich Rebecca auch von den kräftezeh-

Abb.: Hamburg Museum (Ölgemälde von Friederike Leisching, um 1797) Leisching, Friederike Museum (Ölgemälde von Hamburg Abb.: rielle Sicherheit. Doch die finanzielle Situation renden Entbindungen erholen konnte, unter -

** Band 3 online unter: www.ham- chen“, in: Jörg-Ulrich Fechner (Hrsg.): Biographie eines Unzeitgemäßen. burg.de/maennerstrassennamen Matthias Claudius: 1740–1817: München 2014, S. 242. Leben, Zeit, Werk. Tübingen 1996, 11) Martin Geck, a. a. O., S. 243. 9) Barbara Becker-Cantorino: Re- S. 90. (Wolfenbütteler Studien zur becca Claudius. Zur sozial-geschicht- Aufklärung, Bd. 21.) lichen Realität des „Bauernmäd- 10) Martin Geck: Matthias Claudius. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 346

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nahm das Ehepaar Claudius Kuraufenthalte – Reginenstraße zum ersten Mal im Sommer 1792 nach der Ge- Rothenburgsort, seit 1870. Unbekanntes Benen- burt des zweitjüngsten Sohnes Ernst. Es ging nungsmotiv nach Bad Pyrmont. Solche Kuraufenthalte konn- te sich das Ehepaar nur leisten, weil Freunde Reisegeld dazugaben. Reichardtstraße Nach dem Tod ihres Mannes stand Rebecca Bahrenfeld, seit 1929, benannt nach Johann Claudius fast mittellos da. Finanziell unterstützt Fried rich Reichardt. 2001/2002 ergänzt um die wurde sie von ihrem Schwiegersohn Friedrich ebenso bedeutende Tochter Caroline Luise Rei- Perthes (siehe Ü Perthesweg, in Bd. 3 online**). chardt. Neuer Erläuterungstext: benannt nach Auch die Wintermonate verbrachte die kranke Johann Friedrich R. (1752–1814), Komponist und und gebrechliche Witwe bei ihm und ihrer Toch- Musikschriftsteller, und dessen Tochter Caroline ter Caroline, verheiratete Perthes, am Jungfern- Luise R. (11.4.1779 Berlin–17.11.1826 Hamburg), stieg und nicht in ihrem kaum beheizbaren Haus Sängerin, Musikpädagogin und Komponistin, zu- in Wandsbek. Im Sommer übernahm Rebecca letzt in Hamburg Claudius gerne Omapflichten und ließ ihre Enkel zu sich kommen. Auch unternahm sie – finan- Louise Reichardt war die älteste Tochter des preu- ziert von ihrem Schwiegersohn – Reisen zu ihrer ßischen Hofkapellmeisters, Komponisten und verheirateten Tochter Anna nach Düsseldorf. Be- Wegbereiters romantischer Liedkunst, Johann treut wurde Rebecca Claudius im Alter von einer Friedrich Reichardt und der Sängerin und Kompo- ihrer ledigen Töchter. Rebecca Claudius starb nistin Juliane Benda. In Hamburg gründete sie siebzehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes. zusammen mit dem Pianisten und Komponisten Ihre Gräber befinden sich auf dem ehemaligen Johann Hermann Clasing (1779–1829) (siehe - Friedhof hinter der evangelisch-lutherischen Ü Clasingstraße, in Bd. 3 online**) den „Musika- Christuskirche in Wandsbek. lischen Verein für geistliche Musick“, wo sie die Siehe auch Ü Asmusweg, Marienthal, seit Einstudierung des Chores übernahm. Sie führten 1950, Claudiusstieg, Marienthal, seit 1951, und oratorische Werke auf, vor allem von Georg Frie- Claudiusstraße, Marienthal, seit 1890: Mat- drich Händel (siehe Ü Händelstraße, in Bd. 3 on- thias Claudius, Dichter, der auch unter dem Pseudonym Asmus schrieb, in Bd. 3 online**. line**), Wolfgang Amadeus Mozart (siehe Ü Siehe auch Ü Hudtwalckerstraße, Winterhude, Mozartstraße, in Bd. 3 online**) und italienischen seit 1899: Martin H. und Johann Michael Komponisten. Im norddeutschen Raum organi- Hudtwalcker, Senatoren, in Bd. 3 online**. sierten sie „Geistliche Musikfeste“, 1817 und Hier: Margarethe Milow, geb. Hudtwalcker, be- 1818 in Hamburg und Lübeck. Mit rund 500 Mit- freundet mit Rebecca und Matthias Claudius. wirkenden vor rund 5000 Besuchenden wurden Siehe auch Ü Perthesweg, Hamm-Nord, seit 1929: Friedrich Christoph Perthes (1772–1843), im Hamburger „Michel“ Händels „Messias“ und Buchhändler, in Bd. 3 online**. Mozarts „Requiem“ aufgeführt. Dieser „Musika- Siehe auch Ü Voßweg, Uhlenhorst, seit 1914: lische Verein“ gilt als Vorläufer der 1819 gegrün- Johann Heinrich Voß (1751–1826), Dichter, deten Hamburger Sing-Akademie, in der aller- Übersetzer der Werke von Homer, in Bd. 3 on- dings weder Reichardt noch Clasing wichtige line**.

Rollen eingeräumt wurden. Auch hier vermochte Gareis) Franz von (Skizze 15 Campesammlung Handschriftensammlung, Ossietzky, von Carl Universitätsbibliothek und Staats- Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 347

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die Macht der Musik menschliche Konkurrenz- etwa zu Achim von Arnim und Clemens Bren- kämpfe nicht zu mildern. tano. 1809 war die ledige Louise Reichardt nach Louise blieb unverheiratet, ihr erster Verlob- Hamburg gekommen, um sich eine Existenz als ter, der Dichter Friedrich August Eschen (1776– Gesangs- und Musiklehrerin aufzubauen. Nach 1800), verunglückte in den Schweizer Alpen, dem frühen Tod ihrer Mutter 1783 hatte ihr Vater und ihr zweiter Verlobter, der Maler Franz Gar- die verwitwete Hermina Hensler, geb. Alberti, eis (1775–1803), starb kurz vor der Eheschlie- geheiratet. Deren Vater war der berühmte auf- ßung an Ruhr. Zur Sicherung ihres Lebensunter- klärerische Prediger Juli - haltes zog sie 1809 nach Hamburg, in das us Gustav Alberti (1723– Umfeld ihrer Stiefmutter, um dort als Gesangs- 1772), ein Gegner Johann und Musiklehrerin zu arbeiten. Doch musste Melchior Goezes (1717– diese Erwerbstätigkeit vor dem Vater geheim ge- 1786). Die Familie wuchs, halten werden, da sie dem bürgerlichen Frauen- und Louise musste bereits bild widersprach. Unterstützt wurde Louise Rei- im Alter von fünfzehn chardt von der Familie Sillem (Sillemstraße in Jahren mit ihren bei den Hamburg Eimsbüttel seit 1903, benannt nach älteren Stiefschwestern die der Familie Sillem). Sie unterrichtete bald viele Haushaltung führen. Der Musikschülerinnen aus angesehenen Familien. Louise Reichardt Vater war als königlicher Fünf Jahre später eröffnete sie, wohl als eine Kapellmeister ohne Pen- Pionierin auf diesem Gebiet, eine private Musik- sion entlassen worden, da er mit der französi- und Singschule für Frauen und Mädchen, und schen Revolution sympathisierte. Er zog mit der gründete einen Frauenchor. Doch nach einiger Familie nach Giebichenstein bei Halle, wo er das Zeit machte ihr Vorbild Schule, die Konkurrenz Kestnersche Kossätengut gekauft hatte und ab der Lehrenden wuchs, und sie hatte Mühe, ihr 1794 als Salinendirektor amtierte. Das Haus Auskommen zu erwirtschaften. wurde zur legendären „Herberge der Romantik“, Neben ihrer pädagogischen Tätigkeit wirkte hier trafen sich Ludwig Tieck (siehe Ü Tiecksweg, Louise Reichardt auch als Komponistin. Ca. 90 in Bd. 3 online**), Clemens Brentano (siehe Ü Lieder sind von ihr bekannt. Bren tanostraße, in Bd. 3 online**), Novalis (sie- Louise Reichardt leistete für die Entwick- he Ü Novalisweg, in Bd. 3 online**), Achim von lung eines bürgerlichen Musiklebens in Ham- Arnim (siehe Ü Arnimstraße, in Bd. 3 online**), burg einen wichtigen und bis heute unterschätz- Friedrich Schleiermacher, Henrik Steffens etc. ten Beitrag.12) Für das Wohl dieser romantischen Geselligkeit Text: Birgit Kiupel waren Louise und ihre Schwestern unermüdlich Siehe auch Ü Klopstockstraße, Königskinder- tätig, die allerdings auch auf diese Weise von weg, in diesem Band. Diskussionen, Lesungen und Konzerten profi- Siehe auch Ü Arnimstraße, Osdorf, seit 1941: Achim von Arnim (1781–1831), Dichter, in tierten – und zu eigener Produktivität angeregt Bd. 3 online**. und ermuntert wurden. Insbesondere Louise Siehe auch Ü Bachstraße, Uhlenhorst, seit wurde wegen ihres Gesangs und ihrer Kom- 1860: ursprünglich nach altem Weg im Tal der positionen gelobt und knüpfte Freundschaften, Osterbek. Benennungsmotiv geändert 1965.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

12) http://mugi.hfmt-hamburg.de/ Artikel/Louise_Reichardt Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 348

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Seitdem heißt die Straße nach Johann Sebas- für orientalische Sprachen am Akademischen tian Bach (1685–1750), in Bd. 3 online**. Gymnasium, seine Frau Johanna Frideri ca, geb. Siehe auch Ü Brentanostraße, Osdorf, seit Fabricius, die ebenfalls einer Gelehrtenfamilie 1941: Clemens Brentano (1778–1842), Dichter, entstammte, aber anscheinend keine besondere Bruder von Bettina von Arnim, Bd. 3 online**. Bildung erhalten hatte. Von ihren drei Kindern, Siehe auch Ü Clasingstraße, Eimsbüttel, seit 1911: Johann Heinrich Clasing (1779–1829), Johann Albert Hinrich, Margaretha Elisabeth Dirigent und Mitbegründer der Singakademie, (Elise) und Hanna Maria blieb die unverheiratete in Bd. 3 online**. Elise (22.1.1735 Hamburg–2.9.1805 Hamburg) Siehe auch Ü Novalisweg, Winterhude, seit im Elternhaus. Und auch der Sohn, der Arzt und 1928: richtiger Name Freiherr Georg Philipp Naturforscher Johann Albert Heinrich, kehrte Leopold von Hardenberg (1772–1801), „Künst- lername“: Novalis, Dichter, in Bd. 3 online**. mit seiner zweiten Frau Sophie 1770 in die Fuh- lentwiete zurück, nachdem der Vater zwei Jahre Siehe auch Ü Tiecksweg, Eilbek, seit 1904: Ludwig Tieck (1773–1853), Dichter, Drama- zuvor gestorben war. turg, in Bd. 3 online**. Man führte ein offenes Haus, dessen Mittel- punkt die Frauen Elise und Sophie Reimarus, geb. Hennings (14.4.1742 Pinneberg–30.9.1817 Reimarusstraße Hamburg), waren. Ihr Theetisch bildete bald ei - Neustadt, seit 1902, benannt nach Hermann nen weit über die Grenzen der Stadt hinaus be - Samuel Reimarus und Johann Albert Reimarus. rühm ten Ort der Hamburger Aufklärung. 2001/2002 ergänzt um die ebenso bedeutende Elise Reimarus hatte eine umfangreiche Bil- Tochter und Schwester Elise Reimarus. dung genossen, und als die erste Frau ihres Bru- Neuer Erläuterungstext: benannt nach Hermann ders, Johanna Maria, geb. Thorbecke, 1762 im Samuel R. (1694–1768), Professor am Hamburger dritten Kindbett starb, übernahm Elise im elter- Akademischen Gymnasium, dessen Sohn Dr. lichen Haus die Pflege und Erziehung des drei- Johann Albert Heinrich R. (1729–1814), Profes - jährigen Neffen Hermann Dietrich und seiner ein sor ebenda und Arzt, und deren Tochter bzw. Jahr jüngeren Schwester Johanna Margaretha, Schwester Margaretha Elisabeth, genannt Elise gen. Hannchen, (siehe Ü Sievekingdamm, in Bd. 3 R. (22.1.1735 Hamburg–2.9.1805 Hamburg), online**) während der Vater der Kinder zunächst Erzieherin, Schriftstellerin und zentrale weibliche weiter bei seinen Schwiegereltern wohn te. Später Persönlichkeit der Aufklärung in Hamburg unterrichtete sie auch an der 1787 von ihrer Freundin Caroline Rudolphi (1754–1811) (siehe Ü Die Familie Reimarus lebte im 18. Jahrhundert in Rudolphiplatz, in diesem Band) in der Hammer der Hamburger Fuhlentwiete 122. Diese ehemals Landstraße 75 gegründeten „Erzie h ungsanstalt zum Rödingsmarkt führende Straße heißt heute für junge Demoiselles” von sechs bis 21 Jahren. in ihrem unteren Abschnitt Stadthausbrücke, Zu der praktischen pädagogischen Arbeit und hier, etwa auf der Höhe des Gebäude, wo gesellte sich ein schriftstellerisches Werk. Zwi- bisher die Hamburger Baubehörde untergebracht schen 1764 und 1766, als gute Kinderliteratur war, muss einst das Haus mit der Hausnummer noch Mangelware war, schrieb die einem aufklä- 122 gestanden haben. Der Hausherr war Her- rerischen Bildungsideal verpflichtete Elise Rei- mann Samuel Reimarus (1694–1768), Professor marus Texte für Kinder – meist in Dialogform

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 349

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oder als kleine Bühnenstücke mit genauen Al- Zeit machte er sich bey denselben berühmt. Also tersangaben für die Hauptpersonen. Wie kind- diente jeder von ihnen seinem Vater lande, glück - gerecht diese Stücke waren, zeigt sich darin, lich durch das Gute was er ihm erwies.“ dass der Schriftsteller und Pädagoge Joachim Mit ihren Übersetzungen von Dramen aus Heinrich Campe sie später in seine „Kleine Kin- dem Englischen und Französischen bereicherte derbibliothek“ (Hamburg 1778–1785) aufnahm. Elise Reimarus das damals noch dürftige Reper- In seinem Almanach erschienen nur Beiträge, toire deutscher Bühnenstücke und trug zum die vorher mit Kindern erprobt worden waren. Spielplan des 1779/80 in eine Krise geratenen Zwei die Kindererziehung theoretisch fundie- Stadttheaters bei. Über ihre Übersetzung des rende Stücke von Elise Reimarus ließ Campe „Cato“ von Joseph Addison führte sie mit Les- 1778 in den vom Dessauischen Philanthropinum sing (siehe Ü Lessingstraße, in Bd. 3 online**), herausgegebenen „Pädagogischen Unterhand- mit dem sie seit seiner Hamburger Zeit freund- lungen“ drucken. Auch das bisher unveröffent- schaftlich verbunden war, einen Briefwechsel. lichte Manuskript „Die Freundschaft auf der Voller Vertrauen in ihr schriftstellerisches Talent Probe“, die in Gegensatz- ermunterte er sie, das Stück in die damals be- paaren konstruierte rüh- liebten Blankverse zu übertragen. Seinerseits bat rende Geschichte zweier er sie fast ängstlich um ihr Urteil zu seinem „Na- Freunde, die sich an Edel- than“: „Nötig hätt ichs wohl, daß Sie ein wenig mut und Treue überbie- gut davon urteilten, um mich wieder mit mir ten, gehört in den Bereich selbst zufrieden zu machen.“ (Brief vom 14.5. der didaktischen Litera- 1779). Neben Lessing waren Männer wie Moses tur, wie schon die ersten Mendelssohn (siehe Ü Moses-Mendelssohn-Brücke, Sätze der Erzählung zei- in Bd. 3 online**) und Friedrich Heinrich Jacobi Elise Reimarus gen: „In einer von den Elise Reimarus’ Briefpartner. Sittenschulen, die die eng - Ebenso bedeutend war Elise Reimarus’ jün- lische Jugend besucht, die Pflichten des Men- gere Schwägerin Sophie, die allgemein nur „die schen und Bürgers zu erlernen, ihren Geist aufzu- Doktorin“ genannt wurde. Leider ist nach ihr die klären und ihr Herz zu veredlen, waren Nelfon Reimarusstraße nicht mit benannt worden. So- und Blanford durch eine Freundschaft bekannt, phie war dem aufklärerischen Gedankengut von die der ältesten Zeiten würdig war. Nach geendig- Vernunft und Toleranz verpflichtet. „Hier kommt ten Studien, ergriff jeder den Stand, dazu ihn die und geht, wer will, und denkt auch, was er will, Na tur berief. Blanford, thätig, stark und muth - und sagt es ziemlich dreist, und niemand küm- voll, entschied sich für die Waffen und den See- mert sich darum“13), beschrieb sie einmal ihren dienst. Reisen wurden eine Schule. Abgehärtet zu Theetisch, der einer der zentralen Orte der Ham- den Beschwerden, durch Gefahren unterrichtet, burger Aufklärung und Anziehungspunkt für stieg er, von Stufe zu Stufe, bis zum Commando zahlreiche fremde Besucher der Stadt war. Hier eines Schiffes. Nelfon, mit einer männlichen Be- herrschte Offenheit, Herzlichkeit und ein ganz redsamkeit und einem klugen tiefdenkenden Gei- auf geistige Genüsse gerichteter Sinn. Mehr als ste begabt, war Mitglied jener Deputirten, aus de- einen Tee hatten die Besucherinnen und Besu-

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: nen die Nation ihren Rath besetzt; und in kurzer cher kaum zu erwarten. Der Archäologe, Altphilo-

** Band 3 online unter: www.ham- der französischen Revolution. Kapitel burg.de/maennerstrassennamen VII. Berlin 1913.

13) Zit. nach: Georg Heinrich Sieve- king: Lebensbild eines Hamburgi- schen Kaufmanns aus dem Zeitalter Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 350

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loge und Schriftsteller Karl August Böttiger nann- rin beschrieben. Wilhelm von Humboldt rühmte te die Familie Reimarus den „Licht- und Mit - 1796 in seinem Reisetagebuch ihren „in hohem telpunkt des geistigen Hamburg“, und weiter: Grade gebildeten Verstand, und eine sehr ange- „Nichts ist in der That fröhlicher und genußrei- nehme und heitere Laune im Umgang“ und no- cher als eine Theetischconversation im Kreise tierte weiter: „Sie soll ein außerordentliches Ta- dieser Familie, zu der ich während meines Auf- lent zu der leichten Gattung des Stils haben, und enthaltes in Hamburg so oft eilte, als ich mich über die Vortrefflichkeit ihrer Briefe herrscht nur anderswo wegschleichen konnte. Während Vater eine Stimme.“15) Ein Blick in ihre Briefe an den Reimarus im Kaftan und mit Pfeife bald mit ein- Bruder August Hennings bestätigt das. Es sind sitzt, bald in dem benachbarten Zimmer Arz- gescheite und schlicht formulierte Dokumente neien zubereitet, aber auch von daher durch die ihrer Gedanken zu Politik, Philosophie und Li- geöffnete Thür den Faden des Gesprächs festhält teratur. In ihren Berichten von den Teegesell- und oft seine Bejahung oder Verneinung mit schaften zeichnet sie mit wenigen Sätzen plas- vorgestrecktem Kopfe hereinruft, sitzt die Mutter tische Portraits der Besucher. Immer sind ihre Reimarus am dampfenden Theeständer, ihr zur Ansichten und Urteile geprägt von Vernunft und Seite die ehrwürdige Elise und zwei unverheira- Maß. Schwärmerei und romantischen Tenden- tete Töchter des Doctors.“14) Die Hamburger Cas - zen steht sie voller Skepsis gegenüber, hier kön- par Voght (siehe Ü Caspar-Voght-Straße, in Bd. 3 nen ihre Urteile auch einmal hart und scharf online**), Johann Georg Büsch, Friedrich Gott- ausfallen. So mokiert sie sich beispielsweise in lieb Klopstock (siehe Ü Klopstockstraße, in diesem drastischer Form über Caspar Voghts Eitelkeit, Band) und Gotthold Ephraim Lessing (sie he Ü als er sich mit dem Etatsratstitel, dem Eintritts- Lessingstraße, in Bd. 3 online**) in seiner Ham- billet in den Adel, schmückte. Und in einem burger Zeit gingen hier ebenso ein und aus wie Brief an den Kaufmann Sulpiz Boesserée fragte durch Hamburg reisende Gelehrte und Schrift- sie: „Aber auf welche Universität wollen Sie steller wie Adolph Freiherr von Knigge, Karl Le- dann ziehen? Jena hat seit einiger Zeit seine be- onhard Reinhold oder Karl August Böttiger. rühmtesten Männer verlohren und unter den Sophie Reimarus war die Tochter des Pin- bösen Phenomenen der Schellingschen Philoso- neberger Staatsrats Martin Hennings, der ihr phie (siehe Ü Schellingstraße, in Bd. 3 online** eine ausgezeichnete Ausbildung angedeihen und Schlegelsweg, in diesem Band) gehört auch ließ. Schwester des bedeutenden Aufklärers Au- wohl diese Gährung. Wenn nun diese ledigen gust Hennings, zweite Ehefrau des nicht weni- Lehrstühle mit den Schlegeln und Tieck (siehe Ü ger angesehenen Arztes und Gelehrten Johann Tiecksweg, in Bd. 3 online**) besetzt, und von Albert Heinrich Reimarus, Schwägerin der klu- Jacob Böhme beschützt werden, wird es voll- gen und gebildeten Elise Reimarus, Stiefmutter ends junge Köpfe verdrehen. Seit Kurzem sind von Hannchen Sieveking (siehe Ü Sievekingdamm, uns 3 Junge Herren vorgekommen, die halbtot, in Bd. 3 online**), die ein großes Haus und nach wenigstens zu allem nützlichen verdorben wa- dem Tod des Ehemannes eine Zeitlang auch sein ren.“16) Und auch die anfängliche Revolutions- Handelshaus führte. begeisterung – ausführlich hatte Sophie ihrem Sophie Reimarus wurde von ihren Zeitgenos - Bruder von der Revolutionsfeier bei Sievekings sen als geistvolle und lebhafte Gesprächspartne- berichtet und sich später begeistert über den

** Band 3 online unter: www.ham- schriftlichem Nachlasse. Hrsg. von phie Reimarus an Sulpiz Boisserée. burg.de/maennerstrassennamen Karl Wilhelm Böttiger. Bd. 2. Leipzig In: Euphorion, 12 [1905]. 1838. 16) Zit. nach: Franz Schultz, a. a. O. 14) Karl August Böttiger: Literarische 15) Zit. nach: Franz Schultz: Ein Ur- Zustände und Zeitgenossen. In: Schil- teil über die „Braut von Messina“. derungen aus Karl Böttigers hand- Aus ungedruckten Briefen von So- Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 351

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Mainzer Jakobinerklub geäußert – schlug bald dann im Laufe des Vormittags, wenn der Mann um. Mitte Dezember 1792 schrieb sie in einem sich ein halbes Stündchen von seinen Patienten Brief an den Bruder: ,Nein, die Franzosen sind abmüßigen konnte und nach dem Abendessen, keine Nation, mit der man sich brüderlich ver- selbst wenn sie erst spät aus der Abendgesell- binden kann! (…) Gute Freiheit, warum bist du schaft nach Hause gekommen waren. Dann nicht in andere Hände gefallen!‘“17) Und in hatte sie immer Journale in Bereitschaft mit den einem Gedicht pries sie wie viele von der Revo- angemerkten Stellen, die ihn der Mühe über- lution enttäuschte ZeitgenossInnen den Rück- hoben, das Ganze durchzulesen, oder sie trug zug ins Private, Überschaubare, Geordnete: mündlich ihm vor, was ihn auf andre Weise er- „(…) Ein grauenvolles Zeitungslesen freuen konnte.“19) Zerstört oft unser ganzes Wesen, Wie sehr sich ihre Wesensart von der ihrer (…) Stieftochter Hannchen unterschied, die die Seele Was gute Menschen kaum begannen eines anderen namhaften gesellschaftlichen Sinckt schrecklich hin durch VolksTyrannen, Treffpunkts in Hamburg jener Zeit war, zeigt die (…) folgende Begegebenheit: Als das Sievekingsche Hinweg denn mit dem großen Traume Handelshaus 1811 Konkurs gemacht hatte, bat Die Freiheit haußt im engen Raume Hannchen ihren Vater ins Elternhaus zurückkeh- Wohnt in der Brust der Redlichkeit ren zu dürfen: „Ich will mein Kinderleben wie- Sie wohnt in unserm kleinen Zimmer der anfangen, will Papa mich bei sich aufneh- Und unser Theetisch sey ihr immer Zum bleibenden Altar geweiht.“18) men?“ Sophie Reimarus Antwort: „Gutes Kind. Du hast nie aufgehört, es zu führen; denn rein Sophie Hennings hatte im Alter von 28 Jah- und kindlich ist dein Leben immer gewesen.“20) ren, am 8.6.1770, den Arzt, Naturforscher und Diese kindliche Liebe sollte Sophie Reimarus in Philosophen Johann Albert Heinrich Reimarus besonderem Maße zuteil werden, als sie bettlä- geheiratet. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie gerig wurde und Hannchen sie aufopfernd bis von Pinneberg nach Hamburg gereist war, um zu ihrem Tode pflegte. Sophie Reimarus starb drei sich der von ihm in Hamburg eingeführten Po- Jahre nach dem Tode ihres Mannes, am 30. Sep - ckenimpfing zu unterziehen. Zu Hannchen, der tember 1817. Tochter aus der ersten Ehe ihres Mannes, gesell- Text: Brita Reimers ten sich 1771 die Tochter Christine, (1771–1815), Siehe auch Ü Klopstockstraße, Rudolphiplatz, die später (1786) den französischen Gesandten Schlegelsweg, zu Schelling: siehe unter Schle- gelsweg, in diesem Band. in Hamburg, Karl Reinhard heiratete und einen Siehe auch Ü Baron-Voght-Straße, Groß Flott- umfänglichen Briefwechsel mit Wilhelm von bek, seit 1928: Baron Caspar Voght (1752– Humboldt führte, und 1774 der Sohn Hermann, 1839), Kaufmann, machte seinen Besitz in der Kaufmann wurde. Flottbek zu einem landwirtschaftlichen Muster- Caspar-Voght-Straße, Der Tagesablauf im Hause Reimarus, den betrieb, und Hamm- Nord, seit 1916, in Bd. 3 online**. Piter Poel (siehe Ü Poelsweg, in Bd. 3 online**) Siehe auch Ü Lessingstraße, Hohenfelde, seit beschreibt, bestätigt noch einmal die geistige Be- 1863: Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), weglichkeit und Bildung Sophie Reimarus’: „Der Dichter, Schriftsteller, in Bd. 3 online** Theetisch vereinigte die Gatten früh morgens,

** Band 3 online unter: www.ham- Altona am Ende des 18. Jahrhunderts. der Aufklärung in Hamburg und Al- burg.de/maennerstrassennamen In: Inge Stephan, Hans-Gerd Winter tona. 2. Aufl. Hamburg 1990. (Hrsg.): Hamburg im Zeitalter der 19) Gustav Poel: Bilder aus vergange- 17) Zit. nach: Inge Stephan: Aufklä- Aufklärung. Berlin, Hamburg 1989. ner Zeit nach Mitteilungen aus groß- rer als Radikale? Literarische und po- 18) Zit. nach: Franklin Kopitzsch: enteils ungedruckten Familienpapie- litische Opposition in Hamburg und Grundzüge einer Sozialgeschichte ren. Teil II. Kapitel I. Hamburg 1887. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 352

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Siehe auch Ü Moses-Mendelssohn-Brücke, wandten sieht [sie] in den Kindern, die gleich Harburg, seit 1998: Moses Mendelssohn ihr in einer Welt leben, ‚in der es noch Einfalt, (1792–1786), Philosoph, in Bd. 3 online**. frische, rosa Brillen und fröhliche Märchengläu- Siehe auch Ü Poelsweg, Hamm, seit 1929: Piter bigkeit‘ gibt.“22) Poel (1760–1837), Schriftsteller, Herausgeber des altonaischen Mercurius, in Bd. 3 online**. Sophie Reinheimers Berufswunsch lag nahe: Siehe auch Ü Sievekingdamm, Hamm, seit 1945: Sie wollte Kindergärtnerin werden. Ihre Eltern Dr. Karl Sieveking (1787–1847), Senatssyndikus. hatten wegen der zarten Konstitution ihrer Toch- Hier Text zu seiner Mutter Hannchen Sieveking. ter jedoch starke Bedenken. Dennoch setzte Siehe auch Ü Tiecksweg, Eilbek, seit 1904: Sophie Reinheimer ihren Berufswunsch durch Ludwig Tieck (1773–1853), Dichter, Drama- und begann 1898 eine Kindergärtnerinnenaus- turg, in Bd. 3 online**. bildung am Fröbelschen Kindergärtnerinnen-Se- minar in Frankfurt am Main. Nach dem Ausbil- Reinheimerweg dungsabschluss arbeitete sie einige Jahre im Iserbrook, seit 1953, benannt nach Sophie Rein- Seminar und in Privathaushaltungen. Aber ihre heimer (20.7.1874 Brüssel–9.10. 1935 Hofheim/ körperliche Konstitution ließ dies nicht lange zu. Taunus), Kindergärtnerin, Kinderbuchautorin. Es folgten zahlreiche Kuraufenthalte, bis die 28- Erste Autorin des neugegründeten Kinderbuch- jährige Sophie Reinheimer sich schließlich – verlages Friedrich Schneider unter einer rheumatischen Erkrankung leidend und wegen ihres labilen psychischen Gesund- Ihr Vater Josef Adolph Christian Reinheimer heitszustands – in die Kurklinik von Sanitätsrat (1842–1910), von Beruf Kunstmaler, besaß eine Dr. Max Schulze-Kahleyß in Hofheim am Taunus Fabrik zur Produktion von Brüsseler Spitzen. Ver- begab. heiratet war er mit der Frankfurterin Sofie Elise 1907 erschien ihr erstes Kinderbuch „Von van der Heyden (1850–1915), Tochter eines Mode- Sonne, Regen, Schnee und Wind und anderen Kaufmannes und Perückenmachermeisters. 1878 guten Freunden“. 1913 begann die langjährige zog die Familie nach Leipzig, zehn Jahre später Zusammenarbeit mit dem Franz Schneider Ver- nach Frankfurt am Main. lag, dessen Ziel es war, Kindern kindgerechte In Leipzig hatte sich Sophie Reinheimer, die Bücher anzubieten. Sophie Reinheimer schrieb noch eine zwei Jahre jüngere Schwester hatte, märchenhafte Erzählungen. Durch sie sollte mit den Töchtern des Verlagsbuchhändlers Carl dem kleinbürgerlichen Stadtkind des Indus - Reissner angefreundet. Dieser gab einen der triezeitalters die Natur nahegebracht werden. Briefe von Sophie, die sie an seine Kinder ge- Insgesamt erschienen von ihr ca. 40 Bücher in schrieben hatte und dessen Inhalt von Puppen einer Gesamtauflage von mehr als fünf Mil - und Spielen handelte, in einer Zeitschrift heraus lionen Exemplaren. Besonders in den 1920er- – das erste Gedruckte von Sophie Reinheimer, und 1930er-Jahren waren ihre Kinderbücher die von Geburt an kränkelte. Sie selbst beschrieb sehr beliebt. sich einmal als „armes, gebrechliches Großstadt- Wegen ihrer Erkrankung konnte Sophie kind“.21) Reinheimer keine weiten Reisen unternehmen Sophie Reinheimer liebte Vögel, Blumen, und keine großen Gesellschaften abhalten. Sie Bäume, Sonne, Natur. „Ihre wahren Seelenver- hatte aber einige beste Freundinnen.

** Band 3 online unter: www.ham- nach: Blumenhimmel – Alltagsfreu- gendbuchforschung der Johann-Wolf- burg.de/maennerstrassennamen den. Sophie Reinheimer 1874–1935. gang Goethe-Universität Frankfurt Eine Ausstellung im Stadtmuseum am Main. Frankfurt/Main 1995, S. 11. 20) Zit. nach: Georg Heinrich Sieve- Hofheim am Taunus 23. September – 22) Reinheimer 1924, Bl. 13, zitiert king, a. a. O. 5. November 1995. Stadtmuseum nach: Blumenhimmel – Alltagsfreu- 21) Reinheimer 1924, Bl. 11, zitiert Hofheim am Taunus. Institut für Ju- den, a. a. O., S. 12. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 353

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Nach dem Tod der Eltern gerieten die bei- ten den Hund Gassi und erledigten für einige den Schwestern Sophie und Marie, die zusam- Bonbons kleine Besorgungen. men lebten, in finanzielle Schwierigkeiten und Nach dem Tod von Sophie Reinheimer wur- mussten einen Teil ihres geerbten Besitzes ver- de die Mainstraße nach ihr umbenannt. Die kaufen. Schwester Marie zog nach Frankfurt am Main, Ihre letzten Lebensjahrzehnte verbrachte wo sie 1952 verstarb. Sophie Reinheimer mit ih rer Schwester in Hof- „Die letzte Veröffentlichung von Sophie heim. Dort lebten sie seit Reinheimers Märchen erscheint 1990 im Schnei- 1924 in einer Dachstube der-Verlag mit dem Titel ‚Meine Märchenwelt‘. im Alten- und Pflegeheim Aufgrund fehlender Nachfrage gibt es jedoch Marienheim, betreut von keine weiteren Auflagen mehr.“23) den dortigen Schwestern. 1925 schloss die Stadt Hof heim mit den Schwes- Reitzeweg tern Reinhei mer einen Ver- Groß Borstel, seit 1951, benannt nach Johanne sor gungsver trag. Danach Caroline Agnes Reitze, geb. Leopolt (16.1.1878 Sophie Reinheimer über nahm die Stadt die Hamburg–22.2.1949 Hamburg), SPD-Reichstags - Versor gung der Schwes- abgeordnete, führende Funktionärin der sozial- tern und erhielt als Gegenleistung deren Besitz. demokratischen Frauenbewegung 1926 wurde Margarete Hilsboe Sophie Rein- Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem heimers Reisebegleiterin. Gemeinsam mit der Ohlsdorfer Friedhof. Schwester Marie unternahmen die drei trotz Sophie Reinheimers Gebrechlichkeit beispiels- Johanne Reitze entstammte einer Arbeiterfamilie. weise Fahrten in den Schwarzwald und in den So war ihr Bildungsweg vorprogrammiert: Volks- Rheingau. Sophie Reinheimer besuchte Veran- schule, Arbeit als Dienstmädchen, später als Ar- staltungen und Jahr märkte und besonders Rad - beiterin. Johanne Reitze war in einer Druckerei rennen. Auch nahmen die Schwestern noch die tätig. Dort lernte sie Kollegen und Kolleginnen Strapazen eines Umzuges aus dem Marienheim kennen, die sie mit der Arbeiterbewegung ver- in eine Wohnung in der Hofheimer Mainstraße traut machten, so dass sie 1902 den Entschluss auf sich. fasste, in die SPD einzutreten. Befreundet war Sophie Reinheimer auch mit Zwei Jahre zuvor hatte sie den sozialdemo- der Puppenherstellerin Kä the Kruse, von der sie kratischen Journalisten Johannes Carl Kilian- auch zwei Puppen besaß. Reitze geheiratet. Auch er wird ihren politischen Als ihre Erkrankung es ihr immer weniger Weg beeinflusst haben. Zusammen mit ihm ging erlaubte, das Haus zu verlassen, pflegte Sophie sie 1904 für ein halbes Jahr auf die Parteischule Reinheimer noch weiter Kontakte und Freund- nach Berlin. schaften. So wurde sie von Mädchengruppen Von 1916 bis 1919 war sie Vorstandsmitglied besucht, denen sie Geschichten erzählte. Als im Landesvorstand der Hamburger SPD und bis Gegenleistung spielten die Mädchen der Schrift- 1931 regelmäßig Delegierte bei den SPD-Frauen-

Abb.: Stadtarchiv Hofheim am Taunus, Monika Gellert-Benner Monika Taunus, am Hofheim Stadtarchiv Abb.: stellerin Kaspertheater vor. Nachbarjungen führ- konferenzen und SPD-Parteitagen auf Reichs-

23) Reinheimer 1924, Bl. 13, zit. nach: Blumen himmel– Alltagsfreu- den, a. a. O., S. 24. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 354

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ebene. So war sie sicherlich daran beteiligt, als Ein Höhepunkt ihrer Parteikarriere stellte im April 1918 erstmals eine gemeinsame Kund- die 1919 erfolgte Wahl in die Nationalversamm- gebung der bürgerlichen und sozialdemokrati- lung dar. 310 Frauen waren für die Wahl aufge- schen Frauen für das Frauenstimmrecht im stellt worden. Das war sehr viel und lag daran, Hamburger Gewerkschaftshaus stattfand. Die Zu- dass nach der Novemberrevolution auch die sammenarbeit zwischen bürgerlichen und sozial- bürgerlichen Parteien, die sich bis dahin gegen demokratischen Frauen war durch die schon die staatsbürgerliche Gleichstellung der Frauen während des Ersten Weltkrieges zustande gekom- gewehrt hatten, die Frauen „entdeckt“ hatten – mene Kooperation auf dem Gebiet der Kriegshil fe schließlich waren diese potenzielle Wählerin- entstanden. Der Anstoß für die Zusammenarbeit nen. Allerdings wurden nur 36 Frauen in die Na- in der Kriegshilfe war vom SPD-Parteivorstand tionalversammlung gewählt, drei rückten nach. und der Generalkommission der freien Gewerk- Damit machten die Parlamentarierinnen 9,6% schaften ausgegangen. Sie riefen, nachdem „die aller ParlamentarierInnen in der Nationalver- sozialdemokratische Reichstagsfraktion für die sammlung aus. Unter ihnen war Johanne Reitze Bewilligung der Kriegskredite gestimmt hatte, lange Zeit die einzige weibliche Abgeordnete die Genossinnen (...) zu einer ‚allgemeinen aus dem Wahlkreis Hamburg. Hilfsaktion‘ auf. Um eine Das Hauptbetätigungsfeld der Politikerin- Zersplitterung der Kräfte nen waren die „angestammten“ so genannten in der Kriegsfürsorge zu Frauenbereiche wie Sozialpolitik, Wohlfahrts- vermeiden, sollten sie ge- pflege, Jugend-, Gesundheits- und Schulpolitik. mein sam mit den bürger- Dadurch war es den Politikerinnen nicht mög- lichen Frauen im Natio- lich, in allen Politikfeldern die Interessen der nalen Frauen Dienst tätig Frauen einzubringen. Die „Große Politik“ rich- werden. Diese Aufforde- tete sich weiter nach den Interessen der männ- rung entsprach der Burg- lich dominierten Gesellschaft. friedenspolitik, die die Über das Wirken Johanne Reitzes während Johanne Reitze Mehrheit in der SPD-Füh- der NS-Zeit ist kaum etwas bekannt. 1944 wur - rung [so auch Johanne de sie von der Gestapo verhaftet und kam in Reitze] seit Kriegsbeginn in dem Glauben be- „Schutzhaft“. trieb, daß Deutschland einen ,Verteidigungskrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie am gegen den russischen Despotismus‘ führe“.24) Wiederaufbau der Arbeiterwohlfahrt beteiligt. Neben dieser Tätigkeit in der Kriegshilfe war Siehe auch Ü Johanne-Reitze-Weg, in diesem Johanne Reitze auch Beiratsmitglied des Ham- Band. burger Kriegsversorgungsamtes und des Speise- ausschusses der Kriegsküchen und arbeitete für die Kriegsfolgehilfe und die Kriegshinterbliebe- Ricarda-Huch-Ring nenfürsorge. Bergedorf, seit 1985, benannt nach Ricarda Huch, Von 1919 bis 1921 war sie Mitglied der Ham- Pseudonym: Richard Hugo (18.7.1864 Braun- burgischen Bürgerschaft und von 1919 bis 1933 schweig–17.11.1947 Schönberg/Taunus), Erzähle-

Mitglied des reichsweiten SPD-Parteiausschusses. rin, Lyrikerin, Schriftstellerin und Historikerin v.l.n.r.:Abb. Marbach | Deutsches Literaturarchiv Hamburg Staatsarchiv

24) Karen Hagemann, Jan Kolossa: Gleiche Rechte, Gleiche Pflichten?, Hamburg 1990. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 355

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Ricarda Huch wurde als jüngstes von drei Kindern zwei Jahrhunderten“. Ricarda stürzte sich dar- einer Braunschweiger großbürgerlichen Kauf- aufhin in eine neue Beziehung, in der sie aber mannsfamilie geboren. Die Ehe der Eltern war kaum geistige Berührungspunkte fand. Dennoch zerrüttet, der Vater trieb die Familie in den fi- heiratete sie, die seit 1897 in Wien lebte, 1898 nanziellen Ruin. Er kümmerte sich mehr um Li- den neuen Mann an ihrer teratur und Kunst als um Geschäfte. Im Alter Seite – den Zahnarzt Er- von sechzehn Jahren verliebte sich Ricarda un- manno Ceconi. Zwischen glücklich in ihren Vetter Richard, der Ricardas 1898 und 1900 lebte sie ältere Schwester Lilly geheiratet hatte. In dieser mit ihm in seiner Heimat- Situation des familiären Untergangs ging Ricarda stadt Triest und bekam Huch 1886 nach Zürich, wo sie das Abitur nach- eine Tochter. 1906 kam es holte und dort Geschichte, Philosophie und zur Scheidung und zu ei- Philologie zu studieren begann. Frauen durften ner erneuten Annäherung damals in Deutschland noch nicht studieren. an Richard. Als sich Ricar- Ricarda Huch 1892 promovierte sie in Zürich als eine der er- das Schwester Lilly von sten deutschen Frauen an der dortigen philoso- Richard scheiden ließ, heirateten Richard und phischen Fakultät. Ricarda 1907. Aber auch diese Ehe verlief un- In Zürich befreundete sich Ricarda Huch mit glücklich, und es kam 1911 zur Scheidung. In der späteren Sozialpolitikerin Marie Braun, über dieser Zeit wandte sich Ricarda Huch dem his- die sie 1950 eine Biographie verfasste (Leuch- torischen Roman zu. Vorher hatte sie mehr tende Spur). Autobiographisches in ihre Romane einfließen Bereits während ihres Studiums hatte Ri- lassen. Nun, nach den vielen zwischenmensch- carda Huch eine Anstellung als unbezahlte Hilfs- lichen Enttäuschungen, begann sie sich durch kraft an der Züricher Stadtbibliothek angenom- ihre historischen Romane, „mit den großen men. Ab 1891 arbeitete sie dort als bezahlte männlichen Helden zu identifizieren. (...) Die Bibliothekarin. Der Beruf sagte ihr wenig zu; historischen Romane und Biographien halfen 1894 kündigte sie. In dieser Zeit hatte Ricarda ihr, die persönliche Misere zu transzendieren“, Huch schon einiges veröffentlicht. Gleichzeitig so Inge Stephan. Ricarda Huch schrieb u. a. begann sie als Lehrerin an einer Töchterschule über Wallenstein, Luther und Bakunin. tätig zu werden. Und sie traf sich wieder mit Ri- Viele Jahre lebte Ricarda Huch in München chard, den sie heimlich immer noch liebte und (1912–1916 und 1918–1927). Hier lernte sie den sie in ihren Gedanken zu einem Ideal stili- auch Katia Mann und Gertrud Bäumer (siehe Ü siert hatte. „Richard jedoch flieht, von den über- Gertrud-Bäumer-Stieg, in diesem Band) kennen steigerten Ansprüchen Ricardas und der eigenen und kam in Kontakt mit der damaligen Frauen- Courage in panischen Schrecken versetzt, mit bewegung. einer melodramatischen Geste zurück in die Zwischen 1927 und 1932 lebte sie mit ihrer Arme seiner Ehefrau nach Braunschweig“, so Tochter Marietta in Berlin. 1931 erhielt sie den Inge Stephan in ihrer Kurzbiographie über Ricar- Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main. 1933 da Huch in dem 1990 von Hans Jürgen Schultz sollte sie eine von den Mitgliedern der Preußi- herausgegebenen Buch „Frauen, Porträts aus schen Akademie der Künste verlangte Loyalitäts- Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 356

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erklärung gegenüber dem NS-Regime unter- Ricarda Huch fungierte in diesem Ost-West- schreiben. Sie tat es nicht und trat aus Protest Konflikt als Integrationsfigur. gegen die Judenverfolgung und gegen den Aus- 1946 begann sie, an einem Buch über den schluss von Käthe Kollwitz (siehe Ü Kollwitzring, antifaschistischen Widerstand zu schreiben. Kurz in diesem Band) und Alfred Döblin als erstes vor ihrem Tod im Jahre 1947 übergab sie ihre Mitglied aus der Preußischen Akademie der Aufzeichnungen dem Schriftsteller Günther Weis- Künste aus, in der sie 1926 Mitglied geworden senborn, der diese in seinem 1953 erschienenen war. Ihre Haltung gegenüber dem NS-Regime Buch „Der lautlose Aufstand“ verarbeitete. blieb kompromisslos. Ihre Werke wurden des- Ricarda Huch war auch Mitglied und Alters- halb in dieser Zeit kaum verlegt. Dennoch er- präsidentin der Beratenden Landesversammlung hielt sie zu ihrem 80. Geburtstag Glückwünsche Thüringen. Ein Zitat von ihr schmückt das Foyer von Goebbels und Hitler. Die Nationalsozialisten des Landtages in Thüringen: „Es sei dem Lande ließen Ricarda Huch wegen ihrer italienischen Thüringen beschieden, dass niemals mehr im Verbindungen, die sie in ihrer Zeit in Triest ge- wechselnden Geschehen ihm diese Sterne unter- knüpft hatte, unbehelligt. Damals in Italien hatte gehen: Das Recht, die Freiheit und der Frieden.“ sie eine Geschichte über die italienische Eini- Als ihr Schwiegersohn Franz Böhm 1947 in gung unter der Führung von Giuseppe Garibaldi Hessen Kultusminister wurde, zog sie nach veröffentlicht, die von den italienischen Faschis- Frankfurt a. M. nach. Doch die Reisestrapazen ten sehr gelobt worden war. Ricarda Huch er- im ungeheizten Zug verkraftete sie nicht mehr. hielt sogar 1944 den Wilhelm-Raabe-Preis. Selbst Sie starb im Gästehaus der Stadt Frankfurt in lebte sie während der Zeit des Nationalsozia- Schönberg und wurde auf dem Hauptfriedhof lismus in der inneren Emigration. Ihre Wohnung Frankfurt begraben. in Jena – dort wohnte sie zwischen 1935 und Siehe auch Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, Königskin- 1947 bei ihrer Tochter und deren Ehemann – derweg, Kollwitzring, in diesem Band. wurde zu einem Treffpunkt von GegnerInnen des Nationalsozialismus. Nach Kriegsende übernahm Ricarda Huch Riwka-Herszberg-Stieg den Ehrenvorsitz des Kulturbundes in der sowje- Schnelsen, seit 1993, be- tisch besetzten Zone und das Ehrenpräsidium nannt nach Riwka Hersz- des zentralen deutschen Frauenausschusses. berg, sechs Jahre alte Zudem war sie Ehrenpräsidentin des ersten ge- Polin aus Zdunska Wola. samtdeutschen Schriftstellerkongresses nach Opfer des Nationalsozia- Kriegsende, der vom 4. bis 8. Oktober 1947 in lismus. Kindermord in der Berlin stattfand und an dem über 200 Schriftstel- Schule am Bullenhuser lerinnen und Schriftsteller aus vielen Ländern Damm teilnahmen, um einen gemeinsamen Standort für den geistigen Wiederaufbau Deutschlands zu Riwka Herszberg war die Riwka Herszberg finden. Wegen unterschiedlicher ideologischer Tochter eines Tuchfabri- Standpunkte kam es jedoch zu einer Aufspal- kanten. Auf der Flucht vor tung in ein westliches und ein östliches Lager. den Deutschen wurde die Familie gefangen ge- Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 357

