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Neuzugänge Buchbesprechungen Jens-Christian Wagner (Hg.): Wiederent- Europa-Visionen Mit der Arbeit Grunerts ist auch das Verhältnis von deckt – Zeugnisse aus dem Konzentrations- Nationalstaat und supranationaler Ordnungsstruktur lager Holzen. Göttingen: Wallstein, 2013 im Faschismus aufgerufen, das für die faschistischen Bewegungen nicht nur in der Vergangenheit hohe Relevanz besaß. Während über die NS-Europapolitik, ihre Grundierung Während einige den Ansatz eines Staatenbundes Kirsten Frieden: Neuverhandlungen des in geopolitischen Denksystemen und Großraumkon- favorisierten, hinsichtlich der Verlagerung von Ent- Holocaust. Mediale Transformationen des zepten sowie die Praxis nationalsozialistischer Besat- scheidungs- und Handlungsmacht jedoch wenig oder Gedächtnisparadigmas. Bielefeld: tran- zungspolitik umfangreiche Forschungsergebnisse kontroverse Konkretisierung entwickelt wurde, propa- script, 2014 vorliegen, die auf ihren Antiliberalismus und Rassis- gierten andere die Idee des Reiches bzw. eines Groß- mus verweisen, sind die europapolitischen Entwürfe raumes. Die Konzeptualisierung von Mechanismen Wolfgang Hochbruck: Geschichtstheater. anderer faschistischer Parteien bisher weitgehend ein des Interessenausgleichs blieb häufi g vage; stark Desiderat der Forschung geblieben. Hier liefert die Formen der „Living History“. Eine Typolo- hervorgehoben wurde das Ziel eines kontinentalen Untersuchung von Grunert einen wichtigen Beitrag. europäischen Wirtschaftsraumes. gie. Bielefeld: transcript, 2014 Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen die wich- Mit Grunerts Studie liegt eine Arbeit vor, die wichtige tigsten faschistischen Bewegungen dreier west- Erkenntnisse über die Europakonzeptionen ausge- Joachim Kuropka (Hg.): Grenzen des katho- europäischer Länder: die „Nationaal-Socialistische wählter westeuropäischer faschistischer Bewegungen lischen Milieus. Stabilität und Gefährdung Beweging“ (NSB) in den Niederlanden, „Rex“ und die bietet; im Anschluss daran sind weitere Studien zu katholischer Milieus in der Endphase der „Amis du Grand Reich Allemand“ in Belgien sowie wünschen, die sich mit den europapolitischen Ent- Weimarer Republik und der NS-Zeit. Müns- die „Parti populaire Français“ und das „Rassemble- würfen und Konzepten faschistischer Bewegungen ter: Aschendorf, 2013 ment National Populaire“ in Frankreich. Grunert geht und Parteien in Nord-, Süd- und Osteuropa beschäf- der Frage nach, welche europapolitischen Konzepte tigen. Darüber hinaus bieten sich Untersuchungen Gottfried Oy, Christoph Schneider: Die diese Organisationen hervorgebracht haben und wie an, die danach fragen, welche Schlussfolgerungen sich diese bzw. deren Umsetzungsmöglichkeiten in die faschistischen Bewegungen oder ihre Nachfol- Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, Abhängigkeit von der deutschen Expansions- und gestrukturen in den Nachkriegsgesellschaften aus 68 und der Nationalsozialismus in der deut- Besatzungspolitik, die die längste Zeit das Ziel einer den realgeschichtlichen Erfahrungen gezogen haben schen Historiografi e. Münster: Westfäli- maximalen Ressourcenausbeutung bzw. Herstellung – hinsichtlich der Idee einer „faschistischen Internati- sches Dampfboot, 2013 eines hierarchischen Abhängigkeitsverhältnisses ver- onale“, von Europakonzeptionen sowie der virulenten folgte, verändert haben. Debatte um das Verhältnis von Nationalstaat und Monika Hölscher (Hg.): Die ehemalige Insbesondere auf der Grundlage der in Archiven supranationalen Strukturen. Landsynagoge Roth und Gedenkstätte und erhaltenen Bestände der genannten Bewegungen, Museum Trutzhain. Hessische GeschichteN der Akten der Militärverwaltungen, von SD-Berich- Robert Grunert: Der Europagedanke westeuro- 1933-1945, Heft 2, Wiesbaden: Hessische ten sowie zeitgenössischen und autobiographischen päischer faschistischer Bewegungen 1940–1945. Landeszentrale für politische Bildung, 2012 Schrifttums kann Grunert zeigen, dass diese Parteien Paderborn: Schöningh, 2012 sich zunächst stark an der von Mussolini propagierten Idee einer „faschistischen Internationale“ orientierten Fabian Virchow Roberto Battistini, Marie Ferranti: Corse und eine kontinentale Einigung als Voraussetzung 1943. Les Combattants de la Liberté. Aja- für eine weltpolitische Machtpolitik auch gegenüber ccio: Albiana, 2013 der anglo-amerikanischen Sphäre anstrebten. Poli- tische Gemeinsamkeiten gab es auch hinsichtlich Eingebunden Alexander Korb: Im Schatten des Welt- des Ausschlusses bestimmter Bevölkerungsgruppen, in fünf Verbrechen des Ziels der Deportation der europäischen Juden kriegs. Massengewalt der Ustaša gegen sowie – entsprechend des Kriteriums einer angenom- Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941- Wer auf der Bundesstraße 12 von Augsburg aus menen und anzustrebenden völkischen Einheit – von in Richtung Süden unterwegs ist, passiert kurz vor 1945. Hamburg: Hamburger Edition, 2013 Umsiedlungsmaßnahmen größeren Umfangs. Aller- Kaufbeuren die Marktgemeinde Irsee. Prägte nicht dings bezogen sich die Konzepte der Bewegungen ein imposantes Benediktinerkloster weithin die Land- Diethelm Blecking, Lorenz Pfeiffer (Hg.): zum Teil auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. schaft, würde man das Dorf wohl unbemerkt umfah- Sportler im “Jahrhundert der Lager”. Profi - Angesichts der fortschreitenden Besetzung großer ren. Das Kloster, im Dreißigjährigen Krieg zerstört teure, Widerständler und Opfer. Göttingen: Teile Europas durch die standen die und danach in barocken Formen wieder errichtet, Die Werkstatt, 2012 faschistischen Bewegungen vor der Frage, ob und war bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ein Zentrum gegebenenfalls wie die Durchsetzung eigener Ziele geistlichen Lebens im bayerischen Schwaben. Im Zuge der Säkularisation im Jahr 1802 fi el es an das Wolfgang Reuter: Offenbacher gegen unter der Maßgabe der Besatzung möglich war; hinzu kamen auch Widersprüche zwischen ihnen, Kurfürstentum Bayern. Der Staatsfi skus verpachtete NS-Diktatur. Offenbach, Offenbacher Edi- insbesondere territoriale Ansprüche auf Gebiete der Grund und Boden zunächst; einen Käufer für die tionen, 2012 angrenzenden Nationalstaaten. Die Vorstellung, die Immobilie konnte er erst Jahrzehnte später fi nden. Kolonialgebiete Frankreichs bzw. der Niederlande in Institutionelle Vorläufer von Regierung und Bezirks- Otto Dov Kulka: Landschaften der Metro- ein „neues Europa“ einzubringen, erwies sich als unre- tag von Schwaben hatten sich zum Kauf entschieden, pole des Todes. Auschwitz und die Grenzen alistisch. Zwar wurden militärische Niederlage und um im ehemaligen Kloster eine „Kreisirrenanstalt“ der Erinnerung und der Vorstellungskraft. Kapitulation von 1940 als Ausdruck der Überlegen- einzurichten. Mit der Eröffnung eines psychiatrischen Krankenhauses 1849 begann eine 123 Jahre andau- München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2013 heit des Faschismus über Liberalismus, Demokratie und Dekadenz der westlichen Gesellschaften gewer- ernde zweite Phase der Nutzung. Wie bei jeder Ins- tet, die Hoffnung auf Übernahme der Regierungsge- titution wechselten während dieser Zeit Fortschritt Lena Muchina, Gero Fedtke: Lenas Tage- walt in den jeweiligen Ländern erfüllte sich jedoch und Stagnation, gab es helle und dunkle Epochen buch. München: Graf Verlag, 2013 nicht. Die Kollaboration mit der deutschen Besatzung der Anstaltsgeschichte. Das dunkelste Kapitel spielte diskreditierte die faschistischen Bewegungen in den unzweifelhaft in den Jahren von 1940 bis 1945, Annemaria Junge: “Niemand mehr da”. Augen der Bevölkerungsmehrheit angesichts der Rea- als die Heil- und Pflegeanstalt wichtiges Rad im Antisemitische Ausgrenzung und Verfol- lität der Besatzungspraxis nachdrücklich. Getriebe der nationalsozialistischen Mordmaschinerie Deutsche Besatzung und Krieg ließen europäischen war. Gleich in fünf Verbrechen war Irsee eingebun- gung in Rauischholzhausen 1933-1942. den. Erstens in die Verlegungen von Patienten in die Marburg: Jonas Verlag, 2012 Ordnungsvorstellungen der faschistischen Bewegun- gen, etwa der Idee eines „Germanischen Staaten- Tötungsanstalten der „Aktion T4“, zweitens in das bundes“ aus den Reihen der NSB um Anton Mussert, Verhungernlassen der Anstaltsbewohner durch so Vanessa Schröder: Geschichte ausstellen keine Umsetzungsmöglichkeiten. Erst angesichts des genannte Entzugs-Kost, drittens in die Patiententö- Geschichte verstehen. Wie Besucher im für das Deutsche Reich ungünstigen Kriegsverlaufs tungen mittels Medikamenten, viertens in die sog. Museum Geschichte und historische Zeit gewannen im polykratischen NS-Staat Stimmen an Kinder-„Euthanasie“ und fünftens in Menschenversu- deuten. Bielefeld: transcript, 2013 Gewicht, die stärker föderale Europavorstellungen che, zum Beispiel Tbc-Experimente. Diesem dunklen entwarfen und darin auch den faschistischen Bewe- Abschnitt der Geschichte widmet sich die vorliegende gungen in den besetzten Ländern eine eigenständi- Publikation. gere Rolle zubilligen wollten. Kollaboration, Spaltung Magdalene Heuvelmann legt jedoch keine klassische und Schwächung der Bewegungen verbauten jedoch Geschichte der Heil- und Pfl egeanstalt in der NS-Zeit auch diese Option. vor, sondern eine kommentierte Quellenpublikation. informationen 79 | Seite 40 Und sie spezifi ziert noch einmal, indem sie sich auf dort sein Jura-Studium fort. 1948 legte er eine Dis- „geistliche Quellen“, also das Tagebuch des Irseer sertation unter dem Titel: „Die freie Gewerkschafts- Neuzugänge Ortspfarrers, die Chronik der mit Krankenpflege bewegung, ihr Wesen und ihr Einfl uss auf die Rechts- betrauten Barmherzigen Schwestern des hl. Vinzenz entwicklung von der Gründung bis zum Ausbruch von Paul, deren Zeugenaussagen in der Nachkriegs- des 1. Weltkrieges“ vor. Mit dieser Arbeit zeigte er Petra Bonavita: Nie aufgefl ogen. Gotthold zeit und dergleichen beschränkt. Diese Materialien bereits seine besondere Stellung als Jurist. Nach dem Fengler: Ein Gestapo-Beamter als Infor- wurden und werden in der Fachliteratur zwar vielfach erfolgreichen 2. juristischen Staatsexamen wurde er mant einer Widerstandszelle im Frankfurter zitiert, allerdings auf Grund ihres Umfanges nur in erst Hilfsrichter am Landgericht Kassel und Mitte Polizeipräsidium. : epubli, 2013 Auszügen – in einigen früheren Publikationen sogar der 1950er Jahre Landgerichtsrat am Landgericht von verfremdender Kürze. Die Chronik der Barmher- Frankfurt/Main. Heinz Daume u.a. (Hg.): Getauft, ausge- zigen Schwestern und das Tagebuch des Ortspfarrers Schon in dieser Position begann er sich für die Aufar- stoßen - und vergessen? Zum Umgang der sind in ihrer Wirkung besonders eindringlich, da sie beitung der faschistischen Verbrechen zu engagieren evangelischen Kirchen in Hessen mit den bereits während der Krankenmorde geführt wurden und lehnte die Untätigkeit der bundesdeutschen und nicht wie Zeugenaussagen und Erinnerungen aus Christen jüdischer Herkunft im Nationalso- Justiz in der Verfolgung dieser Menschheitsverbre- zialismus. Hanau: CoCon, 2013 der Nachkriegszeit durch später erworbenes Wissen chen ab. Gemeinsam mit dem hessischen General- oder den Drang zur Exkulpation beeinfl usst sind. staatsanwalt Fritz Bauer war er als Untersuchungs- Manches erscheint aus heutiger Sicht nur noch schwer richter am Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 bis Elfriede Suhr: Die Höhle. Schicksal einer verständlich, zum Beispiel wenn dem Pfarrer Anfang 1965) beteiligt. Diese antifaschistische Grundhaltung Deserteursfamilie. Tübingen: Silberburg- 1944 vom Verwaltungsinspektor der Heil- und Pfl e- drückte er auch in zahlreichen Veröffentlichungen seit Verlag, 2013 geanstalt angekündigt wird, dass in Anbetracht der Ende der 1950er Jahre aus. stetig steigenden Todesfälle und damit auch der Beer- Unter dem Titel „Justiz und Demokratie, Anspruch Rainer Fattmann, Jochen Faber: Hütet die digungen das Läuten der Kirchenglocke künftig zu und Realität in Westdeutschland nach 1945“ ver- Einheit wie euren Augapfel. Der Deutsche unterbleiben habe. Der Pfarrer verbuchte als Erfolg, öffentlichte Friedrich-Martin Balzer Ende 2013 dass bei mehreren Beerdigungen pro Tag – und das Metallarbeiter-Verband im Südwesten und in einem Band mit fast 1000 Seiten gesammelte die Zerschlagung der Gewerkschaften in wird spätestens seit Ende 1943 die Regel gewesen Schriften von Heinz Düx, geordnet nach zentralen sein – bei der ersten noch geläutet werden darf. Nicht Themen seiner Arbeitsschwerpunkte. Eingeleitet Baden und Württemberg 1933. Ludwigs- nur kirchlich ungebundene Leser beschleicht bei durch eine biographische Skizze, in der Balzer einen burg: Info & Idee Medienverlag, 2013 solchen Passagen das Gefühl, dass dem Pfarrer der kursorischen Überblick über