Das Lächeln der Souveränität

Ein Roman von Lothar Voigt

Frankfurt am Main 2008

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Das Lächeln der Souveränität -2- Das Lächeln der Souveränität

Kaiser Bu von Ryô: "Der höchste Sinn der heiligen Wirklichkeit, was ist das?" Meister Bodhidharma: "Klar und leer, keine Heiligkeit."

(nach dem Hekiganroku, China, 12. Jh.)

# Vom Überdruss, Melancholie

Hermann hat sich aufgehängt. Er konnte es wohl nicht mehr ertragen. Das Leben, das „Reali- tät“ genannte, war es, wozu er eine gewaltige Distanz erreicht hatte. Fehlschläge hatten sich gehäuft, vergeigtes Studium, kaputte Liebesbeziehungen in Serie, eine finanziell durchlöcherte künstlerische Existenz zusammengebrochen, die Mutter gestorben. Letzteres ist selbstverständlich ein rein natürlicher Vorgang, war es aber nicht für ihn. Endlos waren die Wendungen und Drehungen um sie, die ständigen Selbstvorwürfe und die Flucht davor, die Flucht vor ihr, und wieder zurück zu all dem. Sein Zentrum der ständigen Umkreisung war plötzlich fort.

Ich kannte ihn schon ewig lange, von der Schulzeit her. So einige Jahre war er älter. Man hat ihn jetzt gefunden. Er baumelte in der heruntergekommenen Wohnung so runter von der Decke. Ich kannte seine Wohnung von einem einmaligen Besuch. Wie Kaugummi klebt die Vorstellung in meinen Hirnwindungen, ich käme zur Tür herein. Zu spät! Er schaukelte sanft am Strang im Wind, die Augen verdreht, die Zunge durch die Lippen gestreckt. So ist das wohl, wenn einem der Strick die Gurgel abschnürt. Ich kann die Zunge fast in mir fühlen, so trocken, spröde und aufgequollen dick zwischen Mund und Lippen.

Es war reiner Zufall. Ich fand die Meldung in der Zeitung, nur kurz, die linke untere Spalte musste noch gefüllt werden. Leicht verschlafen wahllos hatte ich mir beim Lesen Zeit gelassen. Es hieß: Der ehemalige Theaterleiter Hermann B. wurde erhenkt aufgefunden. Seine Bühne war in den letzten Jahren nur noch erfolglos gewesen. Wie die Polizei meldet, war er zudem völlig überschuldet. Sie geht von Selbstmord aus.

Das kann dann kein Zufall gewesen sein. Und wenn schon, wen interessiert es? Pech gehabt im Leben. Halt dumm gelaufen. Vielen geht es doch so. Letztendlich ist doch alles Zufall. Eigentlich ist das menschliche Leben nur ein biologischer Durchlauf, von der Geburt bis zum

Das Lächeln der Souveränität -3- Tod, irgendwie eine veränderliche Aggregation von Zellen. In denen geht das Leben anschließend weiter, Würmer futtern sich durch das faule Fleisch. So wird aus einem Zufall Abfall. Hermanns Körper ist sicherlich völlig kontaminiert. Der hat ein bisschen viel gesoffen, früher auch noch stark geraucht und dann dies Pestizid- und sonstwie verseuchte Essen aus dem Supermarkt.

Atemlos rauschen die Gedanken durch den Kopf. Ich muss ihn mit irgendwas füllen, denn die ansonsten drohende Leere ist qualvoll. Ich hätte Hermann nicht so lange missachten dürfen. Jetzt ist er weg. Hat sich fort gemacht.

Der christlichen Kirche gehörte Hermann sowieso nicht mehr an. Kein Geistlicher wird ihn begleiten. Die Kirche kann ihn als Selbstmörder also auch nicht mehr sanktionieren. Das macht vielleicht zurzeit das Umweltamt, testet den Körper, also diese langsam zerfallende Aggregation als Sondermüll. Ich muss irgendwas tun. So denke ich schreiend. Zitternd entweicht mir die Luft.

# In a yellow submarine

Es regnet. Von oben, von unten, von links und von rechts kommt das Wasser kübelweise auf das Auto zu. Hart erkämpfen die Scheibenwischer eine Art von freiem Blick. Da vorne ist sicherlich die Turmspitze der Liebfrauenkirche zu sehen. Wenn sie es war, dann ist sie sogleich wieder hinter dem Regen verschwunden. Wie in einem U-Boot schippere ich um Frankenberg herum. „Ich wollt’ ich wär’ – unter dem Meer.“

Gegen die Düsternis stimme ich ein Liedchen an. Damals hätte ich sehr gerne mit Kathrin darauf getanzt, in ihrem Octopussy Garten gewildert gar. Sie hielt das Ziel meiner Sehnsucht besetzt. In einem gelben Unterseeboot befinden sich alle alten Freunde, und durch den blauen Himmel und die grüne See geht es ab.

Allmählich kann sich der Blick wieder weiten, er erstreckt sich in das Edertal. Das ist so grün, so tiefgrün, dunkelgrün. Der Regen hat aufgehört, aber finster ist es geblieben. Tiefdunkelblaue Wolken hängen über uns herum und tauchen alles in ein düsteres Licht.

Das Lächeln der Souveränität -4- Warm ist es immer noch, schwül eher. Neuer Regen kündigt sich an. Doch einstweilen ist der Blick geweitet.

Er erfasst die Eder. Die kenne ich. Die glaube ich zu kennen. Sie muss es sein, der ich sooft im Traum begegne. An ihrem Ufer weile ich, ziehe aufwärts den schweigenden Fluss. Sanft geleitet er mich durch das Tal. Dort drüben stehen Bäume an seinem Ufer. Ganz gemach pendelt im Geäst ein Mensch, eine Leiche, hin und her. Hermann! Wie ein Blitz zuckt es durch meinen Kopf.

Es stürzt auf mich zu, das überholende Auto, und recht knapp an mir vorbei. Es ist viel Verkehr auf der Straße, vor allem von vorn. Mit voller Wucht hat mich die Nachricht von Hermann erwischt. Aber ich habe ihn seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Was konnte ich da schon machen? Ich wollte ihn doch gar nicht sehen. So lautet meine Antwort auf meine mir selbst gestellte Frage. Allerdings ein deftiger Vorwurf gegen mich selbst zugleich.

Der Schlingerkurs des gelben, geschlossenen Gefährts beruhigt sich allmählich wieder. Entlastend wirkt der stille Fluss, von ihm kommt die sanfte Stimme Hermanns her, kriecht direkt in mein Ohr: „Alles was ist, ist nur dadurch, dass es auch nicht ist, das heißt dadurch, dass es wird oder vergeht. Im Werden ist Sein und Nichtsein, ebenso im Vergehen.“ Er rezitierte die Sätze damals. Aber von wem waren die bloß? Mein Nachdenken dauert nur kurz. Gedankensplitter zischen wieder durch den Kopf, Granatensplitter.

Ich kreuze die Eder auf einer festen Brücke. Rechts glitzert der See. An seinem Rand liegt Asel-Süd. Dorthin eilt mein Blick mir weit voraus, der Strand gerät in den Fokus. Der Augenradar surft gar durch die Tiefen der Zeit und erfasst einige zottelige Typen. Sie haben sich dort nach versoffener Nacht versammelt, Pfingsten, um 1970. Aus den Büschen kommen sie gekrabbelt, ungewaschen und verschnarcht, angespültes Strandgut. Um die verglühenden und auch schon verkohlten Scheite des vorigen Lagerfeuers versammeln sich die alten Freunde erneut.

Hermann erzählt schon wieder seine lustigen Geschichten in Waldecker Platt, von dem alten Bauern Fritz Sude aus Nordenbeck, der nach dem dritten Körnchen völlig ausgelassen wird. Besonders über seinen Bruder kann er dann bös herziehen. Der ist erfolgreich nach Amerika

Das Lächeln der Souveränität -5- emigriert. Sudes Emotionaltumulte wirken treuselig bis einfältig. Er nimmt einen kräftigen Schluck vom Weizenbrand, und am Lagerfeuer wird gequiekt.

Alle lachen. Hermann zieht die Mundwinkel nach oben und schelmisch die Augen zusammen. Mit seinem schauspielerischen Talent hält er die ganze Truppe im Griff. Mit seinen Beinen haut er an glühende Scheite, die einen tief fliegenden Schwarm von sanft leuchtenden Funken von sich geben. Mit amerikanischem Slang antwortet Bruder Bill, ein Glas Whiskey in der Hand, „proust“. Er stößt an auf seinen Erfolg im neuen Land, hat seinen Sieg errungen und bedauert hämisch den armen Fritz. Alle schauen nun gebannt auf Hermann. Gnadenlos blickt der drein, wie der Bill im fernen Amerika.