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nommen und nach Auschwitz transportiert. Der schrieb über das Schicksal der 20 jüdischen Vater wurde in Birkenau ermordet. Die Mutter Kinder, die am 20.4.1945 in der Schule Bullen- huser Damm ermordet wurden, in Bd. 3 on- „überlebte das Lager und ging in die USA. Sie line**. wurde schwer krank, hatte einen Schlaganfall und litt an Depressionen. Als ihr das Foto von Riwka vorgelegt wurde, erkannte sie ihre Tochter Rosa-Schapire-Weg nicht.“25) Bergedorf, seit 1989, benannt nach Dr. Rosa Siehe auch Ü Geschwister-Witonski-Straße, Schapire (9.9.1874 Brody–1.2.1954 London), Jacqueline-Morgenstern-Weg, Lelka-Birnbaum- Kunsthistorikerin und Übersetzerin, Sammlerin Weg, Wassermannpark, Zylberbergstieg, expressionistischer Kunst. Förderin des Malers Zylberbergstraße, in diesem Band. Karl Schmidt-Rottluff Siehe auch Ü Brüder-Hornemann-Straße, Schnelsen, seit 1993: Alexander und Eduard Hornemann, acht und zwölf Jahre alt, nieder- Rosa Schapire wurde als viertes von fünf Kindern ländische Opfer des Nationalsozialismus, in einer angesehenen jüdischen Familie in Ostgali- Bd. 3 online**. zien geboren. Sie studierte als eine der ersten Siehe auch Ü Eduard-Reichenbaum-Weg, Schnelsen, seit 1993: Eduard Reichenbaum Frauen Kunstgeschichte. Da es damals noch sehr (1934–1945), zehnjähriges polnisches Kind, ungewöhnlich war, dass Frauen studierten, er- Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- fuhr sie immer wieder Repressalien und Miss - line**. achtung. So war dann auch das Thema ihrer Siehe auch Ü Georges-André-Kohn-Straße, ersten nachweisbaren Veröffentlichung als Stu- Schnelsen, seit 1992, zwölfjähriges Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. dentin nicht zufällig gewählt. Der Titel: „Ein Siehe auch Ü Jungliebstraße, Schnelsen, seit Wort zur Frauenemanzipation“ (1897). „Wort- 1995, zwölfjähriger Jugoslawe, Opfer des Na- gewaltig plädiert sie für freie Berufswahl und tionalsozialismus, in Bd. 3 online**. gerechte Bezahlung, will die Kindererziehung Siehe auch Ü Marek-James-Straße, Schnelsen, dem Staat übertragen und fordert die Gemein- seit 1995: Marek James, sechs Jahre alter Pole, schaftsküche. Radikal räumt sie auf mit allen Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- line**. verklärenden Hausfrau- und Mutter-Allüren, Siehe auch Ü Marek-Steinbaum-Weg, Schnel- wohl wissend, dass die selbstverantwortlich le- sen, seit 1993: Marek Steinbaum, zehn Jahre bende Frau nicht nur frei, sondern auch einsam alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in sein wird. (…) ‚Selbstständigkeit im Urteil‘ ist Bd. 3 online**. für Schapire die Qualität der emanzipierten Frau Siehe auch Ü Roman-Zeller-Platz, Schnelsen, und Partnerin. In der bürgerlichen Gesellschaft seit 1995: Roman Zeller, zwölfjähriger Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- sieht sie die Frauenfrage zur Damenfrage ver- line**. kommen. Deshalb gibt es im kapitalistischen Siehe auch Ü Sergio-de-Simone-Stieg, Schnel- Staat keine Lösung, allein die sozialistische Par- sen, seit 1993: sieben Jahre alter Italiener. tei ermöglicht eine freiheitliche Gesellschaft, ‚in Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- der der Mensch den Beruf, nicht aber der Beruf line**. den Menschen hat‘.“26) Siehe auch Ü Günther-Schwarberg-Weg, Schnel- sen, seit 2013: Günther Schwarberg (1926– Rosa Schapire verdiente sich ihr Studium

Abb.: KZ Gedenkstätte Neuengamme/Sammlung Schwarberg KZ Gedenkstätte Neuengamme/Sammlung Abb.: 2008), Autor, Journalist, recherchierte und mit Übersetzungen und Sprachunterricht und

** Band 3 online unter: www.ham- grün …, in: Sabine Schulze (Hrsg): 15. November 2009. Ostfildern 2009, burg.de/maennerstrassennamen Rosa, eigenartig grün. Rosa Schapire S. 13. und die Expressionisten. Publikation 25) Günther Schwarberg: Straßen zur Ausstellung: Rosa. Eigenartig der Erinnerung. Hamburg, 1992. grün im Museum für Kunst und Ge- 26) Sabine Schulze: Rosa. Eigenartig werbe Hamburg vom 28. August – Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 358

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promovierte in Heidelberg. Sie wurde passives 1908, nach einigen unruhigen Wanderjah- Mitglied der Künstlergruppe die „Brücke“, die ren, die Rosa Schapire auch nach England ge- 1905 von Ernst Ludwig Kirchner (siehe Ü Kirch- bracht hatten, hatte sie sich in Hamburg nie- nerweg, in Bd. 3 online**), Erich Heckel, Karl dergelassen und war in den dritten Stock der Schmidt-Rottluff (siehe Ü Schmidt-Rottluff-Weg, in Osterbekstraße 43 gezogen. Dort ließ sie 1921 Bd. 3 online**) und Fritz Bleyl gegründet wor- zwei Räume von Schmidt-Rottluff gestalten. „Mö- den war. „Ihre sozialutopische Haltung teilt sie bel und Accessoires bildeten mit den starkfarbi- mit Karl Schmidt-Rottluff und den meisten Künst - gen Wänden und Bildern ein expressives En- lern der Brücke (…).“27) semble. Die Wände waren in stumpfem Grün Auch Emil Nolde (siehe Ü Noldeweg, in Bd. 3 gestrichen, die Möbel in Gelb, Braun und Blau. online**) gehörte der Gruppe an. Rosa Schapire Jack Goldschmidt, Tischler und Innenarchitekt, hielt 1908 den Einführungsvortrag bei der ersten hatte sie nach Zeichnungen Schmidt-Rottluffs in Schleswig-Holstein veranstalteten Nolde-Aus- gebaut: einen kastenförmigen Tisch und drei Ho- stellung in Hadersleben. Nolde war begeistert cker, verschiedene Kästen, einfache Schränke, von Rosa Schapire und ihrer Art, seine Kunst zu einen Bücher- und Grafikschrank, ein Bücher- interpretieren. Allerdings kam es zwischen den gestell und eine Heizungsverkleidung (Ofen- beiden bald zu einer Entfremdung, was zeit- schirm). Dazu kam eine Holztruhe von 1911. gleich mit Noldes Austritt aus der „Brücke“ ge- Alles wurde bemalt, auch die Kokosteppiche schah. „Der überempfindliche Nolde verlangte in und Kissen.“29) gleichem Maße die Wertschätzung seiner Kunst Rosa Schapire wurde zur großen Förderin wie auch seiner Person und nahm es übel, wenn Schmidt-Rottluffs. 1910 besaß sie bereits eine hier ein Missverhältnis entstand. Als 1910 in der vollständige Sammlung seiner Grafik. Schmidt- Galerie Commeter neben Nolde auch Arbeiten Rottluff portraitierte sie mehrere Male. von Schmidt-Rottluff gezeigt wurden, entbrannte 1913 löste sich die „Brücke“ auf. Rosa Scha- ein Streit um die Verteilung der Ausstellungs- pire, obwohl hauptsächlich mit Schmidt-Rottluff räume, bei dem sich Schapire für Schmidt- beschäftig, setzte sich auch für die anderen Mit- Rottluff eingesetzt hatte. Nolde sah in diesem glieder der „Brücke“ ein. Als Schmidt-Rottluff Verhalten ‚Machenschaften‘ und ‚(schleichen- und andere Künstler in den Ersten Weltkrieg des) Unterminierungswerk‘, sodass Ada Nol - zogen, ergriff Rosa Schapire 1916 die Initiative de am 18. Januar 1910 an Schiefler schrieb: zur Gründung des Deutschen Frauenbundes zur ‚Schapire ist für uns erledigt.‘ Hinzu kam später Förderung deutscher bildender Kunst. Dieser Noldes antisemitische Haltung, die, auf Rosa Frauenbund, zu dem auch Ida Dehmel gehörte Schapire bezogen, 1934 in seinem Erinnerungs- und der in anderen deutschen Städten Zweigver- band Jahre der Kämpfe nachzulesen ist: ‚In der eine besaß, hatte sich ein ähnliches Ziel wie die Kunst war es meine erste bewusste Begegnung „Brücke“ gesetzt. Er wollte „Brücken zwischen mit einem Menschen, anderer Art als ich es war. Schaffenden, Genießenden und Museen“ errich- (…) Juden haben viel Intelligenz und Geistig- ten: „Die Hauptaufgabe der Organisation besteht keit, doch wenig Seele und wenig Schöpfergabe. darin, Gemälde und plastische Werke anzukau- (…) Juden sind andere Menschen als wir es fen und sie deutschen Museen, die moderne 28)

sind.‘“ Kunst sammeln, als Geschenk anzubieten, um Geschichte gemacht“ – „... hat selbst vorausschauend Ahrens, Birgit Abb.: (Hrsg.), Schulze Sabine und die Expressionisten, Schapire Grün, Rosa Eigenartig Rosa, in: Schapire, Rosa von Zur Rezeption 2009, S.39. Hamburg und Gewerbe, Ausstellungskatalog, Museum für Kunst Kuratorin, Beiersdorf, Leonie

** Band 3 online unter: www.ham- Zur Rezeption von Rosa Schapire, Schulze (Hrsg.), a. a. O., S. 224. burg.de/maennerstrassennamen in: Sabine Schulze (Hrsg.), a. a. O., S. 46. 27) Ebenda. 29) Maike Bruhns: Rosa Schapire: 28) Birgit Ahrens: „… Hat selbst vor- Freie Kunsthistorikerin in Hamburg – ausschauend Geschichte gemacht“ – Beruf und Berufung, in: Sabine Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 359

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Kunstwerke der Gegenwart rechtzeitig ihren respektable Sammlung von mehr als sechshun- Platz in jenen Stätten anzuweisen, die die edel- dert Werken besitzt.“32) sten Werke der Vergangenheit aufbewahren.“30) Rosa Schapire, die über kein finanzielles Mit Hilfe dieser Vereinigung erreichte Rosa Scha- Vermögen verfügte, keinen reichen Mann an pire, dass in der Hamburger Kunsthalle Sonder- ihrer Seite hatte, um sich Kunst zu kaufen, lebte ausstellungen moderner Kunst durchgeführt allein für die Kunst und die Kunstvermittlung. wurden, bei denen auch die Werke Schmidt- „Das war den Herren Kunsthistorikern suspekt Rottluffs gezeigt wurden. 1917 kaufte der Frau- und gern spotteten sie über die Frau, die so lei- enbund ein Bild von Schmidt-Rottluff und denschaftlich für die neue, junge expressionisti- schenkte es der Hamburger Kunsthalle. Nach sche Kunst und vor allem für Schmidt-Rottluff dem Ersten Weltkrieg sah stritt. Aby Warburg nannte sie ‚Anregungs-Mas- Rosa Schapire, bedingt seuse‘ und befand, sie sei ‚eigenartig grün‘, an- durch die neuen politi- dere sahen in ihr eine ‚Kunsthetäre‘.“33) schen Verhältnisse, bes- Als Mitglied der Hamburgischen Sezession sere Möglichkeiten für die und als Mitglied der Gedok war Rosa Schapire Durchsetzung und Aner- noch mit vielen anderen modernen Künstlern kennung der modernen und Künstlerinnen bekannt und befreundet, so Kunst. z. B. auch mit Anita Rée (siehe Ü Anita-Rée-Stra ße, Wie kann sich die in diesem Band), Gretchen Wohlwill (siehe Ü Rosa Schapire Nachwelt diese engagier - Gretchen-Wohlwill-Platz, in diesem Band), Alma del te Frau vorstellen? Die Banco (siehe Ü Del-Banco-Kehre, in diesem Band) Kunsthistorikerin Maike Bruhns beschreibt Rosa und Dorothea Maetzel-Johannsen (siehe Ü Maet- Schapire als „kleine, zierliche Frau“, die „den zel weg, in diesem Band). extravaganten Aufzug in leuchtenden Farben“31) Ihren Lebensunterhalt verdiente sie durch liebte. Und Sabine Schulze porträtiert Rosa Vorträge, Museumsführungen und Kunst- und Schapire wie folgt: „Fräulein Dr. Rosa Schapire Sprachkurse an der Hamburger Volkshochschu- ist als Frau eine Ausnahmeerscheinung im ex- le. Eine feste Anstellung hatte sie nie. Dazu pressionistischen Milieu. Weder als Muse noch Maike Bruhns: „Unabhängigkeit war ihr wichtig, als Modell tätig, hat sie keinen Platz in der ero- aber nicht ihre freie Wahl, wie die Literatur tisch aufgeladenen Arbeitssituation der Wohn- kolportiert. Ein handschriftlicher Vermerk ihrer ateliers. Auch die Rolle der liebend einfühlsa- Freundin Agnes Holthusen informiert: ‚Rosa men Ehefrau fällt ihr nicht zu. Sie steht den Schapire war an der Kunsthalle nicht angestellt, Künstlern unabhängig und aktiv gegenüber, sie sondern freie Mitarbeiterin und bemüht, Direk- interpretiert die Kunstwerke der von ihr geschätz - tor Gustav Pauli den Expressionismus nah zu ten Maler, sucht nach Ausstellungsflächen, Käu- bringen.‘ (…) fern und Mäzenen. Berufliches Interesse verwan- Als freie Kunsthistorikerin war sie auf mü- delt sich in Freundschaft, ihr Engagement wird hevollen Broterwerb angewiesen. Neben Aufsät- durch Geschenke belohnt. Grafiken, Bilder und zen und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen Schmuck werden ihr als Anerkennung für ihre schrieb sie laufend Buchrezensionen und be- Vermittlungsarbeit übergeben, bis sie 1939 eine sprach Avantgarde-Ausstellungen. Dreisprachig

30) Rosa Schapire: Der Frauenbund 33) Ute Baier: Man nannte sie Anre- zur Förderung deutscher bildender gungs-Masseuse. Hamburg rekon- Kunst, in: Die literarische Gesell- struiert das Werk der jüdischen schaft 4., Hamburg 1918. Kunsthistorikerin Rosa Schapire, in: 31) Maike Bruhns, a. a. O., S. 218. Die Welt vom 8.9.2009. 32) Sabine Schulze, a. a. O., S. 11. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 360

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aufgewachsen mit Polnisch, Französisch und Otto Mueller, Felixmüller, Gothein, Nesch, Kluth, Russisch, leitete sie Sprachkurse, übernahm Über - Grimm und Fiedler, die Brücke-Publikationen setzungen (Balzac, Zola, Mauclair) und Heraus- und 500 Bücher (…). gaben. (…) Ob sie in der NS-Zeit anonym ver- Die deutschen Behörden raubten alles. In öffentlichte, war nicht festzustellen.“34) einer groß angelegten Aktion wurde der Liftvan In den 1920er-Jahren, als es in der Hambur- im September 1941 als ‚Judengut‘ von der Ge- ger Gesellschaft en vogue war, kleine Gesellschaf- stapo beschlagnahmt und aufgebrochen, sein In- ten zu geben, bei denen WissenschaftlerInnen zu halt in einer amtlichen Auktion an der Drehbahn bestimmten Themen sprachen, war Rosa Scha- am 30. und 31. Oktober 1941 versteigert. Der Er- pire auch dort eine gern gesehene Referentin. lös war gering.“36) Über die Zeit des Nationalsozialismus schreibt Außer ihrer Schmidt-Rottluff-Sammlung und Maike Bruhns: „Mit der Machtübernahme der ihre Sammlung von Künstler-Postkarten hatte Nationalsozialisten sah sich die Kunsthistorike- Rosa Schapire nichts in die Emigration mitneh- rin als Protagonistin der Moderne, speziell des men dürfen. In London lebte sie sehr bescheiden verfehmten Schmidt-Rottluff, wie auch durch in einem Zimmer, die Schmidt-Rottluff-Bilder ga - ihre jüdische Abstammung gefährdet. Ausgren- ben ihr ein Gefühl von Heimat, doch sie litt den- zungen folgten sukzessive. Hatte Bürgermeister noch an Heimweh. Ihren kargen Lebensunter- Krogmann zunächst verfügt, dass sie die Kunst- halt verdiente sie sich mit Übersetzungen. halle jederzeit betreten durfte, war dies auf die Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb sie in Dauer nicht durchzuhalten. Als Wolf Stubbe, England, wollte nicht nach Hamburg zurück- Kustos im Kupferstichkabinett, sie bat, künftig kehren. Ab 1950 schrieb sie in „Eidos“ und wegen der Nazis unter den Angestellten von „Connoisseur“ über wichtige Ereignisse in der weiteren Besuchen der Bibliothek abzusehen, gegenwärtigen deutschen Kunst und Literatur. empfand sie das als Rauswurf. (…) Rosa Schapire starb am 1.2.1954 in der Londo- Weil sie nicht angestellt und willkürlich aus ner Tate-Gallery, in dem Museum, dem sie ihre einem Amt zu entfernen war, konnte sie ihre Schmidt-Rottluff-Sammlung als Dank für die ihr Vorträge zunächst noch öffentlich fortsetzen (…). in London entgegengebrachte Gastfreundschaft Bald konnte sie nur noch vor privaten Hörerkrei- geschenkt hatte. sen sprechen (…). Mit der Zeit blieben die Zu- Siehe auch Ü Anita-Rée-Straße, Del-Banco- hörer wegen des Risikos, denunziert zu werden, Kehre, Gretchen-Wohlwill-Platz, Maetzelweg, in mehr und mehr aus, sodass sich Rosa Schapires diesem Band. Einkünfte auf weniger als die Hälfte minderten. Siehe auch Ü Kirchnerweg, Billstedt, seit 1971: Ludwig Kirchner (1880–1938), Maler, Graphi- Sie engagierte sich nun im Jüdischen Kultur- ker, Bildhauer, in Bd. 3 online**. bund Hamburg (…)“35) Siehe auch Ü Noldering, Steilshoop, seit 1962: 1939 nutzte sie die Chance zur Emigration Emil Nolde (1867–1956), Maler, Graphiker, in nach London. Ihr Hab und Gut wurde in einem Bd. 3 online**. Liftvan im Hamburger Hafen eingelagert. „In Siehe auch Ü Schmidt-Rottluff-Weg, St. Pauli, ihm befanden sich neben dem Hausrat Teile der seit 1987: Karl Schmidt-Rottluff (1844–1976), Maler, Graphiker, in Bd. 3 online**. Schmidt-Rottluff-Einrichtung, drei Mappen mit Grafik von Nolde, Kirchner, Heckel, Pechstein,

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

34) Maike Bruhns, a. a. O., S. 219. 35) Maike Bruhns, a. a. O., S. 235f. 36) Maike Bruhns, a. a. O., S. 243. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 361

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Rosenrotweg das wölfische Hinunterschlingen als kanniba- Billstedt, seit 1952. Motivgruppe: Märchengestal- lisch sich vollziehenden Geschlechtsakt, die ten Steine (die Rotkäppchen dem erschossenen Wolf in den Bauch gelegt hat) hingegen (Symbole der Zwei hübsche, fromme, arbeitsame und gute Sterilität) als vergeltende Bestrafung.“38) Töchter einer armen Witwe lernen im Wald ei- nen Bären kennen, mit dem sie herumtollen. Als es Frühjahr wird, verlässt er sie, um seine Rudolphiplatz Schätze vor diebischen Zwergen in Sicherheit Barmbek-Nord, seit 1930, benannt nach Caroline zu bringen. Die beiden Schwestern haben unter- Rudolphi (24.8.1754 Magdeburg–15.4.1811 dessen dreimal eine Begegnung mit einem dreis- Hamburg), Pädagogin und Gründerin einer Erzie- ten Zwerg, der jedes Mal einen Sack voller hungsanstalt im Stadtteil Hamm Schätze bei sich hat. Der Bär entdeckt den Zwerg und tötet ihn. In diesem Moment fällt sein Bä- In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ent- renfell ab, und ein schöner Königssohn steht standen die ersten Institute, wie das der Hambur- vor den Schwestern. Schneeweißchen wird seine gerin Caroline Rudolphi, die den Mädchen ebenso Frau. „Bruno Bettelheim sah den Märchentypus das Recht auf Bildung zugestanden wie Jungen. Tierbräutigam für gegeben an und die Protago- Die Pädagogin Caroline Rudolphi hatte 1787 an nisten in je zwei Figuren gespalten: einmal die der Hammer Landstraße 75 eine „Erziehungs- rettenden Mädchen, zum anderen der freund- anstalt für junge Demoiselles“ von sechs bis 21 liche Bär, der garstige Zwerg (anziehende und Jahren gegründet. Ihr Vater, der sehr früh starb, ab stoßende Natur des Sexualpartners).“37) war Lehrer am Potsdamer Militärwaisenhaus ge- wesen. „Caroline musste durch Handarbeiten zum Broterwerb der Familie beitragen und konn- Rotkäppchenweg te sich nach dem Elementarunterricht nur auto- Billstedt, seit 1952. Motivgruppe: Märchengestal- didaktisch weiterbilden. Ihre in empfindsamem ten Stil verfassten Gedichte wurden von dem Kom- ponisten Johann Friedrich Reichardt [siehe Ü Als Rotkäppchen ihre Großmutter in deren Wald- Reichardtstraße, in diesem Band] veröffentlicht hütte besuchen will, findet sie in Großmutters und fanden viel Beachtung.“39) Bett einen Wolf vor, der sich als ihre Großmutter In Potsdam hatte Caroline auch ihre einzige verkleidet hat. Der Wolf frisst Rotkäppchen. „Im Liebesaffäre mit einem adligen Offizier. Zu einer Zuge der Zivilisation wurde diese Wolfsfigur im- Ehe kam es aber nicht. mer mehr verharmlost, wie auch Rotkäppchen „Caroline wurde Gouvernante auf einem zunehmend braver, kleiner, unerotischer gehan- Rittergut bei Neubrandenburg, wo sie ihre päda- delt wurde. Romanisten wie Felix Karlinger sa- gogische Begabung entfaltete. Als sie die Stellung hen im Argotausdruck ,rotes Käppchen‘ die Mo- wechseln wollte, baten die Eltern sie, ihre vier natsblutung gekennzeichnet. Psychoanalytiker Töchter zur weiteren Erziehung mit sich zu neh- wie Erich Fromm interpretierten es analog, als men. Sie zog mit ihnen zunächst nach Trittau, Erreichen der weiblichen Reife, und deuteten wo ihr Bruder Ludwig (...) als Hauslehrer bei

37) Ulf Diederichs: Who’s who im Brietzke, Bd.1. Hamburg 2001, Märchen. München 1995. S. 260f. 38) Ulf Diederich, a. a. O. 39) Inge Grolle über Caroline Rudol- phi, in: Hamburgische Biografie. Hrsg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 362

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dem Pädagogen Joachim Heinrich Campe wirk- barber kuriert, was oft große Wirkung hervorge- te. In Campes ,Kinderbibliothek‘ hatte Caroline rufen haben soll. Caroline lobte nur hinter dem Rudolphi bereits Gedichte und Artikel veröffent- Rücken, da sie genau wußte, daß es die Betref- licht. Von der Nähe zu ihm versprach sie sich fende doch erfuhr.“41) Die über 15-jährigen Mäd- Anregung und Hilfe. Tatsächlich kann das von chen halfen beim Haushalt und auch beim Un- ihr 1785 gegründete Erziehungsinstitut für jun- terricht der Kleinen. Caroline Rudolphis Bruder ge Demoiselles als weibliches Pendant zu Cam - Ludwig, ein Botaniker, leitete den wissenschaftli- pes pädagogischer Anstalt betrachtet werden“, chen Teil des Unterrichts, starb aber bereits 1798, schreibt Inge Grolle.40) und Caroline gewann als seinen Nachfolger den Caroline Rudolphi hatte nun in der Hammer als Physiker bekannten Professor Benzenberg [sie - Landstraße ihre Anstalt, in der auch Elise Reima- he Ü Benzenbergweg, in Bd. 3 online**], der später rus unterrichtete (siehe Ü Direktor der Düsseldorfer Sternwarte wurde. Reimarusstraße, in diesem An Unterricht gab es u. a. Zeichnen, Tan- Band). Das Haus hatte zen, Englisch, Klavierspiel, Religion. Zum Tanz- Georg Heinrich Sieveking unterricht lud sie manchmal Jungen aus be- zur Verfügung gestellt. nachbarten Familien ein. Auch wenn sie mit In ihrer Erziehungs- ihren Mädchen nicht auf Bälle ging, um nicht anstalt waren oft bis zu ihre Eitelkeit zu wecken, hielt sie es dennoch für 24 junge Mädchen zwi- grundfalsch, wenn die Mädchen nicht in Berüh- schen sechs und 21 Jahren rung mit Jungen kamen, weil sonst ein unnatür- Caroline Rudolphi un tergebracht. „In ihrem liches Benehmen gegenüber dem anderen Ge- Lehrplan nahm die Hand- schlecht die Folge sein würde. ar beit eine wesentliche Stelle ein, denn die - Caroline Rudolphi „ver trat eine geschlechts- se Sei te der Schultätigkeit gehörte damals zur spezifische Bildung: Ihrer Meinung nach sollte ‚mo dernen‘ Pädagogik. Aber auch in diesen Ar- alle Verstandeskultur vom Manne ausgehen, die beitsstunden wird aus Reisebeschreibungen, Entwicklung des eigentlich weiblichen Charak- geschicht lichen und historischen Werken stets ters, des Zartgefühls, hingegen Aufgabe von Frau- vorgelesen. Sie hatte auch eine ausgesprochene en sein“,42) so Inge Grolle weiter. Abneigung gegen sogenannte Kinderbücher (…). „Caroline Rudolphi gehörte zum Hambur- Sie hielt ferner in ihrem Institut auf ein gutes, rei- ger Campe-Reimarus-Sieveking’schen Kreis und nes, dialektfreies Deutsch. (…) Mit wenig Straf- war u. a. befreundet mit der späteren Senatorin mitteln regierte die Rudolphi ihren kleinen Staat. Westphalen, Elise v. d. Recke und mit Amalia v. (…) ein großes Erziehungsmittel [bestand] darin, Ompteda.“43) Letztere war mit dem Grafen von mehr oder weniger bereit zu sein, Bewei se der Münster-Meinhövel verheiratet und verbrachte kindlichen Liebe anzunehmen. Wer sich beim oft längere Zeit bei Caroline Rudolphi in Hamm. Essen unschicklich benahm, musste in ei nem be- Als das Haus in Hamm verkauft werden sollte, sonderen Zimmer essen. Mitunter steckte sie eine kaufte der Graf das Haus, ohne seinen Namen vor dem Abendessen mit einem trockenen Krin- zu nennen und stellte eine Schenkungsurkunde gel ins Bett. Ueble Laune bei den Kleinen wurde aus, worin er Caroline Rudolphi das Haus zur

ernsthaft als Krankheit behandelt und mit Rha- lebenslangen Nutzung mietfrei überließ. Hamburg Staatsarchiv Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- 42) Inge Grolle, a. a. O. burg.de/maennerstrassennamen 43) Hamburgischer Correspondent, a. a. O. 40) Ebenda. 41) Hamburgischer Correspondent vom 11.3.1903. Straßen Bd 2 340-363 R:. 27.07.15 13:33 Seite 363

Biographien von A bis Z / R 363

Der Philosoph Professor Reinhold aus Kiel Siehe auch Ü Klopstockstraße, Reichardtstraße, hatte ein Seelenbündnis mit Caroline Rudolphi Reimarusstraße, in diesem Band. ge schlossen. Er pflegte sie als den „weiblichen Siehe auch Ü Arnimstraße, Osdorf, seit 1941: Sokrates“ zu bezeichnen, und diese Bezeich- Achim von Arnim (1781–1831), Dichter, in Bd. 3 online**. nung wurde unter ihren Freunden allgemein üb- Siehe auch Ü Asmusweg, Marienthal, seit 1950: lich. Er selbst schrieb über sie: „Wir haben uns Matthias Claudius (1740–1815), Dichter, der einander unsere Herzen geöffnet, oder vielmehr auch unter dem Pseudonym Asmus schrieb, sie gegen einander ausgetauscht, würde ich Claudiusstieg und Claudiusstraße, in Bd. 3 on- line**. sagen, wenn es nicht unbescheiden wäre, von diesem weiblichen Sokrates zu denken, daß er Siehe auch Ü Benzenbergweg, Barmbek-Nord, seit 1930: Johann Friedrich Benzenberg (1777– mit dem meinigen vorlieb nehmen könnte. (…) 1845), Physiker, in Bd. 3 online**. Den Dichter Klopstock [siehe Ü Klopstock- Siehe auch Ü Brentanostraße, Osdorf, seit straße, in diesem Band] hatte Caroline Rudolphi 1941: Clemens Brentano (1778–1842), Dichter, seit Jugend verehrt. Ueberaus glücklich war sie Bruder von Bettina von Arnim, in Bd. 3 on- daher, ihn nunmehr persönlich kennen zu ler- line**. nen. Nirgends in Hamburg verweilte der Dichter Siehe auch Ü Voßweg, Uhlenhorst, seit 1914: Johann Heinrich Voß (1751–1826), Dichter, auch lieber als in Hamm, wohin er seine Spa- Übersetzer der Werke von Homer, in Bd. 3 on- zierritte bis kurz vor seinem Tode zu dem Gar- line**. tenhaus der Rudolphi und ihrem Mädchen-Insti- tut lenkte. Sah sich der Dichter doch am liebsten von Jugend und Schönheit umgeben, und des ihm gespendeten Weihrauchs wurde er nicht so leicht überdrüssig.“44) „Jenes aufgeklärte rationalistische Zeitalter am Ende des 18. Jahrhunderts schätzte bei der Frau Geist höher als Schönheit. Und schön war Caroline Rudolphi nicht. Sie war klein und ver- wachsen, einäugig, ihre Gesichtszüge waren herb“, heißt es in den Norddeutschen Nachrich- ten vom 3.9.1954. Bekannt war Caroline Rudolphi auch mit dem Dichter Matthias Claudius (siehe Ü Claudi- usstraße, in Bd. 3 online**), mit Johann Heinrich Voß (siehe Ü Voßweg, in Bd. 3 online**), Gleim, Jakobi, Arnim (siehe Ü Arnimstraße, in Bd. 3 on- line**) und Brentano (siehe Ü Brentanostraße, in Bd. 3 online**). 1803 verließ Caroline Rudolphi Hamburg aus finanziellen Erwägungen und zog mit ihrer Erziehungsanstalt nach Heidelberg.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

44) Ebenda. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 364

364 Biographien von A bis Z / S S

Sapperweg Exemplare verkauft. Agnes Sapper widmete Iserbrook, seit 1953, benannt nach Agnes Sap- dieses Buch ihrer Mutter, die in dem Roman per, geb. Brater (12.4.1852 München–19.3.1929 die Mutter Pfäffling ist. Die Geschichte der „Fa- Würzburg), Kinder- und Jugendbuchautorin, mi lie Pfäffling“ ist ein Loblied auf die kinder- Erziehungsschriftstellerin reiche, bürgerliche, deut - sche Familie. Die Botschaft Agnes Brater war die Tochter von Pauline Brater, der Geschichte lautet: hält geb. Pfaff, und des Juristen, Politikers und Grün- man als Familie zusam- ders der Süddeutschen Zeitung, Karl Brater. Er- men, dann ist es auch zogen wurde sie vom Vater liberal, von der Mutter möglich, trotz materieller fränkisch-protestantisch. Agnes Sapper genoss Not zufrieden und glück- die Bildung einer „höheren Tochter“, bekam Pri- lich zu sein. vatunterricht und arbeitete zunächst als Privat- Agnes Sapper schrieb lehrerin. 1875 heiratete sie den fünfzehn Jahre z. B. auch die Bücher: älte ren und späteren Gerichtsnotar und Lokal- „Die Mutter unter ihren Agnes Sapper, 1914 politiker Eduard Sapper (1837–1898). Fünf Kinder Kindern. Ein Büchlein für wurden geboren, von denen zwei im Kleinkind- Mütter“ (1895); „Das erste Schuljahr. Erzählung alter verstarben. Die Familie lebte zuletzt in Calw. für Kinder von sieben bis zwölf Jahren“ (1895) 1882, ermuntert durch ihren Ehemann, be- und „Das kleine Dummerle und andere Erzäh- gann Agnes Sapper mit ersten schriftstelleri- lungen“ (1904). Während des Ersten Weltkriegs schen Tätigkeiten. Es entstanden kleine Erzäh- veröffentlichte sie zwei „deutsch-nationale bis lungen für Kinder und populärwissenschaftliche zum Chauvinismus“1) hin geprägte Kriegs bücher Erziehungsbücher, aus denen ihre Erfahrungen für Kinder, eins davon hieß „Kriegsbüchlein für als Lehrerin in einer Sonntagsschule mit hinein unsere Kinder“ (1914). flossen. In einigen ihrer Werke werden aber „auch Als sie mit 46 Jahren Witwe wurde, zog sozialkritische Töne laut. Aus ihrem Engage- Agnes Sapper zu ihrer Mutter; die Schriftstelle - ment für strafgefangene Frauen entstand die Ge- rei wurde zu ihrem Broterwerb – und sie hatte schichte von Regine Lenz, in der sich die Toch- damit großen Erfolg. Agnes Sapper wurde eine ter einer Strafgefangenen gegen Anfeindungen der erfolgreichsten und meistgelesenen deutsch- und Verdächtigungen behaupten muss, was ihr sprachigen Jugendbuchautorinnen des frühen mit Hilfe eines wohlwollenden Pfarrers auch ge- 20. Jahrhunderts. Allein von ihrem bekanntes- lingt. Auch die Erzählung ‚Im Thüringer Wald‘ ten Roman „Die Familie Pfäffling“ – ein dreibän- weist beträchtlichen sozialkritischen Gehalt auf. diges Werk, welches erstmals 1907 erschien – Agnes Sapper schildert darin die Not der Spiel-

wur den bis zur Neuauflage 2002 etwa 800 000 zeugmacher-Familien. (…) Aber was wie eine Stuttgart S. 145. 1932, Wirken, und ihr Weg Agnes Sapper – Ihr Agnes Herding-Sapper, Abb.:

1) Dorothea Keuler: Agnes Sapper, in: fembio. www.fembio.org/biogra- phie.php/frau/biographie/agnes- sapper/ Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 365

Biographien von A bis Z / S 365

gut recherchierte Sozialreportage beginnt, endet die Vorurteile und Enge der bürgerlichen Gesell- mit einem Ausweg, für den ein gütiges Schick- schaft zu spüren: Caroline Schlegel-Schelling, geb. sal, Gottes Hilfe und ein glücklicher Zufall ver- Michaelis, Tochter von Louise Philippine An toi - antwortlich sind“.2) nette Michaelis, geb. Schröder, der zweiten Frau „Frau Sappers Tugendkatalog heißt: Pflicht- von Carolines Vater Professor Johann David bewusstsein, Fleiß, Aufrichtigkeit, Hilfsbereit- Michaelis, Orientalist und Theologe an der Uni- schaft, Verlässlichkeit, Anstand und gutes Be- versität Göttingen. nehmen. Und immer wieder Gehorsam. (…) Die Ehe der Eltern beruhte nicht auf einer Kinderbuchexperten von heute würdigen ihre Liebesheirat. Carolines Mutter, Tochter eines Sensibilität für soziale Probleme, ihr einfühlen- Oberpostcommissarius war 22 Jahre jünger als des Verständnis für das, was in einer Kinderpsy- der Vater und hatte Vermögen in die Ehe mitge- che vorgeht. Eine Anwältin des Kindes ist sie bei bracht. Sie bekam neun Kinder und soll sehr aller Liebe dennoch nicht. Ihre Erzählungen streng, sehr ordnungsliebend und depressiv ge- stärken die Autorität der Eltern. Auf kindliche wesen sein. „Die nervenschwache (…) Mutter Bedürfnisse und Erfahrungen eingehend, bringt und der leicht aufbrausende Vater (…) arrangier- sie ihren Lesern den Elternstandpunkt nahe,“3) ten ihr Zusammenleben einschließlich Kindern, schreibt Dorothea Keuler. Hauswirtschaft und Lehrbetrieb so, dass die Le- Einen Teil ihres Honorars aus der Veröffent- bensbereiche völlig getrennt waren (…).“4) Die lichung von „Die Familie Pfäffling“ stiftete Agnes Familie bewohnte ein großes Haus, in dem Stu- Sapper für ein Altenheim in Würzburg, aus dem denten und Gelehrte ein- und ausgingen, so Les- heute ein Wohnheim für psychisch Kranke ent- sing (siehe Ü Lessingstraße, in Bd. 3 online**) standen ist. und Goethe (siehe Ü Goetheallee, in Bd. 3 on- line**). Caroline wurde von Privatlehrern unter- richtet und bekam eine ausgezeichnete Bildung. Schlegelsweg „Da sie von den Kindern aus der zweiten Ehe Eilbek, seit 1904, benannt nach den Dichterbrü- ihres Vaters die Älteste war, lief ihre Rolle hier dern August Wilhelm und Friedrich Schlegel. naturgemäß eher auf Führung und Vorleben, auf 2001/2002 ergänzt um die ebenfalls bedeutende Verantwortung hinaus. Sie musste früh mit sich Ehefrau von August Wilhelm Schlegel, Caroline selbst klarkommen (…). Eine sorglose und aus- Schlegel-Schelling. Neuer Erläuterungstext: be- gedehnte Kindheit war das wohl kaum, eher ein nannt nach den Dichterbrüdern August Wilhelm frühes, allzu frühes Erwachsenwerden. Auffällig Sch. (1767–1845) und Friedrich Sch. (1772–1829) ist eine erstaunliche Abgeklärtheit bei der noch und der Ehefrau des ersteren 1796–1803, Caro- kindlichen Caroline, und andererseits ihre le- line Schl.-Schelling, geb. Michaelis, verw. Böh- benslang erhaltene natürliche Art. (…) Sie lebte mer, gesch. Schlegel, verh. Schelling (2.9.1763 aus einer inneren Mitte heraus, und das blieb Göttingen–7.9.1809 Maulbronn), Schriftstellerin, auch ihr Kraftquell (…).“5) Übersetzerin, Redakteurin Mit ihrer Belesenheit konnte Caroline aber kein Geld verdienen. Auch für diese gebildete Sie war attraktiv, lebenslustig, gut gebildet, lite- Frau galt: um versorgt zu sein, musste sie eine rarisch begabt, politisch engagiert – und bekam gute Partie machen. So heiratete sie in erster Ehe

** Band 3 online unter: www.ham- Schelling. Das Wagnis der Freiheit. burg.de/maennerstrassennamen Eine Biographie. München 2013, S. 8. 5) Ebenda. 2) Ebenda. 3) Ebenda. 4) Sabine Appel: Caroline Schlegel- Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 366

366 Biographien von A bis Z / S

den zehn Jahre älteren Nachbarssohn Johann roline beendete die Liebesbeziehung. „Die Wit- Franz Wilhelm Böhmer. Mit Böhmer, der als Arzt we Böhmer hatte Geschmack an der Freiheit ge- arbeitete, bekam sie drei Kinder, von denen nur funden, und dieses Lebensgefühl, zusammen die Tochter Auguste das Teenager-Alter erreichte. mit dem Entschluss, kein Gefühl zu nähren, das Der Gemahl war zwar liebevoll, aber die gebil- ihr Qualen bereitete, überwog zeitweise ihre Lei- dete Hausfrau langweilte sich: ihr Geist wurde in denschaft für Georg Ernst Tatter.“7) der Ehe nicht gefordert. Böhmer verstarb 1788 Nachdem Caroline über zwei Jahre bei ih - nach wenigen Ehejahren an einer Wundinfek- ren Geschwistern in Marburg gelebt hatte, zog tion, und Caroline wurde mit 24 Jahren Witwe. sie mit ihrer Tochter Auguste (die beiden ande- Sie zog von Clausthal-Zellerfeld, wo sie mit Böh- ren Kinder waren schon verstorben) 1792 zu mer gelebt hatte über Göttingen, wo sie einige ihrer Freundin Therese Forster, um hier ein un- Zeit wieder bei den Eltern lebte, und Marburg a. abhängiges Leben zu führen. Finanziell versuch - d. Lahn nach Mainz zu ihrer Freundin Therese, te sie mit Halstüchernähen und Übersetzungen geb. Heyne, die dort in unglücklicher Ehe mit aus dem Französischen ihre nicht üppige Wit- dem Naturforscher und Jakobiner Georg Forster wenrente aufzubessern. lebte, der die Universitätsbibliothek leitete. Caroline wurde eine Anhängerin der fran- Zuvor hatte Caroline in Göttingen Georg zösischen Revolution und unterstützte die Ideen Ernst Tatter kennengelernt, aus der unteren der Mainzer Republik. Sie trat ein für die Eman- Mittelschicht stammend, aber durch seine Be- zipation des Volkes sowie für das Recht auf ziehungen zum kurhannoverschen Hof zum bri- weibliche Selbstbestimmung und verliebte sich tisch-hannoverschen Legationsrat aufgestiegen. in den französischen Offizier Jean-Baptiste de Als sich die beiden näher kamen, war Caroline Crancé. Weiterhin wohnte sie bei ihrer Freundin zwar schon Witwe, doch hochschwanger mit Therese Forster, und als diese ihren Mann ver- ihrem dritten Kind. „Dass sich zweimal mehrere ließ (nach dessen Tod verheiratete sich Therese Männer in diesem Zustand in sie verliebten, in erneut und wurde als Therese Huber eine be- dem eine Frau sich normalerweise nicht unbe- kannte Schriftstellerin), blieb Caroline weiter bei dingt auf der Höhe ihrer Attraktivität fühlt (…) Forster wohnen – ein unschicklicher Akt in die- ist vielleicht nicht ganz zufällig und deutet mög- ser Zeit, über den getuschelt wurde. licherweise auf ein Wesensmerkmal Carolines In Folge der kriegerischen Auseinanderset- hin, eine Eigenart, eine Ausstrahlung als Frau, zungen und Intrigen wurde Caroline als Unter- die ihre diversen Chronisten (…) in ein stellen- stützerin der Revolution mit ihrer damals acht- weise esoterisch anmutendes Vokabular tau- jährigen Tochter für drei Monate in der Festung chen. Dass sie etwas Mütterliches und Bergen- Königstein im Taunus mit fünf weiteren Frauen des an sich hatte, Weiblichkeit, gepaart mit einer in einer Zelle, in der es nur Holzbänke gab, in- gewissen Erdung und intuitiven Sicherheit, die haftiert und später in Kronberg im Taunus unter besonders für den suchenden Typ Mann, der mit Hausarrest gestellt. Von den Frauen wollte man sich und der Welt hadert, ungemein anziehend deren Beziehungen zu führenden Jakobinern war, dafür gibt es wohl doch einige Hinweise“,6) erfahren. Caroline kam „aber mit der Zeit zu der schreibt Sabine Appel in ihrem lesenswerten Auffassung, dass sie und die anderen Frauen als

Buch über Caroline Schlegel-Schelling. Doch Ca- Geiseln gehalten wurden, da ja ‚von persönlicher 9. 1996, S. Rudolstadt Frauen, in: Romantische Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling, Caroline der Leben Das ...“ Freiheit bedingten dieser an genügen nicht kann „Mir Horn, Gisela Abb.:

6) Sabine Appel, a. a. O., S. 59. 7) Sabine Appel, a. a. O., S. 66. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 367

Biographien von A bis Z / S 367

Schuld nicht die Rede sein konnte‘. Allerdings konnte. Hier in Lucka verliebte sich der damals hielt man sie, wie sie wohl wusste, für Fors ters 21-jährige Friedrich Schlegel in die kurz vor ihrer Geliebte. ‚Allein meine Verbindung mit Forster in Niederkunft stehende Caroline. In seinem späte- Abwesenheit seiner Frau, die eigentlich nur das ren Roman „Lucinde“ setzte er ihr ein Denkmal Amt einer moralischen Krankenwärterin zum als „Frau, die einzig war und die meinen Geist Grunde hatte, konnte von der sittlichen und po- zum ersten Mal ganz und in der Mitte traf“. litischen Seite allerdings ein verdächtiges Licht Sabine Appel charakterisiert Friedrich auf mich werfen, um das ich mich zu we nig be- Schle gel und die damalige gesellschaftliche Si- kümmerte, weil ich selten tuation wie folgt: „Friedrich war verhältnismä- frage, wie kann das an- ßig vorurteilsfrei, gerade ein ‚neuer Mann‘, und dern erscheinen?‘“8) sein Bruder nicht minder. Nicht zuletzt auch die Aber ihre Lage war Möglichkeit eines kameradschaftlichen Verhält- nicht nur als Revolutionä- nisses zwischen Männern und Frauen ist ja ein rin prekär – die junge Signum für Gleichrangigkeit der Geschlechter in Witwe war auch noch einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft (…). von dem jungen französi- Der Jenaer Romantikerkreis [dazu weiter unten] schen Offizier unehelich um die Schlegel-Brüder und ihre Frauen war es schwanger geworden – dann auch, der alles das auslebte, was Goethe Caroline Schlegel das Ergebnis einer leiden- in seinem Werk [Wahlverwandtschaften] ledig- schaftlichen Liebesnacht. lich anklingen ließ: freies Zusammenleben und Mehrere Freunde, besonders ihr jüngerer Bruder, ‚Ehen zu dritt‘ oder zu viert, freie Liebe, Schei- setzten sich für ihre Freilassung ein, die noch dungen, Trennungen, da Menschen und Verhält- rechtzeitig vor der Geburt des Kindes erfolgte. nisse sich einfach verändern und dem infolge- Vorsorglich hatte sie eine Selbsttötung in Erwä- dessen Tribut zollen müssen, wenn sich die gung gezogen, so Scham besetzt war ihre gesell- Liebe bedauerlicherweise nicht lebenslang hal- schaftliche Situation. Wäre ihre uneheliche ten lässt, offene Zweierbeziehungen, Wohnge- Schwangerschaft entdeckt worden, hätte sie meinschaften, experimentelle Lebensformen (…) nicht nur ihr Ansehen verloren, auch wäre ihr und die gelebte Wahlverwandtschaft, die über ihre Witwenrente nicht mehr gezahlt und ihr die den ‚Ehestand‘ steht, über der bürgerlichen Tochter weggenommen worden. Moral, über den Segen der Kirche oder den fa- Beigestanden in diesen schweren Zeiten miliären Beziehungen. Die Zeit zwischen Emp- hatte ihr der Literaturhistoriker, Übersetzer und findsamkeit und Romantik hat in den gebilde- Philosoph August Wilhelm Schlegel, der in jun- ten Schichten ein neues Selbstverständnis und gen Jahren schon einmal in sie verliebt gewesen Selbstbewusstsein des ‚inneren Menschen‘ be- war, den sie damals aber hatte abblitzen lassen. wirkt, da auch Männer ihre femininen Anteile Ihn hatte sie 1793 in ihrer Not angeschrieben, sehr stark ausleben konnten. Im bürgerlichen und er kam und half. Er brachte sie an einen ver- 19. Jahrhundert wurde das alles wieder zurück- schwiegenen Ort, wo sie heimlich entbinden gefahren, denn es kamen wieder alle die Dinge konnte, und gab sie in die Obhut seines Bruders ins Spiel, die solche Tendenzen aushebeln und Friedrich Schlegel, weil er selbst nicht bleiben den alten Rollenbildern ihre Wirksamkeit zurück -

