lin nicht mehr in Betracht. Obwohl Bundes- DEUTSCHE POLITIK kanzler Adenauer seinen Berliner Freunden eine Fortsetzung der Koalition mit den So- zialdemokraten anraten ließ, hielten diese es ZUR INNENPOLITIK DER für zweckmäßiger, in Anbetracht ihrer schwe- BUNDESREPUBLIK IM ren Niederlage in die Opposition zu gehen. So bot sich ein Zusammengehen der SPD mit FRÜHJAHR 1963 den Freien Demokraten, die nach vierjähri- ger Verbannung mit zehn Mann ins Abge- Die Innenpolitik der ersten Monate des ordnetenhaus zurückgekehrt waren, von sel- neuen Jahres stand weiter im Zeichen von ber an. Drei FDP-Politiker wurden als Sena- Lähmung, Entschlußlosigkeit und Prestigeein- toren in die neue Stadtregierung unter Bür- buße der Unionsparteien, verursacht durch un- germeister Brandt aufgenommen. Den Posten geklärte Kanzlernachfolge, durch Skandale des zweiten Bürgermeisters behielten die So- und durch Zweifel an der Außenpolitik. Die zialdemokraten diesmal für sich, und zwar Folgen waren zwei schwere Niederlagen der wurde mit ihm der frühere Senatschrektor und CDU bei den Wahlen zum Berliner Abge- ehemalige niedersächsische Vertriebenenmmi- ordnetenhaus und zum Landtag von Rhein- ster Albertz betraut, der offensichtlich auch land-Pfalz. einmal die Nachfolge Brandts in , bei In Berlin haben die Christlichen Demokra- dessen Abwanderung in die Bundespolitik, er- ten über 160 000 Stimmen, das sind mehr als halten soll. Dr. trat als Senator ein Viertel ihres Bestandes von 1958, ver- für Wissenschaft und Kunst in den neuen Ber- loren. Davon ist vielleicht ein Drittel aus Ver- liner Senat ein. ärgerung überhaupt nicht zur Wahl gegangen Die Bundes-CDU war von dem Ausgang (60 000 Stimmen wurden diesmal weniger ab- der Wahl, der ihren Berliner Freunden einen gegeben als 1958). Eine Anzahl früherer CDU- Rückgang von 8,8 Punkten, den Sozialdemo- Wähler mögen diesmal FDP gewählt haben, kraten einen Gewinn von 9,3 Punkten, im offenbar aber nicht sehr viele, da die FDP fast ganzen also eine Vergrößerung des Abstandes genau soviel Stimmen erhielt, wie vor vier auf der Prozentskala zwischen führender So- Jahren auf die FDP, Freie Volkspartei und zialdemokratie und nachfolgender CDU von Deutsche Partei zusammen entfallen waren 14,9 auf 33 Punkte gebracht hatte, höchst be- (rund 8 vH). Etwa zwei Drittel der troffen. Sie tröstete sich jedoch damit, daß abtrünnigen CDU-Wähler aber dürften dies ein durch die spezifischen Berliner Ver- diesmal direkt SPD gewählt haben. Die SPD hältnisse bedingtes außergewöhnliches Wahl- erreichte, dank einem Zuwachs von 112 ergebnis sei. 000 Stimmen, mit fast einer Million Stimmen einen Rekord. Ihr Anteil stieg von 52,6 auf 61,9 vH; derjenige der CDU sank von 37,7 Neue Niederlage in Rheinland-Pfalz auf 28,9 vH. Sämtliche 80 Direktmandate gingen an die SPD, dazu noch neun Listen- Gerade sechs Wochen hielt dieser Trost an, mandate. Auch der frühere Bundesminister bis er durch das niederschmetternde Ergebnis Lemmer und Bürgermeister Amrehn wurden der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz am 31. von Sozialdemokraten geschlagen. Besonders März 1963 zerstört wurde. Bei dieser Wahl eindrucksvoll sind die SPD-Erfolge in den verlor die CDU in einem Land, das sie immer bisher vorwiegend bürgerlichen Stadtteilen. In als ihre ureigenste Domäne angesehen und Amrehns Wahlbezirk Steglitz ist der CDU- dessen