Plenarprotokoll 10/216

Deutscher

Stenographischer Bericht

216. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Inhalt:

Wahl des Abg. Dr. Soell zum ordentlichen Beratung der Großen Anfrage der Abge- Mitglied und des Abg. Gerstl (Passau) zum ordneten Dr:Ing. Kansy, Niegel, Dr. Da- Stellvertreter in der Parlamentarischen niels, Dörflinger, Link (Frankfurt), Lins- Versammlung des Europarates 16602 A meier, Magin, Dr. Möller, Pesch, Frau Rönsch (Wiesbaden), Frau Roitzsch (Quick- Nachträgliche Überweisung eines Gesetz- born), Ruf, Zierer und der Fraktion der entwurfs an den Finanzausschuß sowie CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grün- nachträgliche Überweisung von Entschlie- beck, Frau Dr. Segall, Gattermann, Beck- ßungsanträgen an den Haushaltsausschuß 16602 B mann, Dr. Haussmann, Dr. Feldmann, Dr. Graf Lambsdorff und der Fraktion der FDP Erweiterung und Abwicklung der Tages- ordnung 16602 B „Neue Heimat" — Drucksache 10/5326, 10/5452 — Begrüßung der Präsidentin der Abgeord- netenkammer der italienischen Republik, Frau Professor Dr. Leonilde Iotti und einer in Verbindung mit Delegation 16662 C

Aktuelle Stunde betr. Auswirkungen des Beratung des Antrags der Abgeordneten Beschäftigungsförderungsgesetzes auf die Werner (Westerland), Dr. Müller (Bremen) Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, und der Fraktion DIE GRÜNEN insbesondere der Frauen Sanierung der Neuen Heimat Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 16587 B — Drucksache 10/5228 — Frau Verhülsdonk CDU/CSU 16588 C Dr.-Ing. Kansy CDU/CSU 16603 A Frau Zeitler GRÜNE 16589 C Müntefering SPD 16604 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 16590 C Grünbeck FDP 16607 D Lutz SPD 16591 C Werner (Westerland) GRÜNE 16612A Müller (Wadern) CDU/CSU 16592 D Dr. Schneider, Bundesminister BMBau 16614A Schreiner SPD 16593 D Schmitt (Wiesbaden) SPD 16617 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 16594 D Niegel CDU/CSU 16619 D Frau Fuchs (Köln) SPD 16597 A Dr. Zöpel, Minister des Landes Nordrhein- Frau Männle CDU/CSU 16598 A Westfalen 16622A, 16640B, 16643 B Frau Dr. Segall FDP 16598 D Dr. Rosenbauer, Staatssekretär des Frei- Kolb CDU/CSU 16599 D staates Bayern 16627 B Jagoda CDU/CSU 16601A Dr. Müller (Bremen) GRÜNE 16629 B II Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode - 216. Sitzung. , Donnerstag, den 15. Mai 1986

Doss CDU/CSU 16630 C nung, Müller (Wesseling), Dr. Jobst, Weiß, Dr. Sperling SPD 16632 B Schmitz (Baesweiler), Dr. Faltlhauser, Sauer (Stuttgart), Frau Männle, Ganz (St. Ruf CDU/CSU 16635 D Wendel), Austermann, Dr. Schroeder (Frei- Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär BMBau . 16638 A, burg), Ruf und der Fraktion der CDU/CSU 16642 C sowie der Abgeordneten Dr. Rumpf, Schä- fer (Mainz), Dr. Feldmann, Ertl, Frau Sei- ler-Albring und der Fraktion der FDP Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Überwindung von Hunger und Not in eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Afrika Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 10/5488 — 16667 B — Drucksache 10/5025 — Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Erste Beratung des von der Bundesregie- schusses für Bildung und Wissenschaft rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten — Drucksache 10/5410 — Gesetzes zur Änderung des Berufsbil- dungsförderungsgesetzes Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 10/5449 — 16667 D — Drucksache 10/5411 — Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- in Verbindung mit zes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern Beratung der Beschlußempfehlung und des 1986 (Bundesbesoldungs- und -versor- Berichts des Ausschusses für Bildung und gungsanpassungsgesetz 1986) Wissenschaft zu der Unterrichtung durch — Drucksache 10/5450 — 16667 D die Bundesregierung Sechster Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförde- rungsgesetzes zur Überprüfung der Be- Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- darfssätze, Freibeträge sowie Vomhun- - dertsätze und Höchstbeträge nach § 21 zes zu dem Übereinkommen vom 25. Okto- Abs. 2 ber 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland zum Übereinkommen über — Drucksachen 10/4617, 10/5410 — die gerichtliche Zuständigkeit und Voll- Frau Pack CDU/CSU 16657 B streckung gerichtlicher Entscheidungen in Frau Odendahl SPD 16659 A Zivil- und Handelssachen sowie zum Pro- tokoll betreffend die Auslegung dieses Neuhausen FDP 16661 A Übereinkommens durch den Gerichtshof Frau Zeitler GRÜNE 16662 C in der Fassung des Übereinkommens über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Ir- Vogelsang SPD 16663 C lands und des Vereinigten Königreichs Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMBW 16665 A Großbritannien und Nordirland — Drucksache 10/5237 — 16667 D Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Erste Beratung des von der Bundesregie- eines Ersten Gesetzes zur Änderung des rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Postverwaltungsgesetzes zes über die Feststellung des Wirtschafts- — Drucksache 10/4491 — plans des ERP-Sondervermögens für das Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Jahr 1987 (ERP-Wirtschaftsplangesetz schusses für das Post- und Fernmeldewe- 1987) sen — Drucksache 10/5406 — 16668A — Drucksache 10/5414 — 16667 A Beratung der Beschlußempfehlung des Beratung des Antrags der Abgeordneten Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Hedrich, Feilcke, Graf von Waldburg-Zeil, tung durch die Bundesregierung Dr. Pinger, Repnik, Frau Fischer, Höffkes, Überplanmäßige Ausgabe im Haushalts- Dr. Hüsch, Dr. Kunz (Weiden), Dr. Kronen- jahr 1986 bei Kap. 30 05 Tit. 683 26 — För- berg, Dr. Pohlmeier, Schreiber, Borchert, derung von Forschungs- und Entwick- Herkenrath, Sauter (Epfendorf), von Ham- lungsvorhaben der Kernbrennstoffversor- merstein, Dr. Hornhues, Eigen, Dr. Hoffak- gung (einschließlich Urananreicherung) — ker, Sauer (Salzgitter), Schwarz, Dr. Olde- rog, Jagoda, Engelsberger, Kalisch, Frau — Drucksachen 10/4686, 10/5076 — Roitzsch (Quickborn), Jung (Lörrach), Hor Dr. Müller (Bremen) GRÜNE 16668 B Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 III

Beratung der Unterrichtung durch den Lange GRÜNE 16681 D Wehrbeauftragten Jahresbericht 1985 Genscher, Bundesminister AA 16684 B — Drucksache 10/5132 — 16669 A Voigt (Frankfurt) SPD 16687 C Berger (Lahnstein) CDU/CSU 16689 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Dr. Scheer SPD 16690 B Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Beratung der Großen Anfrage der Abge- Bericht über die Frage, welche Verhand- ordneten Frau Borgmann, Frau Eid, Vogel lungen mit ausländischen Staaten geführt (München) und der Fraktion DIE GRÜ- worden sind, um die Gegenseitigkeit bei NEN der Kostenübernahme für Dolmetscher Finanzierung der Apartheid in Südafrika und Übersetzer in der Arbeitsgerichtsbar- und Namibia durch bundesdeutsche Ban- keit sicherzustellen ken — Drucksachen 10/966, 10/4986 — . . . 16669 B — Drucksachen 10/3309, 10/5297 — Frau Eid GRÜNE 16692 C Beratung der Sammelübersicht 146 des Pe- titionsausschusses über Anträge zu Peti- Dr. Hornhues CDU/CSU 16694 B tionen Verheugen SPD 16695 D — Drucksache 10/5385 — 16669 B Dr. Solms FDP 16697 D Dr. Voss, Parl. Staatssekretär BMF . . 16699 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu Frau Eid GRÜNE (Erklärung nach § 30 dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU GO) 16700 B und FDP Vollständige Abschaffung der chemischen Beratung des Berichts des Innenausschus- Waffen ses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsord- nung zu dem von der Fraktion DIE GRÜ- — Drucksachen 10/2027, 10/4201 — NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die sofortige Stillegung von Atom- in Verbindung mit anlagen in der Bundesrepublik Deutsch- land (Atomsperrgesetz) Beratung des Antrags der Fraktion der — Drucksachen 10/1913, 10/5459 — SPD Schulte (Menden) GRÜNE 16700 C Keine Modernisierung der chemischen Dr. Laufs CDU/CSU 16702 C Kampfstoffe der NATO Reuter SPD 16705 B — Drucksache 10/5378 — Dr. Hirsch FDP 16708 B in Verbindung mit Dr. Wernitz SPD (Erklärung nach § 30 GO) 16711 A Beratung des Antrags der Abgeordneten Vizepräsident Westphal 16711C, 16702C, 16705A Frau Borgmann, Lange, Dr. Schierholz und der Fraktion DIE GRÜNEN Zweite und dritte Beratung des vom Bun- Zustimmungsverweigerung zu neuen che- desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- mischen Waffen setzes zur Verhinderung des Mißbrauchs — Drucksache 10/5461 — von Sendeanlagen — Drucksache 10/1618 — in Verbindung mit Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- schusses für das Post- und Fernmelde- Beratung des Antrags der Fraktionen der wesen CDU/CSU und FDP — Drucksache 10/5453 — 16711 D Chemische Waffen — Drucksache 10/5464 — Beratung der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN Lamers CDU/CSU 16669 D Ausbau der fernmeldetechnischen Infra- Bahr SPD 16672 C struktur (I) Ronneburger FDP 16676 A (Bestandsaufnahme und Digitalisierung) Dr. Wörner, Bundesminister BMVg . . 16678 B — Drucksachen 10/3334, 10/5144 — IV Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

in Verbindung mit zes zur Ergänzung von Regelungen über den Versorgungsausgleich Beratung der Großen Anfrage der Fraktion — Drucksache 10/5484 — DIE GRÜNEN Engelhard, Bundesminister BMJ . . . 16728 B Ausbau der fernmeldetechnischen Infra- Stiegler SPD 16729A struktur (II) (Schmal- und breitbandige Fernmelde- Buschbom CDU/CSU 16730 A netze und Endgerätemarkt) Mann GRÜNE 16730 D — Drucksachen 10/3335, 10/5145 — Beckmann FDP 16731 C

in Verbindung mit Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Beratung der Großen Anfrage der Fraktion zes zur Änderung des Geschmacksmuster- DIE GRÜNEN gesetzes Ausbau der fernmeldetechnischen Infra- — Drucksache 10/5346 — struktur (III) Engelhard, Bundesminister BMJ . . . 16732 D (Gesellschaftliche Auswirkungen) Stiegler SPD 16733 C — Drucksachen 10/3336, 10/5146 — Saurin CDU/CSU 16734 B Frau Dann GRÜNE 16712C Mann GRÜNE 16735A Pfeffermann CDU/CSU 16714A Beckmann FDP 16735 D Paterna SPD 16716A

Kohn FDP 16718A Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten BMP 16719C Gesetzes zur Änderung des Filmförde- rungsgesetzes Zweite und dritte Beratung des von der — Drucksache 10/5448 — - Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die fünfzehnte Anpas- sung der Leistungen nach dem Bundesver- Fragestunde sorgungsgesetz (Fünfzehntes Anpassungs- — Drucksache 10/5456 vom 9. Mai 1986 — gesetz-KOV) — Drucksache 10/5209 — Geplante Steuersenkungsvolumen in der Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- 11. Wahlperiode und 1992 schusses für Arbeit und Sozialordnung MdlAnfr 78 09.05.86 Drs 10/5456 — Drucksache 10/5493 — Poß SPD Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Antw PStSekr Dr. Voss BMF 16644 C § 96 der Geschäftsordnung ZusFr Poß SPD 16644 D — Drucksache 10/5494 — ZusFr Dr. Apel SPD 16645 B Pöppl CDU/CSU 16721 D ZusFr Dr. Spöri SPD 16645 B Kirschner SPD 16723 A ZusFr Dr. Kübler SPD 16645 C Cronenberg (Arnsberg) FDP 16723 D ZusFr Huonker SPD 16645 D Bueb GRÜNE 16724 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 16725 D Absenkung der Steuerquote im Rahmen der geplanten Steuerreform in der Erste Beratung des von der Bundesregie- 11. Wahlperiode rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- MdlAnfr 79 09.05.86 Drs 10/5456 zes über weitere Maßnahmen auf dem Ge- Poß SPD biet des Versorgungsausgleichs Antw PStSekr Dr. Voss BMF 16646 A — Drucksache 10/5447 — ZusFr Poß SPD 16646 B ZusFr Dr. Apel SPD 16646 D in Verbindung mit ZusFr Dr. Spöri SPD 16647 A Erste Beratung des von der Fraktion der ZusFr Lennartz SPD 16647 B SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset ZusFr Frau Matthäus-Maier SPD . . . 16647 B Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 V

ZusFr Immer (Altenkirchen) SPD . . . 16647 D tagsarbeit bei der geplanten Steuerre- ZusFr Huonker SPD 16648 B form ZusFr Dr. Kübler SPD 16648 C MdlAnfr 87 09.05.86 Drs 10/5456 Lennartz SPD ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 16648 D Antw PStSekr Dr. Voss BMF 16653 C ZusFr Lennartz SPD 16653 D Senkung des Körperschaftsteuersatzes ZusFr Poß SPD 16654 B MdlAnfr 83 09.05.86 Drs 10/5456 Frau Matthäus-Maier SPD ZusFr Dr. Spöri SPD 16654 B Antw PStSekr Dr. Voss BMF 16649 A ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 16654 C ZusFr Frau Matthäus-Maier SPD . . . 16649 A ZusFr Jäger (Wangen) CDU/CSU . . . 16654 D ZusFr Huonker SPD 16649 C ZusFr Huonker SPD 16655A ZusFr Dr. Spöri SPD 16649 D Sicherung der Arbeitsplätze bei der Kieler ZusFr Dr. Apel SPD 16650 A Werft HDW; Verschlechterung der Situa- tion ZusFr Jäger (Wangen) CDU/CSU . . . 16650 B durch eine ausstehende Zahlung Pe- rus aus einem Waffengeschäft ZusFr Poß SPD 16650 C MdlAnfr 90, 91 09.05.86 Drs 10/5456 ZusFr Dr. Kübler SPD 16650 D Gansel SPD ZusFr Dr. Klejdzinski SPD 16651A Antw PStSekr Dr. Voss BMF 16655 B ZusFr Gansel SPD 16655 C Splittingvorteil für Verheiratete bei der ZusFr Stutzer CDU/CSU 16655 D Linearisierung der Progressionszone ZusFr Poß SPD 16656A MdlAnfr 84 09.05.86 Drs 10/5456 Frau Matthäus-Maier SPD Vizepräsident Westphal 16647 A Antw PStSekr Dr. Voss BMF 16651 B Nächste Sitzung 16736 D ZusFr Frau Matthäus-Maier SPD . . . 16651 B ZusFr Dr. Apel SPD 16651 D ZusFr Huonker SPD 16652A ZusFr Dr. Spöri SPD 16652 B Anlage 1 ZusFr Dr. Kübler SPD 16652 C ZusFr Oostergetelo SPD 16652 D Liste der entschuldigten Abgeordneten 16737*A

Senkung des Körperschaftsteuersatzes MdlAnfr 86 09.05.86 Drs 10/5456 Lennartz SPD Anlage 2 Antw.PStSekr Dr. Voss BMF 16653A Zu Protokoll gegebene Reden zu Punkt 16 ZusFr Lennartz SPD 16653 A der Tagesordnung ZusFr Huonker SPD 16653 B (Entwurf eines Gesetzes zur Verhinderung des Mißbrauchs von Sendeanlagen Aufrechterhaltung der Steuerfreiheit der (Linsmeier [CDU/CSU], Bernrath [SPD], Zuschläge für Nacht-, Sonn- und Feier- Kohn [FDP], Rusche [GRÜNE]) . . . . 16737* B

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216. Sitzung

Bonn, den 15. Mai 1986

Beginn: 8.00 Uhr

Präsident Dr. Jenninger: Die Sitzung ist eröffnet. die Betroffenen, als arbeitslos zu sein. Ähnliche Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD Töne hört man heute auch noch aus dem Regie- hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäfts- rungslager. ordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Aus- (Kolb [CDU/CSU]: Sie wissen leider nicht, wirkungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes was Arbeit ist!) auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, ins- besondere der Frauen" verlangt. Heute, ein Jahr nach dem Beschäftigungsförde- rungsgesetz, Herr Kolb, wird jedem klar, wie sehr Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: der Arbeitsminister auch hier wieder mit dem Ver- trauen der Arbeitnehmer Schindluder getrieben Aktuelle Stunde hat Auswirkungen des Beschäftigungsförde- (Beifall bei der SPD) rungsgesetzes auf die Arbeitsbedingungen - der Arbeitnehmer, insbesondere der Frauen und daß er auch in dieser Frage die Menschen an Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Ab- der Nase herumführte. Das zeigen auch, aber nicht geordnete Frau Däubler-Gmelin. nur die Zahlen der Untersuchungen der Gewerk- schaft Textil-Bekleidung. Das Beschäftigungsförde- Frau Dr. Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident! rungsgesetz hat eben nicht mehr Arbeitsplätze ge- Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten schaffen. Es bewirkt vielmehr, daß für normale Ar- haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil es beitsplätze, die, aus welchem Grund auch immer, hohe Zeit ist, hier im Parlament auch darüber zu neu besetzt werden müssen, jetzt Frauen und Män- sprechen, was das Beschäftigungsförderungsgesetz ner verstärkt eingestellt werden, die häufiger befri- wirklich gebracht hat, das die Bundesregierung und stete Arbeitsverträge ohne Sicherheit und ohne Sie von den Regierungsfraktionen vor einem Jahr Kündigungsschutz bekommen. Es bewirkt, daß das gegen uns Sozialdemokraten durchgesetzt haben. Leiharbeitsunwesen ins Kraut geschossen ist, und Es ist ja so, daß weder die Öffentlichkeit noch wir es bewirkt, daß besonders Frauen und junge Men- heute noch auf Sprüche der Regierung oder auf schen, also Gruppen, denen Sie sonntags auch Vermutungen angewiesen sind. Die Nachrichten, heute noch Ihre besondere Fürsorge versprechen, die wir aus den Betrieben, aus den Arbeitsverwal- belastet werden, weil ihnen einseitig diese belasten- tungen und aus den Gewerkschaften bekommen, den Formen aufgelastet werden. sind nicht gut. Das Beschäftigungsförderungsgesetz Meine Damen und Herren, das ist arbeitnehmer- wirkt sich, wie befürchtet, zu Lasten der arbeiten- feindlich, und es zeigt darüber hinaus, wie falsch den Menschen, besonders belastend für immer Ihre Auffassung ist, man könne mit dem Abbau von mehr berufstätige Frauen und junge Menschen, Arbeitnehmerrechten Arbeitslosigkeit bekämpfen aus, die nach der Ausbildung ins Berufsleben ein- oder gar überwinden. treten. (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das war beab (Beifall bei der SPD) sichtigt!) Das geht nicht. Lassen Sie mich fragen: Was hat Was haben Sie, Herr Blüm, doch im letzten Jahr eigentlich die arbeitslose junge Frau davon, daß den Mund voll genommen! Das Beschäftigungsför- ihre Schwester nur befristet oder rechtlich schlech- derungsgesetz, so haben Sie versprochen, werde zu ter abgesichert eingestellt wird? Was haben die vie- mehr Einstellungen führen. Dann, als Sie die ge- len jungen Arbeitslosen davon? Denen geht es kei- setzlich gewollte Verschlechterung der Arbeitsbe- nen Deut besser, wenn ihre Altersgenossen immer dingungen für Arbeitnehmer nicht mehr leugnen häufiger unter schlechteren Bedingungen einge- konnten, haben Sie zynisch hinzugefügt: Ein befri- stellt werden, wenn weniger Kündigungsschutz stetes Arbeitsverhältnis oder eines mit schlechte- Wohlverhalten erzwingen soll und wenn Arbeits- ren Arbeitsbedingungen sei immer noch besser für platzsicherheit zum Fremdwort wird. 16588 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Frau Dr. Däubler-Gmelin Das Beschäftigungsförderungsgesetz — das wird Frau Dr. Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident, ich heute noch klarer als vor einem Jahr — muß aufge- bin sowieso gerade fertig. hoben werden. Interessant ist aber auch, wie die Danke schön. Bundesregierung mit Berichten und Zahlen über Auswirkungen ihrer Gesetze umgeht. Klar, wenn (Beifall bei der SPD) die Berichte ins Konzept passen, werden sie hoch- Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat die Abge- gejubelt, und wenn nicht, werden sie einfach be- ordnete Frau Verhülsdonk. stritten, abgewertet oder negiert. Das ist schade, und zwar deshalb, weil sich die Bundesregierung Frau Verhülsdonk (CDU/CSU): Herr Präsident! nicht nur einer Möglichkeit zur schnellen Korrek- Meine Damen und Herren! Frau Däubler-Gmelin, tur falscher Gesetze begibt, sondern durch ein sol- es ist ein starkes Stück, wenn Sie jetzt das Beschäf- ches Vorgehen auch noch ein zweites Mal auf den tigungsförderungsgesetz für die Arbeitslosigkeit Betroffenen herumtrampelt. insbesondere von Frauen verantwortlich machen (Beifall bei der SPD) wollen, Meine Damen und Herren, zwar sehe ich Frau (Dr. Vogel [SPD]: Sie sind verantwortlich!) Ministerin Süssmuth heute nicht im Saal, aber ich ein Gesetz, das noch nicht fünf Monate in Kraft glaube, es sollte ein Vorfall zur Sprache gebracht ist, werden, der besonders ihr Vorgehen in den Vorder- (Widerspruch bei der SPD) grund rückt. Frau Ministerin Süssmuth hat im Ok- — Entschuldigung, das aber jedenfalls nicht lange tober des vergangenen Jahres als auch für Frauen- genug in Kraft ist, als daß man in der ganzen Ent- fragen zuständige Bundesministerin auf dem Frau- wicklung schon absehen könnte, welche Auswir- enkongreß der Gewerkschaft Textil-Bekleidung un- kungen es auf Dauer haben wird. Die Wahrheit ist ter viel berechtigtem Beifall und auf eindrucksvoll doch, daß Sie nicht in der Lage waren, die Arbeitslo- sympathische Weise darüber geredet, sie wolle gute sigkeit von Frauen bekämpfen; diese ist unter den Zusammenarbeit und stehe zu den Dingen, die sie SPD-Kanzlern ständig gestiegen, und zwar überpro- verspreche. Weil sie die Klagen vieler Frauen über portional im Verhältnis zu den der Männer. die Gesetze dieser Bundesregierung hörte, hat sie ausgeführt, sie werde sie prüfen und werde dann, (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) wenn sich Frauenfeindlichkeit herausstelle, eine Ihr politisches Unvermögen in der Bekämpfung der schnelle Änderung anregen. Arbeitslosigkeit wollen Sie jetzt verschleiern, in- Die Frauen haben sie beim Wort genommen, ha- dem Sie gegen ein Gesetz zu Felde ziehen, das in ben Briefe geschrieben und Zahlen vorgelegt. Und seinen Anlagen gerade dazu geeignet ist, Frauen in was ist passiert? Hat Frau Ministerin Süssmuth das ihrer jeweiligen spezifischen Situation zu helfen, aufgegriffen und prüfen lassen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!) und davon will ich hier reden. Ich glaube, daß es auf dieses Gesetz und auf an- Nein, während noch die Druckerpresse mit den dere Einflüsse zurückzuführen ist, daß z. B. im Mo- Meldungen über die Zahlen und Untersuchungen nat März zum erstenmal die lief, hat sie einen Brief an den Kollegen Blüm als Arbeitslosigkeit von Frauen zurückgegangen den für das Beschäftigungsförderungsgesetz und ist, obwohl, wie wir alle j a wissen, ständig zusätzlich Frauen auf den Arbeits- seine Auswirkungen zuständigen Bundesminister markt drängen. veröffentlicht, in dem nichts von Prüfung oder von Untersuchung oder gar von Änderungsvorschlägen Meine Damen und Herren, ihre Argumente ste- steht; vielmehr steht darin die Beteuerung, sie habe hen auf tönernen Füßen. Sie beziehen sich auf die den Anstoß zu dieser Untersuchung nicht gegeben, Untersuchung der Gewerkschaft Textil-Bekleidung und wollen dann geltend machen, daß diese Unter- (Zurufe von der SPD: Hört! Hört! — Aha!) suchung, die ich für wenig aussagekräftig halte, das und im übrigen sage diese Untersuchung, die sie — beweist, was Sie eben vorgetragen haben. Dort wie sie selbst feststellt — noch gar nicht im Detail steht — ich zitiere —, die „überproportionale Be- kenne, nichts aus. troffenheit von Frauen" sei jetzt für den Bereich Frau Ministerin Süssmuth, auch wenn Sie heute Textil und Bekleidung festgestellt. Die Wirklichkeit nicht da sind, sage ich Ihnen: Diese Haltung muß ist doch aber die, daß gerade in diesen beiden Be- rufssparten Textilindustrie und Bekleidungsindu- die Frauen draußen im Lande enttäuschen. Lassen strie überproportional viele Frauen beschäftigt Sie sich sagen: Wer Fraueninteressen vertreten will sind, nämlich zum einen 52 % und zum anderen und wer zu seinen Ankündigungen stehen will, der sogar 81 %. — oder die — muß auch dann Konflikte aufnehmen und sie durchstehen, wenn er — oder sie — weiß, Ich spreche einmal einen Teilbereich des Be- daß das unbequem ist; sonst verliert man an Glaub- schäftigungsförderungsgesetzes an: Wir haben die würdigkeit. Teilzeitarbeit aufgewertet und sozial besser abgesi- chert. Damit haben wir das getan, was viele Frauen (Beifall bei der SPD) wünschen: daß sie nicht ganztägig erwerbstätig sein müssen, sondern auch halbtags arbeiten kön- nen, denn sie stehen doch vor dem Problem, wie sie Präsident Dr. Jenninger: Frau Abgeordnete, Ihre ihre unterschiedlichen Pflichten in Familie und Be- Redezeit ist abgelaufen. ruf miteinander vereinbaren können, und Frauen Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16589 Frau Verhülsdonk sind es, die schon lange fordern, daß sie größere Präsident Dr. Jenninger: Frau Abgeordnete, darf Freiheit in der Arbeitszeitgestaltung erhalten. Wir ich Sie bitten, zum Schluß zu kommen. Ihre Rede- haben mit diesem Gesetz die Möglichkeit eröffnet, zeit ist abgelaufen. daß sich in den nächsten Jahren mehr und qualifi- (Zuruf des Abg. Dr. Vogel [SPD]) ziertere Teilzeitarbeit anbietet. Wir haben Ihnen also eine gangbare Brücke gebaut. Aber es ist ja bekannt, daß Sie an einer solchen Brücke nicht Frau Verhülsdonk (CDU/CSU): Ich will nur noch interessiert sind. Sie können sich den Menschen eine Konsequenz ziehen. Wir gehen den Weg, Herr nur so vorstellen, daß er während seines ganzen Vogel, daß wir den Menschen Freiheit und Eigen- Lebens ganztags beschäftigt sein muß. verantwortung zutrauen. Wir trauen auch den Von diesen Rezepten aus der Mottenkiste wollen Frauen zu, daß sie ihre Belange selbst regeln kön- die Frauen schon lange nichts mehr wissen. Lang- nen. Das ist ein guter Weg. sam dämmert das auch ihnen, wie man in letzter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zeit erkennen konnte. Die Frauen erwarten von uns Zurufe von der SPD) jetzt, daß wir für ihre Probleme mehr Offenheit, mehr Phantasie zeigen Präsident Dr. Jenninger: Meine Damen und Her- (Kirschner [SPD]: Jetzt, vor der Wahl!) ren, lassen Sie mich einmal grundsätzlich anmer- und daß wir auch unkonventionelle Wege gehen. ken: Ich bitte sehr darum, daß die Rednerinnen und Diese sind wir mit diesem Gesetz gegangen. Meine Redner die vorgesehene Redezeit einhalten. Es ist Kollegen werden das ja noch an anderen Punkten dem amtierenden Präsidenten immer unangenehm, darlegen. wenn er darauf hinweisen muß. Das möchte ich ganz grundsätzlich sagen. Immerhin muß man doch sehen, daß der Teilzeit- Das Wort hat die Abgeordnete Frau Zeitler. arbeitsmarkt in unserem Lande ungewöhnlich un- terentwickelt ist. In Norwegen sind es 18, 3 %, in Schweden 24,3 %, bei uns nur 10 %. Da mußte end- Frau Zeitler (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Da- lich etwas geschehen. Daß Sie das all die Jahre über men und Herren! Frau Verhülsdonk, man hätte nicht getan haben, Frau Däubler, und zwar aus meinen können, Sie reden vom Arbeitszeitverord- ideologischen Gründen, war ein schlechter Dienst nungsgesetz der GRÜNEN und nicht vom Beschäf- an den Frauen, vor allen Dingen an den Frauen, die tigungsförderungsgesetz. - nach einer Familienphase wieder langsam in die Arbeitswelt eingeliedert werden wollen. Meine Damen und Herren, in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung" vom 29. April 1986 steht, Sicherlich ist nicht mit letzter Sicherheit auszu- daß Arbeitgeberpräsident Esser ein Jahr nach Ver- schließen, daß es Arbeitgeber gibt, die dieses Gesetz abschiedung des Beschäftigungsförderungsgesetzes nicht richtig anwenden oder sogar mißbrauchen. darauf hingewiesen hat, daß die Schwarzmalerei Ich spreche hier von dem Bereich der geringfügigen der Bonner Oppositionsparteien und der Gewerk- Arbeitsverhältnisse. Aber weil es schwarze Schafe schaften durch die positiven Wirkungen dieses Ge- unter den Arbeitgebern gibt, kann man doch nicht setzes eindeutig widerlegt seien. die ganze Sache schlechtmachen, das ganze Gesetz (Kolb [CDU/CSU]: So ist es!) schlechtmachen. Die Lehre kann doch nur sein, daß wir weiter aufklären müssen, und zwar Arbeitgeber Er hat recht. Das Gesetz hat nämlich genau die und Arbeitnehmer, daß wir beiden klarmachen Wirkungen erzielt, die von Unternehmerseite und müssen, welche Chancen die Flexibilisierung, die auch von der Regierung bezweckt wurden. Es ging dieses Gesetz auf dem Arbeitsmarkt gebracht hat, nie um Beschäftigungseffekte. Es ging Ihnen im- auf Sicht für beide Seiten bringen wird. mer um die weitere Ausbeutbarkeit und Verfügbar- machung der abhängig Beschäftigten im Interesse Das Beschäftigungsförderungsgesetz schafft die der Unternehmen zur Sicherung der Wettbewerbs- beste Möglichkeit, die Arbeitszeit mehr an die Men- fähigkeit. schen anzupassen, und zwar für Männer und Frau- en, für junge Eltern und vor allem auch für ältere (Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Un Arbeitnehmer, die einen gemächlicheren Übergang sinn! — Kolb [CDU/CSU]: Sie müssen eine in das Alter haben wollen. Deswegen haben wir neue Platte auflegen!) dafür gesorgt, daß für die Zukunft mehr Wahlmög- Die Segnungen dieses Gesetzes haben die Unter- lichkeiten, mehr Freiheit eröffnet worden sind. nehmen weidlich für ihre Belange ausgenutzt. Die Selbstverständlich bedeutet das auch für beide Sei- Untersuchung der Gewerkschaft Textil-Bekleidung ten, für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, mehr Ei- hat dies ausführlich nachgewiesen. Seit dem 1. Mai genverantwortung. 1985 sind hochgerechnet 10 000 befristete Arbeits- verträge abgeschlossen worden. 67,4 % davon wur- Aber ich weiß natürlich: Solche Gedankengänge den von Frauen besetzt. Dies sind nach der Unter- sind Ihnen fremd. Sie wollen den Menschen an die suchung jedoch keine neuen, zusätzlichen Erwerbs- Arbeitszeit anpassen und nicht umgekehrt, wie wir es uns vorstellen. arbeitsplätze. Es handelt sich um Neubesetzungen infolge der gewöhnlichen Fluktuationen und der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Freimachung von Erwerbsarbeitsplätzen durch die Zuruf von der SPD: Das ist der blanke Inanspruchnahme von Vorruhestand. Diese Ar- Hohn! -- Weitere Zurufe von der SPD) beitsplätze waren vorher Dauererwerbsarbeits- 16590 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Frau Zeitler plätte und wurden jetzt umgewandelt in befristete ring und Kapovaz und radikale Arbeitszeitverkür- Arbeitsplätze von sechs bis achtzehn Monaten. zung. (Kolb [CDU/CSU]: Dann gilt der Vorruhe (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) stand nicht! Sie müssen das Gesetz lesen!)

— Hätten Sie zugehört, dann wüßten Sie, wovon ich Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat der Abge- rede. — Über 50 % dieser Arbeitsverträge sind auf ordnete Graf Lambsdorff. nur sechs Monate begrenzt, und die meisten davon nehmen Frauen ein. Die Untersuchung macht also (Kuhlwein [SPD]: Ist denn heute kein Pro ganz klar: Vor allem die Frauen sind Opfer dieses zeß?) Gesetzes. Frauen, die eventuell Mutterschutz in An- spruch nehmen, waren für die Unternehmer ja im- mer ein Störfaktor. Durch die ungeschützten Be- Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Präsident! Meine schäftigungsverhältnisse gehen die Risiken dieser sehr verehrten Damen und Herren! Über Jahre hin- Störung ausschließlich zu Lasten der Arbeitneh- weg haben alle Fraktionen des Hauses ein dichtes merin. Der Mutterschutz existiert durch das Gesetz Regelwerk für das Arbeits- und Arbeitsvertrags- faktisch nicht mehr. Auch das von der Regierung so recht entwickelt. Jetzt stehen wir vor dem Ergebnis, hoch angepriesene Elternurlaubs- und Erziehungs- daß sich diese zahllosen Regeln zum Teil gegen die geldgesetz wird in Verbindung mit befristeten Ar- wenden, die sie schützen sollen. Sie haben dem Ar- beitsverträgen zur Farce. beitsmarkt die notwendige Flexibilität genommen. Sie haben dazu geführt, die Mauer zwischen Ar- (Kolb [CDU/CSU]: Seit 1. 1. 1986 in Kraft!) beitslosen und denen, die Arbeit haben, zu erhöhen. — Hören Sie zu! — Nicht nur, daß durch dieses Und sie haben dazu geführt, die Arbeitslosigkeit zu Gesetz die Arbeitsplatzgarantie nicht gewährleistet zementieren. Wo alles reglementiert ist, bewegt sich wird, sie kann aus finanziellen Gründen gar nicht eben nichts mehr. erst in Anspruch genommen werden. Ich möchte Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz haben nicht wissen, wie Untersuchungen in anderen Wirt- wir eine erste Auflockerung der verkrusteten Ar- schaftszweigen ausfallen würden. beitsmarktstrukturen erreicht. Ich stimme den Da- men und Herren der Opposition zu: Das Gesetz ist Diese Regelungen des Beschäftigungsförderungs- unzulänglich. Aber hier hören unsere Gemeinsam- gesetzes bewirken, daß die weibliche Arbeitskraft keiten auch schon auf. für den Unternehmer neutral wird. Frau zu sein ist - nun kein Hindernis mehr. Im Gegenteil, solange bei (Zustimmung bei der SPD) Frauen immer mitgedacht wird, daß ihnen die Al- Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist unzuläng- ternativrolle Hausmutter offensteht, was in den lich, weil es die Beweglichkeit des Arbeitsmarktes meisten Fällen ja weder der Realität noch den Wün- noch nicht in ausreichendem Maße garantiert. Es schen der Frauen entspricht, können sie, ohne mo- ist aber jedenfalls ein erster Schritt in die richtige ralische Entrüstung bei den übrigen Arbeitneh- Richtung. Sie sprechen von Sozialabbau und Frau- mern und den Gewerkschaften hervorzurufen, als enfeindlichkeit. Wir sagen: Befristete Arbeit ist bes- Manövriermasse auf dem Arbeitsmarkt hin- und ser als unbefristete Arbeitslosigkeit. Auf die Frage hergeschoben werden. Das heißt, sie können nach von Frau Däubler-Gmelin, was die arbeitslose Frau Belieben eingestellt oder entlassen werden. Durch davon habe, wenn ihre Schwester einen befristeten das Beschäftigungsförderungsgesetz werden Arbeitsvertrag bekommt, antworte ich: Sonst wären Frauen verstärkt in befristeten Teilzeitarbeitsver- sie beide arbeitslos! hältnissen beschäftigt, in denen 'sie keine Rechte mehr haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) (Kolb [CDU/CSU]: Wie bitte?) Meine Damen und Herren, das Beschäftigungs- Die Verträge sind gering oder gar nicht abgesichert, förderungsgesetz baut eine Brücke zwischen Ar- die Beschäftigung ist meistens monoton und wenig beitslosigkeit und Arbeit. Es erleichtert den Ar- qualifiziert. beitslosen den Wiedereinstieg in das Arbeitsleben. Viele Unternehmen haben die Möglichkeiten des (Zuruf von der CDU/CSU: Das liegt am Ge befristeten Arbeitsvertrages genutzt, anstatt in setz, was?) Überstunden auszuweichen — das war ja eines der Hauptziele —, Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz wurde er- reicht, daß die Frauen zu Tagelöhnern in unserer (Beifall bei der FDP) ach so modernen Gesellschaft wurden. und das, obwohl die Gewerkschaften systematisch (Kolb [CDU/CSU]: Wenn Sie wüßten, wo versuchen, solche Arbeitsverträge zu boykottieren. von Sie reden! Das ist das Problem! Lieber Sie argumentieren damit, daß über das Beschäfti- Gott, keine Ahnung!) gungsförderungsgesetz ein Rotationssystem in Gang käme: alle 18 Monate ein neuer Mann oder Weil wir uns für die Frauen einsetzen, sind unsere eine neue Frau am alten Platz. Meine Damen und Forderungen ganz klar: keine befristeten Arbeits- Herren, niemand glaubt doch wohl im Ernst, daß verhältnisse, Absicherung von Teilzeitarbeit ab der sich ein Unternehmer so unwirtschaftlich und so ersten Erwerbsarbeitsstunde, Verbot von Jobsha irrational verhalten wird, daß er. einen Arbeitneh- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16591

Dr. Graf Lambsdorff mer, den er kennt, der zuverlässig ist und mit dem Auch auf dem Arbeitsmarkt muß dem Markt wie- er zufrieden ist, entläßt der mehr Geltung verschafft werden. (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Zu La (Kolb [CDU/CSU]: So ist es!) sten der Frauen! Sehr richtig! So ein Zynis und einen anderen einstellt, der lange und teure mus!) Einarbeitungszeiten und Anlernzeiten bedeutet. Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist ein erster Diese Argumentation ist absurd. und richtiger Schritt, die festgefahrenen Strukturen zu lockern. Wir werden auch weiterhin die Gesetz- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gebung im Bereich des Arbeitsmarktes durchfor- sten. Unser Ziel ist es nämlich, die Funktionsfähig- Nun soll das Beschäftigungsförderungsgesetz — keit des Arbeitsmarktes wiederherzustellen, damit wir haben es gehört — auch noch frauenfeindlich alle Arbeitswilligen eine gleiche, ein echte Chance sein. Frau Verhülsdonk hat vollständig recht. Der für Arbeit haben. Abschluß von Teilzeitarbeitsverträgen, von Verträ- gen über Arbeit auf Abruf und Jobsharing sind Danke sehr. durch das Beschäftigungsförderungsgesetz über- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haupt erst arbeitnehmerfreundlich und auch frau- enfreundlich und frauengerecht ausgestaltet wor- Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat der Abge- den. ordnete Lutz. (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Lambs (Kolb [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Spe dorff, der Frauenfreund!) zialist! — Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Und das am Vormittag!) Aber hier liegt eine der Hauptschwierigkeiten bei Ihnen und auch bei den Gewerkschaften, Frau Lutz (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Däubler-Gmelin, nämlich der Mangel an Einsicht in Herren! Das war gräflicher, das war menschenver- eine sich täglich wandelnde Arbeitswelt. achtender Zynismus, (Dr. Vogel [SPD]: Davon verstehen die Ge (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau werkschaften nichts!) Zeitler [GRÜNE]) was wir soeben hörten. Das war eine Ideologie, die Den Einheitsarbeitnehmer wird es immer weniger den Menschen der Produktion unterwirft und nicht geben. Je kürzer die Arbeitszeit, die Sie fordern, um - die Produktion dem Menschen. so mehr andere Arbeitszeiten, um so vielfältigere Arbeitsverträge, um so immer differenzierter den- (Beifall bei der SPD) kende und handelnde Arbeitnehmer wird es geben. Graf Lambsdorff, wenn ich wüßte, daß ethische Überlegungen Ihr Handeln mitbestimmen, würde (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Eigenartig, daß ich Sie auffordern: Geben Sie den arbeitenden wir Arbeitslose haben!) Menschen ihre Würde zurück, die Sie ihnen mit Gerade die Frauen, die Beruf, Haushalt und Mutter- dem Beschäftigungsförderungsgesetz genommen pflichten miteinander verbinden wollen, werden der haben. Ich würde Sie beschwören: Sorgen Sie da- Motor dieser Entwicklung sein. Ich entnehme übri- für, gens einer Äußerung von Johannes Rau auf dem (Kolb [CDU/CSU]: Er redet von Dingen, die Hamburger SPD-Kongreß, er nicht kennt!) daß wieder der aufrechte Gang das Fortkommen im (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Daß er mit Ih Betrieb fördert .und nicht Kriechertum und Duck- nen übereinstimmt!) mäuserei, wie es seit 1985 wieder „in" ist. daß er wenigstens ahnt, was not tut, wofür er natür- (Günther [CDU/CSU]: Beim „Vorwärts"!) lich wütenden Protest des IG-Metall-Vorstandsmit- Ja, ,ich würde mich nicht scheuen, Sie zu bitten: glieds Janßen geerntet hat. Gestehen Sie einen Fehler ein, und formulieren Sie mit uns gemeinsam gesetzliche Standards, die den — (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Menschen und seine wirtschaftliche Existenz nicht Dr. Vogel [SPD]: Rührend!) länger vom Augenbrauenzucken eines Vorgesetzten Meine Damen und Herren, die Inflexibilität des abhängig machen. Arbeitsmarktes ist ein Hauptproblem bei der Be- (Beifall bei der SPD — Cronenberg [Arns kämpfung der Arbeitslosigkeit. Im Abbau von berg] [FDP]: Ich empfehle Ihnen, in die Be Überregulierung allgemein liegt bei uns ein unge- triebe zu gehen!) nutztes Wachstumspotential. Noch so hohe Wachs- — Wissen Sie, bei uns zu Hause brüllen nur die tumsraten können und werden nicht ausreichen, Ochsen, und das klingt schöner. um alleine den entscheidenden Schritt beim Abbau der Arbeitslosigkeit zu tun. Dazu sind zusätzliche (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Kolb Anstrengungen erforderlich. Auch Arbeitgeber und [CDU/CSU]: Davon sind Sie heute ausge Gewerkschaften müssen endlich begreifen, daß sie nommen!) die Daten auf dem Arbeitsmarkt setzen und dafür Aber leider kann man an ein Gewissen nur appel- auch verantwortlich zeichnen müssen. lieren, wenn es vorhanden ist. Deshalb bleibt mir 16592 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Lutz nichts anderes übrig, als an die Seite Ihres Wesens muß vom Kostenfaktor zum mitverantwortlichen zu rühren, an der Sie noch ansprechbar sind. Be- Partner werden, denken Sie bitte, daß sich gedemütigte Arbeitneh- (Kolb [CDU/CSU]: Das müssen Sie mal ei mer mit dem Stimmzettel wehren werden. ner Bank erzählen!) (Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!) und das kann er nur, wenn er nicht unter dem Fall- Kein Vorgesetzter kann sie da beaufsichtigen. beil des bereits vorbestimmten Kündigungstermins Keine Betriebsleitung kann ihnen eine Abmachung steht. Der Mensch braucht Betriebsräte, die ihm in die Wahlkabine schicken. beistehen können, wenn er sein Recht fordert, und er braucht starke Betriebsräte, die auch die Mög- (Frau Fuchs [Köln) [SPD]: Sehr gut!) lichkeit besitzen, ihm beizustehen. Nehmen Sie Ihr Gesetz zurück, oder die von Ihnen (Kolb [CDU/CSU]: Siehe Arbed, AEG!) Bedrängten werden sich bei der Bundestagswahl — Herr Kolb, der Mensch hat ein Recht auf ein mit einem Rundumschlag Luft verschaffen, und sie Arbeitsumfeld, das seine Gesundheit schützt und werden den ersten Befreiungsschlag in Niedersach- seine Kräfte nicht überfordert. Das aber hat er sen landen. nicht, wenn man ihn zu beliebiger Zeit in die Be- (Beifall bei der SPD) triebe scheuchen darf und zu beliebiger Zeit nach Hause komplimentieren kann. Graf Lambsdorff, kein einziger Arbeitsplatz, der nicht schon zur Besetzung anstand, ist durch das Diese Willkür werden wir beseitigen. Wir brau- sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz neu chen eine andere Politik und andere Politiker. geschaffen worden. (Kolb [CDU/CSU]: Und andere Unterneh mer!) (Zuruf von der CDU/CSU: Können Sie das beweisen?) Sie sind nicht einmal in der Lage, das Unheil, das Sie mit Ihrem Beschäftigungsförderungsgesetz an- Aber aus Hunderttausenden sicherer Arbeitsplätze gerichtet haben, zu korrigieren. Meine Damen und wurden Jobs auf Zeit; Herren, wie gut, daß Ihr Arbeitsvertrag mit dem (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) Bürger im Januar 1987 der Mutterschutz und der Schwerbehinderten- (Kolb [CDU/CSU]: Erneuert wird!) schutz entfielen. Der Mensch und seine Arbeits- abläuft. kraft sind zum Kostenfaktor degradiert, beliebig (Beifall bei der SPD) - abrufbar und immer dann in die Arbeitslosigkeit „abgelagert", wenn es sich nicht mehr rechnet. Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat der Abge- (Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Es ordnete Müller (Wadern). ist ein Horrorgemälde, was Sie da malen!) Ist das ein Menschenbild, das man verantworten kann? Ist das die Gesellschaft, die die Schöpfer des Müller (Wadern) (CDU/CSU): Herr Präsident! Grundgesetzes wollten? Gewerkschafter Blüm, ha- Meine Damen und Herren! Der Kollege Lutz ben dafür Millionen von Kolleginnen und Kollegen kommt hierhin und hält eine Rede mit hohlem gekämpft und gelitten? Die Röte, die Sie immer so Pathos unmittelbar nach dem Hamburger SPD- schnell anfliegt, ist keine der Scham, und das macht Wirtschaftskongreß, wo ja über Arbeitslosigkeit ge- mich betroffen. sprochen worden ist. Dieser Vorgang ist schon be- merkenswert, denn die Strategie wird deutlich: Im (Beifall bei der SPD) Wahlkampfjahr wird die klassenkämpferische Dieses Gesetz muß weg. Wir werden nach dem Kampagne, die versucht, unsere erfolgreiche Regie- Machtwechsel 1987 ein Heidenstück Arbeit beson- rungsarbeit mit Norbert Blüm zu verunglimpfen, ders auf dem Feld zu leisten haben, auf dem Sie am fortgesetzt. erfolgreichsten waren. (Roth [SPD]: Hören Sie doch auf!) (Kolb [CDU/CSU]: Der liebe Gott wird es Eine Verunglimpfung auf seiten der SPD ist not- verhindern!) wendig — dieser Zwischenruf von Herrn Roth war ja sicherlich angebracht —, weil in Hamburg keine — Übrigens, Herr Kolb, der liebe Gott hat Mitleid Rezepte angeboten wurden. mit den Menschen, und Sie haben das nicht. (Kolb [CDU/CSU]: Farthmann war da!) (Kolb [CDU/CSU]: Deshalb wird er Sie hin Und so schreiben auch die Kommentatoren gro- dern, an die Macht zu kommen!) ßer deutscher Zeitungen über diesen Kongreß: Wir werden die Rechte des Arbeitnehmers nicht Die SPD hat kein Wirtschaftsprogramm. Nach länger abbauen, wie Sie dies taten; wir werden sie dem Stand der innerparteilichen Diskussion ihm wieder zurückgeben, werden es die Sozialdemokraten nicht leicht (Beifall bei der SPD) haben, ihren Kompetenzanspruch für die Wirt- schaftspolitik zu begründen. denn der einzelne hat Anspruch auf den Schutz des Gesetzgebers. Er braucht die Hilfe des Staates, um So die „Frankfurter Allgemeine". im Betrieb, im Büro Mensch bleiben zu können. Er (Zurufe von der SPD) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16593

Müller (Wadern) Auf diesem Kongreß ist, so berichten die Beob- wie Sie gesagt haben. Und entgegen den Erfahrun- achter, auch noch ein weiterer bemerkenswerter gen in früheren Aufschwungphasen ist es diesmal Vorgang zu registrieren. nicht zu einem gravierenden Anstieg von Überstun- den und Sonderschichten gekommen. (von der Wiesche [SPD]: Wann kommt er denn zum Thema?) (Lachen bei den GRÜNEN) Das Vorstandsmitglied der IG Metall Janßen erhielt Der befristete Arbeitsvertrag stellt sehr oft eine für seine demagogische Rede, die aber auch gar Tür zu einem Dauerarbeitsverhältnis dar, wobei nichts zum Thema beigetragen hat, den meisten man jetzt noch keine endgültigen und verläßlichen Beifall; so berichten die Beobachter. Zahlen vorlegen kann, da ja diese Zeitverträge an- derthalb Jahre zum Teil ausgestaltet sind und das Die Debatte, die wir jetzt führen, ist nichts ande- Gesetz erst ein Jahr in Kraft ist. res als der Versuch, von dieser Inkompetenz abzu- Die Entwicklung des Arbeitsmarktes in kochent- lenken, und der Versuch, die Kampagne um den wickelten Volkswirtschaften, wie der unsrigen, voll- § 116 Arbeitsförderungsgesetz fortzusetzen. Als zieht sich doch hauptsächlich im Dienstleistungs- Ausgangspunkt der Diskussion, die wir jetzt zu füh- Zusätzliche Arbeitsplätze entstehen im ren haben, wird eine neuere Untersuchung der Ge- bereich. Handel, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in den herangezogen; in fast werkschaft Textil-Bekleidung Banken, bei Versicherungen, im Gesundheitswesen, jedem Beitrag von Ihrer Seite ist ja darauf abgeho- in der Rechts- und der Wirtschaftsberatung usw. In ben worden. Es handelt sich um eine Untersuchung, all diesen Branchen wird durch das Beschäfti- die Sie, verehrte Kollegen von der SPD, von einem gungsförderungsgesetz die Hemmschwelle für „Märchen der Beschäftigungsförderung" und von Zehntausende von neuen Arbeitsverträgen herab- einem „Trojanischen Pferd für die Profitinteressen gesetzt. Genau das war und genau das ist beabsich- der Unternehmen" sprechen läßt. tigt. (Zurufe von der SPD) Meine Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit Meine verehrten Damen und Herren Kolleginnen ist zwar das größte Problem der heutigen Wirt- und Kollegen von der SPD, Sie machen es sich da schaftspolitik. Patentlösungen hat niemand anzu- wesentlich zu leicht. Wenn man sich nämlich mit bieten. Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist ein dieser Untersuchung etwas beschäftigt, kommt Segen für Tausende geworden, die bisher vor der man zu dem Schluß: Hier wird versucht, durch eine Tür gestanden haben. angeblich objektivierende Umfrage Schlüsse zu zie- (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Zeitler hen, etwa: die Stammbelegschaft in den Betrieben [GRÜNE]: Sie sind ja auf beiden Augen- wurde durch dieses Gesetz ausgezehrt — oder: für blind!) alle Frauen wurden nur noch befristete Arbeitsver- hältnisse angeboten. Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat der Herr (Zurufe von der SPD — Frau Zeitler [GRÜ . Abgeordnete Schreiner. NE]: Das stimmt!) (Kolb [CDU/CSU]: Jetzt kommt das tolle Diese Umfrage ist aber nur eine einzige Stichprobe Beschäftigungsprogramm von Arbed!) und kann damit nicht den Anspruch auf Wissen- schaftlichkeit erheben. Ein einziges Beispiel mag Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- dies belegen, und ich knüpfe an das an, was Frau nen und Kollegen! Die Koalition hat das Beschäfti- Kollegin Verhülsdonk schon gesagt hat. gungsförderungsgesetz im Frühjahr vergangenen Da spricht man von dem überproportionalen Be- Jahres hier mit der Begründung verabschiedet, ein troffensein der Frauen, verschweigt aber, daß im zeitlich befristetes Arbeitsverhältnis sei besser als Textil- und Bekleidungsbereich dieses Ergebnis ja gar keine Arbeit — Originalton Blüm. Diese Be- geradezu schlüssig herauskommen muß, weil in die- gründung hatten Sie damals schon nicht ernstge- sen Wirtschaftszweigen überproportional Frauen nommen. Die Sozialdemokraten hatten mit großem beschäftigt sind. Nachdruck vor der Entwicklung gewarnt. Die ge- genwärtige Bundesregierung hat die Massenar- (Lachen bei der SPD) beitslosigkeit nie ernsthaft bekämpft. Gegen die So einfach ist das mit der Statistik. Verkürzung der Wochenarbeitszeit hatten Sie in völlig einseitiger Parteinahme für die Arbeitgeber- (Lutz [SPD]: Eine herrliche Logik!) seite schärfstens polemisiert; ohne die von der IG Wer sucht, der findet, ist man geneigt zu sagen. Nur, Metall 1984 erstrittenen Tarifverträge hätten wir seriös ist das nicht. heute an die hunderttausend Arbeitslose mehr. (Kolb [CDU/CSU]: Die sind nie seriös!) Die gewaltigen sozialen Umverteilungen nach 1982 zu Lasten der kleineren Einkommen haben Was waren denn vor einem Jahr, und was sind nach Schätzungen des Sozialpolitischen Seminars denn heute noch die Argumente für dieses Gesetz? der Universität Köln bis heute zu einem Verlust von Zum einen das Senken der Einstellungshürde, zum etwa 400 000 Arbeitsplätzen geführt. anderen der Wegfall des Rechtfertigungszwangs im alten Gesetz. Und so sind auch unsere Erwartungen (Lachen bei der CDU/CSU — Kolb [CDU/ im positiven Sinne mehr als erfüllt worden. So ist es CSU]: Eine ganz neue Mathematik!) nicht zu einer massenhaften Umwandlung von Dau- Auch dies war voraussehbar. Weniger Einkommen erarbeitsplätzen in Zeitarbeitsverträge gekommen, ist weniger Kaufkraft und damit weniger Nach- 16594 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Schreiner 1 frage nach Produkten. Sie haben die Massenar- nicht in den Schoß gefallen; sie haben dafür viele beitslosigkeit schamlos mißbraucht, um die Schä- Jahre und Jahrzehnte streiten müssen. Das nor- bigkeit Ihrer Motive bei der Verabschiedung des male Arbeitsverhältnis als Dauerarbeitsverhältnis Beschäftigungsförderungsgesetzes zu verdecken war gerade auch ein großes Ziel der christlichen und den Sozialstaat um so hemmungsloser zu plün- Arbeitnehmerschaft. dern. (Beifall bei der SPD) (Sehr wahr! bei der SPD — Kolb [CDU/ Diese Voraussetzungen zerstören Sie, und das ist CSU]: Im Plündern wart ihr immer Welt der entscheidende strategische Punkt. Sie zerstören meister!) die Voraussetzungen des normalen Dauerarbeits- Das Beschäftigungsförderungsgesetz hat nach verhältnisses, und Sie zerstören damit nicht nur den bisher vorliegenden Untersuchungen viele eine sichere Lebensplanung der Arbeitnehmer- Zehntausende von Dauerarbeitsplätzen vernichtet schaft, sondern Sie zerstören die Voraussetzung für und sozial ungeschützte Beschäftigungsverhält- die Sozialsicherungssysteme, die auf Dauerarbeits- nisse in schnellem Tempo vermehrt. Um Beispiele plätzen aufbauen. zu nennen: Die Zahl der Leiharbeitsplätze und der (Beifall bei der SPD) Umsatz der Menschenverleiher in der Bundesrepu- blik sind sprunghaft gestiegen. Bereits im Herbst Der Kern ist: Die Stammbelegschaften werden 1985 lag die Anzahl der Leiharbeitsplätze um mehr immer kleiner, der Satellitenkranz von ungeschütz- als die Hälfte höher als ein Jahr zuvor. Die Schutz- ten Beschäftigungsverhältnissen wird immer grö- funktion des Arbeits- und Sozialrechts geht weitge- ßer. hend verloren, weil dieses Recht im Verhältnis zwi- (Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Dafür gibt schen Entleihbetrieben und Leiharbeitnehmern nur es überhaupt keine Beweise!) ausnahmsweise gilt. Wenn man es ein wenig überhöht formulieren mag: Ähnliche Verschlechterungen gelten für die Ein- Das normale Dauerarbeitsverhältnis war gewisser- kommen. In einem Wochenmagazin findet sich ein maßen der historische Kompromiß zwischen den klassisches Beispiel für viele: Eine Firma kündigt unterschiedlichen Interessen der verschiedenen ihrem Pförtner, der findet einen neuen Job — beim Schichten und Klassen unserer Gesellschaft. Das Arbeitnehmerverleiher; der verleiht ihn, wiederum Dauerarbeitsverhältnis war die tragfähige Grund- als Pförtner, an die frühere Firma. Einzig der Stun- lage für einen sozialen Konsens, der in diesem denlohn des Pförtners liegt jetzt 2 DM unter dem Land über viele Jahrzehnte gehalten hat. alten Satz; der Verleiher will ja auch verdienen. - (Kolb [CDU/CSU]: Wie bei Arbed gehabt!) Als weitere Alternative das Beispiel der Arbeit Sie, Herr Bundesarbeitsminister, zerstören die auf Abruf, die sogenannten Kapovaz-Verträge, die Grundlagen dieses sozialen Konsenses, Sie zerstö- von Ihnen legalisiert wurden und deren Zahl insbe- ren die Fundamente des historischen Kompromis- sondere im Handelsbereich massiv angestiegen ist. ses im Arbeitsbereich, Sie zerstören die Fundierun- Es handelt sich um Arbeitnehmer, besonders Frau- gen einer gesicherten Arbeits- und Lebensperspek- en, die im voraus weder wissen, wann noch wie tive der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Da- lange sie arbeiten. mit ist es nicht Lambsdorff und nicht Bangemann, Diese Entwicklung zeigt: Ihre Gesetzgebung Sie sind es, der sich zum obersten Klassenkämpfer greift voll in den Kern der Voraussetzungen unse- dieser Republik aufgeschwungen hat, rer Erwerbsgesellschaft ein. Ziel — dies ist der ent- (Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Der scheidende Punkt — ist die sukzessive Aushöhlung oberste Klassenkämpfer steht am Redner des normalen Dauerarbeitsverhältnisses. pult! — Kolb [CDU/CSU]: Und Sie sind der (Zustimmung der SPD) größte Kassenplünderer!) Das bisherige geschichtlich gewachsene normale weil Sie drauf und dran sind, mit dem Beschäfti- Arbeitsverhältnis war für die Beschäftigten deshalb gungsförderungsgesetz wie mit vielen anderen Ge- von großem, ja geradezu von fundamentalem Wert, setzen die sozialen Grundlagen dieser Republik in einem Maße zu verschieben, daß der Sozialstaat auf (Kolb [CDU/CSU]: Ihr Staatskassenplünde dem besten Wege ist, vor die Hunde zu gehen. rer an der Saar! Ober 2 Milliarden DM!) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — weil der Dauerarbeitsvertrag ein stabiles, auf Dauer Kolb [CDU/CSU]: Das Konzept hat Ihnen angelegtes Beschäftigungsverhältnis und damit der Herr Janßen geschrieben!) eine langfristige Arbeitsperspektive ermöglicht und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine einigermaßen gesicherte Lebensplanung möglich macht. Präsident Dr. Jenninger: Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das (Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Wort. Reden Sie doch mal über die Verhältnisse bei Arbed, Sie Spezialist! 2 Milliarden DM aus der Staatskasse geplündert!) Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozial- Diese Dauerarbeitsverhältnisse als bisherige Nor ordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Her- malarbeitsverhältnisse sind den Arbeitnehmern ren! 1981, 1982 also in den letzten zwei Jahren der Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16595

Bundesminister Dr. Blüm Regierung Schmidt, gingen in der Bundesrepublik Immer mit Zahlen! Das ist immer gut. Adam Riese 820 000 Arbeitsplätze verloren. als Verbündeten zu haben, ist gegenüber der SPD immer gut. (Günther [CDU/CSU]: Eine traurige Bi lanz!) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU 1985 wurden 200 000 Arbeitsplätze neu geschaffen, und der FDP — Kolb [CDU/CSU]: Bloß, den 1986 werden es mindestens 300 000 sein. Also: kennen die nicht mehr! — Günther [CDU/ 820 000 verloren, 500 000 gewonnen. Jetzt kommen CSU]: Mengenlehregeschädigt!) die Vertreter des Arbeitsplatzverlustes und machen Berufliche Qualifikation: 1982: 137 000 Frauen ha- uns, den Vertretern des Arbeitsplatzgewinnes, Vor- ben an Maßnahmen der beruflichen Umschulung würfe. und Fortbildung teilgenommen. Heute sind es (Beifall bei der CDU/CSU) 52 000 mehr. Das ist so ähnlich, als wenn eine Abbruchfirma der Noch ein paar Fragen. Vielleicht beantwortet die Baufirma Vorwürfe macht, daß sie Häuser baut. Sie SPD sie in der noch zur Verfügung stehenden Zeit. können uns vorwerfen, daß wir nicht so schnell Teilzeitarbeit gegen Benachteiligung arbeitsrecht- bauen können, wie Sie abgebrochen haben. Das lich abzusichern, ist das für oder gegen die Frauen. stimmt. Aber das entspricht auch den Erfahrungen Warum haben Sie die Teilzeitarbeit nicht abgesi- eines Maurers. Sie brauchen nur einen Bulldozer, chert? Weil Sie ein Vorurteil gegen Teilzeitarbeit um ein Haus einzureißen, und Sie brauchen Stein haben, für Stein, um es wieder aufzubauen. Das ist wahr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) weil Sie sich immer wie die Oberlehrer der Gesell- — Schreiben Sie mit, Frau Fuchs — weil Sie sich schaft benehmen. Jede vierte arbeitslose Frau sucht gerade Notizen gemacht haben. eine Teilzeitarbeit. Sie bestimmen doch nicht über (Zuruf der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD]) die Wünsche der Frauen. Die Frauen bestimmen doch selber. Sie haben den Wunsch nach Teilzeitar- Sie haben in zwei Jahren 800 000 Arbeitsplätze ver- beit, und wir sind es gewesen, die die Teilzeitarbeit loren, und wir werden in zwei Jahren 500 000 Ar- arbeitsrechtlich abgesichert haben. beitsplätze neu schaffen. (Zuruf von der SPD: Ihr wirtschaftspoliti Herr Schreiner, Sie scheinen das Gesetz- nicht ge- sches Tempo ist atemberaubend!) lesen zu haben. Freilich, die Frage ist, warum dieser Arbeitsplatz- (Zurufe von der SPD — Kolb [CDU/CSU]: gewinn sich nicht unmittelbar in der gleichen Können die lesen?) Stärke in der Arbeitslosenstatistik niederschlägt. Das werden sich auch viele Bürger fragen. — Doch! Ich will es ja gerade begründen. Dieser Kapovaz — das ist ja auch so ein Wort, typisch aus (Zuruf des Abg. Kolb [CDU/CSU]) der Arbeiterklasse entstanden, aus dem Soziologen- deutsch; diese ganze Sprache, Herr Schreiner, ist ja Das liegt unter anderem daran, daß derzeit infolge nun wirklich in den Werkstätten geboren —, der geburtenstarken Jahrgänge mehr junge Leute auf den Arbeitsmarkt kommen, als ältere ausschei- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP den. Es kommt hinzu, daß mehr Frauen als je zuvor -- Kolb [CDU/CSU]: In welchen?) wieder Arbeit nachfragen. Deshalb erste Behauptung — Frau Däubler, im- also dieser variablen Arbeitszeit haben wir die Gift- mer mit Tatsachen —: 59 % des Arbeitsplatzge- zähne gezogen. Wir haben sie doch nicht geschaf- winns sind Arbeitsplätze für Frauen. Die Frauen fen. Nichts machen heißt doch nicht, daß es die haben überproportional am Beschäftigungszu- nicht gibt. Wir haben ihr die Giftzähne gezogen, indem wir Ankündigungsmindestfristen eingeführt wachs partizipiert. haben und dadurch Arbeitnehmer davor bewahren, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daß sie am Telefon sitzen müssen und einfach abge- rufen werden können. Mit Mindestankündigungs- Ich sage das nicht mit einem Erfolgsgefühl. Hier fristen, Mindestarbeitszeiten und damit auch Min- handelt es sich ja um eine Aufholjagd. Hier handelt destverdienst haben wir die variable Arbeitszeit so- es sich ja darum, daß Benachteiligte ihre Benach- zial verträglicher gemacht. teiligung aufholen müssen. Ich will noch ein paar Zahlen nennen, immer Wir haben das Jobsharing verbessert, auch eine Zahlen — ich beherrsche nicht die Phraseologie, die moderne Form der Arbeitsplatzteilung. Wir haben heute morgen hier vorgetragen wurde. 1982 waren sie davor bewahrt, daß dieses Jobsharing wie si- 654 000 Lehrlinge Mädchen. Drei Jahre später sind amesische Zwillinge organisiert ist: Wenn die eine es 744 000 weibliche Lehrlinge. Was ist mehr: geht, muß auch die andere gehen. Ist das Fort- 654 000 oder 744 000? schritt, oder ist das nicht Fortschritt? In Ihrer Ein- fallslosigkeit können Sie sich natürlich keine neuen (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der Arbeitsverhältnisse vorstellen, weil Sie immer nach FDP) dem Motto arbeiten: Was nicht im Kochbuch der 16596 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Bundesminister Dr. Blüm Großmutter stand, darf auch morgen nicht gekocht im Arbeitsrecht bei der IG Metall noch in Erinne- werden. So einfallslos sind Sie. rung haben! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — und der FDP — Kolb [CDU/CSU]: Was die Kolb [CDU/CSU]: Die haben nichts in Erin IG Metall nicht erlaubt!) nerung!) Beantworten Sie alle diese Fragen noch in der De- Und noch etwas zum befristeten Arbeitsvertrag, batte! jenseits aller Phrasen — Herr Schreiner, wirklich, Wir haben die Rückkehr der Frauen, wenn sie ich bin mir wie in einer Rhetorikschule für Ideolo- aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und spä- gen vorgekommen —: ter in das Erwerbsleben zurückkehren wollen, er- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) leichtert. Wir haben die Rahmenfristen der Förde- rung erweitert. Die Rahmenfristen sind länger. Sie Der OECD-Bericht, an dem Fachleute aus vielen haben auch in späterer Zeit noch Anspruch auf Nationen mitgearbeitet haben, lobt ausdrücklich Maßnahmen der Eingliederung. Wir haben die Qua- unser Beschäftigungsförderungsgesetz. Es ist dies lifizierungsmaßnahmen nach dem AFG gerade für ein Gremium, der u. a. der Vorsitzende der US-Auto- Frauen mit neuen Angeboten versehen: Teilzeitar- mobilgewerkschaft, Fraser, und der ehemalige Ge- beit mit Teilbildung. Wir haben Qualifizierungsan- neralsekretär der irischen Gewerkschaft öffentli- sprüche, die es bei Ihnen nicht gegeben hat, neu cher Dienst, O'Sullivan, angehören. Und wenn Sie geschaffen. schon mir nicht glauben, dann glauben Sie viel- Und nun zum befristeten Arbeitsvertrag. Zum leicht Ihren Genossen in Spanien. Der spanische tausendsten Mal wiederhole ich: Lieber befristet Ministerpräsident Arbeit als unbefristet arbeitslos. Ich stelle mir den (Kolb [CDU/CSU]: Felipe Gonzalez!) befristeten Arbeitsvertrag auch als Brücke in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis vor. hat am 9. Oktober 1984 — damit Sie auch den Zeit- punkt haben — im spanischen Fernsehen erklärt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Und deshalb: Ich kann die Streitschrift der IG Tex- Es ist für einen Jugendlichen besser, wenn man til auch geradezu als eine Schrift mit Komplimen- ihm eine Beschäftigungsmöglichkeit von einem ten lesen. In ihr steht nämlich, daß 75 % der so Ein- oder zwei Jahren anbietet, als wenn er keine gestellten mit der Erwartung — auch des Arbeitge- Beschäftigungsmöglichkeiten hat oder, wie im bers — eingestellt werden, daß sie in unbefristete 19. Jahrhundert, ohne soziale Sicherheit- in der Arbeitsverträge überführt werden, daß drei Viertel Illegalität arbeiten muß. dieser befristeten Arbeitsverträge schon zu Beginn Wenn Sie schon einem Christdemokraten nicht mit der Aussicht auf ein unbefristetes Arbeitsver- glauben, dann glauben Sie den Sozialisten in Spa- hältnis eingegangen werden. nien! Die sind etwas weiter als Sie. Glauben Sie den Meine Damen und Herren, daß in der Textilindu- Sozialisten in Frankreich! Die haben nämlich, als strie mehr Frauen von diesem Angebot Gebrauch sie an der Regierung waren, nicht auf 18 Monate, machen, liegt auch daran, daß in der Textilindustrie sondern sogar auf 24 Monate befristete Arbeitsver- mehr Frauen beschäftigt sind, daß das Einstellungs- träge angeboten. Wenn Sie schon solche Reden ge- verhalten natürlich auch dem Beschäftigtenverhal- gen Blüm halten, dann halten Sie gegen Ihre Ge- ten entspricht. 52 % der Beschäftigten in der Textil- nossen in Paris und Madrid die gleichen Reden! industrie sind Frauen, in der Bekleidungsindustrie (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sind es sogar 81 %. und der FDP — Kolb [CDU/CSU]: Da wer Nebenbei: Die Bundesanstalt für Arbeit sagt, daß den Sie nicht zugelassen!) die Inanspruchnahme von befristeten Arbeitsver- Was die Leiharbeit anlangt: Ich bin mit aller trägen bei Männern und Frauen ungefähr gleich ist. Kraft gegen jene illegalen Menschenhändler. Wir Im übrigen: Die Untersuchung der IG Textil zeigt, sind es gewesen, die die Strafen verschärft haben. daß 55 % der so befristeten Arbeitsverträge mit ei- ner Laufzeit von weniger als sechs Monaten abge- (Kolb [CDU/CSU]: Und die Kontrollen!) schlossen wurden. Das gab es bisher auch schon, das hat mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz Aber gegen solide Leiharbeit, die Arbeitsplatzwech- sel mit solidem arbeitsrechtlichen Schutz verbindet, gar nichts zu tun. habe ich nichts. Auch das ist ein neues Angebot, das Und, Frau Fuchs: Vielleicht stellen Sie Ihre Gru- auch Wünschen von Arbeitnehmern, auch jüngeren, selmärchen ein und hören auf, zu erzählen, unbefri- entspricht, nämlich den Arbeitsplatz wechseln zu stete Arbeitsverhältnisse würden jetzt in befristete können und dennoch ein gesichertes, gleichbleiben- überführt werden. des Arbeitsverhältnis zu haben. (Kühbacher [SPD]: Natürlich!) Meine Damen und Herren, mein Beitrag ist: Wir Oder Sie lesen noch einmal nach — etwa Arbeits- wollen die Arbeitnehmer schützen. Das bleibt die rechtsschulung der IG Metall Sprockhövel —, daß Aufgabe jeder sozialen Politik. Aber mancher es Kündigungsschutz gibt, daß man einen unbefri- Schutz kann sich auch als Sperre für diejenigen steten Arbeitsvertrag nicht einfach in einen befri- erweisen, die draußen sind. Deshalb: Eine soziale steten überführen kann, daß Kettenarbeitsverträge Politik muß nicht nur an die denken, die Arbeit verboten sind. Sie werden doch den Anfängerkurs haben, sondern muß auch dafür sorgen, daß die, die Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode - 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16597

Bundesminister Dr. Blüm keine Arbeit haben, wieder in Arbeit kommen. Dem die Arbeitnehmerrechte abzubauen. Sie bilden sich dient das Beschäftigungsförderungsgesetz. ein, die Leute würden das nicht merken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Kolb [CDU/CSU]: Von Arbed hat er nichts gesagt!) Wir sagen es den Frauen, und wir sagen den Frauen Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat die Abge- auch, was Frau Verhülsdonk hier heute gesagt hat, ordnete Frau Fuchs. die so tut, als ob damit die Chancen für die Frauen (Kolb [CDU/CSU]: Jetzt kommt's!) auch nur etwas verbessert worden wären. (Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie ja selbst nicht!) Frau Fuchs (Köln) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich komme einmal Frau Süssmuth sagt, Vereinbarkeit von Beruf zum Thema zurück. und Familie sei wichtig. Dem stimmen wir ja zu. Frauen wollen und müssen arbeiten. Die meisten (Günther [CDU/CSU]: Das ist ein schlech Frauen arbeiten übrigens, weil sie Geld verdienen ter Einstieg! — Weitere Zurufe von der müssen. Sie erwarten von dieser Gesellschaft einen CDU/CSU) stabilen Arbeitsplatz, damit auch sie eine Chance Das Thema sind nämlich das Beschäftigungsförde- haben, auf Erwerbsarbeit eine Lebensplanung auf- rungsgesetz und seine Auswirkung auf die Arbeit- zubauen. nehmer, insbesondere auf die Frauen. Der Bundes- Wenn wir Vereinbarkeit von Beruf und Familie arbeitsminister kann ja rudern, wie er will, es bleibt wollen und wenn wir mehr Teilzeitarbeit wollen, dabei: 1982 hatten wir 500 000 Erwerbspersonen meine Damen und Herren von der CDU, dann wird mehr als heute nach all den Bemühungen, die Sie es Zeit, Frau Verhülsdonk, daß wir endlich an die uns hier vorzuweisen haben. Also, stellen Sie erst Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung einmal den Beschäftigtenstand wieder her, den wir herangehen. Dies wäre der Einstieg in vernünftige, Ihnen überlassen haben, sozial abgesicherte Teilzeitarbeitsverhältnisse. (Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Gott (Beifall bei der SPD) bewahre uns davor!) Der Punkt ist doch: Sie wollen es ja so, Sie wollen dann können Sie von Erfolgen reden. — Graf Lambsdorff hat es deutlich gemacht — Ar- beitnehmerrechte abbauen, Sie wollen Stammbe- (Beifall bei der SPD — Günther [CDU/ - CSU]: Das darf doch wohl nicht wahr sein, legschaften reduzieren, eine solche Argumentation! — Weitere Zu (Lutz [SPD]: So ist es! Sehr wahr!) rufe von der CDU/CSU) Sie wollen die übrigen Arbeitsverhältnisse so ge- Der Bundesarbeitsminister hat, als das Gesetz stalten, daß man vagabundierend von ihnen auch verabschiedet worden ist, gesagt, dieses Gesetz schnell wieder befreit werden kann. solle Arbeitslosigkeit abbauen und dabei helfen, (Lutz [SPD]: Auch das ist richtig!) daß auch Frauen eine Möglichkeit haben, einen Ar- beitsplatz zu bekommen. Der Schutz geht doch vor die Hunde. Wenn jemand schwerbehindert ist, kann er sich nicht auf die Ge- Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Dieses setze berufen, weil sein Arbeitsvertrag nach der Be- Gesetz hat keinen zusätzlichen Arbeitsplatz ge- fristung ausläuft. schaffen. Es hat im Grunde nur dazu beigetragen, unbefristete Dauerarbeitsverträge in befristete Ar- (Lutz [SPD]: Sehr wahr!) beitsverträge umzuwandeln. Wenn der junge Mann zur Bundeswehr oder zum (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Zivildienst muß, kann er sich nicht auf das Arbeits- platzschutzgesetz berufen, denn sein Arbeitsver- Und wenn Sie mit Ihren großen Erfolgen so strun- hältnis ist befristet und läuft dann aus. Und wenn zen, dann sage ich noch einmal: Auch in diesem die junge Frau innerhalb dieser Befristung ein guten Konjunkturmonat April ist die Arbeitslosig- Kind erwartet, dann ist der Mutterschutz für sie keit nur um 74 000 geringer als im Vorjahr. Von die- nicht maßgebend, denn ihr Arbeitsverhältnis ist be- sen 74 000 sind '34 000 nur deswegen nicht mehr fristet und läuft dann aus. Das ist doch das Ziel arbeitslos, weil sie über die 58er Regelung aus der Ihrer ganzen Planung. Sie wollen Rechte abbauen, Statistik verschwunden sind. Also tun Sie etwas ge- und Sie haben damit in einer unerträglichen Weise gen Massenarbeitslosigkeit, und reden Sie nicht in die Arbeitnehmerrechte eingeschnitten. Sie ha- nur immer darüber! ben keinen zusätzlichen Arbeitsvertrag gebracht. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) (Müller [Wadern] [CDU/CSU]: Wieso denn Graf Lambsdorff, Sie werden es mir nicht übel- das nicht? Das ist doch gar nicht wahr!) nehmen — nun ist er schon weg —, wenn ich Ihnen Herr Blüm hat uns gesagt, sage, daß ich anderer Meinung bin als Sie. Jahr- zehntelang waren in unserer Wirtschaft sozialer (Zurufe von der CDU/CSU) Konsens, stabile Arbeitsverhältnisse und eine — Sie hören leider nicht zu —, wenn das Gesetz starke Tarifautonomie ein Produktivitätsfaktor. keine zusätzlichen Arbeitsplätze bringt, nimmt er Mein Kollege Schreiner hat zu Recht darauf hinge- es zurück. Ich fordere ihn heute noch einmal mit wiesen, daß Sie mit Ihren Gesetzen darauf abzielen, Nachdruck auf, dieses Gesetz zurückzunehmen; 16598 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Frau Fuchs (Köln) denn es hat keinen zusätzlichen Arbeitsplatz ge- Rückkehr zur Versöhnung zwischen Familie und bracht. Arbeitswelt beitragen. Für viele Frauen wird von (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) daher der Konflikt zwischen Kinderwunsch und Er- werbstätigkeit entschärft, weil eben echte Hilfen zur Wiedereingliederung gegeben werden. Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat die Abge- ordnete Frau Männle. Die CDU/CSU-Fraktion wird fortfahren, sich die- ses Problems anzunehmen. Sie hat es bereits getan mit der am 1. Januar 1986 in Kraft getretenen sieb- Frau Männle (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine ten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz. Hier ha- Damen und Herren! Die SPD hat diese Aktuelle ben wir, wie schon ausgeführt worden ist, die Finan- Stunde beantragt und wollte nach den Auswirkun- zierung von Teilzeitfortbildungsmaßnahmen, Teil- gen des Beschäftigungsförderungsgesetzes insbe- zeitumschulungsmaßnahmen festgelegt, die wie- sondere auf Frauen fragen. Ich habe aus den Debat- derum zum Nutzen von Frauen sind. tenbeiträgen bisher den Eindruck, daß es sich hier um allgemeine Attacken auf den Arbeitsminister (Beifall bei der CDU/CSU) handelt und daß Sie mit infamen Unterstellungen Im Zuge dieser siebten Novelle haben wir auch arbeiten. eine Bestimmung in das Arbeitsförderungsgesetz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — aufgenommen, die jenen Frauen zugute kommt, die Zuruf von der CDU/CSU: Das interessiert auf Grund von Ehescheidung, die auf Grund von die gar nicht!) Verwitwung auch in späteren Jahren auf eine Er- werbstätigkeit angewiesen sind. Sie haben auf Fort- Die Frauen kommen zwar so ab und zu einmal in bildungs- und Umschulungsmaßnahmen jetzt wie- einem Nebensatz vor, aber sie haben heute eine der einen Anspruch, wenn sie irgendwann einmal reine Alibifunktion. zwei Jahre versicherungspflichtig beschäftigt wa- (Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) ren — irgendwann einmal zwei Jahre! Das hatten Das Ziel des Beschäftigungsförderungsgesetzes Sie 1981 sang- und klanglos abgeschafft. Davon wol- mit den Verbesserungen zum beruflichen Wieder- len Sie heute nichts mehr hören. Unsere Politik hin- einstieg im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes gegen bringt echte Verbesserungen für Frauen mit war für uns eine bewußte, leider aber eine in der sich, Ihre Politik nicht. Öffentlichkeit nicht sehr verbreitete Förderung der Wenn wir von den befristeten Arbeitsverhältnis- Zielgruppe derjenigen Frauen, die gerade nach der sen sprechen, die hier so häufig andiskutiert wor- sogenannten Familienphase große Schwierigkeiten den sind: Ich sehe in diesen befristeten Arbeitsver- haben, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. trägen außer den übrigen vielen Verbesserungen Deswegen sage ich: Die Auswirkungen des Beschäf- für Frauen auch eine positive Auswirkung dahin tigungsförderungsgesetzes für Frauen sind positiv. gehend, daß ihnen der Ersteinstieg ermöglicht Die berufliche Wiedereingliederung von Frauen wird. nach der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erfordert wegen des großen Zeitabstandes von der Wir wissen ja, daß sich viele Schutzgesetze negativ letzten Erwerbstätigkeit oftmals eine berufliche Bil- für Frauen auswirken und Frauen größere Schwie- dungsmaßnahme. Ansprüche auf berufliche Weiter- rigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben. Ein befriste- bildung, Umschulung oder Anpassungsförderung ter Arbeitsvertrag gibt ihnen die Möglichkeit, zu- nach dem Arbeitsförderungsgesetz setzen eine vor- mindest wieder den Zugang zur Arbeitswelt zu ha- herige versicherungspflichtige Beschäftigung vor- ben; hinterher kann dieser Arbeitsvertrag dann in aus. eine Vollzeitbeschäftigung umgewandelt werden. (Zuruf der Abg. Frau Zeitler [GRÜNE]) Auch im Erziehungsgeldgesetz berücksichtigen wir Die Frist, die dafür mit drei Jahren gesetzt war, war das. für die Frauen, die wegen der Kindererziehung aus- Warten wir ab, bis wir exakte Zahlen haben. gestiegen sind aus dem Berufsleben, einfach zu Dann können wir sehen, wie sich das für Frauen kurz. Sie verloren ihre Ansprüche auf berufliche auswirkt. Ein Fazit ist aber schon heute möglich: Wiedereingliederungsmaßnahmen. Frau Zeitler, wir Die CDU/CSU hat mit diesem Beschäftigungsförde- haben diese Frist mit dem Beschäftigungsförde- rungsgesetz außerordentlich viel für Frauen be- rungsgesetz verlängert. wegt. Seit dem 1. Mai 1985 wird unabhängig davon, ob (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gleichzeitig mehrere Kinder betreut werden, für je- des Kind eine Betreuungszeit von fünf Jahren be- rücksichtigt. Eine Frau, die zwei Kinder betreut hat, Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat die Abge- hat jetzt den Anspruch auf Unterhaltsgeld, wenn sie ordnete Frau Dr. Segall. in den letzten 13 Jahren zwei Jahre versicherungs- pflichtig gearbeitet hat. Das ist eine echte Verbesse- Frau Dr. Segall (FDP): Herr Präsident! Meine Da- rung für Frauen. men und Herren! Über den Erfolg oder Mißerfolg (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des Beschäftigungsförderungsgesetzes zu diskutie- Man kann mit Fug und Recht davon sprechen, ren halte ich zwar für verfrüht, da das Gesetz ge- daß die im Beschäftigungsförderungsgesetz neu rade ein Jahr in Kraft ist. aufgenommenen Bestimmungen zur beruflichen (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16599

Frau Dr. Segall Aber bitte, wenn Sie von der Opposition es so wol- ten, bei den weiblichen Beschäftigten um 2 % gegen- len, können wir auch heute schon einmal eine Zwi- über nur 1,3 % bei den männlichen Beschäftigten schenbilanz ziehen und Ihre hier vorgetragenen betrug. In absoluten Zahlen ausgedrückt: An der Zahlen wieder ein bißchen zurechtrücken. Erhöhung der Beschäftigungszahlen von 278 400 partizipierten die Frauen mit 159 400, also zu rund Die neuesten verfügbaren Zahlen der Beschäfti- 60 %. Hierbei sollte vielleicht auch einmal erwähnt gungsstatistik dokumentieren den Beschäftigungs- werden, daß diese Zahlen Bestandszahlen sind, hin- also nach einem halben grad im September 1985, ter denen erhebliche Bewegungen stehen. Es wer- Jahr Geltung des Gesetzes. Danach ist die Zahl den im Durchschnitt monatlich 320 000 neue Ar- aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten — beitsplätze mit Hilfe der Arbeitsämter begründet. nur über diesen Personenkreis gibt die Beschäfti- gungsstatistik Auskunft — im September 1985 um Doch nun einmal zu den Frauen. Es wird immer eine 3/4 Million höher gewesen als im Vorjahr. wieder argumentiert, daß es für Frauen nur die schlechteren Teilzeitarbeitsplätze gebe. Allein bei (Zuruf der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD]) den zusätzlichen Arbeitsplätzen ist das Verhältnis Nun ließe sich wiederum trefflich darüber streiten, von 100 000 Vollzeitarbeitsplätzen zu 60 000 Teil- ob diese Zahlen eine Folge des Beschäftigungsför- zeitarbeitsplätzen. Dabei muß man noch berück- derungsgesetzes oder dem allgemeinen konjunktu- sichtigen, daß ein Viertel der arbeitsuchenden rellen Aufschwung zuzurechnen sind. Zur Beurtei- Frauen nur einen Teilzeitjob anstrebt. Man kann lung der Zahlen kann man sich auf die alte Erfah- also feststellen, daß die Frauen überproportional an rung berufen, daß in einem Aufschwung zunächst der Verbesserung der Beschäftigungssituation teil- die Zahl der Überstunden zunimmt, ehe an Neuein- nehmen mit der Einschränkung, daß manche Frau, stellungen gedacht wird. Unser derzeitiger Auf- die einen Vollzeitarbeitsplatz gesucht hat, nur einen schwung zeichnet sich dadurch aus, daß die Über- Teilzeitarbeitsplatz gefunden hat. Die Diskrepanz stunden nicht steigen. Die bessere Auftragslage hat ist aber nicht so groß, wie uns einige fragwürdige also nicht zu vorsichtigem Abwarten und einem da- Umfragen von Gewerkschaften glauben machen mit verbundenen Mehr an Überstunden geführt, möchten. Das A und O einer Verbesserung der Be- sondern unmittelbar zu neuer Beschäftigung, und schäftigungslage ist aber der Abbau von Beschäfti- zwar zu Arbeitsplätzen mit dauerhaften Verträgen; gungshemmnissen, denn davon wurde im Laufe der denn ein nennenswerter Anteil der befristeten Ver- Zeit ein ganzes Sammelsurium aufgebaut. Diese träge führt zu dauerhafter Beschäftigung. Den Beschäftigungsbedingungen sind in dem Zunftwe- Einstieg wieder möglich gemacht zu haben, rech- sen unserer heutigen Arbeitsgesetzgebung- nur nen wir uns allerdings als Erfolg an. schwer vollziehbar. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Kühbacher [SPD]: Der Kapitalismus feiert fröhliche Urständ!) Sie aber wollen die offenkundige Entwicklung ein- fach nicht zur Kenntnis nehmen. Sie weisen immer Ich ziehe das Fazit: „Aus guten sozialen Gründen wieder auf die absolute Zahl der Arbeitsuchenden mit bösen sozialen Folgen". hin. Wenn Sie sich jedoch einmal ansehen würden, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wie sich diese Zahl der sich arbeitslos Meldenden zusammensetzt, würden Sie erkennen, daß sich ne- ben denjenigen, die arbeitslos werden oder nach Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat der Abge- Schule oder Ausbildung keinen Arbeitsplatz finden, ordnete Kolb. auch viele als Arbeitsuchende melden, auf die diese Kriterien nicht zutreffen, die also aus der soge- Kolb (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen nannten stillen Reserve kommen. Das waren 1985 und Herren! Wenn man Sie von der SPD nicht ken- bei den Zugängen von männlichen Arbeitslosen nen würde, könnte man glauben, das, was Sie hier 17 %, d. h. 398 000 von insgesamt 2,296 Millionen und gesagt haben, wäre wahr. bei den weiblichen Arbeitslosen 22 %, d. h. 324 000 von 1,454 Millionen. Was aber war der Fall? Als Sie an der Regierung waren, haben Sie das Spiel gespielt: Alles oder (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Was folgt dar nichts. Als Sie beim Nichts waren, sind Sie ausge- aus?) stiegen. Erlauben Sie mir deswegen, daß ich noch Diese Zahlen waren höher als 1984. Daraus kann einmal Altbundeskanzler Schmidt zitiere, der am ich nur den Schluß ziehen, daß wieder viele die 30. Juni 1982 vor Ihrer Fraktion gesagt hat: Hoffnung für berechtigt hielten, über das Arbeits- Einige haben bemängelt, daß in diesem Pakt amt einen Arbeitsplatz zu finden. nicht genug getan werde zur Bekämpfung der Wir wissen aber auch aus Untersuchungen, daß Arbeitslosigkeit. ein Großteil der Vermittlung ohne eine vorherige (Lutz [SPD]: So ist es!) Meldung beim Arbeitsamt vonstatten geht. Der po- Ich sage denen: Dies ist leider wahr. Wer mehr sitive Beschäftigungssaldo findet darin seine Erklä- tun will, muß in die geltenden Sozialleistungen rung. tiefer hineinschneiden, wer mehr für die be- Wenn wir nun insbesondere die Situation für die schäftigungswirksamen Ausgaben des Staates Frauen betrachten, so läßt sich zunächst einmal tun will, muß tiefer, noch viel tiefer als hier, in feststellen, daß der Zuwachs, wohlgemerkt der Zu- die Sozialleistungen hineinschneiden. Dies wachs an sozialversicherungspflichtig Beschäftig wollt ihr nicht tun. 16600 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Kolb So sagte er damals, und da durfte er noch. Heute wie dort die Bedingungen sind, die von den Großbe- darf er nicht mehr bei Ihnen reden, heute wird er trieben gestaltet werden? Ihr Kollege Roth ist heute im „Vorwärts" verleumdet. nicht hier. Ich habe einmal erlebt, wie er gesagt hat, (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist doch für daß die Zahl der Konkurse so gewaltig zugenom- Sie kein Grund einzuschneiden!) men hat. Hat denn diese Zahl zugenommen, weil die Selbständigen nicht mehr arbeiten wollten? Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist doch Ihr Problem! (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Nein, weil die Arbeitnehmer zu faul sind, nicht wahr?) Ihre Devise, liebe Frau Fuchs, lautet: Unsere Mit- tel haben damals für den Vollrausch nicht gelangt; — Ach du lieber Gott! Nein, weil die Bedingungen laßt es uns kräftiger tun, dann wird es in Zukunft von anderen vorgegeben werden! gelingen. (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Wer ist denn (Lutz [SPD]: Aber Herr Kolb!) daran schuld?) Ich habe Sie hier am 12. September 1985 gefragt: — Frau Fuchs, es wäre gut, Sie würden sagen: Ich Wo sind die Erfolge Ihrer Rezepte? Wie war das gehe mit dem Kollegen Schreiner hinaus und lerne beim „Telegraph", wie ist es bei der Neuen Heimat, praktische Arbeit, und wenn ich die Erfahrung wie bei Arbed? Fehlanzeige, meine Damen und Her- habe, komme ich zurück. Nur theoretisch, wie Sie es ren! tun, kann das auf Dauer nicht gehen! (Dr. Vogel [SPD]: Was ist denn mit Arbed? (Lutz [SPD]: Wir alle haben gearbeitet, stel Ausgesprochenes Geschwätz! Fragen Sie len Sie sich das vor!) einmal Herrn Zeyer. Haben Sie einmal et was von Herrn Zeyer gehört, Sie Schrei — Herr Lutz, Sie haben die Sozialgesetze zugun- hals?) sten derjenigen gestaltet, die in den Betrieben wa- -- Lieber Herr Vogel, ich muß Ihnen einmal eines ren, und zwar so, daß die drinnen hervorragend sagen: Sie stellen sich erst als Oberlehrer der Na- geschützt sind, aber denjenigen, die draußen waren tion hierher und versagen dann. Lieber Herr Vogel, und hineinkommen wollten, haben Sie — ob Sie es ich habe ja Verständnis dafür, daß Ihr einziges Ar- glauben oder nicht — den Einstieg fürchterlich gument gegen die Wahrheit darin besteht, andere schwer gemacht. zu verleumden, aber ich hätte mich heute gefreut, (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Und deswegen wenn Sie gesagt hätten: Der Herr Lutz und die Frau gibt es so viele Pleiten?) - Fuchs werden jetzt zur Neuen Heimat gehen Deswegen sind Sie, meine Damen und Herren, (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Helau!) nicht glaubwürdig. Sie sagen heute, 10 000 Beschäf- und werden dort dafür sorgen, daß die Arbeitsplätze tigte — das sind 0,04 % der Beschäftigten — seien dort sicher werden die Betroffenen, bei denen es nicht gehe. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Widerspruch bei der SPD — Zuruf des und die Mitarbeiter der Neuen Heimat nicht auf die Abg. Lutz [SPD]) Straße gehen müssen und nicht demonstrieren — Herr Lutz, wenn Sie wüßten, daß manch ein Tex- müssen, weil ihre Arbeitsplätze verlorengehen. tilbetrieb Aufträge für vier bis fünf Monate hat und (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch nicht weiß, wie es nachher weitergeht, würden Sie bei der SPD) anders reden. Lieber Herr Lutz, Ihnen schreibe ich ins Stamm- (Weitere Zurufe von der SPD) buch, daß mir, wenn ich Ihre Rede hier höre, nur Matthäus 7,15 einfällt. Dort heißt es: Sehet euch vor Jeder Kleinbetrieb wäre dankbar, wenn er die Si- vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern cherheit der Dauerbeschäftigung hätte; dann würde zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende er die Leute auch auf Dauer einstellen. Wölfe. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vo Deswegen, meine Damen und Herren, war dieses gel [SPD]: Bei Ihnen ist es umgekehrt!) Beschäftigungsförderungsgesetz eine Hilfe für die- Meine Damen und Herren von der SPD, Sie ken- jenigen, die keine Arbeit haben, nen nur zwei Bedingungen: zum einen den öffentli- chen Dienst, zum anderen die Großbetriebe. (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Für Unterneh mer!) (Lutz [SPD]: Und dann kennen wir solche Typen wie Sie!) aber auch der Versuch, gegenüber Ihrer Ideologie des „alles oder nichts" eine Zwischenlösung zu brin- Sie kennen nicht die Situation der vielen Klein- gen. und Mittelbetriebe. Lieber Herr Lutz, Sie reden wie Ihr Kollege Schreiner von Dingen, von denen Sie (Lutz [SPD]: Versuch mißlungen!) nichts verstehen. Haben Sie einmal erlebt, wie es in - Herr Lutz, Sie werden, wie man feststellen kann, den Klein- und Mittelbetrieben ist, wenn man Ihre Reden einmal nachliest, als derje- (Lutz [SPD]: Aber ja, da habe ich gearbei nige hi die Geschichte eingehen, der nur falsches tet, Herr Kolb!) Zeugnis gegeben hat. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16601

Kolb Herzlichen Dank. sition bleiben; wir sind in der Regierung gut, deswe- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel gen müssen wir in der Regierung bleiben. [SPD]: Das Wort zum Sonntag!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben doch 13 Jahre Zeit gehabt, die Men- schen mit Ihrer Ideologie zu beglücken. Was ist Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat der Herr denn dabei herausgekommen? Sie haben in dieser Abgeordnete Jagoda. Nation Schiffbruch erlitten. Unsere Politik führte zu einer Mehrbeschäftigung von 500 000 Arbeits- kräften. Sie haben in den letzten Jahren Ihrer Re- Jagoda (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr gierungszeit über eine Million Arbeitsplätze kaputt- verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich bei gemacht. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. der Opposition dafür bedanken, daß Sie diese Aktu- elle Stunde beantragt hat, gibt sie uns doch die Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen. Wir Möglichkeit, darauf hinzuweisen, daß es uns gelun- haben eine Million Kurzarbeiter vorgefunden. Im gen ist, den explosionsartigen Anstieg der Arbeits- April 1986 hatten wir 200 000 Kurzarbeiter. Das ist losigkeit, den Sie uns hinterlassen haben, zu brem- ein Fünftel dessen, was Sie uns hinterlassen ha- sen, ben. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Lutz [SPD)] daß wir zahlreiche Maßnahmen eingeleitet haben Das sind Dinge, die wir positiv sehen können. und daß wir heute in der Bundesrepublik Deutsch- Ich möchte als nächsten Punkt die Jugendar- land eine gegenüber dem Jahr 1982 erhöhte Be- beitslosigkeit ansprechen. Sie liegt heute bei 6,6 %, schäftigung festzustellen haben. während die Arbeitslosigkeit durchschnittlich bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — 9 % liegt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist also gerin Dr. Vogel [SPD]: Das ist einfach falsch! — ger als die durchschnittliche Arbeitslosigkeit. Bei Lutz [SPD]: Das stimmt einfach nicht! Der Ihnen war die Jugendarbeitslosigkeit höher als die Herr kann nicht rechnen!) durchschnittliche Arbeitslosigkeit. Das sind die Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Fakten, die Sie in diesem Lande einmal zur Kennt- von Ihnen vorgelegte Formulierung dieser Aktuel- nis nehmen sollten. len Stunde ist ein Zeichen Ihrer Engsichtigkeit. Sie (Beifall bei der CDU/CSU — Lutz [SPD]: haben heute morgen den Arbeitsmarkt nur im Zu- Ein absoluter Unsinn!) - sammenhang mit dem Beschäftigungsförderungs- Wir wissen, daß wir noch viel zu tun haben. Das gesetz diskutieren wollen. In Wirklichkeit gehört kann die Politik allein nicht leisten. Ich fordere die entscheidend mehr dazu. Wir haben für die Be- Betriebs- und Personalräte in Deutschland auf, schäftigung in der Bundesrepublik Deutschland stärker als in der Vergangenheit von ihrem Recht viele Schritte getan. Einer dieser Schritte ist das bei der Einstellung Schwerbehinderter Gebrauch Beschäftigungsförderungsgesetz. Deswegen ist es zu machen und vorher zu prüfen, ob nicht ein freier unlauter, heute den Eindruck zu erwecken, als hät- Arbeitsplatz zunächst einmal für einen Schwerbe- ten wir gesagt, dies sei das Patentrezept, wie wir die hinderten reserviert werden muß. Dann bekommen Arbeitslosigkeit in Deutschland beheben wollen. Es wir auch die Arbeitslosigkeit der Schwerbehinder- ist einer von vielen erfolgreichen Schritten, die ten in den Griff, nicht durch irgendwelche frommen diese Regierung und diese Koalition zum Wohle der Sprüche. Menschen in Deutschland eingeleitet haben. Ich komme zu einem weiteren Punkt, nämlich der (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von Leiharbeit. Wir haben die Leiharbeit im Beschäfti- der SPD) gungsforderungsprogramm in einer Art und Weise Wir haben uns nicht auf Sie verlassen, wir sind stabilisiert, daß die legale Leiharbeit, die wir begrü- Ihnen nicht bei Ihrer Forderung nach Beschäfti- ßen, abgesichert ist. Wir haben die illegale Leihar- gungsprogrammen gefolgt. beit stärker unter Strafe gestellt. Das ist der rich- (Zuruf des Abg. Lutz [SPD]) tige Weg. Die Beschäftigungsprogramme, die wir gemacht ha- (Zustimmung bei der CDU/CSU) ben, lauten: Inflationsrate gegen Null, niedrige Zin- Weil wir heute morgen von den Frauen gespro- sen, Stärkung der Arbeitnehmereinkommen, grö- chen haben: Wir haben im Beschäftigungsförde- ßere Nachfrage am Binnenmarkt, rungsgesetz die Erstattung von Leistungen nach (Lutz [SPD]: Weniger Menschenwürde!) dem Mutterschaftsschutzgesetz und nach dem Lohnfortzahlungsgesetz für kleine Betriebe ent- sichere Renten, geordnete Staatsfinanzen, reales scheidend verbessert, damit auch kleinere Betriebe Wirtschaftswachstum. Das sind unsere Maßnah- keine Hemmungen mehr haben, Frauen einzustel- men zum Wohle der Arbeiter in Deutschland. len. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Zurufe von der SPD) wissen: Wir haben noch sehr viel zu tun. Die Ar- Wenn ich Sie hier heute höre, kann ich den Men- beitslosigkeit ist ein bedrückendes Problem. Wir schen in Deutschland nur empfehlen: In der Opposi- werden uns auf diesem Weg nicht irremachen las- tion sind Sie gut, deswegen müssen Sie in der Oppo- sen, sondern damit fortfahren. 16602 Deutscher Bundestag - 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Jagoda Sie haben heute morgen den Splitter im Auge der lagen in der Bundesrepublik Deutschland (Atomsperrge- Regierungskoalition überbewertet und den Balken setz) in Ihrem eigenen Auge schamhaft verschwiegen. — Drucksachen 10/1913, 10/5459 — Sie sind schon sehr immun gegen die Auswirkun- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung gen Ihrer früheren politischen „Leistungen", die eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die fünf- nicht Sie, sondern andere Bürger in Deutschland zu zehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesver- sorgungsgesetz (Fünfzehntes Anpassungsgesetz. — Kov — tragen haben, nämlich die Arbeitslosen. 15. AnpG-KOV) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — Drucksachen 10/5209, 10/5493, 10/5494) — Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung von Regelun- gen über den Versorgungsausgleich Präsident Dr. Jenninger: Meine Damen und Her- — Drucksache 10/5484 — ren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Bevor wir in Beratung des Antrags der Abgeordneten Hedrich, Feilcke, der Tagesordnung fortfahren, darf ich folgendes Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Pinger, Repnik, Frau Fischer, mitteilen. Die Fraktion der SPD möchte einen Mit- Höffkes, Dr. Hüsch, Dr. Kunz (Weiden), Dr. Kronenberg, Dr. Pohlmeier, Schreiber, Borchert, Herkenrath, Sauter gliederwechsel in der Parlamentarischen Ver- (Epfendorf), von Hammerstein, Dr. Hornhues, Eigen, Dr. sammlung des Europarats vornehmen. Sie benennt Hoffacker, Sauer (Salzgitter), Schwarz, Dr. Olderog, Jago- den Abgeordneten Dr. Soell, der bisher stellvertre- da, Engelsberger, Kalisch, Frau Roitzsch (Quickborn), tendes Mitglied war, als ordentliches Mitglied in Jung (Lörrach), Hornung, Müller (Wesseling), Dr. Jobst, Weiß, Schmitz (Baesweiler), Dr. Faltlhauser, Sauer (Stutt- der Parlamentarischen Versammlung des Europa- gart), Frau Männle, Ganz (St. Wendel), Austermann, Dr. rats. Der Abgeordnete Gerstl (Passau), bisher or- Schroeder (Freiburg), Ruf und der Fraktion der CDU/CSU dentliches Mitglied, soll stellvertretendes Mitglied sowie der Abgeordneten Dr. Rumpf, Schäfer (Mainz), Dr. werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe Feldmann, Ertl, Frau Seiler-Albring und der Fraktion der und höre keinen Widerspruch. Damit sind der Abge- FDP ordnete Dr. Soell als ordentliches Mitglied und der Überwindung von Hunger und Not in Afrika Abgeordnete Gerstl (Passau) als Stellvertreter in — Drucksache 10/5488 — die Parlamentarische Versammlung des Europarats Zugleich soll mit der Aufsetzung der Zusatzpunkte gewählt. — soweit erforderlich - von der Frist für den Be- Einer Bitte des Finanzausschusses folgend, ginn der Beratung abgewichen werden. Darüber meine Damen und Herren, wird interfraktionell hinaus soll Punkt 16 der Tagesordnung vor vorgeschlagen, den Entwurf eines Gesetzes über Punkt 15 aufgerufen werden. Sind sie damit- sowie das Baugesetzbuch auf der Drucksache 10/4630 mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstan- nachträglich dem Finanzausschuß zur Mitberatung den? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. zu überweisen. Des weiteren sollen zwei Entschlie- ßungsanträge der Fraktion der SPD zum Agrarbe- richt 1986 auf den Drucksachen 10/5373 und 10/5374 Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: sowie ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP ebenfalls zum Agrarbericht a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- auf der Drucksache 10/5377 nachträglich dem Haus- neten Dr:Ing. Kansy, Niegel, Dr. Daniels, haltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Dörflinger, Link (Frankfurt), Linsmeier, Ma- Sind Sie mit den nachträglichen Überweisungen gin, Dr. Möller, Pesch, Frau Rönsch (Wiesba- einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; den), Frau Roitzsch (Quickborn), Ruf, Zierer dann ist so beschlossen. und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Frau Dr. Segall, Meine Damen und Herren, nach einer interfrak- Gattermann, Beckmann, Dr. Haussmann, Dr. tionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung er- Feldmann, Dr. Graf Lambsdorff und der weitert werden. Die Punkte ersehen Sie aus der Fraktion der FDP Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste: „Neue Heimat" 2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des — Drucksachen 10/5326, 10/5452 — Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr b) Beratung des Antrags der Abgeordneten 1987 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1987) Werner (Westerland), Dr. Müller (Bremen) — Drucksache 10/5406 — und der Fraktion DIE GRÜNEN Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Borgmann, Lange, Dr. Schierholz und der Fraktion DIE GRÜNEN Sanierung der Neuen Heimat Zustimmungsverweigerung zu neuen chemischen Waffen — Drucksache 10/5228 — Drucksache 10/5461 — —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und (federführend) FDP Haushaltsausschuß Chemische Waffen Zum Tagesordnungspunkt 3 a liegt ein Entschlie- — Drucksache 10/5464 — ßungsantrag der Fraktion der SPD auf der Druck- 3. Beratung des Berichts des Innenausschusses (4. Aus- sache 10/5479 vor. schuß) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eines Gesetzes über die sofortige Stillegung von Atoman eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungs- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16603

Präsident Dr. Jenninger punkte 3 a und 3 b und eine Aussprache von drei obwohl die Neue Heimat bereits 10 Milliarden DM Stunden vorgesehen. — Ich höre keinen Wider- aus öffentlichen Kassen zur Schaffung von Wohn- spruch; dann ist so beschlossen. raum erhalten hat. Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Neue-Heimat-Chef Hoffmann schrieb einen Brief Das ist nicht der Fall. an den Kanzler. Die Bundesregierung organisierte Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- ein Zusammentreffen der Minister von Bund und geordnete Kansy. Ländern mit DGB und Neuer Heimat. Die Minister, die nicht nur Anwälte der Mieter zu sein haben, sondern auch Verwalter von Steuergeldern, Dr.-Ing. Kansy (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!) sehr geehrten Damen und Herren! Der Name Neue forderten notwendigerweise die Neue Heimat zu- Heimat war in den Aufbaujahren der Bundesrepu- nächst einmal auf, die rückhaltlose Offenlegung der blik verbunden mit einem sicheren Zuhause, mit Situation zu betreiben und ein Sanierungskonzept einem besonderen sozialen Anspruch, mit seriösem vorzulegen. DGB-Chef Breit sagte zunächst auch zu, Geschäftsgebaren und offener Information. Heute dies innerhalb von drei Monaten zu tun. Aber dann verbindet man mit diesem Namen Verunsicherung besann er sich eines Besseren oder, korrekter ge- von Mietern, Herausmogeln aus sozialer Verant- sagt, eines Schlechteren. wortung, Mißwirtschaft und teilweise zynische Täu- schung der Öffentlichkeit. Heute, meine Damen und Herren, nachdem ein Hamburger Nachrichtenmagazin Teile des noch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht veröffentlichten Untersuchungsberichts der Die Verantwortung dafür tragen nicht die vielen Hamburger Bürgerschaft vorgelegt hat, wissen wir, tausend Mitarbeiter der Neuen Heimat, sondern warum. Der Ausschußvorsitzende Hartmann, SPD, letztlich die Eigentümer, die DGB-Gewerkschaften. und Ehlers, CDU, als sein Vertreter lassen heute Im Aufsichtsrat saßen und sitzen nur Spitzenfunk- keinen Zweifel daran, daß die vom Ausschuß ermit- tionäre des Deutschen Gewerkschaftsbundes, an telten Tatbestände klar Anhaltspunkte für Ermitt- der Spitze DGB-Chef Breit. lungen der Strafverfolgungsbehörden bieten. Als sich 1982 ein anbahnender Skandal nicht Plötzlich änderten auch die SPD-regierten Bun- mehr vertuschen ließ, wurde die Schuld zunächst in desländer ihre Meinung, allen voran Herr Rau. Es die Vergangenheit verwiesen und für die Zukunft wurde sichtbar, was der Bremer SPD-Vorsitzende Besserung gelobt. Übrigens, Genosse Ernst Breit Kunick schon vor Monaten so beschrieben- hat: gehört dem Aufsichtsrat bereits seit 1972 an. Im- merhin, auf dem DGB-Kongreß 1982 wurde Besse- Die Kette Neue Heimat — DGB, nahe der SPD, rung gelobt und folgender Beschluß gefaßt: ist politisch nicht aus der Welt zu schaffen. Die Unternehmensleitung und Aufsichtsorgane Wie ist nun die Strategie von SPD, DGB und der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen müs- Neuer Heimat heute? Zunächst einmal bejammern sen durch ein Höchstmaß an Information und sie das, was gewesen ist, sozusagen als einmaligen Transparenz sowie durch eindeutige rechtliche Betriebsunfall, versuchen sich selbst an die Spitze Regularien sicherstellen, daß der politisch-mo- der Bewegung zu setzen, nach dem Motto: Haltet ralische Anspruch der Gemeinwirtschaft stets den Dieb. eingelöst wird. Aber dann geht es weiter zur Sache. Genosse A Doch der Skandal geht weiter. Jahrelange Miß- als Unternehmer behauptet zunächst, die Schwie- wirtschaft, Großmannssucht, Grundstücksspekula- rigkeiten der Neuen Heimat könnten durch weitere tion hatten den DGB-Konzern nicht nur moralisch massive Wohnungsverkäufe spielend gelöst wer- politisch, sondern zwischenzeitlich auch finanziell den. Wir brauchen die Öffentlichkeit gar nicht. ruiniert. Dann kommt Genosse B als Mieterschützer und be- klagt mit Krokodilstränen in den Augen, der leider Wie kommen wir nun aus der Klemme — fragten erforderliche Verkauf von 90 000 weiteren Wohnun- sich die Genossen Großunternehmer —, ohne daß gen gefährde die Sozialbindung dieser Wohnungen wir selbst für das einstehen müssen, was wir ange- — was übrigens so gar nicht stimmt. Dann tritt als richtet haben? In spätkapitalistischer Manier sa- Dritter Genosse C als Landesminister auf und spielt nierten sie zunächst den nichtgemeinnützigen Teil den großen Mieterfreund. der Neuen Heimat, die Neue Heimat Städtebau, mit 1,5 Milliarden DM. Nur, dieser Neue-Heimat-Teil (Seiters [CDU/CSU]: C wie Zöpel!) hat keine einzige Sozialwohnung, sondern hat z. B. Das sieht z. B. in Nordrhein-Westfalen so aus. Zu Luxushotels in Monte Carlo gebaut und in Südame- einem Preis von 142 Millionen DM übernimmt die rika spekuliert. Landesentwicklungsgesellschaft 2 385 Wohnungen (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) von der Neuen Heimat. Zur Finanzierung gibt die Westdeutsche Landesbank ein Darlehen, ein günsti- Die Verantwortung aber für 1 Million Menschen in ges Darlehen, versteht sich. Zusätzlich gewährt das den Wohnungen der Neuen Heimat wollen die Ge- Land über die Wohnungsförderungsanstalt ein wei- werkschaften der öffentlichen Hand zuschieben, teres Darlehen. Der Kaufpreis der Wohnungen ist (Zuruf von der CDU/CSU: So sieht es aus! eher etwas zu hoch als zu tief; denn das Geld fließt — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Immer in die in die Kasse des DGB und nicht zu den Mietern. Taschen anderer!) Aber bezahlen tut das nicht nur der Steuerzahler, 16604 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Dr.-Ing. Kansy meine Damen und Herren, es muß auch das Woh- Dazu gehören auch seriöse Überlegungen, ob ein nungsbauprogramm des Landes gekürzt werden, parlamentarischer Untersuchungsausschuß erfor- 1986 von 21 000 auf 14 000 Wohnungen. Die angebli- derlich ist oder nicht. So etwas als Geheimpapier che Wohltat des Herrn Rau bedeutet letztlich weni- von CDU-Juristen abzuqualifizieren ist lächerlich. ger Altenwohnungen, weniger Eigenheimförderung, Wer dies tut, der will in Wirklichkeit verhindern, aber Geld in der Kasse des DGB. daß die Wahrheit ans Licht kommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Wie scheinheilig diese Politik ist, zeigt auch ein Die CDU/CSU fordert den DGB auf: Legen Sie anderer Vorgang. Es gibt relativ preiswerte Sozial- von sich aus die Karten auf den Tisch. Liefern Sie wohnungen aus den 50er und 60er Jahren und weni- ein vernünftiges Sanierungskonzept. Behandeln ger preiswerte aus den 70er und Anfang der 80er Sie den gemeinnützigen Teil — sprich: die Mieter — Jahre. Die ersteren lassen sich heute natürlich bes- genauso wie den nicht gemeinnützigen Teil — ser verscherbeln. Nun gründet der DGB eine neue sprich: die Hotels —. Stellen Sie zusätzliches Kapi- Firma -- 100%iger Eigentümer: DGB -- unter dein tal zur Verfügung. Weder die Mieter noch die Steu- Namen BGI. Diese Immobiliengesellschaft schreibt erzahler dürfen das ausbaden, was Sie angerichtet an kaufkräftige Interessenten Briefe und bietet haben. ausdrücklich die preiswerten Bestände an. Zum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beispiel steht in einem Schreiben vom 23. April 1986 u. a.: Unsere Objekte sind in den 50er und 60er Jah- Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat der Abge- ren gebaut und zeichnen sich durch niedrige ordnete Müntefering. Geschossigkeit und hohe Standortqualität aus. (Seiters [CDU/CSU]: Genosse A oder B?) Die Bausubstanz ist gut. Teilweise ist noch Raum für Modernisierung gegeben. — Hört! Hört! — Müntefering (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalition hat (Müntefering [SPD]: Er macht die Zwi diese Debatte ausgelöst, um Wahlkampf zu machen schenrufe schon selbst!) und um die Gewerkschaften attackieren zu kön- Auf Grund der guten Mieterstruktur unserer nen. Anlagen kennen wir zur Zeit keine Leerstän- (Lachen bei der CDU/CSU) - de. Es geht Ihnen nicht um die Mieter. Es geht Ihnen So also gehen die Genossen mit den preiswerten auch nicht um die wohnungspolitischen Sorgen der Beständen um, während sie die unrentablen den Städte und Gemeinden. Es geht Ihnen nicht einmal Steuerzahler übernehmen lassen wollen. mehr um die Neue Heimat. Die Neue Heimat hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für die CDU/CSU/FDP längst die Funktion des Me- diums. Und der Herr Aufsichtsratsvorsitzende Breit wagte, sich am 1. Mai in Hannover hinzustellen und Ihnen geht es heute um zweierlei: erstens um den gegen frühkapitalistische Urzustände aufzurufen. Rachefeldzug der Dreggers und Lambsdorffs gegen Statt die Bundesregierung zu diffamieren, sollte er die unbotmäßigen Gewerkschaften erst einmal anfangen, im eigenen Laden Ordnung (Zurufe von der CDU/CSU) zu schaffen. und zweitens um den Versuch der Koalition, von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Peinlichkeiten und Versäumnissen ihrer Politik Das gilt genauso für seine Aufsichtsratsgenossen abzulenken. Steinkühler von der IG Metall und Volkmar, die in (Beifall bei der SPD — Lachen bei der Niedersachsen zum Wahlboykott gegen die CDU CDU/CSU -- Kolb [CDU/CSU]: Haltet den egierung aufgefordert haben. Ich fordere die Dieb!) DGB-Mitglieder auf, beim DGB-Kongreß Wahl- Wer in der Debatte um die Neue Heimat bisher boykott zu üben. noch Illusionen hinsichtlich der Motive der Koali- Meine Damen und Herren, in der Antwort der tion hatte, der wurde gestern per Presse eines ande- Bundesregierung auf die Große Anfrage werden ren belehrt. Dort steht der „Fahrplan" aus dem viele Fragen beantwortet; sie hat jedoch manches Büro Dregger schwarz auf weiß: offengelassen oder — besser gesagt — offenlassen 1. Einbringung einer Großen Anfrage durch müssen, weil seitens des DGB und der Neuen Hei- die Fraktion am 15.4. 1988 mit einer Präsen- mat weiter verschleiert und vertuscht wird. tation .. . (Zuruf von der SPD: Das ist doch falsch!) 2. Antwort der Bundesregierung auf die Große Die CDU/CSU wird sich nicht davon abbringen las- Anfrage drei Wochen später, .. . sen, weiter die totale Offenlegung der Verhältnisse Befehl ausgeführt, Herr Minister! zu betreiben, selbst wenn man es von SPD-Seite als 3. Wahlkampf diffamiert. Ausführliche Debatte über die Große An- frage in der Mai-Sitzungswoche, d. h. am (Zuruf von der SPD: Ist es ja auch!) 15./16.5. 1986. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode - 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16605

Müntefering Es wird deutlich: Für die Koalition ist das Thema mat nicht gerecht. Sie lassen sich vor den Wahl- Neue Heimat Wahlkampffutter, mit Akribie ge- kampfkarren Ihrer Fraktion spannen. plant, nichts sonst. Die Antwort, die Sie auf die Große Anfrage gege- (Zurufe von der CDU/CSU) ben haben, unterstreicht Ihr Versagen. Gleich auf der Seite 1 beschreiben Sie ganz offen, auf was es Was ist das für ein armseliger Bauminister, der sich bei diesem Thema Ihrer Meinung nach besonders vom Büro Dregger am 8. April vorschreiben läßt, ankommt: Wer hat die unternehmerischen Fehler daß er eine Große Anfrage der NH zu verantworten, wer trägt die Verluste, und (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Zur Sache!) wer übernimmt die Kosten für die Sanierung des Unternehmens? mit 26 schwierigen Fragen bitte schön innerhalb von drei Wochen zu beantworten habe. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch lo gisch!) (Kolb [CDU/CSU]: Die man beantworten kann!) Das sind Ihre Stichworte. Die Mieter kommen bei diesen wichtigsten Stichworten nicht vor. Die. Sor- Als wir im vergangenen Jahr gefragt haben, wie gen der kommunalen Wohnungspolitiker kommen es denn aussehe mit dem Problem der Zahlungsfä- da auch nicht vor. Auch die Mitarbeiter kommen higkeit von Mietern, mit der Mietpreisentwicklung nicht vor. überhaupt, hat er 9, hat er 15 Wochen gebraucht. Nun kommt das Kommando von Dregger: Die Ant- (Dr. Möller [CDU/CSU]: Er hat nur den er wort muß in drei Wochen vorliegen. Die Antwort sten Satz gelesen!) liegt vor. Sie ist so schlecht geworden, wie sie ange- sichts der Bearbeitungszeit von drei Wochen wer- Der Bauminister hat sich so festgelegt auf die Straf- den mußte, Herr Minister. aktion gegen Neue Heimat und Gewerkschaften, daß er wohl selbst nicht mehr merkt, wie verräte- Was ist das für eine pharisäerhafte Entrüstung risch seine Antwort auf die Große Anfrage ist. Um bei dieser Koalition! Sie empört sich über tatsächli- bis zur Bundestagswahl im Januar 1987 ein dankba- che und unterstellte Fehler und Verfehlungen bei res Thema zu haben, redet der Bundesbauminister der Neuen Heimat, und gleichzeitig tut sie ohne in Sachen Neue Heimat über gestern und vorge- Rücksicht auf Mieter und betroffene Kommunen stern und verweigert sich den dringend erforderli- alles, chen konstruktiven Lösungen. - (Zuruf von der CDU/CSU: Rücksichtslos ist (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Der DGB hat doch die Neue Heimat! Sie verwechseln die sich verweigert!) Positionen!) Schnelle Lösungen sind aber nötig. Die Sache ver- um die Probleme noch zu verschärfen und die Lö- trägt keinen Aufschub. Um im Bild zu bleiben: sungen zu verschleppen. Wenn der Riesentanker zu sinken droht, muß man Es ist wahr: Bei der Neuen Heimat — bei ihrer die Rettungsboote ausfahren und darf sich nicht Geschäftsführung und ihrer Unternehmenspolitik damit aufhalten, die Blamage der Schiffsbauer zu — hat sich bis Anfang der 80er Jahre eine Menge beschreien, die vor zehn Jahren schwere Fehler ge- Mist angesammelt. Es ist schlimm, daß dies bei macht haben. einem gemeinnützigen Unternehmen passiert. Es (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Nein, die rote ist doppelt schlimm, daß dies bei einem gewerk- Fahne ist die Blamage!) schaftlich bestimmten Unternehmen passierte. Das ist keine Frage. Aber Sie, meine Damen und Her- Übrigens, falls Sie das noch nicht gemerkt haben ren, sind doch nicht besser. Wer im Jahre 1986 kalt- sollten Herr Minister, Sie sind auf diesem Tanker blütig den Dreck der Vergangenheit aufrührt und dabei. Wenn das Ende der Neuen Heimat unrühm- nichts tut, als auf dem Feuer der Neuen Heimat lich werden sollte, werden Sie wegen unterlassener sein Wahlkampfsüppchen zu kochen, der handelt Hilfeleistung als „Neue-Heimat-Minister" in die unverantwortlich. wohnungspolitische Geschichte dieses Landes ein- gehen. (Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Das ist eine Wahlkampfsuppe! — Weitere (Beifall bei der SPD — Lachen bei der Zurufe von der CDU/CSU) CDU/CSU und der FDP) Wer im Jahre 1986 feixend zusieht, wie eine neue Es gab eine Phase in der Diskussion, da habe ich Mannschaft bei der NH versucht und wie Länder von dieser Stelle aus über Ihre Rolle, Herr Minister, und Kommunen versuchen, im Interesse der Mieter nachweislich anders geredet. Man konnte da noch und des gesamten Wohnungsmarktes den Riesen- Hoffnung haben. Aber was Sie in den vergangenen tanker NH nicht stranden zu lassen, der handelt so Monaten und jetzt mit dieser Antwort zum Thema verantwortungslos wie diejenigen, die in den 60er beigetragen haben und wie Sie das tun, ist ärger- und 70er Jahren diesen untauglichen Riesentanker lich. Es drängt sich die Frage auf, Herr Minister: Sie NH bastelten und ihn auf fragwürdigen Kurs brach- sind jetzt dreieinhalb Jahre im Amt. Wenn es, wie ten. Sie, Herr Minister Schneider, werden Ihrer Sie schreiben, zahlreiche Anhaltspunkte und Hin- Aufgabe als Wohnungs- und Städtebauminister in weise gegen die Neue Heimat gibt, seit wann ken- der Diskussion über die Probleme der Neuen Hei nen Sie diese? Warum haben Sie nicht den Bundes- 16606 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Müntefering tag oder wenigstens den zuständigen Bundestags- Aber das ist keine Entschuldigung für das, was Sie fachausschuß ins Bild gesetzt? jetzt wieder versuchen, nämlich über gestern und (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Hat er ja!) vorgestern zu reden und sich den konkreten Lösun- gen, die jetzt anstehen, zu verweigern. Das ist Ihr Oder haben Sie als Bundesbauminister nicht be- Problem, mit dem Sie fertigwerden müssen. merkt, daß die Neue Heimat sich seit 1981/82 in einer schwierigen Konsolidierungs- und Umstruk- (Beifall bei der SPD) turierungsphase befand? Ich will Ihnen einen zweiten Fall aufzeigen, wo (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch lä- ebenfalls die Sicherheit der Mieter nicht so ist, wie cherlich!) Sie sich das wünschen und darstellen. Für nicht Ihre Antwort, Herr Minister, hat, zugegeben, auch wenige Wohnungen bewegt sich die Restförderung eine schöne Seite. Da singen Sie ein großes Loblied in einer Größenordnung, die bei neuen Eigentü- auf das Mietrecht; auf das Mietrecht, das Sozialde- mern schnell zu freiwilligen, vorgezogenen Rück- mokraten vor 15 Jahren erkämpft haben und das in zahlungen führen kann. Das aber bedeutet gebiets- dieser Situation in der Tat hilfreich ist. Nur ver- weise den baldigen Verfall der Mietpreis- und Be- schweigen Sie, daß Sie Arm in Arm mit Herrn legungsbindungen. Lambsdorff verhindert haben und bis heute verhin- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wer verkauft dern, daß auch die leider noch vorhandenen Löcher diese Wohnungen?) im Mieterschutz geschlossen werden. So beruhigt, wie Sie es sich wünschen und vorstellen, können Die Folge: Der Mieter hat bei Umwandlung in Ein- die Mieter der Neuen Heimat denn doch nicht sein. zeleigentum kein Vorkaufsrecht, und er hat keine Dazu zwei Beispiele. achtjährige Schutzzeit mehr gegen Eigenbedarf- Ein Teil der Neue-Heimat-Wohnungen hat keine kündigung. Wir wollten das längst gesetzlich klären. Sozialbindung. Sie sind nur, aber immerhin, als ge- Sie weigern sich. Aber Sie werden noch Gelegen- meinnützige Wohnungen der Mietpreisbindung un- heit haben, im Deutschen Bundestag abzustimmen terworfen. Entfällt aber die Gemeinnützigkeit und zu zeigen, wie mieterfreundlich Sie nun tat- durch Verkauf an nicht gemeinnützige Eigentümer sächlich sind. Dann wird deutlich werden, daß alles, oder durch Aberkennung der Gemeinnützigkeit, so was Sie zu den Mietern sagen, Schaum ist; denn im entfällt auch diese Bindung. Ausschuß wurde längst deutlich, daß Sie dem nicht zustimmen, (Ruf [CDU/CSU]: Ja, wer verkauft denn?) Statt der Kostenmiete gilt dann die Vergleichsmie- (Ruf [CDU/CSU]: Die Neue Heimat soll te, und die darf laut Gesetz alle drei Jahre um bis zu doch an die Mieter verkaufen! Dann ist 30 % steigen. Sie ignorieren die Bedeutung der Ge- doch alles geregelt!) meinnützigkeit schlichtweg, und Sie weigern sich was wir an zusätzlichem Mieterschutz wollen. bisher, unserer Forderung zuzustimmen, die zuläs- sige Erhöhungsmarge von 30 % drastisch zu redu- Nun verwenden Sie das Argument, meine Damen zieren. und Herren von der Koalition, wir hätten einen Ein zweiter Fall. Überhang an Wohnungen, und schon deshalb werde den Mietern nichts passieren. Dieser Über- hang sei der beste Mieterschutz. Da ist etwas dran. Präsident Dr. Jenninger: Herr Abgeordneter, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Übrigens — eingeschoben — wenn die von Ihnen Möller? beschimpfte Neue Heimat, die sich nicht nur drau- ßen in der Welt engagiert hat, sondern die in der (SPD): Bitte schön. Bundesrepublik 500 000 Wohnungen gebaut hat, Müntefering diese 500 000 Wohnungen nicht gebaut hätte, wäre das mit der Bedarfsdeckung in den Bedarfsschwer- Dr. Möller (CDU/CSU): Herr Kollege Müntefering, punkten weit weniger gut. wäre es nicht angemessen, wenn Sie auch zu Ihren eigenen Anträgen mal Stellung nehmen würden (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Auch andere und nicht nur zu Attacken auf die Bundesregierung hätten sehr gern gebaut!) kommen würden? In Ihrem eigenen Antrag spre- Aber in der Tat ist die allgemeine Wohnungslage chen Sie von „rechtswidrigen Machenschaften" und beruhigend; wohlgemerkt: die allgemeine. Es ist Un- vom „In-die-eigene-Tasche-Wirtschaften" der Neuen sinn, sich hier hinter Bundesdurchschnittszahlen Heimat. Dazu sollten Sie etwas sagen. zu verstecken. Leerstände in Ostfriesland und im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Bayerischen Wald helfen nichts, wenn in Bremen Kolb [CDU/CSU]: Das darf er nicht!) die 40 000 Wohnungen der NH schlagartig in die fal- schen Hände kommen würden oder die ähnliche Müntefering (SPD): Das haben wir aufgeschrieben, große Zahl in Hamburg. Die Mieter können nicht damit es schwarz auf weiß da steht und jeder un- alle ausweichen, sie können nicht alle dem neuen sere Meinung dazu kennt. Wenn Sie eben genau Vermieter sagen: Wir suchen uns eine neue Woh- zugehört hätten, dann hätten Sie mitbekommen, nung, wenn du mit deinen Forderungen unver- daß meine Vorwürfe in dieser Richtung sehr schämt wirst. schwerwiegend gewesen sind. (Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie dem (Beifall bei der SPD) DGB er soll sein Vermögen einsetzen!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16607

Müntefering Sie, Herr Minister, ignorieren die regionalspezifi- Was ist das für ein Quatsch, ohne konkrete Zahlen schen Besonderheiten der Neue-Heimat-Problema- von der ersten, zweiten oder wievielten Förderung tik, wie Sie in Ihren Antworten auch behaupten, der auch immer zu sprechen! Verkauf von Wohnungen der Neuen Heimat sei (Beifall des Abg. Conradi [SPD]) keine Gefahr für die Immobilienpreise, keine Ge- fahr für selbstnutzende Eigentümer, habe auch Das kommunale Wohngeld, das manche unserer keine negativen Auswirkungen auf die Beschäfti- großen Städte, unter welchem Namen auch immer, gung in der Bauindustrie. So viel Ahnungslosigkeit, zahlen, der Härteausgleich, den einige Bundeslän- Herr Bauminister, kann man Ihnen nicht zutrauen, der zahlen, die Streckung degressiver Aufwen- und die Absicht, die mit solchen Behauptungen ver- dungsbeihilfen, die üblich geworden sind, die Hilfen bunden ist, ist offenkundig; denn wenn der Verkauf für in Not geratene selbstnutzende Wohnungseigen- von 60 000, 100 000 oder aller 240 000 Wohnungen tümer, — das sind doch alles Nachsubventionierun- der Neuen Heimat wirklich kein Problem ist — so gen, seien es zweite oder dritte, für die wir in der behaupten Sie —, dann muß sich der Minister auch Bundesrepublik inzwischen Hunderte von Millio- keine Gedanken über Probleme machen und kann nen DM, jährlich ausgeben. Das geschieht mit gu- sich weiter um längst zurückliegende Management- tem Grund, von Ihnen nicht beanstandet, von uns fehler kümmern. gefordert. Aber, bitte schön, gleiches Recht für alle. Wo ist denn der prinzipielle Unterschied zu unserer Sie haben deshalb, Herr Minister, anscheinend Forderung, Hilfestellung bei der Übernahme bishe- auch noch gar nicht bemerkt, daß es längst nicht riger NH-Wohnungen durch neue Eigentümer zu mehr um die Sanierung der Neuen Heimat geht, geben? Nein; auch hier ist offensichtlich: Weil die daß es natürlich nicht um Hilfen für die Neue Hei- Neue Heimat im Eigentum der Gewerkschaften ist mat geht, daß es nicht um die Rettung oder Konsoli- und weil die bestraft werden sollen und weil das dierung der Neuen Heimat geht, wie Sie in Ihrer eine günstige Gelegenheit ist, sozialdemokratische Antwort immer noch anführen. Es geht vielmehr Gewerkschaftler zu treffen, wird die Nachsubven- darum, einer Million Menschen, Mietern und Ange- tionierung kategorisch abgelehnt. Die Bundesregie- hörigen, Sorge und Angst um ihre Wohnungen zu rung wird nicht bestreiten, daß die anderen von mir nehmen. genannten Methoden der Nachsubventionierung (Grünbeck [FDP]: Die Sie ihnen bereitet sinnvoll sind. Denn es ist sinnvoll, bereits gebaute, haben!) bedarfsgerechte Wohnungen zu erhalten und fi- nanzierbar zu erhalten. Und es geht darum, soziale und gemeinnützige - Bindungen von Wohnungen mit dem Ziel zu erhal- Und weil das so ist, geht es nicht um die Sanie- ten, diese Wohnungen weiterhin zur Sicherung der rung der Neuen Heimat, Wohnbedürfnisse breiter Schichten der Bevölke- (Zuruf von der CDU/CSU: Doch!) rung einzusetzen. Dieses Ziel ist nur mit einer sondern um die Sicherung preiswerten Wohnens schnellen, mit einer regional gezielten, mit einer für die Menschen und darum, daß bisherige NH politisch gestützten und finanziell unterstützten, Wohnungen bald in die Hände anderer, gemeinnüt- mit einer im wesentlichen vom Eigentümer und den ziger, genossenschaftlicher oder auch privater Ei- Banken finanzierten Lösung denkbar. gentümer kommen, die nicht mit diesen Wohnun- Aber die Rolle, die die öffentliche Hand dabei zu gen spekulieren, spielen hat, ist nicht zu unterschätzen. Haben Sie (Kolb [CDU/CSU]: Zur Vermeidung des davon nichts gehört, Herr Bauminister, daß diese Gangs zum Konkursrichter!) Notwendigkeit eines Eingehens auf die besonderen sondern die solide Vermieter sind. regionalen Bedürfnisse und Problematiken im Vor- dergrund aller Überlegungen stehen muß? Zwar Ich fordere Sie auf, Herr Minister, Ihre Wahl- kommt in Ihrer Antwort auch die Formel wieder kampfstrategie zu stoppen und sich endlich mit Ih- vor, die wir bereits seit dem 5. Februar 1986 kennen, rer Aufgabe zu befassen. daß die Bundesregierung sich „begleitenden Ermes- (Beifall bei der SPD -- Kolb [CDU/CSU]: sensentscheidungen im Interesse der Mieter nicht Den Konkurs sollen andere bezahlen!) versagen will". Das sind bis heute nichts als leere Worte; denn in gleichem Atemzug spricht sich der Minister wieder dagegen aus, „die betreffenden Präsident Dr. Jenninger: Das Wort hat der Abge- Wohnungen ein zweites Mal mit Mitteln öffentli- ordnete Grünbeck. cher Hand zu fördern" — ein zweites Mal. Wohnun- (Dr. Müller [Bremen] [GRÜNE]: Jetzt wird gen der Bauherrenmodelle sind nur einmal geför- es endlich spannend! Jetzt hauen Sie rein! dert, mit durchschnittlich 120 000 bis 150 000 DM je — Dr. Vogel [SPD]: Aber jetzt!) Wohnung. (Dr:Ing. Kansy [CDU/CSU]: Höhepunkt Grünbeck (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ver- der SPD-Zeit! — Zuruf von der CDU/CSU: ehrten Damen und Herren! Das Ziel aller Bundesre- Ihre Erfindung!) gierungen der Nachkriegszeit war es, durch Sub- ventionen einerseits preiswerte Wohnungen für so- Die 500 000 Wohnungen, die die Neue Heimat ge- zial bedürftige Mieter zu sichern und durch langfri- baut hat, wurden auch einmal gefördert, und zwar stige Bindungen Mietsicherheit zu erhalten und da- mit durchschnittlich 20 000 DM. mit den Menschen, insbesondere den Familien, ein (Conradi [SPD]: So ist es!) Gefühl der Geborgenheit im heimatlichen Umfeld 16608 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Grünbeck zu geben. Das Unternehmen Neue Heimat mit dem stellt, dieses Gremium gerade in den letzten Jahren Eigentümer Deutscher Gewerkschaftsbund hat als Kontrollorgan versagt hat. zweifelsohne wie alle gemeinnützigen und insbe- (Sehr wahr! bei der FDP) sondere auch frei finanzierten Wohnungsbaugesell- schaften in der Bundesrepublik in der Aufbauphase Klangvolle Namen finden sich in der Liste des Auf- Wesentliches für dieses Ziel geleistet. Aber das Un- sichtsrats. Neben Frau Dr. Wulf-Mathies habe ich ternehmen Neue Heimat hat mit seinen Managern auch Herrn Steinkühler gefunden. Dieser Herr hat und Aufsichtsräten, durchweg Gewerkschaftsfunk- kürzlich öffentlich diese Bundesregierung als ein tionären, in einem Anflug von Maßlosigkeit bis hin „Kabinett des Kapitals" bezeichnet: eine unver- zum Größenwahn, von visionären Fehlprognosen schämte Diffamierung der Mitglieder dieser Bun- bis hin zu spekulativen Fehlentscheidungen das desregierung aus vordergründigen politischen Moti- Unternehmen zugrunde gerichtet, ven. (Dr. Müller [Bremen] [GRÜNE]: Was haben (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Sie gegen Spekulationen!) Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) einen riesigen volkswirtschaftlichen Schaden ange- Welche Note hätte sich denn eigentlich der Herr richtet und einen Scherbenhaufen hinterlassen, Steinkühler in seiner Eigenschaft als Aufsichtsrat sondern auch das Ansehen der gemeinnützigen der Neuen Heimat verdient? Entweder hat der Auf- Wohnungswirtschaft insgesamt schwer geschädigt, sichtsrat von der Entwicklung gewußt und hat aus das Vertrauen der Mieter zerschlagen und das Ver- seiner falsch verstandenen Kumpanei geschwiegen trauen der Banken und damit der Sparer, aber auch und damit die Fehlentwicklung bewußt geduldet, das Vertrauen der Steuerzahler mißbraucht. (Kolb [CDU/CSU]: Die Tantiemen waren zu hoch!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) oder er hat nichts gewußt, weil der Einblick, der Dabei muß man dem DGB, aber auch der SPD Durchblick und der Ausblick gefehlt haben. Dann und ihrem Kanzlerkandidaten, der ständig nach hatten aber die Herrschaften im Aufsichtsrat eines dem Anstand und der Wahrheit ruft, in Erinnerung Konzerns dieser Größenordnung nichts zu suchen. bringen, welche Ziele und welche Grundsätze die Gewerkschaften zur Bewirtschaftung ihrer eigenen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — gemeinnützigen Unternehmen selbst beschlossen Dr.- Ing. Kansy [CDU/CSU]: Auch nicht in haben. Da heißt es wörtlich: der Politik!) - Den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht verhin- Es ist nahezu ein Beleg dafür, daß bei der Verfil- dern! Die Politik der gemeinwirtschaftlichen zung von Neuer Heimat, DGB und SPD das Funk- Unternehmen unterliegt der Kontrolle durch tionärsprädikat mehr gilt als jeglicher Sachver- die Gewerkschaften, die Beschäftigten der Un- stand. ternehmen und auch der Konsumgenossen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schaftep. Dadurch ist institutionell gewährlei- Ob das eine oder das andere zutrifft, meine Damen stet, daß die zugunsten von Arbeitnehmern und und Herren, kann man heute noch nicht sagen, aber Verbrauchern beide Möglichkeiten sind von Übel. Wenn die SPD — in unserem Falle also der Mieter — und ihr Kanzlerkandidat dies alles tolerieren, kann man nicht andere ermuntern, den Anstand zu wah- erbrachten Leistungen dauerhaft erbracht wer- ren, sondern dann ist alles aufgerufen, erst das den. eigene Haus in Ordnung zu bringen. Und in den Grundsätzen von 1972 findet sich der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bemerkenswerte Satz: Ich halte es für dringend notwendig, daß Herr Die Gewerkschaften streben eine Wirtschafts- Breit mit seinem gesamten Aufsichtsrat zurücktritt, und Gesellschaftsordnung an, die (...) die Er- weil er in alle die unseligen Entwicklungen durch kenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge seine langjährige Tätigkeit selbst mit verstrickt ist durch Offenlegung aller Daten ermöglicht. und eine unabhängige Kontrolle nicht mehr ermög- licht. Die geschmacklose Bemerkung von Herrn Dies alles sind Phrasen. Die Wahrheit sieht an- Breit, man werde das Tafelsilber des DGB nicht zur ders aus. Die Kontrolle beim gewerkschaftseigenen Sanierung bereitstellen, Konzern Neue Heimat hat versagt. Die Fachleute sind sich in diesem Urteil durchweg einig. Nicht der (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Unglaublich!) Sachverstand, sondern die Funktionäre im Auf- paßt in diese Betrachtungen. sichtsrat mit dem richtigen Parteibuch hatten das Sagen. Herr Breit war 14 Jahre im Aufsichtsrat, da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) von die letzten Jahre als Vorsitzender der Neuen Wir haben mit der Großen Anfrage an die Bun- Heimat tätig. desregierung einen Versuch unternommen, die Wei- (Kolb [CDU/CSU]: Außer Spesen nichts ge terentwicklung der Neuen Heimat einer kritischen wesen!) Betrachtung zu unterziehen. Was dabei von SPD, von Funktionären des DGB und von Managern der Es ist nicht zu fassen, daß bei seinen Ansprüchen, Neuen Heimat alles in die Öffentlichkeit kommt, die er gegenüber anderen in Sachen Verantwortung wirkt abstoßend, weil es von einer ungeheuren Ar- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16609

Grünbeck roganz und Ignoranz gegenüber dem Steuerzahler, Dennoch bleibt natürlich die Frage der Konsoli- dem Sparer und vor allen Dingen gegenüber den dierung im Raum. Denn es zeigt sich ja, daß die Mietern zeugt und weil es an jeglicher Selbstkritik Kraftsprüche von Herrn Lappas wenig genutzt ha- mangelt. ben. Wer die Bilanzen der Neuen Heimat aus den letzten vier Jahren liest, kann einen Satz immer Man darf die Ereignisse doch noch einmal kurz wieder finden: „Im Mittelpunkt unserer Bemühun- skizzieren. gen stand und steht die Konsolidierung des Unter- Erstens. Herr Breit, der Aufsichtsratsvorsitzende, nehmens." Die Frage stellt sich, ob überhaupt ein und Herr Dr. Hoffmann, der Vorstandsvorsitzende, Konzept zur Konsolidierung vorliegt und, wenn ja, schreiben einen Hilfebrief an den Bundeskanzler warum man dann täglich anders handelt, als man und bitten dringend um ein Gespräch mit der Mög- es sich vorgenommen hat. lichkeit, zu prüfen, ob neue Finanzmittel für das Man nehme aus dem Bericht der Bundesregie- Unternehmen Neue Heimat bereitgestellt werden rung nur einmal folgende Zahlen: Bereits jetzt sind können, obwohl bereits 10 Milliarden DM an Sub- mehr als 63 000 Wohnungen verkauft. Zum Teil sind ventionen geflossen sind. es die besten Bestände, die - um schnell an Liqui- Zweiter Akt: Der Bundesbauminister organisiert dität zu kommen — verkauft wurden. Pro Wohnung ein Gespräch mit den zuständigen Ländermini- wurde nach dem Bericht der Bundesregierung ein stern, den Vertretern der Neuen Heimat und den Durchschnittspreis von 70 000 bis 130 000 DM er- Banken, um zu sondieren, welche Möglichkeiten ge- zielt; das wären also im Durchschnitt etwa 100 000 geben sind. Anläßlich dieses Gespräches kommt DM pro Wohnung. Damit müßten eigentlich jetzt eine Vereinbarung zustande, wonach die Neue Hei- schon 6 Milliarden DM an zusätzlicher Liquidität mat durch eine neutrale Stelle eine Bestandsauf- erlöst worden sein. Es taucht aber in der Öffentlich- nahme über ihr gesamtes Vermögen durchführen keit, insbesondere in der Finanzwirtschaft, immer läßt, womit eine solide Ausgangsbasis für weitere mehr die Frage auf, ob denn diese verkauften Woh- Maßnahmen gegeben wäre. nungen von den Erwerbern — zu einem beachtli- Dritter Akt: Unabhängig von dieser Vereinbarung chen Teil sind es ja wiederum gewerkschaftseigene veräußert die Neue Heimat ständig — manchmal zu Käufer wie die BGI — auch tatsächlich bezahlt wur- nicht vertretbaren Schleuderpreisen — Wohnun- den. Bei der Kapitaldecke der BGI z. B. ist zu be- gen, schiebt laut „Spiegel" fürchten, daß sich die Schulden dort drastisch erhö- hen und die Bilanzen der Neuen Heimat entspre- (Müntefering [SPD]: Laut „Spiegel"!) chend entlastet, d. h. geschönt werden. Das ist na- ständig Gewinne und Verluste innerhalb. der Toch- türlich keine seriöse Konsolidierung. tergesellschaften hin und her und ermöglicht damit In diesem Zusammenhang taucht auch die Frage nicht die dringend notwendige Bestandsaufnahme. auf, inwieweit dies alles für den Deutschen Bundes- Vierter Akt: Plötzlich verweigert die Neue Heimat tag wichtig ist. Der Bericht der Bundesregierung die Bucheinsicht und das Gutachten und verstößt sagt u. a., daß durch landesverbürgte Darlehen un- damit gegen ihre eigenen Grundsätze sowie gegen mittelbare Konsequenzen auf die Ausgabenseite die getroffenen Vereinbarungen des Bundes in seiner Eigenschaft als Rückbürge entstehen können. Im Einzelfall kann dies bis zu (Müntefering [SPD]: Ist doch gar nicht 50 % des Bürgschaftsvolumens sein. wahr!) Wenn dem so ist, meine Damen und Herren, dann und erstellt ein eigenes Memorandum, das aber halte ich es für eine Unverschämtheit, wenn die nicht nachgeprüft werden kann. Neue Heimat ankündigt, daß die Länder ein Gut- Fünftens. Als die Bundesregierung die Offenle- achten über die Vermögenslage der Neuen Heimat gung der Bücher als Voraussetzung für alle weite- erhalten werden, dem Bund aber die Bucheinsicht ren Gespräche und mögliche Hilfeleistungen fest- bei dieser Rechtslage weiterhin verweigert wird. schreibt, äußert Herr Lappas, Chefmanager der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Tochtergesellschaft BGAG sinngemäß: Unsere Ver- Nun sollen j a weitere 60 000 Wohnungen zu ähnli- mögensverhältnisse sind so gut, wir sind so reich, chen Preisen verkauft werden, ohne daß etwa das daß wir uns aus eigener Kraft retten können. Konsolidierungskonzept des DGB als Eigentümer (Dr. Möller [CDU/CSU]: Und dann rufen oder ein Konzept der Neuen-Heimat-Manager vor- die nach dem Bund!) liegt. Der hektische Verkauf oft weit unter Markt- preis ist ohnedies ein volkswirtschaftliches Verge- Meine Damen und Herren, dann muß doch die Frage gestattet sein, warum denn der Hilferuf ei- hen, das nicht zu verantworten ist. Schließlich wurde j a hier mit erheblichen Subventionen ein so- gentlich ergangen ist. zialpolitisches Ziel verfolgt, das jetzt, um Gewerk- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) schaftskassen zu schonen, rigoros geopfert wird. Es gibt eigentlich keinen anderen Schluß, als daß Dabei verdient im Rahmen dieser Betrachtungen dieser Hilferuf an den Bundeskanzler eine argli- der Konsolidierung die Entwicklung des Personal- stige Täuschung war, um an weitere öffentliche Gel- bestandes bei der Neuen Heimat Beachtung. der heranzukommen und die Gewerkschaftskasse Meine Damen und Herren, das, was hier vollzo- zu schonen und zu sanieren. gen wurde, sollte man sich wirklich einmal anhö- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ren. 4 982 Personen waren 1980 gemäß dem Bericht 16610 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Grünbeck der Bundesregierung beschäftigt. Jetzt sind es noch Im Bericht zur Lage des Konzerns von 1981 heißt es 3 500. Über 1 400 Mitarbeiter haben also ihren Ar- unter dem Titel „Mieterbetreuung und Kontaktpfle- beitsplatz bereits verloren. Die restlichen Mitarbei- ge" wörtlich — das muß man sich auf der Zunge ter haben kaum Aussicht auf den Erhalt ihrer Ar- zergehen lassen —, ich zitiere: beitsplätze. Hauptproblem der Mieterbetreuung ist der Ab- Was wird von vielen DGB-Funktionären und bau der Anonymität eines Großunternehmens SPD-Kollegen bis hin zum Kanzlerkandidaten Rau gegenüber dem einzelnen Mieter. Um dies zu ständig gewettert, wenn in Betrieben rationalisiert erreichen, ist die Unternehmensgruppe be- wird, um wettbewerbsfähig zu bleiben! Hier aber müht, fortlaufend die Organisation mieternä- verlieren die Menschen ihren Arbeitsplatz nicht her zu gestalten, den Informationsfluß zu ver- durch Rationalisierung, sondern deshalb, weil DGB- bessern, auf die Beschwerden und Anregungen Funktionäre und Neue-Heimat-Manager in verant- der Mieter oder ihrer Interessenvertreter un- wortungsloser Art und Weise die Arbeitsplätze verzüglich einzugehen sowie für Einzelhilfen buchstäblich verschlampert haben und damit den und Gemeinwesenarbeit Sozialarbeiter einzu- Rest ihrer Glaubwürdigkeit verloren haben. setzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Welche frommen Sprüche! Und wie sieht die Wirk- lichkeit aus? Und wenn dies dann noch von der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten toleriert wird, dann ist es auch Die Bundesregierung hat die Rechtslage der Mie- mit ihrer Glaubwürdigkeit restlos zu Ende. ter in der Antwort auf unsere Große Anfrage ein- deutig geklärt. Wir Freien Demokraten nehmen das Schließlich noch eines: Nach dem Wohnungsge- zur Kenntnis. Der Bundeswohnungsbauminister meinnützigkeitsgesetz hätte der regierende Bürger- hat einen Leitfaden für die Mieter der Neuen Hei- meister von Hamburg das Recht — und nach den mat angekündigt, worin aufgezeigt wird, wie sie Ergebnissen auch die Pflicht —, eine sofortige Prü- ihre Rechte wahren können. Ich bitte Sie, Herr Mi- fung durch eine neutrale Aufsichtsbehörde in Auf- nister, ausdrücklich, in diesen Leitfaden auch die trag zu geben zu Lasten des Unternehmens Neue Kontrolle über die Mieten und die Mietnebenko- Heimat. Nachdem sich Herr von Dohnanyi lange zu sten durch die Mieter aufzuzeigen und sehr deutlich Recht geweigert hat, Bestände der Neuen Heimat darzustellen, welche Rechte die Mieter haben. Ich zu kaufen und sich jetzt auf Grund des Druckes sei- halte das für besonders wichtig, weil ich durch viele ner SPD-Basis eines anderen besinnen mußte, wäre Briefe, Gespräche und Telefonate in meiner Über- es eigentlich an der Zeit, daß er seinen Pflichten im zeugung ständig bestärkt werde, daß die Abrech- Sinne des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes nungen über die Mieten und Mietnebenkosten nicht nachkommt, zumal ihm jetzt der Bericht des Parla- korrekt und seriös durchgeführt werden. Dabei mentarischen Untersuchungsausschusses der Ham- werden die Mieter oder deren Interessenvertreter burger Bürgerschaft vorliegt, worüber der „Spiegel" durch die Manager der Neuen Heimat vor Ort oft in seiner Ausgabe vom 21. April 1986 ausführlich nicht gut behandelt. Viele Vorgänge werden verzö- berichtet. gert und verschleiert. Da ist die Rede davon, daß die Firma Neue Hei- mat fast zwangsläufig verrotten mußte, daß sie nun Präsident Dr. Jenninger: Herr Abgeordneter, ge- vor dem Ende steht. Der Konzern habe sich schon statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten lange immer an der Grenze des Erlaubten, mal dies- Müntefering? seits und mal jenseits, bewegt. Ober Jahre hinweg — so der „Spiegel" — wurden die Bilanzen manipu- Grünbeck (FDP): Wenn mir das auf die Redezeit liert, um die ernste Lage zu verschleiern. Da wur- nicht angerechnet wird. den Querverkäufe zu der Konzernzentrale und den einzelnen Regionalgesellschaften abgewickelt, um „die Aktivierung stiller Reserven zur Abdeckung Präsident Dr. Jenninger: Bitte sehr. Ich rechne das von Verlusten, Verringerung oder zur Gewinnab- nicht an. führung" zu inszenieren. Als interne Schieberei be- zeichnet der „Spiegel", daß die Neue Heimat bei Müntefering (SPD): Herr Kollege, da Sie die Mie- ihren einzelnen Firmen ganz nach Bedarf Gewinne terrechte so begrüßen: Sind Sie -- auch in der Kon- oder Verluste buchen konnte. Es heißt wörtlich: „So sequenz der Debatte, die wir jetzt führen — bereit, verschaffte sich der Konzern zwischen 1974 und mit uns ein Gesetz zu verabschieden, mit dem die 1983" — in dieser Zeit war Herr Breit Aufsichtsrats- Mieterrechte in den eben von mir aufgezeigten vorsitzender — „Scheingewinne in Höhe von insge- Punkten verbessert werden? samt 620 Millionen DM. Die Neue Heimat kassierte (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch bei diesen Querverkäufen sogar Vermittlungsprovi- keine Verbesserung!) sionen". So der „Spiegel". Wir werden sicher den Bericht des parlamentari- Grünbeck (FDP): Herr Kollege Müntefering, wir schen Untersuchungsausschusses aus Hamburg sind bereit, Mieterschutz zu betreiben, aber nicht noch näher ansehen und möglicherweise auch dar- so, wie Sie es wollen, nämlich ganz zu Lasten der auf zurückkommen. Eigentümer alles zu arrangieren. Wir werden auch Ich möchte aber heute noch einmal besonders auf die Eigentumsrechte wahren. die Lage der Mieter der Neuen Heimat eingehen. (Lachen bei der SPD) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16611

Grünbeck Beides muß gewahrt bleiben. der Neuen Heimat damit bezahlt hat, daß er auszie- (Beifall bei der FDP) hen und ins Altersheim ziehen mußte. Das ist eine schlechte Sozialpolitik. Ich weiß, daß „Eigentum" für Sie fast ein Fremd- wort geworden ist. (Vorsitz: Vizepräsident Frau Renger) (Dr. Vogel [SPD]: Dummes Zeug!) Die Landschaft der Mieter und ihres Vermieters Der ehemalige Justizminister und heutige Präsi- Neue Heimat ist geprägt von Streit und Rechtsaus- dent des Mieterbundes, Herr Jahn, hat einmal wört- einandersetzungen in allen Bundesländern. Den- lich erklärt noch sollte man nicht bei dieser Betrachtung blei- ben. Ich glaube, daß aus alldem auch Konsequenzen (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wo ist er?) zu ziehen sind. Sicher ist es notwendig, daß die Bun- — er ist ja leider wieder einmal nicht da; ich zitiere desregierung — das zeigt ja auch die Antwort auf ihn —: unsere Große Anfrage — auf eine Entrümpelung Niemand muß Unrecht hinnehmen. Sind einem der unzähligen Gesetze, Verordnungen und Vor- Mieter Unterlagen und Unregelmäßigkeiten schriften innerhalb des Mietrechts drängen sollte. seitens des Vermieters bekanntgeworden und (Zuruf von der SPD: Aha!) er nimmt sie nicht zur Kenntnis und prangert sie nicht an, so macht er sich an der Sache mit- Der Mieter kann sich selbst nicht mehr helfen. Die schuldig. Wirtschaftlichkeitsberechnungen, Grundlage der So Herr Jahn. Miete und der Mietnebenkosten, sind ein unüber- schaubares Instrument geworden, das vielfach miß- Die Welt dieser Menschen, die den Aufruf von braucht wird, ohne daß es der Mieter überhaupt Herrn Jahn wahrmachen wollten, sieht anders aus. feststellen kann. Ich empfehle den Mietern der Sie werden vielfach schikaniert, bis zum Auszug Neuen Heimat, entweder ihre Mietervereine oder gezwungen und vor Gericht gezerrt. In einigen Ge- andere Interessenvertreter zu finden, die genau sprächen und Telefonaten, aber auch aus Briefen nicht nur die Wirtschaftlichkeitsberechnungen prü- äußert sich die große Sorge, daß auch manche fen, sondern auch die Belege dafür kontrollieren Funktionäre des Mieterbundes in einer falschen So- und unter gegebenen Umständen revidieren und lidarität zur SPD und zum DGB gerade im Falle möglicherweise zuviel gezahlte Beträge zurückfor- Neue Heimat nicht immer mit aller Entschlossen- dern. heit die Rechte der Mieter wahrnehmen, wie sie es - in anderen Fällen getan haben. (Beifall bei der FDP) Ich habe heute drei Bürger zu dieser Sitzung ein- Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß geladen und freue mich, daß zwei von ihnen gekom- noch eine Bemerkung machen: Die Neue Heimat ist men sind. Sie haben sich besonders engagiert und mit einem Namen angetreten, der einen hohen ethi- können mir das alles bestätigen. Frau Margit War- schen Wert in sich birgt. Heimat ist für viele Men- necke aus Hannover hat in jahrelanger Arbeit ge- schen ihre Wohnung oder ihr Heim und das dazuge- genüber der NWDS, einem Tochterunternehmen hörige Umfeld. Das Wort Heimat hat durch eine der Neuen Heimat, erstritten, daß einer Mieterge- verfilzte Mißwirtschaft von Funktionären und Ma- meinschaft mit 280 Mietern in Hannover 130 000 nagern viel von dieser Ethik verloren. Aber wir wer- DM an zuviel berechneten Gebühren zurückgezahlt den dieses Thema und die gesamte Problematik auf werden mußten. Frau Warnecke hat weder gericht- der Tagesordnung belassen, im Interesse der Mie- liche Auseinandersetzungen noch Kosten, noch per- ter, aber auch im öffentlichen Interesse aller Bür- sönliche Diskriminierungen gescheut, um für ihre ger, bis wir Klarheit über die weitere Finanzierung Mietergemeinschaft dieses Ergebnis zu erstreiten. und die weitere Bestandssicherung haben. Es bleibt Was sie mir an Belegen vorgelegt hat, an Ereignis- auf der Tagesordnung, bis wir Klarheit haben, wer sen geschildert hat, ist unbeschreiblich. Aber es die Verantwortung und die Schuld für diese Fehl- zeigt, daß wir in den Reihen der Mieter der Neuen entwicklung trägt. Es bleibt auf der Tagesordnung, Heimat sehr aufmerksame Mitbürger brauchen, die damit wir die Verantwortlichen zur Rechenschaft sich gegen die Mißbrauchserscheinungen zur Wehr ziehen können und damit möglicher Schaden er- setzen. setzt wird. (Beifall bei der FDP — Immer [Altenkir chen] [SPD]:. Das ist überall so!) Wenn ich abschließend, Herr Müntefering, noch eines zu Ihren Ausführungen sagen darf, die in Herr Klaus Piper aus Frankfurt hat insbesondere einer selten konfusen Art und Weise die Verantwor- die Neue Heimat Südwest im kritischen Visier. Da tung an den Bundesbauminister adressiert haben, wurden u. a. 23 Jahre lang Instandhaltungskosten dann kann ich nur sagen, wenn sich die SPD bei der über die Miete erhoben, ohne daß dringende Repa- Wohnungspolitik, bei der Sicherheitspolitik, bei raturen durchgeführt wurden wie etwa an undich- Farthmannscher Wirtschaftspolitik, bei der Ener- ten Fenstern, die im Winter mit Decken abgedichtet giepolitik und bei der Sozialpolitik weiterhin auf werden mußten. Das sind keine mieterfreundlichen diesem Untugendpfad bewegt, dann wird, wie mir Handlungen. neulich ein Kollege aus Ihren Reihen gesagt hat, Besonders tragisch erscheint mir das Schicksal mit Kontinuität etwas wahr werden: daß aus der von Herrn Prohl aus Wehrl — er kann heute leider Sozialdemokratischen Partei eine sozialdesolati- nicht kommen —, der einen jahrelangen Streit mit sche Partei wird. 16612 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Grünbeck Ich danke Ihnen. gierung ist ausschließlich darauf gerichtet, die Neue (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Heimat als den Alleinschuldigen darzustellen. Un- ter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit wird hier versucht, den gesamten sozialen Wohnungsbau Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Ab- auszuhebeln, als antiquiert und nicht mehr zeitge- geordnete Werner (Westerland). mäß hinzustellen.

Werner (Westerland) (GRÜNE): Frau Präsidentin! (Ruf [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen denn das Meine Damen und Herren! Wir haben es ja schon aufgeschrieben?) seit Monaten gewußt, brauchten gar nicht die Auf- Der Wohnungsbauminister wird ja nicht müde, vom deckung durch die „Frankfurter Rundschau" von angeblichen Mietermarkt zu reden. Da zittern of- gestern: Die Koalition macht hemmungslos Wahl- fenbar die armen Hausbesitzer vor der Allmacht kampf der Mieter, die aber Quadratmetermieten von (Ruf [CDU/CSU]: Sie nicht?) 12 DM und mehr gar nicht zahlen können. mit dem Thema Neue Heimat, und damit treibt sie Schindluder mit der Angst von Mietern, (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Die Zahl stammt vom sozialen Wohnungsbau!) (Lattmann [CDU/CSU]: Das müssen ausge- rechnet Sie sagen! Was haben Sie denn ge Wir GRÜNEN machen dieses miese politische stern gemacht?) Geschäft mit der Angst der Mieter nicht mit. Wir wie ich schon in der Aktuellen Stunde zur Neuen fordern vielmehr: Nehmt den Mietern die Angst Heimat am 14. März hier gesagt habe. Das Ganze und der Neuen Heimat die Wohnungen! ist ein Lehrstück in Demagogie. Nur ein ganz klei- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und den Steu nes Beispiel: In Ihrer Antwort auf die Große An- erzahlern das Geld!) frage der Koalitionsfraktionen erklärt die Bundes- regierung unter anderem, Hilfen für die Neue Hei- Wir meinen, daß die Wohnungen der Neuen Heimat mat würden dem Umweltschutz die notwendigen endlich einer demokratischen Selbstverwaltung der Mittel entziehen. Mieter übergeben werden müssen. Die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und (Beifall bei den GRÜNEN — Bohl [CDU/ der Koalitionsfraktionen wird durch Ihre Politik in CSU]: Reden Sie doch einmal von den Ma Sachen Neue Heimat arg strapaziert. Es hätte Ih- nipulationen der Neuen Heimat!) nen zu denken geben sollen, daß in Teilen der Me- - dien in, der Berichterstattung über die letzte Aktu- Wir GRÜNEN sind hier nicht in der Position, das elle Stunde zur Neuen Heimat — das war schon der grobe Fehlverhalten der Verantwortlichen der dritte Aufguß des Grafen — die GRÜNEN so gut Neuen Heimat verteidigen zu wollen oder zu müs- wegkamen. Da hieß es z. B. im Norddeutschen sen. Für solches Fehlverhalten bis hin zur Wirt- Rundfunk, schaftskriminalität müssen klare Verantwortlich- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Die machen ja keiten und auch Schadensersatzansprüche festge stellt werden, wie das in Hamburg bereits mit ei- selber den Rundfunk!) nem Untersuchungsausschuß begonnen wurde. daß die GRÜNEN mit ihrem Konzept zur Sanierung der Neuen Heimat den einzigen konstruktiven Bei- (Bohl [CDU/CSU]: Herr Schily hätte schon trag in dieser Stunde hier geleistet hätten. Die Bür- Strafantrag stellen können!) ger sind es leid, hier immer nur Polemik zu hören. Unabhängig davon ist die Verantwortlichkeit der (Ruf [CDU/CSU]: Merken Sie sich das!) öffentlichen Hand für das Fortbestehen der sozial- Dieses Rednerpult hier immer nur als Gockel- und preisgebundenen Wohnungsbestände der kampfplatz der Nation zu benutzen und zu erle- Neuen Heimat zu sehen. Ich will hier nicht noch- ben, mals unser Konzept zur Sanierung darstellen; es (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das müssen liegt Ihnen als Drucksache vor, und ich habe es an Sie gerade sagen!) diesem Platz auch schon einmal dargestellt. Aber ich will einmal auf das Verhältnis zwischen der das sind die Leute leid. Hier müßten die Debatten öffentlichen Hand und der Neuen Heimat einge- stattfinden, die diese Republik wirklich nötig hat, hen. (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und dazu brauchen wir die GRÜNEN?) Folgt man der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage, dann ist die Neue Heimat nur und nicht diese Scheingefechte mit dem Hinterge- eine ganz normale Firma, die öffentliche Zuschüsse danken, über das Fernsehen ein paar Wähler zu erhielt und mit diesen Geldern Mißwirtschafttrieb. beeinflussen. Die Sorgen der Mieter der Neuen Hei- Wir GRÜNEN sehen das grundsätzlich anders. Aus mat sind es wirklich wert, daß wir uns ohne Pole- unserer Sicht hat die Neue Heimat in der Vergan- mik mit ihnen befassen. genheit einen sozialen Treuhandauftrag übernom- In der Antwort auf die Große Anfrage wird mit men, und das bedeutet für die jetzige Situation, daß keinem Wort erwähnt, daß es eine Verantwortlich- die vorhandenen Probleme der Neuen Heimat nicht keit des Bundes für die Wohnungsbauförderung, für so gelöst werden können wie bei einem ganz nor- die Wohnungsbaugesetze oder für das Wohnungs- malen Unternehmen der sogenannten freien Wirt- bindungsgesetz gibt. Alles Bemühen der Bundesre- schaft. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16613 Werner (Westerland) Die Neue Heimat hat mit Hilfe von öffentlichen Neuen Heimat ihren Anteil zur Finanzsanierung Subventionen Sozialwohnungen erbaut. der Neuen Heimat beizutragen haben. (Dr:Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wir haben (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord über 1 700 gemeinnützige Unternehmen, neten der SPD) und bei denen funktioniert das!) Andererseits bedeutet das auch, daß der noch Die 10 Milliarden DM öffentliche Mittel, die sie fortgeltende Treuhandvertrag es der Neuen Heimat dazu erhielt, waren Gelder, auf die sie nach gelten- verbieten muß, jetzt ihre Wohnungen zu Marktprei- den Gesetzen einen Anspruch hatte, und einen sol- sen zu verkaufen; denn sie hatte ja gerade einen chen Anspruch hat noch heute jeder Investor, der öffentlichen sozialpolitischen Treuhandvertrag zur für gleiche Zwecke Sozialwohnungen baut und da- Errichtung .und Erhaltung von Sozialmietwohnun- bei eine entsprechende Eigenleistung erbringen gen geschlossen. kann. Diese Eigenleistungen werden bekanntlich Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Er- von den Genehmigungsbehörden überprüft. Wie stens. Die Neue Heimat hat nach unserer Auffas- diese Überprüfung lief, werden wir demnächst wohl sung in der Vergangenheit eine öffentliche Aufgabe vom Hamburger Untersuchungsausschuß näher er- treuhänderisch übernommen. fahren. Zweitens. Die Fehler in der Subventionspolitik Der sozialpolitische Treuhandauftrag bedeutet der öffentlichen Hand lassen den Bund als Treuge- aus unserer Sicht, daß die Wohnungen in ihrer Ge- ber weiter in der Pflicht stehen. samtheit und mit ihren Bindungen erhalten bleiben müssen. Sie dürfen nicht über den Markt an Speku- Drittens. Mißmanagement und Wirtschaftskrimi- lanten geschoben werden. Das Treuhandverhältnis nalität verpflichten den Eigentümer der Neuen Hei- legt die Rechte und Pflichten fest. Der Treuhand- mat, den DGB, als Treuhänder zu Schadenersatz. auftrag bedeutet z. B., daß sich der Treugeber, die Nicht zuletzt viertens: Die Banken haben an den öffentliche Hand, mit den Folgen insoweit befassen Sozialmietern dank öffentlicher Bürgschaften blen- muß, als diese wirtschaftlichen Folgen durch den dend verdient; auch sie haben durch Zinsverzichte Treugeber selbst mit verursacht worden sind; denn: o. ä. ihren Beitrag zu leisten. die Verantwortlichkeit des Bundes für die gesetzli- chen Grundlagen des sozialen Wohnungsbaus, die Nur in einer solchen Gesamtlösung, wie wir sie systematische Austrocknung der Mietwohnungs- vorgeschlagen haben, lassen sich die jetzt drohen- bauförderung den Folgen eines völligen Zusammenbruchs- der Neuen Heimat vermeiden. Solche Folgen wären: (Dr:Ing. Kansy [CDU/CSU]: Totaler Nur die besseren Wohnungen ließen sich verkaufen, Quatsch, was Sie da erzählen!) die schwer vermietbaren würden letztlich der öf- und die ebenso systematische Bevorzugung der bes- fentlichen Hand zur Last fallen, und zwar durch ser verdienenden Eigenheimbesitzer, das System erneut nötige Nachsubventionierung, durch erhöh- der Kostenmiete, die zu unbezahlbaren Mieten für tes Wohngeld, durch erhöhte Leistungen für Sozial- neue Sozialwohnungen führte, all dies hat der hilfeträger usw. Bund, hat die öffentliche Hand mit zu verantworten, Vor allem aber sollte an das Schicksal der verun- und all dies rechtfertigt es aus unserer Sicht, auch sicherten Mieter gedacht werden. Leider scheint von einer Treuepflicht des Treugebers auszugehen, der Regierung hier jedoch nur das kurzfristige und das heißt, auch die öffentliche Hand muß einen Wahlkampfgeschäft wichtig. Die Entlarvung der zy- finanziellen Sanierungsbeitrag leisten. nischen Wahlkampftaktik der Koalition auf dem Aber auch die Pflichten des Treuhänders, der Rücken verunsicherter Mieter führte gestern in un- Neuen Heimat, sind klar zu definieren. Auch der serem Fachausschuß bei der Mehrheitsfraktion DGB mit seinen Einzelgewerkschaften, der Eigen- zum allgemeinen Gemurmel und zu Klagen über tümer der Neuen Heimat, muß Gelder in die Sanie- „Ausspionieren", soweit ich das von meinem Sitz- rung der Neuen Heimat einbringen. platz aus hören konnte. Die Neue Heimat selbst hat sicher mit umfangrei- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wir haben ge chem Fehlverhalten ihren Beitrag zu ihrer eigenen stern nur über das Baugesetzbuch gespro Krise geleistet: Mißmanagement, chen, Herr Kollege! — Dr. Möller [CDU/ CSU]: Sie können da hinten aber wirklich (Lattmann [CDU/CSU]: Verharmlosung!) schlecht hören!) kriminelle Spekulation mit Strohmännern — ist Ich empfehle der Koalition als Gegenmittel gegen das eine Verharmlosung? —, dubiose konzernin- solche Enttäuschungen die Offenheit von Frak- terne Geschäfte zwischen Konzernmutter und Re- tionsbeschlüssen, wie sie z. B. durch die bei uns gionalgesellschaften, ungeklärte illegale Spenden praktizierte jederzeitige Öffentlichkeit von Frak- an Parteien und Stiftungen, Kapitaltransaktionen tionssitzungen gewährleistet ist. Besuchen Sie uns zwischen der gemeinnützigen Neuen Heimat und ruhig einmal auf einer Fraktionssitzung; Sie dürfen der nicht gemeinnützigen Gesellschaft mit dem fast dort sogar mitreden. gleichen Namen, Gesellschaften, die kaum ein Kommunalpolitiker auseinanderhalten konnte; und (Ruf [CDU/CSU]: Nein, danke!) diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig. Das Vielleicht erfahren Sie dadurch auch, daß der bedeutet natürlich, daß auch die Eigentümer der Versuch, die GRÜNEN durch Geheimdienste auszu- 16614 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Werner (Westerland) spionieren, eine völlig untaugliche Unternehmung trales Wirtschaftsprüfungsinstitut durchführen zu ist und zudem völlig überflüssig. lassen. (Dr. Möller [CDU/CSU]: Was hat das mit (Grünbeck [FDP]: So ist es! Auch in Ham der Neuen Heimat zu tun?) burg!) Vielen Dank. Dies ist nicht geschehen. Was hätten Sie wohl ge- (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord sagt, wenn ich 1983 einen Bundeskommissar zur neten der SPD) Überprüfung der Vorgänge in Hamburg dorthin in Marsch gesetzt hätte? Dazu waren die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben. Ich möchte aber Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und entschieden feststellen: Der Skandal Neue Heimat entwickelte sich in den 70er Jahren, und damals Städtebau, Dr. Schneider. regierten andere. Wenn es eine konkrete Verant- wortung für die Aufsichtspflicht gegeben hätte, so- Dr. Schneider, Bundesminister für Raumordnung, weit es eine solche überhaupt gibt — in diesem kon- Bauwesen und Städtebau: Frau Präsidentin! Meine kreten Zusammenhang bestreite ich sie —, dann sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Die hätte sie bei den damaligen Justiz- und Baumini- Bundesregierung begrüßt die Gelegenheit, im Rah- stern gelegen. men dieser Aussprache ihre Position zu diesen un- erfreulichen Entwicklungen erneut darstellen und (Bohl [CDU/CSU]: Wer war das?) bekräftigen zu können. Sie will Tatsachen klären, — Ich sage, ich bestreite das; wenn es sie überhaupt Licht in die vielfach verworrenen und dunklen Zu- gegeben hätte. Man sollte einen solchen Gedanken sammenhänge bringen; sie war und ist weiterhin gar nicht erst aussprechen. bestrebt, Schaden für Mieter und Geschäftspartner der Neuen Heimat zu verhindern oder zu mindern. (Dr. Vogel [SPD]: Purzelbaum! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Warum ist denn Herr Von diesen Leitgedanken ließ ich mich bereits in Vogel so aufgeregt, Herr Schneider? — meinem Bericht an den Herrn Bundeskanzler am Weitere Zurufe von der CDU/CSU) 22. Oktober 1985 leiten. Niemand hat jemals Anlaß gehabt, die Korrektheit und Verläßlichkeit dieser Meine Damen und Herren, auch die Länder ha- Darstellungen anzuzweifeln. ben keinen ausreichenden Überblick über die Ge- samtlage des Konzerns. Aus dieser Erkenntnis ha- Die Bundesregierung war auch bemüht, die ben mich meine Länderkollegen am 19.- Dezember Große Anfrage, soweit ihr das nach den ihr zugäng- 1985 gebeten, ein Gespräch mit dem Vorsitzenden lichen Unterlagen möglich erschien, mit sachlichem des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Ge- Ernst und objektiven Maßstäben zu beantworten. schäftsführung der Neuen Heimat zu vermitteln (Müntefering [SPD]: Die Antworten waren und zu koordinieren. Das Gespräch sollte aus- doch schon fertig!) schließlich den Informationsstand verbessern und Aus der Antwort ersehen Sie aber, daß die Bun- Gelegenheit zu einem informellen Gedankenaus- desregierung nicht alle Fragen vollständig und in tausch bieten. Ich habe dieser Bitte entsprochen, allen Einzelheiten beantworten konnte. Neue Hei- weil die Geschäftslage der Neuen Heimat bundes- mat und DGB haben wenig dazu getan, ihre wirt- weite und grundsätzliche wohnungs- und gesell- schaftliche Lage zu erhellen und einer fach- und schaftspolitische Fragen aufwirft. Mir ging es dar- sachgerechten Beurteilung zugänglich zu machen. um, die Diskussion zu versachlichen, Gefahren ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zuwenden und umfassende Informationen für mög- liche gesetzgeberische Maßnahmen zu erhalten. Die wirtschaftliche Lage des Gesamtkonzerns liegt weiter im Dunkeln. Die Bundesregierung Das Gespräch der Bauminister mit dem Vorsit- wurde bisher jeder Einblick in die Gesamtzusam- zenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes und menhänge verwehrt. Das, meine Damen und Her- der Geschäftsführung der Neuen Heimat am 5. Fe- ren, gilt weithin auch für die Bundesländer. bruar 1986 brachte nicht die erhofften zusätzlichen Informationen über die wirtschaftliche Lage des Nun haben Sie, Herr Kollege Müntefering, die Unternehmens. Dennoch habe ich es begrüßt, daß Frage nach der Rechtsaufsicht — etwas anderes alle Beteiligten zu weiteren Gesprächen bereit wa- konnten Sie auch nicht gemeint haben — wohl im ren. Die Neue Heimat und der DGB erklärten sich Zusammenhang mit Art. 84 des Grundgesetzes auf- bereit, ein Gutachten bei der Treuarbeit AG in geworfen. Sie wissen, daß die Länder die Bundesge- Frankfurt zu folgenden Punkten in Auftrag zu ge- setze in eigener Verantwortung auszuführen haben. ben: Bewertung des Vermögens, Gesamtbestand Das heißt, auch das Land Hamburg war für den der Verbindlichkeiten, Struktur und Fälligkeit der Vollzug dieser Gésetze voll verantwortlich. Aus- Verbindlichkeiten, Leistungsverflechtungen sowie weislich der einstimmigen Feststellungen im Ham- haftungsrechtliche Verflechtungen innerhalb des burger Untersuchungsausschuß haben die Hambur- Gesamtkonzerns. Es wurde festgelegt: Sobald die- ger Behörden ihrer Aufsichts- und Kontrollpflicht ses Gutachten und ein Sanierungskonzept der nicht genügt. Die Länder sind in diesem Fall die Neuen Heimat vorgelegt werden, sollen weitere Ge- Bewilligungsbehörden. Sie führen die Aufsicht, sie spräche stattfinden. kontrollieren. Die Länder allein haben nach § 26 des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes das Recht, je- Für mich gänzlich unerwartet, ganz und gar über- derzeit eine Sonderprüfung durch ein neu- raschend, zog der Deutsche Gewerkschaftsbund am Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode -- 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16615

Bundesminister Dr. Schneider 20. März 1986 seine Zusage, ein neutrales Gutachten derrecht und das Wohnungsgemeinnützigkeits- erstellen zu lassen, zurück. Die dafür vorgebrachten recht zu ändern sind. Soziale Leistungen des Staa- Gründe sind nicht überzeugend. Die Bundesregie- tes müssen den bedürftigen Mieter entlasten. Sie rung wertet sie als Schutzbehauptungen. Alles, was dürfen nicht durch Bodenspekulationen und unter- Neue Heimat und Deutscher Gewerkschaftsbund nehmerisches Fehlverhalten verwirtschaftet wer- an Stelle dieses Gutachtens vorgelegt haben, er- den. weist sich als unzulänglich, unergiebig, unvollstän- (Müntefering [SPD]: Da sind wir uns ei dig und letztlich wertlos für die Begutachtung der nig!) gesamten Konzernlage. — Vielen Dank. Meine Damen und Herren, am 24. April habe ich nach einem weiteren Gespräch mit meinen Kolle- Die Bundesregierung wird nicht tatenlos zu- gen aus den SPD-regierten Ländern die Gewißheit schauen, wie gemeinnützigkeitsrechtliche Bindun- gewonnen, daß die politischen Voraussetzungen für gen aufgegeben werden. Es darf auf keinen Fall eine gemeinsame und einheitliche Haltung gegen- hingenommen werden, daß der Mieter gemeinnützi- über der Neuen Heimat und dem DGB nicht mehr ger Gesellschaften häufig teurer wohnt als der Mie- gegeben sind; vielleicht sind sie niemals gegeben ter in der freien Wohnungswirtschaft. Das ist nicht gewesen. Einige Länder sind inzwischen den Weg nur eine Folge der falschen Förderpolitik in den gegangen, öffentliche Mittel zur Sanierung der 70er Jahren, der unsoliden degressiven Förderung, Neuen Heimat einzusetzen oder in Aussicht zu stel- der ungezügelten Expansion ohne finanzielle Absi- len. Damit werden Verluste übernommen und wirt- cherung. Bei der NeuenHeimat sind öffentliche Gel- schaftliches Fehlverhalten mit Steuergeldern aus- der teilweise gar nicht dem Mieter zugute gekom- geglichen. Dies ist keine soziale Wohltat für die men. Sie wurden zum Aufbau eines gigantischen Mieter; das kommt einer Subvention des Deutschen und verschwenderischen Konzerns mißbraucht. Gewerkschaftsbundes gleich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden die Vorgänge bei der Neuen Heimat Die Bundesregierung bleibt dabei, daß sie keine genau untersuchen. Wir werden Konsequenzen im Steuermittel für die Neue Heimat zur Verfügung Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz ziehen. Wir stellen wird. müssen uns mit dem Prüfungswesen befassen und dabei insbesondere der Frage nachgehen, warum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das wirtschaftliche Unwesen der Neuen Heimat we- Die Schwierigkeiten der Neuen Heimat sind der von den Verbandsprüfern noch von den- Auf- nicht nur ein wirtschaftlicher Vorgang. Sie sind von sichtsbehörden gestoppt wurde. Wir müssen uns schwerwiegender sozialpolitischer und gesell- mit der Frage nach einer stärkeren Kontrolle durch schaftspolitischer Bedeutung. Die Verkäufe von fast gesetzliche Regelungen oder öffentliche Verwaltun- 70 000 Mietwohnungen und die Ankündigung weite- gen oder durch stärkeren marktwirtschaftlichen rer Wohnungsverkäufe, deren Umfang bisher noch Wettbewerb stellen. Dafür ist die von mir geforderte nicht abzusehen ist, haben die Mieter und die Be- umfassende Information über die Vorgänge bei der schäftigten der Neuen Heimat verunsichert. Die Neuen Heimat und über die Ursachen der Schwie- Mieter und Mitarbeiter der Neuen Heimat stellen rigkeiten erforderlich. die Frage nach der sozialen Glaubwürdigkeit des Lassen Sie mich an die Adresse der DGB. Mieter der Neuen Heimat sagen: Ich verstehe Ihre Sorgen. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) halte sie aber nicht für begründet. Die Mieter sind Die Gewerkschaftsmitglieder zweifeln an der Ge- in einer guten rechtlichen und wirtschaftlichen meinwirtschaft und an den unternehmerischen Fä- Position. higkeiten des DGB und der verantwortlich Han- Das bedeutet: Beim Verkauf einer vermieteten delnden dort. Wohnung tritt der Erwerber mit allen Rechten und Das unternehmerische Versagen hat weitrei- Pflichten in den zwischen dem Mieter und der chende Folgen. Die Folgen sind nicht regional be- Neuen Heimat bestehenden Mietvertrag ein. Der grenzbar. Die zuständigen Aufsichtsbehörden in Käufer von Sozialwohnungen hat grundsätzlich kei- den Ländern sind zum Teil überfordert, den überre- nen Einfluß auf die aus der öffentlichen Förderung gionalen Mammutkonzern Neue Heimat wirksam folgenden Sozialbindungen. Die gesetzlich vorge- zu kontrollieren. schriebene Kostenmiete und die Belegungsbindung hat jeder Eigentümer in gleicher Weise zu beachten Bundesregierung und Bundesgesetzgeber müs- wie sein Vorgänger. Auch eine Umwandlung von sen prüfen, ob Konzerne in dieser Größe und mit Miet- in Eigentumswohnungen und deren anschlie- derart undurchsichtigen Verflechtungen einen ge- ßende Veräußerung läßt alle gesetzlichen und ver- meinnützigen Auftrag überhaupt erfüllen können. traglichen Schutzrechte der Mieter unberührt. Die Neue Heimat hat rund 10 Milliarden DM an Auch der Schutz des Mieters gegen überzogene öffentlichen Mitteln erhalten und zahlt als gemein- Mieterhöhungen wird nicht eingeschränkt. Der Er- nütziges Unternehmen keine Steuern. Bund, Län- werber der Wohnungen kann die Miete nur unter der und Gemeinden müssen fürchten, daß dieses den Voraussetzungen erhöhen, die auch seinen Sozialkapital verlorengeht. Rechtsvorgänger zu einer Mieterhöhung berechtigt Dieser Vorgang ist ein Alarmzeichen für den hätten. Bei preisgebundenen Sozialwohnungen ist Bundesgesetzgeber. Er hat zu prüfen, ob das För- er zu einer Mieterhöhung nur berechtigt, wenn sich 16616 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Bundesminister Dr. Schneider die laufenden Aufwendungen erhöhen und er dies [CDU/CSU]: Er steckt mit unter der Decke! nicht zu vertreten hat. — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) (Müntefering [SPD]: Alles nur die halbe Aber, meine Damen und Herren, die Neue Hei- Wahrheit!) mat ist nicht gleichzusetzen mit der übrigen ge- Bei nicht preisgebundenen Wohnungen kann der meinnützigen Wohnungswirtschaft. Vermieter grundsätzlich eine Anpassung der Miete (Zustimmung bei der SPD) an die ortsübliche Vergleichsmiete vornehmen, so- Mehr als 1 800 gemeinnützige Wohnungsunterneh- fern er nicht die gemeinnützigkeitsrechtliche Ko- men setzen sich in vorbildlicher Weise für die Mie- stenmiete beachten muß. Dabei darf die Erhöhung ter ein und richten sich bei ihren Handlungen nach innerhalb von drei Jahren insgesamt nicht mehr als den Grundsätzen der gemeinnützigen Wohnungs- 30 % betragen. Das gilt auch in den Fällen, in denen wirtschaft. hierdurch die ortsübliche Vergleichsmiete nicht er- reicht wird. (Werner [Westerland] [GRÜNE]: Sie wollen ihnen die Gemeinnützigkeit nehmen!) Die Mieter sind nicht nur in einer guten rechtli- chen, sondern auch in einer hervorragenden wirt- Ich sehe es als meine Aufgabe an, Schaden von der schaftlichen Position. Der beste Mieterschutz ist gemeinnützigen Wohnungswirtschaft und vor allem das derzeitige reichliche Angebot an Mietwohnun- von deren Mietern abzuwenden. gen. Ich bedaure es sehr, daß meine Kollegen aus den Meine Damen und Herren, die Entwicklung der SPD-regierten Ländern einerseits das Verhalten Mieten bewegt sich — auch hier darf ich an die bit- des DGB und der Neuen Heimat zwar heftig kriti- tere und reichlich polemisch, sieren — das macht auch die- Bundestagsfraktion; das haben auch Sie, sehr geehrter Kollege Vogel, (Dr. Möller [CDU/CSU]: Verlogene!) mehrfach getan, und Sie sparen auch nicht mit Vor- verlogen geführte Mietrechtsdiskussion zur Zeit würfen an deren Adresse —, andererseits machen der Wende, 1982/83, erinnern — Sie aber immer wieder den Versuch, dieses skanda- (Dr.- Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wo ist eigent löse Fehlverhalten politisch zu decken. lich der Herr Jahn, der Präsident des Mie (Dr. Vogel [SPD]: Wo denn?) terbundes?) Unter dem Vorwand, die Mieter schützen zu wollen, zwischen 1,6 % im freifinanzierten Wohnungsbau stellen Sie unmittelbar oder mittelbar Gelder- aus und 2,9 % im Altbaubestand bis 1948. öffentlichen Kassen für den Ankauf von Wohnun- (Dr. Müller [Bremen] [GRÜNE]: Sagten Sie gen der Neuen Heimat zur Verfügung. Ich denke an „verlogen", Herr Minister?) gewisse Bundesländer — — — Ja. (Dr. Vogel [SPD]: Bayern z. B.!) (Dr. Müller [Bremen] [GRÜNE]: Gut, danke — Bayern hat nie eine Steuer-Mark zur Verfügung schön!) gestellt. In meinem Haus ist ein für jeden Mieter ver- (Dr. Vogel [SPD]: Aber Lothar Späth kauft ständliches Merkblatt erstellt worden, in dem die seine eigene Gesellschaft! — Dr. Müller Schutzrechte der Mieter zusammengefaßt sind. [Bremen] [GRÜNE]: Herr Späth ist so- wieso so ein Investitionslenker!) (Dr. Vogel [SPD]: Großartig! „Verständ lich"!) Unter Hinweis auf die Grundsätze der Geschäfts- führung ohne Auftrag, bei der ich, Herr Kollege — Sie dürfen das soziale Engagement dieser Bun- Vogel, ja bekanntlich den wirklichen oder mutmaß- desregierung für die Mieter niemals unterschät- lichen Willen des Geschäftsherrn zu beachten habe, zen. darf ich sagen: Bayern wird niemals eine Steuer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Mark für den DGB, für die Neue Heimat bereitstel- Dr. Vogel [SPD]: Eine Drucksache nach der len. anderen!) (Dr. Sperling [SPD]: Darunter leiden auch Der Deutsche Mieterbund hat allerdings monate- die Mieter!) lang tatenlos zugesehen. Die Bundesregierung hält diesen Weg für falsch; er (Frau Rönsch [CDU/CSU]: Wo ist denn der ist vor dem Steuerzahler nicht vertretbar. Präsident?) Sie bleibt dabei, daß für das unternehmerische Auch in seinen jüngsten Stellungnahmen ist wenig Schicksal der Neuen Heimat ausschließlich der von seinem früheren kämpferischen Engagement DGB mit seinen Einzelgewerkschaften verantwort- für die Mieter zu spüren. Das wäre die Stunde des lich ist. Deutschen Mieterbundes gewesen. Er hat sie nicht (Beifall bei der CDU/CSU) genutzt! Sie sind die wirtschaftlichen Eigentümer des Unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — nehmens. Ihre Spitzenfunktionäre sind als Vertre- Frau Rönsch [CDU/CSU]: Jahn glänzt ter in den Aufsichtsrat entsandt worden, dessen durch Abwesenheit! Wenn es um die Mie- Vorsitzender traditionell der Vorsitzende des DGB ter geht, ist Jahn nie da! — Dr.-Ing. Kansy ist. Führende Gewerkschaftsvertreter sind darüber Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16617

Bundesminister Dr. Schneider hinaus als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr des paritätisch mitbestimmten Unternehmens zu Abgeordnete Schmitt (Wiesbaden). finden. Diese Aufsichtsräte haben die Geschäftsfüh- (Zurufe von der CDU/CSU: Nun wird es rung der Neuen Heimat berufen, kontrolliert und schwer! Jetzt werden Maßstäbe ge entlastet und tragen dafür auch die volle Verant- setzt!) wortung. (Beifall bei der CDU/CSU) Schmitt (Wiesbaden) (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesbauminister Auch für die Gesellschafterversammlungen be- hat wieder einmal deutlich gemacht, daß er zum stand seit jeher eine vollständige Kontrolle des Un- Thema Neue Heimat Diese ternehmens durch die DGB-Gewerkschaften. (Dr. Möller [CDU/CSU]: Absolut richtig gewerkschaftliche Kontrolle durch Selbstkontrolle spricht!) hat kläglich versagt. — das beweist nicht nur sein Vortrag, sondern das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — beweisen auch seine Antworten — erstens keinen Bohl [CDU/CSU]: Warum wohl?) Überblick hat. Die Gewerkschaften haben es zugelassen, daß ein (Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der polypenartiges Konzernsystem entstanden ist, das CDU/CSU: Wer hat denn den Überblick? — an seiner Maßlosigkeit zugrundezugehen droht. Dr. Möller [CDU/CSU]: Den hat Herr Breit, den Überblick!) Ich fasse zusammen: Nach Ansicht der Bundesre- Er hat uns Antworten geliefert, die die CDU/CSU gierung haben im wesentlichen vier Gründe zu dem Fraktion bestellt hat. Er hat zweitens erklärt, daß er in der deutschen Wirtschaftsgeschichte einmaligen keine Zuständigkeit des Bundes sieht. Drittens hat Fall Neue Heimat geführt: er erklärt, daß keine Steuermark für die Neue Hei- Erstens, eine maßlose Expansion ohne Rücksicht mat -- für die Mieter, das steht dann in Klammern auf finanzielle Grenzen und eine undurchschaubare dahinter — bereitgestellt wird. Konzernkonstruktion. (Widerspruch bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben nicht zuge Zweitens, eine zu geringe Kapitalausstattung der hört!) Neuen Heimat durch die Gewerkschaften. — Sie wollen das nicht gern hören. Aber so- ist es. Drittens, eine Bodenspekulation über mehrere Man muß doch den ganzen Wust auseinanderhalten Kontinente hinweg. und zu den Fakten kommen. Außer einem Leitfa- den, in dem er sich noch auf Mieterrechte, die von (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) der sozialliberalen Koalition geschaffen worden sind und die Sie beeinträchtigt haben, beruft, haben Viertens, eine Geschäftspolitik, die die Grund- Mieter vom Bundesbauminister nicht zu erwarten. sätze der Wohnungsgemeinnützigkeit und der Ge- meinwirtschaft außer acht ließ und alle herkömmli- Die Debatte, das, was die Koalition und der Bun- chen Grundsätze des ordentlichen Kaufmanns ver- desbauminister hier vorgetragen haben, macht letzte. doch deutlich: die Mieter der Neuen Heimat, die 260 000 Familien mit über eine Million Menschen, (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der haben von der Koalition und von der Bundesregie- SPD: Richtig!) rung nichts anderes zu erwarten, als Thema zum Wahlkampf zu sein, und zwar in einem zynischen DGB und Neue Heimat sind daher aufgefordert, vor Kalkül Ihrer psychologischen Kriegsführung gegen den Mietern und Mitarbeitern der Neuen Heimat DGB und SPD. ihre verlorene soziale Glaubwürdigkeit wieder her- zustellen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie verwechseln Ursache und Wirkung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihre Strategen haben es j a offenbar gemacht: Es kommt Ihnen allein darauf an, daß die allseits be- Der Eigentümer DGB muß seinen Neue Heimat kannten und auch von uns zu Recht kritisierten Gesellschaften wenigstens nachträglich ein ange- Fehlleistungen der Neuen Heimat öffentlichkeits- messenes Eigenkapital zur Verfügung stellen. Wir wirksam für die Koalition und die Bundesregierung fordern den DGB auf, seinen eigenen sozialen und genutzt werden, und damit wollen Sie von Ihren gemeinwirtschaftlichen Maßstäben gerecht zu wer- eigenen Fehlleistungen — ich denke nur an die den. Bauskandale in — ablenken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Die soziale Wohnungspolitik der Bundesregierung Aber, meine Damen und Herren, Ihre Polemik Kohl darf nicht an den kapitalistischen Unterneh- versperrt den Blick für die Realitäten und verhin- merpraktiken des Deutschen Gewerkschaftsbundes dert Lösungsmöglichkeiten. Sie geben den Mietern, scheitern. die in Sorge sind, nur die Antwort, daß Sie die Sorge haben, was aus den Neue-Heimat-Diskussionen an (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und den Parteifreunden Grundmann, Katzer und Späth der FDP — Zurufe von der SPD) hängenbleiben könnte, die ins Gerede kommen. 16618 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Schmitt (Wiesbaden) Aber Sorgen für die Mieter werden in dem, was Sie Neue Heimat als Konzern für die Wohnungswirt- von sich geben, in keiner Weise deutlich. schaft entbehrlich wird. (Zurufe von der CDU/CSU: So ein primiti Aber es kommt darauf an, meine Damen und ves Ablenkungsmanöver! — Sie verschlei Herren, daß wir die verbleibenden Wohnungen der ern!) NH nicht der Spekulation opfern, Dem, meine Damen und Herren, stellen wir So- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn zialdemokraten ein Konzept spekuliert?) (Zuruf von der CDU/CSU: Ist ja ganz was sondern daß unsere Städte und Gemeinden auch in Neues!) Zukunft Partner für ihre Wohnungsnachfrage fin- in unserer Vorlage gegenüber, in dem wir nach den, bei denen auch einkommensschwache Fami- gründlicher Analyse und Bewertung die Dinge of- lien eine menschenwürdige Wohnung finden kön- fen beim Namen nennen, Fehlleistungen und Ver- nen. säumnisse — das bestätigen Sie mir, Herr Möller — (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Die haben sie beim Namen nennen, aber nicht nur aufzeigen und ja zuerst verkauft!) kritisieren, Deshalb sind wir der Auffassung, daß die Gemein- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und dann wei nützigkeit den Mietern den stärksten sozialen termachen!) Schutz gibt, mehr als Leitfäden, Versprechungen sondern Wege aus der Notlage weisen; denn uns des Bundesbauministers und mehr als das Miet- kommt es darauf an, die Sozialwohnungen der recht, das Sie zu verantworten haben. Deswegen Neuen Heimat für die Mieter zu erhalten. Dies meinen wir — Sie lehnen das ab, aber wir meinen, allein ist unsere politische Aufgabe. daß der Bund hier nicht beiseite stehen kann —, Uns geht es nicht mehr um die Erhaltung des daß Länder und Gemeinden für die Erhaltung der Unternehmens Neue Heimat. Die Neue Heimat Gemeinnützigkeit, für die Sicherung der sozialen wird sich aus der Wohnungswirtschaft verabschie- Bindungen auch öffentliche Mittel einsetzen müs- sen. den, (Grünbeck [FDP]: Das ist etwa Neues!) Meine Damen und Herren, wenn der Steuerzah- ler für eine neue Sozialwohnung und wir wollen noch einmal feststellen: die Verant- wortlichen der Neuen Heimat bis zum Jahre 1982 (Abg. Link [Frankfurt] [CDU/CSU] meldet haben der Gemeinwirtschaft und der gemeinnützi- sich zu einer Zwischenfrage) - gen Wohnungswirtschaft einen Bärendienst erwie- — jetzt nicht, Herr Link, ich muß das jetzt mal aus- sen, und sie haben unser Vertrauen enttäuscht. führen — immerhin etwa 5 000 DM pro Jahr auf- Aber Kritik und Verurteilung — darin unterschei- bringen muß, dann ist es in unserem Sinne gerecht- den wir uns — helfen nicht weiter; denn immerhin fertigt und wird von uns begrüßt, wenn man mit sind 500 000 Wohnungen nach dem Krieg von der einem Aufwand von 500 DM pro Jahr und Woh- Neuen Heimat errichtet worden, und damit hat die nung, wie es die Regierung in Nordrhein-Westfalen Neue Heimat einen bedeutenden Beitrag zur Über- ja erreicht hat, letzten Endes auch für die Zukunft windung der Wohnungsnot nach dem Krieg gelei- preiswerte Sozialwohnungen erhält. Wer — nach stet. Jetzt, nach all den Schwierigkeiten, kommt es vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung darauf an, daß die verbliebenen 260 000 Wohnungen getroffenen Feststellungen — bei Verlusten aus — dies ist für uns der entscheidende Punkt — in Vermietung und Verpachtung jährlich 30 Milliarden der Gemeinnützigkeit verbleiben. DM Steuerausfälle hinnimmt, wer steuerliche Er- leichterungen für Eigentümer von Eigenheimen, die wir im Grunde auch unterstützen, hinnimmt und Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie eine Zwi- bis zu 60 000 DM für eine Wohnung auch für Gut- schenfrage des Herrn Abgeordneten Grünbeck? verdienende bereitstellt, der muß zur Sicherung der Wohnungen für sozial schwache Schichten unserer Schmitt (Wiesbaden) (SPD): Ja, wenn das nicht Bevölkerung auch bereit sein, die Sozialwohnungen von meiner Redezeit abgeht. in der Zukunft zu sichern. Deshalb ist auch der Ein- satz öffentlicher Mittel auch in diesem Sinne ge- Vizepräsident Frau Renger: Natürlich nicht. rechtfertigt. (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Man kann die Grünbeck (FDP): Herr Kollege Schmitt, Sie haben auch sichern, wenn man sie nicht ver gerade den Satz gesagt: Die Neue Heimat wird sich kauft!) aus der Wohnungswirtschaft zurückziehen. Darf ich Bitte schön, Herr Link. mir die Frage erlauben, womit Sie dies begründen, denn von der Neuen Heimat gibt es eine derartige Erklärung bislang noch nicht. Vizepräsident Frau Renger: Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Link. Schmitt (Wiesbaden) (SPD): Ich gehe davon aus, daß sich mit unserer Hilfe Lösungsmöglichkeiten Link (Frankfurt) (CDU/CSU): Herr Kollege abzeichnen, die eine Regionalisierung und eine Schmitt, ich frage Sie: Stimmen Sie mit mir über- Überführung der Wohnungsbestände auf andere ge- ein, daß die Gemeinnützigkeit und die Sozialwoh- meinnützige Träger vorsehen, und daß deshalb die nungen beim DGB, bei der Neuen Heimat voll er- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16619

Link (Frankfurt) halten werden können, wenn der DGB als mehr- len, daß sie deren Wohnungen verkaufen und wer facher Milliardär, als Eigentümer der BfG mit einer der neue Eigentümer ist. Bilanzsumme von über 60 Milliarden DM, als Ei- (Niegel [CDU/CSU]: Es gibt doch einen gentümer der Volksfürsorge mit einer Vertrags- Aufsichtsrat, in dem lauter Genossen drin summe von fast mehr als 65 Milliarden DM, als sitzen!) Eigentümer anderer Unternehmungen mit Milliar- denumsätzen, für den Schaden selber eintritt und Aber nicht einmal das wollen Sie. Das zeigt, daß die die Verluste abdeckt, die er bei den Spekulationsge- Diskussion über die Neue Heimat für Sie lediglich schäften, die nicht dem sozialen Wohnungsbau un- ein Wahlkampfthema ist. Ihnen kommt es auf die terliegen, abgedeckt hat? Er braucht nur seine vie- eigentlichen Probleme nicht an. len Milliarden DM mit zur Sanierung einzusetzen. Wir meinen — ich komme auf das zurück, was Sie, Herr Link, gesagt haben —, daß selbstverständ- lich auch der DGB einen eigenen Beitrag im Inter- Schmitt (Wiesbaden) (SPD): Ich denke beim DGB esse der Mieter und vieler seiner Mitglieder zu lei- nicht an Milliarden DM, sondern ich denke an die sten hat. Der DGB ist dazu j a im Grundsatz bereit. Millionen von Arbeitnehmern, die vom DGB ein so- Wir sind aber auch der Meinung, daß die Banken, ziales Verhalten erwarten können, und dazu werde die jahrelang die Neue Heimat als gute Adresse ich noch etwas sagen. hofiert und in der Neuen Heimat einen Partner gesehen haben, ebenfalls einen konstruktiven Bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — trag leisten müssen und sich nicht aus ihrer Verant- Link [Frankfurt] [CDU/CSU]: Da stimme wortung stehlen und einfach sagen dürfen: Das sol- ich Ihnen zu!) len die anderen machen. Wir begrüßen die Entscheidungen der Länder (Schulhoff [CDU/CSU]: Natürlich!) Nordrhein-Westfalen und Hessen, aber auch die Be- reitschaft von Bayern und Baden-Württemberg, zu Wir brauchen hier also eine Kooperation der Gut- pragmatischen und vernünftigen Lösungen zu kom- willigen mit den öffentlichen Körperschaften. Von men. Wir stellen hier den Unterschied zwischen der Ihnen, Herr Minister, und der Koalition können die Bereitschaft, zu handeln und zu helfen, und Ihnen, Mieter nichts erwarten. Wir erwarten aber, daß die Herr Bundesbauminister, fest, der Sie auch heute SPD-Länder, der DGB, die Banken, die Kommunen wieder die Rolle des Wahlhelfers der CDU/CSU ge- Sorge dafür tragen, daß der soziale Wohnungsbe- spielt haben und nicht als Moderator tätig waren. stand gesichert wird und erhalten bleibt. Was jetzt Hier muß man sagen: Wir handeln, wir schlagen gefordert ist, sind Bauleute, die Fundamente- si- vor; Sie agitieren. chern, Stützen einziehen und die 260 000 Wohnun- gen für die Sozialmieter erhalten. (Zuruf des Abg. Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]) (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Und die Bankrotteure zum Teufel jagen!) Obwohl Sie hier zugestehen müssen, daß Sie — Sie haben das beklagt — in Bereichen der Gemein- Deshalb beantragen wir, über unseren Entschlie- nützigkeit eine unmittelbare Bundeszuständigkeit ßungsantrag auf Drucksache 10/5479 schon heute sehen, haben Sie seit 1983 keinen Handlungsbedarf abzustimmen, damit wir nicht beim allgemeinen gesehen, Herr Minister. Seit 1983 liegen Vorschläge, Gerede bleiben, sondern damit Sie Farbe bekennen die sich aus den Problemen der Neuen Heimat erge- müssen, worauf es Ihnen ankommt. ben haben, der Bund-Länder-Kommission vor, in (Beifall bei der SPD) denen neue Wege zu besseren Prüfverfahren gewie- Sie wollen Wahlkampf, wir wollen den Mietern sen sind. Aber Sie haben erklärt: Sie sehen keinen helfen. Handlungsbedarf. Sie haben nichts getan. Das heißt: Sie reden nur. Sie fügen sich in das ein, was (Beifall bei der SPD) wir die Agitation gegen die Neue Heimat nennen.

Wir müssen noch einmal festhalten: Das soziale Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Ab- Mietrecht muß wiederhergestellt und verbessert geordnete Niegel. werden. Die Probleme bei der Neuen Heimat ma- chen uns deutlich: Das Vorkaufrecht für Mieter im Fall der Umwandlung in Eigentum auch für nicht Niegel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Kol- öffentlich geförderte Wohnungen, der achtjährige leginnen und Kollegen! Das Flaggschiff der Ge- Schutz gegen Eigentumskündigung im Fall der Um- meinwirtschaft ist schwerstens angeschlagen: der wandlung und ein verbesserter Schutz gegen Lu- DGB-gewerkschaftseigene gemeinnützige Woh- xus-Modernisierung sind dringend erforderlich. nungskonzern Neue Heimat. Der DGB und seine 17 (Zuruf des Abg. Niegel [CDU/CSU]) Gewerkschaften, als größter Wohnungseigentümer West-Europas, kommen aus den Schlagzeilen nicht In einem anderen Punkt sind Sie noch nicht ein- mehr heraus. mal bereit, Ihren Worten Taten folgen zu lassen. Wir kritisieren mit Ihnen und nehmen es nicht hin, (Zuruf von der SPD: Dafür sorgen Sie!) daß die Mieter aus der Mietabrechnung erfahren, Die Flagge ist der Pleitegeier. Trotz 100 %iger Mit- wer ihr neuer Eigentümer ist. Aber dann schreiben bestimmung — wir haben hier die Superparität; im Sie doch ins BGB hinein, daß Vermieter und Eigen- Aufsichtsrat und im Vorstand der Muttergesell- tümer verpflichtet werden, ihren Mietern mitzutei- schaft sitzen nur DGB-Kollegen und SPD-Genossen 16620 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Niegel - wurde ein haarsträubendes Ergebnis erwirt- essen der Mieter"? Wo ist denn der Präsident des schaftet: Mieterbundes, Herr Kollege Jahn? (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: (Dr. Sperling [SPD]: Wo ist denn Herr Eben deswegen!) Späth, der einzige, der bei Ihnen etwas da- von versteht? — Weitere Zurufe von der 17 Milliarden DM Schulden, jährlich 1,1 Milliarden SPD) DM Zinsen. Die Verächtlichkeit und Dreistigkeit, mit denen sich (Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das der DGB über die tragenden Grundsätze unserer paßt doch!) wirtschaftlichen Ordnung hinwegsetzen will, kom- men in der Bemerkung seines Vorsitzenden Breit Und jetzt soll der Staat helfen. zum Ausdruck, dem DGB könne nicht zugemutet (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Unglaublich!) werden, für die Rettung der Neuen Heimat sein Familiensilber zu verscherbeln. Die bisherigen Bemühungen, den Offenbarungs- eid abzuwenden, die Mieter und die übrige Woh- nungswirtschaft vor Schaden zu bewahren, lassen Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, ge- nur einen Schluß zu: Der DGB als Eigentümer der statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Neuen Heimat versucht, sich seiner unternehmeri- Müntefering? schen Verantwortung, für die Folgen der Mißwirt- schaft dieses Unternehmens einzustehen, zu entzie Niegel (CDU/CSU): Ich lasse jetzt keine zu. — hen. Auch wenn Sie sich, Herr Müntefering, drehen (Zurufe von der SPD) und wenden: Das geht nur nach dem Motto, das der DGB und die SPD früher kritisiert haben: Gewinne Daß die Rechnung des DGB, die Neue Heimat auf privatisieren und Verluste sozialisieren. Kosten des Steuerzahlers zu sanieren, aufzugehen scheint, wenn er die Sache nur lange genug treiben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) läßt, beweist die jüngste Entwicklung in Nordrhein- Und es ist doch ein Witz, hier von unterlassener Hil- Westfalen. Der vom nordrhein-westfälischen Mini- feleistung zu sprechen. Das ist so ähnlich, wie wenn sterpräsidenten Johannes Rau, dem Barmer Ersatz- sich ein Kind piötzlich darüber ärgert, daß es an kanzler Johannes, den Händen friert, und sagt: Meiner Mutter ge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der FDP und schieht es recht, daß es mich an den Händen friert, den GRÜNEN) - wenn sie mir keine Handschuhe strickt. mit dem Ankauf der neuen Wohnungen verfolgte (Zurufe von der SPD) Zweck dient nicht dem Schutz der Mieter, wie hier immer wieder vorgegeben wird, sondern den Kas- Meine Damen und Herren, die gesamte staats- sen der sogenannten gemeinwirtschaftlichen Unter- kapitalistische und planifikationsgefährdete linke nehmung des DGB. Seite dieses Hauses (Roth [SPD]: Cato Lorenz Niegel!) (Müntefering [SPD]: Können Sie diesen Warum weigern sich denn jetzt die verantwortli- Ausdruck bitte wiederholen! — Roth chen Kollegen und Genossen der Neuen Heimat, [SPD]: Dacapo!) ein neutrales Gutachten, einen neutralen Prüfungs- hat in der Vergangenheit vergeblich versucht, die bericht der Treuarbeit, wie seinerzeit im Gespräch Probleme und Skandale der Neuen Heimat mit der mit Bundesbauminister Dr. Schneider zugestanden, Diskussion über § 116 AFG unter den Teppich zu erstellen zu lassen? kehren. Die Neue Heimat selbst betreibt die Ret- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist eine tung des Konzerns mit den gleichen rüden Bankrot- gute Frage!) teurmethoden, mit denen sie ihn aufgebaut hat. Wahrscheinlich deswegen, damit nicht solche Dinge Hier hat sie mit Grundstücken und Immobilien — wie Spekulationen und Genossenfilz, wie es bei der mit Hilfe ihrer sozialdemokratischen, roten Glau- Errichtung der Trabantensiedlung Neuperlach bei bensbrüder in den Rathäusern — spekuliert und München Anfang der 60er Jahre durch die Grün- alle Register spätkapitalistischer Vorgehensweise dung der NH-Tochter Terrafinanz geschehen ist, (Roth [SPD]: Späth-kapitalistisch?!) ans Tageslicht kommen. — von der politischen Korrumpierung bis zur Zah- In diesem Zusammenhang muß auch ein führen- lung von Schmiergeldern — gezogen, um ihr Ziel zu der Genosse, nämlich der frühere Münchener Ober- erreichen. bürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel, heute Frak- tionsvorsitzender der SPD, unter dessen Verant- Heute spekuliert sie mit Wissen und Duldung des wortung dies dort geschehen ist, erwähnt werden. Strategiestabes der Düsseldorfer Heeresleitung, der Wegen der Trabantensiedlung Neuperlach, die die DGB-Verantwortlichen mit den Interessen ihrer Neue Heimat als Bauträger im Auftrag der Stadt Mieter, um die öffentlichen Hände wieder gefügig München — wiederum verantwortlich: Oberbürger- zu machen und zusätzlich zu den verpulverten meister Dr. Vogel — errichtete — nebenbei be- 10 Milliarden DM, die sie bereits an Subventionen merkt: ohne Ausschreibung, so daß sich keine an- erhalten hat, weitere Subventionen in Milliarden- dere Bauträgergesellschaft beteiligen konnte —, höhe zum Ausgleich ihrer Spekulationsverluste aus wurde eigens die Immobiliengesellschaft Terra- der Staatskasse zu erhalten. Was heißt hier „Inter- finanz als Tochter der Neuen Heimat gegründet. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16621 Niegel Nach dem Buch von Franz Busch „Macht, Profit Und weiter: und Kollegen" hätte die Neue Heimat die Grund- Die Politik der gemeinwirtschaftlichen Unter- stücke von 160 Grundstückseigentümern auch nehmen unterliegt der Kontrolle der Gewerk- selbst erwerben können. Der gemeinnützigen schaften und der Beschäftigten der Unterneh- Neuen Heimat ist nach dem Gutachten der Treuar- men. beit in Neuperlach ein Verlust von 49,2 Millionen DM entstanden, der als Profit auf die nichtgemein- Und weiter: nützige Terrafinanz transferiert wurde. Dadurch ist institutionell gewährleistet, daß die (Zuruf von den GRÜNEN) zugunsten von Arbeitnehmern und Verbrau- chern Das muß man einmal sagen. — also hier den Mietern — Oder verweigert die Neue Heimat die neutrale Prüfung auch deswegen, damit nicht das bekannt erbrachten Leistungen dauerhaft erbracht wer- wird, was die „Welt" an diesem Montag unter der den. Überschrift „Das süße Leben auf der Vorstands- Meine Damen und Herren, so weit das Zitat. etage der Neuen Heimat" beschreibt, wo nämlich Die institutionelle Gewährleistung hat also nicht von verschwenderischen, luxuriösen Kontakttref- funktioniert. Liegt das auch an der alten Erfahrung, fen der Neuen Heimat mit den Spitzenfunktionären daß die Genossen mit dem Geld nicht umgehen des DGB, von Geschäftsführerkonferenzen, feuda- können? len Geburtstagsfeiern, kostspieligen Privatpartys bis zu feucht-fröhlichen Grundsteinlegungen die (Zurufe von der SPD) Rede ist, wobei Kosten in Höhe von 206 000, 63 000, Daneben hat der Aufsichtsrat seine Pflichten sträf- 55 000, 36 000 und 108 000 DM genannt werden? Ich lich verletzt und muß deshalb haftbar gemacht wer- weise Sie — ich könnte es vorlesen, aus zeitökono- den. Aber auch die Prüfungsverbände, die staatli- mischen Gründen mache ich es jetzt nicht — auf chen Stellen haben ihre Aufsichtspflicht verletzt. § 12, Wirtschaftlichkeit des Geschäftsbetriebes, des Wie sieht es mit der Gemeinnützigkeit aus? Ein Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes hin. Man muß führender Sozialdemokrat in administrativer Funk- auch fragen, wo hier die Aufsichtsbehörden der tion hat vor nicht allzu langer Zeit erklärt, die Ge- Länder sind. Und wenn jetzt zwar in der Entschlie- meinnützigkeit hätte man längst aberkennen müs- Buñg der SPD die Rede davon ist, daß rechtswidrige sen. Hier frage ich die Steuerbehörden: Wo bleibt Machenschaften von Neue Heimat-Managern, die hier letztlich die Steuerfahndung? Wir müssen dem- in die eigene Tasche wirtschafteten, oder von Un- - nächst das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz no- ternehmensführungen, die die zukünftige Entwick- vellieren. lung nicht erkannt haben, die Rede ist, so muß man doch fragen, wer denn die Kontrolle verantwortlich Von interessierter Seite wird auch eingewendet, ausgeübt hat. Im Aufsichtsrat saßen lauter SPD daß für die sozialen Bindungen vors Sozialwohnun- Genossen gen — wir haben es ja heute von Herrn Schmidt gehört — noch eine Leistung erbracht werden müs- (Zurufe von der SPD — Beifall bei der se. Dann muß man dem entgegenhalten, daß die CDU/CSU und der FDP) öffentliche Hand bereits einmal gezahlt hat. Wir und hohe DGB-Spitzenfunktionäre. Das muß ich können jetzt nicht noch einmal für diese Leistun- eindeutig sagen. Ich kann Ihnen vorlesen: Heinz gen zahlen. Oskar Vetter, Neue Heimat, DGB und SPD fordern eine Beteili- (Zuruf von der SPD: Lothar Späth!) gung des Staates unter dem Vorwand des Schutzes Ernst Breit, Günter Döding, Heinz Klunker, Eugen des Mieters. Kommt das nicht einer Erpressung Loderer, Kollege aus diesem Hause, gleich? Oder anders ausgedrückt: Meine Damen Philipp Seibert, früher in diesem Hause, Rudolf und Herren, will man die Mieter als Geiseln miß- Sperner, Franz Steinkühler und Frau Monika Wulf- brauchen? Mathies. Ich glaube, das genügt doch. Sie wollen (Zurufe von der SPD) alle die Wirtschaft kontrollieren und sind nicht ein- Ich meine, der DGB hat nicht nur eine haftungs- mal in der Lage, ihren eigenen Laden in Ordnung rechtliche, eine gemeinwirtschaftliche und gemein- zu halten. nützige, sondern auch eine moralische und soziale (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Verantwortung für die Sanierung der Neuen Hei- Zurufe von der SPD) mat. Der DGB und sein Aufsichtsrat sind voll für Die DGB-Mitbestimmung war also hundertpro- die Neue Heimat verantwortlich. Sie müssen in die zentig geregelt. Dann hätte es, wenn das System Pflicht genommen werden. logisch und erfolgreich ist, mit der Verwirklichung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der gemeinwirtschaftlichen Ziele keine Schwierig- keiten geben dürfen. Diese Ziele hat der DGB 1972 so aufgestellt: Vizepräsident Frau Renger: Bevor ich das Wort Die Gewerkschaften streben eine Wirtschafts- dem Herrn Minister Dr. Zöpel, Nordrhein-Westfa- und Gesellschaftsordnung an, die die Erkennt- len, erteile, nis wirtschaftlicher Zusammenhänge durch Of- (Bohl [CDU/CSU]: Wo ist denn Herr Rau? fenlegung aller Daten ermöglicht. — Dr. Müller [Bremen] [GRÜNE]: Immer 16622 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Vizepräsident Frau Renger drängeln sich die Landesminister vor! — wenn Sie über die Rechtsverhältnisse der Mieter Gegenruf Roth [SPD]: Ihr habt einen und bei der Neuen Heimat nicht die Wahrheit verbrei- seid glücklich darüber! Ihr könnt vor Glück ten; denn die Mieter sind gefährdet. gar nicht mehr schlafen!) (Reddemann [CDU/CSU]: Ja, durch die darf ich dem Hohen Haus mitteilen — damit nicht Neue Heimat! Natürlich!) wieder dieselben Fragen gestellt werden —, daß Herr Jahn nicht anwesend sein kann, weil der Un- Die Mieter sind gefährdet, weil ihnen Mieterhöhun- gen ins Haus stehen, wenn die Wohnungen an nicht tersuchungsausschuß tagt und er Vorsitzender die- ses Gremiums ist. gemeinnützige Unternehmen, die die Bindung zu- rückgeben, verkauft werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Er wäre aber gern hier gewesen!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das sagen Sie wieder besseres Wissen!) Das ist dem Haus mitgeteilt worden. — Ich kann Ihnen einen Bericht der Stadt Düssel- (Vogel [München] [GRÜNE]: Er hätte ihn dorf vorlegen, unterschrieben vom Stadtdirektor doch absetzen können!) Mayweg (CDU). Das muß ja wohl Wahrheitsbeweis Bitte, Herr Dr. Zöpel, Sie haben das Wort. genug sein. (Dr. Müller [Bremen] [GRÜNE]: Nein!) Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau — Wenn Sie da skeptisch sind, akzeptiere ich das. Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol- Aber ich bemühe mich zur Zeit, mich mit den Her- lege Kansy, Sie' haben schon im April — Herr Kol- ren rechts von Ihnen über Wahrheit zu verständi- lege Niegel, Sie haben es eben wiederholt — be- gen. hauptet, die Neue Heimat nehme die Mieter als Gei- sel. Wenn Sie diese Behauptung und die damit ver- (Zuruf von der CDU/CSU) bundene Wertung ernst nehmen, sage ich Ihnen: An — In letzter Zeit haben nur Herren Zwischenrufe dieser Geiselnahme partizipieren die Bundesregie- gemacht. Sonst hätte ich auch die Damen einbezo- rung, die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion. gen. Sie betreiben einen Poker, bei dem es Ihnen in kei- ner Weise darum geht, das Problem irgendwie einer Lösung näher zu bringen. Vielmehr geht es Ihnen Vizepräsident Frau Renger: Herr Minister, gestat- ausschließlich darum, es am Kochen zu halten. Sie - hoffen, daß eine Lösung nicht gefunden wird. ten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Grünbeck? (Beifall bei der SPD — Reddemann [CDU/ CSU]: In diesem Hause soll man die Wahr heit sagen, auch dann, wenn man nord Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Einen rhein-westfälischer Minister ist! — Gerster Augenblick bitte. Ich möchte diesen Fall zu Ende [Mainz] [CDU/CSU]: Das, was Sie sagen, ist darstellen, Frau Präsidentin. unglaublich! Wer verzögert denn?) Bei von der Neuen Heimat in Düsseldorf an die — Zur Wahrheit kommen wir noch, Herr Kollege. Firma Westbau verkauften Wohnungen sind sofort die öffentlichen Mittel zurückgezahlt worden. Dafür Ich stehe nicht an zu sagen, daß ich tief traurig mußten Kapitalmarktmittel aufgenommen werden. bin über das, was die Neue Heimat mit ihren Mie- Die Zinsen können auf die Miete aufgeschlagen tern macht. werden. (Reddemann [CDU/CSU]: Das glauben Sie selbst nicht!) (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wer hat ver kauft?) — Das ist so. — Darauf komme ich gleich. — (Reddemann [CDU/CSU]: Sie sind doch ein Komplize dieser Leute!) (Reddemann [CDU/CSU]: Warum mußte verkauft werden?) — Im Gegensatz zu Lothar Späth habe ich mit die- ser Gesellschaft nie etwas zu tun gehabt. Die Miete hat sich damit um 74 Pfennige pro Qua- dratmeter und Monat erhöht. (Dr. Möller [CDU/CSU]: Damals ging es der Neuen Heimat noch gut!) Damit ist die Behauptung unrichtig, Herr Bun- Das ist die Wahrheit. desbauminister, daß den Mietern in dem Fall nichts passiere. Unterlassen Sie diese Behauptungen. Ich (Beifall bei der SPD — Zurufe von der gehe davon aus, Sie haben sich vorher nicht richtig CDU/CSU) informiert. Etwas anderes will ich Ihnen nicht un- — Sie müssen sich einmal beruhigen. terstellen. Ich bin über das, was die Neue Heimat mit ihren (Reddemann [CDU/CSU]: Vielleicht erzäh Mietern macht, tief traurig. Den Mietern muß ge- len Sie noch, daß der Bauminister die Woh holfen werden. Ihnen wird nicht geholfen, Herr nungen verkauft hat!) Bundesbauminister, Die Beruhigung, die Sie ausstreuen, dient natür- (Reddemann [CDU/CSU]: Durch den DGB lich der Kaschierung Ihres Nichtstuns. Dem diente nicht geholfen!) auch die ganze Veranstaltung, die Sie mit den Bau- Deutscher Bundestag - 10.Wahlperiode - 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16623

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen) ministern der Länder und mit der Neuen Heimat Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau inszeniert haben. Kollegin, ich habe zu Beginn meiner Ausführung im (Reddemann [CDU/CSU]: Ach nein! — Dr. Grunde genau Ihre Frage beantwortet. Möller [CDU/CSU]: Die haben Sie doch (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU mitgemacht!) — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Nein, Sie haben sich distanziert!) Ich glaube, es war zuerst der Kollege Franke, Berlin — er ist leider nicht mehr im Amt —, der auf Das mit den Geiseln war ein Zitat, das Zitat von Grund der berechtigten Sorge darum bat, daß sich Herrn Kansy. Ich habe das heute wie gestern zi- die Bauminister der Länder mit Ihnen zusammen- tiert, was Herr Kansy geschrieben hat, und ich habe setzen, um darüber zu sprechen, was man gemein- auch gesagt: Wenn Sie den Poker, der dort abläuft, sam tun kann. Darüber hätte man sich verständi- so qualifizieren, beteiligt sich die Bundesregierung gen sollen. Dann haben Sie den Wunsch gehabt, daß an diesem Poker, weil Ihnen beiden zur Zeit egal die neue Heimat dem Bund ein Gutachten durch ist, was aus den Mietern wird. So habe ich es ge- eine Prüfungsgesellschaft ermöglicht. Ich habe stern gemeint, und so wiederhole ich es heute. schon damals gesagt, dies ist aus der Sicht der Län- (Beifall/ bei der SPD — Reddemann [CDU der nicht nötig, weil wir solche Gutachten jederzeit CSU]: Sie sind ein Winkeladvokat!) haben und bekommen, aber wir hatten auch nichts dagegen. Dann haben Sie sich mit der Neuen Hei- Vizepräsident Frau Renger: Eine weitere Zwi- mat nicht verständigen können, vermutlich weil Ih- schenfrage, Herr Abgeordneter Grünbeck. nen die Erfahrung fehlt, mit diesem harten Kon- zern richtig umzugehen. Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau (Lachen bei der CDU/CSU — Reddemann Präsident, ich wollte noch den letzten Satz der Ant- [CDU/CSU]: Sie sind hier doch nicht in ei wort formulieren. ner Versammlung unter Genossen! Hier sind vernünftige Leute! — Gerster [Mainz] Vizepräsident Frau Renger: Verzeihen Sie. [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!) . Ich sage Ihnen das, so ist es. Und dann haben wir in Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Meine der zweiten Sitzung — wir, die Minister und Sena- Konsequenz daraus ist, daß Nordrhein-Westfalen toren der Länder — gesagt, wenn Sie uns auch nur das Pokern beendet und zu handeln begonnen hat. Das ist unsere Konsequenz. sagen würden, wie es denn weitergeht, wenn das - Gutachten da ist — wir haben nicht gesagt, daß Sie (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Steuermittel einsetzen sollen —, dann würde ich CSU: Auf Kosten der Steuerzahler!) mit Ihnen persönlich noch einmal dorthin gehen und dafür sorgen, daß das Gutachten kommt. Das Vizepräsident Frau Renger: Herr Abgeordneter gehört nicht zu den Meisterleistungen, daß die das Grünbeck! Gutachten nicht herausgegeben haben. Grünbeck (FDP): Herr Minister, würden Sie mir zustimmen, daß es einem rational-ökonomischen Vizepräsident Frau Renger: Herr Minister, es gab Handeln entsprechen würde, wenn man erst einmal zwei Wünsche nach Zwischenfragen, einmal von das Gutachten vorlegt und dann über Hilfsmaßnah- Herrn Abgeordneten Grünbeck und einmal von men spricht, und nicht, wie Sie eben jetzt erwähn- Frau Hürland. Würden Sie beide zulassen? ten, erst die Hilfsmaßnahmen besprochen haben will und dann erst das Gutachten vorgelegt werden soll. Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Jawohl, (Reddemann [CDU/CSU]: Das ist real Frau Präsidentin. praktizierter demokratischer Sozialismus!)

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Herr Vizepräsident Frau Renger: Darf ich der Dame erst Kollege Grünbeck, man kann nur handeln, wenn die Möglichkeit geben? — Frau Hürland, bitte. man Indikatoren dafür hat, daß man richtig han- delt. Für den Einstieg in unser Handeln hatten wir einen zureichenden Indikator, nämlich den Kauf- preis, den eine private Investorengruppe gezahlt Frau Hürland (CDU/CSU): Herr Minister Zöpel, Sie haben gestern im Wohnungsbauausschuß des Land- hätte. Da braucht man kein Gutachten mehr. tages Nordrhein-Westfalen folgende Äußerung ge- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Der Indika tan: Sie haben gesagt, daß die Neue Heimat ein tor war Genossenfilz!) unerträgliches Pokerspiel getrieben und dabei die Ich kehre zurück zu dem, Herr Bundesbaumini- Mieter als Geiseln benutzt habe. Auf Grund welcher ster, was Sie dort inszeniert haben. Es hat uns Zeit Tatsache haben Sie das gesagt, und welche Folge- gekostet, und solange Sie uns nicht sagen, wie es rung würden Sie aus dieser Ihrer Äußerung denn weitergeht, ist mir die Zeit zu schade, mich daran zu ziehen? beteiligen. Wir müssen vielmehr etwas tun, damit (Reddemann [CDU/CSU]: Sie haben eben wir den Mietern helfen können. genau das Gegenteil gesagt!) (Beifall bei der SPD) 16624 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode - 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen) Ich füge aber eines hinzu: Wenn irgendein ande- Sie wollte ihn zahlen, weil sie beabsichtigte, sofort res Unternehmen in der Bundesrepublik, das in Not die Bindungen zurückzugeben, damit sie sofort die geraten ist — und jedes Unternehmen, das in Not Mieten erhöhen konnte und sich nach acht Jahren gerät, hat irgendwelche Dinge gemacht, die man endgültig aus dem sozialen Wohnungsbau verab- nicht für richtig hält; überall gibt es auch Auslands- schieden konnte. Wir hatten also für dieses erste investitionen und anderes —, wenn AEG oder Geschäft einen objektiven Indikator des Privatkapi- Krupp oder Thyssen oder Hoesch öffentlich so be- talismus, wenn Sie so wollen, und auf diesen Preis handelt würden wie die Neue Heimat, wären sie hin haben wir mit der Neuen Heimat zu verhandeln auch alle pleite. Die Neue Heimat hat gar keine begonnen. Sie hat dann auf knapp 9 Millionen DM Chance, aus der Situation herauszukommen. als Abschlag von diesem Kaufpreis verzichtet. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Nie wissen Sie; das schreiben Sie nur nicht in Ihrer gel [CDU/CSU]: Krupp mußte sein ganzes Antwort, weil Sie die Wahrheit um jeden Preis un- Eigentum in eine Stiftung einbringen! — terdrücken wollen, Weitere Zurufe von der CDU/CSU) (Unruhe bei der CDU/CSU) Die Neue Heimat hat gar keine Chance, weil Sie ihr weil Sie nur und ausschließlich Schlechtes schrei- keine Chance lassen. ben wollen. (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD)

So ist das: Weil Sie ausschließlich Schlechtes Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und schreiben wollen, unterdrücken Sie die Wahrheit. Herren, einen Moment bitte. Zwischenrufe sind wie immer das Salz in der Suppe, aber nicht so, daß (Niegel [CDU/CSU]: Das sind Zöpeleien! — man die Antworten nicht mehr hören kann. Es Dr. Möller [CDU/CSU]: Wer schreit, hat könnte jemanden geben, der diese Antworten hören Unrecht! -- Weiterer Zuruf von der CDU/ möchte. Ich bitte wirklich um etwas Mäßigung. CSU: Schreien Sie nicht so!) (Niegel [CDU/CSU]: Das sind Zöpeleien, Wir sind durch dieses erste Geschäft zu einem die da kommen!) Handlungsmodell gelangt, das sich meines Erach- tens übertragen läßt und das vor allem -- worum es Ihnen ja geht — eines sicherstellt: daß die Eigentü- Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Mir ist mer der Neuen Heimat sich beteiligen, wie Sie es ja völlig klar, meine Damen und Herren von der Mehr- immer fordern. Ein freiwilliger Abschlag -von knapp heitsseite, daß es Ihnen unerträglich ist, daß das 9 Millionen DM von einem Kaufpreis von 142 Mil- Problem gelöst werden könnte. Das ist das eigent- lionen ist der Beitrag, den die Eigentümer der lich Unerträgliche. Neuen Heimat leisten. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ein Bak CDU/CSU) schisch ist das!) Damit komme ich zu dem, was wir in Nordrhein- Westfalen getan haben und weiter tun werden und Die Neue Heimat hat bei diesem Geschäft auf Geld worüber Sie, Herr Bundesbauminister, trotz besse- verzichtet, das sie sonst bekommen hätte. Das soll- ren Wissens in der Antwort auf die Große Anfrage ten Sie doch einmal anerkennen. die Unwahrheit verbreiten. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der (Beifall bei der SPD — Roth [SPD]: So ist CDU/CSU: Uns kommen die Tränen! — Wir das! — Weiterer Zuruf von der SPD: Uner müssen noch dankbar sein!) hört!) — Ja, es kann für Sie nichts Unerträglicheres ge- Unser erstes Ziel war es, die Verkäufe von Woh- ben, als daß sich die Gewerkschaften einmal so ver- nungen der Neuen Heimat an Private zu stoppen. halten, wie Sie es von ihnen fordern. Nun tun sie es, Dies ist gelungen. Seit Beginn dieses Jahres hat die und da brechen Sie in Verzweiflung aus. Das ist in Neue Heimat an keinen Privaten mehr verkauft. Wahrheit Ihre Haltung! Das ist die erste Beruhigung für die Mieter. (Beifall bei der SPD — Reddemann [CDU/ (Grünbeck [FDP]: Und was ist mit der CSU]: Das glauben Sie doch selbst nicht! BGI?) Versuchen Sie doch einmal, ein bißchen — An die ist in Nordrhein-Westfalen noch nie ver- Ehrlichkeit in Ihre Argumentation zu brin kauft worden! Informieren Sie sich besser, bevor gen!) Sie anderen Vorwürfe machen. Die deutschen Gewerkschaften haben also mit Dann lag uns ein Paket vor, für das eine private diesem Verzicht auf 9 Millionen DM ihren Beitrag Investorengruppe den Kaufpreis ausgehandelt hat- zur Lösung des Problems geleistet. Das wissen Sie, te. Wenn es einen Kaufpreis gibt, den man als halb- aber das unterschlagen Sie in offiziellen Dokumen- wegs objektiv bezeichnen kann, dann ist es ganz ten der Bundesregierung. Das macht Sie, Herr Kol- sicher der, den eine private Investorengruppe zah- lege Bauminister, als Verhandlungspartner in jeder len will. Beziehung ungeeignet. (Reddemann [CDU/CSU]: Für einen Sozia (Beifall bei der SPD — Reddemann [CDU/ listen ist es bemerkenswert, so etwas zu CSU]: Unwahrheit? Unterschlagen? Herr sagen!) Minister, setzen Sie sich hin!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16625

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen) Die Neue Heimat verzichtet — ich sage es noch allgemeinen Wohnungsbauförderungsmit einmal auf 9 Millionen DM, weil nach dem Woh- tel gekürzt!) nungsgemeinnützigkeitsrecht und nach dem Woh- Es ist unstreitig: Es waren in einem Jahr bis jetzt nungsbindungsrecht und nach dem Zweiten Woh- 1,2 Millionen DM. Damit könnte man beispielsweise nungsbaugesetz niemand einen Eigentümer von öf- -- da will ich Ihnen gar nicht widersprechen — fentlich geförderten Wohnungen daran hindern zwölf im ersten Förderweg geförderte Eigenheime kann, an jeden zu verkaufen. bauen. Das stelle ich ausdrücklich fest. Das ginge (Zuruf von der SPD: So ist es!) mit den Mitteln, die das in einem Jahr kostet. Daß das geht, halte ich für einen schlimmen Fehler Nur: Dies von seiten der Bundesregierung und in diesen Gesetzen, aber dieser Fehler besteht in von seiten der Mehrheit dieses Hauses als Argu- einem Gesetz, das überwiegend 1960 gemacht ment vorzubringen halte ich für eine Scheinheilig- wurde und das man ändern sollte, um zu unterbin- keit sondergleichen, den, daß das geht. Solange aber diese Möglichkeit (Zuruf des Abg. Reddemann [CDU/CSU]) besteht, können Sie bestenfalls moralische Vor- wenn im selben Jahr die Bundesregierung ihre Mit- würfe erheben. Ich als Sozialdemokrat täte das; bei tel zur Förderung der öffentlich geförderten Eigen- Ihnen aber sind diese Vorwürfe nichts als Häme, heime um 120 Millionen DM gekürzt und damit ver- (Reddemann [CDU/CSU]: Natürlich, die gu hindert hat, daß 1200 Eigenheime hätten gefördert ten Sozialdemokraten und die bösen werden können. Hören Sie doch damit auf! Christdemokraten! Aber Dummheit ist ja (Beifall bei der SPD) nicht strafbar!) Sie kennen Ihren eigenen Haushalt nicht, Herr denn bei allen anderen finden Sie es ja gut, wenn Reddemann. Bindungen zurückgezahlt werden. (Reddemann [CDU/CSU]: Ich habe über (Beifall bei der SPD — Weitere Zurufe des haupt nichts gesagt!) Abg. Reddemann [CDU/CSU]) Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie eine Zwi- — Sie müssen Quasselwasser getrunken haben, so schenfrage von Herrn Dr. Möller? viel reden Sie dazwischen! (Roth [SPD]: Nein, das ist Reddemann! Der Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Ja. ist immer so, der braucht nichts zu trin ken!) Vizepräsident Frau Renger: Bitte, Herr Dr.- Möller. Nun komme ich zu dem Beitrag des Landes Nord- rhein-Westfalen. Hier geht es nicht um die Frage, Dr. Möller (CDU/CSU): Herr Minister, ist es denn was Steuermittel sind — — richtig, daß Sie entgegen der Absicht und den Er- klärungen Ihrer Regierung im vergangenen Jahr, (Zuruf von der CDU/CSU: Legen Sie doch 22 000 Wohnungen zu fördern, jetzt nur noch 14 000 einmal das Gutachten des Landesrech Wohnungen fördern? Ist es richtig, daß Sie von den nungshofs auf den Tisch, damit wir das 6 433 Altenwohnungen, bei denen die Förderung be- auch einmal lesen können!) antragt ist, nur noch 300 fördern? Ja oder nein? Ist — Was meinen Sie, bitte? das richtig? (Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Lan (Nordrhein-Westfalen): Herr desrechnungshof!) Minister Dr. Zöpel Kollege Möller, das Geschäft der LEG hat keinen — Ja, der schreibt oft etwas. Einfluß auf die Höhe der Wohnungsbauförderung (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Aber Sie kön in Nordrhein-Westfalen. nen nicht dauernd mit der Haushaltsord (Dr. Möller [CDU/CSU]: Das habe ich nicht nung unter dem Arm herumlaufen, nicht gefragt!) wahr?) Die Kürzungen im Bereich des öffentlich geförder- — Ich weiß nicht, was Sie jetzt meinen. ten Wohnungsbaus haben ausschließlich mit der Haushaltslage des Landes Nordrhein-Westfalen zu (Reddemann [CDU/CSU]: Daß Sie Ihren ei tun. genen Bereich nicht kennen, nehmen wir Ihnen ab! Reden Sie ruhig weiter!) (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und die hat wiederum mit der Neuen Heimat zu tun!) — Wenn ich wüßte, was Sie meinen, würde ich — Die hat mit der Neuen Heimat überhaupt nichts etwas dazu sagen. Mein Bereich ist sehr, sehr groß. zu tun, Wir müssen verwalten und haben nicht — wie Sie — die Chance, nur herumzureden. (Lachen bei der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU) Nun also zu dem Beitrag des Landes Nordrhein- weil die Neue Heimat nachweislich noch nicht einer Westfalen. Dieses sind ganz sicher Mittel der Woh- einzigen Forderung von Stellen des Landes Nord- nungsbauförderungsanstalt, mit denen man auch rhein-Westfalen im weitesten Sinne nicht immer so- etwas anderes tun könnte. fort nachgekommen ist. Es gibt keinen Verzug bei (Frau Hürland [CDU/CSU]: Mußte! — Dr. den Rückzahlungen bei der WFA. Es gibt auch kei- Möller [CDU/CSU]: Sie haben dadurch die nen Steuerverzug. 16626 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen) Hören Sie bitte auf — bei aller Kritik, die ich ja lich geförderte Wohnungsbau kaputt, und das ist ja auch an diesem Konzern übe —, unablässig ein Un- schließlich auch wünschenswert. ternehmen zu verleumden und ihm damit jede Das ist möglicherweise Ihre Doppelstrategie, die Chance zu nehmen, aus den Schwierigkeiten her- ich Ihnen hier unterstellen will. Deshalb das ganze auszukommen. Das ist doch das Problem. Theater, das Sie Woche für Woche hier inszenie- (Beifall bei der SPD — Reddemann [CDU/ ren. CSU]: Jetzt sind Sie schon bis zum Ver (Beifall bei der SPD — Urbaniak [SPD]: leumden gekommen! Herr Zöpel, übertrei Deshalb haben wir eine Rechtsregierung!) ben Sie nicht den eigenen Jargon! — Frau Hürland [CDU/CSU]: Und so etwas ist Mi Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie eine Zwi- nister!) schenfrage des Abgeordneten Reddemann? — Ach, Kinderchen! Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Selbst- (Reddemann [CDU/CSU]: Sie können doch verständlich. nicht Bankrotteure verteidigen! Das geht doch nicht!) Reddemann (CDU/CSU): Herr Kollege Zöpel, nachdem Sie der Koalition und der Bundesregie- Ich bleibe dabei: Wir haben hier ein Modell erar- rung dauernd alle möglichen Unterstellungen in die beitet, zu dem die Gewerkschaften, die Eigentümer Schuhe schieben wollen: Könnten Sie sich nicht der Neuen Heimat, einen nennenswerten Beitrag auch vorstellen, daß es für uns entsetzlich ist, daß geleistet haben. Ich halte diesen Weg für übertra- sich eine große Wohnungsbaugruppe, die von uns genswert. Wir haben es vor allem deshalb erarbei- lange mit sehr vielen öffentlichen Mitteln unter- tet, weil es uns um etwas geht, um das es Ihnen stützt und gefördert wurde, derartig schäbig benom- sichtlich nicht geht: dauerhaft die Bindungen der men hat und ihre Mieter jetzt in eine derart uner- Sozialwohnungen in Nordrhein-Westfalen zu er- quickliche Situation bringt und daß sich unsere Kri- halten. Es geht uns nicht allein und vorrangig — tik darauf aufbaut? aber auch — um den jeweils dort im Augenblick wohnenden Mieter. Dieser wird bei unserem Kon- Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Herr zept automatisch mit gesichert. Es geht uns darum, Kollege Reddemann, ich habe schon andernorts den Bestand an öffentlich geförderten Wohnungen und hier gesagt, daß ich als Sozialdemokrat und zu erschwinglichen Mieten dauerhaft zu sichern. Gewerkschafter tieftraurig bin über das,- was bei Da würde es uns absolut nicht passen — das sage der Neuen Heimat passiert ist. Jetzt will ich Ihnen ich sehr offen —, wenn mit einem Schlag 40 000 eines dazusagen: Ich wäre durchaus bereit, mich Wohnungen dieser Art aus der Bindung kämen. In viel offener — auch öffentlich — an der Analyse Nordrhein-Westfalen, Herr Kollege Grünbeck, ha- dieses Fehlverhaltens zu beteiligen, wenn ich in der ben wir dazu eine ehrliche Debatte mit Ihren Kolle- Antwort der Bundesregierung auf die Große An- gen von der FDP. Diese sagen mir nämlich, das, was frage und in Ihren Debattenbeiträgen auch nur ei- ich machte, sei falsch. Sie kommen zu dieser Auf- nen einzigen Schimmer gesehen hätte, einmal ob- fassung, weil sie den sozialen Wohnungsbau nicht jektiv etwas zu würdigen. mehr für nötig halten. Deshalb sei der Verlust der (Beifall bei der SPD) Bindung richtig. Das tragen mir die FDP-Kollegen Sie üben aber nur Kritik, und wenn wir objektiv im Düsseldorfer Landtag vor. würdigen, dann ist das völlig falsch. So kann man (Grünbeck [FDP]: Das ist nur die halbe nicht diskutieren. Wahrheit!) (Reddemann [CDU/CSU]: Sie beschimpfen Ich finde das ein ehrliches und gutes Konzept. Des- diejenigen doch nur, die die Sache in Ord halb nehme ich Ihren Kollegen die Kritik ab. Wer nung bringen wollen!) die Bindung nicht will, wer die völlige Liberalisie- Entweder wägen wir beide ab, Herr Kollege Redde- rung des Markts der öffentlich geförderten Woh- mann — okay! — oder aber ich verteidige hier das nungen will, der muß mich kritisieren, weil er eine Gute an den Gewerkschaften und auch an der andere Grundsatzposition vertritt. Neuen Heimat, wenn selbst in einem offiziellen Do- kument der Bundesregierung durch fahrlässigste (Zurufe von der CDU/CSU) Auslassungen die Wahrheit unterschlagen wird. Nur: Wer behauptet, er wolle auf Dauer an den (Beifall bei der SPD) öffentlich geförderten Wohnungen festhalten, und mich dann kritisiert, der kocht sein Süppchen aus- Vizepräsident Frau Renger: Gestatten Sie noch schließlich deshalb, um die Gewerkschaften zu dif- eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Möller? famieren. Er ist unglaubwürdig. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der Dr. Möller (CDU/CSU): Herr Minister, um noch CDU/CSU) einmal zurückzukommen auf die vorige Frage, die ich gestellt hatte: Warum sagen Sie hier heute auf Es mag freilich sein, Sie verfolgen eine ganz andere meine Frage etwas anderes, als Sie am 26. Februar Strategie. Sie verfolgen vielleicht die Strategie: Das im Städtebauausschuß Ihres Landtages gesagt ha- ist ja phantastisch, hier können wir die Gewerk- ben, nämlich daß die Mittel, die vom Land für den schaften prügeln! Bei der Prügelei geht der öffent Ankauf der Wohnungen bereitgestellt werden müs- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16627

Dr. Möller sen, den allgemeinen Wohnungsbauförderungsmit- das gedeckt wurde, was man aufgedeckt hatte. So, teln des Landes verlorengehen? Warum sagen Sie meine ich, war auch die heutige Debatte eigentlich hier etwas anderes als im Ausschuß? ein schlagender Beweis dafür, daß sehr häufig nach der Methode „Haltet den Dieb" vorgegangen wurde, Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Herr um von eigenen Versäumnissen abzulenken. Kollege Möller, ich habe dies dort überhaupt nicht (Beifall bei der CDU/CSU) gesagt. (Zuruf von der SPD: Er hat nicht zuge Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir ste- hört!) hen jedenfalls — das läßt sich schlicht und einfach nicht leugnen — sowohl im Bund als auch in den Am Wohnungsbauprogramm 1986 ändert sich durch die 1,2 Millionen DM Aufwendungsdarlehen, Ländern vor den Ergebnissen einer jahrelangen die die LEG bekommen muß, gar nichts. Dies wird Mißwirtschaft der Neuen Heimat, die auch zum über Kreditaufnahmen der WFA erledigt. Es ändert heutigen Zeitpunkt zu meinem größten Erstaunen sich an dem Programm gar nichts. Das habe ich in noch von einem großen Teil der Bundesländer ge- jeder bisherigen Sitzung und auch hier so gesagt. deckt wird. Ich war schon sehr merkwürdig berührt, als hier heute ausgerechnet ein Betrag von sage (Dr. Möller [CDU/CSU]: Nein!) und schreibe 9 Millionen DM in die Debatte einge- führt worden ist. Der Vorsitzende der Sozialdemo- Vizepräsident Frau Renger: Herr Minister, wir hat- kratischen Partei Deutschlands, , ten eine Redezeit vereinbart. Wären Sie in der Lage, würde sagen: Dabei handelt es sich nicht einmal um sich dem Ende zu nähern? Petitessen. — Ich meine wirklich, es kann keine (Dr:Ing. Kansy [CDU/CSU]: Frau Präsi ernsthafte Debatte sein, wenn wir hier über 9 Mil- dentin, der ist am Ende! — Heiterkeit) lionen DM reden, da es in Wahrheit über ganz an- dere Dimensionen zu reden gilt. Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau Sei dem, wie dem sei, meine Damen und Herren. Präsidentin, ich hatte die Absicht, fertig zu werden. Die Öffentlichkeit und auch die Mieter der Neuen Ich wäre schon fertig, wenn die Zwischenfragen Heimat — der Herr Bundeswohnungsbauminister nicht gekommen wären. Ich bin aber nicht am hat das deutlich gemacht — sind darüber verunsi- Ende, sondern wir in Nordrhein-Westfalen stehen chert und beunruhigt, was sie als Ergebnis einer am Anfang, jahrelangen Mißwirtschaft heute auf dem Tisch ha- (Beifall bei der SPD) ben. Dabei gibt das geltende Mietrecht zwar- selbst trotz allen Bestürmens, trotz aller Diffamierungen für den Fall des Konkurses einen weitgehenden von Ihnen, trotz aller Querschüsse einer versagen- Schutz. Das ist sicherlich richtig. Immerhin könnte den Bundesregierung, den Mietern der Neuen Hei- aber auch dann, wenn im Konkurs z. B. Wohnungen mat zu helfen. Wir werden das im Laufe dieses Jah- verkauft werden, ein Erwerber gegenüber dem Mie- res schaffen. ter kündigen. Schon deswegen — das sage ich in aller Ernsthaftigkeit — kann niemandem daran ge- (Zurufe von der CDU/CSU) legen sein, den Konkurs der Neuen Heimat sozusa- Darin kann uns nichts beirren, nicht einmal Ihr gen freudestrahlend zu beklatschen oder auch nur Geschrei hier. mit Augenzwinkern zu begrüßen. Ich sage das wirk- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der lich in aller Ernsthaftigkeit. CDU/CSU) In dieser Lage, meine Damen und Herren, hätte wohl jeder unbefangene Beobachter — so meine Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und ich, wenn ich versuche, unbefangen zu sein — die Herren, das Wort hat Herr Staatssekretär Dr. Ro- Gewerkschaften als die Kapitalgeber der Neuen senbauer, Freistaat Bayern. Heimat, der betroffenen Gesellschaft also, am Zuge gesehen. Das wäre das Natürlichste der Welt gewe- Staatssekretär Dr. Rosenbauer (Bayern): Frau Prä- sen. Aber nein, die Gewerkschaften weigern sich, sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- ihr Unternehmen zu stützen, auch wenn das hun- ren! dertmal die moralische Pflicht eines jeden Eigentü- (Zurufe) mers gewesen wäre. — Möchten Sie einen Kurs in bayerischem Staats- (Roth [SPD]: Staatssekretäre sollten we recht bei mir nehmen? Ich nehme das nicht an. nigstens die Wahrheit sagen!) Gestatten Sie, daß ich aus der Sicht eines weiteren, zugegebenermaßen anderen Bundeslandes ein paar Und dabei sind die Gewerkschaften auch noch mit Sätze zu diesem Komplex hier vortrage. Meine Da- dem Anspruch der Gemeinwirtschaft aufgetreten. men und Herren, es setzt sich eigentlich auch in der Welch ein bedrückender Widerspruch besteht dann heutigen Debatte das fort, was die letzten Wochen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn man und Monate beherrscht hat. Wir haben häufig eine auf der einen Seite so tut, als ob man die Fahne der Flut von relativ starken Worten der sozialdemokra- Gemeinwirtschaft ganz hoch hängen könnte, und tisch regierten Länder gehört, haben dann aber sich auf der anderen Seite weigert, als Eigentümer sehr schnell, um nicht zu sagen: spornstreichs auch dieser Gesellschaft für dahingegangenes Vermögen wieder erleben müssen, daß der Mantel der christli- geradezustehen. Dann rühmt man sich hier noch chen oder der sozialistischen Nächstenliebe über der Sorge um den Mieter. 16628 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Staatssekretär Dr. Rosenbauer (Bayern) Ich behaupte schlicht und einfach, die Gewerk- bauminister darauf besteht, daß dieses Gutachten schaften versuchen sich um ihre moralische Ver- vorgelegt wird. antwortung herumzudrücken. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, dem haben doch alle Das ist das eigentliche Politikum. Länder am 5. Februar ausdrücklich zugestimmt. Obwohl sich die Gewerkschaften um diese mora- Aber dieses merkwürdige Memorandum — es ist ja lische Verantwortung zu drücken versuchen, trafen recht putzig zu lesen, wenn man sich die Mühe sich die Wohnungsbauminister von Bund und Län- macht — ist doch zweifelsfrei keine neutrale Arbeit. dern am 5. Februar zusammen mit dem DGB-Chef Es ist trotz allen Umfangs unvollständig, und es ist Ernst Breit und den Geschäftsführern der Neuen wegen dieses Umfangs widersprüchlich, ja es ver- Heimat, um die Probleme zu besprechen. Am Ende nebelt sogar eine Menge und läßt den Leser am dieses Gesprächs erklärten Bund und Länder ge- Ende eigentlich ziemlich ratlos zurück, meinsam — nicht nur die Länder der einen Seite —, (Müntefering [SPD]: Sie bestimmt!) sie wollten sich um Lösungen bemühen, bei denen wie ich befürchte auch einen Zuhörer in dieser De- für die Wohnungen der Neuen Heimat die Sozial- batte vor meinem Beitrag. bindungen erhalten bleiben. Dies setze allerdings voraus — so war es einheitliche Meinung —, daß (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Eigen man einen klaren Einblick in die wirtschaftliche [CDU/CSU]: Das Selbstbewußtsein reicht Lage des Konzerns bekäme. Man höre und staune: aus!) Der DGB und die Gesellschaft, also die Neue Hei- Meine Damen und Herren, warum eigentlich wol- mat, erklärten sich in dieser Besprechung bereit, len DGB und Neue Heimat — diese Frage müssen von einer neutralen Wirtschaftsprüfungsgesell- wir doch einmal stellen — und auch die Wohnungs- schaft die wirtschaftliche Lage des Konzerns über- bauminister der SPD-geführten Länder als ihre prüfen und dabei u. a. auch das Vermögen bewerten treuen Schützenhelfer nicht einsehen, daß jede Kri- zu lassen und alle Verbindlichkeiten offenzulegen. senbewältigung, zu der wir doch bereit sind, Herr Was danach geschah, wissen wir. Die Neue Hei- Bundeswohnungsbauminister — die Bayerische mat erteilte zunächst diesen Auftrag. Aber nach Staatsregierung steht an Ihrer Seite, einigen Wochen zog sie ihn zurück. Was war das? (Zuruf von der SPD: Aber nur in Lippenbe Das war schlicht und einfach der Bruch dessen, was kenntnissen!) man am 5. Februar gemeinsam vereinbart hatte. Ob - man das den Bruch eines Versprechens oder den will Ihnen an die Seite treten, nicht in die Seite tre- Bruch einer vertraglich eingegangenen Bindung ten —, damit beginnen muß, eine neutrale Be- oder das Abgehen von einer Zusage nennt, ist Ge- standsaufnahme vorzunehmen? Das ist doch ei- schmackssache. Es war jedenfalls ein Abgehen von gentlich das Natürlichste von der Welt. Wenn die der gemeinsamen Position am 5. Februar dieses Eigentümer, also die Gewerkschaften, schon andere Jahres. um Hilfe bitten, wie geschehen — mit Tremolo in der Stimme und Tränen in den Augen und viel (Dr. Schneider [Nürnberg] [CDU/CSU]: Publizität —, dann müßten sie doch eigentlich zu- Sehr richtig!) nächst einmal sagen, zu welchen Opfern sie selbst Statt dessen — was wir erwartet hatten, war klar — bei der Sanierung dieses Konzerns bereit sind. legte man ein Papierchen relativ großen Umfangs (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vor, das den hochtrabenden Titel „Memorandum" führte, aber eigentlich nichts anderes war als die Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist selbstgestrickte Rechtfertigung für das, was sich in auch keine theoretische Überlegung, keine Wirt- den vergangenen Jahren im Konzern abgespielt schaftstheorie im weiteren oder im engeren Sinne. hatte. Die Frage geht eigentlich auch in eine andere Rich- tung, nämlich dahin: Wie eigentlich wollen sich die Jetzt hören wir den Einwand, meine Damen und Gewerkschaften und auch die SPD im Bund oder in Herren, der Bund sei für die Überwachung der den Ländern ernsthaft als die Hüter einer erfolgrei- Wohnungsgemeinnützigkeitsaufsicht überhaupt chen Wirtschaftspolitik darstellen, wenn das das Er- nicht zuständig. gebnis der Politik der Neuen Heimat in den vergan- (Dr. Sperling [SPD]: Das steht in der Ant genen Jahren gewesen ist? wort!) (Zuruf des Abg. Stahl [Kempen] [SPD]) Jetzt muß ich eines sagen: Sie werden keinen über- — Ich bin ja dankbar dafür, daß Sie bei der Nen- zeugteren Förderalisten finden als einen bayeri- nung von zehn anderen Namen auch zehnmal den schen Staatssekretär, schon qua Amt. Namen Späth nennen durften. Ich muß schon geste- (Roth [SPD]: Sie sind doch gar kein hen, daß dieser Hinweis langsam, aber sicher ab- Bayer!) surd wird. Eines ist doch deutlich. Wenn elf Länder und der (Stahl [Kempen] [SPD]: Fassen Sie sich Bund zusammensitzen und gemeinsam ein solches mal an die eigene Nase! Sie sind ganz Gutachten erwarten und zugesichert bekommen, schön unverschämt!) dann ist es zweifelsfrei keine Überschreitung der Wie die Bundesregierung — dies möchte ich in Bundeszuständigkeit, wenn der Bundeswohnungs- aller Deutlichkeit betonen — wird auch die Bayeri- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16629 Staatssekretär Dr. Rosenbauer (Bayern) sche Staatsregierung dabei bleiben, daß sie keine — Içh wußte, das sind Pawlow-Effekte, die man hier Steuermittel für die Sanierung der Neuen Heimat erzielen kann. oder für den Ankauf ihrer Wohnungen gewähren (Berger [CDU/CSU]: Herr Fischer schlich wird. Es wäre nach unserer Meinung unverantwort- gestern mit Turnschuhen!) lich, die Verluste dieses Unternehmens am Ende eines Leidensweges auch noch zu sozialisieren. — Das geht zu weit, ja. (Zuruf von der SPD: Wer will das denn?) Der Komplex Neue Heimat ist die Geschichte ei- Die Bayerische Staatsregierung kann allenfalls nes Mammutkonzerns, der einmal in sozialer Ab- versuchen — auch dies erkläre ich hier wie am sicht Wohnungen baute und dann im bürokrati- 5. Februar —, beim Herauslösen des bayerischen schen und insbesondere begehrlichen Filz von so- Teils, also der bayerischen Tochter der Neuen Hei- zialdemokratischen Parteifunktionen versackt ist. mat, aus dem Konzern — Sie haben auch davon (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord gesprochen — vermittelnd mitzuwirken. neten der CDU/CSU) (Müntefering [SPD]: Wir haben das be — Ich bedanke mich für den Beifall von der CDU/ grüßt!) CSU. Ich habe den Eindruck, daß die Debatte, die Aber auch eine solche Vermittlung — ich darf das Sie hier führen, von Neid geprägt ist. Auch Sie hät- ebenfalls in aller Deutlichkeit sagen — ist wirklich ten gern an diesem Tropf gehangen. nur dann möglich und für uns nur dann denkbar, (Beifall bei den GRÜNEN) wenn die Gewerkschaften zu ihrer Verantwortung Ich möchte nicht wissen, wieviel sozialdemokrati- stehen und wenn die Geschäftsführer der Neuen sche Parteikarrieren auf der Gehaltsliste der Neuen Heimat aber auch den letzten Schleier über der Heimat begonnen haben. Was ich aber angesichts wirtschaftlichen Lage des Unternehmens samt al- des Neue-Heimat-Skandals wissen möchte, ist, was len Haftungsverpflichtungen lüften. Niemand sollte denn nun eigentlich die Konsequenzen sind und wie den Fehler begehen ab heute oder ab Bekanntwer- das bezüglich des Endes dieser Karrieren aus- den dieses Skandals alle gemeinnützigen Woh- schaut; denn Verantwortlichkeit ist hier wirklich nungsbaugesellschaften mit der Neuen Heimat in gefragt. einen Topf zu werfen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der SPD — Müntefering [SPD]: Denn eines ist deutlich geworden, wenn man in Das ist ein gutes Wort!) Listen der Betroffenen sieht, wie es hier so- schön Das hätte fatale Folgen, die wir Gott sei Dank alle heißt: Eine ganze Politikergeneration der Sozialde- nicht wollen. Ich meine, das haben auch die 2 000 mokratie ist in den Neue-Heimat-Skandal verwebt. anderen Unternehmen, die, soweit wir es heute be- Ein Blick in die Liste für Aufsichtsräte macht deut- urteilen können, ohne Fehl und Tadel gearbeitet lich: Die Nachkriegsaufbaugeneration der Sozialde- haben, wahrlich nicht verdient. mokratie hat sich hier gütlich auf Aufsichtsrats- mandaten ausgeruht und ihre Aufsichtspflicht ge- Dieser Skandal um die Neue Heimat hat aber genüber genossenschaftlichen und gewerkschaftli- auch deutlich gezeigt, Herr Bundeswohnungsbau- chen Geldern auf das Gröblichste vernachlässigt. minister, meine Damen und Herren des Deutschen Bundestages, wie reformbedürftig heutzutage auch (Beifall bei den GRÜNEN) das Recht der gemeinnützigen Wohnungsbauun- Hier ist nicht nur mit den Mietern, sondern auch ternehmen ist. Der Bundesgesetzgeber muß des- mit dem sozialpolitischen Engagement Schindluder halb Sicherungen dagegen finden, daß ein Unter- getrieben worden. nehmen grobe Mißwirtschaft treibt und sich dabei Besonders groß ist natürlich der Schaden für den auch noch nicht gemeinnützig verhält. Der Skandal, Genossenschaftsgedanken, den ich hier in den Vor- den es um die Neue Heimat gegeben hat, darf sich dergrund stellen will. bei keinem der anderen 2000 Unternehmen wieder- holen. Das heißt: Der Gesetzgeber ist gefordert. Ich (Beifall bei den GRÜNEN) meine, er ist um so mehr gefordert, als sich die In einer Wirtschaftskrise, meine Herren von der Gewerkschaften in dem heutigen Skandal immer Sozialdemokratie, wo viele Arbeitslose gerade in noch um ihre Verantwortung für die Gesellschaft den Genossenschaften eine Chance sehen, wo auch und für die Mieter herumzudrücken versuchen. eine wirtschaftspolitische Perspektive zu sehen ist, Vielen Dank. ist ein Neue-Heimat-Skandal Wasser auf die Mühle aller derjenigen, die jede Form von Selbstverwal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tung aus durchsichtigen Gründen verhindern wol- len. Das ist der sozialpolitische Schaden, den Sie Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr u. a. mit dieser Art und Weise der Verwaltung der Abgeordnete Dr. Müller (Bremen). Neuen Heimat angerichtet haben. Nun kann es aber nicht unsere Aufgabe hier sein, Dr. Müller (Bremen) (GRÜNE): Frau Präsidentin! einzig und allein darüber zu diskutieren: Wie ist die- Meine Damen und Herren! Es scheint sich hier ein- ser Skandal verursacht worden? zuschleichen, daß Länderminister das Wort in De- Und zu Ihnen, Herr Minister Schneider: Wenn Sie batten ergreifen. Ich frage mich, wo das enden soll. hier sagen, daß keine Steuergelder zur Sanierung (Zurufe von der CDU/CSU) der Neuen Heimat zur Verfügung stehen und dieses 16630 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Dr. Müller (Bremen) in die Worte kleiden, es gehe hier nicht um die Sub- wortlichkeiten in den Vordergrund gestellt werden, ventionierung der Gewerkschaften, dann machen die eindeutig bestehen. Dazu muß man sich — ver- Sie einen entscheidenden Fehler. Sie machen den dammt noch mal -- bekennen. Das muß auch öf- Fehler, daß Sie die Neue Heimat und ihre Bewoh- fentlich sein, und das muß gerade dann deutlich ner mit den Gewerkschaften identisch setzen, die gemacht werden, wenn man Steuergelder haben Sie natürlich treffen wollen. Das ist unlauter ange- will und dringend benötigt, wobei wir der Meinung sichts des Schicksals der Mieter, die jetzt durch Pri- sind, daß auch die Banken, die ja hier kräftig zuge- vatisierung bedroht sind. langt haben, sich an dieser Sanierung zu beteiligen haben. Hier kann ein Konzept entstehen, das auch Es geht doch darum, Bundesmittel zur Verfügung die finanzielle Verantwortung an diejenigen gibt, zu stellen, um gemeinnütziges Eigentum, gemein- die hier nach dem Verursacherprinzip etwas zu ge- nützige Wohnungen zu retten. Es ist klar, daß sich ben haben. daran Gewerkschaften, Banken, aber auch Bund und Länder zu beteiligen haben. Danke schön. Sollte im Bundestag von seiten der CDU ein Unter- (Beifall , bei den GRÜNEN — Dr. Sperling suchungsausschuß beantragt werden, dann ist das [SPD]: Stimmen Sie doch Punkt 5 unseres Ziel so eines Untersuchungsausschusses doch Antrags zu!) gleichermaßen, die Ursachen für den Skandal als auch die Lösung zu erforschen, d. h., sich die Frage Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr zu stellen: Wieviel Geld ist notwendig, um die Mie- Abgeordnete Doss. ter aus ihrer Situation, in die sie geraten sind, zu befreien? Das wäre für mich das Entscheidende. Doss (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer ist das eigent- Wer allerdings in diese Debatte geht und sagt, lich, der DGB? Einer der größten und mächtigsten öffentliche Gelder sind überhaupt nicht drin, der Unternehmer im Land. Der DGB: kapitalstarkes betreibt genau das, was man Ihnen hier vorwerfen Wirtschaftsimperium in der Bundesrepublik muß, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Deutschland. Der DGB: Eigentümer der sechstgröß- nämlich sozialpolitische Geiselnahme. Sie wollen ten Privatbank mit 63 Milliarden DM Bilanzsumme. Ihren Wahlkampf mit der Geiselnahme der Mieter Der DGB: Miteigentümer der zweitgrößten privaten führen, weil Ihnen in der augenblicklichen Situa- Bausparkasse mit 4,03 Millionen Verträgen über tion angesichts eines Kanzlers, mit dem weiß Gott 163 Milliarden DM. Der DGB: Eigentümer der dritt- kein Staat zu machen ist — mit Ausnahme eines größten Versicherung mit 5,8 Millionen- Verträgen Atomstaates, wie wir gestern gesehen haben —, über 65,6 Milliarden DM Versicherungssumme. Der nichts einfällt. DGB: Eigentümer der co op AG mit 1900 Filialen, (Beifall bei den GRÜNEN — Widerspruch 39 000 Mitarbeitern und 1,034 Milliarden DM Um- bei der CDU/CSU) satz im Jahr 1984. Und last not least der DGB: Besitzer des größten Wohnungsbauunternehmens — Genau das ist es: sozialpolitische Geiselnahme. der Bundesrepublik Deutschland, ja von Gesamteu- Das ist der einzige Begriff, der dafür paßt, wenn Sie ropa, mit 270 000 Wohnungen, mit 5 000 Beschäftig- auf diese Art und Weise versuchen, mit dem Neue- ten, mit 6 Milliarden DM Umsatz jährlich. Die Neue Heimat-Skandal Wahlkampf zu machen. Heimat ist das Stiefkind des DGB, das schwarze (Beifall bei den GRÜNEN — Carstensen Schaf der Familie, das aus der Art geschlagen ist; [Nordstrand] [CDU/CSU]: Was habt ihr denn während die anderen DGB-Töchter erfolg- denn gestern gemacht?) reich sind, der Konzernspitze viel Freude bereiten, Sie sind da absolut unglaubwürdig. Das heißt, Sie erwirtschaftet die Neue Heimat seit Jahren nichts wollen sich auf Kosten der Mieter, auf Kosten der anderes als Verluste. Gemeinden, selbstverständlich auch auf Kosten der 1982 stand die private Neue Heimat Städtebau Gewerkschaften einen Wahlkampf schneidern. vor dem Ruin. Fehlspekulationen in großem Um- fang, Mißwirtschaft und Selbstbedienung führten (Beifall bei den GRÜNEN) zum großen Knall. Der Eigentümer DGB verhin- Ich halte das auch deswegen für unlauter, weil dies derte damals den völligen Zusammenbruch, indem natürlich den Gedanken der Gemeinwirtschaftlich- er mit einem Teil seines Milliardenvermögens, ins- keit und der Leistung derer, die diese Wohnungen gesamt 1,5 Milliarden DM, gleich 160 DM pro Mit- gebaut haben, natürlich noch weiter zerstören wird, glied, die Schulden der Tochter beglich. In diesem und das kann und wird nicht unser Ziel sein. Fall erwies sich der DGB als verantwortungsbe- Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, wußter Unternehmer. Er bekannte sich zu dem Ri- daß der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Vogel, siko, das mit unternehmerischer Tätigkeit verbun- Beifall geklatscht hat, als wir hier betont haben, daß den ist. sich auch die Gewerkschaften, der DGB, finanziell an der Sanierung beteiligen müssen. Ich finde das Vizepräsident Frau Renger: Herr Kollege, gestat- richtig. ten Sie eine Zwischenfrage von Dr. Möller?

(Müntefering [SPD]: Das ist doch nicht Doss (CDU/CSU): Sehr gern. neu!) — Das ist nicht neu; aber ich finde es deswegen Dr. Möller (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie haben wichtig, das zu betonen, weil hier natürlich Verant gerade von Selbstbedienung gesprochen. Wie beur- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn. Donnerstag. den 15. Mai 1986 16631

Dr. Möller teilen Sie die Feststellung des Hamburger Untersu- Heimat vor dem Ruin steht, will der DGB sich drük- chungsausschusses, daß die Neue Heimat Hamburg ken. Er will sich seiner Verantwortung als Unter- dadurch eklatant gegen Vorschriften verstoßen hat, nehmer entziehen. Den Pleitegeier, der über der daß sie für die Betreuung von Bauten bei namhaf- Neuen Heimat Wohnungsbau kreist, sollen andere ten, bekannten Genossen statt der gesetzlich vorge- vertreiben. Ein Unternehmen, das von seinem Ei- sehenen Gebühr von 8 oder 7 % nur 3 % und bei gentümer mit lächerlichen 3')/0 Eigenkapital ausge- einem ganz bekannten Namen, bei Helmut stattet wurde, das keine Steuern zahlt, das mit 10 Schmidt, nur eine Gebühr von 1,5 % verlangt hat? Milliarden DM vom Staat gestützt wurde und das (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) dennoch einen gigantischen Schuldenberg von 18 Milliarden DM auftürmte, dieses Unternehmen ruft jetzt nach öffentlichen Mitteln. Die Frage nach Doss (CDU/CSU): Herr Dr. Möller, ich kann dies der Verpflichtung des Eigentümers, die Frage nach nicht bestätigen. Nur bin ich sicher, daß die Be- der Verantwortung des Unternehmers DGB wird handlung dieses Themas noch eine ganze Reihe un- verdrängt. Nach dem Prinzip: „Gewinne einstecken, erfreulicher Tatsachen — nicht für uns, sondern für Verluste sozialisieren" versucht der DGB, das Pro- die, die hier Verantwortung tragen — ans Tages- blem zu lösen. licht fördern wird. Deshalb: Vor die Therapie gehört (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr richtig!) die Diagnose, das Aufdecken, was hier ist. Deswe- gen fordere ich alle auf, daran mitzuwirken. Das Der Unternehmer DGB hat die Lektion von 1982 muß unser gemeinsames Anliegen im Interesse der rasch verlernt. Er muß wieder an volks- und be- Mieter sein. triebswirtschaftliche Grundbegriffe erinnert wer- den. Die Neue Heimat ist eins von 1 800 gemeinnüt- (Ruf [CDU/CSU]: Nachzahlen sollen die zigen Wohnungsunternehmen. Statt der in dieser Herren!) Branche üblichen 15 bis 20 % Eigenkapital besitzt Der .DGB stand damals in Sachen Neue Heimat die Neue Heimat nur 3 %. Städtebau für den Schaden ein. Er schluckte die (Berger [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Kröte und vertrat diese Entscheidung auch gegen- über seinen eigenen Mitgliedern, von denen allein 97 % des Firmenkapitals gehören insgesamt 60 Ban- 1982 über 110 000 dem DGB den Rücken kehrten. ken, denen der gute Name des DGB als Sicherheit 1982 machte der DGB die Erfahrung, was es wirk- ausreichte, um ihre Finanzierung zuzusagen. Dieser lich bedeutet, Unternehmer zu sein. Unternehmer „gute Name" ist heute die Hypothek des DGB, die er sein heißt eben nicht, Profite scheffeln und sich einlösen muß. - vom Mehrwert, der von den ausgebeuteten Lohnab- Er hat dabei zwei Möglichkeiten. hängigen erwirtschaftet wird, einen schönen Lenz machen. Unternehmer sein heißt in erster Linie Erste Möglichkeit: Der DGB überläßt die Neue Verpflichtung, Verantwortung und Haftung. Heimat sich selbst. Die Neue Heimat müßte 200 000 Wohnungen verkaufen, um die Pleite abzuwenden. (Eigen [CDU/CSU]: Sehr gut!) Das wäre ein Totalausverkauf, den die Neue Hei- Diese Erfahrung machen Jahr für Jahr Tausende mat nicht überleben würde. von Selbständigen, die dem Wettbewerb nicht Zweite Möglichkeit: Der DGB saniert sein Toch- standhalten können und in Konkurs gehen. terunternehmen. Sollte er dabei Hilfe benötigen, (Roth [SPD]: Sagen Sie doch mal was Neu muß er zunächst die Karten auf den Tisch legen. Er es!) muß Auskunft geben über die Höhe des Betriebs- 19 000mal stellte sich 1985 die Frage nach der Ver- vermögens, über die Höhe der Verbindlichkeiten, antwortlichkeit über die Fälligkeitsfristen, über die Verpflichtungs- verflechtungen innerhalb des Konzerns und über (Stahl [Kempen] [SPD]: So gut seid ihr als die Haftungsverflechtungen innerhalb des Kon- Regierung!) zerns. Schließlich muß der DGB verbindlich erklä- — selbstverständlich ein Teil der Erblast, lieber ren, ob und in welcher Höhe er bereit ist nachzufi- Kollege! —, nanzieren. Erst dann wird erkennbar, ob eine Sa- (Zuruf des Abg. Stahl [Kempen] [SPD]) nierung möglich ist. und in der Regel waren es die Betriebsinhaber, die Daß diese Auskünfte bis heute nicht vorliegen, die Antworten geben mußten. stimmt bedenklich. Birgt die Finanz-, Verschuldens- und Vermögenslage der Neuen Heimat Vorgänge Das Prinzip der persönlichen Haftung, das insbe- und Sachverhalte, die das Licht der Öffentlichkeit sondere unter kleinen und mittleren Unternehmen scheuen? Man muß dies vermuten. verbreitet ist, macht die Verantwortung am Unter- nehmer fest, der im Konkursfall nicht nur seinen Ist der DGB überhaupt an einer Sanierung mit Betrieb, sondern meist auch sein privates Vermö- Selbstbeteiligung interessiert? Erwartet der DGB gen verliert und darüber hinaus in der Regel für ernsthaft, daß sein Tochterunternehmen, das sich den Rest seines Lebens haftet. über Jahre als Quasimonopolist betätigte und als solcher den Markt abräumte, die Architekten, Bau- (Zuruf des Abg. Roth [SPD]) unternehmern und Handwerkern die Bedingungen Diese Lektion in Sachen Marktwirtschaft schien diktierten, jetzt aus deren Steueraufkommen sa- der Unternehmer DGB 1982 begriffen zu haben. niert werden? Glaubt die Neue Heimat ernsthaft, Heute aber, da der gemeinnützige Teil der Neuen sich dem Offenbarungseid durch verwirrende 16632 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Doss Transaktionen und Kreislaufgeschäfte entziehen zu werden dies in dem von Herrn Möller zitierten Aus- können? Glaubt Ministerpräsident Rau, die milliar- schußbericht aus Hamburg kontrollieren können. denschwere Stützungsaktion für den schwanken- Als ich in den Zeitungen gelesen habe, der Ham- den Riesen gegenüber den steuerzahlenden Bür- burger Untersuchungsausschuß „Neue Heimat" gern verantworten zu können? Leiten die Aufsichts- habe seine Untersuchungen abgeschlossen, habe räte und Vorstände der Neuen Heimat aus ihrer ich dort gefragt: Wann kann ich den Bericht krie- Position im Vergleich zu mittelständischen Unter- gen? Da haben die mir gesagt: Der wird 1 500 Seiten nehmen und deren Familien eine privilegierte Be- lang sein; das wird etwa Mitte Juni erscheinen; vor- handlung in Fragen der persönlichen Haftung ab? her kannst du nichts kriegen. — Dann habe ich Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht gefragt: Es wird dann aber doch einen Minderheits- durch platte Forderungen nach öffentlichen Mitteln bericht der GAL dort geben? — Da haben die ge- ersetzt werden. sagt: Nee, gibt's nicht. Ich hatte gedacht, daß die GAL, die wirklich kein Freund der Hamburger (Beifall bei der CDU/CSU) Sozialdemokraten ist, da schon etwas nachliefern Wir fordern den DGB auf, seinen Verpflichtungen würde. — Dann habe ich gefragt: Und was ist mit gegenüber Geldgebern, Beschäftigten und Mietern einem Minderheitsbericht der CDU? — Da haben der Neuen Heimat endlich nachzukommen. die mir gesagt: Den gibt's auch nicht. — Also: der Wir ersuchen die Sozialdemokratische Partei Untersuchungsausschuß in Hamburg hat einstim- Deutschlands, diese Forderung mitzutragen. Lassen mig abgeschlossen. Sie uns als Anwalt der Mieter und der anderen Nach dem, was ich in Zeitungen gelesen und aus Neue-Heimat-Geschädigten gemeinsam auf den Andeutungen gehört habe, ist das, was in diesem DGB einwirken, um ihn zu einem verantwortungs- Bericht steht, verheerend, bewußten Unternehmerverhalten zu bewegen! (Dr. Möller [CDU/CSU]: So ist es, ja!) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. und es ist unter Führung von Sozialdemokraten zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — stande gekommen: ein verheerendes Urteil über die Roth [SPD]: Ja, da müssen Sie schon sehr Neue Heimat. danken, daß wir zugehört haben!) (Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: Es ist Ihnen dort ja nichts anderes übriggeblieben!) Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Ab- Wenn ausgemistet werden muß und soll, bin ich geordnete Dr. Sperling. - dabei. Wenn meine Gewerkschaft mich daran hin- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh, oh!) dern sollte, dann werde ich der Bescheid sagen und durch Basisbeschlüsse meiner Gewerkschaft dafür sorgen, daß sie mich beim Ausmisten nicht behin- Dr. Sperling (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- men und Herren! Ich gedenke keine Zwischenfra- dert. Ich bin dafür, daß Gewerkschaftsvorstände die gen zuzulassen, jedenfalls so lange nicht, bis ich Beschlüsse der Basis einhalten. Wenn das, was der das, was 'mir in dieser Debatte entscheidend ist, Kollege Link gefordert hat, von den Gewerkschaf- übergebracht habe. ten gemacht werden soll: Herr Kollege Link, warum kämpfen Sie nicht an der Basis Ihrer eigenen Ge- (Daweke [CDU/CSU]: Also gar nicht!) werkschaft dafür, daß das von der Gewerkschaft — Nein, nein, das kann, wenn Sie sich vernünftig beschlossen wird? verhalten, nach zehn Minuten passieren. — (Conradi [SPD]: Da will ihn niemand mehr (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU — sehen! — Zurufe von der CDU/CSU) Eigen [CDU/CSU]: Herr Sperling, welche Gehen Sie daran! Arroganz!) Also, ausmisten werden Sie mit uns können. Aber Das, was hier passiert, ist ein Rachefeldzug aus bitte, überlegen Sie dann mit uns auch, was inzwi- unchristlichem Geist. schen passiert. Denn die Welt bleibt nicht unverän- (Beifall bei der SPD) dert, während man den Mist ausräumt. An dem nimmt die FDP munter teil. Daß der Kol- (Dr. Möller [CDU/CSU]: So ist es! — Eigen lege Lambsdorff heute im Gerichtssaal und nicht [CDU/CSU]: Immer wieder Mist, alles Mist, im Plenarsaal sitzt, ist der Strategiefehler der Stra- Herr Sperling!) tegen aus dem Büro Dregger. Es könnte sein, daß sich durch Unachtsamkeit und (Dr. Möller [CDU/CSU]: Das ist eine üble Nicht-Hingucken Dinge anhäufen, die man nachher Darstellung!) wieder als Mist zu beseitigen hat, weil man nicht Und er sitzt im Gerichtssaal, weil das Ausmisten in gehandelt hat. der Tat nötig ist. (Eigen [CDU/CSU]: Noch mehr Mist, in je (Beifall des Abg. Werner [Westerland] dem Satz einmal Mist!) [GRÜNE]) Deswegen lohnt die Frage: Was passiert denn ei- Das Ausmisten ist allerdings auch in Sachen gentlich — unabhängig von der bösen Vergangen- Neue Heimat nötig. Und wenn es ums Ausmisten heit der Neuen Heimat — jetzt? Da kommt die Bay- geht, dann werden Sie feststellen: Wir sind dafür, erische Staatsregierung dankenswerterweise als auch wenn es um unseren eigenen Mist geht. Sie Vermittler zur Neuen Heimat oder die Neue Heimat Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16633

Dr. Sperling dankenswerterweise zur Bayerischen Staatsregie- Dies kommt teurer für die öffentlichen Hände als rung als Vermittler, und die bayerischen Wohnun- das, was man jetzt für 500 DM je Wohnung pro Jahr gen der Neuen Heimat werden inzwischen verkauft, tun könnte, um die Bindungen zu erhalten. Wenn während wir hier ausmisten. Dasselbe macht Lo- das passiert, dann ziehen sich nicht nur die Erwer- thar Späth für die baden-württembergische Landes- bermodellsteuerspekulanten die Wohnungen der regierung. Er vermittelt den Verkauf des Woh- Neuen Heimat an Land, sondern dann wird in die- nungsbestandes der baden-württembergischen Ge- sen Wohnungen auch noch erhöhtes Wohngeld be- sellschaft in irgendwelche Hände. Beides wird in- zahlt werden müssen. zwischen passieren, ohne daß die Bindungen erhal- (Zurufe von der SPD: So ist es!) ten bleiben. Die Bindungen sowohl gemeinnütziger wie sonstiger Art werden durch die neuen Eigentü- Noch einmal werden die öffentlichen Hände dran mer nicht aufrechterhalten werden, sondern nach sein. Für diejenigen, die die billigen Wohnungen den gesetzlichen Tatbeständen zu Ende gehen. In- nötig haben und für die es keine mehr geben wird, zwischen wird in Hessen nach meinem Eindruck muß dann Wohngeld gezahlt werden und gegebe- etwas Ähnliches passieren. Dort werden die Bin- nenfalls, wenn das nicht reicht, Sozialhilfe. dungen aufrechterhalten werden und in Nordrhein- Das heißt: Wer ein Interesse daran hat, die Kom- Westfalen nach meinem Eindruck auch. Dann ha- munen davor zu bewahren, die Folgen des Laufen- ben wir die Neue Heimat im süddeutschen Raum — lassens übernehmen zu müssen, und den einkom- und da ist der Norden schon recht kurz betrachtet, mensschwachen Gruppen in diesem Land preiswer- er endet dann mit Niedersachsen — sozusagen ten Wohnraum zu erhalten, und wer dagegen ist, ohne eigene Wohnungen. daß Steuerspekulanten dies als billige Masse krie- Das heißt, wir befinden uns bereits auf dem Wege gen, die sie obendrein durch Steuerspekulation als zu einem Wohnungsbaukonzern oder Wohnungs- Kostenmasse auf die öffentlichen Hände abwälzen, konzern ohne Wohnungen. Deswegen geht es schon der muß jetzt etwas tun. gar nicht mehr um die Sanierung der Neuen Hei- (Beifall bei der SPD) mat. Die wird ja beendet, das sieht man ja; der Aus- verkauf findet doch längst statt. Die Frage ist nicht: Herr Schneider, als Bundesbauminister haben Soll man die Neue Heimat sanieren — das geht so Sie nicht einmal die Fähigkeit, zu sehen, was pas- oder so zu Ende —, sondern: Was kann man tun, um siert, wenn alles so weitergeht, sondern Sie wollen die Wohnungen, die früher einmal — so werden wir auch nur Vergangenheitsbewältigung beim DGB in einem Jahr sagen — der Neuen Heimat gehört betreiben. - haben, für kommunalpolitische Verantwortung zur (Roth [SPD]: Das ist unverantwortlich! Verfügung zu haben für die Einkommensgruppen, Diese Haltung ist unverantwortlich!) die sie brauchen. Diese Haltung ist unverantwortlich. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Wir müssen den Kommunalpolitikern helfen und den zukünftigen Mietern, die auf preisgünstige Deswegen kümmern Sie sich darum, was passiert, Wohnungen angewiesen sind, nicht nur den jetzi- während ausgemistet wird, damit wenigstens Vor- gen Mietern in den Wohnungen. Deswegen — nicht kehrung getroffen ist, daß nicht nachher der Skan- zur Sanierung der Neuen Heimat — ist gefordert, dal noch größer ist als jetzt schon. daß man mit politischen Maßnahmen etwas tut, not- Nun möchte ich zu ein paar Punkten kommen. falls auch in die öffentlichen Kassen greift. Sie sagen, die Wohnungen der Neuen Heimat seien Warum kann man denn auch ruhig in die öffentli- bereits mit 10 Milliarden DM subventioniert wor- chen Kassen greifen? Meine Damen und Herren, den. Das kann man so sehen. Aber man kann auch weil der Griff in die öffentlichen Kassen unweiger- sagen: Die 10 Milliarden DM sind zum erheblichen lich passieren wird. Den kann niemand verhin- Teil bisher den Mietern der Neuen Heimat zugute dern. gekommen. Sie haben nicht der Vermögensbildung beim DGB gedient, sondern sie sind in ermäßigten (Link [Frankfurt] [CDU/CSU]: Doch, der Mieten den Mietern der Neuen Heimat zugute ge- DGB kann das verhindern! — Der DGB kommen. Wenn man nun danach fragt, ob denn die kann das mit seinem Vermögen verhin 10 Milliarden DM auch noch in Zukunft Mietern dern! Der Milliardär DGB kann das verhin zugute kommen sollen, dann muß man das beden- dern!) ken, was ich eben gesagt habe. Deswegen lohnt es nicht, sich darüber aufzuregen und zu sagen, 10 Mil- Denn wenn die Neue Heimat verkauft — und sie liarden DM seien verwirtschaftet worden. So ist es wird verkaufen; und wenn sie nicht verkauft, dann nicht. Sie sind in erheblichem Ausmaß abgewohnt wird im schlimmsten Fall sogar ein Konkursrichter und genutzt worden von Mietern. Das war eine an- verkaufen —, dann werden diese Wohnungen auf ständige sozialpolitische Leistung, der sich nie- dem Markt sein, und mit dem Erwerbermodell, der mand zu schämen hat. Aber wenn man die Wohnun- anderen Variante des Bauherrenmodells, werden gen für die Zukunft zur Verfügung behalten will, den öffentlichen Händen mehr Gelder aus der Ta- kann man vielleicht mit ein paar Millionen D-Mark sche gezogen als nach Subventionierung der bisher an zusätzlichem öffentlichen Aufwand diese Woh- bei der Neuen Heimat befindlichen Wohnungen. nungsvermögensmasse für den sozialpolitischen (Beifall bei der SPD) Zweck retten. 16634 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Dr. Sperling Das Reden über die 10 Milliarden DM und das hat, daß das, wozu Sie sich nach dem Strategiepa- Fingerzeigen auf den DGB ist beim Retten über- pier des Herrn Dregger hergegeben haben, in der haupt nicht hilfreich. Das kann man immer noch Tat zur weiteren Verschlechterung der Position die- machen. Aber vorher sollte man etwas gerettet ha- ses Unternehmens, das sich selber zu retten ver- ben. sucht, beiträgt. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Wie denn das?) Herr Schneider, wenn man von der Neuen Hei- mat Auskünfte haben will, kann man sie ja kriegen. Deswegen ist es Ihre Sache, zu erkennen, daß mit Aber man muß sich dann auch entsprechend ver- Ihrem Verhalten im Grunde genommen kein Ver- halten. Jetzt will ich einmal beschreiben, wie ich trauen mehr herstellbar ist, das dazu führen wird, Ihre Rolle in der Vergangenheit sehe. Sie haben daß die Neue Heimat Ihnen ein Gutachten be- schafft. gesagt: Ich möchte von der Neuen Heimat ein un- abhängiges Gutachten. Dieses Gutachten soll Auf- Nun können Sie natürlich darangehen und ganz schluß geben. Das entspricht der Haltung eines Arz- mühelos eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der tes, der von einem Patienten um Hilfe angegangen Landesbauminister herstellen; denn wenn Sie die wird, weil sich der Patient nicht wohl fühlt, und der Gutachten aus elf Ländern zusammen haben, ha- diesem Patienten sagt: Schreibe deinen bisherigen ben Sie genau das, was Sie wollen. Nur, Sie haben Lebenslauf einmal auf, gucke einmal nach, welche das nicht mit dem öffentlichen Theater. Solange das polizeilichen Führungszeugnisse du hast, und gib mit dem öffentlichen Theater begleitet wird, ohne sie mir, gucke mal nach, was du ansonsten über die daß jemand sagt: wir sind zur Hilfe bereit — nicht Krankheitsgeschichte deiner Familie hast, und gib unter jeder Bedingung, d. h. es muß angedeutet wer- mir die Nachweise, den, unter welchen Bedingungen —, solange macht (Eigen [CDU/CSU]: Was für ein Unsinn! das ja auch keinen Sinn. Das ist ein Wirtschaftsunternehmen!) Nun gebe ich Ihnen zu: Sie finden auch in den und dann komme, ziehe dich aus und lasse dich Reihen der CDU Leute, die sagen: Wir sind zur Hilfe fotografieren, gehe unter das Röntgengerät und bereit. Der Statthalter des Kanzlers in Nordrhein- lasse dich durchleuchten. Westfalen, Herr Worms, hat Ende April 1986 im (Zuruf des Abg. Grünbeck [FDP]) nordrhein-westfälischen Landtag tatsächlich ver- sprochen, der Bund werde etwas tun. Nun, Bund, ist Und eins verspreche ich dir: Was ich Abträgliches die Bereitschaft da, die Versprechen von- Herrn über dich erfahre, werde ich sofort dem Springer- Worms einzulösen, oder ist das mit seinen Verspre- Konzern mitteilen, damit die nachteiligsten Fotos chen so wie früher, d. h. der Bund garantiert nichts von dir in der Presse erscheinen. Das sage ich dir von dem, was Herr Worms gesagt hat? obendrein: Hilfe kriegst du nicht. (Beifall bei der SPD — Dr. Müller [CDU/ (Frau Hürland [CDU/CSU]: Zu welchen Be CSU]: Das ist Quacksalberei!) dingungen, müssen Sie doch sagen!) Das ist das Verhalten des Bundesbauministers Wenn Sie also darangehen wollen, tatsächlich die gegenüber dem jetzigen Vorstand der Neuen Hei- Wohnungen, die Bindungen — nicht die Neue Hei- mat. Das ist sicher unfair; denn er hat all die üblen mat — zu retten, dann müssen Sie etwas anderes Machenschaften nicht getan, die man der Neuen sagen als bisher. Heimat ansonsten vorwirft. Im übrigen finde ich die Einlassung der Bundes- (Zustimmung bei der SPD) regierung alles andere als überzeugend. Entweder Wenn die Neue Heimat oder die gewerkschaftli- besteht Grund zur Sorge, dann muß man etwas tun, chen Vorstandsmitglieder, die sich darum geküm- oder es besteht kein Grund zur Sorge, dann braucht mert haben, vom Bundesbauminister so behandelt man auch nichts zu tun. Dann ist aber auch kein werden, dann ist doch sehr die Frage, warum sie Anlaß gegeben, in dieser Art und Weise die Ge- denn eigentlich mit diesem Untersuchungsergebnis schichte zu behandeln. Dann kann man einfach sa- bei Ihnen aufwarten sollen. Die Zusammenarbeit gen: Wir brauchen das Ausmisten der Vergangen- zwischen Landesregierungen und Landesorganisa- heit, und ansonsten braucht nichts zu geschehen. tionen der Neuen Heimat, geführt durch die Ham- Nur muß man dann wissen: Inzwischen werden die burger Muttergesellschaft, klappt vorzüglich. Das Wohnungen dennoch verkauft, und dann tritt all ist der eigentlich erstaunliche Tatbestand: Von den das ein, was ich Ihnen gesagt habe. Landesregierungen gibt es keine Klage darüber, Sie können uns natürlich dazu kriegen, daß wir daß die Landesgesellschaften oder aber die Mutter- sagen, wir schaffen das Erwerbermodell im steuer- gesellschaft in Hamburg über die Landesgesell- rechtlichen Bereich ab, das es da immer noch als schaften irgendeine Auskunft verweigern. Praxismöglichkeit gibt und das immer noch wirkt. Herr Bauminister, Sie werden in einer Anzeige Wenn Sie das wollten, könnten Sie das mit uns im aufgefordert, in Hamburg anzurufen. Machen Sie Schnellverfahren sofort machen. Dann wäre den das! Dann können Sie erfahren, warum Ihnen ei- Steuersparspekulanten dieser Weg des Greifens in gentlich nicht mehr das Vertrauen entgegenge- die Tasche des Staates für Wohnungen der Neuen bracht wird, warum das größte Wohnungsbauunter- Heimat in Zukunft verbaut. Sie können uns sofort nehmen der Bundesrepublik — das es nach wie vor an der Seite haben, wir würden das sofort mitma- ist — die nach meiner Ansicht berechtigte Sorge chen. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16635

Dr. Sperling Statt dessen, so fürchte ich, werden wir von Ihnen tersuchungsausschuß dazu. Man kann nicht wissen, erleben, daß Sie eigentlich nur danach fragen: Was wen das alles trifft. kann man bei der Neuen Heimat, beim DGB an Dies ist leider kein Alleingut eines gewerkschaft- böser Vergangenheit herauswühlen? An der Stelle lichen Unternehmens. Und weil das so ist, meine will ich Ihnen sagen: Diese Vergangenheit ist offen- ich, daß das Lauthals-Schreien über mangelnde sichtlich sehr böse. Es ist noch nie in der Ge- Aufsicht durch die Gewerkschaften über die Neue schichte des Wohnungswesens passiert, daß einem Heimat im Grunde genommen auch deswegen so Prüfungsverband die Eignung und Fähigkeit zum unfair ist, weil man doch weiß, daß da anders als bei Prüfen der Unternehmen abgesprochen wurde. anderen Unternehmen, die in Probleme gekommen Dies ist beim Hamburger Untersuchungsausschuß sind, zwei Aufsichtsinstanzen vorher da waren, gegenüber dem Prüfungsverband geschehen. Da nämlich der Prüfungsverband und dies. kann man nur vermuten, daß es bei diesem Prü- fungsverband, dessen Gutachten vorliegen müssen, (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Die sind doch bevor sich die Anerkennungsbehörde damit ausein- alle verfilzt!) andersetzt und sich dann der Aufsichtsrat des Un- Es gab eine Verfilzung, wie sie zwischen Banken ternehmens mit beiden auseinandersetzt, und anderen in Konkurs gegangenen Unternehmen (Dr. Möller [CDU/CSU]: Die waren alle ver und vielleicht sogar zwischen Parteipolitikern und filzt!) anderen inzwischen in Konkurs gegangenen Unter- nehmen bestanden hat. mit Jahresabschlüssen, die vom Prüfungsverband und von der Ankennungsbehörde behandelt worden Meine Damen und Herren, zum Ausmisten sind sind — dann kommt der Aufsichtsrat —, etwas ge- wir jederzeit bereit, aber wir möchten, daß inzwi- geben haben muß wie eine systematische Verschlei- schen etwas passiert, was für die Kommunen und erung im Interesse der Mißmanager der Neuen Hei- für die Mieter nützlich ist. mat. Wenn das der Fall sein sollte, daß dort ein Prü- (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der fungsverband systematisch Verschleierung betrie- GRÜNEN — Eigen [CDU/CSU]: Jetzt ha ben hat und die Anerkennungsbehörden dies mögli- ben wir einen ordentlichen Ausmister im cherweise mit einzelnen Mitarbeitern auch noch ge- Bundestag! Das finde ich toll!) stützt haben, dann ist die Frage, warum Lothar Späth und andere im Aufsichtsrat bestimmte Dinge nicht erkennen konnten, natürlich auch etwas leich- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Ab- ter zu beantworten. geordnete Ruf. - (Zuruf von der SPD: Der war im Vor stand!) Ruf (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen — Er war Vorstand in einer Regionalgesellschaft. und Herren! Im Zusammenhang mit den Skandalen (Roth [SPD]: Nein, der war im Vorstand und der Mißwirtschaft der Neuen Heimat sowie mit der Mutter!) dem völligen Versagen des DGB-SPD-verfilzten Aufsichtsrats — Breit, Steinkühler, Wulf-Mathies — Er war im Aufsichtsrat, und er war kurze Zeit und Genossen — ist eine große Unruhe unter den auch dort. Mietern entstanden. Aber die Frage, wieso ein Unternehmen in der (Conradi [SPD]: Lothar Späth vergessen Bundesrepublik, das nicht von Gewerkschaftern ge- Sie hier immer!) führt wird, sondern wo im Aufsichtsrat Bankenver- treter, die ganze Creme des Bankenwesens, geses- — Nicht jeder, Herr Kollege Conradi, der Unsinn sen und akribisch alles mögliche untersucht haben, redet, ist ein Komiker! dennoch Konkurs machte, wird man auch stellen Die Mieter hatten sich wie die Mitarbeiter in den dürfen, wenn man so sehr über ein Unternehmen DGB-eigenen Unternehmen auf das verlassen, was herzieht, in dessen Aufsichtsrat Gewerkschafter al- in den Grundthesen des DGB-Bundesvorstandes ler Arten gesessen haben. Konkurse, Mißmanage- über Ziele und Funktionen der gemeinwirtschaftli- ment, Fehlwirtschaft eines Unternehmens, großer chen Unternehmen vom 24. Mai 1972 mit einem ho- Unternehmen hat es an vielen Stellen gegeben. hen moralischen und gesellschaftspolitischen An- Dies ist nie ein Ruhmesblatt für die Aufsichtsräte. spruch dokumentiert ist. Ich zitiere: Vielleicht müssen wir nicht nur das Gemeinnützig- Die Gemeinwirtschaft und dabei auch die Woh- keitsgesetz ändern, sondern auch das Aktienrecht, nungswirtschaft unter dem Dach der Neuen weil wir uns wirklich fragen müssen, ob das noch Heimat soll beispielhaft funktionieren kann bei solch großen Unternehmen und der Neigung, Dinge möglicherweise für den Na- -- ich wiederhole: beispielhaft — men, für den Ruf des Unternehmens zu verschlei- sozial- und gesellschaftspolitische Forderungen ern und dann Dinge vor sich hin wuchern zu lassen, der Gewerkschaften verwirklichen. Sie soll die obwohl etwas bekannt ist; das ist nicht nur eine wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Ar- Geschichte der Neuen Heimat. beitnehmer verbessern,' Mißstände beseitigen Fragen Sie doch einmal nach, was z. B. im Esch- — ich wiederhole: Mißstände beseitigen — Konzern passiert ist und wie die niedersächsische Landesregierung bei der Hanomag reagiert hat. (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Miststände!)

Vielleicht kriegen wir in Niedersachsen einen Un- — jawohl, Miststände — 16636 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Ruf und die positiven Wirkungen einer auf die Ar- und die Mieter mit unangemessenen Neben- und beitnehmer ausgerichteten Unternehmenspoli- Verwaltungskosten wie Weihnachtsgänse ausge- tik demonstrieren. nommen wurden. Es geht aber mit den Thesen des DGB aus dem (Dr. Möller [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Jahre 1972 noch weiter. Ich zitiere wieder: Sie sind mieterfeindlich, weil auf schamlose Weise über die Köpfe der Mieter hinweg in Nacht- Die Gewerkschaften streben eine Wirtschafts- und Nebel-Aktionen Wohnungen — in Frankfurt, und Gesellschaftsordnung an, die die Erkennt- nisse wirtschaftlicher Zusammenhänge durch Bremen, Hamburg, Düsseldorf und München — Offenlegen aller Daten ermöglicht. verscherbelt wurden. (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) Der Herr Kollege Niegel hat das Zitat bereits im gesamten Wortlaut vorgetragen. Für die Darstellung der Einzelheiten reicht meine Redezeit leider nicht aus. (Müntefering [SPD]: Können Sie es wie (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Genos- derholen?) senwirtschaft!) — Nein, ich habe es nicht wiederholt; ich habe es Den verunsicherten Mietern sitzt die Angst im nur gesagt. — Das sind die hochtrabenden Sprüche Nacken, aber auch Wut und Entsetzen sind bundes- der Sozialapostel und Umverteilungsstrategen vom weit die Reaktionen in den betroffenen Siedlungen Genossenfilz aus dem Jahre 1972. der Neuen Heimat. (Dr. Müller [Bremen] [GRÜNE]: Die Inve Ein langjähriges DGB-Mitglied, seit 1947 im DGB, stitionslenker haben Sie vergessen!) schrieb an den Kollegen Breit — ich zitiere —: Wie sieht die Bilanz 1986 aus? Fast täglich neue Noch nie habe ich innerhalb des DGB und sei- Schreckensmeldungen über den finanziellen Zu- ner gemeinwirtschaftlichen Unternehmen ein stand, über die merkwürdigen und dubiosen Ge- so beispielloses, miserables und unsoziales Ver- schäftspraktiken und den Steuer - und Subven- halten erlebt wie gegenwärtig durch den DGB- tionsbetrug des gewerkschaftseigenen Wohnungs- eigenen Konzern Neue Heimat, deren Auf- baukonzerns Neue Heimat — teure Heimat —, die sichtsratsvorsitzender Sie sind und der mit sei- im einzelnen mit Daten und Fakten bereits vorge- nem Ausverkauf von 100 000 Sozialwohnungen tragen wurden und deshalb von mir nicht wieder- in den Ballungsräumen Angst und Schrecken holt werden müssen. unter den Mietern verbreitet. Für- mich als DGB-Mitglied ist es beschämend und empö- Tatsache ist, daß erstens wie bei fast allen ge- rend zugleich, daß Sie als DGB-Vorsitzender werkschaftseigenen Unternehmen des DGB exakte diesen massenhaften Ausverkauf von Sozial- Informationen über Beteiligungen, Verflechtungen, wohnungen auch noch billigen. Gewinnverwendung und Geschäftspolitik nur bruchstückhaft zu erhalten sind; (Zustimmung des Abg. Eigen [CDU/CSU]) Meine Damen und Herren, Unverständnis be- (Stahl [Kempen] [SPD]: Kalter Kaffee, was steht aber auch darüber, daß die DGB-Funktionäre Sie da erzählen!) mit 1,5 Milliarden DM den Beinahe-Konkurs der daß zweitens Gewerkschaftsunternehmen unüber- nicht gemeinnützigen Neuen Heimat Städtebau ab- sichtlich und miteinander verschachtelt sind und gewendet haben und keine Hemmungen hatten, für kaum Informationen preisgeben; daß drittens Ge- Spielbanken und Luxushotels in Monte Carlo, Paris, werkschaftsunternehmen unsozial und mieter- Venezuela und Mexiko etwa 160 DM je Gewerk- feindlich sind. schaftsmitglied von unten nach oben umzuverteilen und die Streikkassen zu plündern. Sie sind unsozial. Dazu verweise ich u. a. auf das (Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: Das ist Urteil des Bundesarbeitsgerichts 3 Az R 100/83 — typisch für Genossen!) es ist ganz neu, es ist vom 22. April 1986 — im Zusammenhang mit den skandalösen Rentenkür- Deshalb will man weiterhin mit § 116 alter Fassung zungen der DGB-Unterstützungskasse für DGB- auf die Kasse in Nürnberg zurückgreifen können. Mitarbeiter und der Verweigerung der 38,5-Stun- Davon und von den nicht zu überhörenden Mie- den-Wöche für die Angestellten beim DGB in Hes- terprotesten war bei den Klassenkampfreden und sen. Hetzparolen gegen die Bundesregierung am 1. Mai (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) leider nichts zu hören. (Stahl [Kempen] [SPD]: Der Hetzer sind So klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinan- Sie!) der! Die Unruhe unter den Mietern hat aber auch den Sie sind mieterfeindlich, weil durch die undurch- bisher auf Tauchstation befindlichen Präsidenten sichtigen Finanz- und Spekulationsgeschäfte über- des Deutschen Mieterbunds, den Abgeordneten höhte Kostenmieten manipuliert, die Instandhal- Jahn, SPD — wir haben gehört: Er ist heute ent- tungspflichten des Vermieters gröblich vernachläs- schuldigt —, sigt (Dr:Ing. Kansy [CDU/CSU]: Er ist auch (Hört! Hört! bei der FDP) sonst nie da!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16637

Ruf veranlaßt, wahrscheinlich aber gezwungen, Farbe beim Ausmisten einen verborgenen DGB-Schatz zu bekennen. Herr Jahn hat auf dem Verbandstag unter dem Genossenmist im Stall. der hessichen Mietervereine in Offenbach Anfang (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU Mai die Neue-Heimat-Geschäftspraktiken als uner- und der FDP) träglich bezeichnet und festgestellt, daß der ge- werkschaftseigene Konzern Wohnungen an ob- Ich habe absichtlich nicht „Saustall" gesagt; sonst skure Aufkäufer veräußert, die Mieter im unklaren hätte ich einen Ordnungsruf riskiert. gelassen und getäuscht habe. Herr Dr. Sperling, von Ihnen möchte ich aber Man kann ausnahmsweise auch Herrn Farth- auch nicht als Arzt kuriert werden. Ihre Methoden mann zustimmen, wenn er sagte: Die Neue Heimat stellen die des Dr. Eisenbart in den Schatten. ist die offene Flanke für die Glaubwürdigkeit der (Zuruf des Abg. Stahl [Kempen] [SPD]) Arbeiterbewegung. Nachdem Herr Breit erklären ließ „Die Gewerk- Welche Konsequenzen ziehen die Neue Heimat schaften sind nicht für die Neue Heimat da, son- und deren alleiniger Eigentümer, der steinreiche dern die Neue Heimat ist für die Gewerkschaften Deutsche Gewerkschaftsbund, seine Einzelgewerk- da", können sich die Mieter ausrechnen, von wem schaften und seine der SPD angehörenden Spitzen- sie Hilfe erwarten können; mit Sicherheit nicht vom funktionäre im Aufsichtsrat aus den skandalösen SPD-DGB-Filz und seinen Funktionären, die sich, Vorgängen? Zunächst wird nach wir vor taktiert wie der parlamentarische Untersuchungsausschuß und gemogelt. Weiterhin wird gefordert, daß der der Hamburger Bürgerschaft ergeben haben soll, drohende Konkurs der gemeinnützigen Neuen Hei- von der teuren Heimat u. a. Auslandsreisen mit mat, ohne das versprochene neutrale Gutachten überwiegend touristischen Teiien und ausgedehn- und ein Sanierungskonzept vorzulegen, mit öffent- ten Damenprogrammen, Belustigungsveranstaltun- lichen Geldern abgewendet werden soll. Für das gen und Privatfeten bezahlen ließen. Von der unzu- Mißmanagement von DGB/SPD-Spitzenfunktionä- lässigen Spendenpraxis der Neuen Heimat und der ren in Vorstand und Aufsichtsrat sollen jetzt also Mißachtung der Steuergesetze wird noch zu spre- die Steuerzahler einspringen. chen sein, hoffentlich in einem Untersuchungsaus- schuß des Deutschen Bundestages. Herr Dr. Hoffmann begründete diese Forderun- gen in der ARD-Sendung „Schlag auf Schlag" am (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des 8. Mai 1986 — Herr Minister Dr. Schneider, Sie ha- Abg. Schmitt [Wiesbaden] [SPD]) ben sich übrigens in dieser Sendung „Schlag auf Hilfe für die Mieter, Herr Kollege Schmitt, ist nur Schlag" hervorragend geschlagen; meine Anerken- von der CDU/CSU-FDP-Koalition zu erwarten, die nung dafür — trotz des Verschuldens von DGB und SPD an dem (Beifall bei der CDU/CSU) größten Mieter- und Wohnungsskandal, dem größ- ten Gewerkschaftsskandal und damit dem größten mit der sensationellen Behauptung, die Neue Hei- gesellschaftspolitischen Skandal seit Bestehen der mat Städtebau hätte theoretisch Gewinne in unbe- Bundesrepublik die Mieter in den Sozialwohnungen grenzter Höhe machen können — sie hat es aller- der Neuen Heimat nicht im Stich läßt und dafür dings nicht gemacht -, während die Neue Heimat sorgen wird, daß die Sozialbindung der Wohnungen als gemeinnütziges Unternehmen nicht mehr als erhalten bleibt und der Mieterschutz nicht angeta- 4 % Gewinn machen dürfe. stet wird. Die Mieter in den Wohnungen der Neuen In welcher kapitalistischen Traumwelt lebt Herr Heimat brauchen sich keine Sorgen zu machen und Dr. Hoffmann mit seinem Jahresgehalt von 550 000 können nachts wieder ruhig schlafen. DM eigentlich? Die Neue Heimat muß allerdings jetzt ihre Zusa- (Eigen [CDU/CSU]: So viel? Das kann doch gen einlösen und auch endlich Geld in ihr gemein- nicht angehen! — Hinsken [CDU/CSU]: Ist nütziges Unternehmen Neue Heimat stecken. Sie der Genosse noch bei der SPD? — Weitere darf sich nicht aus der Verantwortung davonsteh- Zurufe von der CDU/CSU) len, nicht zuletzt im Interesse der Mieter; sonst gilt wie bisher für den DGB und die Neue Heimat: Hier werden Ursache und Wirkung verwechselt. Eigennutz geht vor Gemeinnutz. Dazu sagen wir: Herr Dr. Hoffmann scheint auch keine Ahnung von „Nein danke". den Gewinnspannen in der deutschen Wirtschaft zu haben. Die Gewinnspanne lag in der deutschen In- „Nein danke" sagen wir aber auch zu dem Ent- dustrie im vergangenen Jahr — hören Sie gut zu — schließungsantrag der SPD und der GRÜNEN. bei 2,3%, d. h. 2,30 DM bei 100 DM Umsatz. Ich wollte jetzt noch etwas aus diesem Buch vor- Interessant ist, daß Anfang April 1986 der Chef lesen. der gewerkschaftseigenen Beteiligungsgesellschaft für Gemeinwirtschaft, Herr Lappas, wörtlich erklär- te: Wir pfeifen auf jede Hilfe aus Bonn. Vizepräsident Frau Renger: Aber die Redezeit ist zu Ende! (Dr:Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wir pfeifen auf Lappas!) Inzwischen pfeift die Neue Heimat auf dem letzten Ruf (CDU/CSU): Aber es hat bereits geblinkt; ich Loch und will wieder Hilfe aus Bonn, es sei denn, kann es daher leider nicht tun. Ich bedanke mich. der große Augias der SPD, Herr Dr. Sperling, findet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 16638 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und Dann heißt es: Die hier vorliegenden Probleme sind Herren, das Wort hat der Parlamentarische Staats- so beachtlich, daß wir eine grundsätzliche Klärung - sekretär Dr. Jahn. von einer neutralen Stelle für erforderlich halten. (Dr. Möller [CDU/CSU]: Das ist Herr Zöpel!) Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- ster für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Dieses Schreiben ging an die Neue Heimat. Es ist Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen nicht ersichtlich, daß diese neutrale Prüfung bis und Herren! Die heutige Debatte hat eines klarge- heute stattgefunden hat. macht: Der Neue-Heimat-Skandal ist ein Gewerk- Es gab eine weitere Prüfungsfeststellung, Herr schaftsskandal, ein SPD-Skandal, und das zu La- Minister Zöpel. 1984 schreibt die Großbetriebsprü- sten der Mieter und zu Lasten der Steuerzahler. fungsstelle Düsseldorf an die Neue Heimat, man (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der möge auf Prüfungsfeststellungen antworten. Die CDU/CSU: Unerhört!) Antwort lautet: „Zu den von Ihnen getroffenen Prü- Erstens. Der Skandal Neue Heimat ist ein DGB fungsfeststellungen zur Gemeinnützigkeit möchten Skandal; denn der DGB als Unternehmer entzieht wir Ihnen mitteilen, daß unser Unternehmen zur sich seiner Verantwortung. Zeit nicht zu einer Stellungnahme bereit ist." (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Unglaublich!) Meine Damen und Herren, wer 1,5 Milliarden DM Dann kommt heute diese Anzeige, die da lautet: zur Sanierung des nichtgemeinnützigen Teils Neue Sehr geehrter Herr Bundesbauminister! Die Heimat Städtebau zur Verfügung stellt, muß sich Neue Heimat hat nichts zu verschweigen. Ru- fragen lassen, wie es eigentlich um seine soziale fen Sie uns an. Verantwortung bestellt ist, wenn es um die Sanie- rung des gemeinnützigen Bereichs geht, dort, wo Ich appelliere von dieser Stelle an die Neue Hei- die Mieter betroffen sind. mat: Herr Hoffmann, lassen Sie neutrale Prüfer ins (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von Haus, und verletzen Sie nicht die alte Geschäfts- der CDU/CSU: Sehr richtig! — Sehr grundlage. wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU) Der normale Bürger, der beim Sozialamt anklopft, Herr Sperling, Sie stellen die Dinge auf den wird dort gefragt, wie seine Vermögensverhältnisse Kopf. sind. Hat er Vermögen, wird ihm zugemutet, zu- nächst sein Vermögen in Anspruch zu nehmen und (Dr. Sperling [SPD]: Nein!) dann nach dem Steuerzahler zu rufen. Was diesem Es ist sinnvoll, erst ein Gesamtkonzept zu haben, kleinen Mann in unserer Bundesrepublik zugemu- tet wird, das können wir erst recht vom vermögen- (Müntefering [SPD]: Machen Sie eines!) den Deutschen Gewerkschaftsbund verlangen. dann ein neutrales Gutachten und dann die Bun- (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der desregierung nach flankierenden Maßnahmen im CDU/CSU: Sehr richtig!) Interesse der Mieter zu fragen. Diese gemeinsame Geschäftsgrundlage, Herr Kollege Sperling, hat Zweitens. Der Skandal Neue Heimat ist ein SPD nicht der Bundesbauminister verlassen, sondern Skandal. In den Aufsichtsräten sitzen nahezu aus- der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Neue Heimat nahmslos SPD-Mitglieder: Herr Breit, Herr Stein- gemeinsam mit den SPD-regierten Bundesländern. kühler und viele andere. (Stahl [Kempen] [SPD]: Zählen Sie doch (Beifall bei der CDU/CSU) mal die CDU-Mitglieder auf! Machen Sie Drittens: Skandal Neue Heimat zu Lasten der das doch mal, Herr Jahn!) Mieter. Herr Minister Zöpel, die Mieter sind nicht Herr Minister Zöpel, es gibt genügend Prüfungs- gefährdet beanstandungen aus den 70er Jahren. In diesen (Roth [SPD]: Schneider muß nachgebessert Prüfungsbemerkungen aus Nordrhein-Westfalen werden! Der Staatssekretär bessert den heißt es — man muß sich das einmal vorstellen —: Minister nach!) Je unverkäuflicher die Wohnungen werden, so schreiben die Prüfer, desto höher wird ihr Bilanz- wegen des geltenden Mieterschutzes, wohl aber we- wert. Trotz unserer sehr deutlichen Feststellungen gen der Praktiken der Neuen Heimat, wie es im wurden auch 1974 wieder Zinsen als Ertrag ausge- Untersuchungsbericht von Hamburg steht. wiesen, der die entscheidende Quelle des Bilanzge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) winns war. Gegen alle Übungen empfahl die Ge- schäftsführung, diesen Gewinn mindestens zu Tei- Herr Kollege Roth, ich empfehle Ihnen diesen Un- len als Dividende auszuschütten. tersuchungsbericht. Dann werden Sie feststellen, daß in ungeahntem Ausmaß Gelder vom gemein- (Dr. Sperling [SPD]: Von wann ist das?) nützigen Bereich der Wohnungswirtschaft in den — Von 1975! nicht gemeinnützigen Bereich rechtswidrig geflos- sen sind — daran gibt es nichts zu beschönigen —, (Dr. Sperling [SPD]: Wer war denn da In nenminister?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16639

Parl. Staatssekretär Dr. Jahn und das zu Lasten der Mieter. Einer der maßgeblichen Gründe wird hier vom Land Nordrhein-Westfalen bewußt verschwiegen. (Stahl [Kempen] [SPD]: Das hat der Späth Es liegt dort ein Antrag vor, der Neuen Heimat mit abgedeckt! Sagen Sie einmal etwas rückwirkend die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. dazu!) Das würde nach vorläufigen Berechnungen minde- Viertens: Neue-Heimat-Skandal zu Lasten des stens 1 Milliarde DM an Steuerrückzahlungen be- Steuerzahlers. Meine verehrten Kollegen von der deuten. Man geht jetzt den Weg, die Neue Heimat Sozialdemokratie, Sie haben heute einen Entschlie- möglichst schnell nicht mehr vorzufinden. Denn ßungsantrag vorgelegt. dem, den es nicht mehr gibt, kann man nichts mehr aberkennen. Das ist ein Weg, der mitgesehen wer- (Roth [SPD]: Der ist gut!) den muß. Darin identifizieren Sie sich mit den Praktiken der (Zuruf von der CDU/CSU: Das stinkt zum Wohnungsverkäufe im Lande Nordrhein-Westfalen. Himmel!) Denn es heißt dort, daß das Engagement in Nord- rhein-Westfalen begrüßt wird. Meine Damen und Herren, es ist grotesk: Die- selbe Landesregierung, nämlich die Landesregie- (Beifall bei der SPD) rung von Nordrhein-Westfalen, die durch ihre Fi- Was da läuft, ist eine verschleierte Subventionie- nanzverwaltung — sprich: die Oberfinanzdirektion rung auf Kosten des Steuerzahlers in dreifacher Düsseldorf — beim Regierungspräsidenten in Düs- Hinsicht. seldorf den Antrag stellt, der Neuen Heimat in Nordrhein-Westfalen rückwirkend die Gemeinnüt- Subventionstatbestand Nummer 1: Die West-LB zigkeit abzuerkennen, in eineinhalb Jahren nicht gewährte der Wohnungsbauförderungsanstalt ein darauf eingeht und bis heute unbeantwortet läßt, Darlehen von 59 Millionen DM. Der vereinbarte geht durch ihren Wohnungsbauminister hin und er- Zinssatz beträgt 5,5%. Er ist um einen Prozentpunkt klärt, hier werde auf Kosten des Steuerzahlers sa- niedriger als der Marktzins, der sonst nur erstklas- niert. sigen Schuldnern gewährt wird. Hier handelt es Herr Kollege Sperling, Sie haben gesagt, zum sich um eine Subventionierung durch das Land. Ausmisten gehörten objektive Fakten, und ich sage: Subventionierungstatbestand Nummer 2: Dar- auch ein Gutachten von neutraler Stelle. über hinaus gewährte die Wohnungsbauförderungs- Herr Kollege Zöpel, ich wäre Ihnen dankbar, anstalt für zehn Jahre einen jährlichen Kredit von wenn Sie sich — wie in diesen Tagen geschehen — 1,2 Millionen DM über eine Laufzeit von 15 Jahren in bezug auf Fragen, die die Bundesregierung zu all zins- und tilgungsfrei. Dadurch erhält die LEG ins- den Fakten um die Neue Heimat hat, nicht auf das gesamt 18 Millionen DM. Diese 18 Millionen DM Bankgeheimnis stützten und sagten, Sie verwiesen fehlen an anderer Stelle bei der Förderung des darauf, daß das Bankgeheimnis eingehalten werden Wohnungsbaus in Nordrhein-Westfalen. müsse. Subventionstatbestand Nummer 3: Minister (Roth [SPD]: Plötzlich nicht mehr? Beim Zöpel schreibt der Landesentwicklungsgesellschaft Steuerhinterziehen immer!) am 26. Februar 1986: — Herr Kollege Roth, der Empfänger öffentlicher Die Landesseite erklärt sich außerdem bereit, Subventionen kann sich unserer Auffassung nach spätestens nach sieben Jahren auf Grund einer nicht wie ein Bankkunde, der private Geschäfte mit Überprüfung der Hausbewirtschaftungsergeb- einer Bank tätigt, auf das Bankgeheimnis berufen. nisse dieser Objekte auf geeignete Weise dazu (Zustimmung bei der CDU/CSU) beizutragen, daß die Übernahme der Wohnun- gen durch die Landesentwicklungsgesellschaft Wer Subventionen aus Steuermitteln bezieht, muß ergebnisneutral bleibt. auch über die Verwendung dieser Mittel Rechnung legen und sich Kontrollen unterziehen. Meine Damen und Herren, das sind Verpflichtun- gen in unbestimmter Höhe zu Lasten des Steuer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — zahlers. Der eigentliche Subventionstatbestand Zurufe von der SPD -- Abg. Dr. Sperling wird verschleiert und ein Wechsel auf die Zukunft [SPD] meldet sich zu einer Zwischen- gezogen, und das, Herr Minister, in einem Land, in frage) dem man heute davon redet, daß es in diesen Tagen, vielleicht schon heute, die nächsten 20 000 Wohnun- gen nach demselben Strickmuster durch die LEG Vizepräsident Frau Renger: Herr Staatssekretär, kaufen will. Der Kaufpreis soll, wie man aus der gestatten Sie eine Zwischenfrage? Presse erfährt, 2,8 Milliarden DM betragen, und der Zinssatz soll — dem Vernehmen nach — nochmals um einen Prozentpunkt gesenkt werden. Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- Das Land Nordrhein-Westfalen mit seiner alar- ster für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: mierenden Finanzlage und der höchsten Neuver- Danke schön. schuldung aller Bundesländer geht so mit dem Geld des Steuerzahlers um. Ich komme zum Schluß. Herr Minister Zöpel be- ruft sich gegenüber dem Untersuchungsausschuß (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zum Thema Neue Heimat in Düsseldorf auf das 16640 Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Parl. Staatssekretär Dr. Jahn Steuergeheimnis, gegenüber der Bundesregierung Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau - auf das Bankgeheimnis Präsidentin, ich habe die herzliche Bitte, hier mein (Roth [SPD]: Das hätte ich nicht gesagt, verfassungsmäßiges Recht wahrnehmen zu dürfen, Herr Jahn!) um diese Dinge für die nordrhein-westfälische Lan- desregierung darstellen zu können. und erklärt gleichzeitig die Leistungen der Bundes- regierung zum Staatsgeheimnis. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sollen sich an die Absprache halten!) Wir sind der Auffassung — damit möchte ich schließen, meine Damen und Herren Gefragt — Je mehr Ruhe ich dafür habe, um so schneller wird das hat der Bundesbauminister immer wieder be- es gehen. tont — ist jetzt nicht nur die haftungsrechtliche, die (Zurufe von der CDU/CSU: Halten sich sich gemeinwirtschaftliche, die gemeinnützige Ver- an die Vereinbarung! — Der verstrickt sich pflichtung, gefragt ist vor allem die soziale Verant- immer mehr! Laßt ihn doch reden! — Wei- wortung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur tere Zurufe von der CDU/CSU) Sanierung seines Unternehmens Neue Heimat, zu- Meine Damen und Herren, ich beginne mit den mal eine Aktionswoche des DGB im letzten Jahr Behauptungen des Herrn Parlamentarischen unter der Überschrift: „Solidarität ist unsere Staatssekretärs hinsichtlich der Prüfung von Vor- Stärke" stand. gängen bei der Neuen Heimat durch die Landesre- (Müntefering [SPD]: Der Jahn macht hier gierung Nordrhein-Westfalen. wieder Wahlkampf!) Erstens. Eine Oberfinanzdirektion untersteht — An diesen Maßstäben sollte sich der Deutsche Ge- genau wie ein Regierungspräsident — der ganzen werkschaftsbund auch messen lassen. Landesregierung. Die Oberfinanzdirektion hat im (Anhaltender lebhafter Beifall bei der Namen der Landesregierung all das ermittelt, was CDU/CSU und der FDP) Sie hier feststellen. Damit hat die Landesregierung korrekt gehandelt. Hinsichtlich der Gemeinnützigkeitsprüfung hat Vizepräsident Frau Renger: Herr Minister Zöpel dann der Regierungspräsident zu prüfen. hat noch um das Wort zu einer kurzen Erwiderung gebeten. Ich nehme an, daß es noch kurz mit in die (Zuruf von der CDU/CSU: Weisungsgebun- Redezeit eingebunden wird. den!) (Reddemann [CDU/CSU]: Der Angeklagte Es ist genau der Regierungspräsident, der bereits kommt! — Weitere Zurufe von der CDU/ bisher nach sorgfältigster Prüfung im Namen der CSU: Der Angeklagte in spe!) Landesregierung festgestellt hat, daß Gewinnabfüh- rungen zwischen den Töchtern und der Mutter, der Neuen Heimat, gegen die Gemeinnützigkeit versto- Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau ßen haben; mit einer Sorgfalt, die diese Feststellun- Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde gen dauerhaft gerichtsfest gemacht haben. Es ist mich bemühen, mit der Redezeit auszukommen. Ich derselbe Regierungspräsident, der auch festgestellt muß allerdings angesichts von Behauptungen eines hat-- Vertreters der Bundesregierung — in bezug auf die (Zuruf von der CDU/CSU --- Gegenruf von ich nur sagen kann: ich als Mitglied einer Regie- der SPD: Halt die Klappe! — Zuruf von der rung schäme mich, daß ein Mitglied einer anderen CDU/CSU: Aber werden Sie doch nicht Regierung so mit der Wahrheit umgeht — hier eini- nervös! — Weitere Zurufe von der CDU/- ges klarstellen. CSU) (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU — Stahl [Kempen] [SPD]: Und Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und der eine andere Regierung zum Gesetzes Herren, damit wir vorankommen, bitte ich beide bruch auffordert! — Weitere Zurufe von Seiten des Hauses um Zurückhaltung. Bitte, Herr der SPD) Minister, fassen Sie sich so kurz wie möglich. Herr Kollege Reddemann, der Zwischenruf, den Sie soeben gemacht haben, zeigt, daß Sie nicht ein- Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau mal mehr die Gewaltenteilung in diesem Staate Präsidentin, ich muß hier das verfassungsmäßige kennen. Recht einer Landesregierung wahrnehmen, solche (Beifall bei der SPD — Dr:Ing. Kansy Dinge zurückzuweisen. [CDU/CSU]: Aber wir kennen Zöpel! — Es ist derselbe Regierungspräsident, der auch Be- Weitere Zurufe von der CDU/CSU) günstigungen des Aufsichtsratsmitglieds Konrad Jetzt lassen Sie mich zur Sache kommen. — Frau Grundmann beanstandet hat. Derselbe Regierungs- Präsidentin, hier sind Behauptungen aufgestellt präsident wird mit aller Sorgfalt — dazu habe ich worden, die ich in Ruhe klarstellen möchte. ihn aufgefordert — auch diesen Feststellungen der OFD nachgehen und dann zu einem Urteil kom- men. Vizepräsident Frau Renger: Herr Minister, wir ha- ben eine Verabredung. Ich bitte Sie, sich möglichst (Zuruf von der CDU/CSU: Wann?) daran zu halten; sonst geht die Diskussion einfach Ich erwarte von diesem Regierungspräsidenten vor weiter, es tut mir leid. Fassen Sie sich kurz. allem, wie in dem ersten Fall, daß er zu gerichtsfe- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16641

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen) sten Feststellungen kommt; denn käme er zu wel- weil wir nichts zu verbergen haben — sonst könn- chen, müssen solche Feststellungen durch drei Ge- ten Sie hier so etwas gar nicht erzählen, Herr - richtsinstanzen Bestand haben. Ich kann es nicht Staatssekretär, was Sie getan haben —, begreifen, wie ein Mitglied einer Regierung ohne (Beifall bei der SPD) diese im Gesetz vorgeschriebenen Prüfungen zu Vorverurteilungen kommen kann, wie Sie das tun. weil wir völlig freiwillig jeden Vorgang offenlegen. Die Ausgaben der öffentlichen Hand für den An- (Beifall bei der SPD — Dr:Ing. Kansy kauf der rund 2 400 Wohnungen sind nachweislich [CDU/CSU]: Ausgerechnet!) niedriger als die Steuerausfälle, die eingetreten wä- Der Regierungspräsident ist im übrigen von mir ren, wenn andere Erwerber über Verlustabschrei- angewiesen, bis Ende dieses Monats dazu einen bungen in diesem Geschäft tätig geworden wären. Zwischenbericht vorzulegen, damit wir Erkennt- (Beifall bei der SPD -- Zuruf von der SPD: nisse haben. — Das zu diesem Zusammenhang. Das ist es!) (Zuruf von der CDU/CSU: Elf Jahre dauert Über die Zusammenhänge, die Sie nicht wegre- das schon!) den können, daß Wertberichtigungen bei der Woh- — Die Prüfungen dauern etwas über ein Jahr, nungsbauförderungsanstalt anstehen könnten, seitdem sie aufgenommen wurden, und nicht elf brauchen wir hier nicht zu reden. Diese Aktionen, Jahre. die wir hier machen, helfen nicht nur den Mietern, sie sind der nach unseren sorgfältigen Prüfungen (Zuruf von der CDU/CSU: Darum geht es wirtschaftlichste Weg für die Verwendung öffentli- hier nicht!) cher Mittel. Ich muß eindeutig feststellen, (Schulhoff [CDU/CSU]: Der wirtschaftlich- (Zuruf von der CDU/CSU: Und wo bleibt ste Weg für den DGB!) der Staatsanwalt!) Jeder andere Weg würde teuer kommen. Herr Kol- daß die Landesregierung hinsichtlich der Kontrolle lege Sperling hat das j a ausgeführt. der Neuen Heimat sowohl was die Verantwortung Ich komme zu dem dritten Punkt, Herr Parla- im Bereich des Finanzministers, der Oberfinanzdi- mentarischer Staatssekretär, zu Ihrer waghalsigen rektion, betrifft, wie was die Verantwortung meines Behauptung, die Landesregierung würde der Bun- Ministeriums, hier den Regierungspräsidenten be- desregierung, die j a im Ausschuß — verfassungs- trifft, mäßig völlig richtig — berichten will, hier Aus- künfte verweigern. Fast alle Fragen, die der Haus- (Zuruf von der CDU/CSU: — — viele Lei haltsausschuß dieses Hauses völlig zu Recht stellt chen im Keller hat!) hinsichtlich öffentlicher Mittel und anderer Mittel mit großem Erfolg, wie die Feststellungen hinsicht- an die Neue Heimat, müssen dahin gehend über- lich der Gewinnabführung und auch die Aufklärung prüft werden, ob solche Auskünfte dem Bankge- hinsichtlich Konrad Grundmanns ergeben haben, heimnis unterliegen. So sind wir bei ähnlichen Fra- immer korrekt tätig war, und das wird auch so blei- gen verfahren, die der Haushaltsausschuß des ben. Es stünde einer Regierung gut an, hier nicht Landtags Nordrhein-Westfalen gestellt hat. Da ha- vorzuverurteilen. ben wir das geprüft.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ (Frau . Hürland [CDU/CSU]: Der Landes- CSU: Wie Sie es machen! — Frau Hürland rechnungshof!) [CDU/CSU]: Das müssen gerade Sie sagen! — Ich spreche zunächst einmal von Auskunftsbe- — Zuruf von der CDU/CSU: Ausgerechnet gehren eines Ausschusses eines Parlaments. In sol- Sie! — Dr. Möller [CDU/CSU]: Der Kom chen Auskunftsbegehren können Fragen sein, die pagnon von Haak! — Lemmrich [CDU/ das Bankgeheimnis berühren. In einem solchen CSU]: Der hat zwei Maßstäbe!) Fall ist die Landesregierung verantwortlich, Nun zu Ihren Wiederholungen der bisherigen (Dr:Ing. Kansy [CDU/CSU]: Nun machen Hilfen des Landes Nordrhein-Westfalen für die Ge- Sie mal so langsam Schluß!) schäfte der LEG mit der Neuen Heimat. Wir haben hier alles offengelegt. dafür zuständig, zu prüfen, wie sie damit umgeht. Im Fall entsprechender Informationen im Landtag (Lachen und Widerspruch bei der CDU/ von Nordrhein-Westfalen haben uns die Eigentü- CSU) mer der Neuen Heimat, diese Gesellschaft selbst, Wir haben die Bundesregierung vollständig infor- immer vom Bankgeheimnis entbunden. Den miert. Es fällt einem allmählich schwer, die Bundes- gleichen korrekten Weg möchten wir bei den Bitten regierung korrekt zu informieren, weil sie diese In- gehen, die der Deutsche Bundestag stellt. formation dazu benutzt, die Landesregierung zu dif- (Bohl [CDU/CSU]: So korrekt war der Herr famieren. Aber ich werde weiter berichten. Wir ha- Wertz auch schon!) ben vollständig über das informiert, was vorliegt. Ich kann Ihnen hier mitteilen: Über diese Rege- Sie können j a solche Zitate nur bringen, weil wir lung mit der Neuen Heimat Nordrhein-Westfalen Ihnen freiwillig alle Dokumente schicken, hinaus haben wir uns heute gerade — dies ist der (Schulhoff [CDU/CSU]: Also stimmt das friedlichste Weg — mit dem für die Städtebaumittel doch, was er sagt!) zuständigen Eigentümer, nämlich dem Institut für 16642 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen) Frau Präsidentin, ich mußte diese Redezeit zu Bodenordnung, geeinigt, daß sie uns hinsichtlich - der Beantwortung dieser Fragen vorn Bankgeheim- Feststellungen eines Mitglieds der Bundesregie- nis befreit. Ich glaube, dies ist der einfachste und rung in Anspruch nehmen. korrekteste Weg, wenn ein solches Problem auf- (Bohl [CDU/CSU]: Zur Sache haben Sie gar taucht, dies zu regeln. nichts gesagt!) (Beifall bei der SPD) Ich glaube, hier ist das in einem Rechtsstaat gebo- Wenn sich zwischenzeitlich korrekterweise ein tene Maß an Fairneß des Umgangs zwischen Regie- Mitarbeiter meines Hauses, der gleichzeitig noch rungen verletzt. die Aufsicht über die WfA wahrnimmt, also auch (Beifall bei der SPD — Zurufe von der darüber zu wachen hat, daß dieses Institut das CDU/CSU) Bankgeheimnis wahrt, mit seinen Beamtenkollegen beim Bundesbauminister in Verbindung setzt, um sich auszutauschen, wie das Bankgeheimnis ge- Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr wahrt werden kann, dann der Bundesbauminister Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn. an die Öffentlichkeit geht und behauptet, Nord- rhein-Westfalen verweigere Informationen, das (Beifall bei der CDU/CSU — Roth [SPD] grenzt, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, dar- [zu Minister Dr. Zöpel]: Dann gehst du an, daß Sie einen Beamten zu Fehlverhalten auffor- noch einmal rein, und zwar zehnmal!) dern. (Beifall bei der SPD — Roth [SPD]: So ist Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- das! — Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Jahn, ster für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Dr. Möller [CDU/CSU]: Da steht Ihnen das Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wer- schlechte Gewissen auf der Stirn! — Frei den verstehen, daß ich nach dieser Intervention ei- herr von Schorlemer [CDU/CSU]: Schlech nige Feststellungen treffen möchte. ter Stil in Düsseldorf! -- Schulhoff [CDU/ CSU]: Wir sind nicht im Landtag, wir sind (Stahl [Kempen] [SPD]: Das können wir im Bundestag! Hören Sie mit den Märchen nach Ihrer polemischen Rede nicht verste- auf!) hen!) Ich kann Ihnen, meine sehr verehrten Damen Erstens: Bei allen unterschiedlichen politischen und Herren, versichern, daß die Landesregierung Auffassungen stelle ich fest, daß das, was ich hier von Nordrhein-Westfalen über den Bundesbaumini- vorgetragen habe, beweiskräftig ist — dafür stehe ster Ihnen alle Auskünfte, die der Haushaltsaus- ich —, und zweitens, daß der Minister Zöpel nicht schuß haben will, zur Verfügung stellt. Wir möchten einen der Punkte, die ich hier vorgetragen habe, das hinsichtlich des Bankgeheimnisses auf dem widerlegt hat. Wege tun, der der unproblematischste ist, nämlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — mit Zustimmung der Betroffenen vom Bankgeheim- Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Nur die Zeit nis befreit zu sein. Das ist der unproblematischste hat er uns gestohlen!) Weg. Das zweite. Ich habe Prüfungsmitteilungen von (Dr. Hennig [CDU/CSU]: Welche Tatsache 1975 vorgetragen, bei denen bis heute nicht ersicht- war falsch?) lich ist, daß die Aufsichtsräte im Lande Nordrhein- Zum Grundsatz will ich gern eine Bemerkung Westfalen gehandelt hätten. Der Minister hat in der machen. Erwiderung hierauf nicht geantwortet. (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Muß das heute (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sein, Herr Zöpel?) Drittens. Der Minister hat vorgetragen, es müsse Mir als Sozialdemokraten sind Überlegungen, wie geprüft werden, wie das Bankgeheimnis eingehal- sie in Schweden Recht geworden sind, nämlich von ten wird. Der Schriftwechsel bezieht sich auf eine vielen angeblichen Geheimnissen zu befreien, ganz andere Frage, nämlich ob das Bankgeheimnis durchaus angenehm; aber es ist gerade eine bürger- einzuhalten ist. Ich zitiere: liche Position, daß man Bankgeheimnis und Steuer- Die von Ihnen erbetenen Daten unterliegen geheimnis hat, weitestgehend dem Bankgeheimnis. Bevor ich (Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Die Ihnen die für Nordrhein-Westfalen maßgebli- kennen Sie doch gar nicht mehr! — Ruf chen Daten, soweit sie mir vorliegen, mitteile, [CDU/CSU]: Aber nicht bei öffentlichem bitte ich um Bestätigung, daß diese Daten von Geld!) Ihnen nur so verwandt werden, daß das Bank- und wir werden auch gegenüber der Neuen Heimat geheimnis nicht verletzt wird. damit nicht anders als auch gegenüber jedem ande- Hier geht die Landesregierung davon aus, daß ein ren verfahren. Aber Sie bekommen diese Auskünf- Bankgeheimnis zu beachten ist. Ich habe die Auf- te, darauf können Sie sich verlassen. Ich finde es fassung vertreten, daß man sich unseres Erachtens, traurig, daß zwischen Beamten einer Bundes- und wenn es um das Geld des Steuerzahlers geht, nicht einer Landesregierung so etwas nicht mehr sachge- auf das Bankgeheimnis zurückziehen kann. Das ist mäß geklärt werden kann. eine unterschiedliche Position. (Beifall bei der SPD) (Stahl [Kempen] [SPD]: Wortverdreher!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16643

Parl. Staatssekretär Dr. Jahn Dadurch sollten wir uns aber nicht zu gegenteiligen korrekten Vorgang. Aus meiner Sicht wäre die Ant- - Bemerkungen hier, die Ehrabschneidung beinhal- wort der Bundesregierung, daß diese Auskünfte an ten, hinreißen lassen. den Haushaltsausschuß in vertraulicher Sitzung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — behandelt werden, wie es in Nordrhein-Westfalen Roth [SPD]: Fälschung!) mit Zustimmung aller Fraktionen geschehen ist, zu- friedenstellend gewesen. Die vierte und letzte Bemerkung. Ich habe festge stellt: Dieselbe Landesregierung, die durch ihre Fi- Den zweiten Punkt, Herr Staatssekretär, daß nanzverwaltung beim Regierungspräsidenten in grundsätzlich jede Subvention nicht dem Bankge- Düsseldorf den Antrag gestellt hat, der Neuen Hei- heimnis unterliege, auch wenn sie über Banken und mat in Nordrhein-Westfalen rückwirkend die Ge- Wohnungsbauförderungsanstalten vermittelt wird, meinnützigkeit abzuerkennen, hierüber aber seit sollten wir uns gemeinsam überlegen. Sowenig die Oktober 1984 nicht entschieden hat, will jetzt zur Neue Heimat angesichts der vielen Dinge dafür ein Sanierung dieses Bereichs über den Bauminister besonders angenehmes Objekt ist, sollten wir uns des Landes Nordrhein-Westfalen tätig werden. Ich gemeinsam überlegen, ob es eine richtige Position habe das als grotesk bezeichnet. Dazu stehe ich. Ich wäre, daß jede staatliche Subvention habe dem nichts hinzuzufügen. (Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Eine sehr zu- — das haben Sie eben gesagt, Herr Staatssekre- rückhaltende Aussage! — Roth [SPD]: Wir tär —, die über ein Kreditinstitut abgewickelt wird, werden das nicht zulassen, daß der Staats- nicht mehr dem Bankgeheimnis unterliegt. sekretär das darf und wir nicht dürfen!) (Zuruf von der CDU/CSU: Lesen Sie mal die Haushaltsordnung!) Vizepräsident Frau Renger: Einen Augenblick! Wir Ich glaube, darüber sollten wir gemeinsam nach- haben hier eine Verabredung, die die Regierung denken. einschließt. Darauf darf man erst mal aufmerksam machen. Selbstverständlich wird jedem verfas- (Roth [SPD]: Sehr gut! Dann sind wir ein sungsmäßigen Recht hier entsprochen. Ich bitte, Stück weiter!) mich hier nicht zu maßregeln. Aber ich sage Ihnen sehr deutlich: Wenn der Weg (Beifall bei der CDU/CSU) zu gehen ist, den ich geschildert habe, nämlich daß Herr Minister Zöpel. uns die Eigentümer vom Bankgeheimnis befreien, ist der Brief faktisch gegenstandslos, den mein Be- (Doss [CDU/CSU]: Die sind doch stehend amter Ihrem Haus geschickt hat. Ich hoffe, da kom- k. o.!) men wir hin.

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau (Zurufe von der CDU/CSU) Präsidentin! Ich mache mir Sorgen, wie in diesem Lande von (Zuruf von der CDU/CSU: Schicken Sie der Mehrheit dieses Hauses mit Rechten der Bür- mal den Staatsanwalt hin, wie es sich ge ger, z. B. dem Bankgeheimnis, umgegangen wird. hört! Das ist Ihre Pflicht!) (Schulhoff [CDU/CSU]: Das müssen gerade Sie sagen!) Vizepräsident Frau Renger: Herr Minister Zöpel, Sie haben das Wort. Alles andere, Herr Staatssekretär, waren Wertun- gen. Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen): Frau (Zurufe von der CDU/CSU: Lächerlich! — Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- Hinsetzen! — Lattmann [CDU/CSU]: Wer ren! Herr Staatssekretär, da es hier nicht nur um hat Sie eigentlich zum Minister gemacht?) politische Auseinandersetzung geht, sondern auch um das Verhältnis zwischen Regierungen, bin ich — 52 % der Wähler in Nordrhein-Westfalen — wenn gern bereit, den ersten Fall, nämlich Information es Sie interessiert. des Bundesbauministers zwecks Weitergabe an den (Zurufe von der CDU/CSU) Haushaltsausschuß, hier zu einem korrekten, für beide Seiten erträglichen Ende zu bringen. Alle Beamten des Landes Nordrhein-Westfalen, die an der Prüfung der Gemeinnützigkeit beteiligt (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein Ange sind, haben immer korrekt gehandelt und tun das bot! — Dr. Möller [CDU/CSU]: Der erste auch im jetzigen Fall — das habe ich soeben be- Rückzieher!) legt — und das bleibt so. Ich weise jede Verdächti- - Das ist überhaupt kein Rückzieher. gung zurück, daß hier nicht korrekt vorgegangen Dr. Möller [CDU/CSU]: Natürlich!) wird. Ein derartig schwerwiegender Fall ist ein- malig — es gibt keine Vorerfahrung mit einer sol- Das, was Sie von meinem Beamten eben vorgelesen chen Prüfung —, das braucht daher seine Zeit. An haben, war ein aus meiner Sicht korrekter Brief. der Korrektheit besteht kein Zweifel. Wenn der für die Wohnungsbauförderungsanstalt und ihre Aufsicht zuständige Beamte sich vergewis- (Bohl [CDU/CSU]: Schicken Sie doch ein- sert, daß das Bankgeheimnis in einem Fall, wo es mal Ihren Chef hier her! Lassen Sie Ihren betroffen ist, gewahrt bleibt, halte ich das für einen Chef selbst reden!) 16644 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Minister Dr. Zöpel (Nordrhein-Westfalen) Und ein Ergebnis muß gerichtsfest sein. Ich weise Die Sitzung ist unterbrochen. - die Wertung zurück. (Unterbrechung von 12.47 bis 14.00 Uhr) Als letztes stelle ich hier etwas fest, was ich schon an vielen Stellen festgestellt habe: Es ist eine Un- Vizepräsident Westphal: Ich eröffne die unterbro- terstellung — und wenn es von der Bundesregie- chene Sitzung. Wir fahren fort mit dem Tagesord- rung kommt, für mich nicht ganz nachvollzieh- nungspunkt, bar —, Fragestunde (Frau Hürland [CDU/CSU]: Das kann ja — Drucksache 10/5456 — auch gar nicht sein, das würde nicht in Ihre und zwar bei dem gestern abgebrochenen Teil des Vorstellung passen!) Geschäftsbereichs des Bundesministers der Finan- daß die Landesregierung Nordrhein-Westfalen den zen. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Verkauf von Wohnungen der Neuen Heimat an von Voss steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfü- uns gewünschte Erwerber vermittelt und die Er- gung. werber unterstützt, weil wir die Neue Heimat aus Die Frage 77 des Abgeordneten Schlatter wird den Verpflichtungen der Gemeinnützigkeit entlas- auf seinen Wunsch hin schriftlich beantwortet. Die sen wollen. Ich wiederhole hier — sonst werden die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Protokolle ja immer sorgfältigst gelesen —, was ich Ich rufe die Frage 78 des Abgeordneten Poß auf: bereits vor Gremien des Landtages erklärt habe: Was sind die Gründe dafür, daß die von der Bundesregie- (Bohl [CDU/CSU]: Sie sollten hier heute rung für die nächste Legislaturperiode geplante Steuersen- zur Sache sprechen! Das hilft uns!) kung nur ein Volumen von netto 20 Milliarden DM bis 25 Mil- liarden DM haben soll, während sich nach der von Bundes- Es wird zu solchen Geschäften in Nordrhein-West- minister Dr. Stoltenberg vorgelegten Studie (Heft 36 der falen nicht kommen, wenn rechtlich nicht eindeutig Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen) be- sichergestellt ist, daß auch im Zusammenhang mit reits für 1992 ohne Berücksichtigung der sogenannten heim- lichen Steuererhöhungen ein Steuersenkungsspielraum von diesem Verfahren dem Land Nordrhein-Westfalen ca. 30 Milliarden DM ergibt? oder anderen öffentlichen Anspruchsgegnern der Bitte schön, Herr Staatssekretär. Neuen Heimat kein Schaden entsteht. Dies habe ich im Landtag erklärt, dies wiederhole ich hier, weil ich das für eine Selbstverständlichkeit halte. Ich Dr. Voss, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- ster der Finanzen: Herr Kollege Poß, in der Modell- würde zunächst einmal erwarten, daß sich Regie- rechnung der Studie des Bundesministeriums der rungen untereinander Selbstverständlichkeiten zu- gestehen. Finanzen „Aufgaben und Ziele einer neuen Finanz- politik — Grenzen staatlicher Verschuldung" wird Herzlichen Dank. bewußt darauf verzichtet, das sich unter bestimm- (Beifall bei der SPD —Zuruf von der CDU/ ten genau erläuterten Annahmen bis 1995 erge- CSU: Jämmerlich!) bende Steuerentlastungsvolumen von rund 60 Milli- arden DM auf einzelne Jahre festzulegen. In der Studie heißt es dazu: Vizepräsident Frau Renger: Meine Damen und Die politische Frage, wann die entsprechenden Herren, ich schließe die Aussprache. Entlastungsschritte vorgenommen werden, (Beifall des Abg. Dr.-Ing. Kansy [CDU/ bleibt hier natürlich offen. Bei diesen Entschei- CSU]) dungen ist vor allem der jeweils erreichte Kon- solidierungsstand zu berücksichtigen. Zu be- Wir kommen zur Abstimmung über den Ent- achten ist auch, daß schon ein geringfügig hö- schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Druck- herer Ausgabenpfad oder eine etwas ungünsti- sache 10/5479. Wer diesem Entschließungsantrag gere wirtschaftliche Entwicklung das mögliche zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Hand- Entlastungsvolumen erheblich verringern wür- zeichen. — SPD, bitte ein Handzeichen! — de. (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Vielleicht wol Da in der Modellrechnung kein Entlastungsvolu- len die nicht zustimmen! — Lachen und men für bestimmte Jahre innerhalb des Untersu- weitere Zurufe von der CDU/CSU) chungszeitraums genannt wird, kann sich auch Gegenprobe! — Enthaltungen! — Der Antrag ist ab- kein erklärungsbedürftiger Widerspruch zu den gelehnt. derzeit diskutierten Vorschlägen zur Steuerentla- stung in der nächsten Legislaturperiode ergeben. Zu Tagesordnungspunkt 3 b schlägt der Ältesten- Im übrigen sind die in der Modellrechnung genann- rat Überweisung des Antrags der Fraktion DIE ten 60 Milliarden DM nicht als konkretes Entla- GRÜNEN auf Drucksache 10/5228 an die in der Ta- stungsprogramm, sondern vielmehr als beispielhaf- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Das tes Ergebnis der entworfenen finanzpolitischen Haus ist damit einverstanden. Dann ist dies so be- Strategie zu verstehen. schlossen. Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- Mittagspause ein und setzen die Beratung um geordneten Poß. 14 Uhr mit der Fragestunde fort. Nach der Frage- stunde werden die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b Poß (SPD): Herr Staatssekretär, wenn es aber so aufgerufen. ist — und es ist so —, daß nach den letzten Steuer- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16645 Poß Schätzungen im Jahre 1989 das Steueraufkommen der Steuerentlastung in der nächsten Legislaturpe- stärker als das nominale Bruttosozialprodukt steigt riode außerhalb des Körperschaftsteuerbereichs - und sich dies in den Jahren 1990, 1991 und 1992 noch zusätzliche Steuererleichterungsmaßnahmen zwangsläufig fortsetzt, dann steigt also die Steuer- für Unternehmen finanzieren? Ich meine hier spe- lastquote. Damit wird der Steuersenkungsspiel- ziell z. B. die Finanzierung des Abbaus der Gewer- raum größer, als er in der Modellrechnung — natür- besteuer. lich nur in der Modellrechnung — ausgewiesen ist, denn die Modellrechnung geht ja von einer gleich- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Sie wissen, Herr bleibenden Steuerquote aus. Ich frage Sie also: Wie Kollege Spöri, wie es mit dem Abbau der Gewerbe- hoch wird die Steuerquote 1992 sein, wenn bei der steuer steht. Die Bundesregierung hat erklärt, daß großen Steuerreform die Steuern um rund 25 Milli- die jetzige Gewerbesteuer in ihrem Kern erhalten arden DM netto gesenkt werden sollen? bleiben wird, solange kein brauchbares, auf allge- meines Einverständnis stoßendes neues Modell exi- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Poß, stiert. Die Modelle, die es bislang für einen Ersatz Sie wissen, wie man mit Steuerschätzungen umzu- der Gewerbesteuer gibt, sind alle mehr oder weni- gehen hat — nämlich vorsichtig —, weil Sie auch ger nicht brauchbar. Das brauche ich Ihnen an die- wissen, daß das, was geschätzt worden ist, unter vie- ser Stelle nicht näher auseinanderzulegen. len Kautelen steht, die man im vorhinein nicht so Einer der Hauptpunkte bei der Entlastung der festlegen kann, um zu einer Schätzung zu kommen, Unternehmenssteuern betrifft das, was wir bereits die man als letztlich verbindlich ansehen könnte. besprochen haben, nämlich die Senkung des Satzes Aber ich kann Ihnen soviel sagen, daß nach den um eine Größe, die ich jetzt, im Moment nicht kon- Plänen der Bundesregierung und nach der Steuer- kretisieren kann, da die Entscheidungen nicht ge- entlastung, die für die nächste Legislaturperiode fallen sind. vorgesehen ist, die Steuerbelastung jährlich um 0,3 bis 0,2% zurückgehen wird, so daß die gesamte Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- Steuerentlastung, wenn sie durchgeführt werden geordneten Kübler. wird, zu einer deutlichen Herabsetzung des Steuer belastungsgrades führen wird. Dr. Kübler (SPD): Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung eine Nettoentlastung von 25 Milli- Vizepräsident Westphal: Herr Poß, Sie haben eine arden DM bei einer Bruttoentlastung von 45 Milli- weitere Zusatzfrage. arden DM vornehmen will, ist es dann nicht zwangsläufig, daß diese Differenz durch kompensa- (SPD): Nein. Poß torische Maßnahmen gedeckt werden muß, z. B. Vizepräsident Westphal: Herr Dr. Apel möchte durch eine Erhöhung der Umsatzsteuer? eine Zusatzfrage stellen. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Das ist nicht zwin- Dr. Apel (SPD): Herr Staatssekretär, nachdem Sie gend und nicht denknotwendig, Herr Kollege. Wenn in der ersten Antwort die Studie — wie ich denke — man mehrere Milliarden DM über das hinausgeht, zu Recht sehr relativiert haben, frage ich Sie, wieso was man als Nettoentlastung hat, muß man natür- Sie dann eigentlich in der Lage sind, in der zweiten lich darüber nachdenken, wo eine entsprechende Antwort so konkrete Aussagen darüber zu machen, Kompensation möglich ist. Aber es ist bei weitem wie sich die Steuerbelastungsquote entwickeln nicht denknotwendig, die Kompensation in dem Be- wird. reich zu suchen, den Sie gerade genannt haben.

Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Apel, Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- ich habe eben gesagt, daß die Steuerschätzung und geordneten Huonker. damit ja das Volumen, das für eine Entlastung zur Verfügung stehen wird, zur Zeit nicht genau zu um- Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, ich möchte fassen ist. Es sind eine Reihe von Voraussetzungen Sie im Anschluß an den zweiten Teil dessen, was notwendig, die eintreten müssen, um die jetzige Herr Kollege Spöri gefragt hat, fragen: Können Sie Schätzung in ihrem Volumen zu erreichen. Aber ausschließen, daß es neben der diskutierten mögli- gehen wir einmal davon aus, daß das der Fall sein chen Senkung der Körperschaftsteuer und des Spit- wird. Dann ist der Plan, daß der jetzige Steuerbela- zensteuersatzes bei der Einkommensteuer weitere stungsgrad durch die Entlastung entsprechend re- Felder der Unternehmensbesteuerung gibt, auf de- duziert wird. Nur, ich kann Ihnen jetzt lediglich die nen Sie eine Senkung vorhaben oder nicht aus- Zielrichtung angeben. Ich kann Ihnen nicht ver- schließen? bindlich sagen: Das wird mit Sicherheit soundso viel Prozent sein. Das, was wir hier debattieren, Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hu- reicht weit in die Zukunft. Von daher sind aus Vor- onker, ich habe das gestern schon gesagt: Im jetzi- sichtsgründen halt viele Unsicherheitsfaktoren mit gen Zeitpunkt und auch rein denknotwendig kann einzukalkulieren. man überhaupt nichts ausschließen. Wir haben ei- nen großen Bereich, über den debattiert wird, der Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- geprüft werden muß. Nachher müssen dann Ent- geordneten Dr. Spöri. scheidungen getroffen werden. Von daher ist es mir nicht möglich, zu sagen, dieser Bereich wird absolut Dr. Spörl (SPD): Herr Kollege Voss, wird die Bun- nicht in die Überlegungen einbezogen. Das wäre desregierung aus dem geplanten Gesamtvolumen irreal. Ich glaube, daß das auch nicht dem Problem 16646 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Parl. Staatssekretär Dr. Voss gerecht werden würde; denn die Steuerreform der frage ich Sie, wie Sie denn den Umstand beurteilen,- nächsten Legislaturperiode hat den Sinn, unser daß nach Ihren eigenen Zahlenangaben sowohl die Steuersystem zu verbessern und zu gerechteren Be- Grenz- als auch die Durchschnittsbelastung der lastungen zu kommen, als wir sie heute haben. durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer nach dem Steuersenkungsgesetz höher sein wird als bei- Vizepräsident Westphal: Ich rufe die Frage 79 des spielsweise 1982. Abgeordneten Poß auf: Geht die von der Bundesregierung für die nächste Legisla- Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, pole- turperiode geplante große Steuerreform mit einem Netto- Dr. Voss, volumen von 20 Milliarden DM bis 25 Milliarden DM über die misch habe ich nicht zu antworten versucht. Rückgabe der von Jahr zu Jahr eintretenden sogenannten (Poß [SPD]: Ich habe von Ihrer Polemik heimlichen Steuererhöhungen hinaus, und wird diese Steu- erreform zu einer Absenkung der Steuerquote führen? aus der Oppositionszeit gesprochen!) Bitte schön, Herr Staatssekretär. — Was in unserer Oppositionszeit genannt und ge- sagt worden ist, war auch keine Polemik, denn zu Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Durch die Erfolge der Zeit gab es wirklich heimliche Steuererhöhun- ihrer stabilitätsausgerichteten Haushaltspolitik hat gen, weil es nämlich sehr hohe Inflationsraten gab. die Bundesregierung wesentlich zum Abbau der In- Nachdem die Politik der Bundesregierung jetzt flation und damit der heimlichen Steuererhöhun- schon zu einem Ergebnis geführt hat, Herr Kollege gen beigetragen. Bei der erreichten Preisniveausta- Poß, das im Jahre 1982 niemand auch nur annä- bilität entstehen keine heimlichen Steuererhöhun- hernd für möglich gehalten hat, gehe ich davon aus, gen mehr. daß sich die mit dieser Politik verbundene positive Den finanzpolitischen Spielraum, den die Bun- Entwicklung auch in den Folgejahren fortsetzen desregierung durch ihre Konsolidierungspolitik ge- wird, so daß das Problem der heimlichen Steuerer- winnt, setzt sie zur steuerlichen Entlastung der höhungen von daher, wenn nicht ganz weggebracht, Bürger ein. Bei der Aufrechterhaltung der Preissta- so doch erheblich gemindert wird. bilität können die für die nächste Wahlperiode an- (Poß [SPD]: Ich habe nach der Grenz- und gestrebten Entlastungen zu einer realen Steuersen- Durchschnittsbelastung gefragt! Sie haben kung mit weiterer Abflachung der Einkommensteu- meine Frage nicht beantwortet!) erprogression, Erhöhung des Grundfreibetrages und Entlastung der Familien sowie Absenkung der Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- volkswirtschaftlichen Steuerquote führen. neten Dr. Apel. Eine konsequente Politik der Inflationsbekämp- fung hält die Bundesregierung für erfolgverspre- chender und sozialer als nachträgliche Maßnahmen Dr. Apel (SPD): Herr Staatssekretär, wie lange zur Milderung schädlicher Inflationsfolgen. meint eigentlich die Bundesregierung die von Ihnen hier demonstrierte Haltung noch durchhalten zu Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Herr Poß. können, die darin besteht, daß Sie auf der einen Seite den Bürgerinnen und Bürgern nach Ihrer ge- Poß (SPD): Herr Staatssekretär, ich habe nicht scheiterten Steuersenkungspolitik 1986/88 weitere nach der Preissteigerungsrate dieses Jahres ge- 45 Milliarden DM Steuersenkungen vorgaukeln, fragt, sondern im Zusammenhang mit der anderen ohne bereit zu sein, hier im Deutschen Bundestag Frage und den Modellrechnungen nach den Jahren und damit der Öffentlichkeit zu sagen, wie das 1990/92, also den Jahren, für die die Bundesregie- finanziert werden soll, wann Sie welche Steuern rung in ihren mittelfristigen Projektionen selbst senken wollen, ob Sie z. B. die Gewerbesteuer und von 2,5 v. H. Preissteigerungen ausgeht. Da wollen viele andere Steuern antasten wollen? Halten Sie Sie jetzt heimliche Steuererhöhungen leugnen? dieses für eine dem Parlament und der Öffentlich- keit angemessene Antwort, die Sie uns hier perma- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das nent im Stile eines Anrufbeantworters nach der kommt natürlich auf die tatsächliche Entwicklung Melodie „Kein Anschluß unter dieser Nummer" an- an. Es ist durchaus möglich, daß der' Satz, der hier bieten? in der Modellrechnung als Inflationsrate genannt (Beifall bei der SPD) ist, de facto nicht eintreten wird. Nach dem sehr wohltuenden und erfreulichen Rückgang des Infla- tionsgrades besteht durchaus die Hoffnung, daß Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Apel, sich dies in den späteren Jahren, wenn auch nicht jene unter unseren Bürgern — und ich hoffe, daß zu 100 %, so doch in etwa fortsetzen wird, so daß im das eine große Zahl ist —, die sich mit der Materie Moment — und nur vom Moment kann ich reden — befassen und die etwas in der Materie bewandert das Problem der heimlichen Steuererhöhungen sind, wissen, daß sie von Ihnen und Ihrer Partei, nicht gegeben ist. Herr Kollege Apel, Steuersenkungen überhaupt nie zu erwarten hätten; Vizepräsident Westphal: Sie haben eine weitere (Beifall bei der CDU/CSU) Zusatzfrage, Herr Poß. denn wenn man einmal Ihre Stimmen hört, dann Poß (SPD): Herr Staatssekretär, wenn Sie jetzt weiß man, daß für Sie nur Steuererhöhungspläne entgegen der Polemik aus Ihrer Oppositionszeit (Dr. Apel [SPD]: Sie sind doch ein Schwät heimliche Steuererhöhungen zu leugnen versuchen, zer!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16647

Part. Staatssekretär Dr. Voss oder die Rückgängigmachung von bereits erfolgten heißt, daß die Steuern immer wieder, und zwar mas- Steuervergünstigungen und Steuersenkungen zur siv, gesenkt worden sind, und müssen Sie nicht be- - Debatte stehen. Von daher kann ich mit sehr gutem stätigen — selbst wenn Sie es nicht glauben oder Recht, Herr Kollege Apel, etwas, was für die näch- wenn es Ihnen nicht paßt —, daß das Programm der ste Legislaturperiode geplant ist und was hier der SPD entgegen Ihrer Behauptung, wir wollten Steu- Öffentlichkeit in einem Modell vorgeführt wird, in ersenkungen rückgängig machen, nicht etwa vor- dem Maße vertreten, wie ich es hier tue. sieht, Ihre Senkung von 1988 ohne Ausgleich rück- gängig zu machen, sondern ausdrücklich vorsieht, Vizepräsident Westphal: Herr Kollege Dr. Apel, die Senkung von 1988 in der gleichen Höhe vorzu- das geht nicht. Das war ein Zwischenruf, der für nehmen, nur mit dem Unterschied, daß Sie die gro- uns unakzeptabel ist. Ich muß Sie zur Ordnung ru- ßen, wir aber die kleinen und die mittleren Leute fen. entlasten? (Dr. Apel [SPD]: Ist in Ordnung! Es (Zustimmung bei der SPD) stimmte nur, Herr Präsident!) Die nächste Zusatzfrage hat Herr Dr. Spöri. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Matthäus, ich muß mich an das halten, was ich von Dr. Spöri (SPD): Herr Kollege Voss, wenn der Kol- lege Poß eben nach der Durchschnittssteuerbela- Autoritäten Ihrer Partei wie von Herrn Farthmann stung des Bürgers gefragt hat, möchte ich Sie fra- und von Herrn Rau höre gen, ob Sie bestätigen können, daß die Lohnsteuer- (von Hammerstein [CDU/CSU]: Sehr rich quote, d. h. der Maßstab für die steuerliche Bela- tig! Genauso ist es!) stung- des Arbeitnehmers, seit 1982 gewachsen ist und was ich dem Programm der SPD entnehmen entgegen den Ankündigungen von Ihnen, daß Sie muß. die Abgabenlast, die Steuerlast des Bürgers senken (Dr. Apel [SPD]: Vielleicht könnten Sie wollen. auch einmal Parlamentsdokumente lesen!) Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das Dort wird definitiv gesagt, daß bestimmte Steuer- stimmt in dieser Allgemeinheit, wie Sie es sagen, vergünstigungen, die bereits bestehen, aber auch nicht. Es gibt einige Bereiche, wo die Lohnsteuer solche, die erst noch kommen, zurückgenommen etwas stärker, als es uns lieb gewesen wäre, gestie- werden sollen. Das kann nichts anderes bedeuten, gen ist. Aber im Prinzip ist die Belastung nicht so als daß es im Ergebnis zu einer Steuererhöhung gewachsen, wie Sie es darstellen, und es gehört j a kommt. zu den Plänen, die wir für weitere Steuerentlastun- (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Unglaub gen haben, auch und insbesondere im Bereich der lich!) Lohnsteuer dem Steuerbürger das zurückzugeben, Zwar sind in der Vergangenheit in den Fällen, die worauf er Anspruch hat, wenn sich seine Leistung Sie genannt haben, Versuche gemacht worden, die noch lohnen soll. Steuern zu ermäßigen, aber Sie sagen ja selbst, daß Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- die Steuerquote konstant geblieben ist: geordneten Lennartz. (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Sicher, das ist doch gut!) (SPD): Herr Staatssekretär, bestreiten Lennartz Es sind also letztlich keine Steuersenkungen in Sie die Angabe des Mitgliedes des Vorstandes der dem Maße vollzogen worden, wie Sie immer be- Deutschen Bundesbank Emminger, daß die Preis- hauptet haben. steigerungsrate in der Bundesrepublik Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne den Ölpreis- Sie können aber davon ausgehen, daß dann, wenn sturz bei 1,7 % liegen würde? die Programme, die diese Bundesregierung durch- führt und in Zukunft durchführen will, zum Tragen Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Es ist eine hypothe- gekommen sind, sich die Steuerquote gegenüber tische Aussage, die da gemacht worden ist, eine dem heutigen Stand entsprechend ermäßigt hat. Aussage nach dem Muster: Wenn etwas nicht der (Poß [SPD]: Aber immer noch höher ist als Fall wäre, wäre es so ... Im Moment habe ich es mit 1982! Sie fälschen hier!) einem Faktum zu tun, und dieses Faktum habe ich hier entsprechend zu werten, wie ich es getan habe. Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- geordneten Immer. Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage der Ab- geordneten Frau Matthäus-Maier. Immer (Altenkirchen) (SPD): Herr Staatssekretär, Sie haben immer auf die sogenannte Inflationsrate Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Staatssekretär, hingewiesen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen klar nachdem Sie sich hoffentlich wieder ein bißchen ist, daß diese Inflationsrate beruhigt haben, möchte ich Ihnen die Frage stellen: Können Sie bestätigen, daß entgegen Ihren Aussa- (von Hammerstein [CDU/CSU]: Sehr ge gen von vorhin durch mehrfache große Steuersen- ring ist!) kungspakete in den Jahren von 1969 bis 1982 die sehr verschiedenartig auf die Einkommen wirkt. Steuerquote konstant gehalten worden ist, was j a Wenn man bedenkt, daß die Inflationsrate im we- bei vorhandenen heimlichen Steuererhöhungen sentlichen durch die Senkung der Kosten für das Öl 16648 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Immer (Altenkirchen) so gering geworden ist, daß aber etwa die Gebühren sich die Steuerlastquote, wenn auch gering, vermin- den einzelnen Bürger erheblich mehr belasten, dern wird. - wenn man etwa bedenkt, daß in einem Landkreis (Dr. Apel [SPD]: Das ist doch nicht die Fra- die Abfallbeseitigungsgebühren in diesem Jahr um ge! Es wurde nach der Lohnsteuerquote ge- 30% angehoben werden und die Wassergebühren fragt! Hören sie doch mal zu! — Weitere ebenfalls angehoben werden, frage ich Sie doch, ob Zurufe von der SPD) das nicht ebenfalls eine Überbelastung der kleinen Steuerzahler bedeutet, die Sie über eine Steuerre- form nicht ausgleichen können. Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- ren, die Regierung ist frei, zu antworten, was sie (von Hammerstein [CDU/CSU]: Dafür will. kann doch die Regierung nichts!) (Dr. Apel [SPD]: Dann wird sie hier dem- nächst ein Lied vorsingen!) Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist Der Abgeordnete Kübler hat die nächste Zusatz- mir bekannt, daß eine Inflationsrate, wie wir sie frage. jetzt haben, die an sich bei Null ist oder sogar ins Negative hineingeht, Dr. Kübler (SPD): Herr Staatssekretär, darf ich (von Hammerstein [CDU/CSU]: Richtig!) noch einmal die Frage wiederholen, ob die Lohn- von vielen Faktoren abhängt. Ich kann mich jetzt steuerlastquote 1988 nach der zweiten Phase höher natürlich der Arbeit hingeben, herauszufinden, wie sein wird als 1982. diese Inflationsrate wäre, wenn dieser oder jener (von Hammerstein [CDU/CSU]: Das kann Sachverhalt anders wäre, als er heute ist. Das wäre man jetzt nicht beantworten! — Huonker eine akademisch und theoretisch durchaus anspre- [SPD]: Wenn Sie es nicht im Kopf haben, chende Arbeit. Ich gehe aber davon aus, daß die bis- lesen Sie es vor! Das sind Ihre eigenen Do- herige Konsolidierungs- und Stabilitätspolitik einen kumente, Herr Staatssekretär!) sehr großen Anteil an der jetzigen Stabilität hat. Und ich gehe davon aus, daß bei Fortführung der Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das Konsolidierung, die diese Regierung fest in ihr Pro- wird davon abhängen, wie sich die Verhältnisse bis gramm einbezieht, damit gerechnet werden kann, 1988 im einzelnen entwickelt haben. daß diese positive — um es vorsichtig zu sagen —, (Lachen bei der SPD) nach Null tendierende Inflationsrate auch in Zu- kunft erhalten bleibt. Das, was wir zur Zeit darüber sagen, ist zwar ein deutlicher Anhaltspunkt; aber ob das nach Ablauf Von daher werden all die kleinen Bürger, die jetzt des Jahres 1988 — erst dann können Sie die defini- durch irgendwelche kommunalen Maßnahmen stär- tive Lohnsteuerquote feststellen — der Fall sein ker belastet sind, auf Dauer einen besseren Zustand wird, müssen wir abwarten. erleben, als sie ihn zu Ihrer Regierungszeit erlebt haben, als es hohe Inflationsraten gab und durch (Huonker [SPD]: Aber Sie haben doch ei- Lohnerhöhungen und andere Maßnahmen dies gene Schätzungen!) nicht kompensiert werden konnte. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Westphal: Zu dieser Frage die letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Klejdzinski.

Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekretär, wenn neten Huonker. Sie schon die unnachahmbare Fähigkeit haben, auf Fragen mit dem zu antworten, was gestern war, aber die Fragen nicht so zu beantworten, wie sie Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie Ihnen gestellt wurden, darf ich Sie fragen, ob die durch Nennung der Steuerlastquoten der Jahre Lohnsteuerquote gegenwärtig nicht die höchste ist, 1982, 1986 und — geschätzt — 1988 bestätigen, daß die wir je hatten. die Steuerquote auch nach Inkrafttreten der zwei- ten Stufe Ihres Steuersenkungsgesetzes im Jahre 1988 nicht niedriger sein wird, als sie 1982 war? Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: In dieser Form vermag ich die Frage nicht zu bestätigen, Herr Kollege. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen be- (Lachen bei der SPD — Immer [Altenkir- stätigen, Herr Kollege Huonker, daß die Steuerlast chen] [SPD]: Ein Witz! — Frau Matthäus- quote in den 70er Jahren, als Sie die politische Ver- Maier [SPD]: Pfui!) antwortung trugen, zumindest 1% höher war, als sie in den 60er Jahren war. Vizepräsident Westphal: Die Frage 80 des Abge- (Dr. Apel [SPD]: Weichen Sie doch nicht ordneten Dr. Wieczorek und die Fragen 81 und 82 aus! Das ist ja unglaublich! Dieser Mann des Abgeordneten Rapp (Göppingen) werden auf

beantwortet keine Frage!) Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. , Ich kann Ihnen weiterhin bestätigen, daß wir mit Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. den Maßnahmen, die wir ergreifen und die wir be Ich rufe die Frage 83 der Abgeordneten Frau Mat- reits ergriffen haben, dazu kommen werden, daß thäus-Maier auf: Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16649

Vizepräsident Westphal Beabsichtigt die Bundesregierung, bei einer Senkung des Huonker (SPD): Zurück zur Körperschaftsteuer, Körperschaftsteuersatzes, die nach den Ausführungen des Herr Staatssekretär: Ich darf in Ihre Erinnerung Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Voss in der Frage- stunde des Deutschen Bundestages vom 17. April 1986 (Ple- rufen, daß Sie gestern in der Fragestunde ausge- narprotokoll 10/210 S. 16099) beabsichtigt ist, nur den Regel- führt haben, daß in bezug auf die Differenz zwi- steuersatz für Kapitalgesellschaften oder auch den Aus- schen Körperschaftsteuersatz und Spitzensteuer- schüttungssteuersatz, den Steuersatz für sonstige Körper- satz eine Marge von vielleicht 3 % akzeptabel wäre, schaften und den speziellen Steuersatz für das Zweite Deut- sche Fernsehen zu senken? und schließe daran die Frage, ob Sie nach den Ge- setzen der Logik bestätigen können, daß diese Aus- Bitte schön, Herr Staatssekretär. sage bedeutet, daß dann, wenn der Körperschaft- steuersatz um mehr als 3 % gesenkt würde — es Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: In der Fragestunde des Deutschen Bundestages vom 17. April 1986 habe wären dann immer noch 53 % —, jedenfalls sozusa- ich auf die Ausführungen des Jahreswirtschaftsbe- gen politisch-automatisch eine Senkung des Spit- richts 1986 hingewiesen, wonach eine Senkung des zensteuersatzes aus Gründen der Ökonomie und Körperschaftsteuersatzes angestrebt werden soll. der Rechtsformengleichheit des Steuerrechts erfol- Steuerpolitische Beschlüsse für die 90er Jahre wer- gen müßte. den in der nächsten Legislaturperiode zu fassen Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hu- sein. Das gilt insbesondere auch für die in Ihrer Dr. Voss, onker, ich erinnere mich sehr gut daran, was ich Frage enthaltenen Einzelheiten zum Tarifgefüge gestern gesagt habe. Ich erinnere mich auch daran, des Körperschaftsteuergesetzes. daß ich Ihnen bereits gestern auf eine entspre- chende Frage . gesagt habe, daß diese Schlußfolge- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Frau Matthäus. rung nicht zwingend ist, weil ich lediglich davon geredet habe, was mir aus jetziger Sicht als Diffe- Frau Matthäus-Maier (SPD): Nachdem in diesen renz zwischen den beiden Spitzensteuersätzen ak- Tagen in der Zeitung immer wieder zu lesen ist, daß zeptabel erscheint. Man wird überlegen und genau das Ministerium eine steuerfreie Investitionsrück- prüfen müssen, ob das die Marge ist. Es könnte lage für kleine und mittlere Betriebe ablehnt, ob- durchaus sein, daß man zu dem Ergebnis käme, wohl gerade der Mittelstand bis weit hinein in ihre hier ist überhaupt keine Differenz erträglich, Fraktion diese Investitionsrücklage einer Senkung ebenso wie man zu dem Ergebnis kommen könnte, des Spitzensteuersatzes vorziehen würde: Wieso hier ist eine größere Differenz erträglich. Ich habe können Sie diese Frage schon als entschieden be- Ihnen gestern nur einmal griffweise ein paar Pro- trachten, nachdem Sie gerade gesagt haben, daß Sie zentpunkte genannt, die man eventuell als erträg- das alles in der nächsten Legislaturperiode ma- lich ansehen könnte. Aber verbindlich ist das im jet- chen? zigen Zeitpunkt nicht. Wir debattieren hier doch über ein Modell der nächsten Legislaturperiode. Sie Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Frau Matthäus, es setzen alle Inbrunst darein, hier einzelne Punkte ist im jetzigen Zeitpunkt nicht zu behaupten, daß festzuklopfen und damit dieses Modell sofort zu die Diskussion über die steuerfreie Investitions- dem zu machen, was es' gar nicht sein kann. Das ist rücklage bereits abgeschlossen sei. Hier gibt es ein hier eine strategische Überlegung, und diese strate- großes Lager, das für diese steuerfreie Investitions- gische Überlegung muß in politische Entscheidun- rücklage plädiert. Es gibt ein anderes Lager, das gen umgesetzt werden. Das wird erst in der näch- unter Hinweis auf die Gefahren dieser steuerfreien sten Legislaturperiode in dem Maße geschehen, wie Investitionsrücklage davon abrät. Welche Seite sich Sie das heute bereits von mir fordern. nachher im Gesamtkontext der Beratungen über die Steuerreform der nächsten Legislaturperiode Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- durchsetzen wird, vermag ich im jetzigen Zeitpunkt neten Dr. Spöri. nicht definitiv zu sagen. Dr. Spöri (SPD): Herr Kollege Voss, Sie haben (von Hammerstein [CDU/CSU]: Genau in Ihrer Antwort auf die Frage meiner Kollegin richtig beantwortet!) Matthäus-Maier nach einer steuerfreien Investi- tionsrücklage als Alternative zur Senkung des Kör- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Frau perschaftsteuersatzes von zwei Lagern gesprochen, Matthäus. von zwei Interessenlagern oder Interessengruppen. Nun ist es aus meiner Sicht nicht Aufgabe dieser Frau Matthäus-Maler (SPD): Wäre eine steuerfreie Fragestunde, von Ihnen zu hören, wie Sie die einzel- Investitionsrücklage nicht angesichts der knappen nen Lager einschätzen, sondern es ist Aufgabe der Kassen eine Alternative zu einer Senkung des Spit- Fragestunde, von Ihnen zu erfahren, was Sie zu die- zensteuersatzes, weil man beides nicht haben kann? ser steuerfreien Investitionsrücklage für eine Auf- Wäre das nicht für den Mittelstand günstiger? fassung haben. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin (Huonker [SPD]: Die Bundesregierung!) Matthäus, was man als Alternative ansieht, hängt Ich frage Sie: Welche Meinung hat die Bundesregie- von dem jeweiligen Standpunkt und von dem Ge- rung zur steuerfreien Investitionsrücklage? schmack ab, den man hat. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spöri, Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- es handelt sich um die steuerfreie Investitionsrück- neten Huonker. lage, nicht um eine Zulage; Sie haben es gerade im 16650 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Parl. Staatssekretär Dr. Voss letzten Satz selbst gesagt. Die Bundesregierung ist es diese Koalition ist, die bestimmen wird, wie die in diesem Punkte der Meinung, daß es eine Reihe Steuergesetze in der nächsten Legislaturperiode von Gefahrenpunkten gibt, obwohl es — das werden aussehen? Sie wissen — die steuerfreie Investitionsrücklage in bestimmten Bereichen bereits gibt, nämlich im Zo- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich stimme Ihnen nenrandgebiet unter bestimmten Kautelen. Von da- durchaus zu, Herr Kollege, daß sich alle diejenigen her ist die Bundesregierung bei ihren gegenwärti- in diesem Lande, die auf eine Ermäßigung der Steu- gen Überlegungen der Meinung, daß die Nachteile erbelastung — die zugegebenermaßen zum jetzigen sehr deutlich gesehen werden müssen. Aber das Zeitpunkt zu hoch ist — Wert legen, nur auf die jet- heißt nicht, Herr Kollege Spöri, daß nicht im Zu- zige Koalition verlassen können. sammenhang mit den Überlegungen, die in der nächsten Legislaturperiode anzustellen sind, auch Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- eine andere Entscheidung getroffen werden kann. neten Poß.

Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Poß (SPD): Herr Staatssekretär, darf ich Ihren neten Dr. Apel. Ausführungen zur steuerfreien Investitionsrück- lage entnehmen, daß Sie unseren Mittelständlern Dr. Apel (SPD): Herr Staatssekretär, nachdem Sie nicht zutrauen, mit diesem Instrument umzuge- eben im Hinblick auf die steuerfreie Investitions- hen? rücklage von Nachteilen gesprochen haben — mich (Huonker [SPD]: Lauter Fehlinvestitionen verwundert das ein bißchen, weil dies ja eine Forde- machen die dann!) rung der Mittelstandsvereinigung der CDU ist, die wir genauso erheben —, möchte ich Sie bitten — ich Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im gehe davon aus, daß Sie das können —, uns einige Gegensatz zu vielen in Ihrer Partei traue ich den der Nachteile einer steuerfreien Investitionsrück- Mittelständlern sehr viel zu. lage hier im Rahmen der Fragestunde darzustel- (Dr. Spöri [SPD]: Sie muten Ihnen sehr viel len. zu!) Denn ich weiß, einen wie weiten Bereich unserer Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Apel, Dr. Voss, Wirtschaft sie verantwortlich tragen und was sie für Sie wissen ganz genau, daß es kaum eine Maß- das Wachstum unseres Bruttosozialprodukts lei- nahme gibt, die nur Vorteile hat, und kaum eine sten. Von daher ist das keine Frage des Zutrauens Maßnahme, die nur Nachteile hat. Bei der steuer- oder Nichtzutrauens. Hier ist es die Frage, ob ich freien Investitionsrücklage besteht beispielsweise ein steuerliches Institut, von dem ich weiß, daß es die Gefahr, daß es auf Grund der Steuerermäßi- auch eine negative Seite hat, einführe und damit gung, die damit zusammenhängt, zu Fehlinvestitio- auch den Mittelständlern eine Gefahr zumute, die nen kommt, die steuerinduziert sind. Das ist eine vielleicht vermeidbar ist. Aber, wie gesagt, man Sache, die Sie volkswirtschaftlich nicht als Quantité muß die Vorteile und Nachteile abwägen. Wenn die négligeable behandeln können, Herr Kollege Apel. Vorteile gegenüber den Nachteilen überwiegen, Von daher ist das einer der Punkte, die genau über- wird man ein derartiges Institut einführen. Wenn legt werden wollen. Sie wissen auch, daß ein mittel- man meint, die Nachteile sind größer als die Vortei- ständisches Unternehmen, das die steuerfreie Inve- le, wird man es nicht einführen können. stitionsrücklage gebildet hat und sich nicht in der Lage sieht, die geplante Investition durchzuführen, (Huonker [SPD]: Das heißt, die Regierung vor dem Tatbestand der Nachversteuerung steht. hält das offen!) Hier kann es sehr leicht passieren, daß dieses Un- ternehmen auf Grund dieses Umstands in erhebli- Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- che finanzielle Schwierigkeiten kommt. Das sind ren, wir bewegen uns weit von der Ursprungsfrage nur zwei Beispiele, die ich jetzt aus dem Stegreif weg. Ich lasse noch zwei Zusatzfragen zu. Dann sagen darf. geht es zur nächsten Frage über. (Huonker [SPD]: Das war aber dürftig!) Herr Kübler ist jetzt dran.

Vizepräsident Westphal: Die nächste Zusatzfrage Dr. Kübler (SPD): Herr Staatssekretär, ich möchte hat der Abgeordnete Jäger (Wangen). eine konkrete Frage in diesem Zusammenhang stellen. Geht die Bundesregierung davon aus, daß bei der Körperschaftsteuer die Spanne zwischen Jäger (Wangen) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, wenn Sie so intensiv nach der Investitionsrücklage dem Regelsteuersatz und dem Ausschüttungssteu- oder nach der Senkung des Körperschaftsteuersat- ersatz wie bisher mindestens 20 Prozentpunkte be- zes von seiten der Opposition gefragt werden, tragen muß, und welche Folgen hätte eine Minde- rung dieser Spanne z. B. für die Erhebung der Kapi- (Poß [SPD]: Es ist eine Schweinerei, daß talertragsteuer? die überhaupt fragen!) drängt sich dann nicht wie mir der Eindruck auf, Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich gehe zum jetzi- daß diese Opposition längst alle Hoffnung hat fah- gen Zeitpunkt davon aus, daß diese Spanne nicht in ren lassen, sie könnte in der nächsten Legislaturpe- der Größenordnung, wie sie jetzt besteht, erhalten riode bestimmen, wie die Steuerpolitik auszusehen bleiben muß. Wenn eine Senkung erfolgt, wird sie hat, sondern sich bereits damit abgefunden hat, daß nur bei den 56 % erfolgen und nicht bei den 36%. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16651

Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Kindern diesen Betrag nie im Leben erreichen neten Klejdzinski. kann? - (Zustimmung von der SPD) Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekretär, hat der Bürger draußen im Lande nicht ein Anrecht, von der gegenwärtig amtierenden Regierung zu erfah- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin ren, wie deren Steuerpläne aussehen, und müßten Matthäus, ich darf Sie darauf hinweisen, daß das Sie als Staatssekretär nicht in der Lage sein, dieses Ehegattensplitting nach der Rechtsprechung des hier in der Fragestunde einem normalen Abgeord- Bundesverfassungsgerichts keine Steuervergünsti- neten so deutlich darzulegen, daß er außer dem gung ist, sondern einé an dem Schutzgebot des Fachchinesisch, das Sie hier verbreiten, ein paar Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz und der wirtschaftlichen konkrete Anhaltspunkte hat, was Sie in concreto Leistungsfähigkeit der Ehepaare ausgerichtete tun wollen, oder wollen Sie das möglicherweise ei- sachgerechte Besteuerung darstellt. nem Steuerkommentar überlassen, den Sie noch (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Unmöglich!) schreiben wollen?

Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich Vizepräsident Westphal: Sie haben noch eine Zu- bin ganz sicher, daß der Steuerbürger unter einer satzfrage. • früheren Bundesregierung im vorhinein nie so viel an Zeilrichtung bekommen hat, wie er heute be- Frau Matthäus-Maier (SPD): Kann ich daraus kommt. Er weiß heute, daß daran gearbeitet wird, schließen, daß Sie die Reformüberlegungen, die (Huonker [SPD]: Leistung muß sich wieder diese Koalition zu Beginn dieser Legislaturperiode lohnen! Das weiß er!) angestellt hatte — an der Spitze Herr Stoltenberg; den Progressionstarif linear sanft ansteigen zu las- sie wurden übrigens auch von Herrn Dregger ge- sen. Er weiß, daß der Grundfreibetrag erhöht wer- teilt —, denen zufolge man beim Splitting etwas tun den soll. Er weiß, daß die Kinderfreibeträge erhöht müsse, weil es nicht angehe, daß Ehepaare ohne werden sollen. Nur, in welchem Maße das erfolgen Kinder heute einen Vorteil von bis zu 18 500 DM wird, hängt natürlich von Komponenten ab, die hätten — einen Betrag, den sie mit Kindergeld und jetzt noch nicht klar genannt werden können. Aber Kinderfreibeträgen nie erreichen können —, end- ich meine, daß frühere Bundesregierungen nie in gültig aufgegeben haben? der Lage und bereit waren, ihr strategisches Kon- zept so darzulegen, wie es diese Bundesregierung in Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Nein, Frau Kollegin der Broschüre, auf der die Fragen hier aufbauen, Matthäus, das können Sie daraus nicht schließen. getan hat. Ich habe Ihnen jetzt lediglich den jetzigen Stand mitgeteilt und gesagt, was geschehen würde, wenn Vizepräsident Westphal: Ich rufe nunmehr Fra- die Dinge, die ich Ihnen genannt habe, einträten. Ob ge 84 der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier auf: es dabei bleibt oder ob eine Möglichkeit gefunden Wie verändert sich der maximale Splitting-Vorteil für Ver- wird, das zu vermindern, ist wiederum eine Ent- heiratete, der derzeit 16 433 DM beträgt, bei der vom Parla- mentarischen Staatssekretär Dr. Voss mit 26,3 Milliarden DM scheidung, die in der nächsten Legislaturperiode Steuerausfall angegebenen Linearisierung der Progressions- getroffen werden wird. zone? (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Verschiebe- Bitte schön, Herr Staatssekretär. bahnhof!)

Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Eine Anhebung des Grundfreibetrages, eine Senkung des Steuersatzes Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- in der unteren Proportionalzone oder eine Abfla- neten Dr. Apel. chung der Tarifprogression ohne Änderung des Spitzensteuersatzes führen zu einem Anstieg des Dr. Apel (SPD): Herr Staatssekretär, da ich — Splittingvorteils. Bei Einführung eines linear-pro- obwohl ich nach Ihren Antworten zunehmende gressiven Tarifs ohne Änderung des Spitzensteuer- Zweifel habe — davon ausgehe, daß Sie in der Lage satzes von 56 v. H. würde sich der maximale Split- sind, die Veröffentlichungen des BMF zu lesen, tingvorteil auf rund 26 000 DM erhöhen. Bei allen frage ich Sie erneut: Sind Sie bereit zu bestätigen, bisherigen Tarifentlastungen seit 1975 hat sich der daß die Lohnsteuerquote von 1982 bis 1988 maximale Splittingvorteil erhöht. (von Hammerstein [CDU/CSU]: Das ist Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Frau doch schon fünfmal gefragt worden! Das Matthäus. hat nichts mit der Frage zu tun!) trotz zweimaliger Senkung der Lohn- und Einkom- Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Staatssekretär, mensteuer deutlich angestiegen ist? können Sie bestätigen, daß sich bei einer Familie ohne Kinder, wenn ein Ehepartner ein besonders hohes Einkommen hat, während der andere nicht Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich erwerbstätig ist, bei einem progressiv-linearen Ta- sehe überhaupt keinen Zusammenhang zu dieser rif ohne Absenkung des Spitzensteuersatzes ein Frage. Steuervorteil von 26 000 DM ergeben kann und daß (von Hammerstein [CDU/CSU]: Sehr rich ein Empfänger von Kindergeld mit vielen, vielen tig!) 16652 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Parl. Staatssekretär Dr. Voss Die Frage haben wir soeben bereits behandelt. Wir Vizepräsident Westphal: Herr Kollege Dr. Spöri, müssen uns hier an den Kontext halten. der Zusammenhang zur Frage ist nicht herstellbar. (Dr. Apel [SPD]: So kann man sich auch Sie müssen schon bei dem bleiben, was wir jeweils aus der Affäre ziehen!) vorhaben. (Dr. Spöri [SPD]: Die Linearisierung!) Vizepräsident Westphal: In diesem Falle hat der Ob der Parlamentarische Staatssekretär diese Staatssekretär recht. Ein Zusammenhang zu der Frage beantworten will oder nicht, muß er selbst Frage ist nicht herstellbar, Herr Dr. Apel. entscheiden. (von Hammerstein [CDU/CSU]: Sehr gut, Herr Präsident!) Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Diese Frage habe Herr Huonker hat eine Zusatzfrage. ich bereits in einer früheren Fragestunde beantwor- tet. Ich habe Ihnen damals gesagt, daß bei Abschaf- Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, Sie haben fung des sogenannten Mittelstandsbauchs die Be- soeben ausgeführt, daß bei der Einführung des gradigung des Progressionstarifs etwa 26 Milliar- linear-progressiven Tarifs ohne Senkung des Spit- den DM kosten wird, und daß, wenn man von 56 % zensteuersatzes des Splittingvorteils von heute ma- auf 49 % herabgehen wird, noch mal runde 10 Milli- ximal 16 000 DM Auf dann maximal 26 000 DM stei- arden DM erforderlich sein werden. gen würde. Teilen Sie die Ansicht derer, die unter (Dr. Spöri [SPD]: Für wieviel Steuerzahler dem Stichwort: Leistung muß sich wieder lohnen ergibt sich eine Senkung aus dieser Maß- die Meinung vertreten, daß ein verheirateter allein- nahme? Das war die Frage!) verdienender Spitzenverdiener durch die Einfüh- rung des linear-progressiven Tarifs einen Steuer- Vizepräsident Westphal: Aber sie steht nicht im vorteil von monatlich rund 900 DM bekommen soll Zusammenhang. Es tut mir leid. Wir müssen bei — das sind im Jahr also 10 000 DM —, obwohl dies unserer Ordnung bleiben. — Es gibt noch eine wei- gut der Hälfte des Nettoeinkommens eines durch- tere Zusatzfrage des Abgeordneten Kübler. schnittlich verdienenden Facharbeiters im Monat entspricht? Dr. Kübler (SPD): Herr Staatssekretär, ich habe eine ganz einfache Frage, die vielleicht auch mit Ja Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege oder Nein beantwortbar werden könnte. Würden Huonker, ich muß Sie berichtigen, der Splittingvor- Sie — wieder zurückkommend auf die Splitting- teil beträgt bereits 18 000 DM und nicht, wie in der frage — diese Entwicklung im Bereich der Split- Frage angegeben ist, nur 16 433 DM. tingvergünstigung für eine gerechte Steuerentwick- (Huonker [SPD]: 1988! Im Augenblick lung halten? 16 000 DM!) Herr Kollege Huonker, wenn Sie dieses Institut der Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Küb- Besteuerung und des Splittings aufrechterhalten ler, das ist eine Entwicklung, die auf Grund von wollen, Maßnahmen, die vorgesehen sind, sehr kritisch be- trachtet werden muß. Ich kann mir durchaus vor- (Huonker [SPD]: Will ich nicht!) stellen, daß Maßnahmen getroffen werden, um das treten dann natürlich gewisse Folgerungen automa- nicht in der Form eintreten zu lassen, wie ich es tisch ein. soeben geschildert habe. (Huonker [SPD]: Deswegen will ich es nicht!) Vizepräsident Westphal: Herr Oostergetelo. Ob diese Folgerungen so beibehalten werden, wie es hier nach dem Denkmodell, das ich Ihnen eben Oostergetelo (SPD): Herr Staatssekretär, habe geschildert habe, vorliegen und eintreten würde, ich Sie richtig verstanden, daß Sie sich vorstellen das ist auch eine Entscheidung, die in der nächsten können, daß die von uns geschilderten negativen Legislaturperiode im Kontext zu fassen sein wird. Folgen nicht eintreten können? Darf ich fragen, ob Ich gebe Ihnen gern zu, daß Sie auf Grund Ihres die Bundesregierung etwas tun wird, damit das Standpunktes eine andere Haltung einnehmen, als nicht eintritt? das viele in der Bundesregierung tun werden. Parl. Staatssekretär: Die Bundesregie- (Huonker [SPD]: Das ist wahr!) Dr. Voss, rung wird in der nächsten Legislaturperiode, Herr Kollege Oostergetelo, eine gerechte und brauchbare Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Entscheidung treffen. Herrn Abgeordneten Spöri. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Spöri (SPD): Herr Kollege Voss, Sie haben für die Bundesregierung angekündigt, daß diese die Vizepräsident Westphal: Da der amtierende Präsi- Einführung eines linear-progressiven Tarifs plant. dent von hier oben seine eigenen Fragen nicht ab- Wie hoch sind die Steuerausfälle bei Einführung fragen und keine Zusatzfragen stellen kann, habe eines linear-progressiven Tarifs z. B. mit 49 % Spit- ich um schriftliche Beantwortung meiner Frage 85 zensteuersatz, und wieviel Prozent der Steuerzahler gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. erhalten aus dieser Steuersenkungsmaßnahme ei- Wir kommen zur Frage 86 des Abgeordneten Len- nen steuerlichen Vorteil? nartz: Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16653

Vizepräsident Westphal Auf welche Höhe und für welches Jahr plant die Bundesre- Sie, ob Sie eine Senkung des 56 %igen Körperschaft- gierung die vom Parlamentarischen Staatssekretär beim steuersatzes um weniger als 4% für eine überhaupt Bundesminister der Finanzen, Dr. Voss, im Deutschen Bun- destag am 17. April 1986 angekündigte Senkung des Körper- erwägenswerte, sinnvolle steuerpolitische Gesetz- schaftsteuersatzes? gebungsmaßnahme halten würden? Bitte schön, Herr Staatssekretär. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hu- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Lennartz, die onker, ich könnte mir durchaus eine etwas gerin- Bundesregierung hat ihre steuerpolitischen Ziele gere Senkung, beispielsweise um 3 %, vorstellen; für die kommenden Jahre im Text Ziffer 26 des Jah- aber ob das im Vergleich zu den Staaten, die ihre reswirtschaftsberichts 1986 dargelegt. Aussagen Körperschaftsteuer sehr deutlich reduziert haben, über Höhe und Zeitpunkte der angestrebten Steuer- und die Entwicklungen, die sich bis dahin ergeben senkungen, einschließlich der Senkung des Körper- haben, sinnvoll ist, muß später entschieden wer- schaftsteuersatzes, sind darin nicht enthalten. Sol- den. che Aussagen gehören nach Auffassung der Bun- Ich rufe die Frage 87 des desregierung nicht in einen allgemeinen Zielset- Vizepräsident Westphal: zungskatalog, sondern in den Gesamtzusammen- Abgeordneten Lennartz auf: hang der steuerpolitischen Grundentscheidungen, Kann die Bundesregierung ausschließen, daß sie im Rah- men der für die nächste Legislaturperiode geplanten großen die in der nächsten Legislaturperiode zu treffen Steuerreform die Steuerfreiheit der Zuschläge für Nacht-, sind. Sonn- und Feiertagsarbeit abschaffen wird? Bitte schön, Herr Staatssekretär. Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage, Herr Lennartz. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Es gibt keine Ent- (SPD): Herr Staatssekretär, kann ich scheidungen über die Abschaffung von Steuerver- Lennartz günstigungen, auch nicht über Änderungen bei der daraus schließen, daß Sie mir auch keine Antwort darauf geben können, welcher Anteil am gesamten Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Fei- Die steuerpolitischen Steuerentlastungsvolumen auf die Senkung der ertags- und Nachtarbeit. Grundentscheidungen werden im Rahmen des Ge- Körperschaftsteuer entfallen soll? samtkonzepts in der nächsten Legislaturperiode zu Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich habe Sie rein treffen sein. Dabei wird sich die Bundesregierung akustisch nicht verstehen können. auch zum Abbau von steuerlichen Ausnahmerege- lungen äußern. Im übrigen beabsichtigt diese Bun- Lennartz (SPD): Können Sie mir vielleicht sagen, desregierung eine steuerliche Entlastung und keine Herr Staatssekretär, welcher Anteil am gesamten steuerliche Belastung der Bürger. Steuerentlastungsvolumen auf die Senkung der Körperschaftsteuer entfallen soll? Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage, Herr Lennartz. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Frage können Sie sich selbst beantworten. Nach Lennartz (SPD): Herr Staatssekretär, Ihre Ant- dem, was ich Ihnen gesagt habe, wort lädt ja richtig zu Interpretationen ein. (Poß [SPD]: Sie sagen ja nichts!) Vizepräsident Westphal: Sie müssen fragen. kann man zum jetzigen Zeitpunkt hier noch kein Volumen nennen. Wie sollte ich denn in der Lage Lennartz (SPD): Entschuldigung. Herr Staatsse- sein, just in dieser Frage ein Volumen zu nennen, kretär, können Sie auf Grund Ihrer interpretations- wenn ich die Voraussetzungen für andere Dinge im fähigen Antworten verbindlich erklären, daß die jetzigen Zeitpunkt nicht nennen kann? Das ist doch Bundesregierung nicht beabsichtigt, in der näch- denknotwendig so. sten Legislaturperiode die für die Besteuerung von Arbeitnehmern geltenden Sonderregelungen einzu- Vizepräsident Westphal: Sie haben noch eine Zu- schränken, zu denen ich neben der Steuerfreiheit satzfrage, Herr Lennartz. der Zuschläge für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit auch z. B. den Arbeitnehmerfreibetrag und den Lennartz (SPD): Herr Staatssekretär, unter wel- Weihnachtsfreibetrag rechne? chem Gesichtspunkt würden Sie Ihren Vorlagen das Prädikat „Seriosität" verleihen? Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen be- (Lachen bei der SPD) stätigen, Herr Kollege, daß es keinesfalls eintreten wird, daß der arbeitende Bürger in diesem Lande in Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Sie können sicher der nächsten Legislaturperiode steuerlich stärker sein, Herr Kollege, daß die Entscheidungen, die belastet wird, als er es jetzt ist. diese Bundesregierung treffen wird, in puncto Se- (Sehr gut! bei der CDU/CSU) riosität allen Entscheidungen, die Sie vorher getrof- fen haben, standhalten werden. Wenn ich Ihnen einmal erklären darf, wie ich mir vorstelle, wie man Steuervergünstigungen abbaut, Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage, Herr dann wäre der Idealfall der, daß die Bereiche, die Huonker. jetzt von Steuervergünstigungen betroffen sind — der Abbau einer Steuervergünstigung bedeutet ja Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, ich spreche notwendigerweise eine Steuererhöhung —, bei den Ihren steuerpolitischen Sachverstand an und frage steuerlichen Maßnahmen um so stärker berück- 16654 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Pari. Staatssekretär Dr. Voss sichtigt werden, damit daß ein theoretischer Weg- nen, daß der Körperschaftsteuersatz nach der Wahl fall einzelner Steuervergünstigungen — das sage gesenkt wird? ich deutlich: theoretischer Wegfall — sie nicht tref- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) fen würde. Das heißt, sie hätten insgesamt nicht höhere Steuern, sondern niedrigere Steuern zu zah- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spöri, len. Das ist das Ziel der Bundesregierung. was Sie als merkwürdig oder nicht merkwürdig qualifizieren, ist Ihre Sache. Aber ich habe weder Vizepräsident Westphal: Sie haben eine weitere zugesagt, daß der Körperschaftsteuersatz gesenkt Zusatzfrage, Herr Lennartz. wird, noch habe ich etwas in die Richtung gesagt, die Sie hier unterstellen. Sie arbeiten permanent Lennartz (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie mit Unterstellungen. bei Ihren wieder sehr starken interpretationsfähi- (Zuruf des Abg. Dr. Spöri [SPD]) gen Antworten ausschließen, daß die angekündigte große Steuerreform bereits durch kompensatori- Ich weiß doch, welche Richtung Sie anstreben, Herr sche Maßnahmen bei der Lohnsteuer für einzelne Kollege Spöri. Ich brauche doch nur Ihre Presseer- Arbeitnehmer zu einer höheren Lohnsteuerbela- klärungen anzusehen. Das, was ich gesagt habe, gilt stung als nach geltendem Recht führt? in dem Maße, wie ich es gesagt habe, und ist einer Interpretation, wie Sie sie vornehmen, nicht fähig. Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich Dr. Voss, Zusatzfrage des Abgeord- habe soeben bereits gesagt: Denknotwendig kann Vizepräsident Westphal: neten Klejdzinski. ich nichts ausschließen. Ich sage Ihnen nur noch einmal, daß die Bundesregierung bei ihren Plänen die soziale Ausgeglichenheit und die soziale Ge- Dr. Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekretär, daß Sie rechtigkeit der steuerlichen Belastung in einem gerade erklärt haben, das, was Sie erklärt haben, Ausmaß im Auge haben wird, daß hier keine Beein- gelte in demselben Maße, wie Sie es gesagt haben, trächtigungen des jetzigen Zustands zu verzeichnen frage ich Sie: Was soll der Bürger im Grund genom- sein werden. men von Ihnen erwarten? Sagen Sie mir doch bitte mal konkret, wo die Lohnsteuerquote entlastet wird — weil Sie erklärt haben, der Bürger werde entla- Vizepräsident Westphal: Eine Zusatzfrage des Ab- stet und nicht belastet —, und sagen Sie mir bitte, geordneten Poß. wie hoch diese Entlastungen in Prozent bei der Lohnsteuerquote sind, und zwar möglichst durch Poß (SPD): Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht das ausgedrückt, was in DM herauskommt. Das wirklich auch, daß es an diesem Punkt nicht ein kann der Bürger draußen verstehen, aber nicht das, Gebot der Redlichkeit wäre, wenn die jetzige Bun- was Sie erzählen. desregierung den Wählern klar sagen würde, was sie denn in der Steuerpolitik zu erwarten haben für Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Erstens ist das, was den natürlich unwahrscheinlichen Fall, daß Sie Sie sagen, Herr Kollege, nicht im Zusammenhang diese Wahlen gewinnen werden? Das muß doch mit dieser Frage. wohl erwartet werden. Was wollen Sie den Leuten draußen sagen? (Dr. Klejdzinski [SPD]: Doch!) (Lennartz [SPD]: Blablabla!) Aber ich will Ihnen sehr einfach sagen, daß der Bür- ger sich ausrechnen kann, daß bei einer entspre- chenden Erhöhung des Grundfreibetrages, bei einer Parl. Staatssekretär: Der Steuerbürger Dr. Voss, entsprechend anderen Führung des jetzt progressi- kann nur sehr zufrieden sein, wenn die jetzige Bun- ven Tarifs — indem der Mittelstandsbauch wegfällt desregierung — wovon ich fest ausgehe — diese — und bei erhöhten Kinderfreibeträgen seine Steu- Wahl gewinnen wird. Denn dann weiß der Bürger, erbelastung deutlich niedriger sein mull und sein daß er es mit einer geringeren Steuerbelastung zu wird, als sie heute ist. Ich glaube, das versteht jeder tun haben wird. Bürger. Und wenn Sie das nicht verstehen, tut mir (Lachen bei der SPD) das leid. Wenn Ihre Partei dagegen die Wahl gewönne, Herr (Dr. Klejdzinski [SPD]: Herr Staatssekre- Kollege, dann — ich habe es ja verschiedentlich tär, es steht Ihnen überhaupt nicht zu, zu gesagt — ständen nur Steuererhöhungen bzw. Ab- beurteilen, ob ich das verstanden habe! Das bau von jetzigen Steuererleichterungen ins Haus. steht vielleicht dem Präsidenten zu!) (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!) — Ihnen steht das aber zu?

Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- neten Spöri. neten Jäger (Wangen).

Dr. Spöri (SPD): Herr Staatssekretär Voss, ist es Jäger (Wangen) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, nicht ein merkwürdiger Vorgang, daß Sie hier den können Sie bestätigen, daß die Bundesregierung Arbeitnehmern vor der Bundestagswahl nicht zusi- nicht im geringsten daran gedacht hat, die von dem chern können, daß die Zuschläge für Sonntags-, Fei- Kollegen Lennartz hier angesprochenen Steuerver- ertags- und Nachtarbeit steuerfrei bleiben, während günstigungen für Arbeitnèhmer anzutasten, wäh- Sie auf der anderen Seite sehr wohl zusichern kön- rend man aus dem Mund von SPD-Steuerreformern Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode - 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16655

Jäger (Wangen) ja Vorschläge zur Abschaffung des Arbeitnehmer- Howaldtswerke-Deutsche Werft AG, Kiel sind pri- freibetrags oder des Weihnachtsfreibetrags hört? mär Aufgaben des für die Unternehmensführung verantwortlichen Vorstandes. Er unternimmt, unab- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Es trifft zu, Herr hängig von Wahlterminen, alles in seinen Kräften Kollege, daß die Bundesregierung bisher in diese stehende, um die Beschäftigung der Werft nachhal- Richtung keine Beschlüsse getroffen hat und auch tig zu sichern. In Wahrnehmung der Eigentümer- nicht Beschlüsse in diese Richtung zu treffen ge- funktion wird er dabei von der Bundesregierung denkt. unterstützt. Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- Für einen Verkauf von HDW Kiel oder eine Über- neten Immer. lassung an einen privaten Erwerber bestehen bei der Bundesregierung keine Pläne. Immer (Altenkirchen) (SPD): Ich verzichte. Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Herr Gan- Vizepräsident Westphal: Jetzt kommt die Zusatz- sel. frage des Abgeordneten Dr. Apel. Gansel (SPD): Herr Staatssekretär, kann die Bun- Dr. Apel (SPD): Ich verzichte. desregierung ausschließen, daß im Vorstand ein neues Unternehmenskonzept erarbeitet wird, das Vizepräsident Westphal: Nun die Zusatzfrage des weitere 2 000 Entlassungen vorsieht? Abgeordneten Kübler. Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gan- Dr. Kübler (SPD): Ich verzichte. sel, ich wiederhole mich ungern. Aber ich habe in Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- dieser Fragestunde bereits viele Male gesagt, daß es neten Huonker. rein logisch und denknotwendig nicht möglich ist, etwas auszuschließen. Ich habe soeben in meiner Huonker (SPD): Herr Staatssekretär, da Sie die Antwort auf die Frage erklärt, daß es Aufgabe der Abschaffung dieser Zuschläge nicht ausschließen Unternehmensführung ist, wollen, sondern sagen, möglicherweise wird dann (von Hammerstein [CDU/CSU]: Sehr rich- der Tarif so gesenkt, daß durch die Abschaffung tig! Das reicht, darauf würde ich überhaupt dieser Zuschläge eine Steuererhöhung nicht statt- nicht mehr antworten!) findet, können Sie mir sagen, um wie viele Milliar- Konzepte zu entwickeln, die für eine langfristige den der progressive Tarif teurer würde, wenn Sie Sicherung der Arbeitsplätze sorgen. einen Chemiefacharbeiter steuerlich so stellen wol- len wie heute durch den Tarif, wenn Sie die Steuer- (von Hammerstein [CDU/CSU]: Sehr rich- freiheit der Zuschläge abschaffen? tig!) Ich gehe davon aus, daß die Unternehmensführung Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Auch Sie unterstel- das -- in diesem Fall auch mit Unterstützung der len etwas, Herr Kollege Huonker, was ich nicht Bundesregierung — tun wird. gesagt habe. Ich habe Ihnen soeben gesagt, daß der Idealfall — ob er in der Praxis erreichbar ist, wird Vizepräsident Westphal: Zweite Zusatzfrage, Herr noch zu prüfen sein — der wäre, daß überall dort, Gansel. wo eine Steuervergünstigung wegfällt, was eine Steuererhöhung zur Folge hat, durch andere Steu- Gansel (SPD): Ist dem Bundesfinanzministerium ersenkungen kompensiert werden muß, etwa durch bekannt, daß im Vorstand ein neues Unterneh- Erhöhung des Grundfreibetrags oder der Lineari- menskonzept in Fortschreibung des '83er-Unterneh- sierung des Progressionstarifs. menskonzepts entwickelt wird, das die Entlassung von 2000 Arbeitnehmern vorsieht, und wie werden Vizepräsident Westphal: Die Frage 88 des Abge- sich die Vertreter der Bundesregierung und die ordneten Dr. Mertens (Bottrop) und die Frage 89 Bundesregierung in ihrer Eigentümerverantwort- des Abgeordneten Dr. Weng (Gerlingen) sollen auf lichkeit dazu stellen? Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet (von Hammerstein [CDU/CSU]: Das ist die werden. Die Antworten werden als Anlage abge- gleiche Frage!) druckt. Wir kommen zur Frage 90 des Abgeordneten Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregie- Gansel: rung wird im Rahmen ihrer Zuständigkeit alles tun, Mit welchen Maßnahmen wird die Bundesregierung — ge- um die Arbeitsplätze zukünftig zu sichern, und da- gebenenfalls in Abstimmung mit der schleswig-holsteini- für sorgen, daß Unternehmenskonzepte erarbeitet schen Landesregierung — die Arbeitsplätze bei der im öf- werden, die eine Gewähr dafür bieten, daß die vor- fentlichen Eigentum befindlichen Kieler Großwerft HDW handenen Arbeitsplätze in dem möglichen Maße ge- über die Termine der bevorstehenden Bundes- und Land- tagswahlen hinaus sichern, und ist die Bundesregierung zu sichert werden. der verbindlichen Erklärung bereit, daß der Verkauf oder die Überlassung an einen privaten Erwerber ausgeschlossen Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- ist? neten Stutzer. Bitte schön, Herr Staatssekretär. Stutzer (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, können Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gan- Sie bestätigen, daß HDW in Kiel hinsichtlich des sel, unternehmenspolitische Entscheidungen der Sonderschiffbaus — Kriegsschiffbaus — weltweit 16656 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Stutzer einen hervorragenden Ruf hat, daß diese Werft Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage, Herr Gan- ohne diesen Sonderschiffbau auch für ausländische sel. Auftraggeber noch wesentlich mehr Arbeitsplätze als bisher verloren hätte und daß jeder Politiker, Gansel (SPD): Ist die Bundesregierung, die sich — der diesen Sonderschiffbau abbauen oder ein- wie soeben noch Sie — über die wirtschaftliche Zu- schränken will, weitere Arbeitsplätze in Gefahr kunft des Sonderschiffbaus in positivsten Tönen bringt? geäußert hat, in der Lage und bereit, dem Par- lament mitzuteilen — oder will sie es ihm verheim- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Das kann ich lichen? —, daß allein bei der Lieferung von zwei U- durchaus bestätigen, Herr Kollege. Ich kann zusätz- Booten an Peru im Endpreis 64 Millionen DM of- lich noch sagen, daß mir bekannt ist, daß die Quali- fengeblieben sind? fikation dieser Werft, insbesondere in dem von Ih- nen genannten Bereich, sehr, sehr hoch ist und all- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gan- gemein anerkannt wird. sel, aus den hier eben genannten Gründen kann ich (von Hammerstein [CDU/CSU]: Sehr gut!) zu diesem Einzelfall — wie auch zu anderen Einzel- fällen — keine Stellung nehmen. Vizepräsident Westphal: Zusatzfrage des Abgeord- neten Poß. Vizepräsident Westphal: Eine letzte Zusatzfrage, Herr Gansel. Poß (SPD): Herr Staatssekretär, ich frage Sie: Ist denn dem Hause, dem Bundesfinanzministerium, Gansel (SPD): An welcher Stelle und in welcher bekannt, ob ein solches Unternehmenskonzept, von Form wird die Bundesregierung Abgeordnete dar- dem Herr Gansel hier sprach, besteht, über informieren, ob diese Geschäfte von Unterneh- men, die im Bundeseigentum stehen, mit Waren, die (von Hammerstein [CDU/CSU]: Das ist einer besonderen Kontrolle, nämlich nach dem doch wieder die gleiche Frage!) Kriegswaffenkontrollgesetz, unterliegen, mit dem das den Abbau von 2 000 Arbeitsplätzen vorsieht? üblichen geschäftlichen Ergebnis oder mit Millio- nenverlusten wie in diesem Fall, wo es einen Ver- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es lust von 64 Millionen DM gegeben haben soll, abge- kommt nicht darauf an, welche Pläne und welche schlossen worden sind? Wo, verdammt noch mal, Konzepte mal da und dort debattiert werden. wird uns diese Bundesregierung informieren? (Gansel [SPD]: Für 2 000 Arbeitnehmer schon! Sie Dösbaddel! — von Hammerstein Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gan- [CDU/CSU]: „Dösbaddel" hat er gesagt, sel, die Bundesregierung ist in ihrer Informations- Herr Präsident! Haben Sie das gehört? — politik an gesetzliche Regelungen gehalten. Sie Gansel [SPD]: Doppelter Dösbaddel!) können von der Bundesregierung nicht verlangen, daß sie diese gesetzlichen Regelungen und Vor- — Herr Kollege Gansel, es kommt darauf an, was schriften verletzt. bei einem Konzept letztlich herauskommt. Und hier wird die Bundesregierung alles tun, um die vorhan- Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- denen Arbeitsplätze zu sichern, und zwar nicht nur ren, wir sind am Ende der Fragestunde. Die Fragen, für den jetzigen Zeitpunkt, sondern auch für die die nicht aufgerufen werden konnten, werden ent- Zukunft. sprechend der Geschäftsordnung schriftlich beant- wortet. Die Antworten werden als Anlagen abge- Vizepräsident Westphal: Also, Herr Abgeordneter druckt. Gansel, ich kann nicht qualifizieren, ob der Begriff, den Sie hier verwendet haben, rügefähig ist. Aber Die Fragen 92 und 93 des Abg. Urbaniak und 114 ich finde jedenfalls, daß er hier nicht eingeführt des Abg. Stutzer sind von den Fragestellern zurück- werden sollte. gezogen worden. Ich rufe nunmehr die Frage 91 des Abgeordneten Wir kommen nun entsprechend der Vereinbarung Gansel auf: vor der Pause zu Tagesordnungspunkt 4: Ist es zutreffend, daß sich die finanzielle Lage der Groß- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- werft HDW in Kiel u. a. dadurch verschlechtert hat, daß die peruanische Regierung sich geweigert hat, eine ausstehende desregierung eingebrachten Entwurfs eines Restzahlung aus einem Waffengeschäft in Höhe von 64 Mil- Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes- lionen DM zu begleichen? ausbildungsförderungsgesetzes (10. BAföGÄndG) Bitte schön, Herr Staatssekretär. — Drucksache 10/5025 — aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Parl. Staatssekretär: Aus allgemeinen Dr. Voss, Ausschusses für Bildung und Wissen- geschäftspolitischen Rücksichten ist die Bundesre- schaft (19. Ausschuß) gierung nicht in der Lage, interne Unternehmens- zahlen zu bestätigen oder zu kommentieren. Ich — Drucksache 10/5410 — bitte Sie für diesen Hinweis um Ihr Verständnis. Im Berichterstatter: übrigen wird selbstverständlich davon ausgegan- Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil gen, daß jeder Besteller seinen Verpflichtungen Frau Odendahl nachkommt. Neuhausen Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag. den 15. Mai 1986 16657

Vizepräsident Westphal bb) Bericht des Haushaltsausschusses derung der Freibeträge bei elternunabhängiger (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäfts- Förderung. ordnung Meine sehr verehrten Damen und Herren von der — Drucksache 10/5411 — Opposition, die siebte BAföG-Änderungsnovelle ist Berichterstatter: Ursache des Rückgangs der Quote der Geförderten. Abgeordnete Dr. Rose Hinzu kommt das von Ihnen 1981 verabschiedete Dr. Diederich (Berlin) 2. Haushaltsstrukturgesetz, das seit dem Herbst Dr. Müller (Bremen) 1983 wirksam geworden ist und das die negativen Einflüsse noch potenzierte. Hierzu zählen insbeson- (Erste Beratung 199. Sitzung) dere, daß erstens, wenn beide Elternteile über ein b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Einkommen verfügen, eine Senkung des zusätzli- Berichts des Ausschusses für Bildung und chen Freibetrages durchgeführt worden ist, daß Wissenschaft (19. Ausschuß) zu der Unter- zweitens die Leistungen für Fahrtkosten, für Stu- richtung durch die Bundesregierung Sech- dienfahrten, Lern- und Arbeitsmittel wegfallen und ster Bericht nach § 35 des Bundesausbil- daß drittens — das ist das Wesentliche - keinerlei dungsförderungsgesetzes zur Überprüfung Erhöhung der für 1982 fälligen Freibeträge und Be- der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vom- darfssätze durchgeführt wurde. Das heißt, es ent- hundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 standen Realeinbußen bei den Zuwendungen für Abs. 2 Schüler und Studenten. Erst durch die von uns vor- — Drucksachen 10/4617, 10/5410 — genommene Umstellung der Studentenförderung auf Darlehen ist uns die Option eröffnet worden, Berichterstatter: 1984, 1985 und auch in diesem Jahr mit der zehnten Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil BAföG-Änderungsnovelle reale Verbesserungen Frau Odendahl durchzuführen und den Trend der Verschlechte- Neuhausen rung der Zuweisungen zu stoppen. Zu Tagesordnungspunkt 4 a liegen ein Entschlie- (Beifall bei der CDU/CSU) ßungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5462 sowie ein Entschließungs- und Wir haben nicht wie Sie von der SPD den Studenten ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf den salamitaktikähnlich von Mal zu Mal das BAföG ge- Drucksachen 10/5480 und 10/5481 vor. kürzt. Vielmehr ist es durch die erfolgte Umstellung auf Darlehen und dem damit geleisteten Konsoli- Meine Damen und Herren, nach einer Vereinba- dierungsbeitrag möglich geworden, Verbesserun- rung im Ältestenrat sind für die Aussprache 60 Mi- gen überhaupt erst in Angriff zu nehmen. nuten vorgesehen. -- Dazu höre ich keinen Wider- spruch. Dann ist es so beschlossen. So darf ich daran erinnern, daß wir erstens die Bedarfssätze und Freibeträge von Elterneinkom- Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? men zum 1. August 1984 um durchschnittlich 4 % — Das ist nicht der Fall. und die Freibeträge zum Herbst 1985 um durch- Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das schnittlich 2 % angehoben haben; daß wir zweitens Wort hat Frau Pack. die Härten und Unstimmigkeiten, die durch das Haushaltsbegleitgesetz von 1983 und die neunte BAföG-Änderungsnovelle entstanden sind, gemil- dert haben. Ich darf daran erinnern, daß wir die Frau 'Pack (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Zahlung von BAföG an Schüler für den Monat Au- sehr verehrten Damen und Herren! Da ich die erste gust eingeführt haben; daß wir die Ausweitung der Rednerin bin, möchte ich eingangs gerne schon Übergangsregelung für die Grundwehr- und Zivil- dem widersprechen, was hier sicherlich nachher ve- dienstleistenden eingeführt haben; daß wir die Ein- hement wiederholt werden wird, nämlich dem Vor- beziehung von Auszubildenden, die ein Kind im ei- wurf, wonach diese Bundesregierung für den Rück- genen Haushalt betreuen, in die BAföG-Leistungen gang der Quote der durch BAföG geförderten Stu- bewirkt haben. denten verantwortlich sei. Dies trifft nicht zu! Der Rückgang ist das Ergebnis sozialliberaler Regie- In dem uns heute vorliegenden Entwurf eines rungspolitik, insbesondere hervorgerufen durch die Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbil- siebte BAföG-Änderungsnovelle und das 2. Haus- dungsförderungsgesetzes ist neben der Förderung haltsstrukturgesetz, die beide im Jahre 1981 verab- des außereuropäischen Studiums und der Aus- schiedet wurden. landspraktika eine Anhebung der Bedarfssätze um durchschnittlich 3 % und der Freibeträge um durch- Unter der SPD-Regierung wurden beim BAföG schnittlich 2 % zum Herbst 1986 und zum Herbst u. a. folgende drastische Verschlechterungen be- 1987 vorgesehen. So ist die Lage: Wir haben durch schlossen: erstens Eingrenzung der Förderung ei- Konsolidierung und antiinflationäre Politik den fi- ner weiteren Ausbildung, wenn man bereits einen nanziellen Spielraum geschaffen, der notwendig berufsqualifizierenden Abschluß erreicht hat, zwei- war, um überhaupt sozialpolitische Verbesserungen tens Wegfall der rückwirkenden Leistung von Aus- durchzuführen. bildungsförderung, drittens die Änderung des Ein- kommensbegriffs, viertens die Senkung der prozen- Auf Grund dieser Zielbestimmung und der Ergeb- tualen Sozialpauschale, fünftens die Begrenzung nisse der öffentlichen Anhörung, die wir zur BAföG- des Freibetrages für Kinder und sechstens die Min- Novelle durchgeführt haben, haben wir aber wei- 16658 Deutscher Bundestag — l0. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Frau Pack tere notwendige Verbesserungen durchgesetzt. Er- Situation der Familien detailliert zu analysieren, stens. Auf Antrag der Koalitionsfraktionen ist die Modellrechnungen zur Entlastung durch steuerli- von vielen behinderten Studenten und Studentin- che Maßnahmen vorzunehmen und dem Deutschen nen in Anspruch genommene Möglichkeit einer Bundestag über das Ergebnis dieser Untersuchung Verlängerung der Förderungshöchstdauer nach § 15 bis zum 31. Mai 1987 zu berichten und einen Lö- Abs. 3 Nr. 1 dergestalt verbessert worden, daß ei- sungsvorschlag vorzulegen. nem behinderten Studenten auf Antrag das über Zweitens. Von allen Seiten wurde in der öffentli- die Förderungshöchstdauer hinaus gezahlte Darle- chen Anhörung auch das Problem des Auseinander- hen erlassen wird. klaffens der Förderungshöchstdauer und der tat- Zweitens. Ausländische Schüler und Studenten, sächlichen Studiendauer vor Augen geführt. Wir deren Eltern in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, können uns nicht mit dem Hinweis auf die ausblei- bekommen über den bereits begonnenen Ausbil- bende Studienreform mit dem Ziel der Verkür- dungsabschnitt hinaus BAföG. Damit ist eine we- zung der Studienzeiten berufen, wenn es gilt, die sentliche Härte für die ausländischen Mitbürgerin- Examenszeit, die in fast allen Fällen außerhalb der nen und Mitbürger der zweiten Generation besei- Förderungshöchstdauer liegt, in die Förderung mit tigt worden. einzubeziehen. Hier müssen wir differenzierte Lö- sungen anstreben, die eine flexible Neuordnung der Drittens. Ebenfalls auf Antrag der Koalitionsfrak- Förderungshöchstdauer zum Ziele haben. tionen ist dafür Sorge getragen worden, daß verhei- ratete Auszubildende mit denjenigen gleichgestellt Des weiteren fordern wir die Bundesregierung werden, die mit einem Kind zusammenleben, auch auf, bei der nächsten Novelle Lösungen für die För- wenn von der Wohnung der Eltern aus eine geeig- derung von Postgraduierten-Studiengängen zu ent- nete Ausbildungsstätte erreichbar wäre. wickeln. Die Koalitionsfraktionen haben sich dann auch Hinsichtlich der bürgerlich-rechtlichen Unter- mit der Frage beschäftigt, ob bei fehlender Eltern- haltsverpflichtung sollten die Auswirkungen einer Kind-Beziehung eine auswärtige Unterbringung er- zeitlichen Begrenzung der Verpflichtung zur Ge- möglicht werden soll. Anlaß hierfür war eine Be- währung von Ausbildungsunterhalt auf das vollen- schlußfassung des Bayerischen Landtags. Die Frak- dete 27. Lebensjahr des Unterhaltsberechtigten mit tionen von CDU/CSU und FDP fordern die Bundes- einer großzügigen Ausnahmeregelung untersucht regierung auf, zunächst eingehend zu prüfen, ob und dargestellt werden. diesem Anliegen Bayerns durch eine Änderung der Meine sehr verehrten Damen und Herren von der entsprechenden Verwaltungsvorschriften Rech- Opposition, wir haben es nicht nötig, uns hinsicht- nung getragen werden kann. Falls das aus rechtli- lich der erreichten Steigerungen beim BAföG sozi- chen Gründen nicht möglich ist, wird die Bundesre- alpolitisches Fehlverhalten vorwerfen zu lassen. gierung gebeten, dieses Anliegen im Rahmen der Dies ist zuerst einmal an Ihre eigene Adresse zu elften BAföG-Änderungsnovelle aufzunehmen. richten. Ich habe bereits aufgelistet, was durch die Nicht alles, was wünschenswert wäre, kann in siebte BAföG-Änderungsnovelle und das 2. Haus- dieser Novelle durchgeführt werden. So weisen wir haltsstrukturgesetz unter einem SPD-Kanzler für heute bereits darauf hin, daß in der nächsten Legis- Schüler und Studenten vorgenommen worden ist. laturperiode durch die elfte BAföG-Änderungsno- Auch Ihr neuer Kanzlerkandidat, der ja in Nord- velle in weiteren Bereichen Verbesserungen durch- rhein-Westfalen regieren muß, und demzufolge dort gesetzt werden müssen. Erstens. Aus der öffentli- ablesbar ist, wie er das macht, hat den Haushaltsan- chen Anhörung zur zehnten BAföG-Änderungsno- satz für die Ausbildungsförderung von Schülern velle ist deutlich hervorgegangen, daß das staatli- von 360 Millionen DM um 50 % auf heute 133 Millio- che Transfersystem auf der einen und das Steuer- nen DM reduziert. recht auf der anderen Seite viele Familien in ein (Kuhlwein [SPD]: Dafür bezahlt er Sonder- sogenanntes „Mittelstandsloch" fallen läßt. Der programme für Ausbildungsplätze!) Präsident des Deutschen Studentenwerks Profes- sor Folz hat in der Anhörung deutlich gemacht, daß Wenn schon das böse Wort vom BAföG-Kahlschlag Familien, die zwischen 40 000 und 50 000 DM brutto immer von Ihnen in den Mund genommen wird, verdienen, einerseits kaum in der Lage sind, das dann trifft dies zuallererst auf die sozialdemokrati- Studium ihrer Kinder zu finanzieren, und anderer- sche Landesregierung in Düsseldorf zu. seits, selbst wenn es ihnen gelänge, eine Steigerung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des jährlichen Einkommens um 10 000 DM zu erzie- len, von diesem Betrag nur noch 1 000 DM verblie- Abschließend möchte ich nochmals betonen, daß ben, weil nämlich gleichzeitig Sozialleistungen weg- wir mit der heute vorgelegten zehnten Novelle zum fallen und die Steuerprogression zugreift. Hier BAföG wieder eine Erhöhung durchgesetzt haben, kann eine Erhöhung der Ausbildungsleistungen al- die dritte Erhöhung in den vier Jahren, seit wir lein nicht helfen. Doch im Verbund mit einer geziel- regieren. ten deutlichen Steuerentlastung für Familien mit Kindern, die soziologisch zur unteren Mittelschicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gerechnet werden, können die enormen finanziellen Durch die Koalitionsfraktionen sind weitere Ver- Belastungen für die Ausbildung ihrer Kinder gemil- besserungen vorgenommen worden, die wichtig wa- dert werden. Die Bundesregierung wird in diesem ren und die in der Anhörung gefordert wurden. Wir Zusammenhang aufgefordert, die wirtschaftliche erwarten, daß mit der elften Novelle im Jahre 1987 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16659

Frau Pack auch die von mir vorhin genannten Probleme noch hat es schon getan auf die Einschnitte der sieb - gelöst werden. ten BAföG-Novelle verweisen, Ich bedanke mich. (Frau Pack [CDU/CSU]: Immer wieder!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die wir — unter damals äußerst angespannter Haushaltslage — zu verantworten haben. Vizepräsident Westphal: Das Wort hat die Frau (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr unsozial Abgeordnete Odendahl. war das!) Aber das zieht heute schon deshalb nicht mehr, Frau Odendahl (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- (Günther [CDU/CSU]: Das war der eigentli gen! Liebe Kolleginnen! In der Tat, Frau Kollegin che Kahlschlag!) Pack, die Diskussionen der BAföG-Novellen der letzten drei Jahre haben alle eine gemeinsame De- weil Sie ja nun schon zweimal hinreichend Gele- battenstrategie: Die Regierung stellt mit einiger genheit gehabt hätten, dies wieder zu verbessern, Selbstzufriedenheit ihre Verbesserungen vor, und (Beifall bei der SPD) wir müssen Sie von der Regierungskoalition jedes- mal darauf hinweisen, daß Sie sich von Jahr zu Jahr vor allem angesichts der günstigen Wirtschaftsda- weiter von unserer gemeinsamen Zielsetzung des ten, auf die Sie sich ja immer wieder berufen. Jahres 1971 entfernen, durch die Gewährung indivi- (Kuhlwein [SPD]: Sehr richtig!) dueller Ausbildungsförderung auf eine berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzuwir- Mit der Erhöhung der Bedarfssätze um magere ken. Sie können es drehen und wenden — und im 3 % und mit ihrer dürftigen Erhöhung der Freibe- Wenden sind Sie ja Spezialist —, wie Sie wollen, die träge bleibt die Regierung selbst hinter dem zurück, Gefördertenquote ist von 1981 bis 1984 von 37 % auf was finanzpolitisch ohne weiteres möglich wäre. Sie 25% zurückgegangen. Die gesamten BAföG-Auf- drückt sich damit um eine generelle Verbesserung wendungen des Bundes gehen laufend zurück. Nach der BAföG-Förderung und vertröstet — auch das ist Ihrem Kahlschlag beim Schüler-BAföG gehen Sie schon Methode — auf die nächste, die elfte Repara- also Jahr für Jahr auch bei den Studenten auf die turnovelle. Null-Lösung zu. Letztlich bleibt jede BAföG-Novelle Der heute vorgelegte Entschließungsantrag der Flickwerk, wenn Sie nicht endlich den Willen und SPD-Fraktion greift die angesprochenen Probleme die Kraft aufbringen, die alle zwei Jahre vorge- auf. Er enthält einen konkreten Stufenplan, mit schriebene Anpassung zu einer ernsthaften Kurs- dem in drei Schritten innerhalb der nächsten sechs korrektur gegen Ihren BAföG-Kahlschlag zu nut- Jahre auf der Grundlage der kommenden BAföG zen. Änderungsgesetze die Bedarfssätze und die Frei- (Beifall bei der SPD) beträge so erhöht werden sollen, daß die BAföG- Förderung wieder den Lebenshaltungskosten ent- Denn wie das bei Flickwerk so ist — davon sollten spricht, daß also die Schere wieder geschlossen Sie auch etwas verstehen, Frau Kollegin —: Man wird und die Quote der insgesamt geförderten Stu- stopft die Löcher und übersieht dabei meist, daß die denten wieder auf etwa 40% ansteigt. Ränder längst ausgefranst sind. (Frau Pack [CDU/CSU]: Nein, das habe ich (Beifall bei der SPD) von meiner Mutter anders gelernt!) Außerdem verlangen wir eine flexiblere Handha- Die soziale Lage der Studenten hat sich in den bung — für Flexibilität sind Sie doch meistens — letzten Jahren erheblich verschlechtert. Die deutli- (Frau Pack [CDU/CSU]: Das haben wir ja chen Fakten der 11. Sozialerhebung konnten Sie bewiesen!) auch mit Ihrem Coup der Allensbach-Umfrage nicht entkräften; alle Experten haben das bei der durch- der Förderungshöchstdauer, die den Realitäten an geführten Anhörung noch einmal bestätigt. den Hochschulen angesichts der Überlast durch die geburtenstarken Jahrgänge entspricht. Durch die- Ich möchte hier jetzt den Streit, ob nun das Deut- sen Stufenplan soll das BAföG wieder zu einem sche Studentenwerk oder Frau Noelle-Neumann die wesentlichen Instrument der Chancengleichheit wirtschaftliche Lage der Studierenden besser beur- werden. teilen kann, nicht wieder aufwärmen. Es lohnt sich nicht, mit Ihnen darüber zu streiten, ob nun die Stu- Darüber hinaus fordern wir die sofortige Wieder- denten zwar weniger fürs Essen, so doch aber drei aufnahme der Förderung aller Schüler ab Klas- Mark mehr für Körperpflege ausgeben. Tatsache se 11, wie sie bis zum Dezember 1982 gegolten hat, ist, daß heute, wenn man das Jahr 1971 zum Aus- und die Rückkehr zum Teildarlehen bei der Studen- gangspunkt nimmt, zwischen dem Index der Förde- tenförderung, also die Abkehr vom BAföG-Kahl- rungshöchstsätze und der, Preisentwicklung bereits schlag. eine Schere von 23% klafft. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten (Günther [CDU/CSU]: Was Sie damals alles der GRÜNEN) versäumt haben!) Lassen Sie mich nun zu den einzelnen „Repara- Und jetzt kommt das, worauf Sie so dringend turmaßnahmen" kommen. Die von der SPD-Frak- warten: Nach Ihrer schon bekannten Debattenstra- tion angeregten Anträge für eine elternunabhän- tegie werden Sie ganz sicher wieder — Frau Pack gige Förderung für alle verheirateten Schüler und 16660 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Frau Odendahl für die Förderung der ausländischen Jugendlichen, Förderung herausgefallen sind, nicht schließen kön-- deren Eltern in die Heimat zurückgekehrt sind, ha- nen. Der von Ihnen so lauthals angekündigte Fami- ben Sie inzwischen übernommen. lienlastenausgleich findet also hier nicht statt; der ständige Exodus aus dem BAföG geht weiter. (Frau Pack [CDU/CSU]: Wir haben einen eigenen Antrag gestellt!) Bei den Bedarfssätzen haben Sie die von uns ge- forderte erste Stufenanhebung von 6 % abgelehnt Was die Verbesserungen für die behinderten Stu- und sind bei Ihren mageren 3 % geblieben. Dabei denten angeht, so ist es schließlich nur unserem können Sie sich noch so sehr auf Ihr günstiges Drängen zuzuschreiben, daß sie überhaupt von Preisniveau berufen; die Studenten kommen kaum Ihnen aufgenommen wurden. Es war schon be- in den Genuß, weil ihre festliegenden Kosten wie schämend, wie Sie sich bei den Vorbereitungen zur Mieten usw. erheblich angestiegen sind und damit BAföG-Anhörung dagegen wehrten, eine Interes- ihre Einkommenssituation viel mehr schmälern, als sengruppe der Behinderten überhaupt anzuhören. Sie sie gesundbeten können. (Beifall bei der SPD — Frau Pack [CDU/ (Zustimmung bei der SPD — Zuruf des CSU]: Das lag doch nur an der Interessen Abg. Daweke [CDU/CSU]) gruppe, nicht an den Behinderten!) Nun fordert der Antrag der GRÜNEN zur Exi- Und es kommt noch etwas: Wir hatten beantragt, stenzsicherung ein Grundeinkommen von 1 000 für Behinderte, deren Erwerbsfähigkeit um minde- DM pro Monat als Basis der Existenzsicherung für stens 80 % gemindert ist, die Förderungshöchst- Studenten. dauer um 12 Monate zu erhöhen und die Ausbil- dungsförderung - über die Förderungshöchstdauer (Beifall bei den GRÜNEN) hinaus für diesen Personenkreis als Zuschuß zu ge- Dies würde Mehraufwendungen für den BAföG-Be- währen. Wir halten es für unbillig, Studenten, die reich von rund 10 Milliarden DM bedeuten. wegen ihrer Behinderung länger gefördert werden, auch noch mit einer zusätzlichen Darlehensschuld (Zuruf der Abg. Frau Zeitler [GRÜNE]) zu belasten und damit ihre ohnehin gegebene Be- Wir halten es grundsätzlich für den falschen Weg, nachteiligung noch zu verstärken. in bestimmten gesellschaftlichen Sektoren ein Ihr Antrag für diese Personengruppe hat einen Grundeinkommen zu verankern, nachdem in vielen ganz groben Schönheitsfehler: Berufen — das kann man bedauern — die Tarif- strukturen noch darunterliegen, ganz abgesehen (Frau Pack [CDU/CSU]: Er ist von uns!) von der Einkommenssituation vieler Rentner. Sie gewähren diese durch die Behinderung be- (Ströbele [GRÜNE]: Das wollen wir doch dingte Mehrförderung nur dann als Zuschuß, wenn auch ändern!) der erfolgreiche Studienabschluß nachgewiesen wird. Bei der von Ihnen vorgesehenen Mehrförde- Hierüber einen gesellschaftlichen Konsens herzu- rung für Auslandsstudien, die Sie jetzt auf Staaten stellen dürfte derzeit nicht möglich sein. außerhalb Europas ausdehnen, wird diese von vorn- (Dr. Penner [SPD]: Degussa grüßt!) herein als Zuschuß gewährt — ein Vertrauensvor- schuß, den Sie ausgerechnet den Behinderten ver- Ganz unberücksichtigt bleibt die Tatsache, daß weigern wollen. viele Studenten ihr Studium nicht mehr im Rah- men der vorgesehenen Förderungshöchstdauer ab- (Beifall bei der SPD) schließen können, sei es auf Grund der erschwerten Wir haben gegen erweiterte Studienmöglichkei- Studienbedingungen angesichts der Überlast an ten im Ausland gar nichts einzuwenden, den Hochschulen oder weil sie zur Sicherung ihrer Existenz während des Studiums arbeiten müssen. (Zuruf von der CDU/CSU: Doch!) (Boroffka [CDU/CSU]: Nein, weil die Stu wenn gewährleistet ist, daß die Bundesregierung dienreform nicht durchgeführt worden für die dabei anfallenden Mehrkosten, wie z. B. Stu- ist!) diengebühren, die in den USA mancherorts mit gut 10 000 Dollar jährlich zu veranschlagen sind, zusätz- Unseren Antrag, ihnen wenigstens für das Examen liche Mittel bereitstellt und nicht durch ein soge- die Förderungshöchstdauer um sechs Monate zu nanntes BAföG de Luxe den ohnehin ständig verlängern, haben Sie nicht aufgenommen. schrumpfenden BAföG-Topf weiter schmälert. Für Die Anträge der SPD-Fraktion umfassen ein Ge- einen Skandal halten wir allerdings das zweierlei samtvolumen von rund 140 Millionen DM pro Jahr Maß, mit dem hier Behinderte und Studierende im für den Bund. Ausland gemessen werden. (Boroffka [CDU/CSU]: Das ist nicht viel, (Beifall bei der SPD — Zuruf der Abg. Frau abèr für manchen das ganze Geld, das er Pack [CDU/CSU]) hat!) Auch die von Ihnen vorgesehene Anhebung der Angesichts der in den letzten Jahren ständig zu- Elternfreibeträge halten wir für unzureichend. Da- rückgegangenen BAföG-Aufwendungen, die nun- mit werden Sie das in der Anhörung von allen Be- mehr nur noch 1,6 Milliarden DM betragen, und teiligten angesprochene Förderungsloch insbeson- einem Haushaltsrest aus dem letzten Jahr von rund dere für Mehrkinderfamilien mit mittlerem Ein- 50 Millionen DM ist das keine unbillige Forderung. kommen, die in den letzten Jahren aus der BAföG Die Regierungskoalition konnte bei ihrem Finanz- Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16661

Frau Odendahl minister ganze 20 Millionen DM Mehraufwendun- Meine Damen und Herren, es soll nicht vergessen gen für die Ausbildungsförderung locker machen, werden, daß natürlich nicht nur der Finanzrahmen, obwohl derzeit für nicht bildungspolitische Subven- sondern auch der Zeitrahmen für die jetzige No- tionen ganz andere Summen verteilt werden. velle eine große Rolle spielt. Dieser Zeitrahmen soll (Kuhlwein [SPD]: Hört! Hört!) ja dazu beitragen, daß die jetzt vorgesehenen Ver- besserungen in diesem Jahr und im nächsten Jahr Der Entschließungsantrag von CDU/CSU und pünktlich und nicht mit Verzögerungen in Kraft tre- FDP zeigt, wohin die Reise gehen soll: Sie schieben ten können. die Probleme weiter vor sich her und vertrösten auf die nächste BAföG-Novelle, also auf Ihr nächstes (Beifall bei der FDP) Flickwerk. Damit haben Sie zu verantworten — Meine Damen und Herren, nun kann man das jetzt sollten Sie zuhören, Frau Kollegin —, daß der alles, wenn man Opposition ist — mit Oppositionen soziale Numerus clausus an deutschen Hoch- habe ich ja Erfahrung —, um eines vermuteten schulen Einzug hält. Schaueffektes wegen überspielen und so tun, als (Beifall bei der SPD) wenn es diese realistischen Überlegungen nicht zu Die bildungspolitische Umkehr, die Rückkehr zur geben bräuchte, daß man nicht sehr viel längere Chancengleichheit haben Sie wieder einmal ver- Beratungszeiten bräuchte für strukturelle und an- paßt. dere Überlegungen, daß es keiner Abstimmungs- prozesse mit den Ländern bedürfte usw. Glaubwür- (Beifall bei der SPD) dig ist das natürlich alles nicht, vor allen Dingen dann nicht, wenn man sonst immer vor Schnell- Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abge- schüssen und ähnlichem warnt. ordnete Neuhausen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wohin das im Extremfall führt, habe ich wieder mit Neuhausen (FDP): Herr Präsident! Meine Damen Interesse von der Kollegin Odendahl gehört. Das und Herren! Wer das schwere Schicksal zu tragen war eine interessante Stellungnahme zu den Vor- hat, sich seit Jahren unter verschiedenen Vorzei- schlägen der GRÜNEN. Interessant war, daß Sie chen mit BAföG zu beschäftigen, der weiß erstens, diese beziffert haben, während Sie das, was Sie für daß er immer „pater peccavi" sagen muß, und er richtig halten, in Ihrer Rede in dem Maße nicht weiß zweitens, daß die großen Worte natürlich je- beziffert haben. derzeit ausgewechselt werden können, früher und jetzt, und daß es eigentlich angebracht ist, zur Meine Damen und Herren, es dient der Sache Sache zurückzukehren. Wir wissen ja, meine Da- überhaupt nicht, wenn man, wie zu lesen war, so tut, men und Herren, daß den Hintergrund der ja schon als ob sich die Lage der zu Fördernden durch die in den ersten beiden Beiträgen deutlich geworde- Novelle sogar verschlechtere. Die Sprache ist nen unterschiedlichen Meinungen ganz verschie- manchmal verräterisch. Da ist immer von einer dene Vorstellungen und Gesichtspunkte über die Schere die Rede, die sich durch diese Novelle noch Höhe der vorgesehenen Anpassungssätze, über ihr öffnen würde. Eine verblüffende Logik, wo es doch Verhältnis zur allgemeinen Preisentwicklung und um Erhöhungen und Anpassungen geht! über den sich für die zu fördernden Schüler und Studenten ergebenden Bedarf, aber auch über ganz (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) grundsätzliche strukturelle Fragen der Ausbil- Ich muß schon sagen, das ist sehr verwunderlich. dungsförderung bilden. Da gibt es auch im Hinblick Wir haben einige strukturelle Verbesserungen auf die Vergangenheit und die Gegenwart immer durchgeführt, für die Sie nun interessanterweise das Spannungsverhältnis zwischen dem Wün- auch noch die Autorenschaft in Anspruch nehmen. schenswerten und dem Machbaren. Jetzt ist als Im gleichen Atemzug kritisieren Sie sie dann aber. neue Variante noch der Streit der Demoskopen hin- Dazu gehört — das wurde schon erwähnt —, daß zugekommen. Das ist alles sehr belebend. den behinderten Studenten auf Antrag ein Darle- Realistisch gesehen war es von vornherein klar, hensteil für ihre zusätzliche Studienzeit erlassen daß die finanziellen Rahmenbedingungen für diese wird. Ich halte diese Regelung für eine gute Rege- zehnte Novelle keine solchen Ausweitungen zulie- lung. Den Streit über Zuschuß oder Darlehen halte ßen, wie sie in manchen Forderungen enthalten wa- ich für einen Streit um des Kaisers Bart. ren. Wie im Bericht des Ausschusses vermerkt ist, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hätte eine zusammenfassende Berücksichtigung al- ler in der Anhörung vorgetragenen Forderungen ei- Es kommt darauf an, daß die behinderten jungen nen Finanzbedarf ergeben, der den bildungspoliti- Menschen eine Förderung erhalten. Eingeführt schen Spielraum des Bundes und der Länder in wird, daß hier aufgewachsene junge Ausländer einem nicht vertretbaren Umfang eingeschränkt künftig auch dann eine Förderung erhalten, wenn hätte. Das ist realistisch gesehen der springende ihre Eltern in die Heimat zurückgekehrt sind, wofür Punkt. Dennoch halte ich — leidgeprüft — die Dis- sich im übrigen ebenfalls die Ausländerbeauftragte kussion und die Kritik — auch wenn die Kritik von der Bundesregierung, Frau , sehr Ihrer Seite als überzogen zu charakterisieren ist — intensiv eingesetzt hat. Eingeführt wird weiter, daß im Prinzip für nützlich, weil sie immer wieder den verheiratete Auszubildende in Zukunft auch dann Stachel im Fleisch hinterläßt, über den Tag hinaus- eine Förderung erhalten, wenn sie von der Woh- zudenken. nung ihrer Eltern aus einer Ausbildungsstätte er- 16662 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Neuhausen reichen können. Schließlich wird eingeführt — Sie Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her-- haben es erwähnt; ich will nicht alle Einzelheiten ren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich Sie wiederholen —, daß das Studium im außereuropäi- darauf aufmerksam machen, daß wir Gäste haben. schen Ausland künftig in gleicher Weise wie das Auf der Ehrentribüne hat die Präsidentin der Abge- Studium in Europa gefördert wird. ordnetenkammer der italienischen Republik, Frau Professor Dr. Leonilde Iotti, mit einer Delegation Wer das alles nicht anerkennt oder mit allzu kriti- Platz genommen. schen und, so möchte ich fast sagen, scholastischen Randbemerkungen versieht, der setzt sich dem Ver- (Beifall) dacht aus, daß es ihm nicht um diese Verbesserun- Ich habe die Ehre, Frau Präsidentin, Sie im Namen gen geht, sondern er die weitergehenden Forderun- des Deutschen Bundestages herzlich willkommen gen — wo gäbe es die nicht, die gibt es auch bei mir zu heißen. Ihr Besuch in der Bundesrepublik — nur als Mittel zur Vernebelung tatsächlicher Deutschland unterstreicht die traditionell freund- Fortschritte benutzt. schaftlichen Beziehungen zwischen unseren Län- dern und unseren Parlamenten. Ich wünsche Ihnen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nützliche Gespräche und Begegnungen in der Bun- Meine Damen und Herren, dafür ist mir, ist uns die- desrepublik Deutschland und einen angenehmen ses Thema zu ernst. Aufenthalt in unserem Lande. Der Bericht des Ausschusses stellt klar, daß das Das Wort hat die Abgeordnete Frau Zeitler. Thema der Ausbildungsförderung über diese No- velle hinaus auf der Tagesordnung bleibt. Insbeson- Frau Zeitler (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Da- dere soll die Bundesregierung aufgefordert werden men und Herren! Es erübrigt sich, zu dem Anpas- — das wurde erwähnt —, die wirtschaftliche Situa- sungsgesetz der Bundesregierung etwas zu sagen. tion von Familien mit mittlerem Einkommen zu un- (Frau Pack [CDU/CSU]: Dann setzen Sie tersuchen. Auch soll über eine flexiblere Handha- sich wieder!) bung der Förderungshöchstdauer nachgedacht wer- den. Denn in der Tat wird damit ein Thema aufge- Die Anhörung, die im Ausschuß dazu stattfand, war griffen, das im Spannungsverhältnis zwischen der für die Regierung und die sie tragenden Parteien Notwendigkeit der allgemein geforderten Verkür- ein Trauerspiel. Nicht einmal die von ihnen selbst zung der Studienzeiten einerseits und der Tatsache gewählten Gäste wollten sich bescheiden. Niemand steht, daß nicht in jedem Fall der Student für das aus der Runde der Experten, weder vom RCDS Überschreiten dieser Höchstdauer verantwortlich noch von der Westdeutschen Rektorenkonferenz, zu machen ist. den Gewerkschaften oder dem VDS, will sich mit den momentanen BAföG-Regelungen zufriedenge- Ich möchte vor allem an den im Bericht enthalte- ben. Was gewünscht wird und was ich will, ist end- nen Hinweis anknüpfen, daß die in der Beschluß- lich einmal eine grundsätzliche Debatte. Hier ist empfehlung genannten Prüfungsaufträge keinen auch die SPD gefordert. Sie sollte sich nicht immer abschließenden Katalog der weiter in Diskussion auf Rückzugsgefechte einlassen. stehenden Frage der Ausbildungsförderung darstel- (Sehr richtig! bei der CDU/CSU — Kuhl len. Wir — ich spreche für die FDP — halten wei- tere Schritte zur Neuordnung und Verbesserung wein [SPD]: Wir weisen weit in die Zu der individuellen Ausbildungsförderung für Schü- kunft!) ler, Berufsschüler und Studenten für notwendig. Ich Das große Lamentieren über die Haushaltskonso- hätte mir z. B. gewünscht, daß es schon jetzt mög- lidierung zieht nicht mehr. In den Mittelpunkt der lich gewesen wäre, den beruflichen, den klassischen Kritik ist die Elternabhängigkeit geraten. Denn zweiten Bildungsweg in Berufsaufbauschulen und nichts anderes wird kritisiert, wenn über Freibe- Fachoberschulen, die eine berufliche Ausbildung träge geredet wird. Es ist auch ein Witz, wenn von voraussetzen, der Ausbildung in Abendgymnasien sozialer Chancengleichheit durch BAföG geredet und Kollegs gleichzustellen. Überhaupt bleibt die wird und jede Lohnerhöhung der Eltern nicht deren unterschiedliche Schülerförderung der Länder ein Etat aufbessert oder ausgleicht, sondern zum gro- Problem, das den Wunsch nach einer besseren Ab- ßen Teil auf das BAföG der Kinder angerechnet stimmung der Förderungskonzepte von Bund und wird. Ebenso windig sind die Kinderfreibeträge in Ländern immer wieder von sich aus auf die Tages- Höhe des Kindergelds. Das ist kein Freibetrag vom ordnung bringt. Daß ich die Auswirkungen der Dar- Elterneinkommen, sondern die Nichtanrechnung ei- lehensteilerlaßverordnung für Studenten ebenfalls ner sozialen Unterstützungsleistung. Alles andere für problematisch halte und das ganze Kapitel der wäre eine Kürzung des Kindergelds als Strafe für Darlehensförderung noch Raum für gestaltende Bildungshungrige. Im Grunde genommen ist die El- Phantasie läßt, brauche ich nicht zu verschweigen. ternabhängigkeit eine Regelung, die — egal wie man sie dreht und wendet — Ungerechtigkeit und Heute, meine Damen und Herren, geht es aber Härten erzeugt. Außerdem hat sie in einer Gesell- darum, das im Finanzrahmen und im Zeitraum und schaft wie der unseren auch kein traditionelles bei realistischer Beurteilung Machbare zu verwirk- Fundament mehr. lichen. Das begrüßen wir. Das unterstützen wir. Deshalb stimmen wir der 10. Novelle zu. (Berger [CDU/CSU]: Bald gibt es auch keine Eltern mehr!) Vielen Dank. Die Eltern-Kind-Abhängigkeit ist in einer unifor (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men Gesellschaft wie der unseren, in der jeder Er- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16663

Frau Zeitler wachsene auf sich selbst gestellt ist und in der die schichten über den Familienlastenausgleich Unter- soziale Absicherung weitgehend vergesellschaftet stützung erhalten, die dann nicht rückzahlbar ist. - ist, ein Relikt. (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord (Beifall bei den GRÜNEN — Frau Pack neten der SPD) [CDU/CSU]: In einer solchen Gesellschaft Außerdem sind Studierende die einzige Gruppe wollen wir gar nicht leben!) in unserer Gesellschaft, denen zugemutet wird, daß Von den Jugendlichen wird erwartet, daß sie für sie mehrere Jahre ihres Lebens auf Pump leben. einen Ausbildungsplatz die Stadt, ja, sogar das Bun- Das heißt: Jeden Monat wächst ihr Schuldenberg, desland wechseln. Spätestens wenn es um einen und das sind Leute, die nicht nach dem Motto leben Studienplatz geht, wird Flexibilität und Unabhän- können: Meine Kredite zahlt das Finanzamt. Diese gigkeit erwartet. Andere Länder haben daraus Belastung, die sich in den schwindenden Förder- schon längst den logischen Schluß gezogen, die Un- quoten niederschlägt, muß geändert werden. Zu- terhaltspflicht der Eltern mit der Volljährigkeit en- mindest eine Zuschußförderung in Höhe eines den zu lassen. Dieser Schritt steht auch in der Bun- durchschnittlichen Sozialhilfeeinkommens ist zu desrepublik an. gewährleisten. (Vogel [München] [GRÜNE]: Richtig!) Hinsichtlich der übrigen Punkte verweise ich Sie auf unseren Antrag. Deshalb ist unsere erste Forderung die nach el- ternunabhängiger Förderung. Danke. (Beifall bei den GRÜNEN) (Daweke [CDU/CSU]: Für alle?) Unsere zweite Forderung ist sehr existentieller Natur. Die permanenten Verweise auf die Finan- Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abge- zierbarkeit führen dazu, daß nicht mehr darüber ordnete Vogelsang. geredet wird, wieviel Geld man braucht, um in unse- rer Gesellschaft, in der ja alles über Geld geregelt ist, zu überleben. Das Einkommen von sozial Ab- Vogelsang (SPD): Herr Präsident! Meine Damen hängigen bemißt sich vielmehr danach, was im und Herren! Ich habe soeben von der Kollegin Zeit- Haushaltsplan übrigbleibt. Einmal abgesehen von ler gelernt, was Volkes Meinung ist: Über Geld re- aller Kritik am Haushaltsplan wird hier das Pferd det man nicht, Geld hat man. von hinten aufgezäumt. Ehrlich gesagt denke ich, (Ströbele [GRÜNE]: Leider nicht!) daß diese abgehobene Haushaltsführung nur Abge- Sie müssen korrekterweise immerhin dazusagen, ordneten und ähnlichen Leuten gelingt, die selbst daß, wenn nur ein Teil Ihres Antrages, nämlich die nicht von den von ihnen beschlossenen Unterstüt- elternunabhängige Förderung, verwirklicht würde, zungsleistungen leben müssen. das den Steuerzahler pro Jahr allein 8,5 Milliarden Nun ist ja beim BAföG ganz erheblich gekürzt DM kosten würde. worden. Nicht nur daß die Bedarfssätze ungenü- (Ströbele [GRÜNE]: Vorhin waren es noch gend angehoben wurden, nämlich um 20 % weniger, 10 Milliarden DM!) als die Lebenshaltungskosten gestiegen sind, son- dern es ist auch eine Streichung der Zusatzleistun- Ich wollte nur auf die Größenordnung hinweisen. gen wie Familienheimfahrten, Studienfahrten, Zu- (Ströbele [GRÜNE]: Sie sollten sich mal ei schüsse für Lern- und Arbeitsmittel vorgenommen nigen!) worden. Das sind Kürzungen der Studenteneinkom- So ganz einfach ist es nicht. Ich habe von einem men. Für uns ist klar: Ob es um BAföG, Sozialhilfe Punkt gesprochen. Wir sind uns schon einig, wir oder Rente geht — unter 1 000 DM im Monat läuft kennen das schon. in diesem Staat nichts mehr. Das Argument, es gebe Leute, die weniger als 1 000 DM im Monat ver- Ich möchte noch einen kleinen Hinweis dem Kol- dienen, ist schlimm genug. legen Neuhausen geben. Herr Neuhausen, Frau Odendahl hat die Kosten unserer Anträge beziffert, (Beifall bei den GRÜNEN) nämlich 140 Millionen. Ich wollte das nur der Voll- Es ist eine Schande, daß viele Leute in unserem ständigkeit halber erwähnen. Land nicht von ihrer Arbeit leben können. Beginnen möchte ich mit einem Zitat — dabei (Vogel [München] [GRÜNE]: Richtig!) kann mir am wenigsten passieren — von dem Vor- sitzenden der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Lassen Sie mich noch einen dritten Punkt anfüh- Herrn Professor Theodor Berchem, der gesagt hat: ren; die anderen bitte ich in unserem Antrag nach- zulesen, denn meine Redezeit ist ja mehr als knapp. Der drastische, ja besorgniserregende Rück- — Die Umstellung der Ausbildungsförderung auf gang der Gefördertenquote von einem Drittel die volle Darlehensregelung ist umgehend abzuän- auf ein Viertel der Studenten wird vor allem als dern. Sie ist bestimmt kein Beitrag zur Chancen- Folge der Ausgrenzung von Kindern aus Fami- gleichheit, sondern sie ist sozial ungerecht. Es ist lien mit sogenanntem mittlerem Einkommen ungerecht gegenüber Studierenden aus finanziell beurteilt. schwächeren Einkommensschichten — denn diese Nun haben wir uns eben schon darüber ausge bekommen j a BAföG —, daß sie zurückzahlen müs- tauscht: Bei wem liegt die Ursache? Aber es würde sen, während mittlere und obere Einkommens- ja nun schon mal viel mehr helfen, wenn wir die 16664 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Vogelsang Beurteilung teilten, daß in der Tat, wie Berchem Vogelsang (SPD): Was Sie hier fordern, ist hin- sagt, dieser Rückgang besorgniserregend ist; sichtlich der steuerlichen Leistungen so undifferen-- (Beifall bei der SPD) ziert, daß diese Detailfrage, die Sie stellen, und über die aus meiner Sicht bei diesem Personenkreis denn dann erst würden wir auch zu . Mitteln und durchaus zu diskutieren ist, hieraus überhaupt Möglichkeiten finden, wie wir diesen Rückgang nicht erkennbar wird. Wenn Sie nur die über 27jäh- stoppen bzw. ihn rückgängig machen können. Daß rigen meinen, dann wäre es zweckmäßig gewesen, Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Koalitions- Sie hätten dieses auch in dieser Deutlichkeit hin- fraktion, das gleichermaßen beurteilen und das letz- eingeschrieben. Sie haben aber nur allgemein von ten Endes auch so sehen, wird ja aus dem Ent- steuerlichen Entlastungen gesprochen; ich habe Ih- schließungsantrag, den der Ausschuß mit Mehrheit ren Antrag soeben zitiert. gefaßt hat, deutlich. Nur wissen Sie auch, daß diese zehnte Novelle zu diesem Thema keinen Beitrag lei- Nun will ich noch zu einem anderen Teil kom- stet; men, den auch Professor Dr. Berchem angespro- (Zustimmung bei der SPD) chen hat. Wir benötigen angesichts der durch die Überlastung und Sparpolitik der Länder bedingten denn wenn Sie einmal die finanzielle Vorausschau erheblich erschwerten Studienbedingungen mehr ansehen, dann stellen Sie fest, daß die finanziellen Flexibilität in der Förderungsdauer. Ich verstehe Aufwendungen in den nächsten Jahren nach der nicht, warum Sie sich auf diesem Felde so unend- mittelfristigen Finanzplanung nicht steigen wer- lich schwertun. Natürlich ist es so, daß Sie in einem den, trotz höherer Einzelleistungen. Das heißt also, ganz kleinen Bereich etwas nachlassen; aber wer der Kreis derer, die gefördert werden, wird eher sich von einer Zuschußregelung beim BAföG völlig kleiner als größer. Das ist ein Punkt, für den es der abwendet und zu einer Darlehensregelung kommt, geistigen Anstrengung dieses Parlamentes be- muß auch vom Grundsatz überlegen, ob damit alle dürfte. Einschränkungen, die bei einer Zuschußregelung Nun will ich noch zu einem anderen Punkt kom- noch rechtens und notwendig sind, bei einer Darle- men, der in Ihrem Entschließungsantrag steht. Sie hensregelung noch sozial vertretbar bleiben. Ich wollen die Ausweitung dieses Förderungskreises verstehe nicht, warum Sie hier so eng sind und geprüft wissen, und der Bundesregierung erteilen nicht auf die allgemein geforderte Verlängerung Sie einen Auftrag — ich sage das deshalb so, weil der Zuschußmöglichkeiten bzw. der Darlehensge- wir diesem Bereich nicht zustimmen werden, und währungen hier eingehen; denn das ist auch in Ih- ich erkläre jetzt warum —, darüber nachzudenken rem Antrag enthalten, weil Sie da wohl selber ein bzw. Modelle zu entwickeln für indirekte, insbeson- schlechtes Gewissen haben. Sie fordern die Bundes- dere steuerliche Maßnahmen, für direkte Leistun- regierung jetzt auf, darüber nachzudenken; Denken gen sowie für Anreize und Hilfe zu eigener Vor- kann nie falsch sein. Wir sollten nicht so tun, als ob sorge oder zu einer Kreditaufnahme. Nun ist ja BA- wir nicht alle eine Lösung dafür wüßten. Es handelt föG sowieso schon eine Kreditaufnahme bei den sich hier im Grunde um die Verzögerung der Lö- Studenten. Sie müßten mal sagen: Wollen Sie von sung eines Problems, das wir alle kennen, dessen der direkten Förderung nach dem Bundesausbil- Lösung wir alle bejahen; aber Sie wollen sich zu- dungsförderungsgesetz weg, wollen Sie also zu ei- mindest Zeit verschaffen. Da frage ich noch einmal: ner wie auch immer gearteten Mischförderung, Wieviel Zeit wollen Sie sich schaffen? Bezogen auf oder wollen Sie zu einer steuerlichen Entlastung die mittelfristige Finanzplanung wollen Sie also auf kommen, deren Wirkung Sie im allgemeinen ken- diesem Feld vor 1989 nichts tun; denn dafür sind in nen, die auch wir kennen, die wir aber nicht wollen, der mittelfristigen Finanzplanung keine Mittel ent- weil Sie damit möglicherweise mittlere und höhere halten. Einkommen entlasten, aber die niedrigen nicht? Nun räume ich Ihnen ja ein: Natürlich enthält (Beifall bei der SPD) diese Zehnte Novelle Verbesserungen; Das sind Punkte, weshalb wir nicht in der Lage (Frau Pack [CDU/CSU]: Das ist aber sind, diesem Teil der Beschlußempfehlung des Aus- schön!) schusses zuzustimmen. das ist doch selbstverständlich. Ich würde auch Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, ge- nicht jede Novelle, die bisher gemacht worden ist — statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten das trifft mich dann sogar ein bißchen persönlich — Boroffka? als Reparaturwerk bezeichnen. Sie ergibt sich ein- fach auch aus veränderten Zahlen, Lebenshaltungs- kosten usw. Vogelsang (SPD): Bitte. (Frau Pack [CDU/CSU]: Vielen Dank! An Boroffka (CDU/CSU): Herr Kollege, wie wollen Sie ders als die Kollegin Odendahl!) angesichts der Tatsache, daß fast ein Viertel aller — Zu Ihrem Zwischenruf: Das verstehe ich auch. Studierenden älter als 27 Jahre alt sind und nach Die Kollegin Odendahl ist auf diesem Felde noch der geltenden steuerlichen Regelung mit Vollen- etwas mehr im Stande der Unschuld als ich, der ich dung des 27. Lebensjahres sämtliche steuerliche Er- von Anfang an alle Novellen mit vertreten habe — leichterungen grundsätzlich wegfallen, für diesen fast so wie Herr Neuhausen, der immer dabei ist, Personenkreis mit steuerlichen Erleichterungen ar- wenn es darum geht, die Novellen zu vertreten. In- beiten? soweit räume ich Ihnen auch gern ein: Es kann nie- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16665

Vogelsang mand, auch keine Regierung, so schlecht sein, daß keine Wolkenkuckucksheime errichten. Insgesamt ihr nicht auch irgend etwas Gutes gelingt. machen die Forderungen der Oppositionsfraktio- - (Beifall bei der SPD) nen 8,7 Milliarden DM aus. (Kuhlwein [SPD]: Kumuliert?) Vizepräsident Westphal: Das Wort hat die Frau Herr Kollege Vogelsang, die Forderungen der SPD Minister für Bildung und Wissenschaft. Fraktion machen nicht nur 140 Millionen aus, son- dern Sie haben gefordert, den alten Zustand von 1983 wiederherzustellen, was die Schüler- und Stu- Frau Dr. Wilms, Bundesminister für Bildung und dentenförderung angeht. Das macht 900 Millionen Wissenschaft: Herr Präsident! Meine Damen und plus 140 Millionen, insgesamt also über eine Milli- Herren! Das Zehnte BAföG-Änderungsgesetz, das arde allein seitens der SPD-Fraktion. die Bundesregierung vorgelegt hat, ist vom Deut- schen Bundestag zügig und gründlich beraten wor- Nun habe ich mir mal die Mühe gemacht — das den; damit sind die Weichen dafür gestellt, daß das interessiert einen ja —, zu ermitteln, was 8,7 Milli- Gesetz so rechtzeitig in Kraft treten kann, daß arden DM Mehrausgaben bedeuten würden. Der Schüler und Studenten mit dem nächsten Schuljahr Bund übernimmt zwei Drittel, die Länder überneh- bzw. mit dem nächsten Semester in den Genuß der men ein Drittel. Das würde bedeuten, daß allein das Leistungsverbesserungen kommen. Dafür möchte Land Nordrhein-Westfalen 800 Millionen zusätzlich ich den herzlichen Dank an das Hohe Haus zum tragen müßte. Ich frage das Land Nordrhein-West- Ausdruck bringen, allen Mitgliedern, insbesondere falen, ob es sich überhaupt in der Lage sieht, ange- den Mitgliedern des federführenden Ausschusses sichts seiner desolaten Finanzsituation so etwas zu und der mitberatenden Ausschüsse. finanzieren. Ich frage das auch deshalb, weil das Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 1980 163 Millio- Ich begrüße auch ausdrücklich die inhaltlichen nen für die Schülerförderung nach dem BAföG aus- Verbesserungen, die das Gesetz auf dem parlamen- gegeben hat und heute für die Förderung nach dem tarischen Weg erfahren hat. Insgesamt sieht der BAföG und die Landesförderung insgesamt 60 Mil- Gesetzentwurf nunmehr folgende Verbesserungen lionen ausgibt. Ich glaube also, wir sollten hier auch für Schüler und Studenten vor: die Bundesländer nicht über die Maßen in An- Erstens. Die Bedarfssätze und die Elternfreibe- spruch nehmen und keine Forderungen stellen, die träge werden jeweils um rund 4% angehoben. Die die Bundesländer gar nicht erfüllen könnten, ganz Pauschalen für die soziale Sicherung werden ange- davon abgesehen, daß in Nordrhein-Westfalen die paßt. Bedarfssätze und die Freibeträge der landeseige- Zweitens. Das Studium im außereuropäischen nen Schülerförderung bislang auf dem Niveau von Ausland wird künftig in gleichem Umfang wie in 1983 festgeschrieben sind und hier keine Änderung Europa gefördert. in Sicht ist. Drittens. Die Förderung der Auslandspraktika wird erweitert. Vizepräsident Westphal: Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Viertens. Die Gewährung des Kinderteilerlasses Kuhlwein? bei der Darlehensrückzahlung wird erleichtert. Fünftens. Behinderten Studentinnen und Studen- Frau Dr. WIlms, Bundesminister für Bildung und ten wird künftig der Förderungsbetrag erlassen, Wissenschaft: Bitte schön. den sie während einer behinderungsbedingten Ver- längerung ihres Studiums erhalten haben. Vizepräsident Westphal: Bitte schön. Sechstens. Junge Ausländer, die hier aufgewach- sen und in unser Bildungssystem integriert sind, können künftig auch nach Rückkehr ihrer Eltern in Kuhlwein (SPD): Frau Minister Wilms, würden Sie ihr Heimatland Förderung für eine weitere Ausbil- uns auch sagen, wieviel Geld das Land Nordrhein- dung erhalten. Westfalen für außerbetriebliche Ausbildungsplätze ausgeben muß, weil die Bundesregierung in diesem Siebtens. Verheiratete Schüler können auch dann Bereich ihrer Verantwortung nicht ausreichend gefördert werden, wenn von der Wohnung ihrer El- nachkommt? tern aus eine geeignete Ausbildungsstätte erreich- bar ist. Frau Dr. Wilms, Bundesminister für Bildung und Ich glaube, es wäre wirklich verfehlt, hier nur von Wissenschaft: Ich würde das gern tun. Ich habe die Reparaturen zu sprechen. Hier sind echte Leistun- Zahl nicht präsent. Ich reiche es gern schriftlich gen festgelegt, die den jungen Menschen ab sofort nach. Wir haben jetzt eine Diskussion über die zugute kommen. Schülerförderung, und dazu habe ich Ihnen die amt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichen Zahlen vorgetragen. Nun hat jeder von uns sicher auch noch Wünsche. Im übrigen: Die Kritik, die Anhebungen der Be- Aber die 10. BAföG-Änderung kann nicht alle Wün- darfssätze und Freibeträge seien zu gering, vermag sche erfüllen. ich überhaupt nicht zu teilen. Denn man muß diese Die Vorschläge, die die Oppositionsfraktionen ge- 4 % jeweils vor dem Hintergrund der Preisstabilität macht haben, gehen weit über das Maß dessen hin- in unserem Land sehen. aus, was finanzierbar ist. Insoweit sollten Sie hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 16666 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Bundesminister Frau Dr. Wilms Dem Regierungsentwurf vom Dezember 1985 lag Ich möchte abschließend bemerken, daß das noch die Annahme zugrunde, daß die Lebenshal- 10. BAföG-Änderungsgesetz erheblich zur Siche- - tungskosten 1986 um 2% steigen werden. Nun ha- rung und Verbesserung der Lebenssituation von ben wir eine vollkommene Preisstabilität. Ja, der Schülern und Studenten in Zeiten stabiler Preise Preisindex ist im April sogar zurückgegangen. Da- beiträgt. Dafür bedanke ich mich. her habe ich kein Verständnis dafür, daß die Oppo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sition — jedenfalls im Ausschuß — der Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge nicht zugestimmt hat, obwohl dies eine echte Verbesserung für die Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- Familien, für die jungen Menschen ist. Ich sage ren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich noch einmal: Die Anhebung von Freibeträgen und schließe die Aussprache. Bedarfssätzen muß immer vor dem Hintergrund Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Ab- des Preis-Kosten-Index gesehen werden. stimmung über Tagesordnungspunkt 4 a, den von (Beifall bei der CDU/CSU) der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 10/5025. Ich begrüße nun auf der anderen Seite den Ent- Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache schließungsantrag der Koalitionsfraktionen zur 10/5480 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD weiteren Entwicklung des Bundesausbildungsför- vor. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen derungsgesetzes sehr. Er erkennt an, daß die so- wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer ziale Grundsicherung — darauf lege ich Wert, Herr stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Kollege Vogelsang; Sie haben soeben danach ge- Änderungsantrag mit Mehrheit bei einer Reihe von fragt — durch das Bundesausbildungsförderungs- Enthaltungen abgelehnt. gesetz gegeben ist, und so soll es auch bleiben. Wer Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen Der Antrag der Koalitionsfraktionen unterstützt wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer mich auch in dem Anliegen, das bereits in dem stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? Bericht der Bundesregierung zur Sicherung der Zu- — Dann ist die aufgerufene Vorschrift in der Aus- kunftschancen der Jugend in Ausbildung und Beruf schußfassung mit Mehrheit bei einer größeren An- 1984 ausgesprochen worden ist, nämlich Instrumen- zahl von Enthaltungen angenommen. tarien nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe für Familien mit mittlerem Einkommen" zu entwik- Ich rufe die Art. 2 bis 4, Einleitung und Über- keln. Herr Vogelsang, damit hier überhaupt keine schrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufge- Gerüchte aufkommen: Das BAföG bleibt als eine rufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den Hilfe für die Familien mit niedrigem Einkommen bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dage- bestehen. Es geht jetzt darum, darüber hinaus wei- gen? — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Ent- tere Instrumente für die Familien mit mittlerem haltungen sind die aufgerufenen Vorschriften mit Einkommen zu entwickeln. Ich begrüße deshalb die Mehrheit angenommen. Aufforderung des Parlaments an die Bundesregie- Wir treten in die rung, hier weitere Überlegungen anzustellen. Ich dritte Beratung werde Ende Juni ein Symposion zu diesen Fragen einberufen, auf dem wir auch die Frage des Bil- ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem dungssparens, der Ansparförderung und der ver- Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, schiedenen steuerlichen Modelle den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dage- gen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Ge- (Daweke [CDU/CSU]: Sehr gut!) setzentwurf ist mit Mehrheit bei einer großen An miteinander beraten werden. zahl von Stimmenthaltungen angenommen. Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft emp- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fiehlt unter Ziffer 2 und 3 der Beschlußempfehlung Es geht darum, die Familien mit mittlerem Einkom- auf Drucksache 10/5410 weiter die Annahme von men in ihrer Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Fi- Entschließungen. Wer diesen Entschließungen zu- nanzierung. der Ausbildung ihrer Kinder stärker zu zustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- unterstützen. chen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sind die Entschließungen mit Mehrheit bei Ich bedanke mich bei den Koalitionsfraktionen einer Reihe von Enthaltungen angenommen. auch für ihre Unterstützung eines besonderen hoch- schulpolitischen Anliegens der Bundesregierung, Wir stimmen jetzt über den Entschließungsan- das bereits im Regierungsentwurf eines 10. BAföG trag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache Änderungsgesetzes in der Begründung erwähnt 10/5462 ab. Wer diesem Entschließungsantrag zuzu- wird, nämlich in der nächsten Legislaturperiode stimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- eine erweiterte Förderung von Qualifikations- bzw. chen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Postgraduiertenstudiengängen aufzugreifen. Ich Dieser Entschließungsantrag ist mit großer Mehr- glaube, das ist ein Thema, das uns in der nächsten heit abgelehnt worden. Legislaturperiode sehr nachdrücklich beschäftigen Wir kommen zur Abstimmung über den Ent- sollte, weil wir den jungen Menschen damit verbes- schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Druck- serte Chancen einräumen können, auch nach ihrem sache 10/5481. Wer dafür zu stimmen wünscht, den ersten Examen weitere wissenschaftliche Fortbil- bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dage- dung zu betreiben. gen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsan- Deutscher Bundestag -- 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16667

Vizepräsident Westphal trag ist mit Mehrheit bei einer Reihe von Enthal- Dr. Pinger, Repnik, Frau Fischer, Höffkes, tungen abgelehnt worden. Dr. Hüsch, Dr. Kunz (Weiden), Dr. Kronen- Meine Damen und Herren zu Tagesordnungs- berg, Dr. Pohlmeier, Schreiber, Borchert, punkt 4 b stelle ich fest, daß der Deutsche Bundes- Herkenrath, Sauter (Epfendorf), von Ham- tag den Sechsten Bericht nach § 35 des Bundes- merstein, Dr. Hornhues, Eigen, Dr. Hoffacker, ausbildungsförderungsgesetzes auf Drucksache Sauer (Salzgitter), Schwarz, Dr. Olderog, Ja- 10/4617 zur Kenntnis genommen hat. goda, Engelsberger, Kalisch, Frau Roitzsch (Quickborn), Jung (Lörrach), Hornung, Mül- ler (Wesseling), Dr. Jobst, Weiß, Schmitz Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: (Baesweiler), Dr. Faltlhauser, Sauer (Stutt- gart), Frau Männle, Ganz (St. Wendel), Aus- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- termann, Dr. Schroeder (Freiburg), Ruf und desregierung eingebrachten Entwurfs eines der Fraktion der CDU/CSU Ersten Gesetzes zur Änderung des Postver- sowie der Abgeordneten Dr. Rumpf, Schäfer waltungsgesetzes (Mainz), Dr. Feldmann, Ertl, Frau Seiler-Al- — Drucksache 10/4491 — bring und der Fraktion der FDP Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Überwindung von Hunger und Not in Afrika schusses für das Post- und Fernmeldewesen — Drucksache 10/5488 — (15. Ausschuß) — Drucksache 10/5414 — Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Berichterstatter: (federführend) Abgeordnete Paterna Auswärtiger Ausschuß Pfeffermann Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Eine Aussprache ist in diesem Fall nicht vorgese- (Erste Beratung 191. Sitzung) hen. Es wird vorgeschlagen, den Antrag auf Druck- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion sache 10/5488 an die in der Tagesordnung aufge- DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5458 vor. Eine führten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu Aussprache ist nicht vorgesehen. anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstim- Dann ist die Überweisung so beschlossen. mung. Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 bis 8 und 10/5458 ein Änderungsantrag der Fraktion DIE Zusatztagesordnungspunkt 2 auf: GRÜNEN vor. Wer dem Änderungsantrag zuzu- stimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- 6. Erste Beratung des von der Bundesregierung chen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- der Stimme? — Der Änderungsantrag ist mit großer zes zur Änderung des Berufsbildungsförde- Mehrheit abgelehnt. rungsgesetzes Wer dem Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustim- — Drucksache 10/5449 men wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — —Überweisungsvorschlag: Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stim- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend) me? — Dann ist die aufgerufene Vorschrift in der Ausschuß für Wirtschaft Ausschußfassung mit Mehrheit bei einer großen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß Anzahl von Enthaltungen angenommen. 7. Erste Beratung des von der Bundesregierung Ich rufe die Art. 2 bis 4 sowie Einleitung und eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den die Anpassung von Dienst- und Versorgungs- aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, bezügen in Bund und Ländern 1986 (Bundes- den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt besoldungs- und -versorgungsanpassungs- dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von gesetz 1986 — BBVAnpG 86) Enthaltungen sind die aufgerufenen Vorschriften mit Mehrheit angenommen. — Drucksache 10/5450 — Wir treten in die Überweisungsvorschlag: Innenausschuß (federführend) dritte Beratung Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, 8. Erste Beratung des von der Bundesregierung den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dage- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu gen? — Enthaltungen? — Dieser Gesetzentwurf ist dem Übereinkommen vom 25. Oktober 1982 mit großer Mehrheit bei einer Reihe von Enthaltun- über den Beitritt der Republik Griechenland gen angenommen. zum Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtli- Ich rufe den Zusatzpunkt 8 der Tagesordnung cher Entscheidungen in Zivil- und Handels- auf: sachen sowie zum Protokoll betreffend die Beratung des Antrags der Abgeordneten Auslegung dieses Übereinkommens durch Hedrich, Feilcke, Graf von Waldburg-Zeil, den Gerichtshof in der Fassung des Überein- 16668 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Vizepräsident Westphal kommens über den Beitritt des Königreichs Da diese Einkäufe im Rahmen eines Gewerbebe- Dänemark, Irlands und des Vereinigten Kö- triebes stattfanden, wurde Einfuhrumsatzsteuer nigreichs Großbritannien und Nordirland vom Finanzamt erstattet. Seit zehn Jahren gibt es — Drucksache 10/5237 keine Geschäftsaktivitäten mehr. Das Uran lagert auf dem Bundesgelände Hanau und wird von der —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Nukem bewacht. Die letzte Betriebsprüfung 1975 Rechtsausschuß ergab keine besonderen Vorkommnisse. Zusatzpunkt 2: Nun ist aber das Finanzamt auf die Idee gekom- Erste Beratung des von der Bundesregierung men, daß eigentlich von Anfang an gar keine seib- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über ständige wirtschaftliche Tätigkeit und Gewinner- die Feststellung des Wirtschaftsplans des zielungsabsicht bestanden und damit die Merkmale ERP-Sondervermögens für das Jahr 1987 eines Gewerbebetriebs nicht erfüllt sind und folg- (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1987) lich auch die Einfuhrumsatzsteuer zu Unrecht er- — Drucksache 10/5406 — stattét wurde. Überweisungsvorschlag: Es könnte auch der Versuch vorliegen, das Parla- Ausschuß für Wirtschaft (federführend) ment über die wirklichen Kosten des Aufbaus einer Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß Uranreserve durch einen steuerlichen Trick hin- wegzutäuschen. Immerhin handelt es sich um 17,5 Es handelt sich um die erste Beratung von Ge- Millionen DM zusätzliche Fördermittel, die nun im setzentwürfen, die von der Bundesregierung vorge- nachhinein erzwungen werden. legt worden sind. Nach Darstellung der beteiligten Ministerien Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. handelt es sich um einen rein finanztechnischen Es wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf Vorgang. Der Aufbau der Bundesuranreserve in den Drucksachen 10/5449, 10/5450, 10/5237 und Hanau fand zunächst im Rahmen eines Gewerbe- 10/5406 an die in der gedruckten Tagesordnung auf- betriebes statt. geführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu Mir kommt dieser Vorgang doch ein wenig merk- anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. würdig vor. Schließlich kommt es beim Aufbau ei- Dann ist die Überweisung so beschlossen. ner Reserve in aller Regel nicht zu größeren Ge- schäftsaktivitäten, schon gar nicht, wenn sie in öf- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: fentlicher Hand liegt. Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- Ich gebe zu bedenken, angesichts des Vorfalls von haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Tschernobyl, der gerade im Parlament behandelt richtung durch die Bundesregierung worden ist, Finanztransaktionen, die mit diesem Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr Uran etwas zu tun haben, genau zu beobachten und 1986 bei Kap. 30 05 Tit. 683 26 — Förderung die Frage zu stellen, ob es eigentlich angängig ist, von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben daß uns im nachhinein abgezwungen wird, be- der Kernbrennstoffversorgung (einschließ- stimmten Finanztransaktionen zuzustimmen, die lich Urananreicherung) — eindeutig dem Aufbau von Reserven angereicher- ten Urans dienen. — Drucksachen 10/4686, 10/5076 — Die letzte Betriebsprüfung 1975 ergab keine be- Berichterstatter: sonderen Vorkommnisse, d. h. daß diese Aktivitäten Abgeordnete Dr. Müller (Bremen) nichts anderes mit sich gebracht haben, als daß hier Austermann mit einer Reserve spekuliert wird oder etwas im Zander Vorbehalt gehalten wird, um überhaupt Atomkraft- Dr. Weng (Gerlingen) werke weiter betreiben zu können. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen, aber der Angesichts der unübersehbaren Schäden, die Berichterstatter Dr. Müller (Bremen) hat sich als auch kleinste Pannen in dieser Technologie der Berichterstatter gemeldet. Bitte schön. Energieerzeugung durch Kernspaltung anrichten können, ist das Parlament mehr denn je aufgerufen, Dr. Müller (Bremen) (GRÜNE): Herr Präsident! sein Budgetbewilligungsrecht gegen die übermäch- Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, als tige Ministerialbürokratie und den Primat der Poli- Berichterstatter für den Einzelplan des Ministeri- tik gegen scheinbare finanztechnische Sachzwänge ums für Forschung und Technologie eine kurze Be- zu verteidigen, wie sie hier wieder einmal ins Feld merkung zu dem Vorgang, um den es sich hier han- geführt werden. delt, zu machen. Ich empfehle deswegen, diesem Vorgang wegen Von 1969 bis 1973 kaufte das damals zuständige Undurchsichtigkeit nicht zuzustimmen. Ministerium für Forschungsangelegenheiten drei Danke schön. Tonnen Natururan und gründete einen Betrieb ge- (Ströbele [GRÜNE]: Das war eine gute werblicher Art „An- und Verkauf von Uran". Mit Rede! Das ist sehr deutlich geworden!) Hilfe dieses Betriebes wurden anschließend für die Bundesuranreserve in Hanau im Rahmen der Devi- senausgleichsabkommen aus den USA bis Mitte der Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, Sie siebziger Jahre 200 t angereichertes Uran gekauft. haben sich als Berichterstatter zu Wort gemeldet. Deutscher Bundestag - 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16669

Vizepräsident Westphal Darf ich Sie fragen, ob Sie im Namen aller Bericht- Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschluß- erstatter gesprochen haben, oder war das Ihre per- empfehlung des Petitionsausschusses zuzustimmen - sönliche Meinung? wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ge- (Dr. Müller [Bremen]: [GRÜNE]: Ich habe genprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von als Hauptberichterstatter für den Einzel Enthaltungen in der Fraktion DIE GRÜNEN ist die plan gesprochen!) Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses an- genommen. — Sie sind der Hauptberichterstatter für den Ein- zelplan, aber es gab im Haushaltsausschuß keine gemeinsame Auffassung zu dieser Frage? — Darf Ich rufe Punkt 13 sowie die Zusatzpunkte 3 und 4 ich fragen, ob die anderen Berichterstatter das Wort der Tagesordnung auf: wünschen. — Das läßt sich nicht erkennen; es sind a) Beratung der Beschlußempfehlung und keine da. des Berichts des Auswärtigen Ausschus- Dann kommen wir zur Abstimmung über den Ta- ses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Frak- gesordnungspunkt. Der Ausschuß empfiehlt auf tionen der CDU/CSU und FDP Drucksache 10/5076, von der Unterrichtung Kennt- Vollständige Abschaffung der chemischen nis zu nehmen. Erhebt sich hiergegen Widerspruch? Waffen — Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. — Drucksachen 10/2027, 10/4201 — Eine seltsame Verfahrensweise. Berichterstatter: (Zuruf von der CDU/CSU) Abgeordnete Voigt (Frankfurt) Lamers Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf: Schäfer (Mainz) Beratung der Unterrichtung durch den Wehr- b) Beratung des Antrags der Fraktion der beauftragten Jahresbericht 1985 SPD — Drucksache 10/5132 — Keine Modernisierung der chemischen Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Kampfstoffe der NATO Verteidigungsausschuß — Drucksache 10/5378 — In diesem Fall ist eine Aussprache nicht vorgese- hen. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vor- lage an den Verteidigungsausschuß vor. Gibt es Zusatzpunkt 3: dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Beratung des Antrags der Abgeordneten Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Frau Borgmann, Lange, Dr. Schierholz und der Fraktion DIE GRÜNEN Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf: Zustimmungsverweigerung zu neuen che- Beratung der Beschlußempfehlung und des mischen Waffen Berichts des Ausschusses für Arbeit und So- — Drucksache 10/5461 — zialordnung (11. Ausschuß) zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung Zusatzpunkt 4: Bericht über die Frage, welche Verhandlun- gen mit ausländischen Staaten geführt wor- Beratung des Antrags der Fraktionen der den sind, um die Gegenseitigkeit bei der Ko- CDU/CSU und FDP stenübernahme für Dolmetscher und Über- Chemische Waffen setzer in der Arbeitsgerichtsbarkeit sicher- — Drucksache 10/5464 — zustellen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind — Drucksachen 10/966, 10/4986 — eine gemeinsame Beratung des Punktes 13 sowie Berichterstatter: der Zusatzpunkte 3 und 4 der Tagesordnung und Abgeordneter Cronenberg (Arnsberg) eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. — Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. — Dann ist so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschluß- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozial- Wird das Wort zur Berichterstattung oder zur Be- ordnung auf Drucksache 10/4986 zuzustimmen gründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ge- Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das genprobe! — Enthaltungen? — Dann ist bei Enthal- Wort hat der Abgeordnete Lamers. tung der Fraktion DIE GRÜNEN die Beschlußemp- (Vorsitz: Vizepräsident Cronenberg) fehlung angenommen.

Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf: Lamers (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundes- Beratung der Sammelübersicht 146 des Peti- tagsfraktion dankt dem Bundeskanzler sehr für die tionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge Verabredung, die er in Tokio mit dem amerikani- zu Petitionen schen Präsidenten über den Abzug der in der Bun- — Drucksache 10/5385 — desrepublik Deutschland lagernden chemischen Eine Aussprache- ist nicht vorgesehen. Waffen getroffen hat. Sie ist in der Tat, wie die 16670 Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Lamers „Süddeutsche Zeitung", ein Blatt, das nicht a priori gierungen hätten die Haltung vertreten, daß die der Bundesregierung Lobgesänge spendet, schreibt, NATO chemische Waffen zur Implementierung der - ein bedeutender außenpolitischer Erfolg. Diesen NATO-Strategie nicht brauche. großen Erfolg haben einige Kollegen aus meiner Fraktion maßgeblich vorbereitet. Das gilt zunächst Der jetzt in der NATO anstehende Beschluß ist für , unseren Fraktionsvorsitzenden, aber auch aus abrüstungspolitischer Sicht notwen- der sein ganzes Gewicht in das Engagement des dig. Ziel bleibt die vollständige Abschaffung aller Kollegen Todenhöfer, der sich wie kein zweiter in chemischen Waffen auf der ganzen Welt. Auf die dieser Frage engagiert, eingebracht hat. Ich möchte Dringlichkeit dieses Ziels weisen unsere Anträge ihnen, diesen Kollegen, deswegen auch im Namen noch einmal nachdrücklich hin. Es gibt dazu keine der Fraktion herzlich danken. vernünftige und realistische Alternative. (Beifall bei der CDU/CSU) Zu seiner Erreichung wäre es aber falsch, auf den jetzt in der NATO anstehenden Beschluß zu ver- Sie haben recht behalten mit ihrem Optimismus, zichten. Das beweist die ganze Geschichte der Ab- und sie haben recht behalten, daß die USA ihr Wort rüstungsverhandlungen zwischen den USA und der halten würden. Sowjetunion, und das beweist vor allem die traurige (Lange [GRÜNE]: Erst mal abwarten!) Tatsache, daß der einseitige Verzicht der USA - sie verzichten seit 1969 auf jegliche Produktion von Das Ergebnis ist: Die alten Waffen kommen weg, chemischen Waffen - von der Sowjetunion nicht und neue werden an ihrer Stelle in der Bundesrepu- nur nicht mit einem ebensolchen Verzicht honoriert blik Deutschland nicht gelagert. worden ist, sondern im Gegenteil mit einer beäng- Meine Damen und Herren, jedem muß klar sein, stigenden chemischen Aufrüstung beantwortet die Annahme des SPD-Antrages würde hingegen wurde. bedeuten, daß die alten Bestände weiter hier blie- ben. (Berger [CDU/CSU]: Leider wahr!) Ebenso gut wie richtig ist die ins Auge gefaßte Die Parallele zur Situation im Bereich der Mittel- Regelung für den Eventualfall, falls sich die USA streckenraketen in Europa ist auffallend: Solange entscheiden, ihr C-Waffenpotential zu modernisie- die Sowjetunion allein solche Waffen stationiert ren. Das ist und bleibt notwendigerweise eine natio- hatte, war sie zu keinem auch nur halbwegs ver- nale Entscheidung der USA. Dazu steht nicht im handlungsfähigen Angebot bereit. Erst nachdem Gegensatz, wenn die Bundesregierung im Rahmen der Westen den zweiten Teil des NATO-Doppel- der NATO dem Streitkräfteziel zustimmt, nachdem beschlusses realisiert hatte, unterbreitete General- die USA 1987 bis 1992 binäre chemische Waffen ver- sekretär Gorbatschow den verhandlungsfähigen fügbar machen. Entscheidend ist, daß diese Waffen Vorschlag einer immerhin europäischen Null-Lö- nicht in der Bundesrepublik gelagert werden und sung, und er ging damit weit über das hinaus, was daß ihre zeitweilige Verbringung im Eventualfall Sie, meine Damen und Herren von der SPD, zuvor nur auf Grund umfassender politischer Konsultatio- der Sowjetunion einseitig zuzugestehen bereit wa- nen in der NATO, nur bei Sicherstellung breiter ren. Beteiligung der Bündnispartner, so daß nicht mehr nur ein einzelnes Land betroffen ist, wie das jetzt Man hätte nun annehmen können, die SPD hätte für die Bundesrepublik Deutschland zutrifft, und aus dieser für sie bitteren und peinlichen Erfah- vor allem nur mit Billigung und auf Bitten der Auf- rung gelernt, aber das Gegenteil ist der Fall, meine nahmeländer erfolgen kann. Mit anderen Worten: Kolleginnen und Kollegen, und das zeigt der vorlie- Über unsere Köpfe hinweg kann nichts geschehen. gende Antrag der SPD. Dabei schien es übrigens noch im Dezember des vergangenen Jahres so, als Schlicht gesagt, meine Damen und Herren: Das wäre das Gebiet der chemischen Abrüstungspolitik ist die denkbar beste Lösung. Sie ist die Frucht des zwischen sozialdemokratischer Opposition und Vertrauens, das der Bundeskanzler im Verhältnis Koalition eines der wenigen gemeinsamen. zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten wiederbegründet hat. Warum also haben Sie diese gemeinsame Posi- tion verlassen, weshalb haben Sie, Herr Kollege (Beifall bei der CDU/CSU) Voigt, die unglaubliche Behauptung aufgestellt, der Vor diesem Hintergrund ist die Zustimmung der Bundeskanzler habe in der Pressekonferenz vom Bundesregierung zu dem amerikanischen Streit- 11. April die Unwahrheit gesagt? kräfteziel nicht nur möglich, sondern auch erforder- (Berger [CDU/CSU]: Das sollte er zurück lich. Sie ist einmal aus Gründen militärischer Si- nehmen! — Voigt [Frankfurt] [SPD]: Weil cherheit erforderlich. Chemische Waffen haben le- es stimmt!) diglich die Aufgabe, einen möglichen Aggressor von einem völkerrechtswidrigen Ersteinsatz solcher Warum haben Sie behauptet, die Bundesregierung Waffen abzuschrecken. Diese Funktion ist in dem rede hier anders als in Washington, ohne auch nur NATO-Dokument MC 14/3 geregelt. Dieses Doku- den Schatten eines Beweises für diese Behauptung ment haben frühere Bundesregierungen niemals in zu haben? Frage gestellt. Insofern, meine verehrten Kollegin- nen und Kollegen von der SPD, ist die Behauptung (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Die Beweise ha in Ihrem Antrag schlicht falsch, frühere Bundesre- ben Sie im Unterausschuß gehört!) Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16671

Lamers Ich fordere Sie wirklich auf, diese Behauptung in holen. Wie die Geschichte der INF-Abrüstungsver- - aller Form zurückzunehmen! handlungen nahelegt, ist es jedenfalls notwendig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und richtig, wenn die USA jetzt den Beschluß zur Modernisierung chemischer Waffen fassen und Die jetzt vorliegende Regelung widerlegt Sie gleichzeitig ihren Abrüstungsvorschlag von 1984 nachdrücklich. Sie sagen die Unwahrheit, wenn Sie mit Nachdruck weiterverfolgen. so tun, als gäbe es keinen Unterschied zwischen einer Stationierung und einer Verbringung im (Jungmann [SPD]: Frieden schaffen mit Eventualfall, und Sie tun deswegen so, weil Sie immer weniger Waffen!) auch dieses Thema zu einer Wahlkampfmunition Der zeitlich gestaffelte, vom Umfang und von den zurechtbiegen wollen. Das wird Ihnen nach dem Modalitäten her sehr maßvolle Modernisierungs- jetzt vorliegenden Ergebnis ganz gewiß nicht gelin- plan verstärkt den auf der Sowjetunion liegenden gen. Druck der Verantwortung für einen alsbaldigen Er- Aber vielleicht gibt es noch einen anderen Grund folg in Genf. Es besteht ein Zusammenhang zwi- für Ihren Positionswechsel. Laut einer ap/ADN- schen den einzelnen jetzt vorgesehenen Moderni- Meldung vom 30. April ist die gemeinsame Arbeits- sierungsschritten der USA und dem Verhandlungs- gruppe von SPD und SED zu der Auffassung ge- prozeß in Genf. Es liegt allein an der Sowjetunion, langt, daß die Produktion neuartiger amerikani- all diese Entscheidungen alsbald zu Makulatur wer- scher C-Waffen und ihre mögliche Stationierung in den zu lassen. Ob sie das so schnell wie wünschens- Europa vermieden werden müssen. Wohin sind die wert tatsächlich tun wird, ist nach den Erfahrun- deutschen Sozialdemokraten abgeirrt, wenn sie sich gen, die wir mit den vielversprechenden Ankündi- gemeinsam mit der SED gegen moderne chemische gungen von Generalsekretär Gorbatschow vor al- Waffen der USA wenden, aber bei dieser Gelegen- lem zur Verifikationsfrage gemacht haben, leider heit kein Wort gegen die bereits in der DDR gela fraglich. gerten oder aus der Sowjetunion dorthin zu verbrin- Ich stelle hier nicht auf Tschernobyl ab, aber es genden Waffen dieser Art vorbringen? heißt nicht, eine antisowjetische Keule schnitzen, (Dr. Scheer [SPD]: Das ist doch dummes wenn ich feststelle, daß die Informationspolitik der Zeug!) Sowjetunion nicht eben eine vertrauensbildende Natürlich weiß ich, daß sich die SED mit Rücksicht Maßnahme gewesen ist. auf die Sowjetunion so nicht äußern kann, selbst (Zuruf des Abg. Jungmann [SPD]) wenn sie so denken sollte; aber zeigt das nicht die ganze Problematik Ihrer Neben- und Als-ob-Außen- Ich wünsche inständig, daß dieses große Un- politik? glück diejenigen Kräfte in der sowjetischen Füh- rung stärkt, welche die von Generalsekretär (Beifall bei der CDU/CSU) Gorbatschow versprochene größere Offenheit wirk- Nicht daß Sie, meine Kollegen, mit der SED spre- lich wollen. Ich wünsche von Herzen, daß sich das chen - das tun wir selbstverständlich auch —, son- auch bald auf die von ihm oftmals in Aussicht ge- dern daß die Sie mit ihr verhandlungsähnliche Be- stellte Bereitschaft zur wirklichen Kontrolle von ziehungen pflegen, die Kommuniqués und andere Abrüstungsschritten auswirkt. Ergebnisse zeitigen, die sich fast unvermeidlicher weise gegen die Politik der NATO und vor allem der Leider — und darauf will ich abstellen — ist dies USA richten, das ist der Vorwurf. Dessen Berechti- in zwei erst ganz kurz zurückliegenden Fällen über- gung wird durch den jetzt vorliegenden Fall erneut haupt nicht der Fall gewesen. Der eine Fall betrifft und eindrücklich bestätigt. die Wiener MBFR-Verhandlungen. Hier hat die So- wjetunion den westlichen Vorschlag vom Dezem- Das sind die unseligen Folgen dieser Pseudo-Au- ber, der ihr weit -- nach der Ansicht mancher zu ßenpolitik, die Sie betreiben und die auch die trüge- weit -- entgegenkam, in einer Weise beantwortet, rische Sumpfblüte der chemiewaffenfreien Zone die selbst von den Kollegen der GRÜNEN als tief Europa hervorgebracht hat, die sich in Ihrem An- enttäuschend empfunden wurde. Der entscheidende trag wiederfindet. Punkt ist die sowjetische Ablehnung eines unbe- Dann entnehme ich einer ADN-Meldung vom dingt notwendigen Maßes an Kontrolle und — fast 13. dieses Monats, daß die Kollegen Bahr und Voigt noch schlimmer — ihre Weigerung bezüglich eines gemeinsam mit den Vertretern der SED und der Rechts auf Kontrolle. Wir werden sehen, ob sich die tschechischen KP die Gespräche über die C-Waffen- Andeutungen von östlicher Seite, das sei noch nicht freie Zone fortsetzen und diese auch erweitern wol- das letzte Wort gewesen, bewahrheiten. len. Als ich diese Meldung las, erinnerte ich mich an Der zweite Fall von Ernüchterung ist die Konkre- den Ratschlag der Berater von Johannes Rau, diese tisierung der von Generalsekretär Gorbatschow Gespräche während der Wahlkampfzeit nicht wei- groß angekündigten Initiative zur Abrüstung der terzuführen. Der Vorgang zeigt also, welche Rolle chemischen Waffen. Was hierzu am 22. April von der Kanzlerkandidat der SPD spielt, wenn man sowjetischer Seite vorgetragen wurde, ist eine veri- nicht einmal mehr glaubt ihm zuliebe taktische table Enttäuschung. Die sieben Punkte von Bot- Rücksichtnahme üben zu müssen. schafter Issraelyan betreffen im wesentlichen tech- Sie haben oft gehört, welche Einwände wir gegen nische Randprobleme und keine Substanzfragen. die Zonenkonzepte aus sicherheitspolitischer Sicht Im wesentlichen ist der Zerstörungsvorgang chemi- haben; ich will sie hier nicht im einzelnen wieder- scher Produktionsstätten angesprochen. Die hier 16672 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Lamers vorgeschlagenen Kontrollen sind unbefriedigend. Bahr (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Vor allen Dingen ist keine Rede von einer ständi- Herren! gen internationalen Überwachung des ganzen Zer- (Schwarz [CDU/CSU]: Herr Bahr hat tief störungsvorgangs. Atem geholt!) In Ziffer 7 wird die Verifikation künftiger Nicht- In diesen Tagen wird über die Voraussetzungen produktion von Chemiewaffen in der Zivilindustrie entschieden, ob es zu einer neuen Runde der Rü- überhaupt nicht erwähnt. Ein Recht auf Verdachts- stung mit einer neuen Art chemischer Waffen kontrolle vor Ort wird von der Sowjetunion nach wie vor abgelehnt. kommt. Die neuen, sogenannten binären chemi- schen Waffen unterscheiden sich von den alten da- So wird hier ein weiteres Mal deutlich, was auch durch, daß sie wirksamer sind, daß sie giftiger sind, in Wien erkennbar war: Die Sowjetunion macht be- wenn sie benutzt werden, daß Lagerung und Trans- scheidene, in der Regel höchst bescheidene Ange- port einfacher und weniger gefährlich sind, daß sie bote zur Kontrolle der Durchführung von Abrü- leichter zu zerstören sind als die alten und daß ihr stungsergebnissen. Zur Kontrolle ihrer Einhaltung Vorhandensein schwerer zu kontrollieren ist. Ihre ist sie hingegen nicht bereit. Wie soll da Vertrauen militärische Anwendbarkeit wäre variabler, ihre wachsen? Lagerung bedürfte nicht der besonderen Sicher- Nehme ich hinzu, daß der sowjetische Vertreter heitsmaßnahmen, die heute in Ost und West für seine Vorschläge zunächst der Presse übermittelte chemische Kampfstoffe nötig sind. Kurz, die neuen und sie mit heftigen Attacken gegen die USA ver- binären Waffen liegen ganz auf der Linie jener irre- sah, dann ist dem Verdacht, daß auch auf dem Feld geleiteten Tendenz, Menschen wirksamer töten zu der chemischen Abrüstung die Psychostrategie dem können, die Mittel dazu raffinierter zu machen und ernsthaften Bemühen um Abrüstung übergeordnet ihre Beherrschung zu erschweren. ist, nur schwer zu entkommen. Aber ich sage nach- (Beifall bei der SPD) drücklich: Ich möchte diesem Verdacht gern ent- kommen, und meine Feststellungen sind kein end- Von der Miniaturisierung der Atomwaffen über die gültiges Urteil. Dafür ist es zweifelsfrei zu früh. Neutronenbombe bis zu den neuen binären Waffen Aber es hilft nichts, die Dinge beim Namen zu nen- führt jene irregeleitete menschliche Logik, nen. (Zuruf des Abg. Klein [München] [CDU/- Die Vorstellung, man könne im Westen leicht Er- CSU]) folge ohne entsprechende Gegenleistungen errin- die uns erklärt, wir wollen mehr Sicherheit, aber gen, schwächt diejenigen in der Sowjetunion, die wir produzieren immer neue Unsicherheit. wirklich von der Notwendigkeit einer neuen Sicht der Dinge, wie Generalsekretär Gorbatschow sagte, (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) überzeugt sind. Wir müssen zuvor, glaube ich, Klar- Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesre- heit darüber gewinnen, ob diese Sicht denn wirklich publik trägt die Bundesregierung eine Mitverant- in der Substanz neu ist oder nur eine neue wir- wortung für eine neue Rüstungsspirale. Denn zum kungsvolle Verpackung für eine alte und unver- erstenmal hat der amerikanische Kongreß seine käufliche Sache. Abrüstung darf nicht zu Lasten Entscheidung über die Produktion der neuen Waf- der Sicherheit der einen oder der anderen Seite fen von europäischer Zustimmung abhängig ge- gehen. Sie muß der Sicherheit dienen. macht. Meine Fraktion, meine sehr verehrten Damen Zwei Voraussetzungen hat der Kongreß formu- und Herren, tritt mit Nachdruck dafür ein, daß wir liert: die sowjetischen Vorschläge nach wie vor mit lan- gem Atem, mit viel Geduld und mit viel Nachdruck Erstens. Die Mitglieder der NATO müssen ein auf ihre Substanz hin überprüfen. Die Bundesregie- sogenanntes Streitkräfteziel beschließen, durch das rung sollte sich auch von dem jüngsten sowjeti- sie diese neuen Waffen für nötig erklären. schen Vorschlag in Genf nicht entmutigen lassen. Zweitens. Es muß einen Plan dafür geben, wie Aber wir treten mit Nachdruck auch dafür ein, diese Waffen gegebenenfalls nach Europa gebracht daß in der Zwischenzeit das Notwendige getan wird. werden. Der lange Atem, den wir haben, meine Freunde, Nun legt die Bundesregierung Wert auf die An- wird uns dazu befähigen, auch in Genf Erfolge zu sicht, daß die eigentliche Entscheidung zur Produk- haben. Es ist gut, daß dieser lange Atem nicht von tion dieser neuen Waffen eine amerikanische bleibt. einer sozialdemokratisch geführten Bundesregie- Das ist juristisch richtig, politisch falsch. Im büro- rung aufgebracht werden muß; denn Sozialdemo- kratischen Sinne kann der Kongreß eine solche kraten haben keinen langen Atem mehr, weil sie Entscheidung ablehnen, selbst wenn die Europäer atemlos hinter jedem abrüstungspolitischen Irrlicht zustimmen. Aber diese naive Haltung wäre politi- herlaufen. sche Spiegelfechterei. Der Versuch, die Verantwor- (Beifall bei der CDU/CSU) tung wieder über den Ozean zurückzuschieben, kann nicht gelingen. Es ist kein Zweifel: Wenn die Bundesregierung dieses Streitkräfteziel ablehnt, über das heute oder morgen entschieden werden Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- soll, dann wird der Kongreß kein grünes Licht für ordnete Bahr. die Produktion neuer binärer Waffen geben. Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16673

Bahr Die Bundesregierung kann dieser Verantwortung keinem Zusammenhang ist die Verantwortung der - nicht entfliehen. Wenn die Bundesregierung auf ihr Bundesregierung für die Produktion der neuen so Vetorecht verweist, was die Stationierung angeht, klar. Die alten gehen nur weg, wenn wir ja zu neuen warum macht sie nicht von dem Vetorecht Ge- sagen. brauch, wenn es um die Produktion geht? (Rühe [CDU/CSU]: Die Verantwortung (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten trägt die Sowjetunion!) der GRÜNEN) Unvergleichbar zu den Mittelstreckenraketen ist Aus diesem Ja will die Bundesregierung ein ver- unser Ja oder Nein nicht nur entscheidend für die hülltes Nein machen. Noch gibt es nicht die Pla- Stationierung, sondern auch für die Produktion. nung, untér welchen Umständen die neuen Waffen nach Europa gebracht werden. Aber selbst dann Ich stelle fest: Die Bundesregierung hat ja gesagt. würde dies nur erfolgen, wenn es eine breite Beteili- Sie hat von der Möglichkeit des Nein keinen Ge- gung anderer europäischer Verbündeter gäbe und brauch gemacht. Sie hat damit auch Verantwortung wenn die Bundesregierung ihrerseits ihren Willen für die Folgen zu tragen. zur Verbringung ausdrücklich erklärt. Das ist prak- (Beifall bei der SPD) tisch ein Vetorecht. Bisher ist noch niemals die Produktion einer Nun sehe ich weit und breit keine europäische neuen Waffe nur einer Seite vorbehalten geblieben. Regierung, die sich nach chemischen Waffen Das Mitglied des Politbüros der SED Hermann drängt. Im Gegenteil: In einer Zusammenkunft mit Axen hat vor zwei Tagen in Prag von einer Rü- westeuropäischen sozialdemokratischen Partnern stungsspirale gesprochen, die neu in Gang gesetzt und Parteien am vergangenen Wochenende in Am- werden könnte. Von der Möglichkeit, daß auch die sterdam wurde klar — wir machen das nicht nur Sowjetunion neue binäre Waffen produziert — nach Osten, sondern auch nach Westen, Herr Kol- leichter zu lagern, schwerer zu kontrollieren —, lege Lamers —, daß kein Land diese Waffen haben spricht die Bundesregierung nicht. Daß es eine Ant- will. Die konservativ geführten Regierungen von wort der östlichen Seite geben kann, hat die Bun- Dänemark und den Niederlanden haben schon er- desregierung entweder nicht bedacht, oder sie ver- klärt, daß sie auch das Streitkräfteziel ablehnen, schweigt unserer Bevölkerung neue Risiken. (Beifall bei der SPD) (Horn [SPD]: Sehr richtig!) Es ist ohnehin bemerkenswert, daß das deutsche geschweige denn der Stationierung zustimmen. Wir Ja zum Streitkräfteziel, vom Bundeskanzler dem kümmern uns um Fragen der europäischen Sicher- amerikanischen Präsidenten in Tokio gegeben, heit und diskutieren darüber sowohl mit westlichen ohne jede parlamentarische Beratung erfolgt ist. Es Freunden wie mit östlichen Partnern. Das kann gab auch keine Ankündigung, auch nicht in den man von der Bundesregierung nicht sagen. zuständigen Ausschüssen. Der Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle ist entgegen sei- (Horn [SPD]: Richtig!) ner einstimmigen Bitte, nicht vor vollendete Tatsa- chen gestellt zu werden, gestern abend erstmals Sie hat sogar versäumt, einen gemeinsamen euro- von den vollendeten Tatsachen unterrichtet wor- päischen Standpunkt in der Allianz herbeizufüh- den. ren. (Zustimmung bei der SPD — Jungmann (Sehr richtig! bei der SPD) [SPD]: Unerhört!) Was bedeutet diese Lage gegenüber unserem Das ist ein neues Beispiel dafür, wie begrenzt die Hauptverbündeten? Wir haben alle beklagt, gerade Achtung der Regierung vor dem Parlament ist. nach den Anschlägen der amerikanischen Luft- (Beifall bei der SPD) waffe gegen Libyen, in welcher Weise Sorgen und Nun hat die Bundesregierung in allen Zeitungen Gefühle der amerikanischen, der deutschen und der nachlesbar einige Journalisten schon früher von ih- europäischen Bevölkerung auseinandergehen. Jetzt rem Erfolg informiert, daß die amerikanischen al- kann das gleiche noch einmal passieren. Diesmal ten chemischen Waffen bis zum Jahre 1992 aus der läge die Schuld bei Europa. Bundesrepublik abgezogen werden sollen. Der Ab- Was meine ich damit? Das europäische Ja zur zug der alten chemischen Waffen, die Beendigung Produktion wird mit einem europäischen Nein zur des unannehmbaren Zustands, daß unter allen Stationierung verbunden. Amerika soll die Waffen westeuropäischen NATO-Staaten allein in der Bun- produzieren, aber jedenfalls nicht dorthin bringen, desrepublik amerikanische chemische Waffen gela- wo allein sie benötigt würden. Wasch mir den Pelz, gert sind, ist von allen Fraktionen dieses Hauses aber mach mich nicht naß! gewünscht worden. Daß dies nun geschehen soll, ist deshalb auch aus unserer Sicht zu begrüßen. Es (Rühe [CDU/CSU]: Unglaublich!) wird Zeit, daß wir sie loswerden. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Das ist Unlogik, wenn man es milde sagt, Feigheit, der GRÜNEN) wenn man es offener formuliert. Aber wir sollen sie nur unter der Bedingung loswer (Beifall bei der SPD — Berger [CDU/CSU]: den, daß wir der Produktion neuer zustimmen. In Und das kommt von Ihnen, ja?) 16674 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Bahr Aufrichtiger wäre das Veto gegen die Produktion Die neue Erkenntnis der Bundesregierung - und nicht erst das Veto gegen die spätere Stationie- stimmt nämlich, daß nicht in Kilometern zu messen rung. ist, sondern in Zeitstunden, die nötig wären, um (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Waffen wieder dorthin zu bringen, wo sie benutzt der GRÜNEN — Rühe [CDU/CSU]: Nutzen werden sollen. Und das sind eben auf beiden Seiten Sie Ihren Einfluß bei der Sowjetunion!) nur wenige Stunden. Aber nicht einmal dieses Gleichgewicht ist neuerdings nötig. Die amerikani- Die sozialdemokratische Fraktion macht sich schen Waffen gehen über den Ozean, die sowjeti- nicht mitschuldig an der Irreführung unserer ame- schen gehen nicht in die Sowjetunion, sondern sie rikanischen Kollegen. Wir sagen ihnen: Mit der Sta- bleiben unmittelbar östlich unserer Grenze. Dies ist tionierung im Frieden ist nicht zu rechnen. Die nicht die Haltung blauäugiger, unsicherer, weicher, Bundesregierung will wirklich von ihrem Vetorecht gutgläubiger -Sozialdemokraten, sondern das ist die Gebrauch machen. Sie will wirklich Abzug und Haltung der Bundesregierung und wird uns hier als nicht Austausch. Eine sozialdemokratisch geführte Erfolg dargestellt unter dem Motto: Was kümmert Bundesregierung würde sogar erklären, daß das mich mein dummes Geschwätz von gestern? deutsche Veto verläßlich und sicher ist. (Beifall bei der SPD — Horn [SPD]: Das ist (Rühe [CDU/CSU]: Sie haben nie erreicht, Zynismus! — Rühe [CDU/CSU]: Ein sophi was wir erreicht haben! — Berger [CDU/ stischer Unsinn, den Sie da verzapfen!) CSU]: Sie sind nur mißgünstig!) Die Einwände gegen eine regionale Lösung sind Niemand darf daran zweifeln, daß bei einer solchen ad absurdum geführt. Mehr noch: Die sozialdemo- Haltung der Bundesrepublik kaum ein anderer kratische Alternative, unser Modell einer chemie- Staat eine andere Haltung einnehmen würde. waffenfreien Zone in Mitteleuropa, bekommt neuen (Rühe [CDU/CSU]: Bei Ihnen sind die Waf Auftrieb. Es ist wirklich besser, daß eben auch so- fen hiergeblieben und verrostet! Sie haben wjetische chemische Waffen aus unserer Nachbar- keine einzige Waffe weggeschafft! Nur schaft im Osten verschwinden. Worte!) (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Die Bundesrepublik hat eine Schlüsselposition, der GRÜNEN — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: auch eine Schlüsselverantwortung. Da klatscht der Rühe nicht!) (Beifall bei der SPD) Ich habe übrigens keinen Zweifel, daß andere Re- Lassen Sie uns einen Blick auf den von der Bun- gierungen in Ost und West zu gegebener Zeit bereit desregierung erwünschten herbeizuführenden Zu- sein würden, Verpflichtungen zu übernehmen, daß stand werfen: Die alten amerikanischen Waffen ge- auch auf ihrem Boden keine chemischen Waffen hen weg, neue kommen in Friedenszeiten nicht her. gelagert werden. Der Appell, den Vertreter unserer Da wir auf Frieden auch nach dem Jahre 1992 hof- Bundestagsfraktion, der SED und der KPC vorge- fen, entsteht dann folgende Lage: Es gibt eine che- stern in Prag veröffentlicht haben, zeigt einen reali- miewaffenfreie Mini-Zone in Europa, die allein aus stischen Weg für mehr Sicherheit in unserem euro- der Bundesrepublik Deutschland besteht. Die so- päischen Haus. wjetischen chemischen Waffen östlich unserer Die Alternative zwischen der Haltung der SPD Grenze bleiben, wo sie sind. Alle Vorwürfe, die ge- und der Bundesregierung ist heute auf diesem Ge- gen unser Modell einer chemiewaffenfreien Zone in biet klar: Wir wollen keine chemischen Waffen in Europa erhoben worden sind — Kollege Lamers hat soeben noch einmal daran erinnert —, hat jeden- Ost wie in West, und zwar für immer. Die Bundesre- gierung hält sich durch ihre einseitige Maßnahme falls die Bundesregierung als Unsinn entlarvt. Da- die Tür für die Wiederkehr offen, und Herr Rühe ist für sind wir der Bundesregierung auch besonders sogar noch stolz darauf. Zeitweilig einseitig Nein dankbar. Es ist eben Unsinn, daß wir auf alle Fälle amerikanische Waffen hier brauchen, solange es so- gegen ein klares Ja für immer auf beiden Seiten, das ist unsere Alternative. wjetische auf der anderen Seite gibt. Wir brauchen keine amerikanischen chemischen Waffen hier, (Beifall bei der SPD) (Rühe [CDU/CSU]: Aber das Recht der Bei der zu wählen wird unserer Bevölkerung nicht Amerikaner!) schwerfallen, auch nicht den Menschen in unseren auch wenn es auf sowjetischer Seite sogar viel Nachbarländern. mehr gibt. Wir haben doch gehört: zehnmal mehr. Hierzu kommt eine grundsätzliche Kritik an der Trotzdem brauchen wir keine amerikanischen bei Politik der Bundesregierung. Wir haben gestern uns. Das ist doch nun klar. Unsere Sicherheit wird über Tschernobyl diskutiert. Wir haben von Tscher- nicht gefährdet, wenn es diese Waffen nur in Ame- nobyl gelernt, daß die Ergebnisse einer atomaren rika gibt. Das ganze Gequatsche um die regionale Katastrophe Kommunisten und Kapitalisten, Unsicherheit, wie schrecklich es ist, wenn amerika- Frauen und Männer, Junge und Alte, Arme und Rei- nische Waffen hinter den Ozean verschwinden und che gleichermaßen treffen können. Wir haben er- sowjetische nur in die Sowjetunion zurückgezogen lebt, daß wir im europäischen Haus in gemeinsamer werden, hat sich eben als Gequatsche entlarvt. Unsicherheit leben, wenn etwas passiert, das nicht (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten passieren durfte und angeblich auch nicht passie- der GRÜNEN) ren konnte. Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16675

Bahr Der Bundesaußenminister hat heute früh in ei- rung auf einen Erfolg in Genf, bevor die neuen binä- - nem Interview die konstruktiven Seiten der gestri- ren Waffen zusammengebaut werden, kann diese gen Erklärung des sowjetischen Generalsekretärs Verhandlungen auch erschweren und nicht erleich- herausgearbeitet, und ich stimme ihm ausdrücklich tern; denn die Frage der Kontrolle der alten Waffen zu; auch als er von der Überlebensgemeinschaft hat Jahre gebraucht — sie ist noch immer ungelöst und der notwendigen Erkenntnis sprach, daß man —, und die Lösung der schwierigen Frage der Kon- nur gemeinsam und in Partnerschaft die Vorkeh- trolle der neuen Waffen kann wieder Jahre brau- rungen treffen kann, um Sicherheit zu erreichen. chen. Der Beschluß zur Produktion neuer chemi- Tausend Bomben, tausend Tschernobyls, das wäre scher Waffen kann sich als Beschluß zur Torpedie- gemessen an den vorhandenen Arsenalen ein sehr rung von Genf erweisen, und ich gestehe offen, daß kleiner, begrenzter atomarer Krieg. Die Folge wäre meine Hoffnungen sich stärker auf Vernunft und mehr als die Zerstörung der Bundesrepublik und Weitsicht des amerikanischen Kongresses richten der DDR. Niemand in unserem europäischen Haus als auf die meiner eigenen Regierung und stärker könnte sich verstecken, auch nicht die Neutralen. auch auf die Haltung unserer anderen europäi- Wenn zwischen der Bundesregierung und der so- schen NATO-Verbündeten. Ein Nein zu dem Streit- wjetischen Führung im Prinzip Einigkeit darüber kräfteziel wäre ein Nein zur Produktion neuer che- besteht, daß aus Tschernobyl lernen heißt, gemein- mischer Waffen, und dies wäre, was Politik, Sicher- same Sicherheitsvorkehrungen zu organisieren, heit und Rüstungskontrolle angeht, richtig. und der Bundeskanzler gestern sogar voller Stolz Die Vereinten Nationen haben das Jahr 1986 zum von einem entsprechenden Schritt in Moskau be- Jahr des Friedens erklärt. Der Beitrag der Bundes- richtet hat, warum dann nicht auch auf dem viel regierung besteht bisher darin, daß sie ja sagt zu gefährlicheren Gebiet der Waffen? SDI, ja sagt zu neuen chemischen Waffen und die (Beifall bei der SPD) Entwicklung neuer Waffensysteme gegen Raketen und Marschflugkörper plant. Warum gibt es keinen Brief des Bundeskanzlers an den sowjetischen Generalsekretär, der eine Zusam- (Zuruf von der SPD: Und Atomtests!) menkunft vorschlägt, um zu verhindern, daß auf Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man es als die beiden Seiten ein neues Rennen um neue chemi- ernsthafte Politik dieser Bundesregierung bezeich- sche Waffen beginnt? net: Frieden schaffen mit immer mehr Waffen. (Zustimmung bei der SPD — Zuruf von (Zustimmung bei der SPD) den GRÜNEN: Sehr wahr!) Man kann für diese Politik argumentieren. Aber sie Bei aller Anerkennung, daß wir die alten amerika- ist jedenfalls das Gegenteil von dem, womit diese nischen Waffen hier los werden, wäre es doch wich- Regierung angetreten ist. tiger, nicht nur, daß wir auch die alten sowjetischen loswerden, sondern daß die Produktion der neuen (Beifall bei der SPD) auf beiden Seiten verhindert wird. Nicht neue chemische Waffen, sondern die Befrei- (Beifall bei der SPD — Berger [CDU/CSU]: ung unseres Kontinents von den vorhandenen, das Sie öffnen der sowjetischen Propaganda ist die Aufgabe, und das ist die reale Möglichkeit. eine breite Straße!) (Beifall bei der SPD -- Rühe [CDU/CSU]: Es ist schon bewiesen, daß einseitige Schritte nicht Was haben Sie denn dafür gemacht, als Sie mehr Sicherheit schaffen. Die Bundesregierung die Verantwortung hatten?) setzt die falsche Politik einseitiger Rüstungsmaß- Es ist das bekannte Lied: Mit neuen Waffen werden nahmen fort. wir die alten los; neue Waffen bringen mehr Sicher- Dabei untergräbt sie ihre eigene Hoffnung, heit; neue Waffen fördern die Verhandlungen; neue Waffen sind geeignet, alte Waffen loszuwerden; zur (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unglaub Abrüstung brauchen wir erst Aufrüstung — wer lich!) glaubt eigentlich noch daran? nämlich den Erfolg der Genfer Abrüstungsverhand- lungen zur weltweiten Ächtung chemischer Waffen. (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Die CDU!) Ich habe schon gesagt, daß die neuen Waffen Jetzt wird eine neue Strophe zum alten Lied gedich- schwerer zu kontrollieren sind. Präziser: Keine der tet; sie wird genauso falsch sein wie bisher. Wir bisherigen Überlegungen der Experten hat zu ei- haben es einfach satt, immer neue Gründe für neue nem westlichen Lösungsansatz geführt oder zu ei- Waffen zu hören. ner Verhandlungsgrundlage, wie die neuen Waffen (Beifall bei der SPD) in einem Rüstungskontrollabkommen beherrschbar würden. Wenn heute der Durchbruch in Genf er- Es muß einmal Schluß sein. Ein Anfang muß ge- folgte und ein Abkommen geschlossen würde und macht werden. Es muß einmal nein gesagt werden alle westlichen Kontrollvorschläge akzeptiert wür- praktisch zum Streitkräfteziel, hinter dem dann den, dann müßte man morgen von neuem anfangen, wieder nur der Expertenstreit über die beste, per- wenn es morgen neue binäre Waffen gäbe. fekteste, unkomplizierteste Durchführung erfolgt. Nun ist klar, wenn es morgen einen Erfolg in Stefan Zweig hat geschrieben: „Es muß einer den Genf gibt, wird der Kongreß in Washington die Ge- Frieden beginnen, wie einer den Krieg." Das ist nehmigung zur Produktion neuer Waffen nicht wirklich am einfachsten bei den schrecklichsten mehr geben. Aber die Hoffnung der Bundesregie- Vernichtungswaffen, den chemischen. Die Chance 16676 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Bahr dazu ist noch nicht vertan. Unser Antrag ist ein und daß dies mehr ist, meine Damen und Herren Schritt dazu. von der Opposition, als wir alle in diesem Hohen - (Lebhafter Beifall bei der SPD — Zustim Hause noch vor wenigen Tagen oder Wochen zu mung des Abg. Lange [GRÜNE]) hoffen gewagt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- ordnete Ronneburger. Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lange? Ronneburger (FDP): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Bevor der Kollege Bahr seine Ronneburger (FDP): Bitte sehr. Ausführungen begann, bin ich von der Hoffnung ausgegangen, daß über der Debatte des heutigen Lange (GRÜNE): Herr Kollege Ronneburger, eine Tages ein gemeinsames Motto stehen könnte, näm- Frage: Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie uns lich das Motto der weltweiten Ächtung und des unterstellen, daß wir auf den Abzug der alten Che- überprüfbaren Verbots der Herstellung, Lagerung miewaffen unter Inkaufnahme der Produktion und Entwicklung chemischer Waffen. Ich wäre sehr neuer Chemiewaffen gedrängt hätten? Glauben Sie froh gewesen, wenn das, was wir jetzt erreicht ha- wirklich, daß das unsere Absicht gewesen sei? ben, Herr Kollege Bahr, in Ihren Ausführungen et- was deutlicher zum Ausdruck gekommen wäre. Ich will hier gar nicht zitieren, etwa aus Unterlagen, die Ronneburger (FDP): Das habe ich Ihnen nicht un- Ihnen und mir zur Verfügung stehen. terstellt, aber ich habe Ihnen unterstellt — dies bleibt aufrechterhalten —, daß Ihre Zielsetzung da- (Zurufe von der SPD) hin ging, die hier lagernden Vorräte an chemischen Aber daß alles begrüßenswert ist, was dazu führt, Waffen aus der Bundesrepublik entfernen zu lassen daß die chemischen Waffen, die bei uns lagern, weg- und daß sie darüber hinaus nicht nur abgezogen, gebracht werden, das werden Sie mir sicherlich zu- sondern vernichtet würden. gestehen. Dies ist etwas, Herr Kollege Bahr, was ich Ihnen (Lange [GRÜNE]: Die wären doch sowieso sagen muß: Chemiewaffenfreie Zonen, nuklearwaf- weggekommen, Herr Kollege, die sind doch fenfreie Zonen gewinnen nach meiner festen Über- verfault!) zeugung ihren eigentlichen Sinn nicht dadurch, daß Vielleicht darf ich auch die GRÜNEN, die heute Waffen zurückgezogen, sondern daß sie beseitigt, ebenfalls ihren Standpunkt hier darlegen werden, daß sie vernichtet werden, einmal daran erinnern, daß sie im Jahre 1983 eine (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Anfrage im Bundestag eingebracht haben, von der daß es nach Einrichtung einer solchen Zone, ob bei ich hier nur drei Punkte nennen will: Welche Nuklear- oder Chemiewaffen, nachher weniger Waf- Schritte hat die Bundesregierung unternommen, fen gibt, als es vorher gegeben hat, um den Abzug der amerikanischen Giftgaskampf- (Zurufe von den GRÜNEN) stoffvorräte aus der Bundesrepublik Deutschland zu erzwingen? Warum setzt — so heißt es dort — und genau dies ist, was wir erreichen wollten, und die Bundesregierung nicht nach dem Prinzip der was jetzt erreicht wird. Risikorotation gegenüber ihren NATO-Verbünde- Wir haben einen Vorteil gegenüber dem bisheri- ten durch, daß die in der Bundesrepublik Deutsch- gen Zustand. Er drückt sich zum einen in einer grö- land lagernden amerikanischen Giftgasvorräte nun ßeren Sicherheit in der Bundesrepublik Deutsch- zur Abwechslung einmal in ein anderes NATO land für die Bevölkerung aus, weil diese veralteten Land verbracht werden? Mit welchen rechtlichen und gefährlichen chemischen Waffen hier nicht Mitteln bzw. mit dem Hinweis auf welche Verträge mehr lagern werden. Spätestens Ende 1992 werden können sich die USA einer Aufforderung der Bun- sie verschwunden sein — spätestens -, und wir desregierung widersetzen, ihre Giftgasvorräte aus werden keine Stationierung neuer binärer chemi- der Bundesrepublik Deutschland zu entfernen? scher Waffen in Friedenszeiten haben. Auch im Das heißt, Sie haben mit diesen Anfragen genau Eventualfall wird die Verbringung solcher Waffen das Ziel angepeilt, das jetzt erreicht wird. nur auf Grund umfassender politischer Konsulta- tionen im Bündnis und nur bei Sicherstellung brei- (Zurufe von der SPD) ter Beteiligung des Bündnisses erfolgen, so daß Herr Kollege Bahr, das gilt auch für Sie: Ein Abzug kein Land, auch nicht die Bundesrepublik, singula- der in der Bundesrepublik lagernden chemischen risiert wird und nicht ohne vorherige Billigung der Waffen war das Ziel, das wir erreichen wollten. Wir Aufnahmeländer vorgegangen wird. Das heißt, es wollten gleichzeitig erreichen, daß keine Stationie- kommt nicht auf unsere Weigerung an, sondern es rung neuer chemischer Waffen hier bei uns erfolgt. wäre ein aktives Handeln der Bundesrepublik, der Deswegen wiederhole ich an dieser Stelle einmal Bundesregierung jeweils nötig, um eine solche Ver- das, was der Kollege Lamers vorhin erklärt hat, daß bringung zu ermöglichen und zuzulassen. das, was wir jetzt in den Vereinbarungen mit den Herr Kollege Bahr, lassen Sie sich das sagen: Vereinigten Staaten erreicht haben, ein großer Er- Keine Singularisierung! Das bedeutet sowohl im folg der Bundesregierung ist Bündnis wie auch bei der Stationierung oder der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verbringung von chemischen Waffen auf das Ge- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16677

Ronneburger biet unseres Staates keine Singularisierung der nen. Der Durchbruch wurde vom Bundesaußenmi- - Bundesrepublik Deutschland. nister erzielt, der — entgegen einem sehr viel re- Wir alle haben darum gerungen, daß diese Waffen striktiveren US-Vorschlag — auf voller Souveräni- wegkommen. Lassen Sie uns doch nun nicht zerre- tät der Bundesrepublik Deutschland, auch in bezug den, was wir erreicht haben! auf Verbringung im Eventualfall, bestanden hat. (Beifall bei der FDP — Bahr [SPD]: Hört! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Hört!) Schwarz [CDU/CSU]: Der will ja zerreden! — Berger [CDU/CSU]: Vielleicht wollen die Dies war nicht ganz leicht. Ich meine, daß der Bun- nicht, daß sie wegkommen!) desaußenminister volle Anerkennung dafür ver- dient, daß er in dieser Weise nicht nur die Sicher- Lassen Sie uns deutlich sagen: Wir wollen einen heit in unserem Land und in Europa erhöht hat, Zustand, der hiermit angepeilt wird und der ja wohl Ihrer politischen Grundtendenz entspricht, nämlich (Bahr [SPD]: Hört! Hört!) durch einen solchen Vorgang zu erreichen, daß sondern auch ein Stück Mitbestimmung über unser auch auf östlicher Seite das Nachdenken darüber eigenes Schicksal in einem Bereich erreicht hat, in vermehrt einsetzt, wie vernünftig es denn sein dem die Bundesrepublik 1954 im Stationierungsver- kann, chemische Waffen zu produzieren, zu lagern trag auf ihr Mitspracherecht verzichtet hat. Hier und zu entwickeln. Hier einen Schritt nach vorn zu haben wir jetzt ein Mitspracherecht. Dies aus der kommen, dies sollte eigentlich in unserem gemein- Welt zu reden, meine Damen und Herren, halte ich samen Interesse liegen: zu erreichen, daß mit der für völlig absurd und der gegebenen Lage über- Entfernung dieser Waffen aus Europa nun auch auf haupt nicht angemessen. östlicher Seite der Schritt vorbereitet und wahr- scheinlicher gemacht wird, daß man auf chemische (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Waffen tatsächlich weltweit verzichtet, daß man sie Die SPD fordert ein Veto gegen die Produktion, ächtet, daß sie nicht mehr produziert werden. aber die SPD sagt nicht, wie sie ein solches Veto durchsetzen will. Sie sagt auch nicht, auf welchem Es ist ja eine Unterstellung, Herr Kollege Bahr, Wege sie, Herr Kollege Bahr, erreichen will, daß die daß die Produktion von binären Waffen schwerer zu kontrollieren sei als die Produktion von nicht hier vorhandenen chemischen Waffen verschwin- den. binären Waffen. Die Möglichkeit der Überprüfung der Produktion solcher Waffen ist auch bei den (Lange [GRÜNE]: Politisch darauf drän binären Waffen gegeben. Wir selber, die Bundesre- gen!) publik Deutschland, haben ja entsprechende Vor- Denn das, was Sie über die rein amerikanische, schläge dazu gemacht, wie man kontrollieren kann. nationale US-Entscheidung gesagt haben, ist ja Wir wären sehr froh, wenn auf östlicher Seite — nicht eine theoretische Darlegung oder Konstruk- Herr Kollege Lamers, ich stimme Ihnen da völlig zu tion der Bundesregierung, .dies ist eine eigene Aus- — endlich einmal die Bereitschaft sichtbar würde, sage des amerikanischen Präsidenten, der diese z. B. auch Verdachtskontrollen zuzulassen Entscheidung über die binären chemischen Waffen (Beifall des Abg. Mischnick [FDP]) in einer begrenzten Produktion als Repressalie ge- genüber möglicher Anwendung von östlicher Seite und damit die Möglichkeit zu schaffen, daß chemi- her ausdrücklich als eine eigene nationale Ent- sche Waffen, die ja im Grunde genommen die Zivil- scheidung der Vereinigten Staaten bezeichnet hat. bevölkerung auf beiden Seiten viel härter als jeden Und dies ist ja wohl mehr, als ob wir uns darüber Kombattanten bedrohen, endlich aus den Arsena- streiten, ob es national US-amerikanisch ist oder len verschwinden und daß damit eine Lage eintritt, nicht. in der wir friedlicher und ruhiger miteinander le- ben können, als es bisher möglich ist. (Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU) Ich sage noch einmal: Dies war ein Erfolg der Bundesregierung. Er war möglich, weil die Bundes- Ich meine, daß wir allen Grund haben, diese Ent- republik Deutschland als leistungsfähiger und lei- wicklung zu fördern und von uns aus alles dafür zu stungswilliger Partner mit ihrem größten Bündnis- tun, daß die Erfolge, die sich hier abzeichnen, in partner verhandelt hat, statt sich auf das gefährli- Zukunft auch tatsächlich erreicht werden können. che Gelände einer Nebenaußenpolitik — ich will Die SPD, meine Damen und Herren, hat auch in diesen Ausdruck hier einmal verwenden — zu bege- der Frage der Chemiewaffen-Problematik die ben und mit Regierungen zu verhandeln, die über Schmidt-Linie verlassen die auf ihrem Territorium lagernden C-Waffen kei- (Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es!) nerlei Verfügungsgewalt haben. auf der sie früher einmal gelegen hat. Die SPD for- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten dert die Bundesregierung auf, dem amerikanischen der CDU/CSU) Kongreß und der amerikanischen Administration Aber ich füge hinzu: Auch für die Bundesregie- unmißverständlich zu erklären, daß sie an der Hal- rung war zähes, geduldiges Verhandeln und Stand- tung früherer Bundesregierungen festhält, daß die festigkeit im Sinn deutscher Sicherheitsinteressen NATO chemische Waffen zur Implementierung der und deutscher Souveränität erforderlich. Wer die NATO-Strategien nicht braucht. Dies, meine Damen Verhandlungen und Briefwechsel in dieser Frage und Herren, ist falsch. Auch die sozialliberale Re- verfolgt hat, wird dies ja wohl nur bestätigen kön- gierung hat — durch den Mund des damaligen Bun- 16678 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Ronneburger desverteidigungsministers Apel, aber auch durch verschwinden und auch in Zukunft nicht wieder - den Mund des damaligen Staatssekretärs Penner produziert werden. Daher haben wir bei den Genfer - ausdrücklich erklärt, daß ein gewisser Bestand Abrüstungsverhandlungen die westlichen Vorschlä- an chemischen Waffen notwendig ist. Hier geht es ge, die diesem Ziel dienen, nicht nur konsequent nicht um eine Änderung der Strategie, und energisch unterstützt, wir waren auch mit eige- (Lange [GRÜNE]: Doch!) nen Beiträgen aktiv daran beteiligt und haben un- sere Erfahrungen mit internationalen Ortsinspek- hier geht es um die Frage, in welcher Weise denn tionen im eigenen Land genützt, um — das wissen Abschreckung und Friedenssicherung auch auf die- Sie doch, Herr Bahr — Lösungsvorschläge für eine sem Gebiet durchgehalten werden können. vernünftige Kontrolle zu machen. (Lange [GRÜNE]: Kennen Sie Air Land Angesichts dieser Tatsache ist es wirklich eine Battle?) Ungeheuerlichkeit, Herr Bahr, daß Sie sich hier Die Bundesrepublik Deutschland, meine Damen hinstellen und den Eindruck erwecken wollen, als und Herren, hat die Möglichkeit, ab 1992 von chemi- ob die Bundesregierung, die CDU/CSU oder die schen Waffen frei zu sein. Wer diese Möglichkeit FDP ein Interesse an chemischen Waffen oder an nicht nutzt, der sollte sich einmal auch mit den Bür- mehr chemischen Waffen hätten. Das Gegenteil ist gern auseinandersetzen, die in der Nähe der heuti- richtig! Sie wissen das. gen Lagerstätten wohnen und die vor der Frage ste- hen, ob diese Waffen entfernt werden und damit (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das glauben Sie das Gefühl der Gefährdung aus diesem Bereich von doch selbst nicht!) ihnen genommen wird oder nicht. Die Sowjetunion Ich weise das in aller Schärfe zurück. aber ist nun nach einer solchen Entscheidung gefor- dert, Worten auch Taten folgen zu lassen und unter (Beifall bei der CDU/CSU) Beweis zu stellen, daß ihre Abrüstungsvorschläge Auch die Amerikaner, Herr Bahr, wollen das ernst gemeint sind. In den Genfer Verhandlungen weltweite Verbot chemischer Waffen. muß sie in der Frage der zuverlässigen Verifizie- rung weiter entgegenkommen, klarer werden, was (Lange [GRÜNE]: Das sieht man!) denn damit eigentlich gemeint ist, und dies gilt j a Die Resolution im Kongreß vom 19. Dezember 1985 vor allen Dingen wohl für die Produktion chemi- sagt ausdrücklich, daß die Endfertigung binärer scher Waffen. Wir haben — ich sage es noch einmal chemischer Munition nur dann in Betracht komme, — Vorschläge dazu gemacht. Leider haben die so- wenn es nicht gelinge, ein Verbotsabkommen zu wjetischen Experten unserer Einladung damals erreichen. keine Folge geleistet. Die Vereinbarung zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Reagan ist ein Ein Ergebnis der Verhandlungen, Herr Bahr, ist wichtiger Schritt auf einem Wege, der zumindest bisher an der Haltung der Sowjetunion in der Kon- zunächst auf dem Gebiet der chemischen Waffen zu trollfrage gescheitert. Das wissen Sie auch. Warum deren vollständiger Beseitigung und weltweiter sagen Sie das dann nicht hier? Ein Vertrag ohne Ächtung führen kann. Er führt damit weiter, meine Kontrolle vor Ort aber wäre wertlos. Darin stimmen Damen und Herren, als das mit der Einführung Sie uns doch hoffentlich zu! einer chemiewaffenfreien Zone in Europa je er- Auch die jüngsten Vorschläge der Sowjetunion reicht werden könnte. vom 22. April 1986 zur Kontrollproblematik betref- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fen ausschließlich die sogenannte Zerstörungs- phase für chemische Waffen und Produktionsanla- gen. Sie schweigen sich völlig zu dem eigentlichen Das Wort hat der Bun- Vizepräsident Cronenberg: Problem aus, nämlich zur Überwachung der Nicht- desminister der Verteidigung, Dr. Wörner. produktion und zu Verdachtskontrollen. Daher muß sich die Forderung der SPD — bitte schön — nicht Dr. Wörner, Bundesminister der Verteidigung: an die Adresse der Amerikaner, sondern an die Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolle- Adresse der Sowjetunion richten, Herr Bahr. gen! Die Bundesregierung hat ein überragendes In- teresse an einem weltweiten und verläßlich kontrol- (Beifall bei der CDU/CSU) lierbaren Verbot chemischer Waffen und an der Im übrigen widerspreche ich auch Ihrer Feststel- Vernichtung solcher Waffen wie auch ihrer Produk- lung, die schlichtweg falsch ist, daß neue binäre tionsstätten. Waffen schwieriger zu kontrollieren wären als die Die Bundesrepublik Deutschland hat als bisher alten. einziger Staat 1954 auf die Herstellung nicht nur (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Lassen Sie sich atomarer und biologischer, sondern auch chemi- einmal von Sachverständigen beraten!) scher Waffen vertraglich verzichtet. Im Rahmen der Westeuropäischen Union hat sie außerdem interna- Tatsache ist, nicht der Westen ist es, der die Ver- tionalen Kontrollen dieses Verzichts zugestimmt. handlungen blockiert; die Sowjets sind es. Die So- Diese Kontrollen werden bei uns in der Bundesre- wjetunion muß endlich am Verhandlungstisch ein- publik Deutschland als einzigem Land durchge- lösen, was der Herr Gorbatschow öffentlich ankün- führt. digt: Wir wollen ihn dort beim Wort nehmen, und dort muß er zeigen, was seine Worte wert sind. Niemand kann also einen Zweifel daran haben: Wir wollen, daß chemische Waffen aus dieser Welt (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist richtig!) Deutscher Bundestag — 10. 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Bundesminister Dr. Warner Deswegen braucht der Bundeskanzler keinen Brief sie auf chemische Waffen? Warum vermehren sie zu schreiben, Herr Bahr. Was sollte denn ein sol- ihr Potential weit über jeden vorstellbaren Ab- - cher Brief im Augenblick für einen Sinn machen? schreckungszweck hinaus, und dies, obwohl seit Wir verhandeln dort. 1980 über die Abschaffung chemischer Waffen ver- Im übrigen, Herr Bahr: Sie sind so oft in Moskau. handelt wird? Warum — ich wiederhole das — stel- Ich wollte, Sie hätten ein einziges Mal die Sowjet- len Sie sich dann hin und klagen uns von der CDU union aufgefordert, endlich mit der Produktion che- an, wir sagten Ja zu mehr chemischen Waffen? mischer Waffen aufzuhören. „Frieden schaffen" — so haben Sie eben gesagt — „mit mehr Waffen", sei unser Motto. (Beifall bei der CDU/CSU) (Lange [GRÜNE]: Das ist doch richtig!) Sie wissen doch auch — aber Sie stellen sich hier- hin und tun so, als ob das nicht so wäre —, daß die Herr Bahr, Sie zwingen mich zu einer Entgegnung, Amerikaner seit 17 Jahren einseitig auf die Produk- die nicht in meinem Manuskript steht: Sie sagen Ja tion chemischer Waffen verzichtet haben. Amerika zu immer mehr sowjetischen Waffen, chemischen hat doch damit eine einseitige Vorleistung erbracht, und Raketenwaffen. „Frieden schaffen mit mehr so- 17 Jahre lang, und damit der chemisch gerüsteten wjetischen Waffen", ist Ihr Motto, meine Damen Sowjetunion einen tatsächlichen Vertrauensvor- und Herren. schuß gewährt. Die Sowjetunion hat dies weder bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — den Rüstungskontrollverhandlungen in Genf noch Bahr [SPD]: Das ist unerhört! Demagogie! durch einen eigenen Produktionsstopp chemischer — Lange [GRÜNE]: Ein dummer Dema Waffen honoriert. Ganz im Gegenteil: In den ver- goge sind Sie, und sonst nichts! — Dr. gangenen 17 Jahren produzierte und stationierte Scheer [SPD]: Verleumder! — Weitere Zu die Sowjetunion fortgesetzt chemische Waffen. rufe von der SPD) Hören Sie gut zu: Experten schätzen den gelager- — Sehr gut, daß Sie sich jetzt aufregen, lieber Herr ten Bestand chemischer Kampfmittel in der So- Bahr. wjetunion inzwischen auf mehrere hunderttausend (Weitere Zurufe von der SPD und den Tonnen. Das ist doch eine gewaltige Menge. Wissen GRÜNEN) Sie eigentlich, ob die Sowjets dabei nicht auch schon binäre Munition haben? Die sowjetischen Wenn Sie die Demagogie in diesen Saal tragen, dür- Truppen üben während ihrer Manöver den Einsatz fen Sie nicht erwarten, daß wir zu einer solchen unter den Bedingungen chemischer Kampffüh- Polemik stillschweigen. rung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Lange [GRÜNE]: Die Amerikaner ja Dr. Scheer [SPD]: Verleumder! — Weitere auch!) Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) Die Felddienstvorschrift der Streitkräfte der So- Wenn Sie von uns erwarten, daß wir ein Veto gegen wjetunion erwähnt in insgesamt 27 Ziffern eigene die Produktion amerikanischer Waffen einlegen, C-Waffen für den Einsatz. In weiteren elf werden (Lange [GRÜNE]: Antikommunismus als sie in allgemeiner Form angesprochen. Beruf!) (Bahr [SPD]: Trotzdem kann alles weg! — dann frage ich Sie: Warum dann kein Veto gegen Weitere Zurufe von der SPD) die Produktion sowjetischer Waffen, und wie woll- — Hören Sie gut zu, auch wenn es Ihnen unange- ten Sie das durchsetzen, lieber Herr Bahr? nehm ist: (Bahr [SPD]: Weil wir mit denen nicht ver (Widerspruch bei der SPD) bündet sind! -- Weitere Zurufe von der SPD) Sie schließen dauernd die Augen davor, was in der Sowjetunion passiert, und versuchen, die Amerika- ner anzuklagen, obwohl die damit aufgehört ha- Vizepräsident Cronenberg: Meine Damen und Her- ben. ren, die Zwischenrufe sind sicher das Salz der De- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — batte. Aber versalzen Sie sich die Suppe nicht! Abg. Bahr [SPD] meldet sich zu einer Zwi schenfrage) Dr. Wörner, Bundesminister der Verteidigung: — Hören Sie gut zu, Herr Bahr. Ich lasse jetzt keine Vorschläge für chemiewaffenfreie Zonen in Teilen Gegenfrage zu, weil ich das zu Ende führen will. Europas ist kein brauchbarer Ersatz für ein Ende Nach dieser Felddienstvorschrift der Sowjets ist der der chemischen Rüstung durch ein Abkommen, das Einsatz chemischer Waffen u. a. in allen Gefechtsar- alle Arten, alle Lager und alle Produktionsstätten ten, gegen Reserven, zur Sicherung der Flanken, zuverlässig beseitigen würde. Sie sind es auch des- gegen Fliegerkräfte und Materiallager, Verkehrs- halb nicht, weil die chemischen Waffen der Sowjet- knotenpunkte, gegen Engen und Ubersetzstellen union wegen der kurzen Entfernung nach Mitteleu- vorgesehen. Es kann also kein Zweifel bestehen, ropa leicht und schnell in ein solches geräumtes daß chemische Waffen ein integraler Bestandteil Gebiet zurückgebracht werden könnten, weil sie der vorgesehenen sowjetischen Planung sind. über größere Entfernungen hinweg von Flugzeugen Ich frage Sie: Warum sind die Sowjets dem ame- und Flugkörpern in ihre Ziele geworfen werden rikanischen Beispiel nicht gefolgt? Warum setzen könnten. 16680 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Bundesminister Dr. Wörner Unser Land und Mitteleuropa würde in einer sol- Dezember 1987 zulässig und steht unter dem Vorbe- chen Zone nicht sicherer vor einer Bedrohung halt, daß es bis dahin nicht zu einem vertraglichen - durch weiträumige Angriffe mit chemischen Waf- Verbot gekommen ist. fen sein. Deswegen lenken solche Vorschläge nur vom wesentlichen ab. Sie lassen den harten Kern Das heißt also: Die Sowjetunion hat es in der der Bedrohung in Reichweite zu Westeuropa beste- Hand, indem sie das gleiche tut, was die Amerika- hen und erwecken nur den trügerischen Schein f al- ner getan haben, indem sie sich endlich zu Kontroll- scher Sicherheit. Im übrigen: Wäre das vertraglich maßnahmen bereit findet. Dann wird es niemals zu vereinbart, würden Sie die Stationierung sowjeti- einer solchen Produktion kommen. Und dazu for- scher chemischer Waffen in Polen und der UdSSR dern wir sie auf. legitimieren müssen, und die Amerikaner verlören (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das Recht, in Krisenzeiten hier ihre Waffen zu sta- tionieren. Darum ist es absurd und grotesk, Herr Bahr, wenn die SPD der amerikanischen Regierung vor- Solange es aber chemische Waffen gibt, kommt wirft, sie eröffne eine neue Rüstungsrunde, drehe alles darauf an, deren Einsatz dadurch zu verhin- an der Rüstungsspirale und gefährde damit die in dere, daß von einem Rückgriff auf diese Waffen Genf stattfindenden Verhandlungen. Ja, wenn das abgeschreckt wird. Dies ist seit dem Ende des Er- so wäre, hätten die Sowjets über sechs Jahre hin- sten Weltkrieges in Europa gelungen. Für diesen weg die Verhandlungen gefährdet. Zweck — und nur für diesen Zweck — brauchen die Vereinigten Staaten von Amerika auch für die (Lange [GRÜNE]: Sind Sie Pressesprecher NATO eine begrenzte Anzahl chemischer Waffen — des Pentagons? — Dr. Ehmke [Bonn] ausschließlich zur Vergeltung in begrenztem Um- [SPD]: Jedenfalls eine Hilfskraft!) fang —, um nämlich die Sowjetunion davon abzu- Sie, die Sowjets, sind es, die die Rüstungsspirale im halten, ihre Waffen gegen das westliche Bündnisge- chemischen Bereich ununterbrochen weiterdrehen, biet einzusetzen oder damit zu drohen. und nicht die Amerikaner. Deshalb ist die angekün- Die Staaten des Warschauer Paktes dürfen im digte Produktionsaufnahme eher ein Anreiz für die Ernstfall nicht darauf bauen können, sich durch Sowjets, ihren Widerstand gegen Verdachtskontrol- den Einsatz chemischer Waffen gegen das NATO len aufzugeben. Gebiet einen militärischen Vorteil zu verschaffen (Lange [GRÜNE]: In welchem Referat des und die Bevölkerung Westeuropas durch die Dro- Pentagons arbeiten Sie eigentlich?) hung mit einem chemischen Kampfstoffangriff in Furcht und Schrecken jagen zu können. Sie werden begreifen müssen, daß ihre Hoffnung trügt, die Verhandlungen so lange verschleppen zu Um es noch einmal klar zu sagen: Die NATO wird können, bis schließlich eines Tages alle chemischen chemische Waffen nur so lange beibehalten, wie die Waffen der Vereinigten Staaten von Amerika un- Sowjets nicht auf solche verzichten. Die Vereinig- brauchbar werden. ten Staaten von Amerika würden sie niemals als erste einsetzen. Wer aber auf die Mittel zur chemi- Schlichtweg falsch ist, was die SPD im Antrag zur schen Vergeltung — und ich wiederhole noch ein- Haltung früherer Bundesregierungen erklärt. Auch mal: in begrenztem Umfang — einseitig verzichtet, führere Bundesregierungen — Ihre Bundesregie- verurteilt sich selbst zur Wahl zwischen Hilflosig- rungen — haben die Gültigkeit und Verbindlichkeit keit und erzwungener automatischer nuklearer Re- der NATO-Strategie MC 14/3 nie in Zweifel gezo- aktion. gen. Und darin sind chemische Waffen in Ergän- zung der anderen Abschreckungsmittel ausdrück- (Lange [GRÜNE]: Alles ist begrenzt!) lich vorgesehen. Und davor kann ich nur mit allem Nachdruck und (Lange [GRÜNE]: Das ist ja toll!) mit aller Eindringlichkeit warnen. Die Strategie des Bündnisses sowie die dort be- Und ein anderes muß klargestellt werden: Chemi- schriebene Rolle chemischer Waffen bleiben unver- sche Waffen dienen auch nicht als eine selbständige ändert gültig. Komponente der Eskalation. Nachdem die Ameri- kaner 17 Jahre lang keine chemischen Kampfstoffe Noch am 13. Mai 1981 hat der frühere Parlamen- mehr produziert haben, veralten ihre Bestände tarische Staatssekretär Dr. Penner, Ihr Parteimit- mehr und mehr. Das gilt auch für die hier lagern- glied, in einer Fragestunde dieses Hauses erklärt, den. die Bundesregierung — wohlgemerkt, die von der SPD geführte Bundesregierung — beabsichtige Wenn also die Sowjetunion zur Abschaffung che- nicht, die Vereinigten Staaten von Amerika aufzu- mischer Waffen weiterhin nicht bereit ist, sind die fordern, ihr in der Bundesrepublik Deutschland ge- Amerikaner gezwungen, die Produktion binärer lagertes chemisches Kampfstoffpotential abzuzie- Waffen aufzunehmen. Daher hat die amerikanische hen. Da stellen Sie sich hier hin und sagen: Was Regierung dies beim Kongreß beantragt. schert uns unser dummes Geschwätz von gestern? (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Seltsame Lo Da kann ich nur sagen: Fassen Sie sich an die gik!) eigene Nase. Sie haben doch alles weggeworfen, Und jetzt hören Sie gut zu: Eine Endfertigung binä was Ihr Bundeskanzler Schmidt noch für richtig rer chemischer Waffen ist allerdings gemäß dem gehalten hat. Beschluß des amerikanischen Kongresses erst ab (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16681

Bundesminister Dr. Wörner Bundeskanzler Kohl hat in drei Punkten erreicht, Land in Europa. Das ist die Alternative, Herr was kein anderer deutscher Regierungschef vor Bahr! - ihm erreicht hat. Erstens. Die hier lagernden chemi- schen Waffen werden abgezogen. Zweitens. In Frie- Vizepräsident Cronenberg: Herr Minister, der Ab- denszeiten werden keine chemischen Waffen bei geordnete Mann möchte Ihnen eine Zwischenfrage uns stationiert. Auch im Eventualfall können sie stellen. nur mit unserer Zustimmung ins Land gebracht werden. Drittens. Auch in einem Eventualfall würde Dr. Wörner, Bundesminister der Verteidigung: die Bundesrepublik Deutschland in Zukunft nicht Nein! mehr das einzige Land in Europa sein, in das ame- rikanische chemische Waffen gebracht würden. Das Vizepräsident Cronenberg: Ich bedaure, Herr Ab- hat der amerikanische Präsident ausdrücklich zu- geordneter. gesichert. In jedem Fall sind vor der Verbringung chemischer Kampfstoffe umfassende politische Dr. Wörner, Bundesminister der Verteidigung: Wir Konsultationen vorgesehen, die es uns erlauben, stünden dann schlechter da, als wir in Zukunft da- unsere Interessen auf der Grundlage ungeschmä- stehen werden. Daher ist die Entscheidung der lerter Souveränität zu vertreten. Das zeigt im übri- Bundesregierung im Bündnis konsequent und rich- gen: Die Bundesregierung, der Bundeskanzler Hel- tig, und sie liegt im Interesse unserer Bürger und mut Kohl hat im westlichen Bündnis Einfluß, und ihrer Sicherheit. er nutzt diesen Einfluß im deutschen Interesse. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Alles aber, was wir jetzt entscheiden, ändert Lachen bei den GRÜNEN — Tatge [GRÜ nichts daran — das möchte ich mit aller Eindring- NE]: So sieht der gerade aus!) lichkeit wiederholen —, daß diese Bundesregierung — Ihr Aufschrei zeigt doch nur, daß Sie im Grunde mit höchster Priorität das Ziel eines weltweiten genommen bedauern, daß Sie es nicht waren, die Verbots chemischer Waffen weiterverfolgen wird. das erreicht haben. (Sehr gut! bei der CDU/CSU) (Rühe [CDU/CSU]: Das ist der Punkt!) Ein vollständiges Verbot aller Waffen chemischer Art entspräche unseren deutschen Sicherheitsinter- Was bedeutet das? Erstens. Die Vereinigten Staa- essen wie denen aller Menschen dieser Welt am ten von Amerika werden sich, was chemische Waf- besten. fen angeht, nicht mehr auf ihre Rechte aus dem Aufenthaltsvertrag von 1954 berufen. (Frau Borgmann [GRÜNE]: Dann können wir doch bei uns einmal anfangen! Das (Lange [GRÜNE]: Nie mehr?) wäre doch einmal was! — Gegenruf von der Dies ist ein beträchtlicher politischer Gewinn für CDU/CSU: Das tun wir doch!) unsere Souveränität, die aus dieser Verständigung Es würde die Produktion neuer chemischer Waffen mit den Vereinigten Staaten von Amerika gestärkt überflüssig machen. Ein durch einseitigen Verzicht hervorgeht. Dies ist auch eine Aufwertung der deut- entstehendes Monopol der Sowjetunion gefährdet schen Position im Bündnis und in Europa. unsere Sicherheitsinteressen. Es bedeutet zweitens auch das Ende der Singula- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) risierung der Bundesrepublik Deutschland als des Darum, meine Damen und Herren: So wie die Bun- einzigen NATO-Landes in Europa, auf dessen Bo- desrepublik Deutschland als einziges Land der Welt den chemische Waffen gelagert sind. Das wird ein auf die chemischen Waffen verzichtet hat und sich Ende haben! vertraglich einer Kontrolle unterworfen hat, so wol- len wir es weltweit haben. Chemische Waffen müs- Schließlich werden die chemischen Waffen in der sen von dieser Erde verbannt werden! Bundesrepublik Deutschland ersatzlos — ich wie- derhole: ersatzlos — bis spätestens 1992 aus der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesrepublik Deutschland abgezogen, falls die Endfertigung binärer Waffen in Amerika im De- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Herr zember 1987 beginnen kann. Abgeordnete Lange. Zustimmung der Aus all diesen Gründen liegt die Lange (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen Bundesrepublik Deutschland zum NATO-Streit- und Herren! Herr Minister Wörner, es war immer kräfteziel für die nationale Entscheidung — ich so, und es wird wohl immer 'so bleiben, daß Sie Anti- wiederhole: die nationale Entscheidung — der Ame- kommunismus mit Politik verwechseln. Das ist le- rikaner zur Produktion binärer Kampfstoffe in un- bensgefährlich, weil diese Politik uns in der Tat serem Interesse. Dann werden die chemischen Waf- immer mehr Rüstung und immer mehr Gefahr be- fen von unserem Boden verschwinden, genau wie schert. Ich habe hier keinen Kollegen von der SPD die nuklearen Sperrmittel von unserem Territorium zu verteidigen — das kann er selbst tun —, aber abgezogen wurden; auch das war das Verdienst die- wenn Sie Herrn Bahr entgegenhalten, er sage zu ser Bundesregierung, nicht irgendeiner früheren. sowjetischen chemischen Waffen ja, kann ich Ihnen Würden wir Ihrem Antrag, dem Antrag der Oppo- nur antworten: Offensichtlich ist der Unterschied sition, folgen, blieben die chemischen Waffen in der zwischen Herrn Bahr und Ihnen der, daß dieser Bundesrepublik Deutschland als einzigem NATO Mann in den Mittelpunkt seiner politischen Tätig- 16682 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Lange keit gestellt hat — deswegen reist er so oft nach ringen mußte? Nun, diese Regierung macht sich Moskau —, von dort Waffen jeder Art wegzubrin- Mut, indem sie es sich — wie so oft — sehr einfach - gen, während Sie so oft nach Washington reisen, um macht. Sie sagt: Auf Grund des Aufenthaltsvertrags immer mehr Waffen hierherzubringen. Das ist der von 1954 hätten die Amerikaner sowieso das Recht, Unterschied, den wir sehen. Modernisierungen ihrer C-Waffen-Bestände hier (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord ohne Konsultationen durchzuführen. Nun haben neten der SPD — Wilz [CDU/CSU]: Dum der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister mes Zeug ist das! — Weitere Zurufe von — so hören wir — in Gesprächen und in Briefwech- der CDU/CSU) seln — natürlich geheim, so daß es nicht nachprüf- bar ist — mit dem US-Präsidenten erreicht, daß die Worum geht es der Sache nach? Auch darüber ist alten Bestände abgebaut werden, daß keine Statio- heute zu reden. Es geht um Kampfmittel, die Ner- nierung neuer binärer Waffen erfolgt, daß eine sol- ven angreifen, Erstickungen und Atemstillstand zur che im Eventualfall nur mit Zustimmung der Bun- Folge haben. Ätzende Wirkstoffe greifen die At- desregierung erfolgen könne. mungsorgane, Augen und Haut an. Schäden an Au- gen und Lunge entstehen rasch. Wirkstoffe, die das Ich lese das Wort „Bitte". Ich möchte fragen: Für Blut angreifen, beeinträchtigen die Fähigkeit des wie dumm halten Sie uns eigentlich, daß Sie uns Körpergewebes, besonders des Gehirns, Sauerstoff weismachen wollen, irgendein Aufnahmestaat aus dem Blut zu absorbieren. würde um chemische Waffen zur Verwendung auf dem eigenen Territorium bitten? Was machen Sie Auch darüber ist heute zu reden: Ob binär oder eigentlich mit der Bevölkerung, mit solchen Brief- nicht, ob als Vergeltungswaffe oder als Kriegsfüh- wechseln, mit solchen Texten? Ich kann nur sagen: rungsinstrument gedacht, die Bundesregierung ist Man kann nur mit dem Kopf schütteln; das ist fast bereit, sich mit solchen Mitteln zu verteidigen oder schon pervers. verteidigen zu lassen — wahrhaft eine moralische Wende in der Wertegemeinschaft NATO! (Beifall bei den GRÜNEN — Wilz [CDU/ CSU]: Ein Blödsinn!) Ich könnte mir vorstellen, daß es solche bitteren Gedanken und Gefühle waren, die andere NATO Herr Lamers hat erklärt: Souveränitätsgewinn plus Abrüstung — ein totaler Erfolg, sollte man mei- Staaten zu anderen Einschätzungen und Konse- quenzen kommen ließen, als es hierzulande durch nen, ein Erfolg, der sowohl das zähe Verhandlungs- geschick des Bundeskanzlers als auch die Abrü- unsere Regierung den Anschein hat. Dänemark ist gegen die Stationierung von C-Waffen, auch in Kri- stungswilligkeit der USA beweisen soll, die doch immerhin — so Herr Todenhöfer und jetzt auch senzeiten. Die Regierung der Niederlande will un- Herr Wörner — als einseitige Vorleistung 17 Jahre ter keinen Umständen stationieren. In Belgien hat, obwohl sich die Regierung bisher nicht gegen die lang keine weiteren C-Waffen produziert hätten. Stationierung ausgesprochen hatte, gestern abend Herr Todenhöfer, Sie haben gestern im Ausschuß die zuständige Parlamentskommission die Statio- gesagt — das ist wohl nicht geheim; ich glaube, er nierung auch in Krisenzeiten abgelehnt. Alle ist gar nicht da, ich vermisse ihn im Moment —, es Christdemokraten und ein Liberalkonservativer ha- gebe das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern" von ben sich in diesem Sinne ausgesprochen. Alexander Mitscherlich. Er hat dann an die Adresse der Opposition gesagt, offensichtlich gebe es bei (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Auch alles Kommunisten- uns auch die Unfähigkeit, sich zu freuen. Ich sage Ihnen: Es gibt bei ihm und der Regierungskoalition freunde!) die Unfähigkeit, die volle Wahrheit zu sagen, wahr- — Alles Kommunisten. Uns wäre es schon recht, haftig zu sein. Sonst müßte man sehen, daß diese wenn sich alle Liberalkonservativen — Liberalpro- alten Bestände nicht aus irgendwelchen Abrü- gressive gibt es j a schon nicht mehr — und nur ein stungsgedanken heraus abgebaut werden, sondern Christdemokrat dagegen aussprächen. Das würde deshalb, weil diese Bestände völlig unsicher sind. uns zahlenmäßig schon reichen. Ich darf hier nur den demokratischen Senator Jack- Es gab ja auch gewichtige Stimmen im Vorfeld. son zitieren, der am 17. September 1980 in der Se- David M. Abshire, der NATO-Botschafter der USA, natsdebatte über die Einführung binärer Nerven- sagte — ich zitiere ihn —: kampfstoffe gesagt hat: Wir haben auch versucht, zu vermeiden, daß Wir haben gegenwärtig 4 000 Undichtigkeiten dieses Thema in Europa ebenso wie die Neutro- pro Jahr, toxische Lecks. nenbombe zum politischen Spielball wird und Das heißt also, wenn der Westen aus solchen Grün- ebenso wie diese dämonisiert wird. den abrüstet, weil alte chemische Waffen zu einer Am selben Tag, am 10. April 1986, sagte Thomas Gefahr für ihre Bewacher werden, dann gestatten Welch, der Staatssekretär im Pentagon: Sie, meine Damen und Herren von der Regierungs- koalition, leise Zweifel an der konsequenten Abrü- Wir müssen versuchen, eine politisierte De- stungswilligkeit derer, die diese Waffen abziehen. batte in europäischen Parlamenten und an- Chemische Entsorgung ist keine chemische Abrü- derswo zu vermeiden. stung, zumal wenn sie mit chemischer Modernisie- Trotzdem wagt die Bundesregierung diese Debat- rung einhergeht. te. Woher nimmt sie den Mut zu diesem Risiko, das Nein, es geht nicht um Abrüstung, sondern um man ihr bei der Nachrüstungsdebatte 1983 erst ab- klammheimliche Strategieveränderung innerhalb Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16683 Lange der NATO. Ich darf hier den amerikanischen Hee- So Duncan Hunter vom US-Verteidigungsausschuß. resminister Marsh zitieren. Während eines Kon- Oder ein anderes Zitat: - greß-Hearings hat er gesagt — ich bitte Sie, genau zuzuhören, weil das von Ihrer Seite aus immer wie- Es geht dabei nicht um eine Stationierung in der ignoriert wird, obwohl Sie sehr genau wissen, Krisenzeiten. Wir gehen davon aus, daß die worum es bei dieser Modernisierung geht —: Waffen in den USA und in Europa gelagert werden. Wir müssen obsolete, potentiell unsichere Mu- nition demilitarisieren, um spätere Probleme So John Porter vom US-Haushaltsausschuß. Ich mit ihr zu vermeiden. Die Modernisierung mit frage mich: Was gilt nun, die Wunschvorstellung der Binärwaffen ist notwendig, um eine glaubwür- Bundesregierung, mit der sie hier vor die Öffent- dige Fähigkeit zur Vergeltung zu besitzen, die lichkeit tritt, oder die realistische Einschätzung von mit dem Air/Land-Battle-Konzept vereinbar US-Experten in Kenntnis der Abläufe? ist. Krisen-/Eventualfall: Wer definiert den Krisen- Hier sind wir beim Kern der Debatte; denn: fall? Der Begriff kennt keine grundgesetzliche Ent- Beweglich eingesetzte Luft- und Bodenstreit- sprechung. Was ist ein Eventualfall? Wer definiert kräfte, konventioneller, atomarer und chemi- die Kriterien dafür? Unsere Befürchtung ist: Die scher Beschuß, subversive Kriegsführung, ak- Definitionsmacht liegt beim amerikanischen Präsi- tive Aufklärung, Überwachung und Zielerfas-, denten. Wo ist dann die Souveränität geblieben, auf sungsbemühungen sowie die elektronische die Sie hier heute so stolz hingewiesen haben? Kampfführung werden alle auf den Frontbe- reich und die rückwärtigen Gebiete beider (Beifall bei den GRÜNEN) Kombattanten gerichtet sein. Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Dies ist nur ein Zitat aus dem Field-Manual 100/5, Wenn die Bundesregierung dem Streitkräfteziel dem Air/Land-Battle-Konzept, nach dem die ameri- „neue chemische Waffen" auf der NATO-Rats-Ta- kanischen Streitkräfte bereits jetzt auch auf dem gung zustimmt, dann bedeutet das faktisch ihre Zu- Boden der Bundesrepublik ausgebildet werden. Das stimmung zur Produktion der binären chemischen ist der Kern der Angelegenheit. Es geht um die Waffen. Damit macht sich die Bundesregierung ent- Komplettierung, um diè klammheimliche Strategie- scheidend mitverantwortlich für erstens eine neue veränderung innerhalb der NATO! Da führt man in Aufrüstungsrunde, diesmal auf dem Gebiet der che- der Öffentlichkeit ein Scheingefecht und geriert mischen Waffen, zweitens eine schleichende Strate- sich gar noch mit einem Abrüstungswillen. Dies ist gieveränderung der NATO in Richtung auf offen- der Einstieg der Bundesrepublik und der NATO in sive Air/Land-Battle-Kriegsführungsstrategien auf die Air/Land-Battle-Konzeption der USA. Dies ist dem mitteleuropäischen Schlachtfeld, drittens eine die schleichende Aushöhlung der jetzigen NATO Änderung der Sichtweise über die Funktion von Strategie. C-Waffen als Repressalie hin zu Kriegsführungs- (Beifall bei den GRÜNEN) waffen und viertens für einen weiteren moralischen Verfall von politischer Kultur dadurch, Zur Haltung der Bundesregierung: Der Bundes- kanzler hat auf der Pressekonferenz am 11. April (Lamers [CDU/CSU]: Dummes Zeug!) gesagt, es handle sich um eine nationale Entschei- dung der amerikanischen Regierung. Es werde daß die Wertegemeinschaft NATO sich nicht scheut, keine Stationierung neuer binärer chemischer Waf- bereit zu sein, im Krieg Mittel einzusetzen, die fen in der Bundesrepublik geben. Sie wissen, dies nichts anderes sind als materialisierte Lebensver- ist falsch, irreführend und gefährlich. Falsch ist es, achtung. Wir fordern deshalb die Bundesregierung da die Kongreß-Resolution die Produktionsauf- auf, auf der NATO-Rats-Tagung am 22. Mai in Brüs- nahme an eine formelle NATO-Rats-Entscheidung sel ein klares Nein zur Produktion von C-Waffen bindet. Der Kanzler verschweigt, daß mit deutscher durch die USA zu sagen. Sie hat hier eine Schlüssel- Zustimmung bereits am 17. Februar der Militäraus- rolle und sollte sich dieser Rolle endlich einmal frie- schuß der NATO das Streitkräfteziel „neue chemi- denspolitisch konstruktiv bewußt sein. sche Waffen" billigte. Die letztlich politisch bin- Ich möchte Ihnen zum Schluß noch etwas zum dende Entscheidung aber fällt am 22. Mai im Nachdenken mitgeben, vor allen Dingen jenen, die NATO-Rat. Hier ist die Bundesregierung gefordert, vielleicht auf ihre Hartgesottenheit stolz sind: In ein klares Nein zu sagen, wenn sie es wirklich ernst was für eine Zukunft lassen Sie uns und kommende mit der Abrüstung meint. Generationen eigentlich hineinwachsen? Da ver- (Tatge [GRÜNE]: Das ist sehr unwahr strahlen unsere Luft, unsere Erde, unsere Lungen scheinlich!) radioaktiv, und Sie setzen weiter unbeirrt auf Atom- energie. Sie sind für mehr konventionelle Rüstung, Keine Stationierung, sagte er, und implizierte: in für immer gefährlichere Atomwaffen und für die Friedenszeiten. Aber ich darf zitieren: Stationierung — wann auch immer und wie auch Wenn wir sie erst bauen, dann wird der Druck immer — von chemischen Waffen. Sie, die Sie im- auf die NATO-Alliierten so groß sein, eine Sta- mer von Frieden in Freiheit reden, merken gar tionierung auf eigenem Boden zu akzeptieren, nicht mehr, wie diese Worte zur hohlen Phrase ge- besonders auf die Bundesrepublik, wo es sie ja rinnen, weil die Menschen das hier nicht mehr als heute auch gibt. friedlich und frei empfinden. Es ist keine lebens- 16684 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Lange werte Zukunft mehr, die uns durch Ihre Politik in vorhanden ist, um vom . Einsatz dieser gräßlichen- Aussicht steht. Waffen abzuschrecken. Wir hätten es uns als Oppo- (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Sie sition damals leichtmachen können, der Regierung sind der Schwarzmaler der Nation!) wegen der Zustimmung zu diesem Dokument Vor- würfe zu machen. Wir haben es nicht getan, weil wir — Das zeigt nur, daß Sie an der Bevölkerung vor- der Meinung sind: auch in der unterschiedlichen beileben. Gehen Sie einmal raus und fragen Sie die Funktion gibt es gemeinsame Interessen. Das Leute, was sie denken. schlimmste, was man im politischen Leben tun (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN — kann, ist, der anderen Seite die böse Absicht zu Schwarz [CDU/CSU]: Das sehen wir bei unterstellen. Über den Weg kann man streiten. Die der nächsten Wahl!) böse Absicht zu unterstellen vergiftet tatsächlich Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie su- die politische Atmosphäre. chen sich ein neues Volk, das Ihre kalte Politik mit- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) macht, oder die Bürger hier suchen sich eine neue Regierung. Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, daß wir über dieses ganz empfindliche Thema in Sachlichkeit (Beifall bei den GRÜNEN) miteinander reden können. Für die erste Möglichkeit möchte ich Ihnen viel Meine Damen und Herren, zu keiner Zeit ist über Glück wünschen. Für die zweite Möglichkeit wer- Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle in den wir uns massiv einsetzen. solcher Breite zwischen West und Ost und interna- (Beifall bei den GRÜNEN) tional verhandelt worden wie jetzt. Ja, die Tatsache, Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag, der daß die Sowjetunion ihre Bereitschaft erklärt hat, lautet: weg mit den alten C-Waffen, keine neuen auch über die konventionelle Stabilität in ganz Eu- C-Waffen, wie auch immer und wo auch immer und ropa, vom Atlantik bis zum Ural, zu verhandeln — wann auch immer. eine übrigens von uns lange erhobene Forde- rung —, ist eine zusätzliche Ermutigung. Dabei sind Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. wir uns alle der Schwierigkeiten bewußt, die an den (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord verschiedenen Verhandlungstischen substantiellen neten der SPD) Ergebnissen noch entgegenstehen. Keines dieser Hindernisse ist unüberwindbar. Zu den Verhand- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Bun- lungen, in denen am schnellsten und am effektiv- desminister des Auswärtigen, Genscher. sten ein substantielles Ergebnis erreicht werden kann, gehören die Verhandlungen über ein umfas- (Zuruf von der SPD: Jetzt kommt das sendes und weltweites Verbot aller chemischen Jein!) Waffen auf der Genfer Abrüstungskonferenz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Genscher, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Präsident Reagan und Generalsekretär Gorba- ren! Als ich heute vormittag, Herr Kollege Bahr, tschow haben das bei ihrer Begegnung in Genf noch einmal das Protokoll des Unterausschusses, noch einmal unterstrichen. Ein solches Abkommen dem Sie vorzusitzen die Ehre haben, nachgelesen soll die Herstellung, Entwicklung und Lagerung von habe, hatte ich wie mein Kollege Ronneburger die C-Waffen, von chemischen Waffen, verbieten und Hoffnung auf eine sachliche Debatte. Denn was alle Staaten zur Vernichtung der bestehenden Vor- dort als wünschenswert von allen Seiten, die vertre- räte an chemischen Waffen und zum Abbau aller ten waren, betrachtet wurde, ist mehr als erfüllt Produktionsstätten verpflichten. worden. Für uns, für die Bundesregierung, hat das welt- Ich kenne die unterschiedlichen Aufgaben, die weite Verbot der chemischen Waffen höchste Prio- Opposition und Regierungskoalition wahrzuneh- rität. Chemische Waffen gehören zu den schreck- men haben. Nicht immer muß der Gegensatz in der lichsten Vernichtungswaffen, die man sich vorstel- öffentlichen Debatte ein Nachteil für die Wahrneh- len kann. Nicht nur hier, sondern überall in der mung der eigenen nationalen Interessen sein. Welt müssen sie verschwinden, um diese Geißel von der Menschheit zu nehmen, meine Damen und Her- Ich erinnere mich genau an das Jahr 1967, als die ren. damalige Bundesregierung die Entscheidung über ihre Zustimmung zu dem NATO-Dokument MC 14/3 (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zu treffen hatte, in dem den chemischen Waffen Der Einsatz von chemischen Waffen in regiona- ihre Funktion im Bereich der westlichen Sicher- len Konflikten in der Dritten Welt in jüngster Zeit heitspolitik zugewiesen wurde. Da war uns völlig unterstreicht doch, wie dringlich es ist, diese Waf- bewußt, daß der damalige Bundeskanzler Kiesin- fen weltweit zu verbieten. Die Erfahrung zeigt lei- ger, der damalige Verteidigungsminister Schröder der, daß das Genfer Protokoll von 1925, und der damalige Außenminister Willy Brandt ganz sicher nicht leichten Herzens diesem Dokument zu- (Horn [SPD]: Das Beste darf doch nicht der gestimmt haben. Wenn sie es trotzdem getan haben, Feind des Guten sein!) dann, weil sie wußten, daß die Existenz chemischer das nur den Einsatz von C-Waffen verbietet, aber Waffen auf der anderen Seite es erforderlich macht, den Besitz und die Herstellung erlaubt, eben nicht daß eine begrenzte Anzahl von solchen Waffen hier ausreicht. Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16685 Bundesminister Genscher Meine Damen und Herren, auch eigenes einseiti- Die Tatsache, daß bei regionalen Konflikten in - ges Verhalten allein ist nicht in der Lage, die Gefah der Dritten Welt chemische Waffen verwendet wer- ren zu beseitigen, die in der Existenz chemischer den, zeigt, daß wir sie weltweit verbieten müssen Waffen liegen. Die Bundesrepublik Deutschland ist und daß ein regionales Verbot nicht ausreichen das einzige Land der Welt, das vertraglich auf die würde. Herstellung von chemischen Waffen verzichtet hat. (Zuruf von den GRÜNEN: Kommen Sie Wir unterwerfen uns internationalen Kontrollen. doch mal zur Sache!) Aber wir müssen heute doch leider feststellen: Un- ser Beispiel hat eben keine Nachahmung gefunden. Meine Damen und Herren, wenn wir über die Pro- Das gehört auch zur Realität. bleme reden, die heute einem Abkommen über das Verbot noch entgegenstehen, dann stellen wir fest, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — daß die Probleme doch nicht in der Forderung nach Horn [SPD]: Wir sind auch keine Welt der weltweiten Geltung liegen. Im Gegenteil, die macht!) schwierigen Probleme der Verifikation, der Nach- — Zur Weltmacht komme ich gleich, Herr Kol- prüfbarkeit werden noch schwieriger, wenn sich lege. — das Verbot nur auf einen bestimmten Teil, auf eine Die erhoffte Nachahmung blieb auch aus, als die bestimmte Region bezieht, aber für andere Teile Vereinigten Staaten von Amerika 1969 die Produk- der Welt nicht gelten soll. Das regionale Verbot ist tion chemischer Kampfstoffe eingestellt haben. schwerer und nicht leichter zu verwirklichen. Das Hier ist die Sowjetunion seit 17 Jahren im Verzug. ist die Wahrheit. Ein uneingeschränktes weltweites Verbot aller (Zustimmung bei der FDP und der CDU/- chemischen Waffen, wie sie der Antrag der Fraktio- CSU -- Schwarz [CDU/CSU]: Das weiß der nen der CDU/CSU und FDP verlangt, entspricht der Herr Bahr nicht!) Politik der Bundesrepublik Deutschland seit lan- Wenn wir in der regionalen Beseitigung eine Ge- gem. fährdung und keine Chance für das weltweite Ver- bot chemischer Waffen sehen, nutzen wir dennoch Wir haben hier gestern über die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gespro- alle Möglichkeiten zu Gesprächen mit unseren un- chen. In dieser Debatte wurde deutlich, daß die mittelbaren Nachbarn im Warschauer Pakt, also Menschen nicht nur in unserem eigenen Lande, mit der DDR, mit der CSSR, um nach Lösungsmög- sondern daß sie in der ganzen Welt empfinden: un- lichkeiten für die noch offenen Fragen eines welt- sere Welt ist kleiner geworden. Wir sind aufeinan- weiten Verbots zu suchen. Diese Gespräche finden der angewiesen. Letztlich sind wir zu einer Überle- auf unserem Vorschlag seit Beginn dieses Jahres in bensgemeinschaft geworden. Nicht alles, was tech- Genf statt. Daneben steht das Thema des Verbots nisch möglich ist, ist Fortschritt. Die Gefahren vie- der chemischen Waffen auf der Tagesordnung aller ler technischer Entwicklungen kennen keine Län- Begegnungen mit den Mitgliedern des Warschauer dergrenzen. Genauso deutlich ist, daß die Sicherheit Pakts und auch der Abrüstungskonsultation mit diesen Ländern. heute nicht mehr allein, nicht mehr autonom garan- tiert werden kann, sondern daß sie kooperativer Die Bundesregierung erwartet von allen Teilneh- Lösungen bedarf. merstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz, daß gerade auch unter dem Eindruck der Katastrophe (Horn [SPD]: Sehr richtig!) von Tschernobyl in der im Juni beginnenden neuen Das habe ich heute morgen gesagt. Runde der Genfer Abrüstungskonferenz eine neue Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch, gemeinsame Anstrengung gemacht wird, mit der daß die Sicherheit nicht allein militärisch erreicht sich die Tragfähigkeit der Erklärungen allen Seiten werden kann, daß dazu auch Dialog, Zusammenar- am Verhandlungstisch erweisen muß. Nicht ein beit, vor allem aber Offenheit, Transparenz, Nach- Brief ist jetzt geboten, Herr Kollege Bahr; dort am prüfbarkeit gehören, damit Mißtrauen beseitigt Verhandlungstisch wird jeder Farbe zu bekennen wird, das der größte Feind jeglicher Fortschritte bei haben, jeder an diesem Verhandlungstisch, da wol- der Abrüstung ist. len wir keinen besonders auf die Anklagebank set- zen. (Sehr gut! bei der CDU/CSU) Die Bereitschaft, bei der Lösung offener prakti- Die Forderung nach dem weltweiten Verbot der scher Fragen flexibel und kompromißbereit mitzu- chemischen Waffen trägt der Erkenntnis Rechnung, arbeiten, ist der Prüfstein für die Bereitschaft zur daß unsere Welt kleiner geworden ist, daß das Ver- Rüstungskontrolle. Mit der weltweiten Abschaffung bot, hier chemische Waffen nicht haben zu dürfen, dieser ganzen Kategorie von schrecklichen Ver- aber die Möglichkeit, sie an anderer Stelle doch zu nichtungswaffen würde ein Signal der Hoffnung ge- besitzen und dann auch einsetzen zu können, eben setzt werden, daß es gelingt, dann auch mit anderen keine Sicherheit gibt, sondern im Gegenteil Miß- Kategorien weltweit Schluß zu machen, so wie wir trauen, Instabilität und Unsicherheit schafft. Des- das mit den Mittelstreckenraketen wollen. Die Zeit halb ist ein weltweites Verbot eine unabdingbare ist überreif. Das weltweite Verbot ist eben keine Forderung, wenn wir die chemischen Waffen wirk- Utopie, sondern realistisches Ziel. In Wahrheit sind lich loswerden wollen. doch die Verhandlungen in Genf weit fortgeschrit- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — ten. Aber Kern der offenen Probleme ist immer Horn [SPD]: Aber nicht Voraussetzung! — noch die Frage der Verifikation, der Nachprüfbar- Lange [GRÜNE]: Genau das ist falsch!) keit. 16686 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Bundesminister Genscher Die deutschen Beiträge haben sich seit Jahren das wollen wir erreichen, und das werden wir durch auf diese Frage konzentriert. So hat die Bundesre- die Zusagen erreichen, die wir bekommen haben. publik Deutschland ein Modell eingeführt, das die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kombination von Regelkontrollen mit einem Ver- fahren zur Überprüfung verdächtiger besonderer Der vereinbarte Abzug dieser Bestände, der nicht Vorkommnisse vorsieht. Aber es gibt auch Überein- später als 1992 abgeschlossen sein soll, entspricht stimmung im Bereich der Verifikation. Das betrifft nicht nur den Interessen der Bevölkerung in den insbesondere die systematische Kontrolle der Ver- betroffenen Gebieten. Ich empfehle einmal, mit den nichtung der vorhandenen C-Waffen-Bestände und Bürgern dort zu sprechen und zu hören, was die die Überprüfung der Beseitigung von Anlagen zur dazu sagen, wenn wir hier die Gelegenheit verpas- Herstellung von chemischen Waffen. sen würden, daß wir diese chemischen Waffen dort loswerden. Dort erwartet man von uns, daß wir alles Zu diesen beiden Punkten hat die Sowjetunion tun, daß sie endlich von deutschem Boden ver- am 22. April 1986 in der Abrüstungskonferenz eine schwinden, und dafür setzen wir uns ein. Ankündigung von Generalsekretär Gorbatschow vom 15. Januar 1986 verwirklicht. Sie erklärte sich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zu internationalen Kontrollen bei der Vernichtung Meine Damen und Herren, dieser Abzug der che- von C-Waffen-Beständen und -Herstellungsanlagen mischen Waffen beendet auch einen Zustand der bereit, einschließlich der Inspektionen vor Ort. Wir Singularisierung der Bundesrepublik Deutschland begrüßen diesen Verhandlungsschritt als Beitrag unter den europäischen Partnern und dient damit zur Lösung. Aber damit sind eben nicht alle Fragen der Einheit und der Geschlossenheit unseres Bünd- beantwortet. nisses. Es wird deshalb auch keine Austauschstatio- nierung — neu gegen alt — geben. Der Bundes- Ungelöst ist auch die Überwachung der chemi- kanzler hat am 11. April 1986 erklärt: Es wird keine schen Produktion. Hier kann es natürlich keinen Stationierung neuer binärer chemischer Waffen in Unterschied geben zwischen Produktionsstätten in der Bundesrepublik Deutschland geben. Wir sind staatlicher und privater Hand; das muß für beide uns mit den Vereinigten Staaten einig: Es wird in geiten. Ungelöst ist die Frage der Verifikation im Friedenszeiten keine Verbringung binärer chemi- Falle des Verdachtes. Hier ist eine konstruktive Be- scher Waffen in die europäischen Mitgliedstaaten wegung der Sowjetunion dringlich geboten. Inspek- der NATO geben, auch nicht im Rahmen einer tionen vor Ort, die nur mit Zustimmung des betref- Eventualfallplanung, es sei denn, es wird vom Auf- fenden Staates möglich sind, wären nicht sachge- nahmeland eigens gewünscht und gebilligt. Wie Sie, recht und würden nicht die Kontrollfunktion erfül- Herr Kollege Lange von den GRÜNEN, diese For- len, die zur Vertrauensbildung notwendig ist. mulierung kritisieren können, ist mir gänzlich un- verständlich. Wenn wir durchsetzen, daß die Vor- Das Bündnis hat bei der . Festlegung der gelten- den Strategie der flexiblen Antwort in dem erwähn- aussetzung einer Stationierung ist, daß ein europäi- ten Dokument MC 14/3 schon im Jahre 1967 festge- sches Land es verlangen und billigen muß, dann legt, daß, solange C-Waffen nicht gänzlich verboten betrachten sie das als eine Perversität. Für mich ist sind, eine begrenzte Zahl davon bereitgehalten wer- das die Herstellung eines natürlichen Rechtsan- den muß, um jeden Angreifer von dem völkerrechts- spruchs eines souveränen Staates, wie es die Bun- widrigen Einsatz chemischer Waffen abzuhalten, desrepublik Deutschland ist. Darum geht es. um ihn abzuhalten, chemische Waffen gegen uns (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — einzusetzen. Das ist die Aufgabe. An dieser 1967 Lange [GRÜNE]: Daß sie um Zustimmung festgelegten Aufgabenstellung hat sich nichts geän- bitten müssen, ist doch pervers!) dert. Die amerikanischen chemischen Waffen sind in dem für diese Aufgabe für notwendig erachteten Das heißt, daß für uns wie für jedes andere Umfang nur in der Bundesrepublik Deutschland ge- NATO-Land klargestellt ist: Es bedarf unserer Zu- lagert. stimmung. Diese Feststellungen werden durch die Zusicherung des amerikanischen Präsidenten er- Meine Damen und Herren, was damit die Bun- gänzt, daß, wie dies bei allen anderen wichtigen desrepublik Deutschland, vor allem aber die Bürger Bündnisentscheidungen in Sicherheitsfragen der in den betroffenen Gebieten mit der Lagerung seit Fall ist, umfassende politische Konsultationen im Jahrzehnten für die gemeinsamen Interessen des Rahmen der NATO durchgeführt werden, bevor es Bündnisses auf sich nehmen, sollte bei allen Bünd- zu einer Dislozierung binärer Waffen in einem nispartnern richtig eingeschätzt werden. Eventualfall kommt. Durch das mit der amerikani- schen Seite erreichte Einvernehmen ist damit ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — währleistet, daß die Bundesrepublik Deutschland Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ganz für alle Eventualfälle ihre Interessen auf der wichtig!) Grundlage ihrer ungeschmälerten Souveränität Deshalb teilt die Bundesregierung voll die von allen wird vertreten können, und das ist ein ganz ent- Fraktionen noch im Dezember 1985 getroffene Fest- scheidender Fortschritt für unser Land. stellung, daß alles begrüßenswert ist — ich betone: Auch eine Singularisierung irgendeines Landes, daß alles begrüßenswert ist —, was dazu führt, die auch der Bundesrepublik Deutschland, wird es auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr geben. Das alles geht weit über das hin- gelagerten Altbestände an chemischen Kampfstof- aus, was in einer intensiven und verantwortlichen fen wegzubringen. Darum haben wir uns bemüht, Beratung in dem zuständigen Unterausschuß gegen Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16687

Bundesminister Genscher Ende des letzten Jahres übereinstimmend als eine Ergebnis eintreten. Sie wird dabei von jedem ande- - gemeinsame Position bezeichnet wurde. Das Ein- ren Land gleiches Verhalten erwarten. vernehmen mit den USA beendet die Singularisie- In Genf stehen jetzt alle Teilnehmerstaaten auf rung unseres Landes. Es entfernt durch die Billi- dem Prüfstand. gung des Streitkräfteziels alle chemischen Waffen aus unserem Land, und es liegt in unserer Hand, ob Danke schön. es künftig zu einer Verbringung chemischer Waffen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf deutsches Gebiet kommen wird oder nicht. Die Produktion neuer chemischer Waffen ist und Vizepräsident Cronenberg: Gestatten Sie noch eine bleibt eine nationale Entscheidung der Vereinigten Zwischenfrage des Abgeordneten Bahr? — Nicht Staaten von Amerika. Die Frage, meine Damen und mehr. Herren, ob es überhaupt zur Produktion und Ein- satzfähigkeit neuer binärer chemischer Waffen der Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt (Frank- Vereinigten Staaten kommen wird, liegt allerdings furt). in der Verantwortung aller an den Verhandlungen (Rühe [CDU/CSU]: Der kann das ja beant der Abrüstungskonferenz in Genf beteiligten Staa- worten!) ten. Der amerikanische Kongreß hat die Endferti- gung neuer chemischer Waffen bis zum 1. Dezem- ber 1987 aufgeschoben und davon abhängig ge- Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Bundesaußenmini- macht, daß es bis dahin noch kein umfassendes Ab- ster, zuerst einmal stehen Sie hier auf dem Prüf- kommen über das Verbot chemischer Waffen gibt. stand. Sie haben offenkundig versucht, mit beson- ders lauter Stimme Ihre eigenen inneren Zweifel an Es gibt keinen Grund, ein solches Verbot nicht Ihrer Position zu übertönen. zeitgerecht zu erreichen, wenn alle in Genf Beteilig- ten ihren Worten jetzt Taten folgen lassen. (Beifall bei der SPD — Graf Huyn [CDU/ CSU]: Billig!) (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Wir wollen, daß Europa auf Dauer chemiewaffen- Ich wiederhole: Wir wollen keine chemischen frei bleibt. Sie öffnen mit Ihrer Entscheidung heute Waffen. Wir wollen sie weltweit nicht. Deshalb hat das Tor für eine weltweite Aufrüstung mit neuen für uns das weltweite Verbot die absolute Priorität. binären chemischen Waffen. Unser Vorschlag für (Abg. Bahr [SPD] meldet sich zu einer Zwi eine chemiewaffenfreie Zone heute in Europa, um schenfrage) schrittweise die Welt insgesamt von der Geißel des Das ist nicht nur Ausdruck unseres Anspruchs chemischen Todes zu befreien, auf unsere ungeschmälerte Souveränität. Das ist (Graf Huyn [CDU/CSU]: Ist die größte Ge auch Ausdruck der Verantwortung, die wir im fährdung von uns!) Bündnis tragen, und der Beiträge, die wir für die ist ein begrenzter Schritt, aber ein Schritt in die gemeinsame Sicherheit leisten. richtige Richtung. (Lange [GRÜNE]: Wer bestimmt das?) (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Überhaupt kein Wir begründen den Anspruch, daß endlich alle Be- Schritt!) teiligten in der Genfer Abrüstungskonferenz einem Sie aber mißbrauchen hier die Genfer Verhand- weltweiten nachprüfbaren Verbot chemischer Waf- lungen als Alibi für eine Zustimmung zur Herstel- fen zustimmen, auch aus der Tatsache, daß wir als lung neuer chemischer Kampfstoffe durch die Ver- einziges Land vertraglich auf die Herstellung che- einigten Staaten. Das ist der klassische Weg, um mischer Waffen verzichtet haben. durch Hinweis auf Verhandlungen, die laufen und von denen Sie selber sagen, sie werden nicht so Vizepräsident Cronenberg: Herr Bundesmini- schnell zum Abschluß geführt werden können, neue ster — — eigene Rüstungsentscheidungen zu legitimieren. Also: Abrüstungsverhandlungen als legitimatori- sches Instrument für Aufrüstungsentscheidungen. Genscher, Bundesminister des Auswärtigen: Das gibt uns ein zusätzliches Recht. Wir haben deshalb Wir wollen Mitteleuropa in Ost und West über- auch das Recht, von allen anderen ... prüfbar, auf Dauer und völkerrechtlich verbindlich von chemischen Waffen freihalten. Ihre Position führt dazu, daß die Sowjetunion in Osteuropa ein Vizepräsident Cronenberg: Herr Bundesmini- Monopol für chemische Waffen aufrechterhält. ster — — Wenn Sie diesen Zustand nicht hinnehmen wollen - und dazu sind Sie sicherheitspolitisch ja gar Genscher, Bundesminister des Auswärtigen: nicht bereit —, bedeutet dies, daß Sie spätestens im ... die Bereitschaft zur Nachprüfbarkeit vor Ort zu Krisenfall Ihr heute gegebenes Versprechen bre- fordern. Wir verlangen von niemandem mehr, als chen werden und dann zur Stationierung neuer che- wir selber zu tun bereit sind. mischer Waffen bereit sind. (Beifall bei der FDP) (Jungmann [SPD]: Der hört gar nicht zu!) Die Bundesrepublik Deutschland wird in der bevor- Sie sagen, daß Sie ein Vetorecht gegen die Statio- stehenden Runde der Genfer Abrüstungskonferenz nierung neuer chemischer Waffen ausgehandelt ha- mit ihrem ganzen Gewicht für ein konstruktives ben. Dies begrüßen wir. Aber wir sagen, daß wir die- 16688 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Voigt (Frankfurt) ses Vetorecht heute bereits ausüben wollen. Heute Militärische Planer in Ost und West beginnen be- bereits wollen wir sagen, daß wir gegen die Statio- reits heute, ihre Phantasie für neue chemische nierung neuer chemischer Kampfstoffe in Europa Kriegsführungsstrategien zu beflügeln. Dies kann sind, und zwar unter allen Umständen sind. man nur dadurch blockieren, daß man heute zu einer chemiewaffenfreien Zone in Europa ja sagt, (Zuruf des Abg. Ronneburger [FDP]) daß man heute zu solchen Verhandlungen über eine Daß Sie hierzu nicht bereit sind, weckt nicht nur solche Zone ja sagt. unser Mißtrauen, sondern auch das Mißtrauen der Die Bundesregierung behauptet, daß die Ent- deutschen Öffentlichkeit. scheidung über die Herstellung chemischer Waffen Sie sagen: Es gibt noch keine Eventualplanung ausschließlich eine nationale Entscheidung der für chemische Waffen und ihre Stationierung. Dies Vereinigten Staaten sei. ist bestenfalls die Halbwahrheit. Sie wissen, daß (Ronneburger [FDP]: Der Präsident der amerikanische Militärs bereits vor einigen Mona- Vereinigten Staaten sagt das!) ten in Europa und später in den Vereinigten Staa- Auch dies ist bestenfalls eine Halbwahrheit. Denn ten mit solchen Eventualplanungen begonnen ha- der amerikanische Kongreß hat uns ein Vetorecht ben und daß solche Eventualplanungen — für Eu- übertragen, und dafür bin ich ihm dankbar. Aber ropa und auch für die Bundesrepublik Deutschland dieses Vetorecht auszuüben, bedeutet auch, jetzt verbindlich -- spätestens bis zum Ende dieses Jah- Position zu beziehen. Wir beziehen Position mit ei- res abgeschlossen werden sollen. nem klaren Nein, und ein solches klares Nein ist für (Horn [SPD]: Leider wahr!) die transatlantischen Beziehungen besser ais ein Ausweichen vor einer klaren Entscheidung. Sie wissen dies, und Sie wissen, daß ich die Wahr- heit sage (Beifall bei der SPD) (Horn [SPD]: Jawohl!) Ich habe gestern einen Brief von einem amerika- nischen Kongreß-Abgeordneten aus Illinois erhal- und daß Sie in dieser Beziehung die Wahrheit ver- ten, in dem es heißt, daß die Europäer einem ameri- schweigen. kanischen Kraftziel — er meint damit: Streitkräfte- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) ziel — , einschließlich eines eventuellen Kampfein- satzes, zustimmen müßten. Trotzdem erwecken Sie wider besseres Wissen den (Bahr [SPD]: Hört! Hört!) Eindruck, als ginge es heute nur um den Abzug und nicht auch um Pläne für eine künftige Stationie- Und er fragt, was eigentlich die gegenwärtige Poli- rung in Europa. tik der westdeutschen Bundesregierung hinsicht- lich der Bestimmung eines NATO-Streitkräftezieles Sie wissen genau, daß der Begriff der Krise, den sei, Sie verwenden, im Grundgesetz nicht vorkommt und daß die Verwendung dieses Begriffs deshalb (Rühe [CDU/CSU]: Und deswegen fragt er ein Instrument ist, um in einem solchen militä- bei Ihnen an? Das ist doch ein Witz!) rischen Zustand den Bundestag zu umgehen und wobei die Herstellung der neuen chemischen Waf- unter Umgehung des Bundestages eine Stationie- fen genehmigt werden kann und gleichzeitig die rung möglich zu machen. Vorschriften des US-Kongresses eingehalten wer- den können. Wörtlich: „Genauer gefragt: Wie steht (Horn [SPD]: Freiraum zu schaffen!) die Bundesregierung zur Aufnahme dieses Streit- Dies verurteilen wir, dies kritisieren wir. kräfteziels, und wäre sie bereit, den Kampfeinsatz von solchen Waffen in Europa zu genehmigen?" Sie sagen, daß eine chemische Vergeltungsstrate- gie deutschen Interessen widerspricht. Dies stimmt; (Bahr [SPD]: Hört! Hört!) denn vom Einsatz chemischer Waffen wären insbe- Auch ich bin — wie dieser amerikanische Kongreß- sondere deutsche Zivilisten in Ost und West und Abgeordnete — der Meinung, daß die Bundesregie- nicht primär sowjetische und amerikanische Solda- rung diese Fragen heute klar beantworten muß. ten, die sich dagegen schützen können, betroffen. Aber Sie bereiten den Weg für eben diese chemi- (Rühe [CDU/CSU]: Das ist doch ein bestell- ter Brief! Der schreibt doch nicht an Sie, sche Vergeltungsstrategie, von der Sie sagen, daß der schreibt doch an die Bundesregierung, sie deutschen Interessen widerspricht. Denn was wenn er etwas wissen will!) anderes ist es, wenn Sie den Weg für binäre chemi- sche Munition ebnen, die leichter transportierbar — Nein, weil er kein Vertrauen in die Bundesregie- und damit auch leichter einsetzbar ist? Was anderes rung hat, schreibt er an mich; so ist der Tatbe- ist es, wenn in den Vereinigten Staaten bereits stand: heute Raketenwerfer für chemische Munition, (Beifall bei der SPD) Cruise Missiles mit chemischer Munition und wei- terreichende Flugzeuge, also weiterreichende Sy- Er schreibt an mich, weil wir nämlich gute Bezie- steme mit chemischer Munition geplant werden? hungen zum amerikanischen Kongreß haben, wäh- Was anderes als eine Legitimierung einer neuen rend Sie offensichtlich nicht wissen, was dort be- Strategie ist es, wenn Sie angesichts dieser Tatsa- schlossen worden ist und gedacht wird. che zur Produktion neuer chemischer Kampfstoffe (Zuruf von der SPD: Herr Rühe, Sie haben trotzdem j a sagen? wohl keinen Brief gekriegt!) Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16689

Voigt (Frankfurt) Und dennoch werden und wurden sie eingesetzt — Wir meinen, daß Sie in Wirklichkeit diesen ent- - scheidenden Fragen auszuweichen versuchen. Sie das ist vorhin zitiert worden —, etwa in Ländern wollen keinen Vertrag über eine chemiewaffenfreie der Dritten Welt, auch zur Zeit. Sie haben auch dort Zone, weil Sie sich völkerrechtlich die Option auf die Kriege weder verändert noch beendet. Ich sage eine Stationierung von chemischen Waffen offen- noch einmal: Sie taugen weder für militärische halten wollen. Dies ist Ihr eigentlicher Einwand, Zwecke noch zur Abschreckung, d. h. zur Abhaltung und alle anderen Einwände in bezug auf Verifika- von Krieg. tion, die Ausdehnung der Zone sind vorgeschobene (Zuruf von den GRÜNEN: Das sehen die Argumente, sind Alibis, weil Sie sich in Wirklichkeit Russen aber mittlerweile anders!) eine künftige Stationierung offenhalten wollen Aber es sind die infamsten Waffen der Mensch- (Beifall bei der SPD) heitsgeschichte. Wir müssen daher alles tun und weil Sie hier jetzt erst ja sagen wollen oder den (Abg. Jungmann [SPD] meldet sich zu ei Weg für eine Herstellung von binären Waffen eb- ner Zwischenfrage) nen wollen. (Vorsitz: Vizepräsident Westphal) — nein, ich lasse keine Zwischenfragen zu; die Zeit ist ohnehin schon verbraucht —, und zwar gemein- Später, zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie meinen, daß sam, um diese Geißel der Menschheit abzuschaffen. sich die deutsche Öffentlichkeit beruhigt hat, wol- Das ist das eine Ziel. Darüber wird in Genf verhan- len Sie schließlich zu einer Stationierung ja sagen. delt. Das ist ein abgekartetes Spiel, Wir sollten auch gemeinsam Positionen finden, (Zuruf von der FDP: Das ist ja unglaublich! um in Genf einen Verhandlungserfolg zu ermögli- Das ist eine Unterstellung! — Rühe [CDU/ chen. Ich bin mit den Kollegen, die dies hier schon CSU]: Da faßt man sich an den Kopf! Ver ausgeführt haben, der Meinung, daß regionale An- leumdung!) sätze für Genf nicht hilfreich sind, dort allenfalls aber ein abgekartetes Spiel, das wir hier nicht hin- stören können und deswegen kein geeignetes Mittel nehmen können. zur weltweiten Ächtung dieser Waffen sind. Das zu Wenn man so wie Herr Todenhöfer prinzipiell ge- dem einen Ziel. gen militärisch verdünnte Zonen in Europa und da- Wir haben heute aber auch über ein zweites Ziel mit auch gegen chemiewaffenfreie Zonen ist, dann diskutiert, das vielleicht ein Stück Weg dorthin sein wird man auch nie die spezifische Bedrohung Mit- muß, das aber aus unserem Interesse heraus einen teleuropas verhindern und abbauen können. Wer besonderen Wert hat, nämlich die Beseitigung der nicht einmal bereit ist, den ersten Schritt in Rich- veralteten chemischen Waffen der Vereinigten tung auf eine militärische Verdünnung in Mitteleu- Staaten von Amerika von unserem Territorium, ropa, in Richtung auf eine chemiewaffenfreie Zone und zwar ohne Sicherheitsverlust. Hier hat — das zu gehen, der wird auch nie den langen Weg zu ist bereits deutlich geworden — die Bundesregie- einer europäischen Friedensordnung erfolgreich rung, hat der Bundeskanzler, hat die Union mit vie- beginnen können; er wird dieses Ziel auch nie errei- len Einzelgesprächen einen großartigen Erfolg er- chen. zielt. Ich verstehe, daß Sie uns das neiden. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der SPD: Neiden?) Ich frage Sie, ob Sie in Wirklichkeit die weltweite Aber Sie sollten doch soviel nationales Interesse Abrüstung und eine europäische Friedensordnung haben, Herr Voigt, Herr Bahr, daß Sie uns wenig- nicht immer nur deshalb verlangen, weil Sie damit stens zu diesem Erfolg ohne Vorbehalte gratulie- ablenken wollen, daß Sie jeden konkreten Schritt, ren. der heute in Europa in Richtung auf dieses Ziel möglich ist, blockieren und untergraben wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD - Rühe [CDU/CSU]: Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt: Das ist blanke Verleumdung!) Kohl hat zwar die Entwicklung neuer „binärer" chemischer Waffen durch die USA nicht ver- Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abge- hindert, aber der Versuch hätte ohnehin nicht ordnete Berger (Lahnstein). in seiner Macht gestanden. Die SPD stellt die Sache auf den Kopf, wenn sie dies dem Bundes- kanzler vorhält und Washington vorwirft, eine Berger (Lahnstein) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es Aufrüstungsrunde bei C-Waffen einzuleiten. eine Waffenkategorie gibt, die auch im antagonisti- Und an anderer Stelle: schen System der Bündnisse ohne Sicherheitsver- Die Politik der SPD erweckt nur Hoffnungen in lust für beide Seiten sofort und vollständig abge- Moskau — einem weltweiten Verbot der C-Waf- schafft werden kann, so ist es die der chemischen fen könnte sie hinderlich sein. Waffen. Man kann mit ihnen weder einen Krieg führen noch ihn verhindern noch ihn gewinnen; sie Soweit Schröder heute in einem Kommentar der sind grausam, menschenfeindlich, militärisch sinn- „Süddeutschen Zeitung". los. Herr Kollege Bahr, ich habe die Ehre, seit einiger (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Wozu brauchen Zeit für meine Fraktion dem von Ihnen geleiteten wir sie dann?) Unterausschuß Abrüstung anzugehören. Ich habe 16690 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Berger immer ein Stückchen bewundert, mit welcher Sach- und ist, nicht ebenso wie die USA seit 1969 die Pro-- kenntnis, aber auch mit welcher Sachlichkeit Sie duktion ihrer chemischen Waffen eingestellt zu ha- dort die Verhandlungen leiten. ben. Das haben wir ebenso wie Sie immer betont (Zuruf von der SPD: Ist das verwunder und fordern das selbstverständlich von der Sowjet- lich?) union. Ich habe heute bei Ihnen einen seltenen Fall von Aber heute geht es um etwas anderes. Es geht um Rabulistik erfahren. die Auseinandersetzung mit der Politik der Bundes- regierung. Ihre Logik, Herr Wörner — wer in dieser (Zustimmung bei der CDU/CSU) Frage nicht für die Politik der Bundesregierung sei, Herr Kollege Bahr, darf ich Sie noch einmal fragen: sei für die Rüstung der Sowjetunion —, ist die Lo- Erstens. Ist es nicht auch Ihrer Meinung nach be- gik eines totalitären Staates und einer demokrati- grüßenswert, daß alles geschieht, was dazu führt, schen Auseinandersetzung unwürdig. die auf. dem Gebiet der Bundesrepublik Deutsch- land gelagerten Altbestände an chemischen (Beifall bei der SPD) Kampfstoffen wegzubringen? Die zentrale Schlußfolgerung aus den Verlautba- (Zuruf von der SPD: Das hat er doch ge rungen von Regierung und Regierungsparteien in sagt!) dieser Debatte ist: Der Öffentlichkeit soll weisge- macht werden, die Zustimmung zur Produktion Zweitens. Ist nicht auch nach Ihrer Meinung Zu- neuer chemischer Waffen und ihre Aufnahme in rückhaltung im Hinblick auf die rein amerikani- das Streitkräftespektrum der NATO seien zwin- sche Produktionsentscheidung für neue binäre gende Voraussetzung für den Abzug der vorhande- Waffen geboten, um dieses Ziel nicht zu gefährden? nen chemischen Waffen gewesen. Im Klartext be- Drittens. Sind Sie nicht gemeinsam mit mir der haupten Sie damit aber, daß Sie von der amerikani- Meinung, daß die eventuelle Dislozierung neuer schen Regierung erfolgreich erpreßt worden seien, chemischer Kampfstoffe, wenn sie produziert wer- einen Abrüstungsschritt durch einen Aufrüstungs- den, in Europa kein bilaterales, sondern ein im Alli- sprung der NATO einzuhandeln. Das ist wohlge- anzrahmen zu lösendes Problem darstellt? merkt die Selbstinterpretation der Bundesregie- (Abg. Bahr [SPD] meldet sich zu einer Zwi rung und der Regierungsparteien. schenfrage) (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Dessen ist sie Viertens. Ist nach Ihrer Meinung in Friedenszeiten auch würdig!) eine Dislozierung neuer chemischer Kampfstoffe auf deutschem Boden auch dann auszuschließen, Die tatsächliche Auslegung — unsere Auslegung — wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht einzi- lautet anders. Für uns steht fest, daß die seit Jahr- ger europäischer Aufnahmestaat im Bündnis blei- zehnten vorhandenen chemischen Waffen, die ver- ben sollte? Und schließlich fünftens: Im Krisen- altet und zum Teil verrostet sind, ohnehin hätten bzw. Spannungsfall kann eine Verbringung chemi- abgezogen werden müssen. Sie sind inzwischen scher Kampfstoffe nur im Rahmen einer in der Alli- schon in gelagertem Zustand eine nicht mehr trag- anz vereinbarten Krisenplanung erfolgen. bare Gefährdung für die Zivilbevölkerung und nicht zuletzt für das Streitkräftepersonal. Herr Kollege Bahr, ich erinnere mich noch leb- haft daran, daß Sie das in der letzten Sitzung unse- Fest steht, daß der amerikanische Kongreß seine res Unterausschusses vor Weihnachten als die ge- Zustimmung zur Wiederaufnahme der Produktion meinsame Position des Ausschusses beschrieben von chemischen Waffen definitiv davon abhängig haben. Ich erinnere mich noch daran — ich zitiere gemacht hat, daß die NATO der Einbeziehung die- jetzt aus dem Protokoll —, daß Sie uns anschlie- ser Waffen in das Streitkräfteziel zustimmt. Mit an- ßend mit der Bitte in die Weihnachtspause verab- deren Worten: Es wäre selbstverständlich möglich schiedet haben, zu prüfen, ob das nicht die gemein- gewesen, den Abzug der vorhandenen chemischen same Position von Bundestag und Bundesregierung Waffen sicherzustellen und dennoch die Neupro- sein könnte. Und heute bewerten Sie einen Ver- duktion chemischer Waffen politisch zu verhindern. handlungserfolg der Bundesregierung, wobei diese Darum geht es. Daß ein solcher Weg nicht zu be- fünf Punkte voll erfüllt werden, als einen Einstieg schreiten versucht wurde, hängt allein damit zu- in eine neue Rüstungsrunde und verurteilen das. sammen, daß sich die Bundesregierung — anders Wo bleibt in der Tat Ihre Glaubwürdigkeit? kann ich das nicht sehen — militärischen Forde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — rungen nach verstärkter Einbeziehung chemischer Jungmann [SPD]: Feigling!) Waffen wieder einmal gebeugt bzw. sich diese zu eigen gemacht hat, und sei es auf der Grundlage eines Kompromisses zwischen Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium. Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abge- ordnete Dr. Scheer. In dieser Entscheidung liegt der Start — das ist von uns hervorgehoben worden — zu einer chemi- schen Aufrüstung, die uns auch dann zentral be- Dr. Scheer (SPD): Herr Präsident! Meine Damen trifft, wenn die chemischen Sprengköpfe in Frie- und Herren! Ich möchte zunächst auf Herrn Wörner denszeiten in den USA lagern, denn tatsächlich sind eingehen. Es ist kein Zweifel, Herr Wörner, daß das wir damit lediglich knapp zehn Flugstunden von Verhalten der Sowjetunion unverantwortlich war einer präsenten chemischen Rüstung entfernt, da Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16691

Dr. Scheer sich die entsprechenden Trägersysteme vor allem dem Streitkräfteausschuß des Senats die damit ver- in der Bundesrepublik befinden, etwa die 155-mm- bundenen Absichten erläutert. Artilleriegeschosse oder die Mehrfachraketenwer- (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat Herr fer vom Typ MLRS. Auf jeden Fall wird sich der Bahr aber auch schon gesagt!) Warschauer Pakt auf das jederzeit mögliche Vor- handensein chemischer Waffen bei der NATO wei- Damit würden die Möglichkeiten für eine begrenzte terhin einstellen, d. h. er wird sich so verhalten — militärische Abschreckung der NATO im Rahmen das ist ausrechenbar —, als seien die chemischen der flexible response verbessert werden. -- Das war Waffen da. Damit sind Entwicklungen eingeleitet, ein wörtliches Zitat. Chemische Waffen würden — die gleichzeitig die Bemühungen um eine weltweite wiederum wörtlich — den Ersteinsatz von Atom- Ächtung chemischer Waffen untergraben. waffen unwahrscheinlicher machen. Und wiederum wörtlich: Ohne dièse Waffen gäbe es eine schnellere Es ist praktisch kaum vorstellbar, daß dieselben atomare Eskalation und wäre die konventionelle militärischen Eliten, auf die ich gleich zu sprechen Verteidigung der NATO geschwächt. Und schließ- komme, die sich mit der Forderung nach chemi- lich ein weiteres wörtliches Zitat: Dieses Strategie- schen Waffen für das Einsatzspektrum der NATO ziel wurde der NATO nie zuvor vorgelegt. gerade durchgesetzt haben, nicht auch einflußreich genug wären, eine weltweite chemische Abrüstung Die chemische Waffe wird also damit erstmals als auf die lange Bank zu schieben. Sie werden sich die ein Abschreckungsmittel eingeführt, und das ist Waffen nicht ohne weiteres wieder nehmen lassen das Gegenteil dessen, was Sie behaupten, nämlich wollen, die sie aus klar erkennbaren Gründen jetzt eine Kontinuität zur vorherigen Regierung oder gar bekommen. Diese Gründe liegen in Versuchungen, zu Bundeskanzler Schmidt, der immer eindeutig er- die Abschreckung mit Massenvernichtungswaffen klärt hat, daß er die chemische Waffe als Abschrek- glaubwürdiger, wie es heißt, zu machen. Diese ato- kungsmittel ablehnt. mare Abschreckung gilt seitens der Bundesrepublik als unglaubwürdig, solange sie allein auf Atomwaf- Dieses alles wurde nun, wie gesagt, unter Umge- fen baut und damit die Selbstzerstörung des Landes hung riskiert. Seitens der USA gilt diese Abschreckung (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Da kann man mit atomaren Gefechtsfeldwaffen als unglaubwür- mal sehen, was der Wörner schwindelt!) dig, solange die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß ein Atomwaffeneinsatz nicht auf das mitteleuropäische auch des deutschen Parlaments bereits am 13. Fe- Territorium, also regional begrenzt gehalten wer- bruar im Militärausschuß der NATO gebilligt, den kann und mithin zu einer unaufhaltsamen Es- kalation bis zum weltweiten Atomkrieg führen (Hört! Hört! bei der SPD) könnte. Dies ist der Stand der Diskussion. wird heute vom Verteidigungsplanungsausschuß der NATO nochmals bestätigt und soll am 22. Mai, Den Ausweg aus diesem Dilemma sehen zuneh- in einer Woche also, von den Ministern beschlossen mend mehr Strategieexperten in der NATO in einer werden. Das einzige, was aktuell in den letzten Ta- ein- Ergänzung atomarer Gefechtsfeldwaffen durch gen hinzugekommen ist, ist das Zustimmungsrecht satzfähige, also neue chemische Gefechtsfeldwaf- der Bundesregierung, wenn es um das Einfliegen fen. Durch die Option für den Einsatz chemischer der Sprengköpfe geht. Dies will ich nicht unter- Waffen, so hofft man, ließe sich eine Abschreckung schätzen, weil es natürlich ein Stück Souveränität durch Massenvernichtungsmittel regional begren- ist. Aber es ändert nichts daran, daß die Bundesre- zen. Seit längerer Zeit forderte deshalb NATO- gierung der ganzen Angelegenheit der chemischen Oberbefehlshaber General Rogers, der seinerzeitige Aufrüstung und ihren militärstrategischen Ambitio- Oberkommandierende des amerikanischen Heeres nen vollinhaltlich zugestimmt hat. in Europa, General Kroesen, und sein Nachfolger, General Otis, chemische Waffen als Streitkräfteziel. Deren Ergebnis wäre, daß der Einsatz von Waf- Diese sollten die NATO dazu befähigen, mit chemi- fenvernichtungsmitteln in Mitteleuropa im Falle schen Waffen Schläge in die Tiefe des gegnerischen des Versagens einer Politik der Kriegsverhütung Raumes vorzunehmen, insbesondere zur Lahmle- wahrscheinlicher denn je zuvor würde. gung von Flugplätzen oder Kommandozentralen. Als militärische Mindestforderung nannte General Die Bundesregierung legt uns also kein Abrü- Kroesen am 21. März 1985 vor dem Streitkräfteaus- stungspaket vor, sondern eine politische Mogelpak- schuß des amerikanischen Senats, daß neue chemi- kung. sche Sprengköpfe in den USA gelagert sind, wäh- (Beifall bei der SPD) rend die Trägermittel in Europa bereitgestellt sind. General Rogers forderte die Integrierung chemi- Dieses alles soll offenkundig zusätzlich durch ein scher Waffen in das Streitkräfteziel der NATO. Was neues Geheimabkommen zwischen der Bundesre- jetzt als aktuelle Vereinbarung im Rahmen des gierung und der amerikanischen Regierung verbor- Weltwirtschaftsgipfels von Tokio erscheint, hat der gen werden. Wir fordern deshalb die Bundesregie- Militärausschuß der NATO tatsächlich bereits am rung auf, der Öffentlichkeit, wenigstens aber dem 13. Februar dieses Jahres einstimmig vorgeschla- Parlament den Inhalt der Vereinbarungen mit der gen, also mit der Zustimmung des deutschen Ver- amerikanischen Regierung vorzulegen. treters. Am 10. April hat der amerikanische Vertre- ter in diesem Militärausschuß, General Merrit, vor (Beifall bei der SPD) 16692 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Dr. Scheer Wenn alles so problemlos ist, wie es die Bundesre- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Ab- gierung behauptet, dann dürften Sie auch nichts zu geordnete Frau Eid. verbergen haben. (Zustimmung bei der SPD) Frau Eid (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Tun Sie es aber doch, dann müssen Sie sich den Meine Herren und Damen! Der Freiheitskampf der Vorwurf gefallen lassen, eine Geheimdiplomatie ge- unterdrückten schwarzen Mehrheit in Südafrika gen die eigene Bevölkerung zu betreiben. und Namibia gegen das unmenschliche Apartheid- regime ist in eine verschärfte Phase getreten: Seit (Beifall bei der SPD — von Hammerstein September 1984 wird die Macht der weißen Minder- [CDU/CSU]: Russische Zitate fehlen heit durch den opferbereiten Widerstand der Men- noch!) schen in den schwarzen Vorstädten, in den Indu- striezentren, aber auch in den ländlichen Regionen Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- und den Bantustans erschüttert. ren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich Auf diese Entwicklung reagiert das Botha-Re- schließe die Aussprache. gime mit offenem Terror und blutiger Unterdrük- Wir kommen zuerst zur Abstimmung über Tages- kung. Auch die Frontstaaten sind Opfer der aggres- ordnungspunkt 13 a, die Beschlußempfehlung des siven Apartheidpolitik. Durch militärische Überfäl- Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 10/4201. le, z. B. in Angola, Unterstützung z. B. der RNM- Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktio- Rebellen in Mosambik und durch die wirtschaftli- nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/2027 che Destabilisierung dieser Länder soll der Druck anzunehmen. im Inneren Südafrikas unter Kontrolle gehalten Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen werden. Das kriminelle Apartheidregime kann sich wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer gegen den steigenden Widerstand im eigenen Land stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist nur deshalb an der Macht halten, weil es vom west- diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenom- lichen Ausland militärisch, wirtschaftlich und poli- men. tisch gestützt wird. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 13b, Die führenden Vertreterinnen und Vertreter der dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache südafrikanischen Opposition, z. B. Winnie Mandela, 10/5378. Bischof Tutu und Oliver Tambo, haben in letzter Zeit wiederholt neben den USA und Großbritannien Meine Damen und Herren, entgegen der Ankün- die Bundesrepublik Deutschland als Hauptstütze digung in der Tagesordnung ist für diesen Antrag des Apartheidsystems vor der internationalen Of- nicht Ausschußüberweisung, sondern Abstimmung fentlichkeit an den Pranger gestellt. verlangt worden. Wer dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5378 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer Vizepräsident Westphal: Einen Augenblick, Frau stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt worden. Meine Herren hier vorne: Schöne Rücken sollen manchmal entzücken können. Das ist aber gerade Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktion dann, wenn die Rednerin eine Dame ist, nicht ge- DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5461 ab. Wer die- rade die feine Art. Sie können auch draußen ver- sem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um handeln, zumal Ihr Tagesordnungspunkt vorüber ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer ist. enthält sich der Stimme? — Dann ist dieser Antrag mit Mehrheit bei einer größeren Anzahl von Stimm- Frau Eid, Sie sind dran. enthaltungen abgelehnt. Frau Eid (GRÜNE): Danke schön. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Diese Bundesregierung und weite Teile der bun- auf Drucksache 10/5464. Wer diesem Antrag zuzu- desdeutschen Wirtschaft sind direkt mitverantwort- stimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzei- lich für die Fortsetzung von Unterdrückung und chen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — staatlichem Terror in Südafrika und Namibia. Die- Dieser Antrag ist mit Mehrheit angenommen. sen Sachverhalt klagen wir GRÜNEN heute von dieser Stelle aus an. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: (Beifall bei den GRÜNEN) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- In besonderer Weise ist das Apartheidsystem in neten Frau Borgmann, Frau Eid, Vogel (Mün- letzter Zeit von Krediten aus dem Westen abhängig. chen) und der Fraktion DIE GRÜNEN Die Auslandsschulden Südafrikas sind innerhalb Finanzierung der Apartheid in Südafrika kurzer Zeit auf über 24 Milliarden US-Dollar gestie- und Namibia durch bundesdeutsche Ban- gen. Nachdem der innenpolitische Druck der Apart- ken heidgegner in den USA die US-Banken zum Rück- zug aus dem Südafrikageschäft gezwungen hat, — Drucksachen 10/3309, 10/5297 — sind vor allem die Banken aus der Bundesrepublik Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag und der Schweiz in diese Lücke vorgestoßen. In von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion verein- ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage hat die bart worden. — Ich höre dazu keinen Widerspruch. Bundesregierung die internationale Führungsrolle Dann ist das so beschlossen. der bundesdeutschen Kreditinstitute bestätigt. „Im Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16693 Frau Eid Zeitraum von- 1982 bis Herbst 1985" — ich zitiere Ich möchte noch einige Sätze zur Politik der SPD - aus der Antwort der Bundesregierung — „betrug in der Frage der Südafrikakredite sagen. der Anteil der unter Konsortialführung deutscher (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Jetzt wird es Banken gegebenen öffentlichen Anleihen rund peinlich!) 32 W. — Das ist wahrlich ein bemerkenswertes Ein- geständnis. Ein Drittel aller Auslandsanleihen wur- Wir begrüßen es, daß sich die Haltung der Sozialde- den maßgeblich von bundesdeutschen Kreditinsti- mokraten in den letzten Monaten vor dem Hinter- tuten plaziert. Einen deutlicheren Beweis für die grund des wachsenden Widerstands in Südafrika Schlüsselrolle der bundesdeutschen Banken bei deutlich geändert hat. Auch von dieser Partei wer- der Finanzierung der Apartheid kann ich mir gar den inzwischen — zumindest selektive — Wirt- nicht vorstellen. Da nutzt es auch wenig, wenn die schaftssanktionen gefordert. Das geschieht zwar Bundesregierung die Wirkung dieser Zahlen durch nicht — wie der südafrikanische Widerstand von den angeblich niedrigen bundesdeutschen Anteil an uns erwartet — in Form eines umfassenden und der direkten Kreditvergabe der Banken herunter- verbindlichen Boykotts; aber immerhin werden zuspielen versucht. konkrete Eingriffe in die Wirtschaftsbeziehungen befürwortet. (von Hammerstein [CDU/CSU]: Arbeits platzsicherung der Schwarzen!) Ich finde es bemerkenswert, daß im Antrag der SPD-Bundestagsfraktion vom letzten Oktober aus- Die Zahlen, welche die Bundesregierung an diese drücklich — ich zitiere — der Stopp von Krediten Stelle nennt, sind völlig uninteressant, da einge- jeglicher Art für Südafrika gefordert wird. Ich frage standenermaßen die Kredite der ausländischen die SPD: Ist diese Forderung nur leeres Gerede? Töchter nicht erfaßt werden. Oder gilt sie auch schon heute in den Fällen, in denen die SPD für die Kreditvergabe an Südafrika Die Antwort der Bundesregierung auf unsere An- politisch verantwortlich ist? frage macht erneut deutlich, wie stark Anspruch und Realität in der Südafrikapolitik dieser Regie- Ich habe vor mir eine Studie liegen, die im Okto- rung auseinanderklaffen. ber 1985 vom UNO-Zentrum gegen Apartheid in New York veröffentlicht wurde. Darin werden Kre- (Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. dite und Anleihen an Südafrika für den Zeitraum Verheugen [SPD]) von Mitte 1982 bis Ende 1984 analysiert. Aus der Untersuchung geht hervor, daß auch die Landes- Auf der einen Seite betont die Bundesregierung im- banken von SPD-geführten Bundesländern kräftig mer wieder, daß auch sie die Apartheid ablehnt; auf beim Kapitaltransfer an das Apartheidregime mit- der anderen Seite verteidigt sie offensiv die Kredit- gemischt haben. Die Westdeutsche Landesbank — vergabe an das Apartheidregime und trägt somit unter maßgeblicher Kontrolle der SPD-Landesre- entscheidend zú seinem weiteren Überleben bei. gierung von Johannes Rau — steht sogar an fünfter Stelle in der Liste der bundesdeutschen Kredit- (von Hammerstein [CDU/CSU]: Damit alle geber. was zu essen haben!) Meiner Kenntnis nach hat sich die SPD bisher zu Die bundesdeutschen Banken können sich jeden- diesem Sachverhalt nicht geäußert, obwohl ich bei falls durch diese Haltung der Bundesregierung in verschiedenen Gelegenheiten SPD-Politiker darauf ihren Südafrikageschäften bestätigt fühlen. Und aufmerksam gemacht habe. das genau ist ja auch von der Bundesregierung ge- wollt. Selbst die Kreditvergabe von Instituten mit (Zuruf von der SPD: Wir kommen gleich Bundesbeteiligung wird von der Bundesregierung darauf!) ausdrücklich gerechtfertigt. Schließlich geht es ja — Ich bin gespannt. — Wir müssen deshalb davon um die Exportinteressen der Wirtschaft. Und diese ausgehen, daß die SPD weiterhin über die von ihr sind allemal höher zu bewerten als ein „paar tote kontrollierten Landesbanken an der Finanzierung Neger", um einmal die Denkweise unserer Wirt- der Apartheid beteiligt ist. schaftskapitäne zu charakterisieren. Ich fordere die SPD, Herr Verheugen, dringend Der Zynismus und die Grausamkeit dieser Regie- auf, diese Mitverantwortung für die Unterstützung rungspolitik sind nicht mehr zu überbieten. des Apartheidsystems sofort zu beenden und den Antrag der eigenen Bundestagsfraktion in die Rea- (Beifall bei den GRÜNEN) lität umzusetzen. Beispielhaft wird uns hier vor Augen geführt, daß (Beifall bei den GRÜNEN) dieser Staat bei der Verfolgung von Außenwirt- Nicht nur in den USA, sondern auch bei uns sind schaftsinteressen über Leichen geht. Der Überfluß die Kredite nach Südafrika zu einem wichtigen in der Bundesrepublik — unser aller Wohlstand — Thema in der öffentlichen Debatte geworden. Die ist erkauft mit dem Blut der Schwarzen in Süd- heutige Debatte ist ein passender Auftakt für die afrika und Namibia. Es schmerzt uns -- aber wir Aktivitäten vieler Gruppen gegen die Südafrikage- können es gut verstehen —, daß die unterdrückte schäfte der Banken. Morgen, am 16. Mai, findet der schwarze Mehrheit in Südafrika und Namibia un- diesjährige bundesweite statt. ser Land in ihrem Befreiungskampf als Hauptfeind Bankenaktionstag betrachtet. (Zuruf von der CDU/CSU: Von euch aus?) 16694 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Frau Eid Dies geschieht anläßlich der Hauptversammlung hier vorgelegt bekommen haben, die alle gemein- - der Dresdner Bank in Köln. In über 80 bundesdeut- sam ein Ziel hatten, nämlich Boykott, Sanktionen schen und über 20 ausländischen Städten werden gegen Südafrika mit dem Ziel, die Apartheid in Süd- Menschen vor den Filialen dieser Bank protestieren afrika abzuschaffen. und zur Kündigung der Konten bei den Großban- (Zurufe von den GRÜNEN: Richtig!) ken auffordern. (Beifall bei den GRÜNEN) Ich habe streckenweise feststellen müssen — ich bin gespannt, was heute kommt —, daß sich die Die Dresdner Bank wurde als vorrangiger Adres- SPD dieser Linie der GRÜNEN allmählich, Schritt sat dieser Kampagne ausgewählt, da sie bei Anlei- um Schritt immer mehr anzupassen scheint. hen und Krediten nach Südafrika international eine Führungsrolle einnimmt. Außerdem hält die (Hört! Hört! bei der CDU/CSU — Zurufe Dresdner Bank eine Mehrheitsbeteiligung an der von den GRÜNEN: Sehr gut!) Südwestafrikanischen Bank in Namibia. Auf diese Frau Kollegin Eid, Sie haben eine Menge gesagt. Weise ist sie an der Ausplünderung der natürlichen Aber auf einen Satz habe ich vergeblich gewartet — Ressourcen der ehemals deutschen Kolonie betei- das war bisher das immer noch halbwegs Verbin- ligt, entgegen dem Dekret Nummer 1 des von der dende —, nämlich daß wir uns trotz allem Streit UNO eingesetzten Rats für Namibia. darüber, wie man was machen kann, darüber einig Wir GRÜNEN verurteilen das völkerrechtswid- seien, daß wir den friedlichen Wandel wollten. Die- rige Verhalten der Dresdner Bank in diesem Punkt. ses Wort habe ich bei Ihnen vergeblich zu hören Es ist anzunehmen, daß die Dresdner Bank auch in gehofft. die Exportfinanzierung von Uranlieferungen aus (Vogel [München] [GRÜNE]: Das sagen wir Namibia in die Bundesrepublik verwickelt ist und doch jedes Mal!) so zum Ausbau des Atomstaats beiträgt. Die GRÜ- NEN unterstützen diese Aktionen. Wir freuen uns Ich unterstelle trotzdem, daß Sie das wollen, daß und sind sehr ermutigt über die Tatsache, daß die wir uns wenigstens darin noch einig sein können. Protestbewegung bei uns gegen die Unterstützung Wenn dem so ist, dann stellen sich angesichts der des Apartheidregimes immer breiter wird. von Ihnen immer wieder vorgebrachten Forderung nach Boykott und Sanktionen meiner Auffassung Dem Werbeslogan der Dresdner Bank vom „grü- nach drei Fragen: nen Band der Sympathie" setzen wir ein grünes Band der Antipathie und des Widerstands gegen Erstens. Wie steht es um Chancen zum Wandel, Geschäfte mit dem Apartheidregime entgegen. zur Abschaffung der Apartheid hin zu einer gesell- Herzlichen Dank. schaftlichen und politischen. Ordnung, die von der Zustimmung aller Südafrikaner getragen werden (Beifall bei den GRÜNEN) kann? Geht der Weg dahin, oder wohin geht er? Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Abge- Die zweite Frage: Wie steht es um den friedlichen ordnete Dr. Hornhues. Weg dahin? Ist er noch erreichbar? Gibt es Hoff- nung, daß er gegangen wird? Dr. Hornhues (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Die dritte Frage, die sich stellt, ist: Können sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesre- Boykott und Sanktionen ein Beitrag sein, diesem gierung stellt in der Antwort auf die Große Anfrage Ziel, nämlich dem friedlichen Wandel, zu dienen? u. a. fest, daß erstens von einer Finanzierung der (Frau Eid [GRÜNE]: Es ist ein großer Apartheid durch deutsche Banken in Südafrika und Schritt dahin!) Namibia nicht gesprochen werden kann, zweitens die Intensivierung und Vertiefung der internationa- Wenn ich mir anschaue, was sich in den letzten len Arbeitsteilung positive Auswirkungen auf das Wochen, Monaten und Jahren in Südafrika entwik- Wachstum und auf die Erhaltung und Schaffung kelt hat, so muß ich — bei aller Skepsis und trotz von Arbeitsplätzen hat, hier wie im südlichen der Widersprüche zwischen Wort und Tat in Süd- Afrika — das gelte auch für die entsprechenden afrika — doch feststellen: Mit der Abschaffung der Engagements der Banken —, drittens alle Resolu- verhallten PaBgesetze, mit weiteren Maßnahmen, tionen und Absprachen der UN und innerhalb der etwa mit der Ankündigung, der Group Areas Act Europäischen Gemeinschaft, die, im Consensus be- — ein weiterer Eckpfeiler der Apartheid — sei schlossen, die Zustimmung der Bundesregierung nicht mehr tabu — so der Staatspräsident von Süd- erfahren haben und auf friedlichen und raschen afrika —, mit der Ankündigung, einen Rat für Ver- Wandel im südlichen Afrika abzielen, von ihr re- fassungsverhandlungen zu institutionalisieren, tut spektiert werden, daß sie viertens nicht beabsichti- sich ein Weg auf, von dem man — bei aller Skepsis ge, Boykottmaßnahmen, die Banken betreffen, ge- und bei allem Mißtrauen, die berechtigt sein mögen gen Südafrika oder Namibia zu ergreifen. Die CDU/ — mit Sicherheit sagen kann, daß er auf einen CSU-Bundestagsfraktion teilt diese Auffassung und grundsätzlichen Wandel in Südafrika abzielt. Das begrüßt die Antwort der Bundesregierung auf die heißt: Ich vertrete bei aller Skepsis die Auffassung, Große Anfrage in ihrer Gesamtheit. daß es in Südafrika einen Weg hin zu einem Wandel Meine sehr geehrten Damen und Herren, die gibt. Das ist meine erste Feststellung. Große Anfrage der GRÜNEN reiht sich in die Kette Meine sehr geehrten Damen und Herren, manche von Anträgen, Kleinen Anfragen und Entschließun- sind skeptisch. Ich kann das verstehen. Aber es gibt gen ein, die wir in den letzten Jahren in großer Zahl viele, die meinen, das, was dort langsam vor sich Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16695

Dr. Hornhues gehe, wegwischen und für nicht existent erklären Auf der anderen Seite werden diejenigen in Süd- zu müssen. Wer dies leichtfertig tut und nicht ver- afrika unterstützt, die sich mit aller Gewalt gegen - sucht, die sich bietenden Möglichkeiten auch zu jegliche Veränderung stemmen. nutzen, der muß sich allerdings vorhalten lassen, Ich bitte Sie herzlich — wann immer Sie, in mei- daß er für die Konsequenzen verantwortlich ist. Er nen Augen leichtfertig, hier mit so schönen Forde- muß letztendlich in Kauf nehmen, daß Tausende rungen über den Tisch kommen —, das, was Sie for- mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen, daß man dern, wirklich einmal in aller Konsequenz zu Ende nicht jede Chance zu einem anderen Weg genutzt zu denken. Manche, die dies tun, haben mir gesagt: hat. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken (Abg. Frau Eid [GRÜNE] meldet sich zu ohne Ende! Ich weigere mich, dies als Alternativen einer Zwischenfrage) für unsere politischen Betrachtungen und Möglich- keiten in Erwägung zu ziehen. Denn dies heißt: Ganz egal, was passiert, wir sind bereit, das Leben Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, ge- von Tausenden von Menschen in Kauf zu nehmen. statten Sie eine Zwischenfrage? Dies kann nicht Ziel unserer Politik sein. (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Eid [GRÜNE]: Das tun Sie doch schon jahre Dr. Hornhues (CDU/CSU): Bei meiner bescheide- nen Redezeit nein. lang!) in der Die zweite Frage lautet: Wie sieht es aus mit dem Zusammengefaßt: Boykotte, Sanktionen friedlichen Wandel im südlichen Afrika? Wer ange- gegenwärtigen Situation führen nicht zu dem, was sichts der Toten von einem friedlichen Wandel Sie behaupten. Sie sind kein Beitrag zum friedli- spricht, der muß sich zweifelsohne fragen lassen: chen Wandel, sondern ein Beitrag zur Eskalation Ist es nicht schon ein Stück Zynismus, von einem der Gewalt. friedlichen Wandel dort zu sprechen? Die Toten, die Wir sind der Auffassung, daß allerdings bei der es gegeben hat und die es immer noch gibt, das sind Frage, was man tun kann, auf vielen Ebenen eine die von der Polizei Erschossenen, das sind aber Fülle von Chancen — ich habe dies wiederholt hier auch diejenigen Schwarzen — dies sollten wir nicht erklärt und erkläre es erneut — bisher nicht hinrei- verschweigen —, die man einfachheitshalber zu chend genutzt sind. Damit meine ich uns alle, ich Kollaborateuren macht und denen man eine Hals- meine die Bundesregierung, ich schließe nieman- krause — so heißt das so schön — umhängt. Das ist den aus bei dem Vorwurf, daß wir nicht das, was wir ein Reifen, der mit Benzin angereichert wird und könnten, wirklich tun. Was wir nämlich tun müßten, der dann in Brand gesteckt wird. Angesichts dieser ist, daß jeder da, wo er seinen Einfluß, seinen Kon- Toten stellt sich die Frage: Gibt es den Weg noch? takt, seine Möglichkeit hat, tatsächlich einmal nicht Alle Gewalt, Mord und Terror, die wir erleben, dem einen oder anderen applaudiert, weil es so rechtfertigen es nicht, auch nur einen Millimeter schön ist, weil es einem in den Kram paßt, aus wel- von unserer Zielvorstellung abzuweichen, auf eine chen Motiven auch immer, im Munde Partei zu neh- friedliche Veränderung hinzuwirken. Es kann für men, sondern die Parteien zu drängen, endlich das uns nichts anderes als einen friedlichen Wandel ge- zu tun, vor dem alle $eiten behaupten, sie wollten ben. Alle anderen Wege sollten für uns alle prinzi- dies, nämlich die Probleme durch Verhandlungen piell nicht akzeptabel sein. zu lösen. Die dritte Frage: Können, wie ja immer behauptet 'Leider habe ich die Gewißheit, daß wir auf die- wird, Boykott und Sanktionen ein Beitrag zum sem Gebiet bisher nicht das Menschenmögliche ge- friedlichen Wandel sein? Viele postulieren immer tan haben. Da sollten wir das tun, was Politikern wieder, das sei ein Beitrag zum friedlichen Wan- zuerst zusteht, was uns allen zusteht: uns engagie- del. ren. Dann leisten wir tatsächlich Sinnvolles für die Abschaffung der Apartheid in Südafrika und nicht Ich will ganz deutlich sagen: Ich bin nicht um mit dieser Intention dieser Anträge. jeden Preis gegen jede Art von Boykott. Es gibt in der Politik auch eine ultima ratio, wenn man sich in Ich danke Ihnen. einer Situation befindet, aus der man anders nicht (Beifall bei der CDU/CSU) mehr herauszukommen glaubt. Meine Analyse lau- tet: In dieser Situation in Südafrika sind Sanktio- Das Wort hat der Abge- nen kein Beitrag zum friedlichen Wandel, sondern Vizepräsident Westphal: ordnete Verheugen. sie tragen zur Eskalation der Gewalt bei. Sie unter- stützen auf der einen Seite vor allen Dingen die- jenigen, die auf die gewaltsame Abschaffung der Verheugen (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Apartheid setzen. Das macht letztendlich auch ei- und Herren! Die Problematik der Finanzierung des nen Sinn. Betroffen sind alle im Lande, Weiße wie südafrikanischen Apartheidsystems durch deut- Schwarze, nach allen Erfahrungen in der Regel die sche Kreditinstitute führt in eine Tabuzone. Das Ärmeren härter als die Reicheren. Es macht dann hat der Kollege Hornhues gerade wunderbar vorge- j a auch einen Sinn, die Verelendung der Massen führt, weil er zur Thematik nämlich nichts gesagt und dadurch revolutionäres Potential zu schaffen. hat. Darüber wird auch deshalb nicht gern gespro- Diejenigen, die relativ nachdrücklich auf die Verän- chen, weil man das volle Ausmaß der deutschen derung durch Gewalt setzen, fordern dies von uns. Beteiligung an der Deckung des südafrikanischen Aber es gibt auch andere. Finanzbedarfs kennt und deshalb weiß, warum es 16696 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode - 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Verheugen den Betroffenen unangenehm ist, wenn darüber Weg zu einem gewaltfreien Wandel in Südafrika diskutiert wird. eröffnen. Obwohl die Bundesregierung sich auch bei der (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Beantwortung dieser Großen Anfrage — wie im- Wenn die Bundesregierung ihre eigenen Worte mer, wenn es um Südafrika geht — um klare Posi- von der Notwendigkeit des Dialogs, des Wandels tionen und Bewertungen herumdrückt, lassen die und der Gewaltlosigkeit in Südafrika ernst nehmen Antworten doch den Schluß zu, daß die Regierung würde, dann müßte sie alles ihr Mögliche tun, um der geistig-moralischen Erneuerung den Kapital- zur Überwindung der Apartheid beizutragen; verkehr zwischen der Bundesrepublik und Süd- afrika für einen völlig normalen Vorgang hält. Sie (Dr. Hennig [CDU/CSU]: Das haben Sie als beweist damit wieder einmal, daß ihr die Sensibili- Generalsekretär der FDP alles gemacht!) tät für die Lage der unterdrückten Bevölkerungs- aber sie tut genau das Gegenteil. mehrheit in Südafrika fehlt und daß sie vor allen Dingen die Augen fest zudrückt, wenn es um die In voller Kenntnis der immer dringlicher vorge- deutsche Verstrickung in die fortgesetzten, millio- tragenen Appelle der Befreiungsbewegungen, der nenfachen Menschenrechtsverletzungen in Süd- Kirchen, der Gewerkschaften, der Bürgerrechtsor- afrika geht. ganisationen in Südafrika, endlich wirksamen Druck auf Pretoria auszuüben, lehnt die Bundesre- Obwohl der Widerstand gegen die Rassendiskri- gierung es ab, das einzig wirksame Instrument zu minierung in Südafrika im Lande selbst und in der benutzen, nämlich die Reduzierung der Wirt- ganzen Welt lawinenartig gewachsen ist, hat die schaftsbeziehungen. weiße Minderheitsregierung in Pretoria die Bereit- schaft fehlen lassen, einen grundsätzlichen Wandel Kollege Hornhues hat soeben einen neuen Ak- herbeizuführen und die volle Gleichberechtigung zent in diese Diskussion gebracht. Früher haben aller Menschen in Südafrika zu schaffen. Sie immer gesagt, das sei prinzipiell nicht möglich. Jetzt sagen Sie: Prinzipiell geht es doch, aber im Das sage ich nicht vom Hörensagen, das ist das Falle Südafrika geht es nicht. Ich will Ihnen einmal erschütternde Ergebnis des traurigsten Gesprächs, ein interessantes neues Argument zitieren: „Selbst daß ich in meiner ganzen politischen Laufbahn mit- wenn wir die Wirksamkeit von Sanktionen in Zwei- erlebt habe, nämlich des Gesprächs mit dem süd- fel ziehen, gibt es für ihre Verhängung bisweilen afrikanischen Präsidenten Botha vor wenigen Wo- eine moralische Begründung. Möchten wir wirklich chen in Kapstadt. Dieser Mann ist nicht bereit und mit einer anderen Regierung zu tun haben, deren nicht in der Lage — das ist das Schlimme, was Verhalten wahrhaft verwerflich ist?" Jetzt dürfen dabei herausgekommen ist —, einen friedlichen Sie raten, wer das gesagt hat. Das hat der amerika- Übergang in Südafrika herbeizuführen. nische Botschafter hier in Bonn, Burt, am 25. April (Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie ihm dieses Jahres auf einer Veranstaltung in München das gesagt?) gesagt. Ich kann Herrn Burt da wirklich nur zu- stimmen. — Das haben wir ihm gesagt. Aber der neigt nicht Der Widerspruch zwischen Worten und Taten in zum Zuhören, genausowenig wie Sie oft. der Südafrika-Politik der Bundesregierung ist so Es ist der südafrikanischen Propaganda und den massiv, daß ein solches Maß an Unredlichkeit Zensurmaßnahmen der Regierung Botha zwar ge- schließlich doch auffallen muß. Ich möchte der Bun- lungen, den Eindruck zu vermitteln, das Land be- desregierung eines sehr ernst sagen: Was sie heute finde sich in einem Reformprozeß und die Lage in Südafrika tut, wird für die Rolle entscheidend habe sich beruhigt. Aber die Wirklichkeit ist ganz sein, die unser Land in einem befreiten Südafrika anders. Die „Reformen" sind kosmetische Korrektu- einmal spielen wird. ren. Kollege Hornhues, in dem neuen Paß, den die (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Leute kriegen, wird drinstehen: white, black oder der GRÜNEN) coloured. Können Sie mir sagen, wo da der Fort- schritt ist? In Wirklichkeit sieht es so aus, daß die Die Führer der schwarzen Mehrheit sagen es je- Minderheit die politische Kontrolle über die Mehr- dem, der es hören will, daß sie sich dermaleinst heit behalten will. Jede Reformbereitschaft hört daran erinnern werden, wer ihnen geholfen hat, frei auf, wenn die Machtfrage gestellt ist. zu werden, und wer auf der anderen Seite gestan- den hat. Wir wollen hier rechtzeitig gewarnt ha- Zweitens. Die Minderheit will an der ungerechten ben. Verteilung des Wohlstands und der Lebenschancen in Südafrika festhalten; ihre Reformbereitschaft Der Ruf der Bundesrepublik in der südafrikani- hört auf, wenn es um ihre wirtschaftlichen Privile- schen Bevölkerungsmehrheit ist inzwischen ver- gien geht. heerend, und nun gibt die Bundesregierung mit ih- rer Antwort auf die Große Anfrage wiederum ein Es ist eine Illusion zu glauben, diese Regierung in falsches, ein deprimierendes Signal. Die rechtlose Pretoria werde den Teufelskreis der Gewalt durch- Mehrheit in Südafrika und immer mehr Menschen brechen können. Solange das Apartheid-System be- bei uns in den Kirchen, in den Gewerkschaften und steht, ist Gewalt die tägliche Wirklichkeit, und zwar anderen Gruppen warten darauf, daß die Bundesre- deshalb, weil dieses System seiner Natur nach ge- gierung endlich einmal sagt, woher der hohe Fi- walttätig ist, und erst seine Abschaffung würde den nanzbedarf Südafrikas stammt, und daß die bereit- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode - 216. 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Verheugen willige Deckung dieses Bedarfs durch deutsche Millionen DM unter der Führung der Deutschen Banken ökonomisch leichtsinnig, politisch instinkt- Bank und der Mitführung der Berliner Handels- - los und moralisch verwerflich ist. und Frankfurter Bank, der Commerzbank, der Dresdner Bank, der Bayerischen Hypotheken- und (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Wechselbank und der Bayerischen Vereinsbank. Im der GRÜNEN) Juli 1985 — also zum Zeitpunkt der Verhängung des Die Bundesregierung schweigt sich aus, sie sagt Ausnahmezustands — waren es zwei Anleihen in nicht, was sie vom Geschäft mit der Apartheid hält, Höhe von jeweils 100 Millionen DM, wiederum un- sie findet kein Wort der Kritik für Kreditinstitute, ter der Konsortialführung der Deutschen Bank und die mit der Finanzierung des Unterdrückungsappa- der Mitwirkung der Berliner Handels- und Frank- rats in Südafrika Geld verdienen wollen. Südafrika furter Bank, der Bayerischen Vereinsbank, der hat nämlich deshalb einen so hohen Finanzbedarf, Commerzbank, der Dresdner Bank, der Bayeri- weil es seinen eigenen Reichtum weitgehend dazu schen Hypotheken- und Wechselbank und der verwenden muß, die immensen Kosten des Apart- Bayerischen Landesbank Girozentrale. heidsystems zu bezahlen. Die südafrikanische Re- Ich will Sie nicht mit Zahlen und Daten langwei- gierung baut Polizei und Armee immer weiter aus, len, aber eines möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: ihre staatlichen und halbstaatlichen Konzerne Unter den 20 am stärksten an Südafrika-Anleihen brauchen Geld, weil sie das Land in den strategisch beteiligten Banken sind allein sechs deutsche Kre- wichtigen Bereichen von Auslandslieferungen un- ditinstitute: die Bayerische Vereinsbank, die Dresd- abhängig machen sollen. Unsummen verschlingt ner Bank, die Berliner Handels- und Frankfurter schließlich auch das auf der Rassentrennung beru- Bank, die Bayerische Landesbank Girozentrale, die hende hochkomplizierte und uneffektive Regie- Westdeutsche Landesbank Girozentrale und die rungs- und Verwaltungssystem. Bayerische Hypotheken- und Wechselbank. Daran Man könnte ja zu einem anderen Urteil kommen, fällt zweierlei auf: erstens das starke Engagement wenn Anleihen und Kredite für Südafrika für ar- in München beheimateter Kreditinstitute, zweitens beitsplatzschaffende Investitionen in der Privat- die Mitwirkung von gleich zwei Landesbanken. Die wirtschaft hergegeben würden; aber das ist nicht Bayerische Vereinsbank steht nicht zufällig an er- der Fall. Kollegin Eid, die Zahlen sind noch viel ster Stelle der Liste. Der Freistaat Bayern ist näm- schlimmer, als Sie sie hier zitiert haben; denn vom lich — das ist bezeichnend — Miteigentümer dieser Juni 1982 bis zum April 1985 sind wertmäßig 92,1 Bank. In ihrem Aufsichtsrat sitzt der bekannte Afri- aller südafrikanischen Anleihen mit Beteiligung kaspezialist Franz Josef Strauß. deutscher Kreditinstitute entweder direkt an den Das alles ist schlimm genug, aber die bis in die südafrikanischen Staat oder von ihm kontrollierte jüngste Zeit hinein erfolgte Mitwirkung öffentlich- Einrichtungen geflossen. rechtlicher Kreditinstitute an der Finanzierung des Die deutschen Banken haben eine zentrale Be- Apartheid-Systems ist ein Skandal. Wir appellieren deutung für die Finanzierung des Apartheidsy- an alle deutschen Banken und an die öffentlich- stems. Ich habe selbst im südafrikanischen Fern- rechtlichen ganz besonders, sich aus dem Südafri- sehen nach der Verhängung des Ausnahmezustan- ka-Geschäft zurückzuziehen und damit dem Bei- des im vergangenen Jahr einen triumphierenden spiel zahlreicher amerikanischer Großbanken zu südafrikanischen Finanzminister erlebt, der noch folgen. An dem Geld, das mit Anleihen und Kredi- auf dem Flughafen, aus Frankfurt zurückkommend, ten für Südafrika und mit dem Goldmünzen-Handel seinen Landsleuten erklärt hat, auf die Hilfe der verdient wird, klebt Blut. Unsere Banken verdienen deutschen Banken könnten sie auch weiterhin fest ja wahrhaftig nicht schlecht. Der Verzicht auf Ge- bauen. winne aus den Geschäften mit Südafrika ist ihnen zuzumuten. Das Engagement der deutschen Banken in und für Südafrika ist genau in dem Umfang gewachsen, (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) wie die internationale Kritik an Südafrika gewach- sen ist. Die deutschen Banken haben den freiwilli- Vizepräsident Westphal: Nun sind Sie dran, Herr gen Rückzug zahlreicher amerikanischer Großban- Dr. Solms. ken aus dem Südafrika-Geschäft dazu benutzt, ihr eigenes Geschäftsvolumen auszuweiten. Aber atlan- Dr. Solms (FDP): Herr Präsident! Meine sehr tische Solidarität darf man bei Banken wohl nicht verehrten Damen und Herren! Um gleich einem erwarten. Mißverständnis vorzubeugen, betone ich, daß Die deutschen Banken sind für Südafrika nicht meines Wissens alle Fraktionen in diesem Haus das nur als Kreditgeber bedeutsam. Ihre Hauptrolle be- Apartheidregime in Südafrika ablehnen und in kei ner Weise gewillt sind, es politisch oder mit anderen steht darin, die südafrikanischen Anleihen zu ma- nagen. Von Juni 1982 bis April 1985 haben deutsche Mitteln zu unterstützen. Banken bei 18 Anleihen die Konsortialführung ge- Worüber wir streiten, ist: Was kann eine erfolgrei- habt und damit 82,7 Prozent des Gesamtwerts aller che Einflußnahme öffentlichen Anleihen Südafrikas gemanagt. (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Das ist die Aber auch nach dem Zeitraum, für den mir ver- Frage!) läßliche Unterlagen zur Verfügung stehen, haben auf einen möglichst friedlichen politischen Wandel deutsche Banken als Konsortialführer für südafri- in Südafrika sein? In diesem Zusammenhang hat kanische Anleihen gewirkt, z. B. im Juni 1985 150 sich seit der letzten Debatte über dieses Thema am 16698 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Dr. So1ms 20. Februar kein neuer Gesichtspunkt ergeben. Wir schließen. Das Ergebnis wäre: Wir würden uns - haben keinen Anlaß, unsere Einstellung zu Wirt- selbst schaden, die Politik der südafrikanischen Re- schaftssanktionen und Wirtschaftsboykottmaßnah- gierung aber in keiner Weise beeinflussen. Die For- men zu ändern. Denn wir haben immer die klare derung nach Wirtschaftsboykott, gerade was die Haltung vertreten: Wirtschaftsboykottmaßnahmen Kapitalmärkte betrifft, zeigt ein totales Unver- haben niemals politische Erfolge bewirkt und kön- ständnis für die heute funktionierenden weltweiten nen sie in der Zukunft noch viel weniger bewirken, Kapitalmärkte und Kapitalströme. weil die Wirtschaftsräume immer stärker zusam- menwachsen. (Gerstein [CDU/CSU]: Dafür hat der Ver- heugen sowieso kein Verständnis!) Ginge es allein um die Sache, nämlich um die angebliche Finanzierung der Apartheid durch deut- Sie sind eben überhaupt nicht zu kontrollieren. Wer sche Banken, wie soeben vom Vorredner vorgetra- sich das vorstellt, der muß dann dazusagen, daß wir gen worden ist, so wäre das Thema rasch erledigt. in jede Bankniederlassung und in jede Bankzen- Denn der Anteil der Kreditforderungen der deut- trale Personen stellen müssen, die den Zahlungs- schen Banken an den gesamten Kreditforderungen verkehr überwachen. Wir müssen die Grenzen gegen Südafrika beträgt nur 4 % und sinkt. Der An- schließen und aufpassen, daß keine Transaktionen teil der Finanzierung der deutschen Banken ist also im Personenverkehr über die Grenzen stattfinden vom Volumen her nicht beträchtlich. Für die Politik können — und das alles vor dem Hintergrund, daß und die Wirtschaftskraft Südafrikas spielen deut- die deutsche Wirtschaft zu einem guten Drittel in schen Banken keine entscheidende Rolle. die Weltwirtschaft eingebettet ist und daß wir, mehr als irgendein anderes Land, auf freie Märkte, also (Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]) auch auf freie Kapitalmärkte, angewiesen sind! De- Das weiße Minderheitenregime in Südafrika brä- visenkontrollen können wir nicht einführen. Das che nicht zusammen, wenn sich die deutschen Ban- würde die Bundesrepublik stärker betreffen als ir- ken ganz aus diesem Markt zurückzögen. Das ist gend jemand anderen. aber nur eine Feststellung von Fakten, das ist nicht der Kern der Aussage, die ich hier treffen will. Wer also das Wirtschaftssystem kennt, wer weiß, daß täglich 200 Milliarden DM im Telefon-Kapital- Die FDP vertritt eine konsequente Linie: Wirt- verkehr um die Welt fließen, die kein Mensch kon- schaftssanktionen sind kein taugliches Mittel und trollieren kann, kann sich nicht hinstellen und sa- waren es nicht. Seit der Kontinentalsperre, seit dem gen: Wir aber wollen Wirtschaftsboykott, weil wir Röhrenembargo, seit dem Boykott von Rhodesien die Moralischen sind und damit etwas gegen Süd- wissen wir, daß sie immer umgangen werden kön- afrika tun. Wenn man weiß, daß man nichts errei- nen. chen kann, sollte man diese Forderungen auch (Beifall bei der FDP) nicht öffentlich aufstellen. Auch das weltweite UN-Rüstungsembargo gegen (Widerspruch bei den GRÜNEN) Südafrika, das von der Bundesrepublik strikt einge- Man sollte den Bürgern und Wählern nicht etwas halten worden ist, vorgaukeln, was in Wirklichkeit nicht durchzuset- (Frau Eid [GRÜNE]: Was ist denn mit Hub zen ist. schraubern?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — hat das weiße Gewaltregime in Südafrika nicht in Gerstein [CDU/CSU]: Das wäre der Aus die Knie zwingen, hat die Versorgung mit Waffen stieg aus der Vernunft, was der Verheugen nicht behindern können. Wirtschaftssanktionen will!) sind auch deswegen bedenklich, weil sie in den mei- sten Fällen nicht das Regime, sondern die Bevölke- Terror, Gewalt und Unterdrückung müssen poli- rung treffen, in deren Interesse man j a angeblich tisch bekämpft werden; handelt, wenn man solche Boykottmaßnahmen for- (Frau Eid [GRÜNE]: Ja, wo ist denn Ihr dert. Deswegen haben wir uns gegen wirtschaftli- politischer Kampf?) che Sanktionen auch gegen Libyen oder beispiels- weise Nicaragua ausgesprochen, auch wenn wir uns das ist das Entscheidende. Hierüber haben wir auch dabei natürlich die Kritik unserer amerikanischen innerhalb der EG inzwischen Übereinstimmung er- Bündnispartner zugezogen haben. zielt. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst des deut- schen Außenministers und seines beharrlichen Ein- In gleicher Weise lehnen wir jetzt Sanktionen ge- tretens für eine Linie der politischen Vernunft. Eine gen Südafrika ab. Deshalb kommt es für uns auch solche Politik ist keineswegs wirkungslos. nicht in Betracht, den Banken Vorschriften für ihr Südafrika-Geschäft zu machen. Jedermann weiß Die Rolle der deutschen Banken bei den finan- nämlich, daß nichts schwieriger wäre, als so etwas ziellen Transaktionen der südafrikanischen Regie- zu kontrollieren. Denn Geld ist flüchtig und schwer rung ist weitgehend unbedeutend. Das hat seinen kontrollierbar. Verbote und Beschränkungen wären Grund: Ein Regime, das nur auf Gewalt beruht und überhaupt nur dann durchzusetzen, wenn wir die damit langfristig seinen eigenen Untergang vorbe- Freizügigkeit des Geld- und Kapitalverkehrs bei reitet, ist kein Geschäftspartner, dem man Ver- uns erheblich einschränken würden. Ein riesiger trauen entgegenbringt. Die Gesetze des Marktes Kontrollapparat wäre erforderlich; auch um Hinter- sind lautlos, weniger spektakulär als politische und Mittelsmänner zu identifizieren und auszu- Schauanträge, aber um so wirkungsvoller. Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16699

Dr. Solms Unser Ziel ist der friedliche Wandel in Südafrika. fehlte Politik. Denn wo käme ein Land wie die Bun- Für die Unternehmen, die in Südafrika tätig sind, desrepublik Deutschland hin, würde es die geschäft- ist im Rahmen der EG ein Verhaltenskodex verein- lichen Außenbeziehungen der Wirtschaft an der — bart worden. Die Unternehmen sollen an Ort und sich möglicherweise rasch verändernden — innen- Stelle darauf hinwirken, das System der Rassen- politischen Situation anderer Staaten ausrichten? trennung für den Bereich ihres Unternehmens zu Ein Blick auf die politische Weltkarte zeigt, daß lei- beseitigen und allen Arbeitnehmern, unabhängig der in vielen Ländern der Erde nicht demokratische von ihrer Hautfarbe, die gleichen Arbeitsbedingun- Regierungen an der Macht sind, daß Menschen- gen zu gewährleisten. Das ist der richtige Weg, um rechte verletzt und elementare Freiheiten nicht ge- sozialen Fortschritt in Südafrika zu bewerkstelli- währt werden. gen. Gewalt und Blockaden, wie sie von den GRÜ- NEN auch heute gepredigt werden, taugen nichts. Wenn Sie Wirtschaftssanktionen gegenüber Süd- afrika fordern, meine Damen und Herren von den (Zuruf von den GRÜNEN: Unverschämt- GRÜNEN, dann müßten Sie konsequenterweise heit! Ich schicke Ihnen mal unser Pro- auch Sanktionen gegen zahlreiche andere Länder gramm! — Zuruf von der CDU/CSU: Halt verlangen. Sie müßten dann auch verdeutlichen, die Klappe! — Weitere Zurufe von den welche Auswirkungen eine solche Politik auf un- GRÜNEN) sere eigene Wirtschaft hätte, und zwar nicht nur Sie bewirken das Gegenteil; sie lassen Trotzreaktio- unmittelbar durch Ausfall von Aufträgen aus den nen und falsche Solidarisierungen aufkommen. Die betreffenden Ländern, sondern insbesondere auch FDP hält diesen Weg für falsch. Wir unterstützen mittelbar; denn unser Ruf den Weg der Bundesregierung, mit politischen Mit- teln gemeinsam mit unseren europäischen Bünd- (Zuruf von den GRÜNEN: Das kann doch nispartnern Einfluß auf einen friedlichen Wandel wohl keine Rolle spielen!) in Südafrika auszuüben. Ich glaube, daß es für die- als zuverlässiger Wirtschaftspartner stünde auf sen Weg keine glaubwürdige Alternative gibt. dem Spiel. Ich danke für Ihre Geduld. Im übrigen gibt es keine Wirtschaftssanktionen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die nicht umgangen werden, auch gerade von den Ländern, die selber Sanktionen gefordert haben. Vizepräsident Westphal: Das Wort hat der Parla- Die Erfahrungen mit in früheren Zeiten gegenüber mentarische Staatssekretär beim Bundesminister anderen Ländern verhängten Wirtschaftssanktio- der Finanzen, Herr Dr. Voss. nen haben dies deutlich genug gezeigt. Wenn wir also daran mitwirken wollen, daß sich die Verhält- Dr. Voss, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- nisse in Südafrika ändern, müssen wir in Südafrika, ster der Finanzen: Herr Präsident! Meine Damen im Lande selbst ansetzen. Und hier hat die Bundes- und Herren! Die Bundesregierung hat in ihrer Ant- regierung durchaus Beachtliches vorzuweisen. wort auf die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜ- NEN, soweit möglich, die erbetenen Auskünfte und Als Beispiel nenne ich den mit unseren Partnern Zahlen geliefert. Sie hat zugleich betont, daß die in den Europäischen Gemeinschaften erarbeiteten Banken in eigener Verantwortung über ihre Ge- Verhaltenskodex für in Südafrika tätige Unterneh- schäftspolitik entscheiden. Die Kreditinstitute be- men. Jedes Unternehmen, das eine Exportbürg- stimmen selbst, mit wem sie Geschäfte abschließen schaft des Bundes erhält, muß diesen Verhaltensko- und ob sie dies unter ökonomischen und sonstigen dex als für sich verbindlich ansehen. Der Kodex Gründen vertreten wollen. Die Bundesregierung regelt insbesondere die innerbetrieblichen Bezie- mischt sich in diese Entscheidungen nicht ein, we- hungen und die Rechte und Aufstiegsmöglichkeiten der bei den Banken noch bei sonstigen Unterneh- der schwarzen Arbeitnehmer. Der Verhaltenskodex men und bei Privatpersonen. hat die Bildung schwarzer Gewerkschaften begün- stigt und dadurch die Voraussetzungen geschaffen, In der Großen Anfrage wird der Bundesregierung daß schwarze Arbeitnehmer ihre Interessen besser unterstellt, sie lasse es zu, daß die Ölembargo- und als bisher wahrnehmen können. Die Unternehmen, die Rüstungsembargo-Resolutionen der Vereinten die den Verhaltenskodex anwenden, spielen eine Nationen und der Atomwaffensperrvertrag durch Vorreiterrolle und bewirken auch bei anderen Un- die Gewährung von Krediten an die Republik Süd- ternehmen Veränderungen in den Beziehungen mit afrika und südafrikanische Unternehmen unterlau- ihren schwarzen Arbeitnehmern. fen würden. Die Bundesregierung nimmt diese Re- solutionen ernst und sorgt für ihre Einhaltung. Es Zusammenfassend stelle ich fest: ist eine grobe Fehlinterpretation dieser Resolutio- nen, wenn man auf sie gestützt den Abbruch der Erstens. Die Bundesregierung verfolgt im südli- Finanzbeziehungen fordert. Die Finanzbeziehungen chen Afrika eine zielstrebige Friedenspolitik, mit abzubrechen, würde einen Totalboykott der Repu- der sie dazu beitragen will, die Konflikte zu ent- blik Südafrika auf allen Wirtschaftsgebieten mit schärfen und die Voraussetzungen für eine ge- sich bringen, und das ist in diesen Resolutionen rechte und dauerhafte Ordnung zu schaffen. gerade nicht beschlossen worden, meine Damen Zweitens. Bei dieser Politik handelt die Bundes- und Herren. regierung gemäß den Grundsätzen des Selbstbe- Die Bundesregierung hielte daher den Abbruch stimmungsrechts der Völker, der Durchsetzung der der Finanzbeziehungen zu Südafrika für eine ver- Menschenrechte, des Gewaltverzichts, der Nicht- 16700 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Parl. Staatssekretär Dr. Voss einmischung sowie der Achtung und Souveränität Atomanlagen in der Bundesrepublik - und der territorialen Integrität der Staaten. Deutschland (Atomsperrgesetz) Drittens. Die Bundesregierung ist bestrebt, in — Drucksachen 10/1913, 10/5459 — Südafrika einen friedlichen Wandel zu einer gesell- Berichterstatter: schaftlichen und politischen Ordnung zu begünsti- Abgeordnete Dr. Warrikoff gen. Sie unterstützt alle Bestrebungen, die das Ziel Reuter haben, auf friedlichem Wege die Gleichberechti- Dr. Hirsch gung aller Bevölkerungsteile in Südafrika voranzu- Schulte (Menden) bringen. Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag (Beifall des Abg. Gerstein [CDU/CSU]) bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart Viertens. Die Bundesregierung verfolgt ihre Ziele worden. Ich sehe keinen Widerspruch. — Dann ist im südlichen Afrika in ständiger Abstimmung und das so beschlossen. engster Kooperation mit ihren westlichen Freun- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- den und Verbündeten. geordnete Schulte (Menden). Fünftens. Die Bundesregierung hält jedoch Sank- tionsmaßnahmen nicht für das geeignete Mittel, um die innenpolitischen Verhältnisse in Südafrika zu Schulte (Menden) (GRÜNE): Herr Präsident! verändern. Unser Bestreben ist es, durch kritischen Meine Damen und Herren! Bereits seit über einein- Dialog und über die bestehenden Wirtschaftsbezie- halb Jahren schmort das Atomsperrgesetz der hungen einen positiven Einfluß auf die Entwicklung Fraktion DIE GRÜNEN in den Ausschüssen des in diesem Land zu nehmen. Deutschen Bundestages. Als wir den Entwurf die- ses Gesetzes über die sofortige Stillegung von Sechstens. Die Bundesregierung hofft, daß es in Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland Südafrika trotz der seit Jahren aufgestauten Emo- einbrachten, hatte keiner von uns auch nur ansatz- tionen gelingen wird, auf friedlichem Wege die Pro- weise geahnt, welche brisante Aktualität dieses Ge- bleme zu überwinden. setz bekommen würde. Ich danke Ihnen. (Zuruf von den GRÜNEN: Wohl wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Begründung zu unserem Atomsperrgesetz wird eingeleitet mit einem Zitat von Albert Ein- Vizepräsident Westphal: Weitere Wortmeldungen stein. Ich zitiere: liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Die entfesselte Gewalt des Atoms hat alles ver- Zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäfts- ändert, nur unsere Denkweise nicht, und so ordnung im Sinne einer direkten Erwiderung hat gleiten wir auf eine Katastrophe zu, die die die Abgeordnete Frau Eid das Wort. Welt noch nicht gesehen hat. Wie recht Herr Einstein hatte! Frau Eid (GRÜNE): Ich möchte die Unterstellung Mit Tschernobyl ist die Katastrophe da. Die ent- des Herrn .Kollegen Solms zurückweisen, ich hätte fesselte Gewalt des Atoms haben Millionen Men- Gewalt gepredigt. Er hat offenbar nicht zugehört. schen zu spüren bekommen. Große Teile Europas Ich habe gesagt, daß das Regime in Südafrika in wurden radioaktiv verseucht. Tausende von Strah- seiner Gewalt und in seiner Repression durch bun- lenopfern werden das mit ihrem Leben bezahlen. desdeutsche Banken unterstützt wird. In diesem Heute wissen wir: Eine friedliche Nutzung der Zusammenhang habe ich das Wort Gewalt verwen- Atomenergie gibt es nicht und kann es nicht ge- det. ben. Wir GRÜNEN sind immer dafür eingetreten — (Beifall bei den GRÜNEN — Boroffka das haben wir auch getan, wenn wir hier darüber [CDU/CSU]: Weil Sie es nicht wollen!) geredet haben —, in allen Konfliktregionen dieser Wer angesichts der schrecklichen Katastrophe von Welt nach friedlichen politischen Lösungen zu su- Tschernobyl weiterhin von einer friedlichen Nutz- chen. ung der Atomenergie spricht, gehört zu den zynisch (Beifall bei den GRÜNEN — Carstensen verlogenen Propagandisten der Atomlobby. [Nordstrand] [CDU/CSU]: Warum tut ihr (Beifall bei den GRÜNEN) das denn nicht auch einmal in der Bundes republik?) Tschernobyl hat endgültig bewiesen: Die Atomtech- nologie ist die unsicherste, umweltschädlichste und menschenverachtendste Großtechnologie über- Vizepräsident Westphal: Damit ist die Aussprache haupt. Ein Super-GAU kann sich jeden Tag wieder- zu diesem Tagesordnungspunkt beendet. holen, auch in bundesdeutschen Atomkraftwerken. Ich rufe Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf: Deshalb müssen wir schleunigst raus aus dieser teuflischen Atomtechnik. Beratung des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) gemäß § 62 Abs. 2 der Ge- (Beifall bei den GRÜNEN) schäftsordnung zu dem von der Fraktion DIE Das Atomsperrgesetz der GRÜNEN bietet hierzu GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Ge- die rechtliche Voraussetzung. Es beinhaltet sowohl setzes über die sofortige Stillegung von die Aufhebung des derzeitigen Atomgesetzes als Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn,.Donnerstag, den 15. Mai 1986 16701

Schulte (Menden) Herr Präsident, könnte ich in Ruhe fortfahren? auch einen Gesetzeserlaß, der die Stillegung aller - Atomanlagen vorsieht. (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Ein derartiges Atomsperrgesetz wurde übrigens bereits vor Jahren in einem Nachbarland verab- schiedet. Im November 1978 votierte die Mehrheit Vizepräsident Westphal: Ich bin im Augenblick der Österreicherinnen und Österreicher in einem durch eine andere Frage abgehalten worden zuzu- Volksentscheid gegen die Inbetriebnahme des AKW hören. Ich habe es nicht gehört. Ich werde mich bei Zwentendorf. Seitdem können wir Österreich zum den Stenographen erkundigen. einzigen wirklich sicheren Atomkraftwerk gratulie- ren. Schulte (Menden) (GRÜNE): Bei einer Atom- (Beifall bei den GRÜNEN — Rusche [GRÜ stromkapazität von 16 200 MW heißt das, wenn be- NE]: Die zittern jetzt schon vor Wackers stehende Kohle- und Mischfeuerungskraftwerke dorf!) die Stromproduktion aller AKWs übernehmen, ver- Hätten wir in der Bundesrepublik eine Möglichkeit, bleibt immer noch eine Überschußreserve von in einem Volksentscheid über unser Atomsperrge- 13 800 MW; das sind 23 % mehr als der Spitzenbe- setz abstimmen zu lassen, so würde sich heute darf. Ein Ausstieg aus der Atomtechnologie ist also ebenfalls eine breite Mehrheit für die Stillegung technisch machbar. aller AKWs aussprechen. (Beifall bei den GRÜNEN — Pfeffermann (Beifall bei den GRÜNEN) [CDU/CSU]: Natürlich, Sie brauchen nur den Schalter umzulegen!) Meine Damen und Herren, nach Tschernobyl stellt sich für viele die zentrale Frage: In welchem Wie sieht es nun aus mit der Behauptung, zusätz- Zeitraum können die bundesdeutschen Kernkraft- liche Emissionen von Stickoxiden und Schwefel- werke abgeschaltet werden? Im Auftrag der GRÜ- dioxid wären die Folge? Mit einem umfassenden NEN haben mehrere unabhängige Wissenschaftler Maßnahmebündel ließe sich ein Anstieg dieser Untersuchungen durchgeführt. Fazit: Der Abschied Luftschadstoffe vermeiden, ja, mittelfristig sogar vom Atomstrom ist innerhalb von nur einem halben unter das Niveau der Großfeuerungsanlagen-Ver- Jahr erstens technisch machbar, zweitens ein siche- ordnung absenken. Dazu gehören der Mehreinsatz rer Beitrag zum Umweltschutz, drittens energiepoli- von praktisch schwefelfreiem Erdgas, der vorüber- tisch und volkswirtschaftlich sinnvoll und viertens gehende Einsatz von Schwefel- und stickstoffarmer ein wesentlicher Beitrag zur Schaffung neuer Ar- Importkohle, der sofortige Verzicht auf extrem beitsplätze. schwefelhaltige Braunkohle sowie der schnellst- mögliche Einbau von Rauchgasentschwefelungsan- (Beifall bei den GRÜNEN) lagen und Entstickungsanlagen. Ich möchte dies im einzelnen begründen, beson- (Zuruf des Abg. Gerstein [CDU/CSU]) ders auch deswegen im einzelnen begründen, weil zur Zeit die mächtige Atomlobby zusammen mit Selbstverständlich müssen alle technischen Mög- dieser Bundesregierung einen Propagandafeldzug lichkeiten ausgeschöpft werden, so viel Energie wie begonnen hat. Nachdem die Statthalter der Atomin- möglich einzusparen. Ich hoffe überhaupt, daß dustrie, vorneweg Atomminister Zimmermann, mit Tschernobyl dazu beiträgt, das unverantwortliche ihren Beschwichtigungsversuchen keinen Erfolg Energieverschwenden in den Industriestaaten end- bezüglich des wahren Ausmaßes der Tschernobyl lich zu beenden. Katastrophe hatten, versúchen sie nun, den Bun- (Beifall bei den GRÜNEN) desbürgern weiszumachen, ein Ausstieg sei über- haupt nicht machbar. Dies ist erstunken und erlo- Meine Damen und Herren, keiner wird behaup- gen. ten können, ein Ausstieg aus der Atomenergie mit solch hohen Umweltschutzanforderungen sei zum (Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von Nulltarif zu haben, aber unabhängige Experten der CDU/CSU) schätzen die Umstellungskosten auf ca. 2 Pfennig Richtig ist zwar, daß zur Zeit etwa ein Drittel des pro Kilowattstunde und den zusätzlichen Finanz- Stroms in Atommeilern produziert wird, richtig ist bedarf für die Umweltschutzmaßnahmen auf nur aber auch, daß wir auf Grund des überflüssigen 4 Pfennig pro Kilowattstunde. Baus von Atomkraftwerken (Pfeffermann [CDU/CSU]: Die unabhängi- (Pfeffermann [CDU/CSU]: In einer vorbe gen Wissenschaftler sind unabhängig von reiteten Rede sagt er „erstunken und erlo Wissen!) gen"!) Ich denke, das muß möglich sein. Diesen Preis, den inzwischen eine Überkapazität von ca. 30 000 MW wir alle für die Abkehr von einer falschen, einseitig erreicht haben. auf die Atomtechnologie fixierten Energiepolitik zahlen müssen, hat im Prinzip diese Bundesregie- (Dr. Todenhöfer [CDU/CSU]: Herr Präsi- rung zu verantworten, dent, „erstunken und erlogen" ist hier ge- sagt worden! Das lassen wir uns nicht sa- (Zuruf von den GRÜNEN: Richtig!) gen! Wie können Sie so etwas sagen! — denn hätte man die dreistelligen Milliardensum- Zuruf des Abg. Pfeffermann [CDU/CSU] men nicht in die Atomkraft, sondern gleich in Ener- sowie weitere Zurufe von der CDU/CSU) gieeinsparung und umweltfreundliche Kohletech- 16702 Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Schulte (Menden) nologien investiert, könnten wir heute sicherer, bil- terstützt massiv das Volksbegehren, geht auf die - liger und gesünder leben. Straße, beteiligt euch an Demonstrationen und Ak- (Beifall bei den GRÜNEN) tionen! Wir dürfen keine Ruhe mehr geben, bis das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet ist! Ein Abschalten der Atomkraftwerke hätte aber (Beifall bei den GRÜNEN — Pfeffermann auch — dies wird in der jetzigen Diskussion viel [CDU/CSU]: Was ist bei Ihnen der Unter zuwenig berücksichtigt — enorm positive Auswir- schied zwischen Demonstration und Ak kungen auf den Arbeitsmarkt. tion?) Durch ein Energieeinsparprogramm und durch Umweltschutzmaßnahmen werden ca. 400 000 Ar- beitsplätze gesichert oder neu geschaffen. Der Ver- Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter Schul- zicht auf kapitalintensive Atomanlagen ist somit te, Sie haben in Ihrer Rede Ausdrücke wie „erstun- auch ein wesentlicher Beitrag zum Abbau der Ar- ken und erlogen" verwendet. Dies ist unparlamenta- beitslosigkeit. risch. (Frau Hönes [GRÜNE]: Aber wahr!) (Beifall bei den GRÜNEN — Pfeffermann [CDU/CSU]: Unsinn!) Ich weise es zurück. Dabei müssen wir uns natürlich eines klarma- Ich finde, es ist eine Aufgabe für uns alle, hier im chen: Der Ausstieg aus der Atomenergie kann nur Stil des Redens eine Weise des Umgangs miteinan- der Beginn einer grundlegenden Wende in der der zu pflegen, die erträglich ist, auch für den, der Energiepolitik sein, der Beginn einer grundlegen- diesen Stil sonst nicht pflegt. den Neuorientierung und vor allen Dingen einer (Vogel [München] [GRÜNE]: Sagen Sie das Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. auch einmal dem Herrn Zimmermann!) Meine Damen und Herren, ob wir diese Kurskor- Hier sorge ich jedenfalls mit dafür, es so nicht zu rektur, in Zukunft ohne Atomenergie zu leben, machen. schaffen, hängt u. a. von der SPD ab, aber da habe (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ich in der Frage, wie ernst es Ihnen, meine Damen und Herren, mit dem Ausstieg wirklich ist, doch Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laufs. berechtigte Zweifel. Gestern haben mehrere Red- ner der Sozialdemokratie den Standpunkt vertre- Dr. Laufs (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr ten: Es dürfen keine neuen AKWs ans Netz gehen. geehrten Damen und Herren! Die GRÜNEN fordern Aus der namentlichen Abstimmung über unseren in ihrem Gesetzentwurf die sofortige Stillegung al- Baustopp-Antrag zu Brokdorf, Ohu, Kalkar, Lingen ler Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutsch- und Neckarwestheim geht aber etwas ganz anderes land. Auf den Reaktorunfall von Tschernobyl rea- hervor: Nur 16 von 202 SPDlern stimmten gegen die gieren sie hysterisch, radikal und unverantwortlich. Inbetriebnahme neuer AKWs. Tschernobyl ist gerade nicht überall, wie sie in de- (Hört! Hört! bei den GRÜNEN) magogischer Weise behaupten. Wenn Sie noch nicht einmal in der Opposition zu (Zuruf des Abg. Ströbele [GRÜNE]) Ihrem Wort stehen, wie soll das erst aussehen, Tatsächlich hat Tschernobyl nichts mit der friedli- wenn Sie wieder einmal an der Macht sind? Sie chen Kernenergienutzung in unserem Land zu tun, reden vom Ausstieg aus der Atomenergie, aber nichts mit unseren Reaktorsystemen, nichts mit un- gleichzeitig stimmen 80 % von Ihnen für noch mehr serem hohen Sicherheitsstandard, nichts mit unse- Atomkraftwerke. Dieses Verhalten ist meiner Auf- rer Betriebsweise und unseren vielfältigen Kontrol- fassung nach genauso verlogen wie das der Bundes- len. regierung, die angeblich Frieden schaffen will mit Tschernobyl ist der Inbegriff für die Unfähigkeit immer weniger Waffen und gleichzeitig neue Mit- des sowjetischen Systems, moderne Industrie ver- telstreckenraketen stationiert. antwortungsbewußt auszubauen. (Beifall bei den GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU — Rusche [GRÜ Der Eiertanz der SPD macht eines deutlich: NE]: Machen Sie sich doch nicht lächer Dann, wenn wir aus der Atomenergie wirklich her- lich!) auswollen, brauchen wir eine starke, eine sehr Ein Bericht über die atomare Großbaustelle Tscher- starke außerparlamentarische Bewegung. Die Anti nobyl, vier Wochen vor dem Desaster in der Zeit- AKW-Bewegung in den 70er Jahren hat den Zubau schrift des ukrainischen Schriftstellerverbands ver- nicht aller AKWs verhindern können, aber sie steht öffentlicht, macht eines offensichtlich: Tschernobyl jetzt vor der großen historischen Chance, das ganze war der Ort haarsträubender Pfuscharbeit und Atomprogramm zu kippen. Schlamperei. (Ströbele [GRÜNE]: Jawohl!) (Beifall bei der CDU/CSU) Dazu brauchen wir viel Kraft, viel Mut und viel Diesen Bericht empfehle ich Ihnen sehr zur Lek- Phantasie. türe. Im Namen der GRÜNEN fordere ich von dieser Stelle aus alle Bürgerinnen und Bürger auf, sich Vizepräsident Westphal: Herr Dr. Laufs, gestatten mit der Anti-AKW-Bewegung zu solidarisieren. Un- Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schulte? Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16703

Dr. Laufs (CDU/CSU): Bitte schön. rationen hinweg nachhaltig schädigen und zerstö- ren könnte, wäre nicht zu verantworten. Schulte (Menden) (GRUÑE): Herr Laufs, sind Sie (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Dann müs- bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in der Fach- sen Sie die AKWs abschaffen!) zeitschrift „Atomwirtschaft" vom Dezember 1983 Seit der Entdeckung der Kernspaltung hat sich die- der Reaktortyp von Tschernobyl von unseren Ex- ser Frage eine ganze Generation von Wissenschaft- perten noch als besonders sicher dargestellt wur- lern gestellt, und zwar weltweit. Die Antwort aller de? maßgeblichen Fachleute war und ist: Die Mensch- (Zurufe von der CDU/CSU) heit kann die Kernenergie zu friedlichen Zwecken, d. h. zur Energiegewinnung, nutzen, ohne den Men- schen heute und unseren Kindern und Enkeln Dr. Laufs (CDU/CSU): Dann müssen Sie sagen, wer das festgestellt hat und aus welchen Kenntnis- Schaden zufügen zu müssen. sen heraus er das festgestellt hat. Das war nicht die (Zuruf des Abg. Tatge [GRÜNE]) Auffassung etwa der Bundesregierung oder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich halte mich an Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, ge- den Augenzeugenbericht, der unmittelbar aus der statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ukraine kommt. Den sollten Sie lesen, aber vorher Ströbele? Ihre grüne Brille abnehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Laufs (CDU/CSU): Nein danke. Die friedliche Nutzung der Kernenergie nach Vizepräsident Westphal: Herr Dr. Laufs, gestatten dem Stand von Wissenschaft und Technik so, wie Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten wir sie betreiben, ist beherrschbar und keine unkal- Pfeffermann? kulierbar gefährliche Technik. (Zuruf der Abg. Frau Hönes [GRÜNEI) (CDU/CSU): Bitte schön. Dr. Laufs Zwar können wir auch in unseren Kernkraftwerken technische Störungen und Störfälle nicht ausschlie- Pfeffermann (CDU/CSU): Herr Kollege Laufs, wür- ßen, aber unser abgestuftes Mehrfachsicherungssy- den Sie bestätigen, daß das Zitat, das der Kollege stem wird nach menschlichem Ermessen eine Um- eben gebraucht hat, nicht die Wiedergabe der Mei- weltkatastrophe mit Sicherheit verhindern. nung und des Urteils eines Mitglieds der CDU-Frak- (Senfft [GRÜNE]: Challenger war auch tion, sondern lediglich die Wiedergabe der Beurtei- ausgeschlossen! Bhopal war auch ausge- lung eines russischen Politikers gewesen ist schlossen! — Zuruf der Abg. Frau Hönes (Zuruf der Abg. Frau Hönes [GRÜNE]) [GRÜNE]) und unser Kollege dieses Urteil nur zitiert hat? Es sorgt insbesondere auch die hohe Qualität der in unseren Kernkraftwerken eingesetzten Komponen- Dr. Laufs (CDU/CSU): Wenn das so ist — ich ten für einen sicheren Betrieb. Sie unterliegen einer kenne dieses Zitat nicht; ich habe aber keinen Zwei- intensiven Überprüfung durch Hersteller, Anlagen- fel daran, daß Sie das geprüft haben, Herr Kollege betreiber, Behörden und Sachverständige. Das Pfeffermann —, dann sind die Zwischenfrage von kerntechnische Sicherheitskonzept ist nicht sakro- Herrn Schulte und die Verbreitung auf Flugblättern sankt, sondern muß sich jeden Tag aufs neue wis- in der Tat auch wieder eine Irreführung unserer senschaftlicher und auch öffentlicher Kritik stel- deutschen Bevölkerung. len. (Beifall bei der CDU/CSU) Nun, Schadstoffe, ob radioaktiv oder nicht, ma- Bei uns selbstverständliche Sicherheitsvorkeh- chen vor Grenzen nicht halt. Was ist nun mit den rungen wie z. B. mehrere Notkühlsysteme und vor Folgen von Tschernobyl? Was ist mit den Kindern, allem ein Stahl- und Beton-Containment waren die auf dem Rasen bei 20 000 oder 30 000 Becquerel nicht vorhanden, welche die Auswirkungen verhin- gespielt haben, radioaktiv belastete Milch getrun- dert hätten, die uns in den vergangenen Wochen ken, Blattgemüse mit 200 Becquerel gegessen ha- erreicht haben. ben? Was ist mit dem langlebigen Cäsium in unse- ren Böden? In den vergangenen Jahrzehnten ist (Zurufe von den GRÜNEN) keine Umweltbelastung intensiver erforscht wor- Die Bevölkerung der Bundesrepublik ist in ihrer den als die Radioaktivität. Die sachlich begründete Gesamtheit betroffen worden. Sie erwartet zu und sorgfältig geprüfte Antwort der Strahlenmedi- Recht von Bund und Ländern und ihren Abgeordne- zin auf die Frage. nach den Auswirkungen von ten, daß diese den Sorgen nach dem Unfall von Tschernobyl im Bundesgebiet lautet: Die zusätzli- Tschernobyl nachgehen. che Strahlendosis, mit der wir insgesamt rechnen (Zuruf des Abg. Ströbele [GRÜNE]) müssen, verschwindet in den Schwankungen der natürlichen Radioaktivität. Die Frage ist: Können wir in unserem Land die Technik der Kernenergienutzung verantworten? (Zurufe von den GRÜNEN) Unsere Antwort ist eindeutig und klar: Die Nutzung Die von der Strahlenschutzkommission und der einer Technik, die unsere natürlichen Lebensgrund- Bundesregierung empfohlenen Vorsorgemaßnah- lagen und die menschliche Gesundheit über Gene- men zum vorbeugenden Gesundheitsschutz haben 16704 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Dr. Laufs dazu geführt, daß Schäden der menschlichen Ge- Für die von der SPD und den GRÜNEN favori- sundheit auszuschließen sind. In der Bundesrepu- sierten Kohlekraftwerke hat die Strahlenschutz- blik ist im Interesse der Strahlenhygiene so schnell kommission festgestellt, daß — bezogen auf die und so durchgreifend gehandelt worden wie in kei- gleiche Leistung — die Strahlenbelastung durch nem anderen Land. Kohlekraftwerke etwa ebenso groß ist wie die (Zuruf von den GRÜNEN: Das stimmt doch Strahlenexposition durch Kernkraftwerke, übri- gar nicht!) gens nur zwischen 0,1 und 1 Millirem pro Jahr. Es drohen keine Spätschäden. (Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist doch Weil es in bestimmten Bundesländern und Ge- nicht zu glauben! Atomlobbyist hat dahin- meinden verwirrende und unsinnige Empfehlungen ten einer gesagt! Das darf doch nicht wahr vom Spielverbot in Sandkästen bis zur Absage von sein!) Fußballspielen gab, die man trotz aller Sorge beim Daß Sie all dies natürlich nicht zur Kenntnis neh- besten Willen nicht begreifen kann, möchte ich das men wollen, weil es nicht in Ihre Ideologie paßt, Ausmaß der tatsächlichen Belastung mit ein paar wundert uns nicht. Vergleichen deutlich machen. (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, sagen den GRÜNEN) Sie mir bitte, ob Sie noch Zwischenfragen zulas- Aber lassen Sie sich das mal in Ruhe sagen. Ich sen. bringe diese Vergleiche, um den Bürgern zu ver- deutlichen, daß die Angstkampagnen der GRÜNEN Dr. Laufs (CDU/CSU): Nein! und von vielen in der SPD haltlos und unverant- wortlich sind. Vizepräsident Westphal: Das heißt: für diese Rede (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von den generell nicht mehr. GRÜNEN: Und was ist mit den vielen To- ten in der Sowjetunion? -- Weitere Zurufe - Dr. Laufs (CDU/CSU): An Granitplatten oder Tra- von den GRÜNEN) chytschiefern, mit denen wir unsere Gartenwege und Terrassen pflastern, lassen sich leicht Strah- Wie wäre es übrigens, wenn die Dauerprotestler lungswerte von ständig 40 000 Becquerel pro Qua- einmal vor einer sowjetischen Botschaft aufträten? dratmeter messen. An den Sandstränden der deut- (Beifall bei der CDU/CSU — Ströbele schen Nordseeinseln haben wir wegen der dort seit [GRÜNE]: Sie gehen ja nicht mit! - Wei- Jahrhunderten stattfindenden Schwermineralan- tere Zurufe von den GRÜNEN) reicherung noch vielfach höhere Werte. Es gibt auf einer berühmten dieser Inseln einen Strand für Wo bleiben denn die Proteste gegen Herrn Gorba- Kinderlandschulheime, an dem die Radioaktivität tschow, der sich erst nach 19 Tagen zu einer öffent- 400 000 bis 600 000 Becquerel pro Quadratmeter be- lichen Äußerung bereitfindet und gänzlich unge- trägt, also gut das Zehnfache der Werte, die man rührt sein kritikwürdiges Atomprogramm weiter nach dem sowjetischen Reaktorunfall bei uns vor- durchziehen will, so, als wäre nichts geschehen? Wir übergehend gemessen hat. Trotzdem ist die Körper- werden nicht aufhören, bohrende Fragen nach den dosis der Kinder, die sich dort wochenlang tummeln Einzelheiten des Unfallablaufs zu stellen. Wir wer- und erholen, im Bereich von wenigen Millirem so den keine Ruhe geben, klein, daß sie in den Schwankungen der sonstigen (Zurufe von den GRÜNEN) natürlichen Strahlenbelastung völlig untergeht. Die natürliche Strahlenbelastung schwankt in bis die Sowjetunion ihre unsicheren Anlagen nach- der Bundesrepublik Deutschland zwischen 95 und gerüstet hat. 207 Millirem pro Jahr. Ein Umzug innerhalb des (Anhaltende Zurufe von den GRÜNEN) Bundesgebietes, etwa vom Bodensee nach Koblenz, kann also zur Verdoppelung der Strahlenbelastung Wir werden nicht nachlassen, von der Sowjetunion führen. Eine äußerst genaue wissenschaftliche For- Schadenersatz einzufordern. schung hat über Generationen hinweg nicht den geringsten Hinweis dafür erbracht, daß dadurch die (Beifall bei der CDU/CSU) Krebshäufigkeit oder die Zahl der Mißbildungen er- Der Unfall von Tschernobyl ist aber weder Anlaß höht würde. zum sofortigen Abschalten unserer Kernkraftwerke (Zuruf des Abg. Ströbele [GRÜNE]) noch zum Ausstieg aus der Kernenergie. In unseren Wohnhäusern erreichen wir durch ra- (Erneute Zurufe von den GRÜNEN) dioaktive Stoffe im Baumaterial effektive Strahlen- dosen von 100 Millirem pro Jahr, in Schweden sogar Die deutschen Kernkraftwerke gehören zu den si- von 370 Millirem pro Jahr. Wer jährlich etwa 60 1 chersten der Welt. Was nützte uns der von SPD und bestimmter deutscher Mineralwässer trinkt, setzt GRÜNEN betriebene Ausstieg, wenn die Kernkraft sich einer Strahlendosis von mehr als 300 Millirem in unseren Nachbarstaaten weiter genutzt und aus- aus. Ein mittlerer Raucher erreicht im Verlauf von gebaut wird, woran nicht zu zweifeln ist? 25 Jahren eine Belastung von ca. 20 000 Millirem. Die SPD und die GRÜNEN sollten so viel An- (Zuruf von den GRÜNEN: Atomlobbyist!) stand haben, den Bürgern die Folgen dieses Aus- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15.. Mai 1986 16705

Dr. Laufs stiegs aus der modernen Industriegesellschaft zu genommen haben, die Aufsetzung dieses Gesetzent- nennen, nämlich Massenarbeitslosigkeit, wurfs auf die Tagesordnung zu verlangen. - (Zuruf von den GRÜNEN: Das Gegenteil Dies gibt mir, meine Damen und Herren, die Ge- ist wahr!) legenheit, noch einmal die seriöse und sachlich fun- sozialer Abstieg und neue Armut. dierte Position der Sozialdemokraten in dieser Frage zu verdeutlichen, obwohl dieses zugebener- (Zuruf von den GRÜNEN: Das ist gar nicht maßen im schrillen Konzert der gegenwärtigen De- wahr! — Weitere Zurufe von den GRÜ batte gar nicht so einfach ist. NEN) Der Ausstieg aus der Kernenergie ist für unsere Ich habe die gestrigen Auseinandersetzungen energieabhängige Industrienation ohne schwere hier in diesem Hause aufmerksam verfolgt und Erschütterungen nicht machbar, er ist auch nicht muß sagen, die teilweise vertretenen Extrempositio- nötig. Es geht vielmehr darum, den hohen Sicher- nen, die Vereinfachung hochkomplexer Zusammen- heitsstandard unserer Kernkraftwerke fortzuent- hänge und die teilweise vorgetragene Polemik ha- wickeln, ständig zu überprüfen und ihn durch inter- ben mich erschreckt: nationale Zusammenarbeit zu einer weltweit ver- (Zustimmung des Abg. Dr. Wernitz [SPD]) bindlichen Voraussetzung für die friedliche Nut- Auf der einen Seite die Gesundbeterei der Regie- zung der Kernenergie zu machen. rung, auf der anderen Seite die elitäre Arroganz Vielen Dank. derjenigen, die schon immer gewußt haben, daß das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — so ausgehen muß und daß alles falsch ist, was seit- Zuruf von den GRÜNEN: Der Wähler wird her gemacht wurde. Sie abseifen beim nächstenmal! — Weitere (Tatge [GRÜNE]: Was ist daran elitär? — Zurufe von den GRÜNEN) Gegenruf des Abg. Dr. Wernitz [SPD]: Die Arroganz!— Weitere Zurufe von den GRÜ- Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- NEN) ren, dies ist ein erregendes Thema. Manchmal gibt — Das ist eine reine Nervensache, Herr Kollege. Ich es Wechselwirkungen zwischen Rednern und Zuhö- erläutere Ihnen das nachher, wenn meine zehn Mi- rern. Aber trotzdem bitte ich darum, sich auf Zwi- nuten zu Ende sind. schenrufe zu konzentrieren, die verständlich sind, und nicht auszuarten in eine Ruferei, die das Reden Da gefallen sich die GRÜNEN, wie soeben wieder und das Zuhören stört. gehört, in Panikmache. (Rusche [GRÜNE]: Das war die emotionale (Widerspruch bei den GRÜNEN) Betroffenheit!) Sie versuchen verständlicherweise, für ihre weiter- Das Wort hat der Abgeordnete Reuter. gehenden politischen Zwecke Kapital aus der Kata- strophe von Tschernobyl zu schlagen. (Pfeffermann [CDU/CSU]: Wer sich von den Sowjets bezahlen läßt, kann nicht vor (Ströbele [GRÜNE]: Mit Kapital haben wir den Sowjets protestieren! — Zuruf von den nichts zu vermelden!) GRÜNEN: Das nehmen Sie sofort zurück! Unter dem Vorwand, den Sorgen der Betroffenen — Weitere erregte Zurufe von den GRÜ Rechnung zu tragen, operieren sie hier mit unver- NEN) antwortlichen Zahlen — Herr Abgeordneter, solche Vorwürfe in dieser Art und Weise hier zu machen, werde ich nicht (Senfft [GRÜNE]: Was macht der Schröder akzeptieren. Ich rufe Sie zur Ordnung wegen sol- denn im Moment?) cher beleidigender Vorwürfe. und helfen damit niemandem, sondern sie schüren (Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN) lediglich die Ängste der Menschen in unserer Repu- blik. Das Wort hat der Abgeordnete Reuter. (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Wo habe ich Ängste geschürt?) Reuter (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehr- ten Damen und Herren! In diesem Hause ist jeder Gleichzeitig bezeichnen Sie alle diejenigen als ver- zu etwas nutze, wenn auch nur als abschreckendes brecherisch — dies tat z. B. die Kollegin Hönes ge- Beispiel. So, wie die Diskussion jetzt hier läuft, stern —, die im Bereich der Kernenergie nicht Ihrer kann man die Probleme, die die Menschen unserer Meinung sind. Republik bewegen, nicht bewältigen. Da gefällt sich der Innenminister darin, Zwi- (Beifall bei der SPD — Zuruf von den schenrufer in die Nähe von Terroristen zu rücken, GRÜNEN: Damit haben Sie recht!) und unser Bundeskanzler erklärt die Nach der gestrigen mehrstündigen Debatte be- Kernenergie mit treuherzigem Augenaufschlag für fassen wir uns heute erneut mit dem Thema Kern- umweltfreundlich, weil sie unsere Luft nicht bela- energie. Das ist angesichts der Ereignisse der letz- ste. ten Wochen sicherlich nicht verwunderlich. Wir So- (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Ich dachte, zialdemokraten begrüßen es, daß die GRÜNEN ihr Sie wollten die Position der SPD darlegen! Recht nach § 62 der Geschäftsordnung in Anspruch Wann kommt das endlich?) 16706 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Reuter — Nur die Ruhe! Reuter (SPD): Herr Kollege, wer heute behaupten Ob man die nun wahrhaben will oder nicht, Leug- würde, er wisse die Übergangszeit, würde die Bür- nen hat keinen Zweck: Die Kernenergie und ihre ger unserer Republik belügen. Wir streben das Beherrschbarkeit ist durch den Katastrophenfall in schnellstmöglich an. der Sowjetunion in ihre bisher schwerste Krise ge- (Senfft [GRÜNE]: Das ist eine Frage des raten. Diese Krise ist nicht auf die Sowjetunion politischen Willens!) beschränkt; — Das ist nicht die Frage des politischen Willens, (Vogel [München] [GRÜNE]: Endlich ein- sondern das ist die Frage, ob es auch gelingt. Sie mal ein wahres Wort!) brauchen doch, wenn Sie das durchsetzen wollen, sie wirkt sich weltweit aus. Auch unsere Politik sogar Zweidrittelmehrheiten. Wer diese Fragen lö- muß nach Antworten auf die Fragen suchen, die sen will, braucht einen breiten Konsens in diesem diese Katastrophe aufwirft. Hause. Wer allein mit dem Kopf durch die Wand will wie Sie, wird Null erreichen. Wir brauchen die (Ströbele [GRÜNE]: Der Laufs hört nicht Barger, die mitmachen, und wir müssen den Bür- zu!) gern auch zeigen, welche Konsequenzen auf sie zu- — Das macht der immer. kommen, wenn wir die Kernenergie abschalten. Ein Gesetz über die sofortige Stillegung von Dazu muß man eine Planung machen, Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland (Zuruf von den GRÜNEN) kann jetzt nicht die angemessene Antwort sein. und dann sagen wir Ihnen auch — — (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Wann (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Wenn man denn?) den Kopf noch 50 Jahre in den Sand steckt, Wir Sozialdemokraten haben im Innenausschuß ge- wird man auch nichts erreichen! — Zuruf gen diesen Gesetzentwurf gestimmt, weil er unrea- von der SPD: Das hat keinen Zweck, die listisch ist. Wir werden dies auch weiterhin tun. begreifen das nicht! — Weitere Zurufe von (Ströbele [GRÜNE]: Die Realität wird Sie den GRÜNEN) noch überholen! — Weitere Zurufe von den GRÜNEN) Vizepräsident Westphal: Jetzt hat Herr Bueb das Nach einer langen, intensiven und teilweise auch Wort zu einer Zwischenfrage. sehr schmerzlichen Diskussion in meiner Partei ha- ben wir im Mai 1984 auf unserem Parteitag in Essen Bueb (GRÜNE): Herr Kollege, Sie haben gesagt, beschlossen, die Kernenergie nur als eine Über- Sie wollten aus der Kernenergie einmal aussteigen. gangstechnologie zu nutzen mit dem Ziel, eine si- Können Sie mir sagen, wenn die Kernenergie zirka chere und umweltverträgliche Energieversorgung bis zum Jahre 2000 weiterläuft — so sind Ihre offi- ohne Kernenergie zu ermöglichen. Insoweit haben ziellen Aussagen: bis 2010 —, was Sie mit dem wir Sozialdemokraten keinen Grund, heute unsere Atommüll, der dann in der Menge verzwanzigfacht Energiepolitik grundlegend zu ändern. ist, anfangen wollen, wo es heute auf der ganzen Ich möchte jedoch durchaus selbstkritisch sagen: Erde noch kein sicheres Atommüllendlager gibt, Wir haben in den letzten beiden Jahren zwar gegen auch in der Bundesrepublik nicht, in Gorleben oder die Weiterentwicklung der Kernenergienutzung in in Asse? Können Sie es verantworten, zu sagen, die Richtung auf eine kommerzielle Plutoniumwirt- Atomenergie müsse noch weiterlaufen, wenn Sie schaft gekämpft. Unsere Anträge in diesem Hause heute noch nicht einmal wissen, wo der Atommüll zur Sicherung umweltfreundlicher Energieversor- hin soll, wo er endgelagert werden soll? gung, gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in (Beifall bei den GRÜNEN) Wackersdorf und gegen die Schnellbrutreaktortech- nologie belegen dies. Reuter (SPD): Herr Kollege, Ihre Frage nach der Entsorgung will ich Ihnen folgendermaßen beant- Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, da worten: Wir Sozialdemokraten sind dafür, daß alle sind zwei Wünsche auf Fragen, vom Abgeordneten möglichen Endlagerstätten untersucht werden. Wir Schulte und vom Abgeordneten Bueb. Sind Sie be- sind aber dagegen, daß Sie dort an der Basis die reit? Leute gegen unsere Untersuchungen mobilisieren, wenn dort Endlagerstätten gefunden werden sollen. Reuter (SPD): Ich habe nichts dagegen. Das ist der Punkt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Westphal: Also der Abgeordnete Schulte zu einer Zwischenfrage. Es gibt Möglichkeiten. Wir müssen da nur weiter- machen und forschen. Sie können doch mir nicht vorwerfen, daß diese Technologie eingesetzt wurde. Schulte (Menden) (GRÜNE): Herr Abgeordneter Das war doch vor meiner Zeit und vor Ihrer Zeit. Reuter, können Sie den Anwesenden sagen, wie Das sind Entwicklungen — — lange diese Übergangszeit dauert? Dauert sie, wie die Jusos in Bonn fordern, eineinhalb Jahre, dauert (Zurufe von den GRÜNEN) sie, wie sie Herr Janßen fordert, zehn Jahre oder, — Also, ich stelle fest: Wer ideologisch verklemmt wie sie Herr Jochimsen fordert, 30 bis 50 Jahre? und nicht bereit ist, Realitäten zu erkennen, wird Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16707 Reuter auch nicht in der Lage sein, hier eine solche Diskus- mit der Kernenergie zusammenhängt. Da werden - sion sachlich zu führen. Sie feststellen, welche — - (Weitere Zurufe bei den GRÜNEN — Frau (Weitere Zurufe bei den GRÜNEN) Hönes [GRÜNE] meldet— Ja, nicht sich nur ... zu einer Zwi- schenfrage) (Fortgesetzte Zurufe bei den GRÜNEN) Vizepräsident Westphal: Also, Herr Reuter, gestat- — Ja, ja! Ist in Ordnung! ten Sie eine weitere Zwischenfrage? — Ich muß all- mählich darauf aufmerksam machen, daß die ande- Jetzt läuft Ihre Zeit wie- ren zu anderen Tagesordnungspunkten heute Vizepräsident Westphal: der weiter, Herr Kollege Reuter! abend auch noch reden wollen.

Reuter (SPD): Herr Präsident, ich stelle mit Reuter (SPD): Ich will mit meinen Ausführungen Schrecken fest, daß meine Uhr weiterläuft. fortfahren. Wir werden jedenfalls unsere Bemühungen ver- Vizepräsident Westphal: Nein, ich habe zwischen- stärken. Aber im Gegensatz zu den GRÜNEN wol- durch immer wieder gebremst! len wir vorher wissen, welchen Preis wir und un- sere Mitbürger dafür zu zahlen haben. Deshalb hat Reuter (SPD): Sie ist von „4" auf „3" gesprungen. die Sozialdemokratische Partei eine Kommission gebildet, die zu diesen Fragen Eckwerte vorlegen Vizepräsident Westphal: Sie wollen noch eine Zwi soll. schenfrage zulassen? — Frau Hönes, bitte schön! (Tatge [GRÜNE]: Das war schon vor fünf Jahren so!) Frau Hönes (GRÜNE): Also, mein Kompliment. Sie sind sehr souverän. Angesichts des noch nicht ausgeschöpften Potenti- als energiesparender Technologien und des Vor- (Beifall bei den GRÜNEN) handenseins umweltfreundlicher Kohletechnolo- gien für die Stromversorgung Nein, nein! Hier wird ge- Vizepräsident Westphal: (Beifall des Abg. Mann [GRÜNE]) fragt, Frau Hönes. sowie angesichts von Überkapazitäten im Bereich Frau Hönes (GRÜNE): Die Frage kommt gleich. der Stromversorgung besteht sicherlich die Mög- Aber — — lichkeit, den Anteil der Kernenergie an der Strom- versorgung Zug um Zug zurückzunehmen. Ich beto- ne: Zug um Zug! Vizepräsident Westphal: Nein, sie muß jetzt kom- men! (Senfft [GRÜNE]: Aber ihr seid doch für den Zubau!) Frau Hönes (GRÜNE): Aber man kann vielleicht Sicher ist es technisch möglich, alle Atomkraft- auch mal ein Kompliment austeilen! — Wie stellen werke sofort abzuschalten. Es wäre nun auch wirk- Sie sich zu der Prognose von Klaus Traube — das lich schlimm, wenn das nicht so wäre. Ein Ausstieg ist keine Prognose, sondern eine Feststellung; aus der Kernenergie in einem hochindustrialisier- meine Frage zielt darauf ab, wie Sie sich dazu stel- ten Land — zumal dann, wenn die anderen Indu- len —, der sagt, daß ein Abschalten heute noch mög- strieländer die Kernenergie weiter ausbauen — be- lich ist, daß es ökologisch und ökonomisch möglich deutet jedoch ökonomische, strukturelle und auch ist und nur eine Frage des politischen Willens ist? soziale Umschichtungen und Brüche (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist keine (Zurufe bei den GRÜNEN) Feststellung, das ist eine Ansicht!) — ich habe das Mikrofon, meine Damen und Her- ren! —, die man erst in ihren Dimensionen und in Reuter (SPD): Ich komme im Laufe meiner Aus- ihren Auswirkungen kennen muß, bevor man sie führungen noch zu dieser Frage. Es ist technisch den Mitbürgern zumuten kann. möglich. Es wäre j a noch schöner, wenn es nicht ginge. Aber ob es verantwortbar ist, das ist die zen- (Beifall des Abg. Dr. Schwörer [CDU/- trale Frage. Sie müssen doch dann die Konsequen- CSU]) zen bedenken. Wie wollen Sie denn die Entschädi- Nur ein Beispiel. Was sagen Sie denn den 12 000 gungsleistungen erbringen? In diesem Staat gibt es Arbeitnehmern, die unmittelbar davon betroffen doch Recht und Gesetz! Sie können doch nicht ein- wären? fach mit einem verbalen Kraftakt im Deutschen (Erneuter Beifall des Abg. Dr. Schwörer Bundestag alle Kernkraftwerke abschalten wollen. [CDU/CSU]) (Zuruf von der CDU/CSU: Die müssen an Das muß man erst erkennen, beraten und erläutern. keine Konsequenzen denken! Das tun die Danach muß man vernünftige Wege aufzeigen. doch nie!) — Also, ich habe den Eindruck, es wäre gut, wenn Die Energielandschaft in unserem Lande ist lang- Sie ein Seminar durchführen, bei dem Sie sich dar- fristig gewachsen. um bemühen, einmal zu ergründen, was noch alles (Zuruf der Abg. Frau Hönes [GRÜNE]) 16708 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Reuter — Liebe Frau Hönes, meine mir angeborene An- Man muß versuchen, das Problem, das man lösen - ständigkeit verbietet mir, Ihnen jetzt darauf zu ant- will, worten. Sie wollen j a nur stören! (Ströbele [GRÜNE]: Wenn man es will!) (Frau Hönes [GRÜNE]: Na, na, na!) zu analysieren, um es lösen zu können. Patentlösun- — Ja, Sie wollen doch nur stören! Das ist doch Ihre gen haben meistens den Pferdefuß, daß sie nicht ganze Methode! funktionieren. Ich kann Ihnen nur sagen: Es wird lange Jahre Sie haben 1983 die Stillegung von Kohlekraftwer- dauern — wenn wir heute den Willen haben auszu- ken verlangt, steigen —, bis wir das in die Tat umsetzen können. Einige Maßnahmen zum Einstieg in den Ausstieg (Vogel [München] [GRÜNE]: Von einigen, können und wollen wir allerdings sofort ergreifen. nicht von allen!) Mit uns gibt es keine Wiederaufarbeitungsanlage in Sie haben 1984 die Stillegung von Kernkraftwerken Wackersdorf. Mit uns gibt es keine Schnellbrut verlangt, und Sie vergessen, daß man, wenn man Reaktoren. Mit uns wird der Anteil der Kernenergie aussteigen will, woanders einsteigt. an der Stromerzeugung nicht weiter erhöht. (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten (Frau Hönes [GRÜNE]: Was ist in Ham der SPD — Ströbele [GRÜNE]: In der Zwi burg und in Bremen!) schenzeit hätten Sie Filter einbauen kön Mit uns werden alle kerntechnischen Anlagen in nen! Dafür haben Sie genügend Zeit ge der Bundesrepublik erneut sicherheitsüberprüft habt!) und selbstverständlich stillgelegt, wenn sie den Si- Genau das sagen Sie nicht, wohin Sie eigentlich cherheitsanforderungen nicht genügen. Wir sorgen gehen wollen. Liest man Ihren Gesetzentwurf auch für eine gesicherte Erkenntnis. Zusätzlich durch, dann erkennt man die Klippen, zu denen Sie werden wir uns natürlich darum bemühen, interna- unausweichlich gelangen. tionale, grenzüberschreitende Vereinbarungen zur Abwendung von Gefahren durch die Nutzung der Das eine in Ihrem eigenen Gesetzentwurf ist das Problem der Es muß auch dann gelöst Kernenergie nicht nur zwischen Ost und West, son- Entsorgung. werden, wenn man Ihnen folgen würde. dern mit allen europäischen Nachbarn zu errei- chen. (Ströbele [GRÜNE]: Abe r es wird immer Bei allen diesbezüglichen Bemühungen werden mehr!) wir die Bundesregierung unterstützen. Bei allem, Ihr Gesetzentwurf begnügt sich mit der lakoni- was die unterschiedlichen politischen Kräfte in der schen Formulierung, daß die endgültige Lagerung Bundesrepublik gegenwärtig in dieser Frage trennt, radioaktiver Abfälle durch ein Bundesgesetz zu re- möchte ich doch an dieser Stelle, auch wenn es zur geln sei. Tolle Feststellung! Sehr viel mehr erfährt Zeit gar nicht opportun ist, fragen, ob es nicht mög- man dazu auch aus der Begründung nicht. Herr lich ist, zumindest zu einem Grundkonsens in die- Reuter hat schon gesagt, daß es auch nicht so geht, ser Frage zu kommen. Die Opfer, die wir den Bür- daß man sagt: Es muß endgelagert werden, aber da, gern möglicherweise durch den notwendigen Ver- wo untersucht wird, ob es geschehen soll, sind Sie zicht auf Kernenergie zumuten, werden nur akzep- auch dagegen. tiert, wenn wir einen breiten politischen Konsens (Zurufe von den GRÜNEN) dafür finden können. Dies können wir aber nicht mit der Parole schaffen: „Augen zu und durch" und Wer aussteigt, muß irgendwo einsteigen. auch nicht mit der Parole: Haltet die Welt an, ich Die zweite Klippe ist die Frage, was an die Stelle will aussteigen! Beide Positionen müssen sich auf- der Kernenergie treten sollte. Auch dazu erfährt einander zubewegen, meine Damen und Herren. man in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs nicht Ich danke Ihnen. vielmehr, als daß Sie, und zwar bezogen auf das Jahr 1983, der Auffassung sind, daß das damals be- (Beifall bei der SPD) stehende Überangebot die Abschaltung unter Kapa- zitätsgesichtspunkten möglich macht. Irgendeine Perspektive für die weitere Zukunft entwickeln Sie Das Wort hat der Abge- Vizepräsident Westphal: nicht; ich habe sie auch in diesen Debatten nicht ordnete Dr. Hirsch. gehört. (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Haben Sie Dr. Hirsch (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ver- meiner Rede zugehört? — Weitere Zurufe ehrten Damen und Herren! Ich habe die Befürch- von den GRÜNEN) tung, daß ich die Kollegen der GRÜNEN a uch nicht — Doch, ich habe sehr genau zugehört; aber Sie zufriedenstellen kann. haben hier offenbar niemanden überzeugen kön- (Werner [Westerland] [GRÜNE]: Die haben nen. wir auch!) Ich bin nun wirklich nicht als ein leidenschaftli- Politik muß ja mit Emotionen rechnen, aber sie cher Befürworter der Kernenergie bekanntgewor- muß sich davor hüten, sich von Emotionen überwäl- den, im Gegenteil. tigen zu lassen. (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist gottlob (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wahr, Herr Hirsch!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16709 Dr. Hirsch Aber so geht es eben nicht. Die Freien Demokraten Mann (GRÜNE): Daß wir einen sehr hohen Strom- haben immer betont und auch danach gehandelt, überschuß haben? — Ich bin am Ende! daß die Sicherheit der Bevölkerung den Vorrang vor anderen Überlegungen haben muß und daß Vizepräsident Westphal: Sie haben aber schon dementsprechend die Risiken der Kernenergie so- eine dreiteilige Frage gestellt, während hier nur wohl während des Betriebes der Kernkraftwerke zweiteilige zugelassen sind. Ein bißchen müssen Sie als auch unter dem Gesichtspunkt der Entsorgung sich schon an unsere Regeln halten. nicht nur beherrschbar sein, sondern tatsächlich Herr Abgeordneter Hirsch. beherrscht werden müssen. (Zurufe von den GRÜNEN) Dr. Hirsch (FDP): Herr Kollege Mann, Ihrer letz- Man kann in der Tat bei dem Risikopotential der ten Bemerkung, daß Sie am Ende sind, möchte ich modernen Technik nicht nach dem Motto handeln: zustimmen. Den Eindruck habe auch ich. „Augen zu, es wird schon gutgehen", sondern man Der Kollege Fischer hat sich ja gestern leider muß sich immer wieder fragen, ob die Risiken bei einer Diskussion entzogen. Ich habe mehrmals ver- der Fortführung einer Politik größer als die Risiken sucht, Fragen zu stellen. Er hat sie abgelehnt, abge- werden, die bei ihrem Abbruch entstehen. wehrt. (Mann [GRÜNE]: Schade!) Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten — Sehr schade; sehr bedauerlich. — Er hat nicht Tatge? einmal zu erkennen gegeben, ob er die Thesen, die er vertritt, für die hessische Landesregierung ver- Dr. Hirsch (FDP): Nein, ich wollte eine Zwischen- tritt oder ob es seine eigenen sind. frage von Herrn Mann akzeptieren. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Westphal: Er hat sich aber später So kann man nicht miteinander umgehen. Wenn gemeldet. man das Recht eines Mitglieds des Bundesrats in Anspruch nimmt, muß man — — Dr. Hirsch (FDP): Herr Kollege Mann, Sie waren der erste, bitte. (Mann [GRÜNE]: Das ist aber keine Ant- wort!) Vizepräsident Westphal: Da bin ich anderer Mei- — Natürlich! Ich habe überhaupt nicht erkennen nung, aber Sie sind es, der eine Zwischenfrage zu- können, für wen er spricht, außer für sich selber. lassen müßte. Ich bestreite entschieden, daß das, was er vorgetra- gen hat, die Meinung der hessischen Landesregie- Mann (GRÜNE): Ich meine auch, der Präsident rung ist. Er hat sich der Diskussion seiner Thesen sollte entscheiden. — Vielen Dank. in diesem Hause entzogen. Herr Kollege Dr. Hirsch, wenn ich die Vorbemer- (Zuruf von den GRÜNEN: Einsparen!) kung machen darf: Ich finde es selbstverständlich, — Richtig! Völlig richtig! Ich komme auf die Frage daß Sie uns fragen müssen, welches unsere Kon- des Einsparens zurück. Ich teile aber nicht die Mei- zepte sind. nung, daß Sie die Probleme der Energieversorgung allein mit Einsparen lösen können. Vizepräsident Westphal: Nein, Vorbemerkungen gibt es hier nicht, Herr Mann. Sie müssen fragen. (Senfft [GRÜNE]: Allein nicht! Wer sagt denn das?) Mann (GRÜNE): Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Ich habe also gesagt: Man muß sich entscheiden. Kenntnis zu nehmen, daß z. B. gestern der frühere Kollege Fischer, jetzt Minister in Hessen, Vizepräsident Westphal: Herr Abgeordneter, ich (Zuruf des Abg. Schäfer [Offenburg] muß Sie trotzdem noch fragen ob auch der Herr [SPD]) Tatge, der sich vorhin gemeldet hat, die Erlaubnis auf hessische, Herr Kollege Schäfer, gemeinsam bekommt, eine Zwischenfrage zu stellen. von SPD und GRÜNEN entwickelte Energiespar- konzepte und Förderungskonzepte vorgelegt hat, Dr. Hirsch (FDP): Ich bin sicher, Herr Präsident, daß Sie die Uhr weiter anhalten. und sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu neh- men, Vizepräsident Westphal: Ja. (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Stufenweiser Ausstieg, einverstanden!) Dr. Hirsch (FDP): Bitte schön, Herr Kollege. daß die ökologischen Forschungsinstitute, die kri- tischen Institute, seit einer Reihe von Jahren um- Tatge (GRÜNE): Ich bedanke mich, Herr Kollege. fassende Energiekonzepte vorgelegt haben, die eine Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu Fülle von Einsparmöglichkeiten beinhalten, und nehmen, daß DIE GRÜNEN im Bundestag in vielen sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu neh- Stellungnahmen, Flugblättern und Broschüren für men, — — den Aufbau und die Förderung von dezentralen Kohlekraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung und Vizepräsident Westphal: Eine Frage kann zweitei- Wirbelschichtfeuerung, für den Aufbau von kleinen lig sein, Herr Mann, aber nun ist es genug. Windenergieanlagen, für die Nutzung von Sonnen- 16710 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Tatge kollektoren, für das Energieeinsparungspotential Lassen Sie mich ein paar persönliche Bemerkun- - und — für die Übergangszeit — für die Fernwärme- gen anschließen. Ich verstehe die Sorgen vieler versorgung und die Gasversorgung eingetreten Menschen bei der Nutzung der Kernenergie; ich sind. Sind Sie bereit, das hier zur Kenntnis zu neh- teile sie. Wir haben kein natürliches Sinnesorgan men und dem Deutschen Bundestag zu bestätigen? dafür, Radioaktivität zu merken, Kontaminierung, wie es so schön heißt, zu erkennen und ihre Spätfol- gen für einzelne unter uns hinreichend genau vor- Dr. Hirsch (FDP): Verehrter Herr Kollege, dann auszusagen. Niemand entgeht ihr: nicht das Wasser, frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nicht die Luft, nicht unsere Nahrung, nicht unsere nehmen, daß die Enquete-Kommission „Zukünftige Nachkommen, und das macht sie uns unheimlich. Kernenergie-Politik", schon lange bevor Sie Mit- glied dieses Hauses waren, die Möglichkeiten von (Ströbele [GRÜNE]: Zu Recht!) Einsparungen, Alternativenergien usw. untersucht Darum setzt die Nutzung der Kernenergie große und hier im einzelnen dargelegt hat, welche Konse- und, wie wir gelernt haben, auch internationale Si- quenzen sich aus dem einen und dem anderen Pfad cherheitssysteme voraus. Das ist der Grund, warum ergeben. die Kernenergie nicht in der Lage sein wird, die (Zuruf von der CDU/CSU: Auch praktische enorme Energienachfrage zu befriedigen, die in den Ergebnisse!) Ländern der Dritten Welt entstehen wird, die für sie notwendig ist, wenn sie ihren Lebensstandard auf Es war für alle Seiten des Hauses — ich wiederhole: ein auch nur einigermaßen vergleichbares Niveau längst bevor Sie hier sozusagen das Licht der Welt anheben wollen. Kernenergie ist bei vertretbaren erblickt haben — völlig klar, daß die Position des Risiken nur in Ländern mit einer außerordentlich totalen Verzichts außerordentlich einschneidende gut entwickelten technischen Infrastruktur nutz- wirtschaftliche Folgen haben würde, so daß wir uns bar. Darum stehen die Industrieländer vor einer entschieden haben, Optionen offenzuhalten. Das ist doppelten Herausforderung: Wir müssen auf Dauer die Sachlage. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu neh- andere Energiequellen entwickeln, die einfacher men. Gut. nutzbar sind. Wir müssen solche Technologien den (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Sie haben Ländern der Dritten Welt zur Verfügung stellen weiter ausgebaut!) können, und wir müssen im eigenen Bereich wegen In der gestrigen Debatte ist sehr viel über die der wachsenden Umweltprobleme alles Denkbare Probleme der Kernenergie im besonderen, aber tun, um den spezifischen Verbrauch der elektri- auch über moderne Technologien generell gesagt schen Energie noch mehr vom Wachstum des Brut- worden. Ich will das hier nicht wiederholen. Es ist tosozialprodukts abzukoppeln. mehrmals darauf hingewiesen worden, daß auch (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist wahr, auf Grund der Kernenergiedebatte in der Bundes- aber da geschieht nichts!) republik der Sicherheitsstandard der Kernkraft- Das ist der eigentliche Punkt. Die Zukunft der Indu- werke in der Bundesrepublik außerordentlich hoch striegesellschaft, das industrielle Wachstum wird ist. Dem ist nichts Sachliches entgegengestellt wor- auf Dauer eben nicht nur davon abhängen, daß wir den. Wir sind der Überzeugung, daß eine Stillegung mehr Energie erzeugen, der in der Bundesrepublik betriebenen Kernener- gieanlagen nicht verantwortet werden kann, son- (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Im Gegenteil!) dern daß sie angesichts des beachtlichen Anteils sondern es wird in erster Linie davon abhängen, ob der Kernenergie an unserer Versorgung außeror es uns gelingt, mehr Energie einzusparen dentlich schwerwiegende nachteilige Folgen hätte. (Zuruf von den GRÜNEN: Aha!) Man kommt auch nicht an der Erkenntnis vorbei, daß sich an Tschernobyl und den Folgen nichts ge- und von der Verschwendung der Energie, die wir ändert hätte, wenn in der Bundesrepublik auch betreiben, herunterzukommen. Wir müssen unser nicht ein einziges Kernkraftwerk betrieben worden technisches Wissen, unsere finanziellen Möglich- wäre. Man kommt auch nicht an der Erkenntnis keiten, unser Forschungspotential in verstärktem vorbei, daß der Ausstieg aus der Kernenergie im- Maße auf diese großen Aufgaben ausrichten. Das mer zugleich der Einstieg in eine andere Energie- sind die eigentlichen Probleme und Aufgaben, die quelle sein muß. sich uns stellen und die nicht gelöst sind. Dabei können wir zur Zeit realistisch — das zei- Wir sind der Auffassung, daß wir die von Ihnen gen alle Untersuchungen — geforderte Stillegung der Atomenergieanlagen un- ter den gegebenen technischen und wirtschaftli- (Zuruf des Abg. Senfft [GRÜNE]) chen Bedingungen in der Bundesrepublik nicht ver- als Alternative nur an die fossilen Brennstoffe den- antworten können. Wir werden aber unverändert ken, deren ökologische Probleme offensichtlich alles tun, was notwendig ist, um der damit verbun- sind. In Wirklichkeit liegt das Problem woanders. denen Verantwortung zu entsprechen. Eine immer weiter steigende Erzeugung elektri- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — scher Energie wird bei der zur Zeit gegebenen Al- Senfft [GRÜNE]: Das macht Herr Zimmer ternative immer größere ökologische Probleme er- mann eben nicht!) zeugen, und zwar unabhängig davon, welcher pri- märer Energiequellen wir uns bedienen. Darum löst Ihr Antrag in Wirklichkeit keines dieser bestehen- Vizepräsident Westphal: Meine Damen und Her- den Probleme. ren, bevor ich die Debatte schließe, möchte ich Ih- Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16711

Vizepräsident Westphal Ich bin ihm insofern sehr dankbar; denn die Mitar- nen sagen, daß ich als amtierender Präsident zwi- - schendurch die Unterlage gelesen habe, die Grund- beiter des Ausschusses arbeiten zum Teil bis in die lage unserer Debatte war. Das war nämlich die An- Nacht hinein, 16 und 18 Stunden. Hier muß sich forderung eines Berichts nach § 62 Abs. 2 unserer dringend etwas ändern, Geschäftsordnung. Einer der vier Berichterstatter (Allgemeiner Beifall) — drei davon haben hier geredet — hat das Wort erwähnt, warum wir hier debattieren. wenn unsere Arbeit auch in Zukunft noch ord- nungsgemäß bewältigt werden soll. Aber ich muß Ihnen den Inhalt vorlesen: Der In- (Krey [CDU/CSU]: Das unterstützen wir nenausschuß hat uns mitgeteilt, daß er diesen Ge- mit allem Nachdruck!) setzentwurf am 12. März 1986 beraten und sogar darüber beschlossen hat. Dann heißt es wörtlich: Was den Bericht und die Beschlußempfehlung an- geht, so werden wir uns gleichwohl darum bemü- Beschlußempfehlung und Bericht des Innen- hen, beides so schnell wie möglich dem Hause zuzu- ausschusses liegen wegen der vordringlichen leiten. Das ist selbstverständlich. Bearbeitung wichtiger Gesetzesvorlagen noch nicht vor. (Zuruf von den GRÜNEN: Das Problem kann man nur lösen, wenn man einen Um- Ein amtierender Präsident darf auf so etwas wohl weltausschuß einrichtet!) hinweisen und vielleicht auch den Vorsitzenden des Innenausschusses bitten, darauf hinzuwirken, daß Herzlichen Dank dafür, daß ich Gelegenheit hat- Bericht und Beschlußempfehlung für das Plenum te, ein dringliches Anliegen in dieser Form einmal nach zwei Monaten fertiggestellt werden. einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. (Beifall bei allen Fraktionen — Schäfer (Beifall bei den GRÜNEN — Abg. Dr. Wer [Offenburg] [SPD]: Das war die eigentliche nitz [SPD] meldet sich zu Wort) Absicht des Präsidenten!) — Eine Wortmeldung des Ausschußvorsitzenden zur direkten Erwiderung nach § 30 unserer Ge- schäftsordnung. Vizepräsident Westphal: Das war die einzige er- laubte Form, wie man einem Präsidenten in diesem Hause widersprechen kann. (Heiterkeit) Dr. Wernitz (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Vorsitzender des Innenausschus- Im übrigen habe ich während meiner Tätigkeit hier ses muß ich diese Bemerkung des Herrn Präsiden- schon Abgeordnete kennengelernt, die Berichte ten aufgreifen. selbst geschrieben haben. Zur Information der Kolleginnen und Kollegen (Heiterkeit) des Hauses und sicher auch derer, die hier als Zu- Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldun- hörer dabei sind: Wir haben eine Fülle von Vorla- gen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. gen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt auf- (Krey [CDU/CSU]: Weiß Gott!) rufe, habe ich noch eine unangenehme Pflicht. In Bei mehr als 70 sind wir federführend, und genauso der vorherigen Debatte, als der Kollege Cronenberg hoch ist die Zahl der Vorlagen, bei denen der Aus- amtierender Präsident war, hat es zwei Zwischen- schuß mitberatend ist. Wir arbeiten in sitzungs- rufe gegeben, die noch Ordnungsrufe erfordern. Der freien Wochen mit Anhörungen, Sondersitzungen. Abgeordnete Lange hat den Ordnungsruf verdient Das Personal des Ausschußsekretariats für „dummer Demagoge" und der Abgeordnete Dr. (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Kennt keine Scheer für zweimal „Verleumder". Ich rufe beide 40-Stunden-Woche!) Abgeordnete zur Ordnung. (Schulte [Menden] [GRÜNE]: Scheer aber — und darauf weise ich bei dieser Gelegenheit ganz zweimal!) besonders gerne hin — ist so knapp bemessen, daß wir nicht mehr in der Lage sind Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 16: (Beifall des Abg. Schäfer [Offenburg] [SPD]) Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes — darauf habe ich das Präsidium und die Fraktio- zur Verhinderung des Mißbrauchs von Sen- nen seit Monaten hingewiesen —, unsere Arbeit deanlagen ordnungsgemäß und zügig zu erfüllen. — Drucksache 10/1618 — Ich greife diese Anmerkung des Herrn Präsiden- Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- ten deshalb sehr gerne auf und richte an die Spitze schusses für das Post- und Fernmeldewesen unseres Hauses, an das Präsidium den Appell und (15. Ausschuß) die Bitte, uns personell so auszustatten, daß wir unsere Arbeit, was die Zuarbeit durch die Verwal- — Drucksache 10/5453 — tung in diesem Bereich des Hauses, im Innenaus- Berichterstatter: schuß, angeht, bewältigen können. Abgeordnete Linsmeier (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktio Bernrath nen) (Erste Beratung 76. Sitzung) 16712 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Vizepräsident Westphal Der von der Fraktion DIE GRÜNEN vorgelegte Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Änderungsantrag auf Drucksache 10/5474 ist zu- Dann. rückgezogen worden. (Vorsitz : Vizepräsident Stücklen) Meine Damen und Herren, es gibt inzwischen eine Vereinbarung der Geschäftsführer, daß wir Frau Dann (GRÜNE): Herr Präsident! Kolleginnen keine Debatte durchführen wollen. — Ich stelle fest, und Kollegen! Wir haben die Großen Anfragen mit daß das übereinstimmende Auffassung ist. Ich ak- dem Ziel eingereicht, zu erfahren, welches Interesse zeptiere, daß die Reden der Kollegen zu Protokoll hinter dem von der Bundesregierung betriebenen gegeben werden.*) — Ich sehe dazu keinen Wider- Ausbau der fernmeldetechnischen Infrastruktur spruch. steht. Die Antworten der Bundesregierung auf un- Ich schließe also die Aussprache, an der offen- sere drei großen Anfragen beweisen, daß der Bun- sichtlich nur ich mich beteiligt habe. despost die Auswirkungen dieser Technologie gleichgültig sind. Weder Bedarf noch Kosten noch Wir kommen zur Einzelberatung und Abstim- gesellschaftliche und ökonomische Folgen der ge- mung. Ich rufe Art. 1 auf. Wer dem Art. 1 in der Aus- planten Infrastruktur wurden bisher abgeschätzt. schußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich Dennoch hält die Bundespost an ihrer einseitig um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — nach Industrieinteressen orientierten Fernmelde- Enthaltungen? — Dann ist der Art. 1 in der Aus- politik fest. schußfassung mit Mehrheit angenommen. Auch die militärischen Interessen an der Moder- Ich rufe die Art. 2 bis 5, Einleitung und Über- nisierung des Fernmeldenetzes sind nicht zu unter- schrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufge- schätzen. Planungen für das Sondernetz der US- rufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den Armee in der Bundesrepublik Deutschland erfolg- bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dage- ten bereits 1978 zwischen den USA und der damali- gen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vor- gen Bundesregierung. schriften sind mit Mehrheit angenommen. In den Antworten wird wieder einmal der Stellen- Wir treten in die wert der fernmeldetechnischen Infrastruktur für die internationale Wettbewerbsfähigkeit und für dritte Beratung den Erhalt von Arbeitsplätzen betont. Doch kann ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem die Bundesregierung diese Behauptung durch Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, nichts belegen. Im Gegenteil: Aus einer Antwort den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer geht sogar hervor, daß die Zahl der Arbeitsplätze in stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der der Fernmeldeindustrie von 1981 bis 1984 rückläu- Gesetzentwurf mit großer Mehrheit angenommen. fig war. Das wird sogar vom posteigenen „Wissen- schaftlichen Institut für Kommunikationsdienste" bestätigt. Dort heißt es in einem Beitrag vom No- vember 1985: Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 15 a bis In allen Herstellerbereichen waren 1983 60 000 15c auf: Beschäftigte weniger tätig als noch 1975. a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion (Pfeffermann [CDU/CSU]: In einem!) DIE GRÜNEN Ausbau der fernmeldetechni- Das arbeitsplatzvernichtende Potential dieser Tech- schen Infrastruktur (I) (Bestandsaufnahme niken in anderen Wirtschaftsbereichen ist dabei und Digitalisierung) noch nicht einmal berücksichtigt. — Drucksachen 10/3334, 10/5144 — Ein anderer Aspekt: Obwohl die Anschlußzahlen b) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der deutschen Kabeldienste noch immer weit hinter DIE GRÜNEN Ausbau der fernmeldetechni- den Erwartungen der Bundespost zurückbleiben schen Infrastruktur (II) (Schmal- und breit- und obwohl der Bundesrechnungshof in seinen bandige Fernmeldenetze und Endgeräte- jüngsten Stellungnahmen für den Haushaltsaus- markt) schuß die Fehlkalkulationen bei der Breitbandver- kabelung erneut kritisiert, sieht die Bundesregie- — Drucksachen 10/3335, 10/5145 — rung keinerlei Akzeptanz- und Rentabilitätspro- c) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion bleme bei ihren Diensten. DIE GRÜNEN Ausbau der fernmeldetechni- Nun zum Datenschutz. Er war immer schon ein schen Infrastruktur (III) (Gesellschaftliche Stiefkind der Bundespost. Die Antworten der Bun- Auswirkungen) desregierung beweisen aufs neue, daß die Technik — Drucksachen 10/3336, 10/5146 — mit ihren angeblichen „Sachzwängen" für die Bun- despost absolute Priorität vor Datenschutzansprü- Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für chen der Netzteilnehmer hat. die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu (Sehr wahr! bei den GRÜNEN) keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Erstaunt sind wir zudem über die Behauptung der Bundesregierung, technischer Fortschritt er- mögliche es erst, „dem Anspruch des mündigen *) Anlage 2 Bürgers auf umfassende und vielfältige Informa- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16713

Frau Dann tion über die Grenzen hinweg" gerecht zu werden. erforderlich, ob der § 14 des Postverwaltungsgeset- - Hierzu ist die jüngste Desinformationspolitik der zes als eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Sowjetunion und der Bundesregierung ein maka- Einführung und Regelung solch neuer technischer bres Beispiel. Kommunikationsdienste anzusehen ist." Wir for- (Beifall bei den GRÜNEN) dern die Bundespost und ihren Minister auf, nicht länger telekommunikationspolitische Fakten ohne Trotz modernster Informationsübertragungsmög- gesetzliche Grundlage zu schaffen. lichkeiten ist die Bevölkerung ungenügend über die Auswirkungen des Atomunfalls in Tschernobyl in- Zweitens. Den parlamentarischen Grundsatzent- formiert und aufgeklärt worden. Es zeigt sich: Nicht scheidungen über die Errichtung neuer Dienste die technischen Möglichkeiten, sondern der politi- muß eine umfassende gesellschaftspolitische Aus- sche Wille sind entscheidend für die Informations- einandersetzung über deren Erforderlichkeit, politik und für die größere Transparenz der Ent- Wünschbarkeit, Umwelt- und Sozialverträglichkeit scheidungsprozesse. vorangehen. (Beifall bei den GRÜNEN — Rusche [GRÜ (Zustimmung des Abg. Mann [GRÜNEI) NE]: Das kann man ruhig laut sagen!) Drittens. Mit ihrer derzeitigen Fernmeldepolitik Andere Fragen, auf die wir gerne eine Antwort greift die Bundespost in medienpolitische Entschei- bekommen hätten, wurden nicht beantwortet. Ich dungen der Bundesländer ein. Dieser Eingriff in denke, daß die Bundesregierung nicht weiß -- abge- Länderkompetenzen ist verfassungswidrig. Deshalb sehen von dem Arbeitsplatzargument, das ich eben fordern die GRÜNEN gesetzliche Regelungen und widerlegt habe, Verfahren, die die vom Grundgesetz gewollte Kom- petenzverteilung wiederherstellen. (Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie glauben, daß Sie es widerlegt haben!) (Rusche [GRÜNE]: Zentralismus wie in der Sowjetunion!) und auch der internationalen Konkurrenz —, was der eigentliche Hintergrund unserer Fragestellun- Wir prüfen zur Zeit, welche Schritte in diese Rich- gen war. tung wir über das Land Hessen unternehmen kön- nen. Sie befürworten uneingeschränkt die neuen Technologien. Das kann man auch daran sehen, daß Viertens. Der Haushalt der Deutschen Bundes- Sie einhellig die neuen Technologien in Abgeord- post muß der parlamentarischen Kontrolle unter- netenbüros befürworten. Auch in unseren Reihen worfen werden. gibt es Kollegen, die leuchtende Augen bekommen, (Beifall bei den GRÜNEN) (Zuruf von den GRÜNEN: Das stimmt!) Wir haben heute nachmittag einen Änderungsan- wenn sie vor den Computertasten stehen. Diese re- trag zum Postverwaltungsgesetz eingebracht. Die- gressiven Verhaltensweisen versetzen besonders ser Antrag sollte bewirken, daß der Voranschlag für uns Frauen in Schrecken. Frauen spüren offen- den Posthaushalt der Zustimmung des Bundestages sichtlich den Verlust an menschlicher Beziehung und des Bundesrates bedarf. Leider haben Sie den durch die neuen Technologien. Ich frage Sie, Herr Antrag abgelehnt. Pfeffermann: Wann haben Sie das letztemal einen Fünftens. Für unabdinglich halten wir darüber Brief mit der Hand geschrieben? hinaus eine Neuzusammensetzung des Postverwal- (Pfeffermann [CDU/CSU]: Gestern! Ein tungsrates. Zur Zeit läßt er sich eher als Interessen- Glückwunsch, die pflege ich noch mit der kartell der Industrie denn als demokratisches Kon- Hand zu schreiben!) trollgremium kennzeichnen. Wir fordern Sitze und Stimmen im Verwaltungsrat für gesellschaftlich re- — Das war aber bestimmt kein Liebesbrief. levante Interessengruppen wie Postnutzer, Gewerk- (Heiterkeit und Zurufe) schaften, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, Der Verlust an menschlicher Kommunikation ist Verbraucher und die GRÜNEN, die aus dem Ver- der Grund, weshalb wir eine andere Postpolitik wol- waltungsrat ausgesperrt werden. len. Wir halten eine Kurskorrektur für unbedingt (Beifall bei den GRÜNEN) erforderlich. Wir meinen, daß erstens ein Parla- Sechstens. Wir sind gegen eine Privatisierung mentsvorbehalt im Bereich der Telekommunika- oder Teilprivatisierung der Bundespost, wie es aus tionspolitik realisiert werden muß. Das heißt, die Wirtschaftskreisen und der Regierungskommission wesentlichen Entscheidungen über neue Netze und Fernmeldewesen gefordert wird. Wir wollen keine Dienste der Bundespost müssen vom Parlament ge- „Rosinenpickerei" der Fernmeldeindustrie, sondern troffen werden. eine dem Gemeinwohl und der Daseinsvorsorge (Beifall bei den GRÜNEN) verpflichtete Bundespost. Auf diese Verpflichtung Die Kompetenzen des Postverwaltungsrates rei- sollte sich die Bundespost dringend besinnen, statt chen für solche Eingriffe in grundlegende norma- lediglich industriellen und militärischen Interessen tive Bereiche nicht aus. Durch die Politik der Bun- zu dienen! despost wird jedoch massiv in die Bereiche der Der Gemeinwohlverpflichtung widersprechen die Kommunikationsfreiheit und der Privatsphäre ein- Pläne für Gebührenerhöhungen, die bereits in den gegriffen. Auch der Datenschutzbeauftragte hält in Schubladen des Postministeriums liegen. Nach die- seinem achten Tätigkeitsbericht „eine Prüfung für sen Plänen soll mal wieder den Kleinen genommen 16714 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Frau Dann und den Großen gegeben werden. Standardbriefe Freiräume für Innovationen im Endgerätebereich und Telefongespräche sollen verteuert werden, geschaffen werden. während neue Dienste der Geschäftskommunika- tion zu Schleuderpreisen angeboten werden. Wir Mit ihren Ausbauplänen zur Digitalisierung, zur fordern dagegen eine soziale Gestaltung der Ge- Schaffung eines schmalbandigen integrierten Fern- bührenstruktur, d. h. Dienste, die vor allem von den meldenetzes ISDN und — danach folgend — einer privaten Postkunden genutzt werden, sollen billiger Erweiterung zu einem breitbandigen integrierten werden, während vorwiegend gewerblich genutzte Fernmeldenetz, hat die Deutsche Bundespost als er- Dienste wie etwa Text- und Datenübertragung rela- ste Postverwaltung der Welt für diese Aufgabenstel- tiv teuer angeboten werden sollen. Statt den Daten- lung eine verbindliche Ausbauplanung vorgelegt, verkehr auf den elektronischen Autobahnen durch die die technischen Voraussetzungen für diese Auf- die Gebühren- und Investitionspolitik der Bundes- gaben in der Zukunft schafft. Die Deutsche Bundes- post weiter zu beschleunigen, fordern wir ein Tern- post hat dafür internationale Anerkennung gefun- polimit bei der Einführung neuer Technologien und den. Sie hat darüber hinaus auch in guter Weise bei eine verantwortungsvolle Abwägung der Folgen. jedem einzelnen Schritt ohne die vorliegenden An- fragen und vor ihnen hinreichend informiert. (Beifall bei den GRÜNEN) Ich komme zum Schluß. Wir wollen keine Sozial- Die parteipolitischen Kritiker der Deutschen verschmutzung, keine Zerstörung zwischenmensch- Bundespost, besonders des Postministers, fordern licher Kommunikation zugunsten eines fragwürdi- einerseits, das Monopol der Deutschen Bundespost gen technischen Fortschritts. im gesamten Fernmeldebereich auszubauen; ande- rerseits aber stellen sie die technisch notwendige (Beifall bei den GRÜNEN) Modernisierung des Fernmeldenetzes in Frage. Ganz auf dieser Linie liegen die Großen Anfragen Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- der GRÜNEN zum Thema „Ausbau der fernmelde- geordnete Pfeffermann. technischen Infrastruktur". Die mehr als 160 Einzel- (Zurufe: Der Liebesbrief! — Ja, sagen Sie fragen sind ein Konglomerat aus technischem Vo- etwas zu dem Liebesbrief!) kabular und gezielter Verunsicherungsverbalistik. Schon die Frage nach der Legitimation der Deut- schen Bundespost zum Ausbau der Fernmeldein- Pfeffermann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine frastruktur zeigt, daß die GRÜNEN das Postverwal- sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin, tungsgesetz nur vom Hörensagen kennen. ich muß mich herzlich bedanken. Es war ja wohl ein verstecktes Kompliment, daß Sie mit Blick auf mich (Frau Dann [GRÜNE]: Das ist Quatsch!) an einen Liebesbrief gedacht haben, und ich gebe Offensichtlich wäre es den GRÜNEN lieber gewe- das gerne zurück. Wenn ich Sie so wie jetzt lächeln sen, wenn die Post unter Mißachtung der interna- sehe, kann einem diese Idee auch glatt kommen, tionalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Fern- und nun werden Sie bitte nicht gleich feministisch, meldeindustrie bei ihren analogen Übertragungs- wenn ich hinzufüge: Bei den Ausführungen, die wegen und beim elektromechanischen Wählsystem dann folgten, ist mir der Gedanke an den Liebes- geblieben wäre, da ihnen offensichtlich die Anwen- brief glatt wieder entfallen, und das war sicher auch dung der Mikroelektronik suspekt erscheint. Haben Ihre Absicht. die GRÜNEN aus der Vergangenheit nichts gelernt, Nun also zur Sache: Das Errichten und Betreiben als wir von den USA und Japan in der Uhrenindust- der für die Individualkommunikation erforderli- rie, bei den Kameras, bei Videorecordern und NC- chen Netze betrachtet die Bundesregierung als Auf- Maschinen im Markt überrundet wurden und erst gabe der Daseinsvorsorge. Ziel ist eine flächendek- durch erhebliche Anstrengungen unsere internatio- kende Versorgung , zu gleichen Bedingungen auch nale Konkurrenzfähigkeit wieder unter Beweis stel- bei künftigen Netzgenerationen. len konnten? (Ströbele [GRÜNE]: Schleppnetz!) Wer sich die Mühe macht, die Antworten auf die Die Bundesregierung beabsichtigt daher nicht, hier vielfältigen Fragen nachzulesen — aber, Frau Kol- konkurrierende Netzträger zuzulassen. legin Dann, Ihre Ausführungen lassen mich bezwei- Mit dieser Festlegung, die die Bundesregierung feln, daß Sie wirklich diese Absicht und dieses In- im Jahreswirtschaftsbericht 1986 erneut vorgenom- teresse haben —, men hat, hat sie der Deutschen Bundespost den (Frau Dann [GRÜNE]: Das ist eine Unver- Auftrag zugewiesen, das Fernmeldenetz der Deut- schämtheit!) schen Bundespost als Kernstück einer fernmelde- technischen Infrastruktur in der Bundesrepublik wird feststellen, daß die Deutsche Bundespost für Deutschland im internationalen Maßstab für die die Anforderungen der Zukunft gerüstet ist. Das Aufgaben einer Industrienation auszubauen. Dabei gilt für die wesentlich größeren Informationsmen- geht die Bundesregierung davon aus, daß einerseits gen, die in Zukunft in kürzerer Zeit zu niedrigeren keine konkurrierenden Netzträger zugelassen wer- Kosten übertragen werden können, den, andererseits aber ein wirksamer Wettbewerb (Zuruf der Abg. Frau Dann [GRÜNE]) bei den Fernmeldedienstleistungen im Netz der Deutschen Bundespost ermöglicht und durch den für die Tatsache, daß alle heute erkennbaren Wegfall einengender Reglementierungen größere Dienste in einem Netz ermöglicht werden können, Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16715

Pfeffermann wie für die schnelle und kostengünstige Einführung Siebtens. Sie muß dazu ihre Infrastruktur pflegen neuer Dienste. und nach technisch zeitgemäßen Gegebenheiten - und wirtschaftlichen Bedingungen ausbauen. (Frau Dann [GRÜNE]: Das ist Ihre Ver sion!) Achtens. Durch ihre Gebührenpolitik gleicht sie z. B. räumliche Benachteiligungen aus. — Frau Kollegin, das Brieftaubenzeitalter ist zu Neuntens. Ausbau und Betrieb geschehen im mindest für die moderne Datentechnik ungeeignet. Rahmen des Fernmeldegeheimnisses. Sie garan- (Rusche [GRÜNE]: Weil die Luft vergiftet tiert Datensicherheit und Datenschutz. ist!) (Frau Dann [GRÜNE]: Das ist illusionär! Datenschutz gibt es da nicht!) Mit der Telekommunikationsordnung (TKO) schafft die Deutsche Bundespost zur Zeit darüber — Frau Kollegin, Sie sollten nicht so voreilig mit hinaus eine Gebührenharmonisierung, die der tech- Ihren Zwischenbemerkungen sein. Die Immunität nischen Entwicklung angepaßt ist. Die Deutsche schützt Sie doch nicht davor, daß der Nachleser Bundespost ist für den technischen Übergang ins Ihrer Zwischenrufe die Ignoranz Ihrer Beiträge er- nächste Jahrhundert gerüstet. kennt. (Frau Dann [GRÜNE]: Ein Datenschutz ist Die von den GRÜNEN angezweifelte Digitaltech- nicht möglich! — Weitere Zurufe von den nik hat gegenüber der heutigen Ausrüstung eine GRÜNEN) wesentlich höhere Flexibilität zur Realisierung neuer Techniken und neuer Dienste. Der Preisvor- Die Entwicklung der neuen Technik stellt immer teil der Digitaltechnik zeigt sich schon heute bei wieder die Frage nach der Beschäftigung bei der der Einführung dieser Technik. Er liegt bei der Deutschen Bundespost. Die Antworten auf die ge- Fernsprechvermittlung bei zirka einem Drittel des stellten Anfragen weisen aus, daß in der Fern- Preises der bisher eingesetzten Technik. Bei dop- meldeindustrie und im Fernmeldewesen der Deut- pelter Leistungsdichte haben wir nur ein Zehntel schen Bundespost der eingeschlagene Weg neue des Raumbedarfs, z. B. in den Vermittlungsstellen Arbeitsplätze geschaffen hat. Nur durch Realisie- nur ein Drittel des Strombedarfs. Die jetzt verleg- rung des technischen Fortschritts werden neue ten Netze — hier meine ich die Kabel — können bis Dienstleistungen möglich und erschlossen, wie die zur Erneuerung wesentlich mehr vom Markt ge- steigenden Produktions- und Exportzahlen in den wünschten Fernmeldeverkehr transportieren. Wir Antworten zeigen. haben einen kürzeren Verbindungsaufbau und eine Dabei ist es Aufgabe der Deutschen Bundespost, höhere Übermittlungsqualität. Das sind Dinge, die zur Sicherung und Erschließung neuer Arbeits- Sie doch wirklich nicht bestreiten können, Frau plätze eine Vorreiterrolle bei der Einführung neuer Kollegin, wenn Sie einen Hauch von technischer Techniken zu übernehmen. Ahnung in diesem Bereich haben. (Frau Dann [GRÜNE]: Das stimmt doch Das künftige ISDN kann größere Informations- nicht!) mengen in kürzerer Zeit zu niedrigeren Kosten Auf Dauer finden nur Produkte im Ausland Absatz, übertragen. auf deren erprobte Anwendung im Inland wir ver- (Frau Dann [GRÜNE]: Ich sehe nicht nur weisen können. Würden wir den Infragestellern die Technik!) nachgeben, kämen wir auch nicht umhin, in abseh- barer Zeit unsere Fernmeldenetze zu erneuern, — Aber darauf zielten Ihre Fragen ab. Wahrschein- dann aber mit Produkten aus den USA und Japan lich haben Sie nicht einmal Ihre Fragen, schon gar oder aus den Staaten, die in der Zwischenzeit ihre nicht die Antworten gelesen. technische Erneuerung vollzogen haben. Die Deutsche Bundespost hat im Rahmen Ihres Bei der Antwort der Bundesregierung auf die An- Auftrags die Bevölkerung, Industrie und Wirtschaft fragen zeigt sich, daß die Deutsche Bundespost wie- mit Kommunikationsleistungen des Post- und der auf dem richtigen Weg ist. Fernmeldewesens zu versorgen. (Frau Dann [GRÜNE]: Holzweg!) (Frau Dann [GRÜNE]: Vor allem die Wirt Das ist das Verdienst des jetzigen Postministers, schaft!) der für die Deutsche Bundespost in der Frage der Erneuerung eine neue Bresche geschlagen hat. Mit den eingeleiteten Maßnahmen wird sie erstens (Zurufe von den GRÜNEN) einen hohen Standard der Dienstleistung garantie- ren; zweitens die gleichmäßige Versorgung der Be- Für die ausführlichen sachgerechten Antworten auf völkerung in Stadt und Land sicherstellen; drittens die Großen Anfragen, die den Mitarbeitern des durch die Beteiligung am Endgerätemarkt Fern- Postministers eine ungeheure Mühe gemacht ha- meldeleistungen auch auf dem flachen Land zu ben, möchte ich diesen meinen ausdrücklichen marktgerechten Bedingungen gewährleisten; vier- Dank abstatten. tens den internationalen Austausch von Fernmelde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) leistungen auf hohem Standard gewährleisten; fünftens die Dienstleistungspalette ständig fortent- wickeln können; sechstens die technische Innova- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- tion anregen. geordnete Paterna. 16716 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Paterna (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und sam eine zehnstündige Sitzung in diesem Gremium Herren! Herr Kollege Pfeffermann, ich werde Ihnen hinter uns haben. Ich kann in diesem Punkte auch - nachher ein paar Beispiele für das geben, was Sie die Abqualifzierung der Frau Kollegin Dann über- soeben als sachgerecht und ausführlich qualifiziert haupt nicht teilen. Da ich die Möglichkeit habe, das haben. Ich komme zu einer ganz anderen Bewer- Niveau und die Sachkunde der Debatten im Verwal- tung und stelle fest, daß jedenfalls in den Teilen, in tungsrat einerseits und in Parlamentsausschüssen denen nach gesellschaftspolitischen Auswirkungen andererseits zu vergleichen, muß ich sagen — ich dieser Infrastrukturinvestitionen gefragt wird, die will das nicht zu genau bewerten —, daß sich der Antworten an Dürftigkeit nicht zu überbieten sind. Postverwaltungsrat in diesem Punkt keineswegs zu Ich werde Ihnen dafür auch ein paar Belege ge- verstecken braucht. Deswegen will ich j a gar nicht, ben. daß dieser Tendenz Vorschub geleistet wird. Ich kri- Nun kann das zwei Ursachen haben. Entweder tisiere nur, daß durch die Art dieser Beantwortung weiß die Bundesregierung wirklich nicht mehr, als solch e Tendenzen Nahrung bekommen könnten. sie da gesagt hat; das ist ja denkbar. Dann aller- Wir sollten daran gemeinsam kein Interesse ha- dings muß sie ihre Regierungsverantwortung so ben. schnell wie möglich abgeben; denn auf einem so Nun will ich meine sehr deutliche Kritik mit nur dürftigen Informationsstand sind Investitionen in wenigen Stellen belegen. Erster Punkt: An zahlrei- der Größenordnung von mehr als 15 Milliarden DM chen Stellen wird in den Antworten behauptet, die jährlich nun wirklich nicht zu verantworten. Es gibt Infrastrukturinvestitionen seien bedarfsgerecht. eine zweite Möglichkeit: Die Bundesregierung weiß Das hört sich ja erst einmal gut an. Wenn aber prä- mehr, als sie sagt. Dann aber stellen diese Antwor- zise gefragt wird, wie denn dieser Bedarf ermittelt ten, jedenfalls in wesentlichen Teilen, eine Mißach- wird, dann ist regelmäßig Fehlanzeige. Dann wird tung des Parlaments dar. Das wiegt in diesem Fall ganz allgemein behauptet, Prognosen seien j a so- besonders schwer, weil ja, wie Sie wissen, das Par- wieso mit Unsicherheiten behaftet. Daß darin ein lament wesentliche Entscheidungs- und Kontroll- Widerspruch steckt, wird aber nirgendwo erörtert. rechte auf den Postverwaltungsrat delegiert hat, Oder es werden einem Leerformeln angeboten, von wodurch natürlich die Informationsbedürfnisse des denen ich Ihnen einmal eine zitieren will. In der Parlaments besonders groß sind. Wenn dann eine Antwort auf Frage I 3.2.2 steht der bemerkenswerte solche durchaus sachkundige Große Anfrage, die zu Satz: erstellen sicherlich viel Mühe gemacht hat, in vie- len wichtigen Punkten so lapidar beantwortet wird, Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die dann halte ich das auch deshalb für leichtfertig, Marktdurchdringung in Abhängigkeit von den Marktsektoren (z. B. Branchen und Haushalts- Herr Postminister, weil Sie natürlich denjenigen — das sind ja nicht nur die GRÜNEN, die so argumen- gruppen) unterschiedlich verlaufen wird. tieren —, die verlangen, die Beschlußrechte aus Wer hätte das gedacht? Es ist nun wirklich gera- dem Postverwaltungsrat zurück ins Parlament zu dezu dummdreist, solche Leerformeln dem Parla- verlegen, mit solchen unqualifizierten Antworten ment anzubieten. Vorschub leisten. (Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist doch (Beifall bei den GRÜNEN) nicht parlamentarisch, Herr Kollege! Sol che Worte gebrauchen Sie auch nicht im Vizepräsident Stücklen: Gestatten Sie eine Zwi- Postverwaltungsrat!) schenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Riedl? — Dann nehme ich das Wort „dummdreist" mit dem Paterna (SPD): Gern, wenn Sie die Uhr so lange Ausdruck des Bedauerns zurück und ersetze es anhalten, Herr Präsident. durch „nichtssagendes Geschwätz", wenn Ihnen das lieber ist. Wenn Sie nicht zu lange Vizepräsident Stücklen: (Pfeffermann [CDU/CSU]: Jetzt nehmen angehalten werden muß, ja. Sie „Geschwätz" zurück, dann stimmt's!) Paterna (SPD): Bitte, Herr Kollege! — Zweites Beispiel. In der Frage I 3.2.6 wird da- nach gefragt, ob die Digitalisierung der Fern- Dr. Riedl (München) (CDU/CSU): Danke schön, sprechnetze nicht die Ballungsräume bevorzuge Herr Präsident. — Herr Kollege Paterna, wir beide und die ländlichen Räume benachteilige. Die voll- sitzen ja im Postverwaltungsrat. Sind Sie bereit, zu- ständige Antwort der Bundesregierung lautet: zugeben und zu erklären, daß wir dort seit vielen Jahren ungewöhnlich viel Zeit zur Verfügung ha- Nein. Die Digitalisierung bringt keine Standort- differenzierung in Tarifen oder Diensten. Inso- ben, um alle postalischen Fragen in Erfüllung der weit ergibt sich keine Bevorzugung oder Be- uns vom Parlament übertragenen Aufgabe, die wir nachteiligung von Gebieten. dort wahrzunehmen haben, bis ins Detail zu stellen, zu klären und zu diskutieren, und daß es aus unse- Das ist in dieser Verkürzung natürlich nicht rer Sicht jedwede Möglichkeit gibt, bei der Deut- wahr. Tatsache ist, daß wir — das ist allerdings erst schen Bundespost bis zum letzten Hosenknopf alles eingegangen, nachdem die Antwort fertig war — zu erfahren? einen einstimmigen Beschluß der Länderwirt- schaftsministerkonferenz haben, die genau diese Paterna (SPD): Herr Kollege Riedl, ich bestätige Gebührenstrategie bei ISDN als die ländlichen Ihnen das um so lieber, als wir j a gerade gemein- Räume benachteiligend qualifiziert. Diese Bewer- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16717

Paterna tung muß man nicht teilen. Ich persönlich teile sie ster hier ganz anders herum argumentieren: daß es in dieser Absolutheit auch nicht. Aber daß es da sich hier um Bereiche der Daseinsvorsorge handelt - eine Diskussion gibt, und nicht erst seit Wochen, und daß deshalb natürlich die Bundespost die Be- das müßte der Bundesregierung eigentlich bekannt lange des Schutzes persönlicher Daten besonders sein. Deswegen kann sie sich nicht derartig flapsig ernst nimmt. Man kann nicht so schlicht argumen- über eine durchaus berechtigte Frage hinwegset- tieren: Wir setzen die Bedingungen fest; wem das zen. nicht paßt, der schafft sich eben kein Telefon an. Drittes Beispiel — das ist besonders auffällig und (Pfeffermann [CDU/CSU]: Als Postmini- ärgerlich — aus dem Problemkomplex Daten- ster bleibst du uns hoffentlich erspart!) schutz. Da lautet z. B. die Frage III 1.1.8: So simpel kann es ja wohl nicht sein. Welche Überlegungen zu Erweiterungen des Datenschutzes und zur Präzisierung des Fern- Allerdings muß man dann auch anfügen, daß die meldegeheimnisses aufgrund dieser techni- Argumentation von Frau Dann, die da behauptet schen Möglichkeiten gibt es? hat, der Datenschutz sei schon immer ein Stiefkind der Bundespost gewesen, natürlich grober Unfug Die vollständige Antwort lautet: ist. Daß der Schutz des Brief- und Fernmeldege- Einer Präzisierung der Verpflichtung zur Wah- heimnisses bei der Bundespost traditionell in her- rung des Fernmeldegeheimnisses bedarf es vorragender anerkannter Hand ist, ist klar. nicht. Erforderliche Regelungen des Daten- schutzes werden in die Benutzungsverordnun- (Beifall bei der CDU/CSU — Rusche gen des Fernmeldewesens aufgenommen. [GRÜNE]: Beifall bei der CDU!) (Pfeffermann [CDU/CSU]: Eine umfas Vierter Punkt. Die möglichen Rationalisierungs- sende Antwort!) effekte werden einfach geleugnet. Herr Dr. Schwarz-Schilling, Sie waren Vorsitzender der En- — Verschwiegen wird, Herr Kollege Pfeffermann, quetekommission. Ich habe immer gedacht, Ihre (Pfeffermann [CDU/CSU]: Umfassend und Mitarbeit hätte sich nicht auf das Worterteilen be- sachlich!) schränkt. Sie können dem Kabinett doch nicht das müßten Sie miterlebt haben — ich habe die ernsthaft eine Antwort empfehlen, in der diese Ra- Antwort vollständig, nicht selektiv zitiert; tionalisierungseffekte per Saldo schlicht geleugnet werden. Das nimmt doch keiner mehr ernst. (Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie ist ja umfas send!) Wer — wie die SPD — die Chancen der neuen Informations- und Kommunikationstechniken ge- es ist kein Anlaß zur Kritik, wenn ich in der Beweis- ringer, die Risiken hingegen größer einschätzt, als führung so sauber arbeite —, daß das Postministe- die Bundesregierung das tut, der kommt deshalb rium in den vergangenen drei Jahren von sich aus noch nicht zu dem Schluß, man müsse diese Techni- überhaupt nicht daran dachte, bereichsspezifische ken ablehnen oder auch nur auf Verzögerungstakti- Regelungen vorzuschlagen. Erst in den letzten Mo- ken sinnen, auch dann nicht, wenn man — wie wir naten ist es da etwas lernfähiger geworden. Ver- — die Datenschutzprobleme und die Gefahr von schwiegen wird auch, daß es beim jüngsten Verord- Machtverschiebungen zugunsten des Staates und nungsentwurf, nämlich der Telekommunikations- zu Lasten des Bürgers, zugunsten der Arbeitgeber ordnung, zunächst einmal massive Kritik von seiten und zu Lasten der Arbeitnehmer sehr ernst nimmt. der Datenschützer gab. Inzwischen ist sie teilweise Aber egal wie man diese Güterabwägung vornimmt: berücksichtigt worden. Verschwiegen wird schließ- Ich glaube, alle Bürger können verlangen, daß eine lich — in diesem Punkt ist das, was die Kollegin Regierung und ein Parlament in seiner Mehrheit Dann sagt, völlig richtig —, daß hier auf der Basis Vorsorge dafür treffen, daß die Chancen so groß wie des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungs- gerichts der Parlamentsvorbehalt zunehmend re- möglich und die Risiken so gering wie möglich klamiert wird. Das kann man nicht so lapidar vom sind. Tisch wischen. Mit der Art von Problembewußtsein, wie sie hier (Pfeffermann [CDU/CSU]: Den haben Sie in der Antwort dargestellt wird — ich könnte Ihnen heute nachmittag in Zweifel gestellt!) eine Fülle weiterer Zitate als Belegstellen geben —, entlarvt sich diese Bundesregierung selbst. Sie Man muß dieses Argument wiederum nicht teilen. stellt so unter Beweis, daß sie unfähig ist, Vorsorge Ich teile es nicht. Beschimpfen Sie mich doch nicht. dafür zu treffen, daß diese Technologien sozial ver- Nur kann man nicht so tun, als gäbe es diese Dis- träglich gestaltet werden. kussion gar nicht. Ich will noch eine andere Antwort zitieren, weil Ich bin über diese Antwort sehr enttäuscht, und ich bin sehr gespannt, was der Postminister noch ich die für ausgesprochen fahrlässig halte. Da wird auf eine entsprechende Fragestellung gesagt: an Argumenten nachliefern kann. Die Entscheidung zur Teilnahme an Fernmel- Vielen Dank. dediensten der Deutschen Bundespost nach (Zustimmung bei der SPD — Pfeffermann Form und Inhalt bleibt freiwillig. [CDU/CSU]: Stark war der Paterna heute Wer so argumentiert, der setzt in der Tat das Fern nicht! Er hat sich heute nachmittag veraus meldemonopol aufs Spiel. Ich würde als Postmini gabt!) 16718 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- gen. Insbesondere im Fernmeldebereich erwirt- geordnete Kohn. schaftet die Bundespost solch hohe Überschüsse,- daß nach unserer Auffassung Spielraum für weitere Kohn (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehr- Gebührensenkungen vorhanden ist. ten Damen und Herren! Mit einiger Verwunderung Vor allem wünschen wir uns von der Bundespost ist festzustellen, daß SPD und GRÜNE in den letz- mehr und schnellere Privatisierung, einen konse- ten Monaten die Bundespost verstärkt zur Ziel- quenteren Verzicht auf staatliche Vorrechte und scheibe ihrer Kritik gemacht haben. eine stärkere Öffnung hin zu einem gleichberech- (Frau Hönes [GRÜNE]: Wundert Sie das?) tigten Wettbewerb mit privaten Anbietern. Insbe- Dies ist ein ziemlich durchsichtiges Spiel. Sie wol- sondere im Bereich des Endgerätemarktes muß die len die Treibjagd gegen den Bundespostminister Unternehmenspolitik der Bundespost weiter libera- fortsetzen, und da Ihnen der Stoff für persönliche lisiert, muß mehr Wettbewerb und mehr Marktwirt- Angriffe ausgegangen ist, scheuen Sie nun nicht schaft geschaffen werden. Der Sachverständigen- davor zurück, das Dienstleistungsunternehmen rat, der sich in seinem letzten Jahresgutachten kri- Deutsche Bundespost als Vehikel für Ihre Kritik zu tisch mit der Politik der Bundespost auseinanderge- mißbrauchen. setzt hat, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß an sich mögliche technische Innovationen durch man- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gelnde Flexibilität der Deutschen Bundespost be- Dabei hat die Bundespost in dieser Legislaturpe- hindert oder gar verhindert werden könnten. Dem riode so erfolgreich wie seit langem nicht mehr ge- gilt es zu wehren. arbeitet. Erstmals ist es gelungen, in einer gesam- ten Legislaturperiode Gebührenerhöhungen der Völlig unverständlich ist es mir aber, daß die Op- Deutschen Bundespost entbehrlich zu machen, und position ausgerechnet Kritik an der Entscheidung dies trotz eines Milliardenprogramms an Investitio- des Bundespostministers übt, die Unternehmenspo- nen, das in seiner Anfangsphase natürlich mit er- litik durch unabhängige Gutachten überprüfen zu heblichen Anlaufverlusten verbunden ist. lassen. Die Post tut damit das, was man zu Recht von einem Großunternehmen erwartet, das seine (Frau Dann [GRÜNE]: Aber die nächste Politik öffentlich rechtfertigen muß. Daß die Post Gebührenerhöhung kommt bestimmt!) neutrale Gutachter herangezogen hat, beweist, daß Unter sozialdemokratischen Postministern hat es sie im Ergebnis nichts zu verbergen hat. derartige Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen (Zustimmung bei der CDU/CSU) und sichern, nicht gegeben, dafür aber ständige und sehr drastische Gebührenerhöhungen. SPD und GRÜNE eifern offensichtlich nur deshalb (Pfeffermann [CDU/CSU]: So ist es!) so vehement gegen dieses Gutachten, weil damit ihrer irrationalen Kritik an der Post der Boden ent- Die Post ist auch nicht länger — was sie einmal zogen wird. Die SPD und vor allem der Deutsche unter sozialdemokratischen Ministern war — ein Gewerkschaftsbund ausgesprochener Fortschritts- und Wachstums- bremser. Der Verkabelungsstopp, den die Sozialde- (Paterna [SPD]: Sie haben keine Ahnung!) mokraten der Post in ihrer Regierungszeit aufgenö- sollten sich die Post in diesem Fall zum Vorbild tigt hatten, schadete nicht nur der Post, sondern nehmen und die Unternehmenspolitik der Neuen behinderte die Weiterentwicklung der deutschen Heimat in gleicher Weise durch neutrale, unabhän- Kommunikations- und Technologieindustrie insge- gige Gutachter überprüfen lassen. samt. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit die- (Beifall bei der CDU/CSU — Pfeffermann ses Wirtschaftszweiges, der für jede moderne fort- [CDU/CSU]: Zum Beispiel durch die Treu schrittliche Volkswirtschaft immer bedeutsamer hand!) wird, ja, ohne den technischer Fortschritt auf Dauer undenkbar ist, war damals nachhaltig gefährdet. Sie weigern sich gegenüber dieser nur zu berechtig- Die Post betreibt deshalb heute nicht mehr — wie ten Forderung offenbar, weil es im Fall der Neuen zu sozialdemokratischen Zeiten — eine Medien- Heimat, anders als bei der Bundespost, sehr viel zu blockade, die in klarem Widerspruch zu der grund- verbergen gibt. gesetzlich garantierten Informationsfreiheit der (Zuruf von den GRÜNEN) Bürger steht. Erst seitdem die Deutsche Bundes- post den Ausbau der modernen Kommunikations- — Ich weiß, daß Ihnen dies unbequem ist, aber wir techniken aktiv vorantreibt, kommen immer mehr werden Ihnen dieses Thema nicht ersparen. Bürger in, den Genuß zusätzlicher Informationsan- (Rusche [GRÜNE]: Nicht unbequem, das ist gebote. Erst seitdem wird der grundgesetzliche Auf- j a langweilig!) trag, jedem Bürger soviel Information wie möglich zugänglich zu machen, auch von der Deutschen Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Einset- Bundespost erfüllt. zung der hochrangigen Regierungskommission, die Vorschläge für ein modernes Unternehmenskon- (Beifall bei der CDU/CSU) zept im Fernmeldebereich entwickeln soll. Die Post Natürlich, meine Damen und Herren, gibt es von darf die Weiterentwicklung der modernen Kommu- seiten der FDP auch Wünsche an die Bundespost. nikations- und Informationstechniken nicht nur Wir sehen für die überschaubare Zukunft auf nicht behindern, sondern muß sie aktiv fördern. Die Grund der hervorragenden Gewinnsituation der Post muß deshalb den alten Bürokratenkittel eines Bundespost keinen Anlaß für Gebührenerhöhun- staatlichen Hoheitsträgers abstreifen und das mo-

16720 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Bundesminister Dr. Schwarz-Schilling Ihr Ziel — das haben Sie gesagt — ein entsprechen- Wo werden Sie überhaupt noch moderne Technolo- des Tempolimit ist, d. h. eine Benachteiligung der gien einsatzbereit sehen, wenn nicht in einem Be-- Bundesrepublik bezüglich des technischen Fort- reich, wo Sie praktisch keine Umweltschädigung schritts auf dem Gebiet der Kommunikation gegen- haben, keine Geräuschkulisse — — über der USA, gegenüber Japan, also gegenüber un- (Ströbele [GRÜNE]: Aber Menschenschädi seren Wettbewerbern, dann frage ich mich: Wo wol- gungen! Gucken Sie sich einmal an, was len Sie eigentlich noch das Sozialprodukt produzie- Sie mit denen machen!) ren, das es Ihnen ermöglicht, auch noch Ihre „Sozi- alknete" zu bekommen, die Sie auch immer wieder — Menschenschädigungen? — Da würde ich Ihnen anfordern? Woher soll das eigentlich kommen? erst einmal sagen: Lassen wir doch diejenigen, die Nachfragebedarf nach solchen Diensten haben, sel- (Beifall bei der CDU/CSU) ber entscheiden und unter keinen Umständen die Mir scheint, daß Sie hier eine ganz andere Ziel- autoritative Entscheidungskompetenz gerade Ihrer setzung haben, die letztlich auf die Zerstörung der Fraktion an die Stelle der Entscheidung des Bür- Industriegesellschaft abzielt; anders kann man es gers setzen. wohl nicht bezeichnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Pfeffermann [CDU/CSU]: Sehr wahr! — Nun, meine Damen und Herren, weiter wurde von Rusche [GRÜNE]: Wenn's der Bürger mal Ihnen die Frage gestellt: Wie wird die Kommunika entscheiden würde!) tionstechnologie in der Bundesrepublik Deutsch- land ausgebaut, und welche Wirkungen hat sie? Sie haben ja scheinbar ein völlig anderes Demokra- Eine Auswirkung haben wir mit Sicherheit festzu- tieverständnis, indem Sie nämlich wollen, daß Sie stellen, nämlich die, dezentral Entscheidungsmög- entscheiden, was Millionen von Menschen sehen, lichkeiten zu verstärken. Denn Kommunikation, an Dienstleistungen ergreifen oder nicht dürfen. die nicht mehr nur über Zentralen möglich ist — Das wollen wir verhindern. früher hatten wir z. B. große Datenverarbeitungsan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — lagen —, sondern heute auch mittels Verkabelung Zurufe von den GRÜNEN und der CDU/ für jeden mittleren und kleinen Betrieb die Nut- CSU) zung ermöglicht, bringt unsere Gesellschaft in die Wenn es überhaupt irgendwo einen Bereich gibt, Lage, daß Tausende und Hunderttausende von Bür- in dem man von einem qualitativen Wachstum gern unabhängig von Zentralen Entscheidungen sprechen kann — das war ja der Slogan, den die treffen können. SPD in den 70er Jahren als den eigentlich entschei- (Ströbele [GRÜNE]: Die kann man aber denden angesehen hat —, kann man sich nur vor- auch alle zusammenschalten!) stellen, Aus diesem Grunde ist gerade Kommunikation die (Zuruf von den GRÜNEN: Ihre Batterie Voraussetzung für eine demokratische und gesell- fabrik bestimmt nicht!) schaftspolitisch erwünschte Entwicklung. daß es die Kommunikationstechnologie ist, wo es dieses Wachstum gibt, was dezentral sowohl in der (Ströbele [GRÜNE]: Aber nicht jeder Com Fläche als auch in Ballungsgebieten die Möglichkei- puter!) ten und Freiräume für den einzelnen Bürger erwei- Meine Damen und Herren, Sie haben natürlich tert. Das wäre, wenn man es überhaupt definieren recht: Man kann alles auch mißbräuchlich benut- wollte, qualitatives Wachstum. zen. Sie sagen nun, Herr Paterna, soweit wie die GRÜ- (Ströbele [GRÜNE]: Genau!) NEN wollten Sie nicht gehen, daß Sie sagen: Das Aber wir sind ja Gott sei Dank in der Lage, solange wollen wir alles abbremsen. Ich glaube, Sie werden wie wir einen Rechtsstaat haben, Mißbräuche zu sich in fünf bis zehn Jahren auf dem gleichen minimieren, Korrekturen vorzunehmen, wo Miß- Dampfer befinden. Das haben wir ja in anderen bräuche entstehen, und nicht das System als sol- Bereichen zur Genüge festgestellt. ches in Frage stellen zu müssen. Diese Infragestel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lung müßte man überall dort vornehmen, wo es kei- Deswegen rate ich Ihnen, am Anfang darüber nach- nen Rechtsstaat gibt. Da könnten Sie sich entspre- zudenken und nicht erst am Ende. chend betätigen. Keine Frage ist, daß die Verhinderung des techni- Vizepräsident Stücklen: Herr Bundesminister, ge- schen Fortschritts in dieser Frage für uns eher grö- statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- ßere Risiken bringt, als sie etwa Risiken minimie- neten Ströbele? ren würde. Das müssen besonders jene sehen, die sowohl gegen den technischen Fortschritt als auch Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister für das für den Ausbau des Sozialstaates sind. Unseren Post- und Fernmeldewesen: Bitte schön! Wohlstand erhalten und das soziale Netz finanzie- ren können wir nur, wenn wir auch technologisch weiterhin an der Spitze bleiben. Ströbele (GRÜNE): Herr Bundesminister, Sie rüh- men immer wieder die Möglichkeiten des Dezentra- Ich glaube, wir stimmen alle überein, daß wir bei len, die sich hier eröffnen. Sehen Sie nicht auf der der Atomenergie viele Fragen haben, die Sicherheit anderen Seite, daß die Kommunikationssysteme, an die erste Stelle setzen müssen. Nun frage ich Sie: die Sie fördern und immer weiter ausbauen, gerade Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16721

Ströbele das Gegenteil ermöglichen und die Gefahren her- selber. Ich kann Ihnen noch mal versichern: Es gibt beiführen, daß dezentrale Entscheidungen, dezen- diese Vorlagen nicht, auch wenn Sie es zehnmal trale Computer, dezentrale Systeme zentralisiert behaupten: Und ich würde Ihnen wünschen, daß die werden, daß also die Möglichkeiten und damit die Bundesregierung auch im Verlaufe der nächsten Gefahren geschaffen werden, daß zentralisiert vier Jahre eine so maßvolle Politik wie in dieser wird? Legislaturperiode macht, in der wir null Prozent Gebührenerhöhung hatten. Ich glaube, das sollte Ih- Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister für das nen ein Beispiel und nicht Anlaß zur Kritik sein. Post- und Fernmeldewesen: Genau das Umgekehrte Ich danke Ihnen. ist der Fall, Herr Abgeordneter. Wir haben früher große Rechenzentren gehabt. Wir haben früher die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Informationen nur an zentralen Stellen gehabt. Zurufe von den GRÜNEN) Diese Kommunikationstechnologie ermöglicht es, daß zur gleichen Zeit, in der gleichen Sekunde, der Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Her- einzelne Bürger durch Abfragen, durch entspre- ren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich chendes Eingreifen in das Fernmeldenetz, durch schließe die Aussprache. Computerbefragung von seinem Platz aus — zu Hause oder im Amt — die gleiche Möglichkeit hat, Dann rufe ich den Zusatztagesordnungspunkt 6 wie sie vorher nur hohe administrative Stellen hat- auf: ten, was früher bei Diktaturen entsprechend Zen- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- tralismus hervorrief, bei uns aber zur Demokrati- desregierung eingebrachten Entwurfs eines sierung dieser Möglichkeiten führt. Dezentralisie- Gesetzes über die fünfzehnte Anpassung der rung ist das Entscheidende. Leistungen nach dem Bundesversorgungsge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setz (Fünfzehntes Anpassungsgesetz — KOV Nun darf ich noch einen weiteren Punkt anspre- — 15. AnpG-KOV) chen. Herr Paterna, Sie sprachen davon, daß Be- — Drucksache 10/5209 — darfsgerechtigkeit und Prognosen in einem entspre- a) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- chenden Gegensatz stehen. Ich muß Ihnen sagen, schusses für Arbeit und Sozialordnung daß Sie die modernen Prognosetechniken über- (11. Ausschuß) haupt nicht zu begreifen scheinen. Prognosen sind — Drucksache 10/5493 — keine exakten Daten, auf die man auf lange Sicht Berichterstatter: Abgeordneter Pöppl bauen darf. Sie müssen jedes Jahr rollierend korri- giert werden. Aus diesem Grunde ist gerade die b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Bedarfsgerechtigkeit eine Funktion kurz-, mittel- schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung und langfristiger Prognosen. Die kurzfristige Pro- — Drucksache 10/5494 — gnose hat allerdings schon den Charakter von Da- Berichterstatter: ten. Die mittel- und langfristigen Prognosen stellen Abgeordnete Sieler (Amberg) eine Perspektive dar. Und wenn man nicht in der Strube Lage ist, beides zu kombinieren, dann hat man we- Frau Seiler-Albring der eine richtige Prognose, noch haben Sie den Be- und Dr. Müller (Bremen) darf geschätzt. Das ist allerdings eine Binsenweis- Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion heit jedes Unternehmens, was Ihnen vielleicht der SPD auf den Drucksachen 10/5495 bis 10/5500 ferne steht. vor. Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat (Abg. Senfft [GRÜNE] meldet sich zu einer eine Aussprache von bis zu fünf Minuten für jede Zwischenfrage) Fraktion vereinbart. Wenn das Haus damit einver- standen ist — ich höre keinen Widerspruch —, ist so Vizepräsident Stücklen: Herr Bundesminister, ge- beschlossen. statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — neten Senfft? Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister für das Post Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pöppl. und Fernmeldewesen: Nein, ich möchte jetzt zu Ende kommen, weil es doch schon relativ spät ist. Pöppl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr Ich darf noch eine Bemerkung zur Frage der verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetz über Länderkompetenz machen. Meine Damen und Her- die 15. Anpassung nach dem Bundesversorgungsge- ren, ich möchte hier deutlich sagen, daß diese Bun- setz wird erstmals wieder eine deutliche reale Ein- despost erst die Möglichkeit eröffnet hat, daß die kommensverbesserung für die Kriegsopfer erreicht. Länder ihre Politik durchsetzen können. Denn wir Entsprechend dem Lohnanstieg der Arbeitnehmer haben keine Barrieren und Blockaden gegen die im vergangenen Jahr steigen auch die Rentenlei- Wünsche von Ländern errichtet, wie es bei der frü- stungen vom 1. Juli 1986 brutto um 2,9 %. Das bedeu- heren Bundesregierung der Fall war. tet für die Kriegsopfer eine Kaufkraftsteigerung (Beifall bei der CDU/CSU) aus den Rentenleistungen von real annähernd 2 %. Zuletzt komme ich zur Frage der Gebühren. An dieser Stelle muß noch einmal daran erinnert Meine Damen und Herren, Sie wissen ja offensicht- werden, daß die Kriegsopfer in den Jahren 1978 bis lich besser über meine Schubladen Bescheid als ich 1981 erheblich unter die Räder gekommen sind. Die 16722 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Pöppl SPD hat nämlich im Jahr 1978 die Anpassung völlig Kriegsopfer und Kriegsbeschädigten auf die mate- ausfallen lassen. In den Jahren 1979 bis 1981 hat sie riellen, aber auch auf die persönlichen Hilfen der - sich an der Lohnentwicklung überhaupt nicht Kriegsopferfürsorge angewiesen sind. orientiert, sondern die Kriegsopfer unter Berufung Den deutschen Hauptfürsorgestellen, denen die auf den Anpassungsverbund völlig im Regen ste- Betreuung der Sonderfürsorgeberechtigten obliegt, henlassen. will ich von dieser Stelle aus für ihre außergewöhn- Die jetzt von verschiedenen Seiten geforderte Lö- lichen Leistungen bei der Bewältigung dieser sozi- sung des Anpassungsverbundes zielt darauf ab, den alpolitisch wichtigen Aufgabe meine besondere An- Abzug in Höhe von jeweils 0,7 % in den Jahren 1986 erkennung aussprechen. und 1987 zu vermeiden. Den Befürwortern eines sol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen „Erfolges" gebe ich zu bedenken, daß der Preis für die Abkoppelung die Aufhebung der dynami- Die Hauptfürsorgestellen und die Kriegsopferfür- schen Anpassung wäre. Es würde — wie vor 1970 — sorgestellen haben in den mehr als 40 Jahren seit jedesmal ein großes Tauziehen im Hinblick darauf dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Tat Her- beginnen müssen, um wieviel und in welcher Weise vorragendes geleistet. die Rentenleistungen der Kriegsopfer überhaupt angepaßt werden. Mit den strukturellen Änderungs- Ich will nur noch kurz auf Äußerungen der Partei maßnahmen des 15. Anpassungsgesetzes wird das DIE GRÜNEN in der ersten Lesung dieses Gesetz- Kriegsopferversorgungsrecht konsequent fortent- entwurfs eingehen. Herr Bueb, was Sie da fordern, wickelt, wobei auf die Stärkung des entschädi- ist schlicht und einfach die Streichung des Aufopfe- gungsrechtlichen Grundprinzips besonders Wert rungstatbestandes, d. h. die Entrechtung der gelegt wird. So dient insbesondere die Erhöhung Kriegsopfer. der Abgeltungsquote beim Berufsschadensaus- (Bueb [GRÜNE]: So ein Schmarren!) gleich und Schadensausgleich auf 42,5 % ebenso wie die Anhebung der Ausgleichsrente dem Grund- Sie wollen nicht einsehen anliegen, den unmittelbaren Versorgungsteil des (Bueb [GRÜNE]: Wir wollen die anderen Kriegsopferrechts so zu gestalten, daß die Versor- gleichstellen!) gungsberechtigten möglichst von ergänzenden Lei- stungen der Kriegsopferfürsorge unabhängig sind. -- warten Sie nur! —, daß der Staat gegenüber jenen, die Leib und Leben und ihre Gesundheit für Für die Versorgung der Kriegsopfer werden vom uns geopfert haben, ein besonderes Maß an Ver- Bund seit Jahren jährlich über 12 Milliarden DM pflichtung hat. aufgewendet, obwohl in den letzten fünf Jahren die Zahl der Versorgungsberechtigten zwischenzeitlich (Zuruf des Abg. Bueb [GRÜNEI) um 17,7 % zurückgegangen ist. Dennoch besteht Sie bestreiten den Kriegsopfern schlichtweg eine auch hier noch ein weiterer Handlungsbedarf. ausreichende Versorgung, indem Sie ihnen die be- Ich will dabei z. B. auf unseren interfraktionellen sondere Fürsorge des Staates verwehren wollen. Entschließungsantrag zur Auslandsversorgung (Zuruf von der CDU/CSU) (Ost) hinweisen. Wir bitten darin die Bundesregie- rung, zu prüfen, wie die Lage der Versorgungsbe- Wir sehen in dem sozialen Entschädigungsrecht rechtigten im Ausland, die keine volle Versorgung und dem Schadenersatzrecht für Verkehrsopfer in erhalten, verbessert werden kann. der Tat unterschiedliche Pflichtgrößen des Staates. In der Kriegsopferfürsorge wird die Abkopplung (Bueb [GRÜNE]: Na sowas!) vom Recht der Sozialhilfe weitergeführt. Der Lei- Wir in der Regierungskoalition — das will ich hier stungsschwerpunkt der Kriegsopferfürsorge wird deutlich aussprechen — werden uns nicht davon nunmehr eigenständig im BVG geregelt. abhalten lassen, Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht ver- (Zuruf des Abg. Bueb [GRÜNE]) säumen, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, in nächster Zeit nach Möglichkeit eine zeitangepaßte unsere besondere Verantwortung gegenüber den Fortschreibung des Leistungsrechts der Kriegs- Opfern des Krieges auch weiterhin aufrechtzuer- opferfürsorge anzugehen. Wir müssen der Verwal- halten. Ich möchte hier mit allem Nachdruck fest- tung vernünftige Regelungen bei der mit zuneh- stellen, daß der hervorgehobene Rang der Kriegs- mendem Alter immer schwieriger zu prüfenden und opferversorgung in der sozialen Sicherung unange- zu beantwortenden Frage der Kausalität an die tastet bleiben wird. Hand geben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Ein besonderes Augenmerk sollten wir aber auch Unionsfraktionen darf ich zusammenfassend zum der Sonderfürsorge geben. Von den über 78 000 Son- Ausdruck bringen, daß wir die realen Verbesserun- derfürsorgeberechtigten haben im Jahre 1984 56% gen der Renten und die strukturelle Weiterentwick- Leistungen der Kriegsopferfürsorge in Anspruch lung im Interesse der Kriegsbeschädigten und Hin- nehmen müssen. Das ist mehr als das Doppelte des terbliebenen besonders begrüßen. Wir werden die entsprechenden Anteils der Kriegsopferfürsor- Anträge der SPD ablehnen. Namens der CDU/CSU geempfänger an der Gesamtzahl der Versorgungs- Fraktion bitte ich Sie, dem Regierungsentwurf in berechtigten überhaupt. Hier beweist sich einmal der vom Ausschuß verabschiedeten Fassung zuzu- mehr, wie sehr die besonders schwer betroffenen stimmen. Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16723

Pöppl Vielen Dank. ... wir haben eine besondere Verantwortung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gegenüber den Opfern des Krieges ... Von spe-- ziellen Sparmaßnahmen bleiben die Kriegsop- fer ausgenommen. Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Abge- ordnete Kirschner. So der Bundeskanzler am 4. Mai 1983. (Sehr gut! bei der CDU/CSU) Kirschner (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Solche Aussagen, Herr Kollege Eigen, bleiben und Herren! Wir beraten jetzt abschließend den Ge- eben leere Worthülsen, wenn nicht entsprechende setzentwurf über die 15. Anpassung der Leistungen Taten folgen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein nach dem Bundesversorgungsgesetz. Der Entwurf erneuter Beweis dafür, wie groß der Widerspruch in seiner jetzigen Ausgestaltung, so wie er mit der zwischen dem, was von Ihrer Seite gesagt wird und Mehrheit des Ausschusses beschlossen worden ist, dem ist, was dann konkret getan wird. Das gilt nicht bedeutet für die Kriegsopfer doch eine ziemliche nur im Hinblick auf die unzureichende Rentenan- Enttäuschung. Er wird sowohl aus sozialpolitischer passung. Das gilt auch und insbesondere für die nur als auch aus entschädigungsrechtlicher Sicht der geringfügigen strukturellen Verbesserungen, die Bedarfssituation der Kriegsopfer nicht gerecht. Sie den Kriegsopfern anbieten und deren Inkraft- Lediglich um 2,15 % sollen die Kriegsopferrenten treten Sie auch noch auf den Anfang des nächsten zum 1. Juli dieses Jahres angehoben werden. Auf Jahres hinausschieben. das ganze Jahr 1986 umgerechnet ergibt sich da- Wenn Sie aber trotz der schweren Mängel, die Ihr nach gegenüber dem Vorjahr eine Rentenerhöhung Gesetzentwurf aufweist, diesen heute zum Anlaß um nur knapp 1,7 %. Das, meinen wir, ist dem Perso- nehmen, Ihre Leistungen für die Kriegsopfer hoch- nenkreis der Kriegsopfer nicht zuzumuten; denn zujubeln, dann fordern wir die Bundesregierung die Auswirkungen der mit den Haushaltsbegleitge- und Koalitionsmehrheit mit allem Nachdruck auf, setzen 1983 und 1984 eingeführten Rentenkürzungs- den Kriegsopfern dabei nicht zu verschweigen, daß mechanismen haben schon dazu geführt, daß sich ihnen auch mit diesem Gesetz wieder wie schon im deren Rentenanpassung immer mehr zu einer Ren- Vorjahr dringend notwendige strukturelle Verbes- tenminderung entwickelte. serungen unter Berufung auf fadenscheinige fi- (Eigen [CDU/CSU]: Was?) nanzielle Gründe verweigert werden. Das Ergebnis ist, daß die Kriegsopferrenten heute Sagen Sie den Kriegsopfern, daß Sie ihnen z. B. real um 0,3 % niedriger sind als 1982, dem Beginn weiterhin eine spürbare Anhebung der Entschädi- der Wende zum Schlechteren, wie wir alle wissen. gungsquote beim Berufsschadens- und Schadens- ausgleich um ein Zehntel auf fünf Zehntel vorent- (Jagoda [CDU/CSU]: Was heißt hier alle? halten, daß Sie ihnen z. B. die überproportionale An- Sie haben die guten Sachen nicht mitbe hebung der weit unter dem Niveau der Sozialhilfe kommen!) liegenden Elternrenten weiterhin verweigern, ob- — Fragen Sie einmal die Arbeitslosen und die Be- wohl sich die Zahl der Berechtigten seit 1980 bereits hinderten, welche guten Sachen sie nicht mitbe- um über die Hälfte verringert hat, oder daß Sie z. B. kommen haben. die Verbesserung der Möglichkeiten, Kuren in An- Die SPD-Bundestagsfraktion stellt. deshalb wie spruch zu nehmen, insbesondere für Witwen in fort- auch schon in den Ausschußberatungen den Antrag, geschrittenem Alter nicht für gerechtfertigt halten. die Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz Wir haben zu den von mir genannten Punkten um 2,9% anzuheben, und zwar ohne weiteren Ab- Änderungsanträge vorgelegt. Stimmen Sie diesen schlag in Höhe des Krankenversicherungsbeitrags Änderungsanträgen zu, und werden Sie damit tat- der Rentner. Wir stellen damit den von uns geschaf- sächlich einem Stück unserer gemeinsamen Ver- fenen und bewährten Dynamisierungsverbund zwi- antwortung gegenüber Kriegsopfern gerecht. Ich schen Kriegsopferversorgung und gesetzlicher möchte Sie jedenfalls um Ihre Zustimmung bitten. Rentenversicherung nicht in Frage. Das möchte ich Sollten Sie diesen Änderungsanträgen wider Er- mit aller Deutlichkeit sagen. Es muß aber aufhören, warten nicht zustimmen — ich hoffe, Sie tun es daß dieser Dynamisierungsverbund als Vehikel da- trotz Ihrer Ausführungen; die Möglichkeit dazu ha- für mißbraucht wird, den Kriegsopfern einen im ben Sie immer noch —, wird die SPD-Bundestags- Hinblick auf den für sie im Bundesversorgungsge- fraktion dem Gesetzentwurf in dritter Lesung setz verankerten Grundsatz der kostenfreien medi- gleichwohl zustimmen. Wir verweigern uns nicht ei- zinischen Rehabilitation systemwidrigen Kranken- ner Verbesserung, wenn sie auch erheblich hinter versicherungsbeitrag abzuverlangen. unseren Anträgen zurückbleibt. Die heutige Einkommenssituation der Kriegsop- Herzlichen Dank. fer macht deutlich, daß es eben nicht ausreicht, im- (Beifall bei der SPD) mer nur mit schönen Worten auf unsere besondere Verantwortung gegenüber den Opfern des Krieges hinzuweisen und die Unantastbarkeit des hervorge- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Abge- hobenen Ranges der Kriegsopferversorgung in der ordnete Cronenberg. sozialen Sicherung zu beschwören, wie es der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom Cronenberg (Arnsberg) (FDP): Herr Präsident! 4. Mai 1983 z. B. getan hat. Er sagte damals — es Meine Damen und Herren! Kriegsopferversorgung lohnt sich, das einmal wieder anzuschauen —: ist kein Almosen, Kriegopferversorgung ist auch 16724 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Cronenberg (Arnsberg) nicht nur Sozialpolitik, sie ist vielmehr der Versuch, Ich möchte aber noch die Orthopädie-Verordnung - denen, die durch Krieg und Kriegseinwirkung erwähnen, ebenso die Verbesserung der Zuschüsse Schaden erlitten haben, einen gewissen, zugegebe- für die Anschaffung und den Unterhalt von Kraft- nermaßen bescheidenen Ausgleich zu gewähren, fahrzeugen, die sicher für diejenigen, denen dort wohl wissend, daß das, was die einzelnen zu ertra- geholfen wird, der Erwähnung wert sind. gen und hinzunehmen hatten, nie vollständig aus- Meine Damen und Herren, es gibt allerdings auch geglichen werden kann. Es ist selbstverständlich, einen Punkt, den ich mit einem Satz kritisch an- daß immer mehr Wünsche laut werden, als die Be- merken möchte: Es ist einfach unbefriedigend, daß grenztheit der Mittel erfüllbar macht. Es ist ver- Kriegsopfer in Angelegenheiten der Kriegsopfer- ständlich und menschlich, es ist auch verständlich, versorgung vor den Sozialgerichten von ihren Ver- daß einem das, was man nicht erhält, besser im bänden vertreten werden können, in Angelegenhei- Gedächtnis bleibt als Leistungsverbesserungen, die ten der Kriegsopferfürsorge ist dies vor den Ver- als selbstverständlich hingenommen werden. Es waltungsgerichten jedoch nicht möglich. Diese un- überrascht auch nicht, daß die Opposition, ich terschiedliche Behandlung ist unserer Auffassung möchte fast sagen, in unseliger Kontinuität mehr nach uneinsichtig. Wir müssen uns in Zukunft be- verlangt, als die Regierung in der Lage ist zu geben, mühen, dieses zu ändern. wenn sie verantwortlich handelt. Zum Schluß möchte ich die Änderungsanträge (Kirschner [SPD]: Ihr seid in der Konti der SPD, die wir im Ausschuß ausführlich disku- nuität!) tiert und abgelehnt haben, die aber hier im Plenum noch einmal gestellt worden sind, mit Verlaub mehr — Ich bedanke mich ausdrücklich für die Bestäti- als Demonstration denn als aussichtsreiches Anlie- gung, daß wir uns in der Kontinuität unserer Argu- gen bezeichnen. Unsere Devise in der Kriegsopfer- mentation befinden, Herr Abgeordneter Kirschner, versorgung wie in anderen Bereichen lautet — — und halte das für ein wirklich notwendiges und (Kirschner [SPD]: Noch können Sie sich richtiges Lob. Nichtsdestoweniger müssen Wunsch ändern!) und Wirklichkeit in Übereinstimmung gebracht — Nein, nicht hochjubeln, wie eben gesagt, Herr Kol- werden. Wir haben uns bemüht, dies auch bei die- sem Gesetzentwurf zu tun. lege. Wir bleiben da ganz schön auf dem Teppich. Unsere Devise lautet: Machbares solide finanzieren Ich bedanke mich bei der SPD ausdrücklich, daß ist besser als Versprechungen vorbringen, sie den Anpassungsverbund hier noch einmal im (Beifall bei der CDU/CSU) Grundsatz bejaht hat. Ich halte das für dringend die letztlich nur auf Pump finanziert werden kön- notwendig, denn wir haben das einmal gemeinsam nen. Das diente weder den Kriegsopfern noch dem mit den Verbänden erkämpft. Das heißt aber auch, Haushalt. wenn es geringe Erhöhungen gibt und wenn Bei- träge der Rentner zur Krankenversicherung — ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mal von uns gemeinsam konzipiert, Herr Kirschner Lassen Sie uns wie in der Vergangenheit Schritt für — erhoben werden, daß dies auch bei den Kriegsop- Schritt fortfahren; dann tun wir gemeinsam Gutes fern praktiziert werden muß. Man kann nicht nur für die Kriegsopfer. bei den Vorteilen dabeisein und sich bei den Nach- Ich gehe davon aus, daß trotz einiger Kritik im teilen abmelden. Deswegen ist unsere Haltung kon- Detail heute abend im Plenum eine breite Zustim- sequent. mung zu diesem Gesetzentwurf erreicht wird, und für diese breite Zustimmung möchte ich mich im (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ voraus herzlich bedanken. CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es soll nicht vergessen werden, daß immerhin 12,3 Milliarden DM, letztend- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- lich der zweitgrößte Posten im Sozialhaushalt, den geordnete Bueb. Kriegopfern zukommen und daß nicht wenige strukturelle Verbesserungen erreicht worden sind: Bueb (GRÜNE): Meine Damen und Herren! Wenn MdE von 50 auf 60 %, Anhebung der Abgeltungs- es in den letzten Monaten darum ging, die Renten, quote beim Berufsschadens- und Schadensaus- die Arbeitslosengelder, die Sozialhilfe oder, wie gleich, was eine Erhöhung von 6,5 % — bei null heute, die Leistungen der Kriegsopferversorgung Preissteigerung erwähnenswert — ausmacht und anzupassen, zog die Bundesregierung den statisti- immerhin der Mühe und des Schweißes der Edlen schen Zauberstab hervor: Seht her, die Preissteige- wert war, die Ausdehnung der Witwenbeihilfe, die rungsrate beträgt ca. 0,7 %, sie ist gering wie selten. Verlängerung der Weiterzahlung der Elternpaar (Eigen [CDU/CSU]: Minus 0,1!) rente beim Tode eines Elternteils. Alles dies sind strukturelle Verbesserungen, um die wir uns red- Die Versorgungsbezüge steigen angeblich um 2,3%; lich bemüht haben und die auch Ihre Zustimmung wir sagen: um 1,7 %, weil die niedrige Rate der Vor- gefunden haben. Des weiteren wird, wie seit langem jahreserhöhung noch bis Mitte des Jahres läuft. von den Kriegsopferverbänden gefordert, die Loslö- Aber trotzdem, die Rentner erhalten real einige sung weiterer Hilfen der Kriegsopferfürsorge von Brosamen mehr. der Sozialhilfe vorangetrieben. Natürlich können (Eigen [CDU/CSU]: Das ist doch gut, oder wir nicht alles auf einmal machen. nicht?) Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16725

Bueb Die Abnahme der Inflation, die ja vor allem inter- nicht viel. Wir wollen die zur Kasse bitten, die eh nationalen Einflüssen zu verdanken ist, wird von schon genug haben. - der Bundesregierung dann in den höchsten Tönen (Vogel [München] [GRÜNE]: Richtig!) gepriesen, wenn es darum geht, den sozial Schwa- chen eine viel zu niedrige Anpassung ihrer Bezüge Herr Pöppl, ich möchte noch kurz auf unseren zu verkaufen. Daß die Sozialhilfeempfänger und zweiten Einwand gegen die heute vorgelegte Rege- -empfängerinnen, die Arbeitnehmer und Arbeitneh- lung eingehen. Es geht um die Loslösung weiterer merinnen, die Rentner und Rentenerinnen durch Hilfen der Kriegsopferversorgung aus der Sozial- die Sozialkürzungen in den letzten Jahren erhebli- hilfe. Natürlich sind wir dafür, daß den Kriegsop- che reale Einkommensverluste hinnehmen mußten, fern wie im übrigen auch den Verfolgten des Nazi- wird selbstverständlich verschwiegen. regimes, die nun auch ein Stück weit gleichgestellt werden, der Gang zum Sozialamt erspart bleibt und Verschämt verschwiegen werden auch die Ein- daß sie bessere Leistungen erhalten. Doch statt, wie kommenserhöhungen aus Unternehmertätigkeit. die Fraktion DIE GRÜNEN es mit dem Entwurf Der Vergleich zeigt die Auswirkungen Ihrer unso- eines Bundespflegegeldgesetzes schon vor längerer zialen Politik: Zeit vorgeschlagen hat, (Eigen [CDU/CSU]: Aber Unternehmer (Beifall bei den GRÜNEN) schaffen Arbeitsplätze!) den Bereich der Pflegefinanzierung einheitlich für Während die Kriegsopfer- und die anderen Renten alle zu regeln, und zwar unabhängig vom Grund der um 1,8% stiegen, stiegen die Einkommen der Unter- Pflegebedürftigkeit, spalten Sie die Gruppe der Be- nehmer 1985 um 8,5%. troffenen auf unerträgliche Weise in gute und Wenn die Bundesregierung nun behauptet, eine schlechte Alte, in gute und schlechte Behinderte ordentliche Erhöhung der Kriegsopferrenten sei auf. Wer im Krieg für den Staat ein Bein verlor, ist nicht finanzierbar, halten wir dem entgegen: Wer nach dieser Lesart mehr wert als beispielsweise das über 100 Milliarden in den Straßenbau pumpt, wer Verkehrsunfallopfer oder die von Geburt an Behin- für ein wahnwitziges Atomprogramm Milliarden- derten. Wir halten diese Logik für unmenschlich beträge lockermacht, wer Steuergeschenke für die und eines modernen Sozialstaats für unwürdig. Wohlhabenden anbietet und wem die Vermögens- (Beifall bei den GRÜNEN) einkommen der Besitzklasse heilig sind, der muß Trotz dieser Kritik — das habe ich bereits in der eben dort kürzen, wo wenig Widerstand zu erwarten ersten Lesung angekündigt — werden wir diesem ist. Gesetz zustimmen müssen, da die Betroffenen (Mann [GRÜNE]: So ist es!) selbst auf eine solche lächerliche Anpassung nicht Die Alten und Behinderten kann man, so denken verzichten können. die Herren von der Regierung, mit schönen Sprü- (Beifall bei den GRÜNEN) chen abspeisen. Sie müssen sich nicht wundern, wenn die Alten und Behinderten langsam anfan- gen, rebellisch zu werden, weil sie sich diese andau- Vizepräsident Stücklen: Ich erteile dem Herrn ernde Diskriminierung nicht mehr gefallen lassen. Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort. (Beifall bei den GRÜNEN — Eigen [CDU/ CSU]: Von Ihnen kriegen sie doch gar nichts!) Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozial- Wir unterstützen sie dabei kräftig. ordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Nach aller Polemik, nach aller Diskussion und (Jagoda [CDU/CSU]: Das kann ich mir vor dem Austausch aller Argumente stelle ich fest, daß stellen!) die Aussicht besteht, daß wir heute abend in diesem Wir haben ein Konzept einer bedarfsorientierten Hause die Kriegsopferversorgung einstimmig an- Grundsicherung in allen Lebenslagen vorgelegt. passen. Dieses Konzept sieht eine Anhebung der unteren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einkommen auf einen Betrag von mindestens 1 000 Ich finde es gut, daß dieses Haus bei allen Mei- bis 1200 DM für eine Person und von ca. 2 180 DM nungsverschiedenheiten doch noch zu Übereinstim- für ein Ehepaar vor. Wir haben nachgewiesen, daß mungen fähig ist. dieses Konzept sofort möglich und finanzierbar wäre, wenn man auf Steuersenkungen für Privile- Das haben die Kriegsopfer auch verdient. gierte endlich verzichten würde. Darüber zu disku- (Zuruf von der SPD) tieren werden wir in Kürze in diesem Hause Gele- 1,6 Millionen Kriegsopfer, das sind 1,6 Millionen genheit haben. Schicksale. Der Vorschlag der SPD allerdings, die Erhöhung (Zuruf des Abg. Bueb [GRÜNE]) des Krankenversicherungsbeitrages auszusetzen, ist, Herr Kollege Kirschner, nichts anderes als Ko- — Ich habe Ihre Ankündigung so verstanden. stenverschiebung. Sie wissen doch ganz genau, daß Es sind 1,6 Millionen Schicksale. Wir erfüllen ih- damit nur die Krankenkassen und somit letztlich nen gegenüber eine Pflicht. Ich teile die Auffassung, die Arbeitnehmer belastet werden. An diesem lä- die Herr Cronenberg geäußert hat, und wiederhole cherlichen Verschiebebahnhof, den die soziallibe- sie: Es handelt sich nicht um die klassische Sozial- rale Koalition mit Vorliebe praktizierte, liegt uns politik, sondern es handelt sich um die Pflicht der 16726 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Bundesminister Dr. Blüm Anerkennung der Opfer, die diese Generation für tion. Deshalb ist Preisstabilität die beste Rentner- uns alle erbracht hat. politik, die beste Kriegsopferpolitik. - (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das sind keine leeren Worte. Ich denke, daß Poli- Von wegen statistischer Zauberstab. Ich frage tik eben nicht nur aus materiellen Zuteilungen be- den Rentner, die Rentnerin, den Kriegsopferemp- steht, fänger, was sie von einer hohen Anpassung haben, (Zuruf des Abg. Mann [GRÜNE]) wenn die Inflationsrate noch höher ist. sondern auch aus Anerkennung und Respekt. Bei- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) des hat diese Generation ganz besonders verdient. Die Preissteigerungsrate liegt um 5 % niedriger als in dem denkwürdigen Jahr 1982, dem Abschieds- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — jahr der damaligen Regierung. 5% weniger Infla- Senfft [GRÜNE]: Die Trümmerfrauen tion bedeuten 10 Milliarden DM mehr Kaufkraft für auch?) die Rentner. Da das eine solch große Zahl ist, daß Jetzt zum Anpassungssatz: Ich möchte das allen sie niemand übersetzen kann, sage ich: Das bedeu- noch einmal ganz ausführlich zu erklären versu- tet für den einzelnen Rentner und für den einzelnen chen. Die Anpassung der Kriegsopferversorgung Empfänger von Kriegsopferversorgung einen Kauf- folgt der Anpassung der Renten. Es ist geradezu kraftgewinn von durchschnittlich 1 300 DM im Jahr. eine Errungenschaft, daß Kriegsopfer und Rentner Wie zynisch sind Sie, wenn Sie sagen, das wäre ein bezüglich ihrer Anpassungssätze in einem Boot sit- statistischer Zauberstab. Das sind 1 300 DM mehr zen. Herr Bueb, in diesem Boot sitzt noch jemand, Kaufkraft. Das ist so viel wie mindestens drei Mo- nämlich die Lohnempfänger. Keine Rente wird will- natsmieten. kürlich, angepaßt, keine Kriegsopferversorgung (Zuruf des Abg. Kirschner [SPD]) wird willkürlich angepaßt. Keine Lohnerhöhung geht an der Rentenerhöhung vorbei. Die Rentener- Ich will das noch einmal übersetzen. Nehmen Sie höhung folgt der Lohnerhöhung in einjährigem Ab- an, wir hätten beschlossen, drei Monatsmieten für stand. Die Lohnerhöhung des Vorjahres ist der die Kriegsopfer zu übernehmen. Dann hätten Sie Maßstab für die Anpassung von Renten und Kriegs- doch auch hurra geschrien. Nun, wir haben es nicht opferversorgung im folgenden Jahr. beschlossen, wir haben es gemacht — durch Preis- stabilität! Ich möchte auf ein Mißverständnis hinweisen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Abg. Bueb [GRÜNE] meldet sich zu einer Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut! Ausge Zwischenfrage) zeichnet!) — Herr Bueb, lassen Sie es mich im Zusammen- Jetzt will ich hier noch einmal die strukturellen hang erklären. Ich habe sogar die Hoffnung, daß ich Maßnahmen ansprechen. Sie mit Mathematik überzeugen kann; wenn schon (Zurufe von den GRÜNEN) nicht mit Grundsätzen, dann mit Mathematik. — Hören Sie mir doch einen Augenblick zu. Man (Zuruf des Abg. Ströbele [GRÜNE]) kann die Wahrheit nicht oft genug sagen. Wenn Sie Die Mathematik besteht in folgendem: Die Brut- es beim erstenmal nicht verstehen, werde ich es das tolohnerhöhung ist zunächst einmal der Maßstab. nächste Mal noch einmal sagen. Ich mache darauf Im letzten Jahr haben sich die Löhne beispiels- aufmerksam, in jeder Rede werde ich sagen: Preis- weise um 2,9 % erhöht. Aber ich muß darauf auf- stabilität ist eine Politik für die kleinen Leute. In merksam machen, daß diese Lohnerhöhung nicht jeder Rede! vollkommen im Geldbeutel der Lohnempfänger lan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) det; vorher kassieren Finanzamt, Sozialversiche- rung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversiche- Jetzt komme ich zu den strukturellen Maßnah- rung, Rentenversicherung. Die Lohnerhöhung be- men. Meine verehrten Kollegen und Genossen von trug netto nicht 2,9 %, sondern im Durchschnitt zwi- der SPD, wenn Ihnen das zu klein ist, warum haben schen 1,8 und 2 %. Die Rentner liegen also nicht Sie es dann nicht in Ihrer Zeit gemacht? Wenn Sie unter dem, was die Arbeitnehmer im Vorjahr zu das gemacht hätten, was wir gemacht haben, ihrer Verfügung hatten. Das sind die Nettolöhne. brauchten wir das heute abend nicht zu beschlie- ßen. (Zuruf des Abg. Kirschner [SPD]) (Zuruf des Abg. Kirschner [SPD] sowie Zu Ich rede hier über die Anpassung der Renten und rufe von der CDU/CSU) der Kriegsopferversorgung. Ich will die Aufmerk- — Regen Sie sich doch nicht auf. Sie hatten doch samkeit auf einen großen sozialpolitischen Erfolg 13 Jahre Zeit. Wenn das zu wenig ist, hätten Sie das lenken, den niemand hier wegreden kann: Preissta- Wenige in den 13 Jahren machen sollen. bilität ist eine Politik für die kleinen Leute. (Kirschner [SPD]: Reden Sie doch nicht so! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Sie wissen doch genau, woher die niedrige Zurufe von der SPD und den GRÜNEN) Preissteigerungsrate kommt!) An der Inflation haben die kleinen Leute nie ver Erster Punkt: Wir koppeln die Kriegsopferfürsorge dient. Sie waren nie die Gewinner bei einer Infla von der Sozialhilfe ab. Dahinter steckt mehr als nur Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16727

Bundesminister Dr. Blüm eine Neuordnung von Leistungen. Dahinter steckt nach dem anderen nach vorn macht, das soll das - auch die Betonung des Entschädigungscharakters Ergebnis dieses Abends sein. der Kriegsopferversorgung; Kriegsopferfürsorge ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — etwas anderes als Fürsorge und Sozialhilfe. Immer Zurufe von der CDU/CSU: Bravo, Herr Mi- hin ist das eine alte Forderung der Kriegsopferver- nister! Sehr gut!) bände, die heute erfüllt wird. Wir heben die Ausgleichsrenten für diejenigen an, die in der Gefahr stehen, daß sie unterhalb der Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Her- Sozialhilfe bleiben. Das bedeutet eine Anhebung ren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich von bis zu 143 DM. Ist das nichts, 143 DM? schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelbe- ratung und Abstimmung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich rufe Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Das ist eine Anhebung für 15 000 Mitbürger. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5495 ein Änderungs- antrag der Fraktion der SPD vor. Wer dem Ände- Beim Berufsschadensausgleich tritt eine Verbes- rungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich serung ein, die gerade von den Fraktionen einge- um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltun- bracht wurde, wofür ich ausdrücklich danke. Sie gen? — Bei einer Anzahl von Enthaltungen ist die- sehen, wir haben eine gute Zusammenarbeit zwi- ser Antrag abgelehnt. schen Regierung und Fraktionen. Der Berufsscha- Wer Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen densausgleich ist seit 1964 — rechnen Sie nach, wie- wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer viel Jahre das sind — auf 40 % festgehalten worden. ist dagegen? — Wer enthält sich? — Bei einer Reihe Wir erhöhen ihn auf 42,5%. von Enthaltungen ist die aufgerufene Vorschrift an- (Zuruf von der CDU/CSU: Ausgezeichnet!) genommen. Ich rufe Art. 2 in der Ausschußfassung auf. Das ist, wie jeder nachrechnen kann, eine Anhe- Hierzu liegen auf den Drucksachen 10/5496 bis bung um 6,25%, eine Anhebung um bis zu 156 DM. 10/5499 Änderungsanträge der Fraktion der SPD Ist das nichts, oder ist das etwas für die kleinen vor. Leute? Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — 10/5496 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Zuruf von der CDU/CSU: Das ist etwas!) — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Ände- rungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Seien Sie nicht so arrogant zu glauben, 156 DM wären' nichts. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- sache 10/5497? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — (Zuruf von der CDU/CSU: Weiter so, Herr Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Minister!) Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- Und das für 200 000 Mitbürger! sache 10/5498? — Gegenprobe! — Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Wir verbessern die Witwen- und Waisenbeihilfen Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache und auch die Elternrenten. Ich mache auch darauf 10/5499 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. aufmerksam, daß wir außerhalb dieses Gesetzes — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Ände- auch die orthopädische Versorgung verbessern. rungsantrag ist bei zwei Enthaltungen mit Mehr- 100 000 Mitbürgern, die behindert sind, wird gehol- heit abgelehnt. fen, z. B. bei der Anschaffung von Kraftfahrzeugen Wer Art. 2 in der Ausschußfassung zuzustimmen und bei der Umrüstung. Das ist, wie ich zugebe, wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- nicht eine Sozialpolitik der großen Worte, sondern genprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufene Vor- eine Sozialpolitik der konkreten Taten, und das ist schrift ist bei einer Reihe von Enthaltungen ange- unsere Sozialpolitik. nommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich rufe die Art. 3 und 4 in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustim- Wir haben im vergangenen Jahr die Kapitalabfin- men wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — dungen verbessert, eine Verdoppelung des Bestat- Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe tungsgeldes und die Umstellung der Einkommens- von Enthaltungen sind die Art. 3 und 4 angenom- anrechnung durchgeführt. Wir brauchen unsere men. Kriegsopferpolitik nicht zu verstecken. Ich sage noch einmal: Niemand braucht sich dafür zu bedan- Ich rufe Art. 5 in der Ausschußfassung auf. ken. Darauf haben Kriegsopfer Anspruch, daß wir Hierzu liegt auf Drucksache 10/5500 ein Änderungs- ihre Lage anerkennen. Darauf, daß wir im Rahmen antrag der Fraktion der SPD vor. Wer dem Ände- unserer Möglichkeiten trotz der Sparnotwendigkei- rungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich ten Verbesserungen für die Kriegsopfer eingeführt um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltun- haben, können wir, wenn Sie mitmachen, alle ge- gen? — Bei einer Enthaltung ist dieser Änderungs- meinsam stolz sein. Eine Politik nicht der großen antrag mit Mehrheit abgelehnt. Worte, eine Politik, die nicht Revolutionen ver- Wer Art. 5 in der Ausschußassung zuzustimmen spricht, sondern eine Sozialpolitik, die einen Schritt wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- 16728 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Vizepräsident Stücklen genprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von ken: Nach der Scheidung sollen die in der Ehezeit Enthaltungen ist die aufgerufene Vorschrift ange- erworbenen Versorgungsrechte gleichmäßig auf die nommen. Ehegatten aufgeteilt werden. Die Umsetzung dieses Es bleibt noch über Einleitung und Überschrift Gedankens in die Praxis allerdings ist mit großen abzustimmen. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte Schwierigkeiten verbunden. Probleme ergeben sich ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthal- für die Familiengerichte ebenso wie für die Verfah- tungen? — Einleitung und Überschrift sind einstim- rensbeteiligten, für den Gesetzgeber ebenso wie für mig angenommen. das Bundesverfassungsgericht. Hauptquelle der Schwierigkeiten ist die Forde- Wir treten in die rung, bei der Verschiedenartigkeit der Versor- dritte Beratung gungssysteme zwischen den widerstreitenden In- ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem teressen der Ehegatten einen gerechten Ausgleich Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, zu finden und zugleich die Belange der Versor- den bitte ich, sich zu erheben. — Wer ist dagegen? gungsträger zu berücksichtigen. — Wer enthält sich? — Der Gesetzentwurf ist ein- Der bereits 1980 erhobenen Forderung des Bun- stimmig angenommen. desverfassungsgerichts nach ergänzenden Härtere- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gelungen ist die Koalition kurz nach Übernahme Es ist noch über eine Entschließung abzustim- der Regierungsverantwortung durch die Verab- men. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung schiedung des Härteregelungsgesetzes bereits im empfiehlt auf Drucksache 10/5493 unter Nr. 2 die Dezember 1982 nachgekommen. Sie ersetzte außer- Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen dem den für viele Verpflichtete und Berechtigte wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- gleichermaßen unbefriedigenden Versorgungsaus- genprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung gleich durch Beitragszahlungen durch andere, we- und einigen Gegenstimmen ist diese Entschließung niger belastende Ausgleichsformen. In einem Teil- angenommen. bereich — insbesondere beim Ausgleich von Be- triebsrenten — wurde die Beitragszahlung durch Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung und Zusatz- den schwachen schuldrechtlichen Versorgungsaus- punkt 7 zur Tagesordnung auf: gleich abgelöst. Gerade die Schwäche dieses Sy- Erste Beratung des von der Bundesregierung stems des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über war ja u. a. Anlaß dafür, für die Befristung des Här- weitere Maßnahmen auf dem Gebiet des teregelungsgesetzes einzutreten und dies auch so Versorgungsausgleichs zu verwirklichen. — Drucksache 10/5447 Schon damals hatte die Koalition angekündigt, —Überweisungsvorschlag: daß die befristete Notlösung spätestens zum Aus- Rechtsausschuß (federführend) laufen des Härteregelungsgesetzes per 1. Januar Innenausschuß 1987 durch bessere Regelungen ersetzt werden soll. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Der Ihnen jetzt vorliegende Entwurf setzt diese An- Haushaltsausschuß kündigung in die Tat um. Zusatzpunkt 7: Erste Beratung des von der Fraktion der Er enthält folgende wesentliche Punkte. SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Die durch das Härteregelungsgesetz geschaffe- zur Ergänzung von Regelungen über den nen neuen Ausgleichsmöglichkeiten werden Dauer- Versorgungsausgleich recht. Sie werden aber durch Ausgleichsmodalitä- — Drucksache 10/5484 ten ergänzt, die die Grenzen wirtschaftlicher Zu- —Überweisungsvorschlag: mutbarkeit für die Betroffenen wahren und einen Rechtsausschuß (federführend) wesentlichen Teil der schuldrechtlichen Ausgleichs- Innenausschuß fälle von vornherein vermeiden. Das Verfahren Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung wird dadurch auch vereinfacht. Haushaltsausschuß Meine Damen und Herren, nach einer interfrak- Die Altersversorgung des berechtigten Ehegatten tionellen Vereinbarung sind eine gemeinsame Be- wird in den restlichen Fällen dadurch gesichert, daß ratung des Punktes 17 der Tagesordnung und des er den schuldrechtlichen Ausgleich nach dem Tode Zusatzpunktes 7 zur Tagesordnung und eine Aus- des Verpflichteten vom Versorgungsträger verlan- sprache von bis zu fünf Minuten für jede Fraktion gen kann, soweit dieser eine Hinterbliebenenrente vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — vorsieht. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Zum weiteren: Für Altfälle, in denen eine rechts- Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — kräftig angeordnete Beitragszahlung nicht zur Be- Das ist nicht der Fall. gründung einer Rente für den Berechtigten geführt Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat, besteht nunmehr die Möglichkeit, den öffent- hat der Herr Bundesminister der Justiz. lich-rechtlichen Versorgungsausgleich durchzufüh- ren, soweit dessen Voraussetzungen vorliegen. Engelhard, Bundesminister der Justiz: Herr Präsi- Mit diesen beiden Punkten trägt der Entwurf dent! Meine Damen und Herren! Der Versorgungs- dem Gebot des Bundesverfassungsgerichts in sei- ausgleich beruht auf einem sehr einfachen Gedan- ner jüngsten Entscheidung vom 8. April dieses Jah- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16729

Bundesminister Engelhard res nach stärkerer Absicherung des sozial schwä- Realteilung oder des Quasi-Splittings auszu- cheren Ehegatten voll Rechnung. — Darüber hin- gleichen sind, läßt sich auch deshalb nicht - aus wird den Härten, die infolge späterer Verände- rechtfertigen, weil keine Gründe erkennbar rung der Versorgungshöhe nach rechtskräftiger sind, die den Gesetzgeber hindern, das erwei- Durchführung des Versorgungsausgleichs für die terte Splitting einzuführen, wie es im Entwurf Betroffenen auftreten können, dadurch begegnet, der SPD- und FDP-Fraktionen zur Ergänzung daß das Familiengericht seine Entscheidung abän- von Regelungen über den Versorgungsaus- dern kann. gleich vorgesehen war. Schließlich enthält der Entwurf auch Verwal- Es kommt selten vor, daß von Karlsruhe der Mehr- tungsvereinfachungen, worauf ich nochmals hin- heit ein Entwurf der Minderheit vorgehalten wird, weisen möchte. daß man es anders machen kann. Es kommt vom Ich will nun nicht behaupten, daß damit allen Fluch der bösen Tat der Wende, daß Sie sich dieses Wünschen befriedigend Rechnung getragen werden holen mußten. konnte. Dazu fehlt es an den erforderlichen finan- Aber das Ganze in Karlsruhe hat auch seinen ziellen Mitteln, und deswegen war es überhaupt nö- Vorteil. Die CDU, zumindest der Kollege Erhard, tig, nun erneut die Härteregelungen zu befristen, war nie ein großer Liebhaber des Versorgungsaus- um deren finanzielle Auswirkungen später besser gleichs. Er hat ja manche Escape-Möglichkeiten ge- abschätzen zu können. Insgesamt wird aber das sucht. Die sind ihm jetzt zugemauert worden. Also Ziel eines gerechten Ausgleichs nach der Scheidung dieses Loch ist zu. Man kann von dem Versorgungs- erreicht. ausgleich nicht mehr abrücken. Insofern hat sozu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sagen diese Sünde auch ihr Gutes: daß Karlsruhe festgelegt hat, daß die eigenständige soziale Siche- rung der Frau Verfassungsrang hat, wofür wir So- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- zialdemokraten eingetreten sind. Um dieses zu un- geordnete Stiegler. terstreichen, haben wir unseren alten Entwurf wie- (Zurufe) der eingebracht, diese mühselige Arbeit. Ich habe das immer als Strafarbeit empfunden, als einziger Stiegler (SPD): Nur keine Sorge, meine Damen Jurist unter lauter Sozialpolitikern dieses mit aus- und Herren, ich lese nicht das Sündenregister der kochen zu müssen. Wir hatten aber den richtigen Union in diesem Bereich vor, sondern es wird mil- Weg. der sein. Vieles, was damals insbesondere das Bundesar- Wenn ich an den Versorgungsausgleich denke, beitsministerium nicht wollte, etwa die Abände- dann kommt mir der alte Terentianus Maurus in rungsmöglichkeit, ist heute Konsens. Wie haben Sie den Sinn, der mal gesagt hat „Habent sua fata sich damals angestellt, als wir gesagt haben: Wenn libelli". Habent sua fata leges in dem Bereich. Ich wir keine Abänderungsmöglichkeit zulassen, dann muß daran erinnern — der Herr Minister war ganz wird das Ganze verfassungswidrig! Da haben Sie unschuldig, er hat keine Vergangenheitsbewälti- uns für verrückt erklärt und gesagt: Das geht nicht. gung gemacht —, daß wir alles das, was er jetzt reu- Heute ist es communis opinio. Auch dafür bin ich mütig machen muß, bereits einmal gemeinsam in dankbar, daß hier ein gewisser Fortschritt im einem Gesetz eingebracht haben, wir beide als Rechtsbewußtsein erzielt werden konnte. letzte Berichterstatter der sozialliberalen Koalition, Ich gebe zu, daß unsere Regelung vielleicht kom- am denkwürdigen 1. Oktober des Jahres 1982. Nur, pliziert erscheint. Wer aber diese vielen hundert dann ist der Herr Minister gewendet worden, und Versorgungsträger umschreiben und den Frauen schon ist er in die verfassungswidrige Richtung ge- eine eigenständige Sicherung geben will, der muß wendet worden. Ich kann nicht verhehlen, was dieses mühselige Geschäft in Kauf nehmen. meine Kollegin Frau Renate Lepsius bei der dritten Lesung am 16. Dezember des Jahres 1982 vorgetra- Wir werden bei den Gesetzesberatungen eines gen hat. Da hat Renate Lepsius gesagt: noch nachschieben müssen. Sie haben mit dem Haushaltsstrukturgesetz 1984 die Frage der Berufs- Für meine Fraktion stelle ich fest, daß die neue unfähigkeitsrente und Erwerbsunfähigkeitsrente Rechtskoalition über das Lebensschicksal die- für Frauen verschlechtert, verschlimmbösert. Das ser Frauen wie mit einem heißen Bügeleisen bedeutet, daß die Anwartschaften, die bisher auf hinweggebügelt hat. Wir sehen in der von der das Vollrecht abgestellt waren, nicht mehr stimm- neuen Mehrheit durchgesetzten Privilegierten- ten. Ich glaube, hier haben wir auch für diesen Be- regelung einen Verstoß gegen das Gleichheits- reich einiges wiedergutzumachen, sei es in Form gebot. Und sie sagt dann weiter: Dies muß vor der Abänderungsklage, sei es in Form einer Kehrt- dem Bundesverfassungsgericht enden. wendung der anderen Regelung. So hat sie geendet, und sie hat recht behalten. Das heißt, wir haben miteinander eine Menge Ar- Ich kann Ihnen, Herr Minister, ein zweites Zitat beit zu leisten, und das Konzept, das wir Sozialde- nicht ersparen. In Ziffer 4 der Urteilsgründe auf mokraten entwickelt haben, hat sich durchgesetzt, Seite 29 der amtlichen Fassung heißt es: und darüber bin ich froh. Die ausnahmslose Anordnung des schuldrecht Vielen Dank. lichen Versorgungsausgleichs für die betriebli che Altersversorgung, die nicht im Wege der (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) 16730 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- sondere des schuldrechtlichen Versorgungsaus- geordnete Buschbom. gleichs zu beseitigen. Diese Mängel sind struktur- - (Bueb [GRÜNE]: Jetzt sagen Sie mal, um bedingt; sie beruhen darauf, daß die Durchführung was es geht! Ich habe das nicht verstan des Versorgungsausgleichs an das System der ge- den!) setzlichen Rentenversicherung geknüpft ist, deren öffentlich-rechtliche Funktion mit dem Zweck der privatrechtlichen Abwicklung des durch die Ehe be- Buschbom (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine gründeten Privatrechtsverhältnisses nicht überein- sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! stimmt. Ich nenne hier die Merkworte „Einbahn- Der vorliegende Entwurf bezweckt die weitere Ver- straße bei der Auswahl des Versicherungsträgers" besserung des Versorgungsausgleichs zugunsten und „Momentaufnahme der Versorgungsanwart- des Versorgungsausgleichsberechtigten durch die schaften". Beseitigung von Mängeln, die das Gesetz zur Rege- Dieser Systembruch im derzeitigen Versorgungs- lung von Härten im Versorgungsausgleich noch ausgleich läßt sich nicht von heute auf morgen be- nicht ausmerzen konnte. seitigen und auflösen, doch der Handlungsbedarf Die jüngere rechtspolitische Geschichte des Ver- blieb, insbesondere wegen der Verbesserungsbe- sorgungsausgleichs entbehrt nicht einer gewissen dürftigkeit des schuldrechtlichen Versorgungsaus- Dramatik, wie wir alle miterlebt haben. Bereits am gleichs. Die kürzliche Entscheidung des Bundesver- 28. Februar 1980 hatte das Bundesverfassungsge- fassungsgerichts vom 8. April 1986, die die aus- richt den Gesetzgeber verpflichtet, alsbald die Be- nahmslose Anordnung des schuldrechtlichen Ver- stimmungen über die Übertragung und Begrün- sorgungsausgleichs in § 2 des Härteregelungsgeset- dung von Rentenanwartschaften in einer der ge- zes als nicht verfassungskonform bezeichnet hat, setzlichen Rentenversicherungen durch verfas- ist daher auf offene Türen gestoßen. Da die Rechts- sungskonforme Regeln zu ergänzen, um die erkenn- praxis und die Gerichte im allgemeinen mit dem bar gewordenen Verfassungsverstöße beim Ren- Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungs- tensplitting — das sind unverhältnismäßige Bela- ausgleich keine Schwierigkeiten haben, ist beab- stungen eines Ehepartners zugunsten des anderen sichtigt, die vorgesehenen Verbesserungen in Über- oder des Rentenversicherungsträgers — zu beseiti- einstimmung mit den Feststellungen des Bundes- gen. verfassungsgerichts durch eine Änderung dieses (Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Gesetzes einzuführen. Die Einzelheiten sind bereits Sehr richtig!) vorgetragen; sie sollten baldmöglichst in den zu- ständigen Ausschüssen sorgfältig beraten werden. Zu den geforderten Ergänzungen war die dama- lige sozialliberale Koalition in den drei Jahren bis Es bleibt das wesentliche Anliegen der Vorlage, zu ihrer Ablösung trotz des Bemühens, der Leistun- die Altersversorgung des sozial schwächeren Schei- gen und der Arbeit unseres lieben guten Kollegen dungspartners sicherer zu machen und gerichtliche nicht mehr im Stande. Ich habe damals Ihre Arbeit Entscheidungen über den Versorgungsausgleich ab- wirklich bewundert. ändern zu können, wenn wesentliche Veränderun- gen der der Entscheidung zugrunde gelegten Ver- (Stiegler [SPD]: Vergelt's Gott!) hältnisse eingetreten sind, sofern sich diese Ent- Am Ende der 9. Legislaturperiode, genau am scheidung als besondere wirtschaftliche Härte ei- 27. Januar 1983, hat das Bundesverfassungsgericht nes Scheidungspartners auswirkt. die Anordnung des Versorgungsausgleichs durch Namens der CDU/CSU-Fraktion beantrage ich Beitragszahlung zur Begründung einer Rentenan- die Überweisung in die zuständigen Ausschüsse. wartschaft in einer gesetzlichen Rentenversiche- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der rung als unverhältnismäßig und deshalb verfas- SPD) sungswidrig bezeichnet und die entsprechende Re- gelung für nichtig erklärt. Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Durch diese beiden Entscheidungen war der Ver- geordnete Mann. sorgungsausgleich in seiner Durchführungskonzep- tion gescheitert. Mann (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kollegin- (Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: nen und Kollegen! Ich möchte knapp zehn Jahre Sehr richtig!) nach Inkrafttreten des Ersten Gesetzes zur Reform Es bestand dringender Handlungsbedarf. Diesem des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 hat die neue Koalition innerhalb von nur drei Mo- heute ein paar grundsätzliche Anmerkungen zu die- naten durch das Gesetz zur Regelung von Härten sem weiteren Stück Reform der Reform machen. im Versorgungsausgleich genügt. Wegen des Hand- Nach der schwierigen Geburt des Unterhaltsän- lungsdrucks und der Kürze der noch zur Verfügung derungsgesetzes und dem erfreulicherweise weitge- stehenden Beratungszeit hat dieses Gesetz nicht hend gescheiterten Versuch, im Unterhaltsrecht alle erkennbar gewordenen Nachteile bei der Rege- durch die Hintertür das Schuldprinzip wieder ein- lung des Versorgungsausgleichs beseitigen können. zuführen, steht jetzt mit dem Versorgungsausgleich Es ist daher bewußt als zeitlich begrenztes Gesetz ein Kernstück der Reform auf dem gesetzgeberi- verabschiedet worden. schen Prüfstand. Allzu spät, Herr Minister und Die Folgezeit ist durch das Bemühen der Koali- liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, für tionsfraktionen gekennzeichnet, die Mängel insbe- eine sachgerechte Beratung legt die Koalition dem Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16731

Mann Bundestag ihren Gesetzentwurf vor. Wir sollen Ich sage noch einen Satz — ich hoffe, die Zwi- schon in wenigen Wochen im Rechtsausschuß mög- schenfrage wurde mir nicht auf die Redezeit ange- lichst abschließend darüber beraten. rechnet, Herr Präsident: Was wirklich anstünde, Wie schon beim Gesetz zur Regelung von Härten wäre, sozialpolitisch und familienpolitisch im Zu- im Versorgungsausgleich vom Februar 1983, das im sammenhang — leider ist der Herr Bundesarbeits- Dezember 1986 ausläuft, handelt es sich um ein Ge- minister nicht mehr da — mit den ausstehenden setz auf Probe. Die meisten Bestimmungen sollen Überlegungen zu einer großen Rentenreform dar- nämlich nur bis zum 31. Dezember 1994 gelten. Aber über nachzudenken, wie entsprechend den heutigen gerade im Familienrecht sollte eine derartige provi- gesellschaftlichen Wertvorstellungen, wonach eine sorische Gesetzgebung vermieden werden, Herr Frau gleichermaßen wertige Arbeit leistet, ob sie Kollege Erhard. Hausfrau oder erwerbstätig ist, hier eine wirkliche eigenständige Altersversorgung gesichert werden (Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Da kann. Da ist zwar mit dem berühmten Baby-Jahr, stimme ich Ihnen zu!) mit dem Erziehungsjahr ein erster Einstieg ge- Trotzdem ist zu begrüßen, daß die Koalition ihren macht worden, aber es ist unserer Meinung nach Plan aufgegeben hat, das wesentliche gesetzgeberi- ein viel zu zaghafter Einstieg. In der Richtung, so sche Ziel von 1977, nämlich eine eigenständige so- meine ich, müssen wir den Versorgungsausgleich, ziale Sicherung des ausgleichsberechtigten Ehegat- der ein wirklich modernes Gesetz ist, weiterentwik- ten, also insbesondere der Ehefrau, zu verankern. keln: hin zu einer eigenständigen Altersversorgung Sie hatten j a mal etwas anderes vor, Herr Kollege der Frauen auch für den Fall der Scheidung. Erhard. Ich glaube, der Kollege Stiegler hat das vor- Vielen Dank. hin ganz bewußt angesprochen. Ich bin mir auch heute noch nicht ganz sicher, ob nicht hinter den (Beifall bei den GRÜNEN) schönen Begründungen für eine notwendige struk- turelle Reform im Grunde die Absicht verborgen Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Abge- wird, den Versorgungsausgleich, die eigenständige ordnete Beckmann. soziale Sicherung der Frau, eigentlich rückgängig zu machen. Sie verweisen in der Begründung — das Beckmann (FDP): Herr Präsident! Frau Weyel! erwähne ich an dieser Stelle ausdrücklich — dar- Meine Herren! Der hier von der Bundesregierung auf, daß sich die Rechtsanwendung inzwischen mit eingebrachte Gesetzentwurf betrifft eine Rege- dem geltenden Recht vertraut gemacht hat. Weiter lungsmaterie, die, wie die Vielzahl der hierzu ergan- heißt es in der Begründung: „Auch im Bewußtsein genen höchstrichterlichen Entscheidungen zeigt, der Bevölkerung hat der Versorgungsausgleich in sehr komplex und mit sehr vielen Unsicherheiten den acht Jahren seines Bestehens Wurzeln geschla- belastet ist, Unsicherheiten, die sich aus der teil- gen." In der Tat: So ist es. weise rasanten Fortentwicklung der Rechtspre- Bitte sehr, Herr Kollege Erhard. chung, aber auch aus der Fortentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme ergeben. Dies macht es für den Gesetzgeber sehr schwer, eine vorausschau- Sie gestatten eine Zwi- Vizepräsident Stücklen: ende, vor allem aber eine der überwiegenden Mehr- schenfrage des Abgeordneten Erhard. heit der Einzelfälle gerecht werdende Lösung zu finden. Ich glaube, das können wir auch gar nicht. Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/CSU): Herr Kol- Es wäre vermessen, zu behaupten, es gäbe eine ab- lege Mann, hätten Sie vor der jüngsten Entschei- schließende, allumfassende Regelung, die alle bis- dung des Bundesverfassungsgerichts mit Sicher- her aufgetretenen Probleme quasi im Handstreich heit sagen können, daß bei Betriebsrenten die ver- vom Tisch wischen könnte. sorgungsberechtigte Witwe einen Anspruch gegen den Versorgungsträger haben dürfte, ohne daß in Was die Einzelheiten der Regelung betrifft, so Art. 14 GG eingegriffen worden wäre? sollten wir, meine ich, diese Reform, die einen Ein- griff in ein komplexes System von Vorschriften dar- stellt, mit äußerster Sorgfalt vornehmen. Mann (GRÜNE): Herr Kollege Erhard, ich gebe zu, daß wir — das ist hier heute schon gesagt worden (Beifall bei der FDP und den GRÜNEN) — bei ausstehenden Entscheidungen des Bundes- Eine unausgewogene Regelung, die möglicherweise verfassungsgerichts in diesem schwierigen Rechts- zu neuen Ungerechtigkeiten führen würde, würde gebiet im Grunde manches gar nicht voraussagen weder vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen können. Das sollte uns aber nicht daran hindern — noch zu einem gerechten Interessenausgleich füh- das möchte ich auch in dieser sehr kurzen Zeit hier ren können. noch einmal sagen —, auch Perspektiven zu entwik- Bei den anstehenden Änderungen müssen wir keln, die wirklich weiter reichen als Ihr Gesetzent- uns von dem Gedanken frei machen, alle Wunsch- wurf, vorstellungen — egal, wie die Neuregelung ausse- (Beifall bei den GRÜNEN) hen wird — verwirklichen und jeden denkbaren oder aber — was in der „Richterzeitung` vorge- Einzelfall regeln zu können. Der Gesetzgeber ist schlagen worden ist — es vielleicht wirklich bei der gerade in diesem sensiblen Bereich der Regelung Nachbesserung bewenden zu lassen, z. B. nach die- nachehelicher Ansprüche nicht in der Lage, allen ser Entscheidung vom 8. April, und im übrigen das Windungen und Verwicklungen der verschieden- Härteregelungsgesetz von 1983 lediglich bis zum sten menschlichen Einzelschicksale seinen Geset- 31. Dezember 1994 zu verlängern. zesstempel aufzudrücken. Das wollen wir Liberalen 16732 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Beckmann im übrigen auch gar nicht. Denn letztlich gilt auch die wirtschaftliche Sicherung des sozial schwäche- hier, daß wir neue rechtliche Regelungen nur am ren Ehegatten mittels Umverteilung von Wertein- äußerst Notwendigen orientieren und den Grund- heiten bestimmt. satz der Eigenverantwortlichkeit der Bürger, der Dieser grundsätzlichen Zielrichtung folgt die hier auch im Ehescheidungsfolgenrecht seine Bedeu- vorgeschlagene Regelung. Sie orientiert sich damit tung hat, wieder in den Vordergrund rücken wol- an den Aufträgen und Weisungen, Herr Kollege len. Stiegler, die das Bundesverfassungsgericht an den Das Ei des Kolumbus im Bereich des Versor- Bundesgesetzgeber gerichtet hat. gungsausgleichsrechts ist noch nicht gefunden und (Ströbele [GRÜNE]: Werden Sie etwas kon- wird auch in Zukunft schwer zu finden sein. Wir kreter!) haben nur zwei Möglichkeiten: Wir können uns ent- Deswegen wird meine Fraktion der Überweisung weder an eine Ideallösung im Rahmen der gegebe- an den Rechtsausschuß gerne zustimmen. nen Gesetzesmöglichkeiten Schritt für Schritt her- antasten oder aber — sollten hierbei unüberwindli- Vielen Dank. che Probleme auftauchen — eine generelle Reform (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) des Versorgungsausgleichs vornehmen. Hier gebe ich zu bedenken, daß auch eine derartige, völlige Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Her- Neuorientierung des Versorgungsausgleichsrechts ren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich die unvermeidliche Crux in sich trägt, nicht jeden schließe die Aussprache. Einzelfall, nicht jedes Einzelschicksal bedenken und dafür Vorsorge treffen zu können. Es muß des- Es wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf halb sehr sorgfältig abgewogen werden, welche Vor- den Drucksachen 10/5447 und 10/5484 an die in der und Nachteile eine solche generelle Novellierung gedruckten Tagesordnung aufgeführten Aus- mit sich bringt. Ich bin der Überzeugung, daß die schüsse zu überweisen. Werden andere Vorschläge Schaffung eines völlig neuen Versorgungsaus- gemacht? — Das ist nicht der Fall. Damit sind die gleichs wenig Zweck hat, wenn damit nicht gleich- Überweisungsvorschläge beschlossen. zeitig eine Reform des Rentenversicherungsrechts verbunden wird. Wenn hier keine umfassende Ab- Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 18: stimmung beider Bereiche untereinander erfolgt Erste Beratung des von der Bundesregierung und die bisher bestehenden strukturellen Probleme eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur nicht beseitigt werden können, sehe ich neue Pro- Änderung des Geschmacksmustergesetzes blemfälle auf uns zukommen. — Drucksache 10/5346 — Aber, meine verehrte Frau Kollegin, meine Her- Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: ren, selbst wenn uns der große Wurf gelingen sollte, Rechtsausschuß (federführend) bin ich nicht sicher — und das wird uns auch nie- Ausschuß für Wirtschaft mand garantieren können —, daß die Fortschrei- Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO bung der Alterssicherungssysteme oder späteres le- Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für gislatives Handeln nicht wiederum neue Tatbe- die Aussprache ein Beitrag von bis zu fünf Minuten stände und damit neue Unsicherheit schafft. Es je Fraktion vorgesehen. — Ich sehe keinen Wider- kann deshalb niemand für sich reklamieren, des spruch; es ist damit so beschlossen. Rätsels Lösung gefunden zu haben. Wer dies tut, Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — wirkt unglaubwürdig, und er wird durch die Realitä- Das ist nicht der Fall. ten sehr schnell widerlegt werden. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Aus all diesen Überlegungen, meine Damen und Herr Bundesminister der Justiz. Herren, sind wir deshalb zu der Überzeugung ge- langt, daß der hier eingeschlagene Weg in der au- Engelhard, Bundesminister der Justiz: Herr Präsi- genblicklichen Situation der einzig gangbare ist. dent! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorlie- Insbesondere werden mit der hier gefundenen Lö- gende Entwurf soll einige wesentliche Verfahrens- sung — der Herr Bundesminister der Justiz hat und Formvorschriften sowie das Gebührensystem dies dargestellt — die Grundsätze, die das Bundes- des seit nunmehr 110 Jahren praktisch unverändert verfassungsgericht zum Versorgungsausgleich auf- gebliebenen Geschmacksmustergesetzes ändern. gestellt hat, gewahrt. Die Hauptziele des Entwurfs sind erstens die Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig fest- Zentralisierung des Musterregisters beim Deut- gestellt, daß sich aus dem Wesen der auf Lebenszeit schen Patentamt und zweitens die Herbeiführung angelegten Ehe, wie sie in Art. 6 des Grundgesetzes einer größeren Publizität der eingetragenen Muster gewährleistet wird, eine Verpflichtung ergibt, die oder Modelle durch eine Bildbekanntmachung. ähnlich dem Gedanken des Zugewinnsausgleichs — Zentralisierung und Bildbekanntmachung sind ich zitiere — „auch nach Trennung und Scheidung die vordringlichen und notwendigen Aufgaben zur der Eheleute auf ihre Beziehungen hinsichtlich Un- Modernisierung des Gesetzes. Sie heben dann das terhalt und Versorgung sowie die Aufteilung des deutsche Geschmacksmusterrecht insoweit endlich früher ihnen gemeinsam zustehenden Vermögens auf das Niveau moderner ausländischer Regelun- wirkt". gen. Das alte Gesetz verfolgte mit der dezentralen Der Zweck des Versorgungsausgleichs wird da- Hinterlegung und Registerführung sowie mit der mit -- so das Bundesverfassungsgericht — durch Nichtbekanntmachung einer Abbildung ausgespro- Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16733

Bundesminister Engelhard chen protektionistische Ziele. Dies ist nun wirklich noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wer- überholt. den kann. - Es kommt aber noch ein weiteres hinzu. Zentrali- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei sierung und Bildbekanntmachung sind unverzicht- Abgeordneten der SPD) bare und notwendige Voraussetzungen für eine bes- sere Bekämpfung der Musterpiraterie. Indem sie jedermann einen Überblick über den Bestand an Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Abge- Schutzrechten ermöglichen, erleichtern sie die Ver- ordnete Stiegler. folgung von Pirateriefällen. Der Einwand, das ge- schützte Muster gar nicht gekannt zu haben, wird dann abgeschnitten. Insoweit ist die Novelle auch Stiegler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und ein wichtiger Bestandteil der Bemühungen der Herren! Der Ministerialrat Kelbel hat in einer Fest- Bundesregierung, die Voraussetzungen für einen schrift für Ballhaus das Geschmacksmustergesetz Schutz gegen Produktpiraterie zu verbessern. das Aschenputtel des gewerblichen Rechtsschutzes genannt. Weil ich meiner kleinen Tochter so oft das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Märchen vom Aschenputtel vorlesen muß, habe ich Der Entwurf sieht keine umfassende Neurege- unseren Geschäftsführer, der mit Recht gesagt hat: lung im materiellen Recht vor. Hierfür wäre in der „Machen wir Schluß, gehen wir heim!", bekniet, daß Tat die Zeit auch noch nicht reif. Die Zeit wird auch dieses Aschenputtel hier behandelt wird. Ich hätte nicht ausreichen, in dieser Legislaturperiode dies den Minister übel beschimpft, wenn er es nicht für umfassend neu zu regeln. Aber sie muß in den bei- nötig befunden hätte, hier wenigstens ein paar den wesentlichen von mir erwähnten Punkten drin- Worte dazu zu sagen. gend einer Änderung zugeführt werden. Es handelt sich um ein Gesetz, das von der deut- Ich kann mit Genugtuung feststellen, daß der schen Gesetzgebung praktisch seit der Verabschie- Bundesrat dem Gesetzesvorhaben grundsätzlich zu- dung sträflich vernachlässigt worden ist. Es ist da- gestimmt hat und insbesondere auch der Zentrali- mals ein Maßnahmegesetz gewesen als Antwort auf sierung und der Bildbekanntmachung befürwor- eine Pleite bei der Wiener Weltausstellung. Als tend gegenübersteht. In der Dienststelle Berlin des nicht tarifäres Handelshemmnis war es konzipiert, Deutschen Patentamts werden schon gegenwärtig und dann hat sich kein Mensch mehr darum ge- die Geschmacksmusteranmeldungen von Personen kümmert, obwohl es in der Tat von einiger Bedeu- bearbeitet, die in der Bundesrepublik Deutschland tung für die Wirtschaft und vor allem für viele ist, keinen Sitz und keinen Wohnsitz haben. Die Dienst- die schöpferisch tätig sind. Es ist verwandt mit dem stelle Berlin wird daher in Zukunft die Bearbeitung Urheberrecht. Das haben wir in dieser Legislatur- aller Geschmacksmusteranmeldungen insgesamt periode ja auch in einer vernünftigen Weise weiter- sehr gut übernehmen können. entwickelt. Der Übergang von Verwaltungsaufgaben, die bis- Wir sagen: Diese zentrale Hinterlegung dient her im Bereich der Amtsgerichte wahrgenommen Berlin. Wir stehen dafür ein, daß in Berlin zusätzli- worden sind, auf eine Bundesbehörde wird in ge- che Arbeitsplätze geschaffen werden. wissem Umfange den Bundeshaushalt mit Kosten Diese zentrale Hinterlegung bedeutet aber nicht belasten. Die Bundesregierung ist aber der Auff as nur Arbeitsplätze in Berlin, sie bedeutet auch die sung, daß dies hinnehmbar ist, insbesondere unter Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Ge- dem Gesichtspunkt der Bekämpfung der Markenpi- schmacksmustergesetzes. Wir werden eine Über- raterie, die jährlich Schäden in vielfacher Millio- sicht über den Stand der Formgebung bekommen. nenhöhe verursacht. Die Mehrbelastung des Haus- Wir werden Kriterien entwickeln, wie man objek- halts wird im übrigen auch dadurch ausgeglichen, tive Neuheit bestimmt, um vielleicht eines Tages in daß der Entwurf ebenso wie in allen anderen Berei- einem weiteren Schritt der materiellen Weiterent- chen des gewerblichen Rechtsschutzes auch für Ge- wicklung die Frage der Sperrwirkung eines Ge- schmacksmustersachen kostendeckende Gebühren schmacksmusters beraten und auch Entsprechen- vorsieht. des verabschieden zu können. Das heißt also: Die- In dieser Hinsicht — lassen Sie mich zum Schluß ser Schritt nach Berlin zur Zentralisierung hin darauf hinweisen — sind von einigen Bereichen der stellt mehr als nur die Möglichkeit dar, Recherchen Wirtschaft Einwendungen erhoben worden. Diese zu machen. Vielmehr ist er auch die Voraussetzung Einwendungen sind — genau betrachtet — aber un- für eine spätere Weiterentwicklung. begründet, weil der Entwurf eine Reihe von Mög- Ich möchte für die weiteren Beratungen nur noch lichkeiten vorsieht, die den Geschmacksmusteran- auf zwei Punkte hinweisen. Es sind jetzt bei der melder in die Lage versetzen, die unvermeidbaren Anmeldung fotografische und graphische Vorlagen Kostensteigerungen im Einzelfalle sehr wohl im vorgesehen. Aus den beteiligten Fachkreisen wird Rahmen zu halten. auch die Hinterlegung der Muster und Modelle — Mir ist klar, wie zu Ende der Legislaturperiode möglicherweise mit unterschiedlichen Schutzwir- der federführende Rechtsausschuß, aber auch die kungen — gefordert. Das sollten wir uns einmal im anderen Ausschüsse mit Arbeit überlastet sind. Es Kreise der Berichterstatter gründlich ansehen, um ist aber meine dringende Bitte und mein Wunsch, manchen — — daß dieser kleine, aber sehr wichtige Gesetzentwurf (Bohl [CDU/CSU]: Sind die genormt? alsbald Ihre Aufmerksamkeit findet, beraten und Oder?) 16734 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 Stiegler — Nein! Das können wir einmal privatissime et gra- erwähnen — den Punkt eines gewissen Geheim- - tis besprechen. Denn die Zeit reicht nicht aus. Wir schutzes aufgegriffen. Schon jetzt besteht die Mög- sollten also im Kreise der Berichterstatter und im lichkeit, für einen Zeitraum von 18 Monaten über- Rechtsausschuß diese Frage gründlich erörtern. haupt keine öffentliche Bekanntmachung vorneh- Auch sollten wir den Kostenbedenken nachgehen, men zu müssen. die vor allem von der keramischen Industrie etwa der Oberpfalz, aber auch der aus anderen Berei- Ich will es ganz kurz machen, da ich hier nur fünf chen vorgetragen werden. Und wir sollten auch, Minuten habe. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Herr Minister, begrüßt diesen Gesetzentwurf. Er steht in einer sehr guten Reihe von Gesetzentwürfen dieser Bun- (Tatge [GRÜNE]: Werden Sie doch mal desregierung und dieser Koalition. Das beginnt mit konkret!) dem am letzten Mittwoch verabschiedeten Urheber- die Kosten bei Verlängerung der Schutzdauer be- recht sowie mit dem Gebrauchsmusterschutz. denken. Es wird sicher kostenaufwendiger werden. Heute geht es um das Geschmacksmuster. Ein Ge- Hier müssen wir Verfahren entwickeln, wie man setzentwurf über Mikrochips wird folgen. Für das für kurzlebige Geschmacksmuster zu kostenspa Jahresende ist ein Gesetzentwurf gegen Marken- renderen Modellen als bisher kommt. Ich glaube, da und Produktpiraterie angekündigt. ist einiges drin. Damit ist eine Tradition geschaffen. Das heißt, Herr Minister, wir müssen auch aufpassen, daß wir kümmern uns wirklich um geistiges Eigentum, das, was Sie über Markenpiraterie gesagt haben, um schöpferische Leistungen und Ideen in der Bun- nicht zum Placebo wird. Denn es gibt Leute, die desrepublik Deutschland. sagen — — (Senfft [GRÜNE]: Sagen Sie doch mal et- (Bohl [CDU/CSU]: Was ist denn das?) was zur Keramikindustrie!) — Dabei handelt es sich um Pfefferminzbonbons gegen Kopfweh! Das ist Placebo. Ich glaube, daß die Bundesregierung am Ende der Legislaturperiode in diesem Bereich eine sehr er- (Heiterkeit) folgreiche Bilanz wird vorlegen können. Viele Leute aus Fachkreisen sagen, daß durch die zentrale Hinterlegung eine Piraterie erst möglich (Beifall bei der CDU/CSU) wird. Wir müssen durch die Ausgestaltung — indem Ich möchte kurz hervorheben, daß mir in bezug man eben einen Teil des Geheimschutzes aufrecht- auf dieses Gesetz insbesondere wichtig erscheint, erhält und trotzdem eine Schutzwirkung, jedenfalls daß ein erster Schritt gemacht wird, um Produkt- für kurzfristige Güter, erzielt — die Piraterie wirk- und Markenpiraterie stärker bekämpfen zu kön- lich bekämpfen. Wir dürfen nicht glauben, das nen. Wer sich heute in interessierten Kreisen der werde schon durch die Zentralisierung erreicht. Wirtschaft umschaut, der muß eigentlich mit wach- Ich kann nur sagen: Wir waren durchaus bereit. sendem Entsetzen feststellen, daß es eine ständig Das Gebrauchsmuster-Urheberrecht haben wir ver- ansteigende Flut von Nachbildungen und Nachah- abschiedet. Im Rechtsausschuß steht man dieser mungen von Markenprodukten durch Piraten gibt. Gelegenheit wohlgesonnen gegenüber. Und das Mi- Das sind Leute, die letztlich Unternehmen damit nisterium sollte hier aktiv mitziehen. Dabei muß es ganz erheblich schwächen und dem Verbraucher ei- keine Kontroversen geben, sondern hier geht es um nen deutlichen Schaden zufügen, weil er statt der gute Lösungen für die Arbeitnehmer, die Gestalter erwünschten Markenartikel minderwertige Pla- und die Wirtschaft. giate bekommt. Vielen Dank Wenn es möglich wird, über eine zentrale Hinter- (Beifall bei der SPD) legung in Berlin dem ehrlichen Händler, dem ehrli- chen Kaufmann durch eine Bildbekanntmachung etwas an die Hand zu geben, so daß er unterschei- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- den kann, ob er ein Plagiat, eine Nachahmung, oder geordnete Saurin. aber einen Markenartikel bekommt, so ist, glaube ich, schon etliches getan, um Markenpiraterie in Saurin (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolle- der Bundesrepublik Deutschland, die zunehmend gen! Nachdem der Herr Stiegler hier unbedingt auch vom Ausland hereingetragen wird, zurück- noch diese Debatte führen wollte und angekündigt drängen zu können. hatte, lichtvolle Ausführungen zu machen, muß ich, Ich kann der Beratung nicht vorgreifen, aber so, obwohl ich ihn sehr schätze, sagen, daß ich das — wie ich den Kollegen Stiegler kenne, bin ich sicher, ich spreche von der Wertigkeit — nicht ganz nach- daß wir in sachlicher Form diskutieren können und vollziehen kann. Ludwig, da wir alle Berichterstat- daß wir, Herr Minister, dieses Gesetz noch in dieser tungen — zum geistigen Eigentum, zum Urheber- Legislaturperiode verabschieden werden, um ein recht und jüngst zum Gebrauchsmustergesetz — rundes Gebilde von Urheberrechtsschutz und sehr einvernehmlich, gütlich und sachgerecht über Schutz geistigen Eigentums als Bilanz am Ende die- die Runden gebracht haben, gestatte mit die spitze ser Koalition — — Anmerkung, daß du vielleicht den Gesetzentwurf sorgfältig hättest lesen sollen, bevor du meintest, (Bindig [SPD]: Am Ende dieser Koalition? diese Zwei-Minuten-Debatte führen zu müssen. Du — Zuruf von der CDU/CSU: Das war hast zum Beispiel — ich will das nur ganz kurz schlecht!) Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16735

Saurin — Es freut mich ja, daß Sie schon solche Gelegen- teriellrechtlichen Ausgestaltung ganz offensichtlich heiten aufgreifen müssen, weil Sie sonst in Wahr- national und international große Diskussionen ge- heit j a keine Chance haben, hier eine Änderung führt werden und daß übrigens nach der Gesetzes- herbeizuführen. begründung auch in der Wirtschaft die Meinungen (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) geteilt sind, daß Sie es aber trotzdem jetzt, kurz vor Ende der Legislaturperiode, für sinnvoll halten, am Vielen Dank. Verfahren etwas zu ändern, und zwar mit folgender (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auswirkung — Herr Kollege Saurin, darauf möchte ich hier auch noch hinweisen —: Dieses schöne Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Wirtschaftsförderungsargument „Nun zentralisiert geordnete Mann. einmal schön, und dann nach Berlin" hat ja auch die Folge, daß bei den Amtsgerichten, wo zur Zeit Mann (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kollegin- hinterlegt wird, Arbeitsplätze wegfallen. Dazu heißt nen und Kollegen! Ich möchte etwas Wasser in den es ganz lapidar, daß das dann durch Umsetzungen Wein der großen Koalition vermutlich von SPD und ausgeglichen wird. Ich meine sehr wohl, daß man CDU und FDP schütten und möchte am Anfang des sich das überlegen sollte — und ich werde in der Gesetzgebungsverfahrens einige kritische Fragen Beratung im Rechtsausschuß fordern —, daß man formulieren. uns darüber aufklärt, ob man nicht dieses Flick- Herr Minister Engelhard, Sie haben davon ge- werk sehr wohl noch wenigstens für zwei oder drei sprochen, die Länder seien mit diesem Gesetzent- Jahre — vielleicht kommen dann ja in der nächsten wurf einverstanden. Ich darf aus der Stellung- Wahlperiode Sie oder wir mit einer materiellrechtli- nahme des Bundesrats zitieren. Der Bundesrat chen Regelung über — aufschieben kann. weist darauf hin, daß der Gesetzentwurf für die Gestatten Sie mir ganz zum Schluß noch eine betroffenen Unternehmen, deren Schutzinteressen Bemerkung. Abgesehen davon, daß hier — ich lerne er gerade dienen soll, erhebliche Kostenbelastun- auch immer dazu — dieses hübsche Rüschenhau- gen mit sich bringt. Weiter heißt es: Der Bundesrat benurteil des Bundesgerichtshofs im 50. Band ma- hält es für erforderlich, im weiteren Gesetzgebungs- teriellrechtlich einige Fragen geklärt hat, möchte verfahren die kostenmäßigen Auswirkungen aus ich fragen: Warum soll eigentlich nicht das, was dem Gesetz eingehend zu überprüfen und durch 110 Jahre lang so gegangen ist, noch weitere Jahre Modellrechnungen transparent zu machen. gehen? Im übrigen spricht sich der Bundesrat vor allem (Zurufe von der SPD) im Interesse mittelständischer Unternehmen dafür aus, die Einführung eines eigenen Auskunftsan- Sie selbst haben einmal den Grundsatz für die spruchs über das Vorliegen von Geschmacksmu- Gesetzgebung postuliert, Sie wollten sich zurück- steranmeldungen zu erwägen. Ich bin gespannt, ob halten, Sie wollten zur Abschaffung der Bürokratie wir bis zu der vorgesehenen Beratung am 19. Juni weniger Gesetze erlassen. Jetzt kommt hier wieder diese Rechnungen vorgelegt bekommen; ich habe ein neues Gesetz mit, wie ich glaube, neun Buchsta- da so meine Zweifel. benparagraphen, die zu einer weiteren Komplizie- rung des gewerblichen Rechtschutzes führen. Ich möchte auch auf einen wesentlichen Punkt aus der Gesetzesbegründung hinweisen. Da wird j a Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das bisher so nicht nur gesagt, daß es sich um ein 110 Jahre altes gelobte Gesetzeswerk tatsächlich auch von den be- Gesetz handelt, sondern auch ausgeführt, daß Mei- teiligten Kreisen, auf die Sie sich immer gern bezie- nungsunterschiede über die Ausgestaltung des ma- hen, gewünscht wird. teriellrechtlichen Musterschutzes bestehen, und Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zwar national und international. (Beifall bei den GRÜNEN) Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- geordnete Beckmann. Mann (GRÜNE): Bitte schön. Beckmann (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ver- Tatge (GRÜNE): Lieber Kollege Norbert Mann, ehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf könntest du in diesem Zusammenhang dem Hohen ist nach meiner Auffassung ein wichtiger Schritt in Hause noch etwas über die Keramikindustrie in der Richtung auf eine Verbesserung und Intensivie- Oberpfalz sagen? Es wäre wichtig, dazu noch etwas rung des Schutzes von gewerblichen Modellen und zu erfahren. Mustern. Insbesondere die hier vorgesehene Zen- tralisierung des Musterregisters und die zur Regel Mann (GRÜNE): Das war mir leider bis zu der erhobene Bildeintragung und -bekanntmachung Äußerung des Kollegen Stiegler eben nicht be- werden mit dazu beitragen, die Abkehr von rechts- kannt. Deswegen kann ich dazu jetzt leider nichts widrigen Zugriffen auf eingetragene Geschmacks- sagen. Ich will aber gern versuchen, mich vor der muster effektiver zu gestalten. Vor allen Dingen Beratung im Rechtsausschuß insoweit sachkundig wird damit ein entscheidender Beitrag zur Bekämp- zu machen. fung einer immer stärker um sich greifenden Form Ich möchte also noch einmal auf das Problem hin- der Wirtschaftskriminalität geleistet, nämlich der weisen, daß hinsichtlich einer grundsätzlichen ma- Produkt- und Markenpiraterie. 16736 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Beckmann Der volkswirtschaftliche Schaden, der durch die damit die Einwände teilweise auch ihre Grundlage Markenpiraterie entsteht, ist gravierend und führt verloren haben. zu Folgen, die in ihrer letzten Konsequenz noch Trotzdem wird meine Fraktion in den Ausschuß- nicht absehbar sind. Deswegen sind wir aufgerufen, beratungen darauf achten, daß gerade die Belange so meine ich, eine eindeutige gesetzliche Regelung der mittleren und kleineren Betriebe gewahrt und herbeizuführen. keine neuen übertriebenen finanziellen Belastun- Insofern unterstreicht auch meine Fraktion das gen konstituiert werden. Petitum, das der Bundesjustizminister kürzlich vor- Ein letztes Wort noch zu dem möglichen Standort getragen hat, und tritt für eine rasche Behandlung für die zentrale Hinterlegung und Registrierung dieser Gesetzesvorlage im Ausschuß ein. von Mustern und Modellen. Die Dienststelle des (Seesing [CDU/CSU]: Sehr gut!) Patentamtes in Berlin hat bereits heute einschlä- Es war leider noch nicht möglich, eine grundle- gige Erfahrungen in diesem Bereich sammeln kön- gende Novellierung des Gebrauchsmusterrechts nen. Meiner Fraktion scheint deshalb die Stadt Ber- vorzuschlagen, da wir erst die gemeinschaftsweite lin am ehesten geeignet zu sein, das geplante zen- Angleichung der Rechtsvorschriften in diesem Be- trale Musterregister aufzunehmen. reich abwarten müssen. Alles weitere werden die Ausschußberatungen er- Es bleibt letztlich auch der alte Streit ungeklärt, geben müssen. Meine Fraktion wird der Überwei- ob das Geschmacksmusterrecht eher dem Patent- sung an die Ausschüsse deswegen gern zustim- recht oder eher dem Urheberrecht anzugleichen men. ist. Vielen Dank. (Mann [GRÜNE]: Sehr richtig!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Wir sind jedoch der Auffassung, daß die bereits SPD) hier vorgenommenen Änderungen einen wesentli- chen Fortschritt im Hinblick auf mehr Markensi- cherheit darstellen. Gerade der Vergleich mit aus- Vizepräsident Stücklen: Weitere Wortmeldungen ländischen Geschmacksmustergesetzen hat gezeigt, liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. daß das deutsche Recht, das — der Bundesjustizmi- Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetz- nister hat es bereits angedeutet — aus dem Jahre entwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 1876 stammt, einer dringenden Überarbeitung be- 10/5346 an die in der gedruckten Tagesordnung auf- darf. geführten Ausschüsse vor. Werden weitere Vor- Neben den bereits erwähnten Änderungen sind schläge gemacht? — Das ist nicht der Fall. Damit ist weitere verfahrensrechtliche Vereinfachungen vor- die Überweisung so beschlossen. genommen worden, die dazu beitragen werden, An- meldung und Eintragung von Modellen und Mu- stern zu erleichtern, insbesondere, Herr Kollege Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Mann, zu entbürokratisieren. Erste Beratung des von der Bundesregierung (Mann [GRÜNE]: Ich bin gespannt!) eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge- zur Hinzu kommt, daß das Musterregister durch die setzes Änderung des Filmförderungs- geplante Zentralisierung, die verbesserte Klassifi- gesetzes zierung und die erweiterte Möglichkeit der Bildbe- — Drucksache 10/5448 — kanntmachung an Aussagewert erheblich zuneh- Überweisungsvorschlag: men wird und damit als wirksames Instrument zur Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Verhinderung auch unbewußter Nachbildungen ge- Innenausschuß nutzt werden kann. Haushaltsausschuß Allerdings gilt es, trotz der von uns anerkannten Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Eilbedürftigkeit dieses Vorhabens in aller Ruhe Das ist nicht der Fall. und vor allem sorgfältig zu prüfen, welche Folgen Ich eröffne die Aussprache. Wortmeldungen lie- diese registerrechtlichen Festlegungen für unsere gen nicht vor*). Wirtschaft haben. Gerade die mittelständische Wirt- Meine Damen und Herren, damit komme ich zu schaft hat Einwände erhoben und beklagt, daß sie den Überweisungsvorschlägen. Ist das Haus damit mit nicht kalkulierbaren und der Höhe nach nicht einverstanden? — Weitere Vorschläge werden nicht mehr tragbaren Geschmacksmustergebühren bela- gemacht. Es ist so beschlossen. stet würde. Meine Damen und Herren, wird sind am Schluß Dieser Einwand, meine Damen und Herren, kann unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die sicherlich nicht damit abgetan werden, man ver- nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf folge schließlich ein allgemeindienliches Ziel, und morgen, Freitag, den 16. Mai 1986, 9 Uhr ein. wer mehr Produktschutz haben möchte, müsse sich dies auch etwas kosten lassen. Das wäre zu einfach. Die Sitzung ist geschlossen. Wir denken aber, daß z. B. für den Bereich der Mas- (Schluß der Sitzung: 22.27 Uhr) senanmelder von Mustern und Modellen — wie bei- spielsweise in der Modebranche — die Möglichkeit *) Die zu Protokoll gegebenen Reden werden im Stenographi- der Sammelanmeldung die Kosten senken hilft und schen Bericht der 217. Sitzung als Anlage abgedruckt. Deutscher Bundestag - 10.Wahlperiode - 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16737*

Anlagen zum Stenographischen Bericht - Anlage 1 deanlagen vor. Ziel dieses Gesetzes ist, den Schutz der persönlichen Intim- und Geheimsphäre gegen Liste der entschuldigten Abgeordneten die mißbräuchliche Verwendung von Sendeanlagen, insbesondere sogenannter Minispione, zu verstär- Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich ken und den Fernmeldeverkehr vor unzulässigen Frau Dr. Adam-Schwaetzer 16. 5. Sendeanlagen, insbesondere vor dem Mißbrauch Antretter * 15. 5. mit Funktelefonen - wie z. B. nicht genehmigte Dr. Barzel 16. 5. oder nicht genehmigungsfähige Autotelefone, Böhm (Melsungen) * 16. 5. schnurlose Telefone, usw. - zu schützen. Büchler (Hof) 16. 5. Gleichzeitig soll aber auch durch entsprechende Büchner (Speyer) * 15. 5. Ausnahmeregelungen die Vermeidung unbilliger Catenhusen 16. 5. Härten etwa für Erwerber von Amateurfunkanla- Dr. Corterier ** 16. 5. gen, Bastler und Sammler von Funkanlagen und Dr. Ehrenberg 16. 5. Besitzer im Ausland betriebener und dort erlaubter Dr. Enders * 16. 5. Funkanlagen sichergestellt werden. Frau Fischer * 15. 5. Uns ist es mit diesem Gesetzentwurf gelungen, Fischer (Bad Hersfeld) * 15. 5. die berechtigten Interessen aller von den Regelun- Francke (Hamburg) ** 16. 5. gen betroffenen Gruppen zu einem allseitig befrie- Gattermann 16. 5. digenden Gesamtergebnis zusammenzufassen. Daß Handlos 15. 5. ein solcher Interessenausgleich nicht so einfach Dr. Klejdzinski * 16. 5. war, zeigt allein schon die Tatsache, daß die ersten Anläufe für diese Regelung bis in das Jahr 1967 Krone-Appuhn 16. 5. Frau zurückreichen. Seitdem wurden immer wieder, ins- Dr.-Ing. Laermann 16. 5. besondere auch von der Bayerischen Staatsregie- Frau Dr. Lepsius 16. 5. rung, über den Bundesrat Versuche unternommen, Liedtke 16. 5. diese Materie gesetzlich in den Griff zu bekommen. Dr. Müller * 15. 5. In den beiden letzten Legislaturperioden fielen Müller (Düsseldorf) 16. 5. diese Initiativen wegen des Fehlens der abschlie- Müller (Schweinfurt) 16. 5. ßenden Beratungen unter die Diskontinuität. Reuschenbach 16. 5. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf, der eben- Scharrenbroich 16. 5. falls auf einer Initiative der Bayerischen Staatsre- Frau Schmidt (Nürnberg) 16. 5. gierung beruht, hat in den Beratungen im Ausschuß Schröder (Hannover) 16. 5. für das Post- und Fernmeldewesen einige Änderun- Schröer (Mülheim) 16. 5. gen erfahren, wobei insbesondere den berechtigten Schulte (Unna) 16. 5. Wünschen der Amateurfunker und der CB-Funker Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd) 16. 5. voll Rechnung getragen wurde. Frau Simonis 16. 5. Die jetzige Ergänzung des FAG geht davon aus, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim * 15. 5. daß die Voraussetzung für den Erwerb oder den Voigt (Sonthofen) 16. 5. Besitz einer Sendeanlage die Vorlage einer Geneh- Vosen 15. 5. migung zum Errichten und/oder Betreiben einer Dr. Wieczorek 16. 5. solchen Anlage nach dem FAG ist. Liegt eine solche Zierer * 15. 5. nicht vor, so kann bei Vorliegen bestimmter Bedin- gungen eine Genehmigung zum Besitz nachträglich eingeholt werden. So ist z. B. der Besitz eines zu *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Sammlerzwecken erworbenen Amateur- oder nicht sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Ver- genehmigungsfähigen CB-Funkgerätes dann nicht sammlung strafbar, wenn dieses dem zuständigen Fernmelde- amt gemeldet und das Gerät durch Entfernen eines wesentlichen Bauteils sendeuntauglich gemacht ist. Ähnlich ist die Situation auch bei einem nicht zulassungsfähigen schnurlosen Telefon oder einem Anlage 2 Funkgerät, das im Ausland zugelassen ist und dort Zu Protokoll gegebene Reden z. B. in einer Ferienwohnung oder auf einem Boot zu Punkt 16 der Tagesordnung benutzt wird. Solche Geräte können zur Sicherstel- (Entwurf eines Gesetzes zur Verhinderung lung vor Diebstahl vorübergehend im Bundesgebiet des Mißbrauchs von Sendeanlagen) aufbewahrt werden. Demgegenüber werden die Herstellung und der Linsmeier (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Da- Erwerb sowie das Errichten und/oder Betreiben men und Herren! Ihnen liegt der Entwurf eines Ge- von einer einen anderen Gegenstand vortäuschen- setzes zur Verhinderung des Mißbrauchs von Sen den Sendeanlage grundsätzlich verboten. Auch die 16738* Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986

Herstellung solcher Geräte ist künftig nur bei Vor- Darum ist es richtig, auch in dieser Hinsicht die legen einer Sondergenehmigung erlaubt, wobei Persönlichkeit des Menschen zu schützen und den gleichzeitig die entsprechende Werbung stark ein- Mißbrauch fernmeldetechnischen Geräts — Sende- geschränkt wird. anlagen — zu verhindern. Zu diesem Zweck werden im Fernmeldeanlagengesetz das Errichten und das Die Einführung dieser neuen Vorschrift ist drin- Betreiben von der Genehmigung abhängig ge- gend erforderlich, um dem Mißbrauch mit getarn- macht. Das Überlassen wird nur an Befugte, an zur ten Anlagen, wie z. B. mit sogenannten Minispio- Errichtung und zum Betreiben Befugte, gestattet. nen, wirksam begegnen zu können. Denn diese als Die Werbung für diese Technik wird beschränkt. Gebrauchsgegenstände tarnungsfähigen Abhöran- Herstellung, Vertrieb und Einfuhr bestimmter Sen- lagen, die meist nur für kurze Zeit in Betrieb ge- deanlagen werden verboten. nommen werden und sich schnell wieder in einen unverdächtigen Zustand zurückversetzen lassen, In der Zielsetzung stimmen wir mit der Koalition stellen eine ernste Gefahr für den grundrechtlich überein. Wir hätten es allerdings für besser gehal- verankerten Anspruch auf Menschenwürde und ten, wenn sich eine erneute Ausweitung des FAG Wahrung der Privatsphäre dar. Der Gesetzgeber ist hätte vermeiden lassen. Die Regelungen gegen den deshalb gut beraten, mit geeigneten Maßnahmen zu Mißbrauch von Sendeanlagen hätten in ein selb- der Gewährleistung des Persönlichkeitsschutzes ständiges Gesetz gehört. Aber wir stimmen dem Ge- der Bürger und zur Beibehaltung privater Frei- setz nicht zuletzt deshalb zu, weil wir erstens ge- räume beizutragen. meinschaftlich darauf drängen, die Strafvorschrif- ten — § 201 StGB — gegen die Verletzung der Ver- Mit der Neuregelung soll ebenfalls der Situation traulichkeit des gesprochenen Wortes schnell anzu- bei sonstigen illegalen Sendeanlagen begegnet wer- passen, weil zweitens den Anliegen der Amateur- den, die z. B. durch Mißbräuche sogenannter Funk- funker im § 5 a Rechnung getragen wurde — das hacker den Funktelefondienst der Deutschen Bun- Gesetz über den Amateurfunk bleibt als Lex speci- despost erheblich stören können, wobei diesen ihr alis unberührt — und weil drittens die Zuständig- strafrechtliches Tun nur schwer nachgewiesen wer- keiten für Ausnahmeregelungen — § 5 e — im Be- den kann. richt des Innenausschusses zur Vermeidung von Die zunächst im Entwurf des Freistaates Bayern Mißverständnissen erläutert worden sind. vorgesehene Erweiterung des § 201 StGB, die die Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes durch Kohn (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Strafbarkeit auch der Weitergabe des abgehörten Herren! Dieses Gesetz, das heute verabschiedet Wortes schützen sollte, ist nicht mehr Gegenstand werden soll, hat eine lange Vorgeschichte. Bereits des Gesetzes. Im Hinblick auf die vielfältigen mit in der Großen Koalition gab es einen gemeinsamen einer Änderung des § 201 StGB verbundenen Fra- Antrag der CDU/CSU und der SPD, der sich gegen gen soll diese Materie einer gesonderten Gesetzes- die mißbräuchliche Verwendung von Abhörgeräten vorlage vorbehalten bleiben. So auch die mitbera- richtete. Dieser Anlauf scheiterte ebenso wie spä- tenden Ausschüsse. tere Versuche in der 8. und der 9. Legislaturperiode. Dies macht deutlich, daß es sich hier um eine nicht Zusammenfassend stelle ich fest: Nach bald unproblematische Gesetzesmaterie handelt. 20jährigen Bemühungen ist es uns jetzt gelungen, Die Zielrichtung des Gesetzes, die Bekämpfung eine gesetzliche Regelung zu finden, die für die Zu- der zunehmenden Mißbräuche durch unbefugte kunft die Herstellung, den Erwerb und das Betrei- Verwendung von Minispionen, steht außer Streit. ben von getarnten Sendeanlagen unterbindet und Aufgrund der heutigen technischen Möglichkeiten den Besitz sonstiger illegaler Sendeanlagen unter stellen Minispione eine erhebliche Gefahr dar, die sehr liberalen Bedingungen und Übergangsfristen Intimsphäre jedes einzelnen Bürgers ist hierdurch regelt. bedroht. Dies gilt erst recht, wenn derartige Geräte Ich bitte das Hohe Haus, dem Gesetz zuzustim- getarnt sind und damit für das heimliche Abhören men. von Gesprächen anderer besonders leicht einge- setzt werden können. Erst jetzt ist aber eine gesetz- liche Regelung gefunden worden, die diesem Ziel Bernrath (SPD): Herr Präsident! Meine Damen weitgehend gerecht wird, die andererseits aber si- und Herren! Es geht um die Beseitigung von Aus- cherstellt, daß die technische und wirtschaftliche wüchsen in der Anwendung elektronischer Kleinst- Entwicklung nicht unangemessen behindert wird. geräte und die Verhinderung des Mißbrauchs klein- ster Sendeanlagen. Kleinstsender und Minispione Die FDP stimmt diesem Gesetz zu — allerdings können gefährlich sein; mißbraucht sind sie alles ohne Freudentänze. Uns wäre es sicherlich lieber andere als nützlich für das menschliche Zusam- gewesen, wenn uns diese Novelle erspart geblieben menleben. Sie können, wie die Erfahrung gezeigt wäre. Sie ist unbestreitbar ein Stück mehr Regle- hat, die Befindlichkeit der Menschen unangenehm mentierung, mehr Bürokratisierung, weniger Frei- berühren und nachhaltig stören. heit. Es gibt nicht wenige Bürger, die gegen dieses Gesetz Sturm laufen; denn: immer dann, wenn Miß- Ungeachtet allen Datenschutzes, auf den wir alle stände bekämpft werden, sind auch nicht miß- große Mühe verwenden, wissen wir nicht, wer was bräuchliche Formen der Nutzung mit betroffen. wo wann mithört, mitschneidet, aufzeichnet, weiter- Dies ist hier nicht anders. Wir mußten uns aber der gibt, speichert, gegen uns verwendet, ohne daß wir Erkenntnis beugen, daß auf schärfere Vorschriften das wissen oder nur ahnen. gegen Minispione nicht länger verzichtet werden Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16739* kann. Das Gesetz in der Form, wie es jetzt vom Aus- gehenden Strafvorschriften des Fernmeldeanlagen- schuß vorgelegt worden ist, beschränkt sich auf die gesetzes noch weitere hinzuzufügen. Mit diesem wirklich notwendigen Eingriffe. Die Freiheits- werden beileibe nicht nur diejenigen getroffen wer- sphäre des einzelnen wird zwar eingeschränkt, aber den, die mit dem Vertrieb elektronischer Abhör- nicht über das notwendige Maß hinaus; das Fern- einrichtungen ihre dunklen Geschäfte machen, meldemonopol der Post wird nicht ausgeweitet — nein, auch Bürgerinnen und Bürger sollen mit auch dies war ein Punkt, der uns mit Sorge erfüllt Strafe bedroht werden, die irgendeine nicht zuge- hat —, und eine vernünftige wirtschaftliche Nut- lassene, gleichwohl aber im Handel erhältliche Sen- zung von Sendeanlagen bleibt so weit wie möglich deanlage bloß besitzen. Hier ist plötzlich nicht mehr gewährleistet. Wir hoffen deshalb, daß auch die vie- von der Beschränkung auf Minispione die Rede. len Amateurfunker, die dieses Gesetz abgelehnt ha- ben, Verständnis für die Novellierung und die not- Man muß sich das einmal vorstellen: Nach dem wendigen gesetzlichen Eingriffe aufbringen wer- jetzt vorgelegten Entwurf kann mit Freiheitsstrafe den. bis zu einem Jahr bestraft werden, wer fahrlässig eine solche nicht erlaubte Sendeanlage besitzt. Das trifft auch jenen, der sich im guten Glauben ein Rusche (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen hierzulande nicht zugelassenes, aber durchaus er- und Herren! Die GRÜNEN sind in den Punkten, in hältliches Autofunkgerät zugelegt hat. denen das neue Gesetz die Privatsphäre besser als Wir sind gegen eine solch völlig überzogene Aus- bisher vor Lauschangriffen schützt, in Übereinstim- dehnung von Strafvorschriften. Wir wollen die mung mit dem vorliegenden Entwurf. Die Lausch- Straftatbestände auf das Wesentliche reduzieren, angriffe wurden bisher durch die leichte Zugäng- nämlich auf den Geheimnisbruch und die absichtli- lichkeit von Kleinstsendern, sogenannten Wanzen, che Störung öffentlichen Zwecken dienender Funk- aller Art erleichtert. Wir unterstützen selbstver- anlagen. Alle übrigen Strafvorschriften können zu ständlich auch, daß die Gefährdungen für zum Teil Ordnungswidrigkeiten herabgestuft werden oder lebenswichtige Funkdienste, z. B. Luftverkehr, be- völlig entfallen. Sie dienten ohnehin zum Teil nur kämpft werden sollen. Diese können von Kleinst- dazu, Pflichten, die sich aus dem Fernmeldeanla- sendeanlagen ausgehen, vor allem wenn sie unsach- gengesetz ergeben und deren Erfüllung mit Verwal- gemäß betrieben werden. tungsmitteln durchgesetzt werden kann, noch zu- Gleichzeitig allerdings treten die GRÜNEN für sätzlich mit Strafandrohung zu verschärfen. einen umfassenden Schutz der Privatsphäre ein Wir glauben, daß es auch im sogenannten Neben- und nicht für einen, der von den sogenannten Si- strafrecht angebracht ist, seit über 50 Jahren mitge- cherheitsbehörden nach Belieben durchlöchert wer- schleppte, viel zu weitgehende Strafvorschriften den kann. Genau diese Möglichkeit aber eröffnet kritisch zu überprüfen und sie dort, wo sie entbehr- der Entwurf, wenn er in § 5 e Abs. 2 den Behörden in lich sind, abzuschaffen. einer weitherzigen Generalklausel die Möglichkeit eröffnet, Ausnahmen zum Verbot der Minispione Aus den gleichen Überlegungen wehren wir uns zuzulassen. Das „öffentliche Interesse", und das gegen die durch den jetzt vorgelegten Entwurf er- Verständnis „öffentlicher Sicherheit", das dabei zu- möglichte Kriminalisierung von Verhaltensweisen, grunde gelegt wird, wird uns derzeit auch in den die für sich völlig unschädlich sind. Die Strafbarkeit Entwürfen der sogenannten Sicherheitsgesetze dra- wird weit in das Vorfeld denkbarer Schäden verlegt. stisch vor Augen geführt. Für die Lauschangriffe Das Risiko für die nach dem Entwurf ja komplizier- und Spitzeleien der zahllosen kleinen Großen Brü- ter werdende Rechtslage wird in unverantwortli- der läßt der Entwurf eine Hintertür in der Breite cher Weise den Bürgerinnen und Bürgern aufge- eines Scheunentors. bürdet. Damit nicht genug. Der Entwurf unternimmt es Meine Damen und Herren, ich möchte Sie daher dann auch noch, den ohnehin teilweise viel zu weit- bitten, den Gesetzentwurf mit uns abzulehnen.