8) Sabine Appel, a. a. O., S. 120. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 368

368 Biographien von A bis Z / S

geben: Militarismus und Nationalismus, eine zu- Das Paar lebte in Jena in einer Wohnung am nehmend enger werdende bürgerliche Moral als Löbdergraben. Auch Schlegels Bruder Friedrich Fluchtmoment vor den großen Veränderungen, zog nach. Konservatismus und Reaktion, Kriegsstimmung, Caroline Schlegel half ihrem Mann, der an krude Versachlichung durch den Boom der Na- der Zeitschrift „Die Horen“ und an der „Allge- turwissenschaften bis hin zum Chauvinismus meinen Literatur-Zeitung“ mitarbeitete, bei Über- der Kaiserzeit nach Bismarcks Reichsgründung, setzungen von Shakespeare-Stücken und bei der Entwicklungen, die natürlich auch (…) Gegen- Herausgabe der Zeitschrift „Athenaeum“. Als bewegungen auslösten. Carolines Lebenszeit aber, scharfe Beobachterin der aktuellen Literatur- die Jahre um, vor und nach der Französischen szene verfasste sie auch Literaturkritiken und Revolution, war eine Phase des Experiments, un- sezierte in Briefen Texte prominenter Dichter. schuldig noch, wie alles Neue. Dergleichen ist, Heftige Diskussionen über Literatur, Ästhe- auf der privaten Ebene, immer nur elitär, eine tik und Philosophie wurden in diversen Zeit- Sache für wenige, die den herrschenden Meinun - schriften ausgetragen, zwischen Kontrahenten, gen trotzen und es in Kauf nehmen, dafür im die sich oft persönlich kannten und entspre- Abseits zu stehen.“9) chend verletzen konnten. So brach Friedrich Die Geburt des „Kindes der Glut und Nacht“ Schiller (siehe Ü Schillerstraße, in Bd. 3 online**) wie Caroline ihr „Franzosenkind“ nannte, verlief nach kurzer Zeit die Zusammenarbeit mit Au- problemlos, ein kleiner Sohn wurde geboren. Da gust Wilhelm Schlegel ab, weil sein Bruder Fried- niemand von Carolines Niederkunft hatte wissen rich Schlegel Schiller in einem Artikel dessen dürfen, musste sie ihr Baby in Pflege geben, woll- „Musenalmanach auf das Jahr 1796“ kritisiert te es aber so bald wie möglich zu sich ho len. hatte, worauf Schiller eine ebenfalls verletzende Doch der Säugling starb nach einigen Monaten. Replik publizierte. Mit ihrer Tochter reiste Caroline zu Freun- „Schlegels Polemik betraf Schillers Gedicht: den nach Gotha, doch diese bekamen Schwie- ‚Würde der Frauen‘, eine wirklich unsägliche rigkeiten, als sie Caroline aufnehmen wollten – Produktion, was die aneinandergereihten Weib- niemand wollte mehr mit ihnen verkehren, so- lichkeitsklischees und die spießbürgerliche Idylle lange Caroline bei ihnen wohnte. Auch in Göt- betrifft“,10) so Sabine Appel. tingen und Dresden stand sie vor verschlosse- In diesen Netzwerken von konkurrierenden nen Stadttoren: Caroline war zu einer Persona Literaten und Literatinnen spielten auch Vorstel- non grata abgestempelt, musste die gesellschaft- lungen über die Autorenschaft von Frauen und liche Ächtung spüren. vorbildlicher Weiblichkeit eine wichtige Rolle. In dieser Situation halfen wieder die Brüder So ist bekannt, dass im Umfeld von Schiller und Schlegel. Friedrich Schlegel, der eine vierköpfige seinen Unterstützerinnen über Caroline nur als Familie nicht hätte ernähren können, bedrängte der „Dame Luzifer“ oder dem „Übel“ die Rede seinen Bruder August Wilhelm, Caroline zu heira- war. Caroline wurde diffamiert als „Intrigantin ten. Und dieser tat es, verehrte er Caroline doch und eine Blenderin, eine mit wechselnden Män- noch immer. So ging Caroline 1796 ihre zweite nerbeziehungen (unausgesprochen ja auch eine Vernunftehe ein. Damit war Carolines „Ehre“ ge- revolutionäre Sympathisantin) und eine Pseudo- sellschaftlich wieder hergestellt. Muse für arme, verblendete Männer, die ihre

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

9) Sabine Appel, a. a. O., S. 136f. 10) Sabine Appel, a. a. O., S. 157. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 369

Biographien von A bis Z / S 369

Falschheit und ihre Gefahr nicht bemerkten, auf „Die Glocke hat uns an einem schönen Mittag jeden Fall eine Frau mit viel zu viel Einfluss, was mit Lachen vom Tisch weg fast unter den Tisch offenbar immer verderblich ist. Das passt ganz gebracht. Die ließe sich herrlich parodieren.“12) zum Diktum der ‚Dame Luzifer‘, das Schiller Mit Caroline und Wilhelm lebten nun auch und seine Frau später in Umlauf brachten. Schil- Friedrich Schlegel und Dorothea Veit (siehe zu ler kam aus kleinen Verhältnissen. Der leicht ihr weiter unten) dazu Carolines Tochter Au- provinzielle Hauch, der ihn immer umwehte, guste und Dorotheas Sohn Philipp aus erster Ehe wurde vielleicht durch ein unmäßiges Pathos unter einem Dach am Löbdergraben. „Caroline überkompensiert (…).“11) waltete hier (…) als ‚tüchtige Hausfrau‘, wenn Caroline hatte, wie viele ihrer Freunde und etwa manchen Tags zehn bis zwanzig Perso- Freundinnen, Goethe und seine Dichtungen nen zum Mittagessen erschienen. (…) Dorothea mehr geschätzt als Schiller, dessen Texte vielen wohn te mit Philipp im Erdgeschoss, Wilhelm, Romantikerinnen und Romantikern als zu pa- Auguste und Caroline im ersten Stock und Fried- thetisch und idealistisch erschienen. Plastisch rich, der ringende Dichter, allein unterm Dach. läßt sich diese Kritik an Carolines Rezeption von (…) Der gastfreundliche Haushalt, in dem regel- Schillers 1799 veröffentlichtem „Lied von der mäßig vor allem Novalis [siehe Ü Novalisweg, in Glocke“ zeigen, in dem Schiller nicht nur Re- Bd. 3 online**], Ludwig Tieck [siehe Ü Tiecksweg, cherchen zur Herstellung von Glocken verarbei- in Bd. 3 online**] mit Ehefrau und der junge tet hatte, sondern auch als rückschrittlich emp- Philosoph Schelling verkehrten, wurde vermut- fundene Geschlechterrollen propagierte: lich zu größeren Teilen von Wilhelms Erspar- „(…) Die Frucht muß treiben. nissen sowie seinen gegenwärtigen Tätigkeiten Der Mann muß hinaus [Professur] bestritten.“13) In’s feindliche Leben, Dorothea Veit und Caroline kamen zwar klar Muß wirken und streben miteinander, aber Dorothea verhielt sich skep- Und pflanzen und schaffen, (…) tisch gegenüber Caroline. Die Bäume wachsen, Hier im Jenaer Kreis verliebte sich Caroline es dehnt sich das Haus. Schlegel in den zwölf Jahre jüngeren Philosophen Und drinnen waltet F. W. J. Schelling (siehe Ü Schellingstraße, in Bd. 3 Die züchtige Hausfrau, online**). Wieder ein Skandal. Schiller war em- Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise pört, ebenso Carolines Freundin Therese Forster Im häuslichen Kreise, und Friedrich Schlegel, nicht dagegen Carolines Und lehret die Mädchen Gatte August Wilhelm Schlegel, hatte er doch Und wehret den Knaben, schon seit längerer Zeit immer wieder Lieb schaf - Und reget ohn’ Ende ten, besonders zu Schauspielerinnen gepflegt, Die fleißigen Hände, (…)“ die von Caroline absolut toleriert wurden. Caroline Schlegel und ihr Jenaer-Kreis wur- Dieses Dreierverhältnis hätte also gut und den von diesem Lied, von der Glocke, das später gerne noch weiter bestehen können, doch die zu den bekanntesten und am meisten persiflier- Situation eskalierte. „Im März 1800 wurde Ca- ten deutschen Gedichten zählen sollte, nachvoll- roline sehr krank. Hintergrund dieser Erkran- ziehbar irritiert, wie sie in einem Brief schrieb: kung, die diffus als ‚Nervenfieber‘ bezeichnet

** Band 3 online unter: www.ham- mehrt hrsg. von Erich Schmidt. Leip- burg.de/maennerstrassennamen zig 1913, S. 592. 13) Sabine Appel, a. a. O., S. 188. 11) Ebenda. 12) Caroline Schlegel: Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz ver- Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 370

370 Biographien von A bis Z / S

wurde, ist vermutlich ihre emotionale Situation nächst nach Würzburg und 1806 nach München, und die ungeklärte Beziehung mit Schelling. wo Schelling eine Professur erhielt. Weiterhin Dorothea (…) war sich dieser Zusammenhän- waren sie üblen Nachreden und Diffamierungen ge sicher bewusst. Aber da war wenig Mitge- ausgesetzt, die sich auch auf Carolines Zeit in fühl.“14) Dorothea „lebte in ihrem Hass auf Ca- Mainz und ihre Inhaftierung bezogen. Von der roline, der jetzt unverkennbar zutage trat, so Aufbruchsstimmung der romantischen Zirkel etwas wie ihre eigenen Schuldgefühle aus. Ca- war wenig übrig geblieben. Caroline versuchte roline wurde ihrem Ehemann untreu, jedenfalls die an sie permanent herangetragenen Ansprü- emotional. Dass sie ihn nie geliebt hatte, stand che an ein gelungenes Frauenleben zu erfüllen. für Dorothea zweifellos fest, und das warf sie Nun leistete sie auch für Schelling unermüdlich ihr vor, verbunden mit dem Vorwurf der Kälte die Arbeit einer Sekretärin und wissenschaft- und eines oberflächlichen, manipulativen Cha- lichen Assistentin: „Fast alles, was bei Cotta jetzt rakters. (…)“15) Sie „bezichtigte [Caroline] ihre unter der Presse ist, ist von meiner Hand“, Ehe zerstört und den Dritten im Bunde, nämlich schrieb sie an ihre alte Freundin Louise Gotter. ihren göttlichen Friedrich, der sie nur wieder auf Und die Literaturwissenschaftlerin Barbara Be- die richtige Spur bringen wollte, im Sinne seines cker-Cantarino fasst überzeugend zusammen: armen, betrogenen Bruders, mit böser Undank- „Caroline Schlegel-Schellings ‚Werk‘ sind zu- barkeit behandelt zu haben. (…) Einiges spricht nächst ihre Briefe, wie die zahlreichen Interpre- dafür, dass Friedrich der Urheber des totalen ten immer wieder betonen. (...) Ihre ausführ- Zerwürfnisses war (…). Natürlich setzte er sich lichen, oft ironischen Schilderungen in ihrem für seinen Bruder ein (…). Auch dass die ehe- ‚Briefwerk‘ sind mit ‚literarischen Kleinformen‘ malige schöne Dreieinigkeit, die eine so wesent- wie Anekdote, Parodie und Paradoxie verglichen liche Grundlage war für den Jenaer Dichter- und worden. Ihr ‚Werk‘ ist aber auch ihre geistige Philosophenkreis, durch das neue Element Zuarbeit, die jedoch als individuelles Werk vom Schelling auf dem Spiel stand, wird man ihm als Leistungsbegriff der Literaturwissenschaft aus Sorge gut abnehmen können. Der abgrundtiefe gesehen nicht greifbar ist: Sie half bei Überset- Hass, den er aber im Zuge der Ereignisse auf Ca- zungen (insbesondere August Wilhelm Schle- roline entwickelte (…), lässt sich, abgesehen gels Shakespeare-Übersetzung), las Korrekturen, von seinem wissenschaftlichen Konkurrenzver- schrieb Manuskripte ab, lieferte Ideen, Briefma- hältnis mit Schelling an der Jenaer Universität, terial und Exzerpte (für den Schwager Friedrich nur durch eines erklären: Er selbst hatte dereinst und den Ehemann August Wilhelm Schlegel, seiner Liebe zu Caroline entsagt, und zwar zu- dann für Schelling) und ließ ihre Theaterkriti- gunsten seines Bruders. (…) Und nun ‚betrog‘ ken, Rezensionen und Übersetzungen (aus dem sie Wilhelm, und damit ihn selbst.“16) Französischen und Italienischen) von Schelling 1803 ließen sich die Eheleute August Wil- für die Publikation umarbeiten. (...) Wie die helm und Caroline Schlegel einvernehmlich schei - meisten Frauen, die zwischen 1790 und 1820 den, und die 40-jährige Caroline heiratete nach enge persönliche Beziehungen zu einem promi- dem tief betrauerten Tod ihrer über alles gelieb- nenten Literaten oder Intellektuellen hatten, un - ten Tochter Auguste F. W. J. Schelling, (1812 ge- terlag Caroline als Frau der privaten und öffent- adelt): ihre erste Liebesheirat. Das Paar zog zu- lichen ‚Geschlechtsvormundschaft‘.“17)

14) Sabine Appel, a. a. O., S. 221f. 2000, S. 60f. 15) Ebenda. 16) Ebenda. 17) Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche-Werke-Wirkung. München Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 371

Biographien von A bis Z / S 371

Kontakt hatte das Paar weiterhin zu Cle- August Wilhelm Schlegel und dessen Frau Caro- mens und Bettine Brentano (siehe Ü Bettinastieg, line. Dort, im Zentrum der literarischen Roman- in diesem Band) sowie zu Ludwig Tieck. tik, lebten die beiden Paare in einer Art Wohn- 1809, im Alter von 46 Jahren, starb Caro li - und Arbeitsgemeinschaft zusammen. Friedrich ne an der Ruhr oder an Typhus. Pauline Gotter Schlegel verarbeitete diese, für damalige Verhält- (1786–1854), Tochter von Carolines Freundin nisse ungewöhnliche und skandalträchtige, Lie- Louise Gotter, heiratete 1812 den elf Jahre älteren besbeziehung in seinem Roman „Lucinde“, in verwitweten F. W. Schelling. Eine ihrer Töchter dem er für die romantische Liebe und die Liebes - erhielt in Erinnerung an seine erste Frau den heirat eine Lanze bricht. Namen Caroline. Doch so sehr sich Friedrich Schlegel auch in Friedrich Schlegel (1772–1829) heiratete 1804 Liebesdingen, die sein Herz angingen, revolutio- Dorothea (1764–1839), geschiedene Veit, gebo - när gab und alle gesellschaftlichen Konventionen rene Mendelssohn. Auch nach ihr müsste der und Rollenerwartungen über Bord warf, so blieb Schlegelsweg mit benannt werden, war Dorothea er doch den althergebrachten Geschlechtsrollen- Schlegel doch eine bedeutende Literaturkritike- mustern verhaftet, wenn es um seinen eigenen rin und Schriftstellerin der Romantik gewesen. beruflichen Vorteil und sein Fortkommen ging. Friedrich Schlegel hatte Dorothea 1797 im So gab er zwar Dorotheas ersten Band ihres Berliner Salon von Dorotheas Freundin Henriet- Romans „Florentin“ – erschienen 1801 – heraus, te Herz (siehe Ü Henriette-Herz-Garten, in diesem allerdings ohne Nennung der Autorin. Und auch Band) kennengelernt. Damals war die Tochter ihre Übersetzungen von Memoiren, Ritterge- des Berliner Philosophen Moses Mendelssohn schichten und Germaine de Staels Roman „Co- und seiner Frau Fromet, geborene Gugenheim rinna oder Italien“ aus dem Französischen, er- noch verheiratet und hieß mit Vornamen Bren- schienen nur unter dem Namen ihres Mannes als del. Ihr Vater hatte sie 1778 mit dem Bankier Übersetzer und Herausgeber. „Diese und andere Simon Veit (1754–1819) verlobt und 1783 mit Arbeiten seiner Ehefrau nahm Schlegel sogar in ihm verheiratet. Das Paar bekam vier Söhne; seine Werke auf. Dem herrschenden Frauenbild zwei starben im Kindesalter. ihrer Zeit entsprechend, legte [Dorothea aller- Dorothea und Friedrich verliebten sich in- dings] keinen Wert darauf, öffentlich zu wirken; einander. Henriette Herz und der protestantische sie verstand sich als Zuarbeiterin ihres Mannes: Theologe Friedrich Schleiermacher setzten sich ‚Friedrich, sein Geselle zu werden‘ und seine für das Liebespaar ein und Henriette unterstützte Einnahmen aufzubessern, war ihr Ziel.“18) Dorotheas Scheidungsabsichten. Zwei Jahre spä- 1802 waren Dorothea und Friedrich nach ter, 1799, ließ sich Dorothea dann auch scheiden. Paris gezogen, wo sie 1804 heirateten, Dorothea Sie musste sich verpflichten, nie wieder zu hei- zum evangelischen Glauben übertrat und sich raten, sich nicht taufen zu lassen und auch ihre fortan Dorothea und nicht mehr Brendel nannte. Kinder zum christlichen Glauben zu bewegen. In selben Jahr zogen sie nach Köln, wo Dorothea und Friedrich Schlegel stießen nun Schlegel eine Dozentur bekam. Beide traten dort alle Konventionen über Bord, lebten in „wilder zum Katholizismus über; auch ihre beiden Söh- Ehe“. Nach der Scheidung zog das Paar mit Do- ne, die später Maler wurden, ließ Dorothea ka- rotheas jüngstem Sohn nach Jena ins Haus von tholisch taufen.

18) Carola Stern: „Schlegel, Doro- thea Friederike“ in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 42–43 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/ ppn118607979.html Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 372

372 Biographien von A bis Z / S

Später zog das Paar nach Wien, wo Schlegel Entwicklung zu – was wiederum Psy chologen eine Stelle als Hofsekretär bekam. Nach dem und Kulturanthropologen beschäftigte. Hedwig Tod ihres Mannes lebte Dorothea bei ihrem äl- von Beit sah die Vergiftungsepisode in neuem testen Sohn Philipp Veit in Frankfurt a. M., wo Licht: ,Diese Vergiftung geschieht mit Gegen- er Direktor des Städelschen Kunstinstituts war. ständen weltlicher Eitelkeit und Putzsucht und Befreundet war Dorothea Schlegel u. a. mit hierin, besonders aber in dem Umstand, daß Henriette Herz (siehe Ü Henriette-Herz-Ring in die- sich Schneewittchen davon verlocken läßt, liegt sem Band) und Rahel Varnhagen (siehe Ü Rahel- der Beweis ihrer Zusammengehörigkeit mit der Varnhagen-Weg in diesem Band). eitlen Stiefmutter. Es ist ihre eigene weltlich-ehr- Text: Birgit Kiupel, Rita Bake geizige Schattenseite, von der sie eingeschnürt Siehe auch Ü Bettinastieg, Droste-Hülshoff- wird.‘ Bruno Bettelheim untersuchte später die Straße, Henriette-Herz-Ring, Rahel-Varnhagen- verschiedenen Bedeutungsebenen, etwa die se- Weg, in diesem Band. xuelle Beimischung der Farbsymbole, die im Siehe auch Ü Goetheallee, Altona-Nord, seit 1928, in Bd. 3 online**. Goethes Verhältnis zu vor ödipalen Bereich anzusiedelnden Zwerge, Caroline Schlegel-Schelling, siehe unter wiki- das Sargstadium als Vorbereitung zur Reife.“19) pedia. Siehe auch Ü Zwergenstieg, Billstedt, seit 1952, Siehe auch Ü Moses-Mendelssohn-Brücke, Märchenmotiv, in Bd. 3 online**. Harburg, seit 1998: Moses Mendelssohn (1729– 1786), Philosoph, Vater von Brendel, später Dorothea Schlegel, in Bd. 3 online**. Schopenhauerweg Siehe auch Ü Novalisweg, Winterhude, seit 1928: Freiherr Georg Philipp Leopold von Har- Ottensen, seit 1945, benannt nach Arthur Scho- denberg (1772–1801), Dichter, in Bd. 3 on- penhauer. 2001/2002 ergänzt um die ebenso be- line**. deutende Mutter Johanna Schopenhauer. Neuer Siehe auch Ü Schellingstraße, Eilbek, seit 1866: Erläuterungstext: benannt nach Arthur Sch. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775– (1788–1860), Philosoph, und dessen Mutter Jo- 1854), Philosoph, in Bd. 3 online**. Text siehe unter Schlegelsweg. hanna Schopenhauer, geb. Trosiener (9.7.1766 Siehe auch Ü Schillerstraße, Altona-Altstadt, Danzig–16.4.1838 Jena), Schriftstellerin seit 1859 und 1950: Friedrich von Schiller (1759–1805), Dichter, in Bd. 3 online**. Im April 1805 stürzte sich der Ehemann von Siehe auch Ü Tiecksweg, Eilbek, seit 1994, in Bd. 3 online**. Johanna Schopenhauer aus dem Speicher seines Wohn- und Geschäftshauses am Hamburger Neu - en Wandrahm 92 zu Tode. Ob es sich dabei um Schneewittchenweg einen Unfall handelte oder um eine Verzweif - Billstedt, seit 1952. Motivgruppe: Märchengestal- lungstat des gemütskranken Mannes, blieb un- ten geklärt. Schneewittchen und die sieben Zwerge (siehe Ü Nach Hamburg war das republikanisch ge- Zwergenstieg, in Bd. 3 online**). sinnte Ehepaar mit seinem Sohn Arthur 1793 ge- „Die propere, sanftmütige, eher passive ,Snow kommen, als Danzig, die Geburtsstadt Johanna White‘ entwickelte sich zum weiblichen Idol. In Henriette Schopenhauers, in der sie auch ihren der Nachkriegszeit nahm diese mediengestützte um zwanzig Jahre älteren, reichen und welter-

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19) Ulf Diederichs: Who’s who im Märchen. München 1995. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 373

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fahrenen Mann kennengelernt hatte, von Preu- hatte sie doch schon wegen des Englischunter- ßen annektiert wurde. Doch nach dem Tod ihres richts den Spott ihrer Umgebung zu erdulden. Ehemannes hielt sie nichts mehr hier. Befreit Ab dem neunten Lebensjahr ergänzte der nach- von einer unglücklichen Ehe und ausgestattet mittägliche Unterricht in weiblichen Tugenden mit einem beträchtlichen Erbe, zog es Johanna und Arbeiten bei Mamsell Ackermann die Aus- Schopenhauer mit ihrer Tochter Adele (12.6. bildung. Das alles prädestinierte Johanna Scho- 1797 Hamburg–25.8.1849 Bonn) nach Weimar. penhauer zur Gesellschafterin der britischen Dass Thüringen zu diesem Zeitpunkt Kriegs- Bankierstochter Sally Cramp im Hause des rus- schauplatz war und viele Weimarerinnen und sischen Gesandten in Danzig. Aber auch in Wei- Weimarer daran dachten, die Stadt zu verlassen, mar wird es dazu beigetragen haben, dass in schreckte sie nicht. Durch diese „Feuertaufe“ Reisebüchern ihr Haus bald als besuchenswerte wurde sie, wie Goethe (siehe Ü Goetheallee, in „Merkwürdigkeit“ erwähnt wurde. Um Johanna Bd. 3 online**) anerkannte, zur „Weimarerin“. Schopenhauers Theetisch versammelten sich Dass ihr Haus schnell zu einem geselligen Mit - Goethe und Wieland (siehe Ü Wielandstraße, in telpunkt der Stadt wurde, hatte weitere Gründe. Bd. 3 online**), der Verleger Friedrich Justin Johanna Schopenhauer, die zeitlebens einen Bertuch, der Kunstschriftsteller Carl Ludwig Fer- Widerwillen gegen den Gedanken hegte, „für now, der Schweizer Johann Heinrich Meyer – ein gelehrtes Frauenzimmer zu gelten”,20) war der so genannte Kunschtmeyer –, der Gymnasi- eine weitreichend gebildete und gewandte Frau. alprofessor und Bibliothekar Friedrich Wilhelm Vor der eigenen Muttersprache lernte das Kind Riemer u. a. von der kaschubischen Kinderfrau die polnische Als Johanna Schopenhauer und ihre Toch- Sprache, weil der Vater, der Kaufmann Christian ter Adele 1819 durch den Zusammenbruch eines Heinrich Trosiener, der Überzeugung war, dass Danziger Bankhauses einen großen Teil ihres deren schwere Aussprache den Zugang zu an- Vermögens verloren, musste Johanna ihre schrift- deren Fremdsprachen erleichtere. Es folgten die stellerische Tätigkeit zum Broterwerb machen. Anfänge der französischen Sprache, in die die Bis dahin hatte diese neben kleinen Arbeiten für Mutter Chodowieckis die Drei- oder Vierjährige Journale lediglich in einer Biographie über den in ihrer Kleinkinderschule einführte. Als der Freund Carl Ludwig Fernow (1810) und den Er- Sohn zu Besuch kam, entdeckte Johanna ihre innerungen an eine „Reise durch England und Liebe zur Malerei. Ihr großes Vorbild wurde die Schottland“ (1813/14) bestanden. Malerin Angelika Kauffmann, die ein selbststän- Schon ihr erster Roman „Gabriele“ (1819– diges Leben führte. Die weitere Ausbildung des 1821), der der Heldin Opfer und Entsagung auf- Kindes nahmen der lutherische Theologe Ku- erlegt, wurde ein großer Erfolg. Goethes Kritik schel und der anglikanische Geistliche Dr. Ja- charakterisiert zugleich die Autorin und zeigt, meson in die Hand. Lernte sie bei ersterem zu welchen Gesprächen der Roman anregte: Deutsch, Geschichte und Geographie, so unter- „Gabriele setzt ein reiches Leben voraus und richtete Letzterer sie in der englischen Sprache zeigt große Reife einer daher gewonnenen Bil- und brachte ihr die englische Literatur nah. Dem dung. Alles ist nach dem Wirklichen gezeichnet, Wunsch ihrer Lehrer, ihr Griechischunterricht zu doch kein Zug dem Ganzen fremd (...). Epische, erteilen, widersetzte sie sich schweren Herzens, halbepische Dichtung verlangt eine Hauptfigur,

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20) Johanna Schopenhauer: Jugend- leben und Wanderbilder. Hrsg. von W. Drost, Barmstedt (Holst.) 1958. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 374

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die bei vorwaltender Thätigkeit durch den Mann, urteilen. In einem Brief vom 2. Dezember 1821 bei überwiegendem Leiden durch die Frau vor- an einen Geheimrat in Leipzig heißt es: „Erlau- gestellt wird. Diesmal ist einem anziehenden ben Sie mir dagegen auch zu bemerken, daß in weiblichen Wesen die schwerste Rolle zuge- unsern Tagen eine gar zu große Sucht durch theilt, die sich mit höchster Zartheit und An- schriftstellerische Arbeiten sich auszuzeichnen muth durch unerträgliche Leiden durchführt. unter meinem Geschlecht eingerissen ist. Viele (...) Als ich in diesem Sinne vor einer gebildeten welche weit besser täten, in dem ihnen von der Gesellschaft redete, fragte eine sorgsame Mutter: Natur sowohl als durch Sitte und Erziehung an- ob sie dieses Buch mit gewiesenen Kreise zu bleiben, führen jetzt die ihren Töchtern lesen kön - Feder statt der Nadel, und überschwemmen Ta- ne? Dabei kam Folgendes geblätter und Taschenbücher mit wäßrigen Pro- zur Sprache: Erziehung dukten aller Art. Nur wenige, durch Umstände heißt: die Jugend an die und ausgezeichnetes Talent begünstigte Frauen, Bedingungen gewöhnen, sollten es wagen, auf diese Weise in die Reihen zu den Bedingungen bil- der Männer zu treten, und diese könnten dann den, unter denen man in auch gewiß einer bessern Aufnahme sich erfreu- der Welt überhaupt, so- en, so wie das in vergangenen Zeiten der Fall dann aber in besondern war, wo die seltnen Frauen, welche außerhalb Johanna Kreisen existiren kann. ihrer eigentlichen Sphäre bedeutend auftraten, Schopenhauer Der Roman hingegen stellt überall mit Ruhm und Ehre gekrönt wurden, das Unbedingte als das Interessanteste vor, ge- und kein gallichter Rezensent daran dachte rade das gränzenlose Streben, was uns aus der ihnen diese schmälern zu wollen.“22) menschlichen Gesellschaft, was uns aus der Welt 1829 waren Johanna und Adele Schopen- treibt, unbedingte Leidenschaft; für die dann bei hauer an den Rhein gezogen, kehrten aber acht unübersteiglichen Hindernissen nur Befriedi- Jahre später auf Einladung des Großherzogs Carl gung im Verzweifeln bleibt, Ruhe nur im Tod. Friedrich von Sachsen-Weimar nach Thüringen Dieser eigenthümliche Charakter des tragischen zurück. Johanna Schopenhauer starb 1838 in Romans ist der Verfasserin auf schlichtem Wege Jena, unversöhnt mit ihrem Sohn Arthur, von sehr wohl gelungen, sie hat mit einfachen Mit- dem sie zeitlebens ein schwieriges Verhältnis ge- teln große Rührung hervorzubringen gewußt; trennt und den sie nach dem Bruch im Mai 1814 wie sie denn auch im Gang der Ereignisse das nie wieder gesehen hatte. Natürlich-Rührende aufzufassen weiß, das uns nicht schmerzlich und jammervoll, sondern Louise Adelheid, gen. Adele, Schopenhauer, Schrift - durch überraschende Wahrheit der Zustände stellerin höchst anmuthig ergreift (...).“21) Neun Jahre alt war die um neun Jahre jün- Johanna Schopenhauer gehörte nicht zu der gere Schwester Arthur Schopenhauers, als sie Vielzahl von Frauen, deren Werke ignoriert oder nach dem Tod des Vaters mit der Mutter von geschmäht wurden, weil sie aus der Feder einer Hamburg nach Weimar zog. Hier wuchs Adele Frau stammten. Vielleicht kann sie auch deshalb Schopenhauer in der besonderen Atmosphäre

ihre Geschlechtsgenossinnen unparteiischer be- des mütterlichen Hauses auf, in dem sich don- Hamburg Staatsarchiv Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- Weimar 1903, München 1987. burg.de/maennerstrassennamen 22) Zit. nach: Frauen der Goethezeit in ihren Briefen. Hrsg. von Günter Jä- 21) Goethes Werke. Hrsg. i. A. d. ckel. Berlin o. J. Großherzogin Sophie von Sachsen. 1. Abt. Goethes Werke 41. Bd. 2. Abt. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 375

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nerstags und sonntags die interessantesten Per- von Droste-Hülshoff (siehe Ü Droste-Hülshoff-Stra - sönlichkeiten der Stadt trafen und wo auch der ße, in diesem Band) gegenüber. Dabei musste um vierzehn Jahre jüngere Freund ihrer Mutter, sie sich auch immer wieder von Freunden moti- der Jurist Müller von Gerstenbergk, zeitweise vieren lassen, ihre größer werdende Distanz zum lebte. Mit Goethes Schwiegertochter Ottilie be- vormärzlichen Literaturbetrieb zu überwinden. freundet, war Adele auch in Goethes Haus am Nur zögernd entschloss sich Adele Schopen - Plan ein häufiger Gast. Doch trotz der zahlrei- hauer zur Publikation eigener Arbeiten. 1844 er- chen Gelegenheiten, Menschen kennen zu ler- schienen ihre Haus-, Wald- und Feldmärchen, nen, erfüllten sich ihre Hoffnungen auf die Ver- 1845 folgte der Roman Anna, und 1848 publi- wirklichung einer großen Liebe nicht. Als die zierte sie noch einen weiteren Roman mit dem einsame junge Frau 1828 in Köln die vermö- Titel Eine dänische Geschichte.“23) gende Kunstsammlerin und sechsfache Mutter 1840 hatten sich bei ihr erste Anzeichen und Ehefrau Sibylle Mertens-Schaaffhausen ken- einer Krebserkrankung bemerkbar gemacht. nenlernte, sah sie in der Freundschaft zu ihr ei - Mitte der 1840-er Jahre zog sie nach Italien, wo nen Ersatz. Sie drängte die Mutter, an den Rhein sie, finanziell unterstützt von der Freundin Si- überzusiedeln, wobei sie die finanziell günstige- bylle, mit Unterbrechungen bis ein Jahr vor ren Lebensbedingungen als Argument in den ihrem Tod verweilte. Vordergrund stellte. 1837 kehrte sie mit der Mut- Text im Wesentlichen: Brita Reimers ter nach Thüringen zurück, wo Johanna Scho- Siehe auch Ü Droste-Hülshoff-Straße, Ge- penhauer im folgenden Jahr starb. schwister-Mendelssohn-Stieg, in diesem Band. Adele richtete mit großer Energie ihr Leben Siehe auch Ü Goetheallee, Altona-Nord, seit neu ein. Sie suchte einen Verleger für die unvoll- 1928, in Bd. 3 online**. endeten Memoiren ihrer Mutter, deren 24 bän- Siehe auch Ü Wielandstraße, Eilbek, seit 1866, in Bd. 3 online**. dige Schriften 1830/31 erschienen waren, und nahm Malunterricht. „Um die Resonanz der literarischen Arbei- Schottmüllerstraße ten Adele Schopenhauers war es schon zu deren Lebzeiten schlecht bestellt, allerdings waren ihre Eppendorf, seit 1937, benannt ursprünglich nach literarischen Ambitionen über das Verfassen von Prof. Dr. Hugo Schottmüller (1867–1936), Direk- Gelegenheitsversen hinaus nie besonders ausge- tor am Universitätskrankenhaus. Umwidmung prägt oder mussten sich – was wahrscheinlicher des Namens Ende 2014 nach der Widerstands- ist – von Anfang an denen der Mutter unterord- kämpferin Oda Schottmüller (9.2.1905 Posen– nen. Erst 1838, nach dem Tod der Mutter, be- hingerichtet am 5.8.1943 in Berlin-Plötzensee) gann Adele Schopenhauer eine eigene literari- wegen der NS-Belastung des Arztes Schottmül- sche Produktion, die als solche erkennbar ist. ler. Schottmüller, seit 1933/34 Dekan der Medizi- Wiederum spielte der finanzielle Aspekt eine nischen Fakultät und 1935 emeritiert, zählte im Rolle, aber ihr Schreiben verfolgte auch selbst- November 1933 zu den Unterzeichnern des „Be- therapeutische Absichten: Literarische ,Produk- kenntnisses der deutschen Professoren zu Adolf tivität [sei] ein Schutz gegen den Andrang des Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Lebens‘, bekannte sie im Juni/Juli 1841 Annette Als einer der ersten Hamburger Professoren trat

** Band 3 online unter: www.ham- mar. In: Autorinnen in der Literaturge- burg.de/maennerstrassennamen schichte. Kongressbericht der 2. Bre- mer Tagung zu Fragen der literari- 23) Bode Plachta: Johanna und schen wissenschaftlichen Adele Schopenhauer. Von der Weima- Lexikographie. 30.9.–2.10.1998 in rer Klassik zum Biedermeier in Wei- Bremen, S. 160. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 376

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Schottmüller der NSDAP nach deren „Machter- ihm. Klaus Mann beschrieb Oda in seiner Auto- greifung“ bei und sah die Politisierung der Uni- biographie als: „Kind dieser Zeit“: „(…) grotesk versitäten im Sinne des Nationalsozialismus und hochbegabt, mit einem merkwürdig kurzen unkritisch. Siehe dazu auch in Bd. 1 im Kapitel mongolischen Gesicht, die pittoresk in sich zu- Straßennamen als Spiegel der Geschichte. Der sammengeduckt auf Schränken oder Fenstersim- Umgang mit der nationalsozialistischen Vergan- sen zu hocken liebte. Sie konnte phantastische genheit. und krasse Tänze aufführen; ebenso phantas- tisch und kraß konnte sie zeichnen und malen. Oda Schottmüller war die Tochter von Dorothea Auf ihren Blättern hoben sich Gespenster aus Schottmüller, geb. Stenzler und des Archivars Flaschen, Schlangen kringelten sich um ver- Dr. Kurt Schottmüller. Als Oda zwei Jahre alt krümmte Bäume (…). Oda war gedrungen, von war, musste ihre Mutter wegen eines schweren einer barocken, überraschenden Grazie; (…) oft Nervenleidens mehrere Jahre in einem Sanato- von stummer Traurigkeit, oft von hopsender- rium verbringen, aus dem sie erst fünf Jahre Tanzlust (…)“.25) später, 1912, entlassen wurde und zu ihrer Ur- Nach dem Abitur absolvierte sie zwischen sprungsfamilie nach Berlin zurückkehrte. 1924 und 1927 eine kunsthandwerkliche Ausbil- Oda wuchs allein bei ihrem Vater in finan- dung, weil ihre Familie ihrem Wunsch, Tänzerin ziell bescheidenen Verhältnissen auf, da er für und Bildhauerin zu werden, nicht nachkam. seine Ehefrau Unterhalt zahlen musste; hinzu 1928, Oda war volljährig, begann sie eine kamen die finanziellen Auswirkungen des Er- Ausbildung zur Tänzerin bei Vera Skoronel in sten Weltkriegs. Als Oda vierzehn Jahre alt war, deren Berliner Schule für modernen künstleri- starb ihr Vater 1919 an einem Herzinfarkt. „Oda schen Tanz. Ab 1929 besuchte sie die Bildhau- geriet daraufhin zwischen die Fronten ihrer vä- erklasse für Frauen des Vereins der Berliner terlichen und mütterlichen Familie. Ihre Tante Künstlerinnen. Frida Schottmüller (1872–1936), eine Schwester Nachdem Oda Schottmüller 1931 die Prü- von Kurt, war gerade zur Professorin ernannt fung in Gymnastik und Körperbildung abge- und Kustodin am Kaiser-Friedrich-Museum in schlossen hatte, trat sie als Tänzerin u. a. an der Berlin (…) geworden und beantragte die Vor- Volksbühne Berlin auf. Gleichzeitig hatte sie ein mundschaft für ihre Nichte. Odas Mutter wollte eigenes Bildhaueratelier in der Kunstschule des ihre Tochter aber selbst erziehen. Das Mädchen ehemaligen Bauhäuslers Johannes Itten. Die zog nach Berlin“24) und machte dort 1921 die Verbindung zwischen Tanz und Bildhauerei Mittlere Reife. „entdeckte sie [im] Maskentanz für sich. [In Da Oda in den Augen ihrer Familie als labil ihrem Atelier] entwarf sie ihre ersten Masken galt, befürchtete sie, dass Oda auf einer staat- und Kostüme, die sie später für ihre Tänze be- lichen Schule das Abitur nicht bestehen würde. nutzte, und hier begann sie, sich selbst als eine So kam Oda auf die Odenwaldschule, an der ihre Art Gesamtkunstwerk zu inszenieren“.26) Tante Gerda Schottmüller arbeitete. Mit der Machtübernahme durch die Natio- Oda besuchte die Schule von 1922 bis 1924. nalsozialisten war auch der experimentelle, in- Dort lernte sie auch den späteren Schriftsteller dividuelle und expressive Ausdruckstanz der Klaus Mann kennen und befreundete sich mit Weimarer Republik nicht mehr erwünscht. Er-

24) SK Stiftung Kultur-Deutsches Tanzarchiv Köln: Oda Schottmüller unter: www.sk-kultur.de/tanz/schott- mueller.htm 25) Ebenda. 26) Ebenda. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 377

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laubt war zwar weiterhin der moderne Tanz, Geertje Andresen verfasste 2005 eine fun- aber nur, wenn er völkische Themen umsetzte dierte Biographie über Oda Schottmüller unter und den individuellen Ausdruck aufgab. Oda dem Titel „Die Tänzerin, Bildhauerin und Nazi- Schottmüller ignorierte diese Forderungen und gegnerin Oda Schottmüller 1905–1943.“ 2012 trat auch nicht der von den Nationalsozialisten gab sie das Buch „Wer war Oda Schottmüller? gegründeten Reichskulturkammer bei. Zwei Versionen ihrer Biographie und de ren Re- Um 1935 schloss sie sich durch die Be- zeption in der alten Bundesrepublik und in der kanntschaft mit dem kommunistischen Bild- DDR“ heraus. In der Ankündigung zu diesem hauer Kurt Schumacher dem Widerstandskreis Buch heißt es: „Basierend auf der Gestapo-Lüge, um Harro Schulze-Boysen an. der Kreis um Harro Schulze-Boysen sei Teil der Auch während der NS-Zeit trat Oda Schott- sowjetischen Auslandsspionage gewesen, wurde müller als Tänzerin auf. Ihre Themen veränder- er in der Bundesrepublik bis Mitte der 1980er ten sich. „Statt der Fabelwesen ihrer Anfangszeit Jah re aus dem offiziellen Gedenken an den Wi - schuf sie nun mythologische Figuren, die gesell- derstand gegen das NS-Regime ausgegrenzt. schaftspolitische Fragen aufwarfen.“27) Oda Schottmüller galt als ‚Agentenflittchen‘. In Um Geld zu verdienen, wurde sie dann der DDR hingegen deutete das MfS die ‚Rote Ka- doch noch Mitglied der Reichskulturkammer pelle‘ systematisch zur ‚Kundschaftsorganisation und trat mit „leichter“ Tanzkost – auch auf für die Sowjetunion‘ um und popularisierte die- Wehrmachtstourneen – auf. Dennoch blieb sie ses ebenfalls entstellende Geschichtsbild. Ge- ihrer Gesinnung treu und führte z. B. 1941 einen heimdienstmitarbeiter versuchten gar, eine dazu öffentlichen Soloabend durch, auf dem sie mit passende Biographie Oda Schottmüllers zu er- ihrer Choreographie „Der Letzte“ den Kriegstod finden.“ anklagte. Greetje Andresen schreibt über Oda Schott- Im Spätsommer 1942 verhaftete die Gestapo müllers oppositionelle Arbeit in der NS-Zeit: „Was im Rahmen des Fahndungskomplexes „Rote Ka- wir (…) über die Nazigegnerin Oda Schottmüller pelle“ über 120 Personen aus dem Umkreis des wissen, ist folgendes: Sie war befreundet mit Freundes- und Widerstandskreises um Harro Kurt Schumacher und Harro Schulze-Boysen Schulze-Boysen und Arvid Harnack (siehe Ü Har- und umgab sich mit Menschen, die sich mit den nackstraße, in Bd. 3 online**), darunter auch Oda ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Schottmüller. Ihr wurde vorgeworfen, ihr Atelier NS-Diktatur widersetzten. Sie bewahrte selbst- für Funkversuche nach Moskau zur Verfügung verständlich ihre Freundschaften zu rassisch gestellt zu haben. Obwohl man ihr dies nicht Verfolgten und half politisch Verfolgten, Deutsch- nachweisen konnte und sie dies auch vehement land zu verlassen. Sie gab in ihrem Freundes- bestritt, wurde sie wegen „Beihilfe zur Vorberei- kreis Flugschriften von Harro Schulze-Boysen tung eines hochverräterischen Unternehmens weiter. Vor allem aber bewahrte sie sich im Um- und Feindbegünstigung“ zum Tode verurteilt.“28) gang mit anderen Hitlergegnern ihre innere Frei- Der „Hauptankläger“ wurde nach dem heit, die sie brauchte, um sich auf ihre Art, näm- Krieg freigesprochen, weil er sich auf seine da- lich im Tanz, zu äußern. Mutig und auch stolz malige „Dienstpflicht“ berufen hatte und konnte bezog sie in ihren Tänzen sogar öffentlich Stel- unbescholten als Anwalt weiter praktizieren. lung gegen die Nazi-Diktatur. Dafür wurde sie

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

27) Ebenda. 28) Ebenda. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 378

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aber nicht verfolgt. Oda Schottmüller wurde we - dium der Jurisprudenz [und] beschloß (…), Mu- gen einer unbewiesenen Behauptung am 5. Au- sikunterricht bei Vater Wieck zu nehmen“.31) gust 1943 in Plötzensee ermordet.“29) Clara trat als Wunderkind bereits ab ihrem Siehe auch Ü Harnackring, Bergedorf/Loh- elften Lebensjahr im Leipziger Gewandhaus auf. brügge, seit 1964: Ernst von Harnack (1888– Sie schrieb eigene Kompositionen, machte Kon- 1945), Regierungspräsident, Widerstands- zertreisen durch Deutschland und spielte auch kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. vor Goethe (siehe Ü Goetheallee, in Bd. 3 on- line**) in Weimar, der sie mit den Worten lobte: „Dies Mädchen hat mehr Kraft als 6 Knaben zu- Schumannstraße sammen!“32) Barmbek-Süd, seit 1876, benannt nach dem Pia- Clara betrachtete Robert Schumann als gro- nisten und Komponisten Robert Schumann. ßen Bruder und er sie als Schwester – bis er sich 2001/2002 ergänzt um die ebenso bedeutende mit der Wieck-Schülerin Ernestine von Fricken Ehefrau Clara Schumann. Neuer Erläuterungs- verlobte, die damals 16-jährige Clara Wieck ei- text: benannt nach dem Musikerehepaar Clara fersüchtig darauf reagierte und Schumann da- Sch. (13.9.1819 Leipzig–20.5.1896 Frankfurt durch in ein Gefühlschaos geriet. Jetzt erkann- a. M.), Pianistin und Komponistin, Herausgeberin ten Clara und Robert ihre Liebe zueinander. der Werke ihres Mannes, und Robert Sch. (1810– Schumann löste die Verlobung, und als Clara 1856), Pianist, Musikschriftsteller und Komponist volljährig wurde, heiratete das Paar 1840 – aller- dings gegen den Willen des Vaters. Er, der seine Clara Wieck, später verheiratete Schumann, erhielt Tochter als sein Kunstwerk betrachtete, befürch- bereits im Alter von fünf Jahren durch ihren Va- tete, dass Schumann es zerstören würde.33) ter, einen bekannten Leipziger Klavierpädagogen, Sieben Jahre vor der Hochzeit hatte Schu- der mit Klavieren handelte, eine Musikalien-Bib- mann einen psychischen Zusammenbruch erlit- liothek unterhielt und ein Internat für Musik- ten, wobei ihn das Gefühl übermannte, „den schüler betrieb, eine Ausbildung zur Pianistin. Verstand zu verlieren“. Er schrieb damals in sein Im selben Jahr trennten sich die Eltern. Clara Tagebuch: „(…) damals lief ich denn auch (…) und ihre beiden älteren Brüder blieben beim Va- zu einem Arzt und sagte ihm alles, daß mir die ter. Die Mutter zog mit dem ihr noch verbliebe- Sinne oft vergingen, daß ich nicht wüßte, wohin nen Sohn und dessen Vater nach Plauen. vor Angst, ja, daß ich nicht dafür einstehen könn- Vater Wieck konzentrierte „sein ganzes Lehr - te, daß ich in so einem Zustand der äußersten talent auf Clara, die das Ebenbild seiner geschie- Hilflosigkeit Hand an mein Leben lege (…). Der denen Frau war (...)“.30) Arzt tröstete mich liebreich und sagte endlich Als Clara neun Jahre alt war, hörte sie der lächelnd: ‚Medizin hülfe hier nichts: suchen Sie damals 18-jährige Robert Schumann in einem Haus- sich eine Frau, die kuriert‘“.34) konzert spielen. Schumann, Student der Rechts- Die Liebe zu Clara schien zu helfen. Nun von wissenschaft und „eine äußerst sensible, gespal- Angst befreit, glücklich verliebt, schuf Schumann tene Persönlichkeit, die zwei Seelen in der Brust allein im ersten Ehejahr hundert Lieder und bei - trug, denen er die Namen ‚Eusebius‘ und ‚Flo- de, Clara und er, vertonten zwölf Gedichte. Doch: retan‘ gegeben hatte, [war] frustriert vom Stu- „Mit der Zeit brachte der Alltag für zwei so aus-

** Band 3 online unter: www.ham- S. 99. O., S. 103. burg.de/maennerstrassennamen 31) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., 34) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., S. 100f. S. 107f. 29) Zitiert nach: ebenda. 32) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., 30) Hans-Peter Rieschel: Komponis- S. 101. ten und ihre Frauen. Düsseldorf 1994, 33) Vgl.: Hans-Peter Rieschel, a. a. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 379

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geprägte Künstlernaturen außergewöhnliche, aber Gelegenheit hatte, um ihre technischen Übungen verständliche Probleme. ‚Wenn Robert kompo- am Klavier zu machen, da sie auf sein Komponie - nierte, schloß er sich ein, war nicht ansprechbar, ren Rücksicht nahm, doch wollte er daran auch gereizt und einsilbig.‘ Und Clara konnte nicht nicht rütteln: ‚Daran bin ich schuld, und kann es üben, da die Wände zu hellhörig waren.“35) doch nicht ändern. Clara sieht das auch ein, daß Das Paar bekam im Laufe ihrer Ehezeit acht ich mein Talent zu pflegen habe (…)‘“.39) Kinder. Neben der vielen anfallenden Haus- und Die Geldsorgen, die die junge Familie Schu- Mütterarbeit gab Clara wei terhin Konzerte, or- mann oft plagten, wurden gelindert, als Robert ganisierte Tourneen durch Deutschland und Schumann 1842 eine Anstellung als Lehrer für komponierte zahlreiche Lieder, ein Klaviertrio, Komposition, Klavier und Partitur Spielen am Klavier stücke und Romancen. Leipziger Konservatorium bekam, das auf Be- Schumann begleitete sie oft auf ihren Tour- treiben von Felix Mendelssohn (siehe Ü Geschwis- neen. Wurde er jedoch dabei nicht genügend ter-Mendelssohn-Stieg, in diesem Band) errichtet beachtet und stand im Schatten seiner Ehefrau, worden war. reiste er unverzüglich ab. Nach solch einem Vor- Wenige Monate nach der Geburt der zwei- fall schrieb er ihr einmal: ten Tochter – die Säuglinge wur den einer Amme „Soll ich denn mein Ta- über geben – bereitete Clara eine Tournee mit Ro- lent vernachlässigen, um bert durch Russland vor. „Während Clara, von Dir als Begleiter auf der ih ren Erfolgen getragen, aufblühte, (…) erkrank- Reise zu dienen? Und Du, te Robert (…). Wiederum litt er darunter, im sollst Du Dein Talent un- Schatten seiner bewunderten und vielbeachte- genutzt lassen, weil ich ten Frau stehen zu müssen. (…) Schumann nun mal an Zeitung und konnte in der Hektik dieser Reise natürlich nicht Klavier gefesselt bin? Wir komponieren, dafür fand er viel Zeit und Anlaß, haben den Ausweg getrof- sich gekränkt zu fühlen. Er litt an Angstzustän- Clara Schumann fen. Du nahmst eine Be- den und Depressionen.“40) gleiterin, ich kehrte zum Doch bald wendete sich das Blatt: Zurück Kind zurück und zu meiner Arbeit.“36) in Deutschland, zog das Paar 1844 nach Dres- Doch ohne Clara konnte Schumann nicht den. „Während Clara feststellen musste, daß bei schöpferisch wirken, nicht komponieren und ihren Konzerten in Berlin, Wien und Dresden das verfiel in Trübsinn. Nur Clara vermochte ihn da gewohnte große Echo ausblieb (…), begann für heraus zu holen, pflegte ihn, wenn er wieder an Robert eine äußerst schöpferische Phase. (…) seinem Nervenleiden erkrankte und wollte ihn, Durch ihren hingebungsvollen Einsatz förderte den Künstler – wie sie schreibt: „verschonen von Clara das Schaffen ihres Mannes. (…) aller Prosa, wie sie nun doch einmal im ehe- Auch die Familie wuchs in dieser Zeit: vier lichen Leben nicht ausbleibt“.37) Kinder kamen in Dresden [zwischen 1845 und Clara nahm sich als Künstlerin zurück. Im 1849] zur Welt. (…) In seiner freien Zeit war Ro- Vordergrund stand für sie, ihrem Ehemann ein bert ein liebevoller ‚Kindervater‘. Er ging auf sei- seiner „Kunst geweihtes Leben [zu] schaffen“.38) ne Kinder ein, spielte mit ihnen alle möglichen

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: Und er? Er erkannte zwar, „daß Clara zu wenig Spiele (…).

35) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., 38) Ebenda. S. 108. 39) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., 36) Zit. nach: Hans-Peter Rieschel, S. 111. a. a. O., S. 109. 40) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., 37) Zit. nach. Hans-Peter Rieschel, S. 113. a. a. O., S. 110. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 380

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Clara war inzwischen 30 Jahre alt gewor- Zwischen Clara Schumann und Johannes den. Die häufigen Schwangerschaften konnten Brahms gab es nicht den Brückenschlag, den er ihrer Vitalität offensichtlich nichts anhaben, sie sich wohl gewünscht hatte, nur eine geistig-see- machten sie für ihren Mann und die Kinder häus - lische Übereinstimmung, keinen Ehebund. (…) lich. Aber der äußere Eindruck vom Glück der Tatsächlich war es das Ende einer Liebesro- kinderreichen Familie täuschte, denn innerlich manze, nicht aber das Ende einer lebenslangen vollzog sich in Clara eine Wandlung. Der Egois - Freundschaft.“43) mus des Künstlers und Menschen Robert Schu- Nach dem Tod von Robert Schumann mus- mann – er knüpfte Beziehungen zu Jünglingen ste Clara den Lebensunterhalt für sich und ihre an, trank und forderte von Clara, daß sie ihr Kin- zahlreichen Kinder selbst bestreiten. 1862 kaufte dermädchen und eine Köchin entließ, weil er sie sie ein Haus bei Baden-Baden, in dem all ihre nicht ausstehen konnte – verletzte sie tief.“41) Kinder, damals im Alter zwischen 22 und neun 1854 wurde Robert Schumann in eine Ner- Jahren, die bisher wegen Claras Tourneen teils venheilanstalt eingeliefert. Hilfreich zur Seite bei Freundinnen, befreundeten Ehepaaren oder stand Clara damals der Musiker Johannes Brahms in Internaten gelebt hatten, nun ein gemeinsa- (siehe Ü Johannes-Brahms-Platz, in Bd. 3 online**), mes Zuhause erhalten sollten. der mit Clara eine Hausgemeinschaft bildete, Clara Schumann trat weiterhin auf – trotz denn er war im Alter von 21 Jahren zu den Schu- Rheumaanfällen in der rechten Hand und im manns nach Düsseldorf gekommen. Ging sie auf rechten Arm. 1873 zog sie mit zwei Kindern Tournee, hütete Brahms das Haus und die Kin- nach Berlin und 1878 schließlich nach Frankfurt der, die damals zwischen dreizehn und einem am Main, wo sie eine Professur für Klavier am halben Jahr alt waren, und besuchte Robert Hoch’schen Konservatorium bekommen hatte. Schumann in der Heilanstalt. „Das Erscheinen Unterstützt wurde sie von ihren beiden Töchtern des jungen Brahms und Claras Beziehung zu Eugenie und Marie. Eugenie (1851–1938), die ihm bedeutete den Bruch in der Ehe (…).“42) als Musikschriftstellerin tätig war, brachte ihre Am 29. Juli 1856 starb Robert Schumann. Lebensgefährtin, die Sängerin Marie Fillunger, Clara reiste mit zweien ihrer Söhne – in Be - mit in den Haushalt ihrer Mutter. Diese lebte gleitung von Johannes Brahms und seiner dort elf Jahre, bis es zu einem Konflikt zwischen Schwester Elise – an den Vierwaldstädter See. Clara Schumann und ihr kam, in Folge dessen „Ein Sommerurlaub, wie ihn sich der lieben- Marie Fillunger nach London zog und Eugenie de Brahms mit der geliebten Clara vorstellte, verzweifelt in Frankfurt zurückblieb. (Später wurde es nicht. Der Tod Schumanns hatte die fand das Paar Marie Fillunger und Eugenie Schu - Gedanken und Gefühle in andere Richtungen ge- mann wieder zueinander.) lenkt. Clara schrieb an ihre Freundin Emilie 1888, als Clara Schumann 69 Jahre alt war, Liszt (…): ‚Ich finde nur Mut in dem Gedan - trat sie zum letzten Mal öffentlich auf. Mit ken, nach seinem Sinn zu leben! Mein Unglück Unterstützung Johannes Brahms’ gab sie nun ist so schwer und groß, aber ich fühle auch mit den Nachlass ihres Mannes heraus. ganzem Herzen das Glück, das Gott mir in der Clara musste der Tod einiger ihrer Kinder Kunst, den Kindern und meinen Freunden ver- beklagen. Nach dem Tod ihres Sohnes Ferdi- liehen.‘ nand, nahm sie ihren Enkel Ferdinand in ihren

** Band 3 online unter: www.ham- S. 125. burg.de/maennerstrassennamen 43) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., S. 130. 41) Hans-Peter Rieschel, a. a.O., S. 114ff. 42) Hans-Peter Rieschel, a. a. O., Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 381

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Haushalt auf. Er hatte das musikalische Talent Lohengrinweg, in Bd. 3 online**) in Weimar diri- der Schumanns geerbt. Claras Töchter Eugenie giert und geschrieben: „Sein (des Holländers) und Marie sorgten für die Mutter und den Enkel. mit Bitterkeit getränkter Hauch seines klagenden 1892 gab Clara Schumann ihre Position am Gesanges weckt unser Mitleid und lehrt uns ver- Konservatorium auf. Sie hörte immer schlechter stehen, wie ein Weib sich berufen fühlen kann, und das Rheuma machte ihr sehr zu schaffen. Im ihr Leben zu opfern, um sein Heil zu erringen. März 1896 erlitt sie in kurzen Abständen zwei Ebenso läßt das hochherzige Walten, die hehre Schlaganfälle, an denen sie im Mai verstarb. Art Lohengrins uns fühlen, daß einer Frau (wie Clara Schumann hinterließ ein Werk von 25 Elsa) nur zu sterben übrig bleibt, wenn sie den Opus-Zahlen: Klaviermusik, Lieder und ein lichtstrahlenden Helden (…) verloren hat. Wer Klavierkonzert. Sie war eine der bedeutendsten zweifelt an Senta, an einem weiblichen Wesen, Vertreterinnen der musikalischen Romantik in welches, um eine große Seele von schwerster Deutschland. Zehn Monate nach ihrem Tod ver- Strafe zu erlösen, das eigene Leben opfert?“45) starb auch Johannes Brahms. Liszt feierte Senta als „eines der herrlichsten Siehe auch Ü Bettinastieg, Droste-Hülshoff- Frauenbilder, die je von der Kunst geschaffen Straße, Geschwister-Mendelssohn-Stieg, in oder von der Poesie geschildert wurden!“46) diesem Band. Siehe auch Ü Lisztstraße, Ottensen, seit 1929: Siehe auch Ü Brahmsallee, Harvestehude, seit Franz Liszt (1811–1886), Komponist, Pianist, 1899: Johannes Brahms (1833–1897). Musi- in Bd. 3 online**. ker, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Lohengrinweg, Rissen, seit 1945: Gralsritter, Hauptheld, Sohn Parzivals, mittel- hochdeutsches Gedicht, in Bd. 3 online**. Sentastraße Barmbek-Süd, seit 1904. Gestalt aus Richard Wagners Oper „Der Fliegende Holländer“ (1843) Siebenschön Lokstedt, umbenannt 1948. Früher Lindenallee. „Senta ist die Erlöserin, die zu grenzenloser Hin- Märchengestalt aus: Karl Müllenhoff [siehe: Mül - gabe und zum Liebestod bereite Frau. Als die lenhoffweg, in Bd. 3 online**]: Sagen, Märchen Tochter des norwegischen Seemanns Daland und Lieder. 1845. Motivgruppe: Holsteinische Ge- dem sagenhaften Holländer gegenübertritt, ist schichte, Sagen und Märchen sie ihm schon im Traum begegnet und fühlt sich seit langem ihm zugehörig. Sie verspricht ihm Siebenschön, Tochter armer Dorfleute, ist schöner Treue bis in den Tod und stürzt sich ins Meer, als jedes andere Mädchen, arbeitsam, geschickt als er an ihr zweifelt.“44) und sittsam. Wenn sie sonntags zum Gottesdienst Die norwegische Seefahrertochter Senta wur- geht, trägt sie als Zeichen ihrer Sittsamkeit einen de von Wagner als „rettender Engel“ angelegt, Schleier vor dem Gesicht. Das weckt die Neu - als Ideal einer Frau, die treu, unbeirrbar, selbst- gierde des Königssohns. Nachdem er ihr dreimal los und hingebungsvoll liebt, jedes Opfer für den Geschenke geschickt hat, treffen sich beide jeden „bleichen Seemann“ zu geben bereit ist – und Abend bei der großen Eiche. Als der König von ihn so erlöst. Franz Liszt (siehe Ü Lisztstraße, in der nicht standesgemäßen Liebesbeziehung er- Bd. 3 online**) hatte den „Lohengrin“(siehe Ü fährt, lässt er Siebenschöns Elternhaus in Brand

** Band 3 online unter: www.ham- 45) Eva Rieger: „Leuchtende Liebe, burg.de/maennerstrassennamen lachender Tod“. Richard Wagners Bild der Frau in der Musik. Düsseldorf 44) Annemarie und Wolfgang van 2009, S. 53. Rinsum: Lexikon literarischer Gestal- 46) Ebenda. ten, Stuttgart 1988. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 382

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setzen. Dabei kommen Siebenschöns Eltern um. Siehe auch Ü Volkerweg, Rissen, seit 1949: Siebenschön kann sich retten und nimmt in Volker von Alzey Nibelungensage, in Bd. 3 onli ne**. Mannskleidung unter dem Namen „Unglück“ eine Stellung als Diener am Hofe an. Der Kö- nigssohn, nun ohne seine Siebenschön, erwählt Slamatjenbrücke eine standesgemäße Braut. Als es zur Brautfahrt Neustadt, seit 1960, Matjen = Mädchen; slam = geht, an der alle Bediens te ten teilnehmen müs- Slum, unsauber. „Unsaubere“ Mädchen/Wäsche- sen, singt Unglück: „Siebenschön bin ich ge- rinnen nannt. Unglück ist mir wohlbekannt.“ Der Prinz erkennt daraufhin Siebenschön. Es kommt zwi- Für diesen Straßennamen gibt es verschiedene schen den beiden zu einem Happy End. Deutungen: Siehe auch Ü Müllenhoffweg, Groß Flottbek, 1.) In der Nähe der Brücke, die an einer seit 1950: Prof. Karl Viktor Müllenhoff (1818– Stelle der Ost-West-Straße über das Alsterfleet 1884), Germanist, Herausgeber der Sagen, Mär- führt, soll sich ein Bordell befunden haben. chen und Lieder der Herzogtümer Schleswig- Holstein und Lauenburg, in Bd. 3 online**. 2.) Auf dieser Brücke haben sich die Frau - en getroffen, um dort im Wasser die schmut zige Wäsche zu spülen. Die Brücke wurde in den Siegrunweg Hamburg Chroniken bereits im 17. Jahrhundert Rissen, seit 1960. Siegrun, Gestalt aus der Nibe- erwähnt. lungensage

Schreibweise in der Nibelungensage: Sigrun. Sophie-Dorothea-Stieg Eine Walküre, die Helgi, der Sohn Sigmunds Wilhelmsburg, seit 1997, benannt nach Sophie und Sigyns, im Kampf gegen Hödbrodd als Gat- Dorothea (15.9.1666–23.11.1726), Gräfin von tin erkämpft. Sigrun stirbt aus Gram, nachdem Wilhelmsburg, Tochter des Herzogs Georg Wil- ihr Bruder Dag an Helgi Blutrache verübt hat, helm in Celle, des Gründers und Namengebers weil dieser Dags Vater getötet hatte. der Herrschaft Wilhelmsburg 1672 Siehe auch Ü Brunhildstraße, Kriemhildstraße, Uteweg, in diesem Band. Im Alter von sechzehn Jahren wurde Sophie Do- Siehe auch Ü Alberichstieg, Rissen, seit 1951: Ge- rothea von ihren Eltern Eleonore d’Olbreuse (sie- stalt aus der Nibelungensage, in Bd. 3 online**. he Ü Eleonorenweg, in diesem Band) und Herzog Siehe auch Ü Gernotstraße, Rissen, seit 1949: Georg-Wilhelm-Straße, Gernot, Gestalt aus der Nibelungensage, in Georg Wilhelm (siehe Ü in Bd. 3 online**. Bd. 3 online**) mit ihrem damals 20-jährigen Siehe auch Ü Hildebrandtwiete, Rissen, seit Cousin Georg Ludwig zwangsverheiratet. Durch 1951: Gestalt aus dem Nibelungenlied, in Bd. 3 diese Heirat wurden die Fürstentümer Hannover online**. und Lüneburg verbunden. Ein Jahr nach der Siehe auch Ü Rüdigerau, Rissen, seit 1949: Mo- Zwangsverheiratung bekam Sophie einen Sohn tiv aus der Nibelungensage, in Bd. 3 online**. und vier Jahre später eine Tochter. Siehe auch Ü Siegfriedstraße, Rissen, seit 1933: Gestalt aus dem Nibelungenlied, in Bd. 3 on- Georg Ludwig sah die Ehe mit Sophie Do- line**. rothea als Opfer an der Staatsräson. Nachdem

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 383

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seine Frau zwei Kinder geboren und er damit Sophie Dorothea hingegen wurde von ihrem seine Pflicht erfüllt hatte, für den Fortbestand Gatten geschieden. Alle Versöhnungsversuche seiner Dynastie zu sorgen, wandte er sich offen von Seiten des Gerichtspräsidenten schlugen fehl. seiner Hofdame, Fräulein von Schulenburg, und Sophie Dorothea wollte nicht zu ihrem Mann zu- weiterer Mätressen zu. rückkehren. So wurde sie schuldig geschieden, Sophie Dorothea fühlte sich vernachlässigt was bedeutete: sie durfte nicht wieder heiraten. und einsam. Als der ein Jahr ältere Philipp Kö- Aber damit nicht genug: ihr Vater und nigsmarck, den sie als Kind in Celle kennenge- Schwiegervater, ganz dem patriarchalen Gedan- lernt hatte, 1689 als Offizier nach Hannover kam, kengut verhaftet, kritisierten Sophie Dorotheas befreundeten sich die beiden miteinander, und „Seitensprung“, nicht jedoch die vielen testoste - Sophie Dorothea klagte ihm ihr Leid. Aus Freund- rongesteuerten Amouren schaft wurde Leidenschaft und Liebe. Nachts des Gatten Georg Ludwig schlichen sie zueinander, trafen sich heimlich und ließen Sophie Doro- und schrieben sich chiffrierte Briefe, weil sie in thea auf das Schloss Ahl- der Angst lebten, entdeckt zu werden. den verbannen. Bis zu ih- Schließlich hielt Sophie Dorothea dieses rem Tod durfte sie weder Versteckspiel nicht mehr länger aus und bat das Schloss verlassen noch ihren Geliebten, mit ihr zu fliehen. Dazu fehlte ihre beiden Kinder wie- Königsmarck aber eine finanziell gesicherte dersehen. Ihr Vater wand te Existenz, ohne die er seine Geliebte nicht hätte sich von ihr ab, nur ihre Sophie Dorothea standesgemäß versorgen können. Mutter kam noch zu Be- Als er 1694 das Angebot erhielt, Komman- such und erhielt von ihrer dant der Garde bei Kurfürst Friedrich August Tochter hin und wieder Briefe, die durch Beamte von Sachsen zu werden, was ihn finanziell auf zu ihr geschmuggelt wurden. sichere Beine gestellt hätte, reifte der Entschluss, Finanzielle Not hatte Sophie Dorothea in gemeinsam zu fliehen. Kurz vor seiner Abreise Ahlden nicht zu leiden. Sie besaß einen Hofstaat, zur Garde, stattete er Sophie Dorothea einen Be- bestehend aus einem Oberhofmeister, einem Kam - such ab. Doch nachdem er das Schloss verlassen merherrn, einer Kammerfrau, zwei Pagen, zwei hatte, wurde er ermordet. Lakaien, drei Köchen, einem Bäckermeister, ei- Seine Schwester, die damals 32-jährige Au- nem Konditor, einem Kellermeister, einem Haus- rora von Königsmarck (1662–1728), die zu der meister, einem Kutscher und einigen Dienstmäd- Zeit in Hamburg lebte und Opernlibretti schrieb, chen. Dazu gesellte sich zu ihrer Bewachung noch stellte sofort Nachforschungen an. Doch sie stieß eine Wache aus zwei Offizieren, zwei Un teroffi - auf eine Mauer des Schweigens; niemand wollte zieren und 24 Mann. Sie alle passten auf, dass sich zu dem Vorfall äußern. Deshalb bat sie sich Sophie Dorothea nicht weiter als dreieinhalb einen Jugendfreund ihres Bruders, den Kürfürs- Kilometer vom Schloss entfernte. Ihre Post wur - ten von Sachen und König von Polen, Friedrich de zensiert; Menschen, die sie besuchen wollten, August (den Starken), um Hilfe. Der verlieb te mussten sich vorher von Sophie Dorotheas Vater sich in Aurora und machte sie zur offiziellen (Georg Wilhelm) oder dem Onkel (Ernst August)

Abb.: Hermann Kesenberg, Wilhelmsburg in Wort und Bild, Verein für Heimatkunde in Wilhelmsburg e.Wilhelmsburg für Heimatkunde in (Hrsg.), Original Bomann MuseumVerein Celle Wort und Bild, in V. Wilhelmsburg Hermann Kesenberg, Abb.: Mä tresse en titre (Gattin zur linken Hand). die Erlaubnis dazu einholen. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 384

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Sophie Dorothea gab die Hoffnung nie auf, für die nächsten zwanzig Jahre auch ihr einziges aus der Verbannung entlassen zu werden. Nach- bleiben sollte, denn, nachdem sie 1895 nach lan- dem ihr Onkel und Schwiegervater verstorben gem Brautstand den Altphilologen und Lehrer war, schrieb sie an den neuen Kurfürsten, ihren Heinrich Kloerß geheiratet hatte, musste sie sich ehemaligen Ehemann, und bat vergeblich um um den Haushalt und die gemeinsamen Kinder Amnestie. Als ihr Exmann König von England kümmern – Zeit zum Schreiben fand sie dabei wurde, versuchte sie es noch einmal. Doch nie- kaum. Das Paar lebte mit seinen Kindern von mals erhielt sie eine Antwort. 1898 bis 1903 in Rostock, später in Schwerin. Sophie Dorothea wurde später als die „Mut- Sophie Kloerß schrieb auch Bücher für her- ter der Könige“ bezeichnet: Ihre Tochter Sophie anwachsende Knaben, was damals für eine Frau Dorothea heiratete den Soldatenkönig Friedrich nicht selbstverständlich war. Deshalb erschien Wilhelm I. und wurde die Mutter Friedrichs des ihr 1923 in der Kamerad-Bibliothek veröffentlich- Großen. Dorotheas Sohn Georg-Ludwig wurde tes Buch „Hein Hannemann. Eine Geschichte 1727 König Georg II. von Großbritannien (gleich- von der Waterkant“ unter Sophie Kloerß’ männ - zeitig auch Kurfürst von Hannover). Dieser Sohn lichem Pseudonym Wilhelm von der Mühle. verbot nach dem Tod der Mutter die vom Minis- Dieses Buch erfuhr gut 80 Jahre später eine terium in Hannover angeordneten Trauerfeier- Renaissance; es wurde 2006 neu aufgelegt und lichkeiten. Er – ganz Sohn seines Vaters – wollte ist seitdem u. a. Grundlage für szenisch-musika- seine Mutter am Ort ihrer Verbannung beerdigen lische Lesungen in Rostock und Umgebung. Der lassen, was wegen des damals hohen Wasser- Protagonist des Buches, Hein Hannemann, wur- stands im morastigen Grund jedoch nicht mög- de zu einem Sympathieträger für Rostock und lich war. Sophie Dorothea wurde ohne jede zu einem Tom Sawyer der Ostsee. So heißt es in Feierlichkeit in der herzoglichen Gruft der Stadt- der Ankündigung einer Lesung in der Kleinen kirche von Celle beigesetzt. Komödie Warnemünde für Januar 2015: „1923 Siehe auch Ü Eleonorenweg, in diesem Band. veröffentlichte Sophie Kloerß unter dem Pseudo- Siehe auch Ü Georg-Wilhelm-Straße, Wilhelms- nym Wilhelm von der Mühle den Roman HEIN burg, seit 1947: Herzog Georg Wilhelm von HANNEMANN, in dem sie die Geschichte des Braunschweig-Lüneburg (1665–1705), in Bd. 3 jüngsten Sohns eines Rostocker Kaufmannes er- online**. zählt. Hein ist ein lebenslustiger, frecher, durch- aus mutiger Bursche. Aus der Warnow rettet er Sophie-Kloers-Weg kühn einen jungen Hund – Rüpel wird ihm von Jenfeld, seit vor 1938, benannt nach Sophie da an ein treuer Gefährte auf seinen zahlreichen Kloerß, geb. Kessler, Pseudonym Wilhelm von Abenteuern sein. Mit ihm und gleichaltrigen der Mühle (5.1.1866 Wandsbek–31.1.1927 Ham- Freunden durchstreift Hein die Stadt – vom El- burg), Wandsbeker Schriftstellerin. In einschlä - ternhaus in der Schnickmannstraße mit den gigen Lexika wird sie Kloerß geschrieben Speichern voller Rosinensäcke und Butterton- nen, den großen Lagern von Äpfeln und getrock- Als Sophie Kessler noch ein Kind war, starben ihre neten Pflaumen, Mehlsäcken und Kisten voll Eltern (Vater Kaufmann). 1887, im Alter von 21 Reis und Berge von Seife, wo die Jungen heim- Jahren, veröffentlichte sie ihr erstes Buch, das lich Burgen aus Heringsfässern und Pfeffersä-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 385

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cken bauen, um sie im heldenhaften Kampf zu geräte usw. Sein Schaffen hat sich besonders verteidigen, bis nach Warnemünde. In diesem segensreich im Kriege ausgewirkt.“ Paradies, wo sein Großvater Lotsenkommandant Eine Umbenennung in Drägerstraße erfolgte ist, träumt er davon, zur See zu fahren. Hier er- zwar nicht, allerdings wurde dem Hamburger lebt er die große Sturmflut von 1871. In Rostock Adressbuchverlag mitgeteilt, dass in den Erläu- und seiner Umgebung, in der Heide, in Rövers- terungen zum Straßennamen der Hinweis auf hagen und Doberan erkundet er auf zahllosen den jüdischen Ursprung zu unterbleiben habe. Abenteuern seine kleine Welt. Und am Ende Siehe auch Ü Paulinenallee, in diesem Band. geht es für Hein doch hinaus auf die weite See, Siehe auch Ü Eduardstraße, Eimsbüttel, seit in das große und neue Leben des echten Rosto- 1868: nach dem 1867 geborenen Sohn Eduard cker Sympathieträgers.“ des Grundeigentümers Samuel Ephraim, in Bd. 3 online**. Einige Werke von Sophie Kloerß: Hambur- Siehe auch Ü Löwenstraße, Hoheluft-Ost, seit ger Blut (Erzählung, 1909), Lieder und Balladen 1879: Samuel Ephraim Grundeigentümer, in (1909), Vaterland und Vaterhaus (1915), Jung- Bd. 3 online**. mädelgeschichten (1918), Jan Feuerkopf (1920), Der neue Geist (Roman, 1922), Hille Hadersen (Roman, 1925), Sturm in Schmalebek (Roman, Sophienstraße 1926), Die verhexten Sparten, Geschichten von Wilstorf, seit 1922, benannt nach Sophie Juliane kleinen Leuten (1928), Die silberne Orgel, Ge- Wilhelmine, geb. Oneken. Mutter des Syndikus schichten von der Insel Sylt (1931). Tilemann Siehe auch Ü Tilemannhöhe, Wilstorf, seit 1955: Julius Tilemann (1866–1930), Harbur- Sophienallee ger Senator und Stadtsyndicus, in Bd. 3 on- line**. Eimsbüttel, seit 1863, benannt nach Sophia, geb. Arnthal (26.3.1837–27.10. 1895 Hamburg), Frau des jüdischen Grundeigentümers Samuel Sophienterrasse Ephraim Harvestehude, seit 1861, vermutlich benannt nach Maria Sophia Friederica, geb. Goldmann Im Wege der Umbenennung jüdischer Straßen- (28.10.1825 St. Thomas/Westindien–17.12.1918 namen während der NS-Zeit machten das In- Hamburg), Ehefrau des Geländebesitzers J. F .W. genieurwesen und das Staatsamt 1936/37 den Reimers Vorschlag, die Allee in Drägerstraße umzube- nennen. Zu Dräger wurde erklärt: „Bernhard Dräger, gest. 12.1.1928, dem bahnbrechenden Sophie-Schoop-Weg Ingenieur auf vielen Gebieten der Technik; hier Bergedorf/Allermöhe, seit 1995, benannt nach sind zu nennen die bahnbrechenden Erfindun- Sophie Schoop (12.12.1875–3.1.1945 KZ gen für die Verwendung der Stahlflaschen für Ausch witz), jüdisches Opfer des National - hohen Druck von Gasen; die von ihm herausge- sozialismus. Setzte sich für französische und brachten Sauerstoff-Atmungsgeräte; die von ihm sowjetische Kriegsgefangene ein gebauten Gasschutzgeräte und Groß-Gasschutz- Stolperstein vor dem Wohnhaus Poßmoorweg 45.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 386

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Sophie und Ernst Schoop wohnten in der Lager- ihr Mann aus dem KZ Auschwitz die Sterbeur- straße 2, der heutigen Gaußstraße, in Altona, kunde seiner Frau. als ihre Tochter Renate am 12. August 1904 ge- Ihren beiden Denunziantinnen wurde zwar boren wurde. nach dem Krieg der Prozess gemacht. Sie wur- „Renate Schoop machte später eine Ausbil- den jedoch mangels Beweisen freigesprochen. dung zur Verkäuferin und arbeitete als Kontoris- tin. Sie wohnte zuerst in der Meerweinstraße und später im Poßmoorweg 45. Am 29. März 1934 St. Annenbrücke schied sie aus der Jüdischen Gemeinde aus und HafenCity, seit 1881. Die Brücke führt über das wurde evangelisch-lutherisch. Renate Schoop St.-Annen-Fleet. wanderte 1938 in die USA aus. (…) Siehe auch Ü Bei St. Annen, St. Annenplatz, St. Annenufer, in diesem Band. Ihre Eltern zogen mehrmals um. Sie wohn- ten u. a. am Kohlhöfen 19 und in der Alsterdorfer Straße 197, bis sie in den Poßmoorweg 45 zogen. St. Annenplatz Das Ehepaar lebte sehr zurückgezogen, und HafenCity seit 2013, in Anlehnung an das so wusste nur die nächste Nachbarschaft, dass St. Annenfleet und die Straße bei St. Annen So phie Schoop Jüdin war“,47) schreibt Maike Siehe auch Ü Bei St. Annen, St. Annenbrücke, Bruchmann in ihrer Biographie über Sophie St. Annenufer, in diesem Band. Schoop in der Publikation „Stolpersteine in Ham- burg-Winterhude. Biographische Spurensuche“. Nach den Bombenangriffen auf Hamburg St. Annenufer im Jahre 1943 meldete sich Sophie Schoop frei- HafenCity, seit 1890. Benennung als nach der willig zum Kartoffelschälen in der Notküche am Straße „Bei St. Annen“ führende Uferstraße am Poßmoorweg. Da in der Gegend auch Kriegsge- St. Annenfleet fangenenbaracken standen, sah Sophie Schoop das dortige Elend. Sie wies mutig auf die Miss- Die Heilige Anna ist die Mutter Marias (siehe Ü stände hin und gab den Kriegsgefangenen man- Am Mariendom, in diesem Band). Bereits im Jahre che Zigarette und Brot. Als ein in der Notküche 550 wurde ihr zu Ehren eine Kirche in Konstan- zum Helfen eingeteilter Kriegsgefangener be- tinopel erbaut. Das Fest St. Annas wird seit 1558 schimpft wurde, stand sie ihm zur Seite und äu- gefeiert und am 26. Juli begangen. St. Anna ist ßerte spontan: „Russen sind auch Menschen.“ der Inbegriff der Mütterlichkeit. Sie ist die Patro- Dieser Satz wurde Sophie Schoop zum Verhäng- nin der Bergleute und der Mütter und wird be- nis. Am nächsten Tag (29. August 1943) wurde sonders bei einem Kinderwunsch angerufen. sie von der Gestapo verhaftet. Ihr Mann erfuhr Die Geschichte der Heiligen Anna: Anna nur durch Zufall, wohin seine Frau gebracht und Joachim aus dem königlichen Geschlecht worden war. Davids bekamen keine Kinder. Sie gelobten Sophie Schoop war fünf Monate im Gesta- schließlich, wenn ihnen Gott ein Kind schenken pogefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel inhaftiert und würde, würden sie es ihm und seinem Dienst wurde am 23. Januar 1944 ins KZ Auschwitz de- weihen. Die Hohepriester nahmen jedoch die portiert. Ein Jahr nach ihrer Verhaftung erhielt Opfergabe des Ehepaares nicht an. Daraufhin

47) Maike Bruchmann: Sophie Schoop, in: Ulrike Sparr: Stolper- steine in Hamburg-Winterhude. Bio- graphische Spurensuche. Hamburg 2008, S. 236ff. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 387

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floh Joachim ins Gebirge. Nach zwanzig Jahren Susettestraße erschien ihm in der Wüste und der weinenden Ottensen, umbenannt 1950. Früher Ohlendorffs Anna in deren Kammer zur selben Stunde ein Allee, benannt nach Susette Gontard, geb. Bor- Engel mit der Botschaft, dass Gott sie erhört kenstein. (6.2.1769 Hamburg–22.6.1802 Frank- habe. Maria wurde geboren. Die ersten drei Le- furt am Main), Geliebte Hölderlins, seine „Dio- bensjahre blieb das Kind bei den Eltern, dann tima“ gaben sie ihr Kind schweren Herzens in den Tempel von Jerusalem. Susette Borkenstein war das älteste von fünf Kin- Siehe auch Ü Am Mariendom, in diesem Band. dern der Susanne Borkenstein, geb. Brugier, eine Freundin von Klopstock (siehe Ü Klopstockstraße, in diesem Band) und des Kommerzienrats und Sterntalerstraße Lustspieldichters Heinrich Borkenstein aus Ham- Billstedt, seit 1952. Motivgruppe: Märchengestal- burg. 1786 heiratete die damals 17-Jährige Su- ten sette den fünf Jahre älteren Frankfurter Bankier Jacob Gontard (1764–1808) und zog mit ihm Ein armes, elternloses, kleines Mädchen besitzt nach Frankfurt. Zeitweilig besaß sie auch eine nichts weiter außer seiner Kleidung auf dem Leib Sommerwohnung in Ottensen. Das Paar bekam und einem Stück Brot. Dies wenige verschenkt vier Kinder: Henry (1787–1816), Henriette (1789– sie auch noch an arme Menschen. Schließlich 1830), Johanna Helene (1791–1820), Friederike steht sie nackt da. Und plötzlich fallen Sterne Amalie (1791–1832). vom Himmel, die, sobald sie auf die Erde gefallen 1795 erhielt der da- sind, zu Goldtalern werden. Das Mädchen, nun mals 26-jährige Hölderlin plötzlich wieder mit einem Hemdchen bekleidet, (siehe Ü Hölderlinsallee, in sammelt die Taler dort hinein. Bd. 3 online**) eine Haus- Sterntaler war das einzige Märchenmotiv lehrerstelle bei den Gon- auf deutschen Banknoten (Tausend-DM-Schein). tards, um den Sohn Hen- „Nach altem Volksglauben sind Sternschnuppen ry zu unterrichten. Susette ein Glückszeichen, hier verknüpft mit der Idee Gontard und Hölderlin einer Belohnung für christliche Nächstenlie be.“48) verliebten sich ineinan- der. Diese Liebe wurde Susette Gontard für Hölderlin zum zentra- Susannenstraße len Ereignis seines Lebens und Susette wurde Sternschanze, seit 1860 und wieder seit Oktober die „Diotima“ seines „Hyperion“. Seine Bezie- 1945, vermutlich benannt nach der ältesten Toch- hung zu Susette empfand er als „eine ewige ter des Grundeigentümers Clas Julius Bieber. Zwi- fröhliche heilige Freundschaft mit einem Wesen, schen dem 30.1.1934 und Oktober 1945 benannt das sich recht in dies arme, geist- und ordnungs- nach dem SA-Truppführer Heinrich-Dreckmann- lose Jahrhundert verirrt hat“. Susette Gontard Straße schrieb an Hölderlin: „Wenige sind wie Du! und Siehe auch Ü Juliusstraße, Sternschanze, seit 1860: Claus Julius Bieber (1804–1852), Vorbe- was auch jetzt nicht würckt, bleibt sicher für

Abb.: bpk –Abb.: 10026243 Nr. sitzer des Geländes, in Bd. 3 online**. künftige Zeiten.“ Zwischen Hölderlin und Suset-

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48) Ulf Diederichs: Who’s who im Märchen. München 1995. Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 388

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tes Mann kam es wegen dieser Liebesverbin- Susettes Tod. Diese Nachricht gilt in der For- dung zu einer Auseinandersetzung, woraufhin schung als Auslöser für das Abgleiten des Dich- Hölderlin 1798 Hausverbot bekam, die Familie ters in die Verwirrung. Nach fast 20-jähriger geis- Gontard verlassen musste und ins benachbarte tiger Umnachtung starb Hölderlin am 7. Juni Homburg zog. 1843 in Tübingen. In seinen Papieren fand man Die beiden Liebenden konnten sich noch ei- Susettes Briefe, die er sorgfältig aufbewahrt nige Male heimlich treffen. Als auch dies nicht hatte.“50) mehr möglich war, verabredeten sie einen Tag Siehe auch Ü Hölderlinsallee, Winterhude, seit im Monat, an dem Hölderlin von Homburg nach 1928, und Hölderlinstraße, Groß Flottbek, seit Frankfurt am Main wanderte und sich „an der 1928: Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770–1843), Dichter, in Bd. 3 online**. Ecke zum Hirschgraben kurz seiner am Fenster im oberen Stockwerk wartenden Geliebten [zeig- te] und [ihr] (…) dann einen Brief in ein unteres Suttnerstraße Fenster [legte], wofür er ein Schreiben von ihrer Altona, umbenannt 1950. Früher Wielandstraße, Hand vorfand. Im Sommer, wenn die Familie benannt nach Bertha Freifrau von Suttner, geb. Gontard auf dem Adlerflychthof im Oeder Weg Gräfin von Kinsky. (9.6.1843 Prag–21.6.1914 Har- lebte, kommunizierten die beiden ‚durch die mannsdorf bei Wien), österreichische Pazifistin Hecke‘ vor dem Garten miteinander, wo sie ihre und Schriftstellerin. Erhielt 1905 den Friedensno- Briefe und ganz selten ein paar flüchtige Wor- belpreis te wechselten, ohne einander dabei sehen zu können. Am 7. November 1799 übergab Hölder- „Bertha von Suttner war vor dem Ersten Weltkrieg lin sei ner ‚Diotima‘ den gerade erschienenen international bekannt. (…). Von ihren Freunden zweiten Band des ‚Hyperion‘ mit der Widmung: als Schriftstellerin gefeiert, als Vorkämpferin der ‚Wem sonst als Dir‘. Friedensidee verehrt und als gütiger hilfsbereiter Angesichts des ständigen Ringens um ihr Mensch geliebt, wurde sie von ihren Gegnern seelisches Gleichgewicht entschloss sich Susette auf das Schärfste bekämpft, von ihren Feinden im Frühjahr 1800 zur völligen Trennung von als Suffragette des Friedens, als ‚Gschaftelhube- Hölderlin. Sie entsagte auch, weil sie an ihn als rin‘ der Politik verlacht und in bösen Karikaturen Dichter glaubte und mit ihrer Liebe seiner Kar- als Palmwedel schwingende Friedensbertha ver- riere nicht hinderlich sein wollte. Am 8. Mai spottet.“51) 1800 übergab Susette dem Geliebten am Adler- Geboren wurde Bertha als Tochter des Gra- flychthof ihren von Tränen benetzten Abschieds- fen Franz Joseph Kinsky von Chinic und Tettau, brief. Hölderlin musste geloben, nie mehr zu- einem pensionierten k.k. Feldmarschall-Lieute- rückzukehren. Kurz nach diesem letzten Treffen nant, und der wesentlich jüngeren Sophia Wil- verließ er Homburg.“49) helmine, geb. von Körner. Graf Franz Joseph 1802 erkrankte Susette Gontard, die seit län- Kinsky von Chinic und Tettau starb noch vor der gerem lungenleidend war, bei der Pflege ihrer an Geburt seiner Tochter Bertha. Röteln erkrankten Kinder und verstarb im Juni Seine Witwe Sophia Wilhelmine, geb. von 1802. „Im Juli (..) erfuhr Hölderlin durch einen Kör ner reiste mit ihren beiden Kindern nach Ve- Brief seines Homburger Freundes Sinclair von nedig, Rom, Paris – bis sie ihr Vermögen durch

** Band 3 online unter: www.ham- tionsamt der Stadt Frankfurt am und andere Frauen der Friedensbe- burg.de/maennerstrassennamen Main, Nr. 21 vom 4.6.2002. wegung. Hrsg. von der Bibliothek der 50) Ebenda. Vereinigten Nationen im Genfer Völ- 49) Sabine Hock: Zum 200. Todestag 51) Beatrix Kempf: Bertha von Sutt- kerbundarchiv. Genf 1994, S. 1. von Susette Gontard, in: Wochen- ner – Biographische Notizen, in: Die dienst, hrsg. v. Presse- und Informa- Waffen nieder! Bertha von Suttner Straßen Bd 2 364-390 S:. 27.07.15 13:53 Seite 389

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ihre Spielleidenschaft verloren hatte. Fort an konn- wurde und die Friedensidee populär machte. te sie nur noch von ihrer immerhin ausreichen- 1891 gründete sie die Österreichische Gesell- den Apanage leben. schaft der Friedensfreunde und 1892 wurde sie Contesse Bertha beherrschte einige Spra- Mitbegründerin der Deutschen Friedensgesell- chen, besaß eine musikalische Ausbildung und schaft. Zwischen 1892 und 1899 gab sie die Zeit- Literaturkenntnisse. Und so begann sie als Haus- schrift heraus, die den Namen ihres Romans lehrerin in der Familie Suttner zu arbeiten. Dort trug und erhielt 1905 als erste Frau für ihre Frie- verliebte sich der jüngste Sohn Arthur in die sie- densarbeit und für ihr Buch „Die Waffen nieder“ ben Jahre ältere Bertha, die deshalb ihre Stel- den Friedensnobelpreis. lung dort aufgeben musste, weil die Familie für Mit dem Stifter des Friedensnobelpreises, den Sohn eine passendere Partie wünschte. Ber- Alfred Nobel, stand Bertha von Suttner stets tha verließ den Haushalt Suttner; die Liebe zwi- in freundschaftlicher und schen Arthur und Bertha blieb aber bestehen. brieflicher Verbindung. In Zur selben Zeit suchte ein reicher, älterer, ihren Briefen „beschwört hochgebildeter in Paris lebender Herr per An- [sie] Nobel, sich aktiv für nonce eine Sekretärin und Haushälterin. Dieser die Friedensbewegung zu Herr war der schwedische Millionär und Dyna- engagieren. Nobels Ant- mitkönig Alfred Nobel. Bertha übernahm die worten sind wohlwollend, Stelle und zwischen den beiden entwickelte sich er schlägt keine Bitte um eine lange und intensive Freundschaft. Geld zur Unterstützung 1876 kam es zur heimlichen Vermählung eines speziellen Projektes Bertha von Suttner zwischen Bertha Gräfin Kinsky und Arthur Gun- ab“.52) dacar Baron Suttner. Das Paar zog in den Kau- „Sowohl Nobel als auch Suttner waren der kasus, wo sich Baron Suttner erfolgreich als festen Überzeugung, daß der Fortschritt der Kriegsberichterstatter über den Krieg zwischen Wissenschaft die Menschheit in einer vom Krieg Russland und der Türkei versuchte. Auch Bertha befreiten Welt auf eine höhere Stufe bringen begann erfolgreich zu schreiben. Es entstanden werde. Suttner glaubt, die Tätigkeit der Friedens- Romane und feuilletonistische Beiträge. Aber sie gesellschaften könne diesen glücklichen Tag informierte sich auch schon damals über die früher herbeiführen. Nobel stimmt mit dem Ziel Kriegsgeschehnisse, sah das menschliche Leid überein, bleibt aber skeptisch hinsichtlich der in den Schützengräben und das Elend der ver- Friedensgesellschaften. Grundsätzlich bleibt er wundeten Soldaten, und in ihr reifte die Abnei- jedoch offen.“53) Er lässt Suttner „im Unklaren gung gegen den Krieg. Nach neun entbehrungs- darüber, ob er aus reiner Freundschaft oder aus reichen Jahren im Kaukasus kehrte das Paar Überzeugung handelt. Die Folge jedoch war der nach Österreich zurück. von ihm ausgesetzte Friedenspreis“.54) 1887 hörte Bertha von Suttner von der bri- Bertha von Suttner „war keine aktive Frauen- tischen Friedensbewegung. Damit begann ihr rechtlerin, im Grunde interessierten sie die Pro- Einsatz gegen den Militarismus. Zwei Jahre spä- bleme der Frauenemanzipation nur am Rande, ter erschien ihr Antikriegsroman „Die Waffen obwohl sie selbst oft als einzige Frau an expo-