Hart war die Nacht zuvor. Aus großen Lautsprecherboxen dröhnte die Forderung zum „Break on through to the other side“. Fuchs und Has liefen aufgescheucht in alle Richtungen, „break on through“. Wo bitte geht es zu die other side? Bier und Schnaps rannen durch durstige Kehlen. Tanzartig zappelten einige Körper bei den Lautsprecherboxen, schoben die Fäuste, Flaschen umklammernd, trotzig in die zitternde Waldluft hinein, yeah. „We chased our pleasures here - Dug our treasures there.” Hin und her, wir schrieen, aufgelöst, “eyes that lie”.

Beruhigend antörnendes Räucherwerk umkreiste das offene Feuer. Mit Pink Floyd wurde um mehr Licht gebeten. Gebeten wurde um größeren Durchblick allemal im eigenen Kopf, verstellt durch flutschig ungriffige Blockademauern. Glitschig blieb die Welt drumherum, die eigene Sprache erreichte sie nicht immer. Ein pfingstlich züngelndes Feuer des erkennenden Geistes wollte auch diesmal die Wildnis im Kopf nicht lichten.

Lichten? Na schön. Aber wo denn bloß? Und gar wozu? Also erzählten wir uns schöne und lustige Geschichten, um die Zeit zu überbrücken. „As we live a life of ease, in a yellow submarine“, um uns herum das bergende Meer. Die everlasting beatitude, die ewige Glückseligkeit, wir wussten um unser Recht auf diese. Nicht erst im fernen Himmel!

Die Enttäuschung nachfühlend zoomt sich der Blick weiter durch die Tiefe. Hindurch durch die bodennahen Haschischschwaden. Resigniert verlässt er die Szene. Landspitzen durchquert er wie ein Radar und erhebt sich auf die Ederhöhen, erhebt sich in den Kellerwald. Dorthin, wo sich eine biologische Zukunft abspielt, ein Urwald wuchert. In dem Naturschutzpark gedeiht eine noch umhegte Wildnis.

Das Lächeln der Souveränität -6-

Eher ein Modell der Wildnis, um zu sehen, wie sich die gesamte Region hier entwickelt, wenn die Menschen fort sind. Irgendwelche Demographen haben längst den Schwund an Menschen berechnet. Einer nach dem anderen wird sich verziehen, hin in einer Völkerwanderung.

Die in Renntierfelle gekleideten Verbliebenen werden jagend die Wälder durchstreifen und ihre Höhlen pflegen, die allein noch Schutz und ein sicheres Obdach bieten. Sie müssen sich ihr Bleiberecht gegen die wilden Tiere erkämpfen. Eine lebensbedrohliche Wildnis wird sich entwickeln, einfach so, völlig plan- und ziellos, so brutal und gnadenlos zufällig. Schnell kann es einen treffen. Schneller muss allzeit man sein. Abtauchen hilft davor kaum.

# Homeward Bound : The Boxer

Vorläufig bin ich auf der Ederbrücke. Aus den Untiefen von Zeit und Raum schnurrt der geistige Blick zurück. Verdammte Kälte zieht mit ihm ein. Bleiern lastet die völlig windstille Luft obenauf. Doch muss es weitergehen. Brücken verbinden. Sie bilden einen Übergang, häufig hochsymbolisch geladen als Übergang über Untiefen, über gefährliche Wildwasser hinweg.

Aber das ist doch alles kalter Kaffee, ausgeluscht. Auch diese Friedenssymbolik dahinter, so etwas wie die Brücke von Mostar. Brücken sind doch lediglich Element einer Trassenführung. Sicherlich ein teures Element. Aber dafür bemerkt man häufig nicht einmal, dass man über eine Brücke fährt. Vorläufig läuft das Straßenband eben recht gleichmäßig dahin, schön plan und mit ganz sanften Kurven, so wie es das Leben eigentlich sein sollte. Hohe Wände verstellen einem den Blick auf die benachbarten Wüsten und morastigen Sümpfe.

Zurzeit ist „Brücke“ kein größeres Thema, dahinter ist alles ähnlich wie davor. Aber Hermann, ob seine Hängebrücke gehalten hat? Schon wieder sind die getriebenen Gedanken auf wilder Jagd.

Durch den nächsten Ort geht die unbändige Hast. Herzhausen, leicht mediterran durch seine Wasserlage wirkend, doch allein die Kälte zieht mit. Flott geht es die ausgebaute Straße durch

Das Lächeln der Souveränität -7- das Ittertal hoch. Sie zielt auf den Unterleib des Hundes, mit dessen Form das Waldecker Land oft verglichen wurde, auf baumelndes Gemächte.

Der Ausbau der spritzigen Straße liegt noch nicht so lang zurück. Aber trotz der Straßenbreite ist das Tal immer noch eng geblieben. Früher führte gar noch eine aktive Bahnstrecke hindurch, über die die Waldecker in Richtung Süden verschwinden konnten.

Heute tut sich auf den Schienen rein gar nichts mehr. Einige Meter weiter überwuchern bereits grüne Pflanzen den Damm. Respektlos ignoriert Natur hier schon des Menschen Werk. Ich aber kann immer noch den dreckig roten Schienenbus sehen, der hier die asphaltierte Straße gen Marburg kreuzte. Hermann saß häufig darin, fast schwebend in einer Bahn, die ihn gleichfalls an kein Ziel führte. Dennoch, sein Lächeln glänzt durch eine schmutzig hellbraune Scheibe hindurch.

Aber auch schon Jahrhunderte davor verließen Waldecker ihr Land. Solche zum Beispiel, die das Korbacher Gymnasium absolviert hatten, nahmen diesen Weg durch das Ittertal, spätere Gelehrte, die fuhren wohl mit einer Kutsche zum Studieren nach Marburg. Wer richtigen Erfolg haben wollte, der musste fort. But I am just a poor boy and my storys seldom told.

Andere gingen auch, gingen Wege nach Westen. Dort liegt das Ruhrgebiet. In Dortmund und Hagen ließen sich die Auswanderer nieder, auch in Wuppertal. Hier lebten bald mehr Waldecker als in Korbach.

Sie trieb der Hunger fort. Das Waldecker Land konnte sie nicht nähren, denn der Boden ist vielerorts nicht so fruchtbar. Sie zogen fort mit ihrem Gepäck, mit Rucksack, Koffer, Beutel. So beladen marschierten sie kilometerweit, 15 Kilometer von Neukirchen nach Hallenberg im Sauerland. Dort gab es einen Bahnhof, und der erlaubte den Einstieg zur Fahrt in das gelobte Land der Zechen und Kohleöfen.

Viele Tanten und Onkels gab es im Westen. Gerne besuchten sie die alte Heimat, mit gefüllten Koffern, aus denen sie Geschenke verteilten. Die Tanten Meta und Marie, die Onkels Walter und Reinhard kamen und zeigten den errungenen Wohlstand. Süßigkeiten gab es für mich. Schon wieder rase ich.

Das Lächeln der Souveränität -8- Meine Eltern wohnten im Hinterbein des Hundes, und dort setzten auch die Wehen meiner Mutter ein, kurz bevor es mich auf Erden gab. Im ersten Auto des Dorfes wurde sie nach Frankenberg chauffiert.

Dort, am Ederberghang stieß ich ins Gefilde des Lichts, vermutlich mit wimmernden Klagen. Hoch stand der Berg gegenüber, gar die himmelwärts strebende Kirche dort. Die weit nach hoch oben reichende Turmspitze begrüßte mich, glänzte kalt im morgendlichen Sonnenlicht. Verlockender glitzerte von unten aus dem Tal herauf die Eder. Sie linderte die Schmerzen der Geburt.

Wie eine Schlucht im Gebirge nimmt sich das Ittertal aus, richtig eng. Doch dann ist es Schluss mit der Steigung. Als führe ich glatt durch die Wolken hindurch, so stehe ich plötzlich darüber. Aufgetaucht bin ich. Ich stehe kurz vor dem Eintritt in das Waldecker Land. Hier scheint die Sonne! Das ist kaum zu fassen. Sonst ist es eher umgekehrt, hier oben kalt und feucht und weiter unten eher mild und sonnig. Waldeck liegt hoch, ist hart am Rand des Sauerlands positioniert.

Aus dem kühlen Kopf des Hundes schied vor langer Zeit ein junger Herr gen Frankfurt an den Main. Dort erwarb er einen Gasthof mit dem Namen „Zum Rebstock“. Undenkbar in den kalten Waldecker Gefilden. Und er zeugte auch noch Kinder, die kämpferisch gegen Unterdrückung rebellierten. Ein Sohn war dabei, der zum Nationaldichter der Stadt gedieh, ein ruhmreicher Mann, ein Kämpfer für Freiheit, und dabei erfolgreich, äußerst beliebt bei den Menschen. Ein faszinierender Mann, der hatte tatsächlich viel erreicht.

Aus dem verregneten Tief heraus steuere ich Korbach an. Der markante Turm der Kilianskirche grüßt mich von weitem. Eine rote Ampel fordert zur stillen Einkehr. Doch machen sich die Augen wieder selbständig. Der Blick schwebt vorbei an einem neuen, kantigen Supermarkt, erwählt sich dahinter ein Häuschen.