die Entwicklung von Schutz der Institution Kirche wichtiger war als Wohl Heinz Düx, seine Eingebundenheit in die antifaschis- Juliane Lepsius, Erhard Roy Wiehn: So und Wehe der Patienten. tischen Strukturen sowie die juristischen Debatten haben sie es berichtet. Jüdische und nicht- Doch die Quellensammlung will nicht anklagen oder der Zeit liefert, beginnt der Band mit dem voll- jüdische Schicksale in der NS-Zeit und richten, sondern zum (Nach-)Denken anregen. Quellen ständigen Abdruck der juristischen Dissertation. danach. Konstanz: Hartung-Gorre, 2014 und Kommentierungen der Autorin verdeutlichen ein- Eine Art autobiografi sche Notizen bildet der zweite drücklich die Dilemmata von Ordensschwestern und große Aufsatz „Rückblick nach mehr als 50 Jahren, Geistlichen am Ort des Verbrechens. Diese Edition ist Persönliche Innenansichten der bundesdeutschen Therese Müller: Als junge ungarische Jüdin deshalb auch keine schnelle Lektüre für unterwegs, Justiz“. Das nächste große Kapitel steht unter der im Holocaust. Aus Jászberény durch Ausch- sondern eine, die Zeit zur Refl exion erfordert, um Überschrift „Ein Leben für die juristische Bewälti- witz, das KZ Außenlager Walldorf beim über die Geschichte, über eigenes Handeln unter gung der faschistischen Verbrechen, für die Rehabili- Flughafen Frankfurt am Main, Ravens- existenzbedrohenden Lebensbedingungen, über aktu- tierung und Entschädigung der Opfer des deutschen brück, Mauthausen und Gunskirchen nach elle Probleme unserer Gesellschaft beim Umgang mit Faschismus“. Hierunter fi ndet sich der Großteil der Schweden, 1925-2007. Konstanz: Har- kranken und behinderten Menschen nachzudenken. juristischen Veröffentlichungen von Düx insbeson- tung-Gorre, 2014 Nachsatz: Das Krankenhaus wurde im Jahr 1972 dere zur Entschädigungsproblematik. aufgelöst. Der Bezirk Schwaben beschloß daraufhin Seit den 1960er Jahren war er ein kritischer Kommen- Phillip Benz: Erinnerungen 1912-1956. die Restaurierung der Klosteranlage. Seit 1981 wird tator bundesdeutscher Wirklichkeit. Er war seit dieser der Gebäudekomplex nun in einer dritten Nutzungs- Zeit ein regelmäßiger Kolumnist der antifaschisti- Darmstadt: Druckwerkstatt Kollektiv, 2013 phase als Bildungs- und Kulturzentrum des Bezirks schen Wochenzeitung „Die Tat“, für die er seit Ende Schwaben sowie vom Bildungswerk des Bayerischen der 1960er Jahre mindestens einmal im Monat Bei- Katrin Dönges: Zerstörte Zukunft. Die Bezirketags genutzt, der diese Publikation initiiert träge zur bundesdeutschen Geschichte, zum Thema Deportation von Oberhausener Juden nach und herausgegeben hat. Antifaschismus oder zur Kritik an der politischen dem Pogrom 1938. Studien der Gedenk- Magdalene Heuvelmann: „Wer in einer Gottesferne und juristischen Rechtsentwicklung lieferte. Sein halle Oberhausen, Band 1. Oberhausen: lebt, ist im Stande, jeden Kranken wegzuräumen.“ zweites großes Thema bilden verfassungsrechtliche Karl Maria Laufen, 2013 „Geistliche Quellen“ zu den NS-Krankenmorden Beiträge zu den Berufsverboten, zum Asylrecht, zum Friedensgebot des Grundgesetzes sowie Aufsätze zur in der Heil- und Pfl egeanstalt Irsee. Irsee: Grizeto Klaus Hillenbrand: Berufswunsch Henker. Verlag, 2013 Justizkritik, vor der Heinz Düx ebenfalls nicht zurück- scheute. Drei biografi sche Skizzen zu Hans Litten, Warum Männer im Nationalsozialismus Dietmar Schulze Fritz Bauer und Hermann Langbein verdeutlichen das Scharfrichter werden wollten. Frankfurt publizistische Interesse von Heinz Düx. am Main/New York: Campus, 2013 Bis in die letzten Texte und Interviews dieser Doku- Heinz Düx – mentation kreist seine Beschäftigung um den Frank- Jan Erik Schulte/Michael Wala (Hg.): Wi- furter Auschwitz-Prozess, der für ihn – nicht nur derstand und Auswärtiges Amt. Diploma- Jurist und Antifaschist wegen seiner eigenen aktiven Rolle im Verfahren ten gegen Hitler. München: Siedler, 2013 – ein Prozess von herausragender Bedeutung war, Zu den Menschen, die den Studienkreis Deutscher gelang es doch hier zum ersten Mal, ein Mensch- Widerstand 1933-1945 viele Jahren begleiteten, heitsverbrechen auch mit juristischen Instrumenten Bruno Klaus Lampasiak: Naturfreund sein gehört Heinz Düx, selbst wenn er von seiner Profes- weitgehend angemessen aufzuarbeiten. heißt Mensch sein. Naturfreunde im Wider- sion kein Historiker, sondern Jurist ist. Jedoch waren In der abschließenden Bewertung formuliert Balzer: stand 1933 bis 1945. Berlin: Naturfreun- für ihn – anders als für die meisten seiner Berufskol- „Als Widersacher des ‚Strafvereitelungskartells‘ (Ingo de-Verlag Freizeit und Wandern, 2013 legen – die Auseinandersetzung mit der Geschichte Müller) aller drei Staatsgewalten gegenüber den und die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des Tätern und als Verfechter der ‚Wiedergutmachung‘ Patricia Pientka: Das Zwangslager für Sinti deutschen Faschismus kein getrennter Vorgang. Sie gegenüber allen Opfern des Nazi-Regimes, u.a. als und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Verfol- gehörten – nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Sachverständiger bei drei Anhörungen des Deut- Biographie – zusammen. Heinz Düx, 1924 in Marburg gung und Deportation. Reihe Zeitgeschich- schen Bundestages, stellt Düx einen Orientierungs- teN, Band 11, Berlin: Metropol, 2013 geboren, wuchs in der Zeit des deutschen Faschismus punkt in einer Zeit ohne Leitfi guren für die seit 1968 auf. Aus Krankheitsgründen musste er nach seinem nachwachsende Generation fortschrittlicher Juris- Abitur weder zum Arbeitsdienst noch in die Wehr- ten dar. Als Untersuchungsrichter im Frankfurter macht, jedoch sollte er noch 1944 in den Volkssturm Auschwitz-Prozess und als Vorsitzender Richter am eingezogen werden. Als Nazigegner entzog er sich Frank furter Oberlandesgericht stellt Düx eine Aus- dieser Verpfl ichtung durch die Übersiedlung in den nahmeerscheinung der bundesdeutschen Justizszene Vogelsberg. dar und ist zu einem der wenigen Motoren bei der Nach der Befreiung Marburgs durch die amerikani- juristischen Aufarbeitung des deutschen Faschismus schen Truppen kehrte er in seine Heimatstadt zurück geworden.“ und setzte nach der Wiederöffnung der Universität iinformationennformationen 7799 | SSeiteeite 4411 Die Dokumentation ist eine empfehlenswerte und Nationalsozialismus und Stalinismus ein. Darunter Neuzugänge spannende Lektüre auch für interessierte juristische befi nden sich bekannte Geschichte wie die des im Laien, Historiker und Antifaschisten. KZ Auschwitz ermordeten jüdischen Fußballspielers Heinz Düx: Justiz und Demokratie. Anspruch und Julius Hirsch, aber auch neuere Forschungen wie Heinz Düx: Justiz und Demokratie. An- jene über die Breslauer Turnerin Meta Fuß-Opet, spruch und Realität in Westdeutschland Realität in Westdeutschland nach 1945. Gesam- melte Schriften 1948 – 2013, hrsg. von Fried- deren Briefe eindrucksvoll den Auschluss von Juden nach 1945. Gesammelte Schriften (1948- rich-Martin Balzer, Bonn: Pahl-Rugenstein-Verlag, aus der deutschen Sportbewegung illustrieren. Leider 2013), herausgegeben von Friedrich-Martin 2013 verdeutlicht diese Rubrik zugleich, dass ein gemein- Balzer. Bonn: Pahl-Rugenstein, 2013 samer Sammelband über Schicksale im Nationalsozi- Ulrich Schneider alismus und Stalinismus nicht unproblematisch ist. Markus Moors, Moritz Pfeiffer (Hg.): Hein- So folgen unmittelbar auf Biografi en über Opfer des größten Völkermordes der Geschichte solche über rich Himmlers Taschenkalender 1940. Kom- „Republikfl üchtlinge“ wie den DDR-Fußballspieler mentierte Edition. Schriftenreihe des Kreis- Sportler im Lutz Eigendorf. museums Wewelsburg; Band 9. Paderborn: „Jahrhundert der Lager“ Der letzte Teil thematisiert schließlich einige Ge- Ferdinand Schöningh, 2013 schichten von „Überlebenden“. So fi ndet hier eine Bis vor wenigen Jahrzehnten waren sporthistorische Biografie des schon häufig rezipierten jüdischen Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Abhandlungen noch ein exotisches Randphänomen Präsidenten des FC Bayern München, Kurt Landauer, Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Mün- der Geschichtswissenschaften. Das gehört mittler- Platz. Gleichzeitig widmen sich die letzten Beiträge chen: Deutsche Verlags-Anstalt, 2013 weile der Vergangenheit an. Sammelbände wie jener, aber auch unbekannteren Schicksalen wie dem des den Diethelm Blecking und Lorenz Peiffer im Jahr Boxers Salomo Arouch, der im KZ Auschwitz in Schau- 2012 vorgelegt haben, sind allerdings nach wie vor kämpfen vor Offi zieren nur „dank seiner boxerischen Magdalene Heuvelmann: „Wer in einer Got- Fähigkeiten“ (S. 347) überlebte. tesferne lebt, ist im Stande, jeden Kranken eine Seltenheit. In sage und schreibe 47 Biographien wegzuräumen.“ „Geistliche Quellen“ zu den versucht sich das Werk „Sportler im ‚Jahrhundert der Der Beitrag über Arouch steht symptomatisch für die Lager‘“ an einer umfassenden Bilanz der rassistischen wertvollste Leistung des Sammelbandes: Diethelm NS-Krankenmorden in der Heil- und Pfl ege- und politischen Verfolgung von Sportlerinnen und Blecking und Lorenz Peiffer gelingt es mit „Sportler anstalt Irsee. Irsee: Grizeto Verlag, 2013. Sportlern im 20. Jahrhundert. Der Fokus liegt hierbei im ‚Jahrhundert der Lager‘“ nicht nur, prominente deutlich auf dem Nationalsozialismus, während der in Biografi en zusammenzufassen, sondern auch solche Notker Hammerstein: Aus dem Freundes- seiner geschichtswissenschaftlichen Beachtung noch Lebensgeschichten zu beleuchten, die bis dato im Tal kreis der “Weißen Rose”. Otmar Hammer- hinterherhinkende Sport im Stalinismus nur vereinzelt der Vergessenheit versunken waren. stein - Eine biographische Erkundung. Göt- aufgegriffen wird. tingen: Wallstein, 2014 So bahnbrechend und wichtig der in Folge einer wis- Diethelm Blecking, Lorenz Peiffer (Hg.): Sportler im senschaftlichen Tagung entstandene Sammelband „Jahrhundert der Lager“. Profi teure, Widerständler Susanne Mauss: Nicht zugelassen. Die jüdi- ist – sein Titel weckt zunächst einmal falsche Erwar- und Opfer. Göttingen: Verlag Die Werkstatt, 2012 tungen. Denn anders, als es dieser vermuten lässt, schen Rechtsanwälte im Oberlandesge- bekommt es der Leser keineswegs nur mit Schicksalen Christian Hoge richtsbezirk Düsseldorf 1933-1945. : von Sportlern zu tun, die dem Untertitel nach „Pro- Klartext, 2013 fi teure, Widerständler und Opfer“ waren. Der Band leistet stattdessen weitaus mehr, indem er etwa auch Rainer Faupel: Berlin Jenaer Straße 7: Zwei von Funktionären erzählt. Größen wie DFB-Präsident Projekt Vernichtung von sechs Millionen – Zur Erinnerung an Felix Linnemann oder Karl Ritter von Halt, „der vom Albert und Minna Neuburger. Berlin: Met- Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Natio- Als sich 1982 ein sozialdemokratischer Nachwuchs- ropol, 2013 nalsozialismus bis hin zur Bundesrepublik in vier Gesell- politiker über „Sekundärtugenden“ wie Verlässlichkeit schaftsformationen zu den Machtträgern gehörte“ (S. und Pfl ichtgefühl ausließ, mit denen man „auch ein 9), stehen hierbei exemplarisch für diese große Gruppe. KZ betreiben“ könne, löste das im Lande des „Ver- Tanja von Fransecky: Flucht von Juden aus In den einzelnen Beiträgen kommen zum einen promi- antwortungsethikers“ Helmut Schmidt einen Sturm Deportationszügen in Frankreich, Belgien nente Historiker wie Moshe Zimmermann und Arthur der Entrüstung aus. Das könne man doch so nicht und den Niederlanden. Berlin: Metropol, Heinrich zu Wort, zum anderen aber auch ambitio- sagen. Auch Oskar Lafontaine, von dem diese Worte 2014 nierte Sportjournalisten wie der 11Freunde-Chefre- stammten, hat sie später nicht mehr wiederholt; das dakteur Philipp Köster. Entsprechend unterschiedliche ändert nichts daran, dass der millionenfache Mord, Textformen bietet der Sammelband. den Deutsche in organisiertem Zusammenwirken an Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungs- den europäischen Juden und den Völkern Osteuropas tadt e.V. (Hg.): Briefe der Brüder Arthur Insgesamt setzt sich „Sportler im ‚Jahrhundert der verübten, ohne ein erhebliches Maß solcher Sekun- und Rudi Lorch aus Gurs, Noé und ande- Lager‘“ aus fünf Abschnitten zusammen. Den Anfang därtugenden nicht möglich gewesen wäre. Sara Ber- ren Lagern in Südfrankreich. Pfungstadt: machen die „Karrieren“. Neben den Laufbahnen von gers Bochumer Dissertation über das Täternetzwerk, Selbstverlag, 2014 Funktionären wie Felix Linnemann oder Manfred das 1942 und 1943 die drei Vernichtungslager der Ewald, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen „Aktion Reinhardt“ in Bełżec, Sobibor und Treblinka Komitees der DDR, werden auch Sportler portraitiert, Dokumentationsarchiv des österreichischen im besetzten Polen aufbaute und betrieb, handelt die Profi teure der Diktaturen wurden. So war der genau von diesem Zusammenhang. Widerstandes (Hg.): Täter – Österreichi- frühere