Geschicke sie 17 Jahre lang durch ih- Anteil von 48,4 auf 36,8, also um 11,6 vH, ren Ministerpräsidenten Altmaier gelenkt hatte, zurückgegangen, während der durchschnittliche ihre absolute Mehrheit im Landtag. Hatte Rückgang der CDU in Berlin nur 8,8 vH man vor der Wahl davon gesprochen, daß beträgt. Führte die CDU vor vier Jahren ein CDU-Verlust von drei Sitzen schon als noch in vier der zwölf Verwaltungsbezirke, Erdrutsch angesehen werden müsse (bei 52 so hat die SPD diesmal in elf Verwaltungs- von 100 Sitzen), so ergab sich in der Nacht bezirken die absolute und nur in Zehlendorf nach der Wahl, daß die CDU sechs Sitze ver- (mit 48 vH) die einfache Mehrheit errungen. loren hatte. Der Rückgang des CDU-Anteils von 48,4 auf 44,4 wäre nicht einmal so sen- sationell gewesen, hätten nicht zu gleicher Zeit Koalition SPD/FDP Sozialdemokraten von 34,9 auf 40,7 vH an- gezogen, somit das selbstgesetzte Ziel, die 40- Obwohl die SPD mit ihren 89 von 140 Prozent-Grenze, überschritten und einem Abgeordnetenhaussitzen allein die Regierung Verlust von 51 000 CDU-Stimmen einen SPD- hätte bilden können, hat Regierender Bür- Gewinn von 116 000 Stimmen und sechs Man- germeister sofort seine Bereit- daten entgegengestellt. So wurde der Stim- schaft zur Koalitionsbildung erklärt. Ein neuer menvorsprung der CDU, der 1959 noch Allparteiensenat kam allerdings angesichts der 232 000 betragen hatte, auf 65 000, der Vor- relativen internationalen Beruhigung um Ber- sprung auf der Prozentskala von 13,5 auf

301 3,7 reduziert, während das Übergewicht von CDU erscheinen aber deshalb als besonders 15 CDU-Abgeordneten im Landtag auf ganze niedrig, weil diese Partei einen großen Teil drei zusammenschrumpfte (46 CDU, 43 SPD). der früheren DRP-Stimmen bekommen hat. Die Verbesserung des prozentualen Anteils Schätzungsweise hat also die CDU nicht nur der Sozialdemokraten um 5,8 stellt in Wirk- die 51 000 Stimmen, die als reiner Verlust lichkeit eine fast zwanzigprozentige Vermeh- erscheinen, an die Sozialdemokraten abgege- rung der SPD-Stimmen in Rheinland-Pfalz ben, sondern 75 000 bis 80 000, also etwa zehn (von 597 000 auf 713 000) dar. Besonders Prozent ihres Stimmenbestandes von 1959. hart trifft die CDU die Feststellung, daß die Vereinzelt freilich, so in den Landkreisen Sozialdemokraten ihre prozentual höchsten Kreuznach und Simmern, ist der starke Zu- Gewinne ausgerechnet in den erzkatholischen wachs der SPD-Stimmen nur so zu erklären, CDU-Hochburgen der Eifel und des Hunsrück daß die Sozialdemokraten auch noch von ört- erzielten, wo sie ihre Stimmen gegenüber 1959 lichen Verlusten der Freien Demokraten pro- stellenweise um 45 bis 65 vH (so in den fitiert haben, die übrigens im Landesdurch- Landkreisen Ahrweiler, Simmern, Daun und schnitt gegenüber der letzten Landtagswahl Cochem) zu steigern vermochten. Den größ- um 11 000 Stimmen oder um einen Anteil von ten Anstieg ihres Stimmenanteils hat die SPD 0,4 vH anzogen, gegenüber der letzten Bun- im Kreis Simmern zu verzeichnen (von 22,5 destagswahl freilich 82 000 Stimmen, das ist auf 35,6 vH). fast ein Drittel ihres damaligen Bestandes, In einer kleineren Anzahl von Stadt- und verloren haben. Landkreisen decken sich die CDU-Verluste ziemlich genau mit den SPD-Gewinnen. In einer größeren Anzahl aber sind die SPD- Liberale Kulturpolitik mit CDU oder SPD? Gewinne wesentlich höher als die CDU-Ver- luste. Man kann annehmen, daß der größere Teil der 40 000 gültigen Stimmen, die dies- Die rheinland-pfälzischen Sozialdemokraten mal mehr als 1959 abgegeben worden sind, haben sofort nach ihrem respektablen Wahl- den Sozialdemokraten zugute gekommen ist. erfolg den Freien Demokraten ein Koalitions- Auf der anderen Seite muß man auch damit angebot gemacht mit dem Ziel, eine liberalere rechnen, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil Kulturpolitik zu treiben. Sie waren der An- der 23 000 Stimmen der DFU, die vor vier sicht, daß trotz des vor der Wahl von der Jahren noch nicht kandidierte, auf Kosten der FDP ausgedrückten Wunsches, die Landes- SPD gegangen ist. koalition CDU/FDP aufrecht zu erhalten, durch das Wahlergebnis eine neue Situation geschaffen sei. Sie machten den Freien Demo- Rechtsradikale DRP ausgeschaltet kraten ein großzügiges Angebot: sie sollten nicht weniger als vier Ministerposten (bei 11 Erfreulicherweise ist die rechtsradikale Abgeordneten im Landtag) bekommen, wäh- Deutsche Reichspartei, die vor vier Jahren rend die Sozialdemokraten (43 Abgeordnete) die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen und ei- sich mit dem Ministerpräsidenten- und drei nen Abgeordneten in den Landtag gebracht weiteren Ministerposten begnügen wollten. hatte, im neuen Parlament nicht mehr ver- FDP-Bundesvorsitzender Dr. Mende und einige treten, da sie 35 Prozent ihres damaligen seiner rheinland-pfälzischen Parteifreunde er- Stimmenbestandes eingebüßt und nur noch ei- klärten, es komme ihnen nicht auf die Zahl nen Anteil von 3,2 vH erreicht hat. Es liegt der Ministerposten, sondern auf das Regie- nahe, bei der Suche nach der Herkunft der rungsprogramm an. Inzwischen haben sich die sozialdemokratischen Gewinne auf die 31 000 Meinungen innerhalb der FDP gespalten. Ein Stimmen zurückzugreifen, welche die DRP Teil ist für Annahme des sozialdemokrati- verloren hat. Freilich wird, wer die Struktur schen Angebotes, da sie bezweifeln, daß mit des Landes und der DRP-Wählerschaft kennt, der CDU in diesem „schwärzesten“ Bundes- es füglich bezweifeln, daß diese DRP-Wähler land überhaupt eine liberale Kulturpolitik, von 1959 jetzt SPD gewählt haben. Sie dürf- wie man sie dem Wähler versprochen hat, ten vielmehr zur FDP und vor allem zur möglich sei. Auch fürchten sie, daß bei Er- CDU zurückgekehrt sein. Dafür, daß die CDU neuerung der CDU/FDP-Koalition die wirk- mindestens zwei Drittel der früheren DRP- lich liberalen Wähler der FDP beim nächsten Stimmen geerbt hat, spricht auch der Um- Mal gleich zur SPD gehen, wie dies be- stand, daß überall dort, wo die DRP starke reits jetzt an einigen Stellen, so in den Land- Einbußen erlitten hat, die CDU-Verluste be- kreisen Kreuznach und Simmern, offenbar der trächtlich unter dem Landesdurchschnitt lie- Fall gewesen ist. Schließlich sehen die Freien gen, so in den Landkreisen Birkenfeld, Bin- Demokraten in Hamburg, Bremen, Nieder- gen, Neustadt (Pfalz), Kirchheim-Bolanden, sachsen und Berlin, die dort bereits mit den Kaiserslautern (Stadt- und Landkreis). Wahr- Sozialdemokraten zusammen regieren, in ei- scheinlich sind dort die Stimmenabgaben der ner SPD/FDP-Koalition in Rheinland-Pfalz CDU an die SPD auch nicht geringer als in einen weiteren Modellfall für eine entspre- den übrigen Landesteilen; die Verluste der chende Koalitionsbildung im Bunde.

302 DEUTSCHE POLITIK

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Amt des Regierungschefs aus. Gerhard Schröder, die geradezu wissenschaftliche Art, mit der die der wahrscheinlich tüchtigste Mann, den die rheinland-pfälzische SPD ihren Wahlkampf CDU für diesen Posten zu präsentieren hat, ist durchführte, vor allem die systematische Be- erst recht nicht populär genug. Auch v. Brentano arbeitung der sogenannten „Entwicklungs- und Kiesinger werden wieder als Kandidaten gebiete“, wesentlich dazu beigetragen hat, die genannt. Die CDU/CSU glaubt, Adenauer nicht Ernte voll in die Scheuer zu bringen. Wie gut das Mitspracherecht bei der Auswahl seines Diese Arbeit war, kann man ermessen, wenn Nachfolgers bestreiten zu können. In richtiger man erfährt, daß die herangezogenen Sozial- Erkenntnis des Schadens, den die aufeinander- wissenschaftler vor der Wahl ein Optimum von folgenden und sich meist widersprechenden Er- 720 000 erreichbaren Stimmen errechnet hatten klärungen zur Nachfolgefrage seitens der Duf- und daß die SPD in der Wahl dann nur gering- hues, von Brentano usw. dem Ansehen der fügig weniger, nämlich 713 194 Stimmen, er- Partei in der Öffentlichkeit zufügen, ist neuer- zielte. Natürlich wäre dieses Ergebnis nicht dings eine Gruppe um den Arbeitsminister Blank möglich gewesen, hätten hier nicht bereits ent- auf die Idee gekommen, Adenauer solle unter sprechende Trends zugunsten der SPD und zum Entbindung von seinem Rücktrittsversprechen Nachteil der CDU vorgelegen. bis zum Ende der Legislaturperiode, also bis 1965, Bundeskanzler bleiben. Adenauer scheint an diesem Vorschlag Ge- CDU hat sich selbst geschlagen schmack gefunden zu haben. Schon vor einiger Bereits nach dem Berliner Wahlergebnis hatte Zeit ließ er durchblicken, daß er sich an sein man Spekulationen darüber angestellt, ob es Rücktrittsversprechen für den Herbst 1963 nicht vorwiegend die von der CDU erzwungene Ab- halten werde, falls die Partei sich für Erhard sage des Treffens von Willy Brandt mit Chru- entscheide. Neuerdings hat er sogar von schtschow oder die von der Berliner Bevölke- Cadenabbia aus verlauten lassen, sein Rücktritts- rung als besonders amerikafeindlich empfun- versprechen sei ein Fehler gewesen. Dabei hat denen Umstände des deutsch-französischenVer- weder er noch die Gruppe Blank bedacht, daß tragsabschlusses gewesen seien, die der CDU die FDP auf Einhaltung der Rücktrittszusage so sehr geschadet haben. Eine exakte Mei- besteht und daß auch die Mehrheit der CDU nungsumfrage ergab dann, daß es vorwiegend nicht für eine Adenauer-Kanzlerschaft bis 1965 die Spiegel-Affäre und ihre Begleiterscheinun- zu gewinnen ist, so daß also durch diesen Vor- gen waren. Ob das auch für Rheinland-Pfalz schlag nur noch mehr Verwirrung entsteht. zutrifft, wird noch eine genauere Untersuchung Im Gegensatz zu Blank und seinen Anhän- dort zeigen müssen. Jedenfalls herrscht auch gern, die von der Hinausschiebung der Entschei- bei der Kanzlerpartei die Ansicht vor, die CDU dung um weitere zweieinhalb Jahre eine Be- habe sich selbst geschlagen, wie sich ein dieser ruhigung des derzeitigen CDU-feindlichen, Partei nahestehendes Blatt ausdrückte. Ex- SPD-freundlichen Publikumstrends erhoffen, minister meinte, so könne es verspricht sich eine andere Flügelgruppe einen nicht weitergehen, wenn seine Partei nicht vol- solchen Erfolg nur von einer schnellen Entschei- lends Selbstmord begehen wolle. Aber das ist dung der Nachfolge, möglichst noch vor den leicht gesagt, wenn erst einmal soviel widrige niedersächsischen Landtagswahlen am 19. Mai. Momente zusammengekommen sind: Skandale, Diese Wahl ist ohnehin der große Alpdruck eine Außenpolitik, welche die Bundesrepublik der CDU, nachdem sich in Niedersachsen eine in einen Gegensatz zur Kennedy- Regierung zu neue Deutsche Partei unter Mitwirkung eines treiben droht, und das Trauerspiel um die Mitgliedes des Weifenhauses gebildet hat und Kanzlernachfolge. die Bemühungen, den populären früheren DP- Vorsitzenden für einen Spitzenplatz der CDU zu gewinnen, gescheitert Die Kanzlernachfolge sind. Zu allem Überfluß hat kürzlich eine Meinungsuntersuchung für die CDU nur 36, Der Kern dessen, was man in Bonn das „Ma- für die SPD aber 48 Prozent der Gunst der laise“ der CDU nennt, ist das seit vier Jahren niedersächsischen Bevölkerung erbracht. in der Schwebe gehaltene Problem der Nach- folge Adenauers. Das Vaterbild, das Adenauer verkörperte, ist zu einem großen Teil dahin- Böser Bumerang Spiegel-Affäre geschwunden, weil heute alle, einschließlich seiner Parteifreunde, auf seinen Rücktritt war- Langsam, aber sicher beginnt sich die Spiegel- ten. Das Aufkommen neuer Autoritäten hat der Affäre zu einem bösen Bumerang für die Re- Kanzler mit Macht zu verhindern versucht. gierung Adenauer und die CDU/CSU zu ent- Selbst Erhards Autorität, die er als Wirtschafts- wickeln. Eine Hamburger Untersuchung hat minister erwarb, reicht, dank der Gegnerschaft ergeben, daß dort, am Hauptschauplatz der Adenauers und nicht zuletzt auch dank eigener Handlung, Ende vergangenen Jahres die Spiegel- Weichheit und Unentschlossenheit, nicht für das Affäre der Hauptgesprächsstoff der Bevölkerung

303 war. Im gesamten Bundesgebiet stand zwar die kann. Staatssekretär Hopf fühlt sich durch Kuba-Krise, die Ende Oktober den Weltfrieden den amtlichen Spiegel-Bericht zu Unrecht für aufs schwerste bedroht hat, an der Spitze, aber Handlungen verantwortlich gemacht, die sei- ihr folgte, in weitem Abstand vor anderen nem damaligen Minister zur Last fallen, und Fragen, selbst vor dem deutsch-französischen hat seine Versetzung in den Ruhestand bean- Vertrag, die Spiegel-Affäre. Wie in Berlin der tragt. Der neue Minister, von Hassel, scheint Hinweis auf diese Affäre als Hauptmotiv für ihn nicht halten zu wollen, sondern hat bereits die Abwendung von der CDU mit einem star- einen Nachfolger vorgesehen. ken Vertrauenszuwachs für SPD und Willy Brandt verbunden war, so zeigt sich auch bei Aus dem amtlichen Bericht geht eindeutig der Hamburger Umfrage eine beträchtliche Zu- hervor, daß Strauß in seinem Telefongespräch nahme der Bevölkerungssympathien für die in mit Militärattache Oberst Oster in der Nacht der Landespolitik führende SPD und ihren zum 27. Oktober diesem einen dienstlichen Be- Regierungschef Dr. Paul Nevermann. Die SPD fehl, die Festnahme des Spiegel-Redakteurs kommt den sich von der CDU abwendenden Ahlers zu veranlassen, gegeben und sich dabei wie den Schichten der Neuwähler dabei offen- nicht nur auf einen Auftrag des Bundeskanz- sichtlich durch die seit dem Godesberger Pro- lers, sondern auch des Bundesaußenministers gramm sich vollziehende Entwicklung zur berufen hat, der nicht einmal in die Sache ein- Volkspartei entgegen, aber auch durch eine ge- geweiht war. Dieses unbefugte Eingreifen in schickte Heranziehung von jungen, tüchtigen fremde Ressorts ist ein verfassungswidriges Kräften, besonders in der Kommunalpolitik. Verhalten, von dem strafrechtlichen Tatbe- Zu dem wachsenden Gefühl, bei der SPD, wenn stand der Freiheitsberaubung einmal ganz ab- sie einmal die Bundespolitik leiten sollte, gut gesehen. und sicher aufgehoben zu sein, kommt mit jedem neuen Wahlerfolg natürlich auch ein steigender Der Fall Jahn/Merten Mitläufereffekt hinzu, der Wunsch, bei den Erfolgreichen und den Siegern von morgen zu sein — alles Erscheinungen, von denen jahre- Die Sozialdemokraten haben den Splegel- lang die CDU/CSU profitiert hat. Fall unter weitgehender Benutzung des amt- lichen Berichtes in einer übersichtlichen Synop- sis dargestellt, in der dem ehemaligen Vertei- Kleinlaut gewordener Strauß digungsminister Strauß neun Unwahrheiten, dem Bundesinnenminister Höcherl fünf und dem Bundeskanzler eine vorgeworfen werden. Auch in der bayerischen CSU schwelt der Die SPD-Fraktion des Bundestages hat sich Streit zwischen der „liberalen“ Richtung des von dieser Veröffentlichung auch nicht durch ehemaligen Verteidigungsministers Strauß und die Drohung des CDU-Fraktionsgeschäftsfüh- des bayerischen Finanzministers Eberhard auf rers Rasner abbringen lassen, seine Fraktion der einen, der konservativen Richtung des werde dann sozialdemokratische Geheimnisver- Barons zu Guttenberg und des Landwirtschafts- letzungen im zur Sprache bringen. ministers Hundhammer auf der anderen Seite Die CDU/CSU-Fraktion hat nach der Ver- um die Führung der Partei weiter. Von Gut- öffentlichung der sozialdemokratischen Synop- tenberg stammt der Ausspruch, die CSU sei sis ihre Drohung wahrgemacht. Es geht dabei gesund an ihren Gliedern, aber krank am um ein vertrauliches Schriftstück aus dem Ver- Kopfe. Strauß selbst ist ziemlich kleinlaut von teidigungsausschuß, die Maßregelung des Flie- seinem sechswöchigen iberischen Erholungsauf- gerkommodore Barth durch den Minister enthalt zurückgekehrt. Er hat in seiner Abwe- Strauß betreffend. Als dieser Fall im Sommer senheit eine sehr schlechte Presse gehabt, auch von der SPD angeschnitten worden war, hatte bei den meisten Opportunisten, die ihm bis- der Minister es verstanden, eine Ausschußsit- lang wegen seiner Intelligenz und Energie alle zung darüber zu einem Zeitpunkt anberau- möglichen Skandale und Skandälchen nachse- men zu lassen, in dem einige der gut einge- hen zu müssen glaubten. Eine so ruhige und weihten Ausschußmitglieder verhindert waren. besonnene Journalistin wie die Gräfin Dönhoff Durch unvollständige Wiedergabe des damals schrieb in der Zeit, Strauß sei als „ein ge- noch geheimen Urteils des Wehrdisziplinarho- scheiter, alerter, machthungriger Lügenbold fes war es Strauß gelungen, den Ausschuß zu entlarvt“ worden. überrumpeln und dessen Billigung zu erlan- Die Situation des ehemaligen Verteidigungs- gen. Eine entsprechende, unvollständige und ministers hat sich durch die Veröffentlichung irreführende Darstellung der Disziplinarent- des amtlichen Spiegel-Berichtes der Bundesre- scheidung erschien auch im amtlichen Bulletin gierung Anfang Februar eher verschärft. Bei des Presse- und Informationsamtes der Bun- der Bonner Staatsanwaltschaft ist ein Verfah- desregierung. Der sozialdemokratische Frak- ren wegen Freiheitsberaubung gegen seinen tionsgeschäftsführer beschaffte früheren Staatssekretär Hopf und den Madri- sich von seinem Parteifreund, dem stellvertre- der Militärattache Oberst Oster anhängig, tenden Ausschußvorsitzenden Hans Merten, eine das jederzeit auf Strauß ausgedehnt werden Ablichtung des Urteils (das inzwischen durch die

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Veröffentlichung in einer juristischen Fachzeit- lung dieser Sache zuständige Stelle verwiesen schrift längst seinen vertraulichen Charakter habe. verloren hat) und übergab diese dem Spiegel- Inzwischen hat sich der Verteidigungsaus- Redakteur Schmelz, der dann den tatsächlichen schuß als Untersuchungsausschuß für den Fall Sachverhalt in seiner Zeitschrift veröffentlichte. Jahn/Merten konstituiert. Auf Wunsch der Abgeordneter Jahn hat seine Handlung SPD sollen auch andere Fälle von Geheimnis- nicht geleugnet, sondern nur dazu erklärt, er verrat untersucht werden. Jedenfalls hat das habe sich angesichts der unwahren Erklärun- Hochspielen dieser Angelegenheit im rheinland- gen von Strauß in einem Notstand befunden. pfälzischen Wahlkampf der CDU keinen Erfolg Trotzdem mißbilligte die sozialdemokratische gebracht, und auch im übrigen Bundesgebiet ist Fraktion das Verhalten Jahns und nahm des- das Interesse daran schnell erlahmt. Wirksam sen Rücktritt als Fraktionsgeschäftsführer an; geblieben aber scheint in der Bevölkerung die sein Angebot, auch das Mandat niederzulegen, Erinnerung an die Aktion gegen den Spiegel lehnte sie ab. Die Fraktion stellte sich außer- zu sein, auch nachdem mit der dem vor den Abgeordneten Merten, der be- letzte in dieser Affäre Verhaftete nach 103 rechtigt gewesen sei, das Protokoll an Jahn Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen zu geben, zumal er nichts von dessen Absicht worden ist. Bundesregierung, Bundes- gewußt habe, es an Schmelz weiterzugeben. anwaltschaft und CDU/CSU möchten von die- ser in der Öffentlichkeit als höchst suspekt gel- tenden Angelegenheit gern möglichst unauf- Geringe Publikumswirkung fällig und geräuschlos herunterkommen, wäh- rend die Allgemeinheit das größte Interesse Von der CDU wurde versucht, aus dieser an einer völligen Aufklärung und daran hat, Geheimnisaffäre um den Überstleutnant Barth daß die Drahtzieher zur Verantwortung ge- so etwas wie eine sozialdemokratische Beteili- zogen werden. gung an der eigentlichen Spiegel-Affäre um den Foertsch-Fallex-Artikel zu machen. Es * wurde deshalb auch versucht, den früheren Alle Anstrengungen der CDU/CSU haben sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten nicht verhindern können, daß sie von der SPD und derzeitigen hamburgischen Innensenator zum erstenmal seit langer Zeit in der Gunst , dem der Spiegel-Redakteur des Publikums überholt worden ist. Die letzte Ahlers das Manuskript seines Foertsch-Artikels Emnid-Umfrage ergab 32 Prozent für die in einem frühen Stadium zur Durchsicht über- SPD, 30 Prozent für die CDU, sieben Prozent geben hatte, in die Angelegenheit hineinzuzie- für die FDP und drei Prozent für sonstige hen. Schmidt konnte aber glaubhaft machen, Parteien. Der Entscheidungskampf bei den daß das Manuskript damals noch nicht die Be- nächsten Landtagswahlen und bei der Bundes- urteilung des Fallex-Manövers enthielt, daß tagswahl 1965 wird um die 28 Prozent ge- er mehrere Stellen des Artikels beanstandet hen, die sich diesmal noch als meinungslos be- und Ahlers im übrigen an eine für die Beurtei- zeichnet haben. Dr. Hans Henrich

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