Darin lebte einst Kathrin, das Mädchen mit dem schönen Gesicht, den schwarzen Haaren, geschnitten wie bei France Gall, und mit tiefdunklen Augen. Ich betete sie an, heimlich. Vor das Haus begab ich mich just in fever und im Dunkel des Abends. Ich erhoffte gar inbrünstig einen Blick von ihr zu erhaschen. Die Fenster waren erleuchtet.

Das Lächeln der Souveränität -9- Keine großen Chancen von ihr je erhört zu werden, rechnete ich mir trotz allen Wünschen aus. Da gab es nämlich einen übermächtigen Konkurrenten, der war schon irgendwie an ihr dran. Zudem war er älter als ich und sah auch noch aus wie Alain Delon. Meine Sucht des Sehnens dankte ab und suchte sich bald neue Ziele.

Warum ich wohl bloß in diese dämliche Vergeblichkeit glotzte?

Beendet ist die Andacht vor der Ampel. Von der südlichen Ringstraße her kann man sehen, dass Korbach wächst. Links von der Straße entstand ein Neubaugebiet und rechts davon auch. Das rechte wird von einem wachsenden Wall geschützt, vermutlich nicht nur vor Lärm, sondern auch vor ärgerlichen Blicken. Hier leben Russlanddeutsche, die sich mit sehr günstigen Baukrediten ansiedeln konnten. Und dann haben sich die großen Familien aus dem wilden Osten auch noch eine schützende Bedachung aus so schön bunten Ziegeln verschafft. Die feiern wahrscheinlich mit Wodka gar lustig darunter. Das stinkt den Eingeborenen.

Eine Umleitung zwingt mich, auf indirektem Weg zu meinem Ziel zu fahren. Er führt mich vorbei an dem Haus, in dem der begnadete Hermann einst lebte. Es ist aus Stein gemauert, einem hier üblichen Kalzitgestein, das dem Haus einen markanten Eindruck verleiht. Hier hat zum Schluss seine Mutter gelebt, allein in dem prächtigen Haus.

Doch immer wieder besuchte Hermann sie, um sich die Vorwürfe einzuholen, dass er sich überhaupt nicht um sie kümmere. Von Schuld geplagt waren seine Vorwürfe gegen sich selber, zernagend, zerfressend. Sein Ich musste rundum zerbissen sein, mit ausfransenden Rändern ringsum. Das muss ich vermuten. Obwohl, man sah davon nichts bei dem Kerl, ganz im Gegenteil. Das Haus ist zumindest massiv, respektgebietend. Jetzt ist es zu verkaufen.

Nie bin ich in dem solide wirkenden Bau drin gewesen, stand immer nur gefügig vor der Eingangstür. Hermann sagte dann „Ich komme gleich“ oder „ich hole es dir gerade“. Durch die Tür sah ich allein die geschwungene Treppe nach oben. Faszinierend! Sie führte sicherlich in ein erfülltes Reich, sakrosankt für mich.

Auch die Mutter habe ich nie gesehen, wusste nie, wie krank sie wirklich war. Dass sie litt, das musste mir als Auskunft langen. Ich hätte ihn wahrlich befragen sollen. Aber ich hätte ihm wohl kaum helfen können. Ich hätte, hätte, hätte.

Das Lächeln der Souveränität -10-

Bescheuerterweise macht mich dieser Bau auch heute noch innerlich vibrieren. Demgegenüber war seine Wohnung in Frankfurt klein. Wie der große Kerl sich bloß an der eher niedrigen Decke hat aufknüpfen können? Eigentlich ist die Fallhöhe doch zu gering, um das finale Knacken in den Halswirbeln zu bewirken. Aber Hermann beherrschte schon immer die Kunst der gelungenen Inszenierung.

Nebenan, also sogleich um die Ecke, erwarb ich mir die Fahrkarte zum Wegfahren. Dort habe ich den Führerschein erlangt. Nur weg von hier. Schnell weg aus dem nebligen Kleinstadtmief. Ab durch das Ittertal. When I left my home and my family, I was no more than a boy. Und nun rolle ich fort, zurück, wieder hinein in die Kleinstadt.

Weiter vorn liegt die Louis-Peter-Straße, eine Straße, benannt nach einem, der sich wahrlich zu einem Vorbild eignet. Ein Waldecker Emigrant, voller Kraft und Begabung. Damit ging er im 19. Jahrhunderts nach Frankfurt in den Süden. Und er nutzte seine Qualitäten. Sein Aufstieg war nicht mehr zu stoppen. Er gründete eine Gummiwarenfabrik und vergaß nie sein Waldecker Heimatland. Er tat Gutes dafür und gründete eine Niederlassung seines Werkes in Korbach. Das war für die Landeshauptstadt ein mehr als hundert Jahre währender Glücksfall.

Ich biege ein zu meinem Ziel. Kann es schon fast sehen. Dagegen ich, ich habe so einen rechten Erfolg nie so recht gesehen. Zu mächtig und undurchdringlich war zumeist der Nebel drumherum, um irgendwas wie Lebensziel. Gleichfalls habe ich rein garnichts zu bieten. Now the years are rolling by me, they are rockin even me.

Trotz aller revolutionär inspirierten Kämpfe gegen irgendwie geartete Formen der reaktionären Unterdrückung, wollte sich kein rechter Erfolg einstellen. Auch hält die Beliebtheit sich in Grenzen. Abertausende hatten sich hinter dem Sarg des ruhmreichen Stoltze versammelt. Sie begleiteten ihn zur letzten Ruhe. Aufgekratzt hetze ich indessen immer noch herum, um Anerkennung buhlend, um eine Arbeit bettelnd. I come lookin for a job, but I get no offers.

Mit einer Wundertüte kann ich schon gar nicht aufwarten, aus der ich eine Werksgründung in Korbach hätte zaubern können. Und wenn es auch nur eine solche im Nanobereich wäre.

Das Lächeln der Souveränität -11- Nicht einmal einen Koffer voller Süßigkeiten und sonstigen kleinen Präsenten habe ich als Ergebnis meiner Emigration im Gepäck. Beatific in keinster Weise, eher beaten.

Nackt komme ich von meiner Lebensreise zurück. Es ist wie im Traum. Ich habe keine Schuhe an, bin barfuß. Ich wage nicht an mir herunter zu schauen, sonst fällt es gar noch anderen auf. Ich glaube sogar, ich habe keine Hose an. Ich muss einfach weitergehen. In der Verrechnungsstelle des Lebens steht the boxer, und der ist wahrlich kein Zimperlicher, ein unerbittliches Raubein.

Meine Mutter empfängt mich herzlich. „Schön, dass du da bist.“ Sie hat den Tisch schon gedeckt. Sie kennt meine Gelüste auf Waldecker Wurstwaren und hat dazu noch eine ihrer unnachahmlichen Rouladen gestellt. Es gibt Reste von ihrem Geburtstag vor wenigen Tagen. Zu derartigen Gelegenheiten versammeln sich immer viele Verwandte, ob von fern ob nah. Sie schätzen alle meine Mutter sehr und genießen gerne ihre Küche. Prächtige Blumensträuße stehen herum.

Gar langsam kommt mein alter Herr die Treppe hoch. Ihm fällt das Steigen schwerer und schwerer. Er hat es geschafft, drückt den gebeugten Körper aufrecht und umarmt mich. „Na Bernd, ja gut angekommen. Das ist schön.“ Wir lassen uns zum Abendessen nieder, kräftig duftet der Tee, Pfefferminze, Eigenanbau aus dem Garten.

Wir reden über das Geburtstagsfest. An solchen Tagen ist das Haus offen. Von morgens bis abends kommen die Gäste. Sie kommen aus der Nachbarschaft und der lokalen Bekanntschaft, sie kommen angereist aus Sachsen- und Frankenberg und Kassel, aus Greifswald und Brandenburg, Dortmund, Hagen und Wuppertal. Es herrscht ein Kommen und Gehen. Weit verstreut sind sie über das Land, all die diversen Tante und Onkel genannten Menschen, und freuen sich, sich hier zu treffen.

Es ist ein noch festes Netzwerk, das sie zusammenhält, einfach das bloße Band der nahen und ferneren Verwandtschaft. Auch aus der Ferne wird verfolgt, wie sich die anderen entwickeln. Was machen die Berufe, die Eigenheime, die Gesundheit und wann kommt die Rente? Sie verfolgen sich über die Zeit mit ihren aufmerksamen Blicken, über das gesamte Lebensalter hinweg. Die dörfliche Nähe wird aus der Distanz zurückgeholt. Das war mir früher alles viel zu eng.

Das Lächeln der Souveränität -12-

Haben sie Kinder bekommen? Vielleicht gar schon Enkel? Mir wird mulmig. Bei diesem Thema, spüre ich sogleich die stillen Vorwürfe. Zur Fortsetzung der eigenen Familienlinie habe ich rein garnichts beigetragen.

Weiter nach Westen musste der Berater gehen und lebt jetzt in Düsseldorf. Das ist das momentan offene Thema unseres Gesprächs. Jedoch hat sich darunter schon eine Ebene starker Spannung aufgebaut. Ich bemerke es am Mahlen des Gebiss meines Vaters. Langsam und kräftig bewegen sich die Kiefer hin und her. Angestrengt starrt er auf das vor ihm liegende Brot. Kurz schaut er auf, mich an. Gequält fällt sein Blick zurück auf den Teller.

