Infoblatt 14.12.2004 14:44 Uhr Seite 1 THÜRINGEN BLÄTTER ZUR LANDESKUNDE truktur und Ge- fach als Geschichte der schichte der Bezir- „alten“ Länder ver- Ske der ehemaligen standen, die nach 1952 Deutschen Demokrati- immerhin de iure wei- schen Republik haben ter existierten, auch im öffentlichen Be- wenn auf ihrem Terri- wusstsein bis heute ein torium bis 1990 Bezir- relativ verhaltenes In- ke eingerichtet worden teresse gefunden. Sie waren. Darüber hinaus gelten als künstlich- gelten vor dem Hin- konstruierte Verwal- tergrund des Struktur- tungseinheiten, als prinzips des „demokra- Fremdkörper in der tischen Zentralismus“ natürlichen Entwick- sowie der Tatsache, lung der Länder, als dass bei den Planungs- Instrument der Herr- entscheidungen die Be- schaftssicherung eines lange von Wirtschafts- auf Machterhalt be- zweigen und Kombi- dachten diktatorischen Zeiss-Forschungshochhaus naten häufig Vorrang Systems, das seinen in . Baubeginn: 1969. gegenüber dem „Terri- Bürgern ihre regional- Die Universität bezieht das torium“ hatten, die Be- Gebäude im Jahr 1972. spezifische Identität ha- (Foto: Staatsarchiv zirke als „Regionen be nehmen wollen. Re- Rudolstadt) ohne Macht“. Eine sol- gionalgeschichte in der che Sichtweise ver- DDR wird daher viel- kennt jedoch die Exis-

Zur Geschichte des Bezirkes Gera (1952 – 1990)

tenz regionaler Eigeninteressen. Hier Der große Bereich der Kultur kann kam es auf die Machtbasis der betref- dabei aus Platzgründen keine Berück- fenden Funktionäre an, auf ihre Prä- sichtigung erfahren. (Zu den Bezirken senz in zentralen Parteigremien, auf Erfurt und liegen gesonderte Netzwerke. Betrachtungen in den „Blättern zur Die folgenden Ausführungen werden Landeskunde“ vor.) sich in einer groben, einführenden Der gehörte in seiner Skizze, quasi in Form von „Streiflich- flächenmäßigen Ausdehnung nach dem tern“, mit dem Bezirk Gera befassen. und der Hauptstadt Berlin, Infoblatt Gera 14.12.2004 14:44 Uhr Seite 2

die seit Anfang der sechziger Jahre offi- Landkreisen Eisenberg, Gera, Greiz, ziell den Status eines Bezirkes innehat- Jena, Lobenstein, Pößneck, Rudolstadt, te, zu den kleinsten der 15 Bezirke der Saalfeld, Schleiz, Stadtroda und Zeulen- DDR. Ähnlich verhielt es sich im Hin- roda zusammen sowie aus den beiden blick auf die Wohnbevölkerung: Mit Stadtkreisen Gera und Jena. Bei der etwa 740.000 Einwohnern (Stand: 1987) Gründung des Bezirkes im Jahr 1952 rangierte er vor den Bezirken Frank- war zunächst die Stadt Jena als Be- furt/Oder, Neubrandenburg, Schwerin zirks(haupt)stadt im Gespräch, bevor und Suhl. Er setzte sich aus den elf die Wahl auf Gera fiel. Herrschaftsstrukturen