Abb.: bpk –Abb.: 10005295 Nr. nieder“, der seither in viele Sprachen übersetzt nierter Stelle stand. Sie war Aristokratin durch

52) Irwin Abrams: „Chère Baronne et Amie …“ Briefe von Alfred Nobel und Bertha von Suttner, in: Beatrix Kempf, a. a. O., S. 9. 53) Beatrix Kempf, a. a. O., S. 11. 54) Beatrix Kempf, a. a.O., S. 9. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 390

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und durch und übte doch schärfste Kritik an [durch den Friedensnobelpreis 1905], (…) wirkte ihren Standesgenossen. Sie erkannte die Bedeu- der Name Suttner in der Heimat wie ein ‚rotes tung des Sozialismus, der Sozialdemokratie, sym - Tuch beim Stier‘. Der Nationalismus und mit pathisierte mit ihr, glaubte aber auch ihre Gren- ihm kriegerische Gesinnung griffen mehr und zen genau zu sehen“.55) mehr auch in den Frauenverbänden um sich, „Sie war zutiefst von der Gleichberechti- etwa im Deutschen Reich, wo Gertrud Bäumer gung aller Menschen, ob Männer oder Frauen, [siehe Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, in diesem Band] überzeugt, und aus dieser Überzeugung (…) den nationalen deutschen Flottenverein unter- konnte es für sie nur ein ,menschliches‘, (…) stützte, nationale Parolen verkündete und damit Arbeiten geben (…). Dabei kam es ihr nicht in das weibliche Friedensideal Lügen strafte.“56) den Sinn, den Frauen besondere, quasi angebo- Nach dem Tod ihres Ehemannes 1902 bezog rene Friedensliebe zuzuschreiben, wie es viele Bertha von Suttner eine Wohnung in Wien. Ihr ihrer ‚Schwestern‘ so gerne taten (…). Im Ge - „Tod erreichte Bertha von Suttner wenige Tage genteil: Die Suttner kritisierte heftig dieses Kli- vor dem Attentat in Sarajevo. So blieb ihr die schee der friedlichen Frau und beschränkte sich furchtbare Gewissheit eines Krieges erspart. Sie nicht darauf, kriegerische Gesinnung allein bei hatte allerdings nicht mit einem dauernden Frie- Männern anzuprangern. (…) den in Europa gerechnet“.57) In demselben Jahren, als sie endlich inter- Siehe auch Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, Kollwitz- nationale Anerkennung, ja Berühmtheit gewann ring, Vera-Brittain-Ufer, in diesem Band. T

Tennigkeitweg Die Eltern von Richard Tennigkeit ließen sich vor Poppenbüttel, seit 1985, benannt nach Käthe 1895 in Stettin nieder, wo Richards Vater Chris- und Richard Tennigkeit. Käthe Tennigkeit, geb. toph (geb. 1871 im Kreis Tilsit) auf der Vulkan- Schlichting (2.4.1903–20.4.1944 Gefängnis Werft Arbeit als Schmied fand. Ursprünglich lau- Hamburg-Fuhlsbüttel) und Richard Tennigkeit tete der Familienname Tenekait und deutet auf (5.9. 1900–12.12. 1944 KZ Neuengamme), ostpreußische und baltische Wurzeln der Familie Widerstandskämpfer, Mitglieder der Wider- hin. Die Mutter von Richard Tennigkeit, Anna, standsgruppe Bästlein-Jacob-Abshagen geb. Schwentorus (1871–1937), sprach noch die Stolperstein vor dem Wohnhaus Moschlauer lettische Sprache. 1911 zog Christoph Tennig keit Kamp 24. ins damals preußische Wilhelmsburg (Köhl- Erinnerungsstein im Garten der Frauen auf dem brandstraße 7), wo er ebenfalls auf der Vul kan- Ohlsdorfer Friedhof. Werft arbeitete. Seine politische Orientierung ist nicht bekannt, dürfte aber SPD-nah gewesen sein. Die fünfköpfige Familie wurde schrittweise

55) Beatrix Kempf, a. a. O., S. 1. 57) Beatrix Kempf, a. a. O., S. 5. 56) Brigitte Hamann: „Weibliches Wesen ist nicht identisch mit Pazi- fismus.“ Bertha von Suttner, die Mahnerin für den Frieden, in: Beatrix Kempf, a. a. O, S. 6 und S. 8. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 391

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in Wilhelmsburg ansässig, sie scheint anfangs in der beschaulichen Gartenstadtsiedlung im Nord- Eimsbüttel gelebt zu haben. Richard Tennigkeit osten Hamburgs nieder. Dort hatte sich ein reges besuchte zunächst von August 1914 bis März kulturelles und politisches Leben entfaltet. Ri- 1915 die Volksschule in der Bismarckstraße 83. chards Bruder Bruno, Dreher bei Kampnagel, Wahrscheinlich nach Abschluss der neunjähri- spielte Mandoline und sang im „Berner Volks- gen Volksschule zog auch er nach Wilhelmsburg. chor e. V.“, der 1924 gegründet worden war und Er und sein jüngerer Bruder Bruno (geb. 1903) seit 1925 im Clubzimmer der Konditorei Palm erlernten das Metallhandwerk und wurden Dre- probte. Der rund 80 Sänger umfassende Chor ge- her. Im März 1920 trat Richard Tennigkeit dem hörte zum Dachverband des „Arbeitersänger- Metallarbeiterverband bei.1) bundes“ und trat bei Maifeiern, bei Banner- und Zu diesem Zeitpunkt war auf dem Gelände Jugendweihen sowie Schul- und Siedlungsfesten des ehemaligen Gutes Berne die genossenschaft- auf. Er löste sich 1939 auf. Um 1930 unterhielten liche Gartenstadtsiedlung Berne gegründet wor- der Freie Turn- und Sportverein Berne (FTSV), den. Sie zog viele organisierte Arbeiter aus dem die KPD und das Reichsbanner eigene Spiel- Hafen an, darunter auch Familie Tennigkeit. Dort mannszüge. Nachdem sich Ende 1931 die Eiser- konnten die Familien sich durch Obstbäume und ne Front als sozialdemorkratisch dominierte pa- eigenen Gemüseanbau und die Haltung von ramilitärische Organisation gegründet hatte, gab Klein tieren in Teilen selbst versorgen. Die Mehr- es beim FTSV Berne eine Schutzsportgruppe. heit der Bewohner war sozialdemokratisch orien- Richard Tennigkeit und Käthe Schlichting lern- tiert. In den beiden Haushälften Moschlau er ten sich Anfang der 1930er Jahre bei Gewerk- Kamp 22 und 24 lebten die verschwägerten Fami- schaftskursen kennen. Richard war Mitglied im lien um Christoph und Anna Tennigkeit (Nr. 24) nicht parteipolitisch gebundenen Metallarbeiter- und Bernhard und Luise Pürwitz (Nr. 22) seit verband, Käthe war im Transportarbeiterver- September 1926 Wand an Wand. Anna Tennig- band organisiert. Sie stammte aus einer sozial- keit und Luise Pürwitz waren Schwestern, die demokratisch geprägten Familie. Ihr Vater, der be reits in Stettin und Wilhelmsburg bei einander Malermeister Heinrich Schlichting, kam aus Lü- gewohnt hatten. beck, die Mutter Anna Auguste, geb. Casper (ge- Richard Tennigkeit, der die Berge liebte, hatte storben 1962), aus Kappeln an der Schlei. Die Fa- sich im April 1922 nach Lüneburg abgemeldet, milie wohnte u. a. 1903 am Barmbeker Markt 8, um sich als Handwerker auf Wanderschaft zu Haus 3. Käthe besuchte im Stadtteil Winterhude begeben. Von Juli 1922 bis Mai 1923 lebte er in von 1909 bis 1917 die Volksschule in der Barm- Darmstadt. Über Stuttgart zog er weiter Richtung bekerstraße 30. Sie und ihre Schwester Martha Österreich und Balkan. Den Sichtvermerken in waren in jungen Jahren der Sozialistischen Arbei - seinem Reisepass ist zu entnehmen, dass er sich terjugend (SAJ) (heute: Die Falken) beigetreten. zwei Monate in Salzburg und zwei Monate in Der Bruder Friedrich Schlichting starb nach dem Serbien aufhielt. Von März 1924 bis Oktober 1926 Ende des Ersten Weltkriegs an den Spätfolgen lebte er erneut in Österreich (u. a. in Klagenfurt) einer Verletzung, die er als Soldat erlitten hatte. und trat dem dortigen Metallarbeiterverband bei. Die Ideen der im April 1917 von der SPD ab- Im Oktober 1926 kehrte er über Thüringen gespaltenen USPD interessierten auch Käthe nach Norddeutschland zurück und ließ sich in Schlichting. Der USPD-Kreisverein Hamburg-Al-

1) Für den gesamten Beitrag Ten- 4514 u. We 307 (Sterberegister 351-11 (AfW), 050900; StaH 351-11 nigkeit: Staatsarchiv Hamburg (StaH) 1946); StaH 332-8 (Meldebücher- u. (AfW), 061035; Hamburger Anzeiger 221-11 (Entnazifizierung), Z 8005 (Ru- Karteien Wilhelmsburg, 1892–1927), 26.4.1944 (Mikrofilm im StaH 741-4, dolf Habedank); StaH 332-5 (Stan- Bruno, Richard und Christof Tennig- Sign. S 12611); AB 1903, 1920 (Hein- desamt), 4480 u. 4/104 (Sterberegis- keit; StaH 332-8 (Hausmeldekartei), rich Schlichting); FZH/WdE 99 (Ger- ter 1935); StaH 332-5 (Standesamt), Film 2549 (Moschlauer Kamp); StaH trud Eke); Stadtarchiv Darmstadt, Straßen Bd2390-414T-U-V:.27.07.1514:02Seite392 sport“ – Sportverein Fichte Eppendorf mitbe- zent, dieKPD15bis20 Prozent. Wahlen erreichte dieSPDinBernerund70 Pro- und Jonny Schacht(SPD)Gemeinderat war. Bei SPD alsGemeindevorsteher denVorsitz führte Zentrum derUSPD.ImMetallarbeiterverband prägt. Insbesondere dieVulkan-Werft bildeteein beitern ausdemMetall-undWerftbereich ge- tona war von fachlichoftgutqualifiziertenAr- 118, 120–121 (m. Abb.); Ursel Hoch- 118, 120–121 Hamburgmals, 116, 111, 110, S. 1994, 41; Claudia Müller-Ebeling: Berne da- Hamburg 1987,S.12,40(m. Abb.), Diercks: Gedenkbuch Kola-Fu,bert Melderegisterblatt (1922/23);Her- Käthe Tennigkeit 392 he Berne, wo Jonny Birckholtz (1877–1937) im SPD-dominiertenGemeinderat von Farm Mitglied derKPD.Um1930 saßerfürdieKPD gleichenden Leibes übungen“ erworben. gung als Lehrerin der vorbeugenden und aus und im September 1930 ergänzend die „Befähi- fung als Turn- und Schwimmlehrerin abgelegt machte. HierfürhattesieimApril1929einePrü- Berne tätig, die u. a. sport liche Freizeitangebote sumgenossenschaft Produktion) in Hamburg- als Gymnastikleite dort dieFrauenarbeit. Nebenberuflichwar sie Bäckergewerkschaft be schäftigt und organisierte schen Gewerkschafts bund (ADGB)organisierten der 1930er Jahre bei der im Allgemeinen Deut- bis drei Jahre nach Nürnberg und war Anfang Ü Richard Tennigkeit hatte1929 den„Rot- Auch Richard Tennigkeit war mittlerweile Birckholtzweg, Biographien von AbisZ/T rin u.a.beiderPRO (Kon nB.3 online**] in Bd. zember 1918 gegründe Schlichting indieimDe- gern heftiggestritten. tung undUSPD-Anhän- heitsgewerkschaftsrich- wurde zwischenMehr- einer Freundin für zwei toristin, zogum1925mit schule, arbeitetealsKon- Sie besuchtedieHandels- KPD eintrat, istunbekannt. Wann genauKäthe (Helms, Gestapo), 384,385,S.386 (Bruhn),374–375 371f. blatt), 359f., S. 107,351(Fußnote 20),353(Flug- Frankfurt/Main 1969, 1933–1945, Hamburgerdem aus Widerstand Meyer: Streiflichtermuth/Gertrud von der [sie sen- te - - - Innerhalb weniger Monate waren die alten Struk Zweieinhalbfache seinesfrüheren Verdienstes. von Rudolf Habedankstieg nach1933aufdas missliebiger Organisationen an.DasEinkommen nete ersicheinenTeil desgeraubten Vermögens leiters Karl Kaufmann an. In dieser Position eig- in Hamburg. sozialistischen Betriebs-Organisation (N.S.B.O.) seit 1931 hauptberuflicher LeiterderNational- in dieNSDAP-Sektion Eppendorf eingetreten und vordem selbstständigerElektromeister, war 1929 Termin.“ Habedank(geb. 1893inMecklenburg), Ihr Angestelltenverhältnis zumnächstmöglichen Gewerkschaften kündigeichIhnenvorsorglich die erforderliche UmstellungderVerwaltung der Schlichting am16.Mai1933: „Mit Rücksichtauf wicklung derGewerkschaften, schriebKäthe Vollksfürsorgehaus undzuständigfürdieAb- gegen dasHamburger Gewerkschafts- unddas Rudolf Habedank,LeiterderBesetzungsaktion triebszellenleiter und Beauftragte der N.S.B.O.“ schaftsvermögen beschlagnahmt.Der„Gaube- 1933 von SA undSSbesetztdasGewerk- lität in Eilbek gedruckt werden. nur unter hohem Verfolgungsrisiko in der Illega- ger Echo“;die„Roten Blätter“konnten 1933/34 verboten wurde die SPD-Tageszeitung „Hambur- Eppendorf und FTSV Berne aufgelöst. Ebenfalls und SPDverboten unddieSportvereine Fichte gen siehatteesnichtgegeben.1933wurden KPD ge bald wieder freigelassen. Konkrete Vorwürfe Greiftrupp ausPolizei undSA verhaftet, allerdings Dreher BrunoTennigkeit (1903–1981), von ei der TischlerOttoTennigkeit (1905–1980) undder den Richard Tennigkeit undseinebeidenBrüder, greifung“ derNSDAP am30. Januar1933wur- feldhandball spielte. Sofortnachder„Machter- gründet, wo er in der Herren-Mannschaft Groß- Ab 1933 gehörte er dem Stab des NS-Gau- Die Gewerkschaftshäuser wurden am 2.Mai Langenhorn-Norderstedt: Gestapo- 46, 52,72; VVN/BdA Fuhlsbüttel- Berlin1998,S.45– burg 1942–1945, Branden-und Berlin in Deutschland“ gale KPD und Bewegung „Freies Ursel Hochmuth: Ille- (Heyckendorf); nem - - Abb.: Aus: Gedenkbuch Kola-Fu, Für die Opfer aus dem Konzentrationslager, Gestapogefängnis und KZ-Außenlager Fuhlsbüttel, Hamburg 1987. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 393

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turen der NS-Gegner zerschlagen. In der Wache nahmen die Tennigkeits Fahrten mit dem damals der Freiwilligen Feuerwehr Berne war eine provi - populären und naturnahen Faltboot („Flusswan- sorische Polizeiwache eingerichtet und am Rand dern“) und zelteten an der Ostsee. Mitunter fuh- der Berner Gartenstadtsiedlung wurde 1934 im ren sie mit dem Fahrrad nach Rahlstedt, um dort ehemaligen Gutshaus eine SS-Motorradschule vegetarische Kost im Reformhaus Friedrich Bein stationiert. einzukaufen, da der Berner PRO-Laden solche Im Juni 1933 heirateten Richard Tennigkeit Produkte nicht anbot. und Käthe Schlichting. 1935 wurde ihr Sohn Die Tennigkeits arbeiteten für den kommu- geboren. „Sowohl mein Vater als auch meine nistischen Widerstand und beteiligten sich an Mutter haben mir Freude am Lernen vermittelt Sammelaktionen der „Roten Hilfe“ der KPD, die und meinen Lerneifer durch stetes Lob für gute illegale Widerständler unterstützte. Die Natio- schulische Leistungen angeregt. Auch haben sie nalsozialisten versuchten insbesondere in Arbei- weit über die Hilfe bei Verrichtungen der Haus - tervierteln mit abschreckenden Aktionen eine auf gaben hinaus mir schulisches Wissen durch Atmosphäre der Angst und Passivität zu erzeu- gemeinsames Rechnen, Lesen und Schreiben gen, so auch in Berne. Dort wurde der schwer- vermittelt. Ihr Wunsch war, mir eine höhere kranke Jonny Birckholtz (SPD) 1933 auf einer Schulbildung zu ermöglichen. Meine Eltern Trage zum Verhör abgeholt, seine Wohnung wur- haben mir immer wieder gesagt, daß nur ein de von der Gestapo durchsucht. Im November kluger Mensch davor geschützt sei, den Irrleh- 1933 wurde das Siedlungshaus von Ernst Ehren- ren eines Hitlers zu begegnen (…)“, erinnerte pfordt (SPD) in einer nächtlichen Aktion von SA- sich der Sohn rund 20 Jahre später. Als mögli- Leuten umstellt. Die Tür wurde eingetreten und ches Berufsziel hatten die Eltern für ihn den das Haus von mehreren Polizeibeamten durch- Lehrerberuf ins Auge gefasst, eine Berufsgruppe, sucht. Im November 1934 wurde die 20-jährige die während des Nationalsozialismus die Indok- Gertrud Eke, seit 1928 Mitglied der SAJ mit Ten- trination der Schulkinder mit der nationalsozia- denzen zur KPD und seit 1926 Bewohnerin der listischen Ideologie zu übernehmen hatte. Sich Gartenstadtsiedlung, verhaftet. Sie wurde sechs den Sohn als künftigen oppositionellen Lehrer Wochen interniert und wiederholt verhört. Da vorzustellen, gibt Aufschluss über die Lebens- sie eine fiktive Person als Kontaktpartner angab haltung des Ehepaares Tennigkeit. und bei ihren Aussagen blieb, wurde sie wieder Wanderungen am Wochenende, bei denen entlassen. Sie hatte auch Kontakt zu Richard Richard Tennigkeit die Geige mitnahm, und Ur- Tennigkeit, der ihr politische Bücher und Hefte laub in der freien Natur bildeten weiterhin das lieh. Im März 1935 wurden neun SPD-Genossen Zentrum der Erholung und des Austauschs. Die aus der Berner Gartenstadtsiedlung verhaftet obligatorische Kleidung für Wanderungen und (von denen zwei im Moschlauer Kamp wohn- Ausflüge waren bei Richard Tennigkeit die drei- ten) und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ viertellangen Knickerbocker-Hosen. Daneben zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. gab es Kontakte zu ehemaligen Mitgliedern der Im Mai 1935 wurde die illegale SPD in mittlerweile verbotenen Naturfreunde, bei denen Farmsen aufgedeckt und zerschlagen.Tennig- viele Bewohnerinnen und Bewohner der Garten- keits versteckten Gefährdete wie Max Heycken- stadtsiedlung aktiv gewesen waren. Auch unter- dorf und Adolf Kummernuß, vermutlich in einer

Gefängnis Fuhlsbüttel, Hamburg Konzentrationslager in Hamburg, 116–121; Carmen Smiatacz: Stolper- 1983, S. 46, 68; ötv Bezirksverwal- Hrsg. Landeszentrale für politische steine in Hamburg-Barmbek und tung Hamburg: Dokumentation Bildung Hamburg, Hamburg 1986, Hamburg-Uhlenhorst. Biographische Stadthaus in Hamburg, Hamburg S. 76–80; Ulrike Sparr: Stolpersteine Spurensuche, 2010, S. 46–48; Pro- 1981, S. 17–18 , 19–21; Werner Johe: in Hamburg-Winterhude. Biographi- jektgruppe Arbeiterkultur Hamburg: Neuengamme – Zur Geschichte der sche Spurensuche, 2008, S. 44–49, Vorwärts – und nicht vergessen, Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 394

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Kammer oder Abseite auf dem Dachboden im aus Unterstützern eine „Betriebszellen-Organisa- Moschlauer Kamp. Adolf Kummernuß (1895– tion“ aufgebaut. Ziel war die politische Schulung 1979), bis 1933 Mitglied der SPD und des Trans- und Aufklärung der Widerständ ler so wie die Sa- portarbeiterverbandes, war der Verbindungs- botage in einigen der kriegswichtigen Betriebe. mann zwischen den mittlerweile illegalen Arbei- Es gab Kontaktleute bei Blohm & Voss (u. a. der terparteien SPD und KPD, er wurde im Juni Tischler Jonny Stüve), den Howaldt-Werken, der 1935 verhaftet und im Stadthaus, der Zentrale Stülcken-Werft, der Deutschen Werft, bei der der Hamburger Gestapo, gefoltert. Anschließend Werkzeugmaschinenfabrik Heidenreich & Har- brachte man ihn ins Konzentrationslager Fuhls- beck in Barmbek (u. a. Helmut Heins, Hans Sten- büttel, wo er erneut gefoltert und rund ein Jahr der), der Maschinenfabrik Gall & Seitz (Max Hey- in Einzelhaft gefangen gehalten wurde. ckendorf) im Hafengebiet, ganz in der Nähe des Auch Gustav Bruhn (1889–1944), Funktio- Betriebes von Richard Tennigkeit, Kampnagel AG när der KPD-Bezirksleitung Wasserkante, fand in Winterhude, der Wandsbeker Baufirma Arthur zeitweilig Unterschlupf bei den Tennigkeits. Er Crone & Co. (Karl Eke, Robert Abshagen, Hein war, wie Richard und Käthe Tennigkeit und Max Brettschneider 1904–1944, Hans Christoffers Heyckendorf, Mitglied der im November 1941 1905–1942), den Holsatia-Möbel fabriken in Al- gebildeten Jacob-Bästlein-Abshagen-Gruppe und tona-Ottensen sowie Valvo (u. a. Gertrud Meyer) . dort zuständig für die Werften; er wurde durch Im Oktober 1942 gelang es der Hamburger den V-Mann Alfons Pannek Ende 1943 an die Gestapo in einer großangelegten Verhaftungsak- Gestapo ausgeliefert und am 14. Februar 1944 tion, Abshagen, Bästlein und rund 90 weitere im KZ Neuengamme gehenkt. Es bestand auch Mitglieder der Widerstandsgruppe festzuneh- Kontakt zu Gertrud Meyer [siehe Ü Gertrud-Meyer- men. Die Tennigkeits blieben zunächst verschont. Straße, in diesem Band] (SAJ- und später KPD- Von den rund 200 Mitgliedern der Gruppe wur- Mitglied), die Anfang 1944 verhaftet wurde. Im den ungefähr 150 verhaftet, von denen etwa 100 Juni 1942 verteilte die Gruppe in mehreren hun- hingerichtet oder erschlagen wurden. Mit Hilfe dert Exemplaren das „Merkblatt für Bauarbei- eines eingeschleusten Spitzels war es der Ge- ter“ an Arbeiter, die durch die Organisation Todt stapo Hamburg gelungen, einen Großteil der zwangsverpflichtet waren. Gruppe zu ermitteln. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wur- Ein befreundeter Elektriker, der in derselben de Richard Tennigkeit nicht zur Wehrmacht ein- Straße in Berne wohnte, half, einen überdimen- gezogen, da er als Dreher im Hamburger Hafen sionierten „Blitzableiter“ auf dem Dach des in kriegswichtiger Produktion eingesetzt war und Hauses Moschlauer Kamp 24 zu montieren, der damit als „unabkömmlich“ galt. Seit August 1936 mittels eines Umschalters als Antenne zum arbeitete er im Spillingwerk (Werftstraße 5 beim Empfang ausländischer Sender genutzt werden Reiherstieg), einer Reparaturfirma für Dampf ma- konnte. Auf diese Weise konnten Tennigkeits po- schinen und Wendegetriebe. Die Wider stands - litische Freunde mit abweichenden Informatio- tätigkeit der Jacob-Bästlein-Abs hagen-Gruppe nen zur Kriegslage versorgen. konzentrierte sich hauptsächlich auf Unterneh- Möglicherweise infolge einer Denunziation men aus der Werftindustrie und der Metallbran- führte die Gestapo am 24. Februar 1944 bei Ten- che. Hier wurde seit Anfang 1942 mit einem Netz nigkeits im Moschlauer Kamp 24 eine Haus-

Arbeiterkultur in Hamburg um 1930, terbewegung in Hamburg und Nord- schichte, Hamburg 1988, S. 44–101; Hamburg 1982, S. 192–193, S. 206; westdeutschland während des Krie- Werner Skrentny (Hrsg.): Hamburg zu Klaus Bästlein: „Hitlers Niederlage ges (1939–1945), in: Beate Meyer/ Fuß – 20 Stadtteilrundgänge durch ist nicht unsere Niederlage, sondern Joachim Szodrzynski (Hrsg.), Vom Geschichte und Gegenwart, Hamburg unser Sieg!“ Die Bästlein-Organisa- Zweifeln und Weitermachen. Frag- 1987, S. 266/267; Volker Ullrich: Die tion. Zum Widerstand aus der Arbei- mente der Hamburger KDP-Ge- USPD in Hamburg und im Bezirk Was- Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 395

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durchsuchung durch. Zwei Männer in schwarzen setzung kamen nicht nur Familienangehörige, Ledermänteln in einem schwarzen Auto Marke sondern auch Arbeitskollegen von Richard Ten- Wanderer hielten vor dem Haus, was damals in nigkeit aus dem Spillingwerk. In der Kondolenz- der ländlichen Berner Gartenstadtsiedlung unge- liste finden sich ferner die Namen Heyckendorff wöhnlich war. Nach kurzer Zeit wurde der Sohn, und Dahrendorff. der auf der Straße Fußball gespielt hatte, von sei- Die „Lagerverordnung“ im Polizeigefängnis ner Mutter ins Haus gerufen. Dort stapelten sich Fuhlsbüttel gestattete den Häftlingen lediglich, im Wohnzimmer bereits Bücher und Papiere auf zwei Briefe pro Monat zu schreiben und zu dem Tisch. Auch Radioapparat, Kleidung/Wä- empfangen. Die Post wurde zensiert und bei sche und Schmuck wurden beschlagnahmt. Die unerlaubten Briefthemen oder schlecht lesba- Gestapo befragte auch den Sohn zum Aufenthalt rer Schrift vernichtet. Am 20. Mai 1944 schrieb von Max Heyckendorff, der aber die bedrohliche Richard Tennigkeit aus „II Saal 6 Fuhlsbüttel“ Stimmung wahrnahm und auf die Fragen ledig- einen Brief an seine Schwiegereltern: „Endlich lich „weiß ich nicht“ antwortete. Der Sohn wurde kann ich Euch wieder schreiben. Durch meine zu den Nachbarn geschickt, die Mutter musste Verlegung auf einen Saal kann ich immer am 20. ins Auto der beiden Gestapo-Männer steigen. jeden Monats schreiben. Eure Briefe habe ich Ob bei dieser Verhaftung auch der Kriminal- dankend erhalten. Allmählich bekomme ich sekretär der Gestapo, Henry Helms, beteiligt mein Gleichgewicht wieder, doch ein Leben war, lässt sich nicht nachweisen; er wird jedoch ohne Käte kann ich mir immer noch nicht vor- in der Akte des Amts für Wiedergutmachung er- stellen.“ Saal II war ursprünglich mit 48 Betten wähnt. Richard Tennigkeit wurde auf seiner Ar- ausgestattet aber 1942/43 ständig überbelegt, beitsstelle im Hamburger Hafen verhaftet. Beide sodass Häftlinge auf dem Boden oder auf Bän- wurden ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel einge- ken liegen mussten. liefert. Die Gestapo wollte Aussagen erpressen, Anfang Juni 1944 wurde Richard Tennigkeit so z. B. den Aufenthaltsort des untergetauchten nach rund dreieinhalb Monaten im Polizeige- Max Heyckendorf. Gedroht wurde mit der Heim- fängnis Fuhlsbüttel ins Konzentrationslager einweisung des Sohnes. Neuengamme überstellt, wo er die Häftlings- Zwei Monate später, am 20. April 1944, nummer 35943 erhielt. Am 13. August 1944 bat wurde Käthe Tennigkeit erhängt in ihrer Zelle im er seine Schwiegereltern um Briefmarken, „denn Polizeigefängnis Fuhlsbüttel aufgefunden. Als ich darf jetzt öfter schreiben. Beachtet bitte mei - offizielle Todesursache wurde Selbstmord ange- ne neue Nummer“. Zwei Wochen später stand geben, der Wahrheit näher käme wohl „in den in einem Brief an seine Schwiegereltern zu le- Tod getrieben“. Es ist aber auch möglich, dass es sen: „Ich bin jetzt Schutzhaftgefangener und sich um einen gewaltsamen Tod in Folge ei nes wohl bis Kriegsende hier konzentriert. Einen „Verhörs“ handelte, der als Selbstmord darge- Prozeß werde ich bis dahin wohl auch nicht be- stellt wurde. Die Schwester Martha Schlichting kommen. Mir geht es gesundheitlich gut, bin und die Eltern durften die tote Käthe Tennigkeit jetzt hier als Dreher beschäftigt …“ noch einmal im Hafenkrankenhaus sehen. Eine Möglicherweise arbeitete er als KZ-Häftling Todesanzeige im gleichgeschalteten „Hamburger bei der Rüstungsfirma „Mauser-Werke AG“. Aus Anzeiger“ informierte über ihren Tod. Zur Bei- ei nem Brief vom 20. November 1944 ging erst-

serkante 1917/18, in: Zeitschrift des 1984, S. 88; www.garten-der- Vereins für Hamburgische Geschich - frauen.de/frauen; Gespräche mit W. te, Band 79, Hamburg 1993, S.133– T., September 2009 und Juli 2010. 162; Karl Ditt: Sozialdemokraten im Widerstand, Hamburg in der Anfangs- phase des Dritten Reiches, Hamburg Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 396

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mals andeutungsweise sein schlechter gesund- meinderat in Farmsen, in Bd. 3 online**. heit licher Zustand hervor: „Schickt mir kein Siehe auch Ü Ernst-Mittelbach-Ring, Niendorf, schwar zes Brot, ich kann es schlecht vertragen“, seit 1982: Ernst Mittelbach (1903–1944), Ge- werbeoberlehrer, Widerstandskämpfer gegen schrieb er an seine Schwiegereltern. Vermutlich den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittelbach- litt er zu diesem Zeitpunkt bereits an einer Ma - Stieg, Niendorf, seit 1987, in Bd. 3 online**. gen-Darm-Erkrankung. Am 12. Dezember 1944 Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit starb Richard Tennigkeit nach einem halben Jahr 1988): Karl Kock (1908–1944), Gummifachar- im Konzentrationslager Neuengamme. Als offi- beiter aus Harburg, Kommunist, Widerstands- kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in zielle Todesursache wurde Typhus angegeben. Im Bd. 3 online**. Bericht des SS-Standortarztes über den Kranken- Siehe auch Ü Kurt-Schill-Weg, Niendorf, seit stand im Konzentrationslager Neuengamme für 1982: Kurt Schill (1911–1944), KPD-Wider- den Zeitraum 26. Dezember 1944 bis 25. März standskämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. 1945 wurde Typhus nicht ausdrücklich erwähnt, Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit dessen Ursache verseuchte Lebensmittel gewesen 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- sein dürften. Stattdessen wurde allgemein von munistischer Widerstandskämpfer gegen den „Magen- u. Darmerkrankungen“ geschrieben. Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Der achtjährige Sohn konnte nach der Ver- Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Aller- haftung seiner Eltern noch sechs Monate zusam- möhe, seit 2002: Werner Schroeder (1916– 1993), Bäcker, Kommunist, Widerstandskämp- men mit den Untermietern in dem Berner Sied- fer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 lungshaus bleiben. Danach zog er zu Onkel und online**. Tante nach Rahlstedt; der Onkel übernahm auch die Vormundschaft. Der Vorstand der Garten- stadt-Genossenschaft, der für die Wohnungsbe- Therese-Giehse-Bogen legung zuständig war und 1933 seine Gremi- Bergedorf, seit 1985, benannt nach Therese Gift, umsmitglieder auswechseln musste und dessen Künstlerinnenname: Giehse (6.3.1898 München– neuer Vorstand nun in der NSDAP organisiert 3.3.1975 München), Schauspielerin war, genehmigte den Erhalt des Wohnrechts an dem Siedlungshaus für den Sohn von Richard Therese Gift war die jüngste Tochter von Gertrude und Käthe Tennigkeit. Gift, geb. Heinemann und des Textilkaufmanns An Käthe und Richard Tennigkeit erinnert Salomon Gift. Das jüdische Ehepaar hatte noch seit Ende der 1940er Jahre eine Plakette am Haus, weitere vier Kinder. die von der VVN gestiftet wurde. Als sich Therese nach dem Ersten Weltkrieg Text: Björn Eggert, entnommen aus: entschied, Schauspielerin zu werden, riet die Fa- www.stolpersteine-hamburg.de milie ihr deshalb ab, weil man sie nicht für Siehe auch Ü Catharina-Fellendorf-Straße, Erna- schön genug hielt. Therese Gift, die 1920 den Behling-Kehre, Gertrud-Meyer-Straße, Helene- Heyckendorf-Kehre, Katharina-Jacob-Weg, Künstlerinnennamen Giehse annahm, soll dazu Lisbeth-Bruhn-Stieg, Margit-Zinke-Straße, Thü- geäußert haben: „Ich will ja nicht schön sein. reystraße, in diesem Band. Ich will bloß zum Theater.“ Siehe auch Ü Birckholtzweg, Farmsen-Berne, Zwischen 1918 und 1920 nahm sie Schau- seit 1967: Jonny Birckholtz (1877–1937), Ge- spielunterricht in München. Die Ausbildung fi-

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nanzierte sie mit dem Geld, das sie in einer amt- Zwischendurch heiratete die frauenliebende lichen Kohlenkartenstelle verdiente. Schauspielerin 1936 den homosexuellen Schrift- Therese Giehse erhielt ab 1920/21 Engage- steller John Hampson-Simpson (gestorben 1955), ments in Siegen, Gleiwitz, Landshut, an der um einen britischen Pass zu bekommen, den er Bayerischen Landesbühne und am Schauspiel- ihr zur Hochzeit schenkte. haus München. Von 1926 bis 1933 hatte sie ein Überall in Europa wurde die politische Ka- Engagement an den Münchener Kammerspielen barett-Truppe „Pfeffermühle“ gefeiert, nur nicht bei Otto Falkenberg. Dort profilierte sie sich als in den USA, wohin sie mit ihrem antifaschisti- großartige Menschenbildnerin. schen Programm gereist waren. Gemeinsam mit ihrer Freundin Erika Mann Nach den erfolglosen (siehe Ü Erika-Mann-Bogen, in diesem Band) und Aufführungen der „Pfef- deren Bruder Klaus Mann eröffnete sie am 1. Ja- fermühle“ in Amerika im nuar 1933 in der Münchner „Bonbonniere“ am Jahre 1937 kehrte There- Hofbräuhaus – und damit in der Nähe der se Giehse noch im selben Münchner Kammerspiele, wo sie weiterhin en- Jahr ans Schauspielhaus gagiert war – das literarisch-politische Kabarett in Zürich zurück und lös- „Pfeffermühle“. Erikas Vater, Thomas Mann, (sie - te die „Pfeffermühle“ auf. he Ü Thomas-Mann-Straße, in Bd. 3 online**) hatte 1937 wurde sie am Therese Giehse 1927 bei der Premiere „Das gast- Züricher Schauspielhaus Therese Giehse, 1958 liche Haus“ von Heinrich Mann kennengelernt. festes Ensemblemitglied. Es entwickelte sich eine Freundschaft, und The- Dieses Theater war in der rese Giehse wurde zu den Familienfesten der NS-Zeit die einzige bedeutende freie Bühne im Manns eingeladen. Zwischendurch ergab sich deutschsprachigen Raum. Hier ließ auch Bertold für kurze Zeit auch eine homosexuelle Bezie- Brecht, den Therese Giehse 1929 bei den End- hung zu Erika Mann. proben zur „Dreigroschenoper“ kennengelernt Über das Privatleben von Therese Giehse hatte und der während der NS-Zeit im Exil in wissen wir kaum etwas. Sie lebte stets allein und den USA lebte, seine Stücke aufführen. sie brannte für ihre Arbeit, für diese existierte sie. Therese Giehse spielte wichtige Rollen in den Ihre Wertvorstellungen waren: Freiheit, Autono- Züricher Brecht-Uraufführungen, so die Titelge- mie, Individualität, Solidarität, Humanität. stalt in Brechts Theaterstück „Mutter Courage Nach der Machtübernahme durch die Na- und ihre Kinder“ (UA 1941). tionalsozialisten flüchtete Therese Giehse im Von 1949 bis 1952 trat sie an Brechts „Ber- März 1933 in die Schweiz und eröffnete dort in liner Ensemble“ am Schiffbauerdamm in Ost- Zürich im Hotel Hirschen am 30. September Berlin auf und spielte von 1949 bis 1966 auch 1933 die „Pfeffermühle“ neu. Gleichzeitig war wieder an den Münchner Kammerspielen. Dort, sie auch am Züricher Schauspielhaus „Am Pfau- in München wohnte sie wieder seit 1954 und en“ engagiert. zwar in einer Zweizimmerwohnung in der Wur- Zwischen 1934 und 1936 begab sich There- zerstraße. se Giehse mit dem antifaschistischen Programm Zur Zeit der APO (Außerparlamentarische

Abb.: bpk –Abb.: 10002517 Nr. der „Pfeffermühle“ auf Europatournee. Opposition) bekam Therese Giehse Kontakt zu

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jungen politischen Regisseuren, Schriftstellern Therese Sievert war eine reiche Kaufmannstochter und SchauspielerInnen, so z. B. zu Franz Xaver – Vater Präses der Hamburger Handelskammer. Kroetz, Peter Weiss, Peter Stein, Peter Zadek, 1823, im Alter von acht- Rainer Werner Fassbinder, Bruno Ganz, Otto San - zehn Jahren, heiratete sie der. In Helmut Dietls „Münchner Geschichten“ August Abendroth (siehe Ü war sie wöchentlich im Fernsehen zu sehen. Abendrothsweg, in Bd. 3 In den Zeiten des Vietnam Krieges enga- on line**) und brachte ein gierte sie sich für Abrüstung und Frieden und beträchtliches Vermögen trat mit entsprechenden Lesungen auf. 1970 ver- in die Ehe ein. körperte sie aus Sympathie für Peter Stein und Ein Jahr nach der Hei - sein Kollektiv-Theater bei der Neueröffnung der rat wurde das erste Kind Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer die Ti- geboren. Weitere Gebur - Conradine Therese telrolle in Gorki/Brechts Stück „Die Mutter“. ten folgten: 1825, 1827, Abendroth Ab 1966 trat sie solo mit eigenen Brechtpro- 1830, 1833 und 1837. Das grammen auf. Paar hatte sechs Töchter. Friedrich Dürrenmatt schrieb für sie sein Gemeinsam mit ihrem Ehemann gründete Theaterstück „Der Besuch der alten Dame“. Therese Abendroth 1848 den Abendrothschen Gastspiele führten sie auch nach Hamburg. Frauenverein. Auch in Filmrollen war Therese Giese zu se - Siehe auch Ü Abendrothsweg, Hoheluft-Ost, seit hen, so spielte sie z. B. in dem Film „Mädchen in 1864, und Auguststraße, Uhlenhorst, seit 1845, Uniform“. 1955 erhielt sie den Bundesfilmpreis. Dr. August Abendroth (1796–1867). Unterneh- mer, Mäzen und Bodenspekulant, beteiligt an Therese Giehse starb an den Folgen ihrer der Aufschließung der Uhlenhorst, Mitbesitzer Diabetiserkrankung und wurde auf dem Fried- der Uhlenhorst, in Bd. 3 online**. hof Fluntern in Zürich begraben. Siehe auch Ü Erika-Mann-Bogen, in diesem Band. Thüreystraße Siehe auch Ü Thomas-Mann-Straße, Bramfeld, Niendorf, seit 1982, benannt nach Magda, geb. seit 1961: Thomas Mann (1875–1955), Schrift- Bär (4.3.1899 Hamburg–17.7.1945 Hamburg) und steller, in Bd. 3 online**. Paul Thürey (16.7.1903–26.6.1944, enthauptet im Untersuchungsgefängnis Hamburg). Magda Thürey: Lehrerin, Politikerin (KPD), Mitglied der Theresenweg Widerstandsgruppe Bästlein-Jacob-Abshagen. Nienstedten, seit 1932. Frei gewählter Name Motivgruppe: Opfer des Nationalsozialismus Stolperstein vor dem Wohnhaus Emilienstraße Theresienstieg 30. Mahnmal: Tisch mit 12 Stühlen (siehe dazu Uhlenhorst, seit 1846, benannt nach Conradine unter Ü Georg-Appel-Straße, in Bd. 3 online**). Therese, geb. Sievert (1805–1874), Ehefrau des Miteigentümers der Uhlenhorst, Dr. August Magda Bär verbrachte ihre Kindheit mit ihrem Abendroth Bruder Curt (geb. 1901) im Hamburger Stadtteil

Harvestehude und besuchte das Emilie-Wüsten- v.l.n.r.:Abb. Thälmann | Gedenkstätte Ernst Hamburg Staatsarchiv

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 399

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feld-Lyzeum. Die Mutter entstammte einer Groß- Als Paul Thürey 1939 in den Conz-Elektro- kaufmannsfamilie, der Vater einer Arbeiterfami- motoren-Werken, einem Rüstungsbetrieb, Arbeit lie, arbeitete als Kapitän und verstarb kurz vor fand, führte Magda den Laden allein weiter. Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Der Seifenladen war von vornherein nicht Von 1914 bis 1919 besuchte Magda Bär das nur als Erwerbsquelle gedacht gewesen, sondern Lehrerseminar Hohe Weide im Stadtteil Eims- diente gleichzeitig als Treffpunkt für die illegale büttel. Sie war auch künstlerisch interessiert KPD. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und schloss sich in der Studienzeit bohèmearti- fungierte der Laden insbesondere als wichtige gen Kreisen junger Menschen mit kommunisti- Verbindungsstelle für die kommunistische Bäst- schen Ideen an. Außerdem arbeitete sie in der lein-Jacob-Abshagen-Widerstandsgruppe. In Sei- Wandervogelbewegung und der Freideutschen fenkartons wurden Flugblätter und illegale Druck - Jugend mit. Anfang der 1920er trat Magda Bär schriften versteckt; es fanden Treffs statt, bei in die KPD ein und war kurz vor 1933 zeitweilig denen Informationen ausgetauscht und neue Ak- für ihre Partei in der Hamburgischen Bürger- tionen geplant wurden. schaft als Spezialistin für Schulfragen tätig. 1942 nahm die Hamburger Gestapo Paul Thü- In den Jahren von 1919 bis 1933 unterrich- rey fest. 1944 wurde er bei den Hamburger Kom- tete sie Volksschulklassen an den Schulen Lutte- munistenprozessen zum Tode verurteilt und am rothstraße 80 und Methfesselstraße 28 (ab 1930) 26. Juni 1944 im Alter von 41 Jahren im Ham- im Arbeiterviertel Eimsbüttel. burger Untersuchungsge- Sie nahm ihre Arbeit sehr ernst, orientierte fängnis enthauptet. sich an den Erziehungsidealen Pestalozzis und Die 44-jährige Mag- kümmer te sich gerade um die ärmsten Kinder. da Thürey war von der Außerdem trat sie der Gesellschaft der Freunde Gesta po am 30. Oktober des vaterländischen Schul- und Erziehungswe- 1943 in „Schutzhaft“ ge- sens bei, aus der später die Gewerkschaft Erzie- nommen und ins Gefäng- hung und Wissenschaft (GEW) hervorging. nis Fuhlsbüttel gebracht, 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten der Seifenladen von der sofort ohne jeglichen finanziellen Ausgleich aus Gestapo zu einer Falle um - dem Schuldienst entlassen. Als Begründung dien - funktioniert worden, so Magda und Richard Thürey te den Machthabern das „Gesetz zur Wiederher- dass es zu weite ren Ver- stellung des Berufsbeamtentums“, dessen Para- haf tungen kommunistischer Widerstandskämp - graph 2 den BeamtInnen eine Mitgliedschaft in fer und -kämpferinnen kam. der KPD verbot. Durch die Haftbedingungen verschlechterte Magda Bär heiratete ihren langjährigen sich Magda Thüreys Gesundheitszustand rapide Freund Paul Thürey, der damals bereits arbeits- – sie litt seit ihrem 31-sten Lebensjahr an multip- los war, so dass die Eheleute nun, um sich eine ler Sklerose. Aber erst nachdem sie fast völlig Existenz aufzubauen, von ihren Ersparnissen bewegungsunfähig geworden war, wurde sie ein Seifengeschäft in der Osterstraße im Stadtteil 1944 in das Krankenhaus Langenhorn auf die Eimsbüttel kauften, welches sie später in die Station für Nervenkranke verlegt. Auch dort er- Eimsbüttler Emilienstraße 30 verlegten. hielt sie nicht die notwendige medizinische Ver- Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 400

