DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 26. Januar 2004 Betr.: Titel, Pearl, Maut er internationale Schwarzmarkt für nukleare Technik wächst rasant – etliche DStaaten streben nach einer eigenen Bombe. Wochenlang waren die beiden Titel- autoren Georg Mascolo, 39, und Erich Follath, 54, auf den Spuren jener skrupellosen Wissenschaftler und Geschäftemacher, die das internationale Verbot der Weiterver- breitung von Atomwaffen ignorieren. Für die Journalisten war das kein Neuland: Mascolo deckte schon mehrmals in Geschichten die Beteiligung auch deutscher Firmen an illegalen Deals auf. Follath schrieb im vergangenen Jahr Reportagen aus Nordkorea, Pakistan und Iran – Länder, die aktuell unter Verdacht stehen, mit Nu- kleartechnik zu handeln. Inzwischen kommen die Warnungen vor einer ungezügelten Verbreitung atomarer Waffen nicht nur von Geheimdiensten, die bisweilen Gefahrenlagen übertreiben, sondern vor allem von einer neutralen Instanz – der Inter- nationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien. Deren Chef Mohammed al-Baradei, 61, zeigte sich im Interview höchst besorgt: „Ein Atomkrieg rückt näher“ (Seite 96). Follath, Mascolo bei der IAEA

nfang 2002 erregte das Schicksal des von Qaida-Terroristen ermordeten US-Jour- Analisten Daniel Pearl weltweite Anteilnahme. Der „Wall Street Journal“- Reporter war während seiner Recherchen über den internationalen Terrorismus in Pakistan ent- führt und wenig später vor laufender Kamera umgebracht worden. Seine damals schwan- gere Frau Mariane, ebenfalls Journalistin, hatte ihren Mann nach Pakistan begleitet und vergebens versucht, ihn zu retten. Sie hat ein Buch über das Leben und den Tod Daniel Pearls geschrieben, das jetzt in Deutsch- land erschienen ist („Ein mutiges Herz“). Joachim Preuß, 58, und Gerhard Spörl, 53, trafen die Autorin in New York und sprachen mit ihr über die Tragödie in Ka- ratschi, ihren täglichen Kampf um Nor- malität und ihre veröffentlichten Erinne- rungen. „Das Buch besticht durch eine unsentimentale Schilderung der Ereig-

DAVID SCULL DAVID nisse“, so Spörl, „gleichzeitig ist es eine Preuß, Spörl, Autorin Pearl große Liebesgeschichte“ (Seite 78).

s sollte ein Exportschlager werden, der die öffentlichen Kassen füllt und beweist, Ewie innovativ Technik aus Deutschland sein kann – ein ausgefeiltes, satellitenge- stütztes Mautsystem. Doch der ehrgeizige Plan geriet zu einem Flop, zu einer kost- spieligen Lachnummer. Was ist da schief gelaufen, in der zunächst so hoch gelobten Zusammenarbeit zweier Weltkonzerne im Einklang mit der Politik? Frank Dohmen, 40, Dietmar Hawranek, 46, und Frank Hornig, 34, sind der Frage nachgegangen, wie es zu dem für Deutschland so peinlichen Milliarden-Desaster kommen konnte. Sie spra- chen mit Ministern, Managern, Lastwagenfahrern und Software-Entwicklern und stießen auf eklatante Missstände in nahezu allen Bereichen. Die Projektpartner DaimlerChrysler und Telekom sind sich längst nicht mehr grün: Bei einem Treffen der SPIEGEL-Redakteure mit einem Toll-Collect-Verantwortlichen, der früher bei der Telekom gearbeitet hatte, erschien unangemeldet auch ein Vertreter von Daimler- Chrysler. „Der hörte sehr aufmerksam zu“, so Hawranek, „zwischen den einst Ver- bündeten herrscht inzwischen tiefes Misstrauen“ (Seite 54).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 5/2004 3 In diesem Heft

Titel Der Schwarzmarkt der Atompiraten ...... 96 Interview mit Uno-Chefwaffeninspekteur Parteien pokern um die Rau-Nachfolge Seite 30 Mohammed al-Baradei über die Gefahr der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen ...... 104 Bei der Bundespräsidenten-Wahl Wie sich Israel die Bombe verschaffte ...... 110 umwerben die großen Parteien die kleine FDP – aus jeweils eige- Deutschland nem Machtkalkül. Während CDU- Panorama: Französische und deutsche Chefin Angela Merkel von den Soldaten gemeinsam in den Irak? / Neue Vorwürfe Liberalen die Unterstützung eines gegen Leichen-Plastinator Hagens ...... 17 noch nicht benannten Unions- Bodenreform: Gerichtsurteil mit Kandidaten erwartet, bringt Kanz- unabsehbaren Folgen ...... 20 ler Gerhard Schröder die FDP- Arbeitsmarkt: Wie Florian Gerster gezielt ins Führung in Zugzwang: Er signali- Abseits gedrängt wurde ...... 26 siert rot-grüne Unterstützung für Umfrage: Unzufriedenheit wächst weiter ...... 28 eine liberale Bewerbung, etwa für Staatsoberhaupt: Der Kampf ums Schloss Bellevue ...... 30 Cornelia Schmalz-Jacobsen. Auch Abgeordnete: Die trickreiche Selbstbedienung Hans-Dietrich Genscher macht sich der EU-Parlamentarier ...... 34 (U.R.) KARWASZ (U.L.);KARL-BERND (O.);TEUTOPRESS K.LUDBROOK/DPA für einen eigenen FDP-Kandidaten Kriminalität: Wie türkische Holdings Muslime Schröder, Schmalz-Jacobsen, Genscher stark. in Deutschland um Milliarden erleichterten ..... 36 Justiz: Dubioser Ex-Agent blockiert Urteil im Hamburger Terror-Prozess ...... 38 Beamte: Die tierischen Mauscheleien eines ehemaligen Barschel-Vertrauten ...... 39 Rauschgift: Kokain aus der Karibik Stoiber stürzt ab Seite 28 überschwemmt deutschen Markt ...... 42 Viele Verlierer, kaum Gewinner im vierteljährlichen SPIEGEL-Politik-Ranking: Die tiefe Unzufriedenheit der Deutschen mit Rot-Grün dauert an, aber die zerstrittene Medien Union kann davon nicht profitieren. CSU-Chef Edmund Stoiber fällt in der Bewer- Trends: Kartellamt stoppt Holtzbrinck / tung der Bürger wieder hinter seine CDU-Konkurrentin Angela Merkel zurück. Affentheater beim ZDF ...... 44 Fernsehen: Vorschau / Rückblick ...... 45 Boulevard: SPIEGEL-Gespräch mit Caroline Beil über ihre Erfahrungen bei der RTL-Show „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ ...... 46 Betrogene Türken Seite 36 Wirtschaft Die Prognosen waren rosig wie einst Trends: Ackermanns Blackout / Regierung am Neuen Markt, die versprochenen schönt Arbeitslosenstatistik ...... 51 Renditen traumhaft: Mehr als 200000 Geld: Pharma-Aktien im Fusionsrausch / Türken in Deutschland glaubten Betrügerische Diamantenhändler ...... 53 Hightech: Das Maut-Desaster – wie die cleveren Glaubensgenossen und in- Blamage wirklich passierte ...... 54 vestierten fünf Milliarden Euro in Irak-Handel: Deutsche Firmen sind beim dubiose islamische Holdings wie das Wiederaufbau schon dabei ...... 62 Kaufhaus-Unternehmen Yimpa≈. Nun Apotheken: Billigere Pillen seit Anfang sind Firmen liquidiert und Gelder in des Jahres ...... 66 der Türkei verschwunden. Minijobs: Wenn die Putzfrau von

der Leiter fällt ...... 68 Yimpa≈-Kaufhaus (in Ludwigshafen) PRESS / ACTION WELKE HORST Banken: Interview mit Dresdner-Bank-Chef Herbert Walter über seine Sanierungsstrategie ... 72

Gesellschaft Szene: Henkersmahlzeiten hingerichteter Seite 46 Verbrecher als Fotokunst / Die Dschungel-Diva Umstrittene TV-Werbung für den Ford Ka ...... 75 Alle mehr oder minder Prominenten Eine Meldung und ihre Geschichte ...... 77 haben das Urwaldexperiment des Terror: SPIEGEL-Gespräch mit Mariane Pearl Fernsehsenders RTL mehr oder min- über ihren Ehemann Daniel, der der heil überstanden und versuchen von al-Qaida in Pakistan ermordet wurde ...... 78 nun, aus Spott Ruhm zu machen. Die Ortstermin: „Zeit“-Chefredakteur Michael Naumann vor Gericht in Berlin – scharfzüngige Caroline Beil ist zum wegen Beleidigung ...... 85 neuen Titelstar der Klatschpresse geworden und redet im SPIEGEL- Sport Gespräch über Trash-TV und die

S. MENNE / RTL Gesetze des Boulevardgeschäfts. Fußball: Borussia Dortmund – das Ende der Glamour-Zeit ...... 86 Eiskunstlaufen: Eine Ukrainerin weckt Beil Träume bei den Deutschen ...... 89

6 der spiegel 5/2004 Ausland Panorama: Haushaltsdefizit setzt Bush unter Druck / Ein Putin-Maulwurf untergräbt die russische KP / Machtkampf mit dem iranischen Wächterrat ...... 94 Irak: Ratlose Amerikaner setzen auf die Uno ... 116 Großbritannien: Tony Blairs Schicksalswoche ...... 118 Israel: Korruptionsvorwürfe gegen Scharon .. 120 China: VW verkauft mehr Autos als in Deutschland ...... 121 Schweden: Seltsames im Mordprozess Anna Lindh ...... 122

ROGER RESSMEYER / CORBIS Wissenschaft · Technik Atomexplosion Prisma: Thrombosegefahr auch in der Business-Class / Flugsaurier mit pergamentartigen Flügeln ...... 124 S. 96 bis 110 Raumfahrt: Aufregung über den Wasserfund Die Angst vor den Händlern des Todes auf dem Mars ...... 126 Nordkorea, Iran, Libyen: Der nukleare Schwarzmarkt wuchert, in seinem Zentrum Die gefährliche Mission der US-Roboter ...... 128 stehen pakistanische Wissenschaftler. Die „islamische Bombe“ ist als Gegengewicht Automobile: Industrie fürchtet das Ende zu Israel gedacht, das schon vor Jahren auf abenteuerliche Weise zur Atommacht wur- des Dieselmotors ...... 130 de. Uno-Chefwaffeninspektor Baradei warnt im SPIEGEL-Interview: „Ich habe Angst Zeitgeschichte: Zwangssterilisationen von davor, dass Atomwaffen in die Hände von Diktatoren und Terroristen fallen.“ Armen und Schwarzen in den USA – Anregung für das Eugenik-Programm der Nazis ...... 132 Archäologie: Esstisch des Sagenkönigs Midas aufgetaucht ...... 134

Seite 78 Kultur „Sie morden Sehnsucht“ Szene: Theater-Klamauk mit nackter Eva Mariane Pearl ist Witwe des 2002 in Pakistan ermordeten in Bremer Kirche / Interview mit US-Journalisten Daniel Pearl. Die Tragödie von Karatschi Walter Kempowski zum Streit über hat sie in einem Buch beschrieben. „Die Terroristen“, so sein Anonyma-Gutachten ...... 137 Pearl im SPIEGEL-Gespräch, „morden Sehnsucht.“ Künstler: Malerstar Julian Schnabel – neuer Aufstieg nach dem Fall? ...... 140 Kino: SPIEGEL-Gespräch mit IBO / SIPA PRESS IBO / SIPA Pearl US-Schauspieler Kevin Costner über die Wiederkehr des Westerns und seinen neuen Film „Open Range“ ...... 144 Theater: Otto Sander spielt zum ersten Mal den „Hauptmann von Köpenick“ ...... 147 Costner, der Cowboy S. 144 Autoren: Zweiter Versuch nach vier Jahrzehnten: Draginja Dorpats Roman 14 Jahre nach dem Indianer-Epos „Der mit dem „Und zu Küssen kam es kaum“ ...... 148 Wolf tanzt“ hat der US-Regisseur und Schau- Bestseller ...... 149 spieler Kevin Costner wieder einen Western ge- Debatte: Kulturkampf um Ines Geipels dreht, das Cowboy-Drama „Open Range“. Im Buch über das Erfurter Schulmassaker ...... 150 SPIEGEL-Gespräch plädiert der Filmemacher für mehr Realismus im Wildwest-Genre: „Meist Briefe ...... 8 sitzt den Helden der Colt viel zu locker.“ Impressum, Leserservice...... 152 Chronik...... 153

Costner, Freundin Christine Baumgartner / WIREIMAGE.COM CHRIS PIZZELLO Register ...... 154 Personalien...... 156 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 158 TITELBILD: Fotos AP; Corbis Wassereis auf dem Wüstenplaneten Seiten 126, 128 Die europäische Sonde „Mars Express“ Die letzten Helden hat erstmals dreidimensionale Fotos vom Warum es so leicht ist, ein Star Wüstenplaneten zur Erde gefunkt – und zu werden. Außerdem im Kul- eine aufregende Entdeckung gemacht: Auf turSPIEGEL, dem Magazin für dem vermeintlich staubtrockenen Mars Abonnenten: die Schauspieler

ESA / DLR / FU BERLIN / DLR ESA gibt es Wassereis – ein Hinweis auf Leben? Daniel Brühl und August Diehl über ihre Freundschaft; die Tafelberg auf dem Mars Schau „Das MoMA in Berlin“.

der spiegel 5/2004 7 Briefe

Der Gestank skrupelloser Leichenfledderei hing von Anfang an über dem Spektakel. „Die halbe Lektüre des Artikels Befürworter der Toten-Show sollten sich hat mir gereicht. Dennoch, nicht so fragen, ob sie damit einverstanden wären, wenn ihre Angehörigen oder Freunde sehr die Scheußlichkeiten und postum, gehäutet oder in Scheiben ge- Verbrechen erwecken meinen Unmut. schnitten, öffentlich ausgestellt würden. Lasst doch den Toten ihre Würde! Es sind vielmehr das gaffende Ahlen (Nrdrh.-Westf.) Ingo Wibbeke Publikum und die untätigen Behörden, Mit den horrenden Geschäften des Lei- die mich traurig stimmen.“ chen-Schaustellers Gunther von Hagens lässt sich natürlich auch der SPIEGEL gut Helmut Lubbers aus Genf zum Titel „Dr. Tod – Die horrenden Geschäfte des Leichen-Schaustellers verkaufen. Sei es drum. Aber denkt bitte SPIEGEL-Titel 4/2004 Gunther von Hagens“ bei euren Titelbildern das nächste Mal eine Sekunde an Tausende Kinder, denen ihr zerfetzte Leichen in Großformat an jeder Es mag nicht alles ganz koscher sein, was Bus- oder Straßenbahnhaltestelle präsen- Peepshow mit totem Menschenfleisch Herr Hagens da so geschäftlich „organi- tiert (und auch an die Eltern, die dies dann Nr. 4/2004, Titel: Dr. Tod – Die horrenden siert“. Auch über seine „Basteleien“ kann ihren Kindern erklären müssen). Geschäfte des Leichen-Schaustellers Gunther von Hagens man geteilter Meinung sein. Die Faszina- Leipzig Jörg Schreiter tion, die „Körperwelten“ auf Millionen Auch wenn man Motive mit Pferden von ausübt, scheint jedoch ungebrochen. Und Herr Hagens zeigt, was aus einem Men- Kitschtapeten ins Dreidimensionale über- um es ehrlich auszudrücken, ich kann gut schen wird, den man von der Kunstakade- trägt und Gruselmaterial statt Fett ver- damit leben, meine Einzelteile in den Hän- mie und nicht vom Medizinstudium abge- wendet, wird aus einem (Selbst)surrogat den von Herrn Hagens’ Leuten zu wissen; halten hat. Auch mit Filzhut auf dem Kopf mit Hut beim besten Willen kein Beuys. immerhin passiert noch irgendetwas mit wird man kein Beuys, und wenn das Fett Bei werdendem Leben werden die verbis- meiner „Hülle“. Als Alternative erwarten noch so tropft. Sich mit einem Vesalius zu sensten Ethikdiskussionen um Zellhäuflein mich Einäscherung oder die ausgefochten. Sollen wir das Feld bei ver- Exhumierung meiner Wachs- gangenem Leben den Gaffern und der leiche, wenn ich nicht doch für Raffgier von Herrn Hagens überlassen? guten Humus gesorgt habe. Recklinghausen Günter Weber Erlangen Mike Neun

Pfui Teufel – ein armer Irrer mit messia- Der Leichenhändler macht of- nischem Anspruch. Leider ohne wissen- fenbar nichts (mit ein paar pein- schaftlichen Mehrwert, dafür aber mit lichen Ausnahmen), was nicht Gespür für den heute so wichtigen Kla- legal ist. Offenbar kann jeder, maukfaktor, der Millionen unkritischer der will, in Deutschland Lei- Zeitgenossen in seine Gruselausstellungen chen kaufen, sie wertsteigernd treibt. Wenn Hagens in nicht allzu ferner bearbeiten und wieder verkau- Zukunft wegen Steuerhinterziehung im fen. Kein Gesetz verbietet das. Gefängnis landet, wird er dies sicher als Alle, die sich über die Geschäf- letzten Versuch der Fortschrittsfeinde in- te des Gunther von Hagens auf-

terpretieren, seine epochale „Forschungs- regen, haben den falschen Geg- / ADVANTAGE ADVANTAGE-NIEHUES arbeit“ zu verhindern. Götter dürfen ner im Visier: Die „Körperwel- „Körperwelten“-Besucher in Berlin: Lukrative Masche schließlich alles! ten“ sind Zeitgeist. Er ist nur Frankfurt am Main Thilo Neupert der Erste, der diese lukrative Masche ent- vergleichen zeigt, dass Tote geduldig sind. deckt hat. Das eigentliche Problem ist die Seine Show gibt vor, aus Laien Insider zu Es tut so weh, uns in Stücke geschnippelt, globalisierte Zivilisation. Wenn es außer machen, aber es ist nur eine Peepshow mit skelettiert und auf unsere Organe reduziert Geld keine anderen Werte mehr gibt, ist totem Menschenfleisch. Es lebe der Kan- betrachten zu müssen, da wir uns für etwas der Schacher mit Leichen nur die konse- nibalismus! In der von ihm kritisierten ganz Besonderes halten. Solch einer ge- quente Fortsetzung des Prinzips: Was zu Sprachlosigkeit zwischen Wissenschaft und nialen Offenlegung des menschlichen Kör- Geld zu machen ist, wird zu Geld gemacht. Laien gedeihen Welten, in denen Men- pers entgegenzustehen beweist die Eng- Jede moralische Entrüstung ist überflüssig. schen auf Körper reduziert werden. stirnigkeit mancher Menschen. Und dass Berlin Dr. Jürgen Albrecht Marburg Johannes Roth Dr. Hagens, der die Wissenschaft zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, nun die Früchte seiner Arbeit erntet und viel Geld Vor 50 Jahren der spiegel vom 27. Januar 1954 damit verdient, finde ich völlig normal. Außenminister der Westalliierten zur Vierer-Konferenz in Berlin Reutlingen (Bad.-Württ.) Christoph Pless China schickt 50-köpfige Delegation. Privatklage gegen Kanzler Adenauer Fragwürdige Informationen aus Ost-Berlin. Komplizierte Vielen Dank an den SPIEGEL, dass die Hintergründe der Vierer-Konferenz Deutsche Belange sind zweitrangig. Machenschaften des „Künstlers“ Hagens Boxer Gustav (Bubi) Scholz auf dem Weg nach Amerika Stetig wie ein Pressluftbohrer. Schlüsselroman „Der Entzauberte“ von Budd endlich aufgeklärt werden. Es bleibt nur Schulberg Haarsträubende Expedition ins Innere eines Deliriums. zu hoffen, dass die vielen Konsumenten Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de dieser pietätlosen „Kunst“ zur Einsicht oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. kommen. Titel: Bankier Robert Pferdmenges Bremen Gordon Dressler

8 der spiegel 5/2004 Was ist schlimmer? Nr. 3/2004, Trends Wirtschaft: Affären – Bender in der Bredouille

Die Behauptung, dass ein Vorstandsvorsit- zender nicht weiß, dass Schmiergelder in Höhe von 500000 bis 600000 US-Dollar gezahlt wurden, ist fast schlimmer als die Tatsache, dass er es wissentlich getan hat. Für den Fall nämlich, dass der Vorstand keine Kenntnis hatte, stimmt die Organi- sation nicht. Man fragt sich, welche Be- träge dann noch an Vorstand und Auf- sichtsrat vorbei von subalternen Ange- stellten überwiesen wurden. Vielleicht aber

weiß der Vorstand auch nicht, was sich / DPA RUMPENHORST FRANK hinter dem Begriff „nützliche Aufwen- Demonstrierende -Angestellte dungen“ verbirgt. Gibt es da vielleicht Moralisch abgewirtschaftete Vorstände noch mehr dieser Vorgänge? Die Staatsan- waltschaft ist gefordert. Wusste man dage- Der SPIEGEL hat leider vergessen, auch gen von dem Schmiergeld, dann ist jeder mal bei den Gewerkschaftsfürsten zu re- Kommentar überflüssig. In beiden Fällen cherchieren. aber gehört diesem Vorstand das Vertrau- Hofgeismar (Hessen) Claus Götlich en entzogen. Es zeigt sich auch hier, dass der Aufsichtsrat seine gesetzlich vor- Gegen derart moralisch abgewirtschaftete geschriebenen Funktionen offensichtlich Vorstände kann nach meiner Erfahrung auch schon lange nicht richtig wahrgenommen die Mitbestimmung der Arbeitnehmerver- hat. Aufsichtsratsmitglieder zu der frag- treter im Aufsichtsrat nicht viel ausrichten. lichen Zeit waren unter anderem auch Frau In der nächsten Jahreshauptversammlung Roth (Bürgermeisterin von Frankfurt am werden ein paar Hunde bellen, und die Main) und Herr Koch (Ministerpräsident Karawane wird weiterziehen. Hauptsache, von Hessen). Kurs und Rendite stimmen! Ich habe des- Bad Homburg (Hessen) Hans-Thilo Kempen halb meine Commerzbank-Aktien verkauft ehemaliger Direktor Finanzwesen und suche mir lieber eine anständige Geld- Flughafen Frankfurt/Main AG anlage bei einem Unternehmen mit einer Geschäftsführung ohne Raffzähne, das Ar- beitsplätze in Deutschland schafft, Tarif- Güldene Fallschirme inklusive löhne und Betriebsrenten zahlt. Hoffentlich Nr. 3/2004, Altersvorsorge: Die Betriebsrenten werden werde ich fündig! gekappt, die Vorstände bedienen Zornheim (Rhld.-Pf.) Doris Fürbeth sich weiter – welche Anlage ist überhaupt noch sicher? Vor nicht allzu langer Zeit haben sich Kai- Unverständlich nur, dass sich niemand ge- ser, Könige, Adel und Klerus auf Kosten traut, die hier im Management vorherr- des so genannten einfachen Volkes berei- schende Geisteshaltung als das zu benen- chert – damaliger Leitsatz: Wasser predigen nen, was sie ist: Sozialschmarotzertum im und Wein trinken. Gott sei Dank hat sich allerdreistesten Stil. Kein Wunder eigent- seit damals vieles verändert: Die Eliten ha- lich, denn zu derselben, von eigenen Gna- ben andere Namen, und das einfache Volk den privilegierten Schicht gehören Regie- darf regelmäßig das kleinere Übel wählen. rung und Beamtenschaft. Rente? Für Top- Eine weitere Errungenschaft unseres heu- verdiener und Beamte ja, nicht aber für tigen Wertesystems ist das unblutige Köp- die Durchschnittsbevölkerung. Praxisge- ferollen. Heute werden bereits vor Ar- bühren? Für Beamte nur die Hälfte, für beitsantritt güldene Fallschirme vertraglich Sozialhilfeempfänger voll. Solange wir zugesichert – eigentlich im Widerspruch Bürger es nicht wahrhaben wollen und die zur viel gepriesenen Leistungsgesellschaft. Presse es nicht wagt, das Kind beim Namen Aber nur eigentlich, denn es sind halt nicht zu nennen, werden diese Menschen weiter alle Menschen gleich. in Saus und Braus auf Kosten der gesam- Zürich Oliver Riesselmann ten Gesellschaft leben und uns dabei ein- zelne Fallbeispiele minderer Schwere wie „Florida-Rolf“ als die „wahren“ Übeltäter Mord verjährt nicht präsentieren. Nr. 3/2004, Kolonien: Der Völkermord der Berlin Ulrich Stulle Deutschen an den Herero

Unsere ach so teuren Volksvertreter haben Als ehemaliger Botschafter in Tansania ist vorgemacht, wie man für sich selbst über- mir das Wirken von „Hänge-Peters“ sehr dimensioniert für später vorsorgt. Die Vor- wohl ein Begriff, heißt er dort doch noch standsbosse hatten also sehr gute Vorbilder. immer „Der Mann mit den blutigen Hän-

12 der spiegel 5/2004 Was ist schlimmer? Nr. 3/2004, Trends Wirtschaft: Affären – Bender in der Bredouille

Die Behauptung, dass ein Vorstandsvorsit- zender nicht weiß, dass Schmiergelder in Höhe von 500000 bis 600000 US-Dollar gezahlt wurden, ist fast schlimmer als die Tatsache, dass er es wissentlich getan hat. Für den Fall nämlich, dass der Vorstand keine Kenntnis hatte, stimmt die Organi- sation nicht. Man fragt sich, welche Be- träge dann noch an Vorstand und Auf- sichtsrat vorbei von subalternen Ange- stellten überwiesen wurden. Vielleicht aber

weiß der Vorstand auch nicht, was sich / DPA RUMPENHORST FRANK hinter dem Begriff „nützliche Aufwen- Demonstrierende Commerzbank-Angestellte dungen“ verbirgt. Gibt es da vielleicht Moralisch abgewirtschaftete Vorstände noch mehr dieser Vorgänge? Die Staatsan- waltschaft ist gefordert. Wusste man dage- Der SPIEGEL hat leider vergessen, auch gen von dem Schmiergeld, dann ist jeder mal bei den Gewerkschaftsfürsten zu re- Kommentar überflüssig. In beiden Fällen cherchieren. aber gehört diesem Vorstand das Vertrau- Hofgeismar (Hessen) Claus Götlich en entzogen. Es zeigt sich auch hier, dass der Aufsichtsrat seine gesetzlich vor- Gegen derart moralisch abgewirtschaftete geschriebenen Funktionen offensichtlich Vorstände kann nach meiner Erfahrung auch schon lange nicht richtig wahrgenommen die Mitbestimmung der Arbeitnehmerver- hat. Aufsichtsratsmitglieder zu der frag- treter im Aufsichtsrat nicht viel ausrichten. lichen Zeit waren unter anderem auch Frau In der nächsten Jahreshauptversammlung Roth (Bürgermeisterin von Frankfurt am werden ein paar Hunde bellen, und die Main) und Herr Koch (Ministerpräsident Karawane wird weiterziehen. Hauptsache, von Hessen). Kurs und Rendite stimmen! Ich habe des- Bad Homburg (Hessen) Hans-Thilo Kempen halb meine Commerzbank-Aktien verkauft ehemaliger Direktor Finanzwesen und suche mir lieber eine anständige Geld- Flughafen Frankfurt/Main AG anlage bei einem Unternehmen mit einer Geschäftsführung ohne Raffzähne, das Ar- beitsplätze in Deutschland schafft, Tarif- Güldene Fallschirme inklusive löhne und Betriebsrenten zahlt. Hoffentlich Nr. 3/2004, Altersvorsorge: Die Betriebsrenten werden werde ich fündig! gekappt, die Vorstände bedienen Zornheim (Rhld.-Pf.) Doris Fürbeth sich weiter – welche Anlage ist überhaupt noch sicher? Vor nicht allzu langer Zeit haben sich Kai- Unverständlich nur, dass sich niemand ge- ser, Könige, Adel und Klerus auf Kosten traut, die hier im Management vorherr- des so genannten einfachen Volkes berei- schende Geisteshaltung als das zu benen- chert – damaliger Leitsatz: Wasser predigen nen, was sie ist: Sozialschmarotzertum im und Wein trinken. Gott sei Dank hat sich allerdreistesten Stil. Kein Wunder eigent- seit damals vieles verändert: Die Eliten ha- lich, denn zu derselben, von eigenen Gna- ben andere Namen, und das einfache Volk den privilegierten Schicht gehören Regie- darf regelmäßig das kleinere Übel wählen. rung und Beamtenschaft. Rente? Für Top- Eine weitere Errungenschaft unseres heu- verdiener und Beamte ja, nicht aber für tigen Wertesystems ist das unblutige Köp- die Durchschnittsbevölkerung. Praxisge- ferollen. Heute werden bereits vor Ar- bühren? Für Beamte nur die Hälfte, für beitsantritt güldene Fallschirme vertraglich Sozialhilfeempfänger voll. Solange wir zugesichert – eigentlich im Widerspruch Bürger es nicht wahrhaben wollen und die zur viel gepriesenen Leistungsgesellschaft. Presse es nicht wagt, das Kind beim Namen Aber nur eigentlich, denn es sind halt nicht zu nennen, werden diese Menschen weiter alle Menschen gleich. in Saus und Braus auf Kosten der gesam- Zürich Oliver Riesselmann ten Gesellschaft leben und uns dabei ein- zelne Fallbeispiele minderer Schwere wie „Florida-Rolf“ als die „wahren“ Übeltäter Mord verjährt nicht präsentieren. Nr. 3/2004, Kolonien: Der Völkermord der Berlin Ulrich Stulle Deutschen an den Herero

Unsere ach so teuren Volksvertreter haben Als ehemaliger Botschafter in Tansania ist vorgemacht, wie man für sich selbst über- mir das Wirken von „Hänge-Peters“ sehr dimensioniert für später vorsorgt. Die Vor- wohl ein Begriff, heißt er dort doch noch standsbosse hatten also sehr gute Vorbilder. immer „Der Mann mit den blutigen Hän-

12 der spiegel 5/2004 Briefe

gegen eine Umbenennung von 22 Truderinger Stra- Erschreckendes Armutszeugnis ßen ausgesprochen haben, Nr. 3/2004, Familie: Zweifelnde Väter schaffen sich mit die alle an die Kolonialzeit DNA-Tests Gewissheit über die Herkunft ihrer Kinder erinnern. Diese Straßen- namen sind ein Ausdruck Statt heimliche DNA-Tests zu verbieten, ihrer Zeit und unserer Ge- sollte die Bundesregierung Vaterschafts- schichte, das sollte man tests gesetzlich vorschreiben. Nicht die nicht, nur weil es unange- neue DNA-Test-Diagnostik beschert ver- nehm ist, einfach wegretu- meintlichen Kindern und Vätern unvor- schieren. Diese Haltung stellbares Leid, sondern die Lebenslügen wird von den Bewohnern der Mütter. Vertrauen zu den eigenen El- und auch im Bezirksaus- tern ist eine enorm wichtige Voraussetzung schuss, über die Partei- für ein zufriedenes Leben. Wer mit 18 Jah- grenzen hinweg, mit gro- ren oder noch später erfährt, dass alles ßer Mehrheit geteilt. Lüge war, der wird niemandem mehr ver- München trauen können. Bevor der Vater in die Ge- Dr. Stephanie Hentschel burtsurkunde aufgenommen wird, sollte ein DNA-Test Klarheit schaffen. Dann kön- Ich habe mal gelernt, nen sich alle Beteiligten der Situation stel- dass Mord in Deutschland len und entscheiden, wie es weitergehen nicht verjährt. Aber an- soll, auf der Grundlage der Wahrheit. scheinend ist das bei 70000 Hamburg Christian Bölckow Herero anders. Man kann sich ja auch schön heraus- Es ist erschreckend, dass es offenbar doch reden, wenn man sagt, zahlreiche Frauen gibt, die ihre Männer dass die Niederschlagung und Kinder so schamlos belügen. Wie ich des Aufstandes nicht unter Ihrem Artikel entnommen habe, scheint das damals geltende Völ- es aber auch Väter zu geben, die ihr kerrecht falle. Aber fallen „Kind“ zurückweisen, sobald sie erfahren, die Nachkommen nicht dass sie nicht biologisch „Vater“ sind. Be-

AKG unter das heute geltende? logen und verlassen ist das Kind auf Grund Herero-Aufstand 1904: Offiziell verordnetes Rassistenregime Oder sind sie auch nur der Unehrlichkeit seiner Mutter und der Menschen zweiter Klasse, fehlenden biologischen Beigabe seines „Va- den“. Als gelernter Historiker habe ich wie sie in den Augen der Kolonialherren ters“, der es, ohne die Erkenntnis über mich später mit den beiden Morden am gesehen wurden und werden? seinen fehlenden, scheinbar entscheiden- Kilimandscharo beschäftigt, die das höchs- Schmallenberg (Nrdrh.-Westf.) den biologischen Beitrag, bedingungslos te Kaiserliche Disziplinargericht 1897 in Carsten Schauerte lieben würde! Dieses emotionale Armuts- seinem Urteil als Justizmord durch Rechts- zeugnis finde ich ebenso erschreckend. Bei beugung qualifizierte. Mein Versuch, eine Wir Deutschen haben eine Eigenart, uns Reihe deutscher Großstädte zu bewegen, für echte oder vermeintliche Sünden der ihre Carl-Peters-Straßen umzubenennen, Vergangenheit immer wieder reuig auf die stieß auf unterschiedliche Resonanz. Am Brust zu schlagen. Daran denken andere schnellsten und positivsten reagierte der Kolonialmächte keineswegs, die teilweise Münchner Oberbürgermeister Uhde. Ent- viel schlimmer gehaust haben – Amerika täuschend waren die Reaktionen der und die Indianer, die Spanier in Südame- Oberbürgermeister von Kaiserslautern und rika, die Holländer in Südostasien, die Mannheim, auf deren Antworten ich seit Briten in Indien und sie alle zusammen in 2002 warte. Listig waren vor Jahren die China. Die Bundesrepublik hat bisher 500 Berliner, die ihre Carl-Peters-Allee in Pe- Millionen Euro an Namibia gezahlt, und es

ters-Allee umbenannten und durch einen ist noch kein Ende abzusehen. Wie die dor- / DDP HEIMANN Zusatz darauf hinwiesen, dass die Ehrung tige Regierung diese Gelder zur Moderni- DNA-Proben für Vaterschaftstests dem verdienten Juristen und Vater der Ber- sierung des Landes verwendet, ist deren Auf der Grundlage der Wahrheit liner Verfassung Prof. Hans Peters gelte. Sache, und gibt den Herero kein Recht, Berlin Dr. Heinz Schneppen sich mit Sonderwünschen und einer Klage allem Verständnis für die Wut über einen in unverschämter Höhe an die Bundesre- derartigen Betrug, sollte der Adressat Als Truderingerin möchte ich anmerken, publik zu wenden. tatsächlich die Mutter, nicht aber auch das dass sich die Lüderitz-, die Leutwein-, die Eygalières (Frankreich) Peter Ludewig Kind sein. Dominik- und die Wissmannstraße nicht Hamburg Anja Maria Füner in Trudering befinden, sondern im Münch- Sehr wohl unterschied sich die deutsche Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- ner Stadtteil Bogenhausen. Lediglich die Kolonialherrschaft in einem entscheiden- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Von-Trotha- und die Waterbergstraße lie- den Punkt prinzipiell von den traditio- Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] gen in Trudering. Die Von-Trotha-Straße nellen Kolonialmächten. Als kolonialer wurde auf Grund der vorliegenden Pro- Neuling führte die deutsche Verwaltung, blematik längst einem anderen Mitglied entsprechend dem Zeitalter des Imperia- Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen der Familie von Trotha gewidmet, ohne lismus, ein offiziell verordnetes Rassisten- Postkartenbeihefter der Firma Deutsche Direktbank, Frankfurt am Main, und des SPIEGEL-Verlages, Ham- Herrn Benkers Mitwirkung. Als Mitglied regime ein: Sie klassifizierte die Bevölke- burg, sowie Beilagen der Firmen Bertelsmann Medien, der CSU Waldtrudering möchte ich noch rung nach Rasse und Hautfarbe. Ittingen, Financial Times, Hamburg, und die Verlegerbei- ergänzen, dass wir uns selbstverständlich Berlin Dr. Peter Sebald lage SPIEGEL-Verlag/KulturSPIEGEL, Hamburg.

14 der spiegel 5/2004 Briefe

gegen eine Umbenennung von 22 Truderinger Stra- Erschreckendes Armutszeugnis ßen ausgesprochen haben, Nr. 3/2004, Familie: Zweifelnde Väter schaffen sich mit die alle an die Kolonialzeit DNA-Tests Gewissheit über die Herkunft ihrer Kinder erinnern. Diese Straßen- namen sind ein Ausdruck Statt heimliche DNA-Tests zu verbieten, ihrer Zeit und unserer Ge- sollte die Bundesregierung Vaterschafts- schichte, das sollte man tests gesetzlich vorschreiben. Nicht die nicht, nur weil es unange- neue DNA-Test-Diagnostik beschert ver- nehm ist, einfach wegretu- meintlichen Kindern und Vätern unvor- schieren. Diese Haltung stellbares Leid, sondern die Lebenslügen wird von den Bewohnern der Mütter. Vertrauen zu den eigenen El- und auch im Bezirksaus- tern ist eine enorm wichtige Voraussetzung schuss, über die Partei- für ein zufriedenes Leben. Wer mit 18 Jah- grenzen hinweg, mit gro- ren oder noch später erfährt, dass alles ßer Mehrheit geteilt. Lüge war, der wird niemandem mehr ver- München trauen können. Bevor der Vater in die Ge- Dr. Stephanie Hentschel burtsurkunde aufgenommen wird, sollte ein DNA-Test Klarheit schaffen. Dann kön- Ich habe mal gelernt, nen sich alle Beteiligten der Situation stel- dass Mord in Deutschland len und entscheiden, wie es weitergehen nicht verjährt. Aber an- soll, auf der Grundlage der Wahrheit. scheinend ist das bei 70000 Hamburg Christian Bölckow Herero anders. Man kann sich ja auch schön heraus- Es ist erschreckend, dass es offenbar doch reden, wenn man sagt, zahlreiche Frauen gibt, die ihre Männer dass die Niederschlagung und Kinder so schamlos belügen. Wie ich des Aufstandes nicht unter Ihrem Artikel entnommen habe, scheint das damals geltende Völ- es aber auch Väter zu geben, die ihr kerrecht falle. Aber fallen „Kind“ zurückweisen, sobald sie erfahren, die Nachkommen nicht dass sie nicht biologisch „Vater“ sind. Be-

AKG unter das heute geltende? logen und verlassen ist das Kind auf Grund Herero-Aufstand 1904: Offiziell verordnetes Rassistenregime Oder sind sie auch nur der Unehrlichkeit seiner Mutter und der Menschen zweiter Klasse, fehlenden biologischen Beigabe seines „Va- den“. Als gelernter Historiker habe ich wie sie in den Augen der Kolonialherren ters“, der es, ohne die Erkenntnis über mich später mit den beiden Morden am gesehen wurden und werden? seinen fehlenden, scheinbar entscheiden- Kilimandscharo beschäftigt, die das höchs- Schmallenberg (Nrdrh.-Westf.) den biologischen Beitrag, bedingungslos te Kaiserliche Disziplinargericht 1897 in Carsten Schauerte lieben würde! Dieses emotionale Armuts- seinem Urteil als Justizmord durch Rechts- zeugnis finde ich ebenso erschreckend. Bei beugung qualifizierte. Mein Versuch, eine Wir Deutschen haben eine Eigenart, uns Reihe deutscher Großstädte zu bewegen, für echte oder vermeintliche Sünden der ihre Carl-Peters-Straßen umzubenennen, Vergangenheit immer wieder reuig auf die stieß auf unterschiedliche Resonanz. Am Brust zu schlagen. Daran denken andere schnellsten und positivsten reagierte der Kolonialmächte keineswegs, die teilweise Münchner Oberbürgermeister Uhde. Ent- viel schlimmer gehaust haben – Amerika täuschend waren die Reaktionen der und die Indianer, die Spanier in Südame- Oberbürgermeister von Kaiserslautern und rika, die Holländer in Südostasien, die Mannheim, auf deren Antworten ich seit Briten in Indien und sie alle zusammen in 2002 warte. Listig waren vor Jahren die China. Die Bundesrepublik hat bisher 500 Berliner, die ihre Carl-Peters-Allee in Pe- Millionen Euro an Namibia gezahlt, und es

ters-Allee umbenannten und durch einen ist noch kein Ende abzusehen. Wie die dor- / DDP HEIMANN Zusatz darauf hinwiesen, dass die Ehrung tige Regierung diese Gelder zur Moderni- DNA-Proben für Vaterschaftstests dem verdienten Juristen und Vater der Ber- sierung des Landes verwendet, ist deren Auf der Grundlage der Wahrheit liner Verfassung Prof. Hans Peters gelte. Sache, und gibt den Herero kein Recht, Berlin Dr. Heinz Schneppen sich mit Sonderwünschen und einer Klage allem Verständnis für die Wut über einen in unverschämter Höhe an die Bundesre- derartigen Betrug, sollte der Adressat Als Truderingerin möchte ich anmerken, publik zu wenden. tatsächlich die Mutter, nicht aber auch das dass sich die Lüderitz-, die Leutwein-, die Eygalières (Frankreich) Peter Ludewig Kind sein. Dominik- und die Wissmannstraße nicht Hamburg Anja Maria Füner in Trudering befinden, sondern im Münch- Sehr wohl unterschied sich die deutsche Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- ner Stadtteil Bogenhausen. Lediglich die Kolonialherrschaft in einem entscheiden- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Von-Trotha- und die Waterbergstraße lie- den Punkt prinzipiell von den traditio- Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] gen in Trudering. Die Von-Trotha-Straße nellen Kolonialmächten. Als kolonialer wurde auf Grund der vorliegenden Pro- Neuling führte die deutsche Verwaltung, blematik längst einem anderen Mitglied entsprechend dem Zeitalter des Imperia- Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen der Familie von Trotha gewidmet, ohne lismus, ein offiziell verordnetes Rassisten- Postkartenbeihefter der Firma Deutsche Direktbank, Frankfurt am Main, und des SPIEGEL-Verlages, Ham- Herrn Benkers Mitwirkung. Als Mitglied regime ein: Sie klassifizierte die Bevölke- burg, sowie Beilagen der Firmen Bertelsmann Medien, der CSU Waldtrudering möchte ich noch rung nach Rasse und Hautfarbe. Ittingen, Financial Times, Hamburg, und die Verlegerbei- ergänzen, dass wir uns selbstverständlich Berlin Dr. Peter Sebald lage SPIEGEL-Verlag/KulturSPIEGEL, Hamburg.

14 der spiegel 5/2004 Panorama Deutschland

AUSLANDSEINSÄTZE Mit Frankreich an die Front? in Kurswechsel der französischen EVerteidigungspolitik bringt die Re- gierung in Berlin in Verlegenheit. Zur Überraschung der Deutschen will Paris den Stab des französisch-deutsch ge- führten Eurokorps für den Nato-Ein- satz in Afghanistan bereitstellen. Bis- her hatte Frankreich ein substanzielles Engagement am Hindukusch vermie- den. Die Übernahme der Führungsrol- le in Kabul würde für die Bundeswehr eine erneute Aufstockung ihres Kon- tingents von derzeit etwa 1900 Soldaten erfordern. Noch brisanter für Berlin ist jedoch die Information aus der Nato- Zentrale in Brüssel, dass sich französi- US-Hauptquartier in Bagdad nach Autobombenanschlag (am 18. Januar) sche Truppen in Brigadestärke – etwa 3000 Mann – auf einen Einsatz im Irak MUHAMMED MUHEISEN / AP vorbereiten. Der Sinneswandel der Pariser Irak-Kriegs-Gegner, lianz (Kürzel: ARRC) aus Mönchengladbach in den Irak zu so vermuten Berliner Beamte, geht auf die jüngste Visite der verlegen. In dem Stab sind 48 deutsche Offiziere tätig, über de- Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie in Washington ren Entsendung der entscheiden müsste – womög- zurück. Dort wurde der Französin offenbar vermittelt, dass lich in einer Sondersitzung während der Sommerpause. Denn nur noch Truppen für den Irak als Friedensgeste gegenüber der nach dem Zeitplan der Allianz würde der formale Beschluss, Bush-Administration akzeptiert würden. Das spürt auch Ber- zumindest in Teilen des Irak die Kontrolle zu übernehmen, lin: „Der Druck ist enorm“, stöhnt ein Kabinettsmitglied über erst Ende Juni auf dem Nato-Gipfel in Istanbul getroffen. Vor- die Aussicht, Soldaten in den Nahen Osten schicken zu müs- gespräche werden aber bereits Ende kommender Woche bei ei- sen. Erster konkreter Test für Rot-Grün ist die Absicht der nem informellen Treffen der Nato-Verteidigungsminister am Nato, das Hauptquartier der schnellen Eingreiftruppe der Al- Rande der Münchner Sicherheitskonferenz beginnen.

VERFASSUNGSSCHUTZ chef hatte das Unternehmen HAMBURG im Zusammenhang mit der Ärger zunehmenden Gefahr durch Heikle Verwandtschaft die rechte Szene genannt. für den Chef Eine amtsinterne Prüfung ichael Neumann, innenpolitischer Sprecher der Hambur- ergab jedoch, dass einer der Mger Sozialdemokraten und Innensenator im Schattenkabi- em Leiter des Verfas- beiden Unternehmer jahre- nett des SPD-Bürgermeisterkandidaten Thomas Mirow, hat Pro- Dsungsschutzes von lang als V-Mann für Lim- bleme mit Extremisten in der eigenen Familie. Der Politiker ist Sachsen-Anhalt, Volker burgs Mitarbeiter tätig war. mit der türkischstämmigen Aydan Özoguz verheiratet. Deren Limburg, wird aus Kreisen Der Informant habe als Brüder Yavuz und Gürhan betreiben der Landesregierung Spitzenquelle gegolten und die vom Verfassungsschutz beobach- „höchst unprofessionelles sei erst während des NPD- tete islamistische Internet-Seite Verhalten“ vorgeworfen. Verbotsverfahrens abge- www.muslimmarkt.de. Die beiden Limburg hatte Anfang des schaltet worden. Limburg, dafür Verantwortlichen sprechen Is- Jahres öffentlich vor der im der dem Innenministerium rael das Existenzrecht ab und rufen Kosovo ansässigen untersteht, sieht sich zum Boykott israelischer und US- Firma zweier ost- nun dem Vorwurf amerikanischer Waren auf. Yavuz deutscher Neonazis ausgesetzt, die Ge- Özoguz wurde vergangene Woche gewarnt, die auch in fahr von rechts ab- wegen Volksverhetzung gar zu drei Magdeburg aktiv sei sichtlich übertrieben Monaten Haft auf Bewährung verur- und deren Verbin- zu haben. Schließ- teilt, weil er Texte verbreitete, die dungen nach lich hätten die Akti- den Holocaust in Frage stellen. „Sei- Deutschland man vitäten des einstigen ne Verwandtschaft kann man sich „äußerst aufmerk- Spitzels unter den nicht aussuchen“, sagt Neumann. Er FOTO POLLEX / ACTION PRESS / ACTION POLLEX FOTO sam“ beobachte. / DPA PETER FÖRSTER Augen seines Amtes habe den Verfassungsschutz über Der Geheimdienst- Limburg stattgefunden. die Problematik informiert. Mirow, Neumann

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LEICHENHANDEL Chinesische Spezialbehandlung er umstrittene Plastinator Gunther von Hagens war seit Dmindestens zwei Jahren ausdrücklich über die Verwen- dung von Hinrichtungsopfern in seinem chinesischen Unter- nehmen informiert. Auf seine Bitte, ihm Vorschläge zur Opti- mierung der Arbeitsabläufe zu unterbreiten, hatte am 6. Fe- bruar 2002 ein Mitarbeiter aus der Leichenmanufaktur in Da- lian empfohlen, für „Management und Lagerung von Körpern“ ein „Verantwortlichkeits-System“ einzuführen. Eine „speziel- le Behandlung“ sei bei „speziellen Körpern“ notwendig, wie den „frisch gespendeten und den exekutierten Körpern“. Bei seinem Versuch, den Vorwurf zu entkräften, in seiner Fir- ma seien auch Hingerichtete verarbeitet worden (SPIEGEL 4/2004), hatte der Erfinder der Leichenschau „Körperwelten“ am vorigen Donnerstag erklärt, er selbst habe solche Leichen nie präpariert. Er könne aber nicht ausschließen, dass dies ohne sein Wissen in seinem chinesischen Präparationsbetrieb geschehen sei. Ein anderer Vorgang in Hagens’ Totenreich widerspricht eben- falls der These vom angeblich Getäuschten, dem Exekutierte

womöglich „untergeschoben“ worden sein könnten. Ein Be- / AP PITMANN JAN diensteter, der im Verdacht stand, für ein anderes Unternehmen Leichen-Präparator Hagens zu arbeiten, und deshalb gehen sollte, drohte im Sommer 2002 damit, „die Herkunft der frischen Leichen“ publik zu machen. Bei einer erneuten Inventur seines chinesischen Leichenlagers Die Anregung eines Abteilungsleiters, dem Abtrünnigen – wie wurden jetzt nach Hagens’ Angaben sieben Tote „mit Kopf- verlangt – noch mehrere Monate Geld zu zahlen, offenbar um verletzungen“ entdeckt. Auch wenn eine Kugel im Kopf „noch ihn ruhig zu stellen, beantwortete Hagens persönlich: „Ich bin kein Beweis für eine Exekution“ sei, will der Schöpfer der absolut einverstanden.“ „Körperwelten“ die verdächtigen Leichname einäschern lassen.

STEUERHINTERZIEHUNG BUNDESWEHR Kiep-Verfahren eingestellt Rüffel für Kujat in Ermittlungsverfahren der u neuen Missklängen ist es nach der Frühpensionierung des Heeresinspek- EFrankfurter Staatsanwalt- Zteurs Gert Gudera zwischen Verteidigungsminister Peter Struck und dem Vor- schaft gegen den früheren sitzenden des Nato-Militärausschusses, General Harald Kujat, gekommen. Nach CDU-Schatzmeister Walther Differenzen um die Bundeswehrreform hatte Gudera, 60, am vergangenen Mon- Leisler Kiep wegen des Ver- tag um den vorzeitigen Ruhestand gebeten und war so der von Struck geplanten dachts der Steuerhinterziehung Entfernung aus dem Amt zuvorgekommen. Kujat, bis Juli 2002 Generalinspekteur ist nach Paragraf 153a der der Bundeswehr, bekundete Gudera danach in der Strafprozessordnung eingestellt „Frankfurter Allgemeinen“ seine „Hochachtung“: worden. Der Unionspolitiker „Wenn ein Inspekteur die Einsatzbereitschaft sei- hatte in einer Selbstanzeige ner Teilstreitkraft nicht gewährleisten kann, weil den Finanzbehörden mitgeteilt, ihm die nötigen Mittel fehlen, muss er die Konse-

STEPHAN SCHRAPS STEPHAN dass er eine Stiftung unter dem quenzen ziehen.“ Struck war erbost, da Kujat Kiep Namen „Sedula“ in Liechten- schon öfter seinen Unmut erregt hatte, etwa als er stein unterhalten habe, deren im Bundestagswahlkampf 2002 der rot-grünen Re- Zinserträge jahrelang nicht in seinen gierung indirekt empfahl, einen Militäreinsatz im Steuererklärungen auftauchten. Allerdings Irak nicht auszuschließen. Auf dem Weg zu einem sei für die Abgabe dieser Erklärungen al- Besuch in Lettland ereilte den General am vergan- lein sein früherer Steuerberater Horst Wey- genen Donnerstag ein milder Rüffel aus Berlin. „Es rauch zuständig gewesen. Kiep hat seine steht Ihnen nicht zu, sich zu Personalentscheidun- Steuerschuld inzwischen beglichen und gen in einem Nato-Land zu äußern“, ermahnte darüber hinaus eine Geldauflage von 75000 Struck den General per Telefon. Kujat gab sich ge-

Euro gezahlt, die auf mehrere gemeinnützi- WAGNER HORST bührend zerknirscht: „Herr Minister, ich nehme die ge Vereine verteilt wurden. General Kujat Hacken zusammen und akzeptiere das.“

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ZEITGESCHICHTE SPIEGEL: Die Ausstellung betont den ABSCHIEBUNG Handlungsspielraum des Einzelnen. Weltordnung des Hasses Wie haben Sie die Wehrmachtssoldaten Falsche Fesseln 1944 in Ungarn erlebt? Der ungarische Literaturnobelpreis- Kertész: Sie waren eher im Hintergrund, er sudanesische Asylbewerber Aa- träger Imre Kertész, 74, über die unsere eigenen Leute machten die Dmir Ageeb, 30, der im Mai 1999 bei Wirkung der Wehrmachtsausstellung Drecksarbeit. Einmal hat mich sogar ein der Abschiebung vom Frankfurter Flug- deutscher Soldat nach meinem Alter ge- hafen erstickte, war mit elf Plas- SPIEGEL: Herr Kertész, Sie eröffnen am fragt, als ich mit Judenstern in einem tikschlaufen gefesselt, obwohl dies an Mittwoch die überarbeitete Wehr- Bombentrichter arbeitete. Ich war da- Bord von Flugzeugen ausdrücklich ver- machtsausstellung auf ihrer letzten Sta- mals 14, und er schickte mich nach boten war. Das ergibt sich aus einer tion in Hamburg. Was werden Hause. In Auschwitz habe ich Weisung des Bundesgrenzschutzamts Sie sagen? die Deutschen von einer an- Frankfurt am Main vom April 1997, wo- Kertész: Ich will über die Rol- deren Seite kennen gelernt. nach „die Anwendung von Stahl- oder le des Hasses im 20. Jahrhun- SPIEGEL: Wird in Ihrer Heimat Plastikfesseln nicht zulässig“ ist, weil dert sprechen. Mich interes- die Beteiligung der ungari- der Betroffene bei einem Flugzwischen- sieren weniger die vergange- schen Armee, die mit der fall nicht schnell genug freikommt. nen Grausamkeiten, als dass Wehrmacht paktierte, am Ju- Stattdessen hätte der der Hass so universal ist wie denmord diskutiert? für die Aktion ver- das Leid, das er verursacht. Kertész: Das ist ein Tabu- antwortliche Bun- SPIEGEL: Hat die Wehrmachts- thema. Versuche, es im Kino desgrenzschutz aus-

ausstellung die Haltung der PRESS / ACTION GRABKA THOMAS oder jetzt im Fernsehen zur schließlich Klett- Deutschen zum Nationalso- Kertész Sprache zu bringen, sind Aus- bänder verwenden zialismus verändert? nahmen. dürfen, um den sich Kertész: Die Wehrmacht war die letzte SPIEGEL: Die Deutschen beschäftigen wehrenden Asylbe- Instanz, die in Deutschland als unbe- sich zunehmend mit ihrer Rolle als Op- werber ruhig zu hal- fleckt galt, daher damals der Schock. Ins- fer, etwa des Bombenkriegs. Beunruhigt ten. Am 2. Februar gesamt haben die Deutschen sich ihrer Sie das? beginnt in Frankfurt Vergangenheit gestellt. Und ihre Demo- Kertész: Nein. Was Autoren wie Grass, der Prozess gegen kratie ist eine der stabilsten in Europa. Sebald oder Nossack dazu sagen oder drei Grenzschutz- Auf die Weltordnung des Hasses kann sagten, ist wie die Wehmutsmelodie ei- beamte des Begleit- nicht urplötzlich eine der Liebe folgen – nes Cellos – schlimm wäre es nur, wenn kommandos, die wir leben immer noch in der Weltord- sich darein der schräge Ton des Ressen- Ageeb angeblich zu nung, die Auschwitz ermöglicht hat. timents mischen würde. Tode drückten. Die Plastikfesseln sollen dem Sudanesen al- lerdings schon vor- ELITE-UNIVERSITÄTEN winkt eine jährliche Sonderförderung her von anderen zwischen 10 und 50 Millionen Euro aus Beamten angelegt Wettkampf der Besten der Bundeskasse. Universitäten, die an worden sein. Ageeb (1995) dem Wettbewerb teilnehmen wollen, läne der Bundesregierung für die müssen in umfangreichen Bewerbungs- PEinrichtung der ersten deutschen unterlagen ihre Stärken präsentieren. Elite-Universitäten nehmen Gestalt an. Ausgewählt werden die künftigen Elite- Bildungsministerin Edelgard Bulmahn Hochschulen dann von einer unabhän- Nachgefragt (SPD) will noch in diesem Jahr einen gigen Jury, der in erster Linie Wissen- Wettkampf zwischen den deutschen schaftler angehören sollen. Wie viele Hochschulen starten, um die künftigen Universitäten am Ende gefördert wer- In der Kralle Spitzenunis zu ermitteln. Den Siegern den, steht noch nicht fest. Bei der so ge- Der Stadtstaat Hamburg nannten Projektforschung will Bulmahn künftig auf die Betreu- treibt ausstehende Kfz-Steuern ung von Großunternehmungen und Bußgelder mit der Park- wie dem Transrapid ganz verzich- kralle ein. Auch in Berlin wird ten. Stattdessen ist geplant, Tech- eine solche Regelung erwogen. nologien mit einer „Perspektive Finden Sie auf wirtschaftliches Wachstum“ das gut? großzügiger zu unterstützen. Da- bei hat die Ministerin vor allem die Gen-, Bio- und Nanotechno- logie im Visier. Zudem verspricht Bulmahn den großen Forschungs- Ja % organisationen – Max-Planck- 47 und Fraunhofer-Gesellschaft so- wie der Helmholtz-Gemeinschaft Nein 50% – stetige Mittelzuwächse. Dafür TNS Infratest für den SPIEGEL vom 20. bis 21. Januar; CHRISTIAN PLAMBECK / LS-PRESS CHRISTIAN sollen die sich zu einer effiziente- rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ Bulmahn, Studenten (am 6. Januar in Weimar) ren Verwendung verpflichten.

der spiegel 5/2004 19 DDR-Propagandaplakat, Landarbeiterin Schick (1960), Erbin Schick (2004): „Es ist ein phänomenales Ding, gegen die Bundesrepublik

BODENREFORM Später Sieg des Ostens Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte brechen alte Wunden auf. Die vormaligen DDR-Bürger triumphieren – zugleich wird den Gewinnern des Prozesses das Land von wenig einfühlsamen Wessis schon wieder abgeluchst.

m Tag seines Triumphes war Hans öffentlich bejubeln zu können. Erst einen dickes Unrecht konnte nicht bestehen“, Modrow ohne Handy unterwegs. Er Tag später erklärte er am Apparat: „Das ist sagt Schick. „Es ist ein phänomenales Ding, Ahatte es vergessen, was normaler- ein Erfolg für alle ehemaligen DDR-Bürger gegen die Bundesrepublik zu gewinnen.“ weise kaum aufgefallen wäre. Der 75-Jähri- und für meine Regierung des Übergangs.“ Dreimal Freude, dreimal der gleiche Te- ge, einst Ministerpräsident der DDR Ein anderer, ebenfalls fast vergessener nor: Die DDR hat einen späten Sieg über und jetzt Ehrenvorsitzender der PDS, ist Politiker begrüßte das Urteil dagegen die Bundesrepublik davongetragen. Nach nicht einmal in der eigenen Partei sonder- sofort: Lothar de Maizière, 63, letzter Re- dem Urteil aus Straßburg erhob sich ein lich gefragt. Die Führung hielt ihn davon gierungschef der DDR. Mit dem jetzt ge- versunkenes Land aus seinen Trümmern. ab, wieder für das Europäische Parlament kippten Gesetz habe ausgerechnet die Bun- Der Sozialist Modrow war sich plötzlich zu kandidieren. Modrow ist ein Mann von desrepublik „nachträglich sozialistische Ver- einig mit dem Christdemokraten de Mai- gestern. hältnisse geschaffen, nur weil westdeutsche zière – Symbol für eine versteckte Brü- Doch am vergangenen Donnerstag wur- Juristen uns Ostdeutsche für unfähig hielten derlichkeit unter Ostdeutschen. Wenn es de er plötzlich in die Gegenwart zurück- und von der DDR keine Ahnung hatten“. gegen den Westen geht, hält man zusam- geholt und hätte auf drei Telefonen zu- Als Hildegard Schick aus Beesenstedt in men, ist man wieder Bürger der DDR. gleich sprechen können. Genossen und Sachsen-Anhalt am Donnerstag von dem Auch ein der Ostalgie so unverdächti- Journalisten wollten seinen Kommentar zu Urteil hörte, ließ sie die Korken knallen. Es ger Mann wie der Intellektuelle Richard einem Urteil des Europäischen Gerichts- gab Rotkäppchen-Sekt. Schick hatte von Schröder, einst SPD-Fraktionschef in der hofs für Menschenrechte. Es bestätigte ein ihrer Mutter neuneinhalb Hektar Land ge- DDR-Volkskammer, freute sich über das Gesetz zur Bodenreform aus Modrows Re- erbt und mit ihrem Mann einen Pferdehof Urteil: „Die Regelung der Eigentumsfrage gierungszeit und erklärte ein dem wider- betrieben. Modrows Gesetz aus dem Jahr war emotional belastend für den Prozess sprechendes Gesetz der Bundesrepublik 1990 bestätigte sie als Eigentümerin. Doch der Einheit. Gelegentlich ist der Eindruck für menschenrechtswidrig. durch die Entscheidung des bundesdeut- entstanden, die Raffgier sei in West- So entging dem einstigen Modernisierer schen Gesetzgebers von 1992 wurde sie deutschland größer als die Freude über die der SED der Genuss, seinen Sieg sogleich ohne Entschädigung enteignet. „So ein Einheit.“

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Bauern ihr Land und verteilt schränkungen sind aufgehoben“, heißt der es größtenteils unter Land- entscheidende Satz. „Wir wollten, dass die losen. Ostdeutschen nicht ohne Eigentum in die Auch die Eltern von Hil- Einheit gehen“, sagt Hans Modrow heute. degard Schick bekommen Der Einigungsvertrag übernimmt dieses 9,5 Hektar, die bis dahin dem Gesetz. Doch die neue Sicherheit für die reichsten Grundbesitzer der Familie Schick währt nur zwei Jahre. 1992 Gegend gehört haben. Den erklärt ein Gesetz der Regierung von Hel- Kaufpreis für ihr Ackerland mut Kohl zur Abwicklung der Bodenre- müssen die so genannten form das Geschenk Modrows für null und Neubauern aus den Erträgen nichtig. Dabei beruft sich der Gesetzgeber der Krume abstottern. ausgerechnet auf das Recht aus dem gera- Die Familie lebt von dem de abgewickelten „Unrechtsregime“ (Hel- Land, fünf Kühen, zwei Pfer- mut Kohl über die DDR). Das Bodenre- den, Schweinen und Schafen. formland dürfe nur dann Eigentum der Hildegard Schick erinnert Neubauern und ihrer Erben bleiben, wenn sich, dass sie „schon als Kind sie zu DDR-Zeiten in der Landwirtschaft zum Rübenverziehen übers tätig waren (siehe Grafik Seite 22). Eine Feld gekrochen“ sei. Die Entschädigung gibt es nicht. Nutznießer Selbständigkeit endet 1958, sind die ostdeutschen Länder. als der Betrieb einer Land- Hildegard Schick hat allen Grund, die wirtschaftlichen Produkti- Welt nicht mehr zu verstehen. Die Bun- onsgenossenschaft (LPG) an- desrepublik vergemeinschaftet den Boden, gegliedert wird. den eine sozialistische Regierung der DDR Formell bleiben die Krö- privatisiert hat. gers die Eigentümer ihres Lothar de Maizière (CDU) sieht drei Landes, können es zwar Gründe, die zu diesem Paradox führten: nicht mehr selbst nutzen, je- • Alle Gesetze der Regierung Modrow

CHRISTIAN EISLER / TRANSIT EISLER CHRISTIAN doch weiterhin vererben. Die hätten unter dem Verdacht gestanden, zu gewinnen“ Erben könnten dieses Land es seien Seilschaften der SED bedient zwar wieder verlieren, wenn worden. Wieder einmal zeigt sich, dass die Bun- sie nicht mehr in der Landwirtschaft tätig • Das bundesdeutsche Gesetz sei ein Teil- desrepublik ihrer Geschichte nicht ent- sind. Doch oft drücken die Behörden ein erfolg jener Lobby von Alteigentümern kommen kann. In dem Moment, als Bun- Auge zu. So auch bei den Krögers. Schick und FDP, die für eine komplette Revisi- deskanzler Gerhard Schröder den Blick in übernimmt die 9,5 Hektar von ihren El- on der Bodenreform warben. die Zukunft richten will und das Jahr der tern. Sie ist keine Bäuerin, sondern Kin- • Der Bund habe eine Chance gesehen, Innovation ausruft, meldet sich die Ver- dergärtnerin, aber ihr Mann arbeitet bis zu Geld zu kommen. Durch das Bun- gangenheit zurück. 1991 bei der LPG und macht sich dann desgesetz seien rund 100 000 Hektar Wer hier zu Lande nicht sorgsam mit selbständig. zu Staatseigentum erklärt worden – dem Gestern umgeht, muss teuer dafür be- Nach der Wende nutzen die Schicks ihre eine schöne Einnahmequelle für den zahlen. Das Urteil aus Straßburg könnte Chance und gründen einen Pferdehof mit Fiskus. den Staat bis zu einer Milliarde Euro kos- Zuchtbetrieb und Pension. Grundlage ist Alle drei Punkte tragen zu dem Grund- ten. Es wird Streit geben zwischen Bund das geerbte Land. gefühl bei, das sich schon 1992 in Ost- und Ländern, wer wie viel übernehmen Seit März 1990 unterliegt es keinen Be- deutschland verfestigt hat: Wir sind Bürger soll. „Nun kommt ein Pokerspiel“, sagt der schränkungen mehr, denn die Regierung zweiter Klasse, stigmatisiert und ausge- Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Modrow hat die Erben der Neubauern zu grenzt. Wolfgang Böhmer (CDU). Volleigentümern gemacht. Sie dürfen den Im Jahr 1993 bekommt Hildegard Schick Zur Innovation des Jahres könnte das Boden also auch behalten, wenn sie ihn per Post die Aufforderung, sich im neu ge- Konzept werden, wie man am besten mit nicht beackern. „In Rechtsvorschriften ent- gründeten Amt für Landwirtschaft und der Vergangenheit umgeht. haltene entgegenstehende Verfügungsbe- Flurneuordnung in Halle zu melden. Sie Es ist deutsche Geschichte, über die in Straßburg verhandelt wurde. Im Fall der Hildegard Schick beginnt sie an einem klir- rend kalten Januartag im Jahr 1945, als ihre Mutter Erna Kröger mit vier kleinen Kin- dern aus dem Warthegau flieht. Ihr Mann Edgar kämpft derweil an der Front. Im Saalkreis findet sie bei einem Bauern Unterschlupf. Als Edgar Kröger 1946 aus dem Krieg zurückkehrt und nach langer Suche seine Familie gefunden hat, wird in Ostdeutschland gerade das Land neu auf- geteilt. Überall hängen rote Fahnen mit rie- sigen weißen Buchstaben: „Junkerland in Bauernhand“. Es ist die Zeit der Bodenreform. Die so- wjetische Besatzungsmacht nimmt Groß-

grundbesitzern und mutmaßlichen Kriegs- KUMM / DPA WOLFGANG verbrechern, aber auch etlichen kleineren Politiker Eichel, Böhmer: Der Friede zwischen Ost und West steht auf dem Spiel

der spiegel 5/2004 21 Deutschland soll die Rechtmäßigkeit ihres Besitzes nach- weisen. Ihr wird gesagt, dass sie das Land nicht behalten könne, da sie Kindergärt- nerin sei. Ihr Mann zähle nicht in dieser Sa- che, weil er nicht direkter Erbe ist. Sie wehrt sich vor Gericht, verliert aber. 1998 wird ihr das Land entzogen. Sie muss fortan Pacht dafür zahlen, jährlich 300 Euro pro Hektar. Ihre Existenz sei bedroht ge- wesen, sagt sie. „Immer wenn vom ,Un- rechtsstaat DDR‘ die Rede war, haben wir gesagt: So was darf nach der Wende ein- fach nicht wieder passieren, das kommt nicht durch.“ Nun hat sie tatsächlich Recht bekom- men. „Der deutsche Gesetzgeber“, ent- schieden einstimmig die Richter des Eu- ropäischen Menschenrechts-Gerichtshofs, durfte den Erben der Bodenreform-Bauern „nicht ihr Eigentum entziehen, ohne sie dafür angemessen zu entschädigen“. Die Position der Bundesregierung war, dass es sich bei den Grundstücken um „‚il- Regierungschefs Kohl, Modrow (im Dezember 1989): Nicht ohne Eigentum in die Einheit

„fühlten wir uns wie Schwerverbrecher“, Streit um die Ost-Scholle sagt seine Frau Marlies. Die Abwicklung offener Besitzansprüche aus der Bodenreform 1945 bis 1949 Die ostdeutschen Politiker reagierten erst einmal überrascht auf das Urteil aus „Junker-Land“ Regelung Straßburg. Als Wolfgang Böhmer, der Mi- Vorwiegend Flächen von Großgrundbesitzern, Mit dem Einigungsvertrag wurde festgelegt, dass nisterpräsident von Sachsen-Anhalt, am ehemaligen NS-Größen und Kriegsverbre- die Enteignungen der Bodenreform nicht rückgängig Donnerstag in der Sendung „Maischber- chern, die mit der Bodenreform zwischen gemacht werden. Alteigentümer klagen nun 1945 und 1949 entschädigungslos enteignet beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ger“ auftrat, war ihm die Ratlosigkeit ins wurden. Umfang: rund drei Millionen Hektar. im Wesentlichen auf bessere Entschädigung. Gesicht geschrieben – dieses Thema hatte er nicht auf der Agenda. Neueigentümer des Regelung Aufgeregte Telefonate mit dem Land- Bodenreformlands Auf Grund des Zweiten Vermögensrechtsänderungs- wirtschaftsministerium machten ihm die Als Ergebnis der Bodenreform wurde gesetzes 1992 wurden die Erben von Bodenreformland Lage rasch und schmerzhaft klar: 18200 Hunderttausenden Ostbürgern, darunter enteignet, die weder zum 15. März 1990 noch in der Menschen könnten über Nacht ihre vom vielen Vertriebenen, Land gegen Entgelt Zeit davor mindestens zehn Jahre lang in der DDR-Land- Land enteigneten Grundstücke zurückfor- zugeteilt. Das Land der so genannten wirtschaft tätig waren. Vollzogen wurde dies bei rund dern; insgesamt 26000 Hektar Grund und Neubauern wurde später vielfach in 70000 Erbfällen. Nach Schätzungen gingen dabei min- Boden. Überschlägige Kostenrechnung sei- Landwirtschaftliche Produktionsgenossen- destens 100000 Hektar an die neuen Bundesländer. schaften eingebracht, blieb jedoch deren Der Menschenrechts-Gerichtshof hat diese ner Haushälter: 120 Millionen Euro, zu- Eigentum und konnte vererbt werden. Enteignung nun für unrechtmäßig erklärt. züglich Prozesskosten. Für das chronisch klamme Land eine Katastrophe. 16,6 Milliarden Euro Schul- legitimes‘ Eigentum“ handle, wenn die Er- Eine Diskussion um die Folgen der den hat Sachsen-Anhalt seit 1990 an- ben zu DDR-Zeiten nicht in der Landwirt- Straßburger Entscheidung könne bei den gehäuft, jede Sekunde kommen 24 Euro schaft tätig waren. Die Straßburger Richter Ostdeutschen „wieder viele Wunden auf- hinzu. Nur mit größter Mühe konnte Fi- entlarvten diese Begründung als „eminent reißen, die schon vernarbt waren“. nanzminister Karl-Heinz Paqué (FDP) politisches Konzept“. Es lasse außer Acht, Familie Kuley aus dem brandenburgi- Ende vergangenen Jahres einen Etat vor- dass die Erben der Neubauern „rechtmäßig schen Reichenwalde zum Beispiel wird legen, der mit der Verfassung verein- volles Eigentum an ihrem Land erlangten, wohl etwas brauchen, um die Erfahrungen bar war. als das Modrow-Gesetz in Kraft trat“. der letzten Jahre zu verdauen. Ihr Alp- Sachsen-Anhalt hat die enteigneten Für die Bundesrepublik ist das peinlich. traum begann im Herbst 1998 mit einem Grundstücke zum größten Teil noch nicht Sie hat sich in dieser Sache nicht anders Brief. Helmut Kuley, Kraftfahrer und Erbe weiterverkauft, weil die endgültige Rege- verhalten als ein sozialistischer Staat und eines Neubauern, solle seine fünfeinhalb lung zwischen Bund und Ländern seit 1992 hat das nun schriftlich. „Ausgerechnet von Hektar zurückgeben. Er hatte sie inzwi- offen ist. Auch die jetzt entstandene Ent- der Bundesrepublik wurde längst totes schen für vierteljährlich 1200 Euro an einen schädigungsfrage – Geld oder Land oder DDR-Recht wieder zum Leben erweckt“, Golfclub verpachtet. Behalten, wurde ihm gar nichts – ist nicht geklärt. sagt Anwältin Beate Grün aus Fürth, die bedeutet, könne er das Land nur, wenn er Auf jeden Fall will Böhmer, dass sich der maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die 40000 Euro zahle. Bund an den Folgekosten des Urteils betei- Neubauernerben den Prozess in Straßburg Kuley klagte – zunächst beim Landge- ligt, da es sich um ein Bundesgesetz handelt. gewonnen haben. richt, dann beim Oberlandesgericht, Bun- Das Urteil könnte teuer werden für den Zudem sehen sich nun viele Ostdeut- desgerichtshof, Bundesverfassungsgericht, Staat. Mit rund 70000 Fällen rechnet An- sche darin bestätigt, dass sie generell Europäischen Gerichtshof für Menschen- wältin Grün. Die Bundesregierung spricht schlecht behandelt würden. Das Urteil, sagt rechte. Irgendwann bekam er Herzproble- davon, dass insgesamt 100000 Hektar be- der Sozialpsychologe Elmar Brähler aus me, seit zwei Jahren nimmt er Medika- troffen seien – das wäre ein Grundstück Leipzig, würde „im Sinne einer höheren mente. Seine Nerven sind sehr angegriffen. etwas größer als Berlin. Grün schätzt je- europäischen Gerechtigkeit“ verstanden. Als einmal der Gerichtsvollzieher kam, doch, dass es um wesentlich mehr geht.

22 der spiegel 5/2004 Zehn Prozent davon dürften Bauland sein. deln. Im Kern geht es dabei nicht um eine „Die erheblichen Verfahrenskosten und Die Kosten für die Entschädigung werden Rückgabe, sondern um eine bessere Ent- die Rückzahlung der Pacht haben meine auf insgesamt eine Milliarde Euro ge- schädigung. Mandantin an den Rand ihrer materiellen schätzt. Mit einem Trick versuchen deshalb die Existenz gebracht“, sagt ihr Anwalt Purps. Auf dem Spiel steht aber auch der Frie- Alteigentümer, doch noch an ihr Land zu Sie habe heute einen Berg Schulden und de zwischen Ost und West. Klaus Stolten- kommen. Dazu brauchen sie die Erben der lebe von einer schmalen Erwerbsunfähig- berg, Beauftragter für Menschenrechtsfra- Neubauern. Seit etwa zwei Jahren werden keitsrente. 838000 Euro will Purps nun als gen im Bundesministerium für Justiz und sie von der „Aktionsgemeinschaft Recht Entschädigungssumme geltend machen. Verfahrensbevollmächtigter der Bundesre- und Eigentum“ (ARE) der Alteigentümer Gleichwohl ist nicht sicher, dass die Neu- publik in Straßburg, hat darauf in einem umworben. Scheinbar brüderlich spricht bauern demnächst schon Land oder Geld Schriftsatz an das Gericht vom 18. Juli 2003 man von „roten Enteignungen“ und erhalten. „Es ist nicht so, dass mit diesem hingewiesen. „schwarzen Enteignungen“ – als wäre das Urteil das Ende eingeläutet ist, es ist der Wenn der Staat die Neubauern entschä- betroffene Land doppelt vorhanden. Anfang“, sagte Rechtsanwältin Grün auf dige, „würde dies zwangsläufig die Frage Der Hintergedanke: Die Alteigentümer ihrer Pressekonferenz nach dem Straßbur- aufwerfen, ob die Behandlung der eigent- garantieren den Erben der Neubauern kos- ger Triumph. Für viele könnte es ein An- lich Geschädigten, nämlich der zahlreichen tenlosen Rechtsbeistand, wenn sich diese fang ohne Ende sein. Bürger, denen die meisten Bodenreform- verpflichten, im Erfolgsfall bis zu 33 Pro- Zwar müsse jetzt, freut sich Grün, „der flächen damals entschädigungslos entzogen zent des zurückerkämpften Grundbesitzes Räuber die Beute wieder herausgeben“. wurden, gerecht ist“. Der bittere Schluss an die ARE abzugeben – des Schreibens: „Diese Diskussion würde und so an die Alteigen- die Bundesrepublik auch in Anbetracht der tümer. finanziellen Auswirkungen nicht bestehen Für den Vorsitzenden können.“ des Neubauernverbandes Denn was die Neubauern jetzt gewon- von Mecklenburg-Vor- nen haben, ging anderen einst verloren – pommern, Hermann Kie- vor allem den Großgrundbesitzern, die bei sow, ist das „Bauernfän- der Bodenreform zwischen 1945 und 1949 gerei im wahrsten Sinne enteignet wurden. des Wortes“. Kaum ein Thema wurde im Zuge der Der Konflikt reichte bis Deutschen Einheit so emotional diskutiert nach Straßburg: Zwei der wie die Eigentumsfrage. Um die Boden- fünf Kläger sind Mitglie- reform haben ostdeutsche Politiker ge- der der ursprünglichen kämpft, als wäre sie eine der größten Er- Neubauernverbände, rungenschaften der DDR. Edith Loth aus Frankfurt De Maizière sieht bis heute den Grund- (Oder) wurde von Thors- satz „Rückgabe vor Entschädigung“ als ten Purps, einem Anwalt Hauptmakel jenes Einigungsvertrags, den der ARE, vertreten.

er gemeinsam mit seinem Staatssekretär Da die Alteigentümer COUNCIL OF EUROPE PHOTO Günther Krause sowie Bundeskanzler Hel- von den Ostdeutschen in Straßburger Gerichtshof: „Rechtmäßig volles Eigentum“ mut Kohl und dessen Vollstrecker Wolf- der Mehrheit mit dem gang Schäuble ausgehandelt hatte. Fast alle Westen identifiziert werden, trägt diese Das aber gilt erst einmal nur für die betei- Enteignungen auf dem Gebiet der DDR Methode nicht gerade zum Gelingen der ligten Kläger. Die anderen Erben müssen wurden per Einigungsvertrag zur Disposi- Einheit bei. Wer möchte, kann daraus jetzt selbst juristisch vorgehen oder auf tion gestellt. Einzige Ausnahme war die leicht einen Konflikt Ost gegen West eine gesetzliche Lösung hoffen – und das Bodenreform der Sowjets. stricken. Er würde die Stimmung im Lan- wird dauern. Ost- und westdeutsche Verhandlungs- de weiter drücken. So hält sich eine Indu- „Das Gros bekommt von der Straßbur- führer der Zwei-plus-Vier-Gespräche ver- strienation mit Problemen aus agrarischen ger Entscheidung erst mal nix zu spüren“, teidigten dies vor Gericht unter Hinweis Zeiten auf. bestätigt der Lobbyist der Erben, Kiesow. auf sowjetische Bedenken. Moskau hätte es Deshalb braucht die Bundesregierung Außerdem haben die Straßburger Richter zu einer Bedingung gemacht, dass ihre Ent- nun Fingerspitzengefühl. Sie hat gleich am keinesfalls gesagt, dass eine Entschädigung scheidungen nicht revidiert würden. Der Donnerstag angekündigt, „Rechtsmittel“ in voller Höhe erfolgen muss. damalige Staatspräsident Michail Gorba- gegen die Entscheidung zu prüfen. Even- Als Hoffnung bleibt den Erben der Neu- tschow bestreitet das aller- tuell wird dann noch einmal bauern, dass in diesem Jahr drei neue dings. eine Große Kammer mit 17 Landtage in Ostdeutschland gewählt wer- Die Alteigentümer beka- Richtern über den Fall ent- den. Die SPD braucht dringend Erfolge. men ihr Land jedenfalls nicht scheiden. Eine Aufhebung Seit der Flut des Jahres 2002 weiß der Bun- zurück, sollen jedoch ent- des Urteils ist allerdings eher deskanzler, wie dankbar sich die Ostdeut- schädigt werden – allerdings unwahrscheinlich. schen an den Urnen zeigen, wenn man mit Summen, die sie nicht zu- Edith Loth wartet drin- großzügig ist mit ihnen. Damals hatte frieden stellen. Von „Micky- gend auf die endgültige Ent- Schröder die Staatskassen geöffnet. maus-Beträgen“ spricht scheidung. Sie führt schon Die Versuchung, sich einen kleinen Vor- Christofer Lenz, ein Stutt- lange einen Kampf um sie- teil zu verschaffen, dürfte auch diesmal garter Anwalt, der Altei- ben Hektar Land, die sie an groß sein. Als der Berliner Regierungschef gentümer vor dem Europäi- Datschenbesitzer verpachtet – auf Afrika-Reise im fernen Pretoria – von schen Gerichtshof für Men- hatte. Sie musste nicht nur dem Urteil hörte, kündigte er im kleinen schenrechte vertritt. Haus und Ländereien zu- Kreis an: „Wir werden uns kümmern.“ Stefan Berg, Dietmar Hipp, Dirk Kurbjuweit, Denn auch in dieser Sache PETER ROGGENTHIN rückgeben, sondern auch müssen die Straßburger Rechtsanwältin Grün ihre Einnahmen von 60000 Irina Repke, Caroline Schmidt, Steffen Winter Richter diese Woche verhan- „Es ist der Anfang“ Mark dem Fiskus überlassen.

der spiegel 5/2004 23 Deutschland

markt und Arbeitsverwaltung muss sie den Vormann auf ihrer „größten Baustelle“ ARBEITSMARKT (Schröder) ersetzen. Was die Sozialdemokraten als weitere politische Niederlage werten, bedeutet für Der Fall Gerster Gerster das wohl endgültige Karriere-Aus. Der frühere Mainzer Sozialminister, der Gelebte Sozialpartnerschaft: Mit gezielten Intrigen drängten sich bei seinem Amtsantritt nicht weniger vorgenommen hatte als den „Totalumbau“ Gewerkschaften und Arbeitgeber den eitlen Behördenchef Florian der deutschen Arbeitsmarktpolitik, ist nach Gerster ins Abseits. Wird ein Telekom-Manager sein Nachfolger? nicht einmal zwei Amtsjahren kläglich ge- scheitert: an den Widerständen in Partei, Fraktion und Regierung, einem miserablen Krisenmanagement, der eigenen Arroganz und – nicht zuletzt – dem Intrigenspiel von Arbeitgebern und Gewerkschaften, bei dem Gerster am Schluss zwischen allen Stühlen saß. Auslöser war Gersters Entscheidung, die Nürnberger Behörde in einem politisch höchst gefährlichen Drahtseilakt zu führen. Obwohl altgedienter Genosse, lenkte er die Arbeitsämter nicht etwa im Sinne der SPD-nahen Gewerkschaften, sondern über- wiegend nach Arbeitgeber-Rezepten: Die Ausgaben für Arbeitsbeschaffung und Fort- bildung wurden drastisch zusammenge- strichen, der Druck auf die Jobsuchenden wurde rigoros erhöht. Die DGB-Vertreter, die in den Kontroll- gremien der Behörde ein Drittel der Stim- men haben, sannen auf Rache. Und so zögerten sie nicht lange, als sie Ende ver- gangenen Jahres Wind von Gersters frag- würdigem Vertrag mit der PR-Firma WMP EuroCom bekamen. Die Geschichte wur- de umgehend an „Bild am Sonntag“ durch- gestochen, wie ein DGB-Vorstandsmitglied bereitwillig zugibt. Gersters Rücktritt zu erzwingen gelang jedoch nicht. Schließlich konnte der Behör- denchef auf die Rückendeckung von Wirt- schaftsminister Clement wie auch der Ar-

PEER GRIMM / DPA beitgeber rechnen. Der Agenturchef habe Reformer Gerster, Clement: Großes Portfolio an Feinden doch „Einsicht gezeigt“, lobte etwa Ver- waltungsrats-Präside Clever noch kürzlich ie „Tagesschau“ war schon vorüber, Damit war auch dem Ressortchef klar, und befand: „Die Basis für vertrauensvol- als am vergangenen Dienstagabend dass der Skandal-Vorstand nicht länger im le Zusammenarbeit besteht weiter.“ Ddrei schwere Dienstlimousinen vor Amt zu halten sein werde. Doch verant- Doch inzwischen hatte die Union ent- dem noblen Berliner Hotel Esplanade vor- worten mochte Clement den Abgang des deckt, welches politische Potenzial in der fuhren. Drinnen wartete Wirtschaftsminis- „hervorragenden Fachmanns“ keinesfalls. Gerster-Affäre schlummerte. Stürzt der ter Wolfgang Clement, draußen kletter- Und so flüchtete sich der Minister in jene Behördenchef über das Enthüllungsmara- ten die drei Chefaufseher der Nürnberger seltsame Dementipolitik, die in den ver- Bundesagentur für Arbeit aus den Fonds: gangenen Tagen Freund und Feind glei- DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer, Ar- chermaßen verwirrte. Während die Regie- beitgeber-Vertreter Peter Clever sowie Cle- rung schon nach möglichen Nachfolgern ments arbeitsmarktpolitischer Abteilungs- fahndete, wies der Minister vor laufenden leiter Bernd Buchheit. Kameras aufkeimende Rücktrittsgerüchte Das Trio hatte dem Ressortchef Wichti- zurück: alles „Spekulationen“ oder schlicht ges mitzuteilen: Unter Arbeitsämterchef „Quatsch“. Florian Gerster seien mehr Beraterverträ- Verständlich: Der Sturz des umstritte- ge rechtswidrig vergeben worden als bislang nen Agenturleiters kommt der Regierung bekannt. Das habe ihnen gerade der Chef- ungelegen. Die Union kann sich zum Auf- revisor der Behörde erläutert. Der Behör- takt des Superwahljahres 2004 rühmen, denleiter, so teilten Engelen-Kefer und Cle- den wichtigsten Behördenchef der rot-grü- ver dem Minister mit, genieße nun nicht nen Regierung abgeschossen zu haben.

mehr ihr Vertrauen. Schon in wenigen Ta- Und die SPD, die seit Wochen im Umfra- PETER BOENING / ZENIT JAN gen werde der 21-köpfige Verwaltungsrat getief steckt, hat ein Problem mehr: Mitten Agenturzentrale in Nürnberg deshalb beschließen: Gerster muss gehen. im heiklen Reformprozess von Arbeits- Geheimer Kontrollbesuch

26 der spiegel 5/2004 thon aus Beraterkontrakten Doch der studierte Psycho- und Vergabeverstößen, so das loge manövrierte sich unbe- Kalkül, trifft das den Kanzler lehrbar nur immer tiefer in den selbst. Schließlich hatte er den Affärensumpf. Anstatt selbst eitlen Sozialpolitiker vor zwei für Aufklärung zu sorgen, Jahren höchstselbst auf den musste er sich in der Frage der heiklen Posten berufen. Beraterverträge erneut von Und so begannen Unions- der eigenen Revisionsabtei- politiker, im Arbeitgeberlager lung belehren lassen. Schlim- gezielt Stimmung gegen Gers- mer noch: Während seiner ter zu machen. Im Visier vor Auftritte vor dem Wirtschafts- allem: CDU-Mitglied Clever, ausschuss des Bundestags ver- der es unter Ex-Sozialminister wickelte sich der „Autist“ (ein Norbert Blüm bis zum ar- Clement-Ministerialer) in der- beitsmarktpolitischen Abtei- art viele Ungereimtheiten und lungsleiter brachte und nun Widersprüche, dass er in den als Verwaltungsrats-Präside an Verdacht geriet, Akten mani- einer strategischen Schaltstel- puliert oder gar das Parlament le der Behörde saß. belogen zu haben. Clever sträubte sich, doch Mal musste er einräumen, am vergangenen Montag dass die umstrittenen WMP-

wechselte er spektakulär die JOCKEL FINCK / AP Honorare in den einschlägi- Seiten. Überraschend stattete Kanzler Schröder*: Bangen um den wichtigsten Behördenleiter gen Vorstandsbeschlüssen um er der Nürnberger Behörde mehrere hunderttausend Euro einen angeblich geheimen Kontrollbesuch suchte, enthielten zwei gravierende Ver- niedriger beziffert waren als in den abge- ab – und telefonierte die Ergebnisse an- stöße gegen das Vergaberecht, darunter ein schlossenen Verträgen. Dann wieder be- schließend umgehend an Journalisten und Kontrakt mit dem Beratungsunternehmen rief er sich auf Voten seiner Vergabeabtei- CDU-Politiker durch. Bei den Beraterver- Roland Berger sowie einer mit der Com- lung, die es gar nicht gab. Gerster habe die trägen der Behörde seien neue „Unregel- puterfirma IBM. Weitere zwei Vergaben Gründe, warum er den fragwürdigen PR- mäßigkeiten“ aufgetaucht, berichtete tags waren derart mangelhaft, dass andere Fir- Kontrakt ohne Ausschreibung vergeben darauf die „Bild“-Zeitung. Und fragte: men möglicherweise juristisch gegen die habe, mehr oder weniger „herbeigezau- „Fliegt Skandal-Gerster?“ Auftragserteilung vorgehen könnten. Und bert“, befand Rechnungshof-Präsident Die- Hatte Clever den Behördenleiter zuvor weitere zehn Verträge enthielten kleinere ter Engels vor dem Wirtschaftsausschuss. wochenlang in Schutz genommen, konnte Fehler. Die übrigen Vergabeverfahren, so Unter dem Druck ständiger Vorwürfe es ihm nun gar nicht schnell genug gehen. ermittelten die Prüfer, waren ordnungs- und Enthüllungen hatte der Agenturleiter Am Telefon bekniete er zunächst Kon- gemäß abgewickelt. den Kontakt zur Realität weitgehend verlo- trollkollegin Engelen-Kefer, Gerster so Nun ist die juristische Aufarbeitung der ren. Noch vergangene Woche suchte Gers- schnell wie möglich zum Abdanken zu Affäre in vollem Gange. So prüft das Wirt- ter Clement am Telefon davon zu überzeu- zwingen. Anschließend machte er Druck schaftsministerium, ob die beanstandeten gen, dass er weiter im Amt bleiben könne. bei Clement. Gerster müsse schleunigst Verträge gekündigt oder sogar Teile des „Ich werde kämpfen“, kündigte er an. weg, forderte er, oder die Union werde Beraterhonorars zurückgefordert werden Doch selbst in der Regierung wurden umgehend einen Untersuchungsausschuss müssen. Und auch die Strafverfolgungs- solche Ankündigungen inzwischen eher als zu der Affäre einsetzen. behörden schalten sich schon ein. So leite- Drohung empfunden. Überall dachten Ar- Damit war klar: Arbeitgeber wie Ge- te die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth beitsmarktexperten und Wirtschaftspoliti- werkschaften hatten den Daumen gesenkt. im Dezember unter dem Aktenzeichen ker bereits über geeignete Nachfolger nach. Clement allein konnte Gerster nicht im Az. 507JS2287/03 ein Ermittlungsverfah- Doch wann immer ein Kandidat ins Spiel Amt halten. ren gegen den Behördenchef ein, nachdem kam, wurden fast gleichzeitig die Beden- Dass sein Sturz am Ende unvermeidlich bundesweit zahlreiche Strafanzeigen ge- ken bekannt. Arbeits-Staatssekretär Gerd war, hatte sich Gerster nicht zuletzt selbst gen Gerster wegen der „Veruntreuung von Andres? Zu viel sozialpolitischer Stallge- zuzuschreiben. In seiner Zeit als Agentur- Geldern“ eingegangen waren, die sich bis ruch. Gerster-Vize Frank-Jürgen Weise? Zu chef war es ihm nicht nur gelungen, sich ein zum vergangenen Freitag auf 25 summier- sehr mit dem Vorgänger verbunden. „großes Portfolio an Feinden“ zu schaffen, ten. „Es liegen klare Verdachtsmomente Als geeignet gelten derzeit im engeren wie ein Clement-Vertrauter spottet. In der vor, ohne die wir das Ermittlungsverfah- Regierungszirkel vor allem Wirtschafts- Affäre um den WMP-Vertrag beging er ren nicht eröffnet hätten“, sagt Bernhard staatssekretär Alfred Tacke, der sich als auch so gut wie jeden Fehler, „den man nur Wankel, Sprecher der Nürnberger Justiz- effizienter Politikmanager ausgewiesen hat, machen kann“. behörden. sowie der SPD-nahe Telekom-Personal- Immer wieder hatte er beispielsweise Was Behördenkontrolleure und Politi- vorstand Heinz Klinkhammer, dem ex- Behördenaufsehern und Parlamentariern ker gegen Gerster aufbrachte, waren je- zellente Drähte zu den Gewerkschaften versichert, dass mit Ausnahme des WMP- doch nicht nur die neuen Erkenntnisse nachgesagt werden. Der Kandidat selbst Kontrakts alle übrigen Beraterverträge kor- über weitere Vergabefehler. Gegner wie dementiert noch: „Ich fühle mich bei der rekt ausgeschrieben gewesen seien. Nun Verbündete beklagen vor allem das Kri- Telekom wohl.“ bescheinigte ihm die eigene Behörden- senmanagement des Ämterchefs. Minister Clement selbst mochte sich kontrolle in ihrem 42-seitigen Prüfbericht, Schon vor Wochen hatten ihm seine we- Ende vergangener Woche noch nicht an dass seine Behauptung zumindest voreilig nigen Vertrauten zu einer klaren Auf- der Nachfolger-Suche beteiligen. Nur eins war: klärungsstrategie geraten: Gerster müsse war klar: Die Personalie, so ein Vertrauter, Von den 49 Beraterverträgen, die das die Fehler beim WMP-Vertrag eingestehen werde „eine ganz schwierige Kiste“. Revisionsamt bis zum Wochenende unter- und zugleich alle Fakten über die übrigen Kontantin von Hammerstein, Beraterkontrakte schnellstmöglich auf den Wolfgang Reuter, Michael Sauga, Janko Tietz * Am Dienstag vergangener Woche in Nairobi. Tisch legen.