Die Durchsetzung einer Bezirksstruk- Mitte der Fünfzigerjahre in drei Stadt- tur erfolgte mit der offiziellen Begrün- bezirke mit entsprechenden Parteiorga- dung einer größeren Bürgernähe. Tat- nisationen untergliedert war. In diesem sächlich ist die Einführung der neuen Bezirk existierten in den Fünfziger- bis Struktur unter herrschaftspolitischen zu Anfang der Sechzigerjahre zwei Aspekten erfolgt: Kleinräumige Verwal- Kreisleitungen der Wismut (Gera und tungseinheiten sind leichter kontrol- Ronneburg), die jedoch der Gebiets- lierbar als große. Ein schneller, einheit- leitung der Wismut in Karl-Marx-Stadt licher Befehlszug sollte zur besseren unterstanden. Eine weitere funktionale Umsetzung zentraler Beschlüsse von Kreisleitung war ab 1965 im Großbe- der Spitze der Staatsmacht bis in die trieb Carl Zeiss Jena eingerichtet. Diese Gemeinden geschaffen werden. An die KPO, in der in den Achtzigerjahren Stelle der alten Landtage und Landes- über 8.100 Mitglieder und Kandidaten regierungen traten daher seit 1952 die organisiert waren, war der SED-Be- Bezirkstage sowie die Räte der Bezirke, zirksleitung Gera unterstellt und zah- die Teil einer hierarchisch geordneten lenmäßig stärker als die meisten Kreis- „Rätepyramide“ waren, an deren Spitze parteiorganisationen des Bezirkes. Den der Ministerrat stand. Parallel dazu und drei größten KPO im Bezirk Gera nach in die Parteihierarchie eingebettet exi- der Bezirksstadt, Rudolstadt, Jena und stierten die neuen Organe der SED, also Saalfeld, gehörten etwa 9.000 bis 10.000 SED-Bezirksdelegiertenkonferenz, Be- Genossinnen und Genossen an. zirksleitung sowie Büro und/oder Sek- Der Chefposten der SED wurde im retariat der Bezirksleitung. Hier lag die Bezirk Gera wie in den beiden anderen eigentliche Macht auf Bezirksebene, thüringischen Bezirken häufig von natürlich vor dem Hintergrund zentra- Männern besetzt, die für ihren extrem ler Beschlüsse. Die staatlichen Organe autoritären Führungsstil bekannt wurden darüber hinaus durch die in waren. In der Amtszeit des Ersten ihnen angesiedelten Parteigruppen von SED-Bezirkssekretärs Heinz Glaser innen heraus kontrolliert. (1955 – 1959) hatte eine Brigade des Die Bezirksparteiorganisation Gera Zentralkomitees unter Leitung von der SED zählte im September 1989 fast Erich Honecker und Erich Mücken- 105.000 Mitglieder und Kandidaten, berger nach dem Rechten gesehen. davon waren etwa 19.000 in der Be- Glaser wurde schließlich vor allem we- zirksstadt organisiert, die Anfang bis gen der „Verletzung der Kollektivität“ Infoblatt Gera 14.12.2004 14:44 Uhr Seite 3

bei der Zusammenarbeit mit seinen Amtskollegen aus dem Bezirk Neubran- Sekretariatskollegen von seiner Funk- denburg, Johannes Chemnitzer, der bis tion entbunden. Für die Geschichte des 1963 dem Bezirkssekretariat Gera als Bezirkes Gera bedeutete die Person Sekretär für Landwirtschaft angehört Glasers jedoch nur eine relativ kurze hatte, zählte Ziegenhahn im Herbst Periode. Über zwei Drittel der mehr 1989 mit Abstand zu den dienstältesten als dreieinhalb Jahrzehnte währenden SED-Bezirkschefs der DDR. Die über- Existenz des Bezirkes Gera wurden lange Amtsdauer und ein Hang, sich als nachhaltig durch einen Mann geprägt: Musterschüler der Zentrale darzustel- Herbert Ziegenhahn. Am 14. Februar len, führten zu einem Herrschaftsge- 1963 war Ziegenhahn zum Ersten Sek- baren, das Kritik von Untergegebenen retär der SED-Bezirksleitung Gera ge- immer weniger tolerierte. wählt worden. Zusammen mit seinem Wirtschaftliche Strukturen und Probleme

