ERWIN TEUFEL Ein Politisches Leben

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ERWIN TEUFEL Ein Politisches Leben ERWIN TEUFEL Ein sehr persönliches Buch über den Umgang mit Macht, über Maßstäbe des Handelns, über Maß, Gewissen Mitte und Verantwortung „Könnte man sich auf alle verlassen wie für das Ganze auf ihn, dann wäre Demokratie eine leise blühende Ordnung.“ Ein politisches Leben (Martin Walser über Erwin Teufel) Gewissen für das Ganze ERWIN TEUFEL HERDER 30227-5_Teufel_Gewissen fuer das Ganze.indd 1 31.01.17 18:34 Erwin Teufel GEWISSEN FÜR DAS GANZE Ein politisches Leben 14.03.2017 Hinweis der Karl Schlecht Stiftung: Diese Auflage ist bereits seit längerer Zeit vergriffen. Die Rechte an der Biographie wurden von Seiten des Verlags an Hr. Erwin Teufel rückübertragen. Der Autor hat anschließend einer Veröffentlichung durch die Karl Schlecht Stiftung vollumfänglich zugestimmt. 2. Auflage 2009 © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2009 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlagkonzeption: Groothuis, Lohfert, Consorten | glcons.de Umschlagmotiv: © Martin Storz / Graffiti Satz: Barbara Herrmann, Freiburg Herstellung: rombach digitale manufaktur, Freiburg Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany VORWORT Ein Buch über mein Leben zu schreiben, kam mir eigentlich nie in den Sinn. Zum einen, weil es eine Biografie über mich schon gibt. Zwei Redakteure der Stuttgarter Zeitung, Mi- chael Ohnewald und Thomas Durchdenwald, haben sie ge- schrieben. Wie viele andere bin auch ich ihnen Rede und Antwort gestanden. Dieses Buch ist von mir nie autorisiert worden, es ist das Ergebnis der Recherchearbeit und der Wer- tung dieser beiden Journalisten. Der zweite Grund für meine Zurückhaltung war, dass ich mich selbst nicht herausstellen wollte. Ich sehe mein Leben und meine Arbeit nicht auf einer so hohen Ebene, die eine Autobiografie nötig machen würde. Warum dann doch der Sinneswandel? In den letzten Jahren habe ich oft Diskussionen mit Ober- stufenschülern an Gymnasien, mit Berufsschülern an Berufs- schulen oder mit Studenten an Hochschulen geführt. In den letzten Monaten habe ich zudem viele Reden gehalten und Diskussionen geführt: über 60 Jahre Grundgesetz, über 60 Jahre Bundesrepublik und über 20 Jahre Fall der Mauer, Frei- heit für die osteuropäischen Nachbarländer und die Wieder- vereinigung Deutschlands. Dabei ist mir aufgefallen, wie sehr sich die jungen Leute bei uns für diese Themen der jüngeren Geschichte, noch mehr aber, wie sehr sie sich für die Erfah- rungen der Kriegsgeneration und der Nachkriegsgeneration, also für die Erlebnisse ihrer Großeltern und ihrer Eltern inte- ressieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass offenbar viel zu wenig erzählt wird und von einer Generation zur nächsten zu wenig Erlebnisse, Geschichte und Erfahrungen vermittelt Vorwort 5 werden. Es geht den Jüngeren nicht so sehr um Geschichts- daten als um erlebte Geschichte, um Authentizität, um per- sönliche Wertungen. Das hat bei mir im Frühsommer dieses Jahres ganz spontan zum Entschluss geführt, einiges aus mei- nem Leben zu erzählen. Ich schreibe bewusst keine umfas- sende Darstellung meines Lebens vom Tag meiner Geburt bis zum heutigen Tag. Sondern ich möchte anhand ganz kon- kreter Erlebnisse und Erfahrungen vermitteln, was mich ge- prägt hat, was mich veranlasst hat, in die Politik zu gehen, und was meine eigene Identität ausmacht. Ich möchte deut- lich machen, warum ich so geworden bin, wie ich bin, was mich zum Handeln und Gestalten motiviert hat, was meine Ziele waren und sind und warum ich durchgehalten habe. Manches lasse ich weg, weil ich nicht zu ausufernd werden möchte. Anderes, weil es nicht mehr so deutlich in meinem Gedächtnis ist. Wieder anderes, weil es Tagesroutine war, auch wenn es wichtig und manchmal auch anstrengend gewe- sen ist. Stoff gäbe es sicher für ein Buch mit dem doppelten Umfang. Ich denke in Hochachtung an die Generation meiner El- tern, die Kriegsgeneration, die es sehr viel schwerer hatte als wir heute. Viele aus dieser Generation sind gefallen oder Op- fer der Diktatur geworden. Mütter wurden in jungen Jahren zu Witwen und standen allein da mit ihren Kindern. Die Zurückgebliebenen oder Zurückgekehrten oder auch die Menschen, die als Heimatvertriebene in unser Land kamen, haben in einer gewaltigen Anstrengung unser Land aus der schlimmsten Notlage seiner Geschichte neu aufgebaut. Wir können an ihnen Maß nehmen und müssen uns gleicherma- ßen anstrengen, unsere Probleme zu lösen und jedem jungen Menschen Zukunftschancen zu eröffnen. Noch nie hatten die Menschen in unserem Land über 60 Jahre Friede und Freiheit. Noch nie hat eine Generation vor 6 Vorwort uns auf diesem Boden so gut gelebt wie wir heute. Noch nie hatten wir einen Rechtsstaat, der die Menschenwürde und Menschenrechte schützt und dafür sorgt, dass jeder mehr aus seinem Leben