Jetzt, gleich muss es kommen. Er ergreift das Messer, peilt kurz die vor ihm stehende Butter an, und im zuerst noch sanften Bogen schiebt sich die Hand samt Messer in die Luft. Jäh steht sie dort. „Guck’ mal, das hättest Du doch auch gekonnt. Was hat Dir denn all diese Studiererei gebracht? Gar nichts. Gar nichts hast Du daraus gemacht.“ Aufgeregt stochert er mit dem Messer in der Luft herum. Die Mutter fragt ihn, ob er noch Tee möchte und hat die Kanne schon im Griff. Ein kurzer, irritierter Blick von ihm und seine Hand bewegt sich zurück auf den Tisch.

Sie beherrscht diese spannungsabbauenden Techniken perfekt. Sie lernte sie, weil sie sich zur Vermittlung gedrängt fühlte. Hitzige Söhne und ein hitziger Vater, da hat es sehr oft gekracht. Wilde Kämpfe folgten mit Brüllen, Schreien, wildem Fuchteln mit den Extremitäten. Diese Qualitäten der Mutter sind schlicht phänomenal. Sie beherrschte das Thema „Deeskalation“ schon lange, bevor es den Begriff gab.

Ich selber bin nach all den Jahren von mir aus sehr ruhig geworden, habe mir dieses Hitzigwerden langsam abgewöhnt. Früher wäre ich sofort in die Wortkeilerei eingestiegen. Jetzt schaue ich ihn freundlich an. Etwas resigniert fällt sein Blick wieder auf den Teller. „Na ja, was soll’s.“ Er tut mir nun leid. Ich kann ihn sogar verstehen. Das ist irritierend. Aber was hilft’s? I am leaving, I am leaving, but the fighter still remains.

Am folgenden Morgen müssen wir früh aufstehen. Vater muss nach Göttingen, zu einer ärztlichen Nachuntersuchung. Er ist dort nämlich an der Wirbelsäule operiert worden, das vierte Mal. Er fühlt sich noch zu unsicher zum selber Fahren. Auf dem Weg müssen wir durch

Das Lächeln der Souveränität -13- die Innenstadt, wo das sogenannte Hochhaus steht. Es ist gerade mal acht Stockwerke hoch, doch ist das schon viel für das Städtchen. Gelb gestrichen ist es jetzt und war früher verwaschen weißgrau. Reichlich seltsam sieht das Spitzdach aus, das sie ihm neuerdings verpasst haben. Damals lebte Rudi darin.

„Was macht eigentlich dieser Rudi.“ Vater schaut nach links auf das Haus im frischen Gelb. „Der war doch auch bei Euren Kellergeistern.“ Der alte Herr macht jetzt auf scherzhaft-lustig. Er spricht von unserer revolutionären Kellergruppe, die sich RK nannte und aus Schülern bestand. Bis vor dem Abitur trafen wir uns im Keller meiner Eltern. Wir wollten uns dort theoretisch für die Revolution rüsten.

Wir lasen Amendts „Sexfront“, was spannender war als irgendwelche Texte zu einer marxistischen Bildungsökonomie. Darüber hinaus bestanden Kontakte zu einer chinesischen Propagandafirma. Von der bezogen wir die Mao-Bibel, ein Bändchen im Westentaschenformat und mit einem praktisch abwaschbaren, roten Plastikeinband versehen.

Lin Biao forderte uns darin noch selber auf, Maos Worte zu studieren und auf sie zu hören. Doch schon wurde er als Verräter enttarnt, gestürzt und zu Tode gehetzt. Wahrlich nichts Sicheres gab es auf der Welt. Immerhin gab es auch diese phantastischen Mao-Broschen. In einem revolutionär glänzenden Rotton gehalten und einem gold glänzenden Mao in der Mitte, steckten wir sie an unsere Parkas. Damit ging unsere Kellergruppe ans Licht und schockierte die Korbacher Bürger.

Wir guckten allerdings auch in theoretisch anspruchsvollere Werke wie „Lohnarbeit und Kapital“ oder Lenins „Was tun?“. Das stammte allesamt von diesem Verlag für fremdsprachige Literatur aus Peking. Aber die hiesigen Genossen hatten zumeist keinen Bock auf Bildung und um sie bei Laune zu halten, holte ich mein Grundig Tonbandgerät. Wir hörten dann die Radiomitschnitte von Jethro Tull, Eric Burdon und den Beatles und lasen Fritz the Cat. Anschließend befreiten wir gefangene Karnickel aus den Bretterverliesen von reaktionären Kleingärtnern.

Vater grinst. Seine scherzhafte Tonart ist mir verdächtig. Ich vermute schon wieder hitzige Gluten darunter, bin mir aber nicht so ganz sicher. Die Mutter hilft vom Rücksitz her. „Ach Vater, wie sollen wir das mit Rudi denn wissen. Die ganze Familie von ihm ist doch nach

Das Lächeln der Souveränität -14- Amerika gegangen.“ Vater sagt nichts mehr, Mutter hat die Situation wieder gerettet. Obwohl, mit ihrer Bemerkung hat sie nicht so ganz recht, denn die Familie ist zwar nach Amerika ausgewandert, aber Rudi lebt in Frankfurt. Er hat dort eine Stelle beim Kulturamt der Stadt. Das hätte der alte Herr mir jetzt gerne entgegengehalten, denke ich mir. Ich konzentriere mich mal lieber auf den Verkehr.

Wir fahren in Richtung Kassel. Ich genieße schweigend die Landschaft, die Äcker, Wiesen und Wälder, die Täler und die Höhen des Waldecker Landes im frühen Sonnenschein. Das wirkt entspannend angesichts von diesen hintergründig schwelenden, fix eruptiven Bedrohungen auf dem Nebensitz. Auf der Autobahn geht es um Kassel herum und dann nach Norden. Recht hoch sind die Berge hier, und steil ist die Trasse der Autobahn. „Pass auf, hier wird geblitzt, verrät Vater mir.

„Hat Hermann nicht auch mal in Göttingen studiert?“ Nun ist er wieder zutiefst mit meiner Vergangenheit beschäftigt. Geschichte und Germanistik hat er tatsächlich in Göttingen studiert. Zwischendurch kam er immer wieder nach Korbach, kam zu uns in die Kellergruppe. Bewegende Auftritte hat er uns gegeben, mit Bertolt Brecht, das war sein großer Star.

Hermann spielte „Im Dickicht der Städte“, im Alleingang, zumindest den Anfang. Er beherrschte zwei Rollen, auch noch die dritte. Bei der vierten, dem Auftritt des Wurms, wurde es schwierig. „Das sind also Bücher? Ein schmieriges Geschäft! Wozu gibt es das? Es gibt genug Lügen.“ Dann wurde es dunkel mit seiner Erinnerung. Ich hingegen ließ mir meine Liebe zu Büchern nicht nehmen. Kräftig war der Beifall für Hermann, und dann gab es Lambrusco aus der Zweiliterflasche von Aldi.

Vater will wissen, was Hermann jetzt macht. Es hat sich also noch nicht herumgesprochen. Ich zögere mit meiner Antwort. Es ist irgendwie absurd. Hermanns tragisches Ende verschafft mir jetzt Entlastung vor den biographischen Vergleichsreihen meines alten Herrn. „Benchmarking“ sagt man wohl jetzt dazu. Aus Hermann ist gar nichts geworden. „Er hat sich aufgehängt.“ Das hat er nun davon. Ich jage das Auto die abschüssige Strecke ins Werratal herab, nur weg. Die Doppelwertigkeit meiner Aussage macht mir zu schaffen. Bedrücktes Schweigen herrscht im Innenraum. The fighter still remains.

Das Lächeln der Souveränität -15- Im Niedersächsischen angelangt bricht meine Mutter die betrübte Stimmung auf. Sie weiß, dass Hermanns Mutter vor kurzem gestorben ist. Sie spricht die Vermutung aus, dass da wohl ein Zusammenhang besteht. Sie weigerte sich, ins Altenpflegeheim zu gehen, verlangte immer nach ihrem Sohn. „Die hat ihm mit ihren ewigen Vorwürfen richtige Schuldkomplexe eingepflanzt.“ Meine Mutter kennt die Begriffe mittlerweile.

Mein Vater schaut mich irritiert an und sagt dann, dass er sich freue, dass ich ihn nach Göttingen fahre. Jetzt erzählt er von seiner Operation, ein erneuter Bandscheibenvorfall wurde behoben. Die medizinische Technik ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass er lediglich eine Nacht, die nach der Operation, im Krankenhaus verbringen musste.

Er muss heute zu einer Nachuntersuchung. Alles wird noch einmal genau betrachtet, geprüft, und beklopft. Er kommt auch in die Röhre. Ein Computertomograph durchleuchtet sein Innenleben. Derweil gehe ich mit meiner Mutter einen Kaffee trinken.