eine wirtschaftliche Prägung er- Keramische Werke Hermsdorf zum hielt der Bezirk Gera nicht durch VEB Elektronik zusammen gelegt. In Seinen dominanten Wirtschafts- diesem Betrieb sowie im Betriebsteil zweig wie zum Beispiel Halle („Che- Gera des Kombinates VEB Carl Zeiss miebezirk“) und Cottbus („Energiebe- Jena arbeiteten Mitte der Achtziger- zirk“). Bestimmend war vielmehr eine jahre etwa 8.000 Menschen. Die größ- industrielle Vielfalt, wobei es unter den ten Betriebe im Maschinenbau waren verschiedenen Sparten im Verlaufe der der VEB Werkzeugmaschinenfabrik Jahre Verschiebungen gab. Die traditio- UNION Gera und der VEB Textil- nelle Textilindustrie war in ihrer Be- maschinenbau Gera. Als Betriebe der deutung zwar rückläufig, spielte aber Leichtindustrie sind zum Beispiel der noch immer eine wichtige Rolle. Einen VEB Modedruck Gera, der VEB Zwi- besonderen Stellenwert nahmen die ckauer Kammgarnspinnerei, Betriebs- elektronische und optische Industrie teil Gera, und der VEB Thüringer ein. Aber auch die Leichtindustrie, der Teppichfabriken Münchenbernsdorf zu Maschinen- und Fahrzeugbau sowie nennen. Einen großen Einfluss auf die die Land- und Nahrungsgüterwirtschaft Entwicklung der Stadt Gera hatte der waren vertreten. In den Achtzigerjah- Bergbau der Wismut AG, ganz beson- ren hatten sich vier Wirtschaftsräume ders die Ansiedlung von Bergarbeiter- herausgebildet: Gera, Jena, Rudolstadt- familien. Mit Lusan (35.000 Einwoh- Saalfeld-Orlasenke und Greiz-Elster- ner) und Bieblach (17.000 Einwohner) berg-Zeulenroda. entstanden riesige Neubaugebiete. Die Entwicklung der elektrotechni- Jena erfuhr zum Nachteil der Be- schen Betriebe hatte in der Bezirksstadt zirksstadt Gera insbesondere gegen Gera seit Mitte der Sechzigerjahre eine Ende der Ulbricht-Ära eine massive starke Forcierung erfahren. 1977 wur- Förderung. Die Stadt sollte nach dem de der VEB Kondensatorenwerk Gera Willen der Stadtplaner einen radikalen mit dem Betriebsteil Gera des VEB Umbau ihres Zentrums bekommen, Infoblatt Gera 14.12.2004 14:44 Uhr Seite 4

sich als Mittelpunkt des „wissenschaft- Zeiss produzierten 1-Mega-Bit-Speicher- lichen Gerätebaus“ durch die Ansied- schaltkreises übergeben. Das propa- lung technisch-gebildeter Fachkräfte gandistisch herausgestellte Ereignis zu einer „Boom-Town“ entwickeln und verklärte die im internationalen Ver- die Zahl ihrer Einwohner von 84.000 gleich sehr hohen Produktionskosten (1968) auf über 170.000 bis zum Jahr und den geringen Entwicklungsstand 2000 steigern. Allein in den Neu- dieser Technik. baugebieten von Lobeda-West und -Ost Weitere herausragende Betriebe in wohnten Mitte der Achtzigerjahre Jena waren u. a. der VEB Jenapharm, 34.000 Bürger. Die hochfliegenden Plä- ein Zentrum der pharmazeutischen ne, denen beinahe das altehrwürdige Industrie der DDR, sowie, zwischen Collegium Jenense der Friedrich-Schil- Gera und Jena gelegen, das Kombinat ler-Universität zum Opfer gefallen Keramische Werke Hermsdorf, das seit wäre, scheiterten schließlich an den Mitte der Sechzigerjahre zu einem begrenzten materiellen und finanziel- bedeutenden Betrieb der Elektro- len Ressourcen. Zeugnis der Bestre- technik/Elektronik entwickelt wurde. bungen jener Jahre, Jena zu einer Wichtige Großbetriebe in den beiden „Technopolis“ zu entwickeln, ist der zy- anderen oben genannten Wirtschafts- lindrische Hochhausturm der Univer- räumen waren beispielsweise der VEB sität im Zentrum der Stadt. Chemiefaserkombinat Schwarza „Wil- Bedeutendster Betrieb des Bezirkes helm Pieck“ (Kreis Rudolstadt; 6.200 Gera war der VEB Carl Zeiss Jena. Ab Beschäftigte im Stammbetrieb), der 1965 wurde er Leitbetrieb für „wissen- VEB Maxhütte Unterwellenborn (Kreis schaftlichen Gerätebau“/Optik in der Saalfeld; 5.800 Beschäftigte), der Be- DDR und zu einem Kombinat ausge- triebsteil Saalfeld des Kombinates Carl baut. Im Bezirk arbeiteten über ein Zeiss Jena (3.000 Beschäftigte), der Viertel der Beschäftigten des Industrie- VEB Greika Greiz (3.600 Beschäftig- bereiches Elektrotechnik/Elektronik/ te im Stammbetrieb) sowie der VEB Gerätebau in den Betrieben dieses Möbelkombinat Zeulenroda (2.000 Be- Großunternehmens von Weltruf, das schäftigte, alle Angaben Mitte der Acht- eng mit den entsprechenden Sektio- zigerjahre). Der Bezirk Gera war nen der Friedrich-Schiller-Universität darüber hinaus Standort zahlreicher kooperierte. Das Kombinat Carl Zeiss Talsperren, die u. a. der Energiegewin- Jena bildete gemeinsam mit den Kom- nung, der Versorgung mit Brauch- und binaten Mikroelektronik Erfurt und Trinkwasser sowie dem Hochwasser- Robotron Dresden die industrielle Ba- schutz dienten. Zu den größten Bau- sis des Elektronik-Hochtechnologie- werken dieser Art zählten im Bezirk programms der DDR. Der Bezirk Gera Gera die Talsperren Bleiloch und Ho- entwickelte sich zusammen mit den henwarte. Bezirken Erfurt und Suhl (Kombinat Das grob skizzierte wirtschaftliche Technisches Glas ) im Verlaufe Profil des Bezirkes Gera verstellt den der Achtzigerjahre zum Zentrum der Blick auf die ökonomischen Probleme, Mikroelektronikindustrie der DDR so- die jenseits der propagandistisch ge- wie des gesamten RGW. Am 12. Septem- färbten Erfolgsmeldungen gegen Ende ber 1988 wurde dem Generalsekretär der DDR als immer bedrückender emp- des ZK der SED vom Generaldirektor funden wurden: Der unter beständigem des Kombinates VEB Carl Zeiss Jena Zeitdruck vollzogene Bau der riesigen ein erstes Funktionsmuster eines von Trabantenstädte insbesondere in Gera Infoblatt Gera 14.12.2004 14:44 Uhr Seite 5

