Paris Als Brückenkopf? - Oszillationen Des Tango Rioplatense
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Rolf G Renner,Fernand Hörner (Hrsg.) Deutsch-französischeBerü hrungs- und Wendepunkte ZwanzigJahre Forschung,Lehre und öffentlicherDialog am Frankreich-Zentrum I Freiburg i. Br. Frankreich-Zentrum 2009 Paris als Brückenkopf? - Oszillationen des Tango rioplatense RolI Kailuweit Der Tangorioplatense erscheint nach dem Titel des von RamönPelinski herausgege- benenBandes zugieich als ein nomadisierendesund diasporischesPhänomen.' Dies ist in doppeltemSinne problematisch,möchte man mit Pelinskis Kategorien die Funktion von Paris für den Tango als kulturelle Praxis bestimmen.' Gehen wir einmal von Flusserslakoriischer Definition desNomadentums aus: Nomaden sind Leute, die hinter etwas herfahren, etwas verfolgen. Etwa zu sammelndePilze, zu tötende Tiere oder zu melkende Schafe. Gleichgültig, welches das verfolgte Zrel ist, das Fahren ist keineswegsbeendet, wenn es erreichtwurde.l Nomaden, so habe ich anderenortsaim Anschluss an Flussers<Nomadische Über1e- gungen) zu zeigenversucht, bewegen sich in einem Raum, dessenAußengrenzen un- scharf sind. Ihr Raumverständnisist zweidimensional,auch wenn sie die Fläche,die sie erfahren,nicht als ganzeerfassen. Ihre Bewegunglässt sich als eine offene Netzstruktur begreifen,die Haltepunkteund Wege symbolisiert.Wenn wir davon ausgehen,dass der Tango, aus dem Rio-de-1a-Plata-Raumkommend, sich in der ersten Dekade des 20. Jahrhundertsin Europa zu verbreitenbeginnt, dann ist Paris in dieser Bewegungnicht einfach ein Haltepunkt unter vielen, der gleichsamzuftillig erreicht wird. Der Tango kommt, wie zu zeigensein wird, nach Paris als Pol zivilisierter Urbanität, an dem-sich im ausgehenden19. Jahrhundert Buenos Aires misst und Montevideo orientiert.) Die Ausrichtungauf die französischeMetropole ist dabeinicht auf die Eliten beschränkt,sie erfasst alle sozialen Schichtengleichermaßen. Zur Ausrichtung auf Paris gehört zum Ramön Pelinski: El tango nömade. Ensayos sobre la diäspora del tango, Buenos Aires, Corregidor, 2000. Baumann schreibt sich das Adjektiv diasporisch als Neologismus zu: Martin Baumann: Alte Götter in neuer Heimat. ReligionswissenschaftlicheAnalyse zu Diaspora am Beispiel von Hindus auf Trinidad, Marburg, Diagonal-Verlag, 2003. So ist in B6atrice Humberts Beitragnt Pelinskis Buch E/ tango en Paris de 1907 a 1920 auch weder von Nomadismus noch von Diaspora die Rede, wohl aber, und darauf komme ich zurück, von der Bedeutungdieser Überfahrt für die Entwicklung des Tangos. Vil6m Flusser: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim,Bollmann, 1994, p. 60. Rolf Kailuweit: (Postmodern Nomadism and the Beginnings of a Global Village>, in. Flusser Studies07. Rolf Kailuweit: <<Nomaden> und <Migranten>. RaumtheoretischeAn- merkungen zu einer franko-rioplatensischen Oszillation>, in: Gesine Müller, Susanne Stemmler (Hrsg.): Raum Bewegung - Passage. Postkoloniale frankophone Literaturen, Tübingen, Narr, im Druck. Juan Ennis: Paris als Hauptstadt des kolonialen und postkolonialen Argentinien, im Druck. 459 Rolf Kailuweit Parisals Brückenkopf? - Oszillationendes Tango rioplatense Architektur, Einrichhrngs- Ketten konstituieren,die Differenzen anschlußfühigmachen., Der Begriff der einen die Imitation französischerSprache,6 französischer ' kunst und Mode, zum anderenauch die obligatorischeReise nach Paris,zu der, seit be- Oszillation substituiertdeshalb die Kategorieder Vermittlung.' kannt wird, dasssich dort nicht nur Geld ausgeben,s-ondern mit dem Tango auch ver- poststrukturalistischerPrätexte steht, ist insofern dienenlässt, sowohl die Sprösslingeder Oberschicht'wieauch die Eintänzer,Sänger RustemeyersAnsatz, der im Kontext den Begriffen (Identität) und (ver- und Musiker aus den Vorstädtenaufbrechen.o Paris erscheint,um im Bilde der Noma- von Interesse,als er den Begriff <oszillation> jedoch ob <Oszillation) bei Rustemeyer dologie von Deleuze/Guattariezu bleiben, weniger als eine Trutzburg, welche die mittlung> gegenüberstellt.Es bleibt unscharf, dieser Praxis beschreibt.Beides nomadisierendenrioplatensischen Horden mit dem Tango als Kriegsmaschineberennen, eine kulturelle Praxis oder die theoretischeReflexion jedoch vermischt werden.Im Phänomenbereich,der als vielmehr als ein leicht einzunehmendesTerrain, das in der Folge als Brückenkopf ist denkbar,sollte nicht vorschnell der Objektebeneanwendbar. Wenn fungiert. Ein Brückenkopf, von dem aus der Tango Europa und die Welt erobert, mich hier interessiert,erscheint der Begriff auf die zwischenzwei oder mehrerenZu- welcherjedoch gleichermaßenumgekehrt wirkt, indem er den Tango in kultureller Ver- Oszillationendynamische Systeme beschreiben, Form hin- und herwechseln,dann bildet der schiebungin den Rio-dela-Plata-Raumzurückträgt. Die Brücke, die der Tango schlägt, ständenin mehr oder minder regelmäßiger rioplatensischenund Pariser Momente seine Zu- bricht auch keineswegshinter ihm ab, wie es der Diasporabegriff suggerierenwürde. Tango ein solchesSystem und seine präsenzlogischals kurzes Zeitintervall verstanden, Wenn Diaspora nach Baumannloeine Gruppe von Personencharakterisiert, die sich stände.<Moment> sei dabei nicht (<Bewegung,Grund, Einfluss>). <identifikatorisch auf ein fiktives oder real existierendes, geographisch entfernt sondernetymologisierend als Spurbildung Dynamik begriffen werden, in der rio- liegendes Land bzw. Territorium und dessen kulturell-religiöse Traditionen rück- Tango kann insofern immer nur in einer aufscheinenund als Spurenverbleiben, ohne dass sie bezieht>, so hilft dieser Begriff trotz aller tangoimmanentenNostalgie nicht, die platensischeund PariserMomente gibt, scharf formuliert, weder einen rioplatensischen Dynamik der Tangokulturzu erklären.Diese erscheintvielmehr als Oszillation. Der Be- zu einer Synthesekommen. Es in dem beide Momente dauerhaft ver- griff der Oszillation ist von Dirk Rustemeyerin einer philosophisch-kulturtheoretischen noch einen Pariser Tango, und auch keinen, vermittelt auch nicht zwischeneiner rio- Ausrichtungdefi niert worden: schmelzen.Tango bildet keine Identitäten,er platensischenund einer Pariserkulturellen Praxis, sondem konstituiert diese Praxis in In eigenschaftslosenEreignissen oszillieren zeitliche, soziale, symbolische und einer ungleichgewichtigenräumlichen Konstellation. Als Brückenkopf des Tangos ist kulturelle Sinnbestimmungenmomenthaft zu mehr oder weniger dauerhaften Paris konstitutiv für den Rio-de-la-Plata-Raum,nicht umgekehrt. Um es plakativ zu Strukturbildungen.Oszillationen unterscheidensich von einer Synthesefunk- sagen:Der Rio-de-la-Plata-Raumals Kulturraum ließe sich ohne den Tango gar nicht tion darin, daß sie keine ldentitäten, sondern verweisungsreichesemiotische wahrnehmen,Paris wäre noch Paris, aber ein anderesals das Paris, das sich im Tango spiegelt. Der gespaltene Ursprung - Tango und Grammophon Von der Sprachemanzipationdurch französischeSatz-Perioden und Neologismen der 37er- langenTradition der Skepsishinsichtlich der Determinierbarkeitvon Generation und Abeilles ldioma Nacional de los Argentinos (1900) bis zu den Gallizismen Trotz einer bereits als im Lunfardo der Zuhälter und Prostituierten cf. Juan Ennis: Decir la lengua. Debates Originalität, die Heideggersetymologisierendes Hineinhorchen in den Ur-Sprung ideotögico-lingü{sticosen Argentina desde.18J7,Frankfurt a. M., Lang, 2008. ein sich entziehendesEnt-springen'' fortsetzt, wird der Ursprung des Tangosgemein- Der Musikwissenschaftler Carlos Vega beschreibt in den 30er-Jahren die von der Jahr- hin widerspruchslosim Rio-de-1a-Plata-Raumverortet. Horacio Salas erklärt in der hundertwende bis zur Weltwirtschaftskrise üblichen, monatelangen Parisaufenthalte der jüngsten Neuauflageseines Klassikers El Tango" den Tango zum Synonym für das kaufkraftstarken rioplatensischenOberschicht: Ganze Familien, Hausangestellte,Massen Land, das ihn hervorgebrachthabe (<sinönimo para el pais que Ie dio origen>'",1'Aller- von Gepäck,ja sogar lebendigeRinder flir die eigene Fleischversorgungüberquerten regel- mäßig den Atlantik. In Paris öffnen sich für die rastaquoudresmit ihren prall gefüllten Bör- sen und ihrer nonchalantenEleganz die Türen. Carlos Yega: Estudiospara los origenes del Königshausen tango argentino, Editor Coriün Aharoniän, Buenos Aires, Universidad Cat6lica Argentina, l l Dirk Rustemeyer:Oszillationen. Kultursemiotische Perspektiven,Würzburg, 2007,p.142sq. Cf. Nardo Zalko: Paris Buenos- Aires: un siöcle de Tango,Paris, Fölin, & Neumann,2006,p.292. Nächstedes Fnt- 2004,p.66. 12 <Denn zunächstzeigt sich der Ursprung in seinem Entspringen.Das zwar' Rolf Kailuweit, Stefan Pf?inder: <Der Schritt und die Stimme. Tango zwischen Trans- springensist aber sein Entsprungenes.Der Ursprung hat diesesaus sich entlassen,so Erscheinen kription und Materialisierung>,in: dies., Dirk Vetter (Hrsgg.): Migration und Transkription, daß er sich in diesem Entsprungenenselbst nicht zeigt, sondem hinter seinem Berlin, Berliner Wissenschaftsverlag,im Druck. sich verbirgt und entzieht.> Martin Heidegget: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Gilles Deleuze, Felix Guattari: Capilalisme et schizophrönie 2. Milles Plateaux, Parts, Gesamtausgabe,Bd. 4, 1953,p- 92. Minuit, 1980. 13 HoracioSalas: El tango,Buenos Aires, Emec6,[986] 2004. p.341. t0 Baumann. 2003: op. cit. l4 Ibid.. 460 461 RolfKailuweit Parisals Brückenkopfl - Oszillationendes Tango rioplatense apacheswird auch eine Art Tanz in verbindung dings, so f?ihrt Salasfort, sei er als dessenSpiegel hybrid wie die Argentinier selbst. Rio de la Plata einwirkten. Mit den und gebracht,der eine Auseinandersetzungzwischen einem Zuhälter und seinerProstituier-