der spiegel 5/2004 27 Umfrage Einsamer Fan Joschka Fischer

erlierer des vierteljährlichen Politi- ker-Rankings von TNS Infratest für Vden SPIEGEL ist CSU-Chef Ed- Angela Wolfgang Renate Edmund mund Stoiber, der wieder hinter die CDU- Merkel Schäuble Künast Stoiber Friedrich Gerhard Heide Vorsitzende Angela Merkel zurückfällt. Merz Schröder Simonis Nicht einmal jeder zweite Deutsche (49 Prozent) wünscht sich derzeit, dass der Bayern-Premier künftig eine „wichtige po- litische Rolle“ spielt; im Oktober 2003 wa- ren es noch fast zwei Drittel (62 Prozent). 73 Gleich um 20 Punkte auf nur noch 33 Pro- zent ist die Zufriedenheit mit Stoibers poli- tischer Arbeit abgestürzt. Allerdings: Un- ter den Unionsanhängern liegen die Kon- kurrenten um die Kanzlerkandidatur 2006 54 in der Bewertung gleichauf. Gewinner bei 51 den Christparteien ist Friedrich Merz, der 49 49 neue Popularität und Platz 6 seinem Vor- 45 stoß für eine radikale Steuerreform ver- 44 43 dankt. Dass die kommen wird, glaubt aber nicht einmal ein Viertel der Befragten. Rot-Grün kann von den unionsinternen „Wichtige Rolle“ selte- „Wichtige Rolle“ häufi- Richtungskämpfen nicht profitieren – im ner gewünscht als in ger gewünscht als in Gegenteil. Die ohnehin große Enttäu- der Oktober-Umfrage der Oktober-Umfrage schung der Bürger über die Politik der Bundesregierung hat in den vergangenen drei Monaten weiter zugenommen. Mit 86 –4 –4 –7 –13 +6 Prozent ist der Anteil der Befragten, die mit der Koalition „weniger“ oder „gar „Dieser Politiker nicht“ zufrieden sind, gegenüber Oktober ist mir unbekannt“ 6 11 17 2003 noch einmal um 4 Prozentpunkte ge- stiegen. Die Gruppe der mit Rot-Grün Veränderungen bis zu 3 Prozent liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen. rundum Glücklichen bewegt sich mittler- weile im Promillebereich und ist statistisch nicht mehr ausweisbar: „Sehr“ zufrieden Sonntagsfrage Mehrheit skeptisch mit der Politik der Regierung Schröder „Befürworten Sie einen war von 1000 Befragten – ein einziger. „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ humanitären Einsatz von Speziell die Arbeitsmarktpolitik von Ger- Bundeswehrsoldaten im hard Schröder und Co. überzeugt selbst 50 Irak, wenn dafür ein Uno- nach Umsetzung von Hartz I bis IV wei- Mandat vorliegt?“ terhin kaum jemanden. Besonders schlecht 47 schneidet bei den Bürgern auch die Ge- Bundes- 45 Umfrage Ja 47 sundheitsreform ab, die 81 Prozent miss- tagswahl Jan. 2004 fällt. Dass die zuständige Ministerin Ulla 2002 Schmidt künftig eine „wichtige politische Nein 50 Rolle“ spielt, wollen nur noch 18 Prozent. 38,5 40 Verquere Fronten zeigen sich in der 38,5 Frage eines möglichen humanitären Irak- Einsatzes der Bundeswehr. Unter Sozial- 35 Fehlender Glaube demokraten wie Unionsanhängern über- „Meinen Sie, dass es vor der wiegt die Ablehnung, bei Grünen und nächsten Bundestagswahl FDP dominieren die Befürworter. 30 2006 zu einer grundlegenden Bei Neuwahlen käme die CDU/CSU Reform des Steuersystems trotz aller Querelen derzeit der absoluten 25 kommen wird?“ Mehrheit nahe. Mit 47 Prozent lässt sie Quellen: TNS Infratest und Infratest dimap für die ARD SPD (25 Prozent) und Grüne (12 Prozent) 12 10 weit hinter sich. Wenn die PDS an der 8,6 Fünfprozenthürde scheitert, könnte die 7,4 8 75 Union auf die Hilfe der FDP (8 Prozent) 23 verzichten. Doch beeinträchtigen Unwäg- 5 4,0 Nein barkeiten das Zahlenspiel: Vier von zehn 5 Ja Wählern mögen sich derzeit für keine Par- 2002 2003 2004 tei entscheiden. Hans Michael Kloth

28 der spiegel 5/2004 Deutschland

Schwere Zeiten für Politiker TNS Infratest nannte die Namen von 20 Spitzenpolitikern. Der Anteil der Befragten, die es gern sähen, wenn der jeweilige Politiker künftig „eine wichtige Rolle spielen“ würde, und die Veränderungen zur letzten Umfrage im Oktober 2003 Otto Wolfgang Schily Clement Renate Horst Peter Guido Alle Angaben in Prozent Schmidt Seehofer Struck Westerwelle

Jürgen Trittin Roland Koch Hans Eichel Manfred Stolpe Ulla Schmidt Olaf Scholz

43 42 39 39 38 37 33 30 29 26 Im Oktober – 6 –11 – 6 –11 – 5 – 7 – 5 nicht auf 18 der Liste –8 11 4 8 16 10 13 4 18 5 16 45 TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 20. und 21. Januar 2004; rund 1000 Befragte Freiwilliges Engagement Schwer enttäuscht „Mit der Abschaffung des Wehrdienstes würde auch der Zivildienst „S ind Sie mit der Arbeit der vor dem Aus stehen. Wären Sie dafür, an Stelle des Zivildienstes... Bundesregierung in folgenden Bereichen zufrieden?“ . . . das Freiwillige Soziale Jahr attraktiver zu machen 50 und zum Beispiel auch für Senioren zu öffnen?“ Ja Nein . . . ein soziales Pflichtjahr für alle jungen 38 die Arbeitslosigkeit bekämpfen Männer und Frauen einzuführen?“ 8 91 . . . den Zivildienst ersatzlos die Wirtschaft ankurbeln zu streichen?“ 6 12 87 Veränderung mit Rot-Grün insgesamt Tiefer Sturz „Sind Sie zufrieden mit der Arbeit von ... gegenüber 12 86 Oktober 2003 die Renten sichern ... Angela Merkel?“ 13 86 Ja37 Nein 59 – 4 die Gesundheitsvorsorge sichern Prozent- 66 punkte 18 81 Unions-Anhänger die Steuern senken ... Edmund Stoiber?“ 24 71 Ja33 Nein 60 – 20 für soziale Sicherheit sorgen Prozent- 66 punkte 26 72 Unions-Anhänger die Bürger wirksam vor Verbrechen schützen ... Gerhard Schröder?“ 53 43 Ja30 Nein 68 + 0 –Prozent- die Umwelt schützen M U

70 G punkte 66 32 SPD-Anhänger R A

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STAATSOBERHAUPT Der Präsidentenpoker Berlin im Zockerfieber: Frau nach Rau, rufen ein rauflustiger Kanzler und eine aufmüpfige FDP als Zünglein an der Waage. Der bisherige Favorit Wolfgang Schäuble scheint aus dem Rennen.

er Kanzler wollte gerade im Auf- ruft, will Westerwelle unter Zugzwang set- wird öffentlich geschwiegen und diskret zug des Sheraton Hotels in Pretoria zen. Wer Wolfgang Schäuble als Unions- sondiert, um bei Bedarf neue Karten ins Dverschwinden, als er am vergange- kandidaten fordert, möchte seiner Partei- Spiel zu bringen. nen Donnerstagabend mit einer scheinbar chefin Merkel das Leben erschweren. Beispiel Angela Merkel: Niemand kennt harmlosen Frage konfrontiert wurde: „Was Das halb öffentliche Spiel ist schon et- ihren Wunschkandidaten, denn sie besitzt haben Sie eigentlich bei Ihrem Treffen mit was komplizierter: Hier wird unterhalb gleich mehrere davon. Aber sie schweigt. Genscher besprochen?“ der Top-Ebene und knapp oberhalb des Der Spielverlauf entscheidet, welchen sie Verdutzt drehte sich Gerhard Schröder Stammtisches geräuschvoll sondiert, was schließlich nennt. um und verließ den Lift. Zunächst mochte zusammen geht und was nicht. So redet Beispiel Gerhard Schröder: Der Kanzler er das Meeting „nicht bestätigen“, dann der rheinland-pfälzische Ministerpräsident hat nichts in der Hand, bietet aber fröhlich räumte er immerhin listig lächelnd ein, dass Kurt Beck (SPD) mit FDP-Vize Rainer mit, um die CDU-Chefin zu reizen und von es dabei „um Georgien, um Schewardnad- Brüderle, der sozialdemokratische Vertei- den eigenen Manövern abzulenken. se, um Außenpolitik“ gegangen sei – und digungsminister Peter Struck mit dem li- Beispiel Hans-Dietrich Genscher: Er gibt erst als sein Gesprächspartner darauf be- beralen Fraktionsgeschäftsführer Jürgen sich als harmloser Zuschauer aus, lugt aber harrte, die Bundespräsidentenwahl habe Koppelin oder Grünen-Chef Reinhard heimlich jedem ins Blatt. Offenkundig zu wohl auch auf dem Programm gestanden, Bütikofer mit dem FDP-Granden Wolf- alter Form auflaufend, umschlich der aus- reagierte der deutsche Regierungschef wie gang Gerhardt. Es geht um das Sammeln gewiesene Fuchs mit den sprichwörtlich ein ertappter Schulbub: von Informationen und vor allem um Im- großen Ohren so nicht nur den Kanzler, „Dazu sage ich nichts, kein Wort.“ poniergehabe. Ein Insider stöhnt: „Ein un- sondern selbstverständlich auch die Op- Ob im eiskalten Berlin oder im feucht- glaubliches Geschnatter ist in Gang ge- positionsführerin. warmen Südafrika: Nichts elektrisiert die kommen.“ Seit vergangener Woche hat das Spiel politischen Akteure derzeit mehr als die Der geheime Präsidentenpoker ist die an Schärfe gewonnen: Unerwartet misch- Präsidentenfrage. Geradezu lustvoll wird Königsklasse: Hier sind die Profis unter ten sich die FDP-Landesfürsten ein und getuschelt und konspiriert, lanciert und in- sich, der Gegner soll bis zuletzt im Unkla- brachten die bisherige Formation gründ- trigiert, aber auch mit unbewegter Miene ren über die eigenen Absichten bleiben, es lich durcheinander. Sie fordern, befeuert geleugnet, geschummelt oder und diskret beraten von Gen- vielsagend geschwiegen. Kanzler Schröder: „Klappe halten“ scher, einen eigenen liberalen Schon vor Monaten wurde Kandidaten aufzustellen – und laut „FAZ“ ein „Meisterstück“ ihn notfalls mit den Stimmen der von FDP-Chef Guido Wester- rot-grünen Koalition wählen zu welle angekündigt – in Wahrheit lassen. „Noch nie“, sagt einer der wird aber nun bestenfalls Kunst- Verschwörer, „war die Konstel- handwerk abgeliefert. Gewonnen lation für uns so günstig.“ hat, wem es am Ende gelingt, sei- Bei der wichtigsten machtpoli- nen Kandidaten bis ins Schloss tischen Entscheidung des Jahres Bellevue zu bugsieren. Als Be- sitzt ausgerechnet ein politischer lohnung locken öffentlicher Zwerg am längsten Hebel. In der Ruhm, innerparteiliche Ge- Bundesversammlung stellt die schlossenheit und, für den Fall, FDP – abgesehen von der PDS – dass sich Angela Merkel durch- mit 80 Stimmen den kleinsten setzen sollte, der vermeintliche Block. Die Union hat zwar die Höchstpreis – die Kanzlerkandi- meisten Delegierten, 538 Män- datur. ner und Frauen, aber keine Die Spielregeln sind gleicher- Mehrheit. Auch Rote (462) und maßen unkonventionell wie un- Grüne (89) können angesichts durchschaubar. Drei Varianten der Wahlschlappen in den Län- des Präsidentenpokers haben dern nicht mehr aus eigener sich eingebürgert, die allerdings Kraft das Staatsoberhaupt be- zur Verwirrung des Publikums stimmen – weshalb Johannes oft parallel gespielt werden. Rau auf eine zweite Amtszeit Das öffentliche Spiel: Dabei verzichtet hat. werden Namen laut genannt, da- In dieser Lage zeigt sich die mit sie im Lichte der Öffentlich- FDP gern bereit, mit beiden keit wie von selbst verglühen. großen Blöcken zu verhandeln, Alle frühen Festlegungen verfol- wenn denn am Ende ein eigener gen in der Regel das Ziel, eine Kandidat das Rennen machen andere Person als die belobigte darf. Es wäre nach Theodor zu treffen. Wer die FDP-Frau Heuss (1949 bis 1959) und Walter

Cornelia Schmalz-Jacobsen aus- PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT Scheel (1974 bis 1979) das dritte 30 Mal, dass die Minipartei das hard Schröder, aber die Große höchste Staatsamt besetzt. Koalition unter CDU-Kanzler Guido Westerwelle, eines der arbeitete Mitglieder im Club der schweig- an der Einführung des Mehr- samen Spieler, zögert noch und heitswahlrechts, das die FDP will sich nicht vorzeitig festlegen. chancenlos gemacht hätte. So hat er es auch der CDU-Vor- Das Manöver zahlte sich drei- sitzenden versprochen, die ihn fach aus: Heinemann wurde mit drängt, bis nach der Hamburg- sechs Stimmen Vorsprung ge- Wahl zu warten. Der Vorteil ei- wählt, sieben Monate später nes FDP-Staatsoberhaupts liegt reichte es im Bundestag zu einer für ihn auf der Hand: Der ange- sozial-liberalen Koalition, und schlagene Chefliberale hätte als die SPD verzichtete auf die Präsidentenmacher Gewicht ge- Wahlrechtsreform. wonnen und seiner PR-versesse- Angesichts solcher geschichtli- nen Couleur einen Dauerwerbe- chen Lehren genieße für CDU- träger verschafft. Chefin Merkel „die Geschlos- Aber nicht jeder Kandidat senheit der bürgerlichen Op- kann ihm dabei gleich recht sein. position allerhöchste Priorität“, Gelänge etwa Cornelia Schmalz- sagt einer ihrer Strategen. Bes- Jacobsen der Durchmarsch, ließe ser ein liberaler Kandidat, soll sich die eher sozial-liberal orien- das heißen, als ein Sieg für tierte Parteifreundin nur schwer Rot-Grün. als seine Wahl ausgeben. Die Auch die CSU will zwar lieber Frau hat ihn mehrfach, zuletzt in einen Unionsmann ans Ziel brin- der parteiinternen Antisemitis- gen, schließt aber einen Freide-

mus-Debatte, schroff gerüffelt. / DDP MICHAEL URBAN mokraten nicht rundweg aus. Darf es da verwundern, dass Parteichefs Westerwelle, Merkel: Warten auf die Hamburg-Wahl Nur linksliberal darf er oder sie der zunehmend verblasste Jung- nicht sein. Weil man indessen star seinen wichtigsten Trumpf nicht vor- nen, sich an das Beispiel Konrad Adenau- auch das so deutlich nur ungern sagen will, zeitig ausspielen möchte? Fallen nämlich ers zu erinnern. Der hatte 1949 vor der ers- werden andere Kriterien ins Feld geführt: die Liberalen in Hamburg durch oder wer- ten Bundespräsidentenwahl die eigenen „Eine Rückkehr aus dem Ruhestand und den von der Hanse-CDU bei der Koali- Reihen dazu aufgerufen, den FDP-Mann eine Besetzung aus dem Ausland wären tionsbildung ignoriert, fürchtet Wester- zu unterstützen – um da- nicht optimal“, erfährt man aus Kreisen welle nicht ganz zu Unrecht, innerpartei- nach selbst zum Kanzler aufzusteigen. um Edmund Stoiber – und wer damit ge- lich unter Druck zu geraten. Er müsste 1969 war es Genscher, der zusammen meint ist, lässt sich leicht erraten: Cornelia dann einen eigenen Bewerber durchset- mit dem damaligen Parteichef Walter Schmalz-Jacobsen schied 1998 als Auslän- zen, um seine Gegner zu befrieden – egal Scheel dafür sorgte, dass die FDP den So- derbeauftragte aus der Bundespolitik aus, mit wessen Unterstützung. zialdemokraten in den Klaus Töpfer lebt als Chef der Uno-Um- Exakt in diese Richtung drängen die Par- Sattel hob. Zwar gab es unter den Libera- weltbehörde seit 1998 im fernen Kenia. teibasis und Genscher schon heute. Je len beträchtliche Sympathien für den Uni- Am liebsten wäre es der CSU, der mehr sich die Liberalen ihrer Rolle als onskandidaten, Verteidigungsminister Ger- kommende Präsident hieße Wolfgang „Waagscheißerle“ bewusst werden, desto stärker sinkt ihre Bereitschaft, einen Uni- UMFRAGE: BUNDESPRÄSIDENTIN onskandidaten zu akzeptieren. Das Pen- del schlug um, als der hessische Minister- „Sind Sie dafür, eine Frau als präsident Roland Koch vor drei Wochen erklärte, für das bürgerliche Lager komme Bundespräsidentin zu wählen?“ nur ein eigener Aspirant in Frage. „Was bildet die Union sich ein“, schimpft seither ja 90% FDP-Fraktionsgeschäftsführer Koppelin, „die führen sich wie eine Staatspartei auf.“ Am Rande des Saarbrücker Europatages nein 7% verständigten sich die liberalen Fraktions- chefs am vorvergangenen Wochenende bei Sauerkraut und Rollbraten auf eine Linie: „Sollten Ihrer Meinung nach zwei „Schäuble wird es nicht“, resümierte der Frauen gleichzeitig als Bundesprä- Schleswig-Holsteiner Wolfgang Kubicki. sidentin und Kanzlerin amtieren?“ Die FDP, einigte sich die Runde, müsse un- bedingt selbst antreten. Angst, die Union gesamt Männer Frauen zu verprellen oder Merkel zu destabilisie- ja 76% 79 73 ren, haben die Frondeure nicht: Bei der Wahl 2006 kämen die Christparteien oh- nehin nicht an den Liberalen vorbei. nein 23% 19 26 Auch Genscher, der in Sachen Präsiden- tenkür über die größte Erfahrung verfügt, TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL macht sich für einen eigenen Kandidaten vom 20. bis 21. Januar; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe, „weiß nicht“ stark – aber nur außerhalb des Scheinwer- GLASER PAUL ferlichts. Eindringlich empfahl er den Sei- Liberale Schmalz-Jacobsen: „Aufgeschlossen, ausgleichend, sehr differenziert“

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Schäuble, der von allen bisher genannten Gesucht wird ein „zweiter Roman Her- sich in mehreren Vereinen wie „Bridge of Kandidaten die eindrucksvollste Vita vor- zog“ – einer wie der ehemalige Verfas- Understanding“, „Humanity in Action“ zuweisen hat. sungsgerichtspräsident, der als christde- oder der „Vereinigung gegen Vergessen – Doch Merkel weiß, dass der Ex-Innen- mokratischer Minister in einem Landeska- Für Demokratie“ um die Aussöhnung mit minister, Ex-Kanzleramtschef, Ex-Frak- binett gedient hatte, aber in Deutschland Israel. Ein SPD-Kabinettsmitglied: „Die ist tionschef, Ex-Parteichef und Architekt des den Ruf eines unkonventionellen und un- international gut vorzeigbar.“ Einigungsvertrags für die Liberalen nicht in abhängigen Mannes genoss. Der zweite Vorteil aus sozialdemokra- Frage kommt. Merkel muss sich beeilen, die Zeit läuft tischer Sicht wäre die notwendig mit ih- Also hat sie ihren Vorgänger auf dem neuerdings gegen sie. Mit Schmalz-Jacob- rer Wahl einhergehende Niederlage für Präsidenten-Personaltableau kühl nach sen, der früheren Ausländerbeauftragten Angela Merkel. Schon die Diskussion um hinten gerückt. „Schäuble hat von Tag zu der Kohl-Regierung, haben die Liberalen Schmalz-Jacobsen tut den SPD-Spitzen gut. „Es läuft so schön“, freut sich ein Führungsgenosse. Der Kanzler gab an sei- ne Leute das Motto aus, die Diskussion nun möglichst den Konservativ-Liberalen zu überlassen: „Klappe halten.“ Vier Monate vor der Wahl geht das Kan- didatenkarussell so in die entscheidende Runde. Nichts ist gelaufen, mehrere Sze- narien sind denkbar. • Union und FDP nominieren gemeinsam Wolfgang Gerhardt, Rot-Grün stellt eine Frau dagegen. Ergebnis: Gerhardt wird Bundespräsident, Westerwelle kann sei- ne Macht ausbauen und wird danach auch Fraktionsvorsitzender. Angela Mer- kel hätte zwar keinen eigenen Kandida- ten durchgesetzt, aber das größte Übel – Frau und Liberale – vermieden. • Westerwelle beharrt auf Gerhardt, Mer- kel nominiert daraufhin Töpfer. Ergeb- nis: Der CDU-Mann wird mit den Stim-

PEER GRIMM / DPA men von Rot-Grün Staatsoberhaupt. Ehemaliger FDP-Chef Genscher: Erinnerungen an das Beispiel Konrad Adenauers Diese Variante versuchen Regierungs- politiker der CDU-Chefin derzeit als Er- Tag weniger Chancen“, berichtet ein Mit- eine Persönlichkeit aufzubieten, die aus folgsmodell zu verkaufen. Doch für Mer- glied der Fraktionsführung. dem Stand über eine breite Mehrheit in kel wäre es bestenfalls ein halber Erfolg Umso klarer drängt sich nun Wolfgang der Bundesversammlung verfügen würde. – das bürgerliche Lager wäre geteilt, die Gerhardt, der Fraktionschef der FDP, ins Rot-Grün plus FDP – die engagierte Men- CSU würde toben und Westerwelle wohl Bild. Der feine, aber ziemlich fade Herr schenrechtspolitikerin könnte mit 631 von seinen Job verlieren. aus Hessen hat schon deshalb gute Karten, 1206 Stimmen rechnen. • Merkel beharrt auf Wolfgang Schäuble, weil er zwei Kriterien erfüllt, denen seine Die 69-jährige Journalistin habe „nicht Westerwelle nominiert Schmalz-Jacob- Parteifreundin Schmalz-Jacobsen nicht nur die richtige Gesinnung und das For- sen. Ergebnis: Die FDP-Frau wird mit genügen kann. Er ist ein Mann – was ihn mat“, preist ihr Parteifreund Burkhard den rot-grünen Stimmen zur Bundes- für Angela Merkels eigene Karrierepläne Hirsch, sondern „auch die nötige politi- präsidentin gekürt. Westerwelle könnte sympathischer werden lässt –, und er ist ein sche und internationale Erfahrung“. Als triumphieren, Schröder hätte Merkel Konservativ-Liberaler, was im Übrigen „aufgeschlossen, ausgleichend und sehr blamiert. Einziger Vorteil: Ihre Gegner Westerwelle behagt. differenziert“ lobt sie auch die frühere Jus- wären zum Schweigen verurteilt – denn Doch der Favorit der CDU-Chefin ist tizministerin Sabine Leutheusser-Schnar- die hatten auf Schäuble gesetzt. auch Gerhardt nicht. Sie müsste ihrer renberger: „Ich halte sie für eine Persön- • Merkel findet einen Kandidaten von Partei erklären, warum die Union in allen lichkeit, der ich das Amt des Bundespräsi- überparteilicher Strahlkraft und gewinnt Umfragen so blendend dasteht, aber nach denten zutraue.“ nicht nur die FDP, sondern auch Teile der Kanzlerkandidatur auch bei der zwei- Schmalz-Jacobsen steht vor allem für von SPD und Grünen für den Coup. ten zentralen Personalentscheidung nicht eine liberale Gesellschaftspolitik. Sie setz- Noch hat die CDU-Vorsitzende die Hoff- zum Zuge gekommen wäre. „Das würde te sich für die Reform des Paragrafen 218 nung auf diesen größtmöglichen Tri- eine Führungsdiskussion auslösen“, pro- und gegen den Lauschangriff ein. Als Aus- umph nicht aufgegeben, zielstrebig ar- phezeit ein CDU-Präside. Und ein Stoi- länderbeaufragte kämpfte sie jahrelang für beitet sie an dieser Lösung, die sie kurz ber-Mann aus München fügt drohend ein modernes Zuwanderungsrecht und die nach der Hamburg-Wahl der Öffentlich- hinzu: „Wir haben seit sechs Jahren kein doppelte Staatsbürgerschaft. keit präsentieren muss. einziges bundespolitisches Staatsamt mehr Selbst für Rot-Grün wäre die Freidemo- Ihre innerparteilichen Gegner verfolgen besetzt.“ kratin eine mehr als nur akzeptable Kan- die Spielzüge der Chefin mit Aufmerk- Daher forscht die Nummer eins der didatin. Der Staat Israel ehrte ihre Eltern samkeit. Jeden zweitklassigen Vorschlag CDU, getrieben von eigenem Ehrgeiz und mit je einem Baum in der Gedenkstätte Jad wollen sie ihr übel nehmen und erhöhen dem Willen der Partei, nach einem Über- Waschem, weil sie während des Zweiten genussvoll den Druck. Einer ihrer Stell- raschungskandidaten. Nach einem, so das Weltkriegs einige hundert Juden aus Gali- vertreter in der Fraktion: „Sie muss jetzt Kalkül der Vorsitzenden, der zwar das zien gerettet hatten. Die Tochter bemühte zeigen, dass sie Beute machen kann.“ CDU-Parteibuch besitzt, aber das nicht so Petra Bornhöft, offensichtlich wie die bisher im Präsiden- Weitere Informationen unter Konstantin von Hammerstein, Tina Hildebrandt, Christoph Schult tengeschacher genannten Namen. www.spiegel.de/dossiers

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Dicke Spesen Was EU-Parlamentarier an zusätzlicher finanzieller Unterstützung erhalten BÜRO Grundbetrag...... 3620 ¤/Monat Personal ...... 12305 ¤/Monat (manchmal Familienmitglieder)

WIM VAN CAPPELLEN / REPORTERS / LAIF / REPORTERS CAPPELLEN WIM VAN FAHRTKOSTEN nach Brüssel/Straßburg Europäisches Parlament in Straßburg: Die Selbstversorgung geht quer durch die Fraktionen Erstattung regulärer Flugtickets unab- hängig von den tatsächlichen Kosten ABGEORDNETE Entfernungs- z. B. 437 ¤ pauschale ...... bei 2100 Kilometer Willi, pass auf! REISEKOSTEN Höchstbetrag...... 3574 ¤/Jahr

Das Veto aus Berlin stoppte die geplante Diätenerhöhung TAGESPAUSCHALE in Sitzungswochen der EU-Parlamentarier – aber nicht deren z. B. Essen, Wohnen...... 257 ¤/Tag finanzielle Selbstbedienung zu Lasten der Steuerzahler.

er Sozialdemokrat Willi Rothley ist terrats, dem Gesetzgebungsorgan der Mit- Der deutsche EU-Botschafter Wilhelm außerhalb des Brüsseler Biotops gliedstaaten, das über das Statut mitzu- Schönfelder legte am vorigen Donnerstag Deine wenig bekannte Größe. Unter entscheiden hat. in Brüssel im Kreis der Kollegen aus den seinen Kollegen Europaabgeordneten aber Mal haperte es bei der Höhe der Diäten, anderen Mitgliedstaaten namens der Ber- gilt er als heimlicher Held, dem sie viel ver- mal bei der Immunität oder beim Zeug- liner Regierung sein Veto ein: Gegen die danken, vor allem Geld. Der rote Rothley nisverweigerungsrecht, mal bei der Frage, europäische Besteuerung der Abgeordne- hat sich um den Erhalt des Sumpfes in der ob die Diäten national oder in Brüssel zu ten, gegen die Diätenerhöhung samt Zu- europäischen Hauptstadt verdient gemacht. versteuern sind. Drei Parlamentspräsiden- wachsautomatik, gegen das Aufhäufen von Der Deutsche war offiziell mit der Auf- ten wollten sich seit 1999 mit der Reform Pensionsansprüchen aus unterschiedlichen gabe betraut, mehr als 20 Jahre nach der schmücken. Doch immer wenn es ernst öffentlichen Töpfen. Die amtierende iri- ersten Europawahl endlich einem Abge- werden sollte, standen sie „als Generäle sche Ratspräsidentschaft nahm dann das ordnetenstatut den Weg zu bahnen, das ohne Truppen“ da, erinnert sich zufrieden Ergebnis der für diesen Montag angesetz- ein einheitliches Diätenniveau und saube- der Statut-Beauftragte. ten Ministerratssitzung vorweg: Ohne die re finanzielle Verhältnisse bringen sollte. Im vergangenen Juni rangen sich die Ab- Steuerregelung, die nur einstimmig be- Seit 1998 waltete Rothley nun schon sei- geordneten dazu durch, ein Statut zu ver- schlossen werden könne, sei das Statut nes Amtes. „Grundlage meiner Nominie- abschieden. Aber die von Rothley gefertig- nicht anzunehmen. rung damals“, gestand der Anwalt vor ei- te Vorlage war gespickt mit Sonderwün- Die Regierung Schröder/Fischer war of- nigen Monaten ein, „war es, dafür zu sor- schen für die Europaparlamentarier, die fenkundig beeindruckt von der Brüssel- gen, dass es kein Statut gibt.“ Kollegen aus Einsprüche im Rat provozieren mussten. Schelte in deutschen Medien. Der Kanzler allen Fraktionen und Nationen hätten ihn Wären all die Privilegien, speziell bei Diä- befand im Kabinett, die Neuregelung sei gedrängt: „Willi, pass auf, wir haben doch ten und Pensionen, im Rat abgenickt wor- den Menschen in Deutschland „nicht ver- alle nur zu verlieren.“ den, wäre es Rothley und Konsorten natür- mittelbar“. Inzwischen meint auch Martin Willi passte auf. Jahr um Jahr wurde das lich auch recht gewesen. Und eine Zeit lang Schulz, der Vorsitzende der SPD-Gruppe Statut aufgeschoben. Nie war der ver- sah es so aus, als ginge die Vorlage trotz im Europaparlament, es sei wohl „nicht meintliche Vorkämpfer für den völlig un- einiger Bedenken des Rats geräuschlos sonderlich klug“ gewesen, der eigenen Par- abhängigen europäischen Abgeordneten durch – bis die Sache aufflog und die Deut- tei, die wenige Monate vor der Europa- zufrieden mit Angeboten des EU-Minis- schen Krach schlugen (SPIEGEL 3/2004). wahl „in größten Mobilisierungsnöten

34 der spiegel 5/2004 steckt“, nun auch noch mit höheren Diäten noch über 1000 Euro. Beim Kassieren „I am not German“, verteidigt etwa der zu kommen. brauchen die Abgeordneten keine Tickets britische konservative Europaabgeordne- Genosse Rothley hatte zuletzt durch be- vorzulegen. Es genügt laut Sprecher Har- te Sir Robert Atkins die Bestallung seiner flissenes Eingehen auf deutsche Empfind- ley eine Bordkarte. Und die kann auch Ehefrau als Assistentin im heimischen lichkeiten seine wahren Ziele zu camou- von einer Billiglinie ausgegeben worden Wahlkreis. Anders als deutschen Parla- flieren versucht. Doch bereits im vergange- sein, die für rund 80 Euro in die griechi- mentariern sei ihm als Briten auch im Eu- nen Sommer hatte der Pfälzer, der im Juni sche Hauptstadt fliegt. ropaparlament die Beschäftigung von Fa- in den Ruhestand geht, bei der Vorstellung, Äußerst lukrativ ist es aber auch, weite milienangehörigen durch heimisches Recht sein Regelwerk könne womöglich alle Hür- Strecken mit dem Pkw abzurechnen. „Ob nicht verboten. Wie viel von den 12305 den passieren, in einem Brüsseler Res- tatsächlich gereist wird oder das Wochen- Euro monatlich er an seine Lady Dulcie taurant derart losprusten müssen, dass ihn ende der Freundin in Brüssel gehört“, so überweisen lässt, mochte der 1997 in den ein schwerer Hustenanfall ereilte. Ritterstand erhobene Ehrenbürger der City Und schon damals glaubte auch of London, der zwischen 1987 und 1992 der erfahrene CSU-Europaabge- mehrere Ministerposten bekleidete, dann ordnete und Parlamentsvizepräsi- „lieber nicht mitteilen“. dent Ingo Friedrich „nicht daran, Die Selbstversorgung geht quer durch dass es diesmal klappt“. die Fraktionen. Der griechische Linke Em- So bleibt im Brüsseler Feucht- manouil Bakopoulos rechtfertigte die As- gebiet alles beim Alten. Wie bis- sistentenstelle für seinen Neffen Vasileo, her erhalten die Europaabgeord- weil er in der Heimat bei Wahlkämpfen neten ihre Diäten in Höhe der und anderen politischen Händeln jeman- Bezüge der Mitglieder ihrer je- den brauche, dem er vertrauen könne. weiligen nationalen Parlamente. Der italienische Grüne Giorgio Celli lässt Dabei sind die Einkommensun- seinen Sohn Davide vom Parlament als As-

terschiede nach Beitritt der zehn / AFP JOEL SAGET sistenten bezahlen, der belgische Christ- neuen EU-Staaten am 1. Mai gro- Abgeordneter Pasqua: Kein Unrechtsbewusstsein demokrat Gérard Deprez Tochter Anne. tesk – ganze 805 Euro bezieht ein Auch der spanische Abgeordnete Enrique ungarischer Europaparlamenta- Monsonis Domingo, immerhin Vorstands- rier im Monat, sein italienischer mitglied der Liberalen im Europäischen Sitznachbar kassiert monatlich Parlament, findet „nichts“ dabei, dass 10975 Euro. Sohn Daniel sein Gehalt aus Brüssel be- Aber darben müssen die Neuen zieht. nicht. Denn die Abgeordneten der Selbst Frankreichs früherer Innenminis- Alt-EU, in denen Delegierte aus ter Charles Pasqua will kein Unrechtsbe- Spanien (3056 Euro Grunddiäten) wusstsein haben. Dass er seine Cousine oder Portugal (4024 Euro) erheb- Nicole, die „sehr nett“ sei, auf Kosten des lich schlechter als andere ab- Europaparlaments auch weiterhin als Assis- schnitten, haben sich neben den tentin beschäftigen kann, findet der Offi- Diäten ein raffiniertes Ausgleichs- zier der Ehrenlegion „völlig in Ordnung“. system genehmigt. Der Rollgriff Als Fraktionsvorsitzender der „Union für

in die Taschen der europäischen WAGNER HORST das Europa der Nationen“ sei er ohnehin Steuerzahler wird nach Scheitern Abgeordneter Rothley: Heimlicher Held gegen ein eigenes Statut für die europäi- des Statuts weiterhin erlaubt sein. schen Abgeordneten gewesen. Da Abgeordnete mit geringeren Diäten ein Parlamentsmitarbeiter, „wird nicht Die Parlamentsoberen hatten schon vor- meistens aus von Brüssel oder Straßburg nachgeprüft.“ Eine persönliche Erklärung gesorgt, falls das Statut durchgekommen weit entfernt liegenden Ländern anreisen, des Abgeordneten genügt. Dann steht ihm wäre. In einem neuen Regelwerk zur Kos- haben sie wie alle anderen, auch die hoch die Entfernungspauschale zu und oben- tenerstattung, beschlossen am 28. Mai bezahlten Italiener, Anspruch auf eine Ent- drein ein Kilometergeld von 0,66 Euro bis 2003, sollen zwar nur noch Flugkosten ent- fernungspauschale, gestaffelt von 109 Euro zur Entfernung von 500 Kilometern und sprechend den tatsächlichen Auslagen, bei geringerer Kilometerzahl zwischen Hei- von 0,27 Euro für den Rest der Strecke. dann aber auch für die Business-Class mit mat und Brüssel, bis zu 546 Euro bei einer Das Dorado Europäisches Parlament hat Ticketnachweis abzurechnen sein. Auch Distanz über 2400 Kilometer. Die Pau- bei Pauschalen noch mehr zu bieten. 3620 die Entfernungspauschale wird darin schale wird fällig, bis zu zweimal pro Par- Euro erhalten die Volksvertreter im Monat gekürzt, zum Ausgleich aber eine pau- lamentswoche, egal mit welchem Trans- für allgemeine Büroausgaben. 257 Euro Ta- schale Zeitaufwandsvergütung bis zu portmittel gereist wird. gegeld gibt es für die Teilnahme an Aus- 128,50 Euro pro Reise neu eingeführt. Und Ausgangspunkt der Reisen muss nicht schuss- oder Plenarsitzungen im Vier-Wo- zu der so familienfreundlichen Mitarbei- der Wohnort, sondern kann, so Parla- chen-Tagungsrhythmus der Vertretung der terpauschale heißt es: „Die derzeit gelten- mentssprecher David Harley, „der Interes- europäischen Völker. Der jährliche Reise- den Bestimmungen bleiben unverändert.“ senmittelpunkt“ sein. Der liegt dann wo- kostenzuschuss von 3574 Euro fällt dagegen Sollte aber die Spitze des Europaparla- möglich in besonders weit von Brüssel ent- vergleichsweise knapp aus. ments je die Beschäftigung von Familien- fernten Gegenden, etwa ganz am Ende des Dafür aber geht es dann bei der monat- mitgliedern verbieten – entsprechende Stiefels, in Sizilien. lichen Mitarbeiterpauschale wieder in die Überlegungen gibt es immer mal wieder –, Da kann Fliegen wirklich schön sein. Vollen. Die Abgeordneten erhalten derzeit weiß der CSU-Europaparlamentarier Mar- Denn die Flugkosten in Höhe eines un- bis zu 12305 Euro für die Beschäftigung kus Ferber schon, was passieren würde: eingeschränkt gültigen Economy-Tickets von Helfern. Und diese Pauschale – oder „Dann kommt die Überkreuz-Beschäfti- werden zusätzlich erstattet, für einen erhebliche Teile davon – dürfen sie in die gung.“ Dann werde eben der eine Abge- Hin- und Rückflug Athen–Brüssel bei- eigene Familienkasse umleiten. Eine Mög- ordnete die Ehefrau des anderen einstellen, spielsweise um 1400 Euro. Die Strecke Hel- lichkeit, von der eine Reihe der Europa- wenn der andere einen Assistentenjob für sinki–Brüssel und zurück bringt immerhin abgeordneten Gebrauch macht. die Frau des einen bereithält. Dirk Koch

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aber bessern. Bis dahin umarme er alle „Mitglieder der Yimpa≈-Familie“. KRIMINALITÄT Wie Nedime A. geht es zurzeit mehr als 200000 in Deutschland lebenden Türken und ihren Familien. Sie haben ihre Er- Neuer Markt auf Türkisch sparnisse islamischen Holdings wie Yim- pa≈, Jetpa oder Kombassan anvertraut – Mehr als 200000 in Deutschland lebende und nun bekommen sie ihr Geld nicht zurück. Mindestens fünf Milliarden Euro, Muslime haben Milliarden in dubiose islamische Firmen glauben Ermittler, seien in einem interna- gesteckt. Nun ist das Geld verschwunden. tionalen Finanzgeflecht versickert. Die Un- ternehmen behaupten, sie hätten das Geld as vermeintlich beste Geschäft ihres würdig, waren Glaubensbrüder, und ein investiert. Dutzende Strafanzeigen liegen Lebens machte Nedime A. am Bekannter von ihr hatte die Geldvermeh- mittlerweile bei deutschen Staatsanwalt- DAbend des 12. Oktober 2000 in ih- rung sogar persönlich erlebt. 43000 Mark schaften auf dem Tisch. rer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung in hatten ihm Yimpa≈-Gesandte nach Hause Die türkischen Holdings hatten es vor al- Nürnberg. Damals schob die Frau zwei gebracht – fast 22 Prozent Rendite bei sei- lem auf das Kapital konservativer, finanz- Vermittlern der türkischen Unterneh- ner Anlage von 200000 Mark. mensholding Yimpa≈ einen Stoß Geld- Doch es kam, wie es kom- scheine über den Wohnzimmertisch, ge- men musste: Nie wieder ließ nau 300300 Mark. Das waren ihre gesam- sich ein Yimpa≈-Vertreter bei ten Ersparnisse, zusätzlich hatte sie sich Nedime A. blicken, und als noch 50000 Mark bei einer Bank geliehen. sie ihre Beteiligung wenige Für die stolze Summe wurde die Mutter Monate nach dem Treffen von drei Kindern nun Anteilseignerin des kündigen wollte, erhielt sie Unternehmens. nur einen Formbrief aus der Als die beiden Männer mit dem Bargeld Türkei: Darin schrieb Yim- in einer Tasche davonfuhren, beschlich die pa≈-Gründer Dursun Uyar, 39-Jährige zwar ein mulmiges Gefühl, doch die Wirtschaft befinde sich was sollte schon schief gehen, dachte sie leider in einer Situation, in HÜRRIYET sich: 20 Prozent Rendite seien ohne weite- der alle „stark und geduldig“ LANGER THOMAS res drin, hatten ihr die Landsleute schließ- sein müssten. Sofern Allah Yimpa≈-Gründer Uyar, Opfer Nedime A. mit Anteilsschein lich versichert. Sie schienen vertrauens- es wolle, werde sich die Lage Bargeld auf dem Wohnzimmertisch

kräftiger Muslime in westeuropäischen Staaten abgesehen. Der Koran verbietet Gläubigen, Zinsen einzunehmen – weshalb sie ihr Erspartes nicht einfach bei Banken anlegen können. Allerdings dürfen Musli- me sich an Unternehmen beteiligen und dann von den Gewinnen profitieren. Die- se Möglichkeit boten die türkischen Fir- men ihren im Ausland lebenden Lands- leuten. Häufig trafen die Geldeinsammler aus der Türkei ihre Kunden in den Räumen der Islamischen Gemeinschaft Milli Görü≈ oder sprachen sie in Moscheen an. Hin und wieder war in den heiligen Räumen sogar Zahltag. Im niedersächsischen Peine etwa er- schienen nach dem Freitagsgebet in einer Moschee schon mal zwei Herren mit Geld- koffern. In aller Öffentlichkeit steckten sie den ersten Anlegern bündelweise Bares zu, erinnert sich der türkische Rentner Etem K. Daraufhin konnten sich die Geldsamm- ler vor Neukunden kaum retten. Auch Rentner K. fiel im Sommer 2000 auf den Trick herein: Er selbst legte 50000 Mark bei Yimpa≈ an, die er sich zuvor bei einer Bank geliehen hatte; sein Sohn war mit 40000 Mark dabei, sein Schwiegersohn mit 80 000 Mark. Schließlich waren die Yimpa≈-Erfolgsmeldungen spektakulär, die Zukunftsprognosen rosig – Neuer Markt auf Türkisch.

HORST WELKE / ACTION PRESS / ACTION WELKE HORST Doch von ihrem Investment sollte die Eröffnung des Yimpa≈-Kaufhauses in Ludwigshafen (2000): Spektakuläre Prognosen Familie nie wieder etwas sehen. Dabei hat-

36 der spiegel 5/2004 pa mit Sitz in Istanbul. Sie köderte Anle- ger mit dem Versprechen, das erste türki- sche Auto bauen zu wollen, Projektname „Imza“. Geschäftsführer Fadil Akgündüz verhandelte im Jahr 2001 zwar tatsächlich mit der pfälzischen Gemeinde Eisenberg über ein Grundstück für eine Fabrik. Doch das Geschäft kam nicht zu Stande. Zu dem Zeitpunkt hatte der türkische Staat bereits das Jetpa-Vermögen wegen mutmaßlicher Geldwäsche beschlagnahmt. Vielen der rund 15000 Anleger in Deutschland hilft das wenig. Sie erhielten Anteilsscheine ei- nes Liechtensteiner Tochterunternehmens, was ihnen häufig nicht aufgefallen war. Von dort wurden Millionen weiter in die Türkei geschleust – bis die Liechtensteiner Filiale zahlungsunfähig wurde. Die Zentralstelle für Wirtschaftskrimi-

THEO HEIMANN / DDP THEO HEIMANN nalität im türkischen Finanzministerium Freitagsgebet in einer deutschen Moschee: Zahltag in heiligen Räumen (Masak) hat zahlreiche Hinweise auf Be- trug bei Jetpa gefunden. So seien in Pro- te die Yimpa≈-Holding in Deutschland in Wirklichkeit Gelder von Neukunden ge- spekten Firmenbeteiligungen genannt wor- tatsächlich zehn Kaufhäuser der Metro- wesen, meint Stieger, viel Hoffnung macht den, die nicht existierten, andere seien Kaufhof-Horten-Gruppe übernommen und der Jurist seinen Mandanten nicht: „Den wertlos, heißt es in einem 1000-seitigen Be- daraus streng islamisch wirtschaftende Ge- Anteilsschein kann man sich aufs Klo hän- richt. Der Verdacht türkischer Ermittler: schäfte gemacht: Die Verkäuferinnen tru- gen.“ Der Züricher Professor für Wirt- Unternehmenschef Akgündüz soll Firmen gen Kopftücher, in den Kaufhäusern gab es schaftsrecht Daniel Fischer ist optimisti- privat billig gekauft und sie dann zu weit sogar spezielle Gebetsräume. 50 solcher scher. Gemeinsam mit dem Wittener An- überhöhten Preisen an seine Jetpa verkauft Läden sollten es insgesamt werden, er- walt Ümit Akca bereitet er derzeit eine haben. Um mindestens 58 Millionen Euro zählten die Geldsammler den Anlegern, Sammelklage gegen Yimpa≈ in der Türkei habe er sich bereichert. Der Unternehmer und dafür brauche man Kapital. vor. Ex-Manager Asiltürk hat im Dezember sitzt derzeit in der Türkei in Untersu- Schon bald hatte der Konzern nach ei- einen Geschädigtenverein gegründet und chungshaft und bestreitet alle Vorwürfe. genen Angaben 120 000 Anleger in der will politisch Druck machen: „Die deut- Die Esslinger Anwältin Fatma Imer- Bundesrepublik. 100 Millionen Mark habe schen Behörden unternehmen zu wenig, Civelek, die zahlreiche Jetpa-Geschädigte die Holding im Jahr 2000 allein im Raum wohl weil die Opfer Türken sind.“ vertritt, hofft, die Gelder wenigstens teil- Ludwigshafen eingesammelt, erinnert sich Seit Jahren schon befasst sich jedenfalls weise zurückholen zu können, denn der Faruk Asiltürk, ehemaliger Geschäftsführer die Staatsanwaltschaft Darmstadt mit dem Wert des beschlagnahmten Vermögens soll eines Yimpa≈-Tochterunternehmens. Fall. Rund 50 Strafanzeigen gegen Yimpa≈ rund 250 Millionen Euro betragen. Doch Im Sommer 2002 aber begann die schö- ne Fassade zu bröckeln. Die Yimpa≈-Toch- ter Ymta, die für die Kaufhäuser in Deutschland zuständig war, ging Pleite, und der Mannheimer Insolvenzverwalter Karl-Heinrich Lorenz fand sich unverse- hens in einer anderen Welt wieder: Meh- rere Tage benötigte er beispielsweise, um herauszufinden, wer als Betriebsleiter des Yimpa≈-Kaufhauses in Ludwigshafen fun- gierte. Schließlich spürte er ihn auf: Es war der Imam, der örtliche islamische Geistli- che. Der Gottesmann allerdings weigerte sich, mit einem Ungläubigen auch nur zu reden.

Alsbald fand Lorenz heraus, dass die PRESS (R.) AXEL KIRCHHOF / ACTION Kaufhäuser von Anfang an unwirtschaft- Jetpa-Chef Akgündüz, Air-Alfa-Jet: Um 58 Millionen Euro bereichert? lich gearbeitet hatten, dass aber über die Verwaltungsgesellschaft derweil insgesamt liegen vor, doch ein Ende der Ermittlungen weil es in der Türkei keine Prozesskos- 293 Millionen Euro Anlegergelder in die sei „nicht abzusehen“, sagt Sprecher Ger tenhilfe gebe und Kläger in Zivilverfah- Türkei abgeflossen waren. Sein Fazit: Neuber. ren hohe Summen hinterlegen müssten, „Die Geschäfte dienten dazu, Anleger zu Yimpa≈-Chef Uyar räumt ein, dass sein könne sich kaum ein Anleger dort eine werben.“ Unternehmen in wirtschaftlichen Schwie- Klage leisten. Der Bregenzer Anwalt Nicolas Stieger rigkeiten stecke, alle Betrugsvorwürfe aber Auf Unterstützung deutscher Behörden glaubt, dass Yimpa≈ nach dem Schneeball- weist er als „Verleumdungskampagne“ kann die Juristin bei ihrem Kampf um das system arbeitete. Rund 70 Mandanten aus zurück. Ein Sprecher in der türkischen Un- Geld kaum bauen. So ermittelt zwar die Deutschland und Österreich vertritt der Ju- ternehmenszentrale kündigte gar an: „Bald Staatsanwaltschaft Frankfurt gegen Ver- rist gegen das Unternehmen, und fast täg- gibt es wieder Renditezahlungen.“ antwortliche von Jetpa wegen Betrugs – lich werden es mehr. Die angeblichen Ren- Wie trickreich türkische Geldsammler bislang freilich ohne nutzbare Ergebnisse. ditezahlungen an die ersten Anleger seien vorgehen, zeigt das Beispiel der Firma Jet- Noch nicht einmal der türkische Masak-

der spiegel 5/2004 37 Bericht liegt den Fahndern vor, die Behör- de scheute bislang die Übersetzungskosten. Ähnlich flau ermitteln andere Staatsan- waltschaften – obwohl es sogar Hinweise dafür gibt, dass einige der türkischen Hol- dings radikale Islamisten unterstützt ha- ben könnten. Nach dem 11. September nahmen Fahnder des Bundeskriminalamts (BKA) die Finanzen des Vereins Milli Görü≈ unter die Lupe, den der Verfas- sungsschutz für extremistisch hält. Dabei stießen sie auch immer wieder auf dubio- se Überweisungen etwa von Jetpa. Rund hundert Verfahren wegen Geldwäsche wurden bei unterschiedlichen Staatsan- waltschaften eingeleitet. Zu einer Anklage kam es allerdings nirgendwo. Der Generalsekretär von Milli Görü≈,

Oguz Üçüncü, räumt zwar ein, dass Hol- / GETTY IMAGES FRANKLIN STUART dings bei Großveranstaltungen des Vereins Angeklagter Mzoudi: Belastet von einem Schwadroneur als Sponsoren aufgetreten seien. Weiter gehende Verbindungen „hat es aber nicht Von Hemberger darüber informiert, ver- JUSTIZ gegeben“, beteuert er. schoben die Richter ihr Urteil – dass sie in Erfolglos spürten deutsche Fahnder bis- ihrer Mitteilung über den neuen Zeugen lang auch den Geschäften der Holding Kom- Geheimes „neu“ in Gänsefüßchen setzten, mag ei- bassan nach. Über 65000 Türken, davon die ner Ahnung geschuldet sein, die sich nun meisten aus der Bundesrepublik, sollen in zur Gewissheit verdichtet. Denn es sieht al- den vergangenen Jahren nach Schätzungen von Toni les danach aus, als wäre das Manöver der von Ermittlern rund 1,5 Milliarden Euro in Bundesanwaltschaft eher eine letzte Gro- das Unternehmen gesteckt haben, das sich Ein iranischer Ex-Agent soll in teske in dem Prozess, der seit August läuft. unter anderem an Papier- und Lebensmit- letzter Minute die Wende im Aus Sicht der Ankläger galt das Verfah- telfabriken beteiligt. Zu Kombassan gehört ren als so gut wie gescheitert: Das Gericht auch die türkische Fluglinie Alfa, die Zah- Hamburger Terror-Prozess bringen hatte Mzoudi schon im Dezember freige- lungsschwierigkeiten hatte und den Flug- – doch der Mann gilt Insidern als lassen, weil der von den USA inhaftierte betrieb nach Deutschland einstellte. notorischer Geschichtenerzähler. Terrordrahtzieher Ramzi Binalshibh seinen BKA-Ermittler befassten sich vor zwei alten Kumpel entlastet haben soll; die Rich- Jahren mit Kombassan, weil Mitarbeiter eeleute nennen so etwas das ter waren vor allem darüber düpiert, dass der Air Alfa der islamistischen Terror- „Manöver des letzten Augenblicks“: ihnen, auf Wunsch der US-Regierung, ge- gruppe IBDA-C angehört haben sollen. Die SGanz kurz bevor es kracht, darf man nau diese Aussage vorenthalten wurde. Wiesbadener Kriminalisten vermuteten, auch Ungewöhnliches wagen, um eine Ka- Kaum denkbar, dass der neue Zeuge das Kombassan finanziere Terroristen, die Bun- tastrophe zu verhindern. Bundesanwalt Blatt wenden kann, denn neu scheint an desanwaltschaft – zuständig für den Be- Walter Hemberger leitete sein Manöver ihm in Wahrheit nur der Deckname „Toni“ reich Terrorismus – mochte jedoch kein des letzten Augenblicks am Mittwoch ver- – bislang nannte er sich meist „Hamid Reza Ermittlungsverfahren einleiten. gangener Woche ein. Zakeri“. Sicherheitsbehörden in Deutsch- Kombassan-Anwalt Oryal Ertan bestrei- Gleich mehrfach telefonierte er aus land, Kanada und den USA kennen den tet Terrorverbindungen und betont, dass Karlsruhe mit dem Hanseatischen Ober- Iraner schon lange. Der von den Bundes- alles mit rechten Dingen zugehe. Das Geld landesgericht in Hamburg. Am nächsten anwälten nun angekündigte Glaubwürdig- der Anleger sei investiert worden, es kön- Tag sollte dort das Urteil gegen Abdelgha- keits-Check wird vermutlich nur kurz dau- ne daher nicht kurzfristig zurückgezahlt ni Mzoudi fallen, jenen Hamburger Stu- ern – und als Zeuge gegen Mzoudi könnte werden. Dies sei rechtlich aber auch gar denten, der als Helfer der 11.-September- Toni anschließend erledigt sein: Der Mann nicht erlaubt: „Welches Unternehmen kauft Terroristen angeklagt ist. Ein Freispruch schon seine eigenen Aktien zurück?“ und somit eine verheerende Niederlage Wenn Anleger aussteigen wollten, müssten der Ankläger galt schon als wahrschein- sie ihre Anteilsscheine an andere Interes- lich. Aber nun bat Hemberger, für alle senten verkaufen. überraschend, um Aufschub. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Denn am Montag vergangener Woche Köln die Ermittlungen gegen sieben Kom- hatten zwei Beamte des Bundeskriminal- bassan-Funktionäre übernommen. Der amts (BKA) einen Mann vernommen, der Vorwurf: Betrug und Untreue. Doch die sich als ehemaliger iranischer Top-Agent Behörde fühlt sich eigentlich nicht zustän- vorstellte. „Sie können mich mit ,Toni‘ an- dig. Kombassan hat ihre Deutschland- sprechen“, begann er und belastete Mzou- Niederlassung in Köln geschlossen, die Ver- di dann schwer: Der habe als „Logistiker“ antwortlichen sind in der Türkei. Über ein der 11.-September-Crew angehört. Al-Qai- Tochterunternehmen in Luxemburg wur- da wolle den Angeklagten wegen seines In- den auch die Anlegergelder dorthin ge- siderwissens nun „eliminieren“. Und: Der schafft. „Wir überlegen derzeit, ob wir das iranische Geheimdienst habe von den ge-

Verfahren an die Türkei abgeben können“, planten Terroranschlägen auf New York PRESS ACTION sagt die Kölner Oberstaatsanwältin Regine und Washington lange vor dem 11. Sep- Ankläger Hemberger Appenrodt. Michael Fröhlingsdorf tember gewusst. Manöver des letzten Augenblicks

38 der spiegel 5/2004 Bericht liegt den Fahndern vor, die Behör- de scheute bislang die Übersetzungskosten. Ähnlich flau ermitteln andere Staatsan- waltschaften – obwohl es sogar Hinweise dafür gibt, dass einige der türkischen Hol- dings radikale Islamisten unterstützt ha- ben könnten. Nach dem 11. September nahmen Fahnder des Bundeskriminalamts (BKA) die Finanzen des Vereins Milli Görü≈ unter die Lupe, den der Verfas- sungsschutz für extremistisch hält. Dabei stießen sie auch immer wieder auf dubio- se Überweisungen etwa von Jetpa. Rund hundert Verfahren wegen Geldwäsche wurden bei unterschiedlichen Staatsan- waltschaften eingeleitet. Zu einer Anklage kam es allerdings nirgendwo. Der Generalsekretär von Milli Görü≈,

Oguz Üçüncü, räumt zwar ein, dass Hol- / GETTY IMAGES FRANKLIN STUART dings bei Großveranstaltungen des Vereins Angeklagter Mzoudi: Belastet von einem Schwadroneur als Sponsoren aufgetreten seien. Weiter gehende Verbindungen „hat es aber nicht Von Hemberger darüber informiert, ver- JUSTIZ gegeben“, beteuert er. schoben die Richter ihr Urteil – dass sie in Erfolglos spürten deutsche Fahnder bis- ihrer Mitteilung über den neuen Zeugen lang auch den Geschäften der Holding Kom- Geheimes „neu“ in Gänsefüßchen setzten, mag ei- bassan nach. Über 65000 Türken, davon die ner Ahnung geschuldet sein, die sich nun meisten aus der Bundesrepublik, sollen in zur Gewissheit verdichtet. Denn es sieht al- den vergangenen Jahren nach Schätzungen von Toni les danach aus, als wäre das Manöver der von Ermittlern rund 1,5 Milliarden Euro in Bundesanwaltschaft eher eine letzte Gro- das Unternehmen gesteckt haben, das sich Ein iranischer Ex-Agent soll in teske in dem Prozess, der seit August läuft. unter anderem an Papier- und Lebensmit- letzter Minute die Wende im Aus Sicht der Ankläger galt das Verfah- telfabriken beteiligt. Zu Kombassan gehört ren als so gut wie gescheitert: Das Gericht auch die türkische Fluglinie Alfa, die Zah- Hamburger Terror-Prozess bringen hatte Mzoudi schon im Dezember freige- lungsschwierigkeiten hatte und den Flug- – doch der Mann gilt Insidern als lassen, weil der von den USA inhaftierte betrieb nach Deutschland einstellte. notorischer Geschichtenerzähler. Terrordrahtzieher Ramzi Binalshibh seinen BKA-Ermittler befassten sich vor zwei alten Kumpel entlastet haben soll; die Rich- Jahren mit Kombassan, weil Mitarbeiter eeleute nennen so etwas das ter waren vor allem darüber düpiert, dass der Air Alfa der islamistischen Terror- „Manöver des letzten Augenblicks“: ihnen, auf Wunsch der US-Regierung, ge- gruppe IBDA-C angehört haben sollen. Die SGanz kurz bevor es kracht, darf man nau diese Aussage vorenthalten wurde. Wiesbadener Kriminalisten vermuteten, auch Ungewöhnliches wagen, um eine Ka- Kaum denkbar, dass der neue Zeuge das Kombassan finanziere Terroristen, die Bun- tastrophe zu verhindern. Bundesanwalt Blatt wenden kann, denn neu scheint an desanwaltschaft – zuständig für den Be- Walter Hemberger leitete sein Manöver ihm in Wahrheit nur der Deckname „Toni“ reich Terrorismus – mochte jedoch kein des letzten Augenblicks am Mittwoch ver- – bislang nannte er sich meist „Hamid Reza Ermittlungsverfahren einleiten. gangener Woche ein. Zakeri“. Sicherheitsbehörden in Deutsch- Kombassan-Anwalt Oryal Ertan bestrei- Gleich mehrfach telefonierte er aus land, Kanada und den USA kennen den tet Terrorverbindungen und betont, dass Karlsruhe mit dem Hanseatischen Ober- Iraner schon lange. Der von den Bundes- alles mit rechten Dingen zugehe. Das Geld landesgericht in Hamburg. Am nächsten anwälten nun angekündigte Glaubwürdig- der Anleger sei investiert worden, es kön- Tag sollte dort das Urteil gegen Abdelgha- keits-Check wird vermutlich nur kurz dau- ne daher nicht kurzfristig zurückgezahlt ni Mzoudi fallen, jenen Hamburger Stu- ern – und als Zeuge gegen Mzoudi könnte werden. Dies sei rechtlich aber auch gar denten, der als Helfer der 11.-September- Toni anschließend erledigt sein: Der Mann nicht erlaubt: „Welches Unternehmen kauft Terroristen angeklagt ist. Ein Freispruch schon seine eigenen Aktien zurück?“ und somit eine verheerende Niederlage Wenn Anleger aussteigen wollten, müssten der Ankläger galt schon als wahrschein- sie ihre Anteilsscheine an andere Interes- lich. Aber nun bat Hemberger, für alle senten verkaufen. überraschend, um Aufschub. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Denn am Montag vergangener Woche Köln die Ermittlungen gegen sieben Kom- hatten zwei Beamte des Bundeskriminal- bassan-Funktionäre übernommen. Der amts (BKA) einen Mann vernommen, der Vorwurf: Betrug und Untreue. Doch die sich als ehemaliger iranischer Top-Agent Behörde fühlt sich eigentlich nicht zustän- vorstellte. „Sie können mich mit ,Toni‘ an- dig. Kombassan hat ihre Deutschland- sprechen“, begann er und belastete Mzou- Niederlassung in Köln geschlossen, die Ver- di dann schwer: Der habe als „Logistiker“ antwortlichen sind in der Türkei. Über ein der 11.-September-Crew angehört. Al-Qai- Tochterunternehmen in Luxemburg wur- da wolle den Angeklagten wegen seines In- den auch die Anlegergelder dorthin ge- siderwissens nun „eliminieren“. Und: Der schafft. „Wir überlegen derzeit, ob wir das iranische Geheimdienst habe von den ge-

Verfahren an die Türkei abgeben können“, planten Terroranschlägen auf New York PRESS ACTION sagt die Kölner Oberstaatsanwältin Regine und Washington lange vor dem 11. Sep- Ankläger Hemberger Appenrodt. Michael Fröhlingsdorf tember gewusst. Manöver des letzten Augenblicks

38 der spiegel 5/2004 Deutschland ist unter Insidern als Schwadroneur verru- Der Prozess hat laut Gericht ein regel- fen. Er sei ein „Schwätzer“, lästert ein Ge- BEAMTE rechtes Komplott offen gelegt, das Ge- heimdienstler, „für jeden Fachmann eine stütsbesitzer R. aufgebaut hatte und in dem Geißel Gottes“. Ufos überm Ahrendsen besonders wichtig war. Dane- Zu erzählen hatte der Iraner schon im- ben freilich gab es noch eine ganze Schar mer viel. Als Motiv für seine Redseligkeit anderer Helfer, die meisten sind inzwi- nennt Toni den Wunsch, „auf diesem Braunen Hirsch schen rechtskräftig verurteilt. Wege meinem Land zu dienen“. Nicht Jeder spielte seine Rolle: Ein Tierarzt minder bewegt ihn das eigene Wohlerge- Nach jahrelangem Prozess etwa bescheinigte den angeblich ge- hen, weswegen er dem BKA weitere De- schockten Edel-Pferden „Ataxie nach Un- tails avisierte, zugleich aber andeutete, hat ein Kieler Gericht den stell- fall“ oder „Zuchtuntauglichkeit“. Ein Gut- sein Auskommen müsse gesichert sein. vertretenden Sprecher Uwe achter für die Landesregierung verließ sich Was das kostet, lässt Tonis Aussage erah- Barschels verurteilt: wegen einer auf den Tierarzt und die tolle Geschichte nen: Die CIA schulde ihm 1,2 Millionen grotesken Rosstäuscherei. des Züchters, nach der Militärpiloten beim Dollar für eine achtjährige Doppelagen- Üben „lebende Ziele brauchen und Kühe tentätigkeit, klagte er. nfang der neunziger Jahre muss am zu lahm“ seien. Daraufhin profitierte auch Der Handelsreisende in Sachen Geheim- Himmel über Schleswig-Holstein er, wenngleich nur in Naturalien: Ein Pa- Infos will die Amerikaner vor zweieinhalb Ader Teufel los gewesen sein. Immer rade-Hengst des Züchters deckte kostenlos Jahren bei einem Besuch in der aserbai- wieder tauchten unbekannte militärische Stuten des Gutachters, normalerweise hät- dschanischen US-Botschaft an die Außen- Flugobjekte über den Pferdeweiden des te der Mann dafür zahlen müssen. stände erinnert haben. Und vor allem habe Gestüts „Brauner Hirsch“ bei Bad Sege- Besonders eifrig aber half Ahrendsen: er bei der Gelegenheit gewarnt, „dass um berg auf. Dort machten die Hubschrauber Nach bekanntem Muster wollte der Züch- den 10. September 2001 etwas passieren und Jets angeblich gezielt Jagd auf die ter etwa Geld für Verletzungen des Hengs- würde“. Er habe sich damals schon auf der außerordentlich wertvollen Zossen, die tes „Gaitano“ einstreichen. Doch der von „Abschussliste“ seiner iranischen Kollegen sich daraufhin gar schrecklich verletzt einem Gutachter attestierte Wert von gesehen und sei geflohen, noch immer aber haben sollen: 1991 scheuchten die Ufos 64000 Mark war dem Züchter zu niedrig. habe er einen Draht nach Teheran: „Mei- die Stute „Larissa“, dann Ahrendsen beauftragte dar- ne Quelle ist im Bereich des Nachrichten- „Piroschka“ und „Pia Ma- aufhin einen neuen Gut- dienstes ganz oben angesiedelt.“ ria“, später den Hengst achter: den Anwalt des Ge- Tonis Angaben zu seiner Agentenkar- „Pablo III“ und dann im- stütsbesitzers. Der kam zu riere immerhin sind offenbar wahr: Jahre- mer mehr und immer teu- dem Schluss, das Pferd sei lang diente er dem berüchtigten iranischen rere Pferde. 180 000 Mark wert. Das Geheimdienst Vevak, zeitweise arbeitete Mit diesen Geschichten Land zahlte immerhin er als Agent in Kanada. Einen Dienstaus- ging Gestütsbesitzer Horst 150000 Mark. Und das für weis mit der Kennung „Spezialkraft N-941- R. stets aufgebracht zur ein Pferd, das nach Ermitt- H“ legte er den Deutschen vor. Ein Bun- Oberfinanzdirektion Kiel, lungsergebnissen wohl vor- desanwalt beharrt darauf, in einem ande- die für die Regulierung von her schon krank war. ren Verfahren hätten sich seine Aussagen Manöverschäden zuständig Die Abzockerei endete als wahr erwiesen, und niemand kann aus- war – und das Amt zahlte erst, als der Züchter nach schließen, dass einer mit seiner Laufbahn bereitwillig. Insgesamt soll Mecklenburg-Vorpommern

künftig wertvolle Informationen liefert. es mehr als eine Million PROEPPER / AP HERIBERT umzog, angeblich, weil er Nach seiner Flucht aus Iran diente er sich Mark gewesen sein. Verurteilter Ahrendsen das Leiden seiner Pferde aber diversen westlichen Geheimdienstlern Jetzt, mehr als zehn Jah- Besonders eifrig nicht mehr mitansehen auch mit Geschichten an, die sie als aben- re später, ist der Spuk wohl mochte. teuerlich abtaten. Dem Bundesnachrich- auch offiziell vorbei. Und mit ihm die Lauf- Im Prozess dann schoss er quer, so gut er tendienst (BND) hatte Toni schon im Jahr bahn eines prominenten Beamten, der konnte. Die Justiz musste den Diabetiker 2002 allerhand Geheimes erzählt. Wochen- schon als stellvertretender Regierungs- zeitweise sogar in Haft nehmen und ärztlich lang befragten ihn die Experten, bis sie ur- sprecher des einstigen CDU-Ministerpräsi- betreuen lassen – das Gericht verdächtigte teilten, der Iraner unterscheide Dichtung denten Uwe Barschel ins Zwielicht geraten ihn, er wolle seine Krankheit nicht behan- offenbar nicht von Wahrheit. Keinen Beleg war: Am vergangenen Freitag verurteilte deln, um prozessunfähig zu werden. Dem gebe es etwa für seine Version, Iran sei in das Landgericht Kiel Herwig Ahrendsen, Züchter hat dieses ganze Finassieren nur den 11. September verstrickt. Ihre CIA-Kol- 55, zu zwei Jahren Gefängnis auf Be- Unglück gebracht: Er wurde in erster In- legen sollen inzwischen auf Durchzug schal- währung wegen Untreue und Betrugs. Und stanz verurteilt, weil er auch noch versucht ten, wenn Toni sich meldet. es kann noch schlimmer kommen, weil die hatte, den Käufer seines alten Gestüts zu Vergangene Woche landete er schließlich Staatsanwaltschaft womöglich in Revision betrügen. Und er ist jetzt völlig verschuldet. bei zwei BKA-Beamten. Ihnen erzählte er gehen will. Denn der einstige Spitzenbe- Ahrendsen aber hat immerhin sieben beispielsweise, die Gruppe um den Ter- amte hatte sich in eine Rosstäuscherei ver- Jahre lang gut gelebt: Denn schon 1997 rorpiloten Mohammed Atta sei in den wickeln lassen, die zwar grotesk war – aber wurde er auf Grund der Pferde-Affäre vom neunziger Jahren schon mit eindeutigen sehr teuer für den Steuerzahler. Dienst suspendiert. Es folgten aufwendige Absichten nach Deutschland gekommen – Nach Barschels Tod war Ahrendsen als Ermittlungen und fast vier Jahre Prozess. Ermittler haben hingegen viele Belege Regierungsdirektor in der Oberfinanz- So lange durfte er spazieren gehen – bei dafür, dass sich die meisten aus der Grup- direktion gelandet, Sachgebiet Verteidi- vollen Bezügen. Zuletzt waren das 5200 pe erst in Hamburg radikalisierten. gungslasten. Dort genehmigte er alsbald Euro monatlich, plus Weihnachtsgeld. Da- Vermutlich war den BKA-Experten reibungslos Entschädigungszahlungen an mit ist nun Schluss. selbst nicht ganz geheuer, was der Mann den Gestütsbesitzer. So reibungslos, dass Ruhe ist auch über dem „Braunen angeblich alles wusste. Über seine Glaub- der ihm schon mal einen Mercedes im Wert Hirsch“ eingekehrt: Die neuen Besitzer würdigkeit urteilte einer der Ermittler nur, von 60000 Mark vor die Tür stellte. Ah- des Gestüts haben nie irgendwelche Ufo- er trete „optisch souverän“ auf. Immer- rendsen will das Auto für Beratungen be- Attacken auf ihre Pferde gemeldet. hin. Dominik Cziesche kommen haben. Cordula Meyer

der spiegel 5/2004 39 Deutschland ist unter Insidern als Schwadroneur verru- Der Prozess hat laut Gericht ein regel- fen. Er sei ein „Schwätzer“, lästert ein Ge- BEAMTE rechtes Komplott offen gelegt, das Ge- heimdienstler, „für jeden Fachmann eine stütsbesitzer R. aufgebaut hatte und in dem Geißel Gottes“. Ufos überm Ahrendsen besonders wichtig war. Dane- Zu erzählen hatte der Iraner schon im- ben freilich gab es noch eine ganze Schar mer viel. Als Motiv für seine Redseligkeit anderer Helfer, die meisten sind inzwi- nennt Toni den Wunsch, „auf diesem Braunen Hirsch schen rechtskräftig verurteilt. Wege meinem Land zu dienen“. Nicht Jeder spielte seine Rolle: Ein Tierarzt minder bewegt ihn das eigene Wohlerge- Nach jahrelangem Prozess etwa bescheinigte den angeblich ge- hen, weswegen er dem BKA weitere De- schockten Edel-Pferden „Ataxie nach Un- tails avisierte, zugleich aber andeutete, hat ein Kieler Gericht den stell- fall“ oder „Zuchtuntauglichkeit“. Ein Gut- sein Auskommen müsse gesichert sein. vertretenden Sprecher Uwe achter für die Landesregierung verließ sich Was das kostet, lässt Tonis Aussage erah- Barschels verurteilt: wegen einer auf den Tierarzt und die tolle Geschichte nen: Die CIA schulde ihm 1,2 Millionen grotesken Rosstäuscherei. des Züchters, nach der Militärpiloten beim Dollar für eine achtjährige Doppelagen- Üben „lebende Ziele brauchen und Kühe tentätigkeit, klagte er. nfang der neunziger Jahre muss am zu lahm“ seien. Daraufhin profitierte auch Der Handelsreisende in Sachen Geheim- Himmel über Schleswig-Holstein er, wenngleich nur in Naturalien: Ein Pa- Infos will die Amerikaner vor zweieinhalb Ader Teufel los gewesen sein. Immer rade-Hengst des Züchters deckte kostenlos Jahren bei einem Besuch in der aserbai- wieder tauchten unbekannte militärische Stuten des Gutachters, normalerweise hät- dschanischen US-Botschaft an die Außen- Flugobjekte über den Pferdeweiden des te der Mann dafür zahlen müssen. stände erinnert haben. Und vor allem habe Gestüts „Brauner Hirsch“ bei Bad Sege- Besonders eifrig aber half Ahrendsen: er bei der Gelegenheit gewarnt, „dass um berg auf. Dort machten die Hubschrauber Nach bekanntem Muster wollte der Züch- den 10. September 2001 etwas passieren und Jets angeblich gezielt Jagd auf die ter etwa Geld für Verletzungen des Hengs- würde“. Er habe sich damals schon auf der außerordentlich wertvollen Zossen, die tes „Gaitano“ einstreichen. Doch der von „Abschussliste“ seiner iranischen Kollegen sich daraufhin gar schrecklich verletzt einem Gutachter attestierte Wert von gesehen und sei geflohen, noch immer aber haben sollen: 1991 scheuchten die Ufos 64000 Mark war dem Züchter zu niedrig. habe er einen Draht nach Teheran: „Mei- die Stute „Larissa“, dann Ahrendsen beauftragte dar- ne Quelle ist im Bereich des Nachrichten- „Piroschka“ und „Pia Ma- aufhin einen neuen Gut- dienstes ganz oben angesiedelt.“ ria“, später den Hengst achter: den Anwalt des Ge- Tonis Angaben zu seiner Agentenkar- „Pablo III“ und dann im- stütsbesitzers. Der kam zu riere immerhin sind offenbar wahr: Jahre- mer mehr und immer teu- dem Schluss, das Pferd sei lang diente er dem berüchtigten iranischen rere Pferde. 180 000 Mark wert. Das Geheimdienst Vevak, zeitweise arbeitete Mit diesen Geschichten Land zahlte immerhin er als Agent in Kanada. Einen Dienstaus- ging Gestütsbesitzer Horst 150000 Mark. Und das für weis mit der Kennung „Spezialkraft N-941- R. stets aufgebracht zur ein Pferd, das nach Ermitt- H“ legte er den Deutschen vor. Ein Bun- Oberfinanzdirektion Kiel, lungsergebnissen wohl vor- desanwalt beharrt darauf, in einem ande- die für die Regulierung von her schon krank war. ren Verfahren hätten sich seine Aussagen Manöverschäden zuständig Die Abzockerei endete als wahr erwiesen, und niemand kann aus- war – und das Amt zahlte erst, als der Züchter nach schließen, dass einer mit seiner Laufbahn bereitwillig. Insgesamt soll Mecklenburg-Vorpommern

künftig wertvolle Informationen liefert. es mehr als eine Million PROEPPER / AP HERIBERT umzog, angeblich, weil er Nach seiner Flucht aus Iran diente er sich Mark gewesen sein. Verurteilter Ahrendsen das Leiden seiner Pferde aber diversen westlichen Geheimdienstlern Jetzt, mehr als zehn Jah- Besonders eifrig nicht mehr mitansehen auch mit Geschichten an, die sie als aben- re später, ist der Spuk wohl mochte. teuerlich abtaten. Dem Bundesnachrich- auch offiziell vorbei. Und mit ihm die Lauf- Im Prozess dann schoss er quer, so gut er tendienst (BND) hatte Toni schon im Jahr bahn eines prominenten Beamten, der konnte. Die Justiz musste den Diabetiker 2002 allerhand Geheimes erzählt. Wochen- schon als stellvertretender Regierungs- zeitweise sogar in Haft nehmen und ärztlich lang befragten ihn die Experten, bis sie ur- sprecher des einstigen CDU-Ministerpräsi- betreuen lassen – das Gericht verdächtigte teilten, der Iraner unterscheide Dichtung denten Uwe Barschel ins Zwielicht geraten ihn, er wolle seine Krankheit nicht behan- offenbar nicht von Wahrheit. Keinen Beleg war: Am vergangenen Freitag verurteilte deln, um prozessunfähig zu werden. Dem gebe es etwa für seine Version, Iran sei in das Landgericht Kiel Herwig Ahrendsen, Züchter hat dieses ganze Finassieren nur den 11. September verstrickt. Ihre CIA-Kol- 55, zu zwei Jahren Gefängnis auf Be- Unglück gebracht: Er wurde in erster In- legen sollen inzwischen auf Durchzug schal- währung wegen Untreue und Betrugs. Und stanz verurteilt, weil er auch noch versucht ten, wenn Toni sich meldet. es kann noch schlimmer kommen, weil die hatte, den Käufer seines alten Gestüts zu Vergangene Woche landete er schließlich Staatsanwaltschaft womöglich in Revision betrügen. Und er ist jetzt völlig verschuldet. bei zwei BKA-Beamten. Ihnen erzählte er gehen will. Denn der einstige Spitzenbe- Ahrendsen aber hat immerhin sieben beispielsweise, die Gruppe um den Ter- amte hatte sich in eine Rosstäuscherei ver- Jahre lang gut gelebt: Denn schon 1997 rorpiloten Mohammed Atta sei in den wickeln lassen, die zwar grotesk war – aber wurde er auf Grund der Pferde-Affäre vom neunziger Jahren schon mit eindeutigen sehr teuer für den Steuerzahler. Dienst suspendiert. Es folgten aufwendige Absichten nach Deutschland gekommen – Nach Barschels Tod war Ahrendsen als Ermittlungen und fast vier Jahre Prozess. Ermittler haben hingegen viele Belege Regierungsdirektor in der Oberfinanz- So lange durfte er spazieren gehen – bei dafür, dass sich die meisten aus der Grup- direktion gelandet, Sachgebiet Verteidi- vollen Bezügen. Zuletzt waren das 5200 pe erst in Hamburg radikalisierten. gungslasten. Dort genehmigte er alsbald Euro monatlich, plus Weihnachtsgeld. Da- Vermutlich war den BKA-Experten reibungslos Entschädigungszahlungen an mit ist nun Schluss. selbst nicht ganz geheuer, was der Mann den Gestütsbesitzer. So reibungslos, dass Ruhe ist auch über dem „Braunen angeblich alles wusste. Über seine Glaub- der ihm schon mal einen Mercedes im Wert Hirsch“ eingekehrt: Die neuen Besitzer würdigkeit urteilte einer der Ermittler nur, von 60000 Mark vor die Tür stellte. Ah- des Gestüts haben nie irgendwelche Ufo- er trete „optisch souverän“ auf. Immer- rendsen will das Auto für Beratungen be- Attacken auf ihre Pferde gemeldet. hin. Dominik Cziesche kommen haben. Cordula Meyer

der spiegel 5/2004 39 Deutschland

RAUSCHGIFT Koks aus der Karibik Niederländische Behörden haben im Kampf gegen Schmuggler kapituliert – Deutschland wird mit billigem Kokain überschwemmt.

er offene Brief an Hollands Justiz- minister Piet Hein Donner troff vor DSarkasmus: Jacobus Jilleba aus dem niederländischen Vlissingen schrieb in der dortigen Zeitung „PZC“, er wolle schnell reich werden und deshalb präzise 2,9 Ki- logramm Kokain über den Amsterdamer Flughafen Schiphol einschmuggeln. Der

Minister möge ihm nun doch bitte sagen, / LAIF HOOGTE HOLLANDSE ob er tatsächlich straffrei bleibe, solange er Amsterdamer Flughafen Schiphol: „Minimale Intervention“ weniger als drei Kilogramm des Rauschgifts ins Land bringe. Und ob seine beiden ten dabei mehr als 6 Tonnen Kokain sicher. 15- und 17-jährigen Söhne jeweils diesel- Und: Im selben Jahr dürften mehr als 21 be Menge einschmuggeln dürften. Auch Tonnen Kokain Schiphol unbemerkt pas- wüsste er gern, ob der Käufer des Rausch- siert haben, schätzen niederländische Be- gifts ebenfalls nichts zu fürchten habe. hörden. Deutsche Ermittler gehen von der Den Familienvater Jilleba, 47, quält, was doppelten bis dreifachen Menge aus. auch Innenpolitikern und Drogenfahndern Für die südamerikanischen Kokain- in ganz Europa Sorgen macht: Weil wö- händler ist das Geschäft lukrativ. Laut In- chentlich Hunderte Drogenkuriere von den terpol kostet das Kilogramm in Curaçao Niederländischen Antillen aus nach Holland zwischen 2000 und 3000 Dollar – in Euro- fliegen, hat die überlastete Justiz der Nieder- pa bringt es 50000 Euro. Da die Kuriere

lande kapituliert. Wer mit weniger als drei PRINCE / ANP DPA VICTOR nur noch in Ausnahmefällen weggesperrt Kilogramm Kokain erwischt wird, darf in- Sichergestelltes Kokain auf Curaçao* werden, bleibt als einziges Risiko, dass ab zwischen meist ohne Strafverfahren oder 31 Schmuggler in drei Flugzeugen und zu eine Lieferung beschlagnahmt wird. gar Haft einfach wieder nach Hause flie- „Die Niederlande“, fordert Nordrhein- gen. Unter den Folgen der schwächelnden de es auf den Behördenfluren eng, dürfe Westfalens Innenminister Fritz Behrens Abwehr in Holland leidet auch die Bundes- nur „eine minimale justizielle Interven- (SPD), „müssen dringend ihre Drogenpoli- republik, da die Grenzen offen sind: Drogen- tion“ erfolgen. Deshalb gilt bei den Gren- tik überdenken.“ Man müsse abwarten, so barone überschwemmen den Markt mit bil- zern zurzeit als Faustregel: Belangt werden sein bayerischer Kollege Günther Beckstein, ligem Stoff aus der Karibik, der Preis für ein nur jene Kuriere, die mit drei Kilogramm ob es „der niederländischen Regierung mit Gramm ist von 150 auf 50 Euro gesunken. Rauschgift oder mehr erwischt werden. der Bekämpfung des Drogenschmuggels Zwar appellierte Bundesinnenminister Die laxe Haltung lockt die Schmugg- ernst ist“. Er werde, so der CSU-Mann, die Otto Schily im vergangenen Herbst an die ler: 35 Flüge aus der Karibik landen jede Entwicklung „aufmerksam verfolgen“. Regierung in Den Haag, härter gegen den Woche auf dem Amsterdamer Flughafen Damit freilich könnte Beckstein gleich Schmuggel vorzugehen. Die Holländer ver- Schiphol. An Bord sind immer gleich meh- in Deutschland anfangen. Denn seit Ende sprachen auch Besserung. In den Nieder- rere Kuriere, die das Kokain im Bauch oder 2003 werde, kritisiert Josef Scheuring von landen gilt aber – anders als in Deutschland im Gepäck transportieren. Als niederlän- der Gewerkschaft der Polizei, auch am – selbst bei harten Drogen das Opportuni- dische Zöllner Ende November ausnahms- Frankfurter Flughafen Transitgepäck aus tätsprinzip: Ab welcher Menge sie zu- weise mal alle Passagiere dreier Flugzeuge Südamerika nicht mehr kontrolliert – son- schlägt, entscheidet die Justiz nach Lage. aus der Karibik kontrollierten, erwischten dern gleich bis zum Zielflughafen in der Ein interner Bericht des holländischen sie insgesamt 31 Schmuggler mit zusam- Bundesrepublik durchgecheckt. Justizministeriums vom Oktober vergan- men 55 Kilogramm Kokain. Die Lufthansa und der Flughafenbetrei- genen Jahres, herausgegeben im Vorfeld Besonders frequentiert sind die Flüge aus ber Fraport hatten sich erfolgreich gegen der Schily-Intervention, ermahnt zwar die Curaçao. Die Karibik-Insel gehört zu den die Zeit raubenden Kontrollen gewehrt. Beamten, schärfer hinzuschauen – aber bit- Niederländischen Antillen, Reisende aus den „Das hat sich bis nach Kolumbien rumge- te auch nicht allzu scharf: Beim Umgang ehemaligen Kolonien werden in Holland be- sprochen“, moniert ein Zöllner. Und sei der mit Drogenschmugglern sei unbedingt die handelt wie EU-Bürger. Aber auch von Aru- Kurier erst einmal im Land, sinke die Wahr- beschränkte Kapazität der Gerichte und ba und Surinam aus schicken die Drogen- scheinlichkeit einer Kontrolle erheblich. Der Gefängnisse zu berücksichtigen. Kontrollen barone Südamerikas ihre Schmuggler nach kluge Schmuggler fliege deshalb inzwischen dürften schließlich nicht „zu einer Blo- Holland: 2176 Drogenkuriere erwischten weiter und checke sein Gepäck in kleinen ckade der Justiz“ führen, so Donner. Wer- holländische Grenzer in Schiphol schon 2002 Flughäfen wie Paderborn/Lippstadt aus – in Maschinen aus diesen Ländern, sie stell- am besten aber in Saarbrücken. Dort ist Weitere Informationen unter kürzlich der einzige Rauschgiftspürhund www.spiegel.de/dossiers * In Behältern, die von Kurieren geschluckt werden. der Grenzer gestorben. Andreas Ulrich

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VERLAGE „Reizvoll und riskant“ Gruner+Jahr-Vorstandsmitglied Axel Ganz, 66, über das kriselnde US-Ge- schäft des Verlags

SPIEGEL: Sie haben Ihrem Amerika-Chef Daniel Brewster gerade dessen Demis- sion verkündet. Gibt es schon einen Nachfolger, oder ist das der Anfang vom Ende des Gruner+Jahr-US-Geschäfts?

Ganz: Wir suchen. Bis wir einen Kandi- / DDP MICHAEL KAPPELER daten finden, werde ich die Geschäfte Holtzbrinck-Druckerei kommissarisch leiten. Von einem Ende unserer Amerika-Aktivitäten kann kei- KONZERNE ne Rede sein. Wir werden sogar versu- chen, unser Geschäft hier auszubauen. SPIEGEL: Das wichtigste Projekt Ihres Kartellamt stoppt Holtzbrinck geschassten US-Vorstands war die Ein- führung des Klatschmagazins „Gala“ in as Bundeskartellamt will Holtzbrinck einer Präsidiumssitzung an diesem Diens- Amerika. Was wird daraus? Ddie Übernahme der „Berliner Zei- tag eine Zustimmung zum Referentenent- Ganz: Dazu gibt es noch keine Entschei- tung“ endgültig verbieten – davon geht wurf des Wirtschaftsministeriums ab. Tritt dung. Die Reaktionen auf die ersten man auch in der Stuttgarter Konzernzen- die Gesetzesnovelle in Kraft, könnte Testnummern waren sehr positiv. Aber trale inzwischen fest aus. In einem Schrift- Holtzbrinck in der Hauptstadt wie geplant es bedeutet natürlich eine enorme satz der Holtzbrinck-Anwälte an die Bon- die Verlage von „Berliner Zeitung“ und Investition, hier ein neues Wochen- ner Behörde vom 14. Januar, einen Tag „Tagesspiegel“ zusammenführen. Das objekt zu starten, das kostet leicht 100 nach der letzten Visite Stefan von Holtz- Kartellamtsverfahren wäre damit obsolet. Millionen Dollar. Eine ur- brincks bei den Kartellwächtern, heißt es: Mit scharfen Worten kritisieren die sie- sprünglich europäische „Holtzbrinck hat den Eindruck, dass die gesgewissen Stuttgarter abschließend das Marke auf dem größten Beschlussabteilung entschlossen ist, den Verhalten der Behörde, die zuvor Abma- Zeitschriftenmarkt der Welt Zusammenschluss zu untersagen.“ Un- chungen des Verlags mit dem Holtzbrinck- zu etablieren ist sehr reiz- mittelbar nach der Kartellamtsentschei- Vertrauten und „Tagesspiegel“-Käufer voll und auch sehr riskant. dung rechnen Verfahrensbeteiligte mit ei- Pierre Gerckens moniert hatte: Die „Un- SPIEGEL: Für rund 560 Mil- ner Holtzbrinck-Klage vor dem Oberlan- terstellungen“ über eine „freundschaftli- lionen Dollar haben Sie auf desgericht Düsseldorf. Offenbar setzen die che Verbindung“ seien „unstatthaft“. Aus dem Höhepunkt der New Stuttgarter nun ihre Hoffnungen vor allem „Patenschaften“ und anderen persönli- Economy Wirtschaftsblät- auf die geplante Lockerung der Presse- chen Umständen sei nicht auf eine „pau- ter wie „Fast Company“ fusionskontrolle – im Bundesverband Deut- schale Zurechnung des ‚Unternehmens‘ und „Inc.“ gekauft. Wie scher Zeitungsverleger zeichnet sich vor Gerckens zu Holtzbrinck zu schließen“. Ganz bewerten Sie dieses Ge- schäft heute? Ganz: Im Jahr 2000 waren die Titel sehr profitabel, wir haben nur leider den Einbruch des Anzeigengeschäfts nicht AFFÄREN Steve Martin inzwischen den Verbleib vorausgesehen. Im Rückblick muss man jedes einzelnen für die ZDF-Serie ein- sagen, ein Kauf zur falschen Zeit. Ärger um Charly gesetzten Tiers nachweisen lassen, so SPIEGEL: Auch das Image von Gruner+ ZDF-Sprecher Walter Kehr. „Keines da- Jahr Amerika hat mit den Querelen um ine Affen-Affäre beschäftigt derzeit von ist in dem fraglichen Tierpark.“ das Magazin „Rosie“ zuletzt gelitten … Edas ZDF. Die nicht unumstrittene Zudem hätten „örtliche Autoritäten“ Ganz: Es gab ein paar Vorfälle, die uns Tierschutzorganisation Peta hatte der das Gelände in Amarillo (Texas) inzwi- geschadet haben. Da war einmal die Anstalt vorgeworfen, ein ehemaliger tie- schen inspiziert und „keinerlei Bean- Auseinandersetzung mit Rosie O’Don- rischer Hauptdarsteller der ZDF-Serie standungen“ angemeldet. „Das ist eine nell, die vor Gericht landete. Und dann „Unser Charly“ vegetiere in- Kampagne, und Peta ist bis- gab es diese Geschichte um zweifelhaf- zwischen unter „katastropha- lang jeden Beleg für seine te Auflagenzahlen. Bei zwei unserer len“ und „gesetzeswidrigen“ Vorwürfe schuldig geblie- Objekte waren aus einer gewissen Zuständen in einem texani- ben“, so Kehr. Bei der Orga- Nachlässigkeit heraus überhöhte Zah- schen Tierheim. Nach aufge- nisation verweist man indes len gemeldet worden, nichts Dramati- regten Berichten diverser auf heimlich aufgenommene sches, aber da Auflagen immer sehr Boulevardmedien („So leidet Videobilder aus dem Park sensibel beobachtet werden, hat das unser Charly“, „Tier-Ghet- auf der eigenen Homepage. Faktum als solches ein großes Echo ge- to“, „Affen-Knast“) sah sich „Wir halten an unseren Vor- habt. Wir haben unseren Anzeigenkun- das ZDF zu Recherchen in würfen fest“, so Peta-Spre- den einen Brief geschrieben, uns ent- der Angelegenheit gezwun- cher Harald Ullmann, bei der

schuldigt und sofort dafür gesorgt, dass gen. Man habe sich von dem PRESS / ACTION GRABKA THOMAS ZDF-Version handle es sich sich so etwas nicht wiederholen kann. renommierten Tiertrainer ZDF-Star Charly um „Wunschdenken“.

44 der spiegel 5/2004 Fernsehen TV-Vorschau ger kehrten nicht zu ihren Luftbasen Stärker als der Tod zurück. Das Spionagespiel am Rand des atomaren Abgrunds wird in einem Do- Montag, 20.15 Uhr, ZDF kumentarfilm von Dirk Pohlmann ein- Am Abend ihres 14. Geburtstags ver- dringlich vorgeführt: inklusive unbe- schwindet Melanie nach einem Pop- kannter Flug- und Kampfszenen sowie konzert spurlos. Drei Wochen später Interviews mit ehemals sowjetischen wird ihre Leiche in einem Waldstück und amerikanischen Piloten, die sich gefunden. Die Eltern (Veronica Ferres erstmals – als würde eine Last von ih- und August Zirner) merken schnell, nen genommen – öffentlich äußern. dass sie mehr verkraften müssen als den Tod der Tochter, ihre Ehe gerät in Der Heiland auf dem Eiland eine Krise, auch ihr Verhältnis zu Me- WDR Mittwoch, 21.45 Uhr, RTL Anita Lasker (1937) Jürgen von der Lippe kämpft als Pfarrer Karl-Heinz Erdmann auf einer gottver- wieder. Anita Lasker spielt im Lager- lassenen Nordseeinsel gegen den loka- orchester Cello; ihre privilegierte len Bürgermeister. „Don Camillo und Position schützt beide bis zum Kriegs- Peppone“ im Wattenmeer: norddeutsch ende. Die Schwestern eint – jenseits dröge, heil- und trostlos. ihrer unterschiedlichen Temperamen- te – eine kluge Sachlichkeit. Die In- Der Tod und die Mädchen terviews mit ihnen sind erschütternd und aufklärend. Leider scheint man Mittwoch, 23.00 Uhr, ARD im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Nach der Deportation ihrer Eltern aus anzunehmen, die Zuschauer könnten Breslau 1942 werden Anita und Renate einen sprechenden Menschen allein Lasker in der „kriegswichtigen Produk- länger als ein paar Minuten nicht

BARBARA BAURIEDL / ZDF BAURIEDL BARBARA tion“ eingesetzt. Die beiden Halbwüch- ertragen: So überbieten sich Musik, Ferres in „Stärker als der Tod“ sigen fälschen Urlaubspapiere, werden Fotodokumente und selbstgefällige festgenommen und schließlich getrennt Pathos-Kommentare aus dem Off. lanies älterer Schwester Julia (Anna nach Auschwitz gebracht. Dort finden Der absurde Sendetermin ist dennoch Brüggemann) verschlechtert sich. Der sie sich, gegen alle Wahrscheinlichkeit, sehr bedauerlich. Vater versucht seiner Trauer zu ent- kommen, sinnt auf Rache und ver- gräbt sich in der Vergangenheit. Die TV-Rückblick Mutter sucht Trost bei einem anderen Wasserstrahl in Richtung kritische Öf- Mann, Julia schließlich entfernt sich fentlichkeit. Nach Raissa und Michail von ihren Eltern. Nikolaus Leytner Liebe an der Macht Gorbatschow wurde in der ARD-Fea- (Regie und Buch) zeigt die Angehöri- ture-Reihe „Liebe an der Macht“ das gen als vergessene Opfer, doch seine 21. Januar, ARD Ehepaar Honecker porträtiert – und Bemühungen um psychologische Kor- Als Fernsehleute den gestürzten Gene- trotz der ergreifenden Gartenszene er- rektheit lähmen das ganze Stück: Zu ralsekretär des ZK der SED und Vorsit- wies sich wieder einmal, dass die Macht angestrengt durchlaufen seine Figuren zenden des Staatsrats der DDR, Genos- im Zweifel über die Liebe triumphiert. die klassischen Trauerphasen, zu be- sen Erich Honecker, 1994 im chileni- Sie – und nicht das romantische Gefühl müht wirkt das Zusammenspiel von schen Exil beim Rasensprengen mit – ist die große Konstante und große Ferres und Zirner. dem Gartenschlauch erwischten, zeigte Verderberin. Mehr noch: Macht und sich die Macht der Liebe auch noch im Machterhalt treten an die Stelle des Der geheime Luftkrieg Augenblick der Ohnmacht. Entschlos- Eros, der zum vergessenen Attribut des der Supermächte sen packte Ehefrau Margot Honecker Daseins verkümmert. Der Film von Flo- den Gummischlauch und lenkte den rian von Stetten, der äußerst wohlwol- Mittwoch, 20.40 Uhr, Arte lend Erich Honeckers Weg von der Haft Der Krieg ist vorbei. So scheint es. im Hitler-Reich zum realsozialistischen Doch das, was sich schon bald nach Patriarchen nachzeichnete, ließ ahnen, 1945 über der Sowjetunion und dem dass es zumindest beim jungen FDJ- Ostblock abspielt und bis in die sieb- Chef noch andere Leidenschaften gege- ziger Jahre andauern wird, ist bis ben hatte als den Katechismus der Par- heute aus gutem Grund Geheim- teireligion. Was in der Euphorie des sache: Es gab emsige und oft provo- sozialistischen Aufbaus noch mit der kative Spionageaktivitäten der USA, Liebe verbündet sein mochte, erstarrte deren Maschinen – legendär das Hö- schließlich in den Verhältnissen – ob in henflugzeug U-2 – den sowjetischen der Ehe oder im Staat. So entließ auch Jägern weit überlegen waren. Den- diese Dokumentation über die Bezie- noch kam es zu Kämpfen, gab es Tote hung von Liebe und Macht die Zu-

und Vermisste: Mehr als 150 US-Flie- / WDR DPA schauer in die akute weltgeschichtliche Ehepaar Honecker (1993) Melancholie eines Winterabends.

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Jetzt kriegst du 10 TV-Shows!“ Dschungelcamp-Bewohnerin Caroline Beil über das Leben im australischen Fernsehwald, das Kalkül der Selbstentblößung und die Gesetze des Boulevardgeschäfts

SPIEGEL: Frau Beil, Sie waren beschränkt wie: Wer holt Was- bisher Moderatorin einer Bou- ser, welches Lied singen wir levardsendung auf Sat.1, in der jetzt? Sie häufig Prominente vorge- SPIEGEL: Als Sie im Bikini in ei- führt und auch deren Ehepro- nem Tümpel aus Fischinnereien bleme ausgeschlachtet haben, mit Erfolg nach Sternen ge- nun sind Sie plötzlich selbst wühlt hatten, rief Ihnen Ihre Objekt der Begierde, frühere Mitstreiterin Lisa Fitz begeistert Nacktfotos und Eheprobleme zu: „Toll, jetzt kriegst du 10 TV- flattern über den Boulevard, Shows!“ Haben Sie miteinan- weil Sie in der RTL-Show „Ich der über den Karriereeffekt die- bin ein Star – Holt mich hier ser Dschungel-Soap geredet? raus!“ zur Prominenten wur- Beil: Nein, so nicht, man muss den. Geschockt? Zufrieden? die Konstellation der Kandi- Oder amüsiert? daten anschauen und dann Beil: Mir war klar, dass man natürlich auch berücksichti- für die Öffentlichkeit interes- gen, dass da zehn Leute um sant wird, wenn man im au- eine Feuerstelle herumsaßen, stralischen Dschungel herum- da ergibt sich wenig wirklich läuft, sich dabei 24 Stunden Tiefgründiges. Was man mit lang von zwei Dutzend Ka- dem einen redet, das kriegt meras verfolgen lässt und je- der andere mit. Und alle den Abend im Fernsehen die gucken zu. Bilder laufen. Ich kenne die SPIEGEL: Und wie haben Sie Mechanismen. Aber so habe dann den Tag rumgekriegt? ich es mir nicht vorgestellt, Beil: Eigentlich haben wir ganz ehrlich. Es ist komisch, nichts gemacht, aber wir wa- wenn man auf einmal selbst ren trotzdem den ganzen Tag mittendrin ist. im Einsatz. Die einfachste, ba- SPIEGEL: Wenn Sie jetzt in den nalste Angelegenheit wurde zu letzten zwei Wochen Modera- einer großen Sache. Das Holz torin Ihrer Boulevardsendung wurde jeden Tag weiter hinten gewesen wären – hätten Sie im Camp versteckt, so dass die auch über die Steuerprobleme Wege immer länger wurden. von Costa Cordalis, die Porno- Das Holz war auch nass, also Filme von Lisa Fitz und die musste man das Holz erst mal Ehesorgen von irgendeinem trocknen, bis man es anzün- Camp-Luder berichtet? den konnte. Dann lief man Beil: Dann hätte ich über die Gefahr, dass das Feuer aus- Promis dieser Show berichtet, ging. Wenn das Feuer ausging, natürlich. Dann sagt man den war alles aus, dann hatten wir

Redakteuren: „Okay, checkt S. MENNE / RTL auch kein Trinkwasser, das das Umfeld ab. Guckt da, Dschungel-Überlebende Beil: „Ich habe es als Stammesritual gesehen“ mussten wir abkochen. Es guckt da, fragt die Nachbarn, gab große, massive Strafen, macht das, wir graben da nach.“ Da wird SPIEGEL: Viele Prominente denken, sie kön- Androhung der Wegnahme diverser Lu- im Schlamm gewühlt. Es gibt den Spruch: nen die Boulevardmedien instrumentali- xusartikel. Auf die Toilette durften wir „Im Boulevard-Geschäft gibt es keine sieren, und merken dann, dass sie instru- nicht alleine gehen, wir mussten immer je- Ehrenmänner.“ Titten, Tote, Tiere, Tränen, mentalisiert werden. Über Daniel Kübl- manden fragen. Abends bin ich hundemü- das sind die vier Ts, und so funktioniert es. böck haben Sie gesagt, der habe bei der de ins Bett gefallen, völlig erschöpft, das Da wird alles durchgeforstet. Das machen Dschungel-Show mitgemacht, weil er „auf Bett war klamm, aber ich war froh, dass ich die jetzt mit mir und meinem Leben, und dem absteigenden Ast“ sei, er erhoffe sich da liegen konnte die Nacht lang, die kein ich denke: „Nein, die haben nicht meinen mehr Medienpräsenz. Das gilt ja für die Ende zu nehmen schien, so wie jeder Tag, Marathon-Trainer interviewt. Die haben meisten der zehn Kandidaten. Waren die der auch kein Ende zu nehmen schien. nicht wirklich bei meinem Nachbarn ge- Medien und die Hoffnung auf noch größe- SPIEGEL: Also war das Schlimmste dieser klingelt.“ re Prominenz auch mal Thema im Camp? Veranstaltung die Langeweile? Beil: Nein, es gab eigentlich wenig tiefsin- Beil: Das Schlimmste war, dass mir die Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Cordt Schnibben. nige Gespräche. Die haben sich auf Dinge Selbstbestimmung entzogen wurde. Für

46 der spiegel 5/2004 FOTOS: RTL FOTOS: Dschungelcamp-Bewohner: „Wer holt Wasser, welches Lied singen wir jetzt?“ mich als Mensch, der sonst immer genau fung kam, anfing zu weinen. Die gesagt upflasht, wenn die in den Teich geht, und das tut, was er will, war es das Schwerste, hat: „O Gott, was tun sie mit euch.“ man ihr irgendwann eine Prüfung gibt, wo meine Intimsphäre aufzugeben, mit Leuten SPIEGEL: War Ihnen nicht klar, dass RTL sie mal zeigen kann, was sie hat. Bei jedem 24 Stunden am Tag zusammen zu sein, die Sie und die anderen neun Versuchskanin- emotionalen Ausbruch, das war klar, hau- ich nicht kenne, aber teilweise gar nicht chen als Komparsen für eine Dschungel- en sich die Leute in der Redaktion auf die kennen wollte. Man findet einige sehr nett, Comedy brauchte, um über Sie spotten zu Schenkel und sagen: „Klasse Szene, das ist bei anderen denkt man: „Um Gottes wil- können? unser Aufmacher, das haben wir drin.“ Ich len.“ Und man sitzt da und kann nicht weg. Beil: Das war mir nicht klar, aber klar war weiß, wie es geht. Ich glaube, die anderen Man muss die Kontrolle abgeben, und man mir vorher, dass diese Sendung extrem haben sich darüber keine Gedanken ge- wird Teil des Spiels. kontrovers diskutiert werden würde, we- macht. Die sitzen einfach mitten im SPIEGEL: Die Langeweile des Lagerlebens gen der Leute, die da mitmachen, und we- Dschungel und machen alles nach Plan. wurde unterbrochen von Dschungel-Prü- gen des Titels „Ich bin ein Star“. Ich bin Und das war der Moment, wo ich sagte: fungen. Wie kriegt man das psychisch klar, kein Star. Und ich finde, dass auch die an- „Mein Gott, und du bist hier mittendrin.“ wenn man ein selbstbestimmter Mensch ist deren, die da waren, keine Stars sind. Je- SPIEGEL: Und das war auch der Moment, und nun Dinge machen soll, die man nor- der Zuschauer denkt doch: „Ein Star? Da wo Sie über die „weiße schlabbrige Haut“ malerweise nie tun würde? ist doch keiner ein Star, lass die da drin.“ von Susan Stahnke und ihr „blödes Ge- Beil: Wenn man mir vor zwei Wochen ge- SPIEGEL: Sie haben abseits der Gruppe mit sicht“, über „die falschen Fingernägel, die sagt hätte: „Du wirst in einen Straußenkä- dem Ex-Hochspringer Carlo Thränhardt falschen Haare, die falschen Brüste“ von fig gehen und wirst dich von denen picken mitten im Dschungel gesessen und sich Lisa Fitz und die Gitarrenkünste von Costa lassen, und dir werden Kakerlaken auf den über die „Dummheit“ Ihrer Mitbewohner Cordalis gelästert haben. Da muss Ihnen Kopf gekippt“, dann hätte ich gesagt: „Ja, beklagt. „Wenn ich merke, dass die gar doch klar gewesen sein, dass die Fernseh- das ist eine schöne Idee, aber das werde ich nicht verstehen, worum es hier geht, da redakteure im Regieraum vor Begeisterung niemals tun.“ Wenn man aber in dieser fühlt man sich echt einsam hier.“ Was ha- von den Stühlen gefallen sind? Gruppe ist, und es knurrt einem der Ma- ben Sie da genau gemeint? Beil: Ich habe gedacht, das kriegen die nicht gen, da entwickelt man eine andere Ein- Beil: Die waren alle in dieses Camp ge- mit. Und wenn, dass sie es nicht senden, stellung. Ich habe es als Stammesritual ge- kommen und verhielten sich so, wie RTL denn mit Carlo habe ich mir einen Platz ab- sehen, dem man sich unterwerfen muss, es erwartet hat. Ich weiß, wenn eine Frau seits der Kamera ausgesucht, und wir ha- um von der Gruppe akzeptiert zu werden. dabei ist, die eine super Oberweite hat, ben auch unsere Mikros zugehalten. Dass SPIEGEL: Als Zuschauer fragt man sich, war- dass man die natür- das natürlich genau der Moment war, auf um lassen die sich zum Affen machen? lich mit der Kamera den die gewartet haben, weil es bis zu dem Wie erträgt man es, erniedrigt zu Zeitpunkt in dem Camp langweilig war, werden? das haben wir natürlich nicht wissen Beil: Wenn ich dahin gehe und sage: können. „O Gott, jetzt werde ich erniedrigt“, SPIEGEL: In dieser verlogenen Dschun- dann fühle ich mich erniedrigt und gel-Inszenierung mit künstlichem fühle mich so schrecklich, dass ich an- Teich, gereinigtem Urwald und Pseu- fange zu weinen. Wenn man sich den do-Stars war das ein komischer Mo- Prüfungen stellt, über deren Sinn sich ment der Wahrheit. Da wurde ausge- im Nachhinein diskutieren lässt, da sprochen, was man als Zuschauer dach- kommt schon Wut hoch. Bei mir hat te: falsche Brüste, falsche Töne, falsche sich Furcht in Wut umgewandelt. Helden. Für manche Zuschauer wurden SPIEGEL: Wut auf sich, dass Sie da mit- Sie dadurch sympathisch, andere no- machen, oder Wut auf RTL? minierten Sie zur Bestrafung für die Beil: Wut auf die Viecher, auf die Strauße, nächsten beiden Dschungel-Prüfungen. auf die Kakerlaken. Andere hätten ge- War Ihnen im Camp klar, dass das eine sagt: „Au, au, hui, nein, furchtbar.“ Und Strafaktion für den allzu öffentlichen ich habe gesagt: „Hau ab, du Vieh. Du Klatsch war? Arschgeige. Du Motherfucker.“ Ich habe es Beil: Ich habe mich natürlich gewundert. als Mutprobe gesehen, deswegen empfand Ich habe schon gedacht: „Na ja, ich habe ich es nicht als Erniedrigung. über den Daniel gesagt: ,Der ist auf dem SPIEGEL: Haben Sie mit den anderen Teil- absteigenden Ast.‘ Vielleicht sind seine nehmern mal darüber geredet, über diese Fans jetzt sauer und rächen sich.“ psychische Seite der Prüfungen? SPIEGEL: Dem Zuschauer fiel da plötzlich Beil: Ja. Es haben auch einige Teilnehmer die Macht zu, durch seine Anrufe den Dau- sehr emotional darauf reagiert. Es gab eine Covergirl Beil men zu heben oder ihn zu senken und Pro- Kollegin im Camp, die, als ich von der Prü- „Die Rechnung ist ganz anders aufgegangen“ mis zu quälen. Ist das nicht ein unange-

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Leid, und ich habe gesagt: „Mein Gott, jetzt Jahren nicht abgetrieben hat. Es ist köst- wird auf seine Kosten Quote gemacht.“ Er lich, welches Stück jetzt nach der Show hat gesagt: „Die haben mich angelogen, aufgeführt wird. von Wasserspinnen haben sie nichts gesagt, SPIEGEL: Wie haben denn Ihre Camp-Kolle- die haben mich reingelegt.“ Da habe ich gen reagiert, nachdem sie nachträglich er- gedacht: „Oh, oh, jetzt wird gerade eine fahren haben, was Sie über sie gesagt haben? Grenze überschritten.“ Wir wollten gehen, Beil: Ich glaube, einige fanden es nicht so ich fühlte mich getäuscht, hatte diesen gut, fühlen sich vor den Kopf gestoßen. Ich Dschungel-Trip eher als sportliche Heraus- musste denen erklären, in welcher Situa- forderung gesehen und nicht als Ekelprü- tion ich das gesagt habe, wie ich mich da fung, damit die Quote steigt. Dann habe gefühlt habe, dass ich eigentlich abhauen ich gesehen, dass Daniel zehn Minuten spä- wollte aus dem Camp. Und dann habe ich ter wieder gelacht hat. auch immer gesagt: „Ich stehe dazu. Ich SPIEGEL: Wenn Sie aus der Show herausge- habe das gesagt. Es tut mir Leid, dass du gangen wären, hätten Sie dann die 50000 das jetzt so erfährst.“ Susan Stahnke ist Euro Gage zurückzahlen müssen? mir allerdings sehr böse.

AXEL KIRCHHOF / ACTION PRESS AXEL KIRCHHOF / ACTION Beil: Es waren nicht 50000 Euro Gage, das SPIEGEL: Haben Sie keine Angst vor den Moderatorin Beil kann ich Ihnen versichern, und über Ver- Spätfolgen dieser RTL-Show? „Zum ersten Mal polarisiere ich“ tragsinhalte kann ich selbst mit dem SPIE- Beil: Wie sollen die aussehen? GEL nicht sprechen. SPIEGEL: Dass Sie nicht mehr Herr Ihres nehmes Gefühl, dem Mob ausgeliefert zu SPIEGEL: Haben Sie vorher darüber nach- Lebens sind. sein? gedacht, wie Ihnen die Teilnahme an die- Beil: Wieso das? Beil: Die Leute wählen, weil sie sagen: „Wir ser Show nützen könnte? SPIEGEL: Die „Frau im Spiegel“ sieht Sie in wollen mal sehen, wie toll das Großmaul Beil: Ich habe mich gefragt: „Okay, was bie- der jüngsten Titelgeschichte bald schwan- das macht“, oder weil sie einem eins aus- ten sich da für Vorteile?“ Also erst mal die ger von Ihrem Ehemann, auf dem Cover wischen wollen. Aber sie haben es in der Möglichkeit, da ich nun nicht mehr eine täg- der „Bunten“ sind Sie auf der Flucht vor Hand, die Masse entscheidet, das war klar. liche Sendung moderiere, einfach mal was Ihrem Mann. Und die Masse liebt die Faszination des völlig anderes zu machen, was völlig Durch- Beil: Ja, klar, und mein Baby ist von Costa Grauens. Ein Mensch und 30000 Kakerla- geknalltes zu machen. Ich lebe da in einem Cordalis. ken, das ist grausig, aber man muss es sich Camp mit neun Leuten, das läuft im Fern- SPIEGEL: Wie kommt Ihr Mann klar mit die- einfach angucken. sehen jeden Abend, darüber wird berichtet, sem neuen Leben auf dem Boulevard? SPIEGEL: Haben Sie denn irgendwann be- die Leute regen sich auf, ich kann jederzeit Beil: Der lacht sich tot, wir haben gerade te- griffen, dass die Bedrohung in diesem aussteigen. Ich habe gedacht, es sprechen lefoniert, und er hat mir die Schlagzeile Dschungel nicht die Natur ist, sondern die eigentlich mehr Sachen dafür als dagegen. aus „Bild“ vorgelesen. Man kriegt so ei- Kameras und die Zuschauer? SPIEGEL: Und glauben Sie im Nachhinein, ne „Scheißegal“-Haltung. Wir haben uns Beil: Auf die Kameras musste man ach- dass Ihre Rechnung aufgegangen ist? überlegt: „Okay, versuchen wir eine Ge- ten, klar, und die Zuschauer haben natür- Beil: Die Rechnung ist jetzt ganz anders gendarstellung zu erwirken.“ Aber das ist lich eine gewisse Macht. Aber in dem aufgegangen, als ich es mir gedacht habe. doch völlig lächerlich. In einer Woche kräht Moment, wo man da lebt, da sieht man Es sind ja Sachen passiert, die ich ja nie- kein Hahn mehr danach, weil sich Jürgen schon eher, was man direkt vor der Nase mals antizipiert habe. Es ergeben sich jetzt Drews dann seinen Penis gebrochen hat. hat. Das waren halt Tiere und dass man we- neue andere Chancen: Zum ersten Mal in SPIEGEL: Sie fahren in den nächsten drei nig zu essen hat und diese nervende Feuch- meinem Leben polarisiere ich, zum ersten Wochen durch die Inselwelt der Südsee. tigkeit. Mal in meinem Leben finden mich Leute Wie würden Sie einem Eingeborenen be- SPIEGEL: Diese Show war ein Festival der supergeil und andere superbescheuert. schreiben, was Sie in den letzten zwei Wo- Selbstentblößung. Was meinen Sie, wer Mein Vater hatte auf seiner Website vorher chen gemacht haben? kommt letztendlich dabei auf seine Kos- zehn Einträge, jetzt sind es 14358, und ei- Beil: Wenn er Englisch spricht, werde ich ten? Der Sender, die Zuschauer oder Sie? ner hat ihm gemailt, warum er mich vor 37 ihm erklären, dass es Leute spannend fin- Beil: Der egozentrische Selbst- den, durchs Schlüsselloch zu darsteller kommt bei der Selbst- gucken, und dass auch er es entblößung auf jeden Fall auf spannend findet, was sein Stam- seine Kosten. Der Zuschauer mesbruder treibt. Und dass in auch, weil er einen vermeint- dem Land, aus dem ich komme, lichen Einblick in die Psyche des die Leute das so spannend fin- vermeintlichen Stars bekommt. den, dass sie Leute an das an- Und der Sender macht Quote. dere Ende der Welt schicken, SPIEGEL: Gibt es Grenzen für um zu sehen, wie sie sich dort diese Art von Psycho-TV? unter völlig anderen Bedingun- Beil: Absolut. Es gab zum Bei- gen verhalten. Dass sie deswe- spiel einen Punkt, da wollte ich gen ein Wahnsinnsgeld ausge- aus dem Camp aussteigen, und geben haben, nur um zu sehen, das war, als Daniel Küblböck wie zehn Leute, die mehr oder nach seiner dritten Prüfung wei- weniger bekannt sind, den nend ins Camp lief. Ich weiß ganzen Tag lang um ein Lager- nicht, ob man das gesendet hat. feuer sitzen. Dann würde er SPIEGEL: Der hat so oft geweint, mich angucken – und vielleicht das kann ich nicht sagen. auslachen. Beil: Aber da hat er sehr doll ge- SPIEGEL: Frau Beil, viel Spaß bei

weint, und mir ist das total nahe S. MENNE / RTL dieser Unterhaltung und vielen gegangen. Mir tat er auf einmal Dschungel-Kämpferin Beil: „Hau ab, du Arschgeige, du Motherfucker“ Dank für dieses Gespräch.

48 der spiegel 5/2004 Trends Wirtschaft

Esser, Ackermann

die Manager des Konzerns rechtfertigen. Stattdessen ließ sich der sonst so kontrol- lierte Banker im Gerichtssaal zu einem Victory-Zeichen hinreißen. Einen solchen Kommunikations-GAU hat die Bank nicht mehr erlebt, seit der damalige Vorsitzen- de Hilmar Kopper den 50-Millionen- Mark-Schaden, den die Pleite des Bau- löwen Jürgen Schneider Handwerkern zufügte, als „Peanuts“ bezeichnete. Wie damals war das Echo verheerend: Von Ar- roganz der Macht war die Rede, von einer beispiellosen Stillosigkeit und von einer „Verhöhnung der arbeitenden Menschen in Deutschland“ (SPD-Generalsekretär Olaf Scholz). Dabei war alles ganz anders. Sagt die und erklärt das Verhalten ihres Chefs mit einem Black- out. „Was soll ich gemacht haben?“, soll Ackermann ungläubig seine Mitarbeiter gefragt haben, die ihn in der Mittagspau-

POOL / REUTERS / E-LANCE MEDIA POOL / REUTERS se des Gerichtstags über die Fotos infor- mierten, die bereits über die Ticker liefen. DEUTSCHE BANK Nur langsam erinnerte sich Ackermann: Er habe mit dem Ex- Mannesmann-Chef Klaus Esser und den Anwälten auf die Rich- terin Brigitte Koppenhöfer gewartet. Esser habe ihn gefragt, ob Ackermanns Blackout er sich an den Prozess mit dem Popsänger Michael Jackson er- innere. „Der hat seine Richter eine halbe Stunde warten las- b beim Managertreffen in Davos oder sen“, soll Esser gesagt haben, „bei uns ist es genau umgekehrt: Obei der Verabschiedung eines verdien- Wir warten auf unsere Richterin.“ Ackermann schmunzelte ten Bankers im Hermann-Josef-Abs-Saal der und imitierte spontan das Victory-Zeichen, mit dem der Pop- Deutschen Bank: Wo immer sich in diesen star seine Fans in der Welt begrüßte. Und schon war das fata- Tagen Banker und andere Vertreter der Wirt- le Bild in der Welt. In einer Krisensitzung entschieden sich dann schaft treffen, gibt es nur ein Thema – wie die Kommunikationsexperten, so sagen sie, die Wahrheit über konnte ihm das passieren? Die PR-Abteilung das Victory-Zeichen zu verbreiten: die Geschichte vom mäch- der Deutschen Bank hatte ganz auf den tigen Bankchef, der einen etwas verwirrten Popstar nachahmt. Charme von Josef Ackermann gesetzt. Selbst- Der Satz, den der Banker vor Gericht sagte und der ihm nicht bewusst, aber mit viel Respekt vor der Rich- weniger Kritik eintrug als die gespreizten Victory-Finger, terin, so war es geplant, sollte der Chef der stammt allerdings nicht von Jackson, er ist original Ackermann:

ERIC THAYER / POLARIS ERIC THAYER Deutschen Bank im Düsseldorfer Mannes- „Das ist das einzige Land, wo diejenigen, die erfolgreich sind Jackson mann-Prozess die Millionen-Zahlungen an und Werte schaffen, deswegen vor Gericht stehen.“

ARBEITSLOSE BA-interner Rundbrief. Die statistisch ausgewiesene Zahl der Arbeitslosen Regierung schönt sinkt dadurch nach einer Schätzung des agentureigenen Instituts für Arbeits- Statistik markt- und Berufsforschung um monat- lich rund 70000. Der neue Kniff gehört it einem neuen Statistik-Trick will zu einer Reihe von Maßnahmen, mit MArbeitsminister Wolfgang Clement denen die Regierung im Zuge der Hartz- die Arbeitslosenzahl künstlich nach un- Reformen die Arbeitslosenstatistik ten drücken. Nach einer Vorschrift, die schönt. So führt der verstärkte Druck in den gerade verabschiedeten Hartz- auf Jobsuchende dazu, dass sich immer Reformen versteckt ist, gelten Job- mehr von ihnen abmelden und die aus- suchende in Trainingsmaßnahmen, in gewiesenen Erwerbslosenzahlen um denen Arbeitslose zum Beispiel lernen, mindestens 100000 niedriger liegen als Bewerbungen zu schreiben, anders als bisher, wie der Bonner Arbeitsmarkt- bisher nicht mehr als arbeitslos. Die forscher Hilmar Schneider prognosti- Vermittler der Bundesagentur für Ar- ziert. Zudem bereitet Clement eine Re-

beit (BA) dürfen sie deshalb seit Mo- form der Erwerbslosenstatistik vor, die BILDERDIENST / ULLSTEIN BPA natsbeginn nicht mehr mitzählen, so ein die Arbeitslosenzahl weiter senkt. Clement

der spiegel 5/2004 51 Trends

ENERGIEKONZERNE Trittin in der Klemme eim Poker um den Handel mit Treib- Bhausgasen kommt Bundesumwelt- minister Jürgen Trittin von zwei Seiten unter Druck. Von 2005 an sollen EU-weit Zertifikate ausgegeben werden, die den Grad der erlaubten Umweltverschmut-

zung festlegen. Die Unternehmen kön- / DPA PETER FÖRSTER nen dann die Zertifikate untereinander Braunkohlenkraftwerk Buschhaus (bei Helmstedt) handeln. Wer sein Kontingent überzieht, muss zusätzliche Berechtigungen von Be- für jeweils 15 Jahre. Käme es so, gäbe es ten und im Verkehrsbereich umso größe- trieben kaufen, die ihre Anlagen moder- keinen Anreiz mehr, auf weniger klima- re Einsparanstrengungen unternehmen. nisieren und somit unter ihrem Limit schädliche Brennstoffe wie Erdgas um- Während Wirtschaftsminister Wolfgang bleiben. Nun fordert die Wirtschaft eine zusteigen. Außerdem würde der Anteil Clement die Forderungen der Wirtschaft „bedarfsgerechte Ausstattung“ mit Ver- der Industrie an den nationalen Kohlen- stützt, wehren sich Verkehrsminister schmutzungsrechten. Darüber hinaus dioxid-Emissionen bis 2010 voraussicht- Manfred Stolpe und Finanzminister Hans verlangt sie, angetrieben von den kohle- lich nicht mehr sinken. Um trotzdem die Eichel gegen zusätzliche Maßnahmen gebundenen Konzernen RWE und Vat- internationale Reduktionsverpflichtung im Klimaschutz. Am Donnerstag dieser tenfall, auch für in Zukunft errichtete von 21 Prozent gegenüber 1990 einhalten Woche sollen die vier Minister den Koa- Braun- und Steinkohlenkraftwerke aus- zu können, müsste die Bundesregierung litionsfraktionen Vorschläge zur Lösung reichend kostenlose Emissionszertifikate im Gegenzug bei den privaten Haushal- der Krise unterbreiten.

MARKENSCHUTZ FRAPORT EU rügt Sparkassen-Paragrafen Strenger unter Druck ie EU-Binnenmarkt-Kommission hat einen Paragrafen n der Affäre um den spektakulären Dzum Schutz der deutschen Sparkassen heftig verurteilt. IFinanzflop des größten deutschen Dabei geht es um den Paragrafen 40 des Kreditwesengesetzes, Flughafenbetreibers Fraport im philip- dem zufolge nur öffentlich-rechtliche Institute den Namen pinischen Manila gerät nun mit Chris- Sparkasse tragen dürfen. Eingeleitet hatte das Beschwerdever- tian Strenger auch ein hochkarätiges fahren der US-Investor Christopher Flowers, der vor zwei Jah- Aufsichtsratsmitglied unter Druck. Der ren die Bankgesellschaft Berlin kaufen wollte. Dabei hatte er ehemalige Chef der Deutsche-Bank-

festgestellt, dass er den Namen Sparkasse selbst im Falle einer Fondstochter DWS, der nebenbei in BRAUN ROLF Übernahme nicht hätte be- der Regierungskommission zur Reform Strenger nutzen dürfen. Die Regelung der Unternehmensverfassung sitzt, war führe dazu, schrieb nun der Mitglied einer vierköpfigen Gruppe des Kontrollgremiums, die zuständige Kommissar Frits im vergangenen Frühjahr prüfen sollte, ob der Vorstand bei Bolkestein an den für Euro- dem umstrittenen Großprojekt seine Sorgfaltspflicht verletzte. pa-Angelegenheiten zustän- Als Grundlage diente der Spezialtruppe unter dem hessischen digen Bundesaußenminister Regierungs- und damaligen Fraport-Aufsichtsratschef Roland Joschka Fischer, „den Er- Koch ein mehrere hundert Seiten starkes Gutachten der re- werb von Anteilen an Spar- nommierten Anwaltskanzlei Haarmann Hemmelrath in Frank-

HEIKE SCHREIBER-BRAUN kassen zu verhindern und furt, das den 350-Millionen-Euro-Flop akribisch analysierte. Taunus-Sparkasse (in Bad Homburg) Anleger aus anderen Mit- Die Empfänger halten die Fleißarbeit der Prüfer bis heute un- gliedstaaten davon abzuhal- ter Verschluss, empfahlen den übrigen 16 Mitgliedern des Kon- ten, in das Kapital dieser Unternehmen zu investieren“. Bolke- trollgremiums in der entscheidenden Aufsichtsratssitzung am stein weiter: Der Paragraf sei „geeignet, den freien Kapitalver- 18. Juni 2003 aber, den Vorstand voll zu entlasten, was auch kehr illusorisch zu machen, und stellt eine nicht gerechtfertigte geschah. Nun greift der Singener Wirtschaftsprüfer Georg Beschränkung dar“, heißt es in dem Schreiben vom 16. De- Wengert, der die Fraport-Führung per Gericht für die Mega- zember, das Fischer sofort an Finanzminister Hans Eichel wei- Pleite haftbar machen will, Strenger frontal an. Wengert for- terleitete. Die Bundesregierung hat seit Eingang des Schrei- dert den Ex-DWS-Chef in einem offenen Brief zur Herausgabe bens zwei Monate Zeit, Stellung zu nehmen. Doch Eichels Mi- des wichtigen Dokuments auf. „Wer andere Manager zu mehr nisterium hält die Sache für aussichtslos. Selbst eine erneute Transparenz und Kontrolle ermahnt“, so Wengert, „sollte … Intervention des Bundeskanzlers in Brüssel könne an der Ein- selbst mit gutem Beispiel vorangehen“. Strenger wollte sich stellung der Kommission nichts ändern. zum Thema Fraport vergangene Woche nicht äußern.

52 der spiegel 5/2004 Geld

ÜBERNAHMEN Thüga-Aktie Kurs in Euro ANLAGEBETRUG Aktionäre hoffen auf 72 Staatsanwälte jagen Abfindung 68 Diamantenhändler mmer mehr Unternehmen nutzen die 64 leich mehrere Staatsanwaltschaften Igesetzlichen Möglichkeiten, Minder- Germitteln derzeit gegen dubiose heitsaktionäre mit einem so genannten 60 Diamantenhändler. Die hinterlegten bei Quelle: Thomson Squeeze-out aus dem Unternehmen zu 2003Financial Datastream 04 ahnungslosen Anlegern maßlos überbe- 56 drängen. Wie hoch die Abfindung letzt- JFMAMJJASONDJ wertete Edelsteine als Sicherheit für lich ist, wird häufig vor Gericht ent- Großkredite, die nie zurückbezahlt wur- schieden. Jüngstes Beispiel ist der Ener- den. „Das ist eine gängige Geschäfts- gieversorger E.on, der seine Mitaktionä- klagen gegen einen entsprechenden praxis“, sagt ein Sprecher der Staatsan- re bei der Thüga AG loswerden will. Hauptversammlungsbeschluss. Der waltschaft Hechingen. Dort sitzen gleich Kleinaktionäre besitzen noch rund drei aktuelle Thüga-Kurs liegt bei 72 Euro, Prozent der Aktien und sollen nach weil viele Anlageprofis damit rechnen, dem Willen von E.on 63,36 Euro je An- dass E.on letztlich mehr zahlen muss. teilsschein erhalten. „Das ist ein lächer- Ähnliche Spekulationen laufen auch bei licher Preis“, sagt Christoph Öfele, Ak- der E.on-Tochter Contigas. Auch bei tionärssprecher der Schutzgemeinschaft dem aktuellen Übernahmeopfer Holsten der Kleinaktionäre, unter Hinweis auf oder beim Maschinenbauer Gea setzen hohe stille Reserven bei der Thüga. Spekulanten bereits jetzt darauf, dass es Zurzeit gibt es mehrere Anfechtungs- eine Abfindung geben wird.

Quelle: Thomson Pharma-Aktien in Euro Financial Datastream 58 AVENTIS 63 SANOFI- 38,0 NOVARTIS 62 SYNTHELABO 37,5 56 61 WIM VAN CAPPELLEN / REPORTERS / LAIF / REPORTERS CAPPELLEN WIM VAN 60 37,0 Diamantenhändler 54 59 zwei Händler in Untersuchungshaft. 36,5 Laut Haftbefehl sollen sie mit der Dia- mantenmasche in mindestens vier Fäl- 52 58 36,0 len Kredite in Höhe von mehreren 57 zehntausend Euro ergaunert haben. In- zwischen ist die Polizei noch unzähligen 50 Januar 56 Januar 35,5 Januar weiteren Betrugsfällen auf der Spur. Die Schweizer Behörden hatten einen der mutmaßlichen Täter vor Weihnachten PHARMA-INDUSTRIE an die deutschen Behörden ausgeliefert. Die Opfer sind oft wohlhabende Mittel- ständler. Im Fall von Hechingen hatte Im Fusionsfieber der Besitzer eines Sägewerks Verdacht geschöpft und die Polizei alarmiert. Ge- harma-Anleger können sich auf ein der Firmen erreichten die Kurse zeit- gen drei weitere mutmaßliche Betrüger Plebhaftes Jahr gefasst machen, ob- weise neue Jahres-Höchstwerte. Ein Zu- ermitteln Hamburger Staatsanwälte seit wohl die nahe Zukunft der Branche eher sammengehen der beiden französischen Herbst 2002. Sie sollen „einen vermö- skeptisch beurteilt wird. Steigende Kos- Unternehmen, über das bereits seit ei- genden alten Herrn in der Schweiz“ ten für die Forschung auf der einen und nem Jahr spekuliert wird, gilt unter Ex- betrogen haben, bestätigt ein Sprecher. Preisdruck auf der anderen Seite lassen perten als wahrscheinlich. „Wenn starke Laut einer Strafanzeige beträgt der eine Zunahme der Gewinne nur bedingt Konkurrenz herrscht und die Kosten Schaden rund 13 Millionen Schweizer zu. Die Pharma-Aktien werden deshalb, hoch sind, gibt es für Fusionen gute Franken. Insider gehen davon aus, dass so die meisten Analysten, im erwarteten Gründe“, heizte Novartis-Chef Daniel die Summe beinahe doppelt so hoch Aufschwung eher zurückbleiben. Als Vasella vorige Woche die Stimmung wei- liegt. Um dem betagten Ex-Industriellen Ausweg aus der Preis-Kosten-Klemme ter an, ohne die Gerüchte, er sei an die Phantasiewerte der Steine plausibel bieten sich Fusionen an. Entsprechend Schering interessiert, zu kommentieren. zu machen, nutzten die Täter schau- lebhaft wird spekuliert. Vorige Woche Das Fusionsrumoren in der Pharma- spielerische Qualitäten: Bei der Überga- profitierten die Werte von Aventis und Industrie wird jedenfalls weiterhin für be eines vermeintlichen Topdiamanten Sanofi-Synthélabo. Trotz Dementis bei- Bewegung an der Börse sorgen. sorgten falsche Scheichs für ein hoch- karätiges Ambiente.

der spiegel 5/2004 53 Wirtschaft

HIGHTECH „Eine Frage der Ehre“ Deutschland blamiert sich: Ein Exportschlager sollte die Lkw-Maut werden, ein Aushängeschild für die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft. Stattdessen entwickelte sich das ehrgeizige Projekt zum Desaster – und zu einem Lehrstück über hilflose Politiker und überforderte Manager.

orgens um halb fünf verlässt An- er, „die ausländischen Kollegen lachen was Hecke nicht aussprechen muss, weil es dreas Hienz das Bett in seinem mich aus.“ ohnehin klar ist. Sein Sprecher aber gönnt MFührerhaus, wirft die Kaffeema- Nicht nur an den Raststätten ist die Scha- sich den kleinen Triumph. Der Wettbewerb schine an und macht seinen Laster startklar denfreude über die Deutschen und ihr der Mautsysteme erinnert ihn, wie er sagt, für die Fahrt über den Brenner. nicht funktionierendes Hightech-Mautsys- an die Fußball-WM 1978 – damals, in Cór- 30 Minuten später endet das Nachtfahr- tem groß, auch in Wien. Walter Hecke will doba, gewann der Fußballzwerg Österreich verbot für schwere Lkw in Österreich. das gar nicht verbergen. Der Chef des gegen Deutschland mit 3:2. Hienz rollt dann von seinem Parkplatz im staatlichen Autobahnbetreibers Asfinag re- italienischen Sterzing über die Grenze am sidiert direkt am Stephansdom. In seinen o weit also ist es schon. Die Industrie- Alpenpass. 26 Tonnen Fliesen hat er hinter Fluren erklingt Walzermusik, vom Straßen- Snation Deutschland wird mit ihrer Fuß- seinem Rücken geladen und vor sich ein pflaster ist das Pferdegeklapper der Fiaker ball-Nationalmannschaft verglichen, die Bergpanorama, das ihn für alles entschä- zu hören, und Hecke strahlt. mittlerweile froh sein muss, wenn sie gegen digt: die Staus, den Stress und die billigen Ausschreibung, Vergabe, Umsetzung, Island und Litauen ein Unentschieden her- Fertiggerichte, die er sich täglich auf einem Start: In Österreich lief „alles perfekt zu- ausholt. Gaskocher erwärmt. Wenn er die schnee- sammen wie in einem guten Uhrwerk“, Dafür sorgt ausgerechnet ein Milliar- bedeckten Gipfel im Morgenlicht sieht, sagt sagt Hecke. Ungarn, Tschechen und Slo- denprojekt, mit dem Deutschland sich in er, „dann hat sich die Fahrt gelohnt“. waken haben sich schon für seine Go-Box einer Zukunftstechnologie weltweit an die Hienz ist 52. Seit 1973 macht er diesen interessiert, weil sie so gut funktioniert. Im Spitze setzen wollte. Es ist der gemeinsa- Job, und er liebt ihn noch immer. Seine Gegensatz zum deutschen Mautsystem, me Versuch von Politik und Industrie, das Motoren wurden immer stär- ker, die Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten deut- Traum vom Hightech-Verkehr lich strenger – viel mehr hat Das automatische Lkw-Mautsystem mit sich nicht geändert in den Satellitenortung Jahrzehnten. Dann kam Gerhard Schrö- Fahrzeuge im automatischen Mautsystem wer- der an die Regierung und den mit einer „On Board Unit“ (OBU) ausgerüstet. machte mit Dosenpfand und Dieses Gerät besteht aus einem GPS-Empfänger, Ökosteuer Politik. Seither einem Bordcomputer mit Software für Er- kauft Hienz Sprudel und Sprit kennung und Berechnung mautpflichtiger in Österreich. Inzwischen be- Strecken und einem Mobilfunk-Sender. kommt der Bayer die Folgen der großen Politik noch direk- ter zu spüren: in seinem Füh- rerhaus. Da ist das radiogroße Maut- gerät von Toll Collect. 13 Tas- ten leuchten orange. Weitere Lebenszeichen gibt es von dem Gerät seit Monaten nicht. Und da ist die Go-Box der Österreicher, nicht größer An über die Auto- als eine Zigarettenschachtel. bahnen verteilten Kon- Hienz hat sie mit einem trollbrücken werden alle Handgriff an die Windschutz- durchfahrenden Lkw überprüft. Fährt ein scheibe geklebt. Über eine mautpflichtiger Laster Die Zentrale einzige Taste gibt er die Zahl ohne OBU oder ist diese sammelt die stän- der Achsen ein, die den Tarif abgeschaltet, wird das dig eintreffenden bestimmen. Wenn er dann un- Nummernschild fotogra- Gebührendaten ter einer Mautbrücke durch- fiert. und zieht den fährt, macht es „pieps“. Das Mautbetrag von war’s. „Idiotensicher“, sagt der Spedition ein.

Lastwagenverkehr (auf der A 4)

Wer fährt, soll zahlen / DDP MILLAUER NORBERT

54 der spiegel 5/2004 schafft, neue Jobs bringt und allen beweist, der dann eintritt, auch voll ersetzt werden. wie fortschrittsfähig Deutschland ist. Es werde dann, sagt er, „ein Donnerwetter Stattdessen Hohn und Spott. Über die geben“. Weltkonzerne DaimlerChrysler und Tele- Die Drohung des Kanzlers ist der jüngs- kom, die eine neue Technologie nicht in te Akt in einem traurigen Stück, bei dem den Griff bekommen. Über Verkehrsmi- sich mittlerweile alle die Verantwortung nister Manfred Stolpe, der den Managern gegenseitig zuschieben: Ist die deutsche zu lange vertraute. Über seinen Vorgänger Industrie unfähig, haben Politiker versagt Kurt Bodewig, der sich von der Industrie oder beide? Und spielte möglicherweise über den Tisch ziehen ließ. Und über ein auch der den Deutschen nachgesagte Per- Land, das sich schon bei anderen Großpro- fektionswahn eine Rolle, nach dem eine jekten wie dem Transrapid blamierte. große Lösung, die nicht funktioniert, bes- Neben dem Imageschaden steht in der ser ist als eine kleine, die klappt?

STEPHANIE PILICK / DPA PILICK STEPHANIE bisherigen Bilanz ein hoher Einnahmever- Minister Stolpe, Kanzler Schröder lust für den Staat: Weil das Mautsystem on dieser Dachterrasse im 22. Stock- Dann gibt es „ein Donnerwetter“ nicht funktioniert, entgehen ihm seit dem Vwerk hat Klaus Mangold einen Blick, 31. August vergangenen Jahres jeden Mo- um den ihn der Kanzler beneidet. Wer hier erste satellitengestützte System zum Erfas- nat 156 Millionen bis 180 Millionen Euro oben in der Konzernzentrale von Daim- sen und Abrechnen einer Straßenbenut- Einnahmen. Bislang fehlen 780 Millionen lerChrysler Services am Potsdamer Platz zungsgebühr aufzubauen. Nicht in Kas- Euro, Ende dieses Jahres könnten es knapp steht, der sieht auf Berlin wie auf eine senhäuschen soll das Geld eingetrieben 2,8 Milliarden Euro sein. Modelleisenbahn. Fernsehturm, Branden- werden, wie in Italien und Frankreich, und Kanzler Gerhard Schröder, der gerade burger Tor, Tiergarten, die Spree, Reichs- auch nicht mit Mikrowellensendern, wie einen Innovationsschub für Deutschland tag, Kanzleramt und Bundesratsgebäude, in Österreich. Sondern durch ein System, fordert, ist stinksauer. Kaum einer redet alles im Maßstab 1:87. mit dem auch der Verkehr gelenkt werden über Zukunftsprojekte. Stattdessen ist, so An einem Juni-Abend im Jahr 2000 kann, weil die Preise für überlastete Auto- Schröder, eine „leidige Debatte“ darüber stand Mangold auf der Terrasse und refe- bahnen erhöht und für weniger befahrene entbrannt, wie innovationsfähig das Land rierte über die Geschäfte der Daimler- gesenkt werden können. und seine Industrie noch sind. Chrysler-Tochter. Es nieselte, die Sicht An dieser Technologie sind viele Staaten Für die Industrie gilt ein Ultimatum. Bis war schlecht, Mangold aber bester Laune. und Städte in Nordamerika, in Asien und zum 31. Januar muss sie einen neuen Sein Unternehmen verdiente hervorragend Europa interessiert. Das Hightech-System Starttermin nennen. Wenn der wie- mit der Finanzierung von Auto- könnte ein Exportschlager werden, der den der nicht eingehalten wird, droht käufen und Fahrzeugleasing. Ins Unternehmen Milliardeneinnahmen ver- Schröder, dann müsse der Schaden, Schwärmen aber geriet der Ma-

GPS-Satellit

Problem: Bislang unzureichende Ver- Das OBU-System empfängt ständig breitung von OBU. Die dazugehörige die Signale des GPS-Ortungssatelliten Software arbeitet unzuverlässig. und berechnet die Position des Lkw. Mautpflichtige Strecken sind in einem digitalen Atlas für ganz Deutschland „On Board Unit“ gespeichert. Erreicht das Fahrzeug die Autobahn, erkennt das Programm die Mautpflicht. Problem: Wenn die USA das GPS- Vor Fahrtbeginn gibt der Fahrer einer System in Krisenzeiten unscharf stel- Spedition die Fahrzeugdaten in den Bord- len würden, wäre die Ortung gestört. computer ein. Die Maut für Lkw ab 12 Ton- nen beträgt zwischen 9 und 14 Cent je Ki- lometer. Der Betrag richtet sich nach der Zahl der Achsen und der Emissionsklasse eines Fahrzeugs.

Fahrzeughalter, für die sich der Einbau eines Bordcomputers nicht lohnt, etwa weil sie nur gelegentlich Mautstrecken nutzen, müssen vor Fahrtbeginn an bundesweit aufge- stellten Mautautomaten oder übers Internet ihre Gebühren entrichten. Der Gebührenzähler regi- striert exakt, die Länge der Problem: Wie bei den Bord- gefahrenen mautpflichtigen computern sind auch bei den Strecke. Per Mobilfunk werden Mautautomaten Software- die Daten unmittelbar an die Fehler aufgetreten. Mautzentrale gesendet.

der spiegel 5/2004 55 Wirtschaft

Uneinheitliche Systeme Die Lkw-Maut in europäischen Ländern * GPS: Satellitengestützte Positionsbestimmung ** GSM: Mobilfunkstandard FRANKREICH ITALIEN ÖSTERREICH SCHWEIZ DEUTSCHLAND (geplant) UMFANG Autobahnen Autobahnen Autobahnen Gesamtes Autobahnen (außer Ballungszentren) (mit Ausnahmen) Straßennetz Mauterhebungssystem für Lkw ab 12 Tonnen: Elektronische Erfassung und SYSTEM Feste Mautstellen: Je nach Autobahn: Die „Go-Box“ sendet Elektronisches Mautsys- Abrechnung per „On Board Unit“ über für Lkw über Bei der Einfahrt wird Mautstellen wie in Mikrowellensignale, tem: Das Erfassungsgerät GPS* und GSM** bzw. Buchung einer 3,5 Tonnen ein Ticket gelöst und Frankreich oder Zah- die von Antennen registriert Kilometer über Strecke per Internet oder Terminals bei der Ausfahrt lung einer Pauschale an Mautportalen einen Tachoimpuls. GPS* an Tankstellen beglichen. bei der Auffahrt. registriert werden. dient nur zur Kontrolle. Weitere Möglichkeiten des Systems: Ausländer können über Aktive Verkehrssteuerung, Logistik- eine ID-Karte abrechnen. Management, spätere Ausweitung auf Pkw und Bundesstraßen ZAHLUNG Bar, Kreditkarte Bar, Viacard, Tele- Bar, EC-/Kreditkarte, Bar, EC-/Kreditkarte, Bar, EC-/Kreditkarte, Abbuchung, pass, EC-/Kreditkarte Tankkarte Abbuchung, Tankkarte Tankkarte BERECHNUNGS- Entfernung, Entfernung, Entfernung, Gewicht, Entfernung, Entfernung, Zahl der Achsen, GRUNDLAGE Autobahnabschnitt Autobahnabschnitt Zahl der Achsen Emissionsklasse Emissionsklasse nager erst, als er von der Zukunft sprach. bei DaimlerChrysler nicht recht voran. Der Lastwagengeneration. Aber Mangold ist Die DaimlerChrysler-Tochter werde zu- Vorstoß der Bundesregierung, ein Maut- Optimist. Zusammen mit dem Partner sammen mit der Telekom ein hochinnova- system einzuführen, muss Mangold da Telekom werde man die Probleme lösen. tives System entwickeln, das beispiellos in wie ein Geschenk des Himmels vorge- „Sehen Sie“, sagte er an jenem Abend in der Welt sei. kommen sein. Berlin, „die Wolken verziehen sich schon.“ Mit ihm könne der Staat die geplante Die Spediteure wären gezwungen, eine Lkw-Maut kassieren. Aber mit dem Stich- Obu in ihre Laster einzubauen, wenn sie uch Politiker träumen gelegentlich. wort Maut sei das Hightech-System nur die Fahrzeuge nicht umständlich an Maut- AUnd die Maut ist für deutsche Ver- unzureichend beschrieben. Mangolds For- automaten anmelden wollten. Und wenn kehrspolitiker so etwas wie ein immer wie- mel, die er wie ein Mantra wiederholte, die DaimlerChrysler-Tochter beim Aufbau derkehrender Traum. lautete: „Maut und mehr“. des Systems dabei wäre, dann könnte sie Manfred Stolpe ist bereits der 13. Ver- Seit Jahren arbeiteten Forscher bei dafür sorgen, dass diese Obus neben der kehrsminister, der sich mit einer Abgabe Daimler-Benz an Systemen, mit denen der Mautabrechnung auch noch all die tollen für den Schwerlastverkehr beschäftigt. Vie- Autohersteller seinen Kunden Telematik- Telematikleistungen ermöglichen. le versuchten sich daran und sind geschei- Dienste verkaufen will. 1996 meldeten sie Für DaimlerChrysler sollte diese Stra- tert, an der Lobby der Spediteure, an der ein Patent darauf an, wie die satellitenge- tegie der Vorstoß in ein neues Geschäfts- EU oder an der eigenen Unfähigkeit. Ernst stützte Ortung (GPS) der Lastwagen mit feld sein. Für das Projekt Maut in Deutsch- wurde es, als Matthias Wissmann 1993 das dem Mobilfunk im Laster (GSM) verknüpft land, weiß man heute, war es der erste Amt übernahm. Der CDU-Politiker for- werden kann. Damit könnten Spediteure Geburtsfehler: Weil die Obus neben ih- derte, was bis dahin in seiner Partei den Einsatz ihrer Wagen optimieren. Ge- rem eigentlichen Zweck, der Mauterhe- undenkbar war: „eine ökologische Um- stohlene Fahrzeuge könnten aufgespürt bung, noch den vielen Zielen der Industrie orientierung der Verkehrspolitik“. Gleich werden. Und wenn das System noch mit dienen sollten, mussten sie hoch komplex an seinem ersten Arbeitstag verkündete der Fahrzeugelektronik verknüpft wird, sein – und damit zwangsläufig sehr störan- Wissmann: „Der Straßenverkehr muss teu- könnten Lastwagenhersteller per Ferndia- fällig werden. rer werden.“ gnose in Stuttgart feststellen, warum ein Mangold wusste, dass das Projekt Maut Sein Ansatz war einfach und überzeu- Lkw am Brenner liegen geblieben ist. komplizierter ist als die Entwicklung einer gend. Eine neue Lkw-Maut sollte gleiche Es war die Vision eines Autokonzerns, der weltweit Marktführer bei schweren Lastwagen ist und künftig nicht nur mit dem Verkauf seiner Fahrzeuge Geld ver- dienen will. Es war das „mehr“, das Man- gold so begeisterte. Ins Laufen können die neuen Geschäfte aber nur kommen, wenn die Lastwagen mit einem kleinen Zauberkasten ausgerüs- tet werden, einer On-Board-Unit (Obu). In ihr werden die Daten von der Satelliten- ortung und der Fahrzeugelektronik ge- sammelt, und sie kann diese über den Mobilfunk an den Spediteur oder den Autohersteller senden. Diese Obu würde mehrere hundert Euro kosten. Doch die Spediteure wären kaum bereit, so viel Geld für ein unerprobtes System auszuge- ben. Deshalb kam das Projekt Telematik

* Telekom-Manager Josef Brauner, Verkehrsminister Kurt Bodewig und Daimler-Manager Klaus Mangold nach Un- terzeichnung des Mautvertrags am 20. September 2002 in BONESS / IPON STEFAN Berlin. Mautpartner*: Mauscheleien zwischen Minister und Managern

56 der spiegel 5/2004 THOMAS JANTZEN / VARIO-PRESS JANTZEN THOMAS Mautbrücke in Österreich: Ausschreibung, Vergabe, Umsetzung – im Nachbarland lief alles perfekt zusammen

Wettbewerbsbedingungen für deutsche re Lkw werde die Haushaltskasse bald kräf- Vertragsstrafen, heißt es in den Absagen und ausländische Speditionen garantieren, tig aufgebessert. Schon ab Januar 2003, des Verkehrsministeriums, sei eine „hin- die Nutzer an der Finanzierung des Stra- rechnete Bodewig vor, könne Eichel zu- reichende Finanzierung der Projektgesell- ßenbaus und -unterhalts beteiligen und sätzliche Einnahmen in Höhe von 3,4 Mil- schaft nicht gewährleistet“. mehr Güter auf die Schiene verlagern. liarden jährlich in den Haushalt einstellen. „Gedanklich“, wetterte Fela nach dem Dazu brauchte es ein automatisches Zuvor mussten nur noch ein paar Klei- Rausschmiss, habe das Verkehrsministe- Mautsystem, das nur die tatsächlich gefah- nigkeiten erledigt werden. Zuerst beispiels- rium „den Auftrag bereits damals an Daim- renen Strecken berechnet. Nach Tageszeit weise musste man das Milliardenprojekt lerChrysler und die Telekom vergeben“. gestaffelte Tarife, überlegte Wissmann, ausschreiben. Spätestens hier, so zeigte sich Das Vodafone-Konsortium zog gegen die könnten den Verkehr besser steuern und später, geriet das größte Infrastrukturpro- Entscheidung vor Gericht – mit durch- die Laster zum Beispiel aus dem Berufs- jekt des Landes auf die schiefe Bahn. schlagendem Erfolg. Der „Gleichbehand- verkehr heraushalten. Schon bei der Ausschreibung unterliefen lungsgrundsatz“, entschied das Oberlan- Nur leider: Die Technik war noch nicht Bodewig entscheidende Fehler. In dem of- desgericht Düsseldorf einige Monate später, so weit. Im Januar 1995 führte die Regie- fensichtlichen Bestreben, dem einzigen im Dezember 2001, sei während des Ver- rung deshalb eine Eurovi- fahrens eklatant missachtet worden. Die gnette für Lkw ein, die zu- Der erste Starttermin der Maut zum Bürgschaftserklärungen seien ausreichend letzt bis zu 1550 Euro im gewesen. Das gesamte Verfahren, so die Jahr kostete. Das System 1. Januar 2003 war nicht mehr zu halten, Kammer, müsse neu aufgerollt werden. war, wie Wissmann sagt, Das war mehr als peinlich für Bodewig. „ökologisch und verkehrs- Eichels Finanzplanung drohte zu kippen. Es brachte ihn und die rot-grüne Bundes- politisch eine Krücke“. regierung richtig in Bedrängnis. Denn der Es verging ein halbes Jahrzehnt, bis die deutschen Konsortium den Milliardenauf- geplante Mautstarttermin am 1. Januar Industrie signalisierte: Es ist machbar, das trag zuzuschanzen, machte er das Verfah- 2003 war nicht mehr zu halten. Eichels Fi- neue Hightech-System zur Mauterfassung. ren anfechtbar. Ein Gericht konnte den Mi- nanzplanung drohte zu kippen, ausge- Ein Traum vieler Verkehrsminister schien nister später zwingen, ausgeschlossene Be- rechnet im Jahr der Bundestagswahl. in Erfüllung zu gehen. werber wieder anzuhören. Der Zeitplan Das Gericht verfügte, dass das Voda- war nicht mehr einzuhalten. fone-Konsortium Ages wieder am Aus- en Startschuss für das Milliardenpro- Neben DaimlerChrysler und der Tele- schreibungsverfahren beteiligt werden Djekt Maut sollte in Deutschland ein kom bewarb sich ein Konsortium namens müsste. Ein halbes Jahr später, im Juni Mann geben, dessen berufliche Karriere Ages, das vom britischen Handy-Giganten 2002, schloss das Ministerium Ages ein sich bis dahin vor allem im Deutschen Ge- Vodafone und einigen Mineralölkonzernen zweites Mal aus dem Bieterwettstreit aus. werkschaftsbund abspielte, bei dem er vie- getragen wurde. Außerdem trat der Wieder drohte Ages mit einer Klage. le Jahre als Abteilungsleiter Sozialpolitik Schweizer Verkehrsspezialist Fela an, der Dermaßen in die Enge getrieben, unter- gewirkt hatte: Kurt Bodewig. als Referenz den Betrieb eines funk- breitete das Bodewig-Ministerium den Un- Auf den Posten des Verkehrsministers tionstüchtigen Mautsystems in seinem Hei- terhändlern von Telekom und Daimler- wurde Bodewig im November 2000 eher matland vorweisen konnte. Chrysler einen verwegenen Plan. Ages, so durch einen Zufall gespült. Der affärenge- Nach kurzer Prüfung schloss das Ver- geht aus Unterlagen von Toll Collect her- schüttelte Reinhard Klimmt trat zurück, kehrsministerium erst die Fela und dann vor, sollte nach dem Willen des Bundes und Kanzler Schröder musste schnell Er- das Ages-Konsortium aus dem Bieterwett- von der Telekom und DaimlerChrysler an satz finden. Er holte sich die eine oder an- streit aus. Begründung war in beiden Fäl- dem Milliardenauftrag beteiligt werden und dere Absage, bevor er auf den SPD-Abge- len nicht die mangelnde Technik, sondern dafür auf weiteren Einspruch verzichten. ordneten Bodewig (Wahlspruch: „Hier die angeblich unzureichende Finanzkraft. Toll Collect willigte ein. Rund 20 Prozent kommt Kurt“) verfiel. Die Ausschreibung forderte mehr als 7,5 des Auftragsvolumens gingen an das Kon- Im neuen Amt stand Bodewig gleich un- Millionen Euro Schadensersatz von den kurrenzkonsortium. Das zog die bereits ter Druck. Finanzminister Hans Eichel Betreibern für jeden Tag, an dem das Sys- vorbereitete Klage beim Gericht in Düs- musste sparen, und Bodewig konnte ihn tem zu spät in Betrieb genommen würde, seldorf zurück. nur mit einem Versprechen abwehren. 2,7 Milliarden Euro für ein Jahr. Vor dem Doch die Mauscheleien zwischen Ver- Durch die Einführung der Maut für schwe- Hintergrund möglicher milliardenschwerer kehrsministerium und den beiden deut-

der spiegel 5/2004 57 NORBERT MICHALKE NORBERT Toll-Collect-Zentrale in Berlin: Die Obus kollabierten, die Positionen der Lkw wurden falsch erfasst, die Abrechnungen stimmten nicht schen Konzernen hatten Folgen. Kaum dicke Vertragswerk und damit zwei ent- ter T-Systems, meldeten: Mit der eigenen war der letzte Wettbewerber aus dem scheidende Fehler des Systems: eine un- Arbeit, ein riesiges Rechenzentrum für Toll Rennen, war Toll Collect nicht mehr be- realistisch kurze Einführungszeit und viel Collect aufzubauen, sei man zwar im Plan. reit, die in den Ausschreibungsbedin- zu geringe Schadensersatzzahlungen. Aber mit den Obus, die in die Lastwagen gungen verankerten Vertragsstrafen zu Möglicherweise ahnten die Beteiligten, eingebaut werden müssen, gebe es offen- akzeptieren. dass dies keine Meisterleistung war. Große sichtlich Schwierigkeiten. Telekom-Vor- 7,5 Millionen Euro für jeden Tag, den Feiern, erinnert sich Bodewig, habe es stand Brauner schaltete die Unterneh- das Mautsystem später startet – das sei für nicht gegeben: „Ein kleines Schlückchen mensberatung AT Kearney ein. Sie sollte Toll Collect nicht tragbar, teilte Daimler- Sekt reichte aus.“ prüfen, ob die Einführung des Mautsys- Chrysler-Vorstand Mangold dem Ver- tems gefährdet ist. kehrsminister im September 2002 endgül- ur ein kleines Schild am Eingang zur Das Ergebnis war alarmierend. Gegen tig mit. Für die Konzerne wären solche NLinkstraße 2, nahe dem Potsdamer den Starttermin im August erhoben sie Strafen ein „Dealbreaker“. Platz, weist darauf hin, dass hier jenes Un- erste Bedenken. Einiges deute darauf hin, Der Minister, der das Projekt unbedingt ternehmen beheimatet ist, das seit Mona- dass die Einführung möglicherweise ver- vor der Bundestagswahl festzurren wollte, ten im Zentrum des Mautdebakels steht: schoben werden müsse. Toll-Collect-Chef kam den Konzernen entgegen. Die ersten Toll Collect. Rummel aber beteuerte vor der eigenen drei Monate nach dem Start sollten gar kei- Belegschaft und vor Kame- ne Strafzahlungen fällig werden. Danach Beim ersten Massentest kam es zum Chaos, ras stets nur das eine: Man weitere drei Monate lang 7,5 Millionen habe alles im Griff. Euro – allerdings nicht pro Tag, wie in der nichts lief mehr, und das Schlimmste Im Juli liefen dann die Ausschreibung gefordert, sondern pro Mo- ersten so genannten Mas- nat. In Relation zu den möglichen Einnah- daran: Niemand wusste, woran das lag. sentests, bei denen nicht meausfällen von zunächst 156 Millionen mehr jedes einzelne Teil des Euro monatlich eine höchst bescheidene Nach Gründung der Gemeinschaftsfir- Mautsystems für sich geprüft wird, son- Summe. ma von Telekom (45 Prozent), Daimler- dern alle zusammengeschaltet wurden: die Im Gegenzug kamen die Konzerne dem Chrysler (45 Prozent) und dem französi- Satellitenortung der Lkw, die Obus, die Minister bei seinem Wunsch nach einem schen Autobahnbetreiber Cofiroute (10 Kontrollgeräte auf den Autobahnbrücken, frühen Starttermin entgegen. Sie akzep- Prozent) gab hier Michael Rummel, der die Einbuchungsgeräte an den Raststätten tierten den 31. August 2003. zuvor bei DaimlerChrysler Services gear- und die Abrechnungscomputer. Ihnen verblieben gerade mal elf Mo- beitet hatte, den Ton an. Der Geschäfts- Das entstehende Chaos ließ sich mit gel- nate, um ihr Hightech-System auf rund führer von Toll Collect hämmerte den Leu- ben oder roten Ampeln kaum darstellen. 12000 Kilometern deutscher Autobahnen ten ein, „wir schaffen es, wir schaffen es“, Die Obus kollabierten. Die Positionen der einzuführen. Experten sind sich einig, und brachte sie dazu, einen Arbeitstag von Lastwagen wurden falsch erfasst. In den dass dies völlig realitätsfremd war. In 12 bis 14 Stunden für normal zu halten. Rechenzentren kam Zahlensalat an. Die Österreich mit seinen knapp 2000 Kilo- Mit einem Ampelsystem wollte der pro- Abrechnungen stimmten nicht. Und das meter Autobahn wurde für das sehr viel movierte Jurist den Fortschritt der Pro- Schlimmste daran: Niemand wusste, wor- schlichtere Mautsystem eine Aufbauphase jektteams kontrollieren. Sie sollten auf an das lag. von 18 Monaten vereinbart. Hatten die Übersichtsplänen mit roten, gelben oder Der Name Rummel war vielen inzwi- Konzerne keine Ahnung von der Komple- grünen Punkten zeigen, ob sie im Plan lie- schen ein Begriff. Wenn der Manager mit xität der Aufgabe, oder waren sie ge- gen, ihn noch erreichen können oder deut- der hohen Stirn auf dem Bildschirm er- blendet vom scheinbar tollen Geschäft mit lich im Verzug sind. Im Frühjahr 2003 zeig- schien, wusste man, was er sagt: „Wir wer- der Maut? ten nur wenige Ampeln Rot. Auf dem Pa- den es schaffen.“ Zwei Tage vor der Bundestagswahl wa- pier schien alles in Ordnung. Doch nun war der Moment gekommen, ren sich Minister Bodewig, Mangold und In der Bonner Telekom-Zentrale aber in dem auch Rummel eingestehen musste: Josef Brauner von der Telekom einig. Ge- gingen erste Warnungen ein. Mitarbeiter Der Starttermin 31. August ist nicht mehr meinsam besiegelten sie das 17000 Seiten von Konrad Reiss, Chef der Telekom-Toch- zu halten. Und es war die Phase, in der bei

58 der spiegel 5/2004 Wirtschaft vielen deutschen Spediteuren anfängliche Wurde der Verkehr wegen einer Baustelle liche Beschlüsse, auch über die Neubeset- Skepsis in Wut umschlug. auf die Gegenspur geleitet, zählte die Box zung der Geschäftsführung, müssen ein- angeblich sogar rückwärts. „Mit dem Sys- vernehmlich getroffen werden. Der Auf- ine alte Scheune, daneben eine winzi- tem machen wir uns lächerlich“, sagt An- sichtsratsvorsitz wechselt im jährlichen Ege Baracke, das ist die Zentrale der An- wander. Seine Kollegen würden ihn, den Rhythmus zwischen einem DaimlerChrys- wander Internationale Transporte GmbH Vizepräsidenten des Verbands, gar „als ler- und einem Telekom-Manager. Zu die- in Rohrdorf bei Rosenheim. Im Chefbüro Schießbudenfigur“ behandeln, weil er sich ser Zeit war Mangold Aufsichtsratschef, von Wolfgang Anwander stapeln sich Um- für den Einbau der Obus engagiert hatte. und er hielt noch an Rummel fest. zugskisten mit alten Rechnungen, die Se- Andere Verbandsvertreter wollten das Heimlich und gegen den Willen von kretärin kommt zweimal die Woche ein Projekt boykottieren – und beschleunigten Rummel schaltete T-Systems-Chef Konrad paar Stunden vorbei. dadurch nur die Fahrt ins Chaos. Reiss zeitweise die Systeme scharf. An- „Die Renditen sind miserabel“, sagt An- Ihr Kalkül: Wenn sich genügend Spedi- hand realer Daten wollte er herausfinden, wander. Er kann das beurteilen, er ist Vi- teure weigerten, die Obus einzubauen, in welcher der zahlreichen Komponenten zepräsident des bayerischen Spediteur-Ver- könnte das System gar nicht starten. Spe- die Fehler auftauchen. Gleichzeitig simu- bands. diteursvertreter meldeten deshalb nur ei- lierte T-Systems an gewaltigen Rechnern Sieben Lkw hat der Unternehmer im Ein- nen Bedarf von 150000 der kleinen Wun- die Abläufe des komplexen Systems. Er- satz, die meisten seiner Fahrer transportie- derkästen an. So viel bestellte Toll Collect gebnis: Viele Einzelkomponenten liefen ren Fliesen von Norditalien nach Oberbay- bei seinen Lieferanten. Als sich im Spedi- fehlerfrei. Doch wenn sie zusammenge- ern. 450 Euro pro Fahrzeug hat er für den teursverband jedoch eine Mehrheit gegen schaltet wurden, häuften sich die Pannen. Einbau der On-Board-Units von Toll Collect den Boykott aussprach, wurde nachgebes- Das ist, erklärt ein Techniker, wie bei ei- gezahlt. Hinzu kommt ein Umsatzverlust sert. Nun sollte Toll Collect 450000 Obus nem Uhrwerk mit vielen Zahnrädern. von je 600 Euro während der langwierigen bereitstellen. Die Firma geriet noch mehr Läuft eines der Rädchen nicht korrekt, Montage. Gesamtkosten: rund 7500 Euro. ins Schleudern. stört es das ganze System und kann es Doch keines der Geräte funktionierte. letztlich sogar völlig lahm legen. Nach dem zweiten Werkstatt-Termin ver- n der Bonner Zentrale der Deutschen Trotzdem waren die Telekom-Techniker sagten vier von sieben Obus, beim dritten ITelekom war das Vertrauen in Toll- zuversichtlich. Die meisten Probleme sei- Mal blieben noch zwei ohne jede Reaktion, Collect-Boss Rummel mittlerweile auf den en zu lösen. Bis auf eines: Immer noch erst im vierten Anlauf waren alle Geräte Nullpunkt gesunken. Lange Zeit hatte sich streikten die Obus. einsatzbereit. Zumindest theoretisch. die Telekom nicht besonders intensiv um Den Auftrag für die Software, die in den Beim Testbetrieb versuchte ein Satellit das Mautprojekt gekümmert. Doch im Sep- kleinen Kästchen dafür sorgt, dass die Da- über Wochen, unter Millionen Fahrbewe- tember forderte Telekom-Chef Kai-Uwe ten richtig ermittelt und übertragen wer- gungen in Deutschland auch die sieben Lkw Ricke auf einer Krisensitzung, entweder den, hatte Rummel an eine Paderborner aus Rohrdorf auf ihrem Weg zu verfolgen. das gesamte Projekt werde begraben, oder Firma namens OMP übergeben. Das klei- Eigentlich ist das nicht schwer: Ein Laster die Telekom übernehme ab sofort größere ne Unternehmen, das sich auf seiner beispielsweise fährt jeden Tag von Plattling Verantwortung. Homepage rühmt, eine Sicherheitssoftware in Niederbayern nach Stuttgart-Zuffenhau- Aber wie sollte die Telekom durchgrei- für ein Gymnasium entwickelt zu haben, sen mit Autoteilen für Porsche. Die Entfer- fen? In der Krise machte sich ein Geburts- war überfordert. nung ist immer dieselbe, 357 Kilometer Au- fehler von Toll Collect schmerzlich be- Mitte September musste Rummel einge- tobahn. Mit dem Taschenrechner ist die merkbar. Toll Collect ist nicht wie ein Un- stehen: Auch der zweite Starttermin, der Maut in Sekunden zweifelsfrei berechnet. ternehmen organisiert mit klarer Führung, 2. November, ist nicht zu schaffen. Im In- Nicht so bei Toll Collect: Mal meldete die sondern eher wie eine Koalition, in der und Ausland war das deutsche Hightech- Obu rund 40 Euro Gebühr, mal 180 Euro. alle Gremien paritätisch besetzt sind. Sämt- Mautsystem für viele längst zum Symbol

Montage einer Mautkontrollbrücke (in Brandenburg): Hohe Kosten, keine Einnahmen Rollende Last Lkw-Güterverkehr auf deutschen Straßen, Verkehrsleistung in Milliarden Tonnen- kilometern 400 354 350

300 ab 1991 Gesamtdeutschland, 2002 Schätzung Quelle: BMV 250 246

200 170 150 Lkw insgesamt 102 100 davon aus- 46 ländische 50 50 Lkw

0 1960 65 70 75 80 85 90 95 2000 JOCHEN ZICK / KEYSTONE

der spiegel 5/2004 59 Wirtschaft deutscher Unfähigkeit und Überheblich- antwortlich für das Desaster. Der ehema- keit geworden. Eine Ursache dafür ließ sich lige Kirchenfunktionär hat den Industrie- nicht mehr verbergen: Missmanagement bossen zu viel und zu lange geglaubt. „Eine der beteiligten Konzerne. Am 14. Oktober bittere Kapitalismuserfahrung“ sei das ge- musste Toll-Collect-Chef Rummel seinen wesen, sagt er später. Schreibtisch räumen. Die Konsequenz, die Stolpe daraus zog, muss so manchen in der Industrie über- as Verkehrsministerium wurde in jener rascht haben. Der Minister wollte plötz- Dkritischen Zeit von einem älteren lich nicht mehr vermitteln und versöhnen. Herrn geführt, der sich eigentlich schon Vom Konsortium forderte er Entschädi- auf die Rente eingestellt hatte: Manfred gung für entgangene Einnahmen und Stolpe. Der ehemalige Ministerpräsident schickte ihm eine Rechnung über 1,2 Mil- von Brandenburg ist eine Notlösung wie liarden Euro. Begründen könnte er dies schon sein Vorgänger Bodewig. Er musste damit, dass das Ministerium von Toll einspringen, weil andere den Posten nicht Collect über die Schwierigkeiten des Sys- wollten. tems arglistig getäuscht wurde. In einem An seine neue Aufgabe ging Stolpe ge- solchen Fall könnte die im Vertrag vorge- nauso heran wie er zuvor als Oberkon- sehene Begrenzung des Schadensersatzes sistorialrat der evangelischen Kirche gear- unwirksam werden. beitet und das Land Brandenburg regiert Stolpe wirft den Konzernen mittlerwei- hatte: Er wollte moderieren, vermitteln, le vor, eine Hauptursache für das Desaster versöhnen. Während Politiker aller Partei- sei „der Hochmut der Unternehmen“. Es ist das Stadium erreicht, Der ehemalige Kirchenfunktionär in dem jeder auf jeden schimpft, Politiker auf die Manfred Stolpe hat den Industriebossen Industrie, Manager auf Poli- tiker, DaimlerChrysler auf zu viel und zu lange geglaubt. die Telekom und die Tele- kom auf DaimlerChrysler. en wegen des verschobenen Mautstarts Ergebnis: Es entsteht für alle Beteiligten Schadensersatzzahlungen von der Indu- der größtmögliche Imageschaden. strie forderten, sagte Stolpe: „Man sollte Im Mautprojekt aber sind die ungleichen sich nicht auf dem Marktplatz verprügeln, Partner weiter aneinander gefesselt. Stolpe wenn man noch zwölf Jahre zusammen- hat kaum eine Alternative. Die Angebote arbeiten muss.“ von Österreichern und Schweizern, den Was sollte er auch machen? Der von sei- Deutschen zu helfen, bringen den Minister nem Vorgänger unterzeichnete Vertrag kaum weiter. sieht nur minimale Schadensersatzzahlun- Das österreichische Mikrowellensystem gen vor. Stolpe hatte kaum Drohpotenzial. eignet sich nicht zur Verkehrssteuerung. Schwer verständlich aber ist, warum er Deshalb ist die Go-Box, wie auch die selbst für den Bodewig-Vertrag noch gute Österreicher eingestehen, nur eine Über- Worte findet: „Damit wurde Toll Collect gangslösung. Und die Schweizer Maut- ein sanfter Einstieg ermöglicht.“ technik kann nicht unterscheiden, ob ein Solche Sätze mögen ihre Wirkung in ei- Lkw auf einer Landstraße oder einer Au- ner Kirche entfalten. Aber es ist nicht die tobahn fährt. Das ist in der Schweiz kein Sprache, die Führungskräfte aus der Wirt- Problem. Dort sind alle Straßen maut- schaft verstehen. pflichtig. Auf Deutschland wäre das nicht Die sehen nur, dass Stolpe gleich nach zu übertragen. Amtsantritt selbst einen Fehler beging: Der Wollte Stolpe, dritte Möglichkeit, die Minister kündigte den Vertrag über die Eu- Vignette wieder einführen, müsste er den rovignette zum August 2003. Er koppelte Auftrag neu ausschreiben. Die Vignette das nicht an die Bedingung, dass dann das Mautsystem für Einnahmen sorgt. Nun hat er gar nichts, weder die 37,5 Millionen Euro monat- lich, die die Vignette ein- brachte, noch die erhofften 156 Millionen bis 180 Mil- lionen des Mautsystems. Als er den Vignettenvertrag kün- digte, konnte man die Schwierigkeiten nicht ahnen, rechtfertigt sich Stolpe. Spätestens seit November 2003, als auch der zweite Starttermin nicht eingehalten

wurde, gilt der Minister in JENSEN / DPA RAINER der Öffentlichkeit als mitver- Produktion der Mautterminals: Zweite Chance

60 der spiegel 5/2004 Ob sich Stolpe auf den Vor- schlag einlässt, war vergange- nen Freitag noch nicht sicher. Einerseits hatten seine Juris- ten signalisiert, dass der Ver- trag durch die „Änderung der technischen Spezifikationen“ einseitig von Toll Collect ge- brochen werde und damit ein neuer Kündigungsgrund vor- liege. Andererseits zeigte sich der Verkehrsminister nicht abgeneigt, die Obu-light-Va- riante vorerst zu akzeptieren. Konzernjuristen werten die

ULI REINHARDT / ZEITENSPIEGEL REINHARDT ULI angedrohte Kündigung eben- Mautmanager Mihatsch: Mehr Zeit, weniger Technik so wie die 1,2-Milliarden- Rechnung des Ministeriums könnte erst im Herbst starten. „Die Alter- denn auch als Drohgebärde. Tatsächlich nativen sind nicht berauschend“, sagt auch würden sich Ministerium und Konzerne Kanzler Schröder. Deshalb nimmt er Daim- kaum vor Gericht streiten. Der Konflikt lerChrysler und Telekom in die Pflicht: um mögliche Schadensersatzzahlungen „Meine Erwartung ist es, dass zwei der be- werde wohl, wie in dem Vertrag verein- deutendsten deutschen Unternehmen das bart, vor einem Schiedsgericht geklärt. auch hinkriegen.“ Auch bei der entscheidenden Frage, wann das System endlich laufen soll, ist uf Peter Mihatsch ruht nun die Hoff- eine Einigung in Sicht. Neuer Starttermin Anung. Der neue starke Mann bei Toll könnte Oktober 2004 sein. Einen Ausstieg Collect ist 63 Jahre alt und das genaue Ge- mag Mihatsch kaum noch in Betracht zie- genteil seines Vorgängers Rummel: Er ist hen. Das Projekt sei für die deutsche In- ruhig, trocken, sachlich und fast schon ein dustrie längst „eine Frage der Ehre“. wenig introvertiert. Vor allem aber hat er Erfahrung beim Aufbau technischer as Herz des Mautsystems schlägt in- Großprojekte. Dzwischen. Immerhin. Es schlägt in ei- Bei Mannesmann hatte Mihatsch das ers- nem Bunker in Münchens Nordwesten. te private Mobilfunknetz in Deutschland Die Schutzräume haben im Zweiten aufgebaut. Später gründete er Arcor, den Weltkrieg Bombenabwürfe und Spreng- einzigen ernst zu nehmenden Wettbewer- versuche schadlos überstanden. Nun ber der Deutschen Telekom im Festnetz. befindet sich im Innern ein Labyrinth weiß Mitte Oktober nahm der Manager erst als getünchter Gänge und Hallen. Kein Ge- Berater und dann als Aufsichtsratschef bei räusch ist zu hören. Nur ab und zu Toll Collect die Arbeit auf. ein leichtes Klicken. Dann hat ein Roboter Was er den beiden Großkonzernen nach ein Magnetband in einen Schacht gesteckt, wenigen Wochen verkündete, traf dort um die Systeme mit neuen Daten zu zunächst auf wenig Gegenliebe. Immer füttern. noch hofften Telekom und DaimlerChrys- Der Bunker gehört zu den bestgehüteten ler, dass sich die Probleme in wenigen Wo- Geheimnissen der Telekom. In ihm hat de- chen beheben ließen. Als neue Starttermi- ren Computer-Tochter T-Systems ein ge- ne wurden Januar oder Frühjahr 2004 waltiges Rechenzentrum untergebracht, gehandelt. Mihatsch beendete solche Spe- das Firmen, Banken und Behörden mit Da- kulationen. Kein Mensch könne zum ge- ten versorgt. Und in einer fast menschen- genwärtigen Zeitpunkt verlässlich sagen, leeren Halle laufen auch alle Daten des wo das System überhaupt stehe. Mautsystems zusammen. Drei Monate lang ließen er und der in- Wir könnten, sagt der zuständige T-Sys- zwischen als Toll-Collect-Geschäftsführer tems-Manager Thomas Pferr, jeden Tag los- eingesetzte Hans-Burghardt Ziermann die legen. Es mag an anderen Stellen Proble- Entwickler unter Hochdruck weiterarbei- me geben, aber das Rechenzentrum läuft. ten und analysierten zugleich alle Syste- In manchen Bereichen arbeitet das Maut- me. Ergebnis: Zwei gravierende Anfangs- system sogar schon mit verblüffender fehler müssen korrigiert werden. Erstens Gründlichkeit. braucht man viel mehr Zeit, und zweitens Fast schon legendär ist der Vorfall mit ei- sind die Obus vorerst nur in einer leicht ab- nem entlaufenen Pferd, das in Nord- gespeckten Variante einsetzbar. deutschland auf die Autobahn trabte und Die Obus light wären nicht in der Lage, von den Kameras einer Mautbrücke erfasst das gespeicherte Kartenmaterial automa- wurde. Es wurde im Computersystem so- tisch zu aktualisieren, beispielsweise wenn fort registriert und – zumindest im Ergeb- es Neubaustrecken gibt. Eine solche Va- nis – richtig einsortiert: „Zwei Achsen, riante soll erst im nächsten Jahr folgen. nicht mautpflichtig!“ Frank Dohmen, Die Technik bekäme eine zweite Chance. Dietmar Hawranek, Frank Hornig

der spiegel 5/2004 61 STEPHANIE MCGEHEE / REUTERS / E-LANCE MEDIA MCGEHEE / REUTERS STEPHANIE Messegelände in Kuweit: Riesiger Baumarkt in der Wüste

braucht würden. Er konnte mühelos 100 IRAK-HANDEL Prozent aufschlagen. Kuweit wirkt wie ein Basar, auf dem das Fieber kurz vor Handelsschluss ausgebro- Nadelöhr des Nachschubs chen ist. Wie ein riesiger Obi-Baumarkt in der Wüste, wo es sich zwischen Moscheen Beim Wiederaufbau des Irak sollten deutsche Firmen eigentlich und McDonald’s gut leben lässt – sieht man mal von den paar hunderttausend Hilfsar- außen vor bleiben. Doch bei der „Rebuild Iraq“-Messe in beitern aus Indien und Bangladesch ab, die Kuweit zeigte sich, dass die Deutschen längst mit im Geschäft sind. den muslimisch-kapitalistischen Gemischt- warenladen am Laufen halten, bevor sie hrista McClellan steht in einer Woche fünf Tage lang um Aufträge gerun- nachts auf die Matratzen ihrer Baracken- Zimtwolke in Halle acht des Mes- gen wurde, hätte auch niemand mit einer lager am Stadtrand fallen. Csegeländes von Kuweit. Sie ist Ver- koreanischen Firma gerechnet, die Bären- Die geografische Lage als Korken auf treterin der Firma Mandelprofi und will poster für Kinder anbietet. Oder mit ku- dem Flaschenhals Irak macht das Emirat zu ihren Beitrag leisten zum Wiederaufbau weitischen Händlern, die „Power-Gin- einem Nadelöhr des Nachschubs. Zwar im Irak. Mit Mandelröstmaschinen. Vor seng“-Pillen und Parfum verkaufen. Das geht es nach Bagdad auch auf dem Land- kurzem war sie auf einer Messe in der Tür- Petro-Emirat komme ihm im Augenblick weg über Syrien und Jordanien, aber der kei, wo ihre Mandeln die Leute „fast nar- vor „wie nach der Wiedervereinigung“, gilt bisher als unberechenbar. risch“ gemacht haben. „Nüsse“, sagt die sagt Hans-Udo Muzel von der deutschen Die Eröffnung der Messe am vergange- 55-jährige Münchnerin, „gehen in diesen Botschaft in Kuweit. „Hier versucht im nen Montag gerät zu einem diplomatischen Ländern immer.“ Moment jeder alles.“ Showdown. Warum verweilt der kuweiti- Vor der Maschine stehen vier kuweiti- Das hat viel mit dem Hauruckhandel sche Handelsminister Abdullah al-Tawil Mi- sche Geschäftsleute und inhalieren den der Amerikaner zu tun. Insbesondere die nuten länger bei den Briten als bei den Spa- Duft. Ob das auch mit Käse funktioniere, „ugly sisters“, der Öldienstleister Halli- niern? Warum drängelt sich der italienische will einer wissen. „Mit Käse? Das ist doch burton und der Bauriese Bechtel, scheinen Außenhandelsminister auf jedes Foto? Und: kein Junk-Food“, empört sich McClellan finanziell kein Limit zu haben. Mehr als Warum wird die Halle acht beim Rundgang und kippt so viel Zimt in die brodelnde alle anderen Unternehmen profitieren die von der Polit-Prominenz völlig vergessen? braune Masse, dass die Kuweiter in einer beiden Firmen bisher vom amerikanischen Hans-Udo Muzel läuft zum Raum der Pres- Gewürzwolke verschwinden. Kumpelkapitalismus. Von 18,6 Milliarden sekonferenz, fängt den kuweitischen Minis- Der Zimtstaub wabert in den nahen Dollar Wiederaufbau-Aufträgen ging rund ter vor dem Klo ab und zieht ihn freundlich deutschen Pavillon, vorbei an Bildern von die Hälfte an sie, dank ihres Amigo- am verdutzten spanischen Botschafter vor- und dem Brandenburger Systems: Halliburton führt Vizepräsident bei zum deutschen Pavillon. Muzel besorgt Tor. Der Vertreter des deutschen Wirt- Richard Cheney bis heute mit Ruhe- einem ZDF-Reporter Muajjad Hassan als schaftsministeriums muss husten. 300000 standszahlungen auf der Gehaltsliste, und Gesprächspartner, den Vorsitzenden des Euro hat sein Haus für diese Leistungs- bei Bechtel war der ehemalige Außenmi- „Iraqi Business Council“. schau des deutschen Ingenieurwesens nister George Shultz früher Vorstandsvor- Hassan ist ein wichtiger Mann, weil ihm lockergemacht, zu der von Bosch über sitzender und sitzt heute im Aufsichtsrat. gute Kontakte zu den neu eingesetzten ira- Deutz bis hin zu Siemens fast alle angereist Vergangene Woche gestand Halliburton, kischen Ministern nachgesagt werden. Die- sind. Insgesamt schachern 1450 Aussteller dass zwei inzwischen entlassene Mitarbei- se sollen bald über Gelder der Madrider aus über 50 Ländern um Aufträge, darun- ter von einem kuweitischen Händler sechs Geberkonferenz verfügen können, die auf ter 55 deutsche Firmen – obwohl man nicht Millionen Dollar Schmiergeld eingesteckt 15 Milliarden Dollar geschätzt werden. unbedingt den niedersächsischen Torf- und hätten. Hassan spricht in das ZDF-Mikrofon im Viehhändler SAB oder eben McClellans Ein kuweitischer Händler erzählt von Namen des gebeutelten irakischen Volkes Firma Mandelprofi hier erwartet hätte. einem Auftrag von Halliburton. Er habe und guckt traurig. Ihn selbst hat es nicht so Doch während einer Wiederaufbaumes- innerhalb von zwei Tagen 200000 Deos be- hart getroffen: Bis 1990 hat er im Irak gute se für den Irak, bei der in der vergangenen stellen sollen, die für die US-Armee ge- Geschäfte gemacht. Anders als viele iraki-

62 der spiegel 5/2004 Wirtschaft sche Händler, die an der Grenze festsit- nen bezahlt und nicht deutsche Schulden muss: „Wenn die unten wissen, dass ich von zen, weil sie kein Visum bekommen ha- getilgt. oben komme, geht alles“, so Attia. ben, hatte es Hassan leicht: Er kam aus Trotz gegenteiliger Prophezeiungen aus In Kuweit ist Attias Taktik noch nicht Dubai, wo er seit 1992 ein blühendes Ge- den USA sind deutsche Firmen im Irak aufgegangen. Beim Empfang der Industrie- meinschaftsunternehmen mit dem nieder- längst wieder mit im Geschäft. Der Sie- und Handelskammer des Emirats traf er ländischen Elektronikmulti Philips führt. mens-Konzern wird im Nordirak ein GSM- einen kuweitischen Agrotechniker, der Die Kameras surren, die richtigen Fotos Mobilfunknetz installieren und soll in Kir- Probleme mit dem Wüstenboden hatte. Er sind arrangiert. Auf Muzels Gesicht haben kuk dem Bauriesen Bechtel beim Bau eines könne helfen, bot Attia an. „Da muss ich sich rote Flecken gebildet, aber er scheint Gasturbinenkraftwerks helfen. Dabei geht erst meinen Emir fragen“, habe er zur Ant- zufrieden: Wenn Deutschland mit Frank- es um einen Auftrag von rund 95 Millionen wort bekommen. reich auch als „Achse der Wiesel“ gilt – die Dollar, an dem auch Babcock Borsig be- Khalid Kallow lieferte kürzlich über sei- Messe soll wenigstens zeigen, dass einige teiligt werden soll. Die aus der Insolvenz ne Brandenburger Firma Tecnet 15000 Sa- Wiesel schneller wieder auftauchen als ge- wieder auferstandene Oberhausener Rest- tellitenempfänger über Syrien in den Irak. dacht. firma hatte bereits kurz vor Weihnachten Dabei kamen dem gebürtigen Iraker auf Im Grunde waren viele ja gar nicht rich- mit den Amerikanern Kontakt. Per E-Mail der Gegenfahrbahn Landsleute entgegen, tig weg. Unternehmen wie Bilfinger Berger, kam damals ein Hilfsgesuch der Hallibur- die auf dem Markt der Möglichkeiten in Babcock Borsig oder Siemens arbeiten ton-Tochter Kellog Brown & Root (KBR). Bagdad geplünderte Medizintechnik be- längst wieder mit kleinen Teams in Bagdad Ein Mitarbeiter der Amerikaner wollte sorgt hatten und diese nun nach Syrien oder Kirkuk, wo sie seit Jahrzehnten aktiv technisches Equipment ordern – nicht für schmuggelten. Nach der Messe will Kal- sind und früher Autobahnen, Kraftwerke die dringend benötigte Trinkwasseraufbe- low versuchen, wieder nach Bagdad zu und Staudämme gebaut haben. Mitunter reitung, sondern für die Modernisierung kommen, um für einige Kunden Satelli- müssen deutsche Firmen zwar auf alte einer Raffinerie. tenantennen aufzubauen. Kontaktleute der Baath-Partei verzichten, Natürlich verhandele auch Siemens Bereits zweimal verhandelte Kallow mit weiß Arndt Fritsche von der Personalbe- längst „mit allen maßgeblichen Unterneh- dem US-Konzern Bechtel über Aufträge ratungsfirma de Winter & Jahr – denn die men wie KBR und Fluor“, sagt Helmut zum Neubau des Telekommunikationsnet- DPA (L.); STEPHANIE MCGEHEE / REUTERS / E-LANCE MEDIA (R.) MCGEHEE / REUTERS (L.); STEPHANIE DPA Deutsche Messestände in Kuweit*: Stimmung wie nach der Wiedervereinigung säßen im Knast. Aber sich durch Diktatu- Steidle, der für die Region zuständige Ma- zes in Bagdad – ohne Ergebnis. „Die haben ren durchzuwurschteln, das klappte bei nager. Steidle ist mit einer Gruppe deut- meine Mitarbeiter in Bagdad auf einen den deutschen Firmen wie gewohnt auch scher Wirtschaftsvertreter der Nordafrika Dollar Stundenlohn drücken wollen, im Irak ganz gut: Dabei störte das Regime Mittelost Initiative der Deutschen Wirt- während sie selbst das Vierfache veran- Saddam Husseins ebenso wenig wie der schaft (NMI) nach Kuweit gekommen. Wie schlagen“, sagt Kallow. „Total unseriös, ge- Krieg gegen den Iran – im Gegenteil: Im die meisten von ihnen ist er sich sicher, dass nauso wie deren Messestand.“ Rekordjahr 1982, mitten im Krieg, expor- die Amerikaner über kurz oder lang von In Halle fünf hat Bechtel die Parzelle tierten deutsche Firmen Güter für rund 3,8 selbst kommen: „Wir beschäftigen immer- 226 gemietet. Auf einem Pult liegen Milliarden Euro in das Zweistromland. hin knapp 70000 Leute in den USA.“ Auch schlechte Schwarzweißkopien aus dem In- Nach dem verlorenen Golfkrieg blieben die amerikanische Besatzungsbehörde im ternet-Auftritt der Firma. Mitunter ist der die Unternehmen 1991 zwar auf über zwei Irak hat sich schon an die Deutschen ge- Stand nicht mal besetzt. Wen die Ameri- Milliarden Euro Forderungen sitzen, die wandt, bei Mercedes-Benz Geländewagen kaner brauchen, wird sowieso in Hotels der Bund aber nicht selten durch Hermes- geordert und die Bremer Firma Trasco be- bestellt oder in die Army-Camps an der Bürgschaften entschädigte. Nun hofft die auftragt, einen Teil ihrer Flotte zu panzern. Grenze zum Irak, wo praktischerweise die deutsche Regierung zumindest auf eine Im deutschen Pavillon sitzen Khalid Kal- Firmen gleich mit untergebracht sind. partielle Rückzahlung. Doch der Irak ist low und Mohammed Attia. Beide sind mit Eine Zimtwolke zieht vom Mandelstand pleite, und der Insolvenzverwalter heißt der NMI-Delegation gekommen. Attia ist ge- herüber. Bis zum Freitag hatte Christa USA. Und wenn irgendwann wieder mehr bürtiger Ägypter und hat eine kleine Bera- McClellan zwar 120 Visitenkarten verteilt, Öl fließt, dann werden die US-Investitio- tungsfirma in Hannover. Im Prinzip könne er aber nur drei Apparate verkauft. Ein Ku- „vom Flugzeuganlasser bis zur Kläranlage“ weiter will ihr aber Kontakt zur US-Ar- alles besorgen. Sehr gut läuft sein Geschäft mee verschaffen. „Und wenn das klappt“, * Links: Deutz-Manager Werner Bothe, Badir Nassir al- Humeidi, kuweitischer Minister für Öffentliche Arbeiten; mit Ägypten, wo er scheinbar über so hohe so McClellan, „dann ist hier die Hölle rechts: Lebensmittelhändler Jens Schleicher GmbH. Kontakte verfügt, dass er die Stimme senken los.“ Nils Klawitter

der spiegel 5/2004 63 Wirtschaft

achter der Bundesregierung mit ei- nem Einsparpotenzial von vier Mil- liarden Euro. Und die Kunden dürfen auf günstigere Preise und mehr Ser- vice hoffen – allerdings nur, wenn sie sich in der neuen Unübersichtlichkeit zurechtfinden. Internet-Apotheken wie die hollän- dische Firma DocMorris erstatten ihren Kunden heute schon die Hälf- te der Zuzahlung. Mönters Netz- Versand Sanicare gibt zehn Prozent Rabatt auf frei verkäufliche Arzneien. Zudem stundet er chronisch Kran- ken, die viel zuzahlen müssen, die Rechnung bis zu einem Jahr. Die ebenfalls vorige Woche eröffnete Apo AG, ein Zusammenschluss von zwölf Apothekern, gibt den Internet- Kunden grundsätzlich zehn Prozent der Zuzahlung als Rabatt und auf alle Privatrezepte zehn Prozent Nach- lass. Für apotheken-, aber nicht ver- schreibungspflichtige Medikamente

FRITZ STOCKMEIER FRITZ wie Aspirin oder Grippostad dürfen Sanicare-Chef Mönter in seiner Versandapotheke: Enfant terrible der Branche Apotheker nun den Preis verlangen, den sie für richtig halten – sie können also auch mit Sonderangeboten locken. APOTHEKEN „Preiskämpfe werden kommen“, sagt Apo- thekenexperte Arnt Tobias Brodtkorb von der Bad Homburger Unternehmensbera- Fleurop für Pillen tung Sempora. Noch aber können Pharmazeuten damit Die Gesundheitsreform setzt die Apotheken der Marktwirtschaft rechnen, dass die Kunden es nicht gewohnt sind, bei Medikamenten auf den Preis zu aus: Versandhändler steigen ins Geschäft ein, Preiskämpfe werden achten. Nach einer Sempora-Umfrage wür- erlaubt. Zum Nutzen der Patienten – wenn sie sich auskennen. de ein Viertel alle Käufer für Aspirin klag-

ie neue Apotheke im niedersächsi- so die staatlich festgeleg- schen Bad Laer hat nur noch wenig ten Gewinnspannen. Cle- Dgemein mit den überschaubaren vere Unternehmer dürfen Läden der Konkurrenz: Sie ist so groß wie ihre Pillen nun auch in drei Fußballfelder, beschäftigt 150 Mit- Deutschland via Internet arbeiter, und die Pillenpakete rattern auf verkaufen und können sich Fließbändern durch die Hallen. bis zu vier Geschäfte zule- Schon bislang war die Apotheke von gen. Konkurrenten dürfen Johannes Mönter, 56, eine der größten sich mit Rabatten Kunden Deutschlands: Sie belieferte 40 Kranken- wegschnappen, die Profite häuser und 15 Altenheime mit allem „vom sinken. Blutegel bis zum Bleistift“, wie der um- Wenige in der Branche triebige Pharmazeut sagt, der als Enfant zweifeln daran, dass bei terrible der Branche gilt. Am vergangenen der nächsten Reform dann Mittwoch eröffnete Mönter nun seinen das so genannte Fremdbe-

Versandhandel „Sanicare“. Der kann es sitzverbot fällt. Dann dürf- OSSENBRINK FRANK lässig mit der Konkurrenz in den Nieder- ten nicht nur Pharmazeu- Ministerin Schmidt, Supermarkt-Apotheke (in Großbritannien): landen aufnehmen – und verschreckt die ten eine Apotheke betrei- deutschen Kollegen. Selbst Klaus Theo ben. Supermarktketten könnten in ihren los das Doppelte des empfohlenen Preises Schröder, Staatssekretär im Bundesge- Filialen Theken aufstellen und Pillen ver- hinlegen. sundheitsministerium, war extra angereist, kaufen – ähnlich wie Woolworth in Groß- Zudem proben die Pharmazeuten den um sich anzuschauen, wie die Zukunft der britannien oder Wal-Mart in den USA. Für Schulterschluss, um Preiskämpfe zu ver- Branche aussieht. die Mehrheit der deutschen Apotheker ist hindern: „Wir Apotheker bei uns im Vier- Denn seit die Gesundheitsreform seiner das alles der schiere Horror. Aufgeschreckt tel haben uns abgesprochen, dass wir bei so Ministerin Ulla Schmidt (SPD) Gesetz ist, versuchen sie jetzt, mit Einkaufsgemein- was nicht mitmachen“, sagt etwa Lucia sehen sich die deutschen Apotheker aus schaften oder Spezialisierung ihre Markt- Mötting, Inhaberin der Hamburger Ise- ihrer ebenso kuscheligen wie lukrativen position zu bessern. Apotheke. Sie sieht ihre Geschäfte schon Nische in die Marktwirtschaft geschubst: Patienten und Kassen profitieren von deshalb in Gefahr, weil Apotheker seit Jah- Das Preismonopol für rezeptfreie Medi- den Neuerungen: Allein auf Grund der bis- resbeginn bei verschreibungspflichtigen kamente ist zum 1. Januar gefallen, eben- herigen Gesetzesänderungen rechnen Gut- Arzneien nicht mehr rund ein Drittel des

66 der spiegel 5/2004 Packungspreises bekommen, sondern pau- ler Glaeske fordert noch mehr Service: schal 8,10 Euro pro Packung plus drei Pro- „Warum sollten Apotheker auf dem Land zent des Medikamentenwerts. Die alten nicht Hausbesuche machen?“, fragt er. Regeln verlockten dazu, dem Kunden teu- Viele Pharmazeuten suchen ihr Heil frei- re Medikamente zu empfehlen. lich erst einmal in Kooperativen. „Die ver- Nach Analysen der Unternehmensbera- suchen jetzt, sich irgendeiner Gruppe an- tung Sempora soll der Vorsteuergewinn der zuschließen, damit sie in schwierigen Zei- Apotheken im Schnitt von 104000 Euro in ten nicht so allein dastehen“, lästert Un- 2002 auf 60000 Euro in diesem Jahr sinken. ternehmensberater Brodtkorb. Und mindestens 5000 der 21500 Apotheken Als „Schutz- und Trutzbündnis“ gegen im Land, schätzen Experten, dürften die künftige Apothekenketten sieht Ge- Reform kaum überleben. Pharmaziefach- schäftsführer Thomas Worch etwa seine mann Gerd Glaeske von der Universität Parmapharm, einen Zusammenschluss 900 Bremen hält die „Marktbereinigung“ für großer Apotheken. Die Kooperative sei or- notwendig. „Ein Drittel der Apotheken ist ganisiert „wie Edeka oder Intersport“ – überflüssig“, meint der Professor. unabhängige Geschäfte, die von gemein- „Die Apotheker müssen sich jetzt be- samem Marketing und Einkauf profitieren. wegen, und das sind sie kaum gewohnt“, Mitgliedsapotheken zahlen 2800 Euro Auf- sagt Heinz Günter Wolf, reformfreudiger nahmegebühr und 100 Euro monatlich. Vize-Präsident der Apothekerverbände. Ähnlich funktionieren auch die meisten Statt mit Sonderangeboten sollten sie Pa- anderen Kooperationen. Die „Virtuelle Apo- theke“ mit mehr als 750 Phar- mazeuten etwa setzt auf um- fassende Gesundheitsinfor- Bittere Pille mationen im Internet. Von Die neue Regelung für Zuzahlungen bei Arzneimitteln Mitte des Jahres an sollen Kunden dort direkt bestellen. Arzneimittel- Zuzahlung seit bisherige Der Auftrag geht dann weiter preis 1. Januar 2004 Regelung: an die nächstgelegene Mit- gliedsapotheke, die das Medi- bis zu 5 Euro Zuzahlung je kament per Boten liefert – das 50 Euro nach Packungs- Fleurop-Prinzip für Pillen. größe entweder Besonders argwöhnisch 50 bis 10 Prozent des beobachten die Apotheker 100 Euro Arzneimittelpreises 4 ¤, 4,50 ¤ oder 5 ¤. Höchstens jetzt ihre eigenen Großhänd- über jedoch der ler: Firmen wie Gehe, Anzag 100 Euro 10 Euro Arzneimittelpreis. und Phoenix scharen, teils über Verbände, niedergelas- sene Pharmazeuten um sich. Gern mit einem einheitlichen Logo – so baut man eine Marke auf. „Das ist die Vorstufe zur Kette“, sagt Unterneh- mensberater Brodtkorb, und für ihn ist das durchaus kein Schreckgespenst: Ket- ten könnten sich gegenüber der Pharmaindustrie besser durchsetzen. Um Erfolg zu haben, reicht es manchmal allerdings, Kun- den mit einer ungewöhn- lichen Idee zu locken. So

JAY WILLIAMS / ASDA PRESS OFFICE / ASDA WILLIAMS JAY gründete der umtriebige Vier Milliarden Euro Sparpotenzial Apothekenfachmann Jens Apermann aus Osnabrück tienten und Kassen mit mehr Service lo- jetzt in Holland die Apotheke für den cken. In Niedersachsen etwa läuft seit ei- Mann. Sie zeigt im Internet Verständnis nigen Monaten das so genannte Haus- für angegriffene Männerseelen („Männer apotheker-Modell mit mittlerweile fast tau- haben im Durchschnitt eine sieben Jahre send Pharmazeuten. Sie legen für ihre kürzere Lebenserwartung“) und führt ein Kunden Dossiers an, in die sie alle ge- sehr breites Sortiment an Potenzmitteln, nommenen Medikamente eintragen und Prostata-Arzneien und Haarwuchsmitteln. auf mögliche Wechselwirkungen prüfen. Vor allem aber werden die Pillen in dis- Bei Bedarf liefert der Apotheker die Arz- kreten, weißen Päckchen nach Hause ge- neien nach Hause. Im Gegenzug ver- schickt. Täglich nehmen 200 Männer die- pflichten sich die Patienten, nur bei ihrer se stille Hilfe in Anspruch, Tendenz stei- Hausapotheke einzukaufen. Wissenschaft- gend. Cordula Meyer

der spiegel 5/2004 67 Wirtschaft

Übrigen machen sich – unabhängig von teile bringt. Der Arbeitgeber braucht kei- MINIJOBS Eichels Plänen – schon jetzt strafbar und ne Sorge vor dem Fiskus zu haben, die könnten theoretisch wegen Steuerhinter- Putzhilfe hätte Anspruch auf Lohnfortzah- Gefahr im ziehung, Betrug sowie Vorenthalten von lung im Krankheitsfall, auf Mutterschafts- Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversi- geld bei einer Schwangerschaft sowie auf cherung belangt werden. mindestens vier Tage Urlaub pro Jahr, die Verzug Dabei ist die Legalisierung der Fami- allerdings der Arbeitgeber zahlen muss. lienhelfer im Prinzip ganz einfach. Über So weit die Theorie. Oft sind die Haus- Die geplante Verschärfung einen so genannten Haushaltsscheck mel- haltshelfer aber gar nicht bereit, sich mel- det der private Arbeitgeber zum Beispiel den zu lassen. Denn viele Minijobber sind im Kampf gegen Schwarzarbeiter die Putzfrau bei der Minijob-Zentrale an. Frührentner oder als Arbeitslose und So- hat viele Bundesbürger Die neue Behörde, die im Rahmen der zialhilfeempfänger registriert. Übersteigt verschreckt. Wie sollen sie künftig Hartz-Reformen entstand, berechnet alle ihr Zusatzgehalt bestimmte Grenzen, re- mit ihren Putzfrauen umgehen? fälligen Steuern und Sozialabgaben und duzieren sich ihre staatlichen Bezüge. Oft bucht das Geld halbjährlich vom Konto des sind Putzfrauen auch in verschiedenen o etwas hatte Ulrich Roppel noch Arbeitgebers ab. Haushalten tätig und kommen so leicht nicht erlebt, seit er im April vergan- Sofern die Putzfrau oder der Gärtner über die 400-Euro-Grenze. Dann wird die Sgenen Jahres die Leitung der neu nicht mehr als 400 Euro pro Monat ver- Arbeit für sie abgabenpflichtig, und auch geschaffenen Minijob-Zentrale die privaten Arbeitgeber können dann und deren Callcenter in Cott- nicht mehr auf die pauschale Abrechnung bus übernommen hatte. Rund der Minijob-Zentrale zurückgreifen. 8000 Anrufe pro Tag hatten dort Viele Familien lassen deshalb ihre Hel- seine Mitarbeiter im Schnitt der fer lieber schwarzarbeiten und vertrauen vergangenen Monate zu bear- darauf, auch weiterhin nicht erwischt zu beiten. werden. Denn selbst wenn Eichels Kon- Doch Anfang Januar brach trolleure demnächst ausschwärmen, sollen bei dem neuen Ableger der tra- sie vor allem nach dubiosen Firmen und ditionsreichen Bundesknapp- nicht in Privatwohnungen fahnden. schaft mit einem Mal das Cha- Wirklich Gefahr im Verzug ist dagegen, os aus. Bis zu 25 000 Bundes- wenn die Putzfrau von der Leiter fällt. bürger versuchten täglich, die Krankenversicherungen oder private Haft- Minijob-Zentrale zu erreichen. pflichtpolicen helfen dann nämlich nicht „Wir haben alle Möglichkeiten weiter. Dafür ist die gesetzliche Unfallver- ausgeschöpft, um den Arbeits- sicherung zuständig, die für häusliche Ar- mengen gerecht zu werden“, beitgeber ebenfalls Pflicht ist. stöhnt Roppel – und dennoch Um Ärger zu vermeiden, raten Experten

blieben viele in den Warte- WEISFLOG RAINER deshalb, die Putzfrau oder den Gärtner zu- schleifen der Hotline hängen. Der Grund des Ansturms war ein Gesetzentwurf von Hans Ei- Modellrechnung für private Arbeitgeber chel (SPD), der Anfang Januar Beispiel Haushaltshilfe, Jahresangaben in Euro bekannt wurde. Mit mehr Kon- trollen und härteren Strafen will Gehalt der Bundesfinanzminister die (4 Stunden wöchentlich à 8 ¤) 1664,00 Schwarzarbeit energischer be- Steuern und Sozial- kämpfen: 7000 Fahnder sollen versicherungsabgaben, 13,3% + 221,31 künftig Baustellen und Bauern- Unfallversicherung + 36,00 höfe kontrollieren. Und seitdem fürchten viele Deutsche, dass Putzhilfe: Im Prinzip ganz einfach Steuervorteil: 10% der Gesamt- die Fahnder auch ihren illega- ausgaben* können direkt von der len Putzfrauen, Babysittern und Gärtnern dient, sind für den priva- Steuerschuld abgezogen werden – 192,13 nachspüren werden. ten Arbeitgeber pauschal 13,3 Zwar wurde bald klar, dass Eichels Plan Prozent an zusätzlichen Kos- gesamt (bei legaler Beschäftigung) 1729,18 in der ursprünglichen Fassung niemals Ge- ten fällig. Da der Arbeitge- zum Vergleich: gesamt (bei illegaler Beschäftigung) 1664,00 setz werden würde. Doch die Drohung be- ber gleichzeitig 10 Prozent wirkte bereits einen ungeahnten Ansturm dieser Ausgaben, maximal je- *höchstens jedoch 510 Euro jährlich auf die Minijob-Zentrale, die auch für das doch 510 Euro pro Jahr, di- offizielle Melde- und Beitragsverfahren von rekt von seiner Steuerschuld abziehen mindest bei der regionalen Unfallkasse an- so genannten haushaltsnahen Dienstleis- kann, wird die Haushaltshilfe nur unwe- zumelden. Welche der 24 Regionalkassen tungen in Privathaushalten zuständig ist. sentlich teurer. zuständig ist, lässt sich im Internet unter Rund 3,3 Millionen Familien, so schätzt Kommt die Putzfrau zum Beispiel ein- der Adresse www.unfallkassen.de leicht er- das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor- mal wöchentlich für vier Stunden ins Haus mitteln. Die jährlichen Beiträge liegen zwi- schung (DIW), beschäftigen hier zu Lande und kassiert dafür 32 Euro, so steigt der schen 15 und 80 Euro. ein Heer von – je nach Schätzung – 1,2 bis Stundenlohn unter dem Strich von 8 Euro Bei der Anmeldung muss nicht einmal 2,9 Millionen Putzfrauen, Gärtnern, Baby- pro Stunde auf etwa 8,30 Euro. Ein Plus der Name des Beschäftigten genannt wer- sittern, Nachhilfelehrern und sonstigen von vier Prozent, das beiden Seiten Vor- den, und die Unfallkassen versichern aus- Helfern. Doch gerade einmal 38000 Haus- drücklich, dass sie ihre Daten „nicht an an- halte hatten Ende 2003 ihre guten Geister Weitere Informationen unter dere Behörden, Ämter oder Einrichtungen bei der Minijob-Zentrale gemeldet. Alle www.spiegel.de/dossiers weitergeben“. Klaus-Peter Kerbusk

68 der spiegel 5/2004 Wirtschaft

welches Risiko sie eingehen wollen – aber BANKEN sie wissen nicht immer, welche Anlage- strategie und welche Produkte ihren per- sönlichen Wünschen entsprechen. Und da „Auf dem richtigen Weg“ helfen wir. SPIEGEL: Empfehlen Sie Ihrer Klientel Dresdner-Bank-Chef Herbert Walter, 50, über schon wieder Aktien, die ja in letzter Zeit ganz gut gelaufen sind, als sichere, lang- die schwierige Sanierung des angeschlagenen Kreditinstituts fristige Kapitalanlage? und das Verhältnis zum Mutterkonzern Allianz Walter: Sie können heute, mit modernen Kapitalmarktinstrumenten, immer richtig SPIEGEL: Sie sind seit fast zehn Monaten ner Bank als Marke und damit eben auch liegen – egal, ob die Börse steigt oder fällt. Chef der . Wann macht die als Organisation immer noch ein immenses Wir sind seit Januar zum Beispiel mit ei- Bank wieder Gewinne? Potenzial. Eine ihrer Stärken ist es aber nem aktiv gemanagten Strategiedepot am Walter: Auf Basis der September-Zahlen nun auch, dass die Bank ein kleines Blau Markt. Das enthält innovative Produkte, haben wir eine Verbesserung des opera- in sich trägt, das Blau der Allianz. die die Wertentwicklung der Anlage von tiven Ergebnisses erreicht. Das zeigt, dass SPIEGEL: Die Dresdner Bank tritt als Bera- bestimmten Kurstrends weitgehend ent- wir auf dem richtigen Weg sind. Wir sind ter-Bank auf. Was raten Sie einem Kun- koppeln. aber noch nicht über den Berg. Ein Unter- den, der – nicht zuletzt auf Grund der SPIEGEL: Mit anderen Worten: Sie wollen nehmen nachhaltig zu sanieren dauert Empfehlungen seiner Bank – im Börsen- den Kunden Hedgefonds verkaufen, mit eben seine Zeit. hype die Hälfte seines Vermögens verloren denen sie sowohl auf steigende wie auch auf fallende Kurse setzen können. Gewinne und Verluste Walter: Ja, auch. Unsere Grund- 1,6 des Allianz-Konzerns seit der idee ist, dass auch Privatanleger Übernahme der Dresdner Bank von den modernen Finanztech- in Mrd. Euro niken profitieren sollen – und nicht nur ausgefuchste Spezialis- 0,4 ten. Diese Demokratisierung der 2001 2002 2003* Märkte wollen wir für unsere Kunden leisten. –0,2 SPIEGEL: Ihr Mutterkonzern hat –0,5 einen Marktanteil von zehn Pro- –1,2 *1. bis 3. Quartal zent als Zielmarke ausgegeben. Doch davon sind Sie weit ent- –1,4 fernt. Haben Sie nicht Angst, dass Allianz-Segment Bankgeschäft die Allianz einen Schlussstrich seit Juli 2001 Konsolidierung unter ihr kostspieliges Bank- der Dresdner Bank abenteuer setzt – und die Dresd- ner Bank wieder verkauft? Walter: Das glaube ich nicht. Wir SPIEGEL: Viele Ihrer Mitarbeiter haben den haben die Chance, gemeinsam Eindruck, dass Sie die Bank zu einer Ver- eine Spitzenposition bei den Zu- triebsorganisation der Allianz umfunktio- kunftsthemen Anlage, Vorsorge nieren wollen. und Vermögensaufbau zu beset- Walter: Wir wollen die Dresdner Bank zu zen. Dafür werden wir die Chan- neuer Stärke führen. Neben den privaten cen der Zusammenarbeit mit der Kunden wollen wir weiter unsere Firmen- Allianz noch stärker nutzen – bei- kunden mit Schwerpunkten in Deutsch- spielsweise auch dadurch, dass land und Europa betreuen und weltweit die Versicherungsvertreter mehr

begleiten. Daneben behalten wir die In- ARMIN BROSCH Bankprodukte vertreiben. vestmentbank mit ihrem Schwerpunkt in Bank-Chef Walter: „Noch nicht über den Berg“ SPIEGEL: Die Dresdner Bank ist, Deutschland und Großbritannien. Zudem mit nur einem Großaktionär, das verkaufen wir mit wachsendem Erfolg die hat und bei dessen Lebensversicherungen am leichtesten zu übernehmende Kredit- Produkte der Allianz in unseren Filialen. wenige Monate später die Renditen massiv institut: Die Allianz müsste bei einem Aber das allein macht nicht die Dresdner gekürzt wurden? verlockenden Angebot nur sicherstellen, Bank aus. Walter: Wir spüren, dass die Leute wieder dass der neue Eigner auch künftig Allianz- SPIEGEL: „Ob das Modell einer integrier- jemanden brauchen, der sie an die Hand Produkte verkauft. ten Bank und Versicherung funktioniert, ist nimmt und begleitet. Wir haben deshalb Walter: Was sich Journalisten in ihrer Phan- noch nicht bewiesen“, sagt Allianz-Chef in den letzten fünf, sechs Monaten ver- tasie so ausdenken … Michael Diekmann. Wie eigenständig kann, stärkt in jene Kollegen investiert, die in SPIEGEL: Wie viele Angebote gab es denn darf und soll Ihr Haus noch sein? der Beratung tätig sind. schon? Walter: Natürlich werden wir beweisen SPIEGEL: Hat es daran in der Vergangen- Walter: Die Frage ist wirklich irrelevant. müssen, dass unser Modell funktioniert. heit gemangelt? Oder glauben Sie, die Allianz kauft eine Immerhin haben wir – anders als manche Walter: Natürlich haben wir schon vorher Bank wie Sie einen Kaugummi? Das war Wettbewerber – unseren Zielhafen, die Al- auf die Beratung gesetzt, aber auch wir eine Entscheidung, die ausschließlich von lianz-Gruppe, schon erreicht. Das sehen können noch besser werden: Wir müssen langfristigen Überlegungen beeinflusst auch die Mitarbeiter in diesen unsicheren genauer auf die Kunden hören. Viele wis- wurde. Interview: Christoph Pauly, Zeiten positiv. Gleichzeitig hat die Dresd- sen zwar, welche Rendite sie anstreben und Wolfgang Reuter

72 der spiegel 5/2004 Gesellschaft

Klüger werden mit: Christian Riesen

Der 33-jährige Schweizer Autor über Racheaktionen

SPIEGEL: In Ihrem Buch „Schwarz- buch der Rache“ geben Sie 333 Tipps für Racheaktionen. Darf man so etwas überhaupt veröffentlichen? Riesen: Aber sicher, meine Tipps sind als Schmunzelgeschichten geschrie-

FOTOS: CELIA SHAPIRO CELIA FOTOS: ben und enthalten keine detaillier- Henkersmahlzeiten von Tucker, Lawton (beide o.), McVeigh, Rook ten Handlungsanweisungen. Außer- dem betone ich immer wieder, dass FOTOGRAFIE ich nichts von Racheaktionen halte, die sich gegen Unbeteiligte, Kinder oder Tiere richten oder die Umwelt Der letzte Hot Dog schädigen. SPIEGEL: Was sind denn die goldenen eit 1977 wurden in den USA 891 gewünscht hat, oder die zwölf Hot Regeln, damit eine Racheaktion ge- SMenschen hingerichtet. Frühestens Dogs von John Rook. Jedes der dem- lingt? drei Tage vor der Vollstreckung des nächst 50 fertigen Stillleben erzählt Riesen: Unbedingt schweigen und Todesurteils dürfen die Häftlinge eine Geschichten von Gewalt, Vergebung, alles selbst ausführen, damit es keine Henkersmahlzeit bestellen, Sonderwün- Schuld und Hoffnungslosigkeit. Wie die Mitwisser gibt. Ein wenig Zeit ver- sche wie Zigaretten oder Obst werden der unter George W. Bush in Texas hin- streichen lassen, damit der Verdacht gewährt, solange sie nicht teurer sind gerichteten Doppelmörderin Karla Faye nicht auf den Rä- als 20 US-Dollar. Seit vier Jahren foto- Tucker, die 14 Jahre lang auf die Todes- cher fällt. Nicht grafiert die New Yorker Künstlerin Ce- spritze wartete, bis zuletzt hoffte und das eigene Telefon lia Shapiro, 55, die letzten Mahlzeiten wegen ihrer Diät Frühlingssalat und benutzen oder mit der US-Todeskandidaten. Für die Foto- Obst orderte. Oder die von Oklahoma- EC-Karte bezahlen, serie „Last Supper“ kocht sie die Ge- Bomber Timothy McVeigh, hingerichtet damit es keine Spu- richte nach und drapiert sie vor schlich- mit 33 Jahren, dessen letzter Wunsch ren gibt. Außerdem tem, schwarzem Hintergrund, das ein Glas stilles Wasser und ein Becher muss Rache Spaß Glas Gurken, das sich Stacey Lawton Mint-Chocolate-Chip-Eiscreme waren. machen: Ziel ist schließlich die inne- re Befriedigung. SPIEGEL: Rächen WERBUNG auf einem Ast, dann startet sie zum sich Männer und Sturzflug auf ein unter ihr geparktes Frauen gleich? Nur spielen Auto. Das Auto hasst Taubendreck, es Riesen: Eine typi- Riesen wehrt sich: Die Motorhaube springt auf, sche Frauenaktion m Absatztief und Imageprobleme die Taube knallt dagegen, lässt Federn ist, das Auto des Ex-Mannes in ei- Uzu überwinden, erzählt Ford, zweit- und landet tot auf dem Asphalt. Im Ab- nem dieser ungemütlichen Parkhäu- größter Autohersteller der Welt und be- spann steht: „Ford Ka. Der will nur ser am Flughafen abzustellen und kannt für seine tüchtigen, aber langwei- spielen“. Die Idee zum Spot erdachte ihm nur zu sagen, dass es nicht ligen Modelle, ab 1. Februar im deut- die Werbeagentur Ogilvy & Mather, in gestohlen wurde – aber nicht, wo schen Fernsehen eine Geschichte, die so Großbritannien liebte man ihn, trotz genau es steht. Ein Mann würde brutal ist und so blutig, als wäre sie von der Einwände des Königlichen Renntau- wahrscheinlich Beulen in das Auto den Brüdern Grimm erdacht: Eine Tau- ben-Verbandes. Der beruhigte sich erst, treten, Frauen sind da wesentlich be sitzt im Baum, sie gurrt, sie tippelt als klar war, dass keine echte Taube kreativer. sterben musste, sondern eine künstliche SPIEGEL: Wie groß ist das Interesse Taube auf die Motorhaube geschleudert an Ihren Rachetipps? wurde. Mit dem rüden Werbestil, frech Riesen: Zurzeit gehen jeden Tag um gemeint und gleichwohl geschmacklos, die 25 Buchbestellungen ein, die versucht Ford ein neues Image aufzu- meisten aus Deutschland. Bestellt ha- bauen. Man brauche „mehr Sex-Appeal ben das Buch unter anderen ein und liebenswertere Fahrzeuge“. Man Rechtsanwalt aus Stuttgart, eine pri- wolle Menschen erreichen, die „sich vate Detektei und die Generalagen- nichts gefallen lassen“ und durchs Le- tur einer großen Versicherung. Der ben gingen „mit Augenzwinkern und bayerische Lehrerverband und das Lebensfreude“. Zurzeit bastelt Ford an „Y. Magazin der Bundeswehr“ haben einem Nachfolgespot – Tiere, so heißt Ansichtsexemplare bestellt. Ford-Werbespot es, werden nicht wieder mitspielen.

der spiegel 5/2004 75 Szene

Was war da los, Herr Raschid? Der irakische Regisseur Udai Raschid, 30, über seinen ersten Spielfilm „Un- der Exposure“

„Der Held meines Films ist ein einfa- cher irakischer Soldat, der sich nach Ende des Krieges nicht mehr zurecht- findet im Leben. Hier drehen wir gera- de die Szene, in der sein Freund stirbt. Wir sind noch mitten in den Drehar- beiten, und ständig ändert sich etwas, mal bekommen wir keine Drehgeneh- migung, mal fehlt das Equipment. Einen Teil meines Filmmaterials musste ich Leuten abkaufen, die das Kulturminis- terium geplündert hatten. Bagdad ist ein einziges Chaos. Andererseits gibt es derzeit keine bessere Location für ei- nen Film über das Leben und die Lie- be nach dem Krieg. Ich habe lange dar- auf gewartet, hier drehen zu können – ohne dass sich der Geheimdienst am

Set tummelt. Endlich ist es so weit.“ / AP MIZBAN SAMIR

Regisseur Raschid (Kreis) am Filmset

TOURISMUS Filmszene den Kampf gegen ein Crosstrai- INTERNET ner-Fitnessgerät verliert. Zusätzlich erhält Menschen im Hotel der Gast eine Stunde Nachhilfe in Höf- Schaut Pornos lichkeit und japanischer Kultur, eine ie Hauptrolle in Sofia Coppolas gefei- Shiatsu-Massage und einen Stadtplan von und betet Dertem Film „Lost in Translation“ Tokio, in dem die übrigen Schauplätze spielt ein Hotel, das berühmte Park Hyatt des Films markiert sind, etwa die Karao- chlomo Eliahu, Chef-Rabbi von Hotel in Tokio. Es passt sehr schön zum ke-Bar mit Séparée, in dem Murray für SSafed, einer Stadt im Norden Schwebezustand aus Müdigkeit und Ver- Johansson „More than this“ von Roxy Israels, hat sich eines Problems liebtsein in diesem Film, dass die Räume Music singt. Obwohl auch ein allabendli- angenommen, das die Mitglieder des Hotels in den oberen 14 Stockwerken cher Cocktail zum Angebot gehört, buch- seiner Gemeinde quält. Orthodoxe eines Geschäftshauses liegen, fast in den te bisher noch niemand das Pauschalpaket Gläubige berichteten ihm, dass ein Wolken über der Stadt. Von der New- zum Film. Vermutlich, weil die Liebes- schlechtes Gewissen sie plage, York-Bar im 52. Stock aus betrachtet, ist geschichte nicht im Preis inbegriffen ist. wenn sie sich Pornobilder im Inter- Tokio ein fernes, glitzern- net anschauten. Um die Last seiner des Meer. Die Leitung des Schutzbefohlenen zu mindern, Hotels bietet nun ein schuf Rabbi Eliahu ein Gebet: „Bit- „Lost in Translation“-Pa- te, Gott, hilf mir, meinen Computer ket am Drehort an. Für von Viren zu reinigen und von bö- 5000 US-Dollar kann man sen Bildern, die mich verwirren sechs Tage lang in der und meine Arbeit ruinieren … auf Park Suite wohnen, auf dass ich in der Lage bin, mich selbst deren Betten auch Bob zu reinigen.“ Rabbi Eliahu emp- (Bill Murray) und Char- fiehlt seinen Gemeindemitgliedern, lotte (Scarlett Johansson) das Gebet zu rezitieren, wenn sie lagen, und ebenso sehn- sich ins Internet einloggen. Darüber süchtig aus dem Fenster hinaus sollten sie es so program- starren. Im Preis enthal- mieren, dass es auf dem Bildschirm ten ist auch der freie Zu- erscheint, so dass sie spirituell gang zum Spa- und Fit- geschützt seien, wenn sie zufällig

nessbereich, wo Murray FOCUS FEATURES oder absichtlich eine Pornoseite in einer großartigen Johansson in „Lost in Translation“ aufrufen.

76 der spiegel 5/2004 Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Er besichtigte eine Keksfabrik. Das Problem sei bekannt, versicherte man ihm; leider wisse niemand, wie man es lösen könne. Zum Teil seien ganze Die Quadratur des Kekses Chargen betroffen – für die Keksfirmen ein Riesenproblem, denn meistens Ein pakistanischer Student revolutioniert die Gebäck-Industrie. schieben die Käufer die Schuld auf den Hersteller. Jedes Jahr werden allein in er Apparat steht in einem fens- wollte das Keks-Rätsel mit Hilfe der In- Großbritannien 1,5 Milliarden Pfund terlosen Kellerraum und sieht terferometrie lösen: Zwei Laserstrahlen mit Keksen umgesetzt. Die Keks-Frage Dein wenig aus wie eine Büh- werden dabei so auf die Keksoberfläche wurde zur nationalen Aufgabe. ne. „Laserstrahlen“, warnt ein gelb- gelenkt, dass sie sich überlagern. Aus Bei Luftfeuchtigkeiten unter 40 Pro- schwarzes Dreieck an der Tür; in der dem Interferenzmuster lassen sich Rück- zent begann der Keks zu bröckeln, fand Kammer sind ein paar Regale un- schlüsse auf die Oberflächenstruktur Saleem heraus. Offenbar war entschei- tergebracht, ein Schreibtisch und ziehen, eine Methode, mit der unter an- dend, was in den Minuten nach dem ein Kühlschrank, auf dem Kekskrü- derem in der Luftfahrtindustrie gear- Backen passiert. Sobald nämlich der mel liegen. beitet wird. Danach fuhr Saleem in den Keks aus dem Ofen geholt wird, nimmt Qasim Saleem, Student am er am Rand Feuchtigkeit auf. Da- Fachbereich für Physik der Uni- durch dehnt er sich aus. Gleich- versität Loughborough und ange- zeitig verliert er Feuchtigkeit in hender Doktor der Ingenieurs- seiner Mitte, wo er sich dann wissenschaften, steht vor dem kaum merklich zusammenzieht. Apparat und hält einen Keks in So entsteht eine innere Spannung, die Luft. Seiner Hartnäckigkeit die zunächst feine Risse verursacht haben es die Briten zu verdanken, und schließlich zum Bruch führt. dass ein Rätsel, das sie jahrzehn- Kekse brauchen Feuchtigkeit, telang in Ratlosigkeit vereinte, damit sie nicht zerbröseln, und sie endlich gelöst werden konnte: brauchen Trockenheit, damit sie Warum, um alles in der Welt, sind nicht weich werden. Saleem hatte Kekse häufig schon zerbröselt, Aus der „Süddeutschen Zeitung“ die Quadratur des Kekses be- wenn man die Packung öffnet? schrieben. Am Anfang, als alle ihr Thema beka- Seine Studie wurde weltweit ver- men, hielt Saleem das Ganze noch für öffentlicht. Besonders die Keksher- einen Scherz. Es sollte ein dreijähriges steller staunten, denn Saleem wies ih- Projekt werden, seine Kommilitonen re- nen endlich einen Ausweg: Wenn das deten stolz von Oberflächenkontrolle, Hauptproblem darin besteht, dass der Materialprüfung und Sprödigkeit, und Keks nach dem Backen beim raschen er, ausgerechnet, sollte sich um Kekse Abkühlen außen zu feucht und in der kümmern. Mitte zu trocken wird – könnte man ihn Saleem stammt aus Pakistan, aus der dann nicht einfach vorsichtiger ab- Fünf-Millionen-Metropole Lahore, vor kühlen, beispielsweise in einer Mikro- vier Jahren ist er nach England gekom- welle?

men. Er hatte sich um ein Stipendium ONE / PAGE MARSDEN DAVID Ein paar Wochen später lud ihn die beworben, nur zwei Leute aus ganz Pa- Saleem Institution of Mechanical Engineers kistan waren ausgewählt worden. nach London ein. Er habe der Nah- Der 28-Jährige ist schmal und spricht nächsten Supermarkt und kaufte eine rungsmittel-Industrie neue Wege ge- leise, trägt einen Seitenscheitel und ei- Packung Kekse, McVitie’s Rich Tea. wiesen, deshalb habe man sich ent- nen Oberlippenbart. Sein Forschungs- Schnell fiel ihm auf, dass das Bröseln schlossen, ihn mit dem Food Engineer auftrag, so viel verstand er, hing mit der Kekse mit der Luftfeuchtigkeit zu- of the Year Award auszuzeichnen. dem Ritual des Fünf-Uhr-Tees zusam- sammenhängt. Also baute er eine Box Saleem, in Anzug und Krawatte, men, mit dem Glück der Briten also. Ir- aus Plexiglas, in der er die Feuchtigkeit durfte eine kurze Rede halten, seine gendwie, so schien es ihm, ging es um kontrollieren konnte. Er reduzierte die Frau saß unten im Parkett. Längst war die Zukunft Großbritanniens. Er war Luftfeuchtigkeit von 85 Prozent lang- er darauf gekommen, dass seine Studie ihnen dankbar für das Stipendium. Er sam auf 15 Prozent, alle Viertelstunde sich auch auf andere Gebäcksorten wollte beweisen, dass sie ihn zu Recht legte er den Keks auf die Waage. übertragen ließe. Oder auf Schokolade. ausgewählt hatten. Er maß, stoppte die Zeit, kaufte neue Oder auf Nudeln. Als Erstes besorgte er sich einen Spe- Kekse, wog. Bald backte er seine Kek- Seine Zuhörer waren begeistert. Un- zialtisch, dessen Beine auf Luftkissen se selber, insgesamt über tausend Stück. ter Beifall ging Saleem zu seinem Platz gelagert sind; der Tisch soll so Vibratio- Er lernte, dass der Keks ein hochkom- zurück. Sie hatten ihm, dem Studenten nen ausgleichen und verhindern, dass plexes Gebilde ist: ein Produkt aus Fett, aus Pakistan, Teil der ehemaligen Ko- die Kekse schon vor dem Versuch zer- festen Bestandteilen und Luft, das sich lonie Britisch-Indien, ein Stipendium bröseln. Dann installierte er eine Ka- ständig verändert und dessen Verhalten gewährt, und er hatte ihren Fünf-Uhr- mera und zwei Zehn-Milliwatt-Helium- kaum vorherzusagen ist. Saleem fand Tee gerettet. Neon-Laser, deren Strahlen er mit ei- plötzlich, dass er Glück mit seiner Pro- Er setzte sich und lächelte. Sie waren nem schwarzen Vorhang abschirmte. Er jektwahl gehabt hatte. quitt. Hauke Goos

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Bitternis ist ein Luxus“ Der amerikanische Journalist Daniel Pearl wurde 2002 von al-Qaida in Karatschi ermordet. Mariane Pearl beschreibt nun in einem Buch das Leben und den Tod ihres Mannes. Ein Gespräch über Terror und Todesstrafe, ihre Treffen mit George W. Bush und Pervez Musharraf sowie ihren Kampf um Normalität.

SPIEGEL: Ms. Pearl, zwei Jahre sind seit der Chalid Scheich Mohammed, eine der zen- SPIEGEL: Hat Ihnen die Person am anderen Ermordung Ihres Mannes Daniel vergan- tralen operativen Figuren der Qaida, sei Ende der Leitung gesagt, es gebe Beweise, gen. Wie geht es Ihnen? der Mörder meines Mannes. Er ist im März dass Chalid Mohammed der Mörder sei? Mariane Pearl: Ich erwarte nicht, dass mein vergangenen Jahres den Pakistanern und Pearl: Nein. Es liegt weder ein Geständnis Leben auf absehbare Zeit leicht sein wird dem FBI in die Hände gefallen. vor, noch ist es einem Journalisten gelun- oder auch nur normal. Schauen Sie, vor SPIEGEL: Wer war der Anrufer aus dem gen, die Behauptung zu überprüfen. Das zwei Jahren habe ich mit Danny in Indien Weißen Haus? Weiße Haus schließt das offenbar aus Ver- gelebt, und jetzt lebe ich mit Adam, unse- Pearl: Das will ich nicht sagen. hören mit gefangenen Terroristen. Danach rem Sohn, hier in New York. An alles, was dazwischen passiert ist, muss ich mich erst gewöhnen. Ich glaube, dass dieses Gefühl der Unwirklichkeit noch lange anhalten wird. Die Normalität stellt sich ganz lang- sam ein. Es ist ein steter Kampf, und ich werde ihn gewinnen. Und was das Glück und ein schönes Leben angeht: Beides ist auch eine Sache des Willens und der Ent- schlossenheit. SPIEGEL: Als Sie vom Mord erfuhren, so schreiben Sie in Ihrem Buch, sei Ihnen der Gedanke durch den Kopf gezuckt, die Ter- roristen seien die Verlierer. Angesichts der Nachricht vom Tod Ihres Mannes klingt dieser Satz merkwürdig. Pearl: In dem Moment, in dem ich von Dannys Tod erfuhr, war dieser Gedanke meine Rettung. Er war eine Art Ablen- kung. Heute stimmt dieser Gedanke im- mer noch. Ich weiß, was diese Leute errei- chen wollen: Terroristen suchen symboli- sche Ziele, und natürlich war Danny ein solches Ziel. Und sie wollen ihren Feind lähmen: Sie wollten, dass seine Familie, seine Freunde, die Amerikaner, die Juden, eben alles, was man mit ihm verbindet, ein bisschen mit ihm stirbt. Sie töten den Le- benswillen. Sie morden Sehnsucht. Darin liegt die wahre Wirkung des Terrorismus. Meine Antwort darauf ist: Diese Terroris- ten werden ihr Ziel bei mir nicht erreichen. Ich verweigere ihnen diesen Triumph. SPIEGEL: Am 23. Januar 2002 wurde Ihr Mann Daniel, der als Reporter für das „Wall Street Journal“ gearbeitet hat, in Karatschi in eine Falle gelockt und ent- führt. Vermutlich am 1. Februar haben ihm die Entführer die Kehle bei laufender Vi- deokamera durchgeschnitten. Wissen Sie inzwischen, wer der Mörder ist? Pearl: Am 16. Oktober des vergangenen Jahres habe ich einen Anruf aus dem Weißen Haus bekommen. Man sagte mir,

Das Gespräch führten die Redakteure Joachim Preuß und Gerhard Spörl. Pearl-Hochzeit in Frankreich (1999): „Lass uns etwas Neues machen“

78 der spiegel 5/2004 soll Mohammed in Karatschi aufgetaucht sein und Danny dann getötet haben. Mariane Pearl führer appelliert. Mariane Pearl, 38, die da- SPIEGEL: Sie erzählen das sehr distanziert. ist die Witwe des „Wall Street Journal“- mals hochschwanger war, flehte im Fernse- Glauben Sie dem Weißen Haus nicht? Korrespondenten Daniel Pearl. Im Januar hen die Terroristen an, im Kampf gegen den Pearl: Meine Informanten, die mir damals 2002 reisten die beiden Journalisten Westen nicht ausgerechnet einen in Pakistan geholfen haben und mit denen nach Karatschi, um eine Geschichte Journalisten wie ihren Mann zu töten. ich immer noch in Kontakt stehe, halten über den britischen Schuhbomber Am 21. Februar tauchte ein Video Mohammed nicht für den Mörder. Richard Reid zu recherchieren. von der Hinrichtung auf, Wochen SPIEGEL: Wer kommt sonst in Frage? Ihr Mann wurde jedoch in eine Falle später fand sich seine zerstückelte Pearl: In Pakistan ist ein Mann namens Ah- gelockt, entführt und vermutlich am Leiche. Ihr Buch „Ein mutiges Herz“ med Omar Said Sheikh zum Tode verurteilt 1. Februar umgebracht. Vergebens über die Tragödie in Karatschi ist worden. Danny hatte sich mit ihm an die- hatten die amerikanische und die gerade im Scherz Verlag (320 Sei- sem Tag im „Village Restaurant“ verab- pakistanische Regierung an die Ent- ten; 19,90 Euro) erschienen. redet, weil Sheikh ein Treffen mit Scheich Gilani, dem Führer der Sekte Jamaat al- Fuqra, in Aussicht gestellt hatte. Gilani soll kistan in wildem Aufruhr, seit Präsident SPIEGEL: Sie wissen also, wer Ihren Mann in eine wichtige Figur im pakistanischen Ter- Musharraf mit dem Westen gemeinsame die Falle lockte, aber über den Rest gibt es rorismus sein. Danny wollte über ihn Sache macht. Journalisten wie Danny und nur Spekulationen? schreiben. Sie müssen sich die Situation ich wollten darüber berichten, was in die- Pearl: Ich weiß, dass Danny in einem Haus im Januar 2002 vorstellen: Der Krieg gegen sem Land los ist, was in den Köpfen von von vier Handlangern der Terroristen be- die Taliban ist gerade vorbei, die Jagd auf Leuten wie Sheikh und Gilani vorgeht und wacht worden ist; sie alle sind wie Omar Osama Bin Laden in vollem Gange, Pa- wohin das führen kann. Sheikh in Haft. Ich weiß darüber hinaus, dass nicht allein Pakistaner in den Mord verwickelt sind. Ich weiß, dass es Anrufe aus Saudi-Arabien an die Entführer gege- ben hat. Ich glaube auch, dass Chalid Mo- hammed, also im weiteren Sinn al-Qaida, die Befehle gegeben hat und dass es auch Chalid Mohammed war, der den Befehl zur Hinrichtung gab. Die ganze westliche Welt wusste vom Schicksal meines Man- nes, das Medieninteresse an der Ent- führung und der Suche nach den Entfüh- rern war riesengroß, und genau aus diesem Grund erging der Auftrag, Danny zu töten. Sie wollten diese Aufmerksamkeit nutzen. SPIEGEL: Danny Pearl wurde von Omar Sheikh entführt, dem Sohn eines pakista- nischen Kaufmanns, er ist in London auf- gewachsen, er hat an der London School of Economics studiert und ist mit dem Westen bestens vertraut. Er war bekannt dafür, dass er Ausländer entführt, um Lösegel- der zu erpressen oder inhaftierte Gottes- krieger freizupressen. Wusste Ihr Mann, als er sich mit ihm verabredete, wen er vor sich haben würde? Pearl: Nein, er glaubte, er trifft einen Schü- ler des Scheichs Gilani. Als solcher hatte sich Sheikh vorgestellt. Er bat Danny um eine Auswahl an Artikeln, die mein Mann als Südasien-Korrespondent des „Wall Street Journal“ über Indien und Pakistan geschrieben hatte. SPIEGEL: Aber Sheikh wusste, wer Daniel Pearl war. Pearl: Sheikh wusste nicht nur, dass Danny für das „Wall Street Journal“ schrieb. Er wusste, dass Danny Jude ist. Oder er wird es nach der Entführung rasch herausge- funden haben, Danny hatte seinen Palm Pilot bei sich. SPIEGEL: Glauben Sie, Omar hatte es auf Ihren Mann speziell abgesehen? Und was wohl war entscheidend: dass er Amerika- ner war oder Jude oder Korrespondent des „Wall Street Journal“?

AFP Pearl: Es spricht einiges dafür, dass er sich Entführter Pearl: „Er wusste erst spät, was passiert“ vor allem für den Korrespondenten des

der spiegel 5/2004 79 Pearl: Nein, er war ein ernsthafter investi- gativer Reporter. Er war detailversessen und bereit, sehr viel auf sich zu nehmen für ein gutes Zitat. Er hatte ein hohes journa- listisches Ethos, er war entschieden unab- hängig, ihm ging es um die Wahrheit. Als ich ihn kennen lernte, war er der smarte, gute Schreiber des „Wall Street Journal“. Als er mit dem Reisen begann, veränderte er sich und damit sein Blick auf die Welt. Ich glaube, er hat da die Kraft des Journa- lismus entdeckt, Brücken zu bauen zwi- schen den Kulturen. SPIEGEL: Nach Karatschi reiste Ihr Mann, weil er eine Geschichte über den Schuh- bomber Richard Reid schreiben wollte. Es ist eine höllische Stadt. Wie haben Sie sich auf die Gefahren eingestellt? Pearl: Wir versuchten, die Gefahr so gut wie irgend möglich zu managen. Wir dach- ten, es sei am allerbesten, wenn wir so we- nig wie möglich auffallen. Ich war im sechs- ten Monat schwanger. Wenn einer von uns unterwegs war, rief er den anderen min-

ZIA MAZHAR / AP destens alle anderthalb Stunden an und Demonstration in Karatschi: „Eine ungeheure Leidenschaft in der Luft“ sagte ihm, wo er gerade war und wie lan- ge er noch wegbleiben würde. Es herrsch- te Krieg, Qaida-Leute tauchten auf, in Ka- ratschi lag eine ungeheure Leidenschaft in der Luft. Auch gab es diese wilden Gerüch- te, Juden oder Amerikaner selbst hätten die Anschläge am 11. September ausge- führt. Die Welt um uns herum wurde im- mer verrückter. Umso mehr versuchten wir, uns umsichtig zu verhalten. Eigentlich wollten wir Karatschi am 24. Januar ver- lassen, einen Tag nach Dannys Verabre- dung im „Village Restaurant“. SPIEGEL: Wissen Sie, wann al-Qaida das Kommando bei der Entführung Ihres Man- nes übernommen hat? Pearl: Ich glaube, dass Sheikh die Operation ausgeheckt hat, aber seine Geisel gleich an AP AAMIR QURESHI / AFP al-Qaida übergab. Vermutlich nahm er Entführer Omar Sheikh, Befehlsgeber Chalid Mohammed: „Sie kennen uns gut“ Kontakt mit Chalid Mohammed auf oder irgendeinem anderen Mitglied von al-Qai- „Wall Street Journal“ interessierte. Einen Pearl: Nein, aber ich würde schon gern da und erzählte ihm, dass er einen ameri- Monat vor der Entführung hatten Repor- genau wissen, ob die Terroristen davon kanischen Journalisten in der Gewalt hielt. ter des „Journal“ einen Computer mit 1700 wussten. Omar Sheikh ist ein gebildeter Wahrscheinlich wusste Sheikh zu diesem Dateien über al-Qaida gefunden. Darin Mann – gut möglich, dass er davon gele- Zeitpunkt nicht, was mit Danny passieren standen auch Einzelheiten über die Rei- sen hatte. würde. Die Leute von al-Qaida warteten sen des Schuhbombers Richard Reid durch SPIEGEL: War Daniel ein Abenteurer? eine Zeit lang ab, bis die Medien dem Fall halb Europa, ehe er im Dezember 2001 in Pearl: Er war nicht leichtsinnig, falls Sie das größtmögliche Aufmerksamkeit schenkten. Paris in das Flugzeug stieg, um es in die meinen, aber natürlich war er neugierig Dann töteten sie ihn, und zwar so, dass sie Luft zu jagen. Die Reporter informierten wie alle Journalisten. Wir haben, bevor wir ein Maximum an Entsetzen auslösten. natürlich die Chefredaktion über ihren nach Indien gingen, in Paris gelebt. Wir SPIEGEL: Paradoxerweise ist Omar Sheikh sensationellen Fund, und die entschloss hatten eine wunderschöne Wohnung im ähnlich weltläufig und vielsprachig wie Sie, sich, die Dateien der CIA zu übergeben. 18. Arrondissement mit Blick auf den Eif- Ms. Pearl. Sie sind die Tochter kubanisch- Das „Wall Street Journal“ schrieb dar- felturm, und wir hatten tolle Jobs. Ich habe holländischer Eltern; die jüdischen Eltern über – über den Fund und die Weitergabe fürs französische Fernsehen gearbeitet und Ihres Mannes kommen aus Israel und dem an den Geheimdienst. Für Korresponden- er als Korrespondent für das „Wall Street Irak. Müssen wir gerade solche Leute wie ten wie Danny hat das die Arbeit er- Journal“. Eines Tages saßen wir beisam- Sheikh, die im Westen gelebt haben und schwert: Er musste seine Gesprächspart- men und sagten uns, lass uns weggehen, den Westen kennen, am meisten fürchten? ner im Dunstkreis des Terrorismus davon lass uns etwas Neues machen. Wir sind Pearl: Wir wussten schon vorher, dass die- überzeugen, dass er ein Journalist ist und nach Bombay gezogen, in einen Alptraum se ungebildeten, bärtigen, jungen Leute in kein Spion. von Stadt. Insoweit war er ein Abenteurer. den Moscheen nur ausführende Organe SPIEGEL: Sie meinen, dass Ihr Mann ent- SPIEGEL: In Ihrem Buch erscheint er als des Terrorismus sind, die gar nicht wissen, führt wurde, weil die CIA die Dateien zur Feingeist, vielleicht sogar als Idealist, der worum es geht. Aber Sheikh kennt den Auswertung bekommen hat? sich der Wirklichkeit Südasiens aussetzt. Westen gut, es gibt viele, die uns schon

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Geheimdienst ISI berichten lassen und war der Meinung, dass dieser Daniel Pearl, die- ser Jude, blöd genug gewesen war, sich mit einer terroristischen Organisation einzu- lassen. Während des Krieges in Afgha- nistan hielten sich 3000 Journalisten in Pakistan auf, und niemand war bisher ent- führt worden. Und jetzt hatte die pakista- nische Regierung ein Problem, zumal der Präsident nach Washington reisen wollte. Haider war also stocksauer. Aber er war auch ein Opfer des Terrorismus, er hatte gerade einen Bruder bei einem Anschlag verloren. Am Ende hat er mir geglaubt und nicht seinem Geheimdienst, jedenfalls hat- te ich den Eindruck. SPIEGEL: Die Rolle des Geheimdienstes ISI bleibt mysteriös. Er hat sich oft terroristi- scher Organisationen bedient, er hätte am ehesten herausfinden können, wo Ihr Mann gefangen gehalten wird. Pearl: Ein paar Wochen vor der Entführung hatte Musharraf den ISI-Chef abgesetzt, aber jeder in Pakistan wusste, das ändert nichts. Deshalb war ich mir nicht sicher, überhaupt den ISI um Hilfe zu bitten. Wir haben es dann versucht, der ISI-Chef von Karatschi schickte uns einen Gehilfen, der saß nur da und hörte zu. Ein schlechter Scherz. Wir haben ihn rausgeschmissen. SPIEGEL: Sie haben auch Präsident Mu- sharraf getroffen, bevor er nach Washing- ton flog. Pearl: Auch er glaubte, Danny sei zu weit gegangen. Das habe nichts mit Journalis- mus zu tun. Vermutlich hegte er den Ver- dacht, dass Danny sogar ein Spion gewesen sei. Pakistan kennt keinen investigativen Journalismus. Und auf einmal tauchten diese Leute im Land auf, die ganz selbst- verständlich viel weiter gingen als je ein pakistanischer Journalist gegangen war. Leute, die herausfinden wollten, was es

ROBERT MAXWELL ROBERT wirklich auf sich hat mit den Taliban, der Witwe Pearl mit Sohn Adam: „Ich war im sechsten Monat schwanger“ Qaida und den Atomwaffen Pakistans. SPIEGEL: Was haben Sie aus dem Leiden lange gut kennen. Sheikh wollte mich übri- warte ich davon nichts, weder Erleichte- Ihres Mannes gelernt? Ist Journalismus in gens persönlich treffen. rung noch innere Ruhe. Aber ich sehe kei- Zeiten des Terrorismus und in Ländern wie SPIEGEL: Er hat sich aus dem Gefängnis mit nen Grund, ihm zu vergeben. Omar Sheikh Pakistan nur begrenzt möglich? Ihnen in Verbindung gesetzt? ist überzeugt davon, dass jemand wie er in Pearl: Nein, ich habe die Ideen und Werte, Pearl: Ja, als ich noch in Pakistan war. Ich Pakistan niemals exekutiert werden wird. die Danny und ich teilten, nicht preisgege- habe gezögert und mich dann dagegen ent- Ich habe einen Brief an Präsident Mushar- ben. Wir wollten nach Bombay, nach Ka- schieden. Es war noch zu früh. ratschi gehen, um von dort zu berichten. SPIEGEL: Wissen Sie, was er Ihnen sagen „Ich fühlte mich in all den Tagen Ich bedaure es heute nicht, wir haben das wollte? Richtige getan. Wenn ich den Glauben dar- Pearl: Er wollte sich entschuldigen. Zumin- der Entführung Danny sehr nahe. an verloren hätte, würde ich nicht mehr dest ließ er mir das mitteilen. Man weiß Ich wusste, was er fühlt.“ leben. nicht genau, wie hochgradig psychopa- SPIEGEL: Im Buch erzählen Sie von Ihren thisch er ist. Er ist gerissen, er kalkuliert raf geschrieben, ich habe ihn gebeten, Gedanken an Selbstmord. genau. Wenn man sich seine E-Mails an Sheikh hinrichten zu lassen. Nie in meinem Pearl: Wissen Sie, man kommt da an einen Danny durchliest, ist man völlig verblüfft, Leben hätte ich gedacht, dass ich jemals Punkt, an dem man die Angst vor dem Tod weil nichts in diesen Zeilen auf Gefahr hin- solch einen Brief schreiben würde. verliert. In dem Moment, als ich über deutet. SPIEGEL: Sie sind während der Gefangen- Selbstmord nachdachte, war ich ganz ru- SPIEGEL: Omar Sheikh ist zum Tode verur- schaft Ihres Mannes vom damaligen pa- hig. Ich konnte mich ganz bewusst ent- teilt. Seine Hinrichtung ist jedoch schon kistanischen Innenminister Moinuddin Hai- scheiden, ob ich weiterleben wollte oder mehrmals aufgeschoben worden. Wollen der empfangen worden. Wie kam es dazu? nicht. Sie, dass er getötet wird? Pearl: Ich wollte seine Hilfe. Wie Sie sich SPIEGEL: Sie waren schwanger, und das war Pearl: Ich bin für seine Hinrichtung, weil er denken können, war unser Gespräch ziem- auch eine Antwort auf die Frage nach Le- den Tod verdient. Für mich persönlich er- lich unentspannt. Er hatte sich wohl vom ben oder Tod.

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Pearl: Ja. Ich fühlte mich in all den Tagen liere, würde ich auch Danny in mir verlie- der Entführung Danny sehr nahe. Ich habe ren. Es war eine seltsame Begegnung, Con- gebetet und Danny immer sofort erreicht. doleezza Rice war dabei, Donald Rums- Ich wusste, was er fühlte. Ich habe gebetet, feld auch. Sie wussten, dass ich nicht ge- dass er sich nicht schuldig fühlt, weil er kommen war, um Kondolenzen entgegen- zum Treffen ins Restaurant gegangen war. zunehmen. Ich habe ihnen vom Chef der Ich war bei ihm. Anti-Terror-Einheit in Karatschi erzählt, er SPIEGEL: Im Buch schreiben Sie mit großer ist Muslim. Ich nenne ihn immer nur „den Bestimmtheit, Ihr Mann habe nicht ge- Captain“. Er hat die Untersuchung geführt. wusst, dass er sterben würde. Warum? Ein sehr beeindruckender Mann. Mit ihm Pearl: Na ja, über die Tage seiner Ent- stehe ich noch heute in Kontakt. führung weiß ich natürlich viel durch die SPIEGEL: Hollywood hat sich die Filmrech- Ermittlungen der Polizei und die Aussagen te an Ihrem Buch gesichert. Warum haben im Prozess. Das andere, das habe ich Sie zugestimmt? gespürt. Er konnte sich nicht mit seinen Pearl: Zuerst war ich ganz und gar dagegen. Wächtern verständigen, aber sie müssen Dann habe ich mich lange mit Brad Pitt un- harmlos auf ihn gewirkt haben. Jungs von terhalten, der mit seiner Frau eine Pro- der Straße, keine 30 Jah- re alt, ungebildet, fromm. Danny wusste nicht, was vor sich ging, er versuchte sich unter Kontrolle zu halten, damit Wut und Hilflosigkeit ihn nicht überwältigen. Er ging jedoch nicht davon aus, dass ihm der Tod droh- te. Er hat versucht zu flie- hen, er wollte sich durch ei- nen Schacht in der Toilette zwängen. Sie haben ihn des- halb an einen Automotor gekettet. Sie haben ihn aber nicht gefoltert und auch nicht geschlagen. Erst am letzten Tag seines Lebens

fiel ihn der Gedanke an, AAMIR QURESHI / AFP dass er wirklich in Gefahr Überführung von Pearls Sarg: „Ein symbolisches Ziel“ schwebte. Das war, als die drei Araber auftauchten. Und selbst in die- duktionsfirma besitzt, die das Projekt vor- sem Augenblick muss er noch gehofft ha- antreiben möchte. Er und Jennifer Aniston ben, sie werden ihn lediglich einem neuen sind ein junges Paar wie Danny und ich, sie Verhör unterziehen, denn sie haben ihm sind sehr verliebt, und sie wollen ein Kind nicht gesagt, was sie ihm antun wollen. Die haben. Also haben sie und wir etwas ge- drei waren ja auch die Ersten, mit denen er meinsam. sich unterhalten konnte. Ich denke mir, er SPIEGEL: Sie haben Einfluss auf das Dreh- war ein bisschen unruhig und wütend, aber buch? Pearl: Darauf bestehe ich vertraglich. „Die Terroristen töten den Lebens- SPIEGEL: Wer schwebt Ihnen neben Ihrem Mann als Held der Tragödie vor? willen. Sie morden Sehnsucht. Ich Pearl: Natürlich der Captain der pakistani- verweigere ihnen diesen Triumph.“ schen Anti-Terror-Einheit, er hat viel ris- kiert. Er hat alles getan, was in seiner sie sagten ihm: kein Grund zur Aufregung. Macht stand. Er hat vier Kinder, und jedes Und dann lief die Videokamera, und gleich Mal, wenn er das Haus verlässt, weiß er darauf, mitten in diesem Verhör, verban- nicht, ob er sie noch einmal sehen wird. den sie ihm die Augen, holten sie ihre Mes- Wir brauchen Leute wie diesen Captain. Je ser heraus, und da erst wusste Danny, was mehr es von ihnen gibt, desto besser für die gleich passiert. Dieses Video existiert, aber Welt. Der Captain ist eine Brücke zwischen ich will es mir nicht ansehen. den Kulturen. Die Aussicht auf einen Film, SPIEGEL: George W. Bush hat Sie im Wei- in dem eine Figur wie der Captain im Zen- ßen Haus empfangen und Ihnen die trum steht, hat für mich den Ausschlag ge- Frage gestellt, weshalb Sie eigentlich nicht geben. verbittert seien. Was haben Sie ihm ge- SPIEGEL: Und Sie selbst, werden Sie wieder antwortet? fürs französische Fernsehen arbeiten? Pearl: Es war seine erste Frage, und er hat Pearl: Ich bleibe in New York und werde mich damit sehr beeindruckt. Ich habe ihm hoffentlich irgendwann Dokumentationen gesagt, Bitternis sei ein Luxus, den ich mir oder Filme drehen. nicht leisten kann. Ich würde meine Seele SPIEGEL: Ms. Pearl, wir danken Ihnen für verlieren, und wenn ich meine Seele ver- dieses Gespräch.

84 der spiegel 5/2004 Unter Eierdieben Ortstermin: In Berlin steht der „Zeit“-Chefredakteur wegen Beleidigung des Generalstaatsanwalts vor Gericht. Das kann dauern.

arin Miller, eine hagere Person, das „Ich bin Mitherausgeber und Chefre- Es gehe um ein großes Wort, um „Mei- Haar gescheitelt in der Mitte, be- dakteur der Wochenzeitung ,Die Zeit‘.“ nungsfreiheit“. Sagt Naumann. Ktritt den Raum, nimmt Platz auf „Bestreiten Sie, den Berliner General- Es gehe um eine Beleidigung, sagt der ihrem Sessel. Sie sitzt nach vorn gebeugt, staatsanwalt durchgeknallt genannt zu ha- Ankläger. wie eine Sprinterin im Startblock. Sie ben?“ Es gehe um eine Akte, „die uns vorent- möchte diese Angelegenheit hinter sich „Das würde wohl wenig Sinn machen.“ halten wurde“, sagen die Anwälte und stel- bringen, wie sie es gewohnt ist, schnell. Michael Naumann hatte den General- len Anträge. Sie wollen in den Besitz der Es ist kurz vor zwölf. staatsanwalt Heinzjürgen Karge während Akte kommen. Sie wissen, dass es inner- Miller ist seit 17 Jahren Amtsrichterin, einer Polit-Talkshow im Fernsehen „durch- halb der Staatsanwaltschaft ein Verfahren hier in Berlin-Moabit, im größten Gericht geknallt“ genannt. Er sagte das Wort voller wegen Geheimnisverrats gegen unbekannt Europas, einer kolossalen Urteilsmaschi- Ärger und Empörung, weil er Michel Fried- gibt. Sie hoffen, in der Akte Hinweise auf ne, einer Justizfabrik. Tausende Urteile man, damals stellvertretender Vorsitzender die Identität desjenigen zu finden, der werden hier Jahr für Jahr produziert. des Zentralrates der Juden und berüchtig- Friedmans Namen an die Presse gab. Sie Mörder werden hier zur Rechenschaft ter Moralist, ungerecht behandelt sah. wollen belegen, dass Karge seine Dienst- gezogen, Vergewaltiger, Kin- pflicht nicht erfüllt hat, dass es desmisshandler. Dazu Einbre- einen guten Grund gibt, ihn cher, Schwarzfahrer, betrunke- „durchgeknallt“ zu nennen. Sie ne Schläger, Kampfhundhalter, wollen beweisen, dass dieses Unterhaltsboykotteure. Wort Polemik ist, keine Belei- Es sind Kleinkriminelle, mo- digung. Aber Dalheimer, der derne Eierdiebe, die üblicher- Gesandte seines Herrn, will die weise in Millers Sitzungssaal lan- Unterlagen nicht herausrücken. den, Raumnummer 571 im zwei- Dalheimer sagt, er verstehe ten Geschoss. Miller, laut Ge- nicht, wieso die Akte den An- schäftsverteilungsplan zuständig wälten von Nutzen sei. Nau- für die Buchstaben M und N, manns Anwälte erklären es. schleust pro Tag drei, vier, fünf Dalheimer sagt, die Akte gebe Angeklagte durch ihren Sit- es nicht. Naumanns Anwälte zungssaal. Sie ist eine juristische befragen Zeugen. Dalheimer Fließbandarbeiterin und schöpft gibt zu, so eine Akte gebe es Kraft aus der Überzeugung, dass doch. Die Anwälte wollen sie die Wahrheitsfindung durchaus sehen. Dalheimer sagt, er ver- eine Sache von Stunden, von stehe nicht, wieso. Er ist wieder

Minuten sein kann, nicht not- MICHALKE NORBERT FOTOS: am Anfang seiner Argumenta- wendigerweise von Tagen, Wo- Angeklagter Naumann: „Es geht um die Meinungsfreiheit“ tion angelangt. Die Anwälte chen oder Monaten. werden laut: „Jetzt ist es aber Heute liegt Miller gut in der Zeit. Zwei Naumann ist der Überzeugung, dass die genug!“ Dalheimer erwidert: „Jetzt rede Anklagen hat sie schon abgearbeitet. Bald Berliner Staatsanwaltschaft Friedmans Na- ich, Herr Anwalt!“ ist Mittagspause. men an die Presse weitergab, als der Koks- Über zwei Stunden geht das so. Miller Einer geht noch. konsument noch kein geständiger Täter sagt wenig, und wenn sie etwas sagt, hören Er sitzt vor ihr in einem dunklen Anzug war, sondern ein Verdächtiger, dessen die Streitenden nur widerwillig auf sie. mit Nadelstreifen, die Brille auf die Na- Identität hätte geschützt werden müssen. Miller ist verärgert. „Also ich würde jetzt senspitze geschoben, gerahmt von seinen Karge habe die undichte Stelle in seiner gerne die Videokassette anschauen“, sagt Verteidigern. Er hat zwei. Das ist nicht üb- Behörde zu verantworten, sagt Naumann. sie. Der Ankläger redet weiter. lich im Sitzungssaal von Amtsrichterin Mil- Dass er das Leck zuließ, zeige, er sei Damit hat sie nicht gerechnet. Nicht mit ler. Ein Anwalt heißt Nicolas Becker, er „durchgeknallt“. Als Karge von dem Vor- den heftigen Diskussionen, nicht mit der hat Erich Honecker verteidigt. fall erfuhr, zeigte er Naumann an und Dauer der Verhandlung. Für sie schien al- Es geht um eine simple Sache. Eine Kla- schickte Oberstaatsanwalt Karl-Heinz Dal- les klar zu sein, von Anfang an. ge wegen Beleidigung. Der Angeklagte heimer, einen Experten für Presserecht, als „Durchgeknallt“, sagte sie während der hatte einen Strafbefehl über 9000 Euro er- Ankläger in den Prozess. Verhandlung, das sei ja „gleichbedeutend halten, ersatzweise 30 Tage Haft. Er legte Der Gesandte des Berliner General- mit irre“. Und irre, das sagte ihr Tonfall, Einspruch ein. Deshalb sitzt er jetzt hier. Es staatsanwalts und der Verteidiger Hone- sei eine Beleidigung. So dürfe man einen sollte schnell gehen. ckers sitzen links und rechts im Saal. Da- Generalstaatsanwalt nicht nennen. Miller ahnt nicht, wie sehr sie sich zwischen hockt Miller. Sie sieht schmaler Die Gerichtsshow mit Richterin Karin irrt. aus, als sie sowieso schon ist. Sie wirkt ner- Miller, dem Gesandten des Generalstaats- Sie fragt den Angeklagten: „Herr Nau- vös. Es geht nicht um beißwütige Hunde, anwalts und Honeckers Verteidiger wird mann, was ist Ihr Beruf?“ es geht auch nicht um Nebenerwerbsdiebe. Mittwoch fortgesetzt. Uwe Buse

der spiegel 5/2004 85 Club-Kapital Rosick⁄, Prestigeobjekt Westfalenstadion: „Die Zukunft verfrühstückt“

FUSSBALL Abpfiff für die fetten Jahre Die Ära von Borussia Dortmunds Chef Gerd Niebaum war bislang geprägt von Prestigedenken und Risikofreude. Nun formiert sich clubintern eine Opposition. Die Deutsche Fußball Liga hat die Führung diese Woche zum Rapport bestellt – sie verlangt neue Zahlen.

as erste Heimspiel des Jahres en- club-Gesandter, träfe ihn sowieso „eine baum. Anfang der neunziger Jahre begann dete am Montag vergangener Wo- BVB-Niederlage im Derby“. die Club-Führung um den Dortmunder Dche mit einem ungefährdeten Er- Das Revier-Derby gegen Schalke 04, das Wirtschaftsanwalt, mit dem Zukauf teurer folg des Dortmunder Vorstands. Bundesliga-Topspiel zum Rückrundenstart Kicksternchen – vorzugsweise aus Italiens Im sonst Ehrengästen vorbehaltenen an diesem Freitag, wird noch einmal unter Eliteliga – ehrgeizig am Thron des deut- Versammlungsraum in der Nordtribüne des Festbeleuchtung stattfinden. Aber es wird, schen Branchenführers zu kratzen: Nie- Westfalenstadions hatten Gerd Niebaum so viel steht schon fest, für den ambitio- baum wollte dem FC Bayern München und Michael Meier, die beiden Geschäfts- nierten Traditionsclub Borussia Dortmund „auf Augenhöhe begegnen“. Spätestens führer der in finanzielle Schieflage gerate- das Ende des Glamours einleiten. Abpfiff nach dem Börsengang im Herbst 2000, re- nen Borussia Dortmund GmbH & Co. für die fetten Jahre. sümieren clubinterne Mahner, habe die KGaA, rund 300 Delegierte von Fanclubs Zwar wird erstmals seit dem vollständi- BVB-Führung dann sukzessive „die Zu- des Bundesligisten empfangen. Statt eines gen Ausbau das Westfalenstadion mit kunft verfrühstückt“. Scherbengerichts entwickelte sich eine of- 83000 Besuchern ausverkauft sein. Doch So seien Erlöse in Höhe von insgesamt fene Debatte, an deren Ende, so sickerte schon zum nächsten Ruhrpottschlager in rund 200 Millionen Euro, herbeigeschafft schnell durch, die Anhänger „auf Kurs ge- der Saison 2004/05 wird der BVB eine ab- durch den Verkauf von Vermarktungs- bracht“ worden seien. gespeckte Version seines Starensembles rechten des Clubs sowie von Rechten am Dem bevorstehenden Transfer des tsche- präsentieren. BVB-Sportausstatter goool.de und durch chischen Mittelfeldregisseurs Tomá∆ Ro- Der Sparzwang – Analysten rechnen für die Börsenemission (siehe Grafik), längst sick⁄, das wurde bei dem Treffen deutlich, dieses Spieljahr mit einem Umsatzrück- wieder verbraucht. Manöver nach dem würden sich die Fans nicht widersetzen. gang um 31 Prozent und einem Verlust von Prinzip „Sale & Lease back“ (Verkaufen Und viel härter als all die Sorgen um Bi- rund 45 Millionen Euro – setzt den Schluss- und Zurückleasen) brachten einige Male lanzen und Liquidität, bekannte ein Fan- punkt unter die Prasserei der Ära Nie- frisches Geld, aber auch immer höhere Fix-

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dem sie 16 Jahre stillgehalten hatten, plötz- wirkt leicht panisch. Zum 15. März müssen lich aus allen Löchern“. alle Clubs die Anträge für die Lizenz der Hinter den Kulissen der Kommandit- nächsten Spielzeit bei der Deutschen Fuß- gesellschaft auf Aktien (KGaA) regt sich ball Liga (DFL) eingereicht haben – inklu- Widerstand. Erste Pläne, zur besseren sive einer testierten Bilanz zum Ende 2003, Einflussnahme eine Mehrheit für die In- Gewinn- und Verlustrechnung sowie we- stallation eines dritten Geschäftsführers zu sentlicher Verträge. Die DFL, die die Li- organisieren, wurden einstweilen zurück- quidität zum Ende der nächsten Saison er- gestellt – die zusätzlichen Kosten will man rechnen muss, darf Auskünfte bei Kredit- sich derzeit nicht leisten. Nun verlangen instituten und beim Finanzamt einholen. frühere Mitstreiter „endlich ein Sanie- Jetzt bestellte der wachsame DFL-Ge- rungskonzept“ von Niebaum, der den Club schäftsführer Christian Müller („Wir müs- noch „in sämtlichen Erlösbereichen gut sen den Puls fühlen“) die BVB-Spitze für aufgestellt“ sieht. In den inneren Zirkeln Mitte der Woche zum Rapport. Nach Be- des sechsmaligen Deutschen Meisters wer- schwerden von Geschäftspartnern wie den den kritische Gremiumsmitglieder bereits städtischen Verkehrsbetrieben, wonach der – mit Blick auf eine künftige Formation BVB seinen Zahlungsverpflichtungen nicht der Club-Spitze – in Männer „mit und nachkomme, verlangt Müller von der ohne Ambitionen“ unterteilt. Borussia „eine neue Finanzplanung“. Mit der alten Führung oder ohne sie: Irritationen lösten in der Szene auch Der BVB wird sich gesundschrumpfen müs- Banker-Hinweise aus, wonach der Club sen. Selbst vor Personaleinsparungen in der zum Bestand an flüssigen Mitteln zuletzt 350 Mitarbeiter starken Verwaltung ma- auch jene 48,5 Millionen Euro gezählt chen die Überlegungen nicht Halt, ganze habe, die für einen späteren Rückkauf des Geschäftszweige des Konzerns stehen dem- Stadions deponiert werden mussten. DFL- nach zur Disposition. „Verlustbringer“, wie Controller Müller erachtete den Betrag intern das clubeigene Hotel Lennhof oder schlicht als „nicht verfügungsfrei“ und zog das BVB-Reisebüro genannt werden, seien ihn von der angegebenen Summe der li- auf Dauer nicht tragbar. Der Analyst Peter- quiden Mittel (rund 70 Millionen Euro) Thilo Hasler von der HypoVereinsbank be- rigoros ab.

FOTOS: FIRO FOTOS: wertete die Diversifizierung des Fußball- Die Liquidität ist die sensible Stelle. An- Unternehmens „als fehlgeschlagen“. ders als in Zahlungsschwierigkeiten gera- kosten. Zuletzt wurden die Stadionanteile Klar ist, dass der Spielerkader um eini- tene eingetragene Vereine – wie beispiels- verschachert – das kostet den Club jetzt ge Empfänger von Millionengehältern ver- weise Anfang der achtziger Jahre auch jährlich rund 15 Millionen Euro an Pacht. kleinert wird – notfalls, sagt ein kühler Borussia Dortmund – hat eine KGaA laut Trotz der kreativen Geldbeschaffung Rechner mit Zugangsberechtigung zu den Gesetz nur begrenzt Zeit, eine Illiquidität standen 49 Millionen Euro an Bankver- BVB-Geschäftsräumen, würden eben Stars zu beseitigen. Spätestens nach einer Drei- bindlichkeiten in der letzten Bilanz. In der „verschenkt“. Denn das Dortmunder Ge- Wochen-Frist muss das Insolvenzverfah- bis Ende Februar zu erwartenden Halb- schäftsmodell, erkannte dieser Tage auch ren bei Gericht beantragt werden. jahresbilanz zum 31. Dezember 2003, der Analyst Hasler, „basiert auf dem Er- Eisern bestreitet BVB-Manager Meier fürchtet ein Kontrollgremiumsmitglied, reichen der Champions League“. Nun gilt eine drohende Zahlungsunfähigkeit. Er werde dieser Posten auf 70 Millionen ge- als wahrscheinlich, dass Dortmunds immer räumt allenfalls „finanzielle Engpässe“ ein. wachsen sein. weiter aufgerüstete Mannschaft an Europas Dennoch blieb vergangene Woche nicht Erstmals in 18 Jahren unter Niebaums Geldbeschaffungs-Liga zum zweiten Mal verborgen, dass die Club-Führung baldige Führung formiert sich deshalb rund um die in Folge vorbeischrammt. So droht dem Verkaufserlöse herbeisehnt – möglichst kühlen Büroräume am Rheinlanddamm so Club die Ernüchterung eines durchnässten noch während der Transferperiode bis zum etwas wie eine Opposition. Niebaums Lage Biergartenbetreibers, dessen Kalkulation Monatsende. vergleicht ein BVB-Insider mit der „Hel- auf jährlich 365 Sonnentagen fußt. Nur erinnert die Borussia dabei an einen mut Kohls in der Endphase – da kamen Niebaums und Meiers Fahndung nach Hausbesitzer, der just zu dem Zeitpunkt die Kritiker aus der eigenen Partei, nach- Kompensation für die Einnahmeausfälle verkaufen muss, da die Immobilienpreise im Keller liegen. Kolportierte 25 Millionen Euro Ablöse für einen Abkassiert Spieler wie Rosick⁄ seien ver- Außergewöhnliche Einnahmen gleichbar „mit 40 Millionen vor von Borussia Dortmund der Kirch-Krise“, sagt der Pra- ger Rosick⁄-Berater Pavel Paska. Vermarktungsvertrag Seit dem Einbruch bei den Fern- 1999 mit Ufa-Sports sehgeldern ist der Transfermarkt für TV-Rechte und europaweit kollabiert. Inzwi- Bandenwerbung u.a. ca. 50,0 Mio. ¤ schen, spöttelt ein BVB-Gremi- Verkauf der Marken- umsmitglied, konkurriere Dort- rechte „goool.de“ mund „mit dem AC Parma und im Mai 2000 ca. 20,0 Mio. ¤ Lazio Rom“, mit maroden Fuß- ballfirmen also, die der drohen- Börsengang den Pleite mit ebenso hastigem Oktober 2000 132,9 Mio. ¤ Personalabbau auf dem Spieler- markt begegnen wollen.

insgesamt ca. 202,9 Mio. ¤ FIRO Zudem begibt sich die Borus- Geschäftsführer Niebaum, Meier: „Den Puls fühlen“ sia in ein Dilemma. Je mehr Pro-

der spiegel 5/2004 87 fis der Kategorie Rosick⁄, Jan Koller, Dede für juristische Dienstleistungen zusätzlich oder Ewerthon der BVB jetzt losschlagen ein Honorar berechnet?“, fragte ein Wi- kann, desto weiter entfernt er sich von den dersacher. Fleischtöpfen. Die Champions League So suchen die angezählten Bosse fieber- rückt für ein Team ohne erfahrene Stars haft nach Geldquellen, um die Gemüter womöglich in weite Ferne, und wer in der zu beruhigen. Was tun? Die Gespräche Bundesliga nur auf Platz zehn steht, kas- mit dem Londoner Finanzmakler Stephen siert gemäß Verteilungsschlüssel auch we- Schechter, der schon Schalke 04 eine An- niger nationale Fernsehgelder. Für dieses leihe über 85 Millionen vermittelt hat, Spielniveau, argwöhnt ein Club-Funk- sorgten nur für weitere Kritik. Die Mög- tionär, hätte der BVB außerdem „ein viel lichkeit einer Kapitalerhöhung scheidet zu großes Stadion“. praktisch aus. Denn bei der gewählten Ohnehin wird die letzte Ausbaustufe der Rechtsstruktur, die der Geschäftsführung kolossalen Arena von internen Mahnern große Handlungsfreiheit einräumt, hätten als „schwerster Managementfehler“ be- private Investoren wenig mitzureden. wertet: Dieses „Prestigeobjekt“ koste den Also führte die Not Niebaum und Mei- Club mindestens 255 Millionen Euro. So er vorvergangene Woche in die Münchner

habe sich der Weltmeisterschaftszuschlag FIRO Club-Zentrale des Rivalen FC Bayern. Mit an Deutschland 2006 „für den BVB de- Verkaufsobjekt Dede Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge saströs“ ausgewirkt. Geleitet von der Aus- Ende des Glamours sprachen die Dortmunder Besucher offen sicht, ein WM-Halbfinalspiel ins Westfa- über die Finanzlage des BVB, so dass dem lenstadion zu holen, schraubten die BVB- Der BVB-Chef, seit 1986 Präsident und Bayern-Manager Uli Hoeneß das Herz Bosse die Zuschauerkapazität weiter nach seit Anfang 2002 mit rund einer Million weich wurde. Für den deutschen Fußball oben. Um die Mittel für den Ausbau zu Euro dotierter Geschäftsführer der KGaA, wäre es „eine Katastrophe, wenn Dort- beschaffen, wurde der Club-Anteil am Sta- bietet Angriffsflächen. Dass Niebaums mund abschmiert“, entschied Hoeneß, des- dion abgetreten. Kanzlei gegen Honorare im angeblich halb sei der FC Bayern jederzeit bereit zu Die vermeintliche Eitelkeit des Präsi- sechsstelligen Euro-Bereich pro Jahr helfen. Notfalls, indem „wir ihnen Spieler denten macht auch Mitarbeitern in den Rechtsgeschäfte für den BVB erledigt, zu erhöhten Preisen abkaufen“. Club-Gremien Sorgen. Ein Konsolidie- sorgte schon für Unmut. Dies sei immer Ein solches Opfer brachten die Münch- rungskurs, sagt einer aus der Runde, sei auf „nur mit Gremienbeschluss und sicher ner zuletzt 1993. Die damals an Dynamo Dauer nicht realistisch: „Eine Mannschaft zum Vorteil des BVB“ geschehen, erklär- Dresden gezahlten 2,3 Millionen Mark für mit preiswerten Spielern aus der 2. Liga – te Niebaum. „Aber wozu beschäftigen wir Alexander Zickler waren Bayerns Aufbau- das ist nicht die Welt von unserem Gerd.“ für viel Geld einen Volljuristen, wenn der hilfe Ost. Jörg Kramer Sport

Einen „Glücksfall“ nennt Reinhard Mirmseker, Präsident der Deutschen Eis- lauf-Union (DEU), das neu formierte Paar. Denn als Aljona Sawtschenko noch für ihr Heimatland startete, wurde sie mit ihrem Partner Stanislaw Morosow Junioren- Weltmeister. Wenn ihre zweijährige Wech- selsperre abgelaufen ist, so hofft der Ver- band, könnten Sawtschenko/Szolkowy bei den Europameisterschaften 2005 in Regionen vordringen, die für den hie- sigen Paarlauf seit Jahren unerreichbar scheinen. Aljona Sawtschenkos Geschichte ist ty- pisch für Eiskunstläufer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, und dennoch ist sie ungewöhnlich. Viele Kufenkünstler aus Moskau, St. Petersburg, Minsk oder Kiew sind im letzten Jahrzehnt in den Wes- ten gekommen, um dem harten Konkur- renzkampf in der Heimat oder den armseli- gen Lebensverhältnissen zu entfliehen. Doch während die Solisten bei ihrer Wahl auf nie- manden sonst Rücksicht nehmen müssen,

ANDREAS ALTWEIN / DPA ALTWEIN ANDREAS treibt Paarläufer und Eistänzer fast immer Meisterpaar Sawtschenko/Szolkowy: „Lässt sie sich führen, habe ich sie an der Hand?“ nach einer Trennung die Suche nach einem geeigneten Gefährten ins Ausland. Im Inter- net bieten Seiten wie icepartnersearch.com EISKUNSTLAUFEN inzwischen einen virtuellen Kontakthof für Alleinlaufende. Neben den üblichen Infor- mationen über Alter, Körpergröße, Musik- E-Mail in den Westen geschmack und Staatsangehörigkeit lautet die entscheidende Frage: „Bist du bereit um- Aljona Sawtschenko fand in der Ukraine keinen Paarlauf-Partner zuziehen?“ Binationale Paare sind längst keine Aus- mehr. Sie bewarb sich in Chemnitz – und wurde nahme mehr – und bisweilen sogar überaus Deutscher Meister. Jetzt soll sie in der neuen Heimat Träume erfüllen. erfolgreich: Die Russin Marina Anissina etwa war vor rund zehn Jahren von ihrem ichts, gar nichts ist in der Chemnit- Sawtschenko seit einem halben Jahr ein Partner sitzen gelassen worden. Weil sich zer Trainingshalle vom Glamour ei- ebenso kontrastreiches wie harmonisches daheim kein adäquater Ersatz anbot, Nner Eisgala zu spüren. Außen schält Duo. Bei der nationalen Meisterschaft zu schrieb die Eistänzerin Briefe an zwei jun- sich der Putz fladengroß vom Beton, drin- Jahresbeginn verliehen sie dem siechen- ge Athleten in Kanada und in Frankreich. nen wirkt der hohe Bau mit dem Rohrge- den deutschen Eiskunstlauf wieder einen Der eine, Gwendal Peizerat aus Lyon, mel- flecht unterm Blechdach wie eine entkern- Hauch von Glanz – auf Anhieb holten sie dete sich, Anissina packte ihre Koffer und te, tiefgekühlte Fabrik. Drei Paare kreisen den Titel. wurde später Französin. Gemeinsam ge- scheinbar ziellos umher, statt glitzernder wannen sie 2002 Olympia- Kleidchen oder flatternder Seidenhemden gold – Silber blieb für Ilja tragen sie dunkle Trainingskluft ohne Zier- Awerbuch, Anissinas Ex, rat. Keine tosende Kürmusik übertönt das und Irina Lobatschewa, de- Kratzen der Kufen, wenn die Läufer ab- rentwegen er Anissina ver- springen, und die dumpfen Schläge, mit lassen hatte und in Moskau denen sich die Schlittschuhe wieder in den geblieben war. Untergrund krallen. Aljona Sawtschenko Der Ukrainerin Aljona Sawtschenko, 20, machten Beispiele wie die- indes bietet die triste Stätte, in der einst Ka- ses Mut, es selbst in der tarina Witt zum Weltstar geformt wurde, Fremde zu versuchen, als vergleichsweise paradiesische Zustände. sie solo war. Nach den Anders als in ihrer Heimatstadt Kiew geht Olympischen Winterspie- es zu den Übungsstunden pünktlich aufs len in Salt Lake City hatte Eis, das eine Maschine vorher lückenlos sie sich mit ihrem Partner glättet. Das Dach hält dicht, und der Trai- Stanislaw Morosow zer- ner zeigt geduldig, woran es bei Würfen stritten; und mit dem Eis- und Pirouetten hapert, statt herumzukom- kunstläufer, den die ukrai- mandieren. Vor allem aber hat sie hier ge- nischen Trainer für sie als funden, was eine Paarläuferin am aller- Ersatz auserkoren hatten, nötigsten braucht: einen Partner. mochte sie nicht laufen. Mit dem Chemnitzer Robin Szolkowy, Also wandte sich Aljona

vier Jahre älter, einen Kopf größer und DÖRING / VISUM SVEN Sawtschenko per E-Mail an dunkelhäutig, bildet die zierliche, blonde Deutschschülerin Sawtschenko: Auf Russisch tuscheln einen deutsch-russischen

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Journalisten, der wiederum der DEU den Pünktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit ha- Tipp gab, dass sie gern nach Deutschland ben sie damals beeindruckt, „und die Leu- übersiedeln würde. te halten ihr Wort“. Andererseits besitzt Die Bewerbung landete bald darauf die Kategorie Traum keine Relevanz bei beim Chemnitzer Trainer Ingo Steuer, der den Einwanderungsbehörden, Ordnung seinerseits dringenden Bedarf hatte: Sein schon eher. Die deutsche Staatsangehörig- Paarläufer Robin Szolkowy wollte schon keit, Voraussetzung für eine Teilnahme bei den Sport aufgeben, weil er keine Partne- den Olympischen Winterspielen 2006, er- rin fand. Steuer, ehemaliger Europa- und hält sie nur, wenn sie Sprachtests besteht. Weltmeister im Paarlauf, besorgte sich Vi- Zwischen Vormittags- und Abendtrai- deomitschnitte von Sawtschenkos Auftrit- ning besucht Aljona Sawtschenko einen ten. „Drei- oder viermal war sie bei ihrer dreistündigen Deutschkurs an der TU, wie olympischen Kür aufs Eis geflogen, so rich- fast jeden Wochentag. Gut ein Dutzend tig brutal, nacheinander – und jedes Mal ist Schüler sitzen an den Tischen, die meisten sie aufgestanden und hat weitergemacht“, sind Chinesen, dazu zwei Vietnamesinnen, sagt Steuer. „Ihr Mut und ihr Tempera- ein Syrer und neben Sawtschenko noch ment haben mich beeindruckt.“ Der Rest war sachliche Analyse: Sie ist gelenkig wie eine Ballerina, klein und leicht genug für Wurffiguren und trotzdem ausreichend kräftig, um die Wucht der Lan- dung abzufedern, und ihre Schlittschuh- technik gilt unter Fachleuten als hervorra- gend. Bei einem Probetraining im Mai in Chemnitz wurden letzte Zweifel beseitigt. „Lässt sie sich führen, habe ich sie an der Hand?“, fragte sich Szolkowy. Und merk- te „schon nach zwei Tagen: Das kann was werden“. Seit August trainieren sie fest zu- sammen.

In diesem Januar sitzt Szolkowy nach DÖRING / VISUM SVEN dem Vormittagstraining in einem herunter- Neu-Chemnitzerin Sawtschenko gekommenen Zimmer in der Eishalle. Aus Einraumwohnung mit Plattenbaublick aufgeplatzten Nähten quillt das Sesselfutter, auf der Fensterbank steht eine unbenutzte ein junger Mann und eine junge Frau aus Kaffeemaschine, deren Stecker über dem der Ukraine. Sie alle haben in ihren Hei- Boden baumelt, aber dem Raum den Na- matländern systematisch Grammatik und men „Kaffeezimmer“ eingebracht hat. Szol- Vokabeln gelernt, weil sie vom kommen- kowy hat vergangenen Winter notgedrun- den Semester an studieren wollen. gen beim Formationslaufen mitgemacht. Es Der Lehrer erklärt, dass das Wort „bun- war, als hätte sich ein Footballspieler bei desweit“ kein Adjektiv ist, sondern ein Ad- den Cheerleadern fit gehalten. Für einen verb. Und was der Unterschied zwischen neuen Deutschen Meister, dem das Schick- Partizip I und II ist. Die Chinesen schauen sal eine Spitzenläuferin an die Seite lanciert ihn mit großen Augen an und schreiben hat, wirkt er reichlich illusionslos. Seine beflissen mit. Sawtschenko stützt den Kopf letzte Partnerin vor Sawtschenko war eine auf die Hände, blättert im Wörterbuch und Russin, die auch als Migrantin ihr Glück wippt mit den Füßen auf den hohen Stie- suchte, dann aber aus einem Weihnachts- felabsätzen. Sie lächelt nur, wenn sie mit urlaub nicht mehr zurückkehrte. „War wohl ihrer neuen Freundin Kristina tuschelt, der Heimweh“, sagt Szolkowy. anderen Ukrainerin. Auf Russisch. Und Sawtschenko? „Ich denke, sie hat Aljona Sawtschenko ist hier ziemlich sich ganz gut eingelebt.“ Aber wirklich si- fehl am Platz. Sie musste schnell einen cher kann er sich nicht sein. Szolkowy, Kurs finden, und woanders kam sie nicht Sohn eines Tansaniers, der in Greifswald mehr unter. „Es ist schwer, sehr schwer“, Medizin studierte, fährt Aljona oft mit sei- stöhnt sie leise, als sie nach Kursende vor nem klapprigen Toyota durch die Stadt, der Tür steht. Der Lehrer, Typ einfühlsa- wenn sie zwischen Wohnung, Eishalle und mer Pädagoge, hat ihr schon vor einiger Sprachkurs hin- und herpendelt. Er hat ihr Zeit nahe gelegt, sich nach einem geeigne- auch eine Einraumwohnung mit Mikro- teren Unterricht umzusehen. „Davon“, welle, Fernseher und Plattenbaublick be- sagt er, „war sie nicht erbaut.“ sorgt. Aber sie ist allein nach Chemnitz ge- Am Abend trainiert Sawtschenko wieder kommen, ohne Eltern oder Freunde, sie in der Halle. Hier fühlt sie sich erkennbar lernt erst langsam Deutsch, sie muss sich wohler – aus der zaghaften Sprachschüle- mit Aufenthaltsbestimmungen auseinan- rin wird wieder die energische Eiskunst- der setzen und hat vorerst ein befristetes läuferin. So eine Partnerin hat Robin Szol- Visum. kowy noch nicht erlebt. Eis laufen sei für Sie selbst sagt, Deutschland sei ihr sie Arbeit. „Und zwar bis es nicht mehr Traumland, seit sie als 14-Jährige einmal zu geht, bis sie vom Eis kriecht.“ Nachwuchswettkämpfen hier gewesen ist. Detlef Hacke

90 der spiegel 5/2004 Panorama FOTOS: RICK WILKING / REUTERS / E-LANCE MEDIA / REUTERS RICK WILKING FOTOS: Demokratische Bush-Herausforderer Edwards, Dean, Kerry

USA habe sich die Steuerlast reduziert – Bush aber wirbt für seine Wiederwahl mit dem Argument, Steuersenkungen hätten die Familien entlastet und dazu beigetragen, die Wirtschaftskrise zu Starke Zweifel bewältigen. Die demoskopischen Daten stecken auch die Fronten im Wahlkampf ab: Die außenpolitischen Noten für den Präsi- eorge W. Bush stößt mit seiner Wirtschaftspolitik auf über- denten sind unverändert gut – 68 Prozent aller Amerikaner glau- Graschenden Widerstand in den eigenen Reihen. 40 republi- ben, dass er das Land im Kampf gegen den Terror sicherer kanische Abgeordnete kritisierten den Präsidenten nach seiner gemacht habe. In der Innenpolitik hingegen sind die Amerikaner Rede zur Lage der Nation am vergangenen Dienstag: Die Regie- gespalten: Nur noch 50 Prozent aller Befragten meinen, Bush er- rung, so der Vorwurf, habe die Kontrolle über das Haushaltsde- fülle seinen Job gut – der Saddam-Bonus ist aufgebraucht. Auf die fizit verloren. Nun wollen die Republikaner Druck auf das Weiße neuen Gegebenheiten haben sich die demokratischen Präsi- Haus ausüben, damit die Staatsschulden nicht weiter ungebremst dentschaftsbewerber, einschließlich des in Iowa ramponierten in die Höhe schießen. Indes bestätigen neueste Meinungsum- Howard Dean, schon eingestellt. In New Hampshire, wo an die- fragen, wie stark die Zweifel an Bushs Fiskalpolitik auch in der sem Dienstag der zweite Wahlgang stattfindet, konzentriert sich Bevölkerung inzwischen sind: Nur 19 Prozent erklärten in einer der neue Favorit John Kerry ebenso wie sein derzeit schärfster gemeinsamen Umfrage von „New York Times“ und CBS, für sie Rivale John Edwards auf innenpolitische Themen.

FRANKREICH RUSSLAND Krieg der Religionen Putins Maulwurf ider Erwarten trifft das ge- ie Administration von Präsident Wladimir Putin Wplante Kopftuchverbot an Dversucht alles, um die kommunistische Partei (KP), den öffentlichen Schulen auf mit angeblich 537000 Mitgliedern stärkste Oppositions- wachsende Skepsis. Erziehungs- kraft, handzahm zu machen. Eine maßgebliche Rolle minister Luc Ferry löste vergan- spielt dabei der Multimillionär Gennadij Semigin, 39. gene Woche im Parlament Be- Der Armee-Oberleutnant a. D. war Gründer einer fremden aus: Wenn im Namen „Finanz-Handelsgruppe“, deren dubiose Lebensmittel- des Laizismus, also der strikten geschäfte jahrelang die Staatsanwaltschaft beschäftigten. Trennung von Staat und Glau- Mit Hilfe von KP-Chef Gennadij Sjuganow avancierte

ben, wirklich alle „auffälligen“ / AFP JEAN-PIERRE MULLER er 1999 zum Duma-Abgeordneten. Immer unverhohle- religiösen Symbole untersagt Demonstration pro Kopftuch ner warb Semigin in der KP seither für einen Schmuse- werden sollen, müssten darun- kurs gegenüber Putin, ließ gar die Anti-Kreml-Kampa- ter auch die Turbane der Sikhs oder etwa bestimmte Barttrachten fal- gne der Parteispitze vor der Parlamentswahl im len. Jugendliche, so Ferry, seien sehr kreativ im Erfinden von Zeichen Dezember 2003 sabotieren. In enger Absprache mit der und würden zweifellos versuchen, das Verbot zu umgehen. Viele Ab- Präsidialverwaltung sägt der Kreml-Maulwurf nun am geordnete glauben nun, dass sich das Gesetz in der Praxis nicht klar Stuhl von Parteichef Sjuganow. Der erklärte Putin-Geg- anwenden lässt. Übermäßige Strenge könnte gar einen Religionskrieg ner soll auf einem Parteitag im Juni abgelöst werden. auslösen. Innenminister Nicolas Sarkozy hält die Vorlage für eine Putin hätte dann sein Ziel erreicht, neben einer konser- „Dummheit“. Doch die große Mehrheit der Volksvertreter will das vativen auch eine gemäßigt linke Partei auf den Weg zu Gesetz im Schnellverfahren verabschieden. „Der Radikalisierung der bringen. Sjuganow indes demonstriert Widerstand: In Islamisten auf der Straße entspricht jetzt die Radikalisierung der einem Brief an die Parteimitglieder kündigte er an, ge- Parlamentarier“, klagt der Rektor der Pariser Großen Moschee, Dalil gen den „Geldsack“ Semigin die „gesunden Kräfte“ der Boubakeur, er fürchte einen „laizistischen Fundamentalismus“. Partei zu mobilisieren – zwecks „Säuberung“.

94 der spiegel 5/2004 Ausland

ITALIEN Wahlkampf mit Skalpell ilvio Berlusconi sorgt mit seinem Sheimlichen Lifting weiter für Wir- bel. Seit Weihnachten hatte sich der milliardenschwere italienische Regie- rungschef nicht mehr öffentlich ge- zeigt. Erst vorigen Donnerstag wagte er sich wieder vor die Kameras – mit neu geglätteter Gesichtshaut, falten- ärmer, wenn auch noch etwas künstlich wie aus dem Wachsfigurenkabinett. Zwei Tage darauf feierte er mit jubelnden Anhängern im römischen Kongresspalast den 10. Geburtstag sei-

ner Partei und eröffnete damit den Eu- / AFPFAHIMI ropawahlkampf. Was er sagte, interes- Abgeordnete Kulai im Teheraner Parlament sierte dabei weit weniger als sein Aus- sehen. Mindestens zehn Kilogramm IRAN habe Berlusconi in nur sieben Tagen abgenommen, hatten Partei- und Koali- „Wir verteidigen unsere Rechte“ tionsfreunde schon vorab verkündet. Beim Fototermin für die Wahlplakate, Die Teheraner Abgeordnete Elahe seinem Rücktritt gedroht, falls der so heißt es in Rom, habe man freilich Kulai, 48, über ihren Machtkampf mit Wächterrat seine Entscheidung nicht feststellen müssen, dass auch eine dras- dem konservativen Wächterrat zurücknimmt. Wie viel Hoffnung setzen tische Entspeckung mit viel Rohkost Sie noch in ihn? und drei Liter Wasser pro Tag nicht ge- SPIEGEL: Frau Dr. Kulai, seit mehr als 13 Kulai: Der Staatschef hat bei Verände- reicht hätte, dem smarten Populisten Tagen fasten Sie mit rund 80 weiteren rungen in Gesellschaft und Politik eine den früheren Sieger-Look zurückzuge- reformorientierten Volksvertretern von entscheidende Rolle gespielt. Er wird ben. Also mietete sich Berlusconi im Sonnenaufgang bis -untergang. Damit erst dann zurücktreten, wenn er seine Dezember mit 17 Leibwächtern in der protestieren Sie gegen die Entscheidung Hoffnung auf Veränderungen aufgege- Tessiner Schönheitsklinik „Ars Medi- des Wächterrats, über 3500 Bewerber ben hat. Offensichtlich glaubt er noch ca“ bei Lugano ein und ließ sich Falten für die Kandidatur zur Parlamentswahl an eine friedliche Lösung des Konflikts. vom Hals glätten, eine neue Augenpar- am 20. Februar auszuschließen. Wie SPIEGEL: Würde der Rücktritt der Regie- tie modellieren sowie die Gesichtshaut lange wollen Sie durchhalten? rung Chatami das Land in eine Krise straffen. Fünf Stunden lang war ein Kulai: Wir sind fest entschlossen, unsere stürzen? Rechte zu verteidigen und so lange für Kulai: Noch hat Chatami seine Möglich- freie Wahlen zu fasten, bis wir unseren keiten nicht voll ausgeschöpft. Aber Gesetzen Achtung verschafft haben. wenn seine Bemühungen nicht fruch- SPIEGEL: Der Wächterrat wirft Ihnen ten, ist sein Verbleib im Amt sinnlos. „unislamisches Verhalten“ vor. Ein Rücktritt hieße, dass die Reformbe- Kulai: Leider überschreitet der Wächter- wegung versagt hat. rat seine gesetzmäßigen Kompetenzen und legt die Vorschriften sehr autoritär aus. Das ist nicht unsere erste Mei- nungsverschiedenheit mit dem Rat. Aber diesmal ist er weiter gegangen als zuvor. Er darf die Gesetze, die im Inter- esse der Bevölkerung erlassen wurden,

OLIVER BERG / DPA OLIVER nicht für eigene Ziele nutzen. Berlusconi vor und nach dem Lifting SPIEGEL: In der vergangenen Woche hat- te Religionsführer Ajatollah Ali Chame- aus Kalifornien angereistes Spezialis- nei versucht, den Wächterrat zum Ein- tenteam am Werk, unterstützt von den lenken zu bewegen. Daraufhin wurden plastischen Chirurgen der Schweizer immerhin 350 Kandidatur-Verbote auf- Klinik. Doch konnten die weltweit ge- gehoben. rühmten OP-Profis offenbar nicht Kulai: Die konservativen Kräfte haben verhindern, wie das italienische Maga- nur zum Teil auf Chameneis Empfeh- zin „L’Espresso“ enthüllte, dass Ber- lung gehört. Wir erwarten, dass der reli- lusconis Augenpartie anschwoll und giöse Führer weiter vermittelt, damit den Selfmademan wochenlang daran wir die Krise überwinden.

hinderte, sich wieder dem Volk zu SPIEGEL: Staats- und Regierungschef X / STUDIO / UPI CORBIS GAMMA ALI KHALIGH zeigen. Mohammed Chatami hat angeblich mit Staats- und Regierungschef Chatami

der spiegel 5/2004 95 Titel Die Jagd nach der Atombombe Skrupellose Wissenschaftler, Spione, Dealer: Ein internationaler Schwarzmarkt für Nukleartechnik zeigt, wie hilflos die Uno-Kontrolleure gegen die Weiterverbreitung der Kernwaffe sind.

Nordkorea, Iran und Libyen haben sich bei Pakistans / E-LANCE MEDIA / REUTERS AIZAWA TOSHIYUKI Atompiraten wohl schon bedient – wer kommt als Nächster? Nordkoreanischer Diktator Kim Griff nach der Bombe

er Blitz ist bläulich und wirft grelle untergeht, denkt Horibe noch. Dann Strahlen bis zum Horizont, bevor er springt sie. Und überlebt, um später immer Dalles in Dunkelheit stürzt. Der Ver- wieder ihre Geschichte zu erzählen – bis kehr, der Lärm, jede Unterhaltung erster- auch sie von den furchtbaren Spätfolgen, ben von einer Sekunde auf die nächste. Es durch den strahlenbedingten Krebs, da- legt sich eine unheimliche Stille über die ja- hingerafft wird. panische Großstadt Hiroschima an jenem Im Himmel über der Stadt notiert der 6. August 1945, um 8.16 Uhr morgens. amerikanische Co-Pilot der „Enola Gay“, Die junge Lehrerin Katsuko Horibe ist nachdem er den riesigen Atompilz gese- vor den anderen Kollegen in die Honkawa- hen hat, nur einen Satz: „Mein Gott, was Grundschule gekommen. Die dicken Mau- haben wir getan?“ ern schützen sie einigermaßen, jedenfalls In Hiroschima sterben an diesem 6. Au- vor dem sofortigen Tod, obwohl sie sich gust 1945 über 80000 Menschen und bis nur wenige hundert Meter von Ground Ende des Jahres noch einmal 60 000. Beim Zero aufhält – dem Zentrum der Bombe, zweiten Atombombenabwurf, am 9. Au- die in 550 Meter Höhe explodiert ist. Ho- gust 1945 über Nagasaki, lassen mindes- ribe merkt zunächst nichts von ihren tens 70 000 Menschen ihr Leben. Sechs Brandwunden, zugefügt von Hitzestrah- Tage danach kapituliert Japan. US-Präsi- len. Sie sieht nur die Kinder auf dem Schul- dent Harry S. Truman hat seine un- hof. Sieben sind es, ihre Haut ist schwarz, menschliche Entscheidung für die ultima- hängt in Fetzen vom Körper. Sie wimmern tive Waffe zeitlebens nie bereut, sie als bes- vor Schmerz. te Möglichkeit gewürdigt, einen von Japan „Zum Fluss“, ruft die Lehrerin, und die mit rücksichtsloser Brutalität geführten Kleinen folgen wie in Trance. Sie sind nicht Angriffskrieg zu beenden. die Einzigen. Es ist, als habe sich die Be- Was immer an Rechtfertigung für Hiro- Iranische Staatsführer Chatami, Chamenei völkerung Hiroschimas zum Treck Rich- schima angeführt wurde: Die Menschheit Einkauf auf dem Schwarzmarkt tung Wasser entschlossen. Jedenfalls alle, schien begriffen zu haben, dass der Einsatz die noch gehen, hinken, kriechen können. der Atombombe ein menschlicher Sün- Horibe sieht Hunderte verkohlter Leichen denfall war. Jedes Jahr läuten zur Erinne- auf dem Weg. An der Kaimauer des Flus- rung an die Angriffsminute die Glocken, ses bricht unter den Verzweifelten Panik ein dumpfer, mahnender Ton. Nie wieder, aus. Die Lehrerin wird niedergetrampelt, sagen die Festredner. Und verweisen re- verliert ihre Schutzbefohlenen – und wird gelmäßig auf den verantwortungsvollen keinen mehr wiedersehen. Umgang der Atommächte mit den Spreng- Sie rafft sich auf. Brennender Schutt von köpfen; auf die internationalen Kontroll- zerstörten Holzhäusern blockiert das Was- mechanismen zur Verhindung der Weiter- ser. Körper treiben vorbei. Menschen ne- verbreitung, die doch längst greifen. ben ihr fallen in den Fluss, gestoßen von Greifen sie wirklich noch? Oder hat der der Masse oder auch freiwillig. Die Ge- nukleare Krebs in den letzten Monaten sei- sichter sind verkohlt, blutig und auf grotes- ne Metastasen über die Welt verbreitet – ke Weise entstellt. Jetzt erst spürt die Leh- mit apokalyptischen Gefahren? Ein Ein- rerin, wie der Schock weicht, der Schmerz satz der nach Hiroschima so lange Zeit

zunimmt. Ihr Gesicht und ihre Kleidung „undenkbaren“ Waffe ist heute wieder / E-LANCE MEDIA REUTERS FOTOS: sind blutgetränkt. Sie spuckt eine seltsame gelbe Flüssigkeit. Die ganze Stadt steht in Terroristenführer Bin Laden Flammen. Dies ist der Tag, an dem die Welt Ultimative Waffe für al-Qaida?

96 der spiegel 5/2004 denkbar geworden, auch nach Meinung von Experten, die nicht zur Hysterie nei- gen. „Noch nie war die Gefahr so groß wie heute. Ich habe Angst davor, dass Atom- waffen in die Hände von skrupellosen Dik- tatoren und Terroristen fallen“, sagt Mo- hammed al-Baradei, 61, oberster Waffen- kontrolleur der Vereinten Nationen zum SPIEGEL. Verantwortlich dafür sind die unzurei- chend ausgestatteten Kontrollorgane der Uno, die trotz der verzweifelten Bemühun- gen ihres Chefs die Proliferation nicht ver- hindern konnten – und ein schillernder, ge- nial-gefährlicher pakistanischer Atomwis-

ATOMWAFFEN FÜR DIKTATOREN – DER NUKLEARE KREBS HAT METASTASEN GEBILDET.

senschaftler, zu dem viele Spuren eines blühenden internationalen Schwarzmarkts für Kerntechnik führen. „Dr. Strangelove“ nennen ihn seine Feinde. Eine Anspielung auf den Stanley-Kubrick-Film „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“, in dem eine versehentliche Zündung der ul- timativen Waffe zum Weltuntergang führt. ISLAMABAD, PAKISTAN, 17. JANUAR 2004 Abdul Qadir Khan alias Dr. Seltsam hat Freunde in seine Villa am Stadtrand ein- geladen, zu einem gemütlichen Samstag- abend-Dinner. Es ist halb neun, die Gäste sind gerade erst angekommen, und alle „himmeln den Hausherrn an“, wie einer der Eingeladenen später erzählt. Khan, 67, ist ein Frauentyp, groß gewachsen, mar- kantes Gesicht mit einem stets überlegenen Lächeln, volle silbergraue Haare und kes- ser Schnurrbart: mehr als ein Hauch von Omar Sharif. Wie so oft hat er die wilden Affen ge- füttert, die in dem Wald nahe seiner Resi- denz leben und den Hügel zu seiner Villa herunterturnen, hat Vogelfutter ausgelegt. „Ich könnte keiner Ameise ein Leid an- tun“, pflegt der Vater der pakistanischen Atombombe zu sagen. Die Massenver- nichtungswaffe sieht er als „Friedenswaf- fe“, sich selbst als Patriot und tief gläubi- gen Vorkämpfer aller Muslime. „Die west- lichen Länder, einschließlich Israel, sind nicht nur Feinde Pakistans, sondern des Islam“, wurde er zitiert. Khan ist an diesem Samstag vorvergan- gener Woche besonders gut gelaunt. Ge- rade hebt er zu einem Toast an „auf die guten Freunde und unser stolzes Land“, da umstellen Uniformierte die Villa. Sie ge- ben sich als Geheimdienstler zu erkennen. Sie führen Islam ul-Haq ab, den Freund und engsten Mitarbeiter Khans. Major

HALEY / SIPA PRESS / SIPA HALEY Haq, pensionierter Militär und einer der

Atompilz über Hiroschima (6. August 1945) „Mein Gott, was haben wir getan?“ 97 Titel

Leiter des prestigereichen Nuklearfor- oder Gewinnstreben Pläne und Materalien verantwortungsvolle Nation sind und die schungsinstituts von Kahuta, gilt als Num- für den Bau einer Atombombe weiterge- Weitergabe von Atomwaffen nicht erlau- mer zwei unter den pakistanischen Atom- geben zu haben? ben.“ Unruhe im Saal, vereinzelte Buhru- wissenschaftlern. Seiner Frau wird später Es ist ein riskantes Spiel, das Präsident fe. Tags darauf verhöhnten islamistische von den Behörden mitgeteilt, Haq werde Pervez Musharraf spielt, wenn er den Va- Abgeordnete den Präsidenten als „Lakai- wegen des Verdachts auf Preisgabe von ter der pakistanischen Bombe und seine en der Amerikaner“. Verwandte der Ver- Atomgeheimnissen verhört. engsten Mitstreiter so in die Zange nimmt. hafteten demonstrierten. Die Vereinigung Die Runde im Haus des Nationalhelden Dass Pakistan zu den Nuklearmächten der Rechtsanwälte drohte mit einem Streik löst sich nach der Verhaftung schnell auf. zählt – neben den fünf anerkannten Kern- ihrer Mitglieder. „Gefasst, aber bedrückt“ sei Khan gewe- waffenländern USA, Russland, Großbri- Seit sich Musharraf unmittelbar nach sen, wird später von Freunden berichtet. Er tannien, Frankreich, China sowie den spä- dem Terror vom 11. September 2001 an die ist sicher klug genug, um zu wissen: Die ter in den Kreis der „Bombenfamilie“ Seite der USA geschlagen hat und gegen Einschläge kommen immer näher, nach- gerückten Staaten Indien und Israel –, hebt die lange Zeit von Islamabad gehätschelten dem die Behörden nun mindestens acht Macht und Prestige der verarmten Nation Taliban und Qaida-Terroristen vorging, Nuklearwissenschaftler und Ex-Offiziere steht er im Fadenkreuz der Radikalen. Is- verhaftet oder verhört haben, darunter die PAKISTANISCHE ATOMWISSEN- lamistenparteien kontrollieren inzwischen Atomdirektoren Yasin Chohan und Farooq die Provinzparlamente der Northwest Mohammed. Die Behörden verboten Diens- SCHAFTLER SIND VOLKSHELDEN – Frontier Province und Belutschistan. Dort, tag vergangener Woche sogar allen Nu- UND STEHEN JETZT UNTER ARREST. im unwegsamen Bergland zur afghanischen klearwissenschaftlern bis auf weiteres, das Grenze, soll sich bis heute Osama Bin La- Land zu verlassen. Im Dezember hat ein den aufhalten, der zur Ermordung Mu- staatlicher Untersuchungsbeamter Khan (BSP pro Kopf: 420 Dollar). Man werde sharrafs aufgerufen hat. Zweimal im ver- schon einmal persönlich befragt, höflich, zur Not „Gras essen“, um so weit zu kom- gangenen Monat entging der Präsident nur respektvoll und mit der Bemerkung: „Dies men, hatte vor 30 Jahren schon Pakistans um Haaresbreite Attentätern. Sie attackier- ist kein Verhör, Sir.“ Aber er hat angedeu- Staatslenker Zulfikar Ali Bhutto gesagt. ten seine Fahrzeugkolonne, offensichtlich tet, dass er wiederkommen könnte. SPIEGEL-Redakteure erlebten noch im aus der unmittelbaren Umgebung des Prä- Nun scheint nicht einmal mehr undenk- vorletzten Frühjahr einen auf Atomerfolge sidenten mit detaillierten Informationen bar, dass Abdul Qadir Khan der Prozess ge- fixierten Staatschef: General Musharraf über seine Route und seinen Zeitplan ver- macht wird: einziger Bürger seines Lan- zeigte in seinem Vorzimmer einen Stein sehen. des, der den Staatsorden „Nishan-i-Imtiaz“ hinter Glas, der vom nuklearen Testgelän- Islamisten halten trotz wiederholter Säu- gleich zweimal verliehen bekam, Träger de stammt. Stolz wie ein Kardinal auf eine berungen Musharrafs weiter wichtige Posi- von 42 nationalen Goldmedaillen und an- kostbare Reliquie. tionen im Militär und beim Geheimdienst deren Auszeichnungen, Schulstifter und Am Tag, als er Khans Vertrauten aus ISI. Während die anti-westlichen Fanatiker Moscheenbauer und bis heute „Berater des dessen Villa heraus verhaften ließ, sprach empört sind, dass der Präsident in Pakistan Ministerpräsidenten“. Kann man Khan & Musharraf zum ersten Mal vor dem Parla- FBI- und CIA-Agenten mehr oder weniger Co. nachweisen, an Pakistans Autoritäten ment. „Unsere nukleare Macht dient der offen operieren lässt, beklagen die Ameri- vorbei aus ideologischer Überzeugung Verteidigung Pakistans“, sagte der Militär, kaner immer wieder die Kompromisse, die der sich im Oktober 1999 an die Musharraf aus taktischen Gründen mit Macht geputscht hatte. Beifall von Fundamentalistenparteien macht. Der Ge- Die Atom- den Abgeordneten. „Wir müssen neral tanzt auf einem Drahtseil, jede zu Arsenale der Welt beweisen, dass wir eine entschlossene Bewegung in die eine oder Staaten im Besitz von Kernwaffen

Nukleare USA RUSSLAND ca. Sprengsätze Pakistan Indien 2003 • Israel Großbritannien bis bis 10656 10000 China Frankreich 30 50 30 40 402 348 über 200 185

UdSSR/Russland 55000 Sprengsätze seit 1949

Großbritannien China 1200 Sprengsätze 600 Sprengsätze seit 1953 seit 1964 USA Frankreich Israel 70000 Sprengsätze 1300 Sprengsätze sseiteit cca.a. 11967967 seit 1945 seit 1964 Pakistan Indien seit 1998 seit 1998 anerkannte Atommächte und Sprengsatz-Produktion insgesamt De-facto-Atommächte Quelle: CDI, Sipri Verkaufsbroschüre der Khan-Labors „Appetit auf mehr“

vorhebt – etliche der Spuren führen die Fahnder nach Pakistan. Weltumspannend sind die Ermittlungen. Ein ganzes Netz du- bioser Geschäftsleute und Mittelsmänner in Europa, Nahost und Asien verdient an dem Geschäft mit. Auch mindestens ein deut- scher Geschäftsmann steht unter Verdacht. Für Pakistans Ministerpräsident Mu- sharraf geht es nur noch darum, nicht per- sönlich in den Skandal hineingezogen zu werden. Wenn es atomare Schandtaten gab, dann nicht zur Amtszeit dieses Präsi- denten, suggerieren seine Sprecher. Die Regierung Bush scheint entschlos- sen, ihrem vielleicht wichtigsten Alliierten im Krieg gegen den Terror zu glauben, ob- wohl Musharraf zumindest zur Zeit der letz- ten Lieferungen nach Libyen schon an der Macht war. Atomwissenschaftler Khan aber, dem von der Regierung in den Neunzigern

USMAN KHAN / AFPUSMAN jahrelang ein Privatflugzeug für Trips in alle Pakistanischer Nationalheld Khan: Die Bombe als großer Gleichmacher Welt zur Verfügung gestellt worden war, wird kaum auf Ahnungslosigkeit plädieren andere Richtung kann seinen Sturz bedeu- für das skrupellose Verscherbeln des ato- können. Die ideologische Weiterverbrei- ten. Noch vor einigen Wochen hat er jeden maren Feuers. tung der Bombe ist sein Credo (obwohl er Verdacht empört zurückgewiesen, Pakistan Ob im stalinistischen Nordkorea, das mit das bei seiner jüngsten Vernehmung be- hätte etwas mit der Weiterverbreitung von seinen angeblich schon zusammenge- stritten haben soll), geheime Deals bis hin Bombenplänen und Nukleartechnik zu tun. bastelten Atombomben die Welt zu er- zum Diebstahl sind seine Spezialität: So Inzwischen lautet die Sprachregelung, ein- pressen versucht; ob in der Religionsdik- lernte Dr. Seltsam, die Bombe zu lieben. zelne Wissenschaftler könnten „unehren- tatur Iran, wo nicht deklarierte Nuklear- haft gehandelt“ und „sich auf eigene Faust anlagen wie die bei Natans eine heimliche ABDUL QADIR KHAN illegal bereichert haben“. Uran-Anreicherung sicherstellen sollten; wächst in unruhigen Zeiten auf, und zwar Wenn der Präsident jetzt so offen auf ob in Libyen, wo der Präsidentensohn Saif im Land des Erzfeindes Indien. Sein Vater, Distanz zu seinen Nationalhelden geht, al-Islam Gaddafi nach dem überraschen- ein Lehrer, beschließt nach der blutigen dann handelt es sich um eine unvermeid- den Schwenk Richtung Westen im Dezem- Teilung Britisch-Indiens zunächst, mit sei- liche Flucht nach vorn. Amerikanische ber offen verkündete, man habe „für 40 ner Frau und den fünf Kindern in Bhopal Agenten und unabhängige Waffenkontrol- Millionen Dollar“ Gaszentrifugen und zu bleiben. Abdul ist 16, als sich die tief re- leure der Uno fanden erdrückende Bewei- Baupläne auf dem Schwarzmarkt einge- ligiöse Familie dann doch entschließt, in se für einen Schwarzmarkt des Schreckens, kauft und dabei ein Land besonders her- den Muslimstaat Pakistan („Land der Rei-

der spiegel 5/2004 99 Titel nen“) zu emigrieren. Er beobachtet, wie verstecken sind. Die geheime Technologie ist ten Direktor benannt. Khans Zentrifuge, aufgehetzte Hindu-Soldaten an einem wie eine hochtechnische Variante des Gold- stellen Experten später fest, gleicht dem Bahnhof willkürlich Frauen berauben. Ihm waschens. Sie bedarf Hunderter präzise ge- europäischen Design fast wie ein Ei dem selbst entreißt ein Grenzer einen Kugel- arbeiteter Zentrifugen, deren Rotoren mit andern – was es den Atomfahndern heute schreiber, den ihm sein Bruder zum Exa- hoher Geschwindigkeit arbeiten. vergleichsweise einfach macht. Ob in Iran men geschenkt hat. „Der Stift hatte nur Deutsche Ingenieure entwickeln Ende oder Libyen, ein Blick, einmal das Maß- ideellen Wert. Aber ich vergesse das mein der sechziger Jahre zwei besonders fort- band gezückt: Stets sind die Zentrifugen Leben lang nicht“, sagt Khan später. schrittliche Zentrifugentypen, in der Fach- baugleich denen, die Khan entwendete. Er beendet seine Schulausbildung in Ka- sprache G-1 und G-2 genannt. In dem von Noch musste er sich Technologie zusam- ratschi und bekommt wegen seiner blen- Niederländern und Briten mitgegründeten menkaufen. „Aber Firmen bettelten förm- denden Leistungen 1961 ein Stipendium an Drei-Staaten-Konsortium Urenco müssen lich darum, uns ihre Waren zu liefern, der Technischen Universität in West-Berlin. komplizierte technische Beschreibungen während ihre Regierungen unseren Auf- Anschließend zieht es den Studenten ins ständig hin- und herübersetzt werden – ein stieg zur Atommacht verhindern wollten“, niederländische Delft, wo er in Metallur- wurde der Wissenschaftler später in einem gietechnik sein Diplom macht. 1972 pro- KHAN KLAUT FÜR DIE ARMEN – Interview zitiert. moviert er an der Katholischen Universität 1983 verurteilt ein Gericht in Amster- von Leuven in Belgien. UND SIEHT SICH ALS „ROBIN dam ihn wegen Industriespionage in Ab- Ein Wunderkind sei er gewesen, sagen HOOD DES ATOMZEITALTERS“. wesenheit zu vier Jahren Haft. Dr. Selt- Kommilitonen von damals. Geradezu geni- sam bestreitet bis heute, Kopien gemacht al als Ingenieur, enorm sprachbegabt, immer zu haben. Inzwischen ist das Urteil aufge- von einer Aura des Geheimnisvollen um- unbeliebter Job. Da ist jeder im Werk hoben, allerdings nur wegen eines verfah- geben. Khan heuert in Amsterdam bei ei- dankbar, dass sich der sprachbegabte Pa- renstechnischen Fehlers – die Richter hat- nem Zulieferer des britisch-deutsch-hollän- kistaner einschaltet. Und weil es so ten es nicht geschafft, dem Angeklagten dischen Zentrifugenbauers Urenco an. (Die schrecklich viel Arbeit ist, stört sich auch die Vorladung fristgerecht zuzustellen. Firma ist bis heute im Geschäft und betreibt keiner daran, dass er Unterlagen der alten Khan arbeitet damals fieberhaft am Un- im westfälischen Gronau die einzige deut- und neuen Zentrifugentechnik gelegent- ternehmen „islamische Bombe“. Finanziert sche Uran-Anreicherungsanlage.) lich mit nach Hause nimmt, um nach Feier- wird es wesentlich durch „Spenden“ der Der Pakistaner ist gerade eine Woche in abend, und mit dem Kopierer in ungestör- reichen Ölstaaten Saudi-Arabien und Li- seinem Job, da wird er ins niederländische ter Nähe, weiterzumachen. byen. Auch die Volksrepublik China, lan- Almelo geschickt, wo Urenco eine Anrei- Im Januar 1976 ist der nette Herr Khan ge ein enger Verbündeter Pakistans, ist in- cherungsanlage baut. Die Sicherheitsbe- dann verschwunden. Ein plötzlicher Krank- volviert. Doch schon Jahre bevor Khan & stimmungen sind lax, Khan kommt buch- heitsfall in der Familie, er bitte um Ver- Co. selbst die Bombe zünden können, be- stäblich über Nacht ins Allerheiligste – an ständnis. Wochen später schreibt seine ginnt offenbar der Deal mit den Nuklear- die Quelle der nuklearen Feuerstelle, von Frau an Nachbarn, Abdul habe Gelbfieber, kenntnissen. Westliche Geheimdienstler der jeder Bombenbauer träumt. Denn bei seine Rückkehr verzögere sich. Noch wird greifen sich heute an den Kopf, dass es niemand misstrauisch. Erst als nicht gelungen ist, den Atompiraten das Khan im März 1976 mit einem Handwerk zu legen. Denn aktiv werden Brief aus Pakistan offiziell kün- sie in Iran, Nordkorea und Libyen, alle- digt, gehen bei den Europäern samt Staaten, die – anders als Pakistan – erste Warnlichter an. den Atomwaffensperrvertrag unterschrie- Es ist zu spät. Khan gründet ben und sich damit internationalen Kon- auf der Basis der in Europa ge- trollen unterworfen haben. wonnenen Erkenntnisse in der Erstes Land der geheimen Geschäfte ist Heimat sein eigenes Nuklearfor- nach neuesten Erkenntnissen die Islami- schungsinstitut. 1985 wird in Pa- sche Republik Iran. Die Wissenschaftler in kistan erstmals Uran angerei- Teheran sind mit ihren Bemühungen zur

DIETMAR HASENPUSCH DIETMAR chert, das Institut in Kahuta, 40 Uran-Anreicherung gescheitert; da kommt, Deutscher Frachter „BBC China“ Kilometer südlich der Haupt- dafür sprechen alle bisherigen Ermittlun- Heiße Fracht für Gaddafi stadt, wird nach seinem gefeier- gen, 1987 Hilfe aus Pakistan. Die Regie- der Herstellung einer Kernwaffe ist nicht das Design des Sprengkopfs das größte IRAN Bombe auf Problem, diese Technik beherrschen kun- dige Physiker. Sondern der Erwerb des wurde wohl über dem Basar Jahre bei seinem richtigen Zündstoffs. Uran-Anreicherungs- Pakistanische Wissen- Der eine Weg dazu ist die Gewinnung programm mit Know- schaftler stehen im von Plutonium. Dieser Stoff, hoch radioak- how unterstützt. dringenden Verdacht, tiv und spaltbar, wird bei der Wiederauf- Atomwaffen-Techno- arbeitung den verbrauchten Brennstäben ei- logie verkauft zu nes Reaktors entnommen. Schwer, dies im LIBYEN haben. Geheimen zu tun, zumal wenn der Reaktor half Pakistans überprüft wird. Der andere Weg führt über NORDKOREA die Uran-Anreicherung – und hat große Vor- Atomplänen bereits in den siebziger soll im Tausch für teile: Man braucht dafür nur „normales“ Jahren mit Uranerz PAKISTAN Zentrifugen-Technik Natururan, das auf dem Weltmarkt relativ und Geld. Bekam dafür und Komponenten zur leicht erhältlich ist; und man kann den Pro- offenbar Zentrifugen- Uran-Anreicherung an zess der Hochanreicherung zum waffen- Bauteile für das eigene Pakistan Mittelstrecken- fähigen U 235 in Anlagen durchführen, die Bombenprogramm. Raketen geliefert haben. relativ einfach vor neugierigen Augen zu

100 der spiegel 5/2004 Pakistanischer Atombombentest (1998): „Zur Not Gras essen“ rung winkt offenbar ab. Aber der wirklich setzt. In diesen Zeiten schien anderes mächtige Mann im Land ist, wie so oft in wichtiger: Es tobte die fast hysterische der Geschichte Pakistans, ein Militär: der Diskussion, dass untreue russische spätere Armeechef Mirza Aslam Beg. Er Bombenbauer und geklaute Atom- soll nach den noch geheim gehaltenen Aus- sprengköpfe aus der untergegange- sagen der jetzt verhafteten Wissenschaftler nen Sowjetunion die größte Gefahr den Millionendeal mit Teheran genehmigt für den Weltfrieden seien.

haben. General Beg, heute in Pension, Als Nächstes erscheint Khans Na- / E-LANCE MEDIA (U.) REUTERS (O.); DPA leugnet die Vorwürfe. Er hat allerdings aus me 1990 in dem Brief eines Mittels- Präsident Musharraf seinem Wunsch nach einer anti-amerika- manns aus Dubai, der Saddam Hus- Riskantes Spiel des Generals nischen Staaten-Allianz nie ein Hehl ge- sein Nukleartechnologie anbietet – in macht, sogar noch im Golfkrieg von 1991 diesem Fall ohne Erfolg. Der Diktator hat von US-Geheimdiensten – der Deal mit Saddam Hussein unterstützt. seine Wissenschaftler die geheimen Zen- Nordkorea. 1992 unternimmt der Wissen- Die Hilfe der Khan-Techniker bringt die trifugenpläne zwar schon beschaffen lassen schaftler die erste von mehr als einem Dut- Iraner weiter. Aber sie müssen ihr Pro- – aber nicht pakistanische, sondern deut- zend Reisen nach Pjöngjang. Diktator Kim gramm vor den Uno-Inspektoren verber- sche Experten lieferten sie. Nach der Jong Il hat etwas zu bieten: Atomar be- gen und gehen bei weiteren Einkäufen er- „Operation Wüstensturm“ und der Befrei- stückbare Nodong-Raketen mit einer staunlich vorsichtig zu Werke. ung Kuweits im Januar 1991 wird dem ira- Reichweite von 1500 Kilometern – im Immerhin fallen deutschen Ermittlern kischen Aggressor von der Uno ein Abrüs- Tauschgeschäft gegen Zentrifugentechno- Mitte der neunziger Jahre iranische Firmen tungsprogramm verordnet; die Kontrol- logie. Seit 1997 hat Nordkorea Nuklear- auf, die Spezialmagneten und hochfestes, leure sehen bei ihrem Abzug aus Bagdad technologie erhalten, mit der sich abseits gegen Korrosion geschütztes Aluminium im Dezember 1998 keinerlei Anhaltspunkt der den Amerikanern bekannten Anlagen für Zentrifugen zu kaufen versuchen. Eine mehr für ein Nuklearprogramm. waffenfähiges Uran herstellen ließ. Überprüfung der Abmessungen nährt den Unterlagen über den angeblichen iraki- Pakistans Raketentechnik macht einen Verdacht, dass es sich um europäisches schen Kauf von Natururan in Niger und großen Sprung nach vorn. Die neuen Design der Firma Urenco handelt. Der den Erwerb von Zentrifugenteilen, die US- Ghauri-Raketen, stolz bei Militärparaden BND schreibt damals in einem Geheim- Außenminister Colin Powell am 5. Febru- präsentiert, sehen den koreanischen No- papier: „Es soll eine Zusammenarbeit der ar 2003 vor dem Sicherheitsrat als Gründe dongs zum Verwechseln ähnlich. Den USA Atomenergie-Organisation Irans mit den für eine sofortige Invasion anführte, sind und ihren Weltraumsatelliten bleiben die pakistanischen Khan-Laboratorien geben.“ heute als blamable Fälschungen und Irrtü- Deals lange verborgen. Die Politik tut wenig, Teheran wird zu- mer entlarvt. Die große Stunde des persönlichen Tri- nächst weder von europäischen Regierun- Vielversprechender als das Saddam- umphes für Abdul Khan schlägt im Mai gen noch von der Uno unter Druck ge- Business ist für Khan – nach Überzeugung 1998. Nur Wochen nach den – von brillan-

der spiegel 5/2004 101 Titel ten eigenen Wissenschaftlern initiierten – indischen Atomtests zündet auch Pakistan erfolgreich Kernwaffen, in der Nähe der unbewohnten Chagai-Berge. Dr. Seltsam ist am Ziel. Er feiert mit Freunden in sei- nem Büro von Rawalpindi mit Orangensaft, und nach dem Ausschalten der Kameras auch mit Whisky. Die ganze Wand hinter seinem Schreib- tisch ist von einem Gemälde bedeckt, das in Blutrot gehalten ist: Es zeigt verwunde- te Muslime auf einem Eisenbahnwagen bei ihrer Flucht aus Indien – eine permanente Erinnerung an die „Gräuel der Hindus“, wie Khan zu sagen pflegt, ohne Gräuel- taten der Muslime bei dem gegenseitigen Abschlachten während der Teilung von 1947 zu erwähnen. Khan ruht sich nicht lange aus auf seinen Lorbeeren. Er will wohl mehr sein als der Vater der pakistanischen, der islamischen Atombombe: auch der internationale Pate der Proliferation. Er sieht sich, wie er Freunden einmal sagt, als „eine Art Robin Hood des Atomzeitalters“. Er möchte der armen Dritten Welt geben, was die reiche Erste ihr vorenthält: die Bombe als großen Iranische Atomanlage in Natans, nordkoreanischer Reaktor in Yongbyon: Erfolgreich mit Gleichmacher. Haben das einige seiner Leute so ver- meine Rechnung bezahlen, alle wollten fugen, Rotoren und Magnete gezeigt, auch standen, dass auch al-Qaida-Kämpfer in mich einladen, mir gratulieren – was für Vakuumpumpen einer hessischen Spezial- den Genuss der ultimativen Waffe kom- ein Gefühl.“ Er wird reich. Pakistans firma. Das meiste war in Kisten verpackt: men sollten? Zeitungen wissen von Beteiligungen an modernste Bestandteile für eine Gaszen- Es gibt keinen Beweis dafür, dass der Hotels und Restaurants zu berichten, selbst trifuge, Ausgangspunkt der Uran-Anrei- Chef etwas von solchen Plänen erfahren, ein Nachtclub der Hauptstadt namens cherung. Nun sollen US-Experten die An- sie gar genehmigt hat. Aber 1999 konferie- „Hotshot“ soll, so geht das Gerücht, ihm lagen außer Landes schaffen, nach Protesten ren in der Taliban-Hochburg Kandahar gehören. auch im Beisein der IAEA-Fachleute, die zwei Nuklearwissenschaftler mit bekann- Neben dem Glamour lernt Khan aber sie zunächst für überflüssig gehalten hatten. ten Beziehungen zu Pakistans Islamisten- auch die Gefahr kennen, die seine Schat- Am Fall Libyen zeigt sich jetzt exempla- parteien und hochrangige Vertreter der tengeschäfte mit sich bringen. Über Nacht risch, wie raffiniert inzwischen das inter- Terrororganisation. Die Qaida-Männer sind verliert er zwei seiner besten Bekannten. nationale Schwarzmarktnetz geknüpft ist. interessiert an der Atomtechnik, doch sie Der Nordkoreaner Kang Tae Yun ver- Im Zentrum dieses Schmuggels: ein deut- schwindet auf Nimmerwiedersehen – sei- sches Schiff. EIN INTERNATIONALES SCHWARZ- ne Frau wird zwei Wochen nach dem pa- Amerikanischen und britischen Ge- kistanischen Atomtest erschossen. Später heimdienstlern war schon im Oktober ver- MARKTNETZ – UND MITTENDRIN heißt es, die beiden hätten über die Nu- gangenen Jahres gelungen, einen wichtigen EIN DEUTSCHES SCHIFF. kleardeals auspacken wollen und seien auf Atomdeal aufzudecken – möglicherweise Befehl Pjöngjangs liquidiert worden. war diese Entlarvung der letzte Anstoß für Khan trifft nach seinem Triumph viele den erratischen Revolutionsführer Muam- erkennen angeblich, dass sie nicht über die hochrangige Gäste. Im Frühjahr 1999 emp- mar al-Gaddafi, sein Nuklearprogramm technologischen Voraussetzungen verfü- fängt er in seinen hoch geheimen Labora- aufzugeben und den überraschenden gen – so berichten jedenfalls die pakista- torien Sultan Ibn Abd al-Asis, den mächti- Schwenk Richtung Westen zu vollziehen. nischen Emissäre dem amerikanischen gen Verteidigungsminister Saudi-Arabiens. Der deutsche Frachter „BBC China“, so Geheimdienst. Von einer einfacheren Er ist bis heute der einzige ausländische die Erkenntnis der Agenten, hatte Atom- „schmutzigen“ Bombe sind die Terroristen Politiker, der sich in Pakistans Atomaller- fracht geladen. Mit Hilfe des wohl ah- jedoch sehr fasziniert. Und bekunden bei heiligstem umsehen darf. Seitdem hat es nungslosen Reeders aus dem niedersächsi- einem erneuten Treffen mit der Qaida – noch mehrere Treffen mit prominenten schen Leer wurde das Schiff ins italienische diesmal unter der Führung von Osama Bin Saudis gegeben. Die Finanziers fürchten Taranto umgeleitet. Deutsche Experten Laden selbst – erneut Interesse. Ba- nach der Abkühlung des Verhältnisses zu konnten am 6. Oktober die abgeladenen schiruddin Mahmud, Chef des Kommissa- Washington allem Anschein nach, vom fünf Container inspizieren. riats für pakistanische Atomenergie, soll Strom amerikanischer Hightech-Waffen ab- In den Transportbehältern fanden sich laut „Wall Street Journal“, Anfang August geschnitten zu werden: Sind sie jetzt auch mehr als 2000 Gehäuseteile, exakt der 2001, einen Monat vor dem Twin-Tower- am Eigenerwerb der Bombe interessiert? Urenco-G-2-Zentrifuge nachgebaut; dazu Terror, die Delegation aus Islamabad an- Ein Proliferations-Problemfall war bis Hunderte Vorrichtungen für das Einspeisen geführt haben. vor kurzem auch Libyen. Mitte Dezember des Gases und die Entnahme des hochan- Khan wird nach der erfolgreichen Ex- überraschte Tripolis die Welt mit dem Ein- gereicherten Urans – Hightech-Ware für plosion in seiner Heimat jedenfalls auf geständnis, man habe ein geheimes Atom- den Bombenbau. Deklariert war die heiße Händen getragen. Und der schillernde waffenprogramm unterhalten, wolle es jetzt Fracht mit den gefälschten Containernum- Held genießt seinen Ruhm, badet in seiner aber beenden. Uno-Experten bekamen mern als „Präzisionsmaschinenteile“, als Popularität: „Ich konnte nirgendwo mehr kurz vor Silvester zwei komplette Zentri- Empfänger fungierte der libysche „Natio-

102 der spiegel 5/2004 DIGITALGLOBE / AFP /E-LANCE MEDIA (R.) (L.); REUTERS DIGITALGLOBE Tricksen, Tarnen und Totschweigen

nalrat für Wissenschaftsforschung“. Her- nationalen Zwischenhändlern zirkuliert. heran. Khan aber gibt sich gelassen. Er sei gestellt wurde das Material wahrscheinlich Auf dem Umschlag findet sich ein Siegel dabei, seine Memoiren zu schreiben, hat er von einer geheimnisvollen Firma in Ma- mit der Aufschrift „Regierung der Islami- einem pakistanischen Journalisten beim laysia, an Bord ging es in Dubai. schen Republik Pakistan“, daneben ein Gespräch in seiner Villa verraten. „Die Die Vereinigten Arabischen Emirate sind Bild Khans. Unterlegt ist das Ganze mit ei- ganze Truhe hier ist voll mit meinen Tage- ein Umschlagplatz, der in Geheimdienst- nem Schattenriss, der stark an einen Atom- büchern, nichts lasse ich aus, was mir in berichten öfter auftaucht. Den Ermittlern pilz erinnert. Die Broschüre bietet Inter- meinem Leben passiert ist“, sagte Dr. Selt- gilt ein dort ansässiger britischer Ge- essenten Produkte der Nuklearindustrie an sam, in dem ihm eigenen Tonfall, halb dro- schäftsmann als einer der Hauptverdächti- – nichts direkt Verbotenes, aber vieles, das hend, halb scherzend. „Im Moment aller- gen. Pikantes Detail: Bei dem Engländer Appetit auf mehr macht. „Demnächst ge- dings komme ich nicht weiter. Ich habe gehen pakistanische Atomwissenschaftler hen die mit ihrem Atomschwarzmarkt noch den Schlüssel zu der Truhe verloren.“ ein und aus; Khan selbst betrachtet Dubai ins Werbefernsehen“, kommentiert sar- Welche Überraschungen stehen der Welt als seinen zweiten Wohnsitz. kastisch ein Geheimdienstler. Fälschung, noch bevor? Was genau ist der letzte Schrei Alles so hoch geheim, dass keiner Ver- sagen sie in Islamabad. Aber die deutschen auf dem internationalen Schwarzmarkt? dacht schöpfen konnte? Der „New York Experten, die das Werk seit Jahren kennen, Das präzise Design für die Bombe – oder Times“ und dem SPIEGEL fiel vor einigen glauben an die Echtheit. gar das Komplettpaket mit der Hilfe von Wochen eine Broschüre der „Khan For- Pakistans Regierung schickte vorige Wo- Experten bei der Montage, Nuklearwaffe schungslaboratorien“ in die Hände, die in che eiligst zusammengestellte Untersu- frei Haus? Möchtegern-Nuklearstaaten und bei inter- chungskommissionen nach Tripolis und Te- Das möchten gern auch die wissen, die von Berufs wegen dafür zuständig sind und derzeit bei den entscheidenden Entwick- lungen so wenig gefragt werden. Die Über- wachungsprofis der Vereinten Nationen. WIEN, INTERNATIONALE ATOMENERGIEBEHÖRDE Die IAEA hat ihren Hauptsitz ein wenig jenseits der Fiaker-Seligkeit der Touristen- zentren Wiens, auf der anderen Seite der Donau. Über 46 Jahre lang existiert die Organisation nun schon im Rahmen der Uno. Und sie soll dafür sorgen, dass das Geheimnis der Bombe auf keinen Fall ver- breitet wird. Die IAEA beschäftigt 2200 Angestellte, Diplomaten, Wissenschaftler, Inspektoren, Sekretärinnen, Fahrer; 269 Millionen Dollar Jahresetat. In der Eingangshalle des schmucklosen, funktionalen Hochhauses hängen die Flaggen aller 191 Uno-Staaten.

HALEY / SIPA PRESS / SIPA HALEY Streng alphabetisch geordnet, die irakische Libyscher Staatschef Gaddafi: 40 Millionen Dollar für den Bomben-Traum also direkt neben der israelischen, was Sad-

der spiegel 5/2004 103 Titel „Ein Atomkrieg rückt näher“ Chefwaffeninspektor Baradei über Schurkenstaaten und den nuklearen Schwarzmarkt

Mohammed al-Baradei, 61, ägyptischer Misstraute Washington Ihnen und der Ef- Diplomat, ist als Generaldirektor der fizienz Ihrer Organisation? Internationalen Atomenergiebehörde Baradei: Das weiß ich nicht. Ich sehe kei- (IAEA) oberster Waffenkontrolleur der nen unmittelbaren Anlass zu einer solchen Uno mit Sitz in Wien. Befürchtung. SPIEGEL: Politiker in Washington machen SPIEGEL: Herr Baradei, Sie haben kürzlich Ihnen zumindest unter der Hand den Vor- gesagt, 35 bis 40 Staaten könnten derzeit wurf, keinen Schimmer vom Ausmaß des in der Lage sein, Atomwaffen zu bauen. Ist gefährlich fortgeschrittenen Atomwaffen- der Nichtverbreitungsvertrag (NVV), den programms in Iran und Libyen gehabt zu Sie überwachen sollen, tot? haben. Hat die IAEA dort versagt? Baradei: Der NVV hat uns in den letzten Baradei: Es stimmt, dass Teheran und Tri- 35 Jahren viele Erfolge beschert, aber so polis unsere Behörde in der Vergangenheit geht es nicht weiter. Wir müssen ihn drin- getäuscht haben: Sie informierten uns gend den heutigen Gegebenheiten anpas- nicht über ihre Forschungen zum Know- sen – die Sicherheitskontrollen verstär- how und ihre internationalen Beschaf- ken, ausbauen, Verstöße sanktionieren. fungsversuche, wie es ihre Pflicht als Si-

Vor allem aber sollten wir alle Anlagen ANZENBERGER / AGENTUR REINER RIEDLER gnatarstaaten des NVV gewesen wäre. Ich weltweit, die waffenfähiges Material wie IAEA-Direktor Baradei glaube aber, dass wir entdeckt hätten, hochangereichertes Uran oder Plutonium „Über Nordkorea äußerst beunruhigt“ wenn diese beiden Staaten in großem Stil produzieren, unter eine multinationale angefangen hätten. Dazu braucht man La- Kontrolle stellen. SPIEGEL: Besorgnis erregend genug. Aber boratorien, die sind nicht so leicht zu ver- SPIEGEL: Ein sehr ehrgeiziges Programm, seit Nordkorea aus dem Vertrag ausge- stecken wie irgendwelche Baupläne. das radikales Umdenken voraussetzt. stiegen ist und vor gut einem Jahr Ihre SPIEGEL: Iran war mit der Uran-Anreiche- Baradei: Richtig. Die Internationale Atom- Inspektoren aus dem Land warf, verfügt rungsanlage bei Natans doch schon weit energiebehörde kann als eine Einrichtung womöglich erstmals auch ein unbere- vorangekommen. der Uno nur so stark sein, wie ihre Mit- chenbarer Diktator über die Waffe. Baradei: Diese Anlage ist uns ja auch nicht glieder das wünschen. Wir sind als In- Baradei: Es sieht ganz danach aus. Über verborgen geblieben. Wir wissen bis heu- spektoren sowohl die Herren als auch die die Entwicklung in Nordkorea bin ich te noch nicht mit Sicherheit, ob Iran Sklaven der Überwachten – eine schwie- äußerst beunruhigt. Ich wäre keinesfalls Atommacht werden wollte. Es gab ernst- rige Situation. überrascht, wenn Pjöngjang schon jetzt hafte Anzeichen dafür, dass sie sich das SPIEGEL: Und nicht alle Staaten lassen sich über eine einsatzfähige Atombombe ver- Know-how aneigneten. Aber auf unseren überwachen, weil sie es als ungerecht fügt. Es gibt nur eine Lösung: Kim Jong Il Druck hin ist Teheran ja dem Zusatzpro- empfinden, dass laut NVV von 1968 den muss seine Nuklearanlagen wieder unse- tokoll zum Vertrag beigetreten. Dies gibt großen Fünf allein Nuklearwaffen gestat- ren Kontrollen unterwerfen. Wir müssen uns wesentlich erweiterte Inspektions- tet sein sollen. zurück zum Status quo. Auch Südafrika möglichkeiten: Wir können nun überall Baradei: Nicht für immer. Der NVV hat war ja schon De-facto-Atommacht und hat und mit kurzer Vorwarnzeit kontrollieren. das Arsenal der damaligen Atommächte dann verzichtet. SPIEGEL: Hätten solche Kontrollen auch in nur legitimiert, weil diese sich gleichzeitig SPIEGEL: Washington scheint diese Forde- Libyen etwas gebracht, oder verdanken zur Abrüstung verpflichteten – allerdings rung an Kim aufgegeben zu haben. Wäh- Sie alle neueren Erkenntnisse nur Gadda- ohne einen festen Zeitplan. Es gab dann ja fis Einlenken? ermutigende Abrüstungsschritte Ende der „FÜR KONTROLLEN HAT Baradei: Das libysche Atomprogramm be- achtziger Jahre und in den Neunzigern, fand sich noch ganz im Anfangsstadium. aber die sind fast zum Stillstand gekom- MEINE BEHÖRDE EIN MANDAT – Ich war im Januar selbst in Tripolis und men. Gegenwärtig existieren noch Zehn- UND NIEMAND ANDERS.“ habe mir das angeschaut – mehrere Jahre tausende Atomsprengköpfe auf der Welt. waren die meiner Schätzung nach von ei- SPIEGEL: Die USA unter Präsident George ner einsetzbaren Waffe entfernt. Ich sehe W. Bush lassen taktische „Mini Nukes“ rend Sie in Nordkorea keinerlei Zugang nicht, dass unsere Mechanismen in Libyen entwickeln. Die Atombombe wird damit, mehr haben, durfte eine inoffizielle ame- versagt hätten. Wissenschaftler, die sich nach einem Zeitalter der Ächtung, wie- rikanische Delegation gerade den Reaktor irgendwo in einer kleinen Lagerhalle tref- der zur denkbaren Waffe. von Yongbyon inspizieren. Vielleicht gibt fen: Wie sollen Sie solche Aktivitäten bei Baradei: Ich bedauere diese Entwicklung es bald einen Deal und dann US-Atom- Kontrollen entdecken? sehr. Sie widerspricht dem Geist des Ver- kontrollen in Nordkorea. SPIEGEL: Aber verfügten diese Wissen- trags. Man muss leider auch zugeben, dass Baradei: Für so etwas ist meine Behörde schaftler nicht schon über präzise Pläne wir es nicht geschafft haben, die Nicht- verantwortlich und niemand anders. Wir und wichtige Komponenten für den Bau unterzeichner des NVV an der Entwick- haben dafür ein vom NVV verordnetes einer Bombe? lung der Bombe zu hindern: Pakistan, In- Mandat. Baradei: Das war in Tripolis wie in Tehe- dien und wohl auch Israel sind Atom- SPIEGEL: Auch in Libyen wollten die Ame- ran das Erschreckendste: Offensichtlich mächte. rikaner eigene Inspektionen durchführen. haben die internationalen Exportkontrol-

104 der spiegel 5/2004 dam Husseins Emissäre früher zu wüten- len in den letzten Jahren völlig versagt. Baradei: Wir haben für unsere gesamten den, aber natürlich vergeblichen Protesten Es ist ein atomarer Schwarzmarkt ent- weltweiten Inspektionen pro Jahr einen veranlasst hat: Bagdad fühlte sich von der standen, vorangetrieben von einer phan- Etat von 100 Millionen Dollar. Die Ame- Nähe zum „Zionistengebilde“ beschmutzt. tastischen Cleverness. Da werden in dem rikaner haben für ihre Suche im Irak ein An einem Kiosk werden Souvenirs ver- einen Land Pläne gezeichnet, in einem Budget von einer Milliarde veranschlagt. kauft, Uno-Briefmarken, aber auch IAEA- anderen Zentrifugen produziert, die über SPIEGEL: Sie sind seit 1997 Chef der IAEA Golfmützen und IAEA-Jogginghemden. In einen dritten Staat verschifft werden – und seit Jahrzehnten mit der Nuklear- die Wand eingelassen ist ein mit Koran- über den Endabnehmer herrscht Unklar- problematik vertraut. Wann war die zitaten verzierter Brunnen, Gastgeschenk heit. Beteiligt sind geschäftstüchtige Nu- Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes am aus Marokko. klearexperten, skrupellose Firmen, wo- größten? Strenge Taschenkontrolle und Leibesvi- möglich auch Staatsorgane. Libyen und Baradei: Noch nie war die Gefahr so groß sitation, bevor es aus den Vorräumen ins Iran haben dieses Netzwerk ausgiebig ge- wie heute. Ein Atomkrieg rückt näher, Herzstück geht. Auf den Gängen werden nutzt, wobei Iran deutlich weiter war. wenn wir uns nicht auf ein neues interna- die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder an- SPIEGEL: Und Ausgangspunkt dieses Nu- tionales Kontrollsystem besinnen. Wir ar- gepriesen. In der Wiener Hofburg findet, klear-Basars ist Pakistan? beiten als Feuerwehr, doch wenn sich die wie ein Plakat verkündet, demnächst der Baradei: Ich werde mich zu bestimmten Brände so mehren wie heute, dann müs- jährliche IAEA-Ball statt. Eine Karikatur Staaten nicht äußern. Offensichtlich sind sen wir alle Sicherheitsinstallationen im am schwarzen Brett zeigt ein Hochzeitspaar, einige involviert, im Süden wie im Nor- gemeinsamen Haus überprüfen und end- das sich Treue schwört, „bis dass im Irak den. Was bedeutet, dass die Exportkon- lich feuersicher machen. Massenvernichtungswaffen gefunden sind“. trollen dramatisch verbessert und, anders SPIEGEL: Was heißt das konkret? Chinesen konferieren mit Finnen, Ameri- als bisher, in einem internationalen Rah- Baradei: Ich habe Angst, dass die Erinne- kaner mit Franzosen. Ganz entspannte ver- men durchgeführt werden müssen. Ich rung an Hiroschima und Nagasaki zu ver- einte Nationen – auf den ersten Blick. sage nicht, dass das unbedingt die IAEA blassen beginnt. Ich habe Angst, dass In den Zimmern der IAEA-Fachleute machen muss, obwohl wir gezeigt haben, Atomwaffen in die Hände von skrupello- aber sind die Mienen ernst, die Diskussio- dass wir dazu fähig sind, wenn Regierun- sen Diktatoren oder Terroristen fallen. nen hitzig. „Die jüngsten Entwicklungen in KOL AL ARAB / SIPA PRESS (L.); DAVID GUTTENFELDER / AP (R.) GUTTENFELDER PRESS (L.); DAVID / SIPA AL ARAB KOL Diktator Saddam*, Uno-Waffeninspektoren im Irak (2003): „Das Haus feuersicher machen“ einigen Staaten würden einen internatio- gen weltweit mithelfen und uns ihre Er- Ich habe Angst auch vor dem Nuklear- nalen Aufschrei auslösen, wären sie inter- kenntnisse über Firmen und deren Deals arsenal demokratischer Staaten, denn so- national bekannt“, sagt einer, der sich nur übermitteln. lange diese Waffen existieren, gibt es keine als „ein der IAEA nahe stehender Diplo- SPIEGEL: An welchen Fall denken Sie? absolute Garantie gegenüber den kata- mat“ zitiert sehen will. „Der Geist ist aus Baradei: An den Irak. Wir haben das strophalen Konsequenzen aus Diebstahl, der Flasche, und wie soll ihn da wieder ei- Atomwaffenprogramm Saddam Husseins Sabotage oder Unfall. In der Mensch- ner zurückbringen?“, heißt es in den La- mit internationaler Hilfe umfassend re- heitsgeschichte hat es noch keine Zivili- bors der Behörde geheimnisvoll. cherchieren und schon im Ansatz beenden sation geschafft, sich freiwillig ihrer mäch- Da ist der Chef schon offener. Moham- können. tigsten Waffen zu entledigen – mal sehen, med al-Baradei, ägyptischer Diplomat und SPIEGEL: Was Ihnen manche Politiker in ob wir es schaffen, die Ersten zu sein. seit 1997 oberster Waffenkontrolleur, den USA bis heute nicht glauben wollen, SPIEGEL: Das klingt pessimistisch. nimmt auf seiner Couch Platz unter einem obwohl es für die Existenz von Massen- Baradei: O nein, ich bin durchaus nicht reproduzierten Gemälde des norwegischen vernichtungswaffen im Irak nicht den ge- ohne Hoffnung. Sonst hätte ich mein Amt Malers Edvard Munch. „Der Schrei“ heißt ringsten Beweis gibt. schon lange aufgeben müssen. das Werk und zeigt einen zutiefst verstör- Interview: Erich Follath, Jürgen Kremb, ten, entsetzten Menschen. Baradeis Mit- Georg Mascolo * Mit Atombombenzündern am 8. Mai 1990. arbeiter sehen es nicht gern, wenn man ihn unter dem Gemälde fotografiert. Aber er

der spiegel 5/2004 105 hat damit keine Probleme. „Manchmal muss auch ich schreien, um mir Gehör zu verschaffen“, sagt der Generaldirektor der IAEA zum SPIEGEL. Und dann fügt er sehr ernst hinzu: „Wir hatten unbestreitbare Erfolge mit unseren Inspektionen, vor allem bei der Auf- deckung und Beseitigung des irakischen Atomprogramms. Doch ich denke, wir müssen unser ganzes Kontrollsystem jetzt neu überdenken. Denn noch nie in meiner Amtszeit waren die Gefahren eines Atom- kriegs so bedrohlich.“

Gab es denn nicht gerade in den letzten BILDERDIENST / ULLSTEIN DPA Monaten Erfolgsmeldungen von der nu- Unterzeichnung des Sperrvertrags*: „Das Beste, was zu erreichen war“ klearen Front der internationalen Sorgen- kinder? Hat sich Iran nicht im November auf internationalen Druck hin bereit er- klärt, zusätzliche und strenge IAEA-Kon- trollen seiner angeblich nur zivilen Nu- klearanlagen zu erlauben? Ist Libyen nicht durch die Offenlegung seines Atompro- gramms im Dezember auf absehbare Zeit atomar „entschärft“? Baradei sieht die positiven Zeichen. Aber alle Entdeckungen, die in den letzten Monaten gemacht wurden, haben – gerade weil sie so unerwartet kamen – nur eine schmerzliche Erkenntnis verstärkt: Die Überwachung der Nuklearmaterialien könnte bald ganz vor dem Kollaps stehen. Es brennt in mehreren Weltregionen. Gefahrenherd Ostasien: Nordkorea hat

im Herbst 2002 erklärt, ein illegales Bom- BILDERDIENST / ULLSTEIN HECHTENBERG / CARO benprogramm zu betreiben, und alle IAEA- IAEA-Zentrale in Wien, Atombombentest in der Wüste von Nevada (1952): Konkurrenz zwischen Kontrolleure aus dem Land geworfen. Erst vor zwei Wochen ließ Diktator Kim Jong Il könnte die Kernwaffe und sein Know-how sucht. Teheran verfügt heute, vor allem mit einer inoffiziellen amerikanischen Dele- meistbietend auf dem Schwarzmarkt ver- seiner erst im letzten Jahr von Dissidenten gation bei einem Besuch im Reaktor von steigern. Und bald dürften sich dann auch entlarvten, nahezu fertig gestellten Uran- Yongbyon sein „nukleares Abschreckungs- Südkorea, Japan, möglicherweise Taiwan Anreicherungsanlage bei Natans, über alle potenzial“ vorführen. Die US-Experten gezwungen sehen, über nukleare Optio- Mittel zur Produktion des Bombenstoffs. waren anschließend unsicher, ob die Nord- nen nachzudenken. Auch deutsche Technik, darunter eine koreaner wirklich schon über einsetzbare Vielleicht schon im nächsten Monat sol- Fließdrückmaschine, steht in Natans, die Bomben verfügen; dass sie mit ihren vor- len die so genannten Sechser-Gespräche IAEA will jetzt klären, wer sie lieferte. Das geführten Plutoniumvorräten in der Lage (unter Beisein von China, Südkorea, Ja- iranische Regime gibt sich kooperativ, sind, sie zu bauen, schien ihnen unbe- pan, Russland) über Nordkoreas Arsenal könnte aber jederzeit die IAEA-Verpflich- streitbar. „Es ist der gefährlichste Platz auf wieder aufgenommen werden – Erfolgs- tungen wieder aufkündigen – und Kern- der Welt“, sagt der frühere US-Verteidi- aussichten höchst fraglich. waffen bauen. gungsminister William Perry. Gefahrenherd Naher Osten: Ob die Zu- Nach dem mehr oder weniger freiwilli- Kim Jong Il versucht, die USA zu erpres- geständnisse, die Teheran Ende 2003 ge- gen Verzicht des Irak und Libyens auf die sen – Abbau des Potenzials gegen massive Bombe rückt Israels Nuklearpotenzial wie- wirtschaftliche Hilfsleistungen. Inzwischen NICHT NUR SCHURKENSTAATEN GE- der in den Vordergrund. Über abenteuer- scheint Washington von der Forderung ab- liche Umwege sind die Israelis schon in den gerückt zu sein, dass sich Nordkorea wieder FÄHRDEN DEN ATOMWAFFEN- sechziger Jahren zur – offiziell nie erklär- den IAEA-Kontrollen unterziehen müsse. SPERRVERTRAG – AUCH DIE USA. ten – Atommacht geworden (siehe Seite Die Bush-Regierung sucht einen anderen 110). Jerusalem verfügt heute vermutlich Deal, möglicherweise eine direkte Über- über mehr als 200 einsetzbare Bomben. wachung durch amerikanische Experten. macht hat, die iranischen Machthaber lan- Seit der Lieferung deutscher U-Boote der Sollte es Pjöngjang gelingen, internatio- ge von der Bombenentwicklung abhalten Delfin-Klasse mit der technischen Aus- nale Verträge ungestraft zu verletzen und können, bezweifeln Experten. Zwar dürfen rüstung zum Abschuss von Atomraketen für den Verzicht des unrechtmäßig Erwor- Baradeis Leute jetzt alle Nuklearanlagen hat Israel auch die Möglichkeit, sie seege- benen auch noch mit Wirtschaftshilfe be- im Land ohne lange Vorankündigung un- stützt einzusetzen. lohnt zu werden, müsste das andere tersuchen. Aber schon in der Vergangen- Für die arabischen Staaten ist die still- „Schurkenstaaten“ ermutigen, einen ähn- heit haben es die Mullahs erfolgreich mit schweigende Akzeptanz des israelischen lichen Weg zu gehen. Eine unerfreuliche Tricksen, Tarnen und Totschweigen ver- Programms der Beweis für das „zweierlei Variante, aber vermutlich noch die beste. Maß“, mit dem der Westen in der Region Denn beließe man Nordkorea die Bombe, messe. Als „Ausgleich“ erforscht Syrien * 1968 in Moskau, am Tisch der US-Botschafter Lewellyn ist bald ein weiterer skrupelloser nuklearer Thompson und der sowjetische Außenminister Andrej offenbar seit Jahren biologische Kampf- Proliferateur auf dem Markt: Diktator Kim Gromyko. stoffe und besitzt Chemiewaffen.

108 der spiegel 5/2004 Titel

Pakistan. Die beiden letzteren Staaten wur- den nach ihren Atomwaffentests von den USA deshalb mit Handelssanktionen „be- straft“. Nordkorea ist nach dem NVV-Aus- tritt international geächtet, Ähnliches droht Ländern, denen man einen Vertragsbruch nachweisen kann – außer sie kriegen, wie Libyen und Iran, gerade noch die Kurve. Aber auch die Großen Fünf haben sich nicht immer an Geist und Buchstaben des NVV gehalten: Sie bauten weder ihr Arse- nal entscheidend ab, noch gaben sie den „Habenichtsen“ immer technologische Hil- fen bei der friedlichen Nutzung der Kern- energie. Und George W. Bush hat mit sei- ner neuen Nuklearstrategie, die Entwick- lung taktisch anwendbarer „Mini Nukes“ vorzubereiten und mit ihrer Anwendung zu drohen, nur eines geschafft: „Er hat die Motivation (der potenziell Bedrohten) er- höht, ihre eigenen Atomwaffen zu moder- nisieren oder sie sich, wenn noch nicht vor- handen, ganz schnell zu beschaffen“, so Michael May, früherer Chef des berühm- ten amerikanischen Lawrence Livermore Laboratory. Der Nichtverbreitungsvertrag ist nach Meinung des IAEA-Chefs Baradei „das Beste, was damals zu bekommen war“. Er hat dann auch bei der freiwilligen nuklea- ren Abrüstung Südafrikas und Brasiliens funktioniert; ebenso in den Nachfolge- staaten der UdSSR, die die auf ihrem Ge-

BETTMANN / CORBIS BETTMANN biet stationierten Atomraketen abgaben. Besitzern und Habenichtsen Doch in einer sich technisch schnell ver- ändernden Welt ist der Vertrag längst nicht Daneben strecken Terrororganisationen kriegsordnung auf ein atomares Patt ge- mehr gut genug. ihre Fühler aus. Ähnlich wie al-Qaida baut. Das zentrale Dogma lautete, jede Sei- Um die IAEA effizienter zu machen, versucht auch der militärische Arm der te im „Kalten Krieg“ werde vom Angriff müssten nach Ansicht des Berliner Sicher- iranisch finanzierten Hisbollah im Liba- auf die andere abgehalten, weil ihr selbst heitsexperten Oliver Thränert westliche non an Spaltmaterial zu kommen. Tsche- durch einen Vergeltungsschlag die Ver- Politiker unbedingt darauf dringen, dass tschenische Gruppen haben es nach nichtung drohe. Dieses Gleichgewicht des alle Staaten das 1997 beschlossene Zusatz- Geheimdienstinformationen auf die noch Schreckens konnte nur aufrechterhalten protokoll für schärfere und unangemelde- immer nicht überall gesicherten Nuklear- werden, wenn der Club der damals fünf te Kontrollen unterschreiben – zurzeit ist es materialien aus Sowjetzeiten abgesehen. Atommächte begrenzt blieb. Die Großen erst gerade mal in 38 Staaten in Kraft. „Fast jeden Monat“ wird nach Erkennt- vereinbarten deshalb 1968 mit dem Rest Noch immer krankt die Effizienz der nissen des früheren Unterstaatssekretärs der Welt den Nichtverbreitungsvertrag. IAEA an dem, was selbst Baradei-Bewun- im Pentagon, Graham Allison, jemand bei Kein Nuklearstaat, so will es der Pakt, derer unter den Berliner Politikern als dem Versuch geschnappt, gefährlichen darf die Bombe weitergeben, kein Unter- „multilateralen Quotenschwachsinn“ be- Stoff aus diesen Restbeständen zu stehlen. zeichner nach ihr streben. Die Atom- zeichnen. Um den Konsens der Uno- Im August ging den Behörden in Mur- mächte verpflichteten sich gegenüber den Organisation nicht zu schwächen, gelten mansk ein besonders dicker Fisch ins Netz: Habenichtsen, ihnen bei der zivilen Nut- alle Staaten als gleich verdächtig – was Alexander Tjuljakow, Vizechef bei der rus- zung der Kernenergie mit Know-how und dazu führt, dass die Masse der Inspektio- sischen „Atomflot“-Truppe, die Repara- Technik zu helfen – und ihr eigenes nen in Ländern wie Deutschland, Kanada turarbeiten an Atom-U-Booten ausführt, atomares Waffenarsenal abzurüsten. In oder der Schweiz stattfindet. wollte heißes Material entwenden und zu Deutschland war der Verzicht auf Kern- Baradei geht noch weiter. Er möchte die Geld machen. waffen zu dieser Zeit höchst umstritten. gesamte Herstellung von Plutonium und Die IAEA und ihr Generaldirektor sind Man träumte in Bonn von der europäi- hochangereichertem Uran weltweit nur in einer schizophrenen Lage. Die Kon- schen Bombe. CSU-Chef Franz Josef noch unter multinationaler Aufsicht zulas- trollbehörde verdankt ihre Bedeutung dem Strauß schmähte den Pakt als „ein neues sen: „Ohne Kontrolle des waffenfähigen Atomwaffensperrvertrag (NVV). Sie ist Versailles von kosmischen Ausmaßen“. Materials keine Kontrolle der Weiterver- aber gleichzeitig auch gefesselt durch die Erst 1975 tritt die Bundesrepublik bei. breitung.“ Und er will in allen zivil ge- Schwächen des früher so viel gepriesenen 189 Staaten haben sich bis heute dem nutzten Kernkraftwerken eingebaute Vor- Abkommens. Sie kann nicht so flexibel Vertragswerk angeschlossen, zuletzt nach richtungen, die anzeigen, wenn bomben- handeln, wie es sich Baradei wünscht – Kuba auch Osttimor; seit einer Zusatz- geeignete Stoffe abgezweigt werden. „Das wenn ihre Rolle nicht neu definiert wird. vereinbarung gilt der Vertrag auf ewig. ist mehr als ein futuristischer Traum, es Geprägt durch den Horror von Hiro- Draußen vor blieben die „Aussätzigen“, sollte technisch bald möglich sein.“ schima, aber auch den erfolgreichen Test die aus Macht- und Prestigegründen an der Aber wie viel Zeit bleibt noch? der sowjetischen Waffe hat die Nach- Bombe basteln wollten: Israel, Indien und Erich Follath, Georg Mascolo

der spiegel 5/2004 109 Titel „Ein Atomkrieg rückt näher“ Chefwaffeninspektor Baradei über Schurkenstaaten und den nuklearen Schwarzmarkt

Mohammed al-Baradei, 61, ägyptischer Misstraute Washington Ihnen und der Ef- Diplomat, ist als Generaldirektor der fizienz Ihrer Organisation? Internationalen Atomenergiebehörde Baradei: Das weiß ich nicht. Ich sehe kei- (IAEA) oberster Waffenkontrolleur der nen unmittelbaren Anlass zu einer solchen Uno mit Sitz in Wien. Befürchtung. SPIEGEL: Politiker in Washington machen SPIEGEL: Herr Baradei, Sie haben kürzlich Ihnen zumindest unter der Hand den Vor- gesagt, 35 bis 40 Staaten könnten derzeit wurf, keinen Schimmer vom Ausmaß des in der Lage sein, Atomwaffen zu bauen. Ist gefährlich fortgeschrittenen Atomwaffen- der Nichtverbreitungsvertrag (NVV), den programms in Iran und Libyen gehabt zu Sie überwachen sollen, tot? haben. Hat die IAEA dort versagt? Baradei: Der NVV hat uns in den letzten Baradei: Es stimmt, dass Teheran und Tri- 35 Jahren viele Erfolge beschert, aber so polis unsere Behörde in der Vergangenheit geht es nicht weiter. Wir müssen ihn drin- getäuscht haben: Sie informierten uns gend den heutigen Gegebenheiten anpas- nicht über ihre Forschungen zum Know- sen – die Sicherheitskontrollen verstär- how und ihre internationalen Beschaf- ken, ausbauen, Verstöße sanktionieren. fungsversuche, wie es ihre Pflicht als Si-

Vor allem aber sollten wir alle Anlagen ANZENBERGER / AGENTUR REINER RIEDLER gnatarstaaten des NVV gewesen wäre. Ich weltweit, die waffenfähiges Material wie IAEA-Direktor Baradei glaube aber, dass wir entdeckt hätten, hochangereichertes Uran oder Plutonium „Über Nordkorea äußerst beunruhigt“ wenn diese beiden Staaten in großem Stil produzieren, unter eine multinationale angefangen hätten. Dazu braucht man La- Kontrolle stellen. SPIEGEL: Besorgnis erregend genug. Aber boratorien, die sind nicht so leicht zu ver- SPIEGEL: Ein sehr ehrgeiziges Programm, seit Nordkorea aus dem Vertrag ausge- stecken wie irgendwelche Baupläne. das radikales Umdenken voraussetzt. stiegen ist und vor gut einem Jahr Ihre SPIEGEL: Iran war mit der Uran-Anreiche- Baradei: Richtig. Die Internationale Atom- Inspektoren aus dem Land warf, verfügt rungsanlage bei Natans doch schon weit energiebehörde kann als eine Einrichtung womöglich erstmals auch ein unbere- vorangekommen. der Uno nur so stark sein, wie ihre Mit- chenbarer Diktator über die Waffe. Baradei: Diese Anlage ist uns ja auch nicht glieder das wünschen. Wir sind als In- Baradei: Es sieht ganz danach aus. Über verborgen geblieben. Wir wissen bis heu- spektoren sowohl die Herren als auch die die Entwicklung in Nordkorea bin ich te noch nicht mit Sicherheit, ob Iran Sklaven der Überwachten – eine schwie- äußerst beunruhigt. Ich wäre keinesfalls Atommacht werden wollte. Es gab ernst- rige Situation. überrascht, wenn Pjöngjang schon jetzt hafte Anzeichen dafür, dass sie sich das SPIEGEL: Und nicht alle Staaten lassen sich über eine einsatzfähige Atombombe ver- Know-how aneigneten. Aber auf unseren überwachen, weil sie es als ungerecht fügt. Es gibt nur eine Lösung: Kim Jong Il Druck hin ist Teheran ja dem Zusatzpro- empfinden, dass laut NVV von 1968 den muss seine Nuklearanlagen wieder unse- tokoll zum Vertrag beigetreten. Dies gibt großen Fünf allein Nuklearwaffen gestat- ren Kontrollen unterwerfen. Wir müssen uns wesentlich erweiterte Inspektions- tet sein sollen. zurück zum Status quo. Auch Südafrika möglichkeiten: Wir können nun überall Baradei: Nicht für immer. Der NVV hat war ja schon De-facto-Atommacht und hat und mit kurzer Vorwarnzeit kontrollieren. das Arsenal der damaligen Atommächte dann verzichtet. SPIEGEL: Hätten solche Kontrollen auch in nur legitimiert, weil diese sich gleichzeitig SPIEGEL: Washington scheint diese Forde- Libyen etwas gebracht, oder verdanken zur Abrüstung verpflichteten – allerdings rung an Kim aufgegeben zu haben. Wäh- Sie alle neueren Erkenntnisse nur Gadda- ohne einen festen Zeitplan. Es gab dann ja fis Einlenken? ermutigende Abrüstungsschritte Ende der „FÜR KONTROLLEN HAT Baradei: Das libysche Atomprogramm be- achtziger Jahre und in den Neunzigern, fand sich noch ganz im Anfangsstadium. aber die sind fast zum Stillstand gekom- MEINE BEHÖRDE EIN MANDAT – Ich war im Januar selbst in Tripolis und men. Gegenwärtig existieren noch Zehn- UND NIEMAND ANDERS.“ habe mir das angeschaut – mehrere Jahre tausende Atomsprengköpfe auf der Welt. waren die meiner Schätzung nach von ei- SPIEGEL: Die USA unter Präsident George ner einsetzbaren Waffe entfernt. Ich sehe W. Bush lassen taktische „Mini Nukes“ rend Sie in Nordkorea keinerlei Zugang nicht, dass unsere Mechanismen in Libyen entwickeln. Die Atombombe wird damit, mehr haben, durfte eine inoffizielle ame- versagt hätten. Wissenschaftler, die sich nach einem Zeitalter der Ächtung, wie- rikanische Delegation gerade den Reaktor irgendwo in einer kleinen Lagerhalle tref- der zur denkbaren Waffe. von Yongbyon inspizieren. Vielleicht gibt fen: Wie sollen Sie solche Aktivitäten bei Baradei: Ich bedauere diese Entwicklung es bald einen Deal und dann US-Atom- Kontrollen entdecken? sehr. Sie widerspricht dem Geist des Ver- kontrollen in Nordkorea. SPIEGEL: Aber verfügten diese Wissen- trags. Man muss leider auch zugeben, dass Baradei: Für so etwas ist meine Behörde schaftler nicht schon über präzise Pläne wir es nicht geschafft haben, die Nicht- verantwortlich und niemand anders. Wir und wichtige Komponenten für den Bau unterzeichner des NVV an der Entwick- haben dafür ein vom NVV verordnetes einer Bombe? lung der Bombe zu hindern: Pakistan, In- Mandat. Baradei: Das war in Tripolis wie in Tehe- dien und wohl auch Israel sind Atom- SPIEGEL: Auch in Libyen wollten die Ame- ran das Erschreckendste: Offensichtlich mächte. rikaner eigene Inspektionen durchführen. haben die internationalen Exportkontrol-

104 der spiegel 5/2004 dam Husseins Emissäre früher zu wüten- len in den letzten Jahren völlig versagt. Baradei: Wir haben für unsere gesamten den, aber natürlich vergeblichen Protesten Es ist ein atomarer Schwarzmarkt ent- weltweiten Inspektionen pro Jahr einen veranlasst hat: Bagdad fühlte sich von der standen, vorangetrieben von einer phan- Etat von 100 Millionen Dollar. Die Ame- Nähe zum „Zionistengebilde“ beschmutzt. tastischen Cleverness. Da werden in dem rikaner haben für ihre Suche im Irak ein An einem Kiosk werden Souvenirs ver- einen Land Pläne gezeichnet, in einem Budget von einer Milliarde veranschlagt. kauft, Uno-Briefmarken, aber auch IAEA- anderen Zentrifugen produziert, die über SPIEGEL: Sie sind seit 1997 Chef der IAEA Golfmützen und IAEA-Jogginghemden. In einen dritten Staat verschifft werden – und seit Jahrzehnten mit der Nuklear- die Wand eingelassen ist ein mit Koran- über den Endabnehmer herrscht Unklar- problematik vertraut. Wann war die zitaten verzierter Brunnen, Gastgeschenk heit. Beteiligt sind geschäftstüchtige Nu- Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes am aus Marokko. klearexperten, skrupellose Firmen, wo- größten? Strenge Taschenkontrolle und Leibesvi- möglich auch Staatsorgane. Libyen und Baradei: Noch nie war die Gefahr so groß sitation, bevor es aus den Vorräumen ins Iran haben dieses Netzwerk ausgiebig ge- wie heute. Ein Atomkrieg rückt näher, Herzstück geht. Auf den Gängen werden nutzt, wobei Iran deutlich weiter war. wenn wir uns nicht auf ein neues interna- die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder an- SPIEGEL: Und Ausgangspunkt dieses Nu- tionales Kontrollsystem besinnen. Wir ar- gepriesen. In der Wiener Hofburg findet, klear-Basars ist Pakistan? beiten als Feuerwehr, doch wenn sich die wie ein Plakat verkündet, demnächst der Baradei: Ich werde mich zu bestimmten Brände so mehren wie heute, dann müs- jährliche IAEA-Ball statt. Eine Karikatur Staaten nicht äußern. Offensichtlich sind sen wir alle Sicherheitsinstallationen im am schwarzen Brett zeigt ein Hochzeitspaar, einige involviert, im Süden wie im Nor- gemeinsamen Haus überprüfen und end- das sich Treue schwört, „bis dass im Irak den. Was bedeutet, dass die Exportkon- lich feuersicher machen. Massenvernichtungswaffen gefunden sind“. trollen dramatisch verbessert und, anders SPIEGEL: Was heißt das konkret? Chinesen konferieren mit Finnen, Ameri- als bisher, in einem internationalen Rah- Baradei: Ich habe Angst, dass die Erinne- kaner mit Franzosen. Ganz entspannte ver- men durchgeführt werden müssen. Ich rung an Hiroschima und Nagasaki zu ver- einte Nationen – auf den ersten Blick. sage nicht, dass das unbedingt die IAEA blassen beginnt. Ich habe Angst, dass In den Zimmern der IAEA-Fachleute machen muss, obwohl wir gezeigt haben, Atomwaffen in die Hände von skrupello- aber sind die Mienen ernst, die Diskussio- dass wir dazu fähig sind, wenn Regierun- sen Diktatoren oder Terroristen fallen. nen hitzig. „Die jüngsten Entwicklungen in KOL AL ARAB / SIPA PRESS (L.); DAVID GUTTENFELDER / AP (R.) GUTTENFELDER PRESS (L.); DAVID / SIPA AL ARAB KOL Diktator Saddam*, Uno-Waffeninspektoren im Irak (2003): „Das Haus feuersicher machen“ einigen Staaten würden einen internatio- gen weltweit mithelfen und uns ihre Er- Ich habe Angst auch vor dem Nuklear- nalen Aufschrei auslösen, wären sie inter- kenntnisse über Firmen und deren Deals arsenal demokratischer Staaten, denn so- national bekannt“, sagt einer, der sich nur übermitteln. lange diese Waffen existieren, gibt es keine als „ein der IAEA nahe stehender Diplo- SPIEGEL: An welchen Fall denken Sie? absolute Garantie gegenüber den kata- mat“ zitiert sehen will. „Der Geist ist aus Baradei: An den Irak. Wir haben das strophalen Konsequenzen aus Diebstahl, der Flasche, und wie soll ihn da wieder ei- Atomwaffenprogramm Saddam Husseins Sabotage oder Unfall. In der Mensch- ner zurückbringen?“, heißt es in den La- mit internationaler Hilfe umfassend re- heitsgeschichte hat es noch keine Zivili- bors der Behörde geheimnisvoll. cherchieren und schon im Ansatz beenden sation geschafft, sich freiwillig ihrer mäch- Da ist der Chef schon offener. Moham- können. tigsten Waffen zu entledigen – mal sehen, med al-Baradei, ägyptischer Diplomat und SPIEGEL: Was Ihnen manche Politiker in ob wir es schaffen, die Ersten zu sein. seit 1997 oberster Waffenkontrolleur, den USA bis heute nicht glauben wollen, SPIEGEL: Das klingt pessimistisch. nimmt auf seiner Couch Platz unter einem obwohl es für die Existenz von Massen- Baradei: O nein, ich bin durchaus nicht reproduzierten Gemälde des norwegischen vernichtungswaffen im Irak nicht den ge- ohne Hoffnung. Sonst hätte ich mein Amt Malers Edvard Munch. „Der Schrei“ heißt ringsten Beweis gibt. schon lange aufgeben müssen. das Werk und zeigt einen zutiefst verstör- Interview: Erich Follath, Jürgen Kremb, ten, entsetzten Menschen. Baradeis Mit- Georg Mascolo * Mit Atombombenzündern am 8. Mai 1990. arbeiter sehen es nicht gern, wenn man ihn unter dem Gemälde fotografiert. Aber er

der spiegel 5/2004 105 Titel Das Phantom von Dimona In Jerusalem gilt das Thema immer noch als Staatsgeheimnis, aber Experten weltweit sind sich einig: Israel besitzt als einziger Staat im Nahen Osten Atombomben. Die „Operation Samson“ war ein Triumph ehrgeiziger Politiker, Wissenschaftler und Spione – mit dramatischen Folgen. Von Erich Follath

Atomreaktor bei Dimona in der Negev-Wüste: „Wir wollen nicht Hiroschima wiederholen, sondern Oslo durchsetzen“

er eine Geschichte über Israels an, setzt aber immer eher auf Verhand- Oppenheimer und Teller für die Amerika- geheimes Atompotenzial und sei- lungen als auf Terror gegen die Besatzer. ner getan haben, könnten jüdische Wis- Wne abenteuerlichen Geburtswe- Gemäßigt und ehrgeizig, dabei aber ein senschaftler doch auch für ihr eigenes Volk hen recherchiert, wird an drei Figuren nicht glühender Patriot, macht er schnell Kar- tun“, schreibt er 1956 in einem Brief an ei- vorbeikommen: an Schimon dem Frie- riere und wird schon 1953 Generaldirektor nen Freund. densbewegten (Politiker), an Rafi dem des Verteidigungsministeriums – die Num- Ben-Gurion beauftragt nun Schimon Pe- Skrupellosen (Spion) und an Mordechai mer zwei in Israels Sicherheitsfragen, un- res, alles zu tun, um diesen Traum zu ver- dem Zweifler (Wissenschaftler). terstellt nur David Ben-Gurion. wirklichen, das ultimative zionistische Pro- Der Erste hat 1994 den Friedensnobel- Der legendäre Regierungschef und jekt. Für mögliche Ängste der Palästinen- preis bekommen und bewegt sich seit über Staatsgründer ist besessen von der Angst, ser, die ja schon Jahrhunderte in dem 50 Jahren in den Spitzenkreisen des israe- der Holocaust könnte sich wiederholen, „Land ohne Volk“ leben und massenwei- lischen Establishments. Der Zweite brach- geprägt von dem Alptraum, die Juden wür- se aus der Heimat vertrieben werden, feh- te es innerhalb der Geheimdienste zu ho- den diesmal von fanatischen Arabern an len Ben-Gurion die Antennen. hen Ehren, fiel aber Mitte der achtziger den Rand der Ausrottung getrieben. Ben- So streng geheim ist das Unternehmen, Jahre wegen zweifelhafter Aktionen aus Gurion sucht eine Waffe gegen die Hilf- dass der Name Peres nirgendwo in einem der Gunst der Regierenden. Der Dritte sitzt losigkeit, die auch wirkt, wenn der Feind der staatlichen Atomkomitees oder deren seit über 17 Jahren in einem Hochsicher- übermächtig scheint: „Nie wieder lassen Veröffentlichungen auftaucht; nicht einmal heitstrakt des Gefängnisses von Aschkelon wir uns wie Lämmer zur Schlachtbank andere Kabinettsmitglieder wissen von der – als israelischer Landesverräter. führen.“ Er begeistert sich für moderne klandestinen „Operation Samson“, be- Die Karrieren von Schimon Peres, 80, Technologien und liest alles über die Mög- nannt nach dem sagenumwobenen israeli- von Rafi Eitan, 77, und Mordechai Vanunu, lichkeiten der Kernspaltung; er will die tischen Supermann und Philister-Schreck 49, spiegeln zentrale Etappen in der Ge- Atombombe. „Was die drei Juden Einstein, aus biblischen Zeiten. schichte des Judenstaats wider – seiner Er- Peres macht sich keine Illusio- folge, seiner Niederlagen, seiner Zerris- nen, dass eine der damals drei senheit. Und rühren immer wieder an ein Atommächte die Technologie an Tabu, das offiziell bis heute gilt und erst den Judenstaat weitergeben wird. nach und nach von unabhängigen Histo- Die Sowjetunion und auch Groß- rikern und Journalisten aufgebrochen britannien kommen kaum in Fra- wird*. Jerusalem ge. Aber auch die USA erklä- Schimon Peres aus dem Schtetl von ren sich nur zur Lieferung eines Wiszniewo, im heutigen Weißrussland ge- winzigen Reaktors zur Energie- legen, kommt als Elfjähriger mit seiner Fa- Dimona gewinnung bereit – und warnen milie nach Palästina. Er schließt sich als die Israelis vor nuklearen Ambi- junger Mann in britischen Mandatszeiten tionen. ISRAEL der jüdischen Untergrundarmee Haganah Peres erkennt anderswo die Gunst der Stunde. Er wendet sich * Avner Cohen: „Israel and the Bomb“. Columbia Univer- ROBERT CAPA / CAMERA PRESS / CAMERA CAPA ROBERT an Paris; Frankreich beginnt in sity Press, New York; 478 Seiten; 14,70 Dollar. Yoel Cohen: „Die Vanunu-Affäre. Israels geheimes Atompotential“. Pal- 50 km Staatsgründer Ben-Gurion jenen Tagen sein Atomwaffen- myra Verlag, Heidelberg; 440 Seiten; 12 Euro. „Nie wieder zur Schlachtbank“ programm zu entwickeln und hat

110 der spiegel 5/2004 hinter den Linien hat er arabi- sche Kämpfer nach eigenen Worten öfter „mit bloßen Hän- den erwürgt und dabei Genug- tuung empfunden“. Rafi Ha- masriach nennen ihn die Agen- tenkollegen, Rafi das Ekel. Sehr respektvoll, ein wenig wohl auch von seiner Eiseskälte ab- gestoßen. Eitan wird zum Helden berühmter Kommandounter- nehmen des Mossad. 1960 etwa ist er entscheidend beteiligt an der Entführung des Nazi-Ver- brechers Adolf Eichmann aus Argentinien. Der Meisterspion lässt es sich nicht nehmen, den Delinquenten nach dessen Ver- urteilung durch ein israelisches Gericht zum Henker zu beglei- ten. „Ich hoffe, du folgst mir bald nach“, sind Eichmanns letzte Worte, zu seinem Hä- scher gewandt. Drei Jahre später ist Rafi Ei- tan wieder an einer „Verschlep-

SCAN FOTO SCAN pung“ beteiligt – doch dieses Friedensnobelpreisträger Arafat, Peres, Rabin 1994 in Oslo: Vertane Chancen, enttäuschte Hoffnungen Mal geht es nicht um Personen, sondern um spaltbares Material im Herbst 1956 aus strategischen Überle- Jahre im Verborgenen mit einer kleinen für die Atombombe. Anders als Frank- gungen nichts dagegen, den Israelis im Gruppe von Wissenschaftlern, Polit-Stra- reich, das 1962 die nukleare Zusammen- Tauschgeschäft gegen Geheimdienstinfor- tegen und Geheimdienstlern zu dealen, arbeit mit Israel endgültig aufkündigt, ver- mationen und wissenschaftliche Hilfe un- entfremdet ihn dem militärischen Esta- fügt Israel weder über Uran-Minen in be- ter die Arme zu greifen. Beim Kampf ge- blishment. Peres, der „ungediente“ Zivilist, freundeten afrikanischen Staaten und vor gen arabische Großmachtträume haben erfährt als Verteidigungsminister nie den allem nicht über genügend hochangerei- Paris und Tel Aviv die gleichen Interessen. Respekt der Generäle, die Anerkennung cherten Stoff. Solch „heißes“ Material ist In einer abgestimmten Kampagne stürmen der Truppe. Auch die israelischen Wähler, nicht auf legalem Weg zu bekommen. Ein britische, französische und israelische die ihm an der Urne eine Abfuhr nach der Mossad-Team streckt die Fühler aus nach Streitkräfte den Suez-Kanal und die Sinai- anderen erteilen, scheinen irgendwie zu geheimen Beschaffungskanälen. Sie suchen Halbinsel. Ein dankbarer Premier Guy spüren, dass dieser Mann ihnen – aus welch Schwachpunkte im System der internatio- Mollet verspricht Peres Anfang 1957 in ei- guten Gründen und mit welch Bauch- nalen Überwachung – und mögliche Sym- nem Geheimabkommen das Know-how für schmerzen auch immer – öfter die Un- pathisanten. einen großen Reaktor in der Negev-Wüste wahrheit erzählt. Zweimal werden Rafi & Co. unter dra- bei Dimona. Er taugt zur Produktion von Da ist Rafi Eitan anders: Er hat keine matischen Umständen fündig. Einmal bei Plutonium – dem Stoff, aus dem die Bom- Mühe mit dem Lügen, Tarnen und Täu- einer kleinen amerikanischen Firma, die ben sind. ihren Sitz in Apollo (Pennsylvania) hat und Als die offizielle israelische Atomener- ISRAELS GEHEIMDIENST LÄSST EIN einem brillanten jungen Wissenschaftler giekommission dann zum ersten Mal die gehört. Zalman Shapiro ist der Sohn eines Baupläne für Dimona sieht, kommt es zu SCHIFF VOLLER URAN orthodoxen Rabbi, der einen Teil seiner Fa- erregten Diskussionen. Sechs von sieben IM MITTELMEER VERSCHWINDEN. milie im Holocaust verloren hat, ein glühen- Wissenschaftlern treten von ihren Ämtern der Zionist, der Israel bewundert. Seine Fir- zurück. Ihnen ist klar, dass damit Israels ma „Nuclear Materials and Equipment Weg zur Atommacht vorgezeichnet ist; von schen, es ist sozusagen sein Lebenselixier. Corp. (Numec)“ beliefert die damals schnell „wahnsinnig“ bis „abenteuerlich riskant“ Schon im Kampf gegen die Briten fälscht er steigende Zahl kommerzieller Atomreakto- reichen ihre Kommentare. Doch auch die Papiere und kämpft mit brutaler Ent- ren. Außerdem werden in dem Werk größe- Ausgeschiedenen werden unter Strafan- schlossenheit an der Spitze der „Palmach“- re Mengen hochangereicherten Urans aus drohung zum Schweigen verpflichtet. Die Stoßtruppen im Untergrund, dann in Isra- Regierungsaufträgen zwischengelagert. Welt soll nicht wissen, was in dem abgele- els Unabhängigkeitskrieg gegen die Ara- Dem Mossad-Team gelingt es, das kost- genen Wüstenkaff, 30 Kilometer südöst- ber. Anfang der fünfziger Jahre heuert der bare Material abzuzweigen und nach Israel lich von Beerscheba, vor sich geht. Nach in einem Kibbuz Aufgewachsene beim Ge- zu transportieren. Numec-Direktor Shapiro offizieller Lesart entsteht dort eine „Tex- heimdienst des neuen Staates an. meldet den Verlust nicht. Es dauert Mona- tilfabrik“. Äußerlich ist er alles andere als ein te, bis die US-Atomenergiekommission bei Peres wird von Ben-Gurion mit Lob James Bond: klein, kurzsichtig, mit einem Routinekontrollen feststellt, dass über 100 überschüttet. Aber man darf vermuten, absurd großen Brustkorb und Bizeps; seit Kilogramm Uran verschwunden sind. Sha- dass der von Eitelkeit gezeichnete Politiker einem Bombenunfall hört er auf dem lin- piro kann sich das nicht erklären, die Be- dennoch leidet – er kann seine diplomati- ken Ohr nichts mehr. Er gilt als hart ge- weislage reicht nicht für eine Anklage. sche Meisterleistung als „Vater der Bombe“ genüber Freunden, als skrupellos gegen- Die Numec macht er bald darauf zu. In nicht publik machen. Und der Zwang, über über Feinden. Bei tollkühnen Einsätzen einem Untersuchungsbericht des amerika-

der spiegel 5/2004 111 Titel nischen Kongresses heißt es später kryp- sollen die Uran-Fässer auf ein „legales“ muss was für sie tun“, sagte er Freunden –, tisch: „Möglicherweise sind durch die ak- israelisches Schiff umgeladen worden sein, doch noch stärker war seine Angst vor der tive Mithilfe eines Mannes in der Fabrik das die Ware nach Haifa brachte. Und von Verbreitung von Nuklearwaffen. oder durch eine Gruppe, die sich eines sol- dort wurde sie nach Dimona verfrachtet, Kennedy verlangte von Ben-Gurion ul- chen Mannes bediente, bedeutende Men- zur Fertigstellung mehrerer Atombomben. timativ, Dimona von Spezialisten kontrol- gen hochangereichertes Uran beiseite ge- Rafi das Ekel wird zum Vizechef des Ge- lieren zu lassen. Der sperrte sich, erkann- schafft worden.“ heimdienstes befördert. te jedoch, dass sich Inspektionen nicht Der zweite Coup des Mossad ist noch Die „Scheersberg“ taucht Ende 1968 in mehr vermeiden ließen. Dem israelischen abenteuerlicher. Mit gefälschten Papieren der Südtürkei wieder auf, von der Besat- Geheimdienst gelang es, die US-Wissen- lässt Eitan 200 Tonnen Uranoxid bei der zung fehlt jede Spur. Im Logbuch gibt es schaftler bei ihren – angemeldeten – Besu- Brüsseler „Société Générale des Mine- für die Reise ab Antwerpen keine Auf- chen an der Nase herumzuführen. raux“ kaufen. Als Mittelsmann dient den zeichnungen. Uran-Käufer Schulzen er- 1967 hat Israel seine erste, primitive Israelis – möglicherweise unwissentlich – klärt, er habe das Geschäft nur im Auftrag Atombombe zusammengebaut, was nicht der deutsche Geschäftsmann und Firmen- ausgeführt, für einen ihm unbekannten einmal den Amerikanern verborgen bleibt. teilhaber Herbert Schulzen mit seiner Kunden. Er fühle sich „von Geheimdiens- Bei Nachfragen speisen die Israelis das Wiesbadener „Asmara Chemie GmbH“, ten benutzt“. War dabei der Mossad allein Weiße Haus mit einer bewusst schwammig die für den Deal 8,5 Millionen Mark als gehaltenen Standardformel ab, die der di- Garantiesumme auf eine Schweizer Bank EIN WISSENSCHAFTLER MACHT IM plomatische Schimon Peres öfter anwendet einzahlt. und die bis heute Ausdruck der offiziellen Als Endverbraucher wird ein Unterneh- GEHEIMEN ATOM-FOTOS – UND Politik ist: „Wir werden nicht die Ersten men in Italien eingetragen – das Geschäft VERKAUFT SIE AN DIE WELTPRESSE. sein, die im Nahen Osten Atomwaffen ein- läuft innerhalb der EWG und ist darum re- führen.“ lativ unverdächtig. Niemand ahnt in Brüs- Die militärische Lage nach dem Überra- sel, dass die italienische Färbemittelfirma am Werk? Oder haben CIA und BND schungsangriff der Ägypter und Syrer noch nie etwas mit Uran zu tun hatte und womöglich an der Seite Israels aktiv daran während des Jom-Kippur-Feiertags 1973 ist die Papiere nur unterzeichnet, weil sie sich mitgewirkt, den Weg des Judenstaats zur so verzweifelt, dass Ministerpräsidentin lediglich als Zwischenhändler sieht, gekö- Atommacht zu erleichtern? Golda Meïr – wie man heute aus Geheim- dert mit einer Vermittlungsgebühr. Die Eitan hat solche Hilfe in den wenigen dienstberichten weiß – ihrem Verteidi- Überwachungsbehörde Euratom geneh- Fällen, als er – nach seinem Rückzug aus gungsminister Mosche Dajan den Befehl migt den Kauf. dem aktiven Spionagegeschäft – mit Jour- erteilt, 13 Bomben gefechtsbereit zu ma- Doch am Zielhafen Genua kommt die nalisten sprach, vehement verneint. Tat- chen. Die Nuklearwaffen werden zu Luft- heiße Ware nie an. Top-Agent Eitan hat sächlich hat die CIA Jahre gebraucht, um waffeneinheiten transportiert. Für einige vorgesorgt und von einer Hamburger Ree- das israelische Atomprogramm zu enttar- Tage um den 9. Oktober herum steht die derei einen abgetakelten 1000-Tonnen- nen. Als John F. Kennedy Ende 1960 von Welt am Rande eines Atomkriegs. Frachter gekauft. Die „Scheersberg A“ dem wahren Zweck der „Textilfabrik“ von Aber noch bevor die Waffen scharf ge- übernimmt in Antwerpen die Ladung – Dimona erfuhr, zeigte er sich äußerst be- macht werden, wendet sich das Blatt, Is- und verschwindet damit im Mittelmeer. sorgt. Zu Beginn seiner Regierungszeit war raels konventionelle Streitkräfte gewinnen Später rekonstruieren peinlich berührte JFK Israel zugeneigt wie kaum ein US-Prä- die Oberhand. Die 13 Bomben wandern Euratom-Funktionäre und Reporter die sident zuvor – „schließlich wurde ich von zurück in ihre unterirdischen Wüsten- Fahrt. Irgendwo bei Zypern auf hoher See New Yorker Juden ins Amt gewählt, ich bunker. CHAUVEL GENEVIEVE / CORBIS Israelische Soldaten im Jom-Kippur-Krieg (Oktober 1973): Für einige Tage steht die Welt am Rande des Atomkriegs

112 der spiegel 5/2004 bomber mit Tausend-Kilo-Bom- Und doch glauben manche in Jerusalem, ben los, begleitet von sechs F-15- dass die Fähigkeit zum nuklearen Erst- Abfangjägern. Sie legen den Re- schlag von den Feinden Israels nicht ernst aktor, 900 Kilometer von der is- genug genommen würde. Wie lässt sich die raelischen Grenze entfernt, in Erkenntnis über Israels Arsenal verbrei- Schutt und Asche. Bevor die Ira- ten, ohne die eigene Politik der Verheim- ker realisiert haben, was da pas- lichung aufzugeben? siert ist, sind die Flugzeuge un- Es beginnt die mysteriöseste Affäre in behelligt in ihre Basis nahe Eilat der Geschichte des mysteriösen israeli- zurückgekehrt. schen Atomwaffenprogramms. Sie verbin- Es ist ein Triumph des Mossad, det sich mit einem marokkanisch-jüdischen der die Pläne für die tollkühne Namen: Mordechai Vanunu. Aktion ausgeheckt hat – und eine Seine Eltern, er Lebensmittelhändler, sie Niederlage für Peres. Der vor- Schneiderin, führen in Marrakesch das Le- sichtige Politiker, damals in der ben einer Mittelklassefamilie. Mordechai Opposition, war als einer der we- ist eines von sechs Kindern; er wächst wie nigen Politiker in den Plan einge- die anderen dreisprachig auf, wobei er Ara- weiht worden und hatte wegen zu bisch und Französisch besser beherrscht großer Risiken für Leib und Le- als Hebräisch. Von Kreditzusagen der ben der Piloten wie für die künf- „Jewish Agency“ lassen sich die sephardi- tigen Beziehungen zu den arabi- schen Juden 1963 ins Heilige Land locken

ISRAEL SUN ISRAEL schen Staaten vehement abgera- – und finden, nach der Zuteilung eines be- Ex-Agent Eitan, Freund Scharon (1987) ten. Aber nach einem kurzen scheidenen Hauses in der Wüstenstadt Waffe zur Abschreckung und Drohung Sturm der Entrüstung, in den Beerscheba, das Leben eher härter als in auch die USA („Verletzung des der alten Heimat. Der neunjährige Morde- Nichts befürchten Israels Politiker mehr, Völkerrechts“) einstimmen, legt sich die chai besucht bis zum Abitur nur streng or- als dass ein feindliches arabisches Land Empörung. thodoxe Schulen. nukleares Vernichtungspotenzial in die Israel gewöhnt sich an seine im Nahen Er bewährt sich beim Militärdienst als Hände bekommen könnte. Mit größter Be- Osten einmalige „Bombe im Keller“, spielt „sehr guter Unteroffizier“ (Armeezeugnis), sorgnis beobachtet Jerusalem seit den sieb- immer selbstbewusster seine Rolle als Da- schafft aber weder die Piloten-Examina ziger Jahren vor allem die rapiden atoma- vid mit einer atomar bestückten Schleu- noch die Eingangsprüfung für den In- ren Fortschritte des Irak. Saddam Hussein der – allen voran der scharfmacherische landsgeheimdienst Schin Bet. Er schreibt hat in Tuweitha südlich von Bagdad mit Verteidigungsminister (und heutige Pre- sich in Tel Aviv im Studienfach Physik ein, Hilfe Frankreichs einen höchst verdächti- mier) Ariel Scharon. Er schlägt nach Er- bricht nach einem Jahr ab. Wie viele der gen Kernreaktor erbaut. Israels Premier kenntnissen des Politikwissenschaftlers orientalischen Juden tendiert er politisch Menachem Begin sieht nur eine Chance, Yoel Cohen zu Beginn des Libanon-Feld- stark nach rechts. Saddam zu stoppen: Er befiehlt die Aus- zugs 1982 im Kabinett allen Ernstes einen Mordechai Vanunu will schnell Geld ver- schaltung der „Osirak“-Anlage. Atomschlag gegen Syrien vor, weil die dienen und bewirbt sich im „Nuklearfor- In den frühen Morgenstunden des Syrer angeblich drauf und dran seien, die schungszentrum“ Dimona. Dort besteht er 7. Juni 1981 schickt Begin acht F-16-Kampf- Golanhöhen anzugreifen. 1977 einen Intensivkurs in Physik, Che- mie, Mathematik und Englisch – und die Sicherheitsprüfung. Er bekommt den Dienstaus- weis mit der Nummer 320, der ihn zum Betreten von „Ma- chon 2“ berechtigt. Dieser achtstöckige, weitgehend un- terirdische Gebäudekomplex, so erfahren die Neueingestell- ten jetzt, dient als Anlage zur Plutoniumgewinnung. Alle müssen eine Geheimhaltungs- erklärung unterschreiben. Vanunu wird Kontrolleur der Nachtschicht, eine Auf- gabe, bei der er sämtliche Abteilungen von Machon 2 durchläuft. Über neun Jahre macht er, ebenso zuverlässig wie unauffällig, den stumpf- sinnigen Routinejob. Zwi- schenzeitlich schreibt er sich an der Universität von Beer- scheba für Philosophiekurse ein, Spezialität Nietzsche. Und wechselt dabei die politischen Lager. Scharons Libanon-

ANDRE BRUTMANN Krieg 1982 und Israels harte Luftaufnahme von der Zerstörung des irakischen Atomreaktors „Osirak“ (1981): Triumph des Mossad Besatzungspolitik im West-

der spiegel 5/2004 113 Titel jordanland treiben ihn zu den extremen Die israelische Regierung (nun unter aufgegeben – doch Konjunktur haben in Is- Linken. Vanunu gibt der Studentenzeitung Führung von Premier Peres) beschließt be- rael auf absehbare Zeit eher die Hardliner. aufrührerische Interviews, nimmt an Kur- reits vor dem Erscheinen seiner Enthüllun- Rafi Eitan hat sich längst verbittert ins sen der israelischen Kommunisten teil – gen, Vanunu aus dem Verkehr zu ziehen – Privatleben zurückgezogen, sich als Ge- schwer vorstellbar, dass dem allgegenwär- mit einer Honigfalle. Eine hübsche blonde schäftsmann versucht. Mal arbeitete er als tigen Inlandsgeheimdienst dies alles ent- Dame macht sich im Auftrag des Mossad in Makler im Westjordanland, mal als Zier- gangen sein soll. London an ihn heran, lockt ihn zu einem fischhändler mit Büro in Kuba (wobei er Im Dezember 1985 werden in Dimona gemeinsamen Urlaub auf eine British-Air- mehrfach Fidel Castro traf). Eitan hat es „aus wirtschaftlichen Gründen“, wie es ways-Maschine nach Rom. Dort verschwin- nicht zum Mossad-Chef gebracht und gilt heißt, 180 Arbeiter entlassen. Vanunu det Vanunu. 40 Tage später bekennt sich die seit seiner eigenmächtigen Rekrutierung gehört zu ihnen – und tritt, noch bevor er israelische Regierung dazu, den „Verräter“ des Wissenschaftlers Jonathan Pollard, der seine Papiere abholt, in die KP ein („Beruf: in Gewahrsam zu haben. Gerüchteweise für Israel die USA ausspionierte, in Ame- Student“). Doch der Einzelgänger findet heißt es, er sei in Rom unter Drogen gesetzt rika als Persona non grata. in der Partei keine Freunde, eine Liebes- und in einem Schiff verschleppt worden. Man solle PLO-Chef Arafat wie einst beziehung zu einer Hebamme scheitert. Ein Gericht in Jerusalem verurteilt Vanunu Eichmann in Israel den Prozess als Kriegs- Vanunu beschließt, eine Weltreise zu ma- in nichtöffentlicher Verhandlung zu 18 Jah- verbrecher machen, schlug Scharon- chen, Richtung Fernost. Er nimmt auch sei- ren Gefängnis. Die meiste Zeit muss er in Freund Eitan kürzlich im israelischen Ra- ne Kamera mit. Ferner im Gepäck: belich- Isolationshaft verbringen. dio vor. Auf den Websites durchgeknallter WDR (L.); ISRAEL SUN (R.) WDR (L.); ISRAEL Atom-Verräter Vanunu auf dem Weg zum Gericht 1986, im Gefängnis von Aschkelon (2003): „Israels Atomprogramm ist unmoralisch“ tete Filme mit brisanten Bildern, die der Bis heute gibt das totale Versagen der Verschwörungstheoretiker wird Eitan neu- Atomwächter – angeblich unbemerkt – in Dimona-Überwachungsbehörden Rätsel erdings als der Mann gehandelt, der hinter der hoch geheimen Anlage gemacht hat. auf. Oder hat Israels Geheimdienst den dem Terror vom 11. September 2001 in Über Athen, Moskau, Bangkok und Atomwächter Vanunu selbst an der langen New York stand – und im Auftrag des Mos- Katmandu kommt er nach Sydney. Dort Leine geführt? „Die glaubwürdigste Er- sad eine ähnlich monströse, neue Tat plant. schlägt er sich als Taxifahrer durch, freun- klärung lautet, dass der Mossad dem Wis- Mordechai Vanunu soll am 21. April aus det sich in der Anglikanischen Kirche senschaftler Vanunu auf die Schliche kam dem Gefängnis von Aschkelon entlassen St. John mit dem Pfarrer an. Er tritt zum und beschloss, ihm Gelegenheit zu geben, werden. Ein amerikanisches Ehepaar, das Christentum über. Die pazifistischen Bi- seine brisanten Entdeckungen weiterzu- ihn adoptiert hat, und ein befreundeter belstunden bestärken Vanunu in seiner erzählen“, meint der britische Nuklear- Anglikaner-Priester planen in den USA, Ablehnung des israelischen Atompro- experte Frank Barnaby. wohin der Häftling auswandern will, eine gramms. „Es ist unmoralisch“, sagt er – Die drei von der atomaren Tankstelle – große Party. Fans nominierten ihn für den und zeigt einigen seiner neuen Brüder Bil- Schimon der Friedensbewegte, Rafi der Friedensnobelpreis. der von Dimona. Schnell taucht ein Jour- Skrupellose und Mordechai der Zweifler – Noch ist völlig unsicher, ob es zur Frei- nalist auf, der ihn zum Enthüllungscoup blicken in diesen Tagen in eine zutiefst un- lassung kommt. Das Verteidigungsministe- überredet und den Kontakt zur Londoner terschiedliche Zukunft. rium will Vanunu nach einem sonst nur bei „Sunday Times“ herstellt. Vanunu wird Schimon Peres spricht inzwischen er- palästinensischen Terrorverdächtigen an- von dem Blatt in die britische Hauptstadt staunlich offen über die nukleare Option gewendeten Gesetz weiterhin hinter Git- geflogen. Israels: „Wir haben uns besondere waffen- tern halten. Oder ihn allenfalls gegen die Die Geschichte, die am 5. Oktober 1986 technische Möglichkeiten nicht angeeig- Zusicherung laufen lassen, dass er über erscheint, wird zur Weltsensation. Die Poli- net, um Hiroschima zu wiederholen, son- seine Erfahrungen in Dimona und seine tiker mögen sich um eine Bestätigung dern um so etwas wie (den Friedensprozess Entführung schweigt. drücken, die offensichtlich authentischen von) Oslo durchzusetzen.“ Auch mit jetzt „Ich glaube an die Redefreiheit, sie ist Bilder und Berichte belegen: Israel besitzt 80 Jahren hat der allseits Einsetzbare die das höchste demokratische Gut“, hat der etwa 100 bis 200 Atombomben. Hoffnung auf ein hohes Staatsamt nicht „Verräter“ seinen Adoptiveltern gesagt. ™

114 der spiegel 5/2004 Ausland

IRAK Der Mullah und die Demokratie Um den Drohungen des Schiiten-Führers Sistani zu begegnen, wenden sich die ratlosen Amerikaner nun wieder an die Vereinten Nationen. Die Uno soll helfen, den Irak zu befrieden.

ie zwei mächtigsten Gottesmänner in der modernen Geschichte der DSchiiten haben beim legendären Großajatollah Abd al-Kassim al-Chui in Nadschaf studiert. Keiner der beiden geriet ganz nach dem Geschmack ihres Lehrers. Der eine, Irans Revolutionsführer Ru- hollah Chomeini, habe sich immer mehr fürs Politische als für die Theologie inter- essiert. Ein großartiger Volkstribun, doch als Gelehrter nur Mittelmaß. Der andere, sein späterer Nachfolger Sajjid Ali al-Sistani, bemerkte Chui in den achtziger Jahren, sei ein großer Geist; doch er neige zum Stubenhocker. Monatelang vergrabe er sich in seinen Schriften, an- statt hinauszugehen und seinen Glaubens- brüdern Mut zu machen im Widerstand gegen Saddams Diktatur. Dem alten Chui passte das nicht. Vielleicht ist es ja diese Kritik seines 1992 verstorbenen Lehrmeisters aus den Tagen des Iran-Irak-Krieges, die heute das Han- deln des Großajatollah Sistani bestimmt. Noch vor Jahresfrist war der Name des Gelehrten aus der Schiiten-Stadt Nadschaf außer seinen Anhängern nur ein paar west- lichen Islamwissenschaftlern ein Begriff. Doch je länger die amerikanische Besat- zung im Irak andauert, desto eindrucks- voller bewegt der 73-jährige Gottesmann inzwischen die Weltpolitik. Aufgeschreckt von Sistanis jüngster Er- klärung, machte sich US-Zivilverwalter Paul Bremer auf den Weg nach Washing- ton: Amerikas halbdemokratische Pläne zur Machtübergabe Anfang Juli seien zum Scheitern verurteilt, hatte der Mullah ge- droht. Eine Übergangsregierung, die nicht aus freien, allgemeinen Wahlen hervorgin- ge, sei „weder in der Lage noch qualifi- ziert, ihre Arbeit zu tun. Die politische Si- tuation wird sich verschlechtern – und die Sicherheitssituation auch“. Der Dschihad, der Heilige Krieg, liege „in der Luft“, berichtete der Teilnehmer ei- nes Kleriker-Treffens bei Sistani. Zur Un- terstützung seiner Forderungen gingen in Basra Zehntausende Menschen auf die Straße, kurz darauf in Bagdad fast 100000. Sogar Christen und Sunniten waren unter den Demonstranten, doch die Massen ka- men aus den Elendsvierteln der Schiiten. Es war die erste sichtbare Machtdemon- stration Sistanis, organisiert von der Hau-

* Mit Bildern des Ajatollah Sistani. DI LAURO / GETTY IMAGES MARCO Schiiten-Demonstration in Bagdad* 116 sa, dem von ihm angeführten theologi- schen Seminar. Unter dem Eindruck dieser Bilder kon- ferierte Bremer mit US-Präsident George W. Bush, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, Außenminister Colin Powell – und deutete nachher vage Kompromissbereit- schaft an. Schon einmal, im vergangenen Sommer, hatte Bremer einen fertig ausge- arbeiteten Siebenstufenplan zum Macht-

transfer mit Rücksicht auf Sistanis Kritik / E-LANCE MEDIA TV / REUTERS REUTERS einstampfen lassen. Anschlag auf US-Hauptquartier: Wenig Anlass zur Hoffnung Wie nun ein neuerlicher Kompromiss mit dem widerspenstigen Mullah aussehen könnte, danach fragte Bremer ausgerech- net dort an, wo die Bush-Regierung in Sa- chen Irak eigentlich überhaupt nicht mehr anfragen wollte: bei Uno-Generalsekretär Kofi Annan. Die Vereinten Nationen, ver- bittert und verwundet aus Bagdad abge- zogen nach dem Anschlag auf das Uno- Hauptquartier im August, sollen Washing- ton aus der Klemme helfen. Zurückhaltender als andere Schiiten- Führer hatte sich Sistani seit Kriegsende gegen die Fremdherrschaft im Irak ausge- sprochen. Sein verbindlicher Ton – im Ge- gensatz etwa zu seinem jungen Rivalen Muktada al-Sadr – mag die Amerikaner eingelullt haben. An seinem Leitmotiv frei-

lich ließ Sistani nie einen Zweifel: demo- / AP ALTAFFER MARY kratische Wahlen, welche die etwa 60-pro- Uno-Chef Annan, US-Zivilverwalter Bremer*: Alles wird von den Amerikanern kontrolliert zentige Bevölkerungsmehrheit der Schiiten auch im politischen Machtgefüge des neu- wähltes Gremium sei machtlos, argumen- werden: Es gebe keinen gültigen Zensus en Irak sichtbar macht. tierte er. im Irak, keine Wählerlisten, kein Wahlge- Es stehe noch nicht fest, sagt der Bag- Er würde eine gemäßigte, aber demokra- setz, nicht einmal die Grenzen der Wahl- dader Politologe Wamid Nadhmi, ob Sis- tisch legitimierte Schiiten-Regierung allemal bezirke seien definiert. Schon technisch sei tani ein aufrichtiger Demokrat sei oder wie einem von den Amerikanern ernannten Ka- es deshalb unmöglich, bis zur geplanten Chomeini nur nach Macht strebe: „In je- binett vorziehen, das von Sunniten domi- Machtübergabe Anfang Juli das gesamte dem Fall haben die Schiiten das Recht, die niert oder nach ethnisch-religiösem Proporz irakische Volk zu den Urnen zu bitten. demokratischen Wahlen zu fordern, die ih- gebildet wird. Damit spreche er vielleicht Auch die Sicherheitslage nach den At- nen immer wieder versprochen wurden.“ nicht für alle Minderheiten im Irak, aber tacken auf irakische Polizeistationen und Nadhmi selbst, einst Dekan der Poli- doch für eine nennenswerte Gruppe. dem Anschlag auf das US-Hauptquartier tikwissenschaftlichen Fakultät der Uni- Das ist offensichtlich nicht die Einschät- am Bagdader Tigrisknie mit mehr als 30 To- versität Bagdad, ist Sunnit mit arabisch- zung der Besatzer. Für die Amerikaner desopfern sei riskant. nationalistischen Ansichten. Im vergan- droht mit dem absehbaren Wahlsieg der Das freilich gilt ebenso für den Plan der genen Sommer lehnte er ein Angebot Schiiten ein zweiter Gottesstaat am Golf – Amerikaner, auf den sie sich mit dem von ab, dem von den Amerikanern ernannten und gleichzeitig das Auseinanderbrechen ihnen selbst ernannten Regierungsrat ge- Regierungsrat beizutreten – ein unge- des Irak, weil es weder die Kurden noch die einigt haben: 18 Wahlausschüsse, deren sunnitischen Araber unter einem Mullah- Mitglieder vom Regierungsrat selbst und TÜRKEI 250 km regime aushielten. regionalen Räten bestimmt werden, sollen Erste Anzeichen für dieses Szenario gibt bis Ende Mai ein etwa 250-köpfiges Über- es bereits: Während die Kurden auf Sista- gangsparlament küren. Das müsste dann IRAN SYRIEN nis Machtanspruch mit ungeschminkten seinerseits bis 30. Juni eine Übergangsre- Sezessionsdrohungen reagieren, mobilisie- gierung ernennen – das formale Ende der Kirkuk ren die radikalen Schiiten um Muktada amerikanischen Besatzung. al-Sadr gegen das bislang als weitgehend Massiver denn je lehnte vergangene Wo- IRAK Bagdad unumstritten geltende Leitprinzip des Fö- che ein Sprecher Sistanis den US-Plan ab: deralismus. „Von Sachu bis Basra“, so Das Verfahren sei „extrem gefährlich“. Kei- Religionen und lautete eine Parole auf einer Schiiten- ne daraus hervorgehende Nationalver- Ethnien im Irak Nadschaf Demonstration vergangenen Dienstag, sammlung oder Regierung sei legitim. So- Zahlen geschätzt „der Irak bleibt ungeteilt!“ Der Föderalis- lange Uno-Fachleute und irakische Exper- 4% Sonstige mus sei lediglich ein „israelischer Plan“, ten ihn nicht von einem besseren Modell Basra 16% das Land zu teilen. überzeugten, beharre Sistani weiterhin auf Sunnitische Vielfältig sind die Gründe, die von den demokratischen Wahlen. Kurden Gegnern frühzeitiger Wahlen vorgebracht Tatsächlich hatte im vergangenen Som- 20% 60 % KUWEIT mer ein Uno-Team unter Leitung der Sunnitische Schiitische Wahlexpertin Carina Perelli festgestellt, Araber Araber * Mit Uno-Botschafter John Negroponte und dem briti- schen Irak-Beauftragten Jeremy Greenstock in New York. dass – mit einem Vorlauf von etwa sechs

der spiegel 5/2004 117 Monaten – direkte Wahlen durchaus zu or- ganisieren wären. Wegen der schlechten Sicherheitslage neigt Generalsekretär Kofi Annan inzwischen allerdings den Skepti- kern zu. Einen Brief, in dem er Sistani sei- ne Sorgen mitteilte, tat der Mullah freilich ab als ein Dokument, das auf amerikani- schen Druck hin zu Stande gekommen sei. Zwei Sicherheitsexperten der Uno sind nun im Lande, um eine Rückkehr der Ver- einten Nationen vorzubereiten. Als Vor- hut soll bereits im Februar Perellis Team an den Tigris kommen und prüfen, ob und wann demokratische Wahlen zu realisie- ren sind. Als Nachfolger für den im August ermordeten Missionschef Sergio Vieira de Mello ist der in Afghanistan erfolgreiche und im Irak sehr populäre Algerier Lach- dar Brahimi vorgesehen. Annan weiß, dass

er Sistani Alternativen bieten muss. ROUSSEAU / AFP STEFAN Was ihm die Amerikaner und der iraki- Blair bei Truppenbesuch im Irak: „Wir werden nur mit ihm die nächste Wahl gewinnen“ sche Regierungsrat bislang als Verhand- lungsmasse offerieren, gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Von einem Vorschlag, die GROSSBRITANNIEN Wählerbasis für den offiziellen US-Plan zu „erweitern“, sprachen Teilnehmer der Uno-Gespräche vergangene Woche. Ob Krieg und Frieden Sistani durch eine Erhöhung der Zahl schi- itischer Wahlmänner gefügig zu machen Seine Schicksalswoche wird Englands Premier Tony Blair, ist, bleibt fraglich. An dem von ihm kriti- sierten Grundübel des Verfahrens änderte leicht zerrupft, wohl überstehen. Ein Stellvertreter- sich nämlich nichts: Alle Gremien, die Opfer ist bereits markiert – Verteidigungsminister Hoon. Wahlmänner entsenden, würden weiter- hin von den Amerikanern kontrolliert. ine der wenigen konsensfähigen Aus- noch einmal den Krieg, die andere den Grundsätzliche Veränderungen an diesem sagen dieser Tage stammt von Char- Frieden: Da ist der Bericht Lord Huttons, Modell ziehe man „nicht in Erwägung“, so Elie, dem alten Haudegen, der durch der die Glaubwürdigkeit der BBC in der ein Sprecher Bremers in Bagdad. die Morgensendungen und Groschenblät- Sache des Waffenexperten David Kelly ge- Stattdessen verdichtet sich im Regie- ter gereicht wird. gen die des Premiers abwiegen wird. Und rungsrat ein ganz anderes Drohszenario: Charlie ist Churchills Papagei, ein Zeit- da ist, knapp 24 Stunden zuvor, die Ab- Wenn dem Großajatollah das vorgeschla- zeuge großer Triumphe. Er ist inzwischen stimmung über die Erhöhung der Studien- gene Wahlausschuss-Verfahren nicht passe, 104 Jahre alt, aber er ist immer noch gut gebühren, mit der Blair sein politisches so irakische und amerikanische Offizielle, drauf. Und er kann Sachen sagen wie: Prestige verknüpft hat. stehe er am Ende womöglich ganz ohne „F…k the Nazis“. In beiden Fällen wird Blut fließen, aber Wahlen da. Fest entschlossen, bis Ende Darauf kann man sich verständigen. noch ist nicht ausgemacht, dass es das des Juni definitiv aus Bagdad abzuziehen, Um alles andere, um jüngere Kriege und Premiers sein wird – es gibt mittlerweile zu könnte die US-Zivilverwaltung einfach neue Gesetze streiten sich die Parteien auf viele Mitspieler, zu viele mögliche Blitz- dem jetzt schon bestehenden Regierungs- der britischen Insel in bizarren Frontver- ableiter. rat die Schlüssel der Macht übergeben. läufen. Konservative sitzen im Lager Blairs Entlastung für Blair brachte zunächst Sistani, so behauptet Ratsmitglied Mu- und Linke im Lager der Konservativen, ausgerechnet die BBC, die die Regierung waffak al-Rubai, finde sich eventuell damit und vor ihnen allen liegt nicht die neue bis dahin wegen Manipulationen am Irak- ab, die Wahlen erst Ende des Jahres und Weltordnung, sondern die Plackerei in der Bericht scharf angegriffen hatte. dann unter irakischer Kontrolle abzuhal- alten – ein miserables Transportsystem, Mit einer bemerkenswerten Sonder- ten. Profiteure dieser Regelung wären frei- verkarstende Provinzstädte, 100 000 im sendung in eigener Sache stürzte sich der lich die durchgehend unpopulären Rats- Öffentlichen Dienst drohen Sender ins Schwert: Schlam- mitglieder wie Rubai selbst, der Pentagon- mit Streik. pige Recherche warfen Re- Protegé Ahmed Tschalabi oder Adnan Das Land ist gespalten, porter des Hauses ihrem Patschatschi, deren Wirken auf diese Wei- und der Premier, sicher ei- Kollegen Andrew Gilligan se künstlich verlängert würde. ner der Großen seit Chur- vor und Fahrlässigkeit im „Es wird sich langfristig nicht auszah- chill, hat, so scheint es, über Umgang mit seiner Quelle len, Ajatollah Sistani manipulieren zu wol- der leidigen Kriegsfrage sein Kelly. Auch BBC-General- len“, warnt der Politologe und Schiiten- politisches Friedenskapital direktor Greg Dyke wurde Experte Nadhmi. Kleriker seines Kalibers aufgebraucht. Er rudert. Er kritisiert. träten zwar gern in der Pose des Anführers beschwört. Es geht nur quä- Zudem wurde ein bisher auf, doch in Wahrheit hätten sie ihr Ohr lend langsam voran. ungesendetes Interview mit ganz nahe an ihren Gläubigen. „Kann sein, Derzeit sammelt Tony Kelly ausgestrahlt, in dem er dass man einen einzelnen Mullah auszu- Blair die verbliebenen Ge- vor einer Gefahr durch Sad-

manövrieren vermag. Am Willen des Vol- treuen für die zwei entschei- / DPA WIGGLESWORTH KIRSTY dams ABC-Waffen warnte, kes kommt man so nicht vorbei.“ denden Schlachten der Wo- Lord Hutton wenn auch diese nicht, wie Bernhard Zand che um sich. Die eine betrifft Blut wird fließen von der Regierung behaup-

118 der spiegel 5/2004 Monaten – direkte Wahlen durchaus zu or- ganisieren wären. Wegen der schlechten Sicherheitslage neigt Generalsekretär Kofi Annan inzwischen allerdings den Skepti- kern zu. Einen Brief, in dem er Sistani sei- ne Sorgen mitteilte, tat der Mullah freilich ab als ein Dokument, das auf amerikani- schen Druck hin zu Stande gekommen sei. Zwei Sicherheitsexperten der Uno sind nun im Lande, um eine Rückkehr der Ver- einten Nationen vorzubereiten. Als Vor- hut soll bereits im Februar Perellis Team an den Tigris kommen und prüfen, ob und wann demokratische Wahlen zu realisie- ren sind. Als Nachfolger für den im August ermordeten Missionschef Sergio Vieira de Mello ist der in Afghanistan erfolgreiche und im Irak sehr populäre Algerier Lach- dar Brahimi vorgesehen. Annan weiß, dass

er Sistani Alternativen bieten muss. ROUSSEAU / AFP STEFAN Was ihm die Amerikaner und der iraki- Blair bei Truppenbesuch im Irak: „Wir werden nur mit ihm die nächste Wahl gewinnen“ sche Regierungsrat bislang als Verhand- lungsmasse offerieren, gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Von einem Vorschlag, die GROSSBRITANNIEN Wählerbasis für den offiziellen US-Plan zu „erweitern“, sprachen Teilnehmer der Uno-Gespräche vergangene Woche. Ob Krieg und Frieden Sistani durch eine Erhöhung der Zahl schi- itischer Wahlmänner gefügig zu machen Seine Schicksalswoche wird Englands Premier Tony Blair, ist, bleibt fraglich. An dem von ihm kriti- sierten Grundübel des Verfahrens änderte leicht zerrupft, wohl überstehen. Ein Stellvertreter- sich nämlich nichts: Alle Gremien, die Opfer ist bereits markiert – Verteidigungsminister Hoon. Wahlmänner entsenden, würden weiter- hin von den Amerikanern kontrolliert. ine der wenigen konsensfähigen Aus- noch einmal den Krieg, die andere den Grundsätzliche Veränderungen an diesem sagen dieser Tage stammt von Char- Frieden: Da ist der Bericht Lord Huttons, Modell ziehe man „nicht in Erwägung“, so Elie, dem alten Haudegen, der durch der die Glaubwürdigkeit der BBC in der ein Sprecher Bremers in Bagdad. die Morgensendungen und Groschenblät- Sache des Waffenexperten David Kelly ge- Stattdessen verdichtet sich im Regie- ter gereicht wird. gen die des Premiers abwiegen wird. Und rungsrat ein ganz anderes Drohszenario: Charlie ist Churchills Papagei, ein Zeit- da ist, knapp 24 Stunden zuvor, die Ab- Wenn dem Großajatollah das vorgeschla- zeuge großer Triumphe. Er ist inzwischen stimmung über die Erhöhung der Studien- gene Wahlausschuss-Verfahren nicht passe, 104 Jahre alt, aber er ist immer noch gut gebühren, mit der Blair sein politisches so irakische und amerikanische Offizielle, drauf. Und er kann Sachen sagen wie: Prestige verknüpft hat. stehe er am Ende womöglich ganz ohne „F…k the Nazis“. In beiden Fällen wird Blut fließen, aber Wahlen da. Fest entschlossen, bis Ende Darauf kann man sich verständigen. noch ist nicht ausgemacht, dass es das des Juni definitiv aus Bagdad abzuziehen, Um alles andere, um jüngere Kriege und Premiers sein wird – es gibt mittlerweile zu könnte die US-Zivilverwaltung einfach neue Gesetze streiten sich die Parteien auf viele Mitspieler, zu viele mögliche Blitz- dem jetzt schon bestehenden Regierungs- der britischen Insel in bizarren Frontver- ableiter. rat die Schlüssel der Macht übergeben. läufen. Konservative sitzen im Lager Blairs Entlastung für Blair brachte zunächst Sistani, so behauptet Ratsmitglied Mu- und Linke im Lager der Konservativen, ausgerechnet die BBC, die die Regierung waffak al-Rubai, finde sich eventuell damit und vor ihnen allen liegt nicht die neue bis dahin wegen Manipulationen am Irak- ab, die Wahlen erst Ende des Jahres und Weltordnung, sondern die Plackerei in der Bericht scharf angegriffen hatte. dann unter irakischer Kontrolle abzuhal- alten – ein miserables Transportsystem, Mit einer bemerkenswerten Sonder- ten. Profiteure dieser Regelung wären frei- verkarstende Provinzstädte, 100 000 im sendung in eigener Sache stürzte sich der lich die durchgehend unpopulären Rats- Öffentlichen Dienst drohen Sender ins Schwert: Schlam- mitglieder wie Rubai selbst, der Pentagon- mit Streik. pige Recherche warfen Re- Protegé Ahmed Tschalabi oder Adnan Das Land ist gespalten, porter des Hauses ihrem Patschatschi, deren Wirken auf diese Wei- und der Premier, sicher ei- Kollegen Andrew Gilligan se künstlich verlängert würde. ner der Großen seit Chur- vor und Fahrlässigkeit im „Es wird sich langfristig nicht auszah- chill, hat, so scheint es, über Umgang mit seiner Quelle len, Ajatollah Sistani manipulieren zu wol- der leidigen Kriegsfrage sein Kelly. Auch BBC-General- len“, warnt der Politologe und Schiiten- politisches Friedenskapital direktor Greg Dyke wurde Experte Nadhmi. Kleriker seines Kalibers aufgebraucht. Er rudert. Er kritisiert. träten zwar gern in der Pose des Anführers beschwört. Es geht nur quä- Zudem wurde ein bisher auf, doch in Wahrheit hätten sie ihr Ohr lend langsam voran. ungesendetes Interview mit ganz nahe an ihren Gläubigen. „Kann sein, Derzeit sammelt Tony Kelly ausgestrahlt, in dem er dass man einen einzelnen Mullah auszu- Blair die verbliebenen Ge- vor einer Gefahr durch Sad-

manövrieren vermag. Am Willen des Vol- treuen für die zwei entschei- / DPA WIGGLESWORTH KIRSTY dams ABC-Waffen warnte, kes kommt man so nicht vorbei.“ denden Schlachten der Wo- Lord Hutton wenn auch diese nicht, wie Bernhard Zand che um sich. Die eine betrifft Blut wird fließen von der Regierung behaup-

118 der spiegel 5/2004 Ausland tet, innerhalb von 45 Minuten startklar ge- Überhaupt nicht gut kam jetzt Hoons und heimlichen Absetzbewegungen. Es wesen sein sollen. Äußerung über Kelly an. Der Waffen- sind die spannendsten Tage der jüngeren Eine weitere Entlastung für den Premier experte sei ja „nicht gerade ein Märtyrer“ englischen Parlamentsgeschichte. kommt in Gestalt des burschikosen Vertei- gewesen, meinte der Minister salopp. Zur In den Gängen wird Tony Blairs finsteres digungsministers Geoff Hoon – ihn hat sich Erinnerung: Kelly hatte sich umgebracht, Gegenbild, Schatzkanzler Gordon Brown, die Presse-Meute in den letzten Wochen als nachdem sein Name, womöglich aus dem immer offener als Premier-Nachfolger ge- Ersatzopfer wund gebissen, mit Zeilen wie: Regierungsviertel Whitehall, als Verräter nannt. Er hat Blair zwar lau seine Unter- „Ist dies der unzuverlässigste, inkompe- an die Öffentlichkeit gespielt worden war. stützung zugesagt, doch es ist einer seiner tenteste, gefühlskälteste, überschätzteste Hoons Äußerung – im besten Falle herz- Vertrauten der proletarischen „Nordost- Minister der jüngeren Geschichte?“ („Dai- los. Die Presse heulte auf, Kellys Familie Mafia“, Ex-Minister Nick Brown, der die ly Mail“). Oder, bündiger: „Geh jetzt, protestierte, und der offenbar amtsmüde Rebellenbewegung orchestriert. Hoon“ („Sun“). Minister selbst schloss einen Rücktritt nicht Es gehe ihm nur um die Sache, versichert Geoff Hoon, 50, mit vier Jahren im Amt mehr aus. der Arbeiterrevier-Abgeordnete in seinem bereits einer der dienstältesten Minister, All das bedeutet in der politischen Dy- Büro hinter der Holztür mit den schmiede- war von der jungen, blonden, telegenen namik dieser Tage Entlastung für Blair, der eisernen Beschlägen. Es ist klein und so Soldaten-Witwe Samantha Roberts zum nun, im Falle eines regierungskritischen spartanisch möbliert wie eine Mönchszelle, Rücktritt aufgefordert worden. Samanthas Hutton-Berichts, ein politisches Opfer griff- und Brown wirkt wie ein Überzeugungstä- Mann war in der Nähe von Basra am vier- bereit hat. ter: Hier steh ich und kann nicht anders! ten Tag des Irak-Kriegs erschossen worden Zuvor jedoch muss er die Rebellion in In der Frage der Studiengebühren, so – die kugelsichere Weste, die lebensrettend den eigenen Reihen niederschlagen, die Brown heftig, sei „die Grenze erreicht“. gewesen wäre, hatte er zuvor an einen Kol- sich um die Erhöhung von Studienge- Es sei eine Klassenfrage. Schließlich habe legen abzutreten, weil es nicht genügend bühren gebildet hat. New Labour nicht nur ökonomische Sta- für alle gab. Blair möchte, dass die Universitäten bilität, sondern auch soziale Gerechtigkeit In der Folge waren weitere Familien- nach amerikanischem Vorbild stärker von versprochen. angehörige von Gefallenen an die Öffent- jenen mitfinanziert werden, die sie nut- Man glaubt Nick Brown auf Anhieb, lichkeit gegangen und hatten Ausrüstungs- zen – schließlich verdienen sie später auch dass er in dieser Frage seinem Gewissen mängel beklagt. Mal fehlten Blutkon- besser. Eine typische Forderung New La- folgt. Allerdings ist die Überlegung nicht serven, mal das passende Schuhwerk. Hoon sprach Roberts’ Witwe bei einem Treffen sein Beileid aus, hatte aber mit einigem Recht darauf beharrt, dass er nicht für operative Fehler zur Verant- wortung gezogen werden könne – jeder Militärexper- te weiß, dass an der Front Verteilungsprobleme auftau- chen können. Jetzt allerdings stellte sich heraus, dass diese Probleme durchaus mit der politischen Auftragslage zusammenhin- gen: Um im Vorfeld den Ein- REUTERS / E-LANCE MEDIA REUTERS druck zu vermeiden, dass PRESS / ACTION REX FEATURES man auf alle Fälle zum Krieg Waffenexperte Kelly (2002), Verteidigungsminister Hoon: „Nicht gerade ein Märtyrer“ entschlossen war, wurde schwere Gefechtskleidung erst relativ spät bours: im Grundton konservativ, doch so- von der Hand zu weisen, dass ein ge- geordert. Ein Großteil der insgesamt 36000 zial verträglich gemacht, etwa durch Zu- schwächter Tony Blair mittelfristig leichter kugelsicheren Westen blieb in der Etappe schüsse für Kinder aus armen Familien. zur Amtsübergabe an Gordon Brown be- hängen. In den besten Zeiten wäre dies eine idea- reit ist als einer, der einen glänzenden Sieg Anfang des Monats hatte sich bereits le Forderung für eine parteienübergreifen- unter dem Gürtel hat. Kriegsheld Tim Collins über Mittelkür- de Koalition der Vernunft. In diesen Tagen Doch wollen auch die Rebellen den Pre- zungen bei der Armee beschwert und sei- jedoch ist es eine, mit der man sich zwi- mier nicht zu sehr beschädigen, schließ- nen Rücktritt eingereicht. „Wir haben kei- schen sämtliche Stühle setzen kann. lich verdanken viele von ihnen Blairs ne Streitkräfte, die der viertgrößten Wirt- Über hundert Labour-Abgeordnete ha- Wahlsiegen ihren Job. Im Übrigen wäre schaftsmacht der Erde angemessen wären“, ben Widerstand angekündigt. Die konser- ein gemeinsamer Triumph mit Konservati- ließ Collins ausrichten. Bald wird Frank- vative Führung um Michael Howard legte ven wie Michael Howard doch eine allzu reich mehr Kriegsschiffe haben. Frank- sich prompt und mit bemerkenswertem eklige Angelegenheit. reich! Opportunismus darauf fest, den Premier, Deshalb, glaubt man, werden die La- Verteidigungsminister Hoon bot zusätz- der sein Schicksal mit der Frage verknüpft bour-Rebellen im letzten Moment, nach liche Angriffsflächen mit einem Stil, den hat, gemeinsam mit den Linksrebellen in weiteren Zugeständnissen Blairs, um- man als übermäßig lässig bezeichnen Grund und Boden zu stimmen. schwenken. So sagt Brown denn auch: „Wir könnte. Kurz vor Kriegsbeginn etwa – sei- So bietet die Schauergotik Westminsters werden mit Blair, und nur mit ihm, die ne Soldaten hatten Urlaubssperre – fuhr vor der Abstimmung ein beeindruckendes nächste Wahl gewinnen.“ er Ski in den französischen Alpen und Schauspiel aus öffentlichen Debatten und Danach allerdings würden Traditionalis- geisterte als „Holiday Hoon“ durch die geflüsterten Absprachen über mögliche ten wie er ihre alte Labour-Partei gern wie- Gazetten. Thronfolger, aus falschen Treueschwüren der zurückhaben. Matthias Matussek

der spiegel 5/2004 119 Ausland

Ex-Premier Benjamin Netanjahu, gibt der Die Affäre rückt Scharons politische Fa- ISRAEL Angegriffene Durchhalteparolen aus. „Ich milienwirtschaft ins Schlaglicht – seine Söh- beabsichtige nicht, mein Amt aufzugeben, ne Gilad, 37, und Omri, 39, fungieren als Fauler Apfel sondern ich werde meine Zeit bis 2007 er- engste Vertraute und politische Berater. füllen“, beteuert Scharon. In der Sache Der glatzköpfige Omri zieht für seinen Va- Dubiose Millionenüberweisungen schweigt er sich aus. ter die Strippen im Likud und diente schon Doch der Druck ist gewaltig. Opposi- mal als Emissär zu Jassir Arafat. „Die an seinen Sohn bringen tionspolitiker sprechen von einem der Royals“ nennt die Presse Scharon und sei- Ariel Scharon ins Zwielicht. Stürzt „schwerwiegendsten Skandale“ in Israel und ne Söhne in Anlehnung an das britische der Regierungschef fordern Scharon zur Demission auf. „Er Königshaus. über die Korruptionsvorwürfe? muss reden – oder zurücktreten“, so auch Gilad, ein Agrarökonom, leitet die vä- die Zeitung „Maariv“. Noch nie habe sich terliche Ranch. Er gilt als das „Gehirn“ der or seinem Premierminister zeigt Jos- ein israelischer Premier des Verdachts er- Familie. Appel habe ihn als Berater für sein si Sarid, Wortführer der israelischen wehren müssen, bestochen worden zu sein. griechisches Inselprojekt angeheuert, so VLinken und politisches Urgestein, Eine griechische Insel steht im Mittel- die Anklage, obwohl er wusste, dass der keinen Funken Respekt. „Über Don Scha- punkt der schon länger schwelenden Affä- Landwirt „dafür gar nicht die professio- ron und seine Söhne könnte man gut einen re. Auf dem Eiland Patroklos, 40 Kilome- nelle Eignung hatte“. Gegenüber Scharon Mafia-Film drehen“, lästerte Sarid dieser ter vor Athen, wollte Appel 1999 ein Tou- soll der Satz gefallen sein: „Dein Sohn wird Tage, „und Marlon Brando wäre eine gute ristenparadies mit Kasino errichten. Scha- bald viel Geld bekommen.“ Besetzung für die Hauptrolle.“ ron, seinerzeit Außenminister, sollte ihm Dies ist nicht der einzige Fall, in dem Der schlagfertige Oppositionelle ist be- helfen, dafür die griechische Regierung zu sich die Ermittler mit dem prominenten kannt für seine beißende Kritik – doch gewinnen. Medienberichten zufolge arran- Männerbund beschäftigen. In einem ande- diesmal scheint er bloß auszudrücken, was gierte der heutige Premier, der für seine ren Verfahren geht es um den Verdacht der immer mehr Israelis empfinden: Dass Scha- Treue gegenüber Freunden bekannt ist, zu- illegalen Wahlkampffinanzierung. Über ein ron verstrickt ist in unsaubere Machen- mindest Kontakte zwischen Appel und System von Strohfirmen sollen die Scha- BRENNAN LINSLEY / AP BRENNAN LINSLEY ISRAEL SUN ISRAEL Premier Scharon (M.), Rivale Netanjahu (r.), Geschäftsmann Appel: „Er muss reden oder zurücktreten“ schaften, die ihn sogar das Amt kosten griechischen Diplomaten. Der Geschäfts- rons ausländische Spendengelder gewa- könnten. Sein Ansehen fällt rapide. Nur mann bestreitet die Vorwürfe. schen haben. Zwar zahlte Scharon die be- noch eine Minderheit hält den Premier für Der Immobilieninvestor habe Scharon anstandeten Beträge zurück. Doch auch glaubwürdig. vor allem über dessen Sohn Gilad besto- dieses Geld soll ihm auf unsaubere Weise Sind die Tage des eisernen Generals tat- chen, so die Anklage im Verfahren „Fauler zugeflossen sein. Scharon bestreitet das. sächlich gezählt, wie der Jerusalemer Par- Apfel“. Insgesamt seien fast 700000 Dollar Damit nicht genug, droht Scharon nun teienexperte Menachem Hoffnung prophe- Schmiergeld, als vermeintliche Honorare weiteres Ungemach von einem früheren zeit? Seit vergangene Woche Anklage gegen an Gilad, auf das Konto von Scharons Weggefährten, der von 1999 bis 2000 in den Geschäftsmann und Scharon-Freund Sycamore-Ranch im Süden des Landes ge- seinen Diensten stand. Der Privatdetektiv David Appel wegen Bestechung erhoben flossen. Außerdem soll der einflussreiche David Spector soll Scharon geholfen ha- wurde, steht der in der Anklageschrift na- Likud-Mann Appel seinem Freund Scharon ben, durch Schmutzkampagnen gegen mentlich genannte Premier unter Korrup- Unterstützung für dessen Parteikarriere zu- dessen Rivalen die Likud-Wahlen zu ge- tionsverdacht. Die amtierende General- gesagt haben. Damit habe er Scharon mo- winnen. staatsanwältin gab bereits zu verstehen, sie tivieren wollen, sich dafür einzusetzen, „Scharon ist nicht wert, das Land zu sehe genug Beweismaterial, um auch Scha- dass sein landwirtschaftlicher Grundbesitz führen“, erklärt der Privatermittler heute ron vor Gericht zu bringen. Darüber ent- in der Nähe des Flughafens als gewinn- und bietet sich an, „derjenige zu sein, der scheiden wird allerdings ihr Nachfolger, der trächtiges Bauland ausgewiesen würde. Scharon zu Fall bringt“. Das Problem für in wenigen Tagen sein Amt antritt. „Haaretz“ zufolge hat die Polizei Hinwei- Scharon: Spector zeichnete damals offen- Während sich hinter den Kulissen schon se darauf, dass Scharon, damals Infra- bar alle Gespräche auf. Ein Großteil der die Parteirivalen für die Nachfolge warm strukturminister, sich tatsächlich im Inter- Bänder befindet sich bereits bei der Poli- laufen, darunter als Aussichtsreichster der esse seines Freundes einschaltete. zei. Annette Großbongardt

120 der spiegel 5/2004 die Marktführung mit einem Anteil von über 50 Prozent schützte VW aber nicht vor Rückschlägen. Ein zweites Gemein- schaftsunternehmen, 1991 gegründet in der nordostchinesischen Industriemetropole Changchun, produzierte rote Zahlen in dreistelliger Millionenhöhe. Vorüberge- hend drohte die Schließung des Werks. Dank der explosiven privaten Nachfra- ge brummt auch diese VW-Dependance wieder. Vergessen ist der Streit um ein ab-

FREDERIC J. BROWN / DPA FREDERIC J. gekupfertes Audi-Modell, das die chinesi-

VW-Modelle auf Pekings Tiananmen-Platz: „Erfolg süß-sauer“

Davon profitierte im vergan- CHINA genen Jahr auch Volkswagen. Der Konzern verkaufte 697961 Kleines VW- und Audi-Modelle in China – und damit erstmals mehr als in Deutschland. Das Geheimnis Toastbrot für den Erfolg bei Chinas um- SHEN YU / IMAGINECHINA worbenem Konsumenten-Kol- Produkt-Flop VW Gol: „Nacktes Auto“ Die urbane Mittelklasse entdeckt lektiv: VW investierte bereits 1984 in ein Joint Venture. „Wir leisteten sche Partnerfirma unter eigenem Namen das Auto als Statussymbol: VW Pionierarbeit“, erinnert sich Martin Posth, als Konkurrenzangebot auflegte. verkaufte 2003 in China erstmals der als erster VW-Vertreter in Shanghai für Doch trotz des diesjährigen Verkaufs- mehr Autos als in Deutschland. Technologietransfer, den Aufbau einer Zu- rekordes bezeichnet ein Insider das Ergeb- liefererindustrie und die Gründung eines nis als „Erfolg süß-sauer“. Denn die „größ- u Xiaohong hat es geschafft. Die landesweiten Servicenetzes sorgte. te moderne Autoproduktionsbasis in China“ Absolventin der Pekinger Qing- An der Modellwahl freilich kann der (Eigenwerbung) hat wegen zu knapper Pro- Whua-Universität hat einen lukra- frühe Durchbruch des Wolfsburger Kon- duktionskapazitäten wichtige Marktanteile tiven Job bei einem US-Software-Unter- zerns im Reich der Mitte kaum gelegen ha- verloren. Verärgert sind die Wolfsburger zu- nehmen, ihr Zwei-Zimmer-Apartment ist ben. Der Santana bestach schon damals dem, weil Pekings Bürokraten mit neuen durchweg mit Ikea-Ausstattung möbliert. nicht mehr durch fortschrittliches Design Auflagen den Absatz behindern: So dürfen Zum perfekten Glück fehlt der 31-jährigen oder drehzahlmächtige Motorleistung. Der in China hergestellte Autos – wie Polo, Pas- Managerin nur noch der „richtige Mann“. eckige Charme trug dem Wolfsburger sat, Jetta oder Santana – nicht mehr mit Im- Wichtiger als die Wahl des Wunschgat- Modell wenig schmeichelhafte Vergleiche portmodellen (Touareg, Beetle, Phaeton) ten aber ist derzeit noch die Entscheidung mit einheimischen Lieferwagen ein. Doch ausgestellt oder verkauft werden. für das passende Auto: Im VW-Ausstel- selbst als „kleines Toastbrot“ verhöhnt, er- Obendrein erwies sich das für den chi- lungsraum des Oriental Plaza, wo unter kämpfte sich die biedere Limousine schnell nesischen Markt eingeführte Schlichtmo- Halogen-Flutern die Metallic-Karossen eine Frontstellung im sozialistischen Pro- dell Gol als Reinfall. Mit dem Zweitürer funkeln, mustert die selbstbewusste junge duktionswettbewerb. zu 8500 Euro wollte VW den Sektor der Frau die Top-Exponate von Audi. Zumal neben klapprigen Kadersänften Billigautos erobern. Doch die abgespeckte „Echt cool, aber teuer“, seufzt sie ange- der Marke Dongfeng (Ostwind) oder dem Ausstattung verschaffte dem Pkw-Ver- sichts eines Audi A6 mit einem „Start- Luxusvehikel Rote Fahne, einer tonnen- schnitt den Ruf eines „nackten Autos“. preis“ von etwa 33000 Euro. „Das wären schweren Sonderfertigung für die KP-Eli- Dennoch will VW mit Investitionen von sechs Jahresgehälter“, sagt die Managerin te, überzeugte das deutsche Gefährt dank sechs Milliarden Euro bis 2008 mehr Autos und packt Hochglanzprospekte ein. kapitalistischer Primärtugenden wie Wirt- fertigen. Dabei warnen Experten, China Das Auto als Endstation Sehnsucht: Seit schaftlichkeit, Verarbeitung, Lebensdauer. könne in den „kommenden Jahren unter Chinas Millionäre mit dem Erwerb von No- Für das „Wunder von Anting“, wie der Ab- Überkapazitäten“ leiden. Denn mittler- belmarken wie Mercedes, Porsche, Rolls- satzerfolg in der Parteipresse nach dem weile ist das ganze Who’s who der inter- Royce oder Ferrari ihren Reichtum zur Werksstandort vor den Toren Shanghais nationalen Autohersteller in China vertre- Schau stellen, hat der Traum vom eigenen genannt wurde, sorgte neben flexiblem Ma- ten: Hyundai, Nissan, Toyota, Mitsubishi, Untersatz die urbane Mittelklasse erreicht. nagement auch die tätige Mithilfe aus Peugeot und General Motors betreiben den Da die Volksrepublik mit immer neuen Politik und Planwirtschaft. Bundeskanz- zügigen Ausbau ihrer Produktion – die Fol- Höchstleistungen des Wirtschaftswachs- ler Helmut Kohl wie Nachfolger Gerhard ge sind spürbar sinkende Preise. tums expandiert (8,5 Prozent im vergan- Schröder priesen bei ihren Besuchen die Das freut potenzielle Käufer wie Fräu- genen Jahr), boomt auch der Absatz von Autoschmiede stets als Symbol deutsch- lein Wu. Nach zweiwöchiger Bedenkzeit Privatwagen. Mit fast zwei Millionen ver- chinesischer Kooperation, und bei der Par- hat sie sich für den Santana 2000 entschie- kauften Pkw ist China der am raschesten tei- und Staatsführung in Peking galt das den, das Folgemodell des Shanghaier VW- wachsende Automarkt der Welt. „Schnel- Renommierprojekt als Chefsache. Klassikers, zu 14000 Euro. Er verfügt über ler, sparsamer, besser“ – die Mao-Parolen Die hochkarätige Anteilnahme an der die Qualität eines idealen Partners: „Der ist zum Aufbau des Sozialismus sind zum Slo- Spitze der Pekinger Machtpagode machte schick und solide“, sagt sie über das Auto gan der Autoindustrie mutiert. den Betrieb zunächst zum Spitzenreiter; ihrer Wahl. Stefan Simons

der spiegel 5/2004 121 AP (L.); IAN WALDIE / GETTY IMAGES (R.) / GETTY IMAGES AP (L.); IAN WALDIE Angeklagter Mijailovic, Trauerbekundung in Stockholm: „Die Gesellschaft trägt die Verantwortung“

wieder zurück nach Schweden. Die Zu- SCHWEDEN stände zu Hause müssen katastrophal und von Gewalt geprägt gewesen sein. 1996, als der angetrunkene Vater wieder einmal die Die Tat als Hilferuf? Mutter verprügelte und das Telefon zer- trümmerte, mit dem der Sohn Hilfe holen Gegen den Mann, der die schwedische Ministerin Anna Lindh wollte, stach Mijailo auf ihn ein, was ihm eine Verurteilung wegen „grober Miss- getötet hat, wurde nur drei Tage lang verhandelt. Erst handlung“ eintrug. Er sollte sich regel- jetzt wird er psychiatrisch begutachtet. Von Gisela Friedrichsen mäßig bei einem Bewährungshelfer mel- den und mit einem Psychologen sprechen. n den Romanen des schwedischen Kri- Nicht schon wieder! Nicht noch einmal Doch er hielt die Termine nicht ein, er- mi-Autors Henning Mankell finden sich Palme. Von dem ungeklärten Mord an dem schien immer seltener und blieb schließlich Iimmer wieder Passagen, in denen er schwedischen Ministerpräsidenten 1986 ganz weg. Auch zur Schule ging er nicht über die schleichenden Veränderungen im sind die Schweden bis heute traumatisiert. mehr. öffentlichen Leben Schwedens grübelt. Politische Morde mag es draußen in der Als 20-Jähriger bedrohte er ein Mädchen, Immer mehr Kriminalität, obwohl die Welt geben, aber doch nicht in Schweden, das kein Interesse an ihm zeigte, mit Ver- Polizei sie bis an die Grenzen ihrer Mög- diesem kleinen Paradies. gewaltigung und Mord. Wieder kam er vor lichkeit einzudämmen versucht, Resigna- Auf das Entsetzen folgte die Panik, dass Gericht, wieder sollte er sich in Behandlung tion, Furcht vor Einschlägen, die drohend der Täter vielleicht auch dieses Mal nicht begeben. Was geschah? Angeblich sagte Mi- näher kommen. „Ich dachte nicht, dass so gefunden werden könnte. Dass man sich jailovic zu Freunden: Ich kann machen, was etwas bei uns möglich ist“, sagt eine junge wieder auf den Falschen festlegt, den man ich will – ich bin zu krank fürs Gefängnis Polizistin zu Mankells Kommissar Wallan- dann schließlich laufen lassen muss. Und und zu gesund für die Verwahrung. der in dem Roman „Der Mann, der lächel- tatsächlich kam es nach fieberhaften Er- In Haft stritt er monatelang ab, mit dem te“. Dass man inzwischen auch in Schwe- mittlungen erst einmal zur Festnahme eines Tod Anna Lindhs etwas zu tun zu haben. den von Unbekannten im Auto verfolgt 35-jahrigen Mannes, den man für verdäch- Am 6. Januar, als ihm sein Verteidiger die wird – sie versteht die Welt nicht mehr. tig hielt. Die schwedischen Medien über- inzwischen erdrückende Beweislage klar- Wallander sinniert darauf über die im- schlugen sich in der Ausbreitung von De- machte, gab er die Attacke zu. Die Spuren mer brutaleren und komplexeren Taten, tails aus dessen Vorleben bis hin zu seiner auf dem Tatwerkzeug, einem Messer, und mit denen es die Polizei zu tun habe: „Wie sexuellen Veranlagung und dem Verhältnis auf der Kappe, die der Täter später weg- mir, so wird auch vielen anderen Polizis- zur Mutter. Das war es dann. Entlassung. warf, stammen eindeutig von Mijailovic. ten bewusst, dass unsere Kenntnisse und Unter dem Eindruck des Erlebten sagte Es gibt Aufnahmen von Überwachungs- Erfahrungen aus einer Zeit stammen, in dieser Mann im Fernsehen, dass er erst kameras im Kaufhaus, auf denen er immer der alles anders war, die Verbrechen durch- Stunden nach der Festnahme erfahren wieder zu sehen ist. Und zum Schluss mel- schaubarer, die Moral handfest, die Au- habe, wessen er überhaupt verdächtigt dete sich auch noch ein Taxifahrer, von torität der Polizei unantastbar. In der werde. Inzwischen wird er in Talkshows dem er sich nach der Tat in den Vorort Tul- heutigen Situation wird jedoch ein ganz herumgereicht und darf über sein seitdem linge, wo seine Mutter wohnt, und darauf anderes Wissen, ein ganz anderer Erfah- „chaotisch“ gewordenes Leben berichten. zu einem Wald, wo er seine blutige Klei- rungsschatz benötigt. Aber darüber verfü- Eine Woche später die Erlösung: Man dung versteckte, hatte fahren lassen. gen wir nicht.“ hatte den wahren Täter, einen jetzt 25 Jah- Kaum lag das Geständnis vor, begann Als am Nachmittag des 10. September re alten Serben mit schwedischem Pass am 14. Januar auch schon der Prozess. Drei vorigen Jahres die 46 Jahre alte schwedi- namens Mijailo Mijailovic, Sohn jugosla- Termine nur waren angesetzt: Erst sollte sche Außenministerin Anna Lindh im wischer Einwanderer, die 32 Jahre zuvor der Angeklagte aussagen, am nächsten Tag Stockholmer Edelkaufhaus „NK“ von ei- als Gastarbeiter nach Schweden gekom- der Rechtsmediziner und die Freundin nem jungen Mann mit Baseballkappe nie- men waren. Als Sechsjähriger hatte er zu Anna Lindhs, die den Überfall miterlebt dergestochen wurde und am frühen Mor- den Großeltern in die Heimat zurückkeh- hatte. Am vergangenen Montag wurde be- gen des nächsten Tages in einer Klinik ren müssen, mit 13, als er die schwedische reits plädiert. Wie schaffen die Schweden starb, erstarrte das Land in Entsetzen. Sprache schon fast vergessen hatte, ging es das bloß?

122 der spiegel 5/2004 Ausland

Der Ablauf eines schwedischen Straf- tischen Motivation des Täters rückt man geholfen habe. Wie, die Gesellschaft soll prozesses unterscheidet sich erheblich vom mittlerweile ab, nicht nur, weil sie etwas schuld sein? deutschen Procedere. Hier zu Lande hätten konstruiert erscheint (Anna Lindh hatte Wie Mankell räsonierte der Verteidi- erst einmal die Ermittler vor Gericht Re- während des Kosovo-Kriegs das Nato- ger über den Zustand Schwedens. „Mein chenschaft über ihre Erkenntnisse ablegen Bombardement auf Serbien befürwor- Mandant war Opfer von zunehmender müssen. Die Richter hätten geprüft, ob or- tet; die populärste Politikerin des Landes Gewalt“, sagte er und zählte andere Straf- dentlich gearbeitet wurde. Dann hätte das war eine engagierte Befürworterin des taten aus jüngster Zeit auf. „Wie sieht Gericht die Mutter des Angeklagten als Euro, gegen den sich die Schweden un- seine Zukunft aus? Schrecklich! Die Ge- Zeugin geladen. Denn ihr soll er die Tat geachtet des Schocks nach dem Attentat sellschaft trägt die Verantwortung. Die Tat kurz danach gestanden haben. Man hätte entschieden). Die Vorstellung vom gestör- war ein Hilferuf.“ Freunde und Bekannte Mijailovics gehört, ten Attentäter, der – wäre die psychiatri- Im Übrigen habe Mijailovic nicht töten vor allem die Personen, von denen er sich sche Versorgung nur so wie früher – be- wollen. Anna Lindh sei an den tiefen Sti- nach der Tat die Haare hatte schneiden las- handelt, ja geheilt werden kann, gefällt chen gestorben, „weil sie sich so wehrte“. sen, um sein Aussehen zu verändern. Wie und beruhigt. Denn damit hat man einen So etwas sollte sich mal ein Verteidiger in war er? Hat sich sein Verhalten in der letz- Sündenbock. einem deutschen Gerichtssaal erlauben. ten Zeit verändert? War etwas auffallend? Die Zustände in der schwedischen Psy- Für einen ausländischen Beobachter Ein deutsches Gericht hätte überprüft, chiatrie – es ist wohlfeil, sie mit dem Tod krankt der Prozess in Stockholm daran, ob er sich tatsächlich, wie er angibt, mehr- Anna Lindhs in Verbindung zu bringen. dass das Gericht erst jetzt, nachdem die fach vergebens um psychiatrische Behand- Schlussvorträge gehalten lung bemüht hat. Angeblich habe man ihn sind, eine psychiatrische Be- immer wieder abgewiesen. Ein deutsches gutachtung des Angeklagten Gericht hätte auch gefragt, wie es zur Ver- angeordnet hat. Die Angaben schreibung der zahlreichen Medikamente Mijailovics wären anders zu kommen konnte, die er wahllos zu sich ge- bewerten, wüsste man mehr nommen haben will. Es wären viele Fragen über seinen psychischen Zu- öffentlich diskutiert worden. stand zur Tatzeit. Er behaup- Vor allem wäre der Angeklagte in tet, Stimmen hätten ihm das Deutschland vor Prozessbeginn psychia- Zustechen befohlen. Leidet trisch auf seine Schuldfähigkeit begutachtet er unter einer Psychose? Sind worden. Was hat ihn zur Tat getrieben? seine Angaben Ausfluss einer Warum gerade die äußerst beliebte Poli- psychischen Erkrankung? tikerin Lindh, die in Schweden alle nur An- Oder die Unwahrheit? na nennen, unsere Anna, eine rührende Warum trug er ein Messer Mutter zweier Jungen, die es schaffte, trotz bei sich? Um sich zu schüt- ihres beruflichen Engagements die Familie zen, gibt er an. Wer oder was,

nicht zu kurz kommen zu lassen. Ist Mi- / AFP EKSTROMER JONAS fragt man sich, bedrohte ihn jailovic krank? Gibt es eine Therapie für Oberstaatsanwältin Blidberg: Lebenslange Haft beantragt in der Damenmode-Abtei- ihn? Oder ist er letztlich doch nur ein Kri- lung des Kaufhauses? Was mineller? Zwar entschloss sich 1994 die schwedische suchte er dort? Geld hatte er nicht, und Die schwedischen Medien leben von der Regierung, psychisch Kranke möglichst kaufen wollte er auch nichts. Auf den Vi- Meinung diverser „Experten“, die sich auf nicht mehr in Anstalten und Kliniken fest- deofilmen taucht er mal hier, mal dort auf. allen Kanälen zu Wort melden, und spe- zuhalten, sondern in die Gesellschaft zu Beobachtete er Anna Lindh, die sich ein kulieren daher ausufernd. Von einer poli- integrieren. Es war ausgerechnet Bo Holm- passendes Outfit für einen Fernsehauftritt berg, der spätere Ehemann von Anna am Abend kaufen wollte? Lindh, der diese Reform auf den Weg ge- Er sei völlig durcheinander gewesen, bracht hatte. Tausende Pflegeplätze wur- könne sich an nichts erinnern, sagt er. An- den abgeschafft, die Kranken in Wohn- dererseits rannte er nach der Tat nicht gruppen oder in die Familien entlassen, ob- verwirrt umher, sondern begab sich über- wohl derlei Experimente im Ausland schon legt und gezielt auf die Flucht. Warum gescheitert waren. Doch heute von einem Anna Lindh? Die sie begleitende Freundin Notstand zu sprechen ist nach Ansicht man- stieß er unsanft beiseite, als er sich auf sein cher schwedischer Ärzte übertrieben. In Opfer stürzte. Warum nicht sie? Zeiten knapper Mittel könne der Staat eben Der Taxifahrer berichtet als Zeuge, Mi- nicht mehr jedem Kranken einen Betreuer jailovic habe sehr müde und verlangsamt an die Hand geben. Und war es nicht Mi- gewirkt, als er einstieg. Er habe nicht rea- jailovic selbst, der sich einer Behandlung giert, als das Auto an den Polizeiwagen am verweigerte, als Gerichte sie ihm aufgaben? Tatort vorbeifuhr. Irgendwann während In Stockholm hat Oberstaatsanwältin der 40-minütigen Fahrt habe Mijailovic Agneta Blidberg am vergangenen Montag plötzlich gesagt, er habe seit 1999 kein lebenslange Haft wegen Mordes beantragt. Mädchen mehr gehabt. Wo man denn Verteidiger Peter Althin, ein angesehe- Mädchen kennen lernen könne. „In jedem ner Rechtsanwalt und Abgeordneter der Lokal, überall“, habe er, der Chauffeur, Christdemokraten im Reichstag, forderte verdutzt geantwortet und sich Sorgen ge- die zwei Berufsrichter sowie die drei Schöf- macht, ob der merkwürdige Gast wohl fen auf, den Angeklagten weder wegen bezahlen könne. Mordes noch wegen Totschlags zu verur- Das Urteil und die Entscheidung, ob Mi-

REUTERS / E-LANCE MEDIA REUTERS teilen. Eine Impulstat sei das gewesen, jailovic ins Gefängnis oder in eine psy- Aufnahme der Überwachungskamera argumentierte er, reiner Zufall. Die Tat chiatrische Klinik kommt und für wie lan- Warum ausgerechnet Anna Lindh? eines Menschen, dem die Gesellschaft nicht ge, fällt Ende Februar. ™

der spiegel 5/2004 123 Prisma MIKE HETTWER (L.); TODD MARSHALL (R.) MARSHALL MIKE HETTWER (L.); TODD Paläontologe Sereno mit rekonstruiertem Pterosaurier-Maul, Pterosaurier im Flug (Illustration)

PALÄONTOLOGI E komplett erhaltener Flügel und etliche Zähne fanden sich in Flusssedimenten aus der Kreidezeit, gelegen im heutigen Staat Niger. Der Pterosaurier hatte Flügel (Spannweite: 4,8 Meter), Fischräuber aus die vermutlich so dünn waren, dass sogar Licht durch sie hin- durchschimmerte. Mit seinen langen und schlanken Zähnen biss er nach glitschigen Fischen. „Wir glauben“, so Sereno, „dass der der Sahara Pterosaurier über die Wasseroberfläche segelte.“ Mit seinem langen Schnabel habe er dann Beutetiere aus dem Wasser ge- ie 110 Millionen Jahre alten Überreste einer bisher unbe- zogen. Eine lebensgroße Rekonstruktion des fossilen Fischfän- Dkannten Saurierart hat der Paläontologe Paul Sereno von gers ist nun bis September im Garfield Park Conservatory zu der University of Chicago in der Sahara aufgetan. Ein nahezu Chicago ausgestellt.

MATERIALKUNDE ESOTERIK Elektronisches Papier Heiße Luft in der Flasche in Display, das fast so dünn und biegsam ist wie Papier, ha- laubt man den einschlägigen Werbebotschaften, dann sind Eben Forscher des niederländischen Philips-Konzerns ent- Gmit Sauerstoff angereicherte Wässer und Limonaden wah- wickelt. Herkömmliche Bildschirme für Laptops bestehen aus re Wunderessenzen: Sie sollen die Leistungskraft stärken, die Flüssigkristallen zwischen zwei Glasscheiben; deshalb sind die- Fettverdauung anregen und sogar vor Falten schützen. Dass se Monitore recht schwer und starr. Nun haben die Forscher diese Heilsversprechen nichts anderes sind als Humbug, haben eine elektronische An- amerikanische Ärzte im Fachblatt „Jama“ nachgewiesen. Sie zeige hergestellt, die ließen elf Testpersonen auf dem Ergometer strampeln: Für das fast nur aus Plastik be- dabei gemessene Leistungsvermögen machte es keinen Unter- steht: Eine 25 Mikro- schied, ob sie zuvor Sauerstoffwasser getrunken hatten oder meter dünne Kunst- geschütteltes Leitungswasser. Auch die Physiologie offenbart, stofffolie versahen sie dass künstlich angereicherte Wässer allein ihren Herstellern Schicht um Schicht mit nutzen: Mit einem einzigen Atemzug nimmt der Mensch 100 winzigen Transistoren Milliliter Sauerstoff und mit Pigmenten, die auf – und damit schwarzweiße Bilder mehr, als in einer erzeugen können. Die ganzen Flasche oxy- Anzeige lasse sich genierten Wassers Biegsamer Bildschirm 50-mal hintereinander steckt (80 Milliliter). stark biegen, ohne dass Und schon diese nor- die Bildqualität leide, teilen die Philips-Forscher in der neues- male Atmung reicht ten Ausgabe von „Nature Materials“ mit. Weil das Gerät mit aus, die roten Blut- einer Frequenz von fünf Kilohertz arbeitet, wäre es sogar körperchen in der schnell genug, um Videofilme wiederzugeben – was bisher Lunge nahezu voll-

aber wegen der noch mäßigen Auflösung kein Vergnügen be- ständig mit Sauer- KOCH reiten würde. stoff zu sättigen. Werbespot für Sauerstoffwasser

124 der spiegel 5/2004 Wissenschaft · Technik

LUFTFAHRT seien erlahmt. Halten Sie diese Behauptun- Thrombosegefahr auch gen für realistisch? Pollmer: Ich bezweifle, auf den teuren Plätzen dass all diese Aussagen haltbar sind. Das fängt elbst in den behaglichen Schlafses- schon an mit der an- Sseln der Business-Class ist der Flug- geblich dramatischen reisende der Langstrecke mitnichten ge- Gewichtszunahme: So gen die Reisethrombose gefeit, warnen schnell nimmt viel-

neuseeländische Ärzte im Fachblatt / ZEITENSPIEGEL DENIZ SAYLAN leicht ein Mastschwein „Lancet“. Bisher machten Mediziner Ernährungsexperte Pollmer, Fast-Food-Tester Spurlock zu, aber kein normaler vor allem die Raumnot auf den billige- Mensch. Wenn Sie vier ren hinteren Plätzen verantwortlich für ERNÄHRUNG Wochen lang nur Kartoffelsuppe oder die oftmals tödlich endende Krankheit Körner essen, kriegen Sie im Übrigen und nannten sie deshalb „Economy- „Diäten sind der das Kotzen oder einen Koller. Das hal- Class-Syndrom“: Auf Grund fehlender ten Sie gar nicht durch. Bewegung staut sich im eingepferchten größte Dickmacher“ SPIEGEL: Sie wollen aber jetzt nicht be- Körper das Blut und gerinnt zu einem haupten, dass Fast Food gesund sei. Pfropf. Der kann sich lösen, durch die Udo Pollmer, 49, vom Europäischen Pollmer: Die Folgen wurden bis heute Blutbahn trudeln – und eine lebens- Institut für Lebensmittel- und nicht untersucht. Im Fettgehalt unter- wichtige Ader verstopfen. Nun haben Ernährungswissenschaften über einen scheidet sich ein Butterbrot nicht von die Forscher festgestellt, dass von 878 bizarren Fast-Food-Selbstversuch Pommes, und ein Burger entspricht ei- untersuchten Fernreisenden 9 mit einer ner Bulette aus Hack und einem alten handfesten Thrombose aus dem Flug- SPIEGEL: Der 33-jährige Filmemacher Brötchen. Wer sich die Kilos runterhun- zeug stiegen – und 2 von ihnen hatte und Musikvideoproduzent Morgan gert, der trainiert seinen Körper auf das tückische Leiden in der Business- Spurlock aus New York hat sich einen bessere Futterverwertung – und damit Class ereilt. Monat lang ausschließlich bei McDo- später zur Gewichtszunahme. Diäten nald’s ernährt – von Fritten, Hambur- sind deshalb der größte Dickmacher in gern, Milkshakes. Wie gefährlich ist das Deutschland. für die Gesundheit? SPIEGEL: McDonald’s wirbt jetzt ver- Pollmer: Ich kenne keine Hinweise, dass stärkt mit vegetarischen Produkten wie man sich bei McDonald’s zu Tode essen Salat. kann. Wir haben bis heute nicht einmal Pollmer: Es könnte die Firma Umsatz Versuchsreihen, wie beispielsweise Rat- kosten, wenn sie den konservativen ten auf Fast Food reagieren. Darm mit Zeitgeist-Futter beschickt. SPIEGEL: Der grundgesunde Filmema- Der menschliche Körper hat eine eigene cher will am Ende 20 Kilogramm zuge- Steuerung für die Fettaufnahme, von nommen haben, sein Cholesterinspiegel der wir nicht genau wissen, wie sie sei nach oben geschossen, die Leber funktioniert. Eines ist aber sicher: Der habe Anzeichen einer Verfettung ge- Körper holt sich das Fett woanders – Reisende der Business-Class zeigt und auch seine sexuellen Triebe und sei es an der nächsten Döner-Bude.

NACHRICHTENTECHNIK Auch über Gebieten, die schon mit Kabeln und Sendemasten ausgestattet sind, soll das fliegende Internet den Dienst aufneh- Fliegendes Internet men, weil es schnellere Verbindungen ermöglicht. orscher aus Europa und Japan planen, den Himmel voller FRelaisstationen zu hängen. Die „High Altitude Platforms“ (Haps) sollen als Sender und Empfänger für elektromagneti- sche Wellen dienen und auf diese Weise auch in abgeschiede- nen Landstrichen gute Internet-Verbindungen ermöglichen. Das hauptsächlich von der Europäischen Union unterstützte Projekt wird federführend von der York University in England vorangetrieben; zu den 14 Partnern gehört das Deutsche Zen- trum für Luft- und Raumfahrt in Köln. Als Träger der Relaissta- tionen sind unbemannte, solargetriebene Fluggeräte – ähnlich dem US-Modell „Pathfinder“ – oder Luftschiffe vorgesehen. So sollen die Haps dauerhaft in einer Höhe von 20 Kilometern schweben. Der Radius für Empfangen und Senden wird auf der Erdoberfläche jeweils etwa 32 Kilometer betragen. Bereits in vier Jahren, hoffen die Forscher, ist die Technik so weit, dass die entlegenen Winkel Europas überstrahlt werden. Der Be-

trieb wird als weitaus günstiger eingeschätzt als der Einsatz von NASA Satelliten. Techniker schwärmen daher schon länger von Haps: Solarflugzeug „Pathfinder“

der spiegel 5/2004 125 Wissenschaft

FOTOS: ESA / DLR / FU BERLIN Hinabstürzende Staubwinde am Mars-Vulkan „Albor Tholus“: Vier Kilometer tief in den Schlund des Feuerbergs

RAUMFAHRT Tiefflug über die Wüstenwelt Die europäische Raumsonde „Mars Express“ hat eine sensationelle Entdeckung gemacht: Auf der Oberfläche des Nachbarplaneten gibt es Wassereis. Die zur Erde gefunkten dreidimensionalen Aufnahmen zeigen zudem ausgetrocknete Flussläufe und bizarre Vulkankrater.

as genau sie vor sich hertrugen, stadt die ersten Aufnahmen ihrer Raum- der Marsforschung gesetzt“, erklärte die wussten die Viertklässler der Tan- sonde „Mars Express“, die seit Weih- deutsche Forschungsministerin und Esa- Wnenberg-Grundschule Seeheim nachten um den eisigen Wüstenplaneten Ratsvorsitzende Edelgard Bulmahn. nicht. „Den Mars haben wir im Unterricht kreist. Die gefunkten Bilder bestätigen Nach dem Verlust der Landeeinheit noch gar nicht durchgenommen“, gestand endgültig, dass vor Milliarden von Jahren „Beagle 2“ galt die europäische Marsmis- ihre Lehrerin. gewaltige Wassermassen auf dem Mars sion für viele schon halb als gescheitert. Für die Wissenschaftler im Kontrollzen- schwappten. Gleichzeitig triumphierten die Amerika- trum der europäischen Raumfahrtagentur Dann folgte eine weitere Sensation: Die ner mit ihrem heil gelandeten Roboter- Esa hingegen war das 24 Meter lange Trans- Messung mit einem Spezialinstrument, be- fahrzeug „Spirit“. Nun jedoch scheint sich parent „ein gigantischer Erfolg“: Das Pla- richteten die Esa-Forscher, hat ergeben, das Blatt zu wenden: Der US-Rover kämpft kat zeigt ein 3-D-Foto der Marsoberfläche dass es auf dem benachbarten Planeten so- auf der Planetenoberfläche mit technischen – das genaueste, das je von dem Nachbar- gar heute noch beträchtliche Mengen Was- Problemen (siehe Seite 128) – aus der Mars- planeten aufgenommen wurde. ser gibt. Wegen der frostigen Temperaturen umlaufbahn funkt der europäische Satellit Stolz präsentierten die europäischen ist es allerdings zu Eis erstarrt. „Mit diesen derweil aufregende Daten und Bilder zur Planetenforscher vorigen Freitag in Darm- Ergebnissen hat sich Europa an die Spitze Erde.

126 der spiegel 5/2004 Zwei Forscher waren vergangenen Freitag die Helden der Stunde: der französische Astrophysiker Jean-Pierre Bibring und der deutsche Geologe Gerhard Neukum. Bi- bring war es, dem mit seinem Infrarot-Spek- trometer „Omega“ der erste direkte Nach- weis von Wassereis auf der Marsoberfläche gelang; ähnliche vorangegangene Messun- gen der US-Sonde „Mars Odyssey“ blieben in der Fachwelt umstritten. Neukum wie- derum ist Erfinder jener Super-Kamera an Bord, die nun am laufenden Band Fotos von Marslandschaften in nie da gewesener Auf- lösung liefert. Am Computer lassen sich die Bilder zudem so trickreich kippen, dass der Betrachter das Gefühl hat, im Tiefflug über den zerklüfteten Planeten zu gleiten. Über 100 Gigabyte Daten sind bislang eingetroffen. Eine Fläche von über 1,8 Mil- lionen Quadratkilometern – ein Gebiet so groß wie Frankreich, Deutschland, Ita- lien, Portugal und Österreich zusammen – hat die Spezialkamera bereits fotografiert. Strukturen von rund zehn Metern lassen sich darauf ausmachen. Mit einem Zusatz- Tafelberg auf dem Mars: „Da ist Wasser ausgetreten und hat den Hang geschliffen“

Foto links

90° Ost 270° Ost Äquator

Foto oben Ernte aus dem Orbit Foto unten Wo die „Mars-Express“-Fotos herstammen ESA/DLR/FU BERLIN

Canyon im „Hellas“-Becken: Ausgetrockneter Flusslauf mit bläulich erscheinenden Sedimenten

der spiegel 5/2004 127 Wissenschaft Warten auf den Erstickungstod Kälte, Staub und Stürme – die gefährliche Mission der amerikanischen Marsmobile elten liegen zwischen dem Ar- riger Schützling auf seiner Mission – der Su- beitstag eines Marsrovers und che nach früheren Vorkommen von Wasser Wdem eines Marsforschers. Der – als Nächstes tun soll: zwei Meter zum hel- Rover beginnt sein Tagesprogramm erst, len Stein fahren oder drei Meter zum dunk- wenn es wärmer ist, also ab circa 8.30 len? Chemie oder Geologie analysieren, Uhr Marszeit bei nicht weniger als minus fotografieren oder aber konvaleszieren? 20 Grad. Dann unternimmt er meterwei- Die Forscher leben auf Erden im Rhyth- te Fahrten, schießt brillante Fotos von der mus des Roten Planeten, und das ist kein Einöde, füllt seine Batterien über die So- Vergnügen: Weil der Marstag, genannt larpanele, misst und forscht. Am Nach- „Sol“, exakt 24 Stunden, 37 Minuten und mittag, gegen 16.30 Uhr, funkt das mobi- 23 Sekunden dauert, verschiebt sich der

le Geologie-Labor sein Tagewerk zur Beginn ihrer Schicht täglich um fast 40 Mi- BECK / AFP ROBYN Erde, macht den Laden dicht und ruht. nuten. Viele von ihnen tragen Erdzeit an Nasa-Kontrollzentrum in Pasadena Marsforscher hingegen kommen in die- der einen Hand, Marsuhren mit verlang- Die Marsuhren gehen langsamer sen Tagen kaum je zur Ruhe. 200 Millionen samtem Uhrwerk an der anderen. Die Zeit- Kilometer entfernt sitzen sie dicht gedrängt dehnung hat zur Folge, dass der Arbeits-Sol Einsatzes noch einmal über ihre Compu- im kalifornischem Pasadena in fensterlosen der Mannschaft in Pasadena jetzt schon um ter. Am Donnerstag verkündete Cheffor- Räumen und sorgen sich. Kälte, Staub, etwa 2.30 Uhr irdischer Frühe beginnt. scher Pete Theisinger, die Lage sei ernst. Strahlung und Stürme – Mars ist gefährlich Am vergangenen Mittwoch bemäch- Am Freitag funkte der Rover zwar für ei- für fragile anderthalb Meter hohe Rover tigten sich neue Adrenalin-Wallungen der nige Minuten, aber sein Datenstrom ent- aus Titan. An ihren Rechnern fühlen sie übernächtigten Roboterlenker im Mission- sprach nur noch einem Röcheln. Jetzt dem Rover den Puls; aber wegen der Ent- Control-Room. Ihr Freund auf dem Mars musste Theisinger verkünden, dass „Spi- fernung erreicht sie jedes Lebenszeichen fing plötzlich an zu schweigen. Roboter rit“ aus ungeklärter Ursache wohl für Tage erst mit einer Verspätung von 11 Minuten. „Spirit“ meldete sich nicht mehr. oder gar Wochen zu krank zum Forschen Wenn die Roverlenker sich mal nicht sor- Mit grauen Gesichtern beugten sich die sei. Alle Hoffnungen der Amerikaner rich- gen, streiten sie darüber, was ihr sechsräd- Forscher am Ende eines zwölfstündigen teten sich sogleich auf den Zwillingsrobo- ter „Opportunity“, der am Sonntag früh US-Roboter „Spirit“ beim Untersuchen eines Marssteins: Blick in die Vorgeschichte auf der anderen Marsseite landen sollte. Mit dabei am Jet Propulsion Labora- tory (JPL) der Nasa in Pasadena ist Gös- tar Klingelhöfer, 46, von der Universität Mainz. Misserfolge mit Raumfahrtgerä- ten kennt er schon. Der Physiker hat mit seiner Mannschaft in Deutschland seit Anfang der neunziger Jahre das so ge- nannte Mößbauer-Spektrometer weiter- entwickelt, mit dem sich Eisenverbin- dungen in Steinen analysieren lassen. Eines seiner Geräte sollte mit einer rus- sischen Mission abheben, die nie gestartet ist. Ein weiteres war auf dem europäi- schen Marsroboter „Beagle 2“ montiert, der seit Ankunft auf dem Mars Ende De- zember als verschollen gilt. Auch „Spirit“ und „Opportunity“ sind mit dem Spektrometer bestückt, denn bei diesem Gerät haben die Deutschen, so Klingelhöfer, gegenüber aller Konkurrenz „ein paar Jahre Vorsprung“. Eigentlich wiegt das Herzstück dieses Messinstruments etwa fünf Kilogramm. Klingelhöfer und seinen Mitarbeitern ge- lang es, das Gewicht auf ganze 56 Gramm zu verringern. Damit ist es leicht genug, auch auf Erden neue Einsatzgebiete zu fin- den. In Brasilien hat Klingelhöfer damit die Farbpigmente vorhistorischer Wandmale-

JPL / NASA reien analysiert. Auch tief in den Pyrami- objektiv kann noch genauer hingeschaut werden: Es las- den Ägyptens könnte das Gerät zum Ein- sen sich sogar Objekte von satz kommen. Sogar die Autoindustrie hat der Größe eines Kleinwagens schon Interesse angemeldet. Klingelhöfer erkennen. denkt daran, eine Firma auszugründen. „Wir haben nun ein bes- Auf dem Mars sollte sich, so die ur- seres Bild von der Marsto- sprüngliche Planung, jeder Rover bis zu pografie, als wir es von der 30 Stunden mit nur einem Stein beschäf- Erde haben“, sagt Neukum. tigen. Es dauert, bis der Roboter einen Einzelne Gesteinsschichten, Stein angesteuert, seinen Schwenkarm Stufen im Gelände, verschie- ausgefahren, mit Spezialgerät die oberste dene Gesteinsarten treten zu Schicht des Steines abgeschliffen und so ei- Tage. „Der fremde Planet er- nen einzigartigen Einblick in die Vorge- wacht auf einmal zum Le- schichte des Planeten geschaffen hat. Jeder ben“, schwärmt Neukum. Rover könnte bis zu 15 Steine analysieren. Eine Aufnahme vom Vul- Die beiden Roboter überstehen Nei- kan „Albor Tholus“ etwa gungswinkel von 45 Grad, sie haben je zeigt eine gewaltige, 40 Ki- neun Kamera-Augen, sie sind intelligent lometer lange Staubfahne. genug, Gefahren wie Löchern oder Felsen Vom Rand des Kraters stürzt selbständig aus dem Weg zu gehen – nur sie vier Kilometer hinab in eines fehlt, und auch dieser Mangel könn- den tiefen Schlund des erlo- te sich als fatal erweisen: Die Marsrover schenen Feuerbergs. haben keine Scheibenwischer. Am Westrand des „Heca- Auf ihrem Rücken tragen die Rover So- tes Tholus“ wiederum, eines larpanele, die sie mit Strom versorgen. weiteren Vulkans, sind deut-

Aber der Mars ist ein staubiges Plätzchen. liche Spuren einer längst ver- ESA Rostrotes, haftstarkes Puder kriecht in Rit- gangenen Vergletscherung Wassereis auf dem Mars*: Primitive Lebensformen? zen und Gelenke, und irgendwann wird zu erkennen. Neukum tippt Marsstaub die Solarzellen ersticken. Die aufgeregt auf den feinen Wellenlinien des All diese detailreichen Beobachtungen Forscher können nur beten, dass ihr Ge- Fotos herum. Nie zuvor habe man so etwas zielen auf eine entscheidende Frage: Wo- fährt nicht viel früher als nach 90 Tagen zu dort gesehen. hin ist das frühere Wasser verschwunden, Tode verstaubt, der geplanten Lebens- Spuren einstiger Wassermassen hat die als sich vor 3,8 Milliarden Jahren die At- dauer der Rover. Eine Art Scheibenwisch- Stereokamera zuhauf entdeckt. Eine Auf- mosphäre des Himmelskörpers allmählich Anlage wurde diskutiert, ebenso ein Ent- nahme zeigt einen bizarren Tafelberg. An aufzulösen begann? Ist es einfach in den staubungs-Rüttler, aber beides wurde mit seinen steilen Hängen, die mehrere Kilo- Weltraum verdunstet – woraufhin das Rücksicht auf Gewicht und Komplexität meter in den Marshimmel ragen, hat Neu- womöglich darin einst entstandene Leben der Marsmobile verworfen. kum verräterische Zeichen ausgemacht, verdorrte? Oder ist das Wasser zu einem Der Tod ist den Roboter-Geologen die für ihn nur einen Schluss zulassen: „Da großen Teil einfach im Untergrund ver- auch so gewiss. Acht kleine radioaktive ist Wasser aus dem Berg ausgetreten und sickert – und mit ihm die möglichen pri- Öfen heizen ihr Inneres; denn die Außen- hat den Hang geschliffen.“ mitiven Lebensformen, die so unter der temperatur von minus 96 Grad Celsius in Ein weiterer Hinweis findet sich auf ei- Oberfläche überdauert haben könnten? der Nacht ließe sie ansonsten schockge- nem Bild, das der „Mars Express“ am 14. Diese Rätselfrage ist nun wohl gelöst: frieren. Doch in einigen Monaten haben Januar südlich des großen Canyons „Valles Die Spektrometer-Messungen haben klar die Heizstäbe ihre Kraft eingebüßt. Marineris“ geschossen hat. Zu erkennen gezeigt, dass es auch heute noch Wasser Spätestens wenn Ende April auf der ist ein gut 10 mal 25 Kilometer messendes auf dem Mars gibt – zumindest als Wasser- Südhalbkugel der Marswinter beginnt, Loch inmitten eines Hochplateaus. Der- eis am Südpol. müssen die Marsforscher von Pasadena einst sind dort offenbar riesige Gesteins- Neukum vermutet aber, dass es das Le- ihre Geschöpfe zu Grabe tragen. 820 Mil- massen abgesackt. benselixier auch anderswo auf dem Mars lionen Dollar hat die Mission seit ihrem Neukum ist sicher: Im Untergrund muss gibt und an einigen Stellen aus dem steini- Beginn vor dreieinhalb Jahren gekostet. Wasser das Gestein ausgehöhlt haben, ehe gen Untergrund immer mal wieder hervor- Für diese Summe werden die beiden Rover das darüberliegende Material durch sein tritt. Ein spektakuläres Indiz findet sich auf dann bestenfalls weitab der Erde je eine immenses Gewicht in den Hohlraum stürz- einem der Bilder, die die Esa bislang nicht Strecke von bis zu 1000 Metern durch ro- te. „Wir kennen solche Landschafts-For- veröffentlicht hat: An den Hängen einer ten Sand zurückgelegt haben. mationen auf der Erde in Gebieten, wo Gebirgsformation sind weiße Flecken er- Wer das zu mickrig findet, muss bis Kalk ausgewaschen wurde.“ kennbar. 2009 warten. Dann ist eine Marsmis- In einem mächtigen Canyon im „Hel- „Ich tippe auf Eis“, sagt Neukum, der sion geplant, die ihre Energie nicht mehr las“-Becken schließlich, der sich wie eine auch eine Theorie hat, wo es herkommt: von der Sonne bezieht, sondern von ei- Riesenschlange durch die Marslandschaft Vor allem in tieferen Schichten, vermutet ner der gefährlichsten Substanzen über- windet, zeichnen sich vertrocknete Rinn- er, gibt es vielerorts große Mengen Wasser. haupt: Plutonium. Während des Starts sale ab. In der Talsohle, wo einst gewaltige Geothermische Wärme sorgt dafür, dass es auf der Erde muss die Plutonium-Bat- Wassermassen hinabgeflossen sind, befin- austritt – und an der Oberfläche zu Eis er- terie mit großem Aufwand vor Kata- den sich nun Sedimente – zu erkennen als starrt. strophen geschützt werden. Dafür kann bläulich-dunkel erscheinender Lindwurm. Der Planetenforscher brennt schon dar- das Gefährt dann umso länger auf dem auf, die verdächtigen Stellen mit der Spek- Mars herumkurven – mindestens zwei * Die linke Falschfarbenaufnahme des „Omega“-Spek- trometer-Kamera von Bibring in den Jahre. Marco Evers trometers zeigt die Wassereis-Konzentration (blau), die nächsten Monaten abzufliegen und zu ver- mittlere die entsprechende Kohlendioxideis-Konzentrati- on; das rechte Bild zeigt das Gebiet am Südpol in realen messen: „Wir werden das Bild vom Mars Farben. revolutionieren.“ Gerald Traufetter

der spiegel 5/2004 129 Wissenschaft Warten auf den Erstickungstod Kälte, Staub und Stürme – die gefährliche Mission der amerikanischen Marsmobile elten liegen zwischen dem Ar- riger Schützling auf seiner Mission – der Su- beitstag eines Marsrovers und che nach früheren Vorkommen von Wasser Wdem eines Marsforschers. Der – als Nächstes tun soll: zwei Meter zum hel- Rover beginnt sein Tagesprogramm erst, len Stein fahren oder drei Meter zum dunk- wenn es wärmer ist, also ab circa 8.30 len? Chemie oder Geologie analysieren, Uhr Marszeit bei nicht weniger als minus fotografieren oder aber konvaleszieren? 20 Grad. Dann unternimmt er meterwei- Die Forscher leben auf Erden im Rhyth- te Fahrten, schießt brillante Fotos von der mus des Roten Planeten, und das ist kein Einöde, füllt seine Batterien über die So- Vergnügen: Weil der Marstag, genannt larpanele, misst und forscht. Am Nach- „Sol“, exakt 24 Stunden, 37 Minuten und mittag, gegen 16.30 Uhr, funkt das mobi- 23 Sekunden dauert, verschiebt sich der

le Geologie-Labor sein Tagewerk zur Beginn ihrer Schicht täglich um fast 40 Mi- BECK / AFP ROBYN Erde, macht den Laden dicht und ruht. nuten. Viele von ihnen tragen Erdzeit an Nasa-Kontrollzentrum in Pasadena Marsforscher hingegen kommen in die- der einen Hand, Marsuhren mit verlang- Die Marsuhren gehen langsamer sen Tagen kaum je zur Ruhe. 200 Millionen samtem Uhrwerk an der anderen. Die Zeit- Kilometer entfernt sitzen sie dicht gedrängt dehnung hat zur Folge, dass der Arbeits-Sol Einsatzes noch einmal über ihre Compu- im kalifornischem Pasadena in fensterlosen der Mannschaft in Pasadena jetzt schon um ter. Am Donnerstag verkündete Cheffor- Räumen und sorgen sich. Kälte, Staub, etwa 2.30 Uhr irdischer Frühe beginnt. scher Pete Theisinger, die Lage sei ernst. Strahlung und Stürme – Mars ist gefährlich Am vergangenen Mittwoch bemäch- Am Freitag funkte der Rover zwar für ei- für fragile anderthalb Meter hohe Rover tigten sich neue Adrenalin-Wallungen der nige Minuten, aber sein Datenstrom ent- aus Titan. An ihren Rechnern fühlen sie übernächtigten Roboterlenker im Mission- sprach nur noch einem Röcheln. Jetzt dem Rover den Puls; aber wegen der Ent- Control-Room. Ihr Freund auf dem Mars musste Theisinger verkünden, dass „Spi- fernung erreicht sie jedes Lebenszeichen fing plötzlich an zu schweigen. Roboter rit“ aus ungeklärter Ursache wohl für Tage erst mit einer Verspätung von 11 Minuten. „Spirit“ meldete sich nicht mehr. oder gar Wochen zu krank zum Forschen Wenn die Roverlenker sich mal nicht sor- Mit grauen Gesichtern beugten sich die sei. Alle Hoffnungen der Amerikaner rich- gen, streiten sie darüber, was ihr sechsräd- Forscher am Ende eines zwölfstündigen teten sich sogleich auf den Zwillingsrobo- ter „Opportunity“, der am Sonntag früh US-Roboter „Spirit“ beim Untersuchen eines Marssteins: Blick in die Vorgeschichte auf der anderen Marsseite landen sollte. Mit dabei am Jet Propulsion Labora- tory (JPL) der Nasa in Pasadena ist Gös- tar Klingelhöfer, 46, von der Universität Mainz. Misserfolge mit Raumfahrtgerä- ten kennt er schon. Der Physiker hat mit seiner Mannschaft in Deutschland seit Anfang der neunziger Jahre das so ge- nannte Mößbauer-Spektrometer weiter- entwickelt, mit dem sich Eisenverbin- dungen in Steinen analysieren lassen. Eines seiner Geräte sollte mit einer rus- sischen Mission abheben, die nie gestartet ist. Ein weiteres war auf dem europäi- schen Marsroboter „Beagle 2“ montiert, der seit Ankunft auf dem Mars Ende De- zember als verschollen gilt. Auch „Spirit“ und „Opportunity“ sind mit dem Spektrometer bestückt, denn bei diesem Gerät haben die Deutschen, so Klingelhöfer, gegenüber aller Konkurrenz „ein paar Jahre Vorsprung“. Eigentlich wiegt das Herzstück dieses Messinstruments etwa fünf Kilogramm. Klingelhöfer und seinen Mitarbeitern ge- lang es, das Gewicht auf ganze 56 Gramm zu verringern. Damit ist es leicht genug, auch auf Erden neue Einsatzgebiete zu fin- den. In Brasilien hat Klingelhöfer damit die Farbpigmente vorhistorischer Wandmale-

JPL / NASA reien analysiert. Auch tief in den Pyrami- objektiv kann noch genauer hingeschaut werden: Es las- den Ägyptens könnte das Gerät zum Ein- sen sich sogar Objekte von satz kommen. Sogar die Autoindustrie hat der Größe eines Kleinwagens schon Interesse angemeldet. Klingelhöfer erkennen. denkt daran, eine Firma auszugründen. „Wir haben nun ein bes- Auf dem Mars sollte sich, so die ur- seres Bild von der Marsto- sprüngliche Planung, jeder Rover bis zu pografie, als wir es von der 30 Stunden mit nur einem Stein beschäf- Erde haben“, sagt Neukum. tigen. Es dauert, bis der Roboter einen Einzelne Gesteinsschichten, Stein angesteuert, seinen Schwenkarm Stufen im Gelände, verschie- ausgefahren, mit Spezialgerät die oberste dene Gesteinsarten treten zu Schicht des Steines abgeschliffen und so ei- Tage. „Der fremde Planet er- nen einzigartigen Einblick in die Vorge- wacht auf einmal zum Le- schichte des Planeten geschaffen hat. Jeder ben“, schwärmt Neukum. Rover könnte bis zu 15 Steine analysieren. Eine Aufnahme vom Vul- Die beiden Roboter überstehen Nei- kan „Albor Tholus“ etwa gungswinkel von 45 Grad, sie haben je zeigt eine gewaltige, 40 Ki- neun Kamera-Augen, sie sind intelligent lometer lange Staubfahne. genug, Gefahren wie Löchern oder Felsen Vom Rand des Kraters stürzt selbständig aus dem Weg zu gehen – nur sie vier Kilometer hinab in eines fehlt, und auch dieser Mangel könn- den tiefen Schlund des erlo- te sich als fatal erweisen: Die Marsrover schenen Feuerbergs. haben keine Scheibenwischer. Am Westrand des „Heca- Auf ihrem Rücken tragen die Rover So- tes Tholus“ wiederum, eines larpanele, die sie mit Strom versorgen. weiteren Vulkans, sind deut-

Aber der Mars ist ein staubiges Plätzchen. liche Spuren einer längst ver- ESA Rostrotes, haftstarkes Puder kriecht in Rit- gangenen Vergletscherung Wassereis auf dem Mars*: Primitive Lebensformen? zen und Gelenke, und irgendwann wird zu erkennen. Neukum tippt Marsstaub die Solarzellen ersticken. Die aufgeregt auf den feinen Wellenlinien des All diese detailreichen Beobachtungen Forscher können nur beten, dass ihr Ge- Fotos herum. Nie zuvor habe man so etwas zielen auf eine entscheidende Frage: Wo- fährt nicht viel früher als nach 90 Tagen zu dort gesehen. hin ist das frühere Wasser verschwunden, Tode verstaubt, der geplanten Lebens- Spuren einstiger Wassermassen hat die als sich vor 3,8 Milliarden Jahren die At- dauer der Rover. Eine Art Scheibenwisch- Stereokamera zuhauf entdeckt. Eine Auf- mosphäre des Himmelskörpers allmählich Anlage wurde diskutiert, ebenso ein Ent- nahme zeigt einen bizarren Tafelberg. An aufzulösen begann? Ist es einfach in den staubungs-Rüttler, aber beides wurde mit seinen steilen Hängen, die mehrere Kilo- Weltraum verdunstet – woraufhin das Rücksicht auf Gewicht und Komplexität meter in den Marshimmel ragen, hat Neu- womöglich darin einst entstandene Leben der Marsmobile verworfen. kum verräterische Zeichen ausgemacht, verdorrte? Oder ist das Wasser zu einem Der Tod ist den Roboter-Geologen die für ihn nur einen Schluss zulassen: „Da großen Teil einfach im Untergrund ver- auch so gewiss. Acht kleine radioaktive ist Wasser aus dem Berg ausgetreten und sickert – und mit ihm die möglichen pri- Öfen heizen ihr Inneres; denn die Außen- hat den Hang geschliffen.“ mitiven Lebensformen, die so unter der temperatur von minus 96 Grad Celsius in Ein weiterer Hinweis findet sich auf ei- Oberfläche überdauert haben könnten? der Nacht ließe sie ansonsten schockge- nem Bild, das der „Mars Express“ am 14. Diese Rätselfrage ist nun wohl gelöst: frieren. Doch in einigen Monaten haben Januar südlich des großen Canyons „Valles Die Spektrometer-Messungen haben klar die Heizstäbe ihre Kraft eingebüßt. Marineris“ geschossen hat. Zu erkennen gezeigt, dass es auch heute noch Wasser Spätestens wenn Ende April auf der ist ein gut 10 mal 25 Kilometer messendes auf dem Mars gibt – zumindest als Wasser- Südhalbkugel der Marswinter beginnt, Loch inmitten eines Hochplateaus. Der- eis am Südpol. müssen die Marsforscher von Pasadena einst sind dort offenbar riesige Gesteins- Neukum vermutet aber, dass es das Le- ihre Geschöpfe zu Grabe tragen. 820 Mil- massen abgesackt. benselixier auch anderswo auf dem Mars lionen Dollar hat die Mission seit ihrem Neukum ist sicher: Im Untergrund muss gibt und an einigen Stellen aus dem steini- Beginn vor dreieinhalb Jahren gekostet. Wasser das Gestein ausgehöhlt haben, ehe gen Untergrund immer mal wieder hervor- Für diese Summe werden die beiden Rover das darüberliegende Material durch sein tritt. Ein spektakuläres Indiz findet sich auf dann bestenfalls weitab der Erde je eine immenses Gewicht in den Hohlraum stürz- einem der Bilder, die die Esa bislang nicht Strecke von bis zu 1000 Metern durch ro- te. „Wir kennen solche Landschafts-For- veröffentlicht hat: An den Hängen einer ten Sand zurückgelegt haben. mationen auf der Erde in Gebieten, wo Gebirgsformation sind weiße Flecken er- Wer das zu mickrig findet, muss bis Kalk ausgewaschen wurde.“ kennbar. 2009 warten. Dann ist eine Marsmis- In einem mächtigen Canyon im „Hel- „Ich tippe auf Eis“, sagt Neukum, der sion geplant, die ihre Energie nicht mehr las“-Becken schließlich, der sich wie eine auch eine Theorie hat, wo es herkommt: von der Sonne bezieht, sondern von ei- Riesenschlange durch die Marslandschaft Vor allem in tieferen Schichten, vermutet ner der gefährlichsten Substanzen über- windet, zeichnen sich vertrocknete Rinn- er, gibt es vielerorts große Mengen Wasser. haupt: Plutonium. Während des Starts sale ab. In der Talsohle, wo einst gewaltige Geothermische Wärme sorgt dafür, dass es auf der Erde muss die Plutonium-Bat- Wassermassen hinabgeflossen sind, befin- austritt – und an der Oberfläche zu Eis er- terie mit großem Aufwand vor Kata- den sich nun Sedimente – zu erkennen als starrt. strophen geschützt werden. Dafür kann bläulich-dunkel erscheinender Lindwurm. Der Planetenforscher brennt schon dar- das Gefährt dann umso länger auf dem auf, die verdächtigen Stellen mit der Spek- Mars herumkurven – mindestens zwei * Die linke Falschfarbenaufnahme des „Omega“-Spek- trometer-Kamera von Bibring in den Jahre. Marco Evers trometers zeigt die Wassereis-Konzentration (blau), die nächsten Monaten abzufliegen und zu ver- mittlere die entsprechende Kohlendioxideis-Konzentrati- on; das rechte Bild zeigt das Gebiet am Südpol in realen messen: „Wir werden das Bild vom Mars Farben. revolutionieren.“ Gerald Traufetter

der spiegel 5/2004 129 Technik

39,9% 40% Anteil der Diesel-Pkw 35% an den Neuzulassungen 30,4% 30% 27,4% 25% 20% 17,0% 15,1% 15% 8,0%

Quelle: Kraftfahrt-Bundesamt

1980 85 90 95 2000 03 MANFRED WITT MANFRED VW-Chef Pischetsrieder, Luxuslimousine Phaeton: „Der Diesel wird nur in den großen Autos überleben“

Gesetzgebung ihnen deutlich höhere kann es sich leisten, mit Umwelttechnolo- AUTOMOBILE Schadstoffwerte zubilligte. gien in Vorleistung zu gehen. Der Pionier In Wahrheit ist der Sparmotor ein Stin- des Hybridantriebs setzt sich nun auch Sparsamer ker. Die meisten heute angebotenen Die- beim Dieselthema an die Spitze. In der selfahrzeuge haben keinerlei Abgasreini- Mittelklasse-Limousine Avensis bietet gung im Auspuff. Durch ein offenes Rohr Toyota inzwischen Kat und Rußfilter an – Stinker entweichen ihre Abgase ins Freie. zum Aufpreis von 800 Euro. Mit amtlicher Duldung emittieren sie ein Auch dieser Zuschlag, wenngleich deut- Europas Autokonzerne fürchten um Vielfaches an waldschädigenden Stickoxi- lich kleiner als vom VW-Chef prognosti- den im Vergleich zu Ottomotoren mit ge- ziert, zeigt jedoch, dass es sehr eng wird für ihren wichtigsten Trumpf: Mit regeltem Kat. Zudem entweichen dem Die- den Diesel: Die Hersteller verdienen ohne- strengeren EU-Abgaslimits droht selauspuff als Krebserreger geltende hin bereits schlechter an Dieselautos als an das Ende des Dieselmotors. Rußpartikel, die bei der Verbrennung von Fahrzeugen mit Benzinmotoren. Diesel Benzin nicht entstehen. sind in der Herstellung erheblich teurer, er Motor klingt wie ein in der Fer- Die EU-Kommission, die die Schadstoff- können aber nur knapp über dem Preis- ne grollendes Ungewitter. Von fin- Grenzwerte bestimmt, nahm das bislang niveau der Benziner angeboten werden, Dgerdickem Schallschutz gedämmt, hin. Sogar die vom kommenden Jahr an da sie sonst keine Marktchancen hätten. wummert unter der Haube des VW-Lu- geltende Euro-4-Richtlinie wird den Diesel- Zudem wird der bisherige Verbrauchs- xuswagens Phaeton ein Kraftpaket von un- Pkw wieder einen dreifach höheren Stick- vorteil schwinden. Nach realistischen geheurer Vortriebskraft. oxid-Ausstoß genehmigen als Benzinern Schätzungen schlucken Dieselmotoren mit 313 PS leistet das Zehnzylinder-Die- und auch beim Partikelausstoß noch rela- Rußfilter und Kat etwa sechs bis acht selaggregat in dem 250 Stundenkilometer tiv großzügig sein. Schon heute unterbie- Prozent mehr. Benzinmotoren wiederum schnellen Flaggschiff, schluckt jedoch auch ten viele Dieselfahrzeuge diese Grenzwer- werden gegen Ende des Jahrzehnts noch bei zügiger Fahrweise nur etwa zehn Liter te ohne Abgasnachbehandlungen durch einmal deutlich sparsamer sein als heute. pro 100 Kilometer – gut fünf Liter weni- Kat oder Partikelfilter. Beträchtliche Verbrauchssenkungen ver- ger als Benzinmotoren in vergleichbaren Doch die Schonzeit wird danach ein sprechen sich die Entwickler derzeit von Luxusautos. Ende haben. Mit einer Gleichbehandlung weiteren Verfeinerungen der Ventilsteue- Der stärkste Pkw-Diesel aller Zeiten von Diesel und Benziner und schärferen rung. Zudem sei das Potenzial der Benzin- krönt derzeit die Erfolgsstory eines Moto- Partikel-Grenzwerten ab 2010 werden die Direkteinspritzung noch lange nicht aus- rentyps, die der VW-Konzern vor über 20 Hürden nur noch mit einer doppelten Ab- geschöpft. Jahren einleitete. Mit dem ersten Golf GTD gasnachbehandlung zu nehmen sein: ei- Darüber hinaus werden bei der Ver- und später den noch spritzigeren TDI-Mo- nem Kat zur Stickoxid-Reduktion und ei- brennung von Benzin rund zwölf Prozent dellen machten VW und die Tochtermarke nem Filter zur Rußbekämpfung. weniger vom Treibhausgas Kohlendioxid Audi den einst trägen Heizölmotor zum Damit jedoch, erklärt VW-Chef Bernd ausgestoßen. Was die Klimabelastung be- Hit und weckten Nachahmer. Der Diesel ist Pischetsrieder, würden die Kosten für den trifft, schätzen Motorenentwickler, könn- inzwischen die Trumpfkarte der europäi- Diesel ins Unerträgliche steigen. Weniger ten Diesel und Benziner also in wenigen schen Autokonzerne im internationalen problematisch sei „dieses dämliche Filter- Jahren gleichziehen. Technologiewettlauf. Seine Marktanteile chen“ gegen Rußpartikel. Der Kat zur Sen- So ist zu erwarten, dass die lange geför- stiegen sprunghaft an (siehe Grafik). kung der Stickoxide dagegen sei „ungleich derten Dieselmotoren bald für die Massen- Doch der Wundertechnik droht das Aus sensibler und viel, viel teurer“. Insgesamt motorisierung nur noch eine untergeord- – und zwar genau in sechs Jahren mit den schätzt der VW-Chef die Kosten einer sol- nete Rolle spielen. Richtlinien der Abgasstufe Euro 5. Die wird chen Anlage auf etwa 2000 Euro. „Der Diesel wird nicht abgeschafft“, pro- voraussichtlich gleich niedrige Stickoxid- Solche Thesen erinnern an die achtziger phezeit VW-Chef Pischetsrieder. „Er wird Grenzwerte für Benzin- und Dieselmoto- Jahre, als die Autoindustrie sich lange aber nur in den großen Autos überleben.“ ren setzen. An dieser Hürde fürchten die sträubte, den Kat für Benzinmotoren ein- In der Preisklasse gehobener Limousinen Ingenieure zu scheitern. zuführen, was sich später als relativ einfach und Geländewagen lasse sich der Mehr- Bisher war der Dieselboom in Europa herausstellte. preis für die Abgasreinigung verkraften. weniger ein Ergebnis guter Entwicklungs- Vorreiter in der Dieselreinigung ist nun Ein Golf TDI jedoch wird im Jahr 2010 als guter Lobbyarbeit: Dieselmotoren ausgerechnet Toyota. Japans größter Auto- wahrscheinlich nicht mehr gebaut. konnten sich nur durchsetzen, weil die EU- konzern, hoch profitabel und schwerreich, Christian Wüst

130 der spiegel 5/2004 Wissenschaft CORBIS Einwanderer im Hafen von New York (um 1920): „Die romantische Idee vom Schmelztiegel Amerika ist ein Mythos“

ZEITGESCHICHTE „Krieg gegen die Schwachen“ Anfang vorigen Jahrhunderts beschlossen amerikanische Forscher, Politiker und Viehzüchter die „Schaffung einer überlegenen nordischen Rasse“. 60000 Männer und Frauen, zumeist Arme und Farbige, wurden zwangssterilisiert – Anregung für das Eugenik-Programm der Nazis.

as typische Opfer war irgendwie einschlägige Dokumente aus amerika- tungsmaschinerie durchleuchtet hatte, auffällig geworden, meist nicht be- nischen und europäischen Archiven zu- schildert den „Kreuzzug“ einer Clique Dsonders intelligent, häufig aggres- sammen. Zudem wertete Black Tage- einflussreicher und angesehener US-Bür- siv, fast immer sexuell aktiver als der nor- bücher, Gerichts- und Krankenakten Be- ger, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, male Kirchgänger der Gemeinde und haus- troffener aus. mit Hilfe der Eugenik die Vereinigten Staa- te nicht selten in Bretterverschlägen am Der auch in den USA bislang weithin ten von armen, einfältigen, kranken, kri- Ortsrand. Vor allem war das typische Op- unbeachtete „Krieg gegen die Schwachen“ minellen und – vor allem – farbigen Ein- fer: arm. (Black) zielte auf die „Schaffung einer wohnern zu befreien. Gedeckt von eugenischen Gesetzen, ver- überlegenen nordischen Rasse“. Der Autor, In vielen US-Staaten gab es zu Beginn stümmelten US-Ärzte bis in die siebziger der auch schon die Verstrickung des Com- des 20. Jahrhunderts große soziale Proble- Jahre des vorigen Jahrhunderts über 60000 puterkonzerns IBM mit der NS-Vernich- me. Arme Flüchtlinge und verzweifelte Männer und Frauen durch Sterilisation. Glücksritter drängten ins Land, angelockt Den Eugenik-Opfern im zeugungs- und ge- von der unter Volldampf laufenden Maschi- bärfähigen Alter wurden die Samenleiter nerie des neuen industriellen Zeitalters. durchtrennt, die Hodensäcke abgeschnit- Rund 17 Millionen Menschen aus der Alten ten, die Eileiter abgebunden und die Eier- Welt landeten in den Jahren 1890 bis 1920 stöcke oder Gebärmütter entfernt. an der US-Ostküste; weitere Zehntausende Das ganze Ausmaß dieses Medizin-Ver- Asiaten kamen in die Staaten über die brechens beschreibt der amerikanische Westküste; und von Süden drängten später Publizist Edwin Black jetzt in einem Auf- Massen von Latinos über die US-Grenze. sehen erregenden Buch*. Mit Hilfe Dut- „Die romantische Idee vom Schmelztie- zender Rechercheure trug er rund 50000 gel Amerika“, schreibt Black, „ist ein My-

TEUTOPRESS / ULLSTEIN BILDERDIENST / ULLSTEIN TEUTOPRESS thos.“ Viele Neuankömmlinge blieben lan- * Edwin Black: „War Against the Weak“. Four Walls Eight Autor Black ge Zeit unter sich, siedelten sich in eigenen Windows, New York; 552 Seiten; 27 Dollar. „Komplette rassistische Ideologie“ Stadtvierteln an oder zogen im Trupp als

132 der spiegel 5/2004 Wanderarbeiter über Land. Den etablier- Um diese Bedrohung zu stoppen, ten Amerikanern gefiel das demografische benötigten „Amerikas Eugeniker zwei Din- Chaos nicht besonders. Wissenschaftler, ge“, schreibt Black, „Geld und eine Orga- Ärzte und Ökonomen wetterten mit nisation“, die neuen Ideen bekannt zu ma- pseudowissenschaftlichen Thesen gegen chen und zu verwirklichen. Mit Geschick die ungeliebten Neubürger. und Chuzpe löste Davenport diese Aufga- „Unser Land wurde von nordischen ben. Als besonders schlagkräftiger Ver- Menschen besiedelt und aufgebaut“, bündeter des Ober-Eugenikers erwies sich schrieb etwa Lothrop Stoddard, ein führen- die gerade erst gegründete Viehzüchter- der Eugeniker; doch nun sei „eine Invasion Organisation „American Breeders Asso- von Menschenhorden aus den Alpenlän- ciation“ (ABA). „Die Ergebnisse, die wir dern und Mittelmeerstaaten“ erfolgt, er- durch die Unterdrückung der Schwachen gänzt durch „asiatische Elemente wie Le- und durch die Züchtung nur der Besten vantiner und Juden“. erhalten, lassen sich beim Menschen ge- Die eugenische Idee fiel auf fruchtbaren nauso erzielen wie bei Rindern und Scha- Boden. Zum Organisator und „Chef- fen“, heißt es in einem ABA-Text. Kreuzzügler“ (Black) der eugenischen Be- Auf Davenports Anraten hin beschloss wegung fühlte sich ein Maklersohn aus bereits die erste ABA-Vollversammlung dem New Yorker Bezirk Brooklyn beru- 1903, neben den ständigen Komitees für fen: Charles Davenport, Absolvent der Eli- Pflanzen- und Tierzucht, einen dritten Aus- te-Uni Harvard, baute das Biologielabora- schuss einzurichten: das Eugenik-Komitee. torium einer Brooklyner Hochschule zu ei- Dessen Mitglieder wurden beauftragt, nem eugenischen Zentrum aus. Das „Cold „Methoden zu entwickeln, mit denen die Spring Harbor Laboratory“ auf Long Is- Qualität des Blutes bei Individuen, Fami- land sollte „die Gesetze und Grenzen der lien, Völkern und Rassen registriert“ wer- Vererbung“ wissenschaftlich ergründen, den könnte. zunächst im Tierversuch. Schon im ersten Report des Komitees Wenig später verfolgte Davenport un- an die ABA hieß es beispielsweise, um die verblümt rassistische Ziele: „Wir haben in „mindestens zwei Millionen verelendeten, kranken, schwachsinnigen, be- schädigten und kriminellen Elemente“ in der amerikani- schen Gesellschaft durchzu- bringen, müssten jährlich „100 Millionen Dollar“ aufgebracht werden. Die Summe könne man einsparen durch „Aus- trocknung des reißenden Stroms defekten und degene- rierten Zellmaterials“. Als praktischen Tipp empfahl der Report: „strikte Trennung während der gebär- und zeu- gungsfähigen Altersspanne oder sogar die Sterilisation“. PICKLER MEMORIAL LIBRARY PICKLER AMERICAN PHILOSOPHICAL SOCIETY PHILOSOPHICAL AMERICAN Die Verfasser des Reports, US-Eugeniker Davenport, Laughlin: Jagd auf Außenseiter allesamt erfahrene Züchter von Rindern und Pferden, rechne- diesem Land“, verkündete der promovier- ten, dass etwa „zehn Prozent“ – also knapp te Biologe, „das schwierige Problem des zehn Millionen Amerikanern – das Men- Negers – einer Rasse, deren geistige Ent- schenrecht der Fortpflanzung entzogen wicklung weit hinter der des Kaukasiers werden müsste. Offen war die Kardinal- zurückgeblieben“ sei. Um eine denkbare frage: Wer genau gehörte zum „unterge- Vermischung beider Rassen schon im An- tauchten Zehntel“ (Eugenik-Jargon). satz zu verhindern, empfahl Davenport den Für diese Mammutaufgabe gründete Da- „sofortigen Export der schwarzen Rasse“. venport gemeinsam mit der ABA das „Eu- Andernfalls könne es so weit kommen, genics Record Office“ (ERO) und bestellte „dass unsere Nachkommen das Land den zum Chef des Statistikbüros auf dem La- Schwarzen, Braunen und Gelben überge- borgelände in Cold Spring Harbor den ben und um Asyl in Neuseeland bitten Dorfschullehrer Harry Laughlin aus dem müssen“. Bundesstaat Missouri. Die Geschäfts- Solche Rede kam an beim amerikani- grundlage des ERO waren das Sammeln schen Establishment. Die wohlhabenden und die Katalogisierung menschlicher weißen Nachfahren der nord- und west- Stammbäume. europäischen Pilger, die sich in der Neu- Im Sommer 1910 schickten Davenport en Welt ausgebreitet hatten, fürchteten, und Laughlin die ersten Befragerkolonnen von den Massen befreiter Sklaven und hinaus ins Land. Die Eugenik-Drücker se- vagabundierender Flüchtlinge bedrängt lektierten in Gefängnissen und Irrenan- zu werden. stalten, in Kranken- und Waisenhäusern, in

der spiegel 5/2004 133 Wissenschaft

Schulen für Blinde und Taube die Insassen gestellt: „geistig verwirrt“, „blind“ oder und ermittelten deren Leiden, Vergehen „schwachsinnig“, „epileptisch“ lautete ARCHÄOLOGIE und Charaktereigenschaften, die sie als ver- mancher Befund – oder schlicht „verarmt“, erbt oder vererbbar einstuften. Zudem wa- „kriminell“, „unmoralisch“. Fremd und ren die ERO-Befrager darauf geschult, auf Fast immer entschieden die Ärzte, dass den Karteikarten auch ihre persönlichen die bei den Eingefangenen entdeckten Beobachtungen zu verzeichnen – ob bei- „Defekte“ erblich bedingt waren und wei- phantastisch spielsweise jemand einen „blöden“ oder tervererbt werden würden; folglich müsse „amoralischen“ Eindruck machte oder de- ihnen die Fortpflanzung verboten werden. Märchen umranken den antiken pressiv und verwahrlost ausschaute. Viele wurden in „Kolonien“ interniert oder Über die landesweiten Kommunika- in Heilanstalten abgeschoben, die für hohe König Midas. Jetzt haben tionsschienen der amerikanischen Vieh- Sterblichkeitsraten ihrer Insassen bekannt US-Forscher seinen zersplitterten züchter und weiterer einflussmächtiger waren. Tausende andere wurden sterilisiert Esstisch rekonstruiert. Geldgeber verbreitete sich das eugenische – mit erschlichener, aber auch ohne Zu- Konzept in Windeseile. Sogar Elite-Uni- stimmung der Betroffenen. aum hatte ein Gott dem Midas die versitäten des Landes erlagen der „kom- Die Aktionen waren in der Regel nicht Gabe verliehen, alles in Gold zu pletten rassistischen Ideologie“ (Black). einmal illegal. Als erster US-Bundesstaat Kverwandeln, tätschelte der seine Columbia, Cornell und Brown etwa ver- gab sich Indiana schon 1907 ein Gesetz, Tochter. Doch, o Graus! Sie erstarrte zur liehen der Pseudowissenschaft die akade- das eugenische Zwangssterilisationen er- blinkenden Statue. Entnervt griff der Re- mischen Weihen, als sie eugenische Kurse laubte; 32 weitere Bundesstaaten folgten gent zu Brot und Braten – und biss auf Me- ins Lehrprogramm aufnahmen. Und in dem Beispiel. In etlichen Staaten wurde tall. Nur ein Bad im Fluss Paktolos, erzählt Harvard, Princeton und Yale entwickelten ein Modellgesetz als Vorlage benutzt, der Mythos, befreite ihn vom Goldfluch „die hellsten und klügsten Köpfe“, so das im Eugenik-Hauptquartier von ERO- und damit vor dem Hungertod. Black, „ein Verfahren zum Messen intel- Superintendant Laughlin formuliert wor- Eine üppige Legende strickte das Alter- lektueller Fähigkeiten, dem zufolge 70 bis den war. tum um den König aus Phrygien (siehe 80 Prozent aller Schwarzen und Juden Laughlins Wirkung blieb nicht auf Ame- Karte). Strabon und Herodot erzählen von Trottel und Idioten waren“. rika beschränkt. Sein Modellgesetz für die Midas, ebenso Aristoteles und Ovid, der Zwangssterilisation von „Geistesschwa- ihm Eselsohren andichtete. Sein Abgang chen“ übersetzten Hitlers Rassenhygieni- wirkt mysteriös: Der König trank Stierblut ker ins Deutsche und verwendeten Teile und beging so Selbstmord. daraus für ein eigenes Eugenik-Gesetz, das Geschichtlich lässt sich die Person nur die Zwangssterilisation von rund 350000 schwer fassen. Keilschriften erwähnen zwar Menschen legal erscheinen lassen sollte. für die Jahre 717 bis 709 vor Christus einen Laughlins Verdienste um die national- „Mita“ aus Kleinasien, der sich den Assy- sozialistische Eugenik belohnte die Uni- rern widersetzte und als historisches Vor- versität Heidelberg 1936 mit einem Ehren- bild der Fama gilt. Doch die Lebensdaten doktortitel für den ehemaligen Zwerg- dieses Mannes sind widersprüchlich. schullehrer. Jetzt ist offenbar der Esstisch des Mon- Der nimmermüde Eugenik-Propagandist archen aufgetaucht: Es ist eine merkwürdig revanchierte sich, indem er beim Rassen- geschwungene, aus Wacholder, Buchsbaum politischen Amt der NSDAP den zweitei- und Walnuss zusammengezimmerte Intar- ligen Propagandafilm „Erbkrank“ erwarb sie, rund 2700 Jahre alt. Entfernt erinnert und in den USA für dessen Verbreitung das Stück an eine Jugendstil-Arbeit. sorgte. Das Nazi-Machwerk wurde in High Aus „zerbrochenen Einzelteilen“ habe Schools von New York und New Jersey ge- sie das Möbel mit vier Kolleginnen rekon- zeigt; auch Sozialarbeiter in Connecticut struiert, erzählt Elizabeth Simpson von der mussten es sich anschauen. University of Pennsylvania. „Harte Puz-

BPK Zu dieser Zeit hatten unabhängige US- zlearbeit“, lobte vorvergangene Woche die Gesichtsvermessung durch NS-Rasseforscher Forscher bereits damit begonnen, die Eu- türkische Zeitung „Ak≈am“. US-Eugenikgesetz ins Deutsche übersetzt genik als Pseudowissenschaft zu entlarven. Fundort des dreibeinigen Tischleins ist Das Interesse der amerikanischen Öffent- ein Gebiet in Kleinasien, in dem die Phry- In der US-Öffentlichkeit entstand der lichkeit an der Eugenik flaute während des ger im 8. Jahrhundert vor Christus für kur- Eindruck, dass das, was in Harvard und Zweiten Weltkriegs stark ab. Das ERO ze Zeit ein Großreich schufen. Ihre Haupt- Columbia anerkannt wurde, so falsch nicht wurde geschlossen. stadt Gordion wurde berühmt durch den sein konnte. In Drugstores und auf Main Auch die Kenntnis von den Gräueln der Kriegswagen im Burgtempel. Dessen Streets, auf Jahrmärkten und Viehauktio- NS-Rassenfanatiker und die Verfahren ge- Deichsel und Joch waren mit einem ver- nen verbreiteten „Eugenik-Experten“ den gen NS-Mediziner hinderten amerikani- trackten Bastgnubbel verbunden, den spä- Slogan: „Einige Amerikaner sind nur ge- sche Ärzte jedoch nicht daran, weiter ter Alexander der Große zerschlug – dem boren, um dem Rest der Gesellschaft zur Zwangssterilisationen vorzunehmen. Noch „gordischen Knoten“. Last zu fallen.“ in den siebziger Jahren wurde Hunderten Bereits 1950 rückte ein US-Team in das In der Folgezeit begann eine regelrech- Indianerinnen zwangsweise die Gebär- Tal ein, an dessen Hängen einst bunte te Jagd auf die Außenseiter der Gesell- mutter entfernt – unter anderem als Lern- Paläste und Speicher standen. Daneben er- schaft. Sie wurden in den Armenvierteln programm für angehende Gynäkologen ka- streckt sich ein Friedhof, auf dem der Adel am Stadtrand eingesammelt, in abgelege- schiert. unter Erdhügeln („Tumuli“) ruhte. Die For- nen Tälern und Wäldern aufgespürt, und Erst im vergangenen April hob der scher bargen Kindersärge und das Skelett auch in Schulen oder Gefängnissen wurde US-Bundesstaat North Carolina das Ge- einer fast 1,90 Meter großen Frau. nach ihnen gefahndet. Nach der Festnah- setz auf, das unter bestimmten Voraus- Überragt wird das Gelände vom „Midas me kamen sie zunächst zur medizinischen setzungen Zwangssterilisationen vor- Mound“, einem ungeheuren Kegel, der Untersuchung; die Diagnose war schnell sah. Rainer Paul (bei 250 Meter Durchmesser) einst 80 Me-

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Schulen für Blinde und Taube die Insassen gestellt: „geistig verwirrt“, „blind“ oder und ermittelten deren Leiden, Vergehen „schwachsinnig“, „epileptisch“ lautete ARCHÄOLOGIE und Charaktereigenschaften, die sie als ver- mancher Befund – oder schlicht „verarmt“, erbt oder vererbbar einstuften. Zudem wa- „kriminell“, „unmoralisch“. Fremd und ren die ERO-Befrager darauf geschult, auf Fast immer entschieden die Ärzte, dass den Karteikarten auch ihre persönlichen die bei den Eingefangenen entdeckten Beobachtungen zu verzeichnen – ob bei- „Defekte“ erblich bedingt waren und wei- phantastisch spielsweise jemand einen „blöden“ oder tervererbt werden würden; folglich müsse „amoralischen“ Eindruck machte oder de- ihnen die Fortpflanzung verboten werden. Märchen umranken den antiken pressiv und verwahrlost ausschaute. Viele wurden in „Kolonien“ interniert oder Über die landesweiten Kommunika- in Heilanstalten abgeschoben, die für hohe König Midas. Jetzt haben tionsschienen der amerikanischen Vieh- Sterblichkeitsraten ihrer Insassen bekannt US-Forscher seinen zersplitterten züchter und weiterer einflussmächtiger waren. Tausende andere wurden sterilisiert Esstisch rekonstruiert. Geldgeber verbreitete sich das eugenische – mit erschlichener, aber auch ohne Zu- Konzept in Windeseile. Sogar Elite-Uni- stimmung der Betroffenen. aum hatte ein Gott dem Midas die versitäten des Landes erlagen der „kom- Die Aktionen waren in der Regel nicht Gabe verliehen, alles in Gold zu pletten rassistischen Ideologie“ (Black). einmal illegal. Als erster US-Bundesstaat Kverwandeln, tätschelte der seine Columbia, Cornell und Brown etwa ver- gab sich Indiana schon 1907 ein Gesetz, Tochter. Doch, o Graus! Sie erstarrte zur liehen der Pseudowissenschaft die akade- das eugenische Zwangssterilisationen er- blinkenden Statue. Entnervt griff der Re- mischen Weihen, als sie eugenische Kurse laubte; 32 weitere Bundesstaaten folgten gent zu Brot und Braten – und biss auf Me- ins Lehrprogramm aufnahmen. Und in dem Beispiel. In etlichen Staaten wurde tall. Nur ein Bad im Fluss Paktolos, erzählt Harvard, Princeton und Yale entwickelten ein Modellgesetz als Vorlage benutzt, der Mythos, befreite ihn vom Goldfluch „die hellsten und klügsten Köpfe“, so das im Eugenik-Hauptquartier von ERO- und damit vor dem Hungertod. Black, „ein Verfahren zum Messen intel- Superintendant Laughlin formuliert wor- Eine üppige Legende strickte das Alter- lektueller Fähigkeiten, dem zufolge 70 bis den war. tum um den König aus Phrygien (siehe 80 Prozent aller Schwarzen und Juden Laughlins Wirkung blieb nicht auf Ame- Karte). Strabon und Herodot erzählen von Trottel und Idioten waren“. rika beschränkt. Sein Modellgesetz für die Midas, ebenso Aristoteles und Ovid, der Zwangssterilisation von „Geistesschwa- ihm Eselsohren andichtete. Sein Abgang chen“ übersetzten Hitlers Rassenhygieni- wirkt mysteriös: Der König trank Stierblut ker ins Deutsche und verwendeten Teile und beging so Selbstmord. daraus für ein eigenes Eugenik-Gesetz, das Geschichtlich lässt sich die Person nur die Zwangssterilisation von rund 350000 schwer fassen. Keilschriften erwähnen zwar Menschen legal erscheinen lassen sollte. für die Jahre 717 bis 709 vor Christus einen Laughlins Verdienste um die national- „Mita“ aus Kleinasien, der sich den Assy- sozialistische Eugenik belohnte die Uni- rern widersetzte und als historisches Vor- versität Heidelberg 1936 mit einem Ehren- bild der Fama gilt. Doch die Lebensdaten doktortitel für den ehemaligen Zwerg- dieses Mannes sind widersprüchlich. schullehrer. Jetzt ist offenbar der Esstisch des Mon- Der nimmermüde Eugenik-Propagandist archen aufgetaucht: Es ist eine merkwürdig revanchierte sich, indem er beim Rassen- geschwungene, aus Wacholder, Buchsbaum politischen Amt der NSDAP den zweitei- und Walnuss zusammengezimmerte Intar- ligen Propagandafilm „Erbkrank“ erwarb sie, rund 2700 Jahre alt. Entfernt erinnert und in den USA für dessen Verbreitung das Stück an eine Jugendstil-Arbeit. sorgte. Das Nazi-Machwerk wurde in High Aus „zerbrochenen Einzelteilen“ habe Schools von New York und New Jersey ge- sie das Möbel mit vier Kolleginnen rekon- zeigt; auch Sozialarbeiter in Connecticut struiert, erzählt Elizabeth Simpson von der mussten es sich anschauen. University of Pennsylvania. „Harte Puz-

BPK Zu dieser Zeit hatten unabhängige US- zlearbeit“, lobte vorvergangene Woche die Gesichtsvermessung durch NS-Rasseforscher Forscher bereits damit begonnen, die Eu- türkische Zeitung „Ak≈am“. US-Eugenikgesetz ins Deutsche übersetzt genik als Pseudowissenschaft zu entlarven. Fundort des dreibeinigen Tischleins ist Das Interesse der amerikanischen Öffent- ein Gebiet in Kleinasien, in dem die Phry- In der US-Öffentlichkeit entstand der lichkeit an der Eugenik flaute während des ger im 8. Jahrhundert vor Christus für kur- Eindruck, dass das, was in Harvard und Zweiten Weltkriegs stark ab. Das ERO ze Zeit ein Großreich schufen. Ihre Haupt- Columbia anerkannt wurde, so falsch nicht wurde geschlossen. stadt Gordion wurde berühmt durch den sein konnte. In Drugstores und auf Main Auch die Kenntnis von den Gräueln der Kriegswagen im Burgtempel. Dessen Streets, auf Jahrmärkten und Viehauktio- NS-Rassenfanatiker und die Verfahren ge- Deichsel und Joch waren mit einem ver- nen verbreiteten „Eugenik-Experten“ den gen NS-Mediziner hinderten amerikani- trackten Bastgnubbel verbunden, den spä- Slogan: „Einige Amerikaner sind nur ge- sche Ärzte jedoch nicht daran, weiter ter Alexander der Große zerschlug – dem boren, um dem Rest der Gesellschaft zur Zwangssterilisationen vorzunehmen. Noch „gordischen Knoten“. Last zu fallen.“ in den siebziger Jahren wurde Hunderten Bereits 1950 rückte ein US-Team in das In der Folgezeit begann eine regelrech- Indianerinnen zwangsweise die Gebär- Tal ein, an dessen Hängen einst bunte te Jagd auf die Außenseiter der Gesell- mutter entfernt – unter anderem als Lern- Paläste und Speicher standen. Daneben er- schaft. Sie wurden in den Armenvierteln programm für angehende Gynäkologen ka- streckt sich ein Friedhof, auf dem der Adel am Stadtrand eingesammelt, in abgelege- schiert. unter Erdhügeln („Tumuli“) ruhte. Die For- nen Tälern und Wäldern aufgespürt, und Erst im vergangenen April hob der scher bargen Kindersärge und das Skelett auch in Schulen oder Gefängnissen wurde US-Bundesstaat North Carolina das Ge- einer fast 1,90 Meter großen Frau. nach ihnen gefahndet. Nach der Festnah- setz auf, das unter bestimmten Voraus- Überragt wird das Gelände vom „Midas me kamen sie zunächst zur medizinischen setzungen Zwangssterilisationen vor- Mound“, einem ungeheuren Kegel, der Untersuchung; die Diagnose war schnell sah. Rainer Paul (bei 250 Meter Durchmesser) einst 80 Me-

134 der spiegel 5/2004 Griechischen verwandt, zu- Wann lebte Goldfinger? dem hielten sie intensiven Der phrygische König Midas wird mehrfach in antiken Kontakt nach Westen. Mi- Schriften erwähnt, allerdings mit widersprüchlichen das hatte eine Hellenin als Lebensdaten. Frau und spendete seinen Thron dem Orakel von GESCHICHTLICHE QUELLEN Delphi. Doch die Vettern aus „Chronik“ Kirchenhistoriker Eusebios REGIERUNGSZEIT dem Orient wirkten zu- lateinische Abschrift...... 742 bis 696 v.Chr. gleich dämonisch. Einmal armenische Abschrift ...... 738 bis 695 v.Chr. im Jahr begingen sie den Julius Africanus ...... Tod: 675 v.Chr. Kult der „Großen Mutter“, (christlicher Geschichtsschreiber im 3. Jahrhundert) ein orgiastisches Fest, bei dem alle Schranken fielen. Die Griechen fanden Gefal- „Ein erster Versuch, das zerborstene len an dem Sex-Karneval. Sie übernahmen Holzmobiliar wieder zusammenzubauen die Lustgöttin und nannten sie Kybele. misslang“, erzählt Simpson. Nun endlich Aber auch der phrygische Fruchtbar-

RICHARD NEAVE / UNIVERSITY OF MANCHESTER / UNIVERSITY RICHARD NEAVE hat sie die Urform eines der Tische wie- keitsgott Sabazios feierte in Hellas bald Tri- Sagenkönig Midas* derhergestellt. Ihr Urteil zum Design: umphe. Gleichsam aus der Tiefe des Ostens Riesengrab wie die Pyramide des Cheops „Fremd und phantastisch“. kam der Trunkenbold angereist und erhielt Neben der edlen Intarsie lag das Gerip- einen neuen Namen: Dionysos. ter in die Höhe ragte. „Fast zwei Millionen pe eines 60- bis 65-jährigen Mannes Sogar die Kopfbedeckungen im Midas- Kubikmeter Erde“ seien aufgetürmt wor- (Größe: 1,59 Meter). Kriminalisten gelang Land gemahnen ans Triebhafte. Die Astro- den, erklärt die Forscherin Anja Eckert. es, die Gesichtszüge des Toten zu ermitteln. nomen dort trugen Mützen wie die Zum Vergleich: die Cheopspyramide hat Wie sonst bei Mord- und Brandopfern leg- Schlümpfe. Es waren gegerbte Hodensäcke 2,6 Millionen Kubikmeter Volumen. ten sie schichtweise Muskeln und Haut auf von Stieren samt umgebendem Fell, deren Wie das Schattenvolk der Phryger, über den Schädelabguss. Heraus kam ein faltiger Zipfel nach vorn fiel. das kaum historische Notizen vorliegen, Herr mit wulstiger Unterlippe. Dass die Phryger dem „Wohlleben und solch ein Bauwerk erschaffen konnte, ist Aber ist das wirklich Midas? Der Leiter Luxus“ (Eckert) zugeneigt waren, belegen einstweilen ungeklärt. des C14-Labors der Heidelberger Akade- Aber auch die Totenkammer wirft Fra- mie der Wissenschaften, Bernd Kromer, Ankyra (Ankara) gen auf. Wie ein Blockhaus ist sie mit 180 hegt Zweifel. Er konnte zeigen, dass die Troja Stämmen von Zedern, Pinien und Ahorn Balken aus dem Riesengrab zwischen 744 Midaion Gordion Hattusa versteift. Als die Amerikaner die Holzgruft und 733 vor Christus gefällt wurden. In von der Seite anstachen, fiel ihnen reichlich dem Tumulus lag also womöglich ein Vor- PHRYGISCHES REICH Beute zu. 170 Bronzetöpfe und Kessel, gänger des Sagenkönigs. Milet Schmuck, Gürtel und Kleidung wurden ge- Der Faszination tut das keinen Abbruch. REICH DER borgen und jede Menge kaputte Möbel, dar- Aus Sicht der Griechen waren die Phryger ASSYRER unter zwei Stühle, ein Bett und neun Tische. (die wohl um 1100 vor Christus vom Bal- Mittelmeer kan Richtung Kleinasien einwanderten) Zypern Ugarit * Forensische Gesichts-Rekonstruktion. entfernte Brüder. Ihre Schrift war dem 0 200 km

weitere Funde aus dem „Midas Mound“. Im Grab lag auch jede Menge Essgeschirr – 13 Kessel, 2 Kellen, 115 Schalen. Die For- scher nehmen an, dass die Trauernden im Schein von Fackeln in der Erdpyramide ein Schlemmermahl abhielten. Spektralanalysen der Grabgefäße er- brachten weitere Details: Die Gäste schmausten mit Honig bestrichenes Zie- genfleisch. Dazu gab es Schaf, geschmort mit Linsen und Fenchel. Weinsalze und Bienenwachs am Boden der Becher deuten darauf hin, dass die Runde einen Punsch aus Bier, Wein und Met trank (Alkoholge- halt: etwa zehn Prozent). Nur die Identität des dort bestatteten Königs bleibt ungewiss. Nicht eine einzige Inschrift fand sich in der Totenkammer, auch kein Hinweis auf seinen Rang oder Namen. Merkwürdig auch: Das Grab war voll- gestopft mit feinsten Hölzern, Bronze, Keramik, Edelsteinen und kostbaren Ge- Midas-Tisch wändern. Ein Material aber fehlt völlig:

ANKARA MUSEUM / NEXUS ANKARA Möbel für den Leichenschmaus Gold. Matthias Schulz 135 Szene Kultur

SPEKTAKEL Sakraler Kitsch ournalisten und Kameras zu- Jhauf waren vergangenen Don- nerstag vor der Friedenskirche in Bremen zu bestaunen: Drinnen im Gotteshaus führte der österreichi- sche Regisseur Johann Kresnik, katholisch erzogener Atheist, sei- ne Version der „Zehn Gebote“ auf – und durfte sich dank des Skan- dal-Radaus, den vor allem die „Bild“-Zeitung vor der Premiere (die ursprünglich im Bremer Dom stattfinden sollte) inszeniert hatte, endlich wieder großer Aufmerk- samkeit erfreuen. Die Provoka-

tions-Kunst des 64-jährigen blieb / AP JOERG SARBACH jedoch mau: Rundherum um eine Kaufmann in „Die zehn Gebote“ wacklige Geschichte, in der es ei- nen schwarzen Ersatzchristus (gespielt vom gerade nach wider- nackte Damen flicken deutsche Fahnen, ein Kinderchor plärrt, rufenem Mordgeständnis aus der Haft entlassenen Schauspieler und eine nackte blonde Eva bietet ihre Rückenansicht über Günther Kaufmann) in die Kirche verschlägt, zeigte Kresnik flackernden Kerzen dar – dazu labert man gegens Kapital und sakralen Kitsch. Zwei Sängerinnen schmettern Arien, sechs für Nächstenliebe. Ein frommer Sturm im Weihwasserglas.

ÜBERSETZUNGEN LEGENDEN Basilikum auf der Brücke Engelchen macht weiter ein anderes Buch hat das westliche Bild vom Orient so ge- u Beginn ihrer Karriere Kprägt wie „Tausendundeine Nacht“. Nun hat die Orienta- Ztraten sie als Begleitband listin Claudia Ott „Tausendundeine Nacht“ neu ins Deutsche von Roy Black auf – doch übertragen – erstmals vollständig nach dem ältesten bekannten dann machten sie Ernst mit Manuskript aus dem 15. Jahrhundert. Während frühere Über- der Kunst: „Das ist eine Wun- setzer aus Scheherazades Geschichten oft artige Kindermär- derband“, jubelte der Regis- chen machten, bewahrt Ott viel vom Charakter der arabischen seur Michael Verhoeven, als Vorlage. Derbe Umgangssprache gibt sie als solche wieder, Ge- ihm die Nürnberger Rock- dichte übersetzt sie, wo möglich, in arabischen Metren. Selbst gruppe Improved Sound Limi- wo frühere Ausgaben die ted um 1970 Filmmusik gelie- seltene, dafür aber hand- fert hatte. Der Name, auf feste Erotik verschleier- Cover von M. M. Prechtl (1971) Deutsch etwa „Gesellschaft ten, wird sie so deutlich für verbesserten Klang“, war wie das Original: „Es ist ihr Programm: Aus Mersey-Beat, Country-Rock und etwas Bob deine Vagina“, sagt in Dylan bastelte die Band um Axel Linstädt Songs, die trotz dieser der 31. Nacht ein Jüng- Anleihen durchaus eigenständig gerieten – zwischen 1969 und ling zu seiner Gespielin, 1976 auf vier Alben: „Engelchen macht weiter – hoppe-hoppe die ihre Scham mit der Reiter“, „Improved Sound Limited“, „Catch a Singing Bird on Hand bedeckt. Die spielt the Road“ und „Rathbone Hotel“. Jahrzehntelang musste man die Entrüstete: „Yoh! einen Glücksgriff auf dem Flohmarkt tun, um an eine LP zu Schäm dich! Es heißt: kommen – oder neuerdings Unsummen bei Internet-Auktionen das Basilikum, das auf bieten. Die Neuveröffentlichung der Werke von Improved den Brücken sprießt“ – Sound Limited auf fünf CDs ist jetzt mit dem Sampler „The und vernascht den Jüng- Final Foreword“ abgeschlossen worden. Zum ersten Mal über- ling bald darauf. „Tau- haupt auf Tonträger: der traumhafte Soundtrack zu Wim Wen- sendundeine Nacht“ er- ders’ Roadmovie „Im Lauf der Zeit“ (1976). Ohne die Musik der scheint am 5. Februar im Band, so Wenders, hätte „das innerdeutsche Grenzgebiet“ im „Tausendundeine Nacht“-Titel Verlag C. H. Beck. Film „nicht wie ein abgelegenes Stück Amerika“ ausgesehen.

der spiegel 5/2004 137 Szene

LITERATUR Nobler Zeitzeuge erstörter Schuljunge in Viersen, Kri- Vtiker und Erzähler in Berlin, Feuille- tonist in Hamburg und Kulturchef beim Hessischen Rundfunk – das sind Statio- nen im Leben von Adolf Frisé (1910 bis 2003). Doch wer dieser ruhige, unerhört sensible Mann wirklich war, offenbaren erst jetzt seine hinterlassenen, leider unvollendeten Memoiren: ein Kind, das vom Vater, dem Kriegsheimkehrer, re- gelmäßig geohrfeigt wird; ein Junge, der erst nach Trennung der Eltern erfährt, dass sein leiblicher Vater ein ganz ande- rer war; ein Journalist und bescheidener Interviewer, der gerade leidlich Fuß ge- fasst hat, als der nächste Weltkrieg her- einbricht (der Sold wird ironischerweise sein „erstes gesichertes“ Einkommen); ein Soldat, der den Krieg in endlosen Fahrten von Front zu Front, aber auch in Jan-Steen-Gemälde „Die verkehrte Welt“ (1663) einer grauenvollen Massenerschießung AUSSTELLUNGEN von Russen erlebt; ein treuer Liebender, der seine kränkelnde Kunstgenuss, feucht-fröhlich Eva, das „Sorgen- kind“, bis zu ihrem ie reagiert ein Museum auf rückläufige Besucherzahlen? Mit Marketing! In die Tod betreut („Uns WHamburger Kunsthalle kamen im vergangenen Jahr, auch wegen des heißen verband, dass wir uns Sommers, nur noch 272829 Kunstinteressierte, 15,7 Prozent weniger als im Vor- kannten“). jahr – 41,3 Prozent weniger als 1998. Nun will die ehrwürdige Institution Touristen Frisés größte Leistung, die Edition der möglichst scharenweise mit einem neuen Preissystem und drolligen Plakaten ins Werke, Briefe und Tagebücher Robert Musils, ergibt in den knappen Skizzen gerade mal ein paar Seiten. Selbst an die prägende Begegnung mit Musil weiß sich Frisé in ehrlicher Rückschau nur ZEITGESCHICHTE schattenhaft zu erinnern. Um so ein- drucksvoller gelingen ihm Momentauf- „Stichproben“ nahmen vieler Zeitgenossen, vom mon- dänen Mitschüler Gustav René Hocke Der Schriftsteller und Tagebuch-Spe- über den ärztlich kühlen, doch im Brief- zialist Walter Kempowski, 74 („Das wechsel rührend besorgten Dichter Echolot“), über sein Gutachten zur Gottfried Benn bis zum rätselhaften Kat- Authentizität des Anonyma-Tage- harer-Forscher, Gralssucher, SS-Mann buchs, das die Basis des umstrittenen und Bergopfer Otto Rahn. Es war Frisé, Bestsellers „Eine Frau in Berlin“ ist

der eines Nachkriegstages den Frankfur- BILDERDIENST / ULLSTEIN POKLEKOWSKI ter Groß-Intellektuellen Theodor W. SPIEGEL: Herr Kempowski, Sie haben in Kempowski Adorno auf einen schreibgewandten Ihrem Archiv Hunderte von Tagebüchern jungen Soziologen namens Jürgen Ha- gesammelt. Gibt Ihnen das Sicherheit Kempowski: Die Nachlassverwalterin, bermas hinwies – so wird mancher Hin- genug, um ein Gutachten über das Tage- Frau Marek, und ein Eichborn-Lektor weis zur Entdeckung in einem Buch, das buch „Eine Frau in Berlin“ abzugeben? besuchten mich. Das handschriftliche vorführt, wie lehrreich Zeitzeugenschaft Kempowski: Ich kenne mich mit der Ma- Tagebuch trug alle Merkmale der sich äußern kann. Sprachlich von nobler terie aus. Und dass ein Tagebuch vor der Authentizität. Aber letzte Sicherheit Sorgfalt, manchmal bis zur Einsilbigkeit Publikation bearbeitet wird, wie in die- gibt es nie – denken Sie nur, wie viele diskret und doch ohne Scheu vor dem sem Fall, ist nicht selten. Das hat es in Fachleute sich bei den angeblichen Zweifelhaften des Lebens, zeigt der der Literaturgeschichte oft gegeben: bei Hitler-Tagebüchern geirrt haben. Das große Vermittler noch postum, was das Max Frisch, Ernst Jünger, André Gide. Typoskript stammt aus der unmittel- heißt: Treue zu sich selbst. SPIEGEL: Die Frage war aber, wie ver- baren Nachkriegszeit, es sind gut 120 lässlich die Edition der „Frau in Berlin“ einzeilig und eng beschriebene Seiten. ist. Sie sind der erste Außenstehende, Ich habe Stichproben gemacht: Es Adolf Frisé: „Wir leben immer mehrere Leben. Erin- nerungen“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 256 Seiten; der Einsicht in das Originaltagebuch und basiert auf dem ursprünglichen Tage- 19,90 Euro. die Abschrift nehmen konnte. buch.

138 der spiegel 5/2004 Szene

LITERATUR Nobler Zeitzeuge erstörter Schuljunge in Viersen, Kri- Vtiker und Erzähler in Berlin, Feuille- tonist in Hamburg und Kulturchef beim Hessischen Rundfunk – das sind Statio- nen im Leben von Adolf Frisé (1910 bis 2003). Doch wer dieser ruhige, unerhört sensible Mann wirklich war, offenbaren erst jetzt seine hinterlassenen, leider unvollendeten Memoiren: ein Kind, das vom Vater, dem Kriegsheimkehrer, re- gelmäßig geohrfeigt wird; ein Junge, der erst nach Trennung der Eltern erfährt, dass sein leiblicher Vater ein ganz ande- rer war; ein Journalist und bescheidener Interviewer, der gerade leidlich Fuß ge- fasst hat, als der nächste Weltkrieg her- einbricht (der Sold wird ironischerweise sein „erstes gesichertes“ Einkommen); ein Soldat, der den Krieg in endlosen Fahrten von Front zu Front, aber auch in Jan-Steen-Gemälde „Die verkehrte Welt“ (1663) einer grauenvollen Massenerschießung AUSSTELLUNGEN von Russen erlebt; ein treuer Liebender, der seine kränkelnde Kunstgenuss, feucht-fröhlich Eva, das „Sorgen- kind“, bis zu ihrem ie reagiert ein Museum auf rückläufige Besucherzahlen? Mit Marketing! In die Tod betreut („Uns WHamburger Kunsthalle kamen im vergangenen Jahr, auch wegen des heißen verband, dass wir uns Sommers, nur noch 272829 Kunstinteressierte, 15,7 Prozent weniger als im Vor- kannten“). jahr – 41,3 Prozent weniger als 1998. Nun will die ehrwürdige Institution Touristen Frisés größte Leistung, die Edition der möglichst scharenweise mit einem neuen Preissystem und drolligen Plakaten ins Werke, Briefe und Tagebücher Robert Musils, ergibt in den knappen Skizzen gerade mal ein paar Seiten. Selbst an die prägende Begegnung mit Musil weiß sich Frisé in ehrlicher Rückschau nur ZEITGESCHICHTE schattenhaft zu erinnern. Um so ein- drucksvoller gelingen ihm Momentauf- „Stichproben“ nahmen vieler Zeitgenossen, vom mon- dänen Mitschüler Gustav René Hocke Der Schriftsteller und Tagebuch-Spe- über den ärztlich kühlen, doch im Brief- zialist Walter Kempowski, 74 („Das wechsel rührend besorgten Dichter Echolot“), über sein Gutachten zur Gottfried Benn bis zum rätselhaften Kat- Authentizität des Anonyma-Tage- harer-Forscher, Gralssucher, SS-Mann buchs, das die Basis des umstrittenen und Bergopfer Otto Rahn. Es war Frisé, Bestsellers „Eine Frau in Berlin“ ist

der eines Nachkriegstages den Frankfur- BILDERDIENST / ULLSTEIN POKLEKOWSKI ter Groß-Intellektuellen Theodor W. SPIEGEL: Herr Kempowski, Sie haben in Kempowski Adorno auf einen schreibgewandten Ihrem Archiv Hunderte von Tagebüchern jungen Soziologen namens Jürgen Ha- gesammelt. Gibt Ihnen das Sicherheit Kempowski: Die Nachlassverwalterin, bermas hinwies – so wird mancher Hin- genug, um ein Gutachten über das Tage- Frau Marek, und ein Eichborn-Lektor weis zur Entdeckung in einem Buch, das buch „Eine Frau in Berlin“ abzugeben? besuchten mich. Das handschriftliche vorführt, wie lehrreich Zeitzeugenschaft Kempowski: Ich kenne mich mit der Ma- Tagebuch trug alle Merkmale der sich äußern kann. Sprachlich von nobler terie aus. Und dass ein Tagebuch vor der Authentizität. Aber letzte Sicherheit Sorgfalt, manchmal bis zur Einsilbigkeit Publikation bearbeitet wird, wie in die- gibt es nie – denken Sie nur, wie viele diskret und doch ohne Scheu vor dem sem Fall, ist nicht selten. Das hat es in Fachleute sich bei den angeblichen Zweifelhaften des Lebens, zeigt der der Literaturgeschichte oft gegeben: bei Hitler-Tagebüchern geirrt haben. Das große Vermittler noch postum, was das Max Frisch, Ernst Jünger, André Gide. Typoskript stammt aus der unmittel- heißt: Treue zu sich selbst. SPIEGEL: Die Frage war aber, wie ver- baren Nachkriegszeit, es sind gut 120 lässlich die Edition der „Frau in Berlin“ einzeilig und eng beschriebene Seiten. ist. Sie sind der erste Außenstehende, Ich habe Stichproben gemacht: Es Adolf Frisé: „Wir leben immer mehrere Leben. Erin- nerungen“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 256 Seiten; der Einsicht in das Originaltagebuch und basiert auf dem ursprünglichen Tage- 19,90 Euro. die Abschrift nehmen konnte. buch.

138 der spiegel 5/2004 Kultur

Haus locken. Außerdem Kino in Kürze eröffnet Kunsthallen-Chef Uwe Schneede, 65, am kom- menden Wochenende eine zusätzliche Ausstellungshalle und darin eine viel verspre- chende Schau. Unter dem frohgemut feuchten Motto „Vergnügliches Leben – Ver- borgene Lust“ werden defti- ge Gesellschaftsszenen aus der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts präsen- tiert (bis 16. Mai). Die „Fröh- liche Gesellschaft“ eines Wil- lem Buytewech oder „Das Gartenfest“ von Dirck Hals

sollen Lust auf mehr ma- TRISTAR COLUMBIA chen: Opulenter als die Aus- Beckinsale, Bale in „Laurel Canyon“ stellung, zu der mehr als hundert Veranstaltungen an- „Laurel Canyon“ handelt von dem jungen Paar Alex (Kate Beckinsale) und Sam geboten werden, wirkt das (Christian Bale), das nach Los Angeles zieht und dort einen heilsamen Kulturschock

KUNSTHISTORISCHES MUSEUM, GEMÄLDEGALERIE WIEN MUSEUM, GEMÄLDEGALERIE KUNSTHISTORISCHES Begleitprogramm, das den erlebt. Denn im Hause von Sams flotter Hippie-Mutter (Frances McDormand), in guten Geschmack zungen- das sie sich einquartieren, finden sie statt der erhofften Ruhe eine Rockband vor, fertig interpretiert: Wer will, die gerade an einer neuen Platte arbeitet. Mit Charme und Witz erzählt Regisseu- kann sich beispielsweise einer Wein- rin Lisa Cholodenko von einem Treffen der Generationen unter umgekehrten Vor- probe im Museum oder einem „kuli- zeichen: Die Kinder lernen von ihren Eltern, sich gehen und ihren Gefühlen frei- narischen Abend“ in einem nahen en Lauf zu lassen. Luxushotel (und in Anwesenheit einer Kunstexpertin) anschließen. Die Hoch- „Samba in Mettmann“. Drei brasilianische Mädels verirren kultur als Tischkultur: Die Kunst kommt sich ins nordrhein-westfälische Provinzkaff Mettmann, ohne zusätzliche Genussmittel nicht verwirren ziemlich viele Menschen und landen vor dem mehr aus. Doch die haben, das wie- Traualtar. Diese an sich tragische Geschichte in die Höhen derum beweisen die Bilder, schon den einer Komödie zu hieven gelingt auch Hape Kerkeling alten Holländern das Leben versüßt. nicht, der in dem Film von Regisseur Angelo Colagrossi als Drehbuchautor und Hauptdarsteller wirkt. Abgestandene Witze, ausgewalzte Klischees und mäßig präsente Dar- steller machen die Klamotte zur cineastischen Eintagsflie- ge. Einzig Dauer-Beau Sky Du Mont überrascht: Zurecht-

SPIEGEL: Aber kann man sicher sein, gemacht als Spießer, ist er zwar kaum wiederzuerkennen, TOBIS wer es getippt, also wer die Sache aus- gewinnt aber stark an schauspielerischem Profil. Szene aus „Samba …“ geschmückt hat? Kempowski: Nein, aber warum sollte „Deep Blue“ lässt den Zuschauer eintauchen wie nie zuvor in die grandiose, bizarre es die Tagebuchautorin nicht selbst Welt der Ozeane, in einen nassen Kosmos des Fressens und Gefressenwerdens: Ein gewesen sein? Es ist doch inzwischen Eisbär auf Waljagd, leuchtende Tiefseegeschöpfe, die blitzend Beute locken, Tausende bekannt, dass sie Journalistin war. sich wie synchron bewegende winzige Sardinen, immerzu verfolgt von Raubfischen. SPIEGEL: Wie viel Zeit hatten Sie zur Be- Gezeigt wird die gigantische, nächtliche Migration Millionen verschiedenster Lebe- gutachtung? Gab es ein Honorar? wesen, die zur Nahrungssuche aus der Tiefe in flachere Wasserschichten schwimmen, Kempowski: Einige Stunden, ein Hono- der Meeresboden mit seinen heißen Quellen in 5000 Meter Tiefe, den nur eine auto- rar habe ich natürlich nicht erhalten. matische Kamera heil er- Ich hatte die Hoffnung, man würde mir reichen kann. Drei Welt- die Tagebücher für mein Archiv über- meere, eisig oder warm, lassen. „Hier ist das doch am besten sieben Kilometer Filmma- aufgehoben“, habe ich gesagt. Aber terial und fünf Jahre Dreh- nicht einmal eine Fotokopie wollte man arbeit brauchten die BBC- mir gönnen. Vielleicht kommt das ja Dokumentarfilmer Ala- noch. stair Fothergill und Andy SPIEGEL: Nun wird von der „Neuen Zür- Byatt für dieses magische cher Zeitung“ Frau Marek damit zitiert, Seestück mit Musik. Die es habe zwischen dem Typoskript und wurde komponiert von der Buchausgabe noch eine Zwischen- George Fenton und rau- stufe gegeben. schend eingespielt von den

Kempowski: Das ist sehr merkwürdig. FILMVERLEIH KINOWELT Berliner Philharmonikern. Wenn es die wirklich gibt, hätte man mir das unbedingt sagen müssen. Das „Deep Blue“-Aufnahme wäre sonst ein Vertrauensbruch.

der spiegel 5/2004 139 Kultur

Haus locken. Außerdem Kino in Kürze eröffnet Kunsthallen-Chef Uwe Schneede, 65, am kom- menden Wochenende eine zusätzliche Ausstellungshalle und darin eine viel verspre- chende Schau. Unter dem frohgemut feuchten Motto „Vergnügliches Leben – Ver- borgene Lust“ werden defti- ge Gesellschaftsszenen aus der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts präsen- tiert (bis 16. Mai). Die „Fröh- liche Gesellschaft“ eines Wil- lem Buytewech oder „Das Gartenfest“ von Dirck Hals

sollen Lust auf mehr ma- TRISTAR COLUMBIA chen: Opulenter als die Aus- Beckinsale, Bale in „Laurel Canyon“ stellung, zu der mehr als hundert Veranstaltungen an- „Laurel Canyon“ handelt von dem jungen Paar Alex (Kate Beckinsale) und Sam geboten werden, wirkt das (Christian Bale), das nach Los Angeles zieht und dort einen heilsamen Kulturschock

KUNSTHISTORISCHES MUSEUM, GEMÄLDEGALERIE WIEN MUSEUM, GEMÄLDEGALERIE KUNSTHISTORISCHES Begleitprogramm, das den erlebt. Denn im Hause von Sams flotter Hippie-Mutter (Frances McDormand), in guten Geschmack zungen- das sie sich einquartieren, finden sie statt der erhofften Ruhe eine Rockband vor, fertig interpretiert: Wer will, die gerade an einer neuen Platte arbeitet. Mit Charme und Witz erzählt Regisseu- kann sich beispielsweise einer Wein- rin Lisa Cholodenko von einem Treffen der Generationen unter umgekehrten Vor- probe im Museum oder einem „kuli- zeichen: Die Kinder lernen von ihren Eltern, sich gehen und ihren Gefühlen frei- narischen Abend“ in einem nahen en Lauf zu lassen. Luxushotel (und in Anwesenheit einer Kunstexpertin) anschließen. Die Hoch- „Samba in Mettmann“. Drei brasilianische Mädels verirren kultur als Tischkultur: Die Kunst kommt sich ins nordrhein-westfälische Provinzkaff Mettmann, ohne zusätzliche Genussmittel nicht verwirren ziemlich viele Menschen und landen vor dem mehr aus. Doch die haben, das wie- Traualtar. Diese an sich tragische Geschichte in die Höhen derum beweisen die Bilder, schon den einer Komödie zu hieven gelingt auch Hape Kerkeling alten Holländern das Leben versüßt. nicht, der in dem Film von Regisseur Angelo Colagrossi als Drehbuchautor und Hauptdarsteller wirkt. Abgestandene Witze, ausgewalzte Klischees und mäßig präsente Dar- steller machen die Klamotte zur cineastischen Eintagsflie- ge. Einzig Dauer-Beau Sky Du Mont überrascht: Zurecht-

SPIEGEL: Aber kann man sicher sein, gemacht als Spießer, ist er zwar kaum wiederzuerkennen, TOBIS wer es getippt, also wer die Sache aus- gewinnt aber stark an schauspielerischem Profil. Szene aus „Samba …“ geschmückt hat? Kempowski: Nein, aber warum sollte „Deep Blue“ lässt den Zuschauer eintauchen wie nie zuvor in die grandiose, bizarre es die Tagebuchautorin nicht selbst Welt der Ozeane, in einen nassen Kosmos des Fressens und Gefressenwerdens: Ein gewesen sein? Es ist doch inzwischen Eisbär auf Waljagd, leuchtende Tiefseegeschöpfe, die blitzend Beute locken, Tausende bekannt, dass sie Journalistin war. sich wie synchron bewegende winzige Sardinen, immerzu verfolgt von Raubfischen. SPIEGEL: Wie viel Zeit hatten Sie zur Be- Gezeigt wird die gigantische, nächtliche Migration Millionen verschiedenster Lebe- gutachtung? Gab es ein Honorar? wesen, die zur Nahrungssuche aus der Tiefe in flachere Wasserschichten schwimmen, Kempowski: Einige Stunden, ein Hono- der Meeresboden mit seinen heißen Quellen in 5000 Meter Tiefe, den nur eine auto- rar habe ich natürlich nicht erhalten. matische Kamera heil er- Ich hatte die Hoffnung, man würde mir reichen kann. Drei Welt- die Tagebücher für mein Archiv über- meere, eisig oder warm, lassen. „Hier ist das doch am besten sieben Kilometer Filmma- aufgehoben“, habe ich gesagt. Aber terial und fünf Jahre Dreh- nicht einmal eine Fotokopie wollte man arbeit brauchten die BBC- mir gönnen. Vielleicht kommt das ja Dokumentarfilmer Ala- noch. stair Fothergill und Andy SPIEGEL: Nun wird von der „Neuen Zür- Byatt für dieses magische cher Zeitung“ Frau Marek damit zitiert, Seestück mit Musik. Die es habe zwischen dem Typoskript und wurde komponiert von der Buchausgabe noch eine Zwischen- George Fenton und rau- stufe gegeben. schend eingespielt von den

Kempowski: Das ist sehr merkwürdig. FILMVERLEIH KINOWELT Berliner Philharmonikern. Wenn es die wirklich gibt, hätte man mir das unbedingt sagen müssen. Das „Deep Blue“-Aufnahme wäre sonst ein Vertrauensbruch.

der spiegel 5/2004 139 Kultur

KÜNSTLER Zurück zu den Sternen Julian Schnabel, Maler haushoher Bilder, war in den achtziger Jahren ein Liebling des Kunstmarktes, in den Neunzigern wurde er dessen größter Buhmann. Steht er jetzt vor seinem Comeback?

ach zehn Jahren war die Party zu dratmeter große – Bilder malte, die groß- Ende. Ende 1990 erwachte die New formatige Preise bis zu einer Million Dollar NYorker Kunstszene aus einem tiefen erzielten. Was ihm den Spitznamen „J.R. Dollarrausch: Während lange Zeit für Bil- Ewing der Kunst“ eingebracht hatte. der und Objekte immer schneller immer Doch aus Schnabel, dem Midas und mehr Geld geflossen war, drohte Künst- Liebling der Branche, wurde Schnabel, der lern und Galeristen nun plötzlich eine Buhmann, die Personifikation dieser gera- „neue Bescheidenheit“, wie es hieß. Aus dezu hinterhältigen Flaute. Tatsächlich war der Traum. Und im Nu wirkte die kraft- 1990 eines seiner Werke bei einer Auktion protzende, selbstverliebte Kunst der acht- trotz des Schnäppchenschätzwertes von ziger Jahre so überholt wie der Begriff 350000 Dollar liegen geblieben. Der Han- „Yuppie“ oder die pastellfarbenen Anzüge del zeigte sich erschüttert. Etliche Samm- der TV-Cops in „Miami Vice“. ler, allen voran der britische Kunstinvestor 1990 war das Jahr einer mittelschweren Charles Saatchi, stießen bereits erworbene Ölkrise, der Ausbruch eines Golfkriegs Werke aus ihren Gemäldeportfolios ab. eine Identifikationsfigur, die seit Jahrzehn- zeichnete sich ab, und die Talfahrt der ja- „Julian Schnabel ist ein Paradebeispiel für ten mit absoluter Freiheit ihren Weg geht“ panischen Wirtschaft begann. Zugleich den Absturz aus Himmelshöhen“, bilan- – verkündet fast feierlich der Katalog einer brachen die Umsätze im internationalen zierte die „Neue Zürcher Zeitung“. Schau, die in dieser Woche beginnt und die Kunsthandel ein. Auf einmal war von einer Ikarus Schnabel versuchte sich trotzig als so etwas wie die Rehabilitierung eines lan- „absolut katastrophalen Lage“ die Rede. Filmemacher, arbeitete mit ein paar Holly- ge verkannten Superstars leisten will: Die Die Szenen, die sich auf dem Kunst- wood-Größen zusammen und zeigte sich Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main markt abspielten, wurden vom US-Magazin glücklich, dass ein paar Kritiker sein Regie- zeigt mit 50 Bildern einen Überblick über „Time“ unter der Überschrift „The Great debüt „Basquiat“ (1996) lobten. Viele der Schnabels bisheriges Schaffen*. Massacre“ zusammengefasst. Als promi- großen Museen, die ihn früher hofiert hat- nentestes Opfer galt bald der schillerndste ten, straften ihn längst mit Nichtbeachtung. * „Julian Schnabel – Malerei 1978–2003“. 29. Januar bis Malerstar der achtziger Jahre: Julian Schna- Das könnte sich ändern: „Schnabel ist nicht 25. April, anschließend in Madrid und Neapel. Katalog bel, der Mann, der riesige – bis zu 40 Qua- nur ein herausragender Maler, sondern auch im Hatje Cantz Verlag, Ostfildern; 176 Seiten; 24,90 Euro. PRIVATSAMMLUNG PRIVATSAMMLUNG PRIVATSAMMLUNG „Ohne Titel“ (1993) „Großes Mädchen ohne Augen“ (2001) „Joe Dante“ (1988) Schnabel-Gemälde: Bunte Rätselhaftigkeit, von der man nie weiß, ob sie mystisch oder belanglos sein wollte

140 der spiegel 5/2004 PAMELA BARKENTIN PAMELA Künstler Schnabel (in Mexiko 1986, vor einem seiner auf Planen gemalten Bilder): Kalkulierte Posen eines Vorzeige-Wilden

Immerhin handelt es sich in Deutsch- je wurde die Qualität von junger Kunst an Duktus des Genialischen übte, seinen Stil land um die erste große Präsentation von deren Marktwert gemessen, was günstig aber schnell wechselte, der abstrakt, dann Schnabels Arbeiten seit 1987. Der Künstler war für Schnabel. Seinerzeit sei er „einer wieder figürlich malte (manchmal auf ein habe eine „Randposition jenseits des Ak- der bestbezahlten Künstler“ seiner Genera- und demselben Bild), und das auch auf Ab- tualitätsdrucks des Ausstellungsbetriebs“ tion gewesen, prahlt eine neue, vom Künst- deckplanen von Armeelastwagen. bezogen: So nett umschreiben die Kata- ler selbst mitgestaltete Monografie**. Gerade weil er sich nicht auf einen Stil logautoren den Kalten Krieg zwischen Es waren wohl nicht wenige Vertreter der festgelegt habe und unberechenbar gewe- Schnabel und der Kunstszene. Er sei glück- „new rich“, die in seine manchmal haus- sen sei – so heißt es nun in Frankfurt –, lich darüber, dass mit den Frankfurtern hohen Bilder investierten. Die New Econo- habe Schnabel eigentlich gegen den Kunst- eine „junge Generation von Kunst-Enthu- my war noch nicht erfunden, die Malerei markt gearbeitet. Nur: Der Kunstmarkt hat siasten auf mein Werk blickt“, bedankt sich der Neuen Wilden schon. Und Schnabel galt das gar nicht gemerkt. Und in ihrem hüb- der Maler. als Vorzeige-Wilder, als jemand, der sich im schen Pathos bleiben sich Schnabels Wer- Dabei will er partout nicht ke und Werkgruppen allemal ähnlich. Sie vom Glanz vergangener Zeiten alle huldigen einer gehobenen Gefällig- zehren: „Ich bin doch kein Sän- keit – sie sollte sich als das ästhetische Ideal ger, der nach Frankfurt kommt einer postmodernen Ära herausstellen. und dort seine Achtziger-Jahre- Zu Beginn seiner Karriere hatte der Hits vorträgt.“ Jedoch: Ohne die Künstler viel Geschirr zerdeppert und die Erinnerung an seinen „kome- Bruchstücke als expressive Scherbenhau- tenhaften Aufstieg“ wäre die fen auf Leinwände und Planen fixiert. Die- Frankfurter Schau nur halb so se frühen, oft zusätzlich bemalten „Teller- wichtig und interessant. Das bilder“ wurden zu seinem Markenzeichen. wissen die Veranstalter, die ihre Die New Yorker Kunstszene, gelangweilt Schau aus gutem Grund im Jahr von der Diktatur der spaßfeindlichen Sieb- 1978 beginnen lassen. ziger-Jahre-Minimalisten und Konzept- Manches an dem Jahrzehnt künstler, hatte sich über Nacht begeistert danach mutet heute kurios an. für Schnabels bunte Rätselhaftigkeit, von Begriffe wie „Shootingstar“ und der man nie wusste, ob sie ironisch, mys- „Boom“ gehörten zu den wich- tisch oder provozierend belanglos sein tigsten Fachvokabeln selbst von wollte. Effektvoll war sie immer. Museumsdirektoren. Mehr denn Auf dem Ölgemälde „Christ Entering Chinatown“ aus dem Jahr 1980 lässt er die * Mit Javier Bardem und Johnny Depp Welt – beziehungsweise ihre chinesischen (2000).

** „Julian Schnabel“. Knesebeck Verlag, FILMVERLEIH ARSENAL Viertel – wie ein rohes, rotes Chaos er- Berlin; 384 Seiten; 75 Euro. Szene aus „Before Night Falls“*: Lob der Kritiker scheinen: Dort hinein skizzierte er ein iko-

der spiegel 5/2004 141 Kultur

Künstler kommentierte sich, sei- Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu ne Zeit und den Kunstbetrieb mit einem Revival dieser überdrehten Dekade viel Humor. Die Werke seines US- der Achtziger und ihrer Kunst kommen Kollegen lassen einen vergleich- würde. Die Spaßgesellschaft der Neunziger baren Witz vermissen, auch wenn war wohl zu verbissen und oberflächlich er Kunstmarktknüller wie van für eine über jene Jahre hinausgreifende Goghs „Sonnenblumen“ nach- Tiefenwirkung. Ihre Sensationslust wurde malte und mit seinem Extrem- mit kühlen Schockinszenierungen bedient, Impressionismus verballhornte. zum Beispiel mit den in Formaldehyd ein- Überhaupt blieb der New Yorker gelegten Tierleichen des als „Teufelskind“ Szeneliebling ein eher angepasster gefeierten Briten Damien Hirst. Revoluzzer, obwohl ihm sein Zür- Die Kunst wurde immer künstlicher, woll- cher Galerist Bruno Bischofberger te multimedial und virtuell anmuten; die bescheinigt, der Künstler habe sich Japanerin Mariko Mori spielte mit Vorliebe „mit seinem großen Mundwerk die Cyber-Fee für eine futuristisch gestimmte stets viele Feinde gemacht“. Gemeinde. Die Wohlstandskultur habe vom Seine Posen, in der Malerei und „Glück der Banalität“ gekostet, so be- auch sonst, wirkten kalkuliert und schreibt der Kunsthistoriker Wolfgang Ull- verstießen immer nur ein wenig rich den übermütigen Zustand der späten gegen den guten Geschmack. Bei neunziger Jahre. Und warnt zu Recht: Die Ausstellungseröffnungen erschien Kunst aus guten Zeiten werde in schlechten er schon mal im Pyjama. Straps- Zeiten als abstoßend empfunden. fotograf Helmut Newton durfte Das neue Jahrtausend, verunsichert

SHOOTING STAR / INTER-TOPICS STAR SHOOTING ihn im Unterhemd ablichten. Ge- durch Terror und Krieg, hält sich denn Schnabel mit Ehefrau Olatz: „Stets viele Feinde“ wiss war es übertrieben, deswe- auch lieber an zeitlose Werte und eine dis- gen gleich den „aufgedunsenen ziplinierte Sinnlichkeit: Dazu gehört eine nenhaftes Jesusgesicht, in das, wer will, Partygeist“ („FAZ“) seiner Bilder zu ver- Renaissance der Malerei, was auch deren einen erstaunten Ausdruck hineininter- spotten. Aber übertrieben war es auch, ihn halb vergessene Protagonisten von früher pretieren kann. Der Künstler, ein Bewun- zum Erneuerer der Malerei zu küren. wieder ins Rampenlicht rückt. Also auch derer neuer und alter Legenden, kritzelte Seine Bilder erscheinen tatsächlich oft Schnabel. Seine jüngsten Bilder, wie die den Namen des Kirchenrebellen Ignatius spektakulär, im Grunde aber wegen ihrer Porträts eines jungen Mädchens, kämen von Loyola auf ein schwarzes Kreuz oder Formate. Jahrelang galt großformatig als abermals allzu hübsch daher, wären sie malte Maria Callas (ähnlich wie später sei- Synonym für großartig: „Nichts ist klein in nicht so riesig und hätte er dem „Large nen Pitbull namens Zeus) als diffuses Ener- der Welt des Julian Schnabel: nicht die Bil- Girl“ nicht einen dramatisch dicken Balken giebündel. Andere Porträts, etwa von Elton der, die Preise, die Ideen oder das Ego“, quer übers Gesicht gemalt. Er habe das ge- John und wiederum aus bunten Scherben, schrieb die „Sunday Times“ einst und nann- tan, damit man auf das Gemälde und nicht lassen dagegen vermuten, er habe sich in te den Künstler ehrfurchtsvoll „Mr. Big“. auf die Augen achte, sagt Schnabel. die antike Mosaikkunst verguckt. Der hatte gerade seine „Jeep Paintings“ prä- Er profitiert nun nicht allein vom wert- Es war die Dekade des „anything goes“. sentiert, die so heißen, weil er Planen erst konservativ gewendeten Zeitgeist. Viele Andererseits: Muss nicht gerade die Stil- mit dem Geländewagen über den Asphalt Museen und Privatsammler haben allein losigkeit der experimentierfreudigen Acht- gezogen hatte, bevor er sie bemalte. schon deshalb ein großes Interesse an der ziger als ihr größtes Verdienst gelten? Der Wiederbelebung des Mythos Schnabel, heimliche Schlachtruf dieser Revolution weil in ihren Kollektionen unzählige seiner lautete: Nieder mit dem Avantgarde-Be- Bilder schlummern. Nicht nur dort. griff. Darin lag auch ihre wahre Berechti- Zu den wenigen Leihgebern der Frank- gung und Kraft. furter Schau, die namentlich genannt wer- Zuvor habe das Jahrhundert im Zehnjah- den wollen, gehören eine Galerie und ein resrhythmus einen neuen Stil, eine neue Auktionshaus: Der Handel weiß, dass mit Avantgarde erfunden, hat Jean-Christophe diesem Künstler wieder sechsstellige Dol- Ammann einmal geschrieben, der lange Jah- larbeträge verdient werden können. re das Museum Moderner Kunst in Frankfurt Zusätzliche Aufmerksamkeit dürfte dem geleitet hat und es wissen muss. Das sollte Frankfurter Revival-Projekt der Deutsch- sich dann ins Gegenteil verkehren: „Die land-Start des (vor vier Jahren gedrehten) Utopie war nicht mehr vorgegeben. Fortan Schnabel-Films „Before Night Falls“ brin- musste sie jeder selbst verkörpern.“ gen. Er beschreibt das Leben des an Aids Prompt wurde die neue Vielfalt, die Er- erkrankten kubanischen Literaten Reinal- zählfreude ohne Epochengrenzen zele- do Arenas. Die Filmstars Johnny Depp und briert, inklusive des Porno-Kitsches von Sean Penn verleihen dem exzentrischen Jeff Koons oder der Leinwand-Graffiti ei- Autorenporträt Hollywood-Glanz, wenn nes Jean-Michel Basquiat. Statt elitärer auch nur in Nebenrollen. Avantgarden, die zur Erstarrung neigten, Obgleich „Before Night Falls“ 2000 bei wurden lauter Ich-AGs und dann noch ein den Filmfestspielen in Venedig den Großen paar innere Zirkel gebildet, zu denen jeder Preis der Jury erhielt, wäre die Behaup- Zutritt hatte, der irgendwie talentiert, reich tung infam, Schnabel sei eigentlich nur oder bloß ein geistreicher Bohemien war. ein genialer Kinokünstler. Der Maler bleibt Schnabel war in seinem Element. Doch wichtiger – nicht zuletzt weil er die Cine-

fehlte ihm die ausgeprägte Ironie, die etwa PRIVATSAMMLUNG mascope-Formate seiner Leinwände so sein deutscher Altersgenosse Martin Kip- Schnabel-Bild „Porträt Olatz“ (1993) virtuos bespielt wie ein Hollywood-Re- penberger besaß. Der 1997 verstorbene Antikes Flair statt Avantgarde gisseur. Ulrike Knöfel

142 der spiegel 5/2004 UNIVERSUM Cowboy-Darsteller Costner in „Open Range“ (mit Annette Bening): „Meist sitzt den Helden der Colt viel zu locker“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Das Monster nebenan“ Der US-Regisseur und Schauspieler Kevin Costner über die Wiederkehr des Western-Genres, die Höhen und Tiefen seiner Karriere, seinen neuen Film „Open Range“ und Hollywoods Abneigung gegen Schokolade vor der Kamera

SPIEGEL: Mr. Costner, viele Kinder geben als Costner: Hollywood entdeckt überhaupt zurzeit auch außerhalb des Kinos eine ge- Berufswunsch Cowboy oder Indianer an. nichts. Hollywood lässt sich von Leuten an wisse Cowboy-Mentalität an den Tag legen? Hatten Sie auch mal solche Karrierepläne? der Nase herumführen und beherrschen, Costner: Nein, viele Entscheidungsträger Costner: Ja, ich wollte unbedingt Indianer die es zu etwas bringen wollen. Nicht in Hollywood stellen sich nur eine Frage: werden – die müssen nicht in die Schule, Hollywood wollte „Open Range“ machen Womit können wir am meisten Geld ver- dachte ich. Die Aussicht, sich einfach aufs – sondern ich. Erst ganz am Ende hat sich dienen? Western-Filme gehören in ihren Pferd setzen zu können und so weit zu rei- auch ein Studio widerstrebend mit rein- Augen nicht dazu, und Werte bedeuten de- ten, wie man will, fand ich sehr cool. ziehen lassen. nen gar nichts. Bei meinem Film ist es an- SPIEGEL: In „Der mit dem Wolf tanzt“ ha- SPIEGEL: Anscheinend wird Hollywood ge- ders: „Open Range“ hat Unterhaltungs- ben Sie einen Soldaten gespielt, der zum rade von Western-Fans regiert. Neben wert – und die Männer im Film vermitteln Indianer wurde; in Ihrem neuen Film, dem „Open Range“ starten in diesen Wochen Werte, die nicht nur in den USA gelten, Western „Open Range“, sitzen Sie jetzt als noch andere aufwendige Pferde-Opern in sondern auf der ganzen Welt verehrt wer- Cowboy im Sattel. Es dürfte nicht viele den Kinos: „The Missing“, „Hidalgo“, den: Loyalität, Freundschaft, Moral. Ihr Menschen geben, die mit solchem Auf- „Cold Mountain“. Zufall? Heldentum verdient Vertrauen. wand und vor Publikum ihre Kindheits- Costner: Diese Filme kamen alle nach mei- SPIEGEL: Darüber kann man streiten. Die träume ausleben dürfen. nem heraus – was nicht heißen soll, dass Cowboys in „Open Range“ treiben ihre Costner: Meine Träume sind dabei weniger deren Macher mir gefolgt sind. Es waren Herde über herrenloses Niemandsland, bis wichtig. Mir geht es darum, gute Ge- wohl einfach Geschichten, die diese Kolle- ein Großgrundbesitzer ihnen an die Gurgel schichten auf die Leinwand zu bringen – gen erzählen wollten. Und weil diese Kol- will. Doch am Ende, so die Botschaft, nützt über Themen, die mir etwas bedeuten, und legen im Moment im Zenit ihrer Macht ste- alle Moral nichts, wenn man nicht schnell für Menschen, die mir etwas bedeuten. hen – im Gegensatz zu mir –, konnten sie genug schießen kann. SPIEGEL: Wie kommt es, dass Hollywood ihre Stoffe durchsetzen. Costner: Waffengewalt war immer die Ant- gerade jetzt das vermeintlich altmodische SPIEGEL: Hängt die Wiederkehr des Wes- wort von Leuten, die frustiert waren – oder Western-Genre wiederentdeckt hat? terns nicht damit zusammen, dass die USA von Psychopathen, die nicht einmal die

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Frage abwarten wollten. Ich glaube, wir Costner: Ich bin Patriot, aber ich bin nicht Costner: Natürlich haben wir das recher- müssen uns endlich von der Vorstellung blind. Ich bin nicht stolz darauf, dass die chiert. Die Schokolade war so etwas wie verabschieden, dass man mit Waffen Pro- Kultur der amerikanischen Ureinwohner ein leichter Vorgeschmack der Zivilisation. bleme auf Dauer lösen kann. vom Atlantik bis zum Pazifik ausgerottet Der amerikanische Westen war damals ein SPIEGEL: Trotzdem zeigen Sie die Revolver wurde. Und dass es damals noch keine Sa- wildes Land. Überall lauerten Gefahren, schwingenden Cowboys als Helden. telliten gab, die uns dabei beobachten man konnte auf hundert verschiedene Ar- Costner: Nicht alle! Und diese Jungs sehen konnten. Aber die im Film dargestellte Zeit ten zu Tode kommen. Eine Kugel war nur sich selbst nicht als Helden. Sie haben es war eine Ära in der amerikanischen Ge- eine davon. Um zu überleben, musste man nur satt, herumgestoßen zu werden. Des- schichte, die nun mal wie geschaffen ist für sich sehr gut auskennen. Das haben die halb wehren sie sich gegen den Unter- gute Unterhaltung. meisten Western bisher völlig außer Acht drücker. So ein Verhalten wird immer hel- SPIEGEL: Auch die Cowboys in „Open Ran- gelassen. Wie oft sieht man auf der Lein- denhaft bleiben. Aber genauso finde ich ge“ dürfen ein wenig das Leben genießen. wand, dass Cowboys direkt an einem Bach es heldenhaft, wenn eine allein erziehende In einer Szene futtern sie hingebungsvoll ihr Lager aufschlagen? Die echten Cow- Mutter sich in zwei Jobs gleichzeitig ab- Schweizer Schokolade als eine Art Hen- boys wussten, dass sich bei einem Unwet- müht, um ihre Kinder durchzubringen. kersmahlzeit. John Wayne hätte sich ver- ter ein schmales Rinnsal schnell in einen SPIEGEL: Ihre Figur in „Open Range“ wird mutlich angewidert abgewandt. reißenden Strom verwandeln konnte. von der eigenen Vergangenheit gequält – Costner: John Wayne hat überhaupt sehr SPIEGEL: „Open Range“ zeigt den Westen ähnlich wie Tom Cruise in seinem aktuel- viele blöde Dinge getan. Er hat in drei oder also so, wie er wirklich war? len Film „Last Samurai“ hat auch Ihr Cow- vier großartigen Western mitgespielt, aber Costner: Ja. Die Ärztin, die von Annette boy während des amerikanischen Bürger- der Rest war Mist. Es gibt nicht viele gute Bening gespielt wird, sagt in einer Szene: kriegs Menschen getötet und leidet darun- Western. Ich habe vielleicht zehn gesehen, „Wir sehen hier nicht oft Menschen mit ter. Wo verläuft die Grenze zwischen die mir gefallen haben. Meist sitzt den Hel- Schusswunden.“ Das entspricht den Tatsa- Kriegsheld und Kriegsverbrecher? den der Colt viel zu locker. Ich kann es chen. Die Cowboys waren im Westen eine Costner: Nun, ich glaube, es gibt tausend nicht ausstehen, wenn ein Film den kürzes- kleine Minderheit. Sie zogen von Kanada Saddam Husseins in den USA. Es gibt ten Weg zur Schießerei nimmt. bis nach Mexiko, um sich ein paar Dollar zu auch tausend Saddam Husseins in Deutsch- SPIEGEL: Beruht die Schoko-Szene auf Re- verdienen und waren nirgendwo gern gese- land. Und nur unsere Verfassung und un- cherche? Gab es im Wilden Westen wirk- hen – wie Rockstars, die über das Land tin- ser Freiheitswillen verhindern, dass es sol- lich Schokolade? geln: Wenn sie in die Stadt kamen, schloss che Leute bei uns bis an die Spit- man seine Töchter weg. Man soll- ze schaffen. Vermutlich kennen te dem Zuschauer auf keinen Fall Sie sogar einen Typen in Ihrer das Gefühl geben, ein Cowboy- Nachbarschaft, der sich in ein Leben sei romantisch gewesen. Es Scheiß-Monster verwandeln wür- war hart und unerbittlich. de, wenn er das Kommando über- SPIEGEL: Und doch feiern Sie es nehmen könnte. Er würde es zu- in malerischen Bildern. lassen, dass Leute umgebracht Costner: Aber wir beschönigen werden, um mehr Macht zu nichts. Wir erzählen von Män- bekommen. Ich glaube, dieses nern, die sich wegen ein paar Rin- Monster nebenan gibt es in jeder dern duellieren. Ist das ein Zei- Generation, in jedem Jahrhun- chen von großem Mut? Oder von dert, in jedem Land. großer Dummheit? Würde man SPIEGEL: „Open Range“, aber aus dem Verhalten dieser Män- auch Bürgerkriegsfilme wie „Cold ner eine Richtschnur für politi- Mountain“ oder „Gangs of New sches Handeln ableiten, könnte York“ zeigen mit bisher unge- man sich gleich die Kugel geben wohnter Deutlichkeit, dass Ame- (simuliert das Abdrücken einer rikaner eine lange Tradition darin Pistole mit dem Zeigefinger an haben, sich gegenseitig abzu- der Schläfe). Der Film tut nicht schlachten. Sind die US-Zu- so, als hätte er Lösungen für un- schauer reif für diese Neubewer- sere heutigen Probleme parat. Die tung ihrer blutigen Historie? Lösungen, die wir selbst nicht fin- Costner: Wenn man die Wahrheit den, können uns die Cowboys

zeigt, dann ist das keine Neudefi- / WIREIMAGE.COM L. ORTEGA ALBERT schon gar nicht geben. nition. Aber mein Land ist nicht Costner, Freundin Christine Baumgartner: „Welcher Ruhm?“ SPIEGEL: Bei „Open Range“ sind gewalttätiger als eures. Euer ver- Sie Hauptdarsteller, Regisseur dammtes Land ist unglaublich ge- und Produzent in Personalunion. walttätig gewesen in seiner Ge- Kevin Costner Sind Sie ein Workaholic oder ein schichte. Und meines hat auch startete seine Karriere in Hollywood 1983 als Darsteller einer Egomane? eine schrecklich gewalttätige Ver- Leiche – doch seine Szenen überlebten den Endschnitt nicht. Costner: Weder noch. Ich versu- gangenheit; wir wurden quasi mit Bekannt wurde Costner dann im Prohibitions-Krimi „Die Unbe- che nur, die Geschichte, die ich Gewalt gegründet. Aber wenn wir stechlichen“ (1987), weltberühmt durch das mit sieben Oscars erzählen will, mit allen Mitteln die Welt betrachten: in Afrika, in ausgezeichnete Indianer-Epos „Der mit dem Wolf tanzt“ (1990), gegen Eingriffe zu schützen. In Südamerika, in Europa – jede ver- bei dem er erstmals auch Regie führte. Nach einigen spekta- „Open Range“ gibt es viele De- dammte Grenze wurde mit Blut kulären Flops seit Mitte der neunziger Jahre („Waterworld“, „The tails – wie die Schokolade –, die gezogen, von mächtigen Herr- Postman“) kehrt Costner, 49, jetzt in die Prärie zurück: Im Cow- für die Handlung nicht wichtig schern, die Leute wie uns fürs boy-Drama „Open Range“, das diese Woche in den deutschen sind, aber die Welt, in der die Fi- Kämpfen hatten. Kinos startet, erkundet Costner (Regie, Produktion, Hauptrolle) guren leben, charakterisieren. SPIEGEL: Aber Sie sind trotzdem den Wilden Westen mit dem Blick eines neugierigen Pioniers. Nur durch solche Dinge, die den stolz auf Ihr Land? Zuschauer ein vertrautes Genre

der spiegel 5/2004 145 DEFD CINETEXT „The Postman“ (1997; Regie: Kevin Costner) „Wyatt Earp“ (1994; Regie: Lawrence Kasdan) DEFD DEFD „Der mit dem Wolf tanzt“ (1990; Regie: Kevin Costner) „JFK“ (1991; Regie: Oliver Stone) Costner-Filme: „Es ist ein Verbrechen, wenn man es jedem Zuschauer recht zu machen versucht“ mit etwas anderen Augen sehen lassen, wenn sie nicht angenehm ist, bin ich gern Costner: …wollte ihn doch erst mal kein halten wir den Western am Leben. Aber hartnäckig. Studio machen. So viel zum Thema Ruhm. selbst dann, wenn nur mir ein Detail wich- SPIEGEL: Wer verlangt beim Dreh mehr Zeit Natürlich gibt es in der Branche einige, die tig ist, will ich es mir von niemandem weg- und mehr Wiederholungen: der Regisseur ihren Job nur wegen des Geldes machen. nehmen lassen. Costner oder der Schauspieler Costner? Die sagen dann: „Ich weiß, dass mein Film SPIEGEL: Klingt, als wären Sie ein Kontroll- Costner: Sicher nicht der Produzent Cost- beschissen ist. Aber er läuft wie der Teufel. freak. ner! Ich glaube, wenn ich vor der Kamera Ich komme gerade aus der Karibik zurück. Costner: Ich bin überhaupt kein Freak! Ist stehe, neige ich eher dazu, mir zu wenig Und wie geht’s dir?“ Für meinen vorletz- doch kein Verbrechen, wenn ein Film sper- Zeit und Wiederholungen einzuräumen. ten Film habe ich keinen Cent bekommen, rig ist. Ein Verbrechen ist es, wenn man es Manchmal müssen mich Freunde und enge und bei „Open Range“ habe ich mir keine jedem Zuschauer recht zu machen ver- Mitarbeiter darauf aufmerksam machen, Gage gezahlt. Aber ich kann damit leben. sucht. Lasst uns mal das rausschneiden, dass ich eine Einstellung von mir noch ein- SPIEGEL: Sie haben ja auch sehr satt ver- das gefällt den Leuten bestimmt nicht. mal drehen sollte. Ich sehe mich an mir dient. Doch als Sie einen Flop nach dem Oder das hier, das wird sie sicher verwir- selbst eben schneller satt als an jemandem anderen einstecken mussten, ging Ihnen ren. Weg damit! So wird in Hollywood ge- wie Robert Duvall, meinem Schauspiel- da je der Gedanke durch den Kopf: Die arbeitet. Aber so arbeite ich nicht. Bei partner in „Open Range“. Zuschauer wollen mich nicht mehr sehen? „Der mit dem Wolf tanzt“ hieß es: Die SPIEGEL: Sie haben mal gesagt: „Ich mag Fil- Costner: Ja, das kam schon vor. Aber ich Leute wollen nicht sehen, wie das Pferd me, aber ich mag es nicht, ein Star zu sein.“ bin viel durch die Welt gereist und immer stirbt. Und sie werden es dem Film übel Können Sie Ihren Ruhm nicht genießen? wieder auf Menschen gestoßen, denen nehmen, wenn der Wolf stirbt. Doch ich Costner: Welchen Ruhm? Obwohl dieser meine Filme viel bedeuteten – selbst jene, habe gesagt: Es bleibt so, wie es ist. Film nur 22 Millionen Dollar gekostet hat… die von der Kritik verrissen wurden und SPIEGEL: Und bei „Open Range“ … SPIEGEL: …was für Hollywood ein Spott- an der Kasse gescheitert waren. Doch bei Costner: … wollten die Leute in Hollywood preis ist… allem Auf und Ab ist es wichtig, sich nicht die Szene im Süßwarenladen nicht, sie woll- in die Tasche zu lügen. Ich habe Künstler, ten nicht, dass über Teetassen aus Porzel- denen ihre Integrität über alles ging, im- lan geredet wird. Porzellan ist in ihren Au- mer sehr geschätzt. Wenn ich sehe, wie gen nur dazu da, zerschossen zu werden. die sich verändern und am Ende nicht SPIEGEL: Ihre Beharrlichkeit legt man Ihnen mehr sie selbst sind, erfüllt mich das mit als Renitenz aus. Sorge. Ich hoffe nur, dass meine Freunde Costner: Ich bin nicht größenwahnsinnig. mich rechtzeitig darauf aufmerksam ma- Aber wenn es mir gelingt, dem Zuschauer chen, wenn etwas Ähnliches mit mir pas- eine Erfahrung zu verschaffen, von der ich sieren sollte. Bevor ich mich verändere,

glaube, dass er sie machen sollte, auch GUNDERSON GARY höre ich lieber auf. Costner (M.), SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Mr. Costner, wir danken Ihnen für * Lars-Olav Beier, Martin Wolf in einem Hotel in Paris. „Sich nicht in die Tasche lügen“ dieses Gespräch.