Sie eröffnet mir, dass sie selber nicht an einen Zusammenhang von Hermanns Freitod mit dem Tod seiner Mutter glaubt. Im Auto hatte sie das bloß aus strategischen Gründen eingebracht, um dem Vater den heftig wirbelnden Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie sagt mir, dass sie kürzlichst Sigrid in der Korbacher Fußgängerzone getroffen habe. „Die hatte doch was mit dem Hermann.“

Ich verschlucke mich an dem, dem Kaffee beigelegten Keks, huste. Das ist mir völlig neu. Dieser Sachverhalt spult sich nochmals in meinem Kopf ab, jedoch ohne seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen. „Wusstest Du das denn nicht?“ Ich bin perplex. Die beiden waren doch so verschieden, Sigrid wusste immer sehr genau, was sie wollte. Na ja, vielleicht wusste sie es auch da. Ich weiß es nicht. Es ist nur mein Gefühl, das sich widersträubend verhält.

„Das ging doch über mehrere Jahre, vielleicht mit Unterbrechungen, aber so lange doch.“ Mit der Bemerkung steigert sie meine Perplexität. Auch noch so lange, das passte schon gar nicht zu Hermann. Er hatte sich in der Regel schnell in den Haaren mit seinen Geliebten, richtig tief und grundsätzlich. Mein Bild von ihm gerät ins Wanken.

Das Lächeln der Souveränität -16- „Ist er nicht auch der Vater von ihrem Sohn?“ Jetzt fangen meine Augen an zu flattern. Doch kann ich diese Meldung nicht mehr verdauen, denn mein Vater kommt gutgelaunt aus der Praxis, den Krückstock fest in der Hand.

Während der Heimkehr beschwert er sich über seine Krankenkasse, die nicht einmal mehr die Fahrten zu den Routineuntersuchungen bezahlt. „Früher mussten die doch für solche Operationen ungleich mehr bezahlen. Da lag ich doch wochenlang in den Kliniken.“ Wir umrunden Kassel, umfahren die Orthopädische Klinik in Wilhelmshöhe, wo er lange, lange lag, niedergestreckt.

Ich erinnere mich an dieses weiße Bett mit all seinen Aufbauten für Infusionen und entlastende Gewichte. Das Rückenteil war schräg gestellt und lächelnd empfing er uns. Doch wechselte das Lächeln häufig mit einem gequälten und leidenden Blick. Niedergeschlagen und mit Verletzungen war er dem Krieg entkommen und jetzt hatte ihn das Ringen um das Wirtschaftswunder flach auf die Matte gehauen. Und ich, ich stand einfach so da, daneben. Aber ich konnte doch nichts dafür, eigentlich garnichts.

Grundlegend war hingegen seine Hoffnung, all das zu überwinden. Aufgaben warteten auf ihn, das Eigenheim musste bezahlt werden und die Familie wartete auf die Komplettierung durch ihn. Derweil besorgte meine Mutter den weiteren Ausbau des Hauses, versorgte die Kinder und regelte die wöchentlichen Krankenhausbesuche in Kassel. Befreundete Menschen mit Autos boten sich an. Das Netzwerk hielt.

# Downtown

Zurück in Korbach fahre ich mit meiner Mutter in die Innenstadt, irgendein orthopädisches Teilchen müssen wir besorgen. Anschließend laufen wir noch durch die Bahnhofstraße.

Das war einst die Promeniermeile für uns jungen Leute, am oberen Ende der Eissalon Cortina und unten eine Frittenbude. Kathrin, Margret, Heike und Conny, die gesamte Mädchengang holte dort die Frittentüten mit Ketchup oder Mayonnaise und stiefelte kauend und schwatzend nach oben.

Das Lächeln der Souveränität -17- Nicht im Autoradio lief die passende Musik, sondern im Kopf. Dort hörte ich auf der anderen Straßenseite die prickelnden Großstadtmelodien wie „Downtown“. Im Radio zuhause war eher Heintje zu hören. Den konnte ich nicht ab.

In der Bahnhofstraße ist nichts mehr wie es einst war. Den ehemaligen Standort der Frittenbude kann ich nur noch ahnen. Auch hier in der Provinz hat sich alles verändert. Statt dem einen Eissalon gibt es jetzt zwei davon, in direkter Nachbarschaft, doch längst nicht mehr an dem alten Ort. Eine Fußgängerzone ist die Bahnhofstraße geworden, schließlich fährt hier auch kaum noch ein Zug. Früher fuhr Hermann von hier nach Göttingen und später nach Marburg.

Durch diesen Bahnhof ist Hermann des öfteren gegangen. Eines Tages sah ich ihn in der Halle unten, von außen nur. Er lamentierte aufgeregt herum und fuchtelte mit den Armen. Irgendeine Frau stand vor ihm. Ich konnte sie nicht erkennen, musste weiter, da ich einen Termin beim Hausarzt hatte. Ob es Sigrid war? Da bin ich mir aber gar nicht sicher.

In der jetzigen Fußgängerzone begegne ich keinen Bekannten mehr, nur alten und gut erhaltenen Erinnerungen. Meine Mutter hingegen trifft auf so einige ihr bekannter Menschen. Mit vielen spricht sie und stellt mich vor. Sie zeigt den anderen, dass ich da bin. Einer Frau hingegen stellt sie mich nicht vor. Ich begreife bald warum.

„Du kannst Dich doch noch an die Brigitte Meier erinnern.“ Ich kann es gut. Gar heftige Erinnerungen verbinden mich mit ihr. Sie war in unserer revolutionären Kellergruppe. „Ich wollte die Mutter nicht an das Frühere erinnern. Brigitte ist verschwunden seit fast drei Jahren, wie vom Erdboden verschluckt, wohl irgendwo in Indien.“

Ich schlucke und schweige. Das Bild einer schönen Frau entsteht in meinem Kopf. Eine ferne Ahnung der Schönheit vermittelt die ältere Frau Meier vor mir. Dieser leidende Blick, wie für einen Maler der romantischen Schule geschaffen.

Meine Mutter lädt mich zum Eisessen ein. Ich bestelle mir einen Curacao-Becher. Schon nähert sich vom Nebentisch eine ältere Dame. Sie kennt natürlich meine Mutter, und rasch sitzt sie bei uns am Tisch. Sie hat bis zum Tode ihres Mannes in der Nachbarschaft meiner Eltern gelebt und ein Altenpflegeheim geleitet.

Das Lächeln der Souveränität -18-

Jetziges Gesprächsthema ist der Tod von Hermann und seiner Mutter, die sich kurzfristig in dem Heim befunden hatte. Hermann wollte sie dort in bester Absicht unterbringen. Jedoch beschimpfte sie ihn daraufhin heftig. „Die konnte ja so was von böse werden.“ Die Mutter ging wieder zurück in ihr steinernes Haus.

Die ehemalige Leiterin war bestens informiert, auch über dieses Haus der Familie. Es war völlig überschuldet, es lasteten einige Hypotheken darauf. Somit war es nach dem Tod wohl in den Besitz der Sparkasse gelangt. „Aber die brauchten das Geld für den Pflegedienst, der kostet auch. Und, na ja, der Hermann hat auch so einiges flüssig gemacht, der hat doch auch nichts gearbeitet, nichts verdient. Der war mehr so’n brotloser Künstler.“ Etwas mitleidig berührt zieht sie ihre Schultern nach oben.

„Was machen Sie denn jetzt eigentlich.“ Mit ihrer penetranten Gewissheit geht mir die Alte allmählich auf den Senkel. Ich antworte ihr, dass ich in einer Werbeagentur tätig wäre. „Und da haben Sie gerade Urlaub?“ Die Zicke fragt weiter. „Nein, ich habe so viele Überstunden, die muss ich abfeiern.“

Ich lüge, ohne rot zu werden. Meine Zeit in der Werbeagentur ist längst abgelaufen. Unbeteiligt tuend löffelt meine Mutter in ihrem Amaretto-Becher rum. Sie schaut so seltsam. Nun will die Dame gar noch wissen, für was ich denn Werbung machen würde. „Für Wodka und Sekt“, erkläre ich ihr.

Ich beginne einen Vortrag über die Wichtigkeit von Werbung. Die Alkoholanbieter müssten immer präsent sein. Wie regelmäßig für die Miete müssten sie für die Werbung zahlen, erst dann würden die Menschen in den Wodka vertrauen. „Im Laufe der Zeit gewinnt die Werbung an Zugkraft, sie muss sich als Botschaft in den Köpfen festsetzen. Wenn die Menschen dann von der Arbeit nach Hause kommen, müssen sie unausweichlich zum Kühlschrank gehen und sich einen Wodka ‚Total’ einkippen. Bei Feierlichkeiten natürlich Sekt ‚Prizzicare’.“

Ich lache bei dem letzten Satz, „da soll es dann vor Freude doch prickeln.“ Die Dame schaut mich etwas erschreckt an. So viel, so einen Vortrag will sie eigentlich gar nicht hören. Meinen Sarkasmus hat sie auch allein unbewusst registriert. Ich gebe sie nicht frei und setze nochmals

Das Lächeln der Souveränität -19- an, „wir waren es, wir haben aus dem unbekannten ‚Total’ einen Premium-Wodka kreiert, gar einen Wodka von außergewöhnlicher Reinheit.“ Sie nutzt meine kurze Pause aus. „Für die sturzbetrunkenen Russen hier in der Stadt ist das aber gar nichts.“ Damit erhebt sie sich. Sie muss jetzt gehen.