und Jena führte nicht selten zu Plan- spricht.“ Das Streben nach „harten“ rückständen und einer mangelnden Devisen, der „Ausverkauf der DDR“ Abstimmung zwischen Hoch- und und die übermäßige Konzentration und Tiefbau mit der Folge, dass Wohnungen Zentralisation der Produktion gingen nicht bzw. erst verspätet bezogen wer- zu Lasten von Qualität und Sortiments- den konnten, weil ein Anschluss an vielfalt bei Produkten für die heimische Gas- und Wasserleitungen oder der Bevölkerung. Und der verstärkte Ein- Ausbau einer entsprechenden Infra- satz von Braunkohle verringerte zwar struktur (Wege, Einkaufsmöglichkeiten) die Abhängigkeit von Heizölimporten, mit der eigentlichen Errichtung der rie- führte aber in den Achtzigerjahren zu sigen Wohnblöcke nicht Schritt zu hal- einer dramatischen Verschlechterung ten vermochten. Gleichzeitig verfiel die der Luftqualität. Altbausubstanz. Großangelegte Rekon- Zusammenfassend lässt sich jedoch struktionsmaßnahmen ab Mitte der sagen, dass der Bezirk Gera neben den Siebzigerjahre, in denen sich die Be- Bezirken Erfurt und Suhl sowie Ber- zirke verpflichteten, Bauprojekte in lin(Ost), Rostock und Dresden (Oberes Berlin zu erfüllen, während die Kreis- Elbtal) zu den „Vorzugsregionen“ der städte sich in den betreffenden Bezirks- DDR zählte. In den thüringischen Be- städten engagieren sollten, konnten die zirken waren neue, moderne Indus- Probleme des Verfalls der Innenstädte trien entstanden, die Wohnbedingun- allenfalls punktuell lindern helfen, kei- gen aufgrund eines sehr hohen Anteils neswegs lösen, und die Gemeinden und an privatem Eigentum verhältnismäßig kleineren Städte am unteren Ende die- gut, die Luftqualität im allgemeinen ser Hierarchie waren praktisch auf sich allein gestellt. Einiges Kopfzerbrechen bereitete den Verantwortlichen auch die Herstellung von weltmarktfähigen Produkten, durch deren Verkauf die dringend benötig- ten Devisen beschafft werden sollten, nachdem zu Beginn der Achtzigerjahre die Rohstoffpreise explodierten, die Sow- jetunion ihre Lieferverpflichtungen an Rohstoffen nicht einhielt, und die DDR zusehends am finanziellen Tropf ins- besondere der Bundesrepublik hing. Ein Bericht des SED-Kreissekretariates von Gera-Stadt gelangte zu der ernüch- ternden Feststellung: „Im VEB Wema- UNION wurde bereits in der 2. Hälfte des Jahres 1982 und in den ersten vier Monaten dieses Jahres sichtbar, dass der Betrieb mit seinem herkömmlichen Erzeugnissortiment und seiner techno- logischen Entwicklung nicht mehr den Anforderungen des Planes und beson- ders des Exports in das Nichtsozia- Das Gebäude des Rates des Bezirkes in Gera. listische Wirtschaftsgebiet (NSW) ent- (Foto: Staatsarchiv Rudolstadt) Infoblatt Gera 14.12.2004 14:44 Uhr Seite 6