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Dazu und vor allem ist Sander einer der Sander lässt erst mal einen großen Schluck THEATER wenigen Stars der Berliner Gesellschaft. Mittagsbier in seine Kehle rauschen, pafft Weil ihn, wie er sagt, „Volkstheater schon seine Zigarette und sagt dann: „Ich werde Das Wunder von immer interessiert hat“, flaniert er bei na- schon dafür sorgen, dass sie nicht aussieht hezu jeder hauptstädtischen Film-, Mode- wie die Rolle meines Lebens.“ oder sonstwie Society-Gala mit zotte- Und dann erzählt er doch, wer alles liger Freundlichkeit über den roten Tep- schon fand, dass er, gerade er, unbedingt Köpenick pich; gibt er vor jedem dahergelaufenen Zuckmayers Hauptmann spielen müsse: Der berühmte Berliner Fotografen den Beschützer-Buddy seiner Vom großen Regisseur Rudolf Noelte über ebenso lärmenden wie halbbegabten Stief- allerlei liebe Kollegen bis zum berühmtes- Schauspieler Otto Sander spielt in kinder Meret und Ben Becker – und bril- ten aller Hauptmann-Darsteller Heinz Rüh- Bochum die berühmteste aller liert in der Rolle des republikweit notori- mann, der ihm während der Feier des 90. Berliner Theaterrollen – und sagt: schen Tresenstehers, dem am frontalen Rühmann-Geburtstags ins Ohr geflüstert „Det is ja det Gefährliche.“ Trinkpult der so genannten Paris Bar in habe: „Du musst irgendwann den Haupt- der Kantstraße ein Messingschild einen mann machen.“ Tja! chimmlig-grün schillert das nächtlich Ehrenplatz zuweist. Der Bochumer Regisseur Hartmann angeleuchtete Brandenburger Tor, „Ick bin Berufs-Berliner“, sagt Otto San- spricht von einem „Geschenk“ an Sander Skalkweiß krümmt sich tief drunten in der, aufgewachsen im niedersächsischen – und will natürlich doch mehr sein als nur einem Torbogen ein kurzgewachsener äl- Peine und zum Schauspielkünstler ausge- der Verpacker. Der Dramaturg Andreas terer Mann. Der zerschlissene braune An- bildet an der Münchner Falckenberg-Schu- Erdmann spricht davon, wie sehr Zuck- zug, den er trägt, ist viel zu groß; der See- le. Ist also der „Hauptmann von Köpe- mayers Stück von 1931 im Rühmann-Film hundschnauzer in seinem Gesicht zittert nick“ tatsächlich eine Lebensrolle für ihn? von 1956 für eine Darstellung des kleinen bedenklich. Der bleiche Mann will einen Mannes als herumgeschubstes Opfer der Job in der Fabrik und buckelt nun im Per- Zeitläufte herhalten musste – ähnlich wie sonalbüro: „Ick bin nämlich vorbestraft“, das „Wunder von Bern“ und das „Wunder barmt er mit grässlich trompetender Stim- von Lengede“ stehe die Köpenicker Wun- me, „det sag ich lieber gleich, als dass es dertat des Schusters Voigt seither für den rauskommt.“ Mythos von deutschem Wir-sind-wieder- Potztausend, es wird nach Kräften gegen wer und Schwamm-drüber. alle muffige Berliner Schultheiss-Gemüt- Alles schön und gut, und doch beteuern lichkeit angepustet auf der Bühne des Bo- alle Beteiligten immer wieder: Der Otto ist chumer Schauspielhauses während der ideal für diese Rolle. Otto Sander aber Proben zu Carl Zuckmayers „Hauptmann warnt: „Det is ja det Gefährliche.“ von Köpenick“. Schließlich soll die Pre- All die berühmten Zuckmayer-Haupt- miere am Samstag dieser Woche ein Groß- männer, „Ob Rudolf Platte oder Heinz ereignis des Theaterwinters werden – und Rühmann – ich habe sie alle vor Augen, das das nicht so sehr, weil der Bühnenbildner ist das Problem“, sagt Sander. Bernhard Kleber eine besonders schöne Dabei ist dem Mann so leicht nichts grün patinierte Brandenburger-Tor-Nach- peinlich. Er sagt: „Bevor ich nur für die bildung in den Theatersaal gebaut hat oder Theaterkritiker im Feuilleton spiele, höre weil der Intendant Matthias Hartmann die ich lieber gleich auf.“ Chose mit viel Schmackes hinbrettern will. Aber jetzt – kokettiert er nur damit, dass Nein, der Held des Abends soll der Mann er nun doch ein bisschen Bammel hat? sein, der die Titelrolle spielt: Otto Sander. Und könnte der am Ende noch berechtigt Kein Geringerer als Sander spielt den sein? Schuster Wilhelm Voigt, der im Herbst 1906 Ach was, soweit das bei den Proben zu eine Leih-Uniform anzog, ein paar Solda- sehen war, spielt er in Bochum mit einem ten auf der Straße als Begleitkommando re- wunderbaren Schluri-Charme alle Zweifel

krutierte, das Rathaus in Köpenick stürm- ARNO DECLAIR ebenso in Grund und Boden wie alle über- te und dort die Stadtkasse kaperte. Man Voigt-Darsteller Sander in Bochum steigerte Bedeutungshuberei: Er ist kein könnte auch sagen: Otto Sander spielt die „Ick bin Berufs-Berliner“ deutscher Hinkemann, der von himmel- Rolle, die viele für die Rolle seines Lebens schreiendem Elend niedergeschmettert ist halten. und seine Wut herausschluchzt wie ein tra- Denn ist der Mann nicht – spätestens gischer Clown. Er ist ein deutscher Hut- seit Harald Juhnkes tragisch umflortem Ab- zelmann, der zart und beharrlich seinen transport ins Pflegeheim – der Inbegriff Kampf ausficht – und am Ende eben nicht des Berliner Schauspielers schlechthin? In milde verzeihend triumphiert. Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“ Um „Komik und Anarchie, die ja immer war er der strenge Engel Cassiel; in den le- zusammengehören“, gehe es ihm zualler- gendären Zeiten der Berliner Schaubühne erst, sagt Sander, „um das Nicht-Zurecht- zwischen Anfang der siebziger und Mitte kommen in der Welt“. Und so raunzt er der achtziger Jahre spielte er lauter seltsam dann auch den Zuckmayer-Satz „Wie versehrte und komische Käuze, etwa in Pe- schön Deutschland ist, wenn man weit weg ter Steins „Peer Gynt“ oder Luc Bondys ist und immer nur dran denkt“: Nicht mit Botho-Strauß-Inszenierung „Kalldewey, Stauneaugen und als eifriger Ranwanzer Farce“; im Fernsehen scheute er nicht ans deutsche Gemüt, sondern in der bitte-

zurück vor Auftritten in einer so massiv CINETEXT ren Gewissheit, dass kein noch so waghal- dämlichen, wenngleich von Massen ange- „Hauptmann“-Filmheld Rühmann (1956) siger Kostümstreich etwas ändern könnte himmelten Serie wie „Das Traumschiff“. „Wie schön Deutschland ist!“ am Lauf der Welt. Wolfgang Höbel

der spiegel 5/2004 147 mans an, „der bürgerlichen AUTOREN Tradition ein bisschen ins ehr- würdige Gesicht zu spucken“ – Von allen Vätern und er erkannte die stille Trau- er unterhalb der Oberfläche, bemerkte, „dass das, was man verlassen zuerst für Aggression halten könnte, eher eine Art zu kla- Rund 40 Jahre nach ihrem erotisch gen ist“. Die Autorin war im Übrigen waghalsigen Debüt lässt die Autorin längst verheiratet und Mutter Draginja Dorpat einen zweiten von drei Kindern, als der Ro- Roman folgen: einen Rückblick auf man erschien. Sie hatte ihr die Jugend nach 1945. Studium an der Universität Tübingen schon Jahre vorher, ine Schülerin, 13 Jahre alt, will ihre 1958, geschmissen – sehr zum Pflicht tun. Dem Führer zuliebe darf Verdruss ihres Professors, des Esie keine Stunde des Unterrichts ver- Politologen Theodor Eschen- säumen. Also läuft sie jeden Tag von ihrem burg, dessen Assistentin sie Dorf, südlich von Stuttgart gelegen, zum war. Wie es in den sechziger nächsten Gymnasium, zwölf Kilometer hin Jahren im Studentenmilieu zu- und wieder zurück: „Ich darf den Führer ging, kannte sie mithin mehr

nicht enttäuschen.“ JÖRG LADWIG vom Hörensagen. Die Straßenbahn, die sie benutzen könn- Erzählerin Dorpat: „Nie erfahren, wie der Primaner küsst“ Draginja Dorpat – der te, fährt nur bei Dunkelheit. Tagsüber be- Name ist ein Pseudonym – herrschen alliierte Tiefflieger das Gesche- konnte; erst nachdem die nächsten Ver- suchte das Familienglück, das sie selbst nie hen, sie jagen auch einmal das verängstig- wandten allesamt gestorben waren, hat erlebt hatte, doch erfuhr sie eben auch die te Mädchen auf seinem Heimweg vor sich sie es riskiert – die erste Romanveröffent- „Familie als Falle“, wie sie heute sagt: Ihre her – eine Szene aus den letzten Tagen des lichung nach fast vier Jahrzehnten, seit journalistischen Pläne konnte sie nicht ver- Zweiten Weltkriegs. ihrem erzählerischen Debüt unter dem Ti- wirklichen. Und einen weiteren Roman Irgendwann fragt sich das Kind, wo ei- tel „Ellenbogenspiele“ (1966), das einst die schrieb sie vorerst auch nicht. Sie wandte gentlich die viel beredete deutsche Wun- Sittenwächter der Republik auf den Plan sich vielmehr der alternativen Medizin zu, derwaffe bleibt. Wird es nicht langsam rief und mit rund 80000 Exemplaren ein weil es in ihrem Umkreis Probleme gab, bei Zeit, sie einzusetzen? Kann man sich auf beachtlicher Erfolg war. denen die Schulmedizin offenbar nicht wei- den Führer überhaupt noch verlassen? Von heute her gesehen wirken die dar- terhalf. Auf den eigenen Vater verlässt die in beschriebenen Sexszenen aus dem Tü- Unter ihrem bürgerlichen Namen So- Kleine sich schon lange nicht mehr. Der binger Studentenmilieu der sechziger Jah- phie Ruth Knaak veröffentlichte sie ein hat nach dem Tod der ers- re eher harmlos. Der Grad Buch über „Neurodermitis“ (1997) und ten Frau deren Schwes- der damaligen Entrüstung einen Ratgeber „Erbarmen mit den Män- ter geheiratet (getreu dem ist schwer nachzuvollzie- nern“ (1998), der Prostataprobleme be- Wunsch der Verstorbenen), hen – Material für eine handelt – zwei erfolgreiche Werke. Einen die sich höchst lieblos um noch zu schreibende Sit- ersten Versuch, über die eigene Kindheit das Mädchen und dessen tengeschichte der Bundes- zu schreiben, hatte sie schon Anfang der zwei Schwestern kümmert. republik. achtziger Jahre unternommen, aber wieder Die Stiefmutter verbietet In einem der Gutachten abgebrochen. „Der Ton hat nicht gestimmt, der Schülerin sogar, eines etwa, die die Bundesprüf- es war mir zu weinerlich“, erinnert sie sich. der drei vorhandenen Fahr- stelle für jugendgefährden- Nun stimmt der Ton, und die Autorin räder für ihren weiten Weg de Schriften zur Grundlage Draginja Dorpat ist wieder da: Mit ihrem zu benutzen. der Entscheidung nahm, zweiten Roman ist ihr eine eindringliche Die Ich-Erzählerin aus Schriftstellerin Dorpat (1970) den Roman „Ellenbogen- Erzählung über Kriegsende und den dem Roman „Und zu Küs- „Koitus als Sinnenrausch“ spiele“ zu indizieren, hieß schleppenden Neubeginn Anfang der fünf- sen kam es kaum“ von Dra- es, jede Zeile des Buchs be- ziger Jahre gelungen, gestützt auf die ei- ginja Dorpat, 72, ist ein Musterbeispiel für weise die „Herkunft aus menschlicher Ver- gene Erinnerung und zwei Tagebuchhefte eine nicht allein durch die Kriegs- und wahrlosung“. Außerdem, so der Indizie- aus der Jugendzeit. Bewusst hat die ver- Nachkriegswirren, sondern viel mehr noch rungsantrag des Innenministeriums, sei der sierte Erzählerin Dorpat auf historische Li- durch Acht- und Lieblosigkeit in der eige- Sexus „um seiner selbst willen“ dargestellt, teratur verzichtet, auch nicht die Memoi- nen Familie zerstörte Kindheit und Ju- der Koitus werde im Buch „nur wegen der ren und Romane anderer Schriftsteller über gend*. Eine der Schwestern stirbt, weil ihre Freude am Sinnenrausch praktiziert“. diese Zeit gelesen – mit der einen Aus- Krankheit nicht beachtet wird. Noch Jah- Tatsächlich hatte die Autorin rotzfrech nahme von Martin Walsers Roman „Ein re nach dem Ende des Krieges lebt die nur und für deutsche Verhältnisse vor der Stu- springender Brunnen“ (1998). Das Buch mühsam zusammengehaltene Familie in denten- und Kulturrevolte von 1967/68 un- habe ihr Mut gemacht, ganz auf die Per- schier grenzenlosem Elend, psychisch und gewöhnlich unverblümt die Suche einer spektive ihres jugendlichen Ich zu setzen. materiell. Studentin nach einem Mann dargestellt, „Zu Küssen kam es kaum“, dieser Titel Die Autorin hat Jahrzehnte warten müs- der sie endlich ihrer Jungfernschaft beraubt ist der reine Euphemismus: Was sich in der sen, bis sie die weitgehend autobiografi- – eine am Ende erfolgreiche Suche („Sie Zeit von März 1945 bis zum Studienbeginn schen Erfahrungen zu Papier bringen war das Häutchen los und damit gut“). im November 1952 abspielt, ist eine einzi- Ihr Kollege Martin Walser, als inoffiziel- ge Kette von Demütigungen und von Ver- * Draginja Dorpat: „Und zu Küssen kam es kaum“. Ver- ler Gegengutachter um Unterstützung ge- suchen der Schülerin, der Gefühlskälte vor lag Klöpfer & Meyer, Tübingen; 336 Seiten; 22,40 Euro. beten, erkannte damals die Absicht des Ro- allem der Stiefmutter und eines tyranni-

148 der spiegel 5/2004 Kultur schen Großvaters zu entkommen, der den Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- Schulbesuch der Enkelin am liebsten unter- magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- bunden hätte. Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Der Vater, ein begabter Musiker und Belletristik Sachbücher Bruckner-Liebhaber, erscheint in ihren Au- gen als depressiver Mann, der seiner Toch- 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter 1 (1) Michael Moore Volle Deckung, ter nicht helfen kann, der sich gegen die und der Orden des Phönix Mr. Bush Piper; 12,90 Euro ungeliebte zweite Frau nicht durchzusetzen Carlsen; 28,50 Euro 2 (2) Michael Moore Stupid White Men vermag und den, obgleich er nie über- Piper; 12 Euro zeugter Nazi war, in der amerikanischen 2 (20) Robert Harris Zone die ganze Härte der strafenden Be- Pompeji 3 (4) Jörg Blech Die Krankheitserfinder satzungsmacht trifft. Heyne; 20 Euro – Wie wir zu Patienten gemacht Das ist durchaus ein provokativer Zug an werden S. Fischer; 17,90 Euro diesem Roman: Aus der Perspektive des In den letzten Tagen 4 (3) Paul Burrell Im Dienste meiner Kindes wirkt da manches wie reine Willkür vor dem tödlichen Königin Droemer; 19,90 Euro und Sippenhaft. Mag auch Ungeschick und Ausbruch des Vesuv kämpft ein Ignoranz des Vaters eine große Rolle spielen, 5 (5) Werner Tiki Küstenmacher/ Wasserbaumeister Lothar J. Seiwert seine Inhaftierung in einem US-Lager je- um seine Liebe denfalls wird der Familie nicht gemeldet, Simplify your life Campus; 19,90 Euro über viele Wochen hin gibt es kein Lebens- 3 (2) Henning Mankell Vor dem Frost 6 (7) Heiner Geißler Was würde Jesus zeichen, ja die Ehefrau wird, als sie sich nach Zsolnay; 24,90 Euro heute sagen? Rowohlt Berlin; 16,90 Euro seinem Schicksal erkundigen will, ebenfalls 4 (3) Carlos Ruiz Zafón Der Schatten 7 (10) Corinne Hofmann Zurück aus eingesperrt – ohne Rücksicht auf die Kinder. des Windes Insel; 24,90 Euro Afrika A1; 19,80 Euro Über seine Erlebnisse in der Haft spricht der Vater später nie, aber vielleicht erklären 5 (4) Paulo Coelho Elf Minuten 8 (8) Michael Moore Querschüsse sie, warum er nach der Entlassung viel zu Diogenes; 19,90 Euro Piper; 12,90 Euro lange zögert, sich einer Spruchkammer zu 6 (6) Eric-Emmanuel Schmitt 9 (6) Inge Jens/Walter Jens stellen, um wieder als Lehrer arbeiten zu Monsieur Ibrahim und die Blumen Frau Thomas Mann – Das Leben können – zur Verzweiflung der Angehöri- der Katharina Pringsheim des Koran Ammann; 12 Euro gen, speziell der Ich-Erzählerin, die, allen fa- Rowohlt; 19,90 Euro miliären Widerständen und äußeren Wid- 7 (5) Paulo Coelho Der Alchimist 10 (11) Dalai Lama Ratschläge des rigkeiten trotzend, inzwischen wieder das Diogenes; 17,90 Euro Herzens Diogenes; 12,90 Euro Gymnasium besucht, um Abitur zu machen. 8 (7) Charlotte Link Am Ende des 11 (–) Dietrich Grönemeyer Mensch Einen hartnäckigen und ansehnlichen Schweigens Blanvalet; 23,90 Euro Verehrer lässt sie kalt abblitzen: aus Furcht, bleiben – High Tech und Herz – ihr ganzes Elend könnte sichtbar werden 9 (8) Ken Follett Mitternachtsfalken eine liebevolle Medizin ist keine („Schade, nie werde ich erfahren, wie die- Lübbe; 24 Euro Utopie Herder; 19,90 Euro ser Primaner küsst“). Viel Glück ist nicht 10 (9) Stephen King Wolfsmond 12 (9) Peter Ustinov Achtung! Vorurteile zu vermelden. Heyne; 25 Euro Hoffmann und Campe; 19,90 Euro Erst ganz am Ende des Buchs gibt es 13 (12) Andreas Englisch eine Wende. Zwar wird der Vater im zwei- 11 (18) Eric-Emmanuel Schmitt Johannes Paul II. Ullstein; 22 Euro ten Anlauf als „Mitläufer“ eingestuft, was Oskar und die Dame in Rosa noch einmal sechs Monate Berufsverbot Ammann; 13,80 Euro 14 (17) Sting Broken Music – Die S. Fischer; 19,90 Euro und weitere sechs Monate Gratisarbeit be- 12 (10) Joanne K. Rowling Harry Potter Autobiographie deutet – und also weitere Armut für die Fa- und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro 15 (14) Asfa-Wossen Asserate milie; doch bei der Arbeitssuche trifft die Manieren Eichborn; 22,90 Euro Abiturientin auf den Standortkomman- 13 (12) Joanne K. Rowling Harry Potter danten des nahen US-Flugplatzes, der sie und der Gefangene von Askaban 16 (19) Allan Pease/Barbara Pease einstellt und ihr generös eine komfortable Carlsen; 15,50 Euro Warum Männer lügen und Frauen immer Schuhe kaufen Rückfahrt ermöglicht: „Am Morgen bin ich 14 (11) Colum McCann Der Tänzer Ullstein; 16,95 Euro arbeitslos aus dem Haus gegangen, am Rowohlt; 22,90 Euro Abend komme ich mit Chauffeur – wenn 17 (–) Lance Armstrong das kein amerikanisches Tempo ist.“ 15 (17) Roger Willemsen Karneval der Jede Sekunde zählt Tiere Eichborn; 12,95 Euro Immerhin reicht ihr Lohn für vier Se- C. Bertelsmann; 19,90 Euro mester Studium (veranschlagt mit 100 Mark 16 (13) Joanne K. Rowling Harry Potter pro Monat, einschließlich Miete) – und da- und die Kammer des Schreckens Legendäre Radduelle mit für den Absprung aus einer Welt der Carlsen; 14,50 Euro und sein Kampf Düsternis und Unterdrückung. gegen den Krebs: Draginja Dorpats zweiter Roman ist ein 17 (16) Joanne K. Rowling Harry Potter die zweite und der Stein der Weisen Autobiografie des Musterfall in der Reihe jener neueren Er- Tour-de-France-Siegers innerungsliteratur, in der die damaligen Carlsen; 14,50 Euro Kinder nun, im Alter, unsentimental vom 18 (15) John Grisham Der Coach 18 (18) Uwe Timm Am Beispiel meines Ende des Krieges und dem Übergang zum Heyne; 15 Euro Bruders Kiepenheuer & Witsch; 16,90 Euro Frieden berichten – als mehr oder weni- 19 (19) Wladimir Kaminer ger gute Chronisten ihrer selbst. Hier ge- 19 (–) Spencer Johnson schieht es höchst eindrucksvoll: mit dem Mein deutsches Dschungelbuch Die Mäuse-Strategie für Manager Mut zu einer anrührenden kindlichen Manhattan; 18 Euro Ariston; 14,90 Euro Perspektive und der Umsicht einer weisen 20 (14) Nicholas Sparks Du bist nie allein 20 (16) Erika Riemann Die Schleife an Erzählerin. Volker Hage Heyne; 19 Euro Stalins Bart Hoffmann und Campe; 19,90 Euro

der spiegel 5/2004 149 Kultur schen Großvaters zu entkommen, der den Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- Schulbesuch der Enkelin am liebsten unter- magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- bunden hätte. Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Der Vater, ein begabter Musiker und Belletristik Sachbücher Bruckner-Liebhaber, erscheint in ihren Au- gen als depressiver Mann, der seiner Toch- 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter 1 (1) Michael Moore Volle Deckung, ter nicht helfen kann, der sich gegen die und der Orden des Phönix Mr. Bush Piper; 12,90 Euro ungeliebte zweite Frau nicht durchzusetzen Carlsen; 28,50 Euro 2 (2) Michael Moore Stupid White Men vermag und den, obgleich er nie über- Piper; 12 Euro zeugter Nazi war, in der amerikanischen 2 (20) Robert Harris Zone die ganze Härte der strafenden Be- Pompeji 3 (4) Jörg Blech Die Krankheitserfinder satzungsmacht trifft. Heyne; 20 Euro – Wie wir zu Patienten gemacht Das ist durchaus ein provokativer Zug an werden S. Fischer; 17,90 Euro diesem Roman: Aus der Perspektive des In den letzten Tagen 4 (3) Paul Burrell Im Dienste meiner Kindes wirkt da manches wie reine Willkür vor dem tödlichen Königin Droemer; 19,90 Euro und Sippenhaft. Mag auch Ungeschick und Ausbruch des Vesuv kämpft ein Ignoranz des Vaters eine große Rolle spielen, 5 (5) Werner Tiki Küstenmacher/ Wasserbaumeister Lothar J. Seiwert seine Inhaftierung in einem US-Lager je- um seine Liebe denfalls wird der Familie nicht gemeldet, Simplify your life Campus; 19,90 Euro über viele Wochen hin gibt es kein Lebens- 3 (2) Henning Mankell Vor dem Frost 6 (7) Heiner Geißler Was würde Jesus zeichen, ja die Ehefrau wird, als sie sich nach Zsolnay; 24,90 Euro heute sagen? Rowohlt Berlin; 16,90 Euro seinem Schicksal erkundigen will, ebenfalls 4 (3) Carlos Ruiz Zafón Der Schatten 7 (10) Corinne Hofmann Zurück aus eingesperrt – ohne Rücksicht auf die Kinder. des Windes Insel; 24,90 Euro Afrika A1; 19,80 Euro Über seine Erlebnisse in der Haft spricht der Vater später nie, aber vielleicht erklären 5 (4) Paulo Coelho Elf Minuten 8 (8) Michael Moore Querschüsse sie, warum er nach der Entlassung viel zu Diogenes; 19,90 Euro Piper; 12,90 Euro lange zögert, sich einer Spruchkammer zu 6 (6) Eric-Emmanuel Schmitt 9 (6) Inge Jens/Walter Jens stellen, um wieder als Lehrer arbeiten zu Monsieur Ibrahim und die Blumen Frau Thomas Mann – Das Leben können – zur Verzweiflung der Angehöri- der Katharina Pringsheim des Koran Ammann; 12 Euro gen, speziell der Ich-Erzählerin, die, allen fa- Rowohlt; 19,90 Euro miliären Widerständen und äußeren Wid- 7 (5) Paulo Coelho Der Alchimist 10 (11) Dalai Lama Ratschläge des rigkeiten trotzend, inzwischen wieder das Diogenes; 17,90 Euro Herzens Diogenes; 12,90 Euro Gymnasium besucht, um Abitur zu machen. 8 (7) Charlotte Link Am Ende des 11 (–) Dietrich Grönemeyer Mensch Einen hartnäckigen und ansehnlichen Schweigens Blanvalet; 23,90 Euro Verehrer lässt sie kalt abblitzen: aus Furcht, bleiben – High Tech und Herz – ihr ganzes Elend könnte sichtbar werden 9 (8) Ken Follett Mitternachtsfalken eine liebevolle Medizin ist keine („Schade, nie werde ich erfahren, wie die- Lübbe; 24 Euro Utopie Herder; 19,90 Euro ser Primaner küsst“). Viel Glück ist nicht 10 (9) Stephen King Wolfsmond 12 (9) Peter Ustinov Achtung! Vorurteile zu vermelden. Heyne; 25 Euro Hoffmann und Campe; 19,90 Euro Erst ganz am Ende des Buchs gibt es 13 (12) Andreas Englisch eine Wende. Zwar wird der Vater im zwei- 11 (18) Eric-Emmanuel Schmitt Johannes Paul II. Ullstein; 22 Euro ten Anlauf als „Mitläufer“ eingestuft, was Oskar und die Dame in Rosa noch einmal sechs Monate Berufsverbot Ammann; 13,80 Euro 14 (17) Sting Broken Music – Die S. Fischer; 19,90 Euro und weitere sechs Monate Gratisarbeit be- 12 (10) Joanne K. Rowling Harry Potter Autobiographie deutet – und also weitere Armut für die Fa- und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro 15 (14) Asfa-Wossen Asserate milie; doch bei der Arbeitssuche trifft die Manieren Eichborn; 22,90 Euro Abiturientin auf den Standortkomman- 13 (12) Joanne K. Rowling Harry Potter danten des nahen US-Flugplatzes, der sie und der Gefangene von Askaban 16 (19) Allan Pease/Barbara Pease einstellt und ihr generös eine komfortable Carlsen; 15,50 Euro Warum Männer lügen und Frauen immer Schuhe kaufen Rückfahrt ermöglicht: „Am Morgen bin ich 14 (11) Colum McCann Der Tänzer Ullstein; 16,95 Euro arbeitslos aus dem Haus gegangen, am Rowohlt; 22,90 Euro Abend komme ich mit Chauffeur – wenn 17 (–) Lance Armstrong das kein amerikanisches Tempo ist.“ 15 (17) Roger Willemsen Karneval der Jede Sekunde zählt Tiere Eichborn; 12,95 Euro Immerhin reicht ihr Lohn für vier Se- C. Bertelsmann; 19,90 Euro mester Studium (veranschlagt mit 100 Mark 16 (13) Joanne K. Rowling Harry Potter pro Monat, einschließlich Miete) – und da- und die Kammer des Schreckens Legendäre Radduelle mit für den Absprung aus einer Welt der Carlsen; 14,50 Euro und sein Kampf Düsternis und Unterdrückung. gegen den Krebs: Draginja Dorpats zweiter Roman ist ein 17 (16) Joanne K. Rowling Harry Potter die zweite und der Stein der Weisen Autobiografie des Musterfall in der Reihe jener neueren Er- Tour-de-France-Siegers innerungsliteratur, in der die damaligen Carlsen; 14,50 Euro Kinder nun, im Alter, unsentimental vom 18 (15) John Grisham Der Coach 18 (18) Uwe Timm Am Beispiel meines Ende des Krieges und dem Übergang zum Heyne; 15 Euro Bruders Kiepenheuer & Witsch; 16,90 Euro Frieden berichten – als mehr oder weni- 19 (19) Wladimir Kaminer ger gute Chronisten ihrer selbst. Hier ge- 19 (–) Spencer Johnson schieht es höchst eindrucksvoll: mit dem Mein deutsches Dschungelbuch Die Mäuse-Strategie für Manager Mut zu einer anrührenden kindlichen Manhattan; 18 Euro Ariston; 14,90 Euro Perspektive und der Umsicht einer weisen 20 (14) Nicholas Sparks Du bist nie allein 20 (16) Erika Riemann Die Schleife an Erzählerin. Volker Hage Heyne; 19 Euro Stalins Bart Hoffmann und Campe; 19,90 Euro

der spiegel 5/2004 149 DEBATTE Schuld hat, wer schießt Ein Buch über das Erfurter Schul- massaker von 2002 provoziert Schüler und Eltern der betroffenen Stadt: Die Autorin wurde bei einer Lesung heftig geschmäht. m 26. April 2002 fanden die letzten Abiturprüfungen im Erfurter Gu- Atenberg-Gymnasium statt. 10.58 / DDP KOCH JENS-ULRICH Uhr ist Robert Steinhäuser mit einer Pump- Autorin Geipel in Erfurt: „Wir brauchen dieses Buch nicht!“ gun auf dem Rücken und einer Pistole in der Hand auf dem Weg ins Schulsekreta- fragten will hinterher mit ihr gesprochen also, da Robert Steinhäuser nächtelang vor riat. 11.17 Uhr setzt er dem eigenen Leben haben, aus Angst, mit dem Buch in Zu- dem Computer sitzt – wirkmächtig in die ein Ende. In den Minuten dazwischen hat sammenhang gebracht zu werden. Was also Kinder hinein.“ Unbequem sind die Aus- er 16 Menschen erschossen. Seine letzten hat es mit diesem Buch auf sich? führungen zu der Überforderung ostdeut- Worte waren „Für heute reicht’s.“ Die fiktive Heldin Elsa, Gutenberg-Ab- scher Lehrer in der Zeit der Umstellung auf Diesen Titel trägt das kontrovers disku- solventin und nunmehr Schauspielschüle- das westdeutsche Prinzip der Leistungs- tierte Buch der in Dresden geborenen Au- rin in Berlin, kehrt am Abend des Amok- schule. Verärgern dürfte die Autorin dieje- torin Ines Geipel. Zwei Monate nach der laufs nach Erfurt zurück, weil sie verstehen nigen, die die Ermittlungen und Untersu- Tat zog die Germanistin und Professorin will, was vorgegangen ist. Kolportagehaft chungen für abgeschlossen halten – die we- der Berliner Schauspielschule Ernst Busch montiert Geipel mit Hilfe von Zeugenaus- nigsten Angehörigen erhielten bisher von nach Erfurt. Sie blieb ein Jahr, recher- sagen aus Vernehmungen und literarischen den Behörden Antworten auf ihre Fragen. chierte und schrieb darüber ein „literari- Versatzstücken den Tathergang, sie unter- Steinhäuser wurde zwar im Wendejahr sches Sachbuch“, wie sie es nennt. sucht das Umfeld des Täters, analysiert den eingeschult, trotzdem kann man dem oh- Dieses Buch (Rowohlt Berlin) erhitzt Schulalltag und skizziert ostdeutsche Nach- nehin psychisch angeknacksten Osten nun die Gemüter. Eine Stadt gerät in Auf- wenderealität. größere Vorwürfe kaum machen. Die Fra- ruhr: Ines Geipel erhält anonyme Droh- Zu dem Zweck, einen neuen, jedoch ge des Buches lautet: Welche Mitverant- anrufe; über hundert Gutenberg-Schüler ganz und gar unkriminalistischen Zusam- wortung trägt die Gesellschaft an der Tat verlassen in der vergangenen Woche aus menhang aufzudecken: „Es wurde nie ex- des Einzelnen? Noch wichtiger aber scheint Protest die Buchlesung; die Gutenberg- plizit gesagt, dass die Tat in Ostdeutsch- seit ein paar Tagen: Was passiert mit einer Direktorin Christiane Alt sagt „Bild“ ge- land passiert ist“, sagt die 43-Jährige Notgemeinschaft, in die die Not fällt? genüber, das Buch sei überflüssig; die erste und schreibt: „Die spezifische Identitäts- Peter Ehrich war ein Freund von Robert Auflage hat sich bereits in der ersten schwäche der Elterngeneration verlängert Steinhäuser, sagt er. Fünf Jahre war er mit Woche und nahezu komplett in Thüringen sich in den Jahren der politischen Neu- ihm im selben Jahrgang. Wie viele ärgert er verkauft; niemand der von der Autorin Be- ordnung in Ostdeutschland – in der Zeit sich über das Buch, das für ihn in der Mi- Kultur schung aus Fiktion und Tatsachen- Schule, geben. Fast zynisch erin- bericht „holprig“ daherkommt, nert nur das Schild am Bauzaun „aus der Luft gegriffen wirkt“, er „Betreten des Geländes verboten. vermisst die Belege im Text, „wer Eltern haften für ihre Kinder“ an was gesagt hat“. Ehrich, der in- die Katastrophe vor fast zwei Jah- zwischen Latein und Englisch stu- ren. Eine Stadt sucht den Alltag. diert und später Lehrer werden Diese Sehnsucht nach Norma- möchte, kennt niemanden, mit lität stört die Autorin Geipel nun dem die Autorin gesprochen hat. mit ihrem Buch auf das Empfind- An den Tag des Massakers aber lichste. Die Menschen vor Ort rea- erinnert er sich genau. Gerade gieren mit aggressiver Gegenwehr vom Wehrdienst auf dem Weg und setzen sich dem Verdacht aus, nach Hause, hört er das Gerücht, den Vorfall verdrängen zu wollen. am „Gutenberg“ sei was passiert. Oder ihn allenfalls unter sich zu Die erste konkrete Person, an die klären. Von der Veranstaltung in er denkt, ist Robert Steinhäuser: SPIEGEL-Titel: Sehnsucht nach Normalität der Kirche sollte die Presse ausge- „Dass er es war, war klar.“ Zu oft schlossen werden. Man entschied hatte sich der spätere Attentäter in der Saal-Mikro formuliert. Hier sind alle der- anders und findet dennoch kaum einen Zeit zuvor zu Aussagen hinreißen lassen, selben Meinung. Eine ganze Stadt hat den- gangbaren Weg aus dem Dilemma zwi- die die Tat vorwegnahmen. Ehrich gibt selben Gegner ausgemacht: Ines Geipel. schen persönlichem Beteiligtsein und drin- zu, dass an der Schule „kein offenes Sie ist zum Ventil geworden, zum Blitz- genden Fragen gesellschaftlicher Brisanz, Gesprächsklima“ herrschte und die Di- ableiter. zwischen Privatsache und Öffentlichkeit. rektion hierarchisch „von oben nach un- Auch Lutz Pockel schiebt sich mit seinen Selbstkritische Fragen stellt in Erfurt ten“ agierte. Schülern durch den Mittelgang der Kirche kaum jemand. Den Argumenten der Au- Nur Stunden nachdem man Steinhäuser ins Freie. Der Mathe- und Physiklehrer torin weicht man aus. Die Vorwürfe sind des Gymnasiums verwiesen hatte, erfolgt hatte am 26. April 2002 Aufsicht in den immer dieselben: Die Autorin sei eine am EC-Automaten eine Barabhebung von schriftlichen Abiturprüfungen. Die Kolle- Fremde und in der Sache nicht aussagebe- 900 Mark. 14 Tage später kauft sich Stein- gen Peter Wolff und Heidemarie Sicker rechtigt; formale Einwände gegen den Text häuser für 450 Mark eine Pistole Glock 17, übernahmen seinen Unterricht. Beide sind wichtiger als dessen sachliche Fragen; die spätere Tatwaffe. „Die Wahrheit ist gehören zu den Opfern. solange die Informanten nicht öffentlich sehr konkret“, sagt Ines Geipel. Lutz Pockel trägt gebetsmühlenartig die- gemacht sind, werden die Fakten ange- Trotzdem steht Peter Ehrich während selben Argumente vor wie schon sein ehe- zweifelt. Was aber ist daran ostdeutsch? der Lesung von Ines Geipel auf und ver- maliger Schüler Ehrich. Er wisse nicht, wo Der Osten Deutschlands steckt noch im- lässt mit den anderen Schülern die Lesung Realität aufhöre und Fiktion anfange. Vor mer in einer Identitätskrise. Immer wieder in der Erfurter Kaufmannskirche. Auf allem erbost ihn, dass er ohne Absprache reagiert die ostdeutsche Gemeinschaft auf ihrem Flyer steht „Wir brauchen dieses in dem Buch vorkommt, er werde „ins Kritik mit Trotz, stellt sich Schulter an Buch nicht! Es schadet mehr, als es nützt.“ Schaufenster gezerrt“ und kommt zum Schulter, bildet eine Trutzburg; wie zu- Die Schüler wirken gereizt, sind kamp- Schluss: „Schuldig ist der, der schießt!“ letzt auch in Leipzig nach den Stasi-Vor- feslustig. Auf der Seite der Betroffenen Keine weiteren Fragen. würfen um die Olympiabewerbung ge- fühlen sie sich sicher. Unterstützt werden Das Gutenberg-Gymnasium wird noch schehen. Angstvoll und defensiv fühlt man sie von Erwachsenen, die höhnisch lachen, immer saniert, innen wird es vollständig sich der Aufbauleistungen der Nachwende wenn sich die Autorin verspricht, und be- entkernt, nur die Fassade bleibt erhalten. beraubt. Dem Gefühl der Ausgrenzung geistert auf die Kirchenbänke klopfen, Einen Ort des Erinnerns soll es nirgendwo wird wiederum Ausgrenzung entgegen- während jemand lautstark Kritik durchs in Erfurt, weder in der Stadt, noch an der gesetzt. Jana Hensel SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) FRANKFURT AM MAIN Andreas Wassermann, Almut Hielscher, Christoph Pauly, Wilfried Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben CHEFREDAKTEUR Stefan Aust (V. i. S. d. P.) Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 Main, Tel. (069) 9712680, Fax 97126820 E-Mail: [email protected] STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 Nachdruckgenehmigungen DEUTSCHE POLITIK Leitung: Hans-Joachim Noack, Dietmar Pieper MÜNCHEN Dinah Deckstein, Heiko Martens, Bettina Musall, Conny für Texte und Grafiken: (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Per Hinrichs, Dr. Hans Michael Neumann, Lerchenfeldstraße 11, 80538 München, Tel. (089) 4545950, Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit Kloth, Bernd Kühnl, Norbert F. Pötzl, Klaus Wiegrefe. Autoren, Re- Fax 45459525 schriftlicher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch porter: Henryk M. Broder, Dr. Thomas Darnstädt, Hartmut Palmer, für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Michael Schmidt-Klingenberg STUTTGART Felix Kurz, Alexanderstraße 18, 70184 Stuttgart, Tel. Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. HAUPTSTADTBÜRO Leitung: Gabor Steingart, Konstantin von (0711) 3509343, Fax 3509341 Hammerstein (stellv.), Dirk Kurbjuweit (stellv.). Redaktion Politik: Deutschland, Österreich, Schweiz: Ralf Beste, Petra Bornhöft, Martina Hildebrandt, Horand Knaup, REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Roland Nelles, Alexander Neubacher, Ralf Neukirch, Dr. Gerd BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, E-Mail: [email protected] Rosenkranz, Christoph Schult, Harald Schumann, Alexander Tel. (0038111) 2669987, Fax 3670356 übriges Ausland: Szandar. Reporter: Matthias Geyer; Redaktion Wirtschaft: Markus BERN Joachim Hoelzgen, Gutenbergstraße 54, 3011 Bern, Tel. Dettmer, Frank Hornig, Christian Reiermann, Wolfgang Johannes (004131) 3720252, Fax 3720253 New York Times Syndication Sales, Paris Reuter, Michael Sauga Telefon: (00331) 53057650 Fax: (00331) 47421711 Autor: Jürgen Leinemann BRÜSSEL Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 für Fotos: DEUTSCHLAND Leitung: Clemens Höges, Georg Mascolo, Alexan- Telefon: (040) 3007-2869 der Jung (stellv.). Redaktion: Dominik Cziesche, Michael Fröhlings- JERUSALEM Annette Großbongardt, P.O. Box 4615, Jerusalem 91046, Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] dorf, Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Gunther Latsch, Tel. (009722) 561192-6 oder -7, Fax 5611928 Udo Ludwig, Cordula Meyer, Andreas Ulrich. Autoren, Reporter: KAIRO Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand, 18, Shari’ Al Fawakih, DER SPIEGEL auf CD-Rom und DVD Jochen Bölsche, Klaus Brinkbäumer, Jürgen Dahlkamp, Gisela Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 7604944, Fax 7607655 Telefon: (040) 3007-3016 Fax: (040) 3007-3180 Friedrichsen, Bruno Schrep E-Mail: [email protected] LONDON Matthias Matussek, 3 Northumberland Place, Richmond, BERLINER BÜRO Leitung: Heiner Schimmöller. Redaktion: Wolf- Surrey TW10 6TS, Tel. (004420) 8605 3893, Fax 8605 3894 www.spiegel.de/shop gang Bayer, Stefan Berg, Susanne Koelbl, Irina Repke, Sven Röbel, MADRID Helene Zuber, Apartado Postal Número 100 64, Abonnenten-Service Michael Sontheimer, Holger Stark, Peter Wensierski 28080 Madrid, Tel. (003491) 391 05 75, Fax 319 29 68 Persönlich erreichbar Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma. Redaktion: MOSKAU Walter Mayr, Uwe Klußmann. Autor: Jörg R. Mettke, Beat Balzli, Dietmar Hawranek, Klaus-Peter Kerbusk, Nils Klawitter, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 3. Choroschewskij Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. Marcel Rosenbach, Jörg Schmitt, Thomas Schulz, Janko Tietz 20637 Hamburg (007095) 9400502-04, Fax 9400506 Umzug/Urlaub: 01801 / 22 11 33 zum Ortstarif AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Hans Hoyng (stellv.), Dr. Christian Neef (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Dr. Carolin Emcke, Man- NAIROBI Thilo Thielke, P.O. Box 1361, 00606 Nairobi, Fax 00254- Fax: (040) 3007-857003 fred Ertel, Rüdiger Falksohn, Siegesmund von Ilsemann, Marion 20581518 Zustellung: 01801 / 66 11 66 zum Ortstarif Kraske, Jan Puhl, Dr. Stefan Simons. Autoren, Reporter: Dr. Erich NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. Fax: (040) 3007-857006 Follath, Claus Christian Malzahn, Fritjof Meyer, Erich Wiedemann (009111) 24652118, Fax 24652739 Service allgemein: (040) 3007-2700 WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf NEW YORK Jan Fleischhauer, Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Jörg Blech, Rafaela von Bre- Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 Fax: (040) 3007-3070 dow, Manfred Dworschak, Julia Koch, Beate Lakotta, Dr. Renate E-Mail: [email protected] PARIS Dr. Romain Leick, 12, Rue de Castiglione, 75001 Paris, Tel. Nimtz-Köster, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Katja Thimm, (00331) 58625120, Fax 42960822 Gerald Traufetter, Christian Wüst Abonnenten-Service Schweiz PEKING Andreas Lorenz, Sanlitun Dongsanjie Gongyu 2-1-32, DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern KULTUR Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Peking 100 600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg, Angela Telefon: (0041) 41-329 22 55 Fax: (0041) 41-329 22 04 PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. + Fax (00420) 2-24220138, 2-24221524 E-Mail: [email protected] Gatterburg, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke Schmitter, RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa Postal 56071 AC UrcaCEP, Abonnement für Blinde Klaus Umbach, Claudia Voigt, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. 22290-970 Rio de Janeiro, Tel. (005521) 2275-1204, Fax 2543-9011 : Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Autor Urs Jenny ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- 6797522, Fax 6797768 E-Mail: [email protected] tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Ralf Hoppe, Ansbert : SAN FRANCISCO Marco Evers, 761 Tehama Street, Apt 7, San Fran- Kneip. Reporter Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Thomas Hüetlin, Alex- cisco, Ca 94103, Tel. (001415) 8612172, Fax 358 4522 Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt ander Smoltczyk, Barbara Supp Frankfurt am Main TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5-103, Tzuzuki- SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, ku, Yokohama 224-0037, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger WARSCHAU P.O.Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, E-Mail: [email protected] SONDERTHEMEN Leitung: Stephan Burgdorff. Redaktion: Karen Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 Abonnementspreise Andresen, Horst Beckmann, Wolfram Bickerich, Joachim Mohr, Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Kirsten WASHINGTON Dr. Gerhard Spörl, 1202 National Press Building, Inland: zwölf Monate ¤ 145,60 Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 465,40 Wiedner Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 101,92 inkl. PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina WIEN Jürgen Kremb, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) 6-mal UniSPIEGEL Stegelmann 5331732, Fax 5331732-10 Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt Europa: zwölf Monate ¤ 200,20 DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 278,20 (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Ulrich Booms, CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Holger Wolters (stellv.) werden anteilig berechnet. Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia SCHLUSSREDAKTION Regine Brandt, Reinhold Bussmann, Lutz Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, ✂ Diedrichs-Schneider, Dieter Gellrich, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Abonnementsbestellung Maika Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Manfred Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny 20637 Hamburg. Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Walter BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Oder per Fax: (040) 3007-3070. gestaltung), Christiane Gehner, Claudia Jeczawitz, Matthias Krug, Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Tobias Ich bestelle den SPIEGEL Anke Wellnitz; Josef Csallos, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Peter Hendricks, Andrea Huss, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Sabine Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Sandra Öfner, ❏ für ¤ 2,80 pro Ausgabe (Normallieferung) Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Thomas Riedel, für ¤ 8,95 pro Ausgabe (Eilbotenzustellung am Sauer, Claus-Dieter Schmidt, Gershom Schwalfenberg, Karin Wein- ❏ berg. E-Mail: [email protected] Constanze Sanders, Petra Santos, Andrea Sauerbier, Maximilian Sonntag) mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegen- Hefte bekomme ich zurück. Renata Biendarra, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Tiina Hurme, thaler, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Zusätzlich erhalte ich den KulturSPIEGEL, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. das monatliche Programm-Magazin. LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe; Christel Basilon, Katrin Eckart Teichert, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Pe- Bollmann, Regine Braun, Claudia Conrad, Volker Fensky, Petra Gro- ter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windel- Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: nau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Martina Treu- bandt mann, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst LESER-SERVICE Catherine Stockinger Sonderhefte: Rainer Sennewald NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / PRODUKTION Frank Schumann, Christiane Stauder, Petra Thor- Name, Vorname des neuen Abonnenten Washington Post, New York Times, Reuters, sid mann, Michael Weiland TITELBILD Stefan Kiefer; Antje Klein, Iris Kuhlmann, Arne Vogt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Straße oder Hausnummer oder Postfach Monika Zucht Verantwortlich für Anzeigen: Jörg Keimer REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 58 vom 1. Januar 2004 PLZ, Ort BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Mediaunterlagen und Tarife: Tel. (040) 3007-2475 Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Kultur und Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Ich zahle Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 1 Verantwortlich für Vertrieb: Lars-Henning Patzke ❏ bequem und bargeldlos per Bankeinzug ( /4-jährl.) BONN Combahnstraße 24, 53225 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax 26703-20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Dresdner Druck- und Verlagshaus Bankleitzahl Konto-Nr. DRESDEN Steffen Winter, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 26620-0, Fax 26620-20 MARKETINGLEITUNG Christian Schlottau DÜSSELDORF Georg Bönisch, Andrea Brandt, Frank Dohmen, Bar- VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck, Matthias Schmolz Geldinstitut bara Schmid-Schalenbach, Carlsplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Tel. 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152 der spiegel 5/2004 Chronik 17. bis 23. Januar SPIEGEL TV

SAMSTAG, 17. 1. PROZESS I Zwei Tage vor der geplanten MONTAG, 26. 1. Urteilsverkündung gegen den mutmaß- 22.45 – 23.15 UHR SAT.1 SKISPRINGEN Michael Uhrmann aus Rast- lichen Terrorhelfer Abdelghani Mzoudi SPIEGEL TV REPORTAGE büchl feiert im polnischen Zakopane den präsentiert die Bundesanwaltschaft ersten Weltcupsieg seiner Karriere. einen neuen Belastungszeugen. Der Berlin – Eine Stadt erwacht Wenn die meisten Menschen noch schla- WIDERSTAND 6000 Menschen protestieren Prozess geht somit wieder in die Beweis- in Wiesbaden gegen den geplanten Um- aufnahme. fen, sind viele dienstbare Geister schon zug des Bundeskriminalamts nach Berlin, aktiv: Sie putzen die Fenster des Fern- unter ihnen auch Entwicklungsministerin MITTWOCH, 21. 1. sehturms, liefern Kohle oder Döner- Heidemarie Wieczorek-Zeul. Spieße, reparieren Kirchturmuhren. PROZESS II Das Düsseldorfer Landgericht eröffnet den Prozess gegen sechs frühere SONNTAG, 18. 1. DONNERSTAG, 29. 1. Manager und Aufsichtsräte von Mannes- 22.10 – 23.05 UHR VOX IRAK I In Bagdad kommen bei einem mann. Zahlungen von über 110 Millionen Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor Mark bewertet die Staatsanwaltschaft als SPIEGEL TV EXTRA des amerikanischen Hauptquartiers schweren Fall von Untreue. Boxenstopp für einen Luxusliner – 23 Personen ums Leben. ein Hafentag auf der „A’Rosa Blu“ IRAN Aus Protest gegen den Ausschluss Wenn ein Kreuzfahrtschiff wie die „A’Rosa Tausender Kandidaten von den Parla- MONTAG, 19. 1. Blu“ in den Hamburger Hafen kommt, hat mentswahlen treten mehrere Minister die Crew weniger als zwölf Stunden Zeit, IRAK II Rund 100000 Schiiten demonstrie- von ihren Ämtern zurück. ren in Bagdad für baldige Wahlen. Es ist die Passagiere von Bord zu bringen, die Ka- binen aufzuräumen und Proviant zu laden. die größte Kundgebung seit dem Sturz DONNERSTAG, 22. 1. Saddam Husseins. URTEIL Der Europäische Gerichtshof für FREITAG, 30. 1. VOTUM Der demokratische Senator John Menschenrechte in Straßburg erklärt die 22.40 – 0.50 UHR VOX Kerry gewinnt im Rennen um die Kandi- entschädigungslose Enteignung von datur zur US-Präsidentschaft die erste Grundstücken früherer DDR-Bürger nach SPIEGEL TV THEMENABEND Vorwahl in Iowa. John Edwards schneidet der Wiedervereinigung für rechtswidrig. Der Todesengel von Auschwitz – die als Zweitbester noch vor dem favorisier- Geschichte des SS-Arztes Josef Mengele ten Howard Dean ab. Der Viertplatzierte KASCHMIR Vertreter der indischen Regie- Er summte gern Opernmelodien, wenn er Richard Gephardt zieht seine Kandidatur rung und der gemäßigten Separatisten an der Selektionsrampe stand und Frauen zurück. verständigen sich auf ein Ende der Ge- oder Kinder in die Gaskammer schickte: walt in der Himalaja-Region. Josef Mengele zählte zu den grausamsten UNGLÜCK Nach dem Kentern des norwe- Tätern der Nazi-Diktatur. Dokumentation ATOMWAFFEN Amerikanische Experten gischen Frachters „Rocknes“ vor Bergen des israelischen Regisseurs Dan Setton. sterben 18 Seeleute. Das mit Steinen bezweifeln nach einem Besuch der Anla- beladene Schiff war auf felsigen Grund ge in Yongbyon, dass Nordkorea einsatz- fähige Atomwaffen produzieren kann. SAMSTAG, 31. 1. aufgelaufen. 21.45 – 23.35 UHR VOX DIENSTAG, 20. 1. FREITAG, 23. 1. SPIEGEL TV SPECIAL KONZENTRATION Die dänische Carlsberg- ENTDECKUNG Die europäische Raumfahrt- Luxushotels – Von der Lust des Bedienens Brauerei kündigt die Übernahme der agentur Esa hat Wassereis am Südpol des Wie kann ein verwöhnter Gast am besten Hamburger Holsten-Brauerei an. Die Mars geortet. Bilder der Sonde „Mars bedient werden? Porträt des Hotels Le Marken König-Pilsener und Licher sollen Express“ beweisen laut Forschern, dass Royal Meridien in Hamburg und des Ritz- direkt an die Bitburger Brauerei weiter- auf dem Roten Planeten einst Wasser in Carlton in Berlin. verkauft werden. Strömen geflossen ist. SONNTAG, 1. 2. 22.35 – 23.20 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Die Irren von Brüssel – wie EU-Beamte Millionen verschleudern; Rätsel Spontan- heilung – Mediziner versuchen, das Im- munsystem zu kopieren; Süße Verführung – Alcopops-Karriere bei deutschen Kids.

Prince Charles schreitet bei einem Farmbesuch in Yorkshire über einen roten Teppich, um einen FARAGGI MARCELLO Apfelbaum zu pflanzen. EU-Konferenzteilnehmer Manfred Ehling JOHN GILES / DPA JOHN GILES

153 Register

gestorben „Athener Zeitung“. Von den Deutschen erhielt der geborene Mazedonier, in Mün- Olivia Goldsmith, 54. Mit Ironie kannte sie chen diplomierte Volkswirt, das Bundes- sich aus. Nach einer desaströsen Scheidung verdienstkreuz. Kostas Tsatsaronis starb stand die als Randy Goldfield geborene am 19. Januar nach schwerer Krankheit in US-Amerikanerin – bis dato eine erfolg- Athen. reiche, wohlhabende Geschäftsfrau – bald mittellos da und bekam die Idee zu einem Norman Heatley, 92. Die Entdeckung des Roman, der sie reich machte. „Der Club Bakteriengifts Penicillin in einem Schim- der Teufelinnen“ erzählt die Geschichte melpilz wird wohl untrennbar verbunden dreier New Yorkerinnen, die wegen jünge- bleiben mit dem Namen des schottischen rer, dünnerer, blonderer Frauen von ihren Bakteriologen Alexander Fleming – doch Ehemännern verlassen werden und be- ohne den Biochemiker Heatley hätte die schließen, sich zu wehren. Am Ende des Zaubersubstanz keinem Menschen das Le- turbulenten Rachefeldzugs unter dem Mot- ben gerettet. Gemeinsam mit dem Patho- to „Don’t get mad – logen Howard Florey und dem vor den Na- get everything“ sind zis geflohenen Chemiker Ernst Boris Chain die einst vermögenden machte er sich 1938 in Oxford daran, Peni- Männer in jeder Hin- cillin in großen Mengen herzustellen – Fle- sicht ruiniert. Noch ming selbst hatte damals das Interesse an bevor Goldsmith ei- seinem Zufallsfund verloren. Heatley war nen Verleger für die das einfallsreichste Mitglied des Oxforder bissige Satire gefun- Teams, was angesichts der Kriegsknapp- den hatte, meldete heit besonders wichtig war: Aus Milch- Hollywood Interesse kannen, Limonadenflaschen, Bettpfannen an dem Stoff an, die und einer Badewanne schuf er eine Appa-

Verlage rissen sich COUNTS / AP WYATT ratur, die tatsächlich Penicillin ausspuckte plötzlich um das Ma- und der heutigen Industrieproduktion den nuskript, und der gleichnamige Film von Weg wies. Fleming, Florey und Chain wur- 1996 mit Bette Midler, Diane Keaton und den 1945 mit dem Nobelpreis geehrt, ihr Goldie Hawn war ein Riesenerfolg. Die so- zeitlebens bescheidener Mitstreiter indes zial engagierte Autorin genoss fortan das ging leer aus. Norman Heatley starb, wie Leben und die Gesellschaft jüngerer Män- erst jetzt bekannt wurde, am 5. Januar in ner, schrieb etliche weitere gut verkaufte der Nähe von Oxford. Bücher und ließ sich von der Filmbranche umwerben. Olivia Goldsmith starb am 15. Helmut Newton, 83. Januar in New York nach Komplikationen Nackte Frauen in pro- während einer Schönheitsoperation. vokanten, bisweilen obszönen Posen wa- Kostas Tsatsaronis, 70. „Ich danke Ihnen ren sein Markenzei- für Ihren siebenjährigen Kampf für ein chen. Mit seinem freies und demokratisches Griechenland“, Band „Big Nudes“ so würdigte der griechische Minister (1982) wurde er zum Georgios Mangakis die Tätigkeit des Athe- Star und galt anschlie- ner SPIEGEL-Korrespondenten Tsatsaro- ßend als teuerster Fo-

nis unter dem Militärregime der Putschis- SCHREIBER / AP MARKUS tograf der Welt. Weil ten Papadopoulos und Pattakos (1967 bis er Frauen gern in un- 1974), denen Tsatsaronis ein fortlaufen- terwürfigen Haltungen ablichtete, warf des Ärgernis war. Aber auch ausgesuchte „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer Schikanen wie Beschattung, zeitweiliger ihm vor, seine Arbeiten seien „sexistisch Passentzug und zweimalige Festsetzung bis rassistisch und faschistoid“. Er selbst konnten den SPIE- hingegen sah sich als „gnadenlosen Por- GEL-Mann nicht ein- trätisten“. Newton wurde am 31. Oktober schüchtern. Nach dem 1920 in Berlin als Sohn des jüdischen Sturz der Militärs bot Knopffabrikanten Neustädter geboren, ihm Griechenlands 1936 begann er dort eine Fotografenlehre, großer alter Mann, floh zwei Jahre später vor den Nazis und der konservative Kon- änderte seinen Namen in Newton. Vor drei stantinos Karamanlis, Monaten hatte er 1000 Werke aus seinem ein hohes Regierungs- umfangreichen Archiv der Stiftung Preußi- amt an – der liberale scher Kulturbesitz übergeben. Die Foto- Tsatsaronis lehnte ab grafien sollen demnächst in wechselnden und blieb bis 1993 Ausstellungen im ehemaligen Landwehr- Korrespondent des Casino am Berliner Bahnhof Zoo ausge- SPIEGEL. So lange war er auch Präsident stellt werden. Helmut Newton kam am ver- des Athener Auslands-Presseclubs, danach gangenen Freitag bei einem Verkehrsunfall noch Herausgeber der deutschsprachigen in Hollywood ums Leben.

154 der spiegel 5/2004 Personalien

Wolfgang Clement, 63, Bundeswirt- schaftsminister (SPD), blitzte mit einer freundlich gemeinten Geste bei CDU-Frak- tionsvize Friedrich Merz ab. Die beiden Promis waren von der Konrad-Adenauer- Stiftung zum Thema „Welche Reformen braucht Deutschland?“ eingeladen wor- den. Nachdem sich Clement in das Gäste- buch eingetragen hatte, bot er seinen Stift dem als stur bekannten Sauerländer an. Der lehnte ab: „Mit so einem dünnen Stift kann ich nicht schreiben.“ Auch die An-

preisungen Clements („moderner Stift, / WIREIMAGE.COM JIM SPELLMAN ziemlich gut“) konnten Merz nicht beein- Rushdie, Lakshmi drucken. Der Christdemokrat zückte sein eigenes Schreibgerät, was Clement hin- Salman Rushdie, 56, bri- nahm: „Verstehe, meiner ist ministerrot, tisch-indischer Schrift- das dürfen Sie ja nicht verwenden.“ steller („Die Satanischen Verse“), hat seiner Le- Eva Green, 23, französischer Kinoneuling bensgefährtin, dem Model und Hauptdarstellerin in Bernardo Berto- Padma Lakshmi, 33, ein luccis jüngstem Film „Die Träumer“, nimmt Drehbuch auf den schö- kein Blatt vor den Mund, wenn es um die nen Leib geschrieben. Die Schilderung der Sexszenen in dem Kino- Vorlage zum Filmskript werk geht. Unbefangen beschreibt sie eine hatte Rushdie als Kurz- Masturbationsszene, die Louis Garrel, im geschichte bereits 1997 Film ihr Zwillingsbruder, hinter sich bringt. unter dem Titel „Fire- Er habe dabei nicht an einem künstlichen bird’s Nest“ im Intel- Glied Hand angelegt: „Er masturbierte lektuellenmagazin „New

wirklich. Ich war sehr aufgeregt, aber er Yorker“ veröffentlicht – / E-LANCE-MEDIA / REUTERS DATTA ARKO war relaxed. Er hatte zwei oder drei Takes. etliche Jahre bevor Rush- Lakshmi Er ist ein sehr starker Mann.“ Nüchtern die die indische Schönheit gerät die Darstellung der Schlüsselszene Lakshmi traf. Inhalt der Kurzgeschichte: die Beziehungskiste zwischen einer jünge- des Films, in der die weibliche Hauptfigur, ren, in Indien geborenen Frau und einem älteren Herrn. Inhalt des Drehbuchs: die ermutigt von ihrem Bruder, vom amerika- leidenschaftliche Beziehung einer jungen Inderin, gespielt von Lakshmi in der Haupt- nischen Gast, Michael Pitt, auf dem rolle, mit einem älteren Herrn (Besetzung ungeklärt) in New York. Lakshmi hofft, Küchenboden entjungfert wird: „Bernardo mit diesem Projekt, das mit dem realen Leben des Paares nichts zu tun habe, wie sie stand über uns wie ein Orchesterchef. Er emphatisch behauptet, endlich den Durchbruch als Schauspielerin zu schaffen. Ihr sagte: ,Okay, jetzt Start … okay, Orgasmus jüngster Versuch mit dem Bollywood-Softporno „Boom“ war glatt durchgefallen. … okay, ausklingen lassen.‘ Es war alles sehr beruhigend. Eine Kamera war die ganze Zeit auf mein Gesicht gerichtet.“ war sehr lustig, wegen der Sätze. Die turn- Und ohne Scham beschreibt Eva Green ten ihn ab. Es ist nicht einfach, eine Erek- jene clowneske Szene, in der sie den ame- tion auf Bestellung zu bekommen, wenn rikanischen Gast auszieht und entdeckt, man nicht ein Porno-Star ist.“ Dennoch, dass er unter dem Reißverschluss der Hose eine Karriere als Sex-Movie-Star ist nicht ein Foto der Hauptdarstellerin trägt. „Es ihr Berufsziel. „Die Träumer“, darauf be- steht die Schauspielerin, das war das erste und das

letzte Mal. / AP SEKRETAREV IVAN Milford-Haven-Diadem Artjom Tarassow, 53, russischer Geschäftsmann, ursprünglich ein Präsent eines Enkels von hofft, genügend Geld sam- Zar Nikolai I. an seine Braut, die er 1891 meln zu können, um ein heiratete, gelangte auf unklarem Weg im sechs Millionen Euro teu- vergangenen Jahrhundert in die Schmuck- res, mit Diamanten und schatulle der Familie derer von Milford Ha- Rubinen besetztes Diadem ven und war Sarah zur Hochzeit übergeben nach Moskau heimzuho- worden. „Dieses Juwel gehört nach Russ- len. Das Schmuckstück land“, sagt Tarassow, früheres Mitglied des gehört der bürgerlich ge- russischen Parlaments und in den neunzi- borenen Britin Sarah Mar- ger Jahren zeitweilig in London lebend. Er quise von Milford Haven, wolle es zurückbringen, um „Russland an seit 1996 geschieden von seine große Vergangenheit zu erinnern“. George Ivar Louis Mount- Für Sarah ist das Diadem ohne besonderen

ADOLFO FRANZ / INTER-TOPICS ADOLFO FRANZ batten, Marquis von Mil- emotionalen Wert. Tarassow hofft, das noch Green ford Haven. Das Diadem, fehlende Geld bei den russischen Oligar-

156 der spiegel 5/2004 Personalien

Wolfgang Clement, 63, Bundeswirt- schaftsminister (SPD), blitzte mit einer freundlich gemeinten Geste bei CDU-Frak- tionsvize Friedrich Merz ab. Die beiden Promis waren von der Konrad-Adenauer- Stiftung zum Thema „Welche Reformen braucht Deutschland?“ eingeladen wor- den. Nachdem sich Clement in das Gäste- buch eingetragen hatte, bot er seinen Stift dem als stur bekannten Sauerländer an. Der lehnte ab: „Mit so einem dünnen Stift kann ich nicht schreiben.“ Auch die An-

preisungen Clements („moderner Stift, / WIREIMAGE.COM JIM SPELLMAN ziemlich gut“) konnten Merz nicht beein- Rushdie, Lakshmi drucken. Der Christdemokrat zückte sein eigenes Schreibgerät, was Clement hin- Salman Rushdie, 56, bri- nahm: „Verstehe, meiner ist ministerrot, tisch-indischer Schrift- das dürfen Sie ja nicht verwenden.“ steller („Die Satanischen Verse“), hat seiner Le- Eva Green, 23, französischer Kinoneuling bensgefährtin, dem Model und Hauptdarstellerin in Bernardo Berto- Padma Lakshmi, 33, ein luccis jüngstem Film „Die Träumer“, nimmt Drehbuch auf den schö- kein Blatt vor den Mund, wenn es um die nen Leib geschrieben. Die Schilderung der Sexszenen in dem Kino- Vorlage zum Filmskript werk geht. Unbefangen beschreibt sie eine hatte Rushdie als Kurz- Masturbationsszene, die Louis Garrel, im geschichte bereits 1997 Film ihr Zwillingsbruder, hinter sich bringt. unter dem Titel „Fire- Er habe dabei nicht an einem künstlichen bird’s Nest“ im Intel- Glied Hand angelegt: „Er masturbierte lektuellenmagazin „New

wirklich. Ich war sehr aufgeregt, aber er Yorker“ veröffentlicht – / E-LANCE-MEDIA / REUTERS DATTA ARKO war relaxed. Er hatte zwei oder drei Takes. etliche Jahre bevor Rush- Lakshmi Er ist ein sehr starker Mann.“ Nüchtern die die indische Schönheit gerät die Darstellung der Schlüsselszene Lakshmi traf. Inhalt der Kurzgeschichte: die Beziehungskiste zwischen einer jünge- des Films, in der die weibliche Hauptfigur, ren, in Indien geborenen Frau und einem älteren Herrn. Inhalt des Drehbuchs: die ermutigt von ihrem Bruder, vom amerika- leidenschaftliche Beziehung einer jungen Inderin, gespielt von Lakshmi in der Haupt- nischen Gast, Michael Pitt, auf dem rolle, mit einem älteren Herrn (Besetzung ungeklärt) in New York. Lakshmi hofft, Küchenboden entjungfert wird: „Bernardo mit diesem Projekt, das mit dem realen Leben des Paares nichts zu tun habe, wie sie stand über uns wie ein Orchesterchef. Er emphatisch behauptet, endlich den Durchbruch als Schauspielerin zu schaffen. Ihr sagte: ,Okay, jetzt Start … okay, Orgasmus jüngster Versuch mit dem Bollywood-Softporno „Boom“ war glatt durchgefallen. … okay, ausklingen lassen.‘ Es war alles sehr beruhigend. Eine Kamera war die ganze Zeit auf mein Gesicht gerichtet.“ war sehr lustig, wegen der Sätze. Die turn- Und ohne Scham beschreibt Eva Green ten ihn ab. Es ist nicht einfach, eine Erek- jene clowneske Szene, in der sie den ame- tion auf Bestellung zu bekommen, wenn rikanischen Gast auszieht und entdeckt, man nicht ein Porno-Star ist.“ Dennoch, dass er unter dem Reißverschluss der Hose eine Karriere als Sex-Movie-Star ist nicht ein Foto der Hauptdarstellerin trägt. „Es ihr Berufsziel. „Die Träumer“, darauf be- steht die Schauspielerin, das war das erste und das

letzte Mal. / AP SEKRETAREV IVAN Milford-Haven-Diadem Artjom Tarassow, 53, russischer Geschäftsmann, ursprünglich ein Präsent eines Enkels von hofft, genügend Geld sam- Zar Nikolai I. an seine Braut, die er 1891 meln zu können, um ein heiratete, gelangte auf unklarem Weg im sechs Millionen Euro teu- vergangenen Jahrhundert in die Schmuck- res, mit Diamanten und schatulle der Familie derer von Milford Ha- Rubinen besetztes Diadem ven und war Sarah zur Hochzeit übergeben nach Moskau heimzuho- worden. „Dieses Juwel gehört nach Russ- len. Das Schmuckstück land“, sagt Tarassow, früheres Mitglied des gehört der bürgerlich ge- russischen Parlaments und in den neunzi- borenen Britin Sarah Mar- ger Jahren zeitweilig in London lebend. Er quise von Milford Haven, wolle es zurückbringen, um „Russland an seit 1996 geschieden von seine große Vergangenheit zu erinnern“. George Ivar Louis Mount- Für Sarah ist das Diadem ohne besonderen

ADOLFO FRANZ / INTER-TOPICS ADOLFO FRANZ batten, Marquis von Mil- emotionalen Wert. Tarassow hofft, das noch Green ford Haven. Das Diadem, fehlende Geld bei den russischen Oligar-

156 der spiegel 5/2004 chen einsammeln zu können, die unter Jel- Dame nachhakte: „Ja, aber Sarkozy?“, da zin Milliarden scheffelten. „Yachten und blieb der Hausherr weiter harthörig: ausländische Fußballvereine zu kaufen ist „Stammt dieses Collier von den Antillen?“ ganz in Ordnung“, lockt Tarassow, selbst Auch einen dritten Anlauf der Journalistin Millionär, „doch hier haben wir die Chan- blockte der Befragte ab: „Ah, was sind sie ce, ein Stück unseres Erbes nach Hause zu schön – die Antillen.“ holen.“ Das teure Stück soll im Kreml-Mu- seum aufbewahrt werden. Walter Riester, 60, ehemaliger Arbeits- minister, der gerade sein Buch „Mut zur Peer Steinbrück, 57, SPD-Ministerpräsi- Wirklichkeit“ abgeschlossen hat, freut sich

dent von Nordrhein-Westfalen, wählt, wie BENAINOUS ALAIN / GAMMA nicht nur über das vorläufige Ende seiner auch andere Mitglieder der Düsseldorfer Chirac, Sarkozy schriftstellerischen Anstrengung. Sehr an- Landesregierung, gern eine Abkürzung in getan ist der Ex-Minister auch von den die Staatskanzlei. In seiner Dienstlimousi- Jacques Chirac, 71, französischer Staats- rund 170 E-Mails, die ihn zum Jahres- ne lässt er sich über einen schmalen, mit präsident, entwickelte eine neue Technik, wechsel erreichten und zur Namensgebung Ziegelsteinen gepflasterten Rad- und um lästige Journalistenfragen abzuwim- „Riester-Rente“ beglückwünschten. Damit Fußgängerweg quer durch einen Park meln. Der Elysée-Herr hat seit Wochen sei- sei er, so habe ihm etwa ein Arzt geschrie- chauffieren – das erspart ihm gut zehn Me- nen hyperaktiven Innenminister Nicolas ben, schon zu Lebzeiten mit seinem Na- ter Fußmarsch und die Nutzung einer Sarkozy auf den Fersen, der aus seiner men für eine gute Sache eingetreten. Doch Außentreppe. Steinbrück hatte für sich und Ambition, den Alt-Gaullisten im Jahr 2007 der ehemalige IG-Metall-Bezirksleiter sein Kabinett eine Ausnahmegenehmigung abzulösen („Ich denke nicht nur beim Ra- denkt nicht nur an sich. Bei allem, was ge- der Stadt beantragt, die ihm „aus Sicher- sieren daran“), keinerlei Geheimnis mehr wesen sei, er schätze den Gerhard Schrö- heitsgründen“ auch erteilt worden war. macht. Als bei einem Empfang für die Pres- der doch sehr, „weil er ein kluger und po- Seit Wochen wächst nun aber der Ärger se der Staatschef von einer Journalistin litischer Kopf ist“. Dem Kanzler, so der unter den Mitarbeitern und anderen Mie- nach dem ehrgeizigen Sarkozy befragt wur- mitfühlende, von Sorgen befreite Riester, tern des Hauses, in dem die Staatskanzlei de, sah der nur auf deren Ausschnitt: „Sie würde es „auch gut tun, wenn er ab und zu untergebracht ist. Denn nicht nur während haben da ein schönes Collier.“ Als die mal so ein Lob von außen bekäme“. der dienstäglichen Kabinettssitzungen par- ken die Cheffahrzeuge einen überdachten Fußgängerweg zu, auch an anderen Tagen der Woche werden unentwegt Akten in Autos über diesen Fußweg transportiert.

Renata Smailyte, 39, litauische Ge- schäftsfrau, hat sich ihren Namen schüt- zen lassen. Bars und Cafés in Litauen müs- sen demnächst eine Lizenzgebühr zahlen, wenn sie Kaffee mit Brandy unter dem Namen „Kaffee Renata“ ausschenken. Das Getränk ist während der Affäre um den

Präsidenten Rolandas Paksas populär ge- DPA worden. Smailyte soll – so der Vorwurf ei- Totti Vieri ner Untersuchungskommission – Kontakte zwischen der Entourage des Präsidenten David Beckham, 28, bei Real Madrid ki- und der russischen Mafia vermittelt haben. ckender Mädchenschwarm, und andere ball- Bei den Treffen soll „Kaffee Renata“ in spielende Jungmillionäre sollen krisenge- Strömen geflossen sein. Obwohl Smailyte beutelten Haute-Couture-Schneidern neu- die Vorwürfe zurückweist, hat sie schon en Glanz verschaffen. So hat das Modepaar die nächste Vermarktungsidee: Demnächst Dolce&Gabbana für Beckham eigens eine will sie Tassen mit der Aufschrift „Gefähr- Kollektion kreiert und ihm in der Hoffnung dung der nationalen Sicherheit“ verkau- geschenkt, dass er sich damit gelegentlich fen. So lautet der Hauptvorwurf im Amts- zeigen möge. In seinen Boutiquen präsen- enthebungsverfahren gegen Paksas. Dem tiert das D&G-Duo das Buch ,,Fußball“, Präsidenten wird vorgeworfen, seinen mit Fotos von Topspielern wie dem Inter-

Wahlkampf mit russi- Mailand-Stürmer Christian Vieri, 30. Welt- / AP RUBEN MONDELO schen Mafiageldern fi- klassefußballer, so die D&G-Erkenntnis, sei- Beckham nanziert und indirekt in en die neuen Schönheitsideale, die lkonen Kontakt zum Moskau- der Gegenwart. Das muss wohl auch Giorgio Armani so sehen. Denn auch er er Geheimdienst ge- benutzt den in Spanien arbeitenden Briten Beckham als Kleiderständer – und im standen zu haben. Als Armani-Komplex in Mailands vornehmer Via Manzoni ködern auf Kunst getrimm- ihr Vorbild nennt Smai- te Spielerporträts, etwa vom römischen Stadion-Heiligen Francesco Totti, 27, lyte Monica Lewinsky. potenzielle Kunden. Ob bei Vivienne Westwood oder Dirk Bikkemberg, Fußballer Schließlich habe auch sind bei der Mode groß in Mode. Dabei verwandeln die Helden des Ballsports diese es verstanden, keineswegs alles in Geld, was sie anfassen. Ihre Hauptarbeitgeber, allen voran die aus ihren Präsidenten- starbesetzten Clubs der italienischen Liga, sind wegen der hohen Gehälter ihrer

ZILVINAS PEKARSKAS / ANTRA PUSE / ANTRA PEKARSKAS ZILVINAS Kontakten Profit zu Rasentreter fast allesamt hoch verschuldet, und viele sind praktisch pleite. Smailyte schlagen.

der spiegel 5/2004 157 chen einsammeln zu können, die unter Jel- Dame nachhakte: „Ja, aber Sarkozy?“, da zin Milliarden scheffelten. „Yachten und blieb der Hausherr weiter harthörig: ausländische Fußballvereine zu kaufen ist „Stammt dieses Collier von den Antillen?“ ganz in Ordnung“, lockt Tarassow, selbst Auch einen dritten Anlauf der Journalistin Millionär, „doch hier haben wir die Chan- blockte der Befragte ab: „Ah, was sind sie ce, ein Stück unseres Erbes nach Hause zu schön – die Antillen.“ holen.“ Das teure Stück soll im Kreml-Mu- seum aufbewahrt werden. Walter Riester, 60, ehemaliger Arbeits- minister, der gerade sein Buch „Mut zur Peer Steinbrück, 57, SPD-Ministerpräsi- Wirklichkeit“ abgeschlossen hat, freut sich

dent von Nordrhein-Westfalen, wählt, wie BENAINOUS ALAIN / GAMMA nicht nur über das vorläufige Ende seiner auch andere Mitglieder der Düsseldorfer Chirac, Sarkozy schriftstellerischen Anstrengung. Sehr an- Landesregierung, gern eine Abkürzung in getan ist der Ex-Minister auch von den die Staatskanzlei. In seiner Dienstlimousi- Jacques Chirac, 71, französischer Staats- rund 170 E-Mails, die ihn zum Jahres- ne lässt er sich über einen schmalen, mit präsident, entwickelte eine neue Technik, wechsel erreichten und zur Namensgebung Ziegelsteinen gepflasterten Rad- und um lästige Journalistenfragen abzuwim- „Riester-Rente“ beglückwünschten. Damit Fußgängerweg quer durch einen Park meln. Der Elysée-Herr hat seit Wochen sei- sei er, so habe ihm etwa ein Arzt geschrie- chauffieren – das erspart ihm gut zehn Me- nen hyperaktiven Innenminister Nicolas ben, schon zu Lebzeiten mit seinem Na- ter Fußmarsch und die Nutzung einer Sarkozy auf den Fersen, der aus seiner men für eine gute Sache eingetreten. Doch Außentreppe. Steinbrück hatte für sich und Ambition, den Alt-Gaullisten im Jahr 2007 der ehemalige IG-Metall-Bezirksleiter sein Kabinett eine Ausnahmegenehmigung abzulösen („Ich denke nicht nur beim Ra- denkt nicht nur an sich. Bei allem, was ge- der Stadt beantragt, die ihm „aus Sicher- sieren daran“), keinerlei Geheimnis mehr wesen sei, er schätze den Gerhard Schrö- heitsgründen“ auch erteilt worden war. macht. Als bei einem Empfang für die Pres- der doch sehr, „weil er ein kluger und po- Seit Wochen wächst nun aber der Ärger se der Staatschef von einer Journalistin litischer Kopf ist“. Dem Kanzler, so der unter den Mitarbeitern und anderen Mie- nach dem ehrgeizigen Sarkozy befragt wur- mitfühlende, von Sorgen befreite Riester, tern des Hauses, in dem die Staatskanzlei de, sah der nur auf deren Ausschnitt: „Sie würde es „auch gut tun, wenn er ab und zu untergebracht ist. Denn nicht nur während haben da ein schönes Collier.“ Als die mal so ein Lob von außen bekäme“. der dienstäglichen Kabinettssitzungen par- ken die Cheffahrzeuge einen überdachten Fußgängerweg zu, auch an anderen Tagen der Woche werden unentwegt Akten in Autos über diesen Fußweg transportiert.

Renata Smailyte, 39, litauische Ge- schäftsfrau, hat sich ihren Namen schüt- zen lassen. Bars und Cafés in Litauen müs- sen demnächst eine Lizenzgebühr zahlen, wenn sie Kaffee mit Brandy unter dem Namen „Kaffee Renata“ ausschenken. Das Getränk ist während der Affäre um den

Präsidenten Rolandas Paksas populär ge- DPA worden. Smailyte soll – so der Vorwurf ei- Totti Vieri ner Untersuchungskommission – Kontakte zwischen der Entourage des Präsidenten David Beckham, 28, bei Real Madrid ki- und der russischen Mafia vermittelt haben. ckender Mädchenschwarm, und andere ball- Bei den Treffen soll „Kaffee Renata“ in spielende Jungmillionäre sollen krisenge- Strömen geflossen sein. Obwohl Smailyte beutelten Haute-Couture-Schneidern neu- die Vorwürfe zurückweist, hat sie schon en Glanz verschaffen. So hat das Modepaar die nächste Vermarktungsidee: Demnächst Dolce&Gabbana für Beckham eigens eine will sie Tassen mit der Aufschrift „Gefähr- Kollektion kreiert und ihm in der Hoffnung dung der nationalen Sicherheit“ verkau- geschenkt, dass er sich damit gelegentlich fen. So lautet der Hauptvorwurf im Amts- zeigen möge. In seinen Boutiquen präsen- enthebungsverfahren gegen Paksas. Dem tiert das D&G-Duo das Buch ,,Fußball“, Präsidenten wird vorgeworfen, seinen mit Fotos von Topspielern wie dem Inter-

Wahlkampf mit russi- Mailand-Stürmer Christian Vieri, 30. Welt- / AP RUBEN MONDELO schen Mafiageldern fi- klassefußballer, so die D&G-Erkenntnis, sei- Beckham nanziert und indirekt in en die neuen Schönheitsideale, die lkonen Kontakt zum Moskau- der Gegenwart. Das muss wohl auch Giorgio Armani so sehen. Denn auch er er Geheimdienst ge- benutzt den in Spanien arbeitenden Briten Beckham als Kleiderständer – und im standen zu haben. Als Armani-Komplex in Mailands vornehmer Via Manzoni ködern auf Kunst getrimm- ihr Vorbild nennt Smai- te Spielerporträts, etwa vom römischen Stadion-Heiligen Francesco Totti, 27, lyte Monica Lewinsky. potenzielle Kunden. Ob bei Vivienne Westwood oder Dirk Bikkemberg, Fußballer Schließlich habe auch sind bei der Mode groß in Mode. Dabei verwandeln die Helden des Ballsports diese es verstanden, keineswegs alles in Geld, was sie anfassen. Ihre Hauptarbeitgeber, allen voran die aus ihren Präsidenten- starbesetzten Clubs der italienischen Liga, sind wegen der hohen Gehälter ihrer

ZILVINAS PEKARSKAS / ANTRA PUSE / ANTRA PEKARSKAS ZILVINAS Kontakten Profit zu Rasentreter fast allesamt hoch verschuldet, und viele sind praktisch pleite. Smailyte schlagen.

der spiegel 5/2004 157 Hohlspiegel Rückspiegel Aus den „Ruhr Nachrichten“: „Schnell Zitat lernte die deutsche Lehrerin, dass die Chi- nesen alles essen, was vier Beine hat, außer Die „Frankfurter Allgemeine“ zum einen Tisch. Schlangen inbegriffen.“ SPIEGEL-Titel „Dr. Tod. Die horrenden Geschäfte des Leichen-Schaustellers Gunther von Hagens“ (Nr. 4/2004):

Die Leichen des Gunther von Hagens kom- men, wie der SPIEGEL in seiner aktuellen Ausgabe belegt, durchaus nicht nur von wil- ligen Spendern, sondern unter anderem aus chinesischen Straflagern. Es waren, mindes- tens bis zum Jahr 2002, Hingerichtete. Man- Aus der „Kreiszeitung Wesermarsch“ che hatten ein Loch im Schädel, andere einen gebrochenen Hals. Der kommunisti- sche Staat verkaufte sie. Der Meister aus Aus der „Amberger Zeitung“: „Die lang- Deutschland betreibt im chinesischen Dailan same Gestalt eines immer detaillierteren ein internationales Großunternehmen, die Täterprofils nahm die regionale Einbruch- „Von Hagens Plastination Ltd.“, wo die Lei- serie an, als die Ermittlungen bei der Burg- chenpräparation wie am Fließband stattfin- lengenfelder Polizeiinspektion zusammen- det. Man wird an das Äußerste der mensch- gezogen wurden.“ lichen Verworfenheit erinnert: vielleicht nicht direkt an die Menschenversuche der NS-Medizin, aber doch an jene Ärzte, die sich Kommissarschädel von der Ostfront kommen ließen, um anthropometrische Da- ten über den Typus des Bolschewisten zu er- heben.

Aus den „Nürnberger Nachrichten“ Der SPIEGEL berichtete ...

… in Nr. 1/2004 „Der König der Schleuser“ über den Syrer Majed Berki, Drahtzieher mehrerer spektakulärer Massenschleusungen von Kurden, die er mit Schiffen aus dem Mittleren Anzeige aus dem „Göttinger Tageblatt“ Osten nach Südeuropa und dann weiter nach Deutschland gebracht hatte.

Aus der „Saarbrücker Zeitung“: „Karsten Berki soll wieder in Haft sitzen. Schon kurz Schmeer vom Bischmisheimer Hof In den nachdem er im Herbst unter ungeklärten Birken hat 1998 als erster saarländischer Umständen aus der libanesischen Haftan- Landwirt seiner Frau Astrid ein Automati- stalt Rumija freigelassen wurde, wollen die sches Melk-System (AMS) angeschafft.“ Syrer ihn festgenommen haben. Allerdings hatten sie dies der deutschen Seite, die im November im Libanon und in Syrien inter- veniert hatte, nicht mitgeteilt. Warum Sy- rien die Deutschen über die Festnahme – sollte sie tatsächlich schon im Herbst statt- gefunden haben – nicht informiert hat, bleibt offen.

Aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zei- … in Nr. 45/2003 „Affären – Im Galopp in tung“ die Krise“ über Sachsen-Anhalts Bau- minister und Präsidenten des Magdebur- ger Rennvereins Karl-Heinz Daehre Aus dem „Südkurier“ anlässlich der Afri- und dubiose Subventionsmachenschaften kareise des Bundeskanzlers: „Dass die bei der Magdeburger Rennbahn. westliche Diplomatie in Afrika bislang nur wenig erreicht hat, ist vor allem damit zu Die Stadt Magdeburg hat die Rennwiesen erklären, dass Afrika selbst fast nichts zum GmbH jetzt „unter Androhung der zwangs- eigenen Gelingen beigetragen hat. Und weisen Beitreibung“ aufgefordert, den aus- daran ändern auch gut gemeinte Forde- stehenden Erbbauzins in Höhe von 253016 rungen der Dritte-Welt-Lobby nichts, doch Euro zu zahlen. Hintergrund ist eine Ent- endlich auch die positiven Seiten des Kon- scheidung des Regierungspräsidiums Mag- tinents, seine Vitalität und die enorme Lei- deburg, die bislang von der Stadt einge- densfähigkeit der dortigen Bevölkerung, räumten äußerst günstigen Jahreszinsen zu hervorzuheben.“ beanstanden.

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