machen kann. Ich schreibe einige Erlebnisse meines Lebens auch in Dankbarkeit dafür, dass ich zur ersten Generation gehöre, die nicht in einen Krieg ziehen musste. Auch in Dankbarkeit dafür, dass wir in der Europäischen Union mit allen unseren Nachbarn in Frieden leben und gemeinsam dafür arbeiten, dass sich Europa im weltweiten Wettbewerb behaupten kann. Ich widme dieses Buch den beiden Generationen, zu de- nen auch meine Kinder und Enkelkinder gehören. Sie sind unsere Hoffnung und Zuversicht. Der Titel „Gewissen für das Ganze“ stammt nicht von mir. Er bezieht sich auf eine Formulierung des großen Tübin- ger Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger. Ich habe sie häufig in Reden zitiert, weil sie wiedergibt, was auch meine ganze Überzeugung ist: Wir müssen über unsere per- sönlichen Interessen hinaus die Verantwortung für das Ganze wahrnehmen und ein Gewissen für die Mitmenschen und für das Gemeinwohl haben. Auf die innere Stimme des Gewis- sens zu hören und sich an ihm zu orientieren, über die Spe- zialisierungen und Teilwahrheiten hinaus das Ganze zu sehen, Teilwahrheiten zu integrieren und Synthesen finden, darum geht es. Denn „die Wahrheit ist das Ganze“, sagt Hegel. Vorwort 7 1. Meine erste deutliche Kindheitserinnerung geht zurück auf den 20. April 1945: Mit dem Vorrücken einer marokka- nischen Panzerbrigade kam es zum Einmarsch französischer Soldaten in meiner Heimatgemeinde Zimmern ob Rottweil. Ich war damals fünfeinhalb Jahre alt, und der Krieg war auch für uns allgegenwärtig. Das Sirenengeheul hat sich mir tief eingeprägt. Auch die Erinnerung daran ist noch lebendig, wie wir Kinder nachts bei Fliegeralarm aus dem Bett gerissen, in Decken gehüllt und in den Keller eines Nachbarhauses ge- tragen wurden, der sicherer schien als der Keller im eigenen Haus. Banges Warten, Beten, Zittern und Frieren sind blei- bende Eindrücke. Ich erinnere mich auch an das tägliche Nachtgebet, in dem wir für die Rückkehr des Vaters und des Onkels aus dem Krieg gebetet haben. Und dann also der 20. April 1945. Er ist mir von morgens bis abends in vielen Einzelheiten gegenwärtig. Es hieß: Die Franzosen kommen! Meine Mutter und wir drei kleinen Kin- der, mein Bruder Albert mit vier Jahren, meine Schwester Irmgard mit zweieinhalb Jahren und ich, brachen mit dem Nötigsten und einem Kinderwagen auf zu unserem Onkel Franz, dem ältesten Bruder meines Vaters, der den elterlichen Hof der Vorfahren bewirtschaftete. Wir gingen in eine alte Mosterei im Garten. Dort fanden wir in einem schwer zu- gänglichen und versteckten Kellerraum Zuflucht. Es waren noch einige Familien mit uns zusammen. Immer wieder ka- men Boten mit Alarmmeldungen und mit neuen Nachrich- ten in den Keller. Angst und Unsicherheit waren groß: Wann und aus welcher Richtung würden die französischen Streitkräfte kommen? Ob es noch Kämpfe und Widerstand gebe? Würde der Volkssturm Hindernisse aufbauen oder wegräumen? Diese Fragen bewegten die Erwachsenen. Der 20. April 1945 9 Alles wurde jäh unterbrochen durch Fliegeralarm, durch großen Lärm von Flugzeugen, durch Bombenexplosionen, die ganz nahe sein mussten. Schließlich sickerte die Nachricht durch: Zimmern brennt. Der ganze Ortskern stand in Flam- men. Die „Spittelhöfe“ (frühere Hofgüter des Spitals Rott- weil) brannten lichterloh. Schließlich gingen auch Häuser am westlichen Ortsrand in Flammen auf. Zum Löschen fehl- ten erfahrene Männer. Es fehlte auch an Wasser. Was die Was- serleitung nicht hergab, ersetzte der Dorfbrunnen. Die Ängste der Erwachsenen waren inzwischen einer spontanen Hilfs- bereitschaft gewichen. Mit Mut und Tatkraft gingen viele Frauen und ältere Männer ans Werk. Sie befreiten das Vieh in den brennenden Ställen und holten wichtigen Hausrat aus den Häusern. Sie löschten und halfen, wo es nötig war. Wir Kinder blieben zunächst im Keller, verängstigt, aber ruhig. Als wir am Nachmittag informiert und herausgeholt wurden, bot sich uns ein Bild des Grauens: Ein brennender Ortskern, herumirrendes Vieh, teilweise von Brandwunden versehrt, brüllend vor Schmerz. Viele Menschen, die mit größter Eile und Anspannung löschten und halfen. Gegen Abend wurde das Vieh aus den bis auf die Grundmauern ab- gebrannten Häusern und Ställen in die Bauernhöfe gebracht, die unversehrt geblieben waren. Menschen, die ihr Haus, ihr Hab und Gut verloren hatten, fanden Aufnahme in anderen Familien. Auch ich teilte mein Bett für einige Zeit mit einem gleichaltrigen Buben. Jahre danach erzählte mir Gebhard Müller, der zweite Mi- nisterpräsident unseres Landes Baden-Württemberg, dass auch er an diesem 20. April beim Rückzug der deutschen Sol- daten in Zimmern vor Ort war. Er kam von der „Flak“ auf der Stettener Höhe. Da sich seine Einheit aufgelöst hatte, half er den ganzen Tag, die brennenden Häuser zu löschen. Erst gegen Abend machte er sich dann, dicht gefolgt von
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