nicht so schlecht wie in anderen wie kulturelle Lebensumfeld befanden Bezirken, und auch das natürliche so- sich auf einem attraktiven Niveau.

Die „andere Seite“

rotz beständiger Propagierung Fluchtversuchen an der innerdeutschen von Höchstleistungen, die von Grenze auch im Bezirk Gera ereig- Tder Überlegenheit des Sozialis- neten, unternahmen Bürger immer mus zeugen sollten, bewahrten sich wieder waghalsige Anstrengungen, um nicht wenige Bürger einen Blick dafür, ihren Staat für immer zu verlassen. Im dass dieses System eben auch für man- Juli 1979 bauten beispielsweise zwei gelnde Entscheidungsfreiheit, Zwang Familien aus Pößneck einen Ballon. und Unterdrückung stand. (Von den all- Doch ihr erster Fluchtversuch scheiter- täglichen Erfahrungen der Mangelwirt- te: Die Ballonhülle wurde im Grenzbe- schaft ganz zu schweigen.) reich des Kreises Lobenstein entdeckt, Die Abriegelung der DDR gegenüber die Besitzer konnten dagegen von der dem „Westen“ durch die Errichtung Staatssicherheit nicht ermittelt werden. eines stark befestigten Grenzstreifens Ein zweiter Versuch mit einem neuge- im Mai 1952 und die damit verbun- fertigten Ballon führte jedoch nur we- denen Umsiedlungsmaßnahmen und nig später, im September 1979, zum strengen Auflagen für Bewohner im ersehnten Erfolg. Zwei Familien, die im Sperrgebiet sowie schließlich der Bau Jahr 1980 auf dieselbe Weise die DDR der Berliner Mauer im August 1961 ver- verlassen wollten, hatten dagegen kein ursachten unsägliches Leid. Trotz der Glück. Tragödien, die sich bei gescheiterten

Volksaufstand und Umsturz

chwerpunkte des Aufstandes vom der Greizer Straße, das Gefängnis des 17. Juni 1953 waren im Bezirk Staatssicherheitsdienstes in der Am- SGera insbesondere die Bezirks- thorstraße. Der Versuch einer erzürn- stadt sowie Jena. Die Demonstranten ten Menge, die Kreisleitung der Be- wurden tatkräftig durch Arbeiter der zirksstadt ebenfalls in ihre Gewalt zu Wismut aus dem bei Gera gelegenen bringen, scheiterte gerade noch am Ronneburg unterstützt, die mit ihren Eingreifen der Sowjets. In Jena waren schweren Baufahrzeugen in die Un- jedoch das am Holzmarkt gelegene Ge- ruhezentren fuhren. Aufgebrachte Men- bäude der SED-Kreisleitung erstürmt schenmassen legten die Arbeit in den und Akten und Bilder aus den Fenstern Betrieben nieder und belagerten wich- geworfen worden. Auch das Gefängnis tige repräsentative Bauten der Partei- am Steiger wurde im Sturm genom- und Staatsmacht wie den Rat des Bezir- men, und die Häftlinge kamen frei. Ein kes, das Untersuchungsgefängnis in ähnliches Schicksal ereilte die Häuser Infoblatt Gera 14.12.2004 14:44 Uhr Seite 7

