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Johannes August Lattmann

Sozial und liberal im vordemokratischen Hamburger Senat

von Anton F. Guhl HWS_Lattmann_16.7.14_2.Aufl_ENDKORR.qxd 16.07.2014 19:48 Uhr Seite 2

Mäzene für Wissenschaft

hg. von Ekkehard Nümann

Gefördert von der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Den Familien gewidmet, die durch ihre hochherzigen Stiftungen vor 107 Jahren die Gründung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung ermöglicht und den Grundstein dafür gelegt haben, dass die Stiftung auch heute noch Forschung, Lehre und Bildung fördern kann.

Inhalt

Vorwort des Herausgebers ...... S. 3 1. Quellenlage ...... S. 4 2. Der Familien- und Firmengründer Georg Friedrich Vorwerk . . S. 6 3. Zur Kindheit und Jugend der Vorwerk-Brüder ...... S. 15 4. Eine Reise von Augustus Friedrich nach Nordamerika und Kuba ...... S. 23 5. Die Firmen in Chile und ...... S. 28 6. Friedrich, Adolph und deren Ehefrauen in den Erinnerungen dreier Enkel ...... S. 44 7. „Villa Josepha“ und „Haupthaus“ ...... S. 54 8. Gustav Adolph als Bau- und Gartengestalter ...... S. 60 9. Entwicklungen nach dem Tod der Brüder ...... S. 67 10. Anhänge ...... S. 70 11. Literatur ...... S. 72 12. Namensregister ...... S. 74 HWS_Lattmann_16.7.14_2.Aufl_ENDKORR.qxd 16.07.2014 19:48 Uhr Seite 3

Inhalt

Vorwort des Herausgebers ...... 4 Vorwort ...... 5 11. Einleitung ...... 8 12. Herkunft – oder: ein geborener Mäzen? ...... 13 13. August Lattmann als junger Mensch ...... 18 14. Brotberuf Kaufmann ...... 33 15. Ein Leben zu zweit ...... 40 16. Familie ...... 55 17. Cholera in Hamburg – Lattmann hilft aus New York ...... 59 18. Die Niederländische Armencasse und die Elisabeth Lattmann-Stiftung ...... 63 19. August Lattmann und die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung ...... 66 10. Wohlüberlegte Wohltaten – warum spendete Lattmann? . . . . . 70 11. Auf dem Weg in den Senat – Lattmann als politischer Mensch . . 73 12. Primus inter impares? – Der erste politisierte Senator ...... 78 13. Tradition und Innovation – Arbeitsgebiete des Senators und Gründung der Gesellschaft für Wohltätigkeit ...... 81 14. Lattmann und die Frauenfrage – die Begründung der Sozialen Frauenschule ...... 86 15. Kriegshelfer ...... 88 16. Umstürze ...... 92 17. Neubeginn – Lattmann in Weimar und die Deutsche Warentreuhand ...... 97 18. Lattmann und das „Dritte Reich“ – eine Nicht-Beziehung? . . . 107 19. Anfang und Ende ...... 109 20. Schluss – oder: was bleibt? ...... 116 21. Anhänge ...... 122 22. Quellen, Literatur und Bildnachweis ...... 124 23. Namensregister ...... 129

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Vorwort des Herausgebers

Im Jahr 2007 feierte die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung ihr 100- jähriges Jubiläum. Der vorliegende vierzehnte Band ist Teil der zu diesem Anlass ins Leben gerufenen Schriftenreihe „Mäzene für Wissenschaft“. In ihr wird die Geschichte der Stiftung dargestellt; außerdem werden Stifter- persönlichkeiten und Kuratoriumsmitglieder in Einzelbänden gewürdigt.

Die Absicht, diese Reihe herauszugeben, entspricht dem dankbaren Gefühl den Personen gegenüber, die vor mehr als 100 Jahren den Mut hatten, die Stiftung zur Förderung der Wissenschaften in Hamburg zu gründen und erreichten, dass Hamburg eine Universität erhielt. Verknüpft damit ist die Hoffnung und Erwartung, dass nachfolgende Generationen sich hieran ein Beispiel nehmen mögen.

Dieser Hoffnung hat die BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in hoch- herziger Weise entsprochen, wofür wir ihr zu großem Dank verpflichtet sind.

Ekkehard Nümann

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Vorwort

Aufstieg, Krise und Zerfall des wilhelminischen Kaiserreichs spiegeln sich in der Lebensgeschichte des Hamburger Kaufmanns Johannes August Latt- mann wider, den uns der vorliegende Band vorstellt.

Mit August Lattmann begegnet uns jedoch nicht nur eine exemplarische Unternehmerpersönlichkeit der Kaiserzeit. Aus seinem vielfältigen Wirken ergibt sich gleichzeitig auch eine in manchen Aspekten hochmoderne Bio- graphie, in der sich wesentliche Elemente des unternehmerischen – und nicht zuletzt hanse-atischen – Selbstverständnisses der Gegenwart wiederfinden.

Lattmanns Lebensweg, von den Anfängen als Kaufmann in Spanien und Portugal, über seinen Aufstieg als Bankier in New York und die Rückkehr in die Heimatstadt bis hin zur politischen Karriere als Senator in späteren Jahren, entspricht durchaus dem Duktus der Zeit. Auch für sein gesell- schaftliches Engagement gibt es zahlreiche Beispiele unter den zeitgenös- sischen Vertretern des hanseatischen Handels- und Finanzadels. Dass Latt- mann neben Wissenschaft vor allem jedoch mildtätige Organisationen förderte, ist eine Besonderheit, die aus der Zeit fällt. Und auch die Leiden- schaft und Intensität, mit der Lattmann sich dem Aufbau und der Förde- rung zahlreicher Wohlfahrtseinrichtungen bis zu seinem Tod verpflichtet sah, darf als ungewöhnlich gelten.

Als 1892 die Nachricht von der verheerenden Hamburger Cholera-Epide- mie die Vereinigten Staaten erreichte, war es August Lattmann, der in New York rasch und unkompliziert einen Hilfsfonds zur Unterstützung der Op- fer initiierte. Und als Lattmann 1901 nach zwei Jahrzehnten bei G. Am- sinck & Co aus Übersee nach Hamburg zurückkehrte, stellte er einen be- trächtlichen Teil seines erarbeiteten Vermögens in den Dienst sozialer Fürsorge. In der Folge gründete und förderte er eine Vielzahl privater Wohl- tätigkeitsorganisationen, deren Vorstände und Kuratorien er teils über lange Jahre selbst führte.

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Wenn Unternehmer heute soziale Verantwortung übernehmen, dann wird in der öffentlichen Debatte darüber leicht ein wesentlicher Aspekt dieses Themas übersehen: Die Möglichkeit für gesellschaftliches Engagement muss zunächst einmal durch unternehmerischen Erfolg an anderer Stelle erwirt- schaftet werden. Das mag für manchen banal klingen. In Zeiten, in denen gewinnorientiertes Handeln bisweilen unter Generalverdacht gestellt wird, ist es das aber keineswegs.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Zusammenhang zwischen unter- nehmerischem Erfolg und gesellschaftlicher Verantwortung dem humanis- tisch gebildeten wilhelminischen Bürgertum durchaus vertraut. In den kaufmännischen Lehrbüchern aus dieser Zeit manifestiert sich dieses Be- wusstsein im Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns, dessen Ursprünge sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Seine Anfänge finden sich im mittelalterlichen Italien und dem norddeutschen Städtebund der Hanse, deren Aufstieg in Nordeuropa untrennbar mit diesem Leitbild verbunden ist. Man darf annehmen, dass die Grundsätze des aufrichtigen – heute würde man sagen nachhaltigen – Wirtschaftens auch dem jungen Latt- mann geholfen haben, als Merchantbanker in Übersee zu Ansehen und Vermögen zu gelangen.

Der Ehrbare Kaufmann weiß, dass das soziale Umfeld, in dem er seine Ge- schäfte führt, für seinen Erfolg ausschlaggebend ist. Sein Bewusstsein en- det nicht am Fabriktor. Er engagiert sich selbstverständlich für das Gemein- wesen, ohne dafür besondere Anerkennung zu beanspruchen - so jedenfalls forderte es das zeitgenössische Ideal. August Lattmann hat die „hohe Ver- antwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft“, wie es im Vorwort der 1923 er- schienenen 9. Auflage des als „Maier Rothschild“ bekannten „Handbuchs der Kaufmannswissenschaft und der Betriebstechnik“ heißt, verinnerlicht, lange bevor soziales Engagement als „Corporate Social Responsibility“ Ein- gang in die Philosophie moderner Unternehmen gefunden hat.

Lattmanns ausgezeichnete Reputation und seine Erfahrungen in Übersee brachten 1920 Max Warburg und Paul von Mendelssohn-Bartholdy dazu, ihn in den Vorstand der neu gegründeten Deutschen Warentreuhand AG zu berufen, den er acht Jahre leitete und deren Aufsichtsrat er anschließend von 1929 bis 1934 angehörte. Dass sich die Wertschätzung, die Lattmann seitens der Deutschen Warentreuhand AG entgegengebracht wurde, nicht auf sein geschäftliches Wirken beschränkte, zeigt der 1928 zu seinen Ehren aufgelegte August Lattmann-Fonds. Als August Lattmann Unterstützungs- verein der Deutschen Waren-Treuhand-Aktiengesellschaft e.V. existiert er bis heute.

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Lattmanns Initiativen wurde die verdiente Anerkennung der Hamburger Gesellschaft noch zu seinen Lebzeiten zuteil. Das belegen etwa die Wür- digungen anlässlich seines siebzigsten Geburtstages. In den „Hamburger Nachrichten“ vom 5. Oktober 1928 ist die Rede von Lattmanns „segensrei- cher Tätigkeit“ und seinem „warmherzigen Idealismus“. Und es verwun- dert nicht, dass ihn Glückwünsche zu seinem Geburtstag nicht nur von zahlreichen Gratulanten „aus den ersten Familien“ erreichen, sondern auch aus jenen Schichten, „wo Senator Lattmann so oft Not gestillt und Tränen getrocknet hat“.

Zur Aufarbeitung seines Lebensweges hat der Autor neben umfangreicher privater Korrespondenz aus dem in der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung aufbewahrten Nachlass auch den im Hamburger Staatsarchiv be- wahrten Aktenbestand zu Lattmanns Zeit als Senator der Hansestadt er- schlossen. Darüber hinaus stützt sich der vorliegende Band auf Original- dokumente der Deutschen Warentreuhand AG aus dem historischen Archiv der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Hamburg – jenes Unter- nehmens, das aus der Warentreuhand hervorging, und dessen Geschicke ich selbst nunmehr 62 Jahre lang unmittelbar miterleben und davon 45 Jahre als Vorsitzender des Vorstands und später des Aufsichtsrats leiten durfte. Es freut mich besonders, dass die hier über neun Jahrzehnte gesammelten Quellen zur Unternehmensgeschichte mit dazu beitragen konnten, ein Stück hanseatische Historie wieder lebendig zu machen.

Der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung und allen Beteiligten, die zum Gelingen dieses Werkes beigetragen haben, vor allem aber Anton F. Guhl, der diese Biographie mit einer dem Historiker eigenen Akribie und seinem ausgezeichneten Gespür für die relevanten Quellen verfasst hat, gilt unser großer Dank.

Professor Hans-Heinrich Otte

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Einleitung

Es überrascht: Johannes August Lattmann, Feinden den im Krieg verlorenen Kredit der der erste offen liberal gesinnte Senator der deutschen Wirtschaft. Das abermalige Zer- hamburgischen Geschichte, ist kaum mehr stören dieses Kredits erlebte Lattmann auch bekannt. Als sich Anfang des 20. Jahrhun- in seinem Umfeld: Die Vertreibung und derts in Hamburg „parteiliche“ Politik erst Ausgrenzung von Weggefährten wie Max entwickelte, stellte seine Wahl zum Senator M. Warburg aus Haupt- und Ehrenämtern 1912 – nur durch ein Bündnis aus Vereinig- hatte bereits begonnen, als Lattmann am 19. ten Liberalen und Sozialdemokraten mög- Januar 1936 starb. lich – ein Novum dar. Schon vor seiner ··································································· Wahl sprach sich Lattmann für ein gleiches In dem Wirken von August Lattmann – er Wahlrecht aus, zu einem Zeitpunkt, als in verzichtete zumeist auf seinen ersten Tauf- Hamburg das diskriminierende Klassen- namen – spiegelt sich in vielerlei Hinsicht wahlrecht galt. Als Sozialpolitiker wollte er die Hamburger Kaufmannschaft wider: Die Wohlfahrt unabhängig von Stand oder verschiedenen Stationen seines Lebens zeu- Konfession zugänglich machen und setzte gen von der Standortgebundenheit jeder In- sich für eine zentralisierte Fürsorge für alle dividualität, aber auch von den Freiheitsgra- Bedürftigen ein. Damit markiert er für den, die in dieser Individualität stecken. Als Hamburg den allgemeinen Trend der Aus- jüngster Sohn eines wohlhabenden Getrei- gestaltung des modernen Wohlfahrtsstaates. dehändlers kam er am 5. Oktober 1858 zur Als Vorsitzender des Gründungskuratori- Welt. Er genoss eine umfassende Erziehung, ums der „Sozialen Frauenschule“ holte Latt- Schulung und Ausbildung, um dann selbst mann die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer als Kaufmann Wohlstand erwerben zu kön- nach Hamburg, um sowohl die verwissen- nen. Als Stifter, Wohltäter und Mäzen gab schaftlichte Grundlage als auch die prakti- er ein Vorbild, wozu Wohlstand verpflich- sche Vermittlung sozialer Berufe in Ham- tet. Der politisch denkende Lattmann burg zu etablieren. Während des Ersten fürchtete und verurteilte den drohenden Weltkrieges oblag Lattmann die Nahrungs- Krieg, den er dann doch – wie so viele – nur mittelversorgung der Hamburger Zivilbe- mit einem deutschen Sieg beendet wissen völkerung. In der Republik schließlich fand wollte. So ist die Lebensgeschichte Latt- er seine letzte Tätigkeit bei der neugegrün- manns eng mit der politischen, kulturellen deten Deutschen Warentreuhand. Als ihr und gesellschaftlichen Geschichte Ham- Manager erneuerte er bei den vorherigen burgs verzahnt. Inhalt dieses Buches ist eine

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Annäherung an einige Stationen von Latt- auf Schwierigkeiten.2 August Lattmann ge- manns Leben und deren Interaktion mit der hört jedoch nicht nur zu den von der Wis- Geschichte Hamburgs. senschaft übersehenen Persönlichkeiten, er ··································································· gehört auch zu den Vergessenen der Ge- Lebenswege – und auch der von Latt- schichte: In Hamburg gibt es weder einen mann – vollziehen sich nicht im luftleeren „August Lattmann-Weg“ noch einen „Sena- Raum. In Interaktion mit der Gesellschaft tor Lattmann-Platz“. vereinen sie meist typische und atypische ··································································· Merkmale einer Zeit. Ebendiese Ambiva- Ein Leben hat keine Fragestellung – eine lenz, die sich – sofern nahe genug hinge- Biographie schon. Die Fragestellung dieser schaut wird – in jedem menschlichen Leben Annäherung an das Leben von August Latt- findet, kann als ein Leitgedanke der theo- mann steht unter dem Leitgedanken, Latt- retischen Rechtfertigung der Biographie- mann als soziales Wesen wahrzunehmen. forschung verstanden werden: Bei allem Erst in der Interaktion mit seinen Mitmen- berechtigten Interesse an der jeweils be- schen entfaltet ein Mensch seine Individua- trachteten Person können am Beispiel des lität. Die Frage danach, wie Lattmann inter- Individuums auch gesellschaftliche Struktu- agierte, führt zu verschiedenen Stationen, ren ausgemacht werden. Und doch stehen die hier zu betrachten sind: Was ist Latt- bei der Biographie immer der Mensch, sein manns Herkunft? Was lässt sich über die Wesen und Wirken, seine Antriebskräfte Kindheit und das Heranwachsen von Latt- und Ansichten im Mittelpunkt des Interes- mann sagen? Auch in der Sphäre der Berufs- ses. Dem Zuschnitt der Reihe folgend, ist welt steht wieder die Interaktion im Zen- hier nicht der Ort für weitere Erörterungen trum des Forschungsinteresses: Mit wem über das Für und Wider der Biographiege- arbeitete Lattmann zusammen? Was bedeu- schichtsschreibung.1 Gleiches gilt für andere tete ihm seine Arbeit? Schließlich steht die historiographische Diskurse (Stichwort: Bür- Frage nach seinem gesellschaftlichen Wir- gertumsforschung), die aber im Hinter- ken im Mittelpunkt: Was war sein Antrieb, grund mitzudenken sind. Ähnliches trifft regelrechte Vermögen zu stiften und zu auf den wissenschaftlichen Anmerkungsap- spenden? Wie stand er zur Politik in seiner parat zu: Er soll in erster Linie die hier zu- Heimatstadt, an der er, zunächst in privaten meist erstmals ausgewerteten Quellen nach- Ehrenämtern, dann in Deputationen und vollzieh- und überprüfbar machen. Spar- schließlich als Senator, aktiv teilnahm? Wie same wissenschaftliche Literaturverweise stellte sich Lattmann zum Krieg und zur Re- ermöglichen das Weiterlesen, trotzdem volution? Mögliche Antworten auf viele die- bleibt die Zahl der Anmerkungen so über- ser Fragen werden in Dokumenten aus Latt- schaubar, wie es sich eben vertreten lässt. manns eigener Feder gefunden und so ist ··································································· Lattmanns persönliche Wahrnehmung der In der geschichtswissenschaftlichen Litera- Welt, wie er über sie fühlte und dachte, Aus- tur taucht der Senator meist nur als Fußnote gangspunkt dieser Biographie. auf und der Versuch, mehr als nur einen ··································································· Splitter seiner Biographie in den einschlägi- Ebenso wie an den Lebensweg sind auch gen Publikationen zu finden, stößt schnell an diese Fragen nur Annäherungen mög-

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lich, die sich zudem auf einen willkürlich sen Lattmanns aus seiner Kindheit bis ins überlieferten Quellenkorpus stützen. Latt- hohe Alter, aber auch auf zahlreichen Brie- manns umfangreiche Korrespondenz bietet fen, die ihn erreichten. Das papierne Erbe eine reiche Grundlage für Interpretationen umfasst zudem ein Gästebuch der Eheleute – und freilich ebenso viele Spielräume. Lattmann, ein Skizzenbuch von Fanny, ver- Denn jede Überlieferung ist lückenhaft, zu- schiedene Fotoalben und ein „Tagebuch“. dem wird sie erst in der Bearbeitung des Bio- Letzteres ist kein klassisches Tagebuch, son- graphen sinnstiftend konstruiert und zu- dern eher eine lose geführte Gedicht- und sammengesetzt. Die wichtigsten der zumeist Gedankensammlung, die sich über 30 Jahre benutzten Quellen sind private Briefe und erstreckt und fremde wie eigene Worte ver- somit oft Substitut für das eigentlich vorge- sammelt. Nur gelegentlich finden sich hier zogene – aufgrund räumlicher Trennung Tagebucheinträge im eigentlichen Sinne, aber unmögliche – mündliche Wort. All trotzdem ist es gerade für die Zeit ab 1914 das, was Lattmann gesprochen und gehört eine hervorragende Quelle, um sich der hat, ist unwiederbringlich verloren, sofern es Wahrnehmungswelt Lattmanns zu nähern. nicht einen Weg auf Papier gefunden hat.3 Verschiedene Bestände im Staatsarchiv Diese verlorenen Elemente prägen die Hamburg geben Aufschluss über seine Ak- menschliche Lebenswirklichkeit sehr viel tivitäten als Senator in den Jahren 1912 bis dichter als es selbst die beeindruckende Zahl 1919, aber auch über sein umfangreiches der überlieferten Briefe kann, die Lattmann mildtätiges Engagement. Sein späteres Wir- geschrieben und erhalten hat. Ein Beispiel: ken bei der Deutschen Warentreuhand Als Lattmann sich 1885 mit Fanny Schlüter konnte in den Akten des Archivs der noch verlobte, schrieb ihr eine Freundin, sie schrei- heute tätigen BDO AG Wirtschaftsprü- be nur, da sie es nicht einrichten könne, per- fungsgesellschaft nachvollzogen werden. sönlich zu erscheinen.4 Diese kleine Gruß- Das Archiv der Hamburgischen Wissen- karte zeigt deutlich, dass sich nahestehende schaftlichen Stiftung, der Lattmann als Be- Menschen es vorzogen, mündlich zu gratu- gründer und Kuratoriumsmitglied verbun- lieren und nur der damals als unglücklich den war, dokumentiert schließlich sein empfundene Zufall den Glückwunsch der Engagement für die Wissenschaft in Ham- Freundin in die Überlieferung eingehen burg, das der Anlass für die vorliegende Bio- ließ. Überspitzt formuliert: Umso enger die graphie ist. soziale Beziehung und damit bedeutender ··································································· für die Lebenswirklichkeit, desto geringer Neben all diesen Primärquellen kann auf die Wahrscheinlichkeit der Verschriftli- ein Manuskript von Christoph Wilhelm chung und damit ihrer Historisierung. Büsch zurückgegriffen werden. In enger ··································································· Kenntnis des Nachlasses hat der am 12. Ja- Der „Nachlass“5 von Lattmann, der hier- nuar 2012 verstorbene Büsch – ein Groß- mit erstmals in Auszügen der Öffentlichkeit neffe von Lattmann – eine 27 Seiten umfas- zugänglich gemacht wird, umfasst vor allem sende und unvollendet gebliebene biogra- umfangreiche Korrespondenz. Diese reicht phische Skizze hinterlassen, deren familiäre von den 1860er bis zu den 1930er Jahren. So Nähe ihr einen besonderen Wert einräumt, fußt die Arbeit vor allem auf Selbstzeugnis- denn neben den schriftlichen Quellen flos-

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Eine wichtige Quelle zur Welt und Wahrnehmung Lattmanns: sein Tagebuch

sen hier zweifelsohne auch innerfamiliäre der Ehemann, gläubiger Protestant und – mündliche Überlieferungen mit ein, die zumindest privatim – ein Dichter. Er ent- sonst verloren gegangen wären.6 Somit be- stammte dem Bürgertum und kann mit sitzt das Manuskript einen eigenen Quellen- Detlev Peukert der „Wilhelminischen Ge- wert. neration“ zugeordnet werden. Ein Jahr älter ··································································· als Wilhelm II. hatten Lattmann und der Folgt man der Frage nach dem Wesen von spätere Monarch „die Reichsgründung als Lattmann und seiner Wahrnehmung der Kinder miterlebt, wurden zu Bismarcks Zei- Welt, so zeigt sich zunächst das Bild eines ten sozialisiert und übernahmen in den letz- Kaufmannes. Lattmann war aber auch Poli- ten Jahrzehnten vor dem Weltkrieg die Füh- tiker, und dies im besten Sinne des Wortes, rung in Gesellschaft und Politik“.7 Vor dem nämlich ein Mann, der seiner „Polis“ Inte- Hintergrund eines wirtschaftlich potenten resse entgegenbrachte und daher an ihrer und mehr oder minder saturierten Deut- Gestaltung aktiven Anteil nahm – nicht zu- schen Reiches ist die „Weltoffenheit“ Ham- letzt als Senator. Er war Stifter, Mäzen und burgs bzw. seines Bürgertums nicht bloß Amtsträger in gemeinnützigen wie in Wirt- Mythos. Vielmehr spiegelt sich die wirt- schaftsunternehmungen. Er war ein lieben- schaftliche Verflechtung der hansestädti-

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schen Kaufmannschaft in Lattmanns Le- weit dies aufgrund der weniger dichten ben: Nicht nur verbrachte er zwei Jahr- Überlieferung möglich ist. In jenen Jahren zehnte als Kaufmann im Ausland, sondern entstand durch ererbtes Sein im Zusam- er erlernte auch zahlreiche Sprachen, näm- menspiel mit der bürgerlichen Erziehung lich Französisch, Spanisch, Portugiesisch und christlichen Prägung das habituelle und vor allem Englisch. Mit den fremden Prisma, durch das Lattmann die Welt wahr- Sprachen kamen auch neue Gedanken in nahm.8 Das dreigeteilte Berufsleben Latt- Lattmanns Leben und Denken und so fin- manns – er war, vereinfacht gesprochen, den sich neben Zitaten von Goethe und das erste Drittel seines Erwachsenenlebens Kant auch Worte von Rousseau und Shake- Kaufmann, das zweite „Politiker“, das dritte speare in seinem Tagebuch. Wirtschaftsmanager – wird danach mit ei- ··································································· nem deutlichen Schwerpunkt auf das poli- Der Komplexität eines Lebens ist unmög- tischen Wirken in Hamburg zu betrachten lich gerecht zu werden. Im Wissen, stets nur sein. Die Wechsel in der Berufslaufbahn Annäherungen an Aspekte des Lebensweges gingen jeweils mit erheblichen Veränderun- von August Lattmann erreichen zu können, gen einher – seien sie räumlich, privat oder soll auf Basis einer chronologisch-systema- politisch. Gleichberechtigt neben den be- tischen Erschließung eine mögliche Biogra- ruflichen Entwicklungen soll auch Aspekten phie geschrieben werden. So wird mit der des privaten Lebens Raum gegeben werden. bürgerlichen Herkunft Lattmanns zu begin- Wie erlebte Lattmann Familie, wie fand er nen sein: Sie prägte nicht nur die sozioöko- seine Rolle? Was waren die Hintergründe nomischen Startbedingungen, sondern gab seiner Wohltätigkeit? Was bestimmte seine auch den Rahmen für Erziehung und (Aus-) Wahrnehmungswelt, von alltäglichen Ge- Bildung vor. Daher soll auch auf die Kind- danken bis hin zu Reflexionen über Leben heit von Lattmann eingegangen werden, so- und Tod, Glauben und Sterben?

·············································································································································· 1 Vgl. dazu etwa: Etzemüller, Biographien oder Klein, Handbuch. 2 So existiert bisher etwa kein Eintrag zu ihm in der Hamburgischen Biografie, geschweige denn in der Neuen Deutschen Biographie. 3 Das trifft natürlich auch auf andere nicht verschriftlichte Sinneseindrücke zu; vgl. etwa: Smith, Sensing. 4 Emmy O’Swald an Fanny Schlüter, 28. April 1885: Nachlass Lattmann, Konvolut Hochzeit und Goldene Hoch- zeit. 5 Es handelt sich weniger um einen klassischen Nachlass, als vielmehr um ein über Generationen vererbtes Kon- volut an Korrespondenzen und sonstigen Dokumenten, das über Lattmanns Schwester Elisabeth, in den Besitz der Familie Büsch übergegangen und – von Lattmanns Großneffen Christoph Wilhelm Büsch geordnet – der Ham- burgischen Wissenschaftlichen Stiftung übergeben worden ist. 6 Büsch, Senator. Der Text befindet sich im Archiv der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung. 7 Peukert, Weimarer Republik, S. 26. 8 Vgl. Schwingel, Pierre Bourdieu. ··············································································································································

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Herkunft – oder: ein geborener Mäzen?

Um „Mäzen für die Wissenschaft“ werden ten findet,12 lässt sich diese Frage aber auch zu können, bedurfte es zunächst einmal der genealogisch stellen – und auf diese Art zu Verfügungsgewalt über ein mehr oder weni- fragen, ist eben auch jener Urgroßvater eine ger großes Vermögen. Lattmanns Herkunft der möglichen Antworten. Damit wird die brachte wichtige Vorbedingungen, die es Zugehörigkeit zu einer „alten Familie“ ein ihm ermöglichten, wirtschaftlich erfolgreich Merkmal, das Lattmanns Wahrnehmungs- zu sein, daher ist es schon aus diesem Grund welt wahrscheinlich geprägt hat und somit gerechtfertigt, die Erzählung von Lattmanns über die ökonomischen Startvorteile hinaus Lebensweg schon einige Jahrzehnte vor sei- Bedeutung für sein Leben hatte. ner Geburt zu beginnen. So erscheint auch ··································································· hier die gängige biographische Praxis, die Lattmanns Vater, Carl Gustav Adolph Herkunft zum Teil Jahrhunderte zurückzu- (1811–1894), wurde im niedersächsischen verfolgen, nicht unberechtigt.9 In dieser Goslar geboren, wo die Familie seit Jahr- Biographie über August Lattmann ist aber hunderten ansässig war. In jungen Jahren nicht die Tatsache bedeutend, dass bereits kam er 1828 nach Hamburg, um hier den sein Urgroßvater im Jahr 1778 Ratsherr in Beruf des Kaufmanns zu lernen. Er selbst Goslar war,10 denn hier soll keine Familien- beschrieb 1892 in einem Gedicht an seine geschichte geschrieben werden. Diese und Enkel (die Nichten und Neffen von August) andere genealogische Fragestellungen kön- seinen Weg in Hamburg als sehr beschwer- nen am besten im 1911 erstellten Stamm- lich.13 Spätestens jedoch nach seinen Lehr- buch der Familie Lattmann verfolgt wer- jahren, die er bei Peter Siemsen & Co. be- den.11 Die Tatsache jedoch, dass Lattmann gann, besserte sich seine wirtschaftliche in eine sozioökonomisch so potente Familie Situation, sodass er bei J. M. Ahrens Teil- hineingeboren wurde, deren Selbst- und haber werden und später die Firma über- Fremdwahrnehmung ein Stammbuch recht- nehmen konnte. Auch wenn dies erst nach fertigte, ist für die hier vorgenommenen An- „einer sehr anstrengenden, entbehrungsrei- näherungen an sein Leben durchaus von Be- chen Zeit“14 möglich wurde, so hatte sich deutung. Denn eine der Urfragen des der Vater doch erfolgreich in Hamburg Lebens, die sich auch August Lattmann ge- etabliert. Er arbeitete vor allem als Getreide- stellt hat, lautet: „Wo komme ich her?“. makler und erwarb großen Wohlstand. Die Während er vor allem in späteren Jahren in gesellschaftliche Verankerung in der Stadt seinem Tagebuch transzendentale Antwor- zeigt sich neben dem wirtschaftlichen Erfolg

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auch Lattmanns Großvater Johannes Am- sinck (1792–1879), dessen erstes Kind Jo- hanna Elisabeth Amsinck (1819–1883) war die Mutter von August Lattmann.18 Ihre Mutter Emilie (1799–1875) kam als Tochter von Johann Heinrich Gossler (1775–1842) zur Welt, ihr Bruder Hermann Gossler (1802–1877) war in den Jahren 1870 und 1871 Zweiter Bürgermeister.19 So öffneten sich Lattmann durch die mütterliche Fami- lie Tür und Tor. ··································································· Die Familie Lattmann bewohnte ein Stadt- haus in der Neuen Gröningerstraße 16, wo auch das Kontor des Vaters untergebracht war.20 In den Sommermonaten verbrachten Lattmanns Zeit in einem Haus am Pösel- dorfer Weg auf dem Grundstück des Anwe- Gustav Lattmann in mittleren Jahren (1811‒1894) sens von Johannes Amsinck.21 So begann das Leben des kleinen August sehr vorteil- auch durch die private Verbindung zu den haft: Vor allem durch die Mutter war er mit dortigen „alten Familien“. Im Jahr 1843 hei- einer der wirtschaftlich wie politisch – im ratete er Helene Marie Mathilde Schwartze Hamburg des 19. Jahrhunderts recht inter- (1826–1848). Nach dem frühen Tod seiner dependente Kategorien – potenten Familien ersten Frau heiratete er deren Base,15 Jo- der Stadt verbunden. Tatsächlich spielte die hanna Elisabeth Amsinck, die 1858 Johannes familiäre Herkunft auch eine wichtige Rolle August Lattmann zur Welt brachte. für den Lebensweg von Lattmann. Es war ··································································· das Unternehmen seines Großvaters Johan- Die Familie von Augusts Mutter war eine nes Amsinck, in dem Lattmann seinen Be- der besagten Hamburger Familien, die im ruf erlernte, später wurde Lattmann Teilha- 19. Jahrhundert erheblichen Einfluss hatten. ber an dem Geschäft seines Onkels Gustav Die Familie Amsinck stammte aus den Nie- Amsinck,22 wo er schließlich seinen Wohl- derlanden, war aber schon seit Jahrhunder- stand erwarb. Die familiären, privaten und ten in Hamburg ansässig. Nicht weniger als beruflichen Kontakte waren eng miteinan- zwölf ihrer Söhne (!) werden etwa in dem der verflochten. Sie ermöglichten erst den biographischen Standardwerk der Hanse- beruflichen Erfolg und waren die Vorbedin- stadt vorgestellt,16 darunter Wilhelm (Wil- gung dafür, dass Lattmann überhaupt ein- lem) Amsinck (ca. 1542–1618), der im 16. Jahr- mal als Mäzen in Erscheinung treten hundert als Lutheraner nach Hamburg konnte. emigrierte und als Tuchhändler den Grund- ··································································· stein dieser Hamburger Kaufmannsfamilie Johannes August Lattmann war das legte.17 Ein erfolgreicher Kaufmann war jüngste von insgesamt sechs Kindern seines

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Vaters, von denen jedoch der 1846 geborene Sterberaten bei Männern und Frauen auch Gustav bereits im ersten Lebensjahr starb.23 mittlerer Jahrgänge, vor allem aber die Müt- Als Taufnamen erhielt er die Namen seiner tersterblichkeit im Kindbett, führten dazu, beiden Großväter. Somit wuchs er in einer dass in etwa einem Drittel aller Ehen ein weder kinderreichen noch besonders klei- Ehepartner zu einem Zeitpunkt starb, zu nen Familie mit vier Schwestern auf und es dem noch unverheiratete Kinder im Haus- gibt keinerlei Hinweise, dass er die älteren halt zu versorgen waren.24 Wiederverheira- beiden als „Halbschwestern“ empfand. In tungen führten dazu, dass Kinder mit Be- diesem Zusammenhang ist die Frage nach zugspersonen aufwuchsen, die nicht ihre Familienvorstellungen im 19. Jahrhundert leiblichen Eltern oder Geschwister waren, interessant. Was im 21. Jahrhundert „Patch- und somit komplexe familiale Beziehungs- work“-Familie heißt und hauptsächlich muster auftraten. Die Geschichtswissen- durch Ehelosigkeit, Ehescheidungen und schaft ist erst am Anfang, die Vorstellungen Neuverheiratungen weit verbreitetet ist, gab und Realitäten von Familien im 19. Jahr- es auch im 19. Jahrhundert – vor allem aber hundert zu erforschen. Doch auch wenn ein aufgrund von Verwitwung. Die höheren Begriff wie der der „Patchwork-Familie“ un-

Die Großeltern Emilie und Johannes Amsinck

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bekannt war, so ist ein Bewusstsein für die zudem weil die besungene zweite Mutter be- daraus folgende Komplexität feststellbar. reits ebenfalls verstorben war (nihil nisi Dies belegen nicht zuletzt Märchen, in de- bene). Doch gibt es auch keine sonstigen nen Stiefgeschwister oder -mütter meist ne- Belege innerfamilialer Konflikte. Briefe der gativ agieren: „Denn die Väter heirateten Schwestern etwa beschreiben die Stiefmut- (wie bei Aschenputtel) in der Regel rasch ter als „Mama“ oder „Mammchen“.29 Ein eine neue Frau. Die Stiefmutterkonstella- Hinweis, dass eine „Stiefmuttersituation“30 tion war spannungsreich und Ursache eines nicht automatisch zu Konflikten führen großen Teils der innerfamilialen Konflikte“ musste und ihre Brisanz auch überschätzt schreibt der Historiker Andreas Gestrich.25 werden kann. Eine „Stiefmutterkonstellation“ gab es auch ··································································· im Hause Lattmann. Die älteren Schwes- Doch blieben durchaus Unterschiede zwi- tern Marianne Wilhelmine Auguste Helene schen den Halbgeschwistern bestehen. (1844–1911)26 und Marie Helene Antonie Während etwaige emotionale Ungleichhei- (1848–1921)27 bekamen 1852 durch die zweite ten sich nur schwer rekonstruieren lassen, ist Heirat ihres Vaters eine Stiefmutter. Ein ein pekuniäres Beispiel rasch gefunden, wie Grund für familiale Konflikte? Der Vater das Testament von Gustav Lattmann zeigt. dichtete vierzig Jahre später anderslautend: Während er sein Vermögen in gleichen Tei- „Endlich ließ ich mich bestimmen, len an alle fünf Kinder vererbte, kehrte er die nach vier Jahren Witwerstandes von beiden Frauen in die Ehe gebrachten meinen Kindern eine Mutter, Vermögen an deren jeweilige Kinder aus.31 Mutterlieb und Pfleg zu geben. August Lattmann erhielt durch den letzten Und der Himmel war mir gnädig, Willen seines Vaters eine beträchtliche lenkt zu mir das Herz der theuren Summe, die mindestens 174.000 Mark be- edlen, hochbegabten Seele, die die früh- trug.32 Genau wie er seinen Erbanspruch verlorene Mutter durch Geburt erworben hat, so standen meinen Kindern voll ersetzte.“28 nicht nur seine sonstigen Verwandtschafts- ··································································· beziehungen bereits fest, sondern wohl auch Ein autobiographisches Lied für die Enkel- ein Gros der im folgenden Kapitel zu zei- kinder ist nicht dazu angetan, tabuisierte genden Erziehungsmaßnahmen. Lattmann Konflikte in den Mittelpunkt zu rücken, war ein geborener Mäzen.

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·············································································································································· 9 Dies zeigt etwa ein Blick in diese Reihe, in der wie im Falle Ernst Friedrich Sievekings Vorfahren bis ins 11. Jahrhundert nachgewiesen werden. Schröder, Ernst Friedrich Sieveking, S. 7; alle Texte der hier nur biblio- graphisch angeführten Titel sind online verfügbar unter http://hup.sub.uni-hamburg.de/reihen/mazene-fur- wissenschaft/. 10 Vgl. Büsch, Senator, S. 2 f. 11 Vgl. [Lattmann], Stammbaum 1911 sowie Lattmann, Stammbaum 1963, Graef, Nachkommen. 12 Vgl. Tagebucheintrag, 4. Dezember 1932: Nachlass Lattmann, Tagebuch. 13 Gustav Lattmann, An meine Lieben Enkel, 1892 [Typoskript]: Ebd., Vermischtes. 14 Büsch, Senator, S. 2 f. 15 Die Mutter von Helene Schwartze (geb. Amsinck) war die Schwester von Johannes Amsinck, somit waren beide Ehefrauen Gustav Lattmanns Enkeltöchter von Wilhelm Amsinck. 16 Siehe das Gesamtregister der Hamburgischen Biografie, Band 6, S. 408 f. 17 Hauschild-Thiessen, Wilhelm Amsinck. 18 Vgl. zur Familie Amsinck auch: Hintze, Familie. 19 Vgl. Hauschild-Thiessen, Hermann Gossler. 20 Büsch, Senator, S. 4. 21 Ebd. 22 Rheinholz, Gustav Amsinck. 23 Carl Gustav Adolph Lattmann (3. April 1846 ‒ 27. März 1847). 24 Gestrich, Neuzeit, S. 626. 25 Ebd., S. 627. 26 Helene heiratete am 1875 Johann Hinrich Wichern (1842-1917). 27 Antonie heiratete 1866 Ludwig Erwin Amsinck (1826-1897). 28 Gustav Lattmann, An meine Lieben Enkel, 1892 [Typoskript], S. 5: Nachlass Lattmann, Vermischtes. 29 Helene Lattmann an August Lattmann, 17. Juni 1874: Ebd., Konvolut Erinnerung an die Kindheit. 30 Gestrich, Neuzeit, S. 631. 31 Testament und Letzter Wille von Gustav Adolph Lattmann, vollzogen am 24. Juni 1894: StA Hbg., 232-3 Erbschaftsamt, H 15890. 32 Der zu drittelnde Vermögensteil seiner Mutter betrug etwa 222.000 Mark. Während die Höhe der Erbschaft des Vaters sich nicht aus dem Testament erschließt, so ergibt sich aus innertestamentarischen Regelungen ein wei- teres Erbteil von mindestens 100.000 Mark, der jedoch auch erheblich höher gewesen sein könnte; vgl. Testament und Letzter Wille von Gustav Adolph Lattmann, vollzogen am 24. Juni 1894: StA Hbg., 232-3 Erbschaftsamt, H 15890. ··············································································································································

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August Lattmann als junger Mensch

Warum ist das Thema Jugend in geschichts- unvollständig erweist sich die Geschichte ei- wissenschaftlichen Biographien häufig un- nes Lebens ohne die Betrachtung seiner ers- terrepräsentiert? Dass die Kindheit ein ten zwei Jahrzehnte, trotzdem geben Hand- wichtiger Teil des Lebens ist und in den ers- bücher zur Biographik bisher wenig zur ten Jahren Verhaltensmuster, Ansichten und Theoretisierung des Problems der Auslas- Fertigkeiten entwickelt, eingeübt bezie- sung der jungen Jahre einer Biographie.33 hungsweise anerzogen werden, ist allgemein Abgesehen von Anekdoten und späterer Le- bekannt. Dass soziale Beziehungen und gendenbildung wissen Biographen oft we- Bindungen in jenen Jahren aufgenommen nig über diese eminente Lebensphase: „Cha- werden, ist offenbar, dass die soziale Bezie- rakteristisch […] ist so nicht allein das, was hungs- und Bindefähigkeit maßgeblich be- man weiß, sondern, daß man über weite stimmt wird, kann zumindest vermutet wer- Strecken seines Lebens nichts weiß“,34 den. Trotzdem werden die frühen Phasen im schreibt Hans-Harald Müller über die Ju- Leben eines Menschen in der Biographik gend des Schriftstellers Leo Perutz. Dieses häufig marginalisiert. Der Begriff „junger oft unausgesprochene Charakteristikum trifft Mensch“ soll hier als relative Größe zum trotz der folgenden Bemühungen auch auf „erwachsenen Menschen“ verwandt wer- die hier versuchte Annäherung an August den, ohne dass eine scharfe Abgrenzung – Lattmann zu: Ein wesentlicher und prägen- etwa bei Erreichen der Volljährigkeit – ge- der Teil seines Lebens ist nur durch ein paar zogen werden soll. Ebenfalls scheint eine Splitter erahnbar und wie diese Phase nach- Binnendifferenzierung nicht notwendig wirkte, späteres Erleben und Handeln (etwa Kleinkindzeit, Kindheit, Jugend, prägte, ist kaum nachvollziehbar. Glückli- Adoleszenz etc.). Diese gewollte Unschärfe cherweise gibt es einige Egodokumente des soll zugleich die relative Betrachtung er- „jungen Menschen“ August Lattmann. Die leichtern, da es in erster Linie darum geht, Überlieferung ist jedoch sehr viel lückenhaf- sich der vorwiegend fremdbestimmten Le- ter als für spätere Jahre und setzt im Jahr bensphase des „jungen Menschen“ August 1864 ein. So bestimmt auch hier die Über- Lattmann anzunähern. lieferung willkürlich die historische Rekon- ··································································· struktion, auch wenn sie etwa zehn Jahre Die Sozialgeschichte hat gezeigt, wie un- früher einsetzt, als es zumeist der Fall ist. vollständig die Geschichte einer Fabrik ohne ··································································· die dort tätigen Arbeiter ist. Doch ebenso „Die Hauptbühne des privaten Lebens im

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19. Jahrhundert war die Familie; sie stellte aufgebrochen, als „die Kinder die warme die Figuren und Rollen, gab die Bräuche Jahreszeit mit den zahlreichen Familien der und Rituale, die Intrigen und Konflikte jüngeren Geschwister der Mutter unter der vor.“35 Wie waren die Rollen in der Familie sorgfältigen und liebevollen Aufsicht der des kleinen August verteilt? Die erhaltenen Großeltern Amsinck verbrachten“.36 Doch Quellen zeigen, dass zwischen der ältesten nicht nur im Sommer besuchte August sei- Tochter, der 1844 geborenen Helene, und nen Großvater Johannes Amsinck. Dieser August ein sehr herzliches Verhältnis be- versammelte an jedem Dienstag in seinem stand – trotz eines Altersunterschiedes von Kontor am Cremon 32 die Familie mit den immerhin vierzehn Jahren. So ist zu vermu- zahlreichen Enkeln um sich: „Nach dem ten, dass die ersten Jahre von August auch Mahle der Erwachsenen durften die Enkel- dadurch geprägt waren, dass er zahlreiche kinder kommen und wurden mit Milch und enge Bezugspersonen hatte. Der Altersun- Kringeln bewirtet.“37 terschied gerade zu den älteren seiner ··································································· Schwestern erhöhte vermutlich den ohne- Das älteste der erhaltenen Schriftzeugnisse hin vorhandenen Effekt, dass Geschwister August Lattmanns stammt aus dem Jahr einander miterziehen und somit elterliche 1864 und – dies ist durchaus bezeichnend Verhaltensmuster imitierten bzw. dazu an- für den weiteren Lebensweg – ist ein Ge- gehalten werden, sie zu übernehmen. Au- dicht, das der fünfjährige Lattmann seinem gust Lattmann wuchs als einziger Sohn mit Vater schrieb: vier Schwestern auf. In dem männlich do- „lieber papa, minierten Geschlechterverständnis des 19. kurz und gut ist wohl das beste, Jahrhunderts fiel Lattmann als einzigem denn ich bin noch schwach und klein, Sohn, der das Säuglingsalter überlebte, die also soll zu diesem feste Rolle des „Stammhalters“ zu. Unter den Ge- auch mein lied beschaffen sein. schwistern hatte er somit eine Sonderstel- alle guten gottes gaben lung. Eine zweite Sonderrolle erlebte er als wünsch ich lieb papachen dir, jüngstes Kind. So steht sein Aufwachsen in glück, gesundheit, langes leben der Ambivalenz, das kleinste, am wenigsten und dann deine liebe mir. entwickelte, und somit von den Schwestern dein august.“38 tendenziell fremdbestimmte Kind, zugleich ··································································· aber „Nesthäkchen“ der Eltern zu sein. Als Der Aussagegehalt dieser Quelle soll nicht „Stammhalter“ schließlich hatte er nicht nur überinterpretiert werden. Sie ist isoliert die besten Zukunftsaussichten, selbstbe- überliefert und die Entstehung wird fremd- stimmt zu leben, sondern zudem als Er- bestimmt gewesen sein – dies erscheint zu- wachsener eine herausgehobene Machtposi- mindest aufgrund der Qualität des Textes tion gegenüber Frauen zu besitzen, die die sehr wahrscheinlich. Trotzdem lassen sich Machtstruktur der Kindheit ins Gegenteil verschiedene Elemente ausmachen, die auch verkehren sollte. in späteren Jahren immer wieder wichtig ··································································· werden. So ist zunächst einmal das „Lied“ Lattmanns Rolle als jüngstes Kind wurde als Gattung hervorzuheben. Lattmann hatte wahrscheinlich in den Sommermonaten Zeit seines Lebens eine Affinität zu Gedich-

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ten, zu eigenen wie fremden. Unter diesem nigen überlieferten schriftlichen Ermah- Gesichtpunkt ist es auch fast nachrangig, ob nungen gingen sicherlich eine Vielzahl August es unter Anleitung oder ganz allein mündlicher einher, in denen der Vater sei- aufgeschrieben hatte: Das früheste erhaltene nem Sohn zu verdeutlichen suchte: „Du schriftliche Zeugnis von August steht sinn- wirst immer mehr einsehen, dass die wah- bildlich für eine sein ganzes Leben durchzie- ren und nützlichen Freuden in der Arbeit hende Leidenschaft. Aus dem Inhalt lassen bestehen.“41 sich die christliche Erziehung des jungen ··································································· August ebenso zeigen wie die Zuneigung Doch was war die Rolle der Mutter? Elisa- zum Vater. Darüber hinaus ist der Text nicht beth Lattmann litt an einer Lähmungser- ohne Humor, ein bleibendes Merkmal auch krankung, möglicherweise Parkinson. Zu späterer Gedanken und Gedichte. Gereim- welchem Zeitpunkt die Krankheit ausbrach, ter Witz findet sich ebenfalls in dem aus lässt sich nur annäherungsweise bestimmen. dem gleichen Jahr stammenden Weih- Max M. Warburg berichtete später, die 1883 nachtsgruß, der vielleicht ebenso wie die gestorbene Elisabeth habe 25 Jahre an der Geburtstagswünsche durch Unterstützung, Krankheit gelitten.42 So könnte auch ein etwa der Schwestern, zu Papier gebracht Zusammenhang zwischen der Geburt von wurde: August und dem Beginn der Lähmung be- „Liebe Eltern, da hatt’ ich über Nacht, standen haben. Dass die Eltern nach August Mir ein Weihnachtswünschchen ausgedacht, keine weiteren Kinder mehr bekamen, kann Ach wüßtet Ihr, wie niedlich’s war und fein! ein weiterer Hinweis sein, doch war die Als ich es fertig hatte, schlief ich ein; Mutter bei der Geburt von August bereits 39 Nachdem ich’s mir noch einmal überlegt, Jahre alt. Die wenigen Schriftquellen, die Undtes [!] recht tief im Herzen eingeprägt, von ihr überliefert sind, zeugen von der Er- Doch nun ich’s sagen will – krankung: Einen guten Eindruck gibt der lacht mich nicht aus – mit sichtlicher Mühe und von zittriger da wollen mir die Wörtchen nicht heraus – Hand verfasste Gruß in das Konfirmations- Na, wißt Ihr was: So nehmt mein Herzchen album von August.43 Briefe der Schwestern hin! belegen, dass Elisabeth zuweilen Briefe dik- da steckt das ganze Wünschchen ja darin! tierte oder die Töchter der Mutter beim Euer August“39 Schreiben die Hand führten.44 Die Krank- ··································································· heit der Mutter wird ihre Stellung in der Fa- In den Folgejahren schrieb August weitere milie nachhaltig geprägt haben. In einem Gedichte, meist seinen Eltern zu Weihnach- Brief, den Gustav Lattmann seiner Tochter ten und seinem Vater zum Geburtstag. Es ist Emmy wahrscheinlich im September 1880 denkbar, dass er ebenso seiner Mutter Ge- schon kurz nach einer vorherigen Abreise burtstagsgrüße schrieb und diese schlicht nachsandte, wollte er ihr „vor allem berich- nicht überliefert sind; doch ist es nicht un- ten, dass Mama sehr gut geschlafen hat und wahrscheinlich, dass Lattmann eher auf sei- heute Morgen mich mit großen Augen sehr nen Vater ausgerichtet war, der die Rolle des freundlich ansah; ich habe ihr erzählt, dass christlichen Hausvaters mit Strenge, aber Du nach Paris unterweges [!] wärst.“45 Hie- auch sehr liebevoll ausfüllte.40 Mit den we- raus lassen sich gleich zwei Dinge zeigen:

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Nur mit großer Mühe konnte Elisabeth Lattmann ihrem Sohn 1874 in das Konfirmationsalbum schreiben

Nicht nur war die Nachtruhe der Mutter ein wird den Alltag der Kindheit von August wichtiges Thema, sondern auch, dass die si- Lattmann wesentlich geprägt haben und auf cherlich nicht spontane Entscheidung zur ihn nicht ohne Einfluss geblieben sein; wie Frankreich-Reise an der Mutter vorbeige- dieser wirkte, ist schwerlich festzustellen. gangen zu sein scheint. Auch in Schreiben Vielleicht machte August die Krankheit der an August wird die Krankheit thematisiert: Mutter unglücklich und melancholisch. So fragte die achtzehnjährige Emmy in ei- Vielleicht lehrte es ihn aber auch, trotz Leid nem Brief an den damals noch nicht einmal Glück empfinden zu können. In Lattmanns zwölfjährigen August, „geht es Mami gut, Grabpredigt betonte der Pastor, das Leiden und ist sie nicht gar zu unrüstig?“46 Im Juni der Mutter habe Lattmann früh vergegen- 1874, Lattmann war fast sechzehn, schrieb wärtigt, „daß der Mensch auch zum Dulden ihm seine andere Schwester Helene: „Hof- gerüstet sein“49 müsse. Es ist durchaus denk- fentlich hat Mama keine so schlechte [!] bar, dass die schwere Krankheit und der Nächte, daß sie am Tage dann ganz elend ist, frühe Tod der Mutter Lattmann generell für die arme süße Mama, gieb ihr einen recht menschliches Leid sensibilisiert haben. tüchtigen Kuß von mir.“47 ··································································· ··································································· Für den Historiker ist Elisabeth Lattmann Die Briefe der Schwestern belegen, dass die durch ihre Krankheit, die ihr das Schreiben jungen Menschen den gravierenden Zu- versagte, weitgehend der Stimme beraubt stand ihrer Mutter wahrnahmen. Die Worte und so lässt sich auch wenig über Lattmanns beschönigen nichts: Die „arme“ Mutter Beziehung zu seiner Mutter schreiben: ein möge nicht „ganz elend“ sein. Gustav Latt- blinder Fleck dieser Biographie. August mann berichtete später von ihrer „großen wollte später mit einer Stiftung ihrer geden- Seelenstärke, mit der sie so schwere Leiden“ ken (und nicht etwa dem Vater). Dies erduldet habe.48 Das Leiden der Mutter könnte als ein Hinweis gesehen werden, dass

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Lattmann seiner Mutter ein Stück weit eine nissen berichten zu können. Während bleibende Stimme zurückgeben wollte. Wie Schulfrei ein wenig überraschender Grund noch zu zeigen sein wird, hat Lattmann der Freude eines Knaben ist, so zeigt ein mit der Stiftung insbesondere notleidende Brief an seine Schwester „Tony“, der wahr- Frauen bedacht, das mag nicht nur Zufall scheinlich aus dem Jahr 1869 stammt,53 in- gewesen sein.50 teressante Einblicke in eine „Jungsgesell- ··································································· schaft“ bei Goverts. Die Familie Goverts Die frühen Gedichte und Briefe zeigen in- war wie die Amsincks und Lattmanns eben- teressante Entwicklungen: Der siebenjäh- falls nicht ohne Bedeutung: Bei der „Jungs- rige August zeichnete seinen Weihnachts- gesellschaft“, die ein Paradebeispiel bürger- gruß von 1865 als „August Lattmann“, ein licher Privilegien darstellt, war sicherlich Hinweis, dass in diesen Jahren die Identifi- auch Ernst Goverts dabei, der später der kation mit dem Familiennamen stattfand. Hamburgischen Bürgerschaft angehörte Zudem geben sie Auskunft über erlernte und möglicherweise den jüngeren Spiel- Fertigkeiten, neben dem sauberer werden- kameraden in das Waisenhauskollegium den Schriftbild sind etwa die Geburtstags- wählte. Der aufgeregte Brief an die große grüße an die Schwester Helene im Oktober Schwester gibt Kunde von Augusts Erleben 1866 bereits in französischer Sprache ver- des Festes – er war begeistert. Es war „himm- fasst. Er widmete ihr – natürlich – ein Ge- lisch zu Pompös“. Ein „_ _ _ _ Z_ _ _ _ au_ dicht.51 Der einen Tag vor seinem eigenen _berer“, war auf der Feier, wie er durch Geburtstag geschriebene Achtzeiler des „joli Spannung erzeugende Auslassungen seiner petit frère“ ist das erste einer Reihe erhalte- Schwester mitteilte. Dieser habe den Kin- ner Schreiben an die große Schwester, von dern „viele Sachen gezeigt, ich kann Dinte denen vor allem eines aus dem Jahr 1868 her- [!] in Wasser verwandeln“. Ebenfalls nicht vorzuheben ist, denn Form und Inhalt las- uninteressant ist das Essen, das August glei- sen auf einen wirklich eigenständigen Brief chermaßen als etwas Besonderes erlebt schließen. Der knapp zehnjährige August hatte: „Vorher haben wir gegessen: Fleisch, schrieb an Helene: „Nun siehst doch das [!] Suppe, Gans, Kartoffeln, und Gemüse, Ge- ich im schreiben [!] gar nicht faul bin.“52 lée und Früchte, roth[es] und weißes Eis, Gewitzt (und mit einigen Schreibfehlern) verschiedene Kuchen, zwei Gläser Wein“.54 berichtete August von verschiedenen Ereig- Die Beschreibung des Essens zeigt en pas- nissen, vor allem aber von seinem Quartals- sant die eher gelassene Haltung der Erwach- zeugnis, das außer mittelmäßigen Zeichen- senen zum Thema Alkoholkonsum von fertigkeiten diverse gute Noten ausweist; Kindern. Auch wenn es sich um ein ver- August erhielt insgesamt achtzehn einzelne dünntes Getränk gehandelt haben mag, er- Bewertungen, die etwa zwischen Kopf- und schien es August bemerkenswert, gleich zwei Tafelrechnen unterschieden. An Sprachen Gläser davon kosten zu dürfen, wie die sie- lernte er zunächst Englisch (zieml. gut) und ben (!) Unterstreichungen unter dem Wort Französisch (gut). In den Schreiben des jun- Wein zeigen. gen Menschen zeigt sich auch seine Lebens- ··································································· wirklichkeit. So freute er sich, Helene über Die Verbundenheit in „herzlicher Liebe“55 zwei freie Schultage nach den Quartalszeug- mit seinen Schwestern riss auch in den wei-

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Bericht von der Jungsgesellschaft (um 1869)

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Das älteste Bildnis von August Lattmann – möglicherweise anlässlich der Konfirmation aufgenommen (um 1874)

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teren Jahren nicht ab. Ein Brief des fast vier- Dir auch Deine Arbeiten gut gelungen und zehnjährigen August an Helene („Leni“) ich freue mich, dass sich ein guter Privatleh- zeigt nicht nur diese Nähe, sondern auch die rer für Dich gefunden hat, welcher Dir die nahende Adoleszenz, die sich in einem ver- Unterrichtsgegenstände klarer machen kann; änderten, romantisierenden Blick auf seine geniere Dich nur nicht, denselben nach al- Umwelt zeigte: „Ich habe gestern Abend auf lem zu fragen. Durch Fragen wird man klug, meine eigene Hand, nachdem ich mit Ar- und das muss mein alter guter Junge wer- beiten fertig war, einen Sparziergang unter- den, damit es ihm wohl gehe in der Welt.“60 nommen, nämlich den Wiesenweg nach ··································································· Winterhude und zurück mit dem Dampf- Im Alter von vierzehn Jahren begann Au- bock. Die Schönheit der Natur errinnerte [!] gust zu rudern.61 Anfang der 1870er Jahre mich daran wie schade es war, daß ich Dich war Rudern bereits ein statusträchtiger nicht mit mir hatte, einen so schönen Sport, das gilt besonders für Hamburg, wo Abend kann ich kaum erinnern. Der Him- 1836 mit dem Hamburger Ruder Club der mel roth gefärbt von der untergehenden erste Ruderverein Deutschlands gegründet Sonne, der schlängelnde, spiegelblanke Fluß, worden war.62 Das Rudern wurde zu Au- die schönen Feldblumen zu denen ich mich gusts „Lieblingsbeschäftigung“, wie er zwei unwillkürlich bücken mußte um sie meiner Jahre später befand,63 doch waren dann Leni zu bringen, alles, alles machte mich bereits seine „Nervenschmerzen“ dem Sport fröhlich gestimmt.“56 sehr hinderlich.64 Als Erwachsener litt ··································································· Lattmann an Rheumatismus; möglicher- Doch bejahte August in jenen Jahren nicht weise waren jene Schmerzen bereits durch alles in seiner Umwelt. Vor allem die Schule diese Krankheit zu erklären. Vielleicht han- machte ihm zu schaffen und Aufforderun- delte es sich aber auch um Wachstums- gen seiner Schwester Helene, er solle von schmerzen oder einen psychosomatischen seinen schulischen Arbeiten schreiben, ent- Ausdruck adoleszenter Verstimmungen. Sei- gegnete der nun fünfzehnjährige, ein Tag ner Schwester Helene berichtete der knapp verginge doch ohnehin wie der andere.57 siebzehnjährige August: „Leider scheint das Offenbar hatte er keine Lust, über die Unangenehme, die Nervenschmerzen, von Schule zu schreiben: Nach der wiederholten Dir auf mich übergegangen so [!] sein, seit Aufforderung dazu antwortete er schlicht ich in Deinem Zimmer wohne.“65 Latt- nicht mehr auf die Briefe der Schwester, wie mann wurde mit „Chininpillen“ behandelt, ihre darauffolgende Klage zeigt.58 Schon aber „helfen thut es doch nicht“.66 Neben länger hatte August auch Privatlehrer und dem Rudern lässt sich in diesen Jahren ein die zwar liebvollen Briefe seines Vaters sind weiteres Interesse fern des Bücher-Lernens zugleich voller Aufforderungen zu schuli- nachweisen. Mit 14 Jahren berichtete er der scher Anstrengung. Im Sommer 1871 etwa Schwester: „ich tischlere ziemlich viel diese durfte Lattmann nicht mit in den Urlaub Zeit, und ich mag es sehr gern.“67 fahren, sondern musste Ferienunterricht bei ··································································· gleich zwei Privatlehrern nehmen.59 Der Va- Innerhalb der Religionsgemeinschaft wur- ter ermahnte ihn fortwährend zur Arbeit de August Lattmann mit fünfzehn Jahren in und schrieb seinem Sohn: „Hoffentlich sind die Gruppe der Erwachsenen aufgenom-

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Von seinem Vater erhielt August einen Blumenstrauß an Weisheiten zur Konfirmation

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Lattmann wird älter und trägt einen ersten, noch etwas spärlichen Schnauzbart (um 1876)

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men: Am 25. März 1874 wurde er in der die sich etwa im selbstverständlichen Ge- Hamburger Hauptkirche Sankt Petri kon- brauch dreier Fremdsprachen zeigen. Die firmiert. Das Poesiealbum, das er zu diesem Ambivalenz aus väterlicher Zuneigung und Fest bekam, gehört zu den erhaltenen erzieherischer Distanz zeigt sich symbolisch Schriftquellen des jungen Menschen, die in der in jener Zeit selbst innerhalb der Fa- nicht aus der eigenen Feder stammen. Die milie üblichen Form der Unterschrift: Selbst Verwandten und Freunde der Familie gaben ein „innig liebender Vater“ zeichnet mit dem nun „bestärkten“ Lutheraner Gebete Nachnamen und unausgeschriebenen Ini- und gute Wünsche mit auf den Weg, die tialen. Die Albumsseite des Vaters spiegelt Lattmann offenbar bis zum Ende seines Le- zudem das Spannungsfeld eines christlichen bens hochgehalten hat. Neben der knappen und diesseitigen Wertehimmels.70 Auch Ermahnung seiner Mutter, dem allmächti- Werte wie Arbeit und Fleiß waren für den gen Gotte fromm zu sein, beeindruckt vor Vater nicht ohne jenseitige Heilslehre abzu- allem die überbordend gestaltete Seite seines leiten. Vaters und verdient hervorgehoben zu wer- ··································································· den. Dem einzigen lebenden Sohn arran- Das in dunkelrotem Samt eingeschlagene gierte der Vater einen ganzen Blumenstrauß und mit Blattgold verzierte Buch ist ein wei- an Weisheiten und Ermahnungen, Glau- terer Spiegel von Lattmanns früher Teilhabe benssätzen und Sprüchen, die eine Subli- an Hamburgs bürgerlicher Gesellschaft. mierung der Moralvorstellungen, Normen Unter den Gratulanten finden sich Familie und Werte der Erziehung von August dar- und Freunde – und das sind natürlich Am- stellen.68 Eine Auswahl: „Ora et labora!“, sincks, aber auch andere bekanntere Namen „Geduld und Fleiß erringt den Preis!“, „Il wie etwa vom Vetter Peter Siemsen, Alfred vaut mieux mourir // que vivre sans hon- Mauke, Minna Fischer, geb. des Arts, Hein- neur!”, „Honour and shame from no condi- rich Wichern usw. Auch der Pastor schrieb tion rise // Act well your part, there all the in das Album und zeichnete, den nun Kon- honour lies.”69 Auch eine kleine Skizze ist firmierten auf die Ebene der Erwachsenen vorhanden, die zeigt, dass aus Wahrheit Ver- hebend, als „Lehrer und Freund R J W Wol- stand entspringe und aus diesem Witz und ters Pastor zu St. Petri“.71 Fröhlichkeit folgten. Dem gegenübergestellt ··································································· ist die Falschheit, aus welcher Unsinn resul- Eine andere Wegmarke, die den jungen tiere, der wiederum Wahnsinn und Geläch- Menschen August Lattmann der Selbstbe- ter gebäre. All die Wünsche scheinen auf stimmung näherbrachte, war das Ende sei- ein Lebensmotto hinzulaufen, das im Zen- ner Schulzeit: Das Johanneum, das älteste trum der Seite steht: „Fürchte Gott, thue Gymnasium Hamburgs, verließ er 1876, im Recht, scheue Niemand! Dein Dich innig selben Jahr wurde er achtzehn Jahre alt.72 liebender Vater C. G. A. Lattmann“. So las- Auf die Anstalt folgte das Kontor: Lattmann sen sich auf nur einer Seite des Poesiealbums ging in die Kaufmannslehre. Die Entschei- die Moralvorstellungen des Vaters und so- dung dazu lässt sich aus den Quellen nicht mit seine pädagogischen Leitlinien nach- nachvollziehen, doch vermutlich hatte Au- zeichnen: Gottesfurcht, Arbeitsethos, Ehr- gust hier nicht das letzte Wort: Als Sohn gefühl und bildungsbürgerliche Standards, eines Getreidemaklers und Enkel eines

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Lattmann als Soldat

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Großkaufmannes könnte seine „Berufung“ band, den Lattmann noch im Oktober 1879 bereits festgestanden haben. trug, lässt sich wohl auf diesen Sturz zurück- ··································································· führen.74 Noch ein weiteres Mal musste August ··································································· Lattmann in eine staatliche Anstalt und Lattmann hat als Erwachsener über seine ähnlich der Schule, die er wohl ohne Begeis- frühen Jahre kein Zeugnis abgelegt oder Er- terung besuchte, war auch die Kaserne nicht innerungen verfasst, doch in Briefen an der Ort, an dem er Glück hatte und erfolg- seine Frau berichtete er von seiner „trüben reich war. Mit knapp 21 Jahren begann er, Jugend“75. Nach vielen Jahren Ehe schrieb er seinen Militärdienst zu leisten. Seine militä- ihr zum Hochzeitstag: „heute vor 45 Jahren rische Karriere war kurz. Er „brach sich aber war ich ein schüchterner Jüngling, der viel gleich beim Sturz vom Pferd ein Bein, so- Trauriges gesehen und Schweres erlebt hat- dass er frühzeitig wieder entlassen wurde te“.76 Die Krankheit und der frühe Tod der und seine militärische Tätigkeit damit ein Mutter wird einer der Gründe für die spä- für allemal ein Ende fand.“73 Ein Gipsver- tere Einschätzung Lattmanns sein.

·············································································································································· 33 Es überrascht etwa, dass das „Handbuch Biographie“ keine Kapitel zu jungen Menschen (bzw. Kindheit, Ju- gend etc.) hat. Zwar geben verschiedene Stellen zum „Lebenslauf“ bzw. zu „Lebensphasen“ Hinweise, doch lässt das Sachregister Begriffe wie „Kindheit“, „Jugend“ und sogar „Adoleszenz“ gänzlich vermissen. Vgl. Klein, Hand- buch. 34 Müller, Leo Perutz, S. 21. 35 Perrot; Fugier, Akteure, S. 97 (Vorbemerkung Perrot). 36 Büsch, Senator, S. 4. 37 Möring, 200 Jahre, S. 133. 38 August Lattmann an Gustav Lattmann, 27. April 1864: Nachlass Lattmann, Konvolut Erinnerung an die Kindheit. 39 August Lattmann an Gustav Lattmann, 25. Dezember 1864: Ebd. 40 Vgl. Gustav Lattmann an August Lattmann, 25. März 1874: Ebd., Konfirmationsalbum, hier Abb. auf S. 26 f. 41 Gustav Lattmann an August Lattmann, 16. Juli 1871: Ebd., Konvolut C. G. A. Lattmann Briefe an August 1870‒1880.

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42 Warburg, Gedächtnis, S. 14. 43 Vgl. Elisabeth Lattmann an August Lattmann, 25. März 1874: Nachlass Lattmann, Konfirmationsalbum, hier Abb. auf S. 21. 44 Helene Lattmann an August Lattmann, 17. Juni 1874: Ebd., Konvolut Erinnerung an die Kindheit; Elisa- beth Lattmann an August Lattmann, ohne Datum: Ebd., Konvolut C. G. A. Lattmann Briefe an August 1870- 1880, darin der Zusatz von Emmy Lattmann: „Mammchen wollte Dir auch gerne schreiben, da habe ich ihr die Hand geführt“. 45 Gustav Lattmann an Emmy, [17. September 1880?]: Ebd., Konvolut f. d. Biographie ohne Bedeutung. 46 Emmy Lattmann an August Lattmann, 8. Juli 1871: Ebd., Konvolut Erinnerung an die Kindheit. 47 Helene Lattmann an August Lattmann, 8. Juni 1874: Ebd. 48 Gustav Lattmann, An meine Lieben Enkel, 1892 [Typoskript], S. 6: Ebd., Vermischtes. 49 Schöffel, Predigt, S. 7; vgl. hier S. 112. 50 Vgl. hier S. 63‒65. 51 August Lattmann an Helene Lattmann, 4. Oktober 1866: Nachlass Lattmann, Konvolut Erinnerung an die Kindheit. 52 August Lattmann an Helene Lattmann, 30. Juni [1868]: Ebd. 53 Eine entsprechende Datierung legt das Schriftbild nahe. Vgl. August Lattmann an Antonie Amsinck, [ca. 1869]: Ebd. 54 August Lattmann an Antonie Amsinck, [ca. 1869]: Ebd. 55 Büsch, Senator, S. 4. 56 August Lattmann an Helene Lattmann, 3. Juli 1872: Nachlass Lattmann, Konvolut Erinnerung an die Kind- heit. 57 August Lattmann an Helene Lattmann, 22. Mai 1873: Ebd. 58 Vgl. Helene Lattmann an August Lattmann, 17. Juni 1874; Helene Lattmann an August Lattmann, 15. Juli 1874: Ebd. 59 Gustav Lattmann an August Lattmann, 16. Juli 1871: Ebd., Konvolut C. G. A. Lattmann Briefe an August 1870‒1880. 60 Gustav Lattmann an August Lattmann, 5. Juli 1871: Ebd. 61 August Lattmann an Helene Lattmann, 22. Mai 1873: Ebd., Konvolut Erinnerung an die Kindheit. 62 Vgl. Der Hamburger und Germania Ruder Club (Hg.), 150 Jahre. 63 August Lattmann an Helene Lattmann, 2. Juni 1875: Nachlass Lattmann, Konvolut Erinnerung an die Kind- heit. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 August Lattmann an Helene Lattmann, 22. Mai 1873: Ebd. 68 Gustav Lattmann an August Lattmann, 25. März 1874: Nachlass Lattmann, Konfirmationsalbum, hier Abb. auf S. 26 f. 69 Dies ist ein Wort von Alexander Pope. Vgl. Pope, Essay, S. 307. 70 Vgl. Hettling; Hoffmann, Wertehimmel. 71 R. J. W.Wolters an August Lattmann, 25. März 1874: Nachlass Lattmann, Konfirmationsalbum. 72 Wellig; Hoffmann, Nachweisungen. 73 Büsch, Senator, S. 5. 74 Gustav Lattmann an August, 19. Oktober 1879: Nachlass Lattmann, Konvolut C. G. A. Lattmann Briefe an August 1870‒1880. 75 August Lattmann an Fanny Lattmann, 14. September 1920: Ebd., Konvolut Briefe von August an Fanny 1885‒1930. 76 August Lattmann an Fanny Lattmann, 27. Juni 1930: Ebd. ··············································································································································

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Brotberuf Kaufmann

Es war Lattmanns Ururgroßvater Johannes Firma zu überwachen, Kontakte zu knüpfen Schuback, der Gründer der Firma Johannes und vor allem Berichte zu schreiben: „Es Schuback & Söhne, der den Grundstein wird mir lieb sein über Alle Corresponden- auch für das berufliche Fortkommen von ten, die Du kennenlernst etwas von Dir zu August Lattmann legte.77 Das Unterneh- hören, besonders aber auch über unsere men handelte mit Portugal und tätigte Agenten und was du über ihre Haltung und Bankgeschäfte. Lattmanns Großvater, Jo- ihr Auftreten hörst. Solche Berichte werden hannes Amsinck, übernahm im Jahr 1835 die auch für Dich selbst nützlich sein, indem sie Führung jener Firma, in der Lattmann seine dir Veranlaßung geben über Geschäfte und Ausbildung zum Kaufmann begann und Leute zu sprechen u. dir selbst ein Urtheil „zweifellos in allen Einzelheiten des kauf- zu bilden.“80 männischen Berufes sehr sorgfältig unter- ··································································· wiesen wurde“.78 Die erhaltenen Briefe von Heinrich Am- ··································································· sinck an seinen Neffen nehmen ohne Um- Zu diesen „Einzelheiten“ zählten neben den schweife Bezug auf die familiäre Nähe: Fir- genuin wirtschaftlichen Fragen auch die menleitung und Lehrling sind per Du und weitere Schule des geschäftsmäßigen Um- Heinrich erzählt August von privaten Ent- gangs und die Kunst der menschlichen In- wicklungen. Es ist keinesfalls trivial das zu teraktion, die das Knüpfen von Netzwerken bemerken, denn das Handelsnetz der Fami- ebenso umfasst wie das Durchschauen von lie Amsinck und ihr Erfolg hatte vor allem Ränkespielen (und zuweilen auch deren ei- mit gegenseitigem Vertrauen und entspre- gene Beherrschung). Für die Firma Schu- chendem Kredit zu tun („credere“). Vom ei- back & Söhne ging Lattmann im Jahr 1880 nen Onkel zum anderen wechselte Latt- nach Spanien und Portugal. Briefe von mann, als er im Winter 1880/81 anfing, für Heinrich Amsinck (1824–1883), der zusam- Gustav Amsinck zu arbeiten. Zunächst war men mit seinem Bruder Wilhelm (1821– er in Lissabon tätig, bald wechselte er nach 1909) nach dem Tod ihres Vaters im Jahr New York. Wie synonym Familie und Un- 1879 die Firma leitete, geben Einblicke in ternehmungen waren, zeigt auch ein Blick Lattmanns dortige Tätigkeiten. Zunächst auf die Mitarbeiter von Gustav Amsinck in einmal musste Lattmann Spanisch lernen, New York: August Lattmann, Gustav Goss- worin er rasch Fortschritte machte.79 Dane- ler und Justus Ruperti – alle waren Neffen ben war es seine Aufgabe, die Agenten der von Gustav Amsinck.81

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Das Stammhaus am Cremon

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selbst. Daneben machte er Kreditgeschäfte mit amerikanischen Häusern, bei denen es sich im ,Land der unbegrenzten Möglich- keiten‘ um beachtliche Summen handel- te.“83 ··································································· Das Unternehmen florierte und seine Teil- haber wurden reich. Gustav Amsinck selbst wurde zum Millionär, was zu jener Zeit ein gewaltiges Vermögen war.84 Bei seinem Tode im Jahr 1909 hinterließ er seiner Frau 9 Mil- lionen Mark.85 August Lattmann nahm an dem Aufstieg der Firma teil, wurde bald Pro- kurist und 1886 Gesellschafter der Firma. Der nicht einmal dreißig Jahre alte Latt- mann war somit direkt an dem Unterneh- men beteiligt, an den möglichen Risiken und Gewinnen. Und Lattmann gewann. Gustav Amsinck, der sich bald zur Ruhe set- zen wollte, hatte „einen sehr guten Nachfol- ger in August“ gefunden, wie Gustav seinem Bruder Erdwin schrieb, der es wiederum August Lattmann „ganz entre nous“ mit- Zunächst Onkel, später Chef und schließlich teilte.86 Als Lattmann diese Nachricht er- Partner von Lattmann: Gustav Amsinck hielt, war er 31 Jahre alt – ein junger Mann mit weitreichenden Kompetenzen und ··································································· enormen Verdienstmöglichkeiten. Gustav Amsinck war 1861 zum Teilhaber ··································································· der Firma seines großen Bruders Erdwin ge- Doch obwohl Lattmann gut verdiente, worden, die dann als L. E. Amsinck & Co. wurde er als Kaufmann in Amerika wohl firmierte.82 Nach dem Ausscheiden des Bru- nicht recht froh. Ob es die Tätigkeit oder die ders benannte Gustav die Firma im Jahr Umgebung war, bleibt offen. Lattmann, der 1876 in Gustav Amsinck & Co. um. Ähn- einen stattliches „Chateau“ in Summit lich wie sein Vater handelte Gustav Amsinck (New Jersey) unweit von New York und eine mit Portugal und Spanien. Aus Hamburg kostspielige87 Etage direkt am Central Park verschiffte er Getreide, Textilien und Eisen- bewohnte (170 W 59th Street), schrieb sei- erzeugnisse nach Portugal, von wo aus er ner Schwester Elisabeth 1892: „Ich kann so Wein für den amerikanischen Markt er- oft garnicht gegen die Oberflächlichkeit hier warb. Doch: „Seine Hauptinteressen lagen an und die Interessenwirthschaft ist mir so in Südamerika. In dem Handel mit Kaffee zuwider und doch wie gut habe ich es in der und Tabak aus Brasilien erwarb er ein Ver- Welt!“88 mögen. Die Finanzierung übernahm er ···································································

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An der „Interessenwirthschaft“ nahm Latt- mann nur sehr eingeschränkt durch Quel- mann jedoch selbst Teil: Innerhalb der len rekonstruieren. In seiner posthumen Kaufmannschaft übernahm Lattmann ver- Würdigung berichtet Max M. Warburg, schiedene Aufgaben. 1888/89 etwa war er dass Lattmann „längere Reisen im Jahre Mitglied im „Committee on Distilled Spir- 1883/84 in Südamerika gemacht hatte, wo- its“. Das fünfköpfige Gremium regelte den bei er in Para [Brasilien] bei seinem besten Interessenausgleich an der New Yorker Wa- Freunde Ernst Schramm am gelben Fieber renbörse, die Aufgaben fasst der „Report of erkrankte; wie er oft erzählte, verdankte er the New York Produce Exchange“ von 1888 dessen guter Pflege und seiner Negerköchin so zusammen: „Regulating the Trade in Dis- sein Leben.“90 Während der heutige Leser tilled Spirits Among Members of the New über den Begriff stolpert, scheint Lattmanns York Produce Exchange”.89 häufige Hervorhebung der Leistung eben- ··································································· dieser Köchin vielmehr eine positive Wür- Trotz dieses und anderer Splitter lässt sich digung auszudrücken als eine Abwertung. Lattmanns berufliches Wirken als Kauf- ···································································

Als Lattmann in der 59. Straße am Central Park wohnte, fuhren neben den Fuhrwerken bereits Automobile

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Lattmann „ohne Ahnung der Gefahren“ der Welt (1884)91

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Die Erfahrungen im Südamerikahandel tonte die Bedeutung des Besuchs der Dele- prädestinierten Lattmann auch für Aufga- gation: „This visit means that this country ben jenseits des eigenen Kontors. Im Jahr has an opportunity to show […] that we are 1897 besuchte eine große südamerikanische fully able to compete with the countries that Handelsdelegation die Vereinigten Staaten to-day have the bulk of the southern und ihr Handelszentrum New York: „Near- trade.”95 Die Vereinigten Staaten waren auf ly seventy merchants, representing the dem Wege dorthin und konnten zumeist Boards of Trade of almost every Central and während des Ersten Weltkriegs Großbritan- South American country will arrive in this nien als wichtigsten Handelspartner Latein- city on June 8.”92 Dies war für die Vereinig- amerikanischer Länder ablösen.96 ten Staaten und ihre Wirtschaft eine große ··································································· Chance, denn noch war der Handel mit Als Lattmann aus den Vereinigten Staaten Südamerika von Europa und vor allem zurück nach Hamburg kam, war er 43 Jahre Großbritannien dominiert.93 Daher wurde alt, doch für einen (finanziell möglichen) in New York Geld gesammelt, zum Teil aus Ruhestand zu jung. Daher richtete er sich in öffentlicher Hand, zum Teil aus privaten Hamburg auch ein kleines „Comptoir“ am Subskriptionen, um die Gäste entsprechend Glockengießerwall 22 ein. Welche Ge- empfangen zu können. Die veranschlagten schäftstätigkeiten er hier entfaltete, lässt sich 30.000 Dollar sollten sicherstellen: „the city nicht mehr darstellen; Büsch berichtet, Latt- will be en fête“.94 Dutzende Firmen und mann sei regelmäßig zur Börse gegangen.97 Unternehmer engagierten sich, um sich Bis 1908 jedoch scheint Lattmann seine Ge- dem gehobenen Besuch zu präsentieren, da- schäftstätigkeit deutlich verringert zu ha- runter auch der spanischsprachige August ben. Auf der Suche nach einer kaufmänni- Lattmann. Mehrere Ausschüsse wurden ins schen Anstellung für den Neffen schrieb er Leben gerufen, die alle durch das „Joint ihm: „wo ich nicht mehr selbst im Geschäft Committee on Entertainment (for the mer- bin, ist es nicht so leicht“.98 Lattmann hatte chants)“ verbunden waren. Lattmann war mittlerweile sein Engagement – salopp ge- im „Executive Committee“, das die Ausfüh- sprochen – vom Kontor ins Gremium ver- rung des Programms zu übernehmen hatte. lagert. Der „Secretary“ des Joint Committee be-

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·············································································································································· 77 Vgl. Möring, 200 Jahre. 78 Büsch, Senator, S. 5. 79 Heinrich Amsinck an August Lattmann, 25. Oktober 1880: Nachlass Lattmann, Vermischtes. 80 Heinrich Amsinck an August Lattmann, 8. November 1880: Ebd. 81 Möring, 200 Jahre, S. 165. 82 Vgl. Rheinholz, Gustav Amsinck, S. 21‒27. 83 Möring, 200 Jahre, S. 164. 84 New York Tribune (29. Mai 1892); vgl. auch Rheinholz, Gustav Amsinck, S. 23. 85 Möring, 200 Jahre, S. 166. 86 Erdwin Amsinck an August Lattmann, 25. Oktober 1889, Hervorhebung im Original: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von Onkel Erdwin Amsinck an Lattmann 1881‒1896. 87 Der Preis sei „pretty stiff“ gewesen; vgl. August Lattmann an Fanny, 6. August 1888: Ebd., Konvolut Briefe von August an Fanny 1885‒1930. 88 August Lattmann an Elisabeth Büsch, 18. Dezember 1892: Ebd., Konvolut Briefe von August Lattmann an Elisabeth Büsch und Erdwin Büsch. 89 Report of the New York Produce Exchange, 1888, S. 247. 90 Warburg, Gedächtnis, S. 14 f. 91 August Lattmann an Fanny Lattmann, 14. September 1920: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von Au- gust an Fanny 1885‒1930. 92 New York Times (13. Mai 1897). 93 Mitchell, Statistics, S. 502‒525. 94 New York Times (13. Mai 1897). 95 Ebd. 96 Vgl. Mitchell, Statistics, S. 502‒525. 97 Büsch, Senator, S. 9. 98 August Lattmann an Erdwin Büsch, 9. Januar 1908: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von August Latt- mann an Elisabeth Büsch und Erdwin Büsch. ··············································································································································

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Ein Leben zu zweit

Als Lattmann 1885 aus der Neuen Welt Schwiegertochter. Zahlreiche Briefe und erstmalig wieder seine Heimatstadt Ham- Gedichte, die Gustav Lattmann Fanny zu- burg besuchte, hatte der Sechsundzwanzig- eignete, zeugen von dessen Zuneigung. Be- jährige bereits erste Erfolge vorzuweisen und reits vor der Hochzeit empfand er sie als neu konnte auf Brautschau gehen – dies war of- hinzugewonnene Tochter: fenbar auch recht rasch erfolgreich. Im April „An mein innigst geliebtes Töchterchen 1885 verlobte er sich mit Fanny Schlüter und Fanny heiratete sie nur wenige Wochen später im Den ganzen Tag Dich nicht gesehn, Juni. Mein liebes Töchterlein ··································································· das heißt in trübem Wetter gehn, Fanny Schlüter (1864–1953) war die Toch- trotz hellem Sonnenschein.“101 ter von Julius David Schlüter (1828–1900) ··································································· und Emma Schlüter, geb. Kreglinger (1832– Wie sehr Gustav Fanny in die Familie ein- 1916). Während Fannys Mutter die Tochter binden wollte, zeigt auch sein Bedürfnis, eines Kaufmannes aus Antwerpen war (dort Fanny von ihrer Schwiegermutter zu berich- fand auch die Hochzeit von Fannys Eltern ten: „Bei dem Glücke, welches Du mir statt), gehörten die Schlüters zu den „alten“ schaffst, verfolgt mich immer das Bedauern, Hamburger Familien. Sie brachten mehrere daß Augusts Mutter dasselbe nicht mit mir Bürgermeister hervor, etwa den Großvater theilen kann, wie gerne möchte ich Dir von von Julius, David Schlüter,99 der Hambur- ihr und ihren seltenen Tugenden erzählen, gischer Bürgermeister von 1835 bis 1843 war. um Deine Liebe für sie recht zu wecken, ach ··································································· hätte sie Dich doch gekannt!“102 Wie und wann genau August Lattmann ··································································· seine spätere Frau getroffen hatte, lässt sich Die Briefe, die sich die frisch Verlobten nicht mehr rekonstruieren. Christoph Wil- sandten, zeugen von einer fröhlichen Bezie- helm Büsch berichtet, sie hätten sich Anfang hung, die nicht arm an Witz gewesen sein des Jahres 1885 kennengelernt.100 Fanny und mochte. Die frühe und intensive, ja impul- Augusts Mutter Elisabeth, die am 13. Feb- sive Zuneigung, die August für seine Ver- ruar 1883 gestorben war, begegneten sich da- lobte empfand, zeigt ein Brief vom 12. Mai her nicht mehr. Augusts Vater verband je- 1885, einem der ältesten von hunderten er- doch ein inniges Verhältnis mit seiner haltenen Briefen an Fanny. Verständlicher-

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Die Verlobungsanzeige von „Julius D. Schlüter und Frau“

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len, ist mir gänzlich unklar, wenn ich es auch für heute Deines gestrigen Unwohl- seins verstehe u. billige, aber im Allgemei- nen ist die Verlobungszeit eine so schöne u. da sie nie wiederzubringen, sehe ich nicht ein, warum wir sie uns sollen verkürzen las- sen. Ich habe Dich so furchtbar lieb und je- der Augenblick ohne Dich ist für mich ver- loren und glaube ich auch gemerkt zu haben, daß Du ein ganz klein Wenig von mir hältst. – Halte Dich heute nur recht ru- hig u. laß Dich nicht durch Besuche etc stö- ren, damit Du morgen wieder ganz frisch bist. – Adieu, mein süßer kleiner Engel, bis heute Nachmittag.“103 ··································································· Am 27. Juni 1885 war es dann soweit, dass Lattmann seine Braut endlich für sich „al- lein“ hatte und die einundzwanzigjährige Fanny aus dem Regiment ihrer Eltern ent- lassen war. An jenem Samstag, „einem strah- lend schönen Sommertag“,104 wurden Fan- ny und August in der St. Jacobi-Kirche in Fanny, etwa drei Jahre alt Hamburg getraut. Für den Traugottesdienst wurden auf rosafarbenem Karton die „Ge- weise verblasst vor der Freude, später am sänge zur Trauung“ angezeigt.105 Vor der Tage die Braut zu sehen, jeder Impuls zu an- Trauung sang die Gemeinde zwei Strophen deren Dingen, geschweige denn zu kauf- von „Wie groß ist des Allmächt’gen Güte!“. männischen Tätigkeiten. So wurden die we- Nach der Trauung wurde „Lobe den Her- nigen Stunden eines einzigen Tages sehr ren“ angestimmt. lang: „Da ich Dich heute erst so spät sehen ··································································· soll, so kann ich doch nicht umhin Dir ein Fanny folgte ihrem Mann nach Amerika. paar Worte zu schicken, ehe ich in die Stadt Dort bezogen sie ein Anwesen in Summit, gehe, um mich den ganzen Tag zu langwei- New Jersey, außerhalb von New York City. len. Du fehlst mir immer so furchtbar wenn Ihr Haus, das Lattmann im Fotoalbum mal ich allein bin, aber ich tröste mich damit, als „chateau“, mal als „cottage“ bezeichnete, daß ich Dich in ganz kurzer Zeit für mich lag direkt am Meer und unweit der Am- allein haben werde u. denke schon immer sinckschen Residenz in Summit. Die Umge- daran, was wir dann Alles zusammen thun bung bot viel Gelegenheit zu einem ge- können, um es recht gemüthlich zu ma- mächlichem Dasein: Das Meer lud zum chen. Was eigentlich der Grund Deiner El- Baden ein und die Landschaft zu Spazier- tern ist, uns immer soviel trennen zu wol- gängen und Ausflügen.106

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Eindruck verklungener Töne: Abfolge und Gesänge der Trauung

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Die Eheleute Lattmann

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Lattmanns „chateau“

··································································· sie mich mit ihrem kleinen baby besucht, Die Ehe blieb kinderlos. Die Quellen ge- das unsere Etage schon so gut kennt, daß sie ben über diesen sehr privaten und doch sehr sie jetzt vollständig in Anspruch nimmt und wichtigen wie gesellschaftlich wahrnehm- ganz ungeniert von einem Zimmer in’s an- baren Teil des Lebens von August und dere läuft; am interessantesten findet sie es, Fanny nur verhalten Aufschluss. Es kann je- meine étagère abzuräumen und bringt sie doch davon ausgegangen werden, dass beide mir dann eine Sache nach der anderen, läßt durch diesen Umstand betrübt waren. Ein sie etwas fallen, so heißt es einfach ,pick it Brief von Fanny an Emmy, der sich nicht da- up Lattmann please‘ und ich thue es dann tieren lässt, da nur die letzte Seite überliefert natürlich gleich. Da habe ich Dir aber Sa- ist, zeigt die Freude, die das Kind einer chen geschrieben, meine liebe Emmy, die Freundin bei ihr hervorruft: „Wir sehen uns Dich gewiß garnicht interessieren werden, jetzt beinah täglich, nehmen dann auch oft entschuldige es bitte, man schreibt sich Abends zusammen etwas vor und sind sol- manchmal so in seine Gedanken hinein.“107 che Parthieen zu vier [!] immer sehr fidel. ··································································· Am meisten Spaß macht es mir immer wenn Lattmann selbst äußerte sich ebenfalls in

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den ersten Jahren seiner Ehe nur indirekt christliches, sondern auch gesellschaftliches über etwaige Kinderwünsche. Im Jahr 1892 Gebot im 19. Jahrhundert. Daher war es etwa erläuterte er der Schwester die Berück- auch Comment, ein Ausbleiben von Kin- sichtigung seiner Patenkinder Heinrich Wi- dern zu bedauern, unabhängig davon, ob es chern, Oscar Büsch und Magdalena Schlü- den Eheleuten vielleicht auch recht war. ter in seinem Testament: „Die drei sind Doch scheint Lattmann wirklich lange Jahre meine Pathenkinder, wie Du weißt, und da darunter gelitten zu haben, keine leiblichen ich nun doch wohl keine eigenen Kinder ha- Kinder aufzuziehen. Dieser Eindruck wird ben werde, so will ich wenigstens für meine durch Passagen aus Briefen geweckt, die sein Pathenkinder etwas thun.“108 Das Bedauern Schwager und Vertrauter Erdwin Amsinck in diesen Zeilen klingt in dem Wort „we- an Lattmann sandte. Ein Brief aus dem Feb- nigstens“ mit. ruar 1893 beantwortet ein nicht erhaltenes ··································································· Schreiben von Lattmann. Ob dieser hier ex- Dass eine Ehe auf das Ziel der Familien- plizit über seine Kinderlosigkeit klagte, ist gründung ausgerichtet war, war nicht nur ungewiss – und eher unwahrscheinlich –,

„Aussicht vom Hause auf die See!“

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Erholung in der Natur

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von Kindern gar als Misserfolg dargestellt, doch war dem Schwager daran gelegen, Lattmann aufzumuntern. In einem Brief aus dem Jahr 1895 schnitt Erdwin Amsinck be- hutsam das Thema Adoption oder Pfleg- schaft an. Anlass war die Betreuung eines Kindes durch Lattmanns Schwester Emmy: „Was sagst Du denn dazu, daß Emmy ein Kind 5 1 /2 Jahr alt zu sich genommen hat[,] Anna Gerlt,110 ein ganz feines kleines Ge- schöpf, sehr freundlich und anthunlich. Ich finde es eigentlich ganz vernünftig, es wird Emmy ihre Unabhängigkeit kosten, sie aber auf manche andere Ideen bringen und im- mer gut, wenn Jemand nicht nur allein für Die Herrin der Hunde

doch waren seine Schreiben offenbar von einer solchen Melancholie erfüllt, dass Am- sinck sie nur teilweise durch den von Latt- mann ungeliebten Beruf zu erklären ver- mochte. Der ebenfalls kinderlose Amsinck bringt auf den Punkt, dass Lattmann eigent- lich nur einen einzigen Grund zur Klage habe: „Vielen Dank für Deine Briefe vom 4, 21 Januar gottlob geht daraus hervor, daß au- ßer dem Rheumatismus, es Dir körperlich sehr gut geht, nur fürchte ich, daß es geistig mit Dir nicht so beschaffen ist, da Du über alles immer so unzufrieden schreibst und Dich leider nicht so recht glücklich zu fühlen scheinst trotz Deiner lieben Frau und den so sehr günstigen Geschäftserfolgen und augen- blicklich auch Deiner so ganz unabhängigen Stellung. Es thut mir innig leid, da doch Dein ganzes Leben bisher mit Ausnahme der Kin- derlosigkeit nur von Erfolgen gekrönt gewe- sen ist und Du in Deinen jungen Jahren Dir eine Stellung erworben hast, wie es nur we- nigen jungen Kaufleuten gelingt.“109 ··································································· Lattmanns Schwester Toni und ihr Mann Erdwin Im Umkehrschluss wird hier das Ausbleiben Amsinck im Jahr ihrer Eheschließung 1866

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sich, sondern auch für Andere zu sorgen ··································································· hat. Ich glaube, daß auch eigentlich alle sehr Obwohl Lattmann innig mit seiner Frau dafür sind. Hier lag es ja auch ziemlich nahe, verbunden war, wurde er in New York nicht da das Kind von der [!] jetzt verstorbenen froh. Dass er keine Kinder hatte, könnte da- Fräulein Gries angenommen war und da für ein wichtiger Grund gewesen sein, das Emmy sehr intim mit diesem Fräulein war dachte ja auch Lattmanns Vertrauter Erd- und seit 6 oder 8 Monaten es viel gesehen win Amsinck. Als Lattmann der Stadt mit hatte. Sie will es auch nicht adoptieren und Anfang Vierzig den Rücken kehrte, hatte er nicht ihren Namen geben, was ich auch für einen ansehnlichen Wohlstand erwirtschaf- viel richtiger halte.“111 tet, der es ihm ermöglichte, fortan zu guten ··································································· Teilen als Rentier zu leben und ausgedehnte Ob Fanny und August über eine Pflegschaft Reisen mit seiner Frau zu unternehmen.115 oder Adoption nachdachten, ist durch Quel- Doch war er gesundheitlich stark angeschla- len nicht belegt. Überhaupt ist die historische gen. Einer Blinddarmoperation im Jahr Rekonstruktion dieser intimen und doch be- 1899 folgte eine Rippenfellentzündung, die deutenden Problematik besonders schwierig Lattmann um 1900/1901 in der Schweiz aus- und stößt zwangsläufig an Grenzen. Die In- kurierte.116 terpretation muss sogar noch behutsamer er- ··································································· folgen, als die Thematik ohnehin in den Nach ihrer Rückkehr nach Hamburg zo- Quellen angesprochen wird. Als die Latt- gen die beiden in den gehobenen Stadtteil manns im Jahr 1888 größere und getrennte Harvestehude/Pöseldorf; zunächst wohnten Reisen antraten, entstanden einige Briefe, in sie im Mittelweg 119 und bezogen schließ- denen das Thema angeschnitten wurde. Drei lich ein stattliches Anwesen im Harvestehu- Jahre nach der Hochzeit berichtete Lattmann der Weg 39.117 seiner Frau ausführlich von der Etage, die er ··································································· in New York angemietet hatte. In der Mitte Alles deutet darauf hin, dass August und des Briefes wird Lattmann recht emotional Fanny in einer glücklichen Ehe lebten, bzw. und er äußert Wünsche für die gemeinsame dass Lattmann sie so wahrnahm. Aus den Zukunft: „Du alter Schatz, hoffentlich wird Briefen, die Lattmann mal seiner „Fifi“, Alles recht nett und gemüthlich und Du bist meist seinem „alten Schatz“ oder „Herz“, immer wohl und vergnügt und am Ende später dann seinem „Pudel“ (wahrschein- kommt noch so ein kleines Geschenk, nicht lich eine Anspielung auf den Dutt) sandte, wahr?“112 Doch umso länger ein Kind aus- gehen innige Zuneigung, Sehnsucht und blieb, desto deutlicher wurde es den beiden, Anteilnahme, aber auch Witz, Neckerei und dass sie keine Kinder haben würden. Im Juli Frische hervor. Auf Europareise schrieb 1892 machte Lattmann einen Ausflug nach Lattmann seiner Frau aus Bremen im Juni Long Island. Dort wurde ihm von einer 1888: „Nun mein altes Herz, gute Nacht. Wahrsagerin geweissagt: „You will marry a Der liebe Gott wird dich behüten und hof- blond and have seven children.“113 So schrieb fentlich dich mir gesund u. vergnügt im er es seiner Frau und fügte hinzu: „Also Du Herbst wiedergeben. Darum will ich ihn siehst, die Blonde ist schon da und für die sie- immer bitten und dir, meinem alten süßen ben Kindern [!] ???“114 Spatz, danken, daß du mich so sehr glück-

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Zwei in einem Boot – die Lattmanns um 1890

lich gemacht hast. Lebewohl für heute mein haltende Frische der Beziehung der beiden Herz und denk nur manchmal ein klein We- gibt ein Brief von August Lattmann aus dem nig an dein [!] alten Mann, der dich furcht- Jahr 1920 – auch nach 35 Jahren Ehe: „Ges- bar lieb hat.“118 Ein Beispiel für die lang an- tern schrieb ich Dir sogar 2 Briefe. Ich denke

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Die „Majesty“ mit etwa zwanzig Jahren

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mir, Du warst entsetzt, aber Du mußt mich In der Konsequenz scheinen die beiden tat- nun einmal nehmen wie ich bin, nemlich: sächlich von langen Trennungen, etwa für [!] ein verrücktes Huhn!“119 Nicht nur seine Aufenthalte in Europa, abgesehen zu haben, humorige Selbstbeschreibung, auch Latt- wie sich indirekt aus dem Fehlen von Kor- manns Bedürfnis, seiner Frau gleich zwei respondenz zwischen den Jahren 1892 und Briefe an einem Tag zu schreiben, wird hier 1904 ergibt. sichtbar. ··································································· ··································································· August und Fanny feierten am 27. Juni Während Lattmann in den ersten Jahren 1935 ihre Goldene Hochzeit. Zu der Feier wohl unter der Kinderlosigkeit litt, scheinen dichtete Lattmanns Patensohn Heinrich sich die Eheleute damit arrangiert zu haben. Wichern123 ein Jubellied: Dennoch schrieb er 1909 seiner Frau: „Du, „Nun stimmet an den Ton der Freude! liebes Herz, hast einen viel viel besseren Denn Jubeltag ist heut’ fürwahr. Menschen verdient und eine Menge Kinder. Seid uns gegrüßt, Ihr lieben beide, Was wärest Du für eine herrliche Mutter ge- Gegrüßt als gold’nes Hochzeitspaar!“124 worden, Du Engel!“120 Die Familie Latt- ··································································· mann bestand nur aus den beiden, die sich Nach einem Parforceritt durch ein „Halb- gänzlich aufeinander abgestimmt hatten, jahrhundert“ betonte der Neffe: wie er seinem Neffen in der Sorge um seine „So dürft Ihr heute wohl bekennen angegriffene Gesundheit schrieb: „Wir ha- Mit Dank zu Gott, der alles gibt: ben ein so sehr gemeinsames Leben geführt, Ein reiches Leben ist’s zu nennen, daß einer ohne den Anderen schwer aus- wenn man wie Ihr, gelebt, geliebt.“125 kommt.“121 Ein Gedanke, den Lattmann ··································································· auch in seinen späteren Reflexionen über Lattmann hatte dieses reiche Leben, trotz seinen eigenen Tod benennt.122 mancher Widrigkeiten, und er verdankte es ··································································· seiner Frau. Ihretwegen hielt er sich für den Diese Zweisamkeit scheint einen sehr glücklichsten Menschen der Welt: „Kein wichtigen Teil in Lattmanns Leben ausge- Mensch kann es ebenso guthaben, wie ich, macht zu haben. Aus den erhaltenen Brie- denn es giebt nur eine liebe kleine ,Majesty‘ fen spricht das Unbehagen, getrennt zu sein. mit Namen Fanny!“126

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·············································································································································· 99 David Schlüter, geb. 17. Mai 1758, gest. 16. Juni 1844; Senator 1801; vgl. Deutsches Geschlechterbuch 171. 100 Büsch, Senator, S. 6. 101 Gustav Lattmann an Fanny Schlüter, 10. Juni 1885: Nachlass Lattmann, Konvolut C. G. A. Lattmann Briefe an seinen Sohn August und seine Frau 1885‒1890. 102 Gustav Lattmann an Fanny Schlüter, 12. Mai 1885: Ebd. 103 August Lattmann an Fanny Schlüter, 12. Mai 1885: Ebd., Konvolut Briefe von August an Fanny 1885‒1930. 104 Warburg, Gedächtnis, S. 14. 105 Karte: Trauung Lattmann: Nachlass Lattmann, Konvolut Hochzeit und Goldene Hochzeit. 106 Vgl. auch: Büsch Senator, S. 7. 107 Fanny Lattmann an Emmy Lattmann, [ohne Datum]: Nachlass Lattmann, Konvolut Erinnerung an die Kindheit [!]. 108 August Lattmann an Lizzy, New York, 18. Dezember 1892: Ebd., Konvolut Briefe von August Lattmann an Elisabeth Büsch und Erdwin Büsch. 109 Erdwin Amsinck an August Lattmann, 18. Februar 1893: Ebd., Konvolut Briefe von Onkel Erdwin Am- sinck an Lattmann 1881‒1896. 110 Anna Gerlt (1889–1897) starb drei Tage vor ihrem achten Geburtstag und wurde in dem Gemeinschaftsgrab der Familie Lattmann in Niendorf beigesetzt. 111 Erdwin Amsinck an August Lattmann, 3. Januar 1895: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von Onkel Erdwin Amsinck an Lattmann 1881‒1896. 112 August Lattmann an Fanny Lattmann, 10. August 1888: Ebd., Konvolut Briefe von August an Fanny 1885‒ 1930. 113 August Lattmann an Fanny Lattmann, 18. Juli 1892: Ebd. 114 Ebd. 115 Büsch, Senator, S. 8. 116 Ebd. 117 Ebd. 118 August Lattmann an Fanny Lattmann, 26. Juni 1888: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von August an Fanny 1885‒1930. 119 August Lattmann an Fanny Lattmann, 8. August 1920: Ebd. 120 August Lattmann an Fanny Lattmann, 2. Juni 1909: Ebd. 121 August Lattmann an Erdwin Büsch, 7. November 1917: Ebd., Konvolut Briefe von August Lattmann an Elisabeth Büsch und Erdwin Büsch. 122 Vgl. hier S. 110 f. 123 Heinrich Wichern (1878‒1940) war der Sohn von Lattmanns Schwester Helene. 124 Heinrich Wichern, „Zu August & Fanny’s [!] goldener Hochzeit am 27. Juni 1935“: Nachlass Lattmann, Konvolut Hochzeit und Goldene Hochzeit. 125 Ebd. 126 August Lattmann an Fanny Lattmann, 11. September 1924: Ebd., Konvolut Briefe von August an Fanny 1885‒1930. ··············································································································································

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Familie

Wenn es Lattmann bereits in den 1890er eine klare Vorstellung, wie das zu erreichen Jahren ein Anliegen war, „wenigstens“ für sei, nämlich durch internationale Erfahrung seine Patenkinder zu sorgen, so nahm er und Kontakte sowie das Aneignen von Spra- zwanzig Jahre später auch besonderen Anteil chen. Die Pläne seiner Schwester Elisabeth, an dem Weg seines Neffen Erdwin Büsch die ihren Sohn lieber bei sich in Hamburg (1885–1981). Dieser war im Jahr der Ehe- wissen wollte, lehnte er ab. In einer Mi- schließung von August und Fanny zur Welt schung aus Geringschätzung und Sorge um gekommen und hatte wenige Tage nach sei- die Zukunftsaussichten von Erdwin äußerte nem siebten Geburtstag den Vater verloren. er sich über daheimgebliebene Altersgenos- Lattmann wollte wohl nicht die Vaterrolle sen von Büsch: „Mir schweben so viele junge an sich ziehen, doch empfand er eine beson- Leute vor, die wie Du von Haus aus vermö- dere Verantwortung für seinen Neffen, wie gend, sich einfach auf ein ererbtes oder er- er ihm später auch deutlich machte: „Du kauftes Geschäft verlassen, siehe Wilhelm kannst Dir denken, dass ich eine Art von Gossler und andere, Haller Sohn & Co., Verantwortlichkeit Deinetwegen Deiner Garlieb Amsinck und dergleichen mehr.“129 Mutter gegenüber empfinde. […] Ihr drei Nach Lattmanns Ansicht konnte nur Erfah- Büsche steht mir doch so ganz besonders rung in der Welt die Grundlage für Erfolg nahe, da ich selbst keine Familie habe.“127 legen: „Ich finde es für Deine kaufmänni- ··································································· sche Karriere ganz besonders wichtig, dass Die Ermahnungen, Ratschläge und Hilfe- Du Menschen und Verhältnisse kennen stellungen geben eine Ahnung, wie Latt- lernst. Hamburg ist gewiss ein bedeutender mann vielleicht selbst als Vater gehandelt Handelsplatz, aber Geld kannst Du nur hier hätte. Zwar mit Nachsicht, aber beharrlich verdienen, wenn Du das Ausland kennst hätte er versucht, die Söhne zu erfolgreichen und zwar gründlich. Firmen, die sich auf Kaufleuten zu erziehen. Eine Episode aus den Platz allein beschränken, aus Unkennt- dem Jahr 1908 zeigt, wie Lattmann in einer nis oder Faulheit nicht reisen, gehen alle un- Mischung aus Ermahnung und Ermutigung ter.“130 Kurz gesagt: „Ein Kaufmann, der Er- zu Erdwin stand: „Ich habe nur den einen folg haben soll, muss einen weiten Blick Wunsch, dass Du ein glücklicher und er- haben und Freundschaften machen.“131 folgreicher Kaufmann werden mögest“,128 ··································································· schrieb Lattmann an seinen knapp dreiund- Lattmann vergaß aber nicht, seinen Nef- zwanzigjährigen Neffen. Und Lattmann hatte fen an den Vater zu erinnern: „Ich wollte

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sein, so war sie emotional für Lattmann selbst oft Bürde. Als Onkel entschied er sich, diese Bürde der nachwachsenden Genera- tion aufzulegen und erfüllte damit ein nicht nur damaliges Verständnis der väterlichen Rolle, das auch Strenge gegen die Jugend er- wartet. Zugleich zeigt Lattmanns Rat, dass dieser in den Grenzen bürgerlicher Wertvor- stellungen erfolgte: Es war für Lattmann undenkbar, seinem „von Haus aus vermö- gend[en]“ Neffen zu raten, fortan als Dandy zu leben, den schönen Künsten zu frönen oder zugunsten der räumlichen Nähe zur Mutter seinen wirtschaftlichen Erfolg zu ge- fährden. ··································································· Vor allem Erdwins Möglichkeit, bei der Mutter zu verbleiben, hätte Lattmann auch dazu bewegen können, seinem Neffen an- ders zu raten. Denn sein eigenes Dasein als Kaufmann in Übersee brachte es für ihn mit Verwandt und vertraut: Erdwin Amsinck sich, von vielen Menschen, die er liebte, auf lange Zeit geschieden zu sein. Dies bedeu- Dein Vater lebte, um Dir zu rathen“, schrieb tete nicht nur eine Entfernung im Alltag, Lattmann Erdwin am 4. Januar 1908, „[e]r sondern auch in den Ausnahmefällen des hatte ein so ruhiges, klares Urtheil und war Lebens. Augusts Vater Gustav starb am 16. ein so famoser anständiger Mensch und gu- Juni 1894 einige Wochen nach seinem 83. ter Kaufmann. Wie oft hat er mir gesagt, Geburtstag in Hamburg. Der Tod, der die- dass er bereut habe, nicht anstatt einer Reise ses lange Leben beendete, hatte sich ange- um die Welt einen längeren Aufenthalt im kündigt, und August Lattmann erfuhr in Auslande genommen zu haben.“132 Ein paar Briefen von Erdwin Amsinck, dem Ehe- Tage später wurde Lattmann deutlicher: mann seiner Schwester Tony, von dem im- „Bei allem denke ich immer daran, wie oft mer schlechter werdenden Zustand des Va- Dein Vater mir gesagt hat, wie leid es ihm ters. Vier dieser Briefe sind in dem Nachlass gethan habe, nicht länger im Ausland ge- erhalten, der erste datiert auf den 1. März schäftlich thätig gewesen zu sein.“133 1894. Erdwin Amsinck schrieb seinem ··································································· Schwager von dem großen Leiden. Trotz ei- Lattmann, der als Kaufmann in der Ferne nes kräftigen Pulses und guten Appetits sei oft einsam und unglücklich war, gab seinem der Vater so schwach, dass Amsinck glaubte: Neffen hier einen ambivalenten Rat. „ein plötzlicher Herzschlag würde wohl al- Mochte die internationale Tätigkeit auch len eine Erleichterung sein“.134 In diesem wichtig für den kaufmännischen Erfolg und den folgenden Briefen riet Amsinck

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Gustav Lattmann als Mittelpunkt der Familie und Namensgeber der Familiengrabstätte

Lattmann von einem letzten Besuch ab, ne- Im April erreichte ihn ein weiterer Brief: Es ben der Schwierigkeit, das New Yorker Ge- sei unwahrscheinlich, dass der Vater zu dem schäft für eine Europareise wochenlang zu Zeitpunkt, da Lattmann diese Zeilen lese, verlassen, betonte Amsinck: „Aufrichtig ge- überhaupt noch lebe. Die Verzögerung sagt hätte [weder] Dein Papa noch Du viel macht zugleich ein weiteres Problem deut- davon, natürlich würde er sich freuen, Dich lich: Lattmann musste zu Beginn der Reise noch einmal zu sehen, das wäre aber alles die Möglichkeit akzeptieren, dass der Vater Nützen; viel thun für ihn kannst Du wie er zum Zeitpunkt der Ankunft bereits gestor- jetzt ist, garnichts, da ihm selbst Deine Be- ben sein könnte.137 Trotzdem trat Lattmann suche wahrscheinlich zu angreifend sein die Reise an und schaffte es tatsächlich vor würden und ihn zu unterhalten auch un- dem Tode des Vaters in Hamburg zu sein, möglich und was Dich betrifft wirst Du viel- wie aus der Trauerrede des Pastors Otto leicht besser daran thun, ihn im Gedächt- Weymann hervorgeht: „Gewiß hat die Wil- niss [!] von früher zu behalten, als ihn jetzt lenskraft der Sehnsucht des Vaters nach sei- in seinem gebrochenem Zustande zu se- nem einzigen Sohne, gewiß hat der Wunsch, hen.“135 diesen vor dem Sterben noch einmal zu se- ··································································· hen und zu sprechen dem Tode ein ,Halt!‘ Lattmann ignorierte den Rat des Vertrau- geboten, aber voll wehmüthiger Freude ten und plante eine Reise in die Heimat.136 preisen wir auch die liebevolle Führung un-

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seres Gottes, der dem Winde und den Wel- eilte.“138 Trotz des langen Leidens des Vaters len befohlen hat, daß sie das Schiff so viel war dieser, nach den Worten von Pastor früher hierher getragen, auf welchem der Weymann, im Geiste klar, als sein Sohn zum Sohn dem sterbenden Vater entgegen- letzten Abschied kam.139

·············································································································································· 127 August Lattmann an Erdwin Büsch, 9. Januar 1909: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von August Latt- mann an Elisabeth Büsch und Erdwin Büsch. 128 August Lattmann an Erdwin Büsch, 4. Januar 1908: Ebd. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 August Lattmann an Erdwin Büsch, 9. Januar 1908: Ebd. 132 August Lattmann an Erdwin Büsch, 4. Januar 1908: Ebd. 133 August Lattmann an Erdwin Büsch, 9. Januar 1908: Ebd. 134 Erdwin Amsinck an August Lattmann, 1. März 1894: Ebd., Konvolut Briefe von Onkel Erdwin Amsinck an Lattmann 1881‒1896. 135 Ebd. 136 Vgl. Erdwin Amsinck an August Lattmann, 5. April 1894: Ebd. 137 Erdwin Amsinck an August Lattmann, 15. Mai 1894: Ebd. 138 Otto Weymann, Rede am Sarge des Herrn Carl Gustav Adolf Lattmann, den 19. Juni 1894, S. 4: Ebd., Kon- volut Testament. 139 Ebd. ··············································································································································

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Cholera in Hamburg – Lattmann hilft aus New York

Das erste mildtätige Engagement von Au- Hamburger Steamer am Meisten ausgesetzt gust Lattmann, das sich nachweisen lässt, werden, deshalb mußt du dich auf das führt zurück in das Jahr 1892. Im August Schlimmste gefaßt machen.“143 brach in Hamburg die Cholera aus und for- ··································································· derte über 8.000 Todesopfer.140 Die Nach- Lattmann machte sich große Sorge und richten über diese letzte größere Epidemie gab seiner Frau genaue Anweisungen für die jener Krankheit in Deutschland erreichten Reise, sie sollte möglichst wenig Gepäck die Vereinigten Staaten zögerlich. Die Be- mitnehmen und alles genau deklarieren. richterstattung der „New York Times“ etwa „Die ganze Malesche mit dem Desinfinzie- fokussierte weniger die Katastrophe in ren etc. […] Ich depeschiere dir, daß du dich Hamburg, sondern die drohende Gefahr für entweder Gosslers anschließen müßtest Amerika und vor allem für New York. Seit oder dir Jemand von Hamburg zur Beglei- dem 22. August 1892 konnten die New Yor- tung bestellen mußt, denn keinesfalls möch- ker in ihrer Zeitung täglich die zunächst un- te ich dich allein auf der Reise wissen.“144 Er bestätigten („has not been announced“)141 schloss: „Mein lieber, lieber alter Schatz, ich und bald von den Hamburger Behörden habe eine ganz schreckliche Sehnsucht nach eingestandenen Berichte über den Ausbruch dir und möchte, Du wärest erst wieder bei der Cholera in Hamburg lesen („the admis- uns.“145 sion that the so-called cholerine prevailing ··································································· in the city was pure Asiatic cholera“).142 Lattmann musste immer bedrückendere Lattmann verfolgte die Berichterstattung Berichte lesen. Am 1. September titelte die über die Cholera wahrscheinlich mit großer „New York Times“ „A Reign of Terror in Beunruhigung. Nicht nur informierte er Hamburg“. Der dazugehörige Artikel stellte sich über die Gefahr einer Verbreitung der die miserablen Zustände in den völlig über- Seuche in New York und in Hamburg, auch forderten Krankenhäusern in den Mittel- hatte er Angst um seine Frau, die genau zu punkt und berichtete über Hunderte von dieser Zeit aus Deutschland zurück nach Toten, die zum Teil achtlos in den Fluren New York reisen wollte. Am 26. August der Krankenhäuser abgelegt worden sei- schrieb er Fanny einen Brief, in dem er die en.146 Auch die Sorge der „New York Times“ Situation in New York beschrieb: „Hier wer- vor einem Übergreifen der Seuche auf New den Vorsichtsmaßnahmen der aller brutals- York bestätigte sich: Auf den Schiffen, die ten Art geplant und denselben sollen die vor der Stadt in Quarantäne lagen, starben

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Mit einem Blick für Sorgen – Lattmann um 1890

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Leben auf großem Fuß – Einblicke in die New Yorker Wohnung

Passagiere und am 15. September berichtete er“,148 berichtete eine Zeitung aus dem die Zeitung über vier Todesfälle an Land.147 Mittleren Westen Ende September. Als ··································································· „Treasurer of the Fund for the Sufferers from Es ist unklar, wann Fanny wieder New York Cholera in Hamburg“149 sammelte Latt- erreichte, aber bereits im September begann mann Spenden und leitete diese nach Ham- Lattmann sein Engagement für die Opfer burg weiter. Ob sich Lattmann bereits vor- der Cholera in Hamburg: „Influential men her mildtätig engagiert hatte, ist unklar, of foreign birth and extraction have started doch es ist keineswegs ein Zufall, dass seine a relief fund for the sufferers in Hamburg. erste öffentliche Erwähnung von einem ka- A. Lattmann of 148 Pearl street is treasur- ritativen und ehrenamtlichen Engagement

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berichtete. Ob und wie viel Lattmann den So fragmentarisch das Wissen über Latt- Opfern damals selbst spendete, lässt sich manns stifterisches Engagement in seinen ebenfalls nicht mehr rekonstruieren. Dass amerikanischen Jahren ist, so zeigen sich Lattmann aber schon in seiner amerikani- zwei Merkmale, die sich in (besser doku- schen Zeit bereit war, auch stattliche Beträge mentierten) späteren Jahren wieder finden. für die Opfer von Krankheit und Armut zu Lattmann versuchte häufig, Ehrenamt und spenden, zeigte sich fünf Jahre später. Im Spenden zu verbinden. Ein gutes Beispiel Jahr 1898 spendete er der „St. Johns Guild“, dafür bildet seine Tätigkeit bei der Nieder- die Krankenhäuser für Witwen und Waisen ländischen Armencasse nach seiner Rück- unterhielt, 250 US-Dollar.150 kehr in die Heimatstadt. ···································································

·············································································································································· 140 Evans, Tod. 141 New York Times (22. August 1892). 142 New York Times (24. August 1892). 143 August Lattmann an Fanny Lattmann, 26. August 1892: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von August an Fanny 1885‒1930. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 New York Times (1. September 1892). 147 New York Times (15. September 1892). 148 The Sedalia weekly bazoo (27. September 1892). 149 New York Times (7. Oktober 1892). 150 New York Times (10. August 1898). ··············································································································································

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Die Niederländische Armencasse und die Elisabeth Lattmann-Stiftung

Seit 1585 gibt es die Niederländische Ar- werden sollen. Das „Handbuch für Wohltä- men Cassa oder auch Armencasse, die im 19. tigkeit“ von 1909 fasst den „Zweck“ der Stif- und frühen 20. Jahrhundert vor allem Pen- tung knapp zusammen: „Unterstützung sionszahlungen an verarmte Bürger – meist dürftiger hiesiger Staatsangehöriger oder de- Witwen – auszahlte.151 Sie kann als Inbegriff ren hinterlassener Familien, welche vormals hamburgischer Tradition privater Wohltä- im Wohlstande gelebt haben“.154 Im Jahr tigkeit angesehen werden. Traditionell geht 1907/08 etwa wurden 286 Pensionen ver- es etwa bei der Übergabe von einem Jahres- teilt. Trotzdem musste die Armencasse viele verwalter an den nächsten zu. Keiner diente Gesuche abweisen: „[Von] über 100 Bewer- länger als 1 Jahr, unabhängig davon, ob nun bern konnten nur 17 neu aufgenommen gerade der Dreißigjährige Krieg oder die werden.“ Die Unterstützung verarmter Bür- Weltkriege alle sonstigen Zusammenhänge ger, die – so die Wahrnehmung – schuldlos durcheinander wirbelten.152 Die feste For- einen gesellschaftlichen Abstieg hinnehmen mel, mit der Lattmann im Frühjahr 1905 das mussten, empfand Lattmann als eine wich- Amt des Verwalters übergeben wurde, war tige Aufgabe, sonst hätte er kaum der Ar- bis auf die Namen der handelnden Personen mencasse vorgestanden. Aber nicht nur den dieselbe, die er selbst ein Jahr später in das Zielen der Armencasse, sondern auch ihrer schwere „Protocoll“-Buch der Armencasse Institution vertraute Lattmann. Unter ih- schrieb. Auf Seite 125 notierte Franz Schrö- rem Dach errichtete er im Frühjahr 1906, der: „Am 11. April übergab ich die Verwal- also noch während er der Armencasse vor- tung der Niederländischen Armen Casse stand, die Elisabeth Lattmann-Stiftung. meinem geehrten Nachfolger Herrn August Hierfür stiftete er 50.000 Mark zum Anden- Lattmann mit den besten Wünschen für ken an seine bereits viele Jahre verstorbene das Wohlergehen dieser wohlthätigen Stif- Mutter.155 tung.“153 ··································································· ··································································· In den Statuten der Stiftung heißt es: „Die Als Jahresverwalter führte Lattmann die Elisabeth Lattmann-Stiftung wird zum An- Bücher und protokollierte die Vor- und denken an seine Mutter, Frau Elisabeth Latt- Hauptversammlung, auf denen entschieden mann, geb. Amsinck, von ihrem Sohne, wurde, wie mit Geldern, Schenkungen und Herrn August Lattmann, gegründet zwecks Legaten (Erbschaften) zu verfahren sei und Unterstützung hamburgischer Staatsange- welche Bedürftigen mit Pensionen versorgt höriger des Bediensteten-, Arbeiter und Ge-

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August Lattmann zur Zeit seiner Rückkehr nach Hamburg (um 1900)

werbe-Standes jedweder Confession durch ··································································· lebenslängliche Pensionen von M 50,– per Am Beispiel der Elisabeth Lattmann-Stif- Jahr oder mehr. Das Capital beträgt M tung lassen sich verschiedene Mechanismen 50.000,–.“156 privater Wohltätigkeit zeigen. Als erstes

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lohnt ein Blick auf die Funktionsweise. Die vor 1914 war: ihre personalisierte Ausrich- 50.000 Mark, die Lattmann stiftete, hinter- tung. Es ist zudem bezeichnend für Latt- legte er bei der Norddeutschen Bank in manns Verständnis von Wohltätigkeit, dass Hamburg. Diese verzinste das Kapital mit die Konfession ebensowenig eine Rolle spie- 3,5 Prozent, die Rendite betrug somit 1.750 len sollte, wie die (vormalige) Schicht, der Mark per anno. An die Bank floss eine Pro- die Hilfesuchenden angehörten. Die Pensio- vision von 0,5 Promille p.a., somit betrugen nen aus der Elisabeth Lattmann-Stiftung die Verwaltungskosten 25 Mark im Jahr.157 wurden hauptsächlich an Frauen verteilt, Der Ertrag sollte auf 35 Pensionen à 50 Mark wie die Liste der von ihm gewählten Pensi- aufgeteilt werden.158 „Es wurde beschlossen, onsempfängerinnen deutlich macht.161 daß diese Pensionen durch Herrn Lattmann ··································································· verteilt werden mit der ferneren Bestim- Es war eine beachtliche Stiftung, wie allein mung, daß wenn von den Pensionen im die Zahl der Pensionen zeigt, die aus ihr Laufe der Jahre welche frei werden, sie im- möglich wurden. In der Planung fällt jedoch mer an das jeweilige jüngste Mitglied [der auf, dass der gesamte Rohertrag verwendet Armencasse, AFG] zur Verteilung überge- werden sollte, ohne dass die Verwaltung ab- hen.“159 Doch wurde im Statut unter § 7 gesichert oder eine (moderate) Geldentwer- festgehalten: „Der Gründer bittet, daß so- tung berücksichtigt worden wäre. Doch lange er dem Vorstande als Mitglied ange- nicht planerische Mängel, sondern die Hy- hört, den eventuell von ihm vorgeschlagenen perinflation von 1922/1923 bedeuteten das Bewerbern der Vorzug gegeben wird.“160 Ende des Fonds. Im März 1923 entschied die ··································································· Armencasse, die Stiftung aufzulösen und Somit behielt Lattmann eine direkte Kon- Wertpapiere anzuschaffen.162 Das stark ver- trolle über die Verwendung der Mittel, was minderte Kapital ging zwei Jahre später in ebenfalls ein Kennzeichen der Wohltätigkeit den Gesamtstock der Armencasse über.163

·············································································································································· 151 Vgl. Hauschild-Thiessen, Armen-Casse. 152 Liste der Jahresverwalter bei Hauschild-Thiessen, Armen-Casse, S. 274‒358. 153 Protocollbuch, S. 125: StA Hbg., 611-7 Niederländische Armen-Casse, b II 3b. 154 Joachim, Handbuch, S. 274 f. 155 Protocollbuch, S. 129 f.: StA Hbg., 611-7 Niederländische Armen-Casse, b II 3b. 156 Statut der Elisabeth Lattmann-Stiftung: Ebd., 351-8 Aufsicht über Stiftungen, B 844 Niederländische Ar- mencasse 1871‒1982. 157 Protocollbuch, S. 138: Ebd., 611-7 Niederländische Armen-Casse, b II 3b. 158 Ebd., S. 142. 159 Ebd., S. 147. 160 Statut der Elisabeth Lattmann-Stiftung: StA Hbg., 351-8 Aufsicht über Stiftungen, B 844 Niederländische Armencasse 1871‒1982. 161 Protocollbuch, S. 146: Ebd., 611-7 Niederländische Armen-Casse, b II 3b. 162 Ebd., S. 321. 163 Ebd., S. 325. ··············································································································································

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August Lattmann und die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung

Lattmanns Engagement für die Hambur- schehen ist, wie es doch zum Theil in Uni- gische Wissenschaftliche Stiftung umfasst versitätskarrieren ist.“167 Eine milde, aber sowohl eine Zuwendung als auch ein Ehren- doch verwandte Form des zum Bonmot ge- amt, wobei beides zeitlich auseinanderfiel. wordenen Vorurteils der Hamburger Kauf- Alfred Beit hatte im März mit der ungeheu- mannschaft, die nur jene Söhne studieren ren Stiftung von 2.000.000 Mark den lassen wollte, die offensichtlich „für Zucker“ Grundstock gelegt.164 , auf zu dumm seien. dessen Betreiben die Stiftung gegründet ··································································· wurde, gewann zahlreiche weitere Stifter, die Doch zur Universitätsgründung war es insgesamt etwa vier Millionen Mark zusam- noch ein weiter Weg, der mit den deutlich menbrachten.165 August Lattmann gehörte hinter den Erwartungen zurückgebliebenen zu ihnen und das Hauptbuch der Wissen- Mitteln der Hamburgischen Wissenschaft- schaftlichen Stiftung weist zwei Zahlungen lichen Stiftung nicht zu leisten war. Sie un- à 10.000 Mark unter dem 7. Juni und dem terstützte daraufhin einzelne Professuren, 15. Dezember des Jahres 1906 aus.166 Auch zur Ergänzung des Allgemeinen Vorlesungs- dies war eine beachtliche Stiftung, aber wesens und des 1908 gegründeten Kolonial- deutlich geringer als sein im selben Jahr er- instituts. Den Anfang machte eine ge- brachtes Engagement für die mildtätigen schichtswissenschaftliche Professur, die mit Zwecke der Elisabeth Lattmann-Stiftung. dem Bismarck-Experten Erich Marcks be- ··································································· setzt wurde, der immerhin von der Traditi- Zwar war Lattmann ein Universitätsbefür- onsuniversität Heidelberg nach Hamburg worter und damit im Hamburger Bürger- wechselte.168 In der Folge spielte die Stiftung tum in der Minderheit, trotzdem zeichnete vor allem eine wichtige Rolle dabei, die fest- auch ihn, den Kaufmann, eine gewisse Dis- gelegten Hamburger Professorengehälter tanz zur akademischen Welt aus. Die Akti- mit Zulagen auch für renommierte Wissen- vität und Initiative, die ein Fortkommen in schaftler attraktiv zu machen.169 Die Grün- einem Handelshaus erfordere, verglich er et- dung der Universität schließlich wurde erst was abschätzig mit akademischen Karriere- durch die demokratisch gewählte Bürger- wegen: „Frauen [hier ist die Schwester Eli- schaft im Mai 1919 möglich. Ihr überra- sabeth gemeint, AFG] begreifen nicht, dass schend erfolgreicher Aufstieg in den Weima- es im Kaufmannsleben nicht einfach mit rer Jahren ging sicherlich auch auf die Arbeit dem Absitzen einiger Jahre im Komptoir ge- der Stiftung zurück.170

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··································································· walt in Hamburg, nahm als Großdeutscher An dem offiziellen Gründungsakt der 1848 an der Paulskirchenversammlung teil Hamburgischen Universität am 10. Mai und amtierte als Reichsjustizminister, später 1919 konnte Lattmann nicht teilnehmen, da als Außenminister.174 er sich von einer Operation erholte.171 Doch ··································································· die Wertschätzung, die er nicht nur für die Wenige Wochen nachdem Lattmann in Universitätsgründung, sondern auch für das Kuratorium gewählt worden war, verän- den „Inaugurator Universitatis Hambur- derte Heckscher vorübergehend die Aus- gensis“, Werner von Melle, empfand, lässt richtung des Fonds. Er schrieb an die Ham- sich aus den Zeilen lesen, die Lattmann die- burgische Wissenschaftliche Stiftung: „Mit sem am 13. Mai 1919 zueignete: „Ich wäre so Rücksicht auf die wirthschaftliche Not in gern zur Eröffnung der Universität gekom- Deutschland, von der ich mich zu über- men und hätte Ihnen ein paar Worte des zeugen Gelegenheit hatte, sehe ich mich Glückwunsches geschrieben, aber leider war veranlasst, dieser meiner Zuwendung eine ich damals noch nicht im Stande dazu. So Auflage beizufügen. – Solange diese Not will ich es denn heute nachholen und Ihnen fortbesteht, sollen bis zu einer Hälfte die recht von Herzen Glück wünschen. Ihre Jahreserträge zu wohltätigen Zwecken ver- Gründung ist die Krönung Ihres Lebens- wandt werden. – Bei der Entscheidung da- werkes, wie denn überhaupt Ihr Name in rüber, ob die genannte Voraussetzung für der hamburger [!] Geschichte unvergeßlich die Verwendung eines Teiles der Mittel zu bleiben wird.“172 wohltätigen Zwecken fortbesteht und in- ··································································· wieweit solchenfalls innerhalb der von mir Erst fünfzehn Jahre nachdem die Ham- angegebenen Grenzen eine Verwendung zu burgische Wissenschaftliche Stiftung ge- wohltätigen Zwecken erfolgen soll, ist gründet und drei Jahre nachdem ihr obers- Herrn Georg Grillo, in Düsseldorf, der tes Anliegen, die Gründung einer Universi- mich bisher in der Ausführung meiner tät in Hamburg, umgesetzt worden war, trat Wohlfahrtsbestrebungen in dankenswerter Lattmann in das Kuratorium der Stiftung Weise stets selbstlos unterstützt hat, sowie ein.173 Es ist unwahrscheinlich, dass er be- Herrn Senator Lattmann in Hamburg Ge- reits 1906 von einer späteren Mitarbeit aus- legenheit zur Aeusserung zu geben. – Das gegangen ist. Als er am 9. Juni 1922 in das gleiche gilt für die Entscheidung über die Kuratorium gewählt wurde, war sein Entree Art, in der die Verwendung zu wohltätigen vielmehr mit einem persönlichen Auftrag Zwecken erfolgen soll. – Den Vorschlägen verbunden, nämlich bei der Ausschüttung der Genannten, die mit meinen Wünschen des „Dr. Moritz Heckscher-Fonds“ mitzu- vertraut sind, ist nach Möglichkeit Folge zu wirken. Der Initiator des Fonds war, wie zu- geben. – Nach einem etwaigen Ableben von vor Lattmann bei der Elisabeth Lattmann- Herrn Senator Lattmann soll an dessen Stiftung, der Sohn der zu ehrenden Person. Stelle seine Gattin treten.“175 Der in New York ansässige Großkaufmann ··································································· August Heckscher (1848–1941) wollte mit Heckscher hatte also seine Stiftung für dem Fonds an seinen Vater Moritz Heck- die Dauer der Krise in Deutschland zur scher (1797–1865) erinnern. Dieser war An- Hälfte praktisch umgewidmet: Weg von der

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Lattmann und sein Zeichen – zwischen Identität und Kontingenz

Wissenschaftsförderung, hin zur Wohltätig- wie bei der Elisabeth Lattmann-Stiftung keit. Für letztere kannte Heckscher aus des- wurde auch der Großteil des Heckscher sen New Yorker Tagen einen ausgemachten Fonds durch die Inflation vernichtet, doch Experten: August Lattmann.176 Ebenfalls existiert er bis heute und bildet einen Teil

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des Kapitals der Hamburgischen Wissen- Eintritts in dieses Gremium war kein Zufall. schaftlichen Stiftung. Obwohl somit Latt- Auch wenn Lattmann mit der Gründung manns Hauptaufgabe nach kurzer Zeit ob- der Sozialen Frauenschule bewiesen hatte, solet war, blieb er im Kuratorium der dass ihm auch Bildung am Herzen lag,177 Stiftung, in dem er im Februar 1932 einstim- richteten sich seine Stiftungen und sein En- mig wiedergewählt wurde. Die Verantwor- gagement in erster Linie auf die Wohlfahrt tung für den Heckscher-Fonds als Anlass des und Armenfürsorge.

·············································································································································· 164 Vgl. Albrecht, Beit, S. 113‒122. 165 Vgl. von Melle, Wissenschaft, S. 361‒448; Gerhardt, Begründer; Ahrens, Kaufmannschaft. 166 Hauptbuch der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, S. 1: Archiv HWS. 167 August Lattmann an Erdwin Büsch, 9. Januar 1908: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von August Latt- mann an Elisabeth Büsch und Erdwin Büsch. 168 Vgl. Krause, Personen, S. 248 f.; sowie (auch mit Literatur zu Marcks) Berghahn, Geschichtswissenschaft, S. 15‒18. 169 Vgl. Ahrens, Kaufmannschaft, S. 227 f. 170 Vgl. auch für weitere Literatur zur Universitätsgründung: Nicolaysen, Wandlungsprozesse; online: http:// www.uni-hamburg.de/wandlungsprozesse/index.html. 171 August Lattmann an Werner von Melle, 13. Mai 1919: SUB Hamburg, Handschriftenlesesaal, NvM: HS: Lattmann, August. 172 Ebd. 173 Sitzungsprotokolle des Kuratoriums der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, 9. Juni 1922: Archiv HWS. 174 Vgl. Klötzer, Heckscher; online: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116562919.html. 175 Heckscher an Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung, 5. Juli 1922: Archiv HWS: Akte der HWS betref- fend Dr. Moritz-Heckscher-Fonds. 176 Aufschluss über die „friendship of so many years standing“ bei: August Heckscher an Fanny Lattmann, 5.Ok- tober 1925: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe an August und Fanny 1874‒1935. 177 Vgl. hier S. 86 f. ··············································································································································

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Wohlüberlegte Wohltaten – warum spendete Lattmann?

Warum spendete und stiftete Lattmann? nicht weiß, von wem er empfängt. Die Zur Stiftungskultur vor dem Ersten Welt- fünfte ist die, daß jemand gibt, bevor er da- krieg bemerkt der Historiker Stephen Piel- rum gebeten wird.“180 hoff: „Der reiche Hamburger Kaufmann ··································································· […] erwartete für seine materielle Unter- Abgesehen von der bemerkenswerten Tat- stützung Dankbarkeit und ein seinen mora- sache, dass Lattmann, der als Leiter der lischen Wertvorstellungen konformes Ver- Hamburger Kriegshilfe im Winter 1916/17 halten des Empfängers (oder Vorteile für aus- und überlastet war, die Zeit fand, mit- sein eigenes christliches Seelenheil).“178 So telalterliche Philosophen zu rezipieren, zeigt können mit Pielhoff wichtige Motive be- gerade die Auswahl dieser drei von den ei- nannt werden: Zum einen wird die gesell- gentlich acht Stufen der Wohltätigkeit von schaftliche Rückversicherung durch das Maimonides seine persönliche Auffassung Aufrechterhalten moralischer Standards bei guter Wohltätigkeit: Lattmann wollte wis- Lattmanns Engagement eine Rolle gespielt sen und kontrollieren, wem er gab. Das haben. Zum anderen entstanden durch widerspricht etwa der zweiten und vier- Lattmanns Wohltätigkeit auch personale ten Stufe.181 Während der Philosoph die Dank-Verpflichtungen. Ebenfalls wird er (unkonditionierte) Gabe eines anonymen sich tatsächlich „Vorteile für sein eigenes Spenders an einen anonymen Empfänger christliches Seelenheil“ versprochen haben, moralisch höher bewertete, verband Latt- obwohl er wahrscheinlich eher von einem mann sein Geben mit Kontrolle: Er wählte Gebot der Nächstenliebe als von einem Pro- beispielsweise die Pensionärinnen der Elisa- fit gesprochen hätte. Lattmann äußerte sich beth Lattmann-Stiftung aus; sehr viel selte- jedoch auch selbst zu grundsätzlichen Ge- ner spendete er an Institutionen, wo er die danken der Mildtätigkeit. Im Winter 1916/17 weitere Verwendung nicht beeinflussen nennt er in seinem Tagebuch Prinzipien der konnte, bzw. sie entindividualisiert erfolgte. Wohltätigkeit, die er vom mittelalterlichen Ein Beispiel hierfür wären seine Mitglieds- jüdischen Philosophen Moses Maimonides beiträge im Asyl-Verein für Obdachlose so- übernahm:179 „Die höchste Stufe der Wohl- wie eine Schenkung von 300 Mark im Jahr tätigkeit ist die, daß jemand in solcher Weise 1912, als er wahrscheinlich aufgrund seiner unterstützt wird, daß er sich selbstständig Wahl zum Senator seine dortige Vorstands- ernähren kann. Die dritte ist die, wenn der tätigkeit einstellte.182 Wohltäter weiß, wem er gibt, aber der Arme ···································································

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In Bewegung: Lattmann in den 1890er Jahren

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Wie Lattmann das höchste Maimonidische Bitte zu geben – umzusetzen, ist am Gebot (Hilfe zur Selbsthilfe) umzusetzen schwersten zu belegen. Während davon aus- versuchte, zeigt sich weniger im Stiften und zugehen ist, dass Werner von Melle – in Sa- Spenden als in seinem gesellschaftlich-poli- chen Universität ein „absoluter Mono- tischem Engagement, wie etwa bei der mane“185 –, zwar diskret, aber beharrlich für Gründung der Sozialen Frauenschule. Ein Spenden warb, so gibt es keinen Hinweis da- interessanter Beleg dieser „Wohltätigkeit“ rauf, dass aus dem Kreis der Armencasse findet sich aber auch in seinen über Wochen Lattmann zu seiner Stiftung ermutigt wur- geschalteten Zeitungsinseraten, mit denen de. Als Beleg der aktiven Wohlfahrt ließe er 1899 in New York seinen Kutscher vermit- sich vielleicht auch Lattmanns Engagement teln wollte, damit dieser nicht in die Ar- für die (wirtschaftlichen) Opfer der Chole- beitslosigkeit geriet. „Want position for my raepidemie nennen. coachman“ inserierte Lattmann mindestens ··································································· zwölf Mal in der „New York Tribune“.183 Vor dem Hintergrund der Erklärungen Nachdem sich offenbar an die Geschäfts- von Pielhoff und Lattmanns Auswahl von adresse von Lattmann keiner gewandt hatte, Maimonides zeigt sich ein sehr modernes nannte er seine Privatadresse, wahrschein- Verständnis der Wohltätigkeit, wie es etwa lich um nicht nur in Lower Manhattan, son- auch Jan Philipp Reemtsma im Jahr 2012 be- dern auch im Umfeld des Central Parks schreibt und die „legitime Willkür“ des nach einer neuen Position für seinen Kut- Spendens und Stiftens betont: „Wer Geld scher Ausschau zu halten. Für die vorlie- spendet, der gibt es eben weg, aber sucht gende Biographie stellen diese Inserate mehr sich aus, wo es landet. Die Geste des Weg- als eine bloße Episode dar, denn Lattmann gebens ist so besehen auch eine Geste der investierte hier ohne Zwang Zeit und Geld, Willkür. Beim Spenden – der Spender sucht um einem entlassenen Angestellten zu hel- aus, wohin er gibt, und niemand sonst – fen. Ob ihm die Vermittlung glückte, ist lei- mehr noch beim Stiften: Der Stifter grün- der nicht rekonstruierbar.184 det eine Einrichtung, die einem bestimmten ··································································· Zweck, den er selbst – und niemand sonst – Inwiefern Lattmann versuchte, die dritte vorgibt, und diesen über längere Zeit mit von ihm zitierte (und Maimonides’ fünfte) Geld verfolgt.“186 Stufe der Wohltätigkeit – schon vor einer

·············································································································································· 178 Pielhoff, Paternalismus, S. 6 f. 179 Vgl. http://www.jewishencyclopedia.com/articles/11124-moses-ben-maimon 180 Tagebucheintrag [Winter 1916⁄1917]: Nachlass Lattmann, Tagebuch. 181 Vgl. http://www.dannysiegel.com/maimonides_8_degrees.pdf 182 Vgl. Asyl, Jahresbericht für das Jahr 1912. 183 Vgl. z.B. New-York Tribune (14. April 1899); New-York Tribune (2. Mai 1899). 184 Vgl. hier S. 102. 185 Warburg, Aufzeichnungen, S. 68. 186 Reemtsma, Willkür, S. 81. ··············································································································································

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Auf dem Weg in den Senat – Lattmann als politischer Mensch

Es war Lattmanns private Wohltätigkeit, Ich bin froh, dass ich standhaft geblieben die ihn für ein Wahlamt qualifizierte. Zu sei- bin, denn nun scheint es, müssen die Statu- ner Amtszeit als Verwalter der Niederländi- ten geändert werden, dass Jemand die Arbeit schen Armencasse gehörten dieser verschie- wirklich zu thun im Stande ist. Da habe ich dene einflussreiche Personen des öffentli- mit meinem Refus der Sache nur ein Gutes chen Lebens an, etwa Max (später: von) gethan. Die Finanz Deputation Sache [!] Schinckel, Präses der Handelskammer 1907 sieht nach O’Swald für dieses Mal ungefähr- bis 1910. So ist es ist sicherlich kein Zufall, lich aus, denn es scheint Sachse kommt dass Lattmann, nachdem er sich in der Ar- dran. Nächstes Jahr tritt aber dann die Frage mencasse großzügig hervorgetan hatte, für wieder an mich heran und dann müssen wir öffentliche Ämter ins Gespräch kam. Bald unsere schöne Freiheit aufgeben für zehn hatte der Senat ihn für eine wohltätige Auf- Jahre und umsonst pour la cite d’Hambourg gabe ins Auge gefasst. Der Senatsvorschlag arbeiten, denn mit dem Reisen etc ist es an die Bürgerschaft, Lattmann in das Wai- dann aus, da man höchstens 6 Wochen im senhauskollegium zu wählen, wurde von der Jahr bekommt auf aerztliches Certificat.“189 Bürgerschaft mit großer Mehrheit gebilligt: ··································································· Am 20. Januar 1909 stimmten 117 von 124 Auch war er bereits 1909 im Gespräch für anwesenden Abgeordneten für Lattmann als ein Senatorenamt. Lattmann schrieb seiner von der Bürgerschaft erwähltes Mitglied für Frau skeptisch: „Ich gewöhne mich an den das Waisenhauskollegium.187 Damit begann Gedanken und vielleicht bin ich mit sech- für ihn eine Hamburger Tradition wirksam zig Jahren dann auf dem geistigen Niveau zu werden, die die Annahme von Wahläm- von Hamburg angelangt. Adolf läuft schon tern in Deputationen, Senat oder Bürger- wütend umher und sagt: ,Du wirst natürlich schaft als moralisches, aber auch tatsächli- Senator‘. Damit würden sich dann die Thü- ches Gesetz unter Androhung des Verlustes ren des Gefängnisses für mich ganz oeffnen der Bürgerrechte gebot.188 Dass Lattmann und statt als freier Mann in die Welt zu zie- diese Bürgerpflicht zumindest zunächst hen, müsste ich bis an mein Lebensende auch als Last verstand – und nicht nur als Ketten tragen.“190 Ehre suchte – zeigt sein interner „Refus“ ··································································· eines Amtes. Seiner Frau schrieb er im Juni Aus diesen Zeilen liest sich zunächst einmal 1909: „Diesen Morgen war ich dann bei der Humor, mit dem er seine Situation Ferdinand Schlüter und Senator v. Gossler. schilderte. Fanny gegenüber brauchte er

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seine Vorbehalte nicht zu verhehlen. Zu- ser gestellten Schichten (Notabeln, Grund- gleich erschien ihm die Hamburger Regie- eigentümer und Einkommensstarke) ge- rung und Verwaltung offenbar provinziell: wählt, die verbliebenen Abgeordneten wur- Das Erreichen des „Hamburger Niveaus“ den von einer zweiten einkommensab- liest sich zumindest nicht als Wertschät- hängigen Gruppe gewählt, Männer, die zung. Die Ketten, die ein Senatorenamt ihm mindestens 1.500 Mark, aber weniger als auf Lebenszeit anlegen würde, spielen neben 2.500 Mark Einkommen versteuerten.193 So dem offenbaren Verlust an Freiheiten viel- waren die einzelnen Stimmen ungleich: In leicht auch auf die klassische Repräsentation der Wahl von 1910 etwa bedurfte es über von Macht an: Dem Gedanken an ein Sena- 130.000 Stimmen der Gruppe II, um 8 torenornat liegt auch der Gedanke an Amts- SPD-Abgeordnete zu wählen – die Stimme ketten nicht fern. eines Notabeln zählte fast sechzig Mal so- ··································································· viel.194 Doch war wohl nicht nur Widerwille bei ··································································· Lattmann. Ein Verweis auf mangelnde Ge- Gegen den „Wahlrechtsraub“ protestierte sundheit wäre ein hinreichender Grund, die die SPD und initiierte den zwar nur wenige Bürgerpflicht nicht ausfüllen zu können. Im Stunden andauernden, aber doch ersten Gegenteil: Lattmann übernahm weiter Ver- politischen Generalstreik der deutschen Ge- antwortung für das Gemeinwesen. So zeigt schichte, der in Demonstrationen und Kra- das Hamburgische Staatshandbuch an, dass wallen (vom sogenannten „Janhagel“) en- Lattmann 1910 die Waisenpflege in zwei dete.195 Doch auch im Bürgertum war die Hamburger Kreisen übernommen hatte, Wahlrechtsnovelle von 1906 nicht unum- nämlich in Hohenfelde und Borgfelde stritten: Sechs Senatoren, darunter die Bür- (Kreis X) sowie in Hamm und Horn (Kreis germeister Johann Georg Mönckeberg und XI).191 Neben diesen öffentlichen Aufgaben Heinrich Burchard, stimmten gegen die engagierte sich Lattmann in verschiedenen Vorlage.196 Innerhalb der Bürgerschaft grün- Vereinen und Gesellschaften zur Armutsbe- dete sich daraufhin die opponierende Frak- kämpfung, etwa im Asylverein, dessen Vor- tion der Vereinigten Liberalen, der immer- stand er bis zur Übernahme seines Senato- hin 23 Abgeordnete angehörten.197 Bei den renamtes angehörte.192 Notabelnwahlen von 1909 unterstützte ··································································· Lattmann diese neue Partei, was ihn öffent- Lattmann trat im Jahre 1909 erstmals ge- lich in ihre Nähe rückte.198 Max M. War- nuin politisch hervor, als er den Wahlaufsatz burg beschrieb es so: „Er wurde Mitglied der der Vereinigten Liberalen unterstützte. Drei Partei der Vereinigten Liberalen, die seine Jahre zuvor hatten Senat und Bürgerschaft Freunde Dr. Carl Petersen und Dr. Braband versucht, den Einfluss der Sozialdemokraten gründeten, weil er das plutokratische Wahl- zurückzudrängen, und hatten das ohnehin recht, das vorgeschlagen war, ablehnte; ihm ungleiche Hamburger Wahlrecht zu Un- war es gleich, daß viele gesellschaftliche gunsten der wenig besitzenden Schichten Kreise in denen er verkehrte, diesen Schritt verschärft. Nach diesem „Wahlrechtsraub“ als nicht vornehm mißbilligten, er ignorier- wurden von den 160 Abgeordneten der Bür- te diese Kritik, er ging seinen Weg mit nicht gerschaft 128, also über drei Viertel, von bes- zu erschütternder Festigkeit. Seinem Ge-

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rechtigkeitsgefühl und seiner Bescheiden- excellence, wenn auch im privaten Rahmen. heit entsprang auch seine Toleranz.“199 Ob Zunächst einmal ist die Nähe zu dem oppo- von einem „Parteieintritt“ im heutigen nierenden Johann Hinrich Garrels hervor- Sinne gesprochen werden kann, sei dahin- zuheben. Er gilt allgemein als der erste „par- gestellt, doch war die inhaltliche Nähe zu teiliche“ Senator in Hamburg, 1917 gewählt. der neuen Fraktion allgemein bekannt. Garrels war seit 1904 Mitglied der Bürger- Diese Nähe war zudem nicht nur politisch, schaft, wo er der Fraktion der Rechten an- sondern auch räumlich eine Tatsache, wie gehört hatte, aus der er mit der Gründung ein privater Brief aus dem März des Jahres der „Vereinigten Liberalen“ ausschied. Dass 1909 zeigt. Seinem Neffen Erdwin Büsch Opposition zum Wohl eines Landes not- schrieb er: „Ich bin mit meinem Comptoir wendig ist („Patriot“), ist Grundprinzip von nunmehr in die erste Etage der Klosterburg parlamentarischen Demokratien. Die Ab- gezogen und sitze direkt unter J. H. Garrels. sage an Diskriminierung gegenüber vom Dieser ist jetzt Vorsitzender der vereinigten „Metermaas“ abweichenden Personen zeigt Liberalen in der Bürgerschaft geworden, ein pluralistisches Gesellschaftsverständnis also schlimmste Opposition und nach An- und redet einem partnerschaftlichen Ne- sicht der alten Tanten halber Sozialdemo- beneinander unterschiedlicher Religionen krat. Wenn Hamburg nur mehr solche fa- und politischer Ansichten das Wort. Latt- mose Menschen hätte, wäre manches anders manns Gegnerschaft zu dem Verbot der po- und besser. Leider sind wir politisch noch litischen Betätigung von (Reserve-)Militärs weit zurück und wir können von England ist ebenfalls fortschrittlich und seiner Zeit lernen, dass man Opposition machen kann weit voraus. Das Motiv eines „Staatsbürgers und doch ein Patriot und anständiger in Uniform“ war noch in der Weimarer Mensch sein kann. Hier wird an Politik und Republik unbekannt und wurde erst bei Religion das Metermaas [!] angelegt; und der Gründung der Bundeswehr entwickelt. wenn man nicht die nötige Länge nachwei- Lattmann ging in seinem innerfamiliären sen kann, ist man eben abgethan für Kaiser Schreiben sogar so weit, dass die Jugend es und Reich. Traurig waren die Reden des eher vorziehen sollte, kritisch ihre politische Kriegsministers im Reichstag, nach denen Gesinnung zu zeigen, als sich als Reserve- ein Reserve Offizier nur solange ein Offizier offizier bevormunden zu lassen. Diese mili- bleiben darf, solange er keine eigene Mei- tärkritische Aussage verdient auch vor dem nung hat. Das wird hoffentlich manchen Hintergrund Beachtung, dass viele Lands- davon abhalten, es zu werden, und mir leute zur gleichen Zeit als Flottenbegeisterte scheint, dass bei dem jetzigen System nur nationalistischen Vereinen und Verbänden politische Hypocriten gezogen werden, angehörten und ihre Kinder in Matrosen- denn ich habe doch eine zu gute Meinung uniformen steckten. von unserer Jugend, als dass ich sie für ganz ··································································· gedankenlos hielte.“200 Zugleich zeigt der Brief auch Grenzen ··································································· auf, denn die ironische Beschreibung, Gar- Diese Zeilen von Lattmanns Hand verdie- rels werde für einen „halbe[n] Sozialdemo- nen eine eingehende Würdigung, denn sie krat[en]“ gehalten, zeigt auch die Distanz, bilden ein demokratisches Bekenntnis par die nicht nur die „alten Tanten“ zur SPD

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hatten: Auch Garrels und Lattmann waren Max M. Warburg Lattmann als Senator vor: keine Sozialdemokraten, sondern liberale „Ich war sehr stolz, als ich damals im Ver- Vertreter des Hamburger Kaufmannstan- trauensausschuss der Bürgerschaft ihn als des. Senator vorschlagen und durchsetzen konn- ··································································· te“.203 Erst in diesem zweiten Aufsatz wur- Ohne der Bürgerschaft angehört zu haben, den August Lattmann und Carl Ludwig wurde August Lattmann am Montag, den Nottebohm zur Wahl gestellt, und ersterer 8. Juli 1912 von ihr „erwählt“,201 wenige Tage wurde gewählt. Er wurde kaufmännischer später wurde er verfassungsgemäß als Sena- Senator, denn gemäß der Verfassung muss- tor auf Lebenszeit vereidigt. Er war schon ten von den 18 Senatoren „wenigstens sieben mehrere Jahre im Gespräch für ein Senato- dem Kaufmannstande angehören“204 bzw. renamt, wie nicht nur Lattmanns private entstammen.205 Korrespondenz, sondern auch die folgende ··································································· Berichterstattung zeigte.202 Seine Wahl war Der gesamte Wahlprozess war strukturell jedoch nicht unumstritten, das zeigt bereits konservativ. Zunächst einmal führte die Er- das knappe Wahlergebnis von 73 der 137 nennung der Senatoren auf Lebenszeit und Stimmen, das im Lichte der oben beschrie- ihr Vetorecht zu einer faktischen Koopta- benen Mehrheitsverhältnisse in der Bürger- tion. Diese Voreingenommenheit gegen Ex- schaft gesehen werden muss. Senatoren perimente wurde noch verstärkt durch die wurden von der Bürgerschaft „erwählt“, überproportionale Vertretung ähnlicher so- doch zuvor mussten sich Bürgerschaft und zioökonomischer Schichten in der Bürger- Senat auf einen „Wahlaufsatz“ einigen, der schaft. So kann die Wahl des öffentlich den von einem Gremium von acht Vertrauens- Liberalen nahestehenden Lattmann als das leuten formuliert wurde. Diese acht Ver- äußerste Maß an möglichem „Fortschritt“ trauensleute stammten je zur Hälfte aus gesehen werden. Während 1917 mit dem Senat und Bürgerschaft, womit beiden Gre- von Lattmann geschätzten Johann Hinrich mien ein faktisches Vetorecht zukam. Wur- Garrels der erste „parteiliche“ Senator er- de nach diesem ersten Wahlaufsatz kein wählt wurde, gab es sozialdemokratische Se- Kandidat gewählt, wurde ein zweiter durch natoren erst nach den ersten gleichen Wah- ein 16-köpfiges Gremium formuliert, das len vom 26. März 1919. ebenfalls paritätisch besetzt war. Hier schlug

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·············································································································································· 187 Protokolle und Ausschußberichte der Bürgerschaft im Jahre 1909, 3. Sitzung, Mittwoch, 20. Januar 1909, S. 17‒26. 188 Vgl. Verfassung; Art. 9, Art. 34, Art. 83. 189 August Lattmann an Fanny Lattmann, 2. Juni 1909: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von August an Fanny 1885‒1930. 190 Ebd. 191 Hamburgisches Staatshandbuch für das Jahr 1910. 192 Vgl. Asyl, Jahresberichte für das Jahr 1908 f. 193 Vgl. Erdmann, „Wahlrechtsraub“. 194 Eckardt, Herrschaft, S. 40‒57; online: http://www.hamburg.de/contentblob/71882/data/hans-wilhelm-eck- ardt-von-der-privilegierten-herrschaft-zur-parlamentarischen-demokratie-die-auseinandersetzungen-um-das-all- gemeine-und-gleiche-wahlrecht-in-hamburg-lzpb-hamburg-2002.pdf. 195 Vgl. Evans, Mittwoch. 196 Vgl. Erdmann, „Wahlrechtsraub“, S. 39. 197 Büttner, Vereinigte Liberale. 198 Vgl. Neue Hamburger Zeitung Nr. 316 (9. Juli 1912) oder Hamburger Echo Nr. 157 (9. Juli 1912). 199 Warburg, Gedächtnis, S. 12. 200 August Lattmann an Erdwin Büsch, 30. März 1909: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von August Latt- mann an Elisabeth Büsch und Erdwin Büsch. 201 Protokolle und Ausschußberichte der Bürgerschaft im Jahre 1912, 31. Sitzung, Montag, 8. Juli 1912, S. 217‒ 227. 202 Vgl. hier S. 78–80; sowie Hamburger Nachrichten Nr. 326 (14. Juli 1912). 203 Max M. Warburg an Fanny Lattmann, 19. Januar 1936: Nachlass Lattmann, Konvolut Kondolenzschrei- ben. 204 Verfassung; Art. 7. 205 Siehe auch das Schaubild bei Erdmann, „Wahlrechtsraub“, S. 40. ··············································································································································

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Primus inter impares? – Der erste politisierte Senator

Das „Etikett“ des ersten demokratischen lität gewann: Durch seine Unterstützung Senators soll hier nicht leichtfertig vergeben des Wahlaufrufes der Vereinigten Liberalen werden. Eine echte bürgerliche Opposition hatte sich Lattmann parteilich gegen eine gab es in Hamburg erst seit der Gründung Mehrheit in Senat und Bürgerschaft positio- der Fraktion der Vereinigten Liberalen. Bis niert und somit öffentlich Opposition be- 1904 waren in der Bürgerschaft drei Fraktio- trieben. nen vertreten, die Fraktion der Rechten, die ··································································· Fraktion des „Linken Zentrums“ und die Wer wählte diesen neuen, liberal gesinnten Fraktion der Linken. Doch täuschen die Senator? Der „Generalanzeiger“ sah sich Namen, die sich vielmehr auf die Sitzord- selbst in der Lage, eine genaue Aufschlüss- nung im Parlament als auf die politischen lung vorlegen zu können. Demnach wähl- Positionen bezogen.206 1901 errang Otto ten Lattmann 29 Angehörige der alten Frak- Stolten einen ersten Sitz für die SPD, 1904 tionen, die 30 vollzählig anwesenden Libe- konnte die Partei eine Fraktion gründen.207 ralen und 14 Sozialdemokraten. Die 30 Der Fraktion der SPD folgte 1906 mit den Stimmen der Liberalen scheinen relativ Vereinigten Liberalen eine zweite „parteili- wahrscheinlich. Die Sozialdemokraten dürf- che“ Fraktion. In diese Jahre fällt also der ten teilweise zähneknirschend für ihn ge- Beginn parteilicher Politik im Hamburger stimmt haben, denn Lattmann war nicht Parlament und die theoretische Möglich- nur dem Selbstverständnis nach kein Sozi- keit, Senatoren Parteien zuzuordnen. Das aldemokrat, sondern auch aus Sicht der heißt jedoch nicht, dass es nicht schon vor SPD weit von ihr entfernt, zudem hatte er 1904 oder 1906 eher konservative oder eher nie der Bürgerschaft angehört. Dass die Ab- progressive Senatoren gegeben haben konn- geordneten der SPD Lattmann ihre Stimme te. Parteilose Senatoren bzw. jene, die aus gaben, zeigt aber besonders eindrücklich, den nun „alten“ Fraktionen stammten, dass er von ihnen als progressiv eingeschätzt konnten ja ebenfalls hier und da vom wurde. Von den alten Fraktionen stimmte Grundkonsens des Senates abweichen, wie nur eine kleine Minderheit für den bürger- schon am Beispiel des „Wahlrechtsraubes“ lichen Kaufmann, der strukturell, habituell offenbar wurde. Doch wurde Lattmann zu und als Nachfahre „alter“ Familien ihnen einer Zeit Senator, in der die „parteiliche“ durchaus nahe stand. Die Vorbehalte waren Politik in Hamburg gerade begonnen hatte klar: Sie bestanden in Lattmanns liberalen und die Auseinandersetzung eine neue Qua- Ansichten, vor allem beim Wahlrecht. Die

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Wahl stellte ein Novum dar, da erstmalig ein über die Diskrepanz der unterschiedlichen Senator nur aufgrund der Stimmen der SPD Interessen von Senat und Vereinigten Libe- eine Mehrheit erzielen konnte. Die Wahl ralen und fürchteten, die Liberalen – und des Liberalen Lattmann, die als eine Ge- das „Fremdenblatt“ – würden nun die Wahl meinschaftsaktion der Vereinigten Liberalen politisch „ausschlachten“. Der Senatsnähe und der SPD bezeichnet werden kann, be- der „Hamburger Nachrichten“ entspre- schreibt somit auch eine Vorausnahme der chend erfolgte zwar eine positive Würdi- Weimarer Koalition von Sozialdemokratie gung des neuen Senators, doch auch hier und liberalem Bürgertum. konnte die Zeitung ihren Ärger nicht gänz- ··································································· lich unterdrücken: „Aber alle diese Erwä- Die Presse kommentierte diese Wahl ent- gungen hindern natürlich nicht, die persön- sprechend unterschiedlich; die konservati- lichen Qualitäten des Herrn Lattmann ven „Hamburger Nachrichten“ etwa sahen unumwunden anzuerkennen und ihm eine die Wahlstimmen ähnlich verteilt, also segensreiche Amtszeit zu wünschen – zumal hauptsächlich von Liberalen und SPD stam- da sich vom Ratsgehege aus gar manches mend. Die Lektüre der Zeitung zeigt aber Bild wesentlich anders ansieht, als aus der auch die Ambivalenz innerhalb der alten Beschaulichkeit des Privathauses.“210 Fraktionen: Für Lattmann stimmten nur ei- ··································································· nige „Herren aus der Rechten, die ihre Wie von den „Nachrichten“ moniert, freu- Gründe gehabt haben, mit dem Senat zu ge- ten sich liberale Blätter über die Wahl. Die hen, dessen Kandidat ja Herr Lattmann „Bergedorfer Zeitung“ etwa schrieb: „Die schon lange war.“208 Insgesamt waren die Wahl hat insofern eine gewisse politische „Nachrichten“ ungehalten: „Es läßt sich ja Bedeutung, als man einen fortschrittlichen auch an der Tatsache nichts vertuschen, daß Senator bis jetzt in der Republik Hamburg der Senat hier mit aller Macht einen Kandi- nicht gekannt hat.“211 Das „Fremdenblatt“ daten durchgezwungen hat, der in der Exis- hingegen „schlachtete“ die Wahl eher ver- tenzfrage der Bürgerschaft mit der Mehrheit halten aus. Zwar gelte Lattmann „als ein dieser Körperschaft, und zwar mit den Trä- ernster, sorgfältig überlegender Mann von gern ihrer Tradition, nicht übereinstimmt – durchaus liberaler Gesinnung“, und die daher die 55 weißen Zettel aus den alten Wahl sei insgesamt „fortschrittlich“, doch Fraktionen.“209 mache sie noch keinen Sommer.212 ··································································· ··································································· Die „Existenzfrage der Bürgerschaft“ war Die Sozialdemokraten wählten einen wohl- die Anlage ihrer Wahl. Die zahlreichen Ent- habenden Kaufmann aus der besitzenden haltungen der alten Fraktionen zeigten, dass und „herrschenden“ Klasse. Sie taten dies sie Lattmann seine Opposition zum „Wahl- vor allem wegen Lattmanns Haltung zum rechtsraub“ übel nahmen. Trotzdem han- Wahlrecht. Das Parteiorgan, das „Hambur- delten einige aus den konservativen Fraktio- ger Echo“ kritisierte, Lattmann habe nie der nen „staatstragend“ nach dem Wunsch des Bürgerschaft angehört, sei also nicht vom Senats, denn ohne ihre Zustimmung hätte Volke gewählt worden. „Politisch ist der Lattmann nicht gewählt werden können. neue Senator bisher nur hervorgetreten, in- Die „Nachrichten“ ärgerten sich zudem dem er seiner Gegnerschaft gegen das Klas-

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senwahlrecht dadurch Ausdruck gab, daß er Einstellung und beschrieb den Senat als ge- bei der letzten Bürgerschaftswahl ausdrück- schlossen konservativ: „Dem politischen lich den Wahlaufruf und die Vorschlagsliste Standpunkt seiner Mitglieder nach war der der Vereinigten Liberalen für die Notablen- Senat bis gegen Ende des Krieges eine wahlen unterzeichnete. Wie er sich im durchaus homogene Körperschaft.“215 Denn: neuen Amt verhalten wird, muß abgewartet „Die Senatoren kamen, soweit sie der Bür- werden.“213 gerschaft angehört hatten – und das war die ··································································· Mehrzahl – durchweg aus der Fraktion der Die Betrachtung des knappen Wahlergeb- Rechten. Auch die ,Nicht-Bürgerschaftler‘ nisses, der Herkunft der Stimmen und der im Senate standen in der Regel dieser Frak- Presseberichterstattung zeigt: Die Wahl tion am nächsten. […] Erst mit der Wahl Lattmanns war tatsächlich ein Novum. Zu der Senatoren Garrels (1917) und Dr. Peter- einer Zeit, als sich parteiliche Politik in sen (1918), die beide der Fraktion der ,verei- Hamburg entwickelte,214 wurde ein kauf- nigten Liberalen‘ angehört hatten, gelang- männischer Senator durch eine Koalition ten ausgesprochene Demokraten in den von Sozialdemokraten und Vereinigten Li- Senat, starke Persönlichkeiten, die auf die beralen gewählt; ein historisches Ereignis, politische Färbung des Senats nicht ohne das die Presse durchaus als solches erkannte. Einfluß geblieben sind.“216 Etwas anders sah Die Mitarbeiter der Verwaltung nahmen die es der Finanzbeamte Leo Lippmann,217 der Wahl von Lattmann jedoch weniger dezi- ebenfalls mit Lattmann eng zusammenar- diert als Meilenstein wahr, wie etwa die Er- beitete. Er beschrieb ihn als einen den „Ver- innerungen des Senatssekretärs Adolf Buehl einigten Liberalen politisch nahestehenden zeigen. Buehl arbeitete für die Senatsabtei- Senator“,218 was zumindest eine gewisse po- lung, der Lattmann angehörte und er be- litische Heterogenität des Senats zum Aus- merkte wenig von Lattmanns progressiver druck bringt.

·············································································································································· 206 Buehl, Ratsstube, S. 21. 207 Vgl. Teetz, Bürgermeister. 208 Hamburger Nachrichten Nr. 326 (14. Juli 1912). 209 Ebd. 210 Ebd. 211 Bergedorfer Zeitung Nr. 159 (10. Juli 1912). 212 Hamburger Fremdenblatt Nr. 159 (10. Juli 1912). 213 Hamburger Echo Nr. 157 (9. Juli 1912). 214 Vgl. auch: Bolland, Bürgerschaft, S. 59‒89. 215 Buehl, Ratsstube, S. 20. 216 Ebd., S. 21. 217 Lorenz, Leo Lippmann. 218 Lippmann, Leben, S. 137. ··············································································································································

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Tradition und Innovation – Arbeitsgebiete des Senators und Gründung der Gesellschaft für Wohltätigkeit

Die Sozialdemokraten wollten laut „Echo“ und Tüchtigkeit dem Wohle Ihrer Mitmen- abwarten, wie sich Lattmann im Amt ver- schen gewidmet und dadurch weithin An- halten würde.219 Zunächst einmal mussten erkennung sich erworben. Und wenn Sie sie sehen, dass auch ein fortschrittlicher Se- jetzt ein reiches Maß von Erfahrung, von nator die Traditionen hochhielt. Zu seinem Wissen, von praktischer Einsicht und von ersten offiziellen Gottesdienstbesuch am Arbeitsenergie gern und zukunftsfreudig Sonntag, den 21. Juli 1912, ließ er sich mit dem Senate zur Verfügung stellen, so wird der Senatskarosse zur St. Petri-Kirche brin- Ihnen zu ersprießlicher Betätigung auf Ih- gen,220 um dort in der althergebrachten rem neuen Arbeitsfelde Gelegenheit vollauf Ratstracht auf dem Senatsgestühl Platz zu geboten sein. Wir heißen Sie herzlich will- nehmen.221 Was die „Hamburger Nachrich- kommen und sind einig in dem Wunsche, ten“ noch als „Beschaulichkeit des Privat- daß Ihnen die Mitarbeit in unserem Kreise hauses“ kritisiert hatten, nämlich Latt- volle Befriedigung gewähren und ein langes manns Engagement vor seiner Senatoren- gesegnetes Wirken Ihnen beschieden sein wahl, wurde im Gottesdienst auf gleich möge.“223 zweifache Weise gewürdigt: Als Ersatz für ··································································· die kaputte Orgel besorgte das Waisenhaus, Die neuen Arbeitsfelder Lattmanns lagen an dem Lattmann Provisor gewesen war, mit in der II. Abteilung des Senates, die über Posaunenspiel und Chorgesang den musika- „Bau-, Eisenbahn-, Justiz und Unterrichts- lischen Rahmen im Gottesdienst, und der angelegenheiten“ beschied. Schon in seinem Hauptpastor Rode, „gedachte besonders der ersten Jahr als Senator wurde er Präses der segensreichen Tätigkeit des neuen Senators Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Zu- als Mitglied der Behörde für öffentliche dem war er Senatsmitglied in der Behörde Jugendfürsorge“.222 für Wohnungspflege, der Behörde für Aus- ··································································· wandererwesen, der Deputation für das Eine Woche zuvor war Lattmann vereidigt Feuerlöschwesen und der Behörde für und von Bürgermeister Burchard herzlich Schankkonzessionswesen sowie Mitglied des begrüßt worden: „Im Auslande als erfolgrei- Senates im Armenkollegium.224 Als Senator cher Kaufmann bewährt, haben Sie, in die war er zudem an der Verwaltung der luthe- Heimat zurückgekehrt, nicht in unfrucht- rischen Kirche beteiligt und wurde zum barem Egoismus ihre Tage zugebracht, son- „Kirchspielsherren“ von der St. Paulikirche, dern in mutiger Initiative Zeit und Kraft der St. Gertrudkirche sowie der Heiligen-

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geistkirche in Barmbek ernannt. Im Laufe wortung des Staates lagen, sondern sie indi- der Jahre wechselten Aufgaben und kamen viduell ergänzen. Dieses Wesensmerkmal neue hinzu – 1914 etwa wurde er Vorsitzen- privater gemeinnütziger Stiftungen lässt sich der der Sektion für das „Werk- und Armen- auch in den Statuten der Hamburgischen haus Oberaltenallee 60“ und Präses der Be- Wissenschaftlichen Stiftung ablesen.226 Nun hörde für das Gewerbe- und Fortbildungs- aber begann der Senator, der dem Armen- schulwesen. In dieser Funktion organisierte kollegium vorstand, einen Verein zu leiten, er die Gründung der Sozialen Frauenschule. der private Spenden sammelte und ihre Auch die Verantwortung für die Kirchspiele Verteilung professionell, d. h. bürokratisch wechselte und ab 1914 befasste er sich als überwachte. Dass dies gewagt wurde und Kirchspielsherr von St. Michaelis mit den offensichtlich gelang (die Gesellschaft fei- Verwaltungs- und Baufragen einer der erte 2013 ihr hundertjähriges Bestehen),227 Hamburger Hauptkirchen. lag zu einem entscheidenden Anteil an der ··································································· Person von August Lattmann, der, als Stif- Mit dem Beginn seines auf Lebenszeit (!) ter bekannt, nicht unter dem Verdacht übertragenen Senatorenamtes lässt sich nicht stand, staatlicherseits in private Metiers ein- mehr klar zwischen privatem Engagement zudringen. Doch war Lattmann nicht allein: und beruflich bedingtem Wirken unter- Neben weiteren Männern aus Politik, Justiz scheiden. Die Gründung der Gesellschaft und Verwaltung gehörten dem Gremium für Wohltätigkeit im Jahr 1913 ist hierfür das auch die in Hamburg bereits als Frauen- beste Beispiel. Das Thema war Lattmann rechtlerinnen hervorgetretenen Helene Bon- schon lange ein Anliegen, als Senator aber fort und Antonie Traun an.228 Es ist das erste konnte er weitaus größeren Einfluss geltend Mal, dass sich Lattmanns enge Zusammen- machen. Am Samstag, den 15. November arbeit mit Protagonistinnen der Frauenbe- 1913 wurde in den Räumen der Patriotischen wegung nachweisen lässt. Die weit gefächer- Gesellschaft die Gesellschaft für Wohltätig- ten Anliegen der Frauenbewegung sind hier keit ins Leben gerufen. August Lattmann, aus Platzgründen nicht zu referieren, doch der erster Vorsitzender des Vereines werden soll die Zeitungsmeldung der „Hamburger sollte, referierte ihre Ziele, die vor allem in Nachrichten“ über die Gründung der Ge- einer Bündelung und optimierten Planung sellschaft für Wohltätigkeit einen atmosphä- der privaten Wohltätigkeit lagen ohne sie rischen Hinweis auf den Stellenwert der beherrschen zu wollen. Er fasste das Anlie- Frauenfrage im Jahr 1913 geben: Zu den gen des Vereines so zusammen: „Wir wollen Gründern zählten die „Nachrichten“ „Fräu- allen Bedürftigen helfen, ohne Rücksicht lein Helene Bonfort“ und „Frau Otto auf ihre Beziehungen, auf die Art der Hilfe- Traun“.229 bedürftigkeit oder des Glaubensbekenntnis- ··································································· ses zur Erhaltung ihres Selbstgefühls und Die „Welt“ würdigte anlässlich des fünfzig- ihrer Stellung unter den Mitmenschen.“225 jährigen Bestehens der Gesellschaft ebenfalls ··································································· die Bedeutung der beteiligten Personen: Das Unterfangen war nicht unproblema- „Nüchternheit und soziale Hilfsbereitschaft tisch: Denn bürgerliche Stifter wollten nicht standen gemeinsam Pate, als so bedeutende Aufgaben übernehmen, die in der Verant- Hamburger Persönlichkeiten wie Senator

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In „Ketten“ gelegt: Lattmann im Senatsornat

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Lattmann, Max Warburg, die Senatoren ··································································· Matthaei und Everling 1913 sich entschlos- Bei Betrachtung der privaten Förderland- sen, die bis dahin noch ungeordnet flie- schaft vor dem Krieg fällt tatsächlich die ßende Wohltätigkeit in feste Bahnen zu len- Unübersichtlichkeit ins Auge. Das „Hand- ken.“230 Der Großneffe Lattmanns urteilt buch der Wohltätigkeit in Hamburg“ von über die Gesellschaft für Wohltätigkeit: 1909 etwa listet 821 Institutionen auf, an die „Den Bestrebungen, Gutes ohne Vorurteil sich Bedürftige wenden konnten, davon zu tun, gab Senator Lattmann zweifellos allein über 160, die der Autor nur unter der das Gepräge.“231 Gleichwohl war Lattmann Rubrik „Geldgaben ohne nähere Zweckbe- nicht arglos in seinem milden Wirken. In ei- stimmung“ fassen konnte. Zu letzteren ge- nem Schreiben aus dem Jahr 1916 skizziert hörte im Übrigen auch die von Lattmann er ungeschminkt die Probleme der Wohl- mitverwaltete Niederländische Armencas- fahrt: „Nirgend ist Vorsicht so geboten, wie se.233 bei der Unterstützung Hilfesuchender. Die ··································································· Beratungsstelle der Hamburgischen Gesell- Wenn sich manches Wirken von Lattmann schaft für Wohltätigkeit versucht, die Miß- nicht zwischen „privat“ und „öffentlich“ stände auf diesem Gebiete zu beseitigen. scheiden lässt, so hatte er als Senator natür- […] Wer je einen Einblick in die Tausende lich auch zahlreiche genuin öffentliche Auf- [!] von Akten der Gesellschaft getan hat, gaben. Als Senator beantragte er Mittel für weiß, wie vielfach derselbe Bittbrief (zwan- bestimmte Zwecke, die seinem Wirkungs- zig-, dreißig- und mehrmal) versandt wird, kreis entsprachen, etwa für die Erziehungs- wie die Bitte um Abhilfe eines bestimmten anstalt für Mädchen in Alsterdorf.234 Als Be- Notstandes an unzähligen Stellen mit gutem hördenchef entschied er zahlreiche Anträge, Erfolg vorgebracht wird. Die Gesellschaft zum Beispiel auf Entlassung von Kindern für Wohltätigkeit prüft und begutachtet die aus der Zwangserziehung. Unter seiner Auf- ihr überwiesenen Bittgesuche, macht Vor- sicht wurden im Jahr 1913 einundzwanzig schläge für eine zweckentsprechende Ab- von zweiundzwanzig „Anträgen von Eltern hilfe und übernimmt auch auf Wunsch de- oder nahen Verwandten auf Entlassung von ren Durchführung. Gerade in dieser unter Kindern aus der Zwangserziehung“ abge- Umständen dauernden pflegerischen Be- lehnt.235 Diese harte Haltung gegenüber den handlung unselbständiger und unwirt- Anträgen ist kein Ausweis radikalprogressi- schaftlicher Familien erblickt die Beratungs- ver Familienpolitik, sondern eher eines pa- stelle eine ihrer Hauptaufgaben. Je größer ternalistischen Staatsverständnis, das – na- der Kreis derer ist, die unsere Gesellschaft in türlich mit dem Ziel des Kinderschutzes – Anspruch nehmen, desto wirksamer vermö- den erzieherischen Fähigkeiten mancher gen wir zum Nutzen der Bittsteller zu arbei- Angehöriger von unteren sozialen Schichten ten, desto eher werden die Wohltäter vor misstraute. Ausnutzung bewahrt.“232

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·············································································································································· 219 Hamburger Echo Nr. 157 (9. Juli 1912). 220 Hamburger Nachrichten Nr. 339 (22. Juli 1912). 221 Neue Hamburger Zeitung Nr. 339 (22. Juli 1912). 222 Hamburger Nachrichten Nr. 339 (22. Juli 1912). 223 Hamburger Nachrichten Nr. 327 (15. Juli 1912). 224 Vgl. Hamburgisches Staatshandbuch für das Jahr 1913. 225 Hamburger Nachrichten Nr. 539 (16. November 1913). 226 Siehe § 5 der Verfassung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung: „Es ist der ausdrückliche Wunsch der Donatoren, dass die Mittel der Stiftung nicht für solche Zwecke verwendet werden, denen der hamburgische Staat bisher schon seine Fürsorge zugewandt hat, oder deren Erfüllung nach allgemeiner Meinung zu den Aufga- ben des Staates gehört.“ (www.h-w-s.org/assets/Uploads/PDF/Verfassung.pdf). 227 Soziale Verantwortung seit 100 Jahren (http://hamburgische-bruecke.de/ueber-uns/historie.html). 228 Hamburger Nachrichten Nr. 539 (16. November 1913). 229 Ebd.; vgl. auch die Artikel in der Hamburgischen Biografie: Bake, Helene Bonfort; Heinsohn, Antonie Traun. 230 Die Welt Nr. 279 (30. November 1963). 231 Büsch, Senator, S. 13. 232 August Lattmann an den Leiter der Armenanstalt, November 1916: StA Hbg., 351-2 II Allgemeine Armen- anstalt II, 449 Band 1, Hamburgische Gesellschaft für Wohltätigkeit, Bl. 44. 233 Joachim, Handbuch. 234 Vgl. zu zahlreichen weiteren einzelnen Zahlen Büsch, Senator, S. 11‒19. 235 Ebd., S. 12. ··············································································································································

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Lattmann und die Frauenfrage – die Begründung der Sozialen Frauenschule

Als Präses der Behörde für das Gewerbe- sandte. Lattmann gehörte dem Vorstand der und Fortbildungsschulwesen wirkte Latt- Mädchenschule an, den er auch längere Zeit mann bei der Gründung der Sozialen Frau- leitete.241 Die Briefe, die er an „Fräulein enschule an oberster Stelle mit.236 Für die Glinzer“ sandte, zeugen von einer freund- Leitung der Schule konnte er Gertrud Bäu- schaftlichen und (jenseits der berufsbeding- mer gewinnen.237 Die Korrespondenz zwi- ten Hierarchie) gleichberechtigten Kommu- schen Lattmann und Bäumer enthält trotz nikation.242 der professionellen Inhalte auch freund- ··································································· schaftliche Anklänge; so dankte er ihr im Obwohl keine dezidierten frauenpoliti- Oktober 1916 für die „liebenswürdigen Zei- schen Aussagen von Lattmann überliefert len“,238 einen Monat später schrieb er ihr: sind, so sind doch dies alles Hinweise, dass „Ich glaube, die Schule wird ein großer Er- Lattmann der Frauenbewegung nicht ab- folg unter Ihrer Leitung werden.“239 lehnend gegenüberstand. Sein Engagement ··································································· für höhere Bildungsanstalten für Mädchen Die Gründung der Sozialen Frauenschule und Frauen rechtfertigt sogar die Vermu- trug bereits einen emanzipatorischen Ne- tung, dass er vielmehr mit den Emanzipati- benklang in sich. Zudem trat mit Gertrud onsbestrebungen sympathisierte, denn zur Bäumer eine weitere Protagonistin der Frau- gleichen Zeit argumentierten nicht wenige enbewegung in den Kontaktraum von Latt- Wissenschaftler gegen eine höhere Bildung mann. Gertrud Bäumer und ihre Lebensge- für Frauen und sprachen ihnen zum Teil so- fährtin Helene Lange spielten eine beson- gar die Befähigung zur Wissenschaft gene- dere, auch symbolträchtige Rolle in der rell ab. Herausstehendes Beispiel ist das Frauenbewegung.240 Somit kann Lattmann 1900 erschienene und mehrere Jahre neuauf- eine gewisse Offenheit gegenüber der Frau- gelegte Buch „Über den physiologischen enbewegung und unter Umständen auch Schwachsinn des Weibes“ des Arztes Julius gegenüber abweichenden Lebensentwürfen Möbius.243 Doch um eine wissenschaftliche zugesprochen werden, vor allem weil er mit Beschäftigung mit sozialen („Frauen“-)Be- berufstätigen und unverheirateten Frauen rufen ging es auch bei der Sozialen Frauen- auch jenseits der professionellen Grenzen schule. Getrud Bäumer beschrieb deren Kontakt pflegte. Ein Beispiel hierfür sind Ziele im Jahr 1917. Zunächst einmal klärte die zahlreichen Briefe, die Lattmann an die sie den Begriff der sozialen Berufe, der so Direktorin der Schule des Paulsen-Stifts unterschiedliche Tätigkeiten wie die Fabrik-

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inspektion oder die Altenfürsorge umfasst: nungspflegerische und fürsorgerische Tätig- „,Sozial‘ werden diese Aufgaben erst, sofern keit.“245 sie Mittel zu einem über sie selbst weit hi- ··································································· nausweisenden Zweck sind, Teil der Hilfe, Die Soziale Frauenschule an der Schnitt- durch welche die Gesellschaft auch ihre stelle zwischen Frauen-, Jugend und Wohl- schwächeren Mitglieder zur Teilnahme an fahrtspolitik gehört zu den integralen Poli- den Kulturgütern heranzieht, damit sie aus tikfeldern Lattmanns. Zugleich zeigt sich ihnen Kraft des Erstarkens gewinnen. Alle hier seine Zeitgebundenheit. Lattmann, li- sozialen Berufe sind zusammengehalten beral und zumindest moderat offen für die durch diese Bestimmung. Das höchste Ziel Ziele der Frauenbewegung, schreibt seine der Berufsausbildung ist, daß dies verstan- Korrespondentinnen als Fräuleins an, ein den wird.“244 Es war demnach eine theore- Terminus, der erst mit dem Fortschreiten tische und auf die Gesellschaft zielende, in der Frauenbewegung in der zweiten Hälfte diesem Sinne politische Wendung, die Bäu- des Jahrhunderts verschwand. Mit den be- mer den sozialen Berufen geben wollte. Ein grifflichen Denkschranken gingen inhaltli- Bild von der Arbeit und Lehre des Sozialpä- che einher, und auch Gertrud Bäumer selbst dagogischen Instituts geben auch die Ab- legte bei der Proklamation der Ziele der schlussarbeiten der Institution. Die Absol- Frauenschule Prämissen zugrunde (etwa, ventin Anna Cohn beispielsweise schrieb im dass Frauen empfindsamer als Männer Herbst 1918 eine Arbeit mit dem Titel „Der seien), die heute als sexistisch gelten wür- Stadtteil Winterhude in Hinsicht auf woh- den.246

·············································································································································· 236 Dünkel; Fesel, Soziale Frauenschule. 237 Schaser, Helene Lange, S. 166‒185. 238 August Lattmann an Gertrud Bäumer, 12. Oktober 1916: StA Hbg., 362-5⁄2 Sozialpädagogisches Institut, 1, Band 1. 239 August Lattmann an Gertrud Bäumer, 19. November 1916: Ebd. 240 Vgl. Schaser, Helene Lange; Göttert, Macht. 241 Vgl. Charlotte Paulsen Schule, Festschrift; Kleinau, Geschichte; siehe auch: StA Hbg., 361-2 II Oberschul- behörde II (Höheres Schulwesen), A 37 Nr. 1 Band 2. 242 Vgl. StA Hbg. 362-6⁄11 Paulsenstiftschule, 52 Personalunterlage Hanna Glinzer. 243 Volltext online: http://www.ngiyaw-ebooks.org/ngiyaw/moebius/schwachsinn/schwachsinn.htm. 244 Bäumer, Ziele, S. 3. 245 Cohn, Stadtteil. 246 Vgl. Bäumer, Ziele. ··············································································································································

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Kriegshelfer

Der Erste Weltkrieg hatte sich angekündigt überliefert ist, so schreibt Lattmann seinem – mit Hunnenreden und Panthersprüngen, Neffen weiter, dass in England zu leichtfer- Balkan- und Marokkokrisen. Und doch ha- tig über einen möglichen Krieg gesprochen ben viele ihn nicht kommen sehen, zu ihnen werde, Grund dafür sei die fehlende Wehr- gehörte auch August Lattmann, obwohl er pflicht, denn: „Es ist doch immer etwas An- über das Säbelrasseln erschrocken war und deres, wenn die ganze Nation mit muss.“249 die grundsätzliche Gefahr eines Krieges ··································································· durchaus wahrnahm. Im Januar 1909 schrieb Lattmann irrte in seiner Sicht auf den er: „Wir sind in einer sehr prekären Lage. Wehrdienst. Die Tatsache, dass in den Ers- Der Kaiser scheint am Neujahrstag wieder ten Weltkrieg tatsächlich die ganzen Natio- allerlei angegeben zu haben, das leider durch nen mit hineingezogen wurden,250 hat sei- eine Indiskretion an die Oeffentlichkeit ge- nen Ausbruch nicht verhindert, ja es war langt ist.“247 Aus dem Schreiben liest sich sogar diese „totalisierte“ Annahme, die für zunächst einmal, dass Lattmanns Hochach- Deutschland aufgrund der erwarteten zu- tung vor dem Kaiser begrenzt war, doch künftigen Stärke Russlands einen der weiter unten in dem Brief betonte er das Gründe lieferte, lieber 1914 als später in den Recht dieses „Angebers“, seine private Mei- Krieg zu ziehen.251 Doch entsprach dieser nung zu äußern und war vor allem über die Irrtum dem vieler Deutscher, deren obers- Indiskretion erbost. Für englische Sorgen ter Fürst ebenfalls davon ausging, dass es vor einer deutschen Invasion hingegen sich um einen kurzen Waffengang handeln zeigte er im März 1909 wenig Verständnis: würde.252 Doch anders als viele Landsleute „Die Panik in England wäre komisch, wenn war Lattmann weder dem „Erbfeind“ Frank- gerade in der Panik nicht für uns eine ernste reich noch dem „perfiden Albion“ gegen- Gefahr läge. England hat bisjetzt [!] alle über voreingenommen. Vielmehr hatte er Flotten der Länder zerstört, die ihrem Han- noch im Mai 1914 eine Delegation von etwa del Konkurrenz machten. Man mag gar- einhundert englischen Angestellten und Ar- nicht an Krieg denken, denn die Folgen beitern im Namen des Senats im Hambur- würden uns 100 Jahre zurückversetzen, ab- ger Rathaus empfangen. Er begrüßte sie in gesehen davon dass alle jungen Leute mit- ihrer Landessprache und erklärte den Gäs- ziehen müssten.“248 Während in diesen Jah- ten die Bedeutung von Reisen für die Bil- ren keine Kritik von Lattmann an der dung.253 Doch schnell trat auch bei Latt- Gedankenlosigkeit der deutschen Politik mann ein Sinneswandel ein. Bereits im

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Oktober notierte er in sein Tagebuch ein ein Liberaler und Weltbürger, radikalisiert? Lied von Heinrich Leuthold, das – aus dem Im dritten Kriegsjahr 1916 zitierte er aus Jahr 1871 stammend – das Bild eines wehr- Goethes Herrmann und Dorothea – ein haften Deutschland pries. Aufruf zum Durchhalten: ··································································· „Denn der Mensch, der zur schwankenden „Nicht des Geistes, sondern des Schwertes Zeit auch schwankend gesinnt ist, Schärfe Der vermehrt das Übel und breitet es Gab dir alles, wiedererstandenes Deutsch- weiter und weiter; land Aber wer fest auf dem Sinn beharrt, der Ruhm und Einheit, äußere Macht u. bildet die Welt sich. Wohlfahrt Nicht dem Deutschen geziemt es, die Dankst du dem Eisen.“254 fürchterliche Bewegung ··································································· Fortzuleiten und auch zu wanken hierhin Die letzte Strophe zeigt bereits erste Ahnun- und dorthin. gen von Durchhalteparolen: Dies ist unser! So lass uns sagen und so es „Meine Mahnung wird erst der Enkel segnen behaupten! wenn er unverdrossen die Waffen wahrte Denn es werden noch stets die entschlos- Menschenalter hin, bis es ihm obliegt senen Völker gepriesen, im Weltkrieg zu siegen.“255 Die für Gott und Gesetz, für Eltern, ··································································· Weiber und Kinder Im April 1915 notierte Lattmann ohne wei- Stritten u. gegen den Feind zusammen- tere Erläuterung „If it’s England it’s the stehend, erlagen.“257 game – If it’s it’s a shame“ – viel- ··································································· leicht war die wenige Monate zuvor aufge- „Mitziehen“ mussten tatsächlich die gan- nommene Seeblockade Englands durch zen Nationen – auch ihre Zivilverwaltungen Deutschland gemeint und vielleicht zählte und somit auch der Hamburger Senator Au- er zu den zahlreichen Befürwortern des un- gust Lattmann. Als mit Beginn des Welt- eingeschränkten U-Boot-Krieges. Doch wäh- krieges nicht nur die Armen-, sondern auch rend diese Frage offen bleibt, spricht aus die allgemeine Versorgung umgestellt wer- dem Reim sehr deutlich ein Gefühl der Un- den musste, wurde Lattmann mit der Lei- gerechtigkeit. Während englische Flotten- tung der Hamburger Kriegshilfe eine wich- und Kolonialpolitik schlicht „the game“ tige Rolle in der Versorgung der Bevölke- seien, wären ähnliche deutsche Ambitionen rung und somit das wohl bedeutendste Amt „a shame“. in seiner Verantwortung übertragen. Leo ··································································· Lippmann, Finanzbeamter und erster Refe- Sogar die „Ideen von 1914“, die der völ- rent im Kriegsversorgungsamtes, beschrieb kisch gesinnte Norweger Rudolf Kjellén als in seinen Erinnerungen Lattmanns Rolle in Gegensatz zu jenen von 1789 formuliert dieser Zeit: „Der sozial gesinnte Mann war hatte, fanden in dieser Zeit Eingang in Latt- während des Krieges einer der führenden manns Tagebuch: „1789 Freiheit, Gleichheit Männer der hamburgischen Kriegshilfeor- u. Brüderlichkeit – 1914 Ordnung, Gerech- ganisationen.“258 Die Kriegshilfe war: „eine tigkeit u. Pflicht“.256 Hatte sich Lattmann, große Organisation ehrenamtlich tätiger

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Personen, die sich unter dem Vorsitz des so- ein Jahr später Hamburg besuchte, interes- zial empfindenden Senators August Latt- sierte er sich für die Kriegshilfe und ließ sich mann zur Beratung und Unterstützung der persönlich von Lattmann informieren. Die- Kriegerfrauen und der Unbemittelten zu- ser referierte dem Kaiser: „zu Zeiten“ werde sammengefunden hatten. Die ,Kriegshilfe‘ ein Drittel der hamburgischen Bevölkerung hat Hervorragendes geleistet.“259 Um die in den Küchen gespeist. Um für den Frieden Bedeutung der Kriegshilfe vor Augen füh- „vorbereitet zu sein“, habe die Kriegshilfe ren, muss die Zahl der von ihr ausgegebenen zahlreiche Initiativen begründet: „Ausschuß Essen betrachtet werden, denn mit Andau- für Siedlungswesen, Ausschuß für Volksge- ern des Krieges speiste sie längst nicht mehr sundheitspflege, einen zentralen Arbeits- nur die Armen. Im Winter 1916/1917 waren nachweis, eine soziale Frauenschule“.262 Hunderttausende Hamburger auf das Essen Laut „Hamburgischen Correspondenten“ der Kriegshilfe angewiesen, im April 1917 schloss er seinen Vortrag: „Ich glaube mit etwa wurden über 6 Millionen Liter Essen Recht sagen zu können, daß die hamburgi- ausgegeben, im Durchschnitt über 200.000 sche Bevölkerung in der Hamburgischen Liter pro Tag.260 Kriegshilfe eine große Opferbereitschaft ge- ··································································· zeigt hat, wo sie selbst so schwer durch den Lattmanns Leistungen für die Kriegshilfe Krieg leidet durch die schwere Schädigung wurden im August 1916 von höchster Stelle ihres Handels.“263 Der Monarch „nahm die gewürdigt: „Seine Majestät der Kaiser und eingehenden Mitteilungen mit Interesse König haben wegen hervorragender Kriegs- entgegen und informierte sich durch Fragen verdienste in der Heimat zu verleihen ge- nach ihm besonders bemerkenswert dün- ruht […] das Eiserne Kreuz II. Klasse am kenden Einzelheiten“.264 weiss-schwarzen Bande.“261 Als Wilhelm II.

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·············································································································································· 247 August Lattmann an Erdwin Büsch, 9. Januar 1909: Nachlass Lattmann, Konvolut Briefe von August Latt- mann an Elisabeth Büsch und Erdwin Büsch. 248 August Lattmann an Erdwin Büsch, 30. März 1909: Ebd. 249 Ebd. 250 Chickering, World War. 251 Mommsen, Urkatastrophe, S. 29. 252 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 3 253 Hamburger Nachrichten Nr. 230 (18. Mai 1914). 254 Tagebucheintrag, Oktober 1914: Nachlass Lattmann, Tagebuch. 255 Ebd.; das gesamte Lied mit einigen Abweichungen, zeitgenössisch bei: Leuthold, Dichtungen, S. 257. 256 Tagebucheintrag, 11. Dezember 1915: Nachlass Lattmann, Tagebuch. 257 Tagebucheintrag, 19. [3.?] 1916: Ebd. 258 Lippmann, Leben, S. 137. 259 Ebd., S. 209. 260 Ebd., S. 229. 261 Königlich Preußische Gesandtschaft in Mecklenburg und den Hansestädten an Bürgermeister Predöhl, 11. August 1916: StA Hbg., 132-1 I Senatskommission für die Reichs- und auswärtigen Angelegenheiten I, 3925 UA 7. 262 Hamburgischer Correspondent Nr. 422 (20. August 1917). 263 Ebd. 264 Ebd. ··············································································································································

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Umstürze

So wie die Kriegsgefahr bereits vor dem An- zu widerstehen. Unser Volk hat wunderbar schlag auf den österreichischen Thronfolger gekämpft, nicht so die Regierung, die die Franz Ferdinand gegeben war, so war auch Idee des aufgedrängten Krieges nicht auf- die Kriegsniederlage der Mittelmächte ab- recht erhalten hat, sondern sich von den zusehen. Die bald populär werdende Le- Kriegshetzern hat beeinflussen lassen, die gende der Revolution als Dolchstoß in den die unehrliche Absicht hatten, bei dem Rücken des im Felde unbesiegten Heeres, Kriege zu gewinnen auf Kosten Anderer. Ihr diente zwar dessen gescheiterter Führung Vorwand war: Ersatz für den Schaden, aber als Ausrede – den Fakten entsprach sie nicht. im Innern hatten sie den Krieg begrüßt um Bereits Anfang Oktober 1918 besprach der eines zu erreichenden Vorteils willen. Ich Senat den zu erwartenden schlechten Frie- denke an die Zeit am Anfang des Krieges, densschluss und Lattmann schrieb am 13. wo sie sich unter vier Augen rühmten, den Oktober in sein Tagebuch: „Der Friede ist Krieg ,zur rechten Zeit‘ ins Werk gesetzt [zu nun wohl in Sicht und wird eine große Ent- haben]. Solche Menschen hat es bei allen täuschung für Deutschland werden.“265 Von kriegführenden Völkern gegeben. Man soll Durchhalteparolen war Lattmann bereits sie daher nicht zu sehr anklagen, man soll Anfang 1917 abgewichen, wie ein Tagebuch- sich eher nicht besser dünken als die Uebri- eintrag zeigt: „Wer niemals imstande ist, gen.“267 seine einmal gefasste Meinung zu ändern, ··································································· der liebt sich selbst mehr als die Wahr- Nur wenige Tagebuchseiten zuvor hatte heit.“266 Auch Lattmann hatte seine Mei- Lattmann Kjelléns Ideen notiert und es für nung geändert, doch realisierte er die eigene „den“ Deutschen als unziemlich erachtet, zu vorherige Härte nicht mehr. Zwar wundert wanken, und vielmehr gefordert, „unver- es wenig, dass er die Niederlage des „Vater- drossen die Waffen“ zu wahren. Daher landes“ im Kriege bedauerte, doch über- scheint es fraglich, ob Lattmann tatsächlich rascht es, dass er seine früheren Einträge „vom ersten Augenblick an gezweifelt [hat- vergessen zu haben schien. Zudem trat für te], ob sich der Durchbruch durch Belgien ihn die Frage nach der Schuld am Krieg in rechtfertigen lasse“.268 Seine vorherigen Ta- den Mittelpunkt und Lattmann sah sie bei gebucheinträge und auch sein öffentliches allen Ländern gleichermaßen: „Von allen Auftreten betonten eher Pflichtbewusstsein Seiten angegriffen, hat es sich kräftig ge- und Treue. Auf einem Festakt der Armen- wehrt, aber am Ende nicht die Kraft gehabt verwaltung beispielsweise hatte Lattmann

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