Schröder Im Schraubstock Der Zittersieg Bei Der Gesundheitsreform War Erst Der Auftakt Für Einen Turbulenten Polit-Herbst
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Abstimmung im Bundestag über die Gesundheitsreform (am vergangenen Freitag), Kanzler Schröder, Oppositionsführerin Merkel: Rebellion REFORMEN Schröder im Schraubstock Der Zittersieg bei der Gesundheitsreform war erst der Auftakt für einen turbulenten Polit-Herbst. Eine selbstbewusste Unions-Opposition will Schröder systematisch vor sich hertreiben, um die Kluft zwischen ihm und der SPD zu vertiefen. Das heimliche Ziel: der schnelle Kanzlersturz. er Kanzler war auf dem Flug nach Schröder spürte schon am Tag der Ab- euch entscheiden. Wenn ihr eine andere New York, zu dem wichtigsten reise, wie sein USA-Trip die Immunabwehr Politik wollt, braucht ihr eine andere Daußenpolitischen Termin seit seiner seiner rot-grünen Regierung gegen die Kri- Führung.“ Und vor der Fraktion verfiel er Wiederwahl. Doch Gerhard Schröder hat- tik an seinem Reformprogramm schwächen in den gleichen Drohton: „Ich erwarte, te Mühe, sich auf das bevorstehende Tref- würde. Und so kam es dann auch: Während dass die Koalition geschlossen abstimmt.“ fen mit dem amerikanischen Präsidenten der Kanzler und sein Vize in New York das Um die Regierungsmannschaft vom Ab- zu konzentrieren. Verhältnis zu US-Präsident George W. Bush grund fortzureißen, sah sich der oberste Außenpolitik? „Dafür ist mein Außenmi- enteisten, baute sich daheim eine innenpo- Sozialdemokrat gezwungen, eine in dieser nister zuständig“, sagte er dazu nur knapp litische Krise auf. Die SPD-Linke mochte Legislaturperiode bislang beispiellose Ab- und zeigte auf Joschka Fischer. Von der Fas- sich dem mit der Union verabredeten Ge- wehrschlacht zu schlagen: Er schüchterte zination der Weltpolitik, an der er sich in sundheitskompromiss nicht beugen: Rebel- die Seinen ein und überredete sie zugleich. den vergangenen Monaten des Öfteren als lion lag in der Luft. Der Außenminister wurde vorzeitig aus einer Art Ersatzdroge berauscht hatte, war Klar war: Das Gesetz würde mit den New York zurückbeordert, die grüne im Luftwaffen-Airbus nichts zu spüren. Der Stimmen der Christparteien auf jeden Fall Staatssekretärin Uschi Eid musste auf der Kanzler hatte Sorgen der existenziellen Art. durchkommen – aber klar war auch, dass Reise von den USA nach Japan einen Um- „Ich mach hier nicht den Herbert Weh- die Koalition, um ihre Handlungsfähigkeit weg über Berlin in Kauf nehmen. Der grü- ner“, rutschte ihm düster heraus, „aber zu beweisen, eine eigene Mehrheit brauch- nen Verbraucherschutzministerin Renate wenn wir unsere Reformen jetzt nicht te. Vor den versammelten Landes- und Be- Künast blieb nichts anderes übrig, als ihre durchbekommen, sind wir weg – für min- zirksvorsitzenden drohte ein aufgebrachter Gespräche auf einer Agrarministerkonfe- destens 15 Jahre.“ Schröder am Donnerstagabend: „Ihr müsst renz in Rostock abzubrechen. 24 der spiegel 40/2003 Deutschland Willkommen im Reformherbst 2003! Das Drama der vergangenen Woche ist ein Vor- geschmack auf das, was dem Kanzler in den nächsten Monaten bevorsteht: Verfolgt von katastrophalen Umfrageergebnissen für die SPD (28 Prozent), muss der Kanz- ler das ehrgeizigste Reformprojekt seiner bisherigen Amtszeit durch das Parlament bringen. Gerhard Schröder im Schraub- stock: Seine eigene tief verunsicherte Par- tei presst ihn dabei ebenso wie die Oppo- sition, die nach dem überragenden Wahl- ergebnis ihres bayerischen Großfürsten Edmund Stoiber (61 Prozent) in neuem Selbstbewusstsein schwelgt. Und strittig ist nahezu alles, was Schrö- ders Regierung an Gesetzesinitiativen und Ideen vorgelegt hat: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, der Um- bau der Nürnberger Bundesanstalt für Ar- beit, weitere Einschnitte bei der Renten- versicherung; selbst das geplante Vorziehen der Steuersenkung findet derzeit keinen Rückhalt in der Länderkammer. Schon jedes einzelne dieser Vorhaben hätte das Potenzial, die Koalition aus der Kurve zu tragen, doch die Verbindung aus allem ist politisch kaum noch beherrschbar. Jeder Prognose über die Zukunft des rot- grünen Bündnisses haftet daher etwas Un- seriöses an, weil deren Wirken längst einer Lotterie gleicht. MANUELA HARTLING / REUTERS / E-LANCE MEDIA / REUTERS HARTLING MANUELA MICHAEL KAPPELER / DDP MICHAEL KAPPELER STEPHANIE PILICK / DPA PILICK STEPHANIE Kleine und große Fragen türmen sich lag in der Luft vor ihm auf, die kein Kanzler und kein Fraktionschef beantworten kann: Wie un- Schröder nahm derweil den harten knapp aus. Die Koalition schaffte nicht die nachgiebig zeigt sich die Linke, und wie Kern der innerparteilichen Opposition ins erhoffte Kanzlermehrheit von 302 Stim- stark fallen die Abwehrreaktionen des Ge- Visier. Telefonate dutzendfach, gedroht men, und selbst die ersatzweise angestreb- werkschaftsflügels aus? Welchen Kran- wurde mit Rücktritt, Macht- und Man- ten 298 – um dann eine Stimme mehr zu kenstand kann die Koalition verkraften? datsverlust, mit Schimpf und Schande im haben, als die Opposition Abgeordnete hat Erschwerend hinzukommt, dass das „Re- Namen der altehrwürdigen Volkspartei. – bekam er nicht zusammen. formfenster“, von dem die Koalitionäre so Zwei schwer kranke SPD-Abgeordnete Sein wichtigster Verbündeter war, wie so gern reden, nur noch bis Anfang nächsten wurden schließlich zur Abstimmung ge- oft, der Genosse Zufall. Ohne die schlecht Jahres geöffnet ist. Dann beginnt mit der karrt. organisierte Unionsopposition – insgesamt Europa-Wahl im Juni ein Marathon von Selbst um die Abweichler aus den Rei- fehlten in den Reihen der Angela Merkel 23 insgesamt 13 Kommunal- und Landtags- hen der Grünen kümmerte sich der rote Kollegen und Kolleginnen – hätte er wohl wahlen, das jeden Kompromiss mit der Regent persönlich. Winfried Hermann, sein Ziel verfehlt. So schrammte der Re- Union so gut wie ausschließt. Christian Ströbele und Jutta Dümpe-Krü- gierungstanker mit 297 Stimmen um Haa- So hat Schröder nur noch wenige Mo- ger hatten Zweifel an der Sparpolitik bei resbreite am Eisberg vorbei. nate Zeit, um mit seinen Projekten zumin- den Krankenkassen angemeldet – am dest die Stimmung im Lande frühen Freitagmorgen, wenige Stunden vor umzudrehen. Sein Nahziel der Entscheidung im Parlament, fanden sie Mehrheit ist Mehrheit heißt, wenigstens den Ar- sich auf dem anthrazitfarbenen Stoffsofa Die Abstimmung über die Gesundheitsreform beitsplatzbesitzern zu signa- des Kanzlerbüros wieder. Ein übermüdeter 603 Abgeordnete sitzen im 15. Deutschen lisieren, dass sie keine Angst Schröder hörte aufmerksam zu und warb Bundestag. Die Regierungskoalition verfügt mehr vor dem Jobverlust ha- für seinen Kurs. Die Widerständler fühlten 297 306 über 306 Mandate, 4 Mandate mehr als zur ben müssen. sich ernst genommen – um danach Zu- absoluten oder Kanzler-Mehrheit nötig. Die Natürlich weiß er, dass er stimmung zu versprechen. Opposition verfügt über 297 Mandate. mit seiner Agenda 2010 die- Doch auch das reichte nicht. Als Schrö- ses düstere Bild allenfalls ein Eine eigene Mehrheit strebte die Regie- der vor dem mit Spannung erwarteten rung bei der Verabschiedung der Reform an. wenig aufhellen kann. Sein Showdown in den Plenarsaal schlenderte 297 297 Sie wurde von Rot-Grün bei sechs Nein- Kalkül ist ein anderes: Ge- und auf der Regierungsbank seinem Stimmen, einer Enthaltung und zwei Abwe- lingen ihm seine Projekte, Außenminister kumpelhaft die Schulter –9 senden aus den eigenen Reihen verfehlt. wie vor allem das angekün- knuffte, war noch immer unklar, ob er es digte Vorziehen der Steuer- schaffen würde. Da aber zugleich 27 Abgeordnete der reform, wäre ein Auf- Opposition abwesend waren, erzielte die Dem Regierungschef blieb ein Fiasko 297 schwung denkbar, der sich in zwar erspart, aber das Ergebnis, von dem Koalition mit nur 297 Ja-Stimmen immer- den USA, in Japan und in hin die einfache Mehrheit der abgegebe- er später behauptete, es habe ihn „sehr zu- –27 nen 574 Stimmen. anderen europäischen Län- frieden“ gestimmt, fiel am Ende denkbar dern schon abzeichnet und der spiegel 40/2003 25 Deutschland womöglich einen Schröder-Schub bewirkt. Der könnte zumindest reichen, ihm die Wiederwahl in drei Jahren zu sichern. Doch die Union will den Kanzler gern vorher stellen – mit seinen eigenen Waffen. Eine Totalblockade kommt für die Kon- servativen nicht in Betracht, und so setzen Merkel und Stoiber auf eine Strategie der fürsorglichen Belagerung: Die Reformen der Bundesregierung werden mitgetragen – aber nur dann, wenn der regierende So- zialdemokrat weitgehend ihren Forderun- gen entspricht. Der Kanzler soll sich in ers- ter Linie den Linken in seiner Partei wei- ter entfremden. „Wir müssen ihn immer UNGER MARC-STEFFEN wieder dazu zwingen, um seine Mehrheit Steuer-Reformer Kirchhof (3. v. l.), Ministerpräsidenten*: Radikalumbau des Systems zu kämpfen“, gab Fraktionsgeschäftsführer Volker Kauder intern als Devise aus. nach der bequemen Oppositionsbank seh- DGB-Chef Michael Sommer warnt be- Bei einem Treffen der Unions-Minister- nen. Oder nach einem neuen Erlöser, der reits vor dem Marsch „in eine andere Re- präsidenten am vergangenen Donnerstag- – wie Oskar Lafontaine – einen Rückfall in publik“ – und selbst kanzlertreue Truppen abend in der Hamburger Landesvertretung die Vergangenheit schmackhaft macht. wie der Seeheimer Kreis signalisieren strik- wurde die Möglichkeit, sich gnadenlos quer Deutlicher als noch vor kurzem zeichnet te Ablehnung. zu legen, erst gar nicht erörtert. Die Län- sich ab, dass die Union nicht einen einzi- In der Rentenpolitik wiederum hat die derchefs waren sich einig, die anstehenden gen der Schröderschen Agenda-Punkte un- Union vor, die SPD links zu überholen. Regierungsvorhaben zwar im Bundesrat korrigiert