der Massenorganisationen und die auf die Stadtbezirksleitungen aus. (...) Kreisdienststelle des MfS. Die Verkün- Wir haben wohl Erste und Zweite digung des Ausnahmezustandes in Ver- Sekretäre, aber keine politischen Lei- bindung mit dem Auffahren sowjeti- ter. (...) Man deklariert, dass die scher Panzer setzten diesen Aktivitäten Stadtbezirksleitungen die Rechte einer ein Ende. Die Staatsmacht schlug un- Kreisleitung haben, aber man hält sich barmherzig zurück und verhängte häu- nicht daran. Unser Parteiapparat ist fig mehrjährige Haftstrafen. Bekannt schwerfällig und bürokratisch, das sind außerdem vier Bürger aus den zeigte sich am 17. Juni und in den fol- Bezirken Erfurt und Gera, die in den genden Tagen.“ Tagen vom 18. bis 20. Juni 1953 stand- Viele führende SED-Funktionäre ge- rechtlich erschossen wurden, darunter hörten bereits einer jungen Generation Alfred Diener, Schlosser aus Jena an. Demgegenüber wurden die alten (erschossen in Weimar), und Herbert Funktionäre, die aktiv gegen den Stauch, Unternehmer aus Rudolstadt Nationalsozialismus gekämpft und für (hingerichtet in Magdeburg). ihre Überzeugungen lange Jahre in Die SED-Parteiorganisation war bei Zuchthaus oder Konzentrationslager den Juniunruhen auch im Bezirk Gera verbracht hatten, fortwährend aus in eine tiefe Krise geraten. Dies zeigt ihren Funktionen verdrängt. Einige der eine Parteiaktivtagung der SED in die- jungen Funktionäre, die an den Schalt- sen Tagen in Gera, in der die Füh- hebeln der Macht saßen, waren mit der rungstätigkeit der Ersten Sekretäre und Ausnahmesituation überfordert. Neh- besonders des Bezirkssekretärs, Otto men wir das Beispiel Jena: Die Kon- Funke, sowie die schwache Stellung der fusion der SED-Kreisleitung Jena wur- Stadtbezirksleitungen heftig kritisiert de insbesondere ihrem Ersten Sekretär, wurden. „Die Bezirksleitung entwarf Gerhard Merx, der daraufhin seiner die Operationspläne von der hohen Funktion enthoben wurde, zur Last Warte aus, Kraft ihres Amtes. (...) Kann gelegt. Auch die SED-Parteiorganisa- der Genosse Funke beweisen, dass er tion der Friedrich-Schiller-Universität schon einmal in Gera in einer Beleg- war von der Entwicklung überrollt schaftsversammlung gesprochen hat, worden, zumal sie sich bereits Anfang dass er an einer Sekretariatssitzung 1953 in einer schweren Führungskrise einer Stadtbezirksleitung teilgenom- befunden hatte. men hat. Genosse Funke ist in Gera so Gelang es im Juni 1953 der Staats- gut wie unbekannt. Ebenso verhält es und Parteiführung der DDR mit Hilfe sich mit weiteren Mitarbeitern der Be- sowjetischer Panzer den Staat in ihrem zirksleitung. Das gleiche gilt auch für Sinne zu stabilisieren, so blieb der Bei- den Ersten Kreissekretär, Genossen stand der Sowjetunion im Herbst 1989 Braun. Er ist wohl hin und wieder in aus. Die stark anschwellende Ausrei- einer Sekretariatssitzung der Stadtbe- sewelle, die Massendemonstrationen, zirksleitung erschienen, aber nur um aber auch tiefe Unzufriedenheit und einen Brief abzugeben, kurze Erklä- Orientierungslosigkeit von SED-Partei- rungen dazu zu machen, um dann nach basis und Funktionärsschicht nötigten fünf Minuten zu sagen, er habe keine die ehemals Mächtigen zum Abtritt von Zeit. Es ist mir auch nicht bekannt, dass der politischen Bühne und setzten der Genosse Braun schon in Beleg- schließlich der Existenz der Deutschen schaftsversammlungen in Gera gespro- Demokratischen Republik ein Ende. chen hat. (...) Diese Arbeit wirkt sich Beispielsweise hatten sich am 4. No- Infoblatt Gera 14.12.2004 14:44 Uhr Seite 8

vember in Jena 40.000 Menschen zu unter den SED-Bezirkschefs, die zum einer friedlichen Protestkundgebung Rücktritt gezwungen wurden. Das versammelt. In der Bezirksparteiorga- große Stühlerücken setzte sich auch nisation Gera der SED waren im Okto- auf Kreisebene fort, so in Stadtroda, ber 1989 gegenüber Dezember 1988 be- Lobenstein, Zeulenroda, Pößneck, Ge- reits über 2.500 Personen aus ihrer ra-Stadt, Saalfeld, Greiz und Gera- Partei ausgetreten, und das war erst der Land, wo in etwa eineinhalb Wochen Anfang, an deren Ende sich zurückge- seit dem 5. November die Ersten SED- gebene Mitgliedsbücher „waschkörbe- Kreissekretäre ausgewechselt wurden. weise“ in den SED-Kreisleitungen sta- Mit dem hohen Wahlsieg der „Allianz pelten. Auch die Gewinnung neuer für Deutschland“ (CDU, DSU, DA) aus Kandidaten für die SED geriet ins Anlass der Volkskammerwahlen am Stocken. Im Oktober 1989 lag die 18. März 1990 und der Wahl einer Parteiorganisation im Bezirk Gera mit demokratisch legitimierten Regierung fast 1.400 Personen hinter ihrer ur- wurden die Weichen zum Beitritt der sprünglichen Zielstellung zurück. Die DDR zum Geltungsbereich der Bundes- Parteiführung reagierte zunächst mit republik Deutschland am 3. Oktober unnachgiebiger Härte auf abweichen- und damit zur „Wiedervereinigung“ ge- de Meinungen. Eine innerparteiliche stellt. Die alten Organe der Staatsmacht Großaktion, der Umtausch der Partei- wurden auch auf Bezirksebene zum dokumente, sollte im Spätsommer und „Auslaufmodell“: Der Bezirkstag Gera Herbst 1989 die SED von schwanken- hatte am 30. Mai zuletzt getagt, und die den Genossen „befreien“. Von De- Räte der Bezirke wurden durch proviso- zember 1988 bis Oktober 1989 waren rische Bezirksverwaltungsbehörden er- aus der Bezirksparteiorganisation Gera setzt. Zum Regierungsbevollmächtig- über 1.250 Personen aus der SED aus- ten für den Bezirk Gera war am 8. Juni geschlossen worden, davon 260 allein vom Ministerpräsidenten der DDR im Oktober. Peter Lindlau bestimmt worden. Am Herbert Ziegenhahn musste bereits 3. Oktober wurde neben , am 2. November 1989 den Chefsessel Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen- seiner Partei im Bezirk Gera räumen – Anhalt und Sachsen das Land Thü- zusammen mit seinem Suhler Amtskol- ringen wieder gegründet. legen, Hans Albrecht, war er der erste Dr. Heinz Mestrup

Einführende Literatur: Best, Heinrich, Heinz Mestrup (Hg): Sehrig, Michael: Die Ersten und Zweiten Sekretäre der SED. Der Bezirk Gera. In: ZfE 40 (1988), Heft 4, Weimar, Jena 2003. S. 119-130. Beger, Katrin: Der Bezirk Gera. In: Best/Mestrup, S. 42-53. Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung Grundmann, Siegfried: Territorialplanung in der DDR. In: Annette THÜRINGEN Becker (Hg.): Regionale Strukturen im Wan- Regierungsstraße 73, 99084 Erfurt del. Opladen 1997, S. 105-148. www.thueringen.de/de/lzt Marek, Dieter: Autor: Dr. Heinz Mestrup, Bezirke statt Länder: Die DDR-Verwaltungs- Historisches Institut, FSU Jena reform 1952. Erfurt 2002. [Thüringen: Blät- Druck: Druckerei Sömmerda GmbH ter zur Landeskunde 24] 2004 (46)