Meine Mutter merkt, dass ich sie vergrault habe. „Du musst doch ein bisschen freundlicher sein.“ Eher automatisiert behaupte ich, dass ich doch freundlich war, habe ihre Fragen beantwortet und alles erklärt. „Ach, tu nicht so. Du weißt genau, was ich meine“, gibt sie mir als Antwort. Das sind immer schwere Momente für mich, diese verpflichtend tiefe Ehrlichkeit, Freundlichkeit. Das lastet auf mir, will mich in die Pflicht nehmen.

Doch was wollte denn diese Trutsche von mir? Höchstwahrscheinlich nur Stoff sammeln für ihre bigotten Tratschereien über die brotlosen Künste und arbeitsscheue Künstler. Ich könnte mich auf der Stelle zutiefst aufregen, plötzlich brüllen vor Ärger. Das hat er nun davon, von seinen turmhoch überlegenen Künsten, den Strick um den Hals. Ich zucke zusammen. Solche Ideen, die kommen mir nur selten. So sollte ich nicht denken. Das wickelt sich zu einem schweißtreibenden Knoten im Kopf. Ich nehme das Glas und trinke den letzten Schluck vom kühlend blauen Curacao Likör.

Ich werfe mir nun meine aggressive Gesprächsführung vor. Stattdessen hätte ich doch nur ein bisschen weiter flunkern können, hätte die Dame in meine Darstellung einbeziehen können. Ich kann das alles. So einige Male habe ich erfolgreich Gespräche moderiert. Aber hier, da fing mit einem Mal etwas in mir an zu glühen, und mein Temperament ging ungezügelt mit mir durch. Darüber sollte ich längst weg sein, und so ärgere ich mich über mich. Meine Mutter hätte sich doch so gerne mit einem umwerfend freundlichen, gar liebreizenden Sohn im Städtchen präsentiert. Schweigend gehen wir zum Parkplatz.

Zuhause wieder angekommen, halte ich es dort nicht aus. Gegen die leere Ödnis in mir muss ich laufen, latschen, zu Fuß gehen. Die nähere Umgebung durchwandere ich, entlang dem Weg, wo ich Fahrradfahren lernte, wo wir Verstecken spielten, an den Häusern von Schulkameraden vorbei.

Vorbei führt mich das automatische Gehen an einem Haus, das für mich mit Grauen besetzt ist. Hier hat sich eine Bewohnerin das Leben genommen mit einem Strick. Das eine Ende hat

Das Lächeln der Souveränität -20- sie am oberen Geländer der Kellertreppe befestigt, das andere um ihren Hals. Sie war immer so freundlich zu mir. Stufe für Stufe ist sie sitzend die Treppe heruntergerutscht, stufenweise bis zum Schluss. Immer noch ergreift mich ein Zittern und Würgen, atemlos schneller geht mein Schritt, und ich lande schließlich on the road again, also konkret in der Louis-Peter- Straße.

# Those were the days

Ich streune da durch. Die Straße ist gerahmt von Arbeiterreihenhäuschen, errichtet von dem Wohltäter der Stadt für die Angehörigen der Gummiwerke. Sie sind nicht unbedingt groß, dafür aber schon viele Jahrzehnte alt und waren einst begehrt. Sigrid liegt im Fensterrahmen und lächelt mich an.

Sie schaut mir tief in die Augen. „Hallo Bernd“, sagt sie. Verschämt fallen meine Augen herab und bleiben im weiten Ausschnitt der Bluse hängen. „Schön, dass Du mich besuchen kommst, komm herein.“ Eigentlich wollte ich sie gar nicht besuchen, doch ohne es zu bemerken, bin ich schon drin, sitze auf dem dunkelgrünen Sofa, und Sigrid sitzt neben mir. „In Eurer revolutionären Kellergruppe beschäftigt Ihr Euch doch so mit dem Sexualleben, diesem Freud und Wilhelm Reich. Macht Ihr das eigentlich nur so theoretisch?“

Ich wusste es, irgendwann musste jemand diese Frage stellen. Wir waren in der Tat eher theoretisch orientiert, und jetzt schwitze ich. Keine Antwort kommt mir über die Lippen. „Da geht es doch so um Sexualökonomie. Lernt man dabei, wie man sparsam mit seiner Lust umgeht?“ Sie lächelt wieder so, so, ja so. Ihre Knie klaffen noch leicht auseinander und der Rock rutscht schon langsam hoch. Mir wird etwas schwindlig, will mich festhalten, also ich mich. Meine rechte Hand fällt auf ihren Schenkel, direkt am Rand der Strümpfe, und sie, die Hand, wandert fummelnd aufwärts das nackte Fleisch. Der weitere Weg wird von den Triebkräften bestimmt. Orgone schwirren ungestüm, aufgekratzt herum, hitzig aufgedreht.

Bewegungslos starre ich in Sigrids Fenster hinein, schwitzend. Eine ältere Dame, gestützt auf ihren Rollator, fährt mich fast um. Ich entschuldige mich. Soeben hat mich wohl eine Erinnerung oder so was Derartiges überrannt. Die Orgonschwaden lichten sich. Das Fenster

Das Lächeln der Souveränität -21- der Wohnung ist geschlossen und ein Vorhang hängt dahinter. Sigrids Name findet sich auf keiner Klingel.

Leicht verwirrt streune ich weiter herum, roaming Korbach bis ich in der Altstadt lande. Jetzt hat sich der Orgondunst vollständig verzogen, und ich nehme Straßen und Häuser wieder bewusst wahr. An der Stelle hätte ich früher ganz nach Kerouac ein melancholisches Hohnlächeln aufgesetzt.

Auch ein so real nicht mehr vorhandenes Haus nehme ich nun wahr, sein innerer Geruch, nach altem Papier und Holz, gebohnert, hat sich in meinem Stammhirn eingeschrieben. Die knarrenden Dielen klingen stets noch in meinem Ohr. Dort befand sich einst die städtische Bücherei mit ihrer herrlich blauen Flügeltür, durch die ich in mich selbst zurückkehrte. Das waren bedeutungsvolle Momente da, mit einem ganz intensiven Selbstgefühl. Da konnte ich das Leben aufwerten, ihm Dichte und Dramatik zuführen.

Meine Eltern beäugten diese Lust am Lesen manchmal recht skeptisch. Argwöhnisch verfolgten sie meine Vielleserei, wie ich die Literatur geradewegs verschlang. Zuhause verzog ich mich in eine stille Ecke, die ich mit Lesen belebte, dadurch Aufregung erfuhr, auch Qualen stellten sich dort ein. All das heftig Brodelnde in mir vermochte ich derart zu leiten. Vorbehaltlos war der Glaube an das Gedruckte.

Für das Brodeln gab es etwas später dann unsere Diskothek, „Werthers Freuden“, ganz legendär. Sie war rechts hinter der Kreuzung gelegen. Doch wo sich dieses, schon etwas heruntergekommene Gebäude einst befand, da ist heute ein Parkplatz. Mit ihren dreckigen Gummireifen fahren die Autos über unsere Gedenkstätte hinweg.

Hermann saß zumeist an der Theke, links hinten, zusammen mit Hardy. Letzterer war der anerkannte Säufer der Freudenfreunde. Wenn viel Betrieb war, half ich manchmal hinter der Theke aus. Hardy hatte so große, traurig stimmende Augen. Mit denen schaute er mich an und bat um ein Cola-Körnchen. Dann wusste ich schon, dass er den Drink dringend benötigte, ohne den entsprechenden finanziellen Gegenwert erbringen zu können. Aber diese bedrückten Augen, die waren einfach bezwingend.

Das Lächeln der Souveränität -22- Der Wirt, der Eigentümer des Ladens hatte all die Entwicklungen und Geschehnisse sowieso nicht mehr im Blick. Ob er sie, zumindest im Anfang, noch im Griff hatte, weiß ich nicht so genau. Die Haschischwolken zumindest, die konnte er nicht überriechen. Er war eigentlich ein gestandener Bierkneipier aus dem Vorderbein des Waldecker Hundes. Jedoch war der Discoraum sehr verwinkelt und es gab so einige verdeckte Ecken darin. Von einer hieß es gar, es hätte dort Frank bei laufendem Betrieb gebumst.

Zumeist machte Frank auf sehr gelangweilt. Seine Mimik war dem Stil voll angepasst. Er nutzte die dunklen Ecken des Ladens, um seine Geschäfte zu tätigen. Er zog verdeckt irgendwelche Tütchen und stanniolumwickelte Päckchen aus seinen Taschen und stopfte Geldscheine wieder hinein.