Fußball-Nationalspieler Otto „Tull“ Harder sche Akteure im Nationalsozialismus. Wien: Kommandant des KZ Neuengamme, während Fritz Es begann mit einer Aktennotiz des Leiters der Dokumentationsarchiv des österreichischen Szepan vom FC Schalke 04 aus der „Arisierung“ jüdi- SD-Leitstelle Posen, Rolf-Heinz Höppner, vom 16. schen Besitzes Vorteile zog. Juli 1941. Er regte an, ob man nicht die „arbeitsun- Widerstandes, 2014 fähigen“ Juden „durch ein schnell wirkendes Mittel Einen verhältnismäßig kleinen Anteil am Sammel- erledigen“ könne, anstatt sie über Monate hinweg Landeszentrale für politische Bildung band machen sechs Beiträge unter dem Titel „Flucht“ verhungern zu lassen. In seinem eigenen Zuständig- Rheinland-Pfalz (Hg.): „80. Jahrestag der aus. In den Mittelpunkt rücken hier unter anderem keitsbereich ließ er, nachdem er von oben grünes Zerschlagung der Gewerkschaften“. Fach- „Kicker“-Gründer Walther Bensemann, der als „Mah- Licht bekommen hatte, das Vernichtungslager Kulm- ner für Toleranz, offenen Diskurs und Völkerver- hof (Chełmno nad Nerem) einrichten, in dem ab dem tagung am Samstag, 4. Mai 2013. Gedenk- ständigung“ (S. 148) bekannt war, oder die in die USA arbeit in Rheinland-Pfalz 11. Dezember 1941 Juden aus dem Warthegau und dem ausgewanderte jüdische Weltklasse-Hochspringerin Getto in Łódź durch Auspuffgase eines LKW getötet Gretel Bergmann. wurden. Die von Propagandaminister Goebbels in Die Rubrik „Widerstand“ beschäftigt sich mit seinem Tagebuch als „ziemlich barbarisch und hier Sportlern, die sich gegen das nationalsozialistische nicht näher zu erörtern“ bezeichnete Methode erwies Deutschland wandten. Dabei steuert Herausgeber sich jedoch als ungeeignet angesichts der großen Lorenz Peiffer etwa auch einen zuvor noch völlig Anzahl der Juden, die die Nazis im besetzten „Gene- unbekannten Fall bei, in dem sich Berliner Polizei- ralgouvernement“ zu vernichten planten. sportlerinnen „über den antisemitischen Grund- Die massenhafte Tötung musste also in Ablauf und konsens der nationalsozialistischen Volksgemein- Organisation optimiert werden, und hier setzt Sara schaft hinwegsetzten“ (S. 183) und ein Handball-Spiel Berger an. Sie identifi zierte eine Gruppe von etwa gegen eine jüdische Mannschaft bestritten. 120 SS-Angehörigen, die dieses blutige Geschäft ope- Den weitaus größten Raum des Sammelbandes rativ betrieben. Den Kern bildeten Männer, die zuvor nehmen ganze 15 Biografien über „Opfer“ von bei der Ermordung der Patienten von Psychiatrien informationen 79 | Seite 42 und Heilanstalten das Wichtigste für ihre neue Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das Aufgabe gelernt hatten: die Tötungshemmung T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Bełżec, Buchbesprechungen gegenüber Wehrlosen zu verlieren. Sie wurden Sobibór und Treblinka. Hamburg: Verlag des im Herbst 1941 nach Lublin und Umgebung Hamburger Instituts für Sozialforschung, versetzt und begannen, zunächst das „Versuchs- 2013 durch ein von den NS-Behörden angewiesenes Gutachten über die Flugblätter, angefertigt von lager“ in Bełżec aufzubauen. Wesentliches Argu- Reinhard Lauterbach ment für die Standortwahl: die Lage an der dem Altphilologen Prof. Richard Harder. Die Bahnlinie Lublin-Lwów, was den Antransport Anklageschrift im zweiten Prozess gegen die der Opfer aus dem geplanten Einzugsgebiet Angehörigen der Widerstandsgruppe Alexander Galizien erleichterte. Für die physischen Arbeiten Schmorell, Willi Graf und Prof. Dr. Kurt Huber wurden polnische Handwerker herangezogen Neue Forschungen ist ebenfalls im Band enthalten. Alle Genannten oder jüdische Zwangsarbeiter aus der Umge- zur Weißen Rose wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. bung rekrutiert; letztere wurden regelmäßig Das vorliegende Kompendium ermöglicht dem bei „Probevergasungen“ nach dem Abschluss Die letzten Gründe, warum Hans und Sophie Leser quellengesicherte Einsichten in die Wider- ihrer Arbeit ermordet. Die Probeläufe, bei denen Scholl am 18. Februar 1943 Flugblätter vor standsarbeit der Weißen Rose, auch, dass ihr häufi g höhere SS-Funktionäre anwesend waren, den noch verschlossenen Hörsälen und in den Wirkungskreis weit über die Stadt München endeten mit zahlreichen Veränderungen; so kam Gängen der Universität München ablegten und hinausreichte und von Anfang an eindeutig man ab vom Bau der Gaskammern als Holz- weitere in deren Lichthof warfen, werden wir politischen Charakter trug. Wesentlich ist die häuser, weil diese nicht ordentlich abzudichten wohl nie erfahren. War es doch eine geradezu Feststellung Chaussys, dass das zweite Flug- waren, und führte diese Herzstücke der Vernich- leichtfertige Aktion, die dann zur Festnahme blatt, im Juni 1942 verfasst, den einzigen, tungsmaschinerie trotz der höheren Kosten aus der Geschwister durch den Pedell Jakob Schmid bis heute bekannten öffentlichen Protest des Ziegeln aus. und zur Übergabe an die Gestapo führte. Den- inneren deutschen Widerstandes gegen den Die Schilderung dieser Optimierung des Massen- noch macht das 2013 von Ulrich Chaussy und Holocaust enthält. Die Weiße Rose folgte nicht mords durch Methoden, die jeder, der in seinem Gerd R. Ueberschär mit dem Titel “Es lebe abstrakt-moralischen Motiven und Zielen. Sie Berufsleben mit Rationalisierungsprojekten die Freiheit!“ herausgegebene Kompendium refl ektierte sehr genau den Kriegsverlauf und befasst war, aus eigenem Erleben kennt, ist das annähernde Vermutungen möglich. Die These die Politik Hitlerdeutschlands sowie der Staaten Beklemmendste an Sara Bergers Darstellung. eines Selbstopfers als Fanal zum Widerstand, der Antihitlerkoalition. Die von Sophie Scholl Sie schildert das Täterkollektiv als eine „Pro- die zuweilen ins Spiel gebracht wird, gilt nach geäußerte Hoffnung, dass der Mord an den jektgruppe“ mit fl achen Hierarchien, in der die diesen Forschungen als widerlegt. Mitgliedern der Weißen Rose eine studentische Rebellion auslösen würde, erfüllte sich nicht. Beteiligten ihre zivilen berufl ichen Kenntnisse Chaussy und Ueberschär kommentieren und einbrachten. Durch Abordnungen einzelner Per- Doch ihre Tat bleibt unvergessen und mahnt, geben historisch eingeordnet in der vorlie- dem alten und neuen Faschismus mutig zu sonen in die später begründeten Lager Sobibór genden Arbeit die zentralen Dokumente der und Treblinka wurde ein „Wissenstransfer“ orga- trotzen. Schon wenige Wochen nach dem Jus- Widerstandsgruppe Weiße Rose wieder. Den tizmord von München war der Name der Weißen nisiert; dennoch behielt jedes der drei Lager der Autoren gelingt es, die verbindenden Elemente „Aktion Reinhardt“ seine spezifi schen Stärken Rose weltbekannt. Im Juni/Juli 1943 warfen der Sozialisation der bestimmenden Mitglieder Flugzeuge der Royal Air Force ihr sechstes Flug- und Schwächen. So war in Sobibór die „Verwer- der Gruppe einerseits und andererseits ihre tung“ der den Todeskandidaten abgenommenen blatt über Nazideutschland in hunderttausen- unterschiedlichen Wege in den Widerstand, die den Exemplaren ab. Das NKfD, soeben in der Habseligkeiten am besten organisiert, Treblinka kollektiven und individuellen Ziele ihres Wirkens perfektionierte den Mordablauf erheblich, nach- UdSSR gegründet, organisierte den Abwurf des herauszuarbeiten. Das Ergebnis ist eine plasti- Flugblattes in großer Stückzahl über der Front- dem es im 2. Halbjahr 1942 vorübergehend zu sche Tiefenschärfe der Akteure der Widerstands- chaotischen Zuständen und einem Rückstau linie. Und Thomas Mann ehrte in seiner Rede gruppe. Des Weiteren wird der Beweggrund für über BBC London (27. Juni 1943) die Studenten der Transportzüge gekommen war. Bei alle- die hektische Aktivität der NS-Bürokratie dar- dem sah sich die Gruppe der „Reinhardt“-Tä- von München mit den Worten: “Brave, herrliche gestellt, den „Fall“ Weiße Rose in kürzester Zeit junge Menschen! Ihr sollt nicht umsonst gestor- ter in bewusster Konkurrenz zu der parallel in zum „Abschluss“ zu bringen, d.h. die Akteure Auschwitz anlaufenden Mordmaschinerie, die ben, nicht vergessen sein… Es dämmert ein der Flugblatt- und nächtlichen Malaktionen zu neuer Glaube an Freiheit und Ehre!“ auf das Blausäurepräparat Zyklon B setzte. Man ermorden. So stellte der Oberreichsanwalt beim kennt das aus modernen Großunternehmen, wo Volksgerichtshof fest: „Es handelt sich im vorlie- Ulrich Chaussy, Gerd R.Ueberschär: „Es lebe die eine Abteilung gegen die andere intrigiert. genden Verfahren wohl um den schwersten Fall die Freiheit!“ Die Geschichte der Weißen Bei Besprechungen bemängelte Christian Wirth, hochverräterischer Flugpropaganda, der sich Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten Chef der „Reinhardt“-Mörder, dass Zyklon B zwar während des Krieges im Altreich ereignet hat.“ und Berichten. Frankfurt: Fischer Taschen- schneller töte als „sein“ Kohlenmonoxid aus Aus- Der Band führt im Einzelnen auf: die Ereignisse buch, 2013 puffgasen, aber die Gaskammern danach lange des 18. Februar 1943, die Flugblattaktionen, Peter Fisch und umständlich belüftet werden müssten, um alle sechs Flugblätter in vollem Wortlaut, einge- wieder „betriebsbereit“ zu sein; der eigenen schlossen den Flugblattentwurf von Christoph Methode hielt er die niedrigen Kosten bei Inves- Probst vom 28./29. Januar 1943 (nicht mehr tition und Betrieb zugute. Soviel Betriebswirt- vervielfältigt), eine gestraffte Geschichte der George Orwell und der schaft musste selbst beim Massenmord sein; Weißen Rose, biographische Angaben über die das hätte der Autorin, die vom Kapitalismus Akteure der Widerstandsgruppe und die NS-Ver- Spanische Bürgerkrieg systematisch schweigt, wenn sie vom Faschismus folger Robert Mohr, Anton Mahler und Roland spricht, immerhin auffallen können. Freisler, die kurze „Nachblüte“ der Weißen Rose, Der Spanische Bürgerkrieg gilt als Vorbote des Sara Bergers Darstellung ist akribisch, sie die Anklageschrift vom 21. Februar 1943, das Zweiten Weltkriegs. Mit Hilfe des faschisti- nennt hunderte von Namen, zeichnet nach, Urteil des Volksgerichtshofes und die Wahrneh- schen Italiens und des nationalsozialistischen wer wann wo tätig war, gibt Sozialprofi le der mung und Einschätzung der Weißen Rose von Deutschlands gelang es den rechtsgerichte- Täter. Meist kamen sie aus „kleinen Verhältnis- 1943 bis zum Kriegsende. Hervorzuheben ist ten Putschisten um General Franco das Land sen“ und genossen offenbar den Sprung aus der besonders die Wiedergabe der Vernehmungspro- zu erobern. Einer der gegen die Franquisten Subalternität in eine Position der Macht über tokolle, die durch die Gestapo erstellt wurden. kämpfte, war der damals 23-jährige britische Leben und Tod. Korruption, alkoholische und Sie umfassen mehr als die Hälfte des 534 Schriftsteller George Orwell, mit richtigem sexuelle Exzesse waren verbreitet; nur einige Seiten umfassenden Bandes. Nach dem Krieg Namen Eric Arthur Blair. Orwells Erlebnisse wenige ließen sich aus den Lagern wieder weg- kamen diese Protokolle in die Hände der Roten und deren Wirkung auf sein literarisches Werk versetzen, weil sie das Morden nicht aushielten. Armee, wurden dann nach Moskau verbracht beschreibt und untersucht nun die Arbeit des Mehr als ein Karriereknick folgte für sie daraus und hier einem Sonderarchiv zugeordnet. Jahre Franzosen Louis Gill. nicht. Bergers wichtigste Quellen sind die Akten später übergaben die sowjetischen Behörden Im ersten Kapitel des 157 Seiten dünnen von Ermittlungsverfahren, die in den 1960er die Vernehmungsprotokolle an die DDR (bis Buches fasst Gill die gesellschaftliche Situa- Jahren gegen einige der Täter geführt wurden. auf die Unterlagen über Alexander Schmo- tion Spaniens am Anfang des 20. Jahrhunderts Bedenklich erscheint es, wenn sie gestützt auf rell, der deutsch-russischer Herkunft war). Die zusammen. Der Leser erfährt von politischen solche Aussagen von Verdächtigen etwa die Archivalien wurden in der DDR dem Zentralen und gesellschaftlichen Unruhen in einem wirt- Vermietung von Unterkünften an die Vorkom- Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninis- schaftlich schwachen und äußerst heterogenen mandos durch Bewohner von Bełżec als „Mit- mus beim ZK der SED und z.T. dem Archiv des Land, dem Ausruf der Demokratie und dem wirkung von Polen“ an der Vernichtung einstuft Ministeriums für Staatssicherheit zugeordnet. Aufstand des Militärs. Sehr gut gelingt das und diese so zum Teil des „Außennetzes“ der Bis 1990 blieben die Dokumente unter Ver- Vernichtung erklärt; das verkennt wohl doch schluss und waren (bis auf ganz geringfügige deutlich die Realität eines okkupierten und Ausnahmen) der Forschung entzogen. Ergänzt terrorisierten Landes. werden die nun veröffentlichten Archivalien iinformationennformationen 7799 | SSeiteeite 4433 Friedrich von Hayek. Stattdessen müsse man noch der politischen Organisationen war und Buchbesprechungen die Planwirtschaft mit der Freiheit des Geistes ihr Kontaktmann Rudolf Herrnstadt lange Zeit kombinieren. aus der Geschichtsbetrachtung ausgeschlossen Im letzten Kapitel untersucht der Autor weitere war, wurde sie auch dort nicht angemessen Aufzeigen der Interessen anderer Nationalstaa- wahrgenommen. Und Familienangehörige, die ten an Spanien und das daraus resultierende Einfl üsse, die Orwells Schriften geprägt haben. Neben der Vorstellung utopischer Romane sich später vielleicht um ihre Rehabilitierung Verhalten internationaler Politik. Während bemühen konnten, waren als Anhänger der Italien und Deutschland die Faschisten um sowie deren Gemeinsamkeiten und Unter- schiede gegenüber „1984“, arbeitet Gill die Gruppe „Europäische Union“ ebenfalls verhaftet General Franco wirtschaftlich und militärisch und später ermordet worden. So fühlte sich im unterstützten, hielten sich Briten, Amerikaner Parallelen der Entscheidungen der politischen Akteure im Buch sowie die Entscheidungen eigentlichen Sinne niemand verantwortlich, die und Franzosen zurück, da sie die Enteignung Erinnerung an Ilse Stöbe wach zu halten. des Besitzes ihrer Unternehmen in Spanien der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion fürchteten. Die Sowjetunion unterstützte die bei den Konferenzen von Teheran, Jalta und Zwar gab es bereits knappe biographische linke Regierung, ließ sich diesen Dienst jedoch Potsdam heraus. Oberste Prämisse sei in beiden Skizzen, jedoch bot erst die umfängliche Aus- ausgezeichnet bezahlen und sorgte für den Fällen die eigene Machterhaltung gegenüber einandersetzung um die Geschichte des Aus- Aufstieg stalinistischer Funktionäre in Spanien. den Bürgern gewesen. wärtigen Amtes die Möglichkeit, Mittel für die Anarchisten, Sozialisten, Sozialdemokraten und Zum Schluss ergründet Gill Orwells Schlussfolge- Forschung über Ilse Stöbe bereit zu stellen. Gewerkschafter, die den Staat ebenso wie die rungen für die Zukunft der Menschheit. Dabei Sabine Kebir und Hans Coppi konnten für das Kommunisten aufgebaut hatten, verloren dage- stellt er fest, dass Orwell die in seinen Werken Vorhaben gewonnen werden, und das Ergebnis gen an Macht. gezeichnete Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit dieser Forschungsarbeit ist beeindruckend. Dies erfuhr auch George Orwell, der sich im nicht zwangsläufi g als Schicksal der Menschheit Hans Coppi, der seit vielen Jahrzehnten – Dezember 1936 in Barcelona den Kämpfern betrachtet. Vielmehr sind diese als Warnung nicht nur aus familiärem Interesse – einer der der Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit einer menschheitsbedrohenden, aber keines- kompetentesten Historiker zur Geschichte der POUM und nicht den Internationalen Brigaden falls unausweichlichen, Entwicklung zu sehen. „Roten Kapelle“ ist, legte eine „biographische anschloss, da ihm ein Empfehlungsschreiben Um diese Entwicklung zu stoppen, plädiert Skizze“ vor, die in beeindruckender Weise die durch die Kommunistische Partei Großbritan- Orwell für einen demokratischen Sozialismus, in Person Ilse Stöbe in das Netzwerk der Unter- niens aufgrund politischer Unzuverlässigkeit dem Freiheit, Gleichheit und Internationalismus stützer der „Roten Kapelle“, insbesondere verwehrt wurde. zusammenwirken. Rudolf Herrnstadt und Rudolf von Scheliha Mit der POUM kämpfte Orwell in Aragon. Hier Gills Versuch Orwells Erfahrungen im Spani- einordnet. Er zeichnet nach, wie der Kontakt entstand sein Misstrauen gegen die Sowjet- schen Bürgerkrieg und dessen Folgen für seine und die Zusammenarbeit mit Theodor Wolff, union, die gezielt Waffen, welche für die Trup- weitere literarische und politische Entwick- Chefredakteur des Berliner Tageblattes, und pen bestimmt waren, zurückhielt. Die POUM, lung darzustellen, ist sehr gut gelungen. In die gemeinsame Arbeit mit Rudolf Herrnstadt die von den Kommunisten als potenzielle Kon- seinem kurzen und sehr gut zu lesenden Werk als Auslandskorrespondentin in Warschau die kurrenz und Gefahr gesehen wurde, sollte mög- schafft es der Autor mit Hilfe etlicher Quellen- junge Frau aus eher kleinbürgerlichen Kreisen lichst schwach gehalten werden. Das Schlüsse- belege Orwells Entwicklung nachvollziehbar zu einer politisch überzeugten Mitarbeiterin lerlebnis, welches Orwells antisowjetische Hal- zu machen. Mit dem Buch gelingt es ihm den des sowjetischen Nachrichtendienstes GRU tung für immer prägen sollte, geschah jedoch Leser zum Lesen weiterer Bücher Orwells zu machte. Mit Hilfe des Botschaftsrates Rudolf bei einem Fronturlaub in Barcelona. Während animieren. Wer „1984“ und die „Farm der Tiere“ von Scheliha erhält sie eine Anstellung in der der Maiunruhen 1937, als gezielt Jagd auf bereits gelesen hat, kann beispielsweise auf Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes, Oppositionelle gemacht wurde, wurde er von das oftmals zu wenig beachtete Werk „Mein wo sie auch Carl Helfrich, ihren Lebenspartner, stalinistischen Maschinengewehren unter Katalonien“ zurückgreifen. unterbringen kann. An dieser Schnittstelle Beschuss genommen. Mit diesen Erfahrungen der faschistischen Expansionsplanung konnte kehrte er an die Front zurück, wurde jedoch sie unter dem Decknamen „Alta“ seit Anfang Louis Gill: George Orwell. Vom spanischen 1940 dem GRU wichtige Einschätzungen der kurz darauf durch einen Halsdurchschuss Bürgerkrieg zu 1984. Lich: Edition AV, 2012 schwer verwundet und musste seinen Kriegs- strategischen Kriegsplanung des deutschen dienst abbrechen. Zurück in Barcelona wurde Holger Hertel Faschismus übermitteln. So übermittelte sie der Brite im Zuge kommunistischer Massenver- Ende Dezember 1940, sie habe „aus best- haftungen polizeilich gesucht. Im Juni 1937 informierten Militärkreisen erfahren, dass fl oh er gemeinsam mit seiner Frau über die Hitler den Befehl gegeben hat, mit den Vor- französische Grenze. Der stalinistische Terror Widerstandskämpferin bereitungen auf den Krieg gegen die UdSSR im Land ging dagegen weiter. Der sowjeti- zu beginnen“ (S. 193). In einem Dokument sche Geheimdienst kontrollierte das Land, ver- in der Wilhelmstraße vom 7. Juni 1941 benannte sie als Termin des haftete etliche Andersdenkende, allen voran zu erwartenden Kriegsbeginns die Zeit „nach Gewerkschafter, Anarchisten und sogenannte Dass die Erinnerung an den antifaschistischen dem 20. Juni“ (S. 196). Diese und weitere Trotzkisten. Viele der Gefangenen wurden hin- Widerstand immer auch geschichtspolitische Dokumente im Anhang des Buches zeigen gerichtet. Zurück in Britannien schrieb Orwell Dimensionen besitzt, zeigt sich exemplarisch die Bedeutung der Aufklärungsarbeit von Ilse das Verarbeitete auf. 1938 erschien „Mein am Beispiel der Antifaschistin Ilse Stöbe, Stöbe. Im Herbst 1942 wird sie im Zusammen- Katalonien“. 1945 folgte „Farm der Tiere“, die sich im Umfeld der „Roten Kapelle“ aus hang mit den Ermittlungen gegen die „Rote ehe 1949 Orwells berühmter Roman 1984 dem Zentrum der Macht gegen den faschisti- Kapelle“ enttarnt, am 14. Dezember gemeinsam verlegt wurde. schen Krieg engagiert hat und dafür von den mit Rudolf von Scheliha verurteilt und am 22. NS-Schergen hingerichtet wurde. Im zweiten Teil des Buches beleuchtet Gill Dezember 1942 in Plötzensee hingerichtet. verschiedene Werke und Schriften, die Einfl uss Der Rezensent muss gestehen, dass ihm der In Ergänzung der Biographie untersucht Sabine auf Orwells Schreiben und Denken hatten. Name – abgesehen von dem Beitrag von Ulrich Kebir die Rezeptionsgeschichte dieser Wider- Nennenswert ist dabei André Gides „Zurück Sahm im Sammelband zur „Roten Kapelle“ – standskämpferin. Ihr Ausgangspunkt sind aus Sowjetrussland“, ein Reisebericht, in dem bis zur Lektüre des vorliegenden Buches nicht vier Zeugnisse „aus erster Hand“ (Theodor er die UdSSR und den Totalitarismus auf das geläufi g war, obwohl er sich recht intensiv mit Wolff, Helmut Kindler, Gerhard Kegel, Greta Schärfste kritisiert und dabei weltweit bei den verschiedenen Bereichen des antifaschis- Kuckhoff), die auf unterschiedliche Weise einen linken Intellektuellen für Entrüstung sorgte. tischen Handelns befasst hat. Wie konnte es Blick auf die Persönlichkeit Ilse Stöbes werfen. Laut Gill einten Orwell und Gide der Kampf geschehen, dass das Handeln dieser Frau 70 Während Wolff Ilse Stöbe bereits 1937 unter für die Meinungsfreiheit, die Freiheit des Jahre lang vergessen bzw. verschwiegen werden dem Namen Gerda Rohr ein Denkmal setzte, Andersdenkenden. Ihr Verlust war zugleich konnte? sind die anderen Aufzeichnungen retrospektiv, deren Hauptkritikpunkt am Totalitarismus. Um Sie fiel in ein „Vakuum der Geschichts- jedoch ebenfalls sehr persönlich angelegt. einen solchen Totalitarismus zu bekämpfen, schreibung des Kalten Krieges“, wie es Johanna Während des Kalten Krieges war jedoch für schlug Orwell beispielsweise die Bewaffnung Bussemer und Wolfgang Gehrcke in ihrem solche „menschliche Betrachtungsweise“ kein der Bürger Großbritanniens vor. Doch nicht Vorwort formulierten, in dem sie die Genese Platz. Hier wurden – gerade die Angehörigen nur die stalinistische Form der Freiheitsberau- der Aufarbeitung nachzeichneten. Drei Dinge und Mitstreiter der „Roten Kapelle“ – die Nazi- bung wurde durch Orwell kritisiert. Ebenso kamen in Ilse Stöbes Fall zusammen, die das gegner in der jeweiligen Perspektive entweder problematisierte er die nicht vorhandene Frei- Erinnern erschwerten: In der BRD und ins- als Vaterlandsverräter und Sowjetspione (was heit im Weltbild des neoliberalen Ökonomen besondere in ihrer ehemaligen Dienststelle, in den 1950er Jahren der BRD das politische dem Auswärtigen Amt, galt sie als russische „Todesurteil“ war) oder aber Kämpfer und Spionin, was jegliche Würdigung verhinderte. „Kundschafter“ unter Führung der KPD (so die In der DDR war zwar ihr Handeln bekannt. politische Verengung in der DDR der 1950er Da sie aber weder Teil der „Roten Kapelle“, und 1960er Jahre) konnotiert. informationen 79 | Seite 44 Wer sich „grenzüberschreitend“ erinnern wollte, damals sechsjährige Sohn überlebten zunächst wie beispielsweise der Schweizer Theologe Karl im Ghetto Bochnia, danach unter erbärmlichen Buchbesprechungen Barth 1954 im Wiesbadener Landtag, der Bedingungen eineinhalb Jahre versteckt in musste sich anschließend vom SPD-Kultusmi- einem Erdloch – sie fanden sich Februar 1945 nister sagen lassen, das sei „nicht das geeignete in Krakau wieder. Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historiker- Thema für eine Feierstunde zum Volkstrauertag schicksal in Deutschland, Göttingen: Nach Kriegsende blieben die überlebenden Vandenhoeck & Ruprecht, 2012 gewesen“. Wulfs zunächst in Polen, wo Joseph Wulf von Kebir zeichnet akribisch die verschiedenen 1945 bis 1947 Exekutivmitglied der „Zentralen Markus Bitterolf Ansätze der Rehabilitation Ilse Stöbes in den Jüdischen Historischen Kommission“ war. Im vergangenen Jahrzehnten nach, macht aber Sommer 1947 emigrierte er nach Frankreich – auch deutlich, dass ihre Spuren „immer wieder seine Familie zog 1948 nach – und gründete vorsätzlich verwischt wurden“. „Ilse Stöbes dort zusammen mit Michał Borwicz, dem ein- Auf Spurensuche Namen auf der Ehrentafel (am Auswärtigen zigen jüdischen Kommandanten in der ehe- in Rauischholzhausen Amt, U.Sch.) setzt auch einen Schlussstrich maligen polnischen Heimatarmee, das „Centre unter ein gleichermaßen empörendes wie von pour l’Histoire des Juifs Polonais“. Die Jüdische Rauischholzhausen liegt im Ebsdorfergrund, Kleinigkeiten geprägtes Kapitel des Kalten Krie- Historische Kommission sammelte bereits gehört zum Landkreis Marburg-Biedenkopf und ges“ (S. 183). kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat rund 1200 Einwohner, alle christlichen Glau- Dokumente über die deutsche Besatzung und bens. Es ist eine hübsche, ländliche und ruhige Judenvernichtung, die u.a. Wulf veröffentlichte. Hans Coppi, Sabine Kebir: Ilse Stöbe. Wieder Gegend. Nichts erinnert heute mehr daran, dass 1955 publizierte er mit dem Historiker Léon in diesem idyllischen Fachwerkdorf bis 1933 im Amt. Eine Widerstandskämpferin in der Poliakov die bekannte Dokumentensammlung Wilhelmstraße. Hamburg: VSA, 2013 eine intakte kleine jüdische Gemeinde existiert „Das Dritte Reich und die Juden“. Bald darauf hat, die sukzessive immer kleiner wurde, bis Ulrich Schneider folgten, ebenfalls zusammen mit Poliakov, die letzten Mitglieder am 6. September 1942 eine Dritte-Reich-Dokumentation über „seine schließlich in die Vernichtungslager deportiert Diener“ und „seine Denker“, sowie zahlreiche worden sind. weitere Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Den langen Weg von der anscheinend Joseph Wulf: Historiker heilen Welt der Dorfgemeinschaft bis dahin wegen Auschwitz Wulf setzte damit fort, was die Churban- beschreibt die Autorin Annamaria Junge in Historiker – „Churban“ war in Vergegen- ihrem Buch ‚„Niemand mehr da. Antisemitische Wie aussichtslos es war, in der unmittelbaren wärtigung der Zerstörung des Jerusalemer Ausgrenzung und Verfolgung in Rauischholz- Nachkriegsgesellschaft, die Deutschen an ihr Tempels die erste hebräische Bezeichnung des hausen 1933-1942“. Sie geht auf Spurensu- gerade erst militärisch aufgehaltenes Mensch- Judenmordes – in der Tradition Simon Dubnows che nach denen, die nicht mehr da sind, in heitsverbrechen zu erinnern, verdeutlicht das und Emanuel Ringelblums, mit dem Sammeln dem Dorf, in dem sie als Kind die Ferien bei Schicksal des Lagerüberlebenden und Histori- möglichst vieler Überreste der jüdischen Ver- ihren Großeltern verbracht hat und in dem kers Joseph Wulf. Er war einer der ersten, der die gangenheit bezweckten. ihre Mutter aufgewachsen ist. Irgendwann industrielle Ermordung der europäischen Juden In der formierten Gesellschaft der Wirtschafts- entdeckt sie den etwas abseits gelegenen jüdi- ins Zentrum der Darstellung des Nationalsozia- wunderzeit bildete Wulf mit seinen Publi- schen Friedhof. Sie fragt sich, wo diejenigen lismus rückte und die postnazistische Volksge- kationen ein Gegengewicht nicht nur zur geblieben sind, die ihn einst benutzten. Was meinschaft mit ihren Taten konfrontierte. Dass Schuld- und Erinnerungsabwehr der Deutschen, ist mit ihnen geschehen und warum erinnert ihm dabei von fast jeder Seite Feindseligkeit sondern auch zum sich entwickelnden ge- nichts in Rauischholzhausen an diese Men- und Argwohn entgegenschlugen, verdeutlicht schichtswissenschaftlichen Umgang mit dem schen? Sie fängt an zu fragen: ihre Großeltern, die Biografi e des Historikers Klaus Kempter. Sie NS-Massenmord. Gegen die strukturalistischen ihre Mutter, Nachbarn und andere Dorfbewoh- ist zentriert um Wulfs Entschluss, sein Leben der beziehungsweise funktionalistischen Verharm- ner, die die Zeit des Dritten Reichs persönlich Dokumentation und Erforschung des deutschen losungen des Nationalsozialismus durch den noch miterlebt haben. Viele reden mit ihr. Sie Versuchs der Vernichtung der Juden zu widmen. Wissenschaftsbetrieb sprach der Auschwitz- erfährt, dass ihr leiblicher Großvater SA-Mit- Joseph Wulf, 1912 in Chemnitz geboren, wuchs überlebende von individueller Täterschaft und glied war. Man erinnert sich daran, dass es im polnischen Krakau in wohlhabenden Fami- persönlicher Verantwortung – bereits Mitte der da mal Juden gegeben hat und dass die sich lienverhältnissen auf. Dort besuchte er das 1950er Jahre kratzte er am Mythos von der irgendwann „weggemacht“ haben oder „abge- staatliche Gymnasium als auch die ansässige „sauberen Wehrmacht“. holt“ worden sind. Sie erzählen auch von den Talmudhochschule und wurde zum Rabbiner Trotz einiger Auszeichnungen stieß Wulf auf Schikanen und dem Terror, dem die Juden ab ausgebildet; zeitlebens blieb für ihn die ostjü- breites Schweigen; selbst im Kreis der Forscher 1933 durch die Dorfbevölkerung ausgeliefert disch-chassidisch-jiddische Kultur ein prägender über den Nationalsozialismus blieb er ein waren, aber das waren immer die anderen, die Teil seines Selbstverständnisses. Außenseiter. Besonders konfliktträchtig war das gemacht haben, vieles hat man aber auch „vergessen“. Nach der deutschen Besetzung Polens wurde dabei sein Verhältnis zum Münchner Institut die Familie ins Ghetto Krakau deportiert. Dort für Zeitgeschichte und dessen Direktor Martin In den letzten Jahren sind viele Bücher von trat Wulf einer entstehenden Widerstands- Broszat. Man warf ihm vor, „befangen“ zu sein, engagierten Lokalhistorikerinnen und Lokalhis- gruppe bei, die sich später der Jüdischen weil er zu den Opfern der Naziherrschaft zähle. torikern erschienen, die die jüdische Geschichte Kampforganisation (Zydowska Organizacja Dass Wulf zweifellos „befangen“ war, zeigte ihres Heimatortes aufgearbeitet haben: Bojowa) anschloß und im Raum Krakau-Bochnia allein die tätowierte Nummer auf seinem Unter- Geschichtsforschung „von unten“ als Basis für arbeitete. März 1943 fl og Wulfs Gruppe durch arm, während Broszat, Jahrgang 1926, von geografi sch übergreifende Forschungen. Was Spitzel auf, er wurde verhaftet, gefoltert und seiner persönlichen Nummer, der eines NSDAP- das Buch von Annamaria Junge von vielen daraufhin nach Auschwitz-Monowitz, dem Mitglieds, angeblich nicht mal wusste und nach dieser verdienstvollen und wichtigen Arbeiten Sklavenarbeitslager für das Buna-Werk der IG Hitler-Jugend und Wehrmacht anscheinend unterscheidet, ist die persönliche Betroffenheit. Farben, deportiert. Dort überlebte er – trotz unbefangen bei der Erforschung des Holocaust Mitglieder ihrer eigenen Familie sind involviert, seiner schwächlichen Konstitution – fast zwei sein konnte. spielen sogar eine nicht unerhebliche Rolle wäh- Jahre, bevor er kurz vor Kriegsende bei einem Resigniert, zutiefst traumatisiert durch die rend der nationalsozialistischen Terrorherrschaft der sogenannten Todesmärsche fl iehen konnte. Lager erfahrungen und nach dem Tode seiner in Rauischholzhausen. Eine solche Subjektivität Seine Eltern und sein Bruder samt Familie Frau vereinsamt, stürzte sich Wulf am 10. ist eigentlich keine gute Grundlage für eine hatten dagegen kein Glück. Joseph Wulfs Vater, Oktober 1974 aus dem vierten Stock seiner wissenschaftliche Arbeit. Doch machen gerade Szyja, wurde – hier gibt es unterschiedliche Berliner Wohnung. Der zweite Teil seines Leben diese Emotionen das Buch so lesenswert. Es Aussagen – entweder bereits August 1942 in blieb, wie bei viel zu vielen Überlebenden der sind die Scham und die Unsicherheit gegen- Bochnia bei der ersten großen „Aktion“ der Shoa, ein Selbstmord auf Raten, ein nicht mehr über den Überlebenden und die Betroffenheit Deutschen im dortigen Ghetto ermordet oder heimisch werden können in dieser Welt, wie es und das Entsetzen über den nach wie vor vor- starb im Arbeitslager Płaszów, jenem Lager, Jean Améry ausdrückte. An seinen Sohn David handenen Antisemitismus ihrer nichtjüdischen das ab Anfang 1943 der österreichische SS- schrieb Joseph Wulf zwei Monate vor seinem Gesprächspartner, die Gefühllosigkeit und Nai- Hauptsturmführer Amon Göth leitete. Wulfs Tod: „Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte vität, wie sie über die Geschehnisse vor rund Mutter, Ettel Laja, wurde 1943 im Vernichtungs- Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine 80 Jahren berichten, denen man auch als Leser lager Bełzec getötet, ebenso ihre Enkelin Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen heute fassungslos gegenüber steht. Riwka, die Tochter von Wulfs Bruder Pinkus totdokumentieren, es kann in Bonn die demo- Elias; dieser erstickte in einem Transport nach kratischste Regierung sein – und die Massen- Auschwitz, seine Frau starb in der Gaskammer mörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen von Birkenau. Joseph Wulfs Frau Jenta und der und züchten Blumen.“ iinformationennformationen 7799 | SSeiteeite 4455 des Weltkriegs versucht die Ustaša durch den der Initiative lokaler Ustaša-Anhänger führte. Buchbesprechungen Einsatz von Massengewalt gegen ethnische Diese agierten weitgehend nach eigenen Vor- Serben, Juden und Roma einerseits ihr natio- stellungen und folgten weniger den staatli- nalsozialistisches Ideal eines „homogenen Volks- chen Weisungen. Die zwingende Folge war das Noch etwas anderes unterscheidet Junges körpers“ durchzusetzen sowie andererseits den Auseinanderbrechen der staatlichen Struktur Arbeit von vielen anderen. Sie nennt die Namen kroatischen Satellitenstaat Unabhängiger Staat einhergehend mit dem Versagen des Systems, der Täterinnen und Täter. Sie beschreibt, wie Kroatien (USK) zu konsolidieren. was in „apokalyptische[n] Verhältnisse[n]“ (S. diese mit ihren ehemaligen jüdischen Nachbar- 394) resultierte. innen und Nachbarn umgegangen sind, wie sie Auch in der aktuellen Forschungsdiskussion aus der dörfl ichen „Volksgemeinschaft“ ausge- stellt die Thematisierung des USK sowie der Besonders hervorzuheben ist Korbs Themati- schlossen wurden, wie ihnen die Lebensgrund- Ustaša ein Desiderat dar. Eine grundlegende sierung des Habitus der Ustaša-Lagerwachen. lagen entzogen, wie sie enteignet wurden, wie Untersuchung der Ustaša-Herrschaft während Der Autor gelangt zu dem Schluss, dass sich viele tatenlos zuschauten, als die letzten jüdi- des Zweiten Weltkriegs fehlt bisher nahezu dieser im Lager selbst entwickelte und nicht schen Bewohnerinnen und Bewohner auf dem gänzlich – lediglich Tvrtko P. Sojčić trug mit im Vorhinein durch Indoktrination unterrich- Zimmerplatz, dem zentralen Dorfplatz, zusam- seinem 2008 erschienenen Werk zur wissen- tet werden musste. „Mit anderen Worten: Sie mengetrieben und mit Lastwagen abtranspor- schaftlichen Auseinandersetzung mit Kroatien [die Ustaša-Lagerwachen] mussten nicht lange tiert wurden, wie die nichtjüdischen Rauisch- vor 1945 bei. Alexander Korb versucht nun trainiert werden, um im Lager zu brutalen Auf- holzhausener das zurückgebliebene Eigentum durch die Untersuchung der Massengewalt der sehern zu werden“ (S. 378). In Kombination mit dieser Menschen „untereinander aufteilten“. Ustaša eine Arbeit „an der Schnittstelle dreier den scheinbar chaotischen Verhältnissen führte Die meisten Aktionen gegen die jüdische Bevöl- Forschungsrichtungen“ (S. 17) zu lancieren und dies temporär zu einer Todesrate von etwa 50 kerung erfolgten in „vorauseilendem Gehor- somit die Holocaustforschung mit der Geno- Prozent (S. 396) innerhalb der von der Ustaša sam“ bereits vor der offi ziellen Anweisung. Die zid- bzw. Gewalt- sowie Faschismusforschung geführten Lager in Kroatien. Namen der Opfer werden genannt und die der zu verbinden. Weiterhin stellt Korb den Analy- Zwar wäre es wünschenswert gewesen, wenn Täter auch. Das ist mutig. Auch die nicht immer sewert des Faschismusbegriff im Kontext der Alexander Korb mehr Quellen in seiner Studie selbstlose Rolle von Helferinnen und Helfern im von der Ustaša verübten Gewalttaten in Frage zitiert hätte, doch bietet sein Werk eine gut Dorf wird beleuchtet. (S. 63). So sei eine innerhalb eines ethnisier- lesbare – wenn auch sehr analytische – Unter- ten Bürgerkriegs auftretende Massengewalt Annamaria Junge beschreibt in ihrem Buch die suchung zur spezifischen Massengewalt der als spezifi sch „faschistische“ Gewaltform zu Ustaša zwischen 1941 und 1945. Insbesondere methodischen Vorüberlegungen, geht auf die bezweifeln. Vorgeschichte der jüdischen Bevölkerung zu die den Gewalthandlungen zu Grunde liegen- Beginn des 20. Jahrhunderts ein und beschreibt Zunächst führt der Autor jedoch in den Ge den Motive und Interessen in Zusammenhang Familienporträts. Anhand der Eckdaten der waltraum Balkan und seine Akteure ein. Er mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen sowie nazistischen antijüdischen Gesetzgebungen untersucht – zunächst epochenübergreifend – der damit einhergehenden zunehmenden Eigen- erläutert sie die Situation in ihrem Dorf. Beson- das Auftreten von ethnisch motivierter Gewalt dynamik der Gewalt werden deutlich. Folglich ders tragisch ist die Lebensgeschichte von Sara in der Donau-Balkan-Region. Eher nebenbei wird Korb seiner Idee der Untersuchung von Mendel, die ihre Familie durch die Shoah verlo- gelingt Korb hierbei eine knappe Einführung in Gewaltphänomenen an der Schnittstelle meh- ren hat und nach 1945 nach Rauischholzhausen die weit zurückreichenden komplizierten Grund- rerer Forschungsrichtungen gerecht und ver- zurückkehrt. Auch Walter und Martin Spier, jüdi- lagen der ethnischen Konfl ikte in dem von ihm bindet die Holocaust-, Genozid-/Gewalt- sowie sche Gesprächspartner von Annamaria Junge, untersuchten Feld. Hierbei nimmt insbesondere die Faschismusforschung eindrücklich. Darüber kamen zurück. Doch die beiden Brüder merkten der Erste Weltkrieg und die aus ihm resultieren- hinaus wirft seine Studie neue Fragen auf und schnell, dass sie nicht willkommen waren und den staatlichen und ethnischen Entwicklungen fordert zu weiteren Forschungen auf. kehrten Deutschland schließlich den Rücken. eine gesonderte Stellung innerhalb der Untersu- chung ein. Darüber hinaus verweist er auf mög- Sara Mendel jedoch blieb als einzige Jüdin alt Korb, Alexander: Im Schatten des Weltkriegs. und krank zurück. Auch nach dem Ende der liche Kontinuitätslinien der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Mittelosteuropa zwischen Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Nazi-Diktatur blieb sie aus der Dorfgemein- Juden und Roma in Kroatien 1941–1945. schaft ausgegrenzt. Einsam starb sie 1954 und den beiden Weltkriegen – wobei er einräumt, dass „es vorschnell [wäre], direkte Linien [vom Hamburg: Verlag des Hamburger Instituts wurde als letzte Jüdin auf dem jüdischen Fried- für Sozialforschung, 2013. hof beigesetzt: „Das ist ´n vollkommen anderes Ersten Weltkrieg] zu den Massenmorden wäh- Volk! Die Juden. […] Ei, weil sie nicht dazuge- rend des Zweiten Weltkriegs zu ziehen“ (S. 48). Sebastian Willert hörten!“, wird eine nichtjüdische Zeitzeugin im Unter Heranziehung der triadischen Gewalt- Buch zitiert. Eine erschreckende und ehrliche typologie Jan Philipp Reemtsmas – lozierende Antwort, die Unbelehrbarkeit und Uneinsichtig- Gewalt, welche Körper zu entfernen sucht, rap- keit zeigt, und deutlich macht, dass es eigent- tive Gewalt, die sich der Körper bemächtigt, Zu Besuch in Frankfurt lich eine wirkliche Integration der Juden in die um diese für Interessen zu nutzen sowie die um christliche Dorfgemeinschaft offensichtlich nie ihrer selbst willen verübte autotelische Gewalt Seit 1980 weilten mehr als 3.500 ehemalige gegeben hat. Rauischholzhausen steht exem- – untersucht Korb anschließend die von der jüdische Bürger und Bürgerinnen auf Einladung plarisch für viele solcher Orte auf dem Land. Ustaše ausgeführten Gewaltakte im Kontext des Magistrats für zwei Wochen in der Stadt, in der sie in der NS-Zeit entrechtet und gedemü- Zum Schluss ihres sehr empfehlenswerten von Vertreibungen, Massakern sowie der etab- lierten (Konzentrations-)Lager in Kroatien. tigt wurden, bevor sie sich zur Emigration ent- Buches beschreibt die Autorin einen Hach- schließen konnten und auch die notwendigen schara, einen landwirtschaftlichen Ausbildungs- Durch die gesamte Studie zieht sich die Frage Papiere bekamen. Als sich abzeichnete, dass betrieb für junge Menschen, die nach Palästina nach den Ursachen, Umfeld und Bedingungen, dieses Besuchsprogramm aus Altersgründen auswandern wollten, und der von 1946 bis welche die Gewalttaten der Ustaša möglich zu Ende ging, beschloss die Stadtverordne- 1947 in Rauischholzhausen existiert hat. machten. Korb interpretiert das Auftreten der tenversammlung 2007 eine Fortführung der Massengewalt gegen Serben, Juden und Roma Besuche nun mit den Kindern und Enkeln. Das in Kroatien nicht als Folge eines bereits vorhan- Annamaria Junge: „Niemand mehr da“. Anti- vorliegende Buch dokumentiert den ersten, eine denen Generalplans, welcher bei Etablierung Woche dauernden Besuch dieser Gruppe, im semitische Ausgrenzung und Verfolgung in des USK umgesetzt werden konnte. Vielmehr Rauischholzhausen 1933-1942. Marburg: Jahr 2012. Bei der Gestaltung des Programms sieht er die einsetzende Gewalt als Resultat konnten Erfahrungen berücksichtigt werden, die Jonas Verlag, 2012 des nach Etablierung des USK eintretenden Monika Hölscher die Projektgruppe „Jüdisches Leben in Frank- Machtvakuums einerseits sowie des Interes- furt“ bei der Begleitung der früheren Besuche sengegensatzes und, damit einhergehend, der gemacht hatte. Dazu gehörten beispielsweise gegeneinander ausgerichteten Handlungen der zwei moderierte Gesprächsrunden unter den italienischen und deutschen Besatzungsmächte Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die sich Die Massengewalt andererseits. Der sich entwickelnden gewaltvol- zuvor ja nicht kannten und von denen einige der Ustaša len Eigendynamik wurde zwar von staatlicher mit sehr gemischten Gefühlen kamen. Die Sozi- Seite sowie seitens der in ihren Interessengebie- alwissenschaftlerin und Gruppenanalytikerin ten operierenden Mächte Deutschland und Ita- Susanna Keval berichtet, wie sehr „Verbunden- Bereits während des Zweiten Weltkriegs stell- lien versucht entgegenzuwirken, doch breitete ten die kriegerischen Auseinandersetzungen heit, Kontakt und Anteilnahme“ Erinnerungen sich diese vielmehr aus – insbesondere nachdem freisetzten und die Begegnungen vor allem mit in Südosteuropa einen sogenannten „Neben- sich einige Gemeinden der ethnischen Homoge- kriegsschauplatz“ dar. In diesem „Schatten“ deutschen Jugendlichen belebten. Bestand- nisierung zu widersetzen suchten. teil des neuen Besuchsprogramm ist neben Letztlich konnte der USK lediglich in wenigen Besuchen von Schulklassen, in der Regel an Bereichen auf vorhandene staatliche Strukturen den Schulen, die die Eltern besucht hatten, vor zurückgreifen, was zu einer Abhängigkeit von allem die sorgfältig begleitete Spurensuche zu informationen 79 | Seite 46 den Wurzeln der eigenen Familie; sie führte rer Carl Legien hatte. Ein früheres skandalisie- in die Heimatorte, auf Friedhöfe, in Archive rungsfähiges Thema stellen auch die Affären Buchbesprechungen und zu vielen Begegnungen. Die dokumentier- von Ferdinand Lassalle dar, der sich mehrfach ten Beispiele – es sind 16 ganz verschiedene verliebte und duellierte, bis er schließlich 1864 Geschichten – verdeutlichen die Bedeutung nach einem Schusswechsel starb. Leider enthält Es konnten durch diese Aktion zwar etwa für die Enkelgeneration und zeigen zugleich, die informative Erzählung Weiperts über ein 21.000 skandinavische KZ-Häftlinge aus dem wie wichtig hier eine detaillierte Vorbereitung Jahrhundert Berliner Arbeiterbewegung keine Lager Neuengamme mit weiß gestrichenen und Begleitung ist. Das mit vielen persönlichen Register der genannten Personen oder erwähn- Bussen des Schwedischen Roten Kreuzes befreit Dokumenten und Fotos gestaltete Buch schließt ten Orte. Das Buch setzt – laut Umschlagstext werden, dafür haben jedoch viele polnische, mit einem Kapitel Handreichungen, in dem – „kein umfassendes Vorwissen” voraus und französische und russische KZ-Häftlinge ihr die Herausgeberin Angelika Rieber aufgrund könnte – wenn es sie noch geben würde – eine Leben verloren, weil sie im Zusammenhang ihrer reichen Erfahrungen auf die „Fallstricke gute Grundlage für Parteischulen sein. Fach- mit dieser Aktion in Außenlager transportiert und Herausforderungen für die Organisation leute finden nur äußerst bedingt Neues. Es worden sind. von Begegnungen mit Zeitzeugen“ aufmerksam wird die große Breite sozialer, politischer und Im Mittelpunkt der „Aktion Weiße Busse“ stand macht. kultureller Organisationen und Vereine – eine Graf Folke Bernadotte, der damalige Vizeprä- Bewegung, viele Parteien – des linken Milieus sident des Schwedischen Roten Kreuzes und zur Sprache gebracht. Nur die trotzkistische Neffe des schwedischen Königs Gustav V. Er Angelika Rieber (Hg.): Unsere Wurzeln sind Linie scheint der Autor übersehen zu haben. Er hatte die Bedingungen der Aktion seit Mitte hier in Frankfurt. Begegnungen mit ehemali- weisst zwar auf die gewalttätigen und oft mit Februar 1944 mit Reichsführer-SS Heinrich gen Frankfurterinnen und Frankfurtern jüdi- Toten endenden Straßenkämpfe am Ende der Himmler ausgehandelt, als eine Gegenleistung scher Herkunft und ihren Kindern. Karben: Weimarer Republik hin, aber lässt den Wider- für das Herstellen von Kontakten zu den west- Morlant Verlag, 2013 stand aus der Arbeiterbewegung mit einem lichen Alliierten, von denen sich Himmler einen Ursula Krause-Schmitt Satz etwas zu kurz kommen: „Das weitgehende Separatfrieden erhofft hatte. Scheitern der einstmals so starken Arbeiterbe- Die „Aktion Weiße Busse” ist weder in der wegung im roten Berlin angesichts ihrer größten alten BRD noch in der DDR umfassend wissen- Herausforderung darf jedoch nicht vergessen schaftlich erforscht worden. Eine verbesserte Aufstieg und Wandel der lassen, dass es eben doch auch Widerstand Forschung ist erst nach dem 50. Jahrestag der gab” (S. 234). Aktion erfolgt. Der vorliegende Band führt Berliner Arbeiterbewegung Der Titel “Das Rote Berlin” sollte weniger als einige aktuelle Ergebnisse der diesbezüglichen 1830 bis 1934 politisches Kennzeichen der behandelten Jahre Forschungen und Zeitzeugenberichte zusam- zwischen 1830 und 1934 angesehen werden, men. Weitgehend anhand von Erinnerungsberichten auch wenn Weipert um Kontinuität bemüht Der erste Teil des Bandes thematisiert in acht und Sekundärliteratur erzählt Axel Weipert die ist: „Die klassische Arbeiterbewegung hat Beiträgen verschiedene Aspekte der Problema- Geschichte des „Roten Berlin“ und der Arbei- weitgehend zu bestehen aufgehört, in einem tik „Skandinavier unter deutscher Herrschaft terbewegung in der Hauptstadt des Deutschen umfassenden Sinn als Emanzipationsbewegung – als Opfer und als Täter”. Diese Beiträge behan- Reiches. Seine Arbeit ist gut lesbar und will hat sie aber keinesfalls ausgedient, sondern deln mehrheitlich das KZ Neuengamme und „Geschichte durch Geschichten verständlich nur ihre Form verändert.” (S. 237) Wenn das dessen Außenlager. Michael Grill und Ulrike machen“ (S. 7). Aber leider wird weitgehend kein gutes Schlusswort – nicht nur für Weiperts Jensen weisen hier die Problematik des soge- auf Nachweise und Belege verzichtet. Wer sich abschließende Frage nach dem „Ende der Arbei- nannten „Skandinavienlagers” nach, jenes als daran nicht stört, kann das Buch mit Gewinn terbewegung?” ist. Schonungsblock bezeichneten Steingebäudes lesen. an der Lagerstraße, in dem sich vor der Aktion Weiperts Darstellung der Arbeiterbewegung von Axel Weipert: Das Rote Berlin. Eine Ge- Tausende Kranke und Sterbende befunden Berlin ist großenteils zugleich eine Geschichte schichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830- haben, die dann im Zusammenhang mit der der deutschen Arbeiterbewegung und der sie 1934. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, “Aktion Weißen Busse” in Außenlager nach Salz- tragenden bzw. repräsentierenden Personen 2013 gitter-Watenstedt sowie Hannover transportiert wurden. Dadurch wurde Platz für skandinavi- und Organisationen. In dieser Kompilation mehr Kurt Schilde oder weniger bekannter Ereignisse werden die sche Häftlinge geschaffen. Begriffe Arbeiter und Arbeiterbewegung in Im zweiten Teil befassen sich vier Beiträge kri- einem „sehr weiten Sinn” (S. 9) verstanden. Zur tisch sowohl mit den Hintergründen der Aktion Sprache kommen zahlreiche Einzelbeispiele. als auch mit deren Rezeptionsgeschichten sowie „Ausgewählt wurden solche Fälle, die beson- Die Rettungsaktion mit den Erinnerungskulturen in Deutschland ders spektakulär oder wegweisend waren” (S. „Weiße Busse“ und in Skandinavien. Besonderes Verdienst der 8). Dazu gehören eine „Schneiderrevolution” Autorinnen und Autoren ist hier, die ungelieb- (S. 11) oder „Kartoffelrevolution” (S. 15), der Nach dem Überfall Deutschlands auf Däne- ten und jahrzehntelang verdrängten negativen Kampf gegen das Sozialistengesetz (S. 42 ff.) mark und Norwegen im Jahr 1940 hat sich in Seiten der „Aktion Weiße Busse“ zu themati- und die bekannte organisatorische Entwicklung. diesen Ländern – trotz einer im Vergleich zu sieren. Jörg Wollenberg macht sehr deutlich Es wird aber nicht deutlich, was exemplarische anderen Ländern „milderen“ Form der Besat- auf die Verhandlungen bezüglich der „Aktion Bedeutung hat und was Allgemeingültigkeit zungspolitik – ein immer stärker werdender Weiße Busse“ aufmerksam, die parallel zu den beanspruchen kann. Widerstand gegen die faschistischen Besatzer Räumungen der Lager in Auschwitz und den Die Darstellung beginnt im Vormärz – um die entwickelt, nicht zuletzt weil auch Dänen und nachfolgenden Todesmärschen verlaufen sind. „Revolution” von 1848 – und umfasst zunächst Norweger in Konzentrationslager deportiert Himmler wollte einen Separatfrieden mit den die frühe (bis 1890) und späte Kaiserzeit (bis worden sind. Westmächten. Dafür nutzte er die KZ-Insassen 1914) sowie den Ersten Weltkrieg. Die bekann- Als Reaktion auf die immer stärker werdende als “Trumpfkarte”. Die Verhandlungen waren ten Themen sind schon mehrfach beschrieben Widerstandsbewegung setzte dann ab Septem- somit praktisch Schachergeschäfte um Men- worden: „Frieden oder Burgfrieden?”, „Brotkar- ber 1944 eine immer rigidere Besatzungspolitik schenleben. Jörg Wollenberg verweist hier auch ten und Kohlrüben” und die Spaltung der deut- ein. In deren Verlauf wurden dann Tausende auf die damaligen “Doppelspiele” Schwedens. schen – damit auch der Berliner – Arbeiterbe- Dänen zunächst interniert und anschließend in Die Beantwortung der Fragestellung, ob Graf wegung. Die „revolutionäre” Zeit 1918/19 geht das KZ Neuengamme bei Hamburg verschleppt. Bernadotte eine Schuld auf sich geladen hat, über in die Weimarer Republik und ihre Krise Dort wurden sie u.a. von gut 30 dänischen als er es zum Beispiel zwischen dem 26. und und schließlich die Etablierung der nationalso- SS-Freiwilligen bewacht. dem 27. März 1945 ablehnte, auch Juden und zialistischen Herrschaft 1933. Nicht-Skandinavier nach Schweden zu transpor- Gegen Ende des 2. Weltkrieges haben ver- tieren, oder ob er mit seinen Bemühungen für Die Frauen betreffenden Ereignisse und Organi- schiedene skandinavische Behörden versucht, die Rettungsaktion genau den Anweisungen sationen hat Weipert in seine Darstellung inte- sich vor Ort für die skandinavischen KZ-Häft- der schwedischen Regierung gefolgt ist, die griert, z.B. als Hinweis auf den 1885 gegründe- linge einzusetzen und auch versucht, diese im erst ab dem 27. März diese Beschränkungen ten „Verein zur Vertretung der Interessen der Rahmen der “Aktion Weiße Busse” ab der zwei- lockerte, bleibt weiteren Forschungen vorbe- Arbeiterinnen”. Er geht – so kann oder muss (?) ten Märzhälfte des Jahres 1945 aus Konzen- halten. Izabela A. Dahl behandelt in ihrem es gesehen werden – auch auf Klatschbedürf- trationslagern weg nach Skandinavien zu trans- Beitrag das Erinnern, bzw. das Nicht-Erinnern nisse ein, wenn er auf die Dreiecksbeziehung portieren. Eine Befreiung der dänischen und an die „Aktion Weiße Busse“. Weder in den von Emma Ihrer – „eine der treibenden Kräfte norwegischen Gefangenen mit den “Weißen der proletarischen Frauenbewegung” (S. 52) – Bussen” erfolgte dann zwischen dem 9. und eingeht, die neben ihrer Ehe eine langjährige 20. April 1945, die Geretteten wurden nach Liebesbeziehung mit dem Gewerkschaftsfüh- Schweden gebracht. iinformationennformationen 7799 | SSeiteeite 4477 Wolfgang Benz zeichnet ein wesentlich differen- deportiert und umgebracht. Schon zu Beginn Buchbesprechungen zierteres Bild der „Judenältesten“ und weist auf des Buchs weist der Autor darauf hin, dass die Zwänge und die Tragik ihres Handelns hin. Theresienstadt streng genommen nicht, wie Benz schildert auch die Vorgeschichte der zuweilen behauptet, als KZ zu bezeichnen ist, drei großen KZ-Gedenkstätten der DDR noch und das nicht nur aus rein formalen Gründen, in den KZ-Gedenkstätten der BRD hat es nach böhmischen Festung, die Kaiser Joseph II. Ende des 18. Jahrhunderts zu Ehren seiner Mutter da es nicht dem SS-Wirtschafts-Verwaltungs- ihren Ausführungen eine Präsentation über die hauptamt in Berlin unterstellt war. Vielmehr Aktion gegeben. Zwar sei heute in der BRD Maria Theresia bauen ließ, sowie die Nutzung als Internierungslager für Deutsche nach Ende fehlten dort eine ganze Reihe struktureller Merk- diese Aktion ein selbstverständlicher Teil des male eines Konzentrationslagers. Dennoch hebt Befreiungsgeschehens, allerdings insgesamt des Zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen aber die Jahre 1941 bis Benz die wichtige Funktion des Ghettos in der bedauerlicher Weise immer noch weitgehend Maschinerie des Völkermords hervor. als ein akademisches Thema. 1945 und damit das dunkelste Kapitel der ehe- maligen Garnisonsstadt. 1940 wurde in der Wolfgang Benz ist es ein Anliegen, Theresi- In dem abschließenden dritten Teil des Sammel- sogenannten „Kleinen Festung“ ein Gestapo-Ge- enstadt zu entmythologisieren und als Ort zu bandes werden als wertvolle Ergänzungen drei- fängnis eingerichtet, ehe Ende 1941 auf Betrei- schildern, der im Vernichtungsprogramm der zehn Zeitzeugenberichte präsentiert. Bei diesen ben von Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann Nationalsozialisten einen festen Platz hatte. Berichten handelt es sich um Erinnerungen von und Karl Hermann Frank das Theresienstädter Dies ist ihm mit einer fundierten Darstellung dänischen und norwegischen Überlebenden Ghetto errichtet wurde. Fast in Vergessenheit gelungen. der Konzentrationslager. Zudem kommen hier geraten ist die Tatsache, dass mehr als die auch zwei Fahrer der „Weißen Busse” zu Wort, Hälfte der dorthin deportierten etwa 141.000 die außerdem Frauen aus dem KZ Ravensbrück Juden aus der Tschechoslowakei stammten. Wolfgang Benz: Theresienstadt. Eine Ge- nach Schweden gebracht haben. schichte von Täuschung und Vernichtung. Dennoch hält sich laut Benz bis heute der München: C.H. Beck, 2013 Im Spannungsfeld der damaligen historischen Mythos eines Altersghettos für privilegierte Geschehnisse sowie den Handlungen einzelner deutsche Juden, in dem vor allem gemalt und Andreas Dickerboom Menschen gegen das NS-Regime oder zusam- musiziert wurde. Was Theresienstadt wirklich men mit ihm, auf kollektive Erinnerungen und ausmachte, sei an einem Zitat von Dr. Norbert auf Erinnerungen von einzelnen Akteuren Stern verdeutlicht: „Theresienstadt ist für den präsentiert dieses Werk insgesamt ein sowohl Sehenden eine Universität, und zwar die Uni- Gerda Taro – Fotografi n sehr wissenschaftlich fortgeschrittenes als versität des Leidens und der Leidenschaften, auch durchaus kritisch-differenziertes Bild der ferner eine Universität der Menschentypen des Bürgerkriegs „Aktion Weiße Busse“. und Menschenschicksale, eine Universität des Grauens und der Hölle, eine Universität der Was für ein Leben! Rasant, ereignisreich, kämp- Finsternis und des Schwarzhandwerks, eine ferisch – und viel zu kurz. Die Fotografi n Gerda Oliver von Wrochem: Skandinavien im Zwei- Taro – ihr eigentlicher Name war Gerta Poho- ten Weltkrieg und die Rettungsaktion Weiße Universität des Todes, des Irrsinns, der Lüge, des Verfalls, der Tyrannei und ihrer Sklaverei.“ rylle – starb durch einen tragischen Unfall nahe Busse. Ereignisse und Erinnerung. Berlin: Met- der Front bei Brunete im Spanischen Bürger- ropol Verlag, 2012 Dem blinden Dr. Stern widmet der Autor ein kleines Kapitel, wie auch an anderer Stelle bio- krieg. Es war der 25. Juli 1937. Am Tag ihres Andreas Diers graphische Einschübe wertvolle Ergänzungen Begräbnisses, dem 1. August, wäre Gerda Taro darstellen, so z.B. über den Rabbiner Leo Baeck, 27 Jahre alt geworden. Irme Schaber hat ihr ein zum Schicksal der damals siebenjährigen Edith umfassendes Buch gewidmet, das den unge- Erbrich, geb. Bär, sowie über den Komponisten wöhnlichen Lebensweg und das außerordentli- Theresienstadt – Viktor Ullmann. Letzterem war es wichtig zu che Werk Gerda Taros in gleicher Weise würdigt. betonen, „dass ich in meiner musikalischen Taro kam 1910 in zur Welt, Toch- Ort von Täuschung Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht ter einer wohlhabenden jüdischen Familie, die und Vernichtung etwa gehemmt worden bin, dass wir keineswegs aus Ostgalizien eingewandert war. Der Vater bloß klagend an Babylons Flüssen saßen und verdiente sein Geld im Eierhandel, seinen Kin- Wie kein anderer Ort steht Theresienstadt dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen dern ermöglichte er Bildung und einen offenen für den Zynismus der nationalsozialistischen adäquat war.“ Zugang zur Welt. Gerda war hübsch, und so Vernichtungsstrategie. Der Weltöffentlichkeit Ein Kapitel widmet der Autor den Kindern in schick, dass sie von den Mitschülerinnen benei- wurde ein Vorzeige-Ghetto vorgegaukelt, das Theresienstadt. Deren Gedichte oder Zeich- det wurde, obendrein mit Witz und wachem in Wirklichkeit von Hunger und hoher Sterb- nungen zählen zu den eindrucksvollen Hin- Geist ausgestattet. Politik war nicht ihre Sache. lichkeit geprägt und voll in das Programm der terlassenschaften künstlerischer Tätigkeit und Das änderte sich, als Hitler an die Macht kam. „Endlösung“ eingebunden war. Der Historiker erfuhren wie auch die Kinderoper „Brundibar“ Gerda lebte mittlerweile mit ihrer Familie in Wolfgang Benz hat nun die erste Gesamtdar- in der Rezeptionsgeschichte große Aufmerksam- Leipzig. Die Weltwirtschaftskrise war an den stellung seit fast 60 Jahren vorgelegt. keit. Jedoch waren auch die insgesamt 15.000 Pohorylles nicht vorbeigegangen, der frühere Benz, emeritierter Professor der Technischen Kinder nicht von den Deportationen ausge- Wohlstand war verfl ogen. Gerda hatte neue Universität Berlin und langjähriger Leiter des schlossen - nur wenige überlebten. Freunde, die sich den Nationalsozialisten wider- Zentrum für Antisemitismusforschung, bietet Ungeachtet der beachtlichen künstlerischen setzen wollen. Sie schrieben Flugblätter, ver- eine gut lesbare und unterschiedliche Aspekte Aktivitäten im Ghetto ist Wolfgang Benz daran teilten sie nachts und waren mit nichts auf berücksichtigende Monografi e zu Theresien- gelegen, Theresienstadt als das darzustellen, die Gefahren politischer Untergrundarbeit stadt, die erste umfassende Darstellung seit was es war: ein Ort, der voll und ganz in das vorbereitet. Gerda landete für drei Wochen in dem Standardwerk von H.G. Adler aus dem Jahr Programm der „Endlösung“ eingebunden war. Schutzhaft. Nach ihrer Entlassung war ihr klar, 1955. Adler war seinerzeit selbst in Theresien- Der besondere Zynismus bestand darin, dass dass sie Deutschland verlassen musste. Mit der stadt interniert und hatte einen entsprechend die Nationalsozialisten der Welt ein Illusions- Freundin Ruth Cerf fl oh sie nach . Armut, anderen Blick auf das Geschehen. Besonders theater vorführten, auf die Spitze getrieben Kälte, miese Jobs – das Leben in der Emigration deutlich wird dies in der unterschiedlichen anlässlich des Besuchs einer Delegation des war alles andere als einfach. Bewertung der drei „Judenältesten“ Jakob Edel- Roten Kreuzes. Nicht weniger zynisch war der Im September 1934 lernte sie den jungen, aus stein, Paul Eppstein und Benjamin Murmelstein, Dreh eines Propagandafi lms, veranlasst von der Ungarn stammenden Amerikaner André Fried- die an der Spitze einer sogenannten „jüdischen SS, die den berühmtem jüdischen Schauspieler mann kennen. Er wird als Robert Capa einer Selbstverwaltung“ standen. Von den Bewohnern und Kabarettisten Kurt Gerron zwang, Regie der berühmtesten Fotografen der Welt werden, Theresienstadts wurden diese Männer mehr- zu führen. Die Täuschungen der Nationalsozia- dessen Bilder bis heute unsere Vorstellungen heitlich als Kollaborateure und Handlanger der listen sind laut Benz bis heute nicht gänzlich von Krieg und Gewalt prägen. Gerda Taro wird Nazis angesehen, und so verwundert es nicht, erfolglos geblieben, bestehe doch noch immer für die kurze Spanne, die ihr noch bleibt, an dass Adler an ihnen kaum ein gutes Haar ließ. die stereotype Rezeption des Ghettos als Ort seiner Seite sein. Sie arbeiteten zusammen, sie Insbesondere Murmelstein, der die NS-Zeit im vor allem kultureller Aktivitäten, in dem bes- lebten zusammen, sie führten eine ungewöhn- Gegensatz zu Edelstein und Eppstein überlebte, sere Lebensbedingungen als in anderen Lagern liche, moderne Beziehung. Ein Zeichen ihrer konnte diesen Makel bis zu seinem Tod 1989 geherrscht hätten. Die nackten Zahlen spre- Verbundenheit waren nicht zuletzt die neuen nicht ablegen – berühmt ist der Briefwechsel chen eine deutlich andere Sprache: von den Namen, die sie sich zur gleichen Zait gaben: zwischen Hannah Arendt und Gerschom Scho- insgesamt etwa 141.000 nach Theresienstadt Capa, an den Regisseur Frank Capra angelehnt, lem, die ihn symbolisch zum Tode verurteilten. deportierten Juden überlebten nur 23.000, also und Taro, einem surrealistischen japanischen ein Sechstel. Etwa 33.500 Menschen starben in Maler zu Ehren. Theresienstadt, die überwiegende Zahl wurde Irme Schaber beschreibt den Lebensweg von in Vernichtungslager – vor allem Auschwitz – Gerda Taro mit viel Kenntnis und Hintergrund. informationen 79 | Seite 48 Bilder und Dokumente belegen die verschiede- (für deren Magazin sie gearbeitet hatte) und nen Stationen. Noch mehr Dynamik gewinnt der Intellektuellen, die sich mit dem spanischen Buchbesprechungen die Biographie von dem Moment an, als Gerda Bürgerkrieg solidarisieren. Ihr Grab ist auf dem Taros Fotografi e ins Spiel kommt. Taro war Auto- Friedhof Père Lachaise in Paris zu fi nden. Es gibt didaktin, aber mit unbestechlichem Blick für keine Hinterbliebenen mehr. musikerinnen und -musikern sowie Sängerin- Menschen und Momente. Sie fotografi erte in Die Kulturwissenschaftlerin Irme Schaber hält nen und Sänger. Ihre Schicksale waren bitter: der ersten Zeit mit einer Spiegelrefl exkamera mit aufwändiger Kleinarbeit und intensiver Kulturghetto, Emigration, Verelendung, Suizid, im 6 mal 6-Format, das ihren Fotos eine ganz Recherche seit fast 20 Jahren die Erinnerung Deportation und Tod in Konzentrationslagern. eigene Bildsprache gab. Oft fotografi erte sie an Gerda Taro wach. Sie hat Ausstellungen Im zweiten Teil des Katalogs „Die Bayreuther die gleichen Motive wie Capa – welches Foto kuratiert, Monographien und Kataloge veröf- Festspiele und die Juden“ geben verschiedene für den Betrachter das „bessere“ ist, bleibt fentlicht. Mit diesem neuen Band legt sie den Autoren einen Überblick über die Entwicklung schwer zu entscheiden. Als Konkurrenten emp- Leserinnen und Lesern ein großes Geschenk in in politischer und ideologischer Sicht seit dem fanden sich die beiden wohl nie; eher war es die Hand. Tod Wagners (1883). Sven Fritz zeigt am Bei- die Umwelt – Zeitungsredaktionen und Foto- spiel des Kampfes von Cosimar Wagner um agenturen – die Robert Capas Fotos deutlicher die alleinigen Aufführungsrechte des „Parsifal“ würdigte und bekannt machte. Irme Schaber: Gerda Taro, Fotoreporterin: Mit für Bayreuth, wie sich aus einem von vorn- Für immer verbunden sind beider Namen mit Robert Capa im Spanischen Bürgerkrieg. Die herein aussichtslosen Kampf die Festspiel- dem Spanischen Bürgerkrieg, den sie ab August Biografi e. Marburg: Jonas Verlag, 2013 leitung und ihr Unterstützungskreis zu einer 1936 begleiteten. Ausführlich widmet sich Irme Gabriele Prein rechtskonservativen, antidemokratischen und Schaber dem Bild des „Fallenden Milizionärs“, antisemitischen „Trutzburg“ im Kaiserreich das zur Ikone des Krieges wird und dessen Ent- entwickelten. Jüdische Künstler, die das ver- stehung bis heute rätselhaft ist. War es ein meintliche Monopol für die Aufführung des echter Tod? War es eine gestellte Szene? Es Bühnenweihefestspiels Parsifal durchbrachen, bleibt unklar. Viel Klarheit dagegen kommt wurden fortan boykottiert, ihre nichtjüdischen in die Aufarbeitung von Taros und Capas Bayreuth und die Unterstützer als „Judenknechte“ diffamiert. Arbeiten durch den „Mexikanischen Koffer“, verstummten Stimmen Hannes Heer erzählt die Geschichte der Fest- eine große Sammlung von Negativen, die erst spiele über den Ersten Weltkrieg bis zum Jahre 2007 gefunden und erschlossen wurde. Deut- 2012, sechs Jahre nach ihrer ersten Präsenta- 1930 fort. Die Zugehörigkeit der gesamten lich wird darin, wie groß der Anteil von Gerda tion in Hamburg, kam die Ausstellung da an, Wagner-Familie zu den rechtsreaktionären Taro an Capas Werk war. wo der Antisemitismus in der Musik seine erste Kreisen, Parteien und Verbänden und die Viel Raum widmet Irme Schaber den letzten starke Ausprägung und seine ideologischen unermüdliche Kriegspropaganda Chamber- Stunden von Gerda Taro. Die leidenschaft- Grundlagen erfuhr: in Bayreuth. Richard Wagner lains machten Bayreuth zu einem „Teil der liche Fotoreporterin schreckte vor Gefahren mit seiner Schrift „Das Judentum in der Musik“ Front“ (Heer). Da war es nur konsequent, nie zurück, sie wollte immer in den vordersten (1850/1869) warnte vor dem „zersetzenden dass nach dem verlorenen Krieg die Familie Linien der republikanischen Kämpfer sein. Das Einfl uß“ des Judentums auf die deutsche Kultur. Wagner all diejenigen Organisationen unter- galt auch in der dramatischen und äußerst Wagners Erben bauten die Bayreuther Festspiele stützte, die sich der Agitation gegen die Juden verlustreichen Schlacht von Brunete. Mit Ted zum ideologischen Zentrum und zum Treffpunkt und deren angeblichen Verantwortung für Allan, einem Gefährten und möglichen Lieb- einer deutschnational, völkisch und antisemitisch die deutsche Katastrophe zum Ziel gesetzt haber ihrer letzten Lebenstage, fuhr sie an denkenden Elite aus. In ihrem Denken stand der hatten. Ludendorff und Hitler tauchten früh die Front. Nicht durch eine Kugel des Feindes, kulturschaffenden germanisch-arischen Rasse in Bayreuth und im Haus Wahnfried auf. sondern durch einen republikanischen Panzer die kulturzersetzende jüdische gegenüber. Diese Die Wiedereröffnung der Festspiele 1924 kommt sie zu Tode. Das schwere Fahrzeug zeichnete auch verantwortlich für alle neuen geriet mit der Auswahl der Künstler, des überrollte sie, nachdem sie von einem Last- Formen der Kunst, speziell der Musik, die in den Publikums, des Schrifttums und der Ereignisse wagen gefallen war. Sie starb nach wenigen Kampfbegriffen des „Kultur- und Musikbolsche- in der Stadt Bayreuth zu einer Manifestation Stunden an den schweren Verletzungen. Ihr wismus“, und später von den Nationalsozialisten deutsch-nationalistischen Denkens und des Tod stürzt Capa in Verzweifl ung und Freunde, als „entartete Kunst“ zusammen gefasst wurden. Antisemitismus. Aber die Reaktionen in den Genossen und Familie in ganz Europa in Trauer. Der Katalog beginnt eindrucksvoll mit den angesehen überregionalen Zeitungen und bei Ihr Leichnam wird nach Paris, der Stadt, die sie Portraits von 44 hervorragenden Künstlern, den jüdischen Verbänden waren vernichtend so liebte, überführt; ihr Trauerzug wird eine die diese „entartete Musik“ repräsentierten, in Bezug auf die künstlerische Konzeption und Demonstration der Kommunistischen Partei darunter Komponisten, Dirigenten, Orchester- Qualität der Aufführungen und die politisch-

Roberta Gropper (1897–1993) Die Kommunistin Roberta Gropper erlebte das Exil in doppelter Weise: als Zuflucht und als Falle. Aufgewachsen in einer Memminger Arbeiterfamilie engagierte sie sich besonders für Frauenbelange, wurde mehrfach zur Betriebsrätin gewählt und saß von 1930 bis 1932 für die KPD im Reichstag. 1933 arbeitete sie zunächst im Untergrund und fl üchtete, als die Gefahr einer Verhaftung zu groß wurde, im Mai 1934 nach Frankreich. Hier gehörte sie zu den politischen Emigrantinnen, die einen inter- nationalen Frauenkongress gegen Faschismus und Krieg vor- bereiteten. Da sie kein Aufenthaltsrecht bekam, ging sie im Februar 1935 nach Moskau. Bis zu ihrer Verhaftung im Zuge der stalinistischen Säuberungen 1937 war sie bei der Inter- nationalen Arbeiterhilfe, in der Redaktion der Zeitschrift „Banner des Marxismus“ und beim Verlag ausländischer Arbeiter tätig. Bis Juni 1941 ohne Prozess und Urteil im Gefängnis Butyrka gefangen, wurde sie nach dem Überfall der Wehrmacht nach Sibirien deportiert. Als Schwerkranke kehrte sie 1947 nach Deutschland, in die sowjetisch besetzte Zone zurück, und stürzte sich sofort in die politische Arbeit. Über das Trauma der Ver- FFrauenrauen imim folgung in der Sowjetunion hat sie nie gesprochen. Quelle: Siegfried Mielke (Hg.): Gewerkschafterinnen im NS-Staat: ppolitischenolitischen ExilExil Verfolgung, Widerstand, Emigration. Essen 2008

iinformationennformationen 7799 | SSeiteeite 4499 Hier war der Krieg ein unabwendbares Schick- Buchbesprechungen Museen als sal, welches ertragen werden musste. Da kulturelles Gedächtnis fi nden sich in den gegenseitigen Mitteilun- gen zwar Hinweise auf wirtschaftliche Nöte, revanchistischen und antisemitischen Begleit- Die vorliegende Veröffentlichung ist aus der private Sorgen, Sehnsüchte nach Heimatur- umstände in der Stadt. Siegfried Wagner, der Dissertation von Vanessa Schröder hervor- laub und körperlicher Unversehrtheit. Aber einzige Sohn Richard Wagners, der jetzt Fest- gegangen. Die heute im Bereich Besucher- eher sind Resignation und „Gott-Ergebenheit“ spielleiter war, musste zurückrudern, da die forschung und Kulturevaluation tätige Auto- herauslesbar – keine Anzeichen von Rebellion Festspiele gefährdet erschienen: Das jüdische rin untersucht anhand von vier Museen, wie oder gar widerständigem Aufbegehren. Zu und ausländische Publikum war eine wesent- Besucher Geschichte und historische Zeit gering war augenscheinlich das allgemeine liche Einnahmequelle und verfügte in den erleben. Dafür befragte sie Besucher aus Wissen um gesellschaftspolitische Zusammen- Wagner-Vereinen über erheblichen Einfluss. dem Jüdischen Museum Berlin, dem Haus hänge. Das scheint zwischen den Ereignis- Bis zu seinem Tod 1930 herrschte eine Art der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- sen der beiden Kriege beinah unverändert; erzwungener, taktischer Waffenstillstand. Wo land in Bonn, dem Historischen Museum am Nichts dazu gelernt, möchte man sagen. Die die Sympathien des Wagner-Clans tatsächlich Hohen Ufer in Hannover und dem Deutschen Ursachen könnten auf das Leben in dörfl icher lagen, zeigte sich vor allem in der in der rast- Historischen Museum in Berlin. Abgeschiedenheit zurückzuführen sein. Waren losen Tätigkeit von Siegfrieds Frau und Nach- Ihre akademische Untersuchung richtet sich aber nicht auch Menschen anderer Gesell- folgerin Winifred Wagner für den in Landsberg schaftsschichten ebenso verführ- und manipu- inhaftierten Hitler. nicht an ein breiteres Publikum und versucht eine Antwort darauf zu fi nden, wie Geschichte lierbar – bis heute?. Boris von Haken zeichnet die Entwicklung und historische Zeit von Besuchern historischer Die Lektüre vermag nachdenklich zu stimmen, der Festspiele von 1933 bis 1945 nach. Vom Museen verstanden werden. Um einen Eindruck ein wertvoller Gegenpol zu der gegenwärtigen massen-weisen Ankauf von Eintrittskarten von ihrer Publikation zu erhalten, zitiere ich fast infl ationären Flut von Veröffentlichungen 1933 wegen ausbleibender Verkäufe an aus- aus ihrer Schlussbetrachtung: „Ein zentrales über Kriegsursachen und –verlauf des Ersten ländische Besucher bis zur völligen Über- Ergebnis dieser Untersuchung ist es deshalb, Weltkrieges sowie der „Heldentaten“ der Heer- nahme der Organisation der Festspiele durch dass multiple Faktoren dazu beitragen, wie führer und Armeen. Von Widerstandsaktionen die Organisation „Kraft durch Freude“ 1940 Geschichte und Zeit in historischen Museen zu berichten vermögen diese Briefe nicht. führte der Weg in die totale Abhängigkeit gedeutet, verstanden, rekonstruiert und aktuali- Indirekt werden aber Erkenntnisse vermittelt, vom nationalsozialistischen Staat und seinen siert werden. Dafür galt es in der Interpretation warum alles so geschehen konnte und warum Organisationen. Dieser, vor allem Hitler persön- der Ergebnisse, dies differenzierter aufzuschlüs- Kriege nicht nur für die Soldaten, sondern auch lich, bestimmten Umfang, Programm und Struk- seln als anfangs ausgehend vom Theorieteil für deren Familien in scheinbar abgelegenen tur der Besucher der Festspiele und natürlich angenommen wurde. Dieses Ergebnis spricht Gegenden viel Leid und Entbehrung bringen. auch die Auswahl der Künstler. dafür, dass es sich bei dem Verhältnis von Die begleitenden Anmerkungen des Herausge- Hannes Heer fasst in dem Kapitel „Anti- Geschichte ausstellen und Geschichte verse- bers zu den jeweiligen historischen Ereignisse semitische Besetzungspolitik bei den Bay- hen um ein vielschichtiges Phänomen handelt. oder aktuellen Zusammenhängen sind dabei reuther Festspielen 1876 bis 1945“ die oben Sowohl Personenmerkmale, das Vorwissen der wertvolle Ergänzungen. dargestellte ideologische Entwicklung des Besucher, ihre präferierte oder vom Museum Hauses Wagner und seines Leitungsstabes motivierte Rezeptionsweise sowie die selek- zusammen und überträgt sie im Detail auf die tiv wahrgenommenen verschiedenen Eindrü- Frank Schumann (Hg.): Was tun wir hier? Sol- Besetzungspolitik. Gezielt wurden jüdische, cke von historischen Perioden, Themen und datenpost und Heimatbriefe aus zwei Welt- aber auch ausländische Künstler diffamiert Arten Geschichtsdarstellung sowie der Expo- kriegen. Berlin: Verlag Neues Leben, 2013 und ausgegrenzt und nur noch eingesetzt, natinzenierung prägen verschiedene Arten des Helga W. Schwarz wenn keine „arischen“ zur Verfügung standen. Geschichtsverstehens. Demzufolge ist es in Qualitätsverluste wurden in Kauf genommen. einem Wechselspiel zwischen Ausstellung und Bayreuth sollte zum deutsch-nationalen Gegen- Besucher begründet, welche Ausstellungsele- modell der Barbarei der „verjudeten“, libertären mente welcher Gast in einem Museum wie als und demokratischen Kunstmetropolen Berlin, Geschichte deutet“ (S. 448). München und Wien ausgebaut werden. Die Jahre des Nationalsozialismus, die die voll- ständige Vertreibung und Verfolgung jüdischer Vanessa Schröder: Geschichte ausstellen Künstler brachten, werden von Hannes Heer – Geschichte verstehen. Wie Besucher im nicht mehr geschildert, auch weil die Archive Museum Geschichte und historische Zeit des Hauses Wagner bis heute weitgehend deuten. Bielefeld: transcript, 2013 unter Verschluss gehalten werden. Aus dem Cornelia Pieroth Schlusskapitel, einer Aufzählung von über 50 Biografi en und einer Liste ungeklärter Fälle von Künstlern, die in Bayreuth tätig waren, wird jedoch ihr Schicksal deutlich: Vertreibung, Exil, und Tod in Ghettos und Konzentrations- Kriegsalltag und –nöte lagern. bäuerlicher Familien Führte der Weg von Richard Wagner zu Adolf Hitler, vom verbalen, theoretischen Antisemi- Eine Novität ist die von Frank Schumann her- tismus zur Vernichtung der Juden? Diese ausgegebene Briefauswahl der „Soldatenpost vieldiskutierte These wird natürlich nicht be- und Heimatbriefe aus zwei Weltkriegen“, denn antwortet, dazu ist sie zu vielgestaltig. Doch sie dokumentiert die Perspektive einer klein- die zunehmende Radikalisierung im natio- bäuerlichen Familie auf den Kriegsalltag in den nalistischen, antisemitischen Denken und Han- Jahren 1914-1918 und 1941-1945. Auch wenn deln des Wagner-Clans wird im Katalog ein- es aktuell zahllose Publikationen über beide drucksvoll dargestellt und liefert weiteres Weltkriege gibt, vermittelt diese Auswahl eines Material zur Überprüfung dieser These. ganz privaten Briefwechsels in der Landwirt- schaft tätiger Menschen aus drei Generationen Einblicke in bisher wenig bekannte Lebensberei- Hannes Heer, Jürgen Kesting und Peter che und Schicksalswege. Schmidt (Hg.): Verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die „Juden“ 1876 Aufmerksame Menschen hatten in einem vor bis 1945. Eine Ausstellung. Berlin: Metropol dem Abbruch stehenden Bauernhaus in Sach- Verlag, 2012 sen-Anhalt mehrere Schuhkartons mit Hunder- ten Briefen, Feldpostkarten und verschiedensten Werner Frank Dokumenten aus dem Leben einer Großfamilie aus beiden Weltkriegen bemerkt und gerettet. Nun überzeugen diese auf bewegende Weise, „wie der Krieg ins Leben einfacher Menschen eingriff, und gestatten zugleich einen Blick auf das normale Leben in Deutschland, das ja irgendwie weiterging“. informationen 79 | Seite 50