T HEMA Der Krieg als hermetischer Raum Gert Ledig und Die Stalinorgel

Fast vier Jahrzehnte lang war der Name Gert Ledig von der literarischen Landkarte verschwunden. Erst im Herbst 1999, nachdem sein Roman erneut veröffentlicht wor- den war, wurde er von der Lese- öffentlichkeit, aber auch weiten Teilen der Germanistik wiederentdeckt. Dabei war Ledig in den fünfziger Jah- ren ein bedeutender Autor gewesen. Mit einer Romantrilogie und mehreren Hörspielen hatte er damals - in Ost wie West - für Aufsehen und Empörung gesorgt. Zu Recht, denn in seinen Texten blickte Ledig auf eine leidvolle Vergangenheit zurück und brach mit den Tabus des Wirtschaftswunder- staates. Sein Roman Vergeltung etwa, wo mit grausamer Präzision der Hauptmann, ein Oberst, der Major oder der Gerichtsoffizier. Jedes der 15 Ka- Luftangriff auf eine deutsche Stadt pitel erzählt die (Überlebens-)Kämpfe von einem oder zweien dieser Charak- beschrieben wird, belegt dies ein- tere. Dabei wird die Fahnenflucht des Feldwebels, die - obschon geplant - drucksvoll. Von den Kritikern wurde unkoordiniert und letztlich unüberlegt verläuft, zum Sinnbild für die menschen- der Text 1956, als er erstmalig er- verachtende Funktionalisierung des Einzelnen im Kriege. Von der Feldpolizei schien, fast einhellig abgelehnt. Er gestellt, wird er in einen Speicher eingesperrt und später von einem Rittmeis- verlasse, so bemerkte zum Beispiel ter erschossen, der sich so von eigener Schuld freikaufen will, da seine Abtei- Die Zeit, „den Rahmen des Glaubwür- lung die Stellung ohne Befehl verlassen hatte. Der Krieg wird so als hermeti- digen und Zumutbaren“. Gut zehn scher Raum gezeigt, der einer unerbittlichen Logik folgt und dem Einzelnen Jahre nach Kriegsende wünschte keinen Ausweg lässt. man die Grauen der Bombardements endlich hinter sich zu lassen. Stalinorgel gelingt es, die barbarischen Momente des sogenannten Fronter- lebnisses – von der NS-Weltanschauung zum Inbegriff des wahren Herois- Sicherlich gibt es zwischen Vergel- mus verklärt – authentisch zu beschreiben. Es ist eine Welt aus Fuchslöchern tung und Ledigs erstem Roman Die und Granattrichtern, Talglichtern, Ratten, verkrustetem Blut und Exkremen- Stalinorgel, der 1955 erstmals er- ten, Hunger und Tod. Inmitten einer von Panzern und Bomben zerpflügten schien und im Jahre 2000 wieder- Landschaft krepieren die Soldaten. Orden und Ehrungen wirken hier lächer- veröffentlicht wurde, viele Überein- lich, wie Symbole aus einer sinnentleerten, zudem weit entfernten Welt. Keine stimmungen. Beide schildern den der Figuren kann oder will dem Stereotyp des sich aufopfernden Helden ent- Krieg als entfesselt, erniedrigend und sprechen. Vielmehr zeigt Ledig, welche Verhaltensmuster und Mechanismen inhuman, die Soldaten als ganz und im Felde wirksam sind: Realitätsflucht, Selbstverstümmelung, Todesangst und gar nicht heldenhaft. In seinem Erst- Todesmutigkeit, Suizid, Skrupel, abwegiges Hoffen, Selbsttäuschung oder das lingswerk fokussiert Ledig auf ein er- trügerische Gefühl von Sicherheit nach einer Gefangennahme. Dass die mili- bittertes Gefecht zwischen deut- tärischen Strukturen angesichts der existenziellen Bedrohung zusammenbre- schen und russischen Einheiten, eine chen oder pervertieren, verwundert wenig. So wird die Korrespondenz von der ebenso blutige wie sinnlose Schlacht. Kompanie an die Divison von den einfachen Soldaten teils vernichtet, teils An der Ostfront, bei der fiktiven Ort- manipuliert: „Der Erfahrungsbericht über das neue Maschinengewehr, den der schaft Emra, tobt zwei Tage lang der Feldwebel für den Divisonsstab abgefasst hatte, nötigte ihnen nur mitleidiges Kampf um ein schlammig-sumpfiges Lächeln ab. Mit ihm setzte der Gefreite seine Pfeife in Brand.“ Stück Erde und eine Anhöhe, die durch einen Stahlmast markiert wird. Dass Stalinorgel über den Kampf nicht nur aus deutscher, sondern auch aus russischer Perspektive berichtet, mag zeigen, dass das „Inferno“ (so der Es sind namenlose Gestalten, die da Arbeitstitel des Romans) allumfassend war: Zerpflügte Erde, verbranntes zu Objekten des Krieges degradiert Fleisch, verlorene Illusionen gibt es auf beiden Seiten. Es war Ledig Mitte der werden und den Lesern nur als Funk- fünfziger Jahre zu Recht ein Bedürfnis, auf die Fehlerhaftigkeit von Feind- tionsträger, unter ihrem militärischen stereotypen hinzuweisen, insbesondere vor dem Hintergrund des Kalten Krie- Rang, bekannt sind: der Melder, der ges und dem staatlich sanktionierten Antikommunismus in der Bundesrepublik. 26 Kritische Ausgabe 1/03: Krieg „Krass“ - mit diesem Wort wurde Stalinorgel damals häu- gefärbten Politik und Literaturdebatte verschrieben hatte. fig etikettiert, wobei die veristische Komposition des Ro- Als Mitglied der westdeutschen KPD hatte er bereits län- mans wesentlich auf die Sprache zurückzuführen ist. ger mit der DDR geliebäugelt und dorthin Kontakte ge- Glücklicherweise hat Ledig es vermieden, den Dialogen knüpft, die sich nach Veröffentlichung seines ersten Ro- eine vermeintlich authentische Note zu geben, indem er mans intensivierten. Nachdem man in Ledig einen „fort- sie etwa mit soldatischen Aperçus, Geschwätzigkeit oder schrittlichen“ Autor erkannt hatte, bemühten sich die ost- deftiger Militärsprache angereichert hätte. Im Gegenteil, deutschen Kulturfunktionäre ihrerseits, ihn in die DDR- der Text wird von - teilweise elliptischen - Hauptsätzen Kulturpolitik einzubinden. So offerierte man ihm, an einem bestimmt, die gerade bei den Kampfszenen wirkungsvoll einjährigen Lehrgang am Leipziger Literaturinstitut (das eingesetzt sind, etwa bei der Desertion des Melders: „Zwei, gerade gegründet worden war) teilzunehmen. Auch wenn drei braune Gestalten warfen sich über ihn. Preßten seine er dieses Angebot ausschlug, eröffnete sich ihm in der Arme an den Boden. Durchwühlten seine Taschen. Lie- DDR in der Folgezeit ein Wirkungsfeld. ßen ihn los. Ein unmißverständlicher Wink gab ihm zu ver- stehen, daß er in der Mulde weiterkriechen solle. Ein Wäch- So verfasste Ledig Kurzgeschichten für die Wochenzei- ter blieb hinter ihm. Über ihm zwitscherten Kugeln. Aus tung Sonntag, schrieb eine Filmskizze für die DEFA und dem deutschen Graben.“ Sinneseindrücke können nicht ein Hörbild für den Deutschlandsender, den in den Wes- mehr in ein temporäres geschweige denn kausal-logisches ten gereichteten Propagandasender der DDR. 1958 er- Verhältnis gebracht werden. Wahrnehmung und Sprache schien im Aufbau-Verlag sein Hörspiel Das Duell, in wel- sind gleichermaßen fragmentiert. Obwohl Stalinorgel von chem der kommunistische Journalist Reed einen angese- Missbrauch, Peinigung, Brutalität und Tod handelt, ist der henen westdeutschen Staatsanwalt als Mörder einer Edel- Text an keiner Stelle larmoyant. Ebensowenig erprobt er prostituierten entlarvt. Hier waren - wie auch in den Beiträ- sich in militärisch-strategischen Analysen oder wartet mit gen für den Sonntag - zum ersten Mal explizit ideologische psychologischen Erklärungen auf. Die Biographien der Fi- Untertöne hörbar. Östlich der Elbe wurde das Stück begrüßt, guren bleiben weitgehend im Dunkeln, im Vordergrund da es „die tiefe moralische Verrottung, die Korruption der steht die Kreatur Mensch, ihrer Vergangenheit im barbari- herrschenden Schichten Westdeutschlands“ aufdecke. schen Kriegsgeschehen gänzlich entledigt. Ebenfalls 1958 ließ Ledig sich auf eine Kooperation mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ein. Er fungierte, Wer war nun der Autor der Stalinorgel, eines Buches „so allerdings nur für wenige Wochen, als Kontaktperson. Bald ungeheuerlich wie großartig“, wie Wolfgang Koeppen be- schon wurde die Zusammenarbeit wieder abgebrochen, fand? Gert Ledig wurde 1921 in geboren. Seine unter anderem, da das MfS „gewisse radikalistische Ten- Kindheit und Jugend, die er teilweise in Wien verbrachte, denzen“ bei Ledig ausmachte. Überblickt man Ledigs hek- war von familiären Zerrüttungen und dem Doppelsuizid von tische politische Aktivität dieser Jahre, so wird in Ansätzen Mutter und Großmutter im Jahre 1938 geprägt. Nach sei- verständlich, dass man in ihm einen „Wirrkopf“ sah, „der ner Schulausbildung besuchte er eine Fachschule für Elek- letztlich zum Gegner der DDR in seiner Publizistik wurde“, trotechnik, nahm aber auch an Regieklassen einer priva- wie einmal gegenüber der Stasi erklärte. ten Theaterschule teil. Zu Kriegsbeginn meldete er sich freiwillig zu den Pionieren. Nachdem er an verschiedenen Bevor Ledig Mitte der Sechziger seine literarische und jour- Lehrgängen teilgenommen hatte und als Ausbilder an ei- nalistische Tätigkeit aufgab, um in einem Ingenieurbüro ner Pionierschule tätig gewesen war, kämpfte er schließlich zu arbeiten, schrieb er noch etliche Rundfunkmanuskripte, südlich des Ladogasees, auf der karelischen Landenge und aber auch Artikel für Die Kultur oder konkret. Später lebte auch vor Leningrad. Er wurde zweimal verwundet, und dann er zurückgezogen am Ammersee. Am 1. Juni 1999 starb - als er nicht mehr fronttauglich war - zu einer technischen er in Landsberg am Lech. Ausbildung beurlaubt, die er in Halle mit einem Diplom als Schiffsbauingenieur abschloss. Bei Bombenangriffen auf Aufgrund seiner eigenen Kriegserfahrung war Ledig (wie Leipzig und München verlor er seinen gesamten Besitz. viele andere Schriftsteller auch) von der Vision eines sozia- listischen, antifaschistischen Staates auf deutschem Boden Nach Kriegsende schlug Ledig sich in vielen Berufen durch, angetan. Aus diesem Blickwinkel sollte man auch sein lite- als Holzfäller und Hausierer, als Vertreter und Gerüstbau- rarisches und politisches Engagement für die und in der arbeiter, als Devotionalienhändler und Inhaber eines Wer- DDR betrachten. Für die Stasi war er mal Instrument, mal bebüros. Schließlich arbeitete er Anfang der fünfziger Jah- ihr Opfer. Es ist wahrscheinlich, dass Ledig die rigiden welt- re auch als Dolmetscher und Übersetzer für die US-Ar- anschaulichen Leitlinien und institutionellen Zwänge, die in mee in Österreich. 1953 entschloss er sich, seine eigenen der jungen DDR neben aller Aufbau- und Aufbruchsstim- Kriegserlebnisse literarisch zu verarbeiten. Die Stalinor- mung auch herrschten, nicht in ihrem vollen Ausmaß wahr- gel entstand. Die Welle der Anerkennung, die ihm entge- genommen hat. Zweifellos sind seine literarischen Texte, genschlug (sowohl aus den Feuilletons wie aus Schrift- allen voran Stalinorgel und Vergeltung, neben den Werken stellerkreisen), beflügelte ihn. Neben Vergeltung erschien der anderen Autoren zu nennen, die die Literaturgeschich- bald ein dritter Roman: Faustrecht, eine Geschichte aus te der fünfziger Jahre konstituieren, unter ihnen Ilse dem kriminellen Milieu, die im München des Herbstes 1946 Aichinger, Alfred Andersch, Heinrich Böll, , Hans spielt und erzählt, wie drei Freunde ihr Geld damit verdie- Hellmuth Kirst oder Wolfgang Koeppen. Glücklicherweise nen, amerikanische Lastwagen auszuplündern und die wurde Ledigs Romantrilogie in den letzten Jahren wieder Waren zu schmuggeln. Ledigs politische Aktivitäten ver- verlegt, so dass die Texte nun auch ihren Weg auf die stärkten sich. Er war regelmäßig zu Gast beim Münchner Lektürelisten von Universitäten und Schulen finden können. „Komma-Klub“, der sich einer engagierten, sozialistisch Florian Radvan

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