Die Musik machte mein Klassenkamerad Klaus Emmerich, genannt Emmy. Er legte nur Platten auf, die seinem Bild der wahren Beat- und Rockmusik entsprachen und litt mit Eric Clapton an dem nagenden Problem, ob ein Weißer Blues spielen könne. Wenn er im späteren Verlauf des Abends „White Room“ auflegte, dann waren die Discobesucher andachtsgemäß still, lauschten versunken der Musik und machten sich Gedanken, was die besungenen „tired darlings“ darin wohl bedeuten könnten.

Aber wir haben ja so vieles nicht richtig verstanden, wussten aber immer, wo es lang ging. Den „Streetfighting man“ der Stones halten einige beharrlich noch für einen Aufruf zum Straßenkampf. Und im Song „Revolution“ sehen manche gar immer noch eine Aufforderung, diese nun durchzuführen, schon seit knappen vierzig Jahren. Es funktioniert wie ein Wunschmantra.

Brede, der dicke Wirt mit Schürze, kam nur noch selten und schickte stattdessen irgendwelche Vertretungen. Da hatten wir freie Hand und konnten den Laden zu etwas ganz Exklusivem ausbauen. Die Zahl der Gäste litt etwas darunter. Direkt gegenüber machte später eine andere Disco auf. Die spielten darin so Zeug wie „Venus“ von Shocking Blue. Dieser Popkram war natürlich unter unserer Würde. Aber drüben brummte der Betrieb.

An manchen Abenden hatten wir den Laden voll im Griff. Emmy hatte „Do what you like“ von Blind Faith aufgelegt und anschließend wollten Hermann und Hardy Slapsticks auf der Tanzfläche aufführen. Der Discjockey stand mit dem Songtitel im Wort, und Hermann spielte

Das Lächeln der Souveränität -23- den dicken Wirt und Hardy einen durstigen Gast. Alle lachten sich schief, auch Szenen aus der Popperdisco gegenüber gaben sie zum besten. Wir haben alles veralbert und verarscht. Nichts war uns ernst.

Schon wieder stehe ich hier wie angenagelt und bebrüte das Vergangene. Den Augen gelingt ein Ausbruch. Sie erblicken den PS-strotzenden, dunkelgrünen Jeep auf dem Parkplatz. Völlig verschmutzt steht er da mit seinen fetten Reifen auf der Stelle, wo wohl früher mal die Tanzfläche war. Ich brüte weiter. Wir hätten dem dicken Brede doch entgegenkommen sollen, dann stände der Laden vielleicht noch. Yes he still remains. Schon wieder greift der Boxer nach mir aus.

Warum fühle ich mich denn bloß schuldig an dem Niedergang? Ich hätte sowieso nichts ändern können. Aber auch ich habe ihm das Geld mit aus der Tasche gezogen. Zusammen mit Emmy habe ich nämlich eine Lichtorgel für die Tanzfläche konstruiert. Die Dinger kamen zu der Zeit gerade auf, und die exaltiert glühende Elektronik war neben der revolutionären Politik ein weiteres Interessenfeld von mir. Unsere Konstruktion war teuer, wir erprobten eben unsere Fähigkeiten daran.

Am Anfang war das Ding noch ein Hit im Städtchen, es kamen einige neue Gäste in den Laden. Aber dann ging es wieder bergab, „Hey Joe“ war dann doch wieder nur für unsere verschworene Gemeinde. Aber was soll’s? „Where you goin' to run? Way down where I can be free!“

Es war diese Einrichtung darin, die behagte auch nicht jedem. All die Tische und Stühle von „Werthers Freuden“ die wirkten nämlich gerade wie aus einem lange verstaubten Tanzsaal im tiefen waldeckschen Upland herangeschleppt. All die Popper und Konsumheinis gingen dann doch lieber in das „Riverboat“ gegenüber und hörten „To love somebody“ und „Barbara Ann“.

Sicher gucken mich die Leute schon misstrauisch an, weil ich hier so lange still stehe. Ich mache mich auf, langsam, rolle ganz bewusst über die Fußsohlen ab. Meditatives Gehen hilft mir, dem Grübelsumpf zu entkommen.

Das Lächeln der Souveränität -24- Zwischen den Stadtmauern liegt der alte Friedhof, der Totenhagen, darüber gehe ich nachhause. Auf dem Friedhof bin ich zuvor noch nie gewesen, da kommen auch keine Erinnerungen hoch. Es ist sehr beruhigend, zwischen den Gräbern zu laufen. Äußerst mild scheint vom Westen die langsam untergehende Sonne herein.

„Das Werden geht über in ein Vergehen, und aus dem vergehenden Ding wird ein anderes.“ Irgendwie so etwa lautete das, was Hermann zitierte. Verwitterte wuchtige Grabsteine stehen herum, Moos, grünes Gras und alte Bäume. Hier ist ein geschützter, ein gehegter Bereich, und ich kann meinen Gedanken wieder eine Richtung geben. Ständig begegnet mir Hermann. Sein Tod nagt in mir. Eigentlich habe ich heute vieles erfahren über ihn, habe einige Daten über ihn gesammelt und Vergangenes ins Gedächtnis geholt. Aber gehässig gegen ihn wollte ich eigentlich nie sein.

Sein Verhältnis mit Sigrid belastet mich. Mein Erlebnis mit ihr erscheint mir wie ein Brechen von Freundschaft, ein Hintergehen. Ich will mit ihr reden, so lautet mein Entschluss. Me-ti sagte: „Denken ist etwas, das auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht.“ Jetzt weiß ich auch wieder, wen Hermann so häufig zitierte. Und jetzt muss ich nur noch herausbekommen, wo Sigrid lebt.

Ich marschiere nach Hause, laufe durch das Viertel, das in den fünfziger und sechziger Jahren entstanden ist, dem Zeitraum, in dem meine Eltern ihr Haus bauten. Die Straßennamen sind alle den verlorenen deutschen Ostgebieten gewidmet. Auch mit den Flüchtlingen daraus hat Korbach seine Einwohnerzahlen halten können. Viele der hiesigen Männer waren natürlich im Krieg gestorben, darunter in den Schießgräben vor Stalingrad verreckt. Viele der Vertriebenen kamen hier in einem Barackenlager unter. Die obdachlos Gewordenen waren „die von drüben“, und die besaßen bei den Eingeborenen nicht gerade einen guten Ruf. Das hat sich so nicht bis heute gehalten.

Jetzt erstrecken sich dort die Pommern- oder Sudetenstraße. In diesem Areal der Heimatvertriebenen treffe ich Giovanna aus Süditalien. Endlich eine Bekannte, aber eigentlich kenne ich sie so gut nun auch nicht. Sie betrieb in den damaligen Zeiten die Eisdiele „Cortina“ mit ihren Eltern. Sie kann sich kaum an mich erinnern. Dafür ist mir eine Geschichte in der Eisdiele besonders gut im Gedächtnis haften geblieben.

Als Schüler saßen wir häufig darin. Und dann, eines Tages stellte sich dort eine böse Erfahrung ein. Mit einem Mitschüler hatte ich mich intensiv in den Haaren gehabt. In der

Das Lächeln der Souveränität -25- Debatte über die repressive staatliche Bildungspolitik musste ich gegen einen als Reaktionär gescholtenen eine herbe Niederlage einstecken. Hochnotpeinlich war die Situation für mich, ich begann zu Schwitzen, stotterte ah und äh, hatte den Faden vollends verloren. Und dann, die Tür ging auf, und wie ein rettender Engel für mich kam Hermann herein. Groß gewachsen war er und kräftig. Und er strahlte so irgendwie.

Er trug sein immens bezwingendes Lächeln im Gesicht. Das war entwaffnend. Damit errang er ein zutiefst argloses Zutrauen in sich. Mit seiner vertrauensseligen Freundlichkeit entlockte er meinem Kontrahenten viele Bekenntnisse. Und diese nahm Hermann dann auseinander. Mit einer weiterhin liebenswürdigen Miene zerpflückte er den Gegner, sezierte dessen Aussagen bis auf die nur noch klappernden Knochen. Der armselige Reaktionär wurde immer stiller. Sein gesammeltes Blut war in den Kopf entwichen und färbte diesen mit einem prächtigen Rot.

Sprachlos genoss ich das faszinierende Schauspiel. Schließlich stand der Gegner stammelnd auf und verließ den Eissalon. Ängstlich nervös rutschte sein Blick hin und her. Hermann wurde zum Idol für mich. Dieses Lächeln, das wollte ich haben. Dieses Lächeln war die absolute Souveränität.

Später kamen mir jedoch einige Bedenken. Willy Wilke redete nie wieder mit mir, selbst in Debatten, bei denen ich beteiligt war, ergriff er nie wieder das Wort. Dabei war er wirklich rhetorisch begabt. Ob er sich wegen der Niederlage schämte? Ich weiß nicht. Das was Hermann mit ihm gemacht hatte, das war wirklich sehr heftig gewesen, vielleicht so ein bisschen böse. Trotzdem, das Lächeln war mir als das Faszinosum unvergesslich geworden. Gar der Boxer bekam bleischwere Arme davor.