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sorgung. Magda Thüreys Bruder, ein Lehrer, der Thusneldastraße ebenfalls 1933 von den Nationalsozialisten aus Stellingen, seit 1929, benannt nach Thusnelda dem Schuldienst entlassen worden war, konnte (14 nach Christus), Tochter des Cheruskerhäupt- sie erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus lings Segestes, Gattin des Cheruskerfürsten der Gefangenschaft holen. Kurze Zeit später, am Arminius 17. Juli 1945, starb Magda Thürey im Alter von 46 Jahren an den Folgen der Gestapo-Haft. Thusnelda war die Tochter des Cheruskerfürsten Ihr Begräbnis wurde die erste und einzige Segestes und wurde von Arminius (siehe Ü Armi- große Einheitskundgebung der linken Arbeiter- niusstraße, in Bd. 3 online**) aus der Burg ihres parteien in Hamburg. Über ihrem Grab reichten Vaters entführt – man vermutet, mit ihrem Ein- sich die Vertreter der SPD (Karl Meitmann) und verständnis. Das Paar heiratete. Doch Thusnel- KPD (Fiete Dettmann) symbolisch die Hände das Vater konnte sich damit nicht abfinden. Er und versprachen „den Bruderkampf niemals wie - hasste Arminius dafür, dass dieser gegen seinen der aufleben zu lassen“. Willen seine Tochter geheiratet hatte. Und so Text: Ingo Böhle raubte Segestes, ein Jahr nach der Hochzeit sei- Siehe auch Ü Catharina-Fellendorf-Straße, ner Tochter mit Arminius, diese wieder zurück. Erna-Behling-Kehre, Gertrud-Meyer-Straße, Arminius, der bei der Entführung seiner Helene-Heyckendorf-Kehre, Käte-Laske-Weg, Katharina-Jacob-Weg, Lisbeth-Bruhn-Stieg, schwangeren Frau durch ihren Vater abwesend Margit-Zinke-Straße, Marie-Fiering-Kehre, gewesen war, belagerte nun die Burg Segestes, Tennigkeitweg, in diesem Band. um seine Ehefrau Thusnelda zurückzuholen. Siehe auch Ü Ernst-Mittelbach-Ring, Niendorf, Daraufhin rief Segestes, ein Freund der Rö - seit 1982: Ernst Mittelbach (1903–1944), Ge- mer, Gemanicus zur Hilfe. Die Römer zwangen werbeoberlehrer, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, und Ernst-Mittel- Arminius, sich zurückzuziehen und befreiten bach-Stieg, Niendorf, seit 1987, in Bd. 3 on- Segestes, der als Dank dafür seine Tochter den line**. Römern als Geisel auslieferte. Siehe auch Ü Karl-Kock-Weg, Wilstorf, seit Thusnelda gebar in römischer Gefangen- 1988: Karl Kock (1908–1944), Gummifachar- schaft ihren Sohn und wurde als Trophäe mit beiter aus Harburg, Kommunist, Widerstands- kämpfer gegen den Nationalsozialismus, in ihrem Säugling im Triumphzug der Römer mit- Bd. 3 online**. geführt. Ihr Vater wohnte diesem Schauspiel bei. Siehe auch Ü Kurt-Schill-Weg, Niendorf, seit Thusneldas weiteres Schicksal ist unbekannt. 1982: Kurt Schill (1911–1944), KPD-Wider- In wikipedia unter Thusnelda ist folgendes standskämpfer gegen den Nationalsozialismus, zu lesen: „Thusneldas Name, der im 19. Jahrhun- in Bd. 3 online**. dert noch positiv besetzt war, wurde im 20. Jahr- Siehe auch Ü Rudolf-Klug-Weg, Niendorf, seit 1982: Rudolf Klug (1905–1944), Lehrer, kom- hundert umgedeutet. Mitverantwortlich war mit munistischer Widerstandskämpfer gegen den Sicherheit Kleists Hermannsschlacht, Schullek- Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. türe etlicher Generationen. Thusnelda wurde zur Siehe auch Ü Werner-Schroeder-Straße, Aller- Bezeichnung für nervige Ehefrauen und weibli- möhe, seit 2002: Werner Schroeder (1916–1993), che Dienstboten. Daraus entstanden die Tusnel- Bäcker, Kommunist, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. da, das Kosewort Tusschen und schließ lich die Tussi, als Schimpfwort für Frauen bzw. mehr noch

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 401

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als Klischee eines oberflächlichen, eitlen Dumm- Bertha Traun war verheiratet mit dem Kom- chens.“ (wikipedia: Stand 25.10.2014) pagnon ihres Vaters, Christian Justus Traun, dem Siehe auch Ü Arminiusstraße, Stellingen, seit Mitbegründer der Harburger Gummi-Kamm-Comp. 1928: Arminius/Hermann der Cherusker (um Das Ehepaar wohnte mit seinen sechs Kindern – 17 v. u. Z.–21 nach Chr.), Altgermanischer ein Kind starb im Alter von elf Jahren – in der Fürst, in Bd. 3 online**. Straße Neue Burg 13 bei der St. Nicolaikirche. Bertha Traun gehörte zum Freundinnenkreis Tonistraße um Emilie Wüstenfeld. Sie lernten sich über die Eilbek, umbenannt 1887. Früher Jungmann- Geschäftsbeziehungen ihrer Ehemänner kennen, straße, benannt nach Toni Schomburgk (1847 deren Kontore nebeneinanderlagen. Hamburg–1895 Heiligenstadt), Mitglied der Fa- 1846 gründeten die beiden Frauen mit noch milie von Carl Schomburgk (1815–1874), dessen weiteren 30 Frauen den Frauenverein zur Unter- Erben die Straße als Privatstraße anlegten stützung und Förderung der Deutschkatholiken. Damit wollten die Frauen der freikirchlichen Ge- Es handelt sich hier vermutlich um Sidonie Schom- meinde der Deutschkatholiken helfen, die Mie - burgk, die Schwester des Architekten Schonburgk. te für ein Lokal, in dem die Predigten und Ver- sammlungen abgehalten werden konnten, und die Besoldung eines Predigers zu finanzieren. Traunweg Die Deutschkatholiken propagierten ein nicht an Neuland, seit 1942, benannt nach Christian Jus- eine Konfession gebundenes, demokratisches tus Friedrich Traun. Ergänzt (2001/2002) um die Ge mein deleben. Die Prediger wurden von der ebenso bedeutende Ehefrau Bertha Traun. Neuer Ge mein de gewählt. Auch Frau en erhielten Wahl- Erläuterungstext: benannt nach dem Ehepaar und Mitspracherecht, woran in den Amtskirchen (verh. v. 1818–1850) Christian Justus Friedrich T. nicht zu denken war. An exponierter Stelle stand (1804–1881), Fabrikant, Mitbegründer der un- der exkommunizierte Pries ter Johannes Ronge, mittelbar westlich benachbarten späteren „New- der von Bertha Trauns fortschrittlich gesinntem York-Hamburger Gummiwaren Compagnie“, und Vater protegiert wur de. Ronge trat auch für die Bertha T. (25.4.1818–18.4.1863 Frankfurt a. M.), Emanzipation der Frau ein. Er wollte, dass sich Vorkämpferin der Hamburger Frauenbewegung, die Frauen aus ihren oft unwürdigen Verhältnis- Mitbegründerin diverser Frauenorganisationen sen, in denen sie lebten, befreiten. „Die Ge schich - te dieses Vereins ist zugleich die Geschichte der Bertha Traun war die zweitälteste Tochter von elf praktischen Einübung von Hamburger Frauen in Kindern des reichen Stockfabrikanten Heinrich Demokratie. Ihre Hilfestellung für die deutsch- Christian Meyer (siehe Ü Stockmeyerstraße, in Bd. 3 katholische Gemeinde verstanden sie als be- online**) und seiner Ehefrau Agathe Margare- scheidene aber nicht minder wichtige Parallele the, geb. Beusch (gest. 1833). zu den reformerischen politischen Aktionen der Bertha Trauns Brüder waren Heinrich Adolph Männer.“1) (siehe Ü Charitas-Bischoff-Treppe, in diesem Band) Der Frauenverein zur Unterstützung der und Heinrich Christian Meyer jr. (siehe Ü Meyer- Deutschkatholiken sammelte aber nicht nur Geld: straße, in Bd. 3 online**). „Außer der finanziellen Unterstützung der Ge-

** Band 3 online unter: www.ham- Demokratie ohne Frauen? Fraueniniti- burg.de/maennerstrassennamen ativen in Hamburg um 1848, in: Inge Stephan, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): 1) Ingeborg Grolle: Demokratie „Heil über dir, Hammonia“ Hamburg ohne Frauen in Hamburg um 1848? im 19. Jhd. Hamburg 1992. Hamburg 1988. Und: Ingeborg Grolle: Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 402

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meinde bemühte sich der Frauenverein um hen? Die Frauen sahen in einer freiheitlichen de ren Anerkennung durch den Hamburger Se - Kindererziehung die Chance, die konfessionel- nat, denn ohne Legalisierung blieben die in der len Schranken zu beseitigen. Deshalb entwickel- deutschkatholischen Gemeinde vorgenomme- te der Verein zur Ausgleichung der konfessio- nen Taufen und Eheschließungen ohne bindende nellen Unterschiede ein Kindergartenprojekt, Rechtskraft. Verbieten wollte der Senat die Ge- welches nach den Vorstellungen von Friedrich meinde nicht, weil sie die Sympathie angesehe- Fröbel (siehe Ü Fröbel stra ße, in Bd. 3 online**) ner Bürger besaß. Aber seine zermürben de Hin - arbeiten sollte. haltetaktik stellte die Gemeinde und den ständig Auch am Zustandekommen der von Emilie für sie intervenierenden Frauenverein auf eine Wüstenfeld gegründeten Hochschule für das har te Geduldprobe, bis endlich unter dem Druck weibliche Geschlecht am Holländischen Brook des Revolutionsgeschehens im März 1848 die war Ber tha Traun maßgeblich beteiligt. Eine Anerkennung erfolgte. Die Frau en sahen damit Privatangelegenheit sollte allerdings die Hoch- den ursprünglichen Zweck ihres Vereins weitge- schule in erheblichen Misskredit bringen: Emilie hend erfüllt. Sie konnten ihren Aufgabenbereich Wüstenfeld trug sich mit er weitern und nannten sich nun ‚Frauenverein Scheidungs ab sich ten, und zur Un terstützung der Deutsch ka tholiken und Bertha Traun, die sich von anderer humaner Zwecke‘.“2) ihrem Mann nicht geliebt Der Frauenverein setz te sich auch massiv fühlte, weil er einer ver- für die Überwindung der Standesschranken ein. flossenen Liebe nachwein - Durch die Einführung von Dienstmädchenkur- te, und sich als Ehefrau sen, in denen die Mädchen in den Elementar- und Mutter nicht ausge- fächern wie Deutsche Sprache, Schreiben und füllt sah, ließ sich schei- Rech nen unterrichtet wurden, versuchte der den, um den Prediger der Bertha Traun Frau en ver ein, eine bessere Bildung für Frauen Deutschkatholiken Johan- aus der Un ter schicht zu erwirken. Ebenfalls wur- nes Ronge zu heiraten. Er de als Hilfe zur Selbsthilfe eine Arbeitsvermitt- erwi derte ihre Liebe und vertrat die gleichen An- lung eingerichtet. sichten von der Emanzipation der Frau wie sie. Bertha Traun war auch Gründungsmitglied Die Scheidung Bertha Trauns war in Hamburg des Sozialen Vereins zur Ausgleichung konfes- ein gesellschaftlicher Skandal und Amalie Sieve- sioneller Unterschiede. Durch die 48er Revolu- king (siehe Ü Amalie-Sieveking-Weg, in diesem tion erhofften sich liberale Kreise des Bürger- Band) war darüber so empört, dass sie alles tums, „den trennenden Einfluß confessioneller daran setzte, damit die Hochschule für das Verschie denheit auf das politische und soziale weibliche Geschlecht, die von – in ihren Augen Le ben zu beseitigen“.3) Gerade zwischen den – Damen geleitet wurde, die eine unmoralische christlichen und jüdischen Frauen gab es eine Haltung zur Ehe hatten – finanziell nicht mehr große gesellschaftliche Kluft, während die christ- unterstützt wurde. lichen und jüdischen Männer, bedingt durch das 1851 heirateten Bertha Traun und Johannes Geschäftsleben, schon eher Kontakt zueinander Ronge (1813–1887) in London, wohin sie mit hatten. Doch wie sollte die Angleichung gesche- drei en von Berthas sechs Kindern gezogen wa-

** Band 3 online unter: www.ham- 3) Ingeborg Grolle: Demokratie burg.de/maennerstrassennamen ohne Frauen in Hamburg um 1848?, a. a. O. 2) Ingeborg Grolle: Demokratie ohne Frauen? in: Inge Stephan, a. a. O., S. 324f. Straßen Bd2390-414T-U-V:.27.07.1514:02Seite403

Abb.: Aus: Elke Kleinau, Claudia Opitz (Hrsg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main, New York, 1996, S. 77. Fried von ihrer Freundin EmilieWüstenfeld. später, indenletztenLebenswochen gepflegt am Main. Dort verstarb Bertha Ronge zwei Jahre anstalt für Kindergärtnerinnen zu errichten. aufhin entschloss sich Frau Ron ge, eine Bil Radschlagen undSpielenbetrieben wur solchen Kindergarten, indemsoviel„Unfug“wie Be von Kindergärten beschaffenwollte. Dochdie der diefinanziellenMittelfürEinrichtung sammlung war: es wurde ein Verein gegründet, stellungen Fröbels darlegte. Resultat dieser Ver- von Frauen, auf der sie die pädagogischen Vor- initiierte Bertha Ronge dort eine Versammlung zurück undzogennachBreslau. ImselbenJahr gärtnerinnen. gartens undeineAusbildungsstätte fürKinder- Fröbel CommitteezurVerbreitung des Kinder- nach Manchestergründeteesdas daß derJungeseineSchüchternheit verliert.“ nug, undderKindergarten wird das Gutehaben, darüber. George lerntbeiunsvollkommen ge ist dieeinzigeKopfarbeit. Ichbinnichttraurig geschlagen undwenig gelerntwird. Kopf stehn spielt dieHauptrolle, indem,glaubeich,vielRad schrieb darüber:„EinsogenannterKindergarten Sohn indie„Schulevon JohannesRonge“ und Familie in London lebte, schickte seinen ältesten burg.de/maennerstrassennamen ** straße, dergarten ein.TheodorFontane Tochter geboren. te. Zwei Monatenachihrer Hochzeitwurde ihre Reaktion auf die freien Gemeinden verstärkt hat ren, nachdemsich inDeutschlandder Druck der hör Band 3online Bertha Ronge wurde auf dem Hamburger 1863 zogdesEhepaarRonge nachFrankfurt 1861 kehrten dieRonges nachDeutschland Nach der Übersiedlung des Paares 1857 In LondonrichteteBerthaRonge einenKin- hof zu St. Petri neben ihrem ehemaligen den verweigerten die Konzession für einen nB.3online**), in Bd. unter: www.ham- der damalsmitseiner (siehe Ü de. Dar- Fontane - dungs - - - Bertha Ronge, dorthinumbetten. Mutter undseinenVater, denEx-Ehemannvon hof kaufte, ließer1908seinenGroßvater, seine 1907 eineGrabstelle aufdemOhlsdorferFried- Senator Dr. HeinrichTraun Bertha Ronge. seine letzteRuhestätte nebenseinemVater und Tod ebenfalls in Frankfurt am Main starb, erhielt mann, derachtzehnJahre nachBerthaRonges Schwiegervater beerdigt. Auch ihrerster Ehe- Auch nach Platz Traunweg mitbenanntwerden. Genausogutkönn Schwiegertochter von Bertha Traun müsste der (6.12.1850 Hamburg), Hamburg–28.10.1924 der Als Bertha Ronges Sohn aus erster Ehe, der und ih auch Siehe 3online**. ter, inBd. 1928/29: TheodorFontane (1819–1898), Dich- ih auch Siehe ih auch Siehe diesem Band. Sieveking-Weg, Charitas-Bischoff-Treppe, ee,i d 3online**. Meyer, inBd. Bertha Ronge, geschiedeneTraun, geborene genannt Stockmeyer. Stockfabrikant,Vater von 1854: HeinrichChristianMeyer(1797–1848), auch Siehe 3online**. Meyer, inBd. rene Meyer, BrudervonHeinrichAdolph von BerthaRonge, geschiedeneTraun, gebo- Sohn von Heinrich Christian Meyer, Bruder fabrikant (Stuhlrohr- undSpazierstockfabrik), Stock- Heinrich ChristianMeyer(1832–1886), auch Siehe 3online**. Traun, inBd. Co., SohnvonBerthaRonge, geschiedene Senator, InhaberderHarburger Gummikamm tel, seit1910: Dr. HeinrichTraun (1838–1909). seit 1910, und auch Siehe 3online**. Kleinkindpädagogik, inBd. Pädagoge,1892: Friedrich Fröbel (1782–1852), Heinrich-Traun-Straße, Antonie Wilhelmine Traun, Biographien von AbisZ/T Ü Ü Ü Ü Ü Ü Amalie-Schoppe-Weg, Amalie- Stockmeyerstraße, Meyerstraße, Heinrich-Traun-Platz, Fröbelstraße, Fontanestraße, Heinrich-Traun-Straße, (siehe nB.3online**), in Bd. Rotherbaum, seit Heimfeld, seit1890: Osdorf, seit Ü geb. Westphal HafenCity, seit Heinrich-Traun- Fuhlsbüttel, Fuhlsbüt- in 403 - Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 404

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te aber auch die Straße Westphalufer nach An- gerlichen Frauenbewegung. Die Frauen recht le rin tonie Traun mit benannt werden, denn diese Stra- der bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Lan- ße wurde nach ihrem Bruder Otto Eduard West- ge (siehe Ü Helene-Lange-Straße, in diesem Band), phal (1853–1919) benannt. Antonie Traun war schrieb über Antonie Trauns Weg zur Frauenbe- die Gründerin des Vereins „Die Sozialen Hilfs- wegung: „Es ist nicht leicht, aus einem in den gruppen“, Mitbegründerin des „Bundes Hambur- alten – z. T. zeitgebundenen, z. T. aber auch gischer Hausfrauen“ und des „Stadtbundes Ham- ewigen Formen des Frauen- und Familienlebens, burgischer Frauenvereine“. noch dazu in der durch Tradition besonders stark Ihr Grabstein steht heute im Garten der Frau- bestimmten Oberschicht einer Hansestadt die- en auf dem Ohlsdorfer Friedhof. sen Weg zu gehen. Schwer, vielleicht noch nicht Antonie Westphal war die älteste Tochter einmal so sehr durch den Widerspruch nach au - von Carl Wilhelm Ludwig Westphal, Kaufmann ßen, wie durch die innere Auseinandersetzung. und Mitinhaber der Firma G. W.A. Westphal Für Menschen, die lose und flach im eigenen Sohn & Co. Einer ihrer fünf Geschwister war der Boden wurzeln, ist es leicht, sich Neuem hinzu- Senator Otto Westphal (Wirtschaft und Verkehr) geben. Ganz anders für solche, die aus per sönli - (siehe Ü Westphalufer, in Bd. 3 online**). Im chem Wesen und Tradition mit ihren Lebensord- Alter von 21 Jahren heiratete Antonie Westphal nungen fest verwachsen sind und Überzeugungen 1871 den acht Jahre älteren Kaufmann und Har- bis zum Letzten ernst nehmen. Wenn Frau Traun burger Fabri kan ten Otto Traun, dessen Mutter zur Frauenbewegung kam, so war ihr innerer Bertha Traun, geb. Meyer war. Weg dazu der eines ganzen und aufrichtigen Durch ihren Onkel Adolf Meyer kam Anto- Menschen, der sich für gewonnene Einsicht und nie Traun mit der Politik in Berührung. Er nahm neu gesteckte Lebensziele dann aber auch bis sie zu den ersten Reichstagssitzungen mit. Anto - zum Äußersten einsetzte.“6) Und Helene Bonfort nie Traun wurde glühende Bismarck-Verehrerin. schrieb zur Motivation Antonie Trauns, sich der Sie war konservativer Gesinnung und gleichzei- bürgerlichen Frauenbewegung zu verschreiben: tig aufgeschlossen für das Neue. „Diese Bewegung entsprach ihrer selbständigen So politisiert, schloss sie sich zuerst einmal Natur, ihrer Freude an gestaltender Betätigung der von ihrem Schwager, dem Inhaber der Ham- und dem Zuge zu jeder geistigen Befreiung.“7) Als burger Gummiwerke und Senator, Dr. Heinrich sie mit 48 Jah ren Mitglied des „Allgemeinen Traun (siehe Ü Heinrich-Traun-Platz und Heinrich- Deutschen Frauenvereins“ wurde, hatte sie in 26 Traun-Straße, in Bd. 3 online**), geschaffenen Jahren sechs Kinder geboren, von denen eins im Hamburger Volksheime an, „die nicht Wohltätig - Alter von einem Jahr gestorben war. „Bei der er- keit, sondern Annäherung der Klassen, menschli- sten Tagung des Bundes Deutscher Frauenver- che Berührung und Beziehung wollten.“4) Dieser eine in Hamburg 1898 trat sie durch Einfluß und Bewegung gehörte Antonie Traun lange mitar bei - Arbeitsleistung maßgebend hervor. Von nun an tend an, „schon damit über die konventionelle übte sie im Vorstand des Allgemeinen Deut- Wohltätigkeitsverpflichtung der guten Gesell- schen Frauenvereins, Ortsgruppe Hamburg, ent- schaft hinauswachsend.“5) scheidenden Einfluß aus und stützte die Vor - Wie ihre Schwiegermutter wurde Antonie sitzende über zwei Jahrzehnte lang durch ihr Traun auch Anhängerin und Aktivistin der bür- voraus schauendes Erfassen der schnell wach-

** Band 3 online unter: www.ham- envereine, Dez. 1920. burg.de/maennerstrassennamen 5) Ebenda. 6) Ebenda. 4) Aus: „Die Frau“, Monatsschrift 7) Aus: „Die Frau“, Jan. 1925. für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. Hrsg. vom Bund deutscher Frau- Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 405

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senden Aufgaben, durch ihre gesellschaftlichen ande re und besonders die kleineren Orte Nord- Beziehungen, durch Geldmittel und am kraftvoll- deutschlands sowie deren geistige Verbindung sten durch ihre emsige, unermüdliche Arbeits- mit unserem nationalen Mittelpunkt, dem Bund leistung.“8) 1900 schuf Antonie Traun aus einer Deutscher Frauenvereine. Zu diesem Zweck Arbeitsabteilung des Vereins den selbstständigen wurde 1902 der Norddeutsche Verband begrün- Zweigverein „Die sozialen Hilfsgruppen“. Da- det, als dessen Schriftführerin Frau Traun uner- mals waren Antonie Trauns jüngere Kinder 19, meßliche Kleinarbeit jahraus, jahrein geleistet 17 und 11 Jahre alt. Ihr ältestes Kind war bereits hat. Bis hinauf zur dänischen Grenze fand sie verheiratet und hatte sie schon zur Großmutter die geeigneten Menschen und wußte Fäden zu gemacht. Das Ziel der „Sozialen Hilfsgruppen“ spannen (…).“9) war: Frauen und Mädchen der Oberschicht zur 1907, ein Jahr nach dem Tod ihres Eheman- Mitarbeit in sozialen Einrichtungen zu gewin- nes, wurde Antonie Traun Mitglied des Haupt- nen, damit sie gesellschaftliches und staatsbür- vorstandes des „Allgemeinen Deutschen Frau- gerliches Verantwortungsbewusstsein erlernen. envereins“. Durch diese gemeinnützige Tätigkeit sollten die Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, be- weiblichen Vereinsmitglieder auch eine Bereiche- geisterte sie die Frauen der bürgerlichen Frauen- rung des eigenen, oft unausgefüllten Lebens und bewegung zum Dienst in der Kriegshilfe. Ein innere Befriedigung erlangen. Jahr später schuf sie gemeinsam mit Nanny Gold- Antonie Traun gründete zur Zusammenfas- schmidt den „Bund Hamburgischer Hausfrau - sung der Frauen in sozialen Ehrenämtern den en“, „die erste große Wirtschaftsorganisation „Verband für Waisenpflege, Armenpflege und der Frauen, die schnell Tausende von Mitglie- Vormundschaft“. „Hinter allen bahnbrechenden dern gewann, weil sie den nagenden Übeln der Bewegungen der nächsten Jahre: für Anstellung Hauswirtschaft im Kriege trotz schwerster Hem- weiblicher Fabrikinspektoren, weiblicher Schöf- mungen mit Erfolg entgegentrat. Was die beiden fen beim Jugendgericht, für Fortbildungsschul- Leiterinnen und der ihnen mit tiefer Verehrung pflicht weiblicher Gewerbetreibender, Organisa- anhängende Vorstand bis zum Kriegsende für tion und Schutz der Heimarbeiterinnen stand die Volksernährung, für Garten- und Gemüse- Frau Trauns sichere Hand und ihr weiter Blick. bau, für erholungsbedürftige Kinder und später Sie baute das Bildungswesen für Frauen aus für weitgesteckte Ziele wirtschaftli cher und po- durch Vorträge, die zugleich als Werbung für die litischer Art geleistet haben, das ergibt ein Bild Vereine dienten, und durch die regelmäßigen breitester Kraftanwendung.“10) Ziel des Haus- Kurse für Wohlfahtspflege, die zur Grundlage für frauenbundes war die Vertretung der volkswirt- unsere Soziale Frauenschule geworden sind. schaftlichen Interessen der Hausfrauen als Kon- Frau Trauns persönlicher Beziehung zu Dr. [Ger- sumentinnen und Produzentinnen. Der Bund trud] Bäumer [siehe Ü Gertrud-Bäumer-Stieg, in wollte die Arbeit der Hausfrau mit der Tätigkeit diesem Band] ist es zu verdanken, daß diese zur in anderen Berufen gleichsetzen. Dieser Passus Leiterin der Anstalt gewonnen werden konnte. wurde jedoch 1918 gestrichen, denn gegen Ende Nachdem die Heranziehung der Frauen des Ersten Weltkriegs entwickelten sich die Haus - zum Dienst am Volkswohl in Hamburg in Fluß frauenvereine immer mehr zu nationalistischen, gebracht war, ergab sich die Ausbreitung auf konservativen Frauenvereinigungen.

8) Ebenda. 9) Ebenda. 10) Ebenda. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 406

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Die Ausdehnung des Ersten Weltkrieges mals haben wir sie erregt gesehen um eines per- machte es für die bürgerlichen Frauenverbände sönlichen Gegensatzes willen. Aber ihr starkes, notwendig, ihre losen Verbindungen in eine leidenschaftsfähiges Herz bäumte sich auf und straffe Zusammenfassung aller Hamburgischen ein heilsamer Zorn erfüllte sie, wo sie auf Un- Frauenvereine umzuwandeln. Deshalb wurde wahrhaftigkeit traf, auf Eitelkeit und flachen der „Stadtbund Hamburgischer Frauenvereine“ Ehrgeiz, die das Reine und Wahre entstellten gegründet, dessen Ziel es war, die gemeinsamen und herabzogen. (...) Interessen der angeschlossenen Frauenvereine Wie strahlend freundlich trat sie einem ent- zu vertreten und zu stärken. gegen, wenn man zu ihr kam, fern von der ge- Antonie Traun starb acht Jahre, nachdem sellschaftlich-äußeren Höflichkeit, sondern mit sie den Stadtbund mitbegründet hatte, im Alter dem belebenden Blick und Ton, der von ihrer von 73 Jahren. Helene Bonfort und Emma Ender strömenden Güte und Menschenliebe aus jeden fassten in ihren Gedächtnisreden bei der Feier Einzelnen in seiner Besonderheit erfaßte.“11) am 6. Dezember 1924 zum Tode von Antonie Siehe auch Ü Helene-Lange-Straße, Gertrud- Traun ihren Charakter wie folgt zusammen: „Mit Bäumer-Stieg, in diesem Band. nie wankender Entschlossenheit hat sie ihre in Siehe auch Ü Heinrich-Traun-Platz, Fuhlsbüttel, ernster Arbeit errungenen Überzeugungen ver- seit 1910, und Heinrich-Traun-Straße, Fuhlsbüt- tel, seit 1910: Dr. Heinrich Traun (1838–1909). treten, ohne Zögern vor Widersprüchen, Wider- Senator, Inhaber der Harburger Gummikamm ständen, ja Anfeindungen, über die sie wortlos, Co., Sohn von Bertha Ronge, geschiedene in stolzer Zurückhaltung hinwegging. Traun, in Bd. 3 online**. Ihr Ziel war Bildung im edlen Sinne, Streben Siehe auch Ü Westphalufer, Steinwerder, seit und Beseelung zu wecken, den nächsten und den 1980: Otto Eduard Westphal (1853–1919), Senator, Bruder von Antonie Traun, in Bd. 3 weiteren Kreis, dem sie angehörte, zu vergeisti- online**. gen, reines, wahres Menschentum zu bilden. Nie- U

Unzerstraße Charlotte Unzer wurde in Halle an der Saale als Altona, seit 1867, benannt nach Johann August Tochter des Organisten und Musikdirektors Jo- Unzer (1727–1799), Arzt und Schriftsteller und hann Gotthilf Ziegler und seiner Frau Anna Elisa- seiner Frau Johanna Charlotte Unzer (27.11.1725 beth, geb. Krüger geboren. 1747 starb der Vater. Halle an der Saal–29.1.1782 Altona), Dichterin, Nach dem Tod ihrer Mutter heiratete Charlotte und nach Johann Christoph Unzer (1747–1809), Ziegler 1751 den Arzt Johann August Unzer. Die Arzt, Stadtphysikus, Dichter, und nach Heinrich beiden kannten sich von Kindheit an. Johann Friedrich Unzer (1783–1814), Arzt August, ebenfalls aus Halle stammend und 1750 nach Hamburg und im selben Jahr noch nach

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

11) Ebenda. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 407

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Altona gezogen, wo er sich als praktischer Arzt verteidigenden „Vorerinnerung“ den Wind aus und Psychologe niederließ, hatte bei Charlottes den Segeln zu nehmen. Sie schreibt: „Ich würde Vater Musikunterricht erhalten. wegen dieser Gedichte gar nichts zu erinnern Noch im Jahr ihrer Heirat veröffentlichte haben, wenn ich nicht ein Frauenzimmer wäre. Charlotte Unzer unter ihrem Namen und mit Eine Mannsperson hat die Freyheit, von Liebe einem Vorwort ihres Onkels Johann Gottlob Krü- und Weine zu scherzen, ohne befürchten zu dür- ger ihr Werk „Grundriss einer Weltweisheit für fen, dass man es ihm übel das Frauenzimmer“. auslegen werde. Unser Ge- Das Ehepaar bekam Zwillinge. Diese star- schlecht ist hierinnen weit ben jedoch kurz nach der Geburt. mehr eingeschränkt: und Zu ihrem 13. Hochzeitstag widmete ihr Mann ich sehe es für ganz noth- ihr ein zärtliches Gedicht: „Schon dreyzehn Jah- wendig an, mir hier eine re sind vergangen. Da Dich mein Arm zuerst Vertheidigung im voraus umfing. Da ich mit zärtlichem Verlangen an Dei- zu machen.“ nem treuen Busen hing (…).“ Charlotte Unzer rebel - Charlotte Unzer war eine Vertreterin der lierte gegen das Diktat der Aufklärung, setzte sich für Frauenbildung ein, Männer, Frauen dürften Charlotte Unzer durchschaute die patriarchalen Mechanismen nicht witzig, und scherz- ihrer Zeit und wollte mit ihren Schriften die da- haft-ironisch schreiben: „(…) so sehe ich nicht malige Philosophie einem breiten – nicht nur ge- ab, warum unser Geschlecht diese Sprache nicht lehrten – Publikum, besonders aber den Frauen, eben so sollte reden dürfen, als sie Mannsper- zugänglich machen. Sie verstand die Philoso- sonen reden“. 2) phie als „Weltweisheit“. Ganz im Sinne der Auf- Unter dem Begriff Witz wurden im 18. Jahr- klärung sollten alle von ihr partizipieren dürfen. hundert sinnreiche und kluge Einfälle, die auch Charlotte Unzer beklagte die Einschränkung Spott beinhalten können, verstanden. So die Welt der weiblichen Bildung, kritisierte die „einge- zu erklären oder über sie zu schreiben sollte – schränkte“ Lage der Frau als Dichterin, die nach wenn es nach den Männern ging – für Frauen langläufiger Meinung nur in „erhabener Art“ tabu sein. Und so strafte der Dichter und Philo- dichten sollte. Damals wurde von den schriftstel- soph Christoph Martin Wieland (siehe Ü Wieland- lerisch tätigen und dichtenden Frauen ein zärt- straße, in Bd. 3 online**) auch die gegen diese licher, rührender und ergebener Ton verlangt. patriarchalen Regeln aufbegehrende Charlotte Witzige und ironische Töne waren das Privileg Unzer mit, wie er sagte, „Gleichgültigkeit“. Sie einer männlichen Schreibweise.1) Verstießen dich - war es in seinen Augen nicht wert, dass mann tende Frauen gegen dieses patriarchale Diktat, sich mit ihren Werken beschäftigte. waren sie dem Spott und den abfälligen Urteilen Als Charlotte mit den Jahren immer fülliger der sich als Kenner der literarischen Materie aus - wurde, nutzte Wieland diesen Umstand, um sie gebenden dichtenden Männer ausgesetzt. Char- bloßzustellen und machte sie 1771 in seiner ko- lotte Unzer versuchte deshalb in ihrer anonym misch-satirischen Dichtung „Der neue Amadis“ herausgegebenen Schrift „Versuch in Scherzge- zur Zielscheibe seines Spottes. Doch Charlotte

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: dichten“ den Kritikern mit einer vorrangehenden, Unzer ließ sich davon nicht beeindrucken bzw.

1) Isabelle Stauffer: Weibliche Dan- dys, blickmächtige Femmes fragiles. Ironische Inszenierungen des Ge- schlechts im Fin de Siècle. Köln 2008, S. 52. 2) Ebenda. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 408

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erschüttern. Sie war Ehrenmitglied der Deut- erklärt hat, (…), ja sie lehrt: ‚Lernet mit den Män- schen Gesellschaften in Helmstedt und Göttin- nern zechen!‘ (…).“ gen und erhielt 1753 den kaiserlich privilegier- Als Charlotte Unzer 1782 in Altona mit erst ten Titel einer Poeta laureata verliehen. 57 Jahren starb, wurde sie allenthalben tief be- Selbst noch gut hundert Jahre nach Charlot - trauert. te Unzers Ableben wurden ihre Werke und ihre Johann August Unzer legte 1769 seine medizi- teilweise recht anzüglichen Gedichte, die jedoch nische Praxis nieder, um sich ganz seinen For- alle ein großes positives Echo unter der Leserin- schungen widmen zu können. Er kämpfte gegen nenschaft fanden, kritisiert. Ganz dem patriarcha- den Alkohol, schrieb u. a. über Sterndeutung, len Frauenbild folgend, verriss 1895 die als er- See lenwanderung und den Gebrauch des Köl- strangiges Nachschlagewerk geltende Allgemeine nisch Wassers. Deutsche Biographie (ADB) in ihrem 39. Band das Johann Christoph Unzer, Neffe von Johann Au- literarische Schaffen Charlotte Unzers: „Bei jeder gust Unzer, praktischer Arzt und Romandichter, geschlossenen Gedankenreihe wird’s der Verfas- schrieb dramatische Dichtungen und beschäf- serin unbehaglich; die ‚mathematische‘ Methode tigte sich literarisch auch mit Frauenkrankhei- Wolff’s, überhaupt das abstracte Denken, überläßt ten. 1778 hatte er die Schauspielerin Dorothea sie getrost ‚den allerdüstersten Män nern‘; sie greift Ackermann (1752–1821) (siehe Ü Ackermannstra - statt zu strengen Beweisen lieber zu hübschen Ge- ße, in diesem Band) geheiratet. Das Paar ließ schichten aus dem Spectator (…). Griechisch und sich 1790 scheiden. Vor seiner Verbindung mit Latein kann sie nicht; Baum garten’s Metaphysik Do rothea Ackermann war er in deren Schwester hat ihr ein guter Freund übersetzt; den Ixion ver- Charlotte (1757–1775) verliebt gewesen (siehe Ü wechselt sie mit dem Prometheuse (…). Diese Ackermannstraße, in diesem Band). Durch diese harmlose Un wis senheit hindert sie nicht, über war Johann Christoph Unzer in den Theater- Plato’s Ideenlehre (…) kritisch oder scherzend kreis um Lessing (siehe Ü Lessingstraße, in Bd. 3 sich aufzuhalten. Aber solche Unbescheidenheit onli ne**) aufgenommen worden. steht ihr, eben weil sie naiv frauenzimmerlich auf- Siehe auch Ü Ackermannstraße, in diesem tritt. (…) Von eigenen Gedanken ist natürlich Band. nicht die Rede, an groben, auch logischen Schnit- Siehe auch Ü Lessingstraße, Hohenfelde, seit zern fehlts nicht. Aber das Ganze plaudert so un- 1863: Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Dichter, Schriftsteller, in Bd. 3 online**. schuldig fröhlich dahin, daß mans sich gern ge- Siehe auch Ü Wielandstraße, Eilbek, seit 1866: fallen läßt. Leider machte der Erfolg unserer Christoph Martin Wieland (1733–1813), Dich- gelehrten Freundin den Kamm schwellen. In ter, in Bd. 3 online** ihrem ‚Grundriß einer Natürlichen Historie und eigentli chen Naturlehre für das Frau enzimmer‘ (Halle 1751), den sie nun schon ohne Onkel Krü- Ursula-Falke-Terrassen ger’s Hil fe herausgibt, will sie bereits eine Lehre- Wilhelmsburg, seit 2012, benannt nach Ulla F. rin ihres Geschlechts werden. (…) Die U. hält es (1937–2008), vielfältig engagiert in und verdient (…) für ihr Menschenrecht, gleich den Männern um Wilhelmsburg u. a. als Kirchenvorstand in von Wein und Liebe zu singen (…). Sie befehdet St. Raphael, Mitinitiatorin der Wilhelmsburger Gleim grollend, weil er alle Mädchen für Puppen Tafel, Organisatorin von Stadtteilfesten, ab 1991

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 409

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im Vorstand des Vereins für Heimatkundler, Mit- und die 325-Jahresfeier Wilhelmsburgs vor, ar- arbeiterin in der Redaktion des „Inselrundblicks“ beitete in der Redaktion des „Inselrundblicks“ und Stadtteilführerin und initiierte und begleitete als Stadtteilführerin Barkassenfahrten, die vom Jungfernstieg aus Ursula Falke galt als lebensfrohe, sehr engagierte nach Wilhelmsburg führen. Auf ihre Anregung Frau, die sich für „ihr Wilhelmsburg“ mit großer hin geschah die Wiederer- Energie einsetzte. Geboren 1937 auf der Elbinsel, richtung des ersten Anle- hatte sie bis zu ihrer schweren Erkrankung und gers auf Wilhelmsburg am ihrem Tod im Jahr 2008 im Haus ihrer Eltern Ernst-August-Kanal. Auch am Wülfkenweg gelebt. kämpfte Ursula Falke ent- Ursula Falke war gerade in der Schule Bud- schieden gegen die 1993 destraße eingeschult worden, als sie mit ihrer vom Hamburger Senat im Mutter und ihrem Bruder 1943 vor den Bomben- Bereich Neuhof geplante angriffen aufs Land fliehen musste. Ein Jahr spä- Müllverbrennungsanlage. ter verstarb ihr Vater. Da kurz vor Kriegsende ihr Sie organisierte mit Gleich - Haus ausgebombt worden war, konnte die Fa- gesinnten Arbeitskreise, Ursula Falke milie erst 1947 in ein Behelfsheim auf ihrem Ver anstaltungen und De- Grundstück nach Wilhelmsburg zurückkehren. monstrationen unter dem Motto „Wilhelmsburg Die Mutter baute mühsam das Haus wieder auf. braucht Stadtentwicklung, keine Müllverbren- Nach dem Schulabschluss und einer Ausbil- nung“ und hatte Erfolg damit. Aus diesen Initia- dung zur Kinderpflegerin arbeitete Ursula Falke tiven gründete sich das „Forum Wilhelmsburg“, in Hamburg und leitete später einen Kindergar- später der Verein „Zukunft Elbinsel Wilhelms- ten in Cuxhaven. burg e. V.“, der sich für ein friedliches Zusam - Nach einer Ausbildung zur Polizistin be- menleben der Menschen aus vielen Nationen und gann sie im Alter von 29 Jahren als Polizistin auf eine zukunftsweisende Stadtteilentwicklung Wil- der Davidwache in St. Pauli zu arbeiten, heira- helmsburgs einsetzt. tete und bekam 1971 ihren Sohn Andreas. Im Zuge der Gartenbauausstellung bekam 1984 verknüpfte sie ihre beiden erlernten der neue Barkassenanleger am Wilhelmsburger Berufe und wurde Hamburgs erste Polizeiver- Rathaus den Namen „Ursula-Falke-Terrassen“.3) kehrslehrerin. Bis zu ihrer Rente arbeitete sie mit Text: Maria Koser Kindern an Vorschulen und Schulen in St. Pauli, im Schanzen- und Karolinenviertel. Auch engagierte sie sich für und in ihrem Ursula-Querner-Straße Stadtteil. So war sie Mitglied des Kirchenvorstan- Bergedorf, seit 1985, benannt nach Ursula Quer- des der Gemeinde St. Ra phael, gehörte zu den ner (10.5.1921 Dresden–23.6.1969 Hamburg), Initiatorinnen der Wilhelms burger Tafel, organi- Bildhauerin. Motivgruppe: Verdiente Frauen sier te Stadtteilfeste mit, arbei tete ab 1991 im Vor- stand des Vereins Museum Elbinsel Wilhelms- Betritt man das Gelände von Planten un Blomen burg, machte Führungen im Museum, bereitete vom Fernsehturm aus, so sind es nur wenige

Abb.: Privatbesitz Peter Falke Peter Privatbesitz Abb.: die Feier zum 100-jährigen Be stehen des Vereins Schritte die Stufen hinunter, und man steht ne-

** Band 3 online unter: www.ham- Insel lebe“, in: Geschichtswerkstatt burg.de/maennerstrassennamen Wilhelmsburg (Hrsg.): Wilhelmines Gedächtnis, Hamburg 2002. 3) Interview mit Peter Falke; Ulla Falke: „Bis zur großen Sturmflut war mir nicht bewusst, dass ich auf einer Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 410

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ben der Göttin der Morgenröte: ein schmaler men, künstlerisch und menschlich – ich bin nun Mädchenkopf mit Pferdeschwanz, ein kräftiger, so ganz offen für alles und bereit, aufzunehmen, jugendlicher Leib, der in noch kräftigere, beinahe ganz in mich selbst alles zu nehmen, was ich stromlinienförmige Beine übergeht, die an die sehe, was ich arbeite, was erlebe!) Alles ist so göttliche Herkunft der Gestalt erinnern mögen. voller Spannung, voll inneren Lebens, dieser „Mit Rosenfingern den Schleier der Nacht auf- dumpfe reglose Zustand in Eutin war wie eine hebend“,4) wie Karl Philipp Moritz in seiner Talsperre und nun stehe ich kurz vorm Wehr „Götterlehre“ erzählte, hat auch diese Aurora um und der Druck ist fast unerträglich – – – wird es Po und geöffnete Arme und Hände locker einen geöffnet werden und alles in Fließen geraten?“5) Schleier geschlungen, den Blick nach Osten dem Trotz der kurzen Lebenszeit, die Ursula Sonnenaufgang zugewandt. Querner bemessen war, schuf sie eine große An- Bei der 1953 für die IGA geschaffenen Plas- zahl von Werken, wobei ihre Hauptauftragsfel- tik stand die Bildhauerin Ursula Querner noch ganz der „Kunst am Bau“ und Kirchenausstattungen unter dem Einfluss ihres Lehrers an der Landes- waren. Vom „Eselsreiter“ (1956/57) im Park der kunstschule in Hamburg, Edwin Scharff (siehe Ü Grindelhochhäuser, über „Daphnis und Cloe“ Edwin-Scharff-Ring, in Bd. 3 online**). Nach Jah- (1957) an der Goethestraße, den Brunnen „Drei ren der durch Kriegsum- Knaben“ (1958) an der Berner Au und „Orpheus stände bedingten Stagna- und Eurydike“ (1958) in der Parkanlage Alster- tion ihrer künstlerischen vorland in Harvestehude entwickelte die Bron- Entwicklung und Tätigkeit zebildhauerin eine eigene Formensprache. war sie 1946 seine Schü- Ihre Themenwahl aus der antiken Mytho- lerin geworden. Glücklich logie basiert zum einen auf einer allgemeinen und voller Anspannung internationalen Tendenz nach dem Zweiten schrieb sie am 1. Oktober Weltkrieg. Da die Avantgarde der 1920-er Jahre Ursula Querner 1946 in ihr Tagebuch: gescheitert war, der Faschismus Thematisches „Seit dem heutigen Tag und Formales unmöglich gemacht hatte, suchte bin ich ‚Kunstjüngerin‘ an der Landeskunst- man Inspiration bei den Werken der Antike. schule zu Hamburg. (...) Ich mußte mich anmel- Diese Neigung erklärt sich wohl aber auch aus den für das Studium, es war für mich höchste einer glücklichen persönlichen Anlage der Zeit, daß ich wieder zu einem wirklich intensi- Künstlerin, die die Heiterkeit in Werken der An- ven und konzentrierten Lernen komme, daß mei - tike unmittelbar empfand. Von einer Studien- ne Arbeiten einer ständigen, strengen Kritik unter- reise nach Italien und Griechenland schrieb sie stehen (die letzte Zeit in Eutin war schlimm, vor am 27. April 1957 an ihre Mutter, Annemarie all den vielen Erledigungen kam ich zu keinem Querner: „(...) dann die Akropolis – ganz an- regelmäßigen Arbeiten mehr, vor allem fehlte ders, als man es nach all den Fotos erwartet, gar mir so ganz das Alleinsein können. Nun bin ich nicht ‚erhabene Klassik‘, gar keine ‚edle Einfalt‘, Freiherrin – ja, lange habe ich nicht mehr dies es packt einen wirklich ganz unmittelbar und freie gelöste gespürt, das mich heute bis in die mit solcher Gewalt, wie ich’s bisher nur bei Fingerspitzen erfüllt.) Wie möchte ich diese herr - ganz expressiven Dingen der Kunst erlebt habe.

liche kostbare Zeit nützen, um weiterzukom- Alles ist Plastik, jeder Säulentorso, jedes Kapi- Hamburg Staatsarchiv Abb.:

** Band 3 online unter: www.ham- 5) Zit. nach: Die Bildhauerin Ursula burg.de/maennerstrassennamen Querner 1921–1969. Mit Beiträgen von Gottfried Sello und Helga Jör- 4) Karl Philipp Moritz: Götterlehre, gens-Landrum. Hamburg 1991. hrsg. von Horst Günther. Frankfurt a. M. 1999. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 411

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tell, das wie zufällig daliegt, jeder behauene, 1961 ließ sich das Ehepaar Querner/Wallner verwitterte, patinierte Stein des Mauerwerks, es in Italien auf einem der Insel Ponza vorgelager- ist alles ganz gegenwärtig (...) was mich immer ten Felsen ein Sommeratelier bauen. Hier be- wieder frappiert, ist die wundervolle Sensibilität, schäftigte sich Ursula Querner mit Felsformatio- die Zartheit bis ins kleinste Detail und diese große nen und entdeckte die Unterwasserwelt: „Für Heiterkeit, die von allen Plastiken, auch wenn mich ist Italien der Inbegriff der Plastizität. Wo sie nur in Bruchstücken da sind, ausstrahlt.“6) Für ich hingucke, hier in Ponza, ob ich eine Höhle, den Kunsthistoriker Gottfried Sello, der sie gut einen Felsen oder einen Hügel sehe, alles ist kannte, gehörte Ursula Querner „zu den glück - Plastik. – Auch der Mensch ist hier viel mehr lichsten Menschen, denen ich begegnet bin.“7) Plastik, finde ich. (...) Ich sah diesen Menschen, So gelang es der seit 1953 mit dem Glasmaler der sich, wenn er die Maske aufsetzt, verwan- Claus Wallner verheirateten Ehefrau und Mutter delt, anonym wird, ins Wasser geht und dann zweier Töchter auch einigermaßen problemlos, ein völlig anderes Wesen wird; und ich habe das Leben einer Künstlerin mit der klassischen versucht, das darzustellen, erst statisch noch, Rolle einer Frau zu vereinbaren. und dann aber, als ich selbst begann zu tau- Während eines Aufenthalts in der Villa Mas - chen, habe ich diese ganze neue Atmosphäre, simo in Rom lernte Ursula Querner das Arbeiten das Schwebende, in die andere Atmosphäre ge- mit Wachs kennen. Auf Grund seiner weichen und hende, versucht, darzustellen. (...) Es ist im gleichzeitig festen Beschaffenheit kann Wachs, Grunde das alte Symbol der Maske – da schließt anders als Ton, der auf ein stützendes Gerüst auf- sich der Kreis, die antike Welt ist hier genau so getragen werden muss, von innen heraus model- lebendig für mich wie die moderne.“10) Ein Bei- liert werden. Zudem erlaubt es andere Möglich- spiel aus dieser Phase ist der „Oceanaut“ (1965) keiten der Modellierung der Oberflächenstruktur. im Freizeitbad Hamburg-Niendorf. „Vormittags liegende Figur in Wachs geformt, Ursula Querners Orientierung an Marino sehr schönes Gefühl, die Form so von innen nach Marini, über den sie bereits 1953 in einem Brief außen zu treiben. Kommt meinem Empfinden an ihren Mann schrieb, dass er derjenige sei, der sehr entgegen“,8) notierte sie am 3. April 1959 in ihr am meisten imponiere, und an Alberto Gia- ihr Tagebuch. Wachs wurde „das Material, in dem cometti ist an ihren Arbeiten im Umkreis der sie ihre skulpturalen Vorstellungen am besten re- Zeit in der Villa Massimo besonders deutlich zu alisieren konn te“,9) urteilte Claus Wallner. Auch spüren. Später meint man auch den Einfluss von große Arbeiten baute sie in Wachs auf und ließ Henry Moore zu erkennen, wie bei der „Gruppe sie im Wachsausschmelzverfahren gießen. Arbei- der fünf Sitzenden“ (1966/67) im Sonnenland ten im öffentlichen Raum, die unter dem Eindruck in Hamburg-Billstedt. Aber auch wenn sich die ihres Aufenthalts in Rom standen, sind Plas tiken Künstlerin mit abstrakten Darstellungsformen wie „Zwei Faune“ (1961) in der Straße Fahrenort, und abstrakten, plastischen Kategorien des Rau- „Pan“ (1962) in der Gartenanlage Schüslerweg, mes und mit Oberflächenstrukturen beschäf- „Ceres“ (1961) bei der ehemaligen Frauenklinik tigte, wie sie für die informelle Malerei von Be- Finkenau, „Ballonmann I“ (1961/62) bei der Schu- deutung waren, blieb sie eine Bildnerin figuraler le Schierenberg in Hamburg-Berne und „Zwei Skulpturen. Mädchen mit Tuch“ (1965) in der Steinickestraße. Text: Brita Reimers

6) Zit. nach: Die Bildhauerin Ursula 9) Karl Philipp Moritz, a. a. O. Querner, a. a. O. 10) ZDF-Interview vom 20.11.1966. 7) Zit. nach: Die Bildhauerin Ursula Querner, a. a. O. 8) Zit. nach: Die Bildhauerin Ursula Querner, a. a. O. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 412

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Siehe auch Ü Edwin-Scharff-Ring, Steilshoop, Siehe auch Ü Alberichstieg, Rissen, seit 1951: seit 1971, nach dem Bildhauer Edwin Scharff Gestalt aus der Nibelungensage, in Bd. 3 on- (1887–1955). Motivgruppe: Personen, die line**. sich um das kulturelle Leben Hamburgs in der Siehe auch Ü Gernotstraße, Rissen, seit 1949: ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdient Gernot, Gestalt aus der Nibelungensage, in gemacht haben, in Bd. 3 online**. Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Hildebrandtwiete, Rissen, seit 1951: Gestalt aus den Nibelungenlied, in Bd. 3 Uteweg online**. Rissen, seit 1951. Gestalt aus dem Nibelungenlied Siehe auch Ü Mimeweg, Rissen, seit 1951: Mime der weise Schmied im Nibelungenlied, in Bd. 3 online**. Ute ist die Mutter Kriemhilds (siehe Ü Kriemhild- Siehe auch Ü Rüdigerau, Rissen, seit 1949: straße, in diesem Band) und der Burgunderköni- Sagenmotiv aus der Nibelungensage, in Bd. 3 ge Gunther, Gernot (siehe Ü Gernotstraße, in die- online**. sem Band)und Gieselher. Sie ist eine Seherin Siehe auch Ü Siegfriedstraße, Rissen, seit 1933: und Traumdeuterin. „Sie warnt ihre Kinder ver- Gestalt aus dem Nibelungenlied, in Bd. 3 on- geblich vor den Folgen ihrer Handlungen; sie line**. vermag die Träume, in denen sich die drohen- Siehe auch Ü Tronjeweg, Rissen, seit 1985: Hagen von Tronje, Gestalt aus der Gudrun- den Gefahren ankündigen, zu deuten.“11) und Nibelungensage, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Brunhildstraße, Kriemhildstraße, Siehe auch Ü Volkerweg, Rissen, seit 1949: Siegrunweg, in diesem Band. Volker von Alzey Nibelungensage, in Bd. 3 online**. V

Venusberg legitim. Gleichzeitig wurden aber Prostituierte Neustadt, seit Mitte des 17. Jahrhunderts, nach wegen ihrer Tätigkeit bestraft. den dort gelegenen Bordellen, nicht nach Venus, Dazu stand an dem belebten Marktplatz der römischen Göttin der Liebe und des eroti- Meßberg in der Hamburger Altstadt ein vierstö- schen Verlangens oder nach dem Planeten Venus. ckiger Turm, allgemein Roggenkiste genannt. Auch nicht hergeleitet von Fendsberg in der Dort mussten so genannte liederliche Weibsper- Bedeutung von Feindesberg. sonen bei Wasser und (Roggen-)Brot acht bis vierzehn Tage in einer winzig engen Zelle sitzen Noch heute heißen viele Bordelle in Deutschland und sollten ihr unmoralisches Leben bereuen. nach der Göttin Venus. Diese Frauen waren der Prostitution nachgegan- Seinen Geschlechtstrieb bei einer Prostitu- gen – einer Erwerbsarbeit, die offiziell zwar ver- ierten „auszuleben“ galt damals für Männer als boten, inoffiziell jedoch geduldet war.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

11) Annemarie und Wolfgang van Rinsum: Lexikon literarischer Gestal- ten. Stuttgart 1988. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 413

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Deshalb wurden auch nicht alle Prostituier- Aus Berufung oder aus „angeborener Geil- ten inhaftiert. Doch wer von ihnen wurde be- heit“ werden Frauen nur selten als Prostituierte straft? Die, deren Marktwert als gering eingestuft gearbeitet haben, auch wenn Skandalchronisten wurde, oder erwischte es den „Überschuss“, dies ihren Lesern weismachen wollten. Denn die wenn die Nachfrage gedeckt war? Darüber lässt meisten Prostituierten kamen aus der Armuts- sich nur spekulieren. Sicher scheint hingegen: Von schicht. Ein kritischer Beobachter des mensch- einem Mangel an Prostituierten war nie die Rede. lichen Elends ließ um 1780 eine arme Zeitgenos- Nicht nur moralische Prinzipien führten zu sin sprechen: „Alle Arbeiten, die für die Weibsen einem offiziellen Verbot der Prostitution, auch gehören, haben ja die Männer an sich gerissen, die Angst vor der so genannten Lustseuche Sy- und das, was ein Weibsen noch arbeiten kann, philis, die sich seit dem 17. Jahrhundert enorm wird so erbärmlich bezahlt, daß man nicht das ausgebreitet hatte, spielte eine entscheidende Salz daran hat.“2) Rolle. Die Strafmaßnahmen gegen Prostituierte wurden immer schärfer – galten sie doch als die eigentlichen Verbreiterinnen der Sittenlosigkeit Vera-Brittain-Ufer und der Syphilis. Hammerbrook, seit 2014, benannt nach Vera Es gab ein gestaffeltes Strafsystem. Hambur- Brittain (29.12.1893 Newcastle-under-Lyme– ger Prostituierte, die zum zweiten Mal aufgegrif- 29.3.1970 Wimbledon), englische Schriftstellerin, fen worden waren, wurden, nachdem sie erneut Pazifistin und Feministin; hat während des Zwei- für einige Wochen in der Roggenkiste hatten zu- ten Weltkriegs in Großbritannien gegen die bringen müssen, „auf einem des Endes auf dem Flächenbombardements der deutschen Städte Pferde=Markt [heute: Gerhart-Hauptmann-Platz] protestiert und insbesondere die Zerstörung zu erbauenden etwas erhabenen Gerüste zu zwe - Hamburgs angeprangert yen malen ins Halseisen [geschlossen] und muss - ten daselbst mit unverdecktem Gesichte, und „Ähnlich wie Käthe Kollwitz (siehe Ü Kollwitzring, auf die Brust gehefteten, mit ihrem Vor- und Zu- in diesem Band) setzte sich Vera Brittain für den namen deutlich bezeichneten Brette, jedesmal Frieden ein. In ihren autobiographischen Schrif- eine Stunde stehen, und [wurden] darauf aus ten, besonders im ‚Testament of Youth‘, 1933, dieser Stadt und deren Gebiete (…) auf 10 Jah- vermittelt sie ihrer eigenen und späteren Genera- re verw[iesen].“ 1) Andere Prostituierte wurden tionen ein Bild der Qual und des Schreckens des nach dem Zurschaustellen auf dem Marktplatz Krieges. In ihrem lebenslangen Kampf für die für ein bis zwei Jahre ins Spinnhaus [Gefängnis Ausschaltung des Krieges half Vera Brittain durch an der heutigen Ferdinand straße/Als tertor] ge- ihre Werke und Vorträge nicht nur der Bildung steckt. der englischen pazifistischen Bewegung [nach Die Freier hingegen konnten mit ihren sex- dem Ersten Weltkrieg], sondern sie war auch Vor- uellen Abenteuern prahlen und sie sogar lukra- sitzende der Peace Plegde Union (1945–1951) tiv vermarkten mit so genannten Sittengemäl- [Friedensschwur-Union, der sie 1937 beigetreten den über Städte, in denen die Autoren über das war. Im selben Jahr trat sie auch in die anglika- „Treiben“ der Frauen in „ordentlichen Huren- nische Pazifistenbewegung ein] und nahm an wirtschaften“ schwadronierten. den Kundgebungen [und Demonstrationen] der

1) Zit. nach: Alfred Urban: Staat und Prostitution in Hamburg. Ham- burg 1927, S. 14. 2) Christian Gotthilf Salzmann: Carl von Carlsberg oder über das menschli- che Elend, 2. Theil. Leipzig 1784, S. 87. Straßen Bd 2 390-414 T-U-V:. 27.07.15 14:02 Seite 414

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Kernwaffengegner der fünfziger Jahre [gegen die Roman „The Dark Tide“ 1923 herausgeben hatte, atomare Aufrüstung] teil. Zusammen mit ‚Die 1940 „Testament of Friendship“, 1944 gab sie das Waffen nieder!‘ [von Ber- Heft „Massacre by Bombing“ heraus und 1957 tha von Suttner, siehe Ü „The Testament of Experience“. Suttnerstraße, in diesem In ihrem „Massacre by Bombing“ prangerte Band] steht ‚Testament of sie die Flächenbombardements deutscher Städte Youth‘ (eine auf Fakten be- an, wofür sie in England harte Kritik einstecken ruhende Autobiographie muss te. Doch ihre konsequente pazifistische im Gegensatz zu Suttners Einstellung erlaubte es ihr nicht, Unterschiede fiktiver Darstellung) in der zwischen „berechtigten“ und „unberechtigten“ Reihe der einflussreichsten Bombardements herzustel len. Vera Brittain Antikriegsliteratur.“3) Im Vorwege dieser Straßenbenennung kam Vera Brittain entstamm - es zu heftigen Diskussionen darüber, inwiefern te der britischen upperclass – ihre Familie besaß es sich mit dieser Benennung nicht um Ge- Papierfabriken in Hanley und Cheddleton. Ge- schichts revi sionismus handele. „Kritiker witter- meinsam mit ihrem Bru der verbrachte sie ei ne ten eine revisionistische Agenda und fürchteten, behütete Kindheit. Als sie dreizehn Jahre alt dass Ham burg sich einen neuen Aufmarschplatz war, kam sie in das Inter nat St. Monica’s in für die NPD schafft.“4) Denn: „die rechtsextreme Kingswood (Surrey), das von ihrer Tan te geleitet National-Zeitung (…) feierte sie [Vera Brittain] wurde. Nach dem Schulabschluss studierte sie für ihre Bom benkritik [Bombardierung Ham- englische Literatur am Sommerville Colle ge in burgs 1943] als ‚Leuchtturm der Menschlich- Oxford. Doch bevor sie dort ihren Abschluss keit‘. Der Sohn des verstorbenen DVU-Vorsitzen- machte, begann der Erste Weltkrieg und Vera den Gerhard Frey nannte sie seine historische Brittain nahm an ihm als Kranken schwester teil. ‚Lieblingspersönlichkeit‘. Im Juni lobte zudem Ihr Verlobter und ihr Bruder so wie einige ihrer die in Ham burg herausgegebene Preußische All- Freunde wurden als Soldaten im Krieg getötet. gemeine Zeitung (…) die Benennung des Vera- Nach dem Krieg begann Vera Brittain ein Ge- Brittain-Ufers und geißelte zugleich das geplante schichtsstudium in Oxford, gleichzeitig entwi ckel- Denkmal für Wehrmachtsdeserteure“, so Oskar te sich zwischen ihr und der Schriftstellerin und Piegsa in seinem Artikel: „Kampf am Kanal. Ei - Journalisten Winifred Holt by eine tiefe Freund - ne Straße wird nach einer britischen Pazifistin schaft. Dadurch kam auch Vera Brittain dazu, sich benannt. Ist das Geschichtsrevisionis mus?“ Der schriftstellerisch zu betätigen. Autor endet sei nen Artikel mit dem Satz: „Es Mit 32 Jahren heiratete Vera Brittain 1925 den bleibt der Eindruck, dass Geschich te nicht ver- Politikwissenschaftler und Philosophen George gessen ist, solange wir über sie streiten. Und die Catlin (1896–1979). Das Paar bekam einen Sohn, Hoffnung, dass etwas hängen bleibt, wenn in der später Maler, Autor und Geschäftsmann wur- Zukunft mehr Hamburger Neonazis die Texte de, und eine Tochter, die später zur Politikerin der britischen Pazifistin lesen.“5) und Ministerin (Liberal Democrats) avancierte. Siehe auch Ü Kollwitzring, Suttnerstraße, in Neben dem bereits erwähnten „Testament diesem Band.

of Youth“ schrieb Vera Brittain, die ihren ersten Diary 1913–1917, 1981, Bildteil. War Brittain, London Great Vera Youth, of Chronicle Aus: Alan Bishop, Abb.:

3) Bibliothek der Vereinten Natio- 4) Oskar Piegsa in seinem Artikel: 5) Ebenda. nen, Genf. Völkerbundarchiv: Die Kampf am Kanal. Eine Straße wird Waffen nieder! Bas les armes – Lay nach einer britischen Pazifistin be- down your arms. Bertha v. Suttner nannt. Ist das Geschichtsrevisio- und andere Frauen der Friedensbe- nismus?, in: Die Zeit Hamburg vom 3. wegung. Genève 10, S. 22. Juli 2014 S. 10. Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 415

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Wassermannpark Siehe auch Ü Sergio-de-Simone-Stieg, Schnel- sen, seit 1993: sieben Jahre alter Italiener. Opfer Schnelsen, seit 2003, be- des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. nannt nach H. Wasser- Siehe auch Ü Günther-Schwarberg-Weg, Schnel- mann, achtjährige Polin. sen, seit 2013: Günther Schwarberg (1926– Opfer des Nationalsozia- 2008), Autor, Journalist, recherchierte und lismus. Kindermord in der schrieb über das Schicksal der 20 jüdischen Kin- der, die am 20.4.1945 in der Schule Bullenhuser Schule am Bullen huser Damm ermordet wurden, in Bd. 3 online**. H. Wassermann Damm Siehe auch Ü Geschwister-Witonski-Straße, Jacqueline-Morgenstern-Weg, Lelka-Birnbaum- Werfelring Weg, Riwka-Herszberg-Stieg, Zylberbergstieg, Zylberbergstraße, in diesem Band. Bramfeld, seit 1961, benannt nach Franz Werfel. Siehe auch Ü Brüder-Hornemann-Straße, 2001/2002 ergänzt um die berühmte Ehefrau Schnelsen, seit 1993: Alexander und Eduard Alma Maria Mahler-Werfel. Neuer Erläuterungs- Hornemann, acht und zwölf Jahre alt, nieder- text: benannt nach dem Ehepaar (verh. v. 1929– ländische Opfer des Nationalsozialismus, in 1945) Franz W. (1890–1945), Schriftsteller, und Bd. 3 online**. Alma Maria Mahler-W. (1879–1964), geb. Schind- Siehe auch Ü Eduard-Reichenbaum-Weg, Schnelsen, seit 1993: Eduard Reichenbaum ler, Komponistin und Musikschriftstellerin (1934–1945), zehnjähriges polnisches Kind, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- Es bräuchte einen Straßenschilderwald, um die line**. Vernetzungen und Verbindungen von Alma Mah- Siehe auch Ü Georges-André-Kohn-Straße, Schnelsen, seit 1992: zwölfjähriges Opfer des ler-Werfel (31.8.1879 Wien–11.12.1964 New York) Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. zu veranschaulichen. Ihr Lebensweg war Anlass Siehe auch Ü Jungliebstraße, Schnelsen, seit für viele mythische Schilderungen zwischen 1995: zwölfjähriger Jugoslawe, Opfer des Na- Femme fatal und Muse. Sie war eine umschwärm- tionalsozialismus, in Bd. 3 online**. te Frau, die begabte und erfolgreiche Männer Siehe auch Ü Marek-James-Straße, Schnelsen, begehrte und förderte, selbst kreativ war – und seit 1995: Marek James, sechs Jahre alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- doch in traditionellen Rollenzuweisungen ge- line**. fangen blieb. Siehe auch Ü Marek-Steinbaum-Weg, Schnel- In einem künstlerischen Umfeld aufgewach- sen, seit 1993: Marek Steinbaum, zehn Jahre sen – der Vater war der Wiener Maler Emil Ja - alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in kob Schindler – wurde Almas musikalische Be- Bd. 3 online**. gabung gefördert, aber nicht im Hinblick auf Siehe auch Ü Roman-Zeller-Platz, Schnelsen, eine ernsthafte Berufsoption. Ab 1900 erhielt sie seit 1995: Roman Zeller, zwölfjähriger Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- Klavier- und Kompositionsunterricht bei dem line**. Abb.: KZ-Gedenkstätte Neuengamme/Sammlung Schwarberg KZ-Gedenkstätte Neuengamme/Sammlung Abb.: Komponisten und Pianisten Alexander von Zem-

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 416

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linsky, der insbesondere ihre Liedvertonungen Tod 1945) auf eine falsche Fährte führt. Mehr schätzte und mit dem sie eine erotisch aufgela- als ein Jahrzehnt nach Gustav Mahlers Tod fand dene Lehrer-Schülerin-Beziehung verband. Hier Alma Mahler aus der Simultanität zwischen ih - zeigte sich ein lebenslanges Dilemma: die junge, ren Erinnerungen an Mahler, ihrer komplizierten schöne Frau wurde von Männern umschwärmt. Bindung an Walter Gropius, ihrer glutvollen Be- Ihre Kunst galt eher als ein standesgemäßer Zeit- ziehung mit Oskar Kokoschka und ihres von vertreib als eine auch die Gesellschaft herausfor- Franz Werfel Gebanntseins nicht heraus.“1) dernde Profession. Wie sollte eine junge Frau Ein Beispiel dafür ist ihre Reaktion auf das wie Alma da konzentriert den eigenen Weg und Gedicht „Der Erkennende“ von Franz Werfel, das das Selbstvertrauen in die eigene Schaffenskraft sie 1915 in Berlin in der Zeitschrift „Die Weißen finden? 1902 heiratete Alma Schindler den neun- Blätter“ entdeckte, als Walter Gropius Frontur- zehn Jahre älteren Komponisten und Dirigenten laub hatte: „Das Gedicht schlug über mir zusam - Gustav Mahler (siehe Ü Gustav-Mahler-Platz, in Bd. 3 men (...) ich war vollkommen gebannt und der on line**), der den gesellschaftlichen Aufstieg Seele Franz Werfels ausgeliefert. Das Gedicht ge- ge schafft hatte als Artisti- hört zu dem schönsten, was ich überhaupt ken- scher Direktor der König- ne. Ich habe, auf den Semmering zurückgekehrt, lich-Kaiserlichen Hofoper das Gedicht komponiert.“2) in Wien. Das Paar be kam Weinend, allein in seelischen Abgründen, zwei Kinder: Maria Anna hier schien Alma Mahler-Gropius ihre eigene Si- (1902–1905), die im Alter tuation wiederzuerkennen. Und Rettung aus sol- von vier Jahren an Schar- chen Nöten schien auch eine Eheschließung mit lach und Diph te rie starb, dem Dichter Franz Wer fel nicht zu garantieren, und Anna Justine Mahler den sie bereits 1917 auf einer ihrer Abendgesell- Alma Mahler-Werfel (1904–1988), Bildhauerin. schaften persönlich kennengelernt hatte und Bereits in der Verlo- den sie schließlich 1929 heiratete. So schrieb sie bungszeit hatte Mahler Alma das Komponieren an den Komponisten Alban und dessen Frau He- verboten, eine verletzende Entmutigung. Nur lene Berg, ihre langjährige Freundin: „Es ist nicht wenige Lied kom posi tio nen ließ Alma Mah ler- so herrlich – wie Ihr Euch das vorstellt. Für mich Werfel später drucken; viele ihrer Werke (Lieder ist die Ehe – ja – jede Ehe heute schon als Idee und Klaviermusik) blieben ungedruckt oder sind ein unerträglicher Zwang und ich habe lediglich verschollen. Und so spielt die Komponistin Alma äußerer Dinge wegen, diesen für mich vollkom- Mahler-Werfel heut zu tage nur eine Nebenrolle. men sinnlosen Schritt getan! (...)“3) „Erst nach dem Tod von Gustav Mahler wur- Während der Zeit des Nationalsozialismus de Alma Mahler zur Frau mit vielen Männern – emigrierte das Paar 1938 über Frankreich und und dies in einem solchen Geflecht von Über- Spanien in die USA. Nach dem Tod von Franz schneidungen, dass die Aufeinanderfolge ihrer Werfel im Jahre 1945 übernahm Alma Mahler- Verheiratungen mit Gustav Mahler (1902 bis zu Werfel die Verwaltung des künstlerischen Nach- dessen Tod 1911), Walter Gropius (1915 bis zur lasses Werfels. Sie setzte sich ebenfalls für das Scheidung 1920) [siehe Ü Gropiusring, in Bd. 3 on- Werk von Gustav Mahler ein und publizierte Brie-

line**] und Franz Werfel (1929 bis zu dessen fe und Erinnerungen. bpk –Abb.: 10007970 Nr.:

** Band 3 online unter: www.ham- 2) Susanne Rode-Breymann, burg.de/maennerstrassennamen a. a. O., S. 174. 3) Ebenda. 1) Susanne Rode-Breymann: Alma Mahler-Werfel. Muse Gattin Witwe. München 2014. S.172f. Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 417

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Am Beispiel dieser beiden Ehemänner läßt Hauses, und Amanda W. (1810–1888), Leitende sich Alma Mahler-Werfels ambivalente, diskri- Mitarbeiterin ihres Mannes minierende Haltung zu Menschen jüdischer Her- Das Rauhe Haus fungierte als Rettungshaus für kunft ablesen. Gustav Mahler konvertierte zum „verwahrloste“ „Unterschichtkinder“. Katholizismus und ließ sich 1897 in Hamburg im Kleinen Michel taufen. Franz Werfel stammte Johann Hinrich Wichern: geboren in Hamburg als ebenfalls aus einer jüdischen Familie. ältestes von acht Kindern in einem christlichen „Alma und Franz Werfel verfolgten verschie - Elternhaus. Der Vater Johann Heinrich hatte sich dene Lebenskonzepte in diesen Jahren [Anfang vom Kutscher zum Notar hochgearbeitet. Die der 1930-er Jahre; d. Verf.], waren politisch ver- Mutter, Caroline Maria Elisabeth, geb. Wittstock, schiedener Überzeugungen und führten darüber wird als energisch, fromm und praktisch be- heftige Debatten, ja gerieten immer wieder in er- schrieben. bitterten Streit über ihre unterschiedlichen Über- Wichern besuchte eine Privatschule und zeugungen, die sich auf beiden Seiten radikali- wurde dort nach den Lehren des Pädagogen Pes- sierten. Im Zuge dieser Radikalisierungen zog es talozzis unterrichtet. Später kam Johann Hinrich beide zu ihrer Herkunftsreligion zurück, Alma Wichern auf das Johanneum. Mahler-Werfel zum Katholizismus, Franz Werfel Als Wichern fünfzehn Jahre alt war, starb zum Judentum.“4) der Vater, und Wichern musste für den Lebens- Alma Mahlers Lebenserinnerungen, erstmals unterhalt der Familie mit aufkommen. Er gab 1958 publiziert unter dem Titel „And the bridge Nachhilfe; seine Mutter vermietete Zimmer und is love“, wurden heftig kritisiert, u. a. wegen anti - handelte mit Wolle. semitischer Äußerungen. Noch vor dem Abitur verließ Wichern die Text: Birgit Kiupel Schule und wurde Erzieher in einer christlichen Siehe auch Ü Gropiusring, Steilshoop, seit 1972: Erziehungsanstalt. Hier entwickelte sich auch Prof. Walter Gropius (1883–1969), Architekt in sein Selbstverständnis als Christenmensch. Er Bd. 3 online**. holte sein Abitur nach, studierte Theologie in Siehe auch Ü Gustav-Klimt-Weg, Billstedt, seit 1976: Gustav Klimt (1862–1918), Maler, in Göttingen, später in Berlin – finanziert u. a. von Bd. 3 online**. Amalie Sieveking (siehe Ü Amalie-Sieveking-Weg, Siehe auch Ü Gustav-Mahler-Platz, Neustadt, in diesem Band) – und wandte sich der christli - seit 1990: Gustav Mahler (1860–1911), Kompo- chen Erweckungsbewegung zu. nist, Dirigent am Hamburger Stadttheater, in Nach dem Examen kehrte er nach Hamburg Bd. 3 online**. zurück und wurde 1832 Oberlehrer und Leiter der u. a. von Johann Wilhelm Rautenberg (sie- Wichernsweg he Ü Rautenbergstraße, in Bd. 3 online**) initiier- Hamm-Mitte, seit 1890, benannt nach dem Theo- ten Sonntagsschule der Evangelischen Kirchen- logen Johann Hinrich Wichern, ergänzt 2001/ gemeinde im damaligen Armenviertel St. Georg. 2002 um die ebenso bedeutende Ehefrau Wichern betreute rund 400 Kinder und Jugend- Amanda Wichern. Neuer Erläuterungstext: be- liche, die „wegen der Armut ihrer Eltern oder nannt nach dem Ehepaar Johann Hinrich W. Pflegeeltern die Wochenschule nur sparsam und (1808–1881), Theologe, Gründer des Rauhen zu Zeiten gar nicht besuchten“. Nach Wicherns

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

4) Susanne Rode-Breymann, a. a. O., S. 243f. Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 418

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Auffassung lag die Hauptursache der Armut im tenberg, wo sie als Sonntagsschullehrerin tätig „zunehmenden Sittenverderben des Volks, das war, kennen und lieben gelernt. einzig und allein aus der herrschenden Irreligi- Amanda Böhme, geboren am 12. September ösität, der Verachtung des wahren Christentums 1810 in Hamburg, hatte mit ihren Eltern – ihr und dem gottlosen Unglauben entsteht“.5) Eine Vater war Direktor der hamburgischen Feuerver- weitere Ursache der Armut sah Wichern in den sicherungskasse – und Geschwistern am Besen- zerrütteten Familienverhältnissen des Proleta - binderhof gewohnt. Als Amanda dreizehn Jahre riats. alt war, starb ihre Mutter. Amanda, dunkelhaa- Als Wichern älter wurde, empfand er den rig und klein von Statur, sanftmütig und gelas- Sozialismus und die Arbeiterbewegung als eine sen, übernahm die Erziehung ihrer jüngeren Ge- Gefahr, denn er hielt beides für zu materialis- schwister – und damit war der Grundstock für tisch ausgerichtet und gottesfeindlich. ihre weitere Lebenslaufbahn gelegt. 1833 gründete Johann Hinrich Wichern in Im Rauhen Haus wohnte das junge Paar mit Hamburger Vorort Horn die Anstalt „zur Rettung Wicherns Mutter Caroline im Mutterhaus. Aman - verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“ da ging der Schwiegermutter bei der Haushalts- (Rauhes Haus). Der Hamburger Syndikus Karl führung zur Hand und wollte es der Schwieger- Sieveking (siehe Ü Sievekingdamm, in Bd. 3 onli - mutter recht machen. Doch es gab Konflikte und ne**) hatte ihm hierfür ein Bauernhaus mit so manche heimlich vergossene Träne, bis der Grundstück überlassen. Im Laufe der Zeit ka- Gatte es eines Tages bemerkte und eine Ausspra- men weitere Gebäude hinzu, dazu auch Land- che mit seiner Mutter führte. Danach übergab er wirtschaft und Werkstätten. Im Rauhen Haus seiner Frau einen Teil seiner Geldgeschäfte und sollten so genannte verwahrloste Kinder bis zur stellte für die Hilfe im Haushalt eine Küchen- Konfirmation „Zuflucht finden und Erziehung und eine Wäschefrau ein. Damit schien der Kon- bekommen, die durch die Eltern nicht geleistet flikt zwischen Schwiegertochter und Schwieger- werden konnte“. Die Kinder lebten in Gruppen, mutter bereinigt gewesen zu sein. wurden von einem Gehilfen, bzw. einer Gehil- 1836 kam Amanda Wicherns erstes Kind zur fin (Bruder/Schwester) betreut und christlich er- Welt. Dazu gesellten sich im Laufe der nächsten zogen. Sie erlernten Rechnen, Lesen und Schrei- Jahre noch weitere acht Kinder. Ein Kind starb ben und wurden auch an Handwerke bzw. bereits im Kindesalter, ein weiteres wurde im häusliche Dienste herangeführt und so auf eine Alter von 22 Jahren als Soldat im Krieg getötet. Lehre vorbereitet. Die Arbeit im Rauhen Haus reichte Wichern Nachdem Johann Hinrich Wichern 1833 mit nicht, er wollte solche „Werke rettender Liebe“ seiner Mutter und seiner Schwester ins Rauhe in ganz Deutschland anregen. Deshalb unter- Haus gezogen war, die ersten zwölf Jungen hier nahm er viele Vortragsreisen. Als 1848 die bür- untergebracht worden waren und ein Jahr später gerliche Revolution ausbrach, verurteilte er die- bereits ein weiteres Haus gebaut worden war, se als Erhebung gegen die von Gott eingesetzte wurden ab 1835 auch Mädchen im Rauhen Haus Obrigkeit. Er hatte die Vorstellung, dass die Ge- aufgenommen. Im selben Jahr heiratete Jo hann sellschaft nur durch christliche Liebe, die sich Hinrich Wichern Amanda Böhme. Er hatte die in der inneren Mission zeige, gerettet werden junge Frau in der Sonntagsschule von Pastor Rau - könne. „Im September 1848 versammelten sich

** Band 3 online unter: www.ham- Bd. 4/1, S. 205. burg.de/maennerstrassennamen

5) Peter Meinhold u. Günther Bra- kelmann: Johann-Hinrich Wichern: Sämtliche Werke, Berlin 1958, Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 419

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rund 500 Männer der evangelischen Kirche, der Mann dem Worte dient. Der Dienst bei Tische Universitäten und kirchlich interessierte Bürger ist dem Dienst des Mannes am Wort nicht unter- in Wittenberg (…). Getragen war die Zusam - geordnet, sondern nebengeordnet. Über diese menkunft von dem Wunsch, die verschiedenen Trennung jedoch darf kein Zweifel bestehen. Strömungen des Protestantismus und die ver- Die Frau hat sich nicht in den lärmenden Streit schiedenen protestantischen Landeskirchen in der Männer zu mischen, einem Kirchenbund zu vereinigen und damit und in der Kirche hat sie den politischen Forderungen nach deutscher Ein- zu schweigen. Mann und heit auf kirchlichem Gebiet zu folgen. Auch Wi- Frau gehören zueinander chern nahm an dieser (…) Versammlung teil und wie die Räder einer Ach - hielt (…) eine entscheidende Rede (…). Er rief se. Sie helfen sich gegen- (…) da zu auf, die innere Mission endlich als gro - seitig, fortzukommen. Ich ße, gemeinsame Aufgabe der evangelischen Kir- bin der Außenminister des che anzuerkennen.“6) Rauhen Hauses und Du „Wicherns christli cher Ethos floss auch in die der Finanzminister.“ Geschichte des politischen Liberalismus. Einer sei- Als in den 1850-er Amanda Wichern ner Bewunderer war Friedrich Naumann [siehe Ü Jahren das Preußische Ge - Friedrich-Naumann-Straße, in Bd. 3 online**]. “7) fängniswesen reformiert In Hamburg gründete Wichern die erste werden sollte, wurde auch Wicherns Hilfe benö- deutsche „Innere Mission“, die in Hamburg tigt. Er wandte sich gegen Zuchthausdrill und „Stadtmissi on“ hieß. Die HelferInnen besuchten dortige Misshandlungen sowie Massenunter- arme Familien, boten christlichen Lesestoff, Rat bringung und plädierte stattdessen für Einzel- und Hilfe bei der Erziehung und bei der Pflege haft. In seiner Funktion als Vortragender Rat für von Wöchnerinnen an und unterrichteten arme die Strafanstalten und das Armenwesen im Kinder. Innenministerium gründete Wi chern, der neben Während Johann Hinrich Wichern auf Rei- dieser Arbeit weiterhin die Leitung des Rauhen sen war, übernahm seine Ehefrau die vielfältigen Hauses innehatte, 1858 in Berlin das Brüderhaus administrativen Arbeiten für den Geschäftsbe- Johannisstift u. a. zur Ausbildung von Gefange- trieb des Rauhen Hauses. Sie war nicht nur – ob- nenaufsehern auf christ licher Grundlage. „Aller- wohl auch dies schon erheblich war – Mutter dings lehnten viele Experten und die liberale und Hausfrau, sie war auch Verwalterin und Ma- Mehrheit des Preußischen Abgeordnetenhauses nagerin des Rauhen Hauses und leitete das Haus die Ausbildung des Gefängnispersonals nach Wi- in Abwesenheit ihres Mannes. Auch war sie für cherns Vorstellungen ab. Sie befürchteten Indok- die im Rauhen Haus aufgenommenen Mädchen trination der Gefangenen durch eine christliche und deren Arbeitsgebiete zuständig. Aufseherschaft.“8) Nach der Abdankung des Kö- Zum Rollenverständnis zwischen Mann und nigs wurde die Gefängnisausbildung nicht ver- Frau äußerte sich Johann Hinrich Wichern wie längert; Wichern war tief enttäuscht. folgt: „Mutter zu sein, ist der erste Beruf einer 1856 waren Amanda Wichern und zwei ihrer Frau. Ihr Wirkungskreis ist das Haus. Als Organ, Töchter ihrem Mann nach Berlin gefolgt. Die an-

Abb.: „Das Rauhe Haus“ „Das Rauhe Abb.: als Diakon Gottes, dient sie dem Tisch, wie der deren Kinder waren entweder in einem Internat

** Band 3 online unter: www.ham- talog. Hamburg o. J. burg.de/maennerstrassennamen 7) Johann Hinrich Wichern. Gründer der Diakonie, a. a. O. 6) Johann Hinrich Wichern. Gründer 8) Johann Hinrich Wichern. Gründer der Diakonie. Eine Ausstellung der der Diakonie, a. a. O. Diakonie Hamburg. Ausstellungska- Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 420

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untergebracht, absolvierten eine Lehre oder leb- Siehe auch Ü Sievekingdamm, Hamm, seit ten bei der Großmutter, um in Hamburg weiter- 1945: Dr. Karl Sieveking (1787–1847), Senats- syndikus, in Bd. 3 online**. hin zur Schule gehen zu können. Im Laufe der Jahre bekam Johann Hinrich Siehe auch Ü Wicherns Garten, Hamm-Mitte, seit 1930: Johann Hinrich Wichern (1808– Wichern mehrere Schlaganfälle, seinen ersten 1881), in Bd. 3 online**. 1866. Nach seinem zweiten Schlaganfall 1871 wurde er vom Staatsdienst beurlaubt, und das Ehepaar Wichern kehrte ganz nach Hamburg Wiebkestieg ins Rauhe Haus zurück. Wichern begann an De- Rahlstedt, seit 1958. Wiebke Pogwisch: Gedicht pressionen zu leiden. 1873 übernahm sein Sohn von Detlev von Liliencron (siehe Ü Liliencron- Johannes das Vorsteheramt. 1874, nach seinem straße, in Bd. 3 online**). Motivgruppe: Lilien- dritten Schlaganfall, schied Johann Hinrich Wi- cron und Gestalten aus seinem Werk „Das Haupt chern aus dem preußischen Staatsdienst aus. des heiligen Johannes auf der Schüssel“ Sieben Jahre bis zu seinem Tod pflegte Aman -

da aufopferungsvoll ihren Mann. Am 7. April Dei gratia Domina, 1881 wurde die Achtzigjährige Witwe. Fünf Jah- Wiebke Pogwisch, Abbatissa, re später erblindete sie und starb zwei Jahre dar- Thront auf ihrem Fürstenstuhle auf am 7. Mai 1888. Vor dem adlichen Convent. Wicherns älteste Tochter Amanda Caroline Heilwig Qualen, Mette Tynen, (13.9.1836–22.3.1906) hatte mit ihrem Vater in Abel Rantzow, Geesche Ahlfeldt, engster Gemeinschaft gestanden. Sie war musi- Barbe Wohnsfleth, Drud Rugmooren, kalisch sehr begabt und half ihrem Vater bei der Benedicte Reventlow. Herausgabe nicht nur der ersten, sondern auch Diese Klosterfräulein lauschen weiterer Auflagen des weit verbreiteten Rauh- Sehr andächtig der Äbtissin, Häusler-Liederbuches, so dass sie schließlich Der Äbtissin Wiebke Pogwisch, selbst die Herausgeberin diese Sammlung deut- Dei gratia Domina. scher und volkstümlicher Lieder wurde. Sie trat Vor den Schwestern auf der Schüssel, mit Liedern auf und gab Gesangsunterricht. 1881 Und die Schüssel war von Golde, folgte sie einem Ruf in ein College in Manchester, Liegt das Haupt Johanns des Täufers, Schauderhaft aus Holz geschnitzt. 1896 kehrte sie nach Hamburg zurück und gab bis zuletzt im Rauhen Haus Gesangsunterricht. Eine Stiftung Isern Hinnerks, Siehe auch Ü Amalie-Sieveking-Weg, Elise- Sohn von Geert, dem Großen Grafen. Averdieck-Straße, Marianne-Wolff-Weg, in Als er fromm geworden, schenkte diesem Band. Isern Hinnerk diesen Kopf. Siehe auch Ü Friedrich-Naumann-Straße, Doch er machte zur Bedingung, Heimfeld, seit 1929: Dr. Friedrich Naumann Jedes Fräulein, das zur Nonne (1860–1919), Mitbegründer der DDP, Mit- Werden wollte, werden mußte, glied der Weimarer Nationalversammlung, Reichstagsabgeordneter, in Bd. 3 online**. Sollte küssen diesen Kopf. Siehe auch Ü Rautenbergstraße, St. Georg, seit Außerdem noch, wenn die Nonnen 1899: Johann Wilhelm Rautenberg (1791–1865), Diesen Kopf behalten wollten, Pastor, in Bd. 3 online**.

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Gab er sieben große Dörfer Um das Bogenfenster drängen An den adlichen Convent. All die lieben Nönnelein. Anfangs sträubten sich die Schwestern, Schauen in die Frühlingsfelder, Gar zu scheußlich war das Schnitzwerk; Hören, wie die Lerchen singen, Doch die Schüssel ist von Golde, Fern am Waldesrand ein Hufblitz Und die Dörfer bringen Zins. Sendet letzten Gruß zurück. Vor der Schüssel, vor den Frauen, Siehe auch Ü Liliencronstraße, Rahlstedt, seit Auf den Marmorfliesen knieend, 1950: Detlev Freiherr von Liliencron (1844– Betet unter heißen Schauern, 1909), preußischer Offizier, Schriftsteller, in Bd. 3 online**. Betet Caja von der Wisch. Ihre jungen blauen Augen Streifen jenes Haupt mit Grauen, Wilhelmine-Hundert-Weg Und sie kann sie nimmer küssen, Bergedorf/Allermöhe, seit 1995, benannt nach Diese blutbemalte Stirn. Wilhelmine Hundert (4.7.1896–am 8.5.1945 für Immer lebt in ihr der Abend, tot erklärt), Widerstandskämpferin gegen den Als im Wald die Vögel sangen, Nationalsozialismus, Mitglied der Hamburger Als die holden blauen Augen Widerstandsgruppe „Etter-Rose-Hampel-Gruppe“ Küßte Detlev Gadendorp. (siehe Ü Erika-Etter-Kehre, in diesem Band) Wiebke Pogwisch, die Äbtissin, Spricht zuerst mit milden Worten, Wilhelmine Hundert, die wie auch ihr Patenkind Redet dann in strengen, harten, Barbara Dollwetzel dem Widerstandskreis der Hält ihr vor das Kruzifix. „Etter-Rose-Hampel-Gruppe“ angehörte, wurde Und mit totenblassem Antlitz, am 16. Juni 1943 gemeinsam mit ihrem Paten- Zögernd langsam geht das Mädchen, kind Barbara Dollwetzel, deren Mutter und deren Neigt den kleinen Mund zum Kuss, Stiefvater verhaftet. Vom Polizeigefängnis Fuhls- Schallend klingt im Hof ein Huf. büttel wurde sie in das KZ Ravensbrück über- Sporen klirren, Türen fallen, stellt, dann auf Betreiben der Hamburger Gestapo Und die Treppe stürmt ein Ritter, im April 1945 aus dem Frauenkonzentrationsla- Vor den Schwestern beugt die Knie ger Ravensbrück in ein Arbeitskommando nach Lächelnd Detlev Gadendorp. Oranienburg gebracht und dort getötet. Hat das Mädchen rasch im Arme, Siehe auch Ü Erika-Etter-Kehre, Liesbeth-Rose- Und zwei Ärmchen schlagen hastig Stieg, in diesem Band. Sich um seinen starken Nacken – Frei! Im Sattel ruht sie schon. Steinerstarrt in ihren Sesseln Wilhelminenbrücke Sitzen stumm die Klosterfräulein, HafenCity, seit 1976 Steinerstarrt auch die Äbtissin, Dei gratia Domina. Die Brücke führt über das Kehrwiederfleet zur Straße „Am Sandtorkai“ und wurde benannt in Doch wie stets es noch gewesen, Neugier macht ein Weib lebendig; Anlehnung an den früheren Wegnamen „Wilhel- minenplatz“.

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Wohlwillstraße bensjahr vor den Kindern, die Johanna Gold- St. Pauli, seit 1948, benannt nach Anna Wohlwill schmidt und Amalie Westendarp im Fröbelverein (20.6.1841 Seesen/Harz–30.12.1919 Hamburg), und im späteren Paulsen-Stift aufnahmen, um ih - langjährige Leiterin der Schule des Paulsenstiftes nen eine gute Erziehung und Elementar kenntnis - se zu vermitteln. Es waren die Kinder der Armen, Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem für die es damals keine staatliche Schule gab. Ohlsdorfer Friedhof. Als Anna Wohlwill am 3. November 1866, Geboren wurde Anna Wohlwill als viertes von fünf erst 25 Jahre alt, mit der Leitung der Schule des Kindern des Lehrers an der Hamburger Stiftungs- Paulsenstiftes betraut wurde, stellte sie ihre schule, einer jüdischen Stiftung, und späteren ganze Kraft in den Dienst der Anstalt, die von Direktors der Jacobsen-Schule in Seesen, Dr. Im- nun an eine Entwicklung von der Armenschule manuel Wohlwill, und seiner Ehefrau Friedrike bis zur zehnstufigen höheren Mädchenschule Reichel Warburg (siehe Ü Warburgstraße, in Bd. 3 durchmachte. Die Schule war bereits 1866 keine online**). reine Armenschule mehr. Zu den aus den Kursen Der Vater starb, als Anna Wohlwill sechs übernommenen Fächern kamen naturwissen- Jahre alt war. Frau Wohlwill zog daraufhin mit schaftlicher Anschauungsunterricht und Englisch ihren Kindern nach Hamburg zurück, wohnte hinzu, 1867 Gymnastikunterricht, 1868 Pflich- mit ihnen an der Alsterchaussee und wurde von tenlehre, 1869 Maschinennähen und 1870 Fran- der mit ihr verwandten Bankiersfamilie Warburg zösisch. Schon 1866 und 1867 wurden die Leh- finanziell unterstützt. rerinnenbücherei, die Zeitschriftensammlung und Anna Wohlwill besuchte die Privatschule die Schülerinnenbücherei angelegt. Als der Staat von Herrn Kröger. Dann erhielt sie mit einigen 1871 siebenstufige Mädchen-Volksschulen er- anderen Altersgenossinnen zwei Jahre Privat- richtete, verfolgte er einfachere Lehrziele als die unterricht in Geschichte, Deutsch, Literatur, Na- der Schule des Paulsenstifts. 1880 hatte diese turwissenschaften und Mathematik. Außerdem acht Klassen mit 369 Kindern. Durch stete Ver- wurde sie von ihren Brüdern Emil Wohlwill, dem besserung der Lehrweise erfüllte die Schule in späteren Naturwissenschaftler, der die „Nord- acht Jahren die Anforderungen der damaligen deutsche Affinerie“ zu einem bedeutenden Unter - neunjährigen höheren Mädchenschule. 1881 ver- nehmen entwickelte, und Adolf Wohlwill, dem fügte die Oberschulbehörde, dass die Schule in späteren Professor für Geschichte, unterrichtet. die Sektion für höhere Schulen aufgenommen Als ihr Bruder Emil Wohlwill später heira- wurde. Die endgültige Anerkennung als höhere tete und Vater von Gretchen Wohlwill (siehe Ü Mädchenschule erhielt die Schule 1893, als sie Gretchen-Wohlwill-Platz, in diesem Band) wurde, aus Platzmangel in die Bülaustraße 20 auf ein wurde Anna Wohlwill die Tante dieses Kindes, staatliches Grundstück gezogen war. Mit der An- das später eine bedeutende Malerin wurde. erkennung als höhere Mädchenschule wurde die Nach ihrer Schulausbildung wollte Anna Schule des Paulsenstiftes „halböffentlich“ – sie Wohlwill Lehrerin werden. Da es zu ihrer Zeit diente nun als Ersatz für eine fehlende staatliche aber noch keine Lehrerinnenbildungsanstalten in höhere Mädchenschule. Auch wurde eine Frei- Hamburg gab, stand sie, ohne jemals eine Prüfung stellenstiftung für begabte Kinder aus ärmeren abgelegt zu haben, seit ihrem fünfzehnten Le- Familien gegründet. Die Stiftung vergab 20 ganze

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und 50 halbe Freistellen. 1906 bekam sie anläss- che nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine lich des 40. Dienstjubiläums von Anna Wohlwill Kriegsküche im Keller des Schulhauses ein. 25 000 MK aus den Schulersparnissen. Zugleich Nach dem Tod von Anna Wohlwill wurde erhielt sie den Namen Anna-Wohlwill-Stiftung. die an der Lehrerfortbildungsanstalt entlangfüh- Ostern 1894 war die Schule eine neunstu- rende Straße nach ihr benannt. Als 1936/37 das fige Anstalt mit 562 Schülerinnen in vierzehn Staatsamt und das Ingenieurwesen Vorschläge Klassen; zwei Jahre später, 1896, hatte sie in zur Umbenennung der nach Juden und Marxisten siebzehn Klassen 760 Schülerinnen. 1908 konn- benannten Straßen machen sollten, schlugen sie te das zehnte Schuljahr „eingeweiht“ werden. Johann-Klefeker-Straße vor. Dazu ihre Erklärung: Von Anfang an kümmerte sich die Schule „Nach ihm war früher (1801) eine Straße benannt um die Ferienerholung ihrer stärkungsbedürfti- worden, die aber in einen gen und armen Schülerinnen. Man suchte für üblen Ruf kam durch die sie Unterkünfte bei Bauern in der Umgebung Ansiedlung von Dirnen; Hamburgs und zahlte das Entgelt dafür. 1882 später (1922) wurde sie wurde für diese Zwecke die Ferienstiftung der umbenannt in ,Mauer stra - Schule des Paulsenstiftes gegründet. 47 Schüle- ße‘. Vor kurzem hat nun rinnen fuhren nach vorheriger ärztlicher Unter- ein unmittelbarer Nach- suchung zur Erholung aufs Land. Da jedoch komme von Johann Klefe- nicht jede Unterkunft bei einem Bauern vorbild- ker, der Oberst Professor lich war, wollte die Schule ein eigenes Heim S. Klefeker, Direktor der gründen. Am 7. Juni 1896 konnte dieser Plan re- Deutschen Heeresbücherei Anna Wohlwill alisiert werden, denn Laura Beit, nach deren in Berlin und Schöp fer des Sohn der Alfred-Beit-Weg (siehe Ü Alfred-Beit- Büchereiwesens des Reichsheeres, den Antrag ge- Weg, in Bd. 3 online**) benannt wurde, hatte stellt, den Namen Johann Klefeker durch Benen- dem Paulsenstift ein Ferienerholungsheim am nung einer Straße nach ihm wieder zu Ehren zu Timmendorfer Strand gestiftet. Es wurde „Olga- bringen. Da der Syndikus Johann Klefeker sich heim“ genannt nach der verstorbenen Tochter seinerzeit um Hamburg sehr verdient gemacht der Stifterin. 1906, anlässlich ihres 50-jährigen hat, und zwar im diplomatischen Dienst als Lei- Lehrerinnenjubiläums, verlieh der Senat Anna ter der auswärtigen Angelegenheiten, soll dieser Wohlwill eine goldene Denkmünze, die damit Bitte entsprochen werden.“ Der Bitte wurde zum ersten Mal einer Frau zuteil wurde. Am 1. nicht entsprochen: „Auf Grund des Erlasses des April 1911 wurde Anna Wohlwill im Alter von Reichsministers des Inneren vom 27. Juli 1938 70 Jahren pensioniert und übergab die Leitung über jüdische Straßennamen“ wurde die Anna- der Schule an Hanna Glinzer. Obwohl sie erblin- Wohlwill-Straße in Felix-Dahn-Straße umbe- det war, blieb Anna Wohlwill im Schulvorstand nannt. (Siehe weiteres dazu im Band 1 im Kapi- und erteilte weiterhin Unterricht in sozialer tel „Der Umgang mit der nationalsozialistischen Hilfstätigkeit. Außerdem förderte sie die Wald- Vergangenheit“.) schulidee und richtete zusammen mit ihrer Drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Freundin Agnes Wolffson (siehe Ü Agnes-Wolff- wurde nach Anna Wohlwill wieder eine Straße

Abb.: Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Abb.: son-Straße, in diesem Band) in der ersten Wo- benannt, diesmal im Stadtteil St. Pauli.

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Siehe auch Ü Agnes-Wolffsohn-Straße, Gret- sowie heitere und religiöse Gedanken aufs Pa- chen-Wohlwill-Platz, in diesem Band. pier. Nach zwei Jahren wurde sie entlassen und Siehe auch Ü Alfred-Beit-Weg, Harvestehude, lernte bei einem Fest ihren zukünftigen Ehe- seit 1962: Alfred Beit (1853–1906), Geländebe- mann, den Juristen Ferdinand Wuthenow ken- sitzer, verdient im gemeinnützigen Bereich, in Bd. 3 online**. nen. Sein Freund und auch der Pastor rieten ihm von einer Ehe mit Alwine ab. Doch Ferdinand Siehe auch Ü Warburgstraße, Rotherbaum, seit 1947: Max Warburg (1867–1946), Bankier, in Wuthenow ließ sich nicht beirren, und so fand Bd. 3 online**. 1843 die Hochzeit zwischen Alwine Balthasar und Ferdinand Wuthenow, der zum Bürgermeis- ter von Gützkow avanciert war und später Kreis- Wuthenowstraße richter wurde, statt. Fortan traten Alwines Angst- Jenfeld, seit 1947, benannt nach Alwine Wuthe- zustände nicht mehr auf, denn nun hatte sie now, geb. Balthasar, Pseudonym: Annmariek wieder eine Heimat, eine enge Bezugsperson. Schulten (16.9.1820 Neuenkirchen b. Greifswald– Das Paar bekam fünf Kinder. 8.1.1908 Greifswald), niederdeutsche Schriftstel- „Im Jahre 1848 schwappte die Welle der Re- lerin aus Pommern volution [gemeint ist die bürgerliche Revolution von 1848, die demokratische Reformen forderte] Alwine Balthasar wuchs in einer Pastorenfamilie auch nach Pommern. Pastor Balthasar als geist- auf. Der Vater Johann Carl Balthasar war Super- liches Haupt des Städchen Gützkow wurde wie intendent in Gützkow, die Mutter Ida Johanna sein Schwiegersohn, der Bürgermeister Wuthe- Dorothea, geb. Otto, entstammte ebenfalls einer now, vom rasenden Pöbel bedroht, Wuthenow Pfarrersfamilie. sogar für abgesetzt erklärt. Er konnte durch sein Fast ihr ganzes Leben litt Alwine an einer, mutiges, besonnenes Auftreten verhindern, dass wie es damals hieß, Geisteskrankheit, die sich ihm und seiner Familie ein Leid zugefügt wurde zeitweilig in Zwangsvorstellungen und Angstzu- – seine größte Sorge galt Alwine, die kurz vor ständen äußerte, was zu mehrfachen Aufenthal- der Niederkunft stand und um das Leben ihres ten in „Nervenheilanstalten“ führte. Die ersten Mannes und ihres Kindes zitterte. (…) Als sich Angstzustände waren nach dem Tod der Mutter die Wogen wieder geglättet und weder Pastor aufgetreten – Alwine war damals sieben Jahre noch Bürgermeister ernstlichen Schaden erlitten alt gewesen und so handelte es sich hier wohl hatten, schwanden auch Alwines Ängste. um ausgeprägte Verlassenheitsängste. Ein Jahr später wurde Wuthenow ans Greifs- Nach dem Tod der Mutter heiratete der Vater walder Kreisgericht versetzt. Hier kamen bei Al- er neut, aber auch die Stiefmutter, die sich liebe - wine plötzlich die alten Zwangsvorstellungen in voll um Alwine kümmerte, konnte ihr nicht helfen. so heftiger Weise wieder, dass sie erneut in eine Zwecks einer schulischen Ausbildung kam Heilanstalt gebracht werden musste. Gesund ist Alwine in Pension zu dem Greifswalder Profes- sie nie wieder geworden. Viele Jahre musste sie sor Hornschuh. Im Alter von sechzehn Jahren in Anstalten verbringen; die Aufenthalte bei ih - wurde sie in eine „Heilanstalt“ eingewiesen. rem Mann und ihren später fünf Kindern waren Dort begann sie zu schreiben. Sie verfasste Ge- nur von kurzer Dauer, aber Ferdinand stand treu

dichte auf Platt und brachte Naturbetrachtungen zu ihr. wikipedia, http://de.academic.ru Abb.:

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Sobald die schlimmsten Zustände vorüber Herausgabe ihrer hochdeutschen Gedichte, die waren, griff Alwine zur Feder,“9) heißt es in einer auch gern gelesen wurden, hinter den plattdeut- Biographie über Alwine Wuthenow, veröffent- schen aber zurückstehen. Eine dritte Auflage der licht im Kulturportal West–Ost der Stiftung deut- Blomen wurde nötig; 1896 erschien eine neue sche Kultur im östlichen Europa – OKR. Sammlung, die ihre besten Gedichte und einige Alwine Wuthenow veröffentlichte 1855 und noch unveröffentlichte enthielt“.10) 1856 in Fritz Reuters (siehe Ü Fritz-Reuter-Straße, in Auch der Dichter Klaus Groth (siehe Ü Klaus- Bd. 3 online**) Unterhaltungsblatt plattdeutsche Groth-Straße, in Bd. 3 online**) schätzte die Wer- Gedichte. 1858 gab er, der mit Alwine Wuthe- ke der Autorin. nows Ehemann befreun- Trotz ihres literarischen Erfolges konnte Al- det war, auch den ersten wine jahrelang nur kurz die „Anstalt“ verlassen. selbstständigen Band ih - Erst 1874, sie war 54 Jahre alt, durfte sie für rer Gedichte heraus. Die- immer nach Hause zurückkehren, ohne als ge- se erschienen unter einem heilt angesehen zu werden. „Acht glückliche Pseudonym. „(…) die ein- Jahre konnte sie an der Seite ihres Mannes ver- fachen Worte (…) trafen bringen, bis er 1882 starb. Alwine erholte sich die Leser ins Herz. Briefe nur langsam von dem schweren Verlust, aber von Bewunderern flatter- auch diese Situation bewältigte sie, indem sie ten in die Heilanstalt, und schrieb. 26 Jahre blieben ihr noch, in denen sie Alwine Wuthenow Alwine war fast glücklich. bei ihrer jüngsten Tochter in Greifswald lebte, Schnell war das Buch ver- ihre Kraft im Gebet fand und dichtete.“11) griffen‚ und 1860 erschien eine zweite Auflage. Siehe auch Ü Fritz-Reuter-Straße, Bramfeld, seit Im Jahr darauf gab Reuter eine weitere Gedicht- 1890: Fritz Reuter (1810–1874), Schriftsteller, sammlung Alwines heraus, die den Titel trug: in Bd. 3 online**. ‚Nige Blomen ut Annmariek Schulten ehren Go- Siehe auch Ü Klaus-Groth-Straße, Borgfelde, seit 1899: Klaus Groth (1819–1899), nieder- ren von A. W.‘ Alwine selbst übernahm 1862 die deutscher Dichter, in Bd. 3 online**. Y

Yvonne-Mewes-Weg Stolpersteine vor dem Wohnhaus Meerweinstra - Alsterdorf, seit 1985, benannt nach Yvonne Mewes ße 1 und vor der Wirkungsstätte Heilwig gym na - (22.2.1900 Karlsruhe–6.1.1945 im Frauenkon zen - sium Isestraße 146. trationslager Ravensbrück) Lehrerin, leistete, Ihr Grabstein steht im Garten der Frauen auf dem ohne einer Widerstandsgruppe anzugehören, Wi - Ohlsdorfer Friedhof. derstand. Motivgruppe: Verfolgte des National- Yvonne Mewes stammte aus einer bürgerlichen sozialismus und Terroropfer gebildeten Familie. Sie war die erste von vier

** Band 3 online unter: www.ham- 10) Ebenda. burg.de/maennerstrassennamen 11) Ebenda.

9) http://kulturportal-west- ost.eu/biographien/wuthenow-al- wine-2 Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 426

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Töchtern des Ehepaares Dr. Wilhelm Mewes und die Gespräche politisch, die Teilnehmer lasen Hermine Mewes. Wilhelm Mewes war Zahnarzt, Hitlers „Mein Kampf“. Eine Teilnehmerin wollte er hatte in Hamburg in der Gelehrtenschule Jo- eine Frau jüdischer Herkunft ausschließen, Yvon- hanneum das Abitur abgelegt, sein Enkel Harry ne Mewes setzte sich dafür ein, dass diese in der berichtet, dass er viel las, u. a. Werke in lateini- Gruppe bleiben konnte, die andere verließ das scher Sprache.1) Kränzchen. Yvonne Mewes wurde in Karlsruhe geboren. Ab 1933 geriet Yvonne Mewes in der Schule Bis 1919 lebte die Familie in Straßburg im Elsass. unter Druck. Es wurde von ihr erwartet, dass sie Im Zusammenhang mit den Auswirkungen des der NSDAP beitrat. Sie weigerte sich und ver- Versailler Vertrags verließen sie, wie Harry schleierte keineswegs ihre Abneigung gegenüber Mewes schrieb, „als patriotische Deutsche“ das dem NS-Regime und seiner Ideologie. Diese Hal- Elsass und zogen nach Hamburg. Hier bewohn- tung hatte zur Folge, dass sie nicht zur Studien- ten sie eine Villa am Grindelberg 42. Wilhelm rätin ernannt wurde, sondern Studienassessorin Mewes praktizierte in der ersten Etage und hatte blieb. Ihre ehemalige Schülerin Ursula Randt ein kleines Labor. Seine Ehefrau oder seine schreibt, dass sie „eine hervorragende Franzö- Töchter gingen ihm zur Hand. sisch-Lehrerin“ gewesen sei. Um dem wachsen- Yvonne Mewes studierte von 1920 bis 1925 den Druck etwas entgegenzusetzen, machte Philologie in Hamburg und München. Sie legte Yvonne Mewes Ausflüge und weite Fahrradtou- 1925 das Staatsexamen ab und 1927 die Lehr- ren und bot damit auch ihrem Neffen Erholung amtsprüfung. von der ihn belastenden Situation als „Mischling Ihre jüngere Schwester Gertrude, geboren 1. Grades“ in der Schule Johanneum. Sie nahm 1904, ging in die Lehre bei einer Hutmacherin. auch Anteil an dem Schicksal der anderen jüdi- Sie verliebte sich in Imre Szanto, einen jungen schen und „halbjüdischen“ Kinder in der Schule Ungarn jüdischer Herkunft, Geschäftsmann und ihres Neffen, und sie war empört über die Bü- Sohn eines Rechtsanwalts. Als Gertrude Mewes cherverbrennung 1933 und die „Reichskristall- schwanger wurde, erlaubten seine Eltern nicht, nacht“ 1938. dass er sie heiratete. Als Gründe gaben sie seine 1938 wurde Yvonne Mewes auf eigenen Jugend an und dass die Verbindung „außerhalb Wunsch in den Staatsdienst übernommen. Sie seiner Religion“ sei. 1923 wurde Harry als un- unterrichtete an der Schule Curschmannstraße. eheliches Kind geboren. Er wuchs auf im Haus Sie weigerte sich aber, in den Kriegsjahren an seiner Großeltern und Tanten. Eine enge Bezie- der Kinderlandverschickung teilzunehmen, weil hung hatte er zu seiner Tante Yvonne. sie dann ihren Unterricht nicht mehr in ihrem 1928 erhielt Yvonne Mewes eine Stelle als Sinne gestalten könne, sondern unter dem Ein- Lehrerin in der Heilwig-Schule, die damals noch fluss der Hitler-Jugend stehe. Als Folge dieser Wei- privat und evangelisch-lutherisch war. Sie unter- gerung wurde sie an die Caspar-Voght-Schule richtete die Fächer Englisch und Französisch. versetzt und 1942 wieder zurück an die Heilwig- Bei ihr traf sich regelmäßig das „Italienische Schule, die inzwischen staatlich geworden war. Kränzchen“. Es war aus den Italienisch-Vorle- Der Schulleiter der Heilwig-Schule, Dr. Hans sungen des Dr. Meriggi hervorgegangen, der als Lüthje, schrieb am 4. Juni 1943 in einem Bericht „antifaschistisch“ galt. Im Laufe der Zeit wurden an die Schulbehörde über Yvonne Mewes: „Ein

1) Für den gesamten Beitrag schrieben 1945/46); Exponate in der Randt, Bericht des Schulleiters Dr. Mewes: Harry Mewes Santo: Vom Ausstellung „Die Heilwigschule im Hans Lüthje vom 4.6.1943, Begleit- Dritten Reich zur Neuen Welt, Auto- ,Dritten Reich‘ und ihr Neuaufbau schreiben des Schulleiters Dr. Hans biographie (unveröffentlicht, liegt als nach 1945“ vom 21.1.2007 bis 14.2. Lüthje vom 4.9.1943; Ursel Hoch- CD vor); Harry Mewes Santo: Bericht 2007; Aufzeichnungen von Frau Ha- muth, Hans-Peter de Lorent: Schule aus New York (wahrscheinlich ge- gedorn, Aufzeichnung von Dr. Ursula unterm Hakenkreuz, Hamburg 1985; Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 427

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bis zum Fanatismus wahrheitsliebender Mensch, Gesuch ab. Sie erhielt den Befehl, bis zum 20. Ja- der keine Bindung anerkennt und anerkennen nuar 1944 wieder nach Hamburg zurückzukeh- will, sich rücksichtslos gegen alles stemmt, was ren und zu unterrichten. Sie hatte dort keine nach Zwang aussieht, sich mit allen Kräften Woh nung mehr. Die schriftliche Zusage, dass sie gegen die notwendigen Anforderungen der Ge- zunächst im Nachtwachenzimmer der Heilwig- meinschaft sträubt. Sie ist alles in allem der Pro- Schule unterkommen könne, wurde nicht ein- totyp eines Individualisten, in ihre Ideen ver- gehalten. Harry Mewes Santo: „Die Walddörfer rannt, schwer, wenn überhaupt, belehrbar und Schule für Mädchen, wo sie sich melden soll, hat anderen Gedanken kaum zugänglich ... Mewes keine Verwendung für sie. Verärgert umsonst ent- ist in ihrer Sucht, jeglicher Bindung auszuwei- wurzelt zu sein, um bei einer Schule, die sie nicht chen, auch nicht der NSDAP beigetreten.“ braucht, anzutreten, folgt sie dennoch dem Be- Ende Juli 1943 wurde ihre Wohnung in der fehl des Schulamts, beim Meerweinstraße durch Bombenangriffe zerstört, Kinderlandverschickungs- ihre Bibliothek und ihre literarischen Texte, heim der Heilwig-Schule Grundlagen ihrer beruflichen Tätigkeit, ver- in Wittstock an der Dosse brannten. Sie verließ Hamburg und fand gemein- zum Dienst anzutreten.“ sam mit ihren Eltern Aufnahme bei ihrer jüng- Ihre ehemalige Kolle- sten Schwester in Passau. Dort begann Yvonne gin Anni Kuchel erinnerte Mewes wieder zu unterrichten und hoffte, von sich im Jahr 1985, dass der Hamburger Schulbehörde die Erlaubnis zu Schulleiter Lüthje bemüht bekommen, in Passau bleiben zu dürfen. Ihr Ge- gewesen sei, Yvonne Me- such sandte sie unter Einhaltung des Dienstwe- wes zu „helfen“, sie wer- Yvonne Mewes ges an den Schulleiter Hans Lüthje, der es mit ei- de „von NS unbehelligt nem Begleitschreiben vom 4. September 1943 an bleiben“, wenn sie in Wittstock unterrichte. Er die Schulbehörde weiterleitete. In diesem Schrei- habe ihr eine Wohnmöglichkeit verschafft, wo ben zitierte er seinen vorangegangenen Brief an sie allein leben konnte, und sich eingesetzt, „um Yvonne Mewes: Er habe darauf hingewiesen, die Behörde zu beruhigen“. Yvonne Mewes litt dass es Lehrern verboten sei, sich selbst eine Stel - unter den Bedingungen und begab sich in Be- le zu suchen, und habe ihr verschiedene Mög- handlung bei einem Nervenarzt. Sie ließ sich je- lichkeiten vorgeschlagen: Sie könne ausscheiden doch kein Attest geben, das ihr Dienstunfähig- aus dem Schuldienst, zurückkehren nach Ham- keit bescheinigt hätte. burg „und zwar sofort“, bleiben in Passau und Ursula Randt erinnerte sich, dass ihre Leh- an der Jungenschule unterrichten oder in Passau rerin den Aufenthalt in Wittstock nur „mit gro- Hamburger Schulkinder unterrichten. ßem Widerstreben“ ertrug. Sie schilderte eine Yvonne Mewes hatte in Passau nach dem Situation im Frühsommer 1944. Es war in der Verlust ihrer Wohnung wieder eine Wohnmög- Französischstunde im HJ-Heim. Die Fenster stan - lichkeit, eine Stelle an einer Jungenschule, und den offen, und die Wittstocker HJ war draußen sie lebte in der Nähe ihrer Schwester und deren zum Dienst angetreten, laute Kommandos wa ren Familie, sie hoffte, in dieser neuen Existenz blei- zu hören. „Plötzlich wandte sich Yvonne Mewes

Abb.: Aus: Herbert Diercks, Friedhof Ohlsdorf. Auf den Spuren von Naziherrschaft und Widerstand, Hamburg 1992. Hamburg Widerstand, und Naziherrschaft von Spuren den Auf Ohlsdorf. Herbert Aus: Friedhof Diercks, Abb.: ben zu können, aber die Schulbehörde lehnte ihr brüsk um, schlug die Fenster heftig zu und sagte

Reiner Lehberger: Kinderlandverschi- kreuz, Hamburg 1986, S. 370–381; Abendblatt“, Nr. 165, S. 3 vom 18./19. ckung: „Fürsorgliche Aktion“ oder Rita Bake, Brita Reimers: Stadt der Juli 1998. „Formationserziehung“, in: R. Leh- toten Frauen, Hamburg 1997, S. 307f; berger, H.-P. de Lorent (Hrsg.): „Die Brief von Anni Kuchel vom 4.6.1985; Fahne hoch“, Schulpolitik und Schu- Edith Oppens: „Sich selber treu“, in lalltag in Hamburg unterm Haken- „Die Welt“, 29.8.1950; „Hamburger Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 428

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dann zornig, zu uns gewandt: Das ist ja nicht zu nommen sei und sich im Polizeigefängnis Fuhls- ertragen! Bei dem Gebrüll dieser sogenannten büttel befinde. Er brachte jeden zweiten Sonn- Führer kann man unmöglich unterrichten!“ abend ein Paket für sie zum Gefängnis und gab Aus den Quellen ist nicht genau zu erken- es dort ab, sehen durfte er sie nicht, und auf nen, ob Yvonne Mewes plötzlich abreiste, wie seine Fragen erhielt er keine Antwort. eine ehemalige Schülerin meinte beobachtet zu „Drei Monate sind schon seit Yvonnes Ver- haben, oder ob sie von einem Aufenthalt in haftung verstrichen, und wir sehen keinerlei Hamburg nicht wieder nach Wittstock zurück- Vorwärtskommen. Ich habe mich mit allen an kehrte. ihrer Schule, der Behörde und dem Gericht, die Am 15. Juli 1944 schrieb sie ihre Kündigung irgendeinen Einfluss auf den Fall haben könn- aus dem Schuldienst. Ihrer Familie teilte sie mit, ten, in Verbindung gesetzt und sie gebeten, sich dass sie nervlich überfordert sei. Ihr Brief endet für sie einzusetzen. Zu meinem Erstaunen teilt mit den Worten, die ihr Neffe Harry Mewes San - Herr Heinz, der Anklagevertreter, mir mit, dass to in seiner Autobiographie zitiert: „Ich habe alle das Gericht schon vor einiger Zeit die Klage Anstrengungen gemacht auf rechtliche Weise gegen Yvonne wegen ungenügendem Grund zur aus meinem bisherigen Dienstverhältnis freizu- Verurteilung eingestellt hat. Das klingt zwar er- kommen. Es ist mir nicht geglückt, und ich habe mutigend, hat aber bisher noch nicht zu ihrer den Eindruck, dass man von Seiten der Behörde Entlassung geführt. Im Gegenteil habe ich ge- darauf wartet, dass ich mich ins Unrecht setze. hört, dass gewisse Leute am Schulamt empfoh- Wenn ich dies mit dieser Kündigung tue, so ist len haben, sie für einen weiteren Monat in ein es meinerseits ein Schritt der Verzweiflung, denn Erziehungslager zu schicken um ihr Gehorsam ich kann es mit meinem Gewissen nicht verein- beizubringen.“ baren, da versagen zu müssen, wo ich früher Bei einem Gespräch in der Schulbehörde etwas leisten konnte.“ Sie wurde mehrfach in eine Woche vor Weihnachten 1944 gab sein Ge- der Schulbehörde verhört. Die Kündigung war sprächspartner zu, dass er auch die lange Haft- keine strafbare Handlung. Da die Schulbehörde zeit besorgniserregend fände. Von Seiten der Be- ein Exempel statuieren wollte, wurde der Reichs- hörde sei vor zwei Monaten beantragt, sie in ein statthalter Karl Kaufmann eingeschaltet. Erst die „Erziehungslager des Arbeitsamtes“ zu überfüh- Verweigerung eines Arbeitseinsatzes hätte ge- ren. Er werde dem Reichsstatthalter nahe legen, richtlich verfolgt werden können. In diese Falle sich persönlich der Angelegenheit anzunehmen. ging Yvonne Mewes nicht, sie kam dem Befehl Die Hoffnung auf baldige Entlassung wurde zum Einsatz in der Flickstube der NS-Frauen- bitter enttäuscht. Am 25. Dezember 1944 erfuhr schaft nach. Daraufhin übergab die Schulbe- Harry Mewes Santo, dass Yvonne Mewes nicht hörde den „Fall Mewes“ der Gesta po. Wesent- mehr in Fuhlsbüttel sei. Auf seine Frage erhielt liches Gewicht hatte bei diesem Vorgehen der er nur die Anweisung, sich an die Gestapo zu Bericht des Schulleiters vom 4. Juni 1943. wenden. Das erschien ihm jedoch zu riskant in Als Yvonne Mewes am 7. September 1944 seiner Situation als „Mischling 1. Grades“. von der Behörde nicht zurückkam, erfuhr ihr Die Ungewissheit hatte ein Ende, als im Janu- Neffe Harry auf telefonische Nachfrage, dass ar der Briefträger bei ihren Halbschwestern in Al- seine Tante von der Gestapo „in Schutzhaft“ ge- tona die Urne mit der Asche von Yvonne Mewes Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 429

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zustellte. In der beigefügten Todesurkunde des lichen Notstand“ gehandelt habe. Er habe ge- Standesamtes von Ravensbrück wurde als Todes- wollt, dass Yvonne Mewes in ein Arbeitserzie- ursache „Herzschwäche“ angegeben. hungslager gebracht werde, habe jedoch „Kon- Im Jahr 1950 fand ein Schwurgerichtspro- zentrationslager“ geschrieben. zess gegen Dr. Hasso von Wedel und Prof. Dr. Im Jahr 1953 folgte der Revision des Staats- Ernst Schrewe, die früheren Leiter der Schulbe- anwaltes der zweite Prozess gegen Hasso von hörde Hamburg, statt. Es wurde 11 Tage lang Wedel. Eine Zeugin, die mit Yvonne Mewes im verhandelt, der Schulleiter Lüthje wurde als Gestapogefängnis Fuhlsbüttel war, sagte aus, Zeuge geladen. Das Verfahren endete mit Frei- dass sie „nicht unaufrichtig“ sein konnte. Von spruch. Ernst Schrewe wurde freigesprochen, da Wedel führte an, er fühlte sich durch den „Starr- gegen ihn kein Tatverdacht gefunden wurde. sinn gezwungen, ein Exempel zu statuieren“. Hasso von Wedel wurde freigesprochen, da er Das Urteil lautete 8 Monate Haft für von Wedel. nach Erkenntnis des Gerichts im „übergesetz- Text: Stolperstein-Initiative Hamburg-Winterhude Z

Zassenhausweg der Hamburger Briefprüfstelle. Ihre Aufgabe war Iserbrook, seit 2007, benannt nach Hiltgunt Zas- es, alle nach Kriegsbeginn ins Ausland gehenden senhaus (10.7.1916 Hamburg–20.11.2004 Bal - Briefe zu prüfen. So hatte sie Briefe von polni- timore), Dolmetscherin für skandinavische Spra- schen Juden aus den Ghettos zu vernichten, chen, Ärztin, betreute während des Zweiten wenn darin Bitten um Essen und Kleidung ge- Weltkrieges in Hamburg zahlreiche skandinavi- äußert wurden. Sie schmuggelte jedoch die Brie- sche Kriegsgefangene und genoss in diesen fe heimlich an die Adressaten. Ländern hohe Anerkennung, seit 1986 Trägerin Als norwegische und dänische Gefangene ins der Hamburgischen Ehrendenkmünze in Gold, Zuchthaus Hamburg-Fuhlsbüttel gebracht wur- seit 1990 Ehrensenatorin der Universität Ham- den, wurde Hiltgunt Zassenhaus als Dolmetsche- burg, Gegnerin des Nationalsozialismus rin zur Besuchsüberwachung und Briefzensur von 1254 norwegischen und dänischen Gefange- Aufgewachsen in einer Familie aus dem Bildungs- nen verpflichtet. Sie unterstützte heimlich die bürgertum (der Vater Direktor einer höhe ren Gefangenen, brachte ihnen unter Lebensgefahr Mädchenschule), ging Hiltgunt Margret Zassenhaus Lebensmittel, Briefe und Medikamente ins Zucht- nach dem Abitur 1935 für achtzehn Monate nach haus und betreute in einem beispiellosen Einsatz Dänemark. Anschließend studierte sie an der Ham - „ihre“ Gefangenen auch dann noch weiter, als sie burger Universität Skandinavistik und wurde in andere Gefängnisse verlegt wurden. 1938 Diplom-Übersetzerin für skandinavische Hiltgunt Zassenhaus, die 1943 mit einem Sprachen. 1938 bekam sie eine Anstellung bei Medizinstudium begann, erarbeitete auch eine Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 430

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Geheimkartei, die Namen und Informationen war. Ich erfuhr nun, dass Hitler nicht mehr lebte, von über 1000 dänischen und norwegischen Ge- dass aber sein Geist – oder richtiger – sein Un- fangenen enthielt. Als bei Kriegsende die Gefahr geist nicht ausschließlich ein deutsches Phäno- drohte, dass die Gefangenen ermordet werden, men gewesen ist. Man findet es überall in dieser übermittelte sie dem schwedischen Roten Kreuz Welt, wo immer wir Herz und Sinn verschließen ihre geheime Kartei. Dank dieser Kenntnisse und Mauern errichten aus Hass, Vorurteilen, Un- konnte Graf Folke Bernadotte (siehe Ü Bernadotte - wissenheit und vor allem aus Gleichgültigkeit. straße, in Bd. 3 online**) diese gefangenen Nor- Ich persönlich kann auch heute nur der Stimme weger und Dänen in letzter Minute aus Deutsch- mei nes Gewissens folgen land herausholen. bei der Suche nach einem Nach Kriegsende setz te sie ihr Medizinstu- Weg zur friedli chen Co- dium fort, emigrierte 1952 in die USA und eröff- Existenz unserer Mensch- nete eine Praxis in Baltimore. heits-Familie. Ich kam als Ihr Buch „Ein Baum blüht im November“, Deutsche auf die Welt, in dem sie ihre Erinnerungen aufzeichnete, ist und jetzt bin ich Amerika- ein Dokument der Menschlichkeit und Zivilcou- nerin, aber die Staatsbür- rage. Es erhielt 1981 den Evangelischen Buch- gerschaft meiner Wahl ist preis. Anlässlich der Verleihung der Hamburgi- es, ein Mensch zu sein. schen Ehrendenkmünze in Gold an Hiltgunt Die großen unverges- Zassenhaus am 24. Januar 1986 hielt sie eine senen Augenblicke des Le- ergreifende Rede. „Ich erinnere, wie meine Mut- bens sind die, in denen ter uns die Worte Albert Schweitzers von der wir zueinander finden. Da - Ehrfurcht vor dem Leben erklärte. Doch fand ich zu muss ich Ihnen von ei- Hiltgunt Zassenhaus – Gipsmodell, erstellt damals die Geschichte von dem Tanz um das nem Erlebnis berichten aus 2008 von der Bildhaue- goldene Kalb so viel spannender und verstand der Zeit, der wir heute hier rin Doris Waschk-Balz noch nicht, wa rum mein Vater uns anschließend gedenken. Ich hörte davon für das Gymnasium Allee in Hamburg-Altona gefragt hatte: ‚Seht Ihr nun, dass wir den Mut an einem Weihnachtstag haben müssen, uns unseres eigenen Verstandes mitten im Krieg, als ich norwegische Gefangene zu bedienen?‘ (…) Noch etwas bleibt mir unver- im Zuchthaus besuchte. Einer der Norweger gessen: Wenn immer ich versuchte zu helfen, teilte sei ne Zelle mit einem anderen Gefange- wurde mir geholfen: In jenen Jahren erfuhr ich, nen; der hatte einen gelben Stern auf seiner welch ungeahnte Kräfte in uns wohnen, wenn Zuchthaustracht, denn er war Jude. Sonst unter- wir nur klar erkennen, welchen Weg wir gehen schied sie nichts; sie waren von unbestimmba- müssen. Schon bald nach dem Krieg verließ ich rem Alter, das Gesicht von Hungerödemen ge- Deutschland, und oft hat man mich gefragt, schwollen und die Beine voller Geschwüre, so warum: Ich wollte einen neuen Anfang. Ich mus- dass sie kaum gehen konnten. ste vergessen, was ich so unmittelbar erlebt hatte Es war Heiligabend; sie saßen eingeschlos- an sinnlosem Leid und Sterben, ja – und auch an sen in ihrer Zelle und warteten, denn heute an mensch lichem Versagen! Doch bald schon ver- diesem besonderen Tage würde es eine Extra- stand ich, dass meine Lehrzeit nicht zu Ende Scheibe Brot geben! Endlich ging die Klappe he-

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runter, doch hindurch kommen nicht zwei Zylberbergstieg Scheiben, sondern nur eine, und dazu die Schnelsen, seit 1992, benannt nach Ruchla Zyl- Stimme des Gefängnisbeamten: ‚Also die ist für berberg. Polin aus Zawichost. Mit neun Jahren Dich, Norweger. Der Jude bekommt nichts. Der Opfer des Nationalsozialismus. Kindermord in hat Deinen Jesus umgebracht!‘ Die Klappe geht der Schule am Bullenhuser Damm zu – und in der Stille des Heiligabends nimmt der Norweger seine Scheibe Brot, bricht sie in Ruchla Zylberberg war die Tochter eines Schuh- zwei Hälften und teilt sie mit dem Gefangenen machers. Dieser flüchtete vor den Deutschen mit dem gelben Stern. Der bricht in Tränen aus nach Russland und wollte und fragt: ‚Warum gibst Du mir das?‘ Der Nor- seine Familie nachholen, weger antwortet: ‚Weil Du mein Bruder bist.‘ aber die Einwanderungs- Ich glaube, das ist der Weg, den wir als Men- erlaubnis erreichte die Fa- schen gehen müssen. Es kann dem Staat nicht milie zu spät. Die Mutter überlassen bleiben, was in uns selbst wach sen wurde mit ihren beiden muss. Zu oft glauben wir, dass wir als einzelne Töchtern nach Auschwitz machtlos sind, wo ich doch weiß aus eigenem deportiert, wo sie und die Erleben, dass letztlich unsere Gedanken und jüngere Tochter ermordet unser Tun die Geschichte der Menschheit schrei- wurden. Ruchla wurde ins ben. In jedem von uns sind ungeahnte Möglich- KZ Neuengamme gebracht. keiten zum Guten oder zum Bösen. Es ist an uns Nach dem Krieg suchte zu entscheiden, ob wir sie in den Dienst des Le- der Vater seine Familie. Er Ruchla Zylberberg bens stellen.“1) wanderte nach Deutsch- Siehe auch Ü Albert-Schweitzer-Ring, Tonndorf, land und dann in die USA aus. seit 1975: Albert Schweitzer (1875–1965), Arzt, Siehe auch Ü Geschwister-Witonski-Straße, Jac- Theologe, Kulturphilosoph, in Bd. 3 online**. queline-Morgenstern-Weg, Lelka-Birnbaum- Siehe auch Ü Bernadottestraße, Ottensen, seit Weg, Riwka-Herszberg-Stieg, Wassermannpark, 1948: Folke Bernadotte, Graf von Wisborg Zylberbergstieg, Zylberbergstraße, in diesem (1896–1948 ermordet), Präsident des Schwedi- Band. schen Roten Kreuzes, Vermittler der Vereinten Siehe auch Ü Brüder-Hornemann-Straße, Nationen in Palästina, in Bd. 3 online**. Schnelsen, seit 1993: Alexander und Eduard Hornemann, acht und zwölf Jahre alt, nieder- ländische Opfer des Nationalsozialismus, in Zweite Luisenbrücke Bd. 3 online**. Hamm-Süd, seit 1930, siehe Luisenweg. Die Brü- Siehe auch Ü Eduard-Reichenbaum-Weg, Schnel - sen, seit 1993: Eduard Reichenbaum (1934– cke führt beim Luisenweg über den Südkanal 1945), zehnjähriges polnisches Kind, Opfer des Siehe auch Ü Luisenweg, in diesem Band. Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Großmannstraße, Rothenburgsort, Siehe auch Ü Georges-André-Kohn-Straße, seit 1893. P. H. W. Großmann (1807–1886), Schnelsen, seit 1992: zwölfjähriges Opfer des Senator, in Bd. 3 online**. Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Jungliebstraße, Schnelsen, seit 1995: zwölfjähriger Jugoslawe, Opfer des Na-

Abb.: KZ-Gedenkstätte Neuengamme/ Sammlung Schwarberg Abb.: tionalsozialismus, in Bd. 3 online**.

** Band 3 online unter: www.ham- burg.de/maennerstrassennamen

1) Hiltgunt Zassenhaus: Ein Baum blüht im November. 2. Aufl. Hamburg 1982. Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 432

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Siehe auch Ü Marek-James-Straße, Schnelsen, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- seit 1995: Marek James, sechs Jahre alter Pole, line**. Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 on- Siehe auch Ü Günther-Schwarberg-Weg, Schnel- line**. sen, seit 2013: Günther Schwarberg (1926– Siehe auch Ü Marek-Steinbaum-Weg, Schnel- 2008), Autor, Journalist, recherchierte und sen, seit 1993: Marek Steinbaum, zehn Jahre schrieb über das Schicksal der 20 jüdischen alter Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Kinder, die am 20.4.1945 in der Schule Bullen- Bd. 3 online**. huser Damm ermordet wurden, in Bd. 3 on- line**. Siehe auch Ü Roman-Zeller-Platz, Schnelsen, seit 1995: Roman Zeller, zwölfjähriger Pole, Opfer des Nationalsozialismus, in Bd. 3 online**. Siehe auch Ü Sergio-de-Simone-Stieg, Schnel- Zylberbergstraße sen, seit 1993: sieben Jahre alter Italiener. Schnelsen, seit 1992. Siehe Zylberberstieg

Nachtrag: Straßennamen, benannt nach Redaktionschluss

Abelke-Bleken-Ring Ratsherrn Johann Huge überschrieben. Auslöser Ochsenwerder, seit 2015, benannt nach Abelke hierfür waren möglicherweise die Folgen der Bleken (Geburtsjahr unbekannt, verstorben 1583), Allerheiligenflut von 1570 gewesen; diese wohl Einwohnerin und Hofbesitzerin in Ochsenwerder; schwerste Flut des 16. Jahrhunderts hatte schwe- wurde im März 1583 vor dem Niedergericht re Schäden verursacht, sodass in der Folge Abel- der Zauberei angeklagt, verhaftet, gefoltert und ke und ihre Nachbarn vermutlich nicht mehr schließlich verbrannt. in der Lage waren, ihre Grundstücke selbst zu unterhalten und den Deich zu pflegen. Abelke Bleken aus Ochsenwerder wurde am 7. März Später pfändete der in Ochsenwerder tätige 1583 durch den Hamburger Büttel gefoltert und Landvogt Dirck Gladiator bei einer Deichschau am 18. März 1583 als Hexe auf dem Scheiterhau- Abelkes Kessel. Ein Kessel war in der Frühen fen verbrannt. Neuzeit nicht nur ein zentraler Haushaltsgegen- Abelkes Name und Schicksal sind in einer stand, sondern unter Umständen ein repräsen- norddeutschen Sage und in einem Folterproto- tatives Erbstück. Abelke sprach bei der Ehefrau koll überliefert. Nähere Erkenntnisse zur Grund- des Vogts vor und bat sie – vergeblich – um Rück- stückshistorie Ochsenwerders gehen auf die For- gabe des Kessels. schungen von Frau Simone Vollstädt zurück. In Abelkes Geständnisprotokoll heißt es, Abelke Bleken bewohnte ein ca. 9 ha großes dass sie und ihre Nachbarin Gesche Schworm- Grundstück am Ochsenwerder Norderdeich. Im stedt Rache am Ratsherrn Huge nehmen woll- Jahre 1577 wurde ihr Hof zusammen mit ande- ten, und dass sie mit einem Stab in aller Teufel ren benachbarten Anwesen dem Hamburger Namen Löcher in den Boden gestochen habe –

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so viele Löcher wie Ochsen, deren Tod Johann tanz gegangen. Der Satan sei in der Nacht als Huge später zu beklagen hatte. Ferner habe Abel - Pferd zu ihr gekommen, und sie habe sich auf ke Huges Kälber getötet, indem sie ihnen Rat- ihn gesetzt … tengift in den Trog gelegt habe. Abelke Blekens Schicksal ist prototypisch Auch habe sie sich die Kesselpfändung für viele Frauen, die während der Frühen Neu- nicht gefallen lassen wollen und zu dem Vogt zeit denunziert, angeklagt und verhört wurden Gladiator gesagt, „dass er dies auf dem Bett und schließlich gestanden, mit dem Teufel im büßen solle“. Daraufhin habe sie ihren Wollgür- Bun de zu stehen. Das städtische Recht übernahm tel genommen, in aller Teufel Namen Knoten in im 16. Jahrhundert die von der Kirche entwi- die beiden Enden geschlagen und Haare des ckelten Vorstellungen von der Frau als Teufels- Vogts und Fingernägel der Vögtin hineingebun- anhängerin in geltendes weltliches Strafrecht. den. Der Gürtel sei von ihr in den Pferdestall ge- Im hamburgischen Stadtrecht stand seit legt worden, „damit der Vogt in Krankheit blei- 1270 der Schadenzauber unter Strafe; der Teu- ben sollte“ – bis der Gürtel gefunden und die felspakt wurde in der Neufassung von 1605 ex- Knoten gelöst seien. plizit erwähnt. Das hamburgische Niedergericht Der Vögtin habe sie eine Suppe aus Kohl verurteilte zwischen 1444 und 1642 mindestens und Warmbier gegeben, versehen mit dem Hirn 40 Frauen und einige Männer wegen Schaden- einer Katze, die sie in des Vogtes Haus in aller zauber bzw. Hexerei. Teufel Namen totgeschlagen habe. Die Vögtin Mit der Frühaufklärung endeten die Hexen- sei am dritten Tag krank geworden und bald da- prozesse; die sogenannten „Tränke-Köchinnen“ nach gestorben. und „Wahrsagerinnen“ galten nun nicht mehr Die soziale Situation, in der Abelke lebte, als reale Bedrohung, sondern als Betrügerinnen. war geprägt von der Bedrohung ihrer Lebens- Im Alltag blieb der Begriff der „Zauberin“ oder grundlage durch die Natur und von den Konflik- „Hexe“ – ebenso wie die Bezeichnung als „Hure“ ten mit den Mächtigen im Ort. Das Motiv der – eine Beschimpfungsformel, um Frauen zu dif- Rache schien in ihrem Fall allzu plausibel. Die famieren. Zaubermittel, die Abelke in ihrer Urgicht nennt, Text: Roswitha Rogge galten in der frühneuzeitlichen Gesellschaft als wirksame Praktiken zur Behebung von Alltags- problemen. Wenn jemand Schaden litt, fiel der Verdacht häufig auf Frauen, da diese für die Ver- sorgung von Mensch und Tier zuständig waren. Im peinlichen Verhör wurde die Angeklagte zur Hexe und bejahte die Fragen nach dem Teufels - pakt, der Teufelsbuhlschaft, dem Hexenritt und dem Hexensabbat. Abelke bekannte, dass sie sich in dem Jahr, als die Ochsen starben, dem Satan ergeben und mit diesem Geschlechtsver- kehr gehabt habe. Dabei sei ihr Buhle stets kalt gewesen. Auch sei sie mit anderen zum Hexen- Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:46 Seite 434 Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:09 Seite 435

Band 1 gibt einen Überblick über die nach Frauen und Män- nern benannten Straßen. Sie können wie Seismographen gelesen werden – für gesellschafts- und gleichstellungspoliti- sche Bewegungen. In diesem Zusammenhang bedeutsam ist auch der Umgang Hamburgs mit der Kolonialgeschichte und mit NS-belasteten Straßennamen. Ferner finden Sie im Band 1 eine nach Stadtteilen sortierte Auflistung der nach Frauen und Männern benannten Ver kehrsflächen. Straßen Bd 2 415-433 W-Z:. 27.07.15 14:46 Seite 436 Dieser zweite Band des dreibändigen Werkes „Ein Gedächtnis der Stadt, nach Frauen und Männern benannte Straßen, Plätze, Brücken in Hamburg“ präsentiert Ihnen die Biographien der Frauen, nach denen in Hamburg Straßen benannt sind.

Von A wie Ackermannstraße bis Z wie Zassenhaus- weg sind die bisher 358 Biographien nachzulesen.

In Band 1, der einen Überblick und eine Analyse der nach Frauen und Männern benannten Hamburger Straßen gibt, finden Sie u. a. alle nach Frauen und Männern benannten Straßen nach Stadtteilen sortiert aufgelistet und graphische Übersichten über die räumliche Häufung der Frauen- und Männerstraßen- namen in Hamburgs Bezirken und Stadtteilen.

Rita Bake

Ein Gedächtnis der Stadt Bd. 2

Frauenbiographien von A bis Z