Und Giovanna konnte diesen ewig zu lauten Gegner von mir auch nicht leiden. Sie freute sich mit uns und gab uns eine Runde Spaghetti – Eis aus. Jetzt ist sie fett geworden, hat ein heftig dickes Hinterteil. Ihr hübsches Gesicht ist in den Grundstrukturen erhalten, aber aufgequollen. Sie heult zuviel. Die Eisdiele ist futsch, ihr Mann ist futsch, und ihre Kinder sind irgendwo im Süden, München, Mailand, irgendwo da unten. Sie ist einsam in Korbach.

„Der mörderische Dämon der Unbeständigkeit rafft in einem einzigen Augenblick alle Gewissheiten, Überzeugungen und Hoffnungen hinweg.“ So etwas krass Unsentimentales hatte mir ein Lehrer schonungslos beigebracht.

Das Lächeln der Souveränität -26-

# Ständig unterwegs

Mein Vater erhebt sich, als ich in das Wohnzimmer eintrete. Er nimmt ein Buch in die Hand, ein dünnes im weißen Pappeinband. Er lächelt seltsam und fängt an vorzulesen, zumindest scheint es so. Er spricht langsam: „Ein Gespenst geht um in Korbach - das Gespenst der revolutionären Kellergeister.“ Im Takt seiner Sprache schiebt er den Krückstock vor und zurück in der Luft.

„Karl, pass mit deinem Stock mal auf, gleich haust Du die Lampe kaputt.“ Mit dieser ganz banalen Warnung bringt meine Mutter seinen Auftritt zum Ende, glücklicherweise. Sie weiß, das hätte wieder im Krach enden können. Der alte Herr wusste vermutlich selber noch nicht, wohin er steuern wollte. Sollte es nur scherzhaft sein oder wollte er mir wieder Abstrusitäten meines früheren Handelns vorwerfen.

Mein Vater hat sich ein Exemplar vom „Manifest der Kommunistischen Partei“ zurückbehalten, welches wir damals massenhaft aus Beijing geordert hatten. Ganz verbissen hält er an diesen Scherben vergangenen Tuns fest. Immer wieder mal hält er es mir vor. Er leidet selber daran. Vermutlich kommt er nicht darüber hinweg, dass er mir das damalige Handeln nicht abgewöhnen oder gar verbieten konnte. Er macht sich meinen eigenen jetzigen ungesicherten Status selber zum Vorwurf, dass er dafür verantwortlich wäre. Ich weiß nicht, was ich gegen die Selbstvorwürfe machen kann. Vermutlich gar nichts, sie brennen immer wieder heiß und mit lodernder Flamme in ihm auf.

Über diese, seine Art von Scherzen lache ich eigentlich selber gerne. Anders sind die damaligen Abstrusitäten auch gar nicht zu verarbeiten. „Revolutionäre Kellergeister“, das klingt doch voll nach süßem, glykolverzuckertem Wein, einfach benebelnd, klingt nach dem verschleierten Blick des Rauschs. Und Lachen wirkt wie Aspirin für den folgenden Brummschädel. Aber meines Vaters Ebene des Scherzes ist brüchig, nur allzu schnell folgt der Absturz mit freiem Fall ins Bodenlose.

Erst lacht er, dann schmerzt ihn der Gedanke an mein damaliges Tun. Sein Sohn lacht auch. Nimmt der wohl des Vaters Leid nicht ernst? Sein Sohn registriert die gelegten Fallen schnell, eher unbewusst. Tief unten steckt vielleicht auch noch die Pein des Vaters in ihm. Dazu

Das Lächeln der Souveränität -27- gesellt sich die Empfindung der eigenen Niederlage. Sie quält sich nach oben, sucht einen Weg des Ausdrucks. Mein Lachen wird verhalten, wird verbissen. Das wiederum wirkt auf den alten Herr wie Kritik an seinen fürsorglichen Gedanken. Schweiß bricht unter den Achseln aus. Viel Blut drückt sich ins Hirn. Gänzlichst abgeschnürt ist jeder klare Gedanke. Wir starren uns an und die gereizte Stimmung erklimmt den Pfad der Steigerung. Die Emotionen brechen aus und ein gegenseitiges Anbrüllen folgt.

Die Mutter hat die Automatik schon lange begriffen. Ich begreife sie so allmählich. Deswegen kann ich noch ruhig bleiben. Tiefes Durchatmen hilft. Aber auch die Ruhe kann er sicherlich noch als Ignoranz werten. Da rüstet er sich schon zum Kampf, und sein Gegner tritt einfach ab. Weiteres Blut schießt ins Hirn. Ich leide schon wieder mit ihm. Aber ich kann ihm die Situation gegenwärtig nicht ersparen. Wenn ich dereinst noch ruhiger geworden bin, dann kann ich ganz unverfänglich auf solche Art von Scherzen lachen, so lachen, dass jeder Gedanke an hinterhältigem Tun zerbröselt. Eher soll es ein Lächeln werden, so wie ich es seit dem Erlebnis in der Eisdiele beherrschen wollte, arglos und vertrauensselig.

Zwecks Entlastung der jetzigen Situation erzähle ich beim Abendessen Geschichten aus der bewegten Welt der Werbung. Kurz bevor ich ausschied, gab es noch eine Party in der Agentur, eine Afterworkparty. Die Stimmung war bestens. Der Sekt ‚Prizzicare’ stand kartonweise herum, nur um geleert zu werden. In gut beschwipstem Zustand verfiel der Creative director, genannt CD Müller, auf die Idee von allen Teilnehmern eine Afterkopie auf dem Xerox-CopyCentre zu machen. Anschließend solle einer nach dem anderen sich die Kopien ansehen und jedem Arsch ein Gesicht zuordnen, der mit der höchsten Trefferrate würde ein Paket Wodka „Total“ gewinnen.

CD Müller fand das cool. Damit war er einer der ersten, der dieses Wort verwendete, auch in der Agentur. Die anderen gebrauchten immer noch dieses mittlerweile schon behäbig wirkende „geil“.

Vater guckt nur müde auf die Brotscheibe vor sich, und Mutter holt eine Schüssel mit Kräuterquark aus dem Kühlschrank. Ich finde keinen Anklang mit der Geschichte. Ich versuche es erneut, doch vorbei an meinen bewegten Geschichten fangen die Eltern an, sich über die Konsistenz des Quarks zu unterhalten. Sie haben nie so recht verstanden, was ich mache. Natürlich haben sie nie meine Versuche zur Revolutionierung der Gesellschaft

Das Lächeln der Souveränität -28- verstanden und das, was in der weit darüber hinausgehenden, so buntigen Welt der Werbung passiert, schon gar nicht mehr.

Das, was ich bislang machte, das war für sie zumeist recht merkwürdig. Auch meine Versuche, sie über die Veränderungen in der Welt der modernen Arbeit zu informieren, haben nichts gefruchtet. Unverstanden zu bleiben, das habe ich somit als eine Art von Bestimmung meinen Eltern gegenüber begriffen.

Das erneute Schweigen beim Essen nervt mich. Schutzlos liefere ich mich meinen Emotionen aus. Ich beginne ein neues Thema, erzähle von meinem nächsten Vorhaben. Eine Gruppe von Bekannten und Freunden hat mich gebeten, für sie eine Führung im Frankfurter Karmeliterkloster zu gestalten. Die Karmeliter hatten mich seit meiner späteren Studienzeit interessiert. Ich fand das Thema klösterlichen Zusammenlebens faszinierend, nur dem Glauben, der klösterlichen Gemeinschaft und der Seelsorge von Laien verpflichtet.

Anfangs waren die Karmeliter Eremiten im Heiligen Land gewesen. Das bewegte meine Phantasie weiter, völlig zurückgezogen zu leben, in einer durch nichts gestörten Einöde, nur einem festen Glauben verpflichtet. Doch siedelten sie sich dann in europäischen Orten an und dort vollzogen die Mönche eine zunehmende Individualisierung.

Meine Eltern hatten für derartige Gedanken gar nichts über, für sie bewegte sich der Sohn wie immer auf absolut sumpfigem Gelände. Doch auch diese Phase meines Interesses war nur von vorübergehender Natur. Ich weiß gar nicht, ob meine Eltern das damals überhaupt registriert hatten. Sie fragen auch jetzt nicht, was ich denn da erzählen wollte, ob mich das Thema immer noch begeistern würde. Sie schweigen. Warum lassen sie mich in der Wüste stehen?

In mir steigt wieder die Hitze der Erregung hoch und ich werde lauter. Als stände ich vor einer Gruppe von zu missionierenden Menschen, so drehe ich mein Stimmvolumen hoch. Ich erzähle von der herausragenden bildlichen Darstellung der Heilsgeschichte in den Wandgemälden des Klosters. „Werd’ doch nicht so laut“, sagt meine Mutter. Das ist immerhin der Anstoß zur inneren Ruhe, da will ich doch schon immer hin. Beim Thema Apokalypse und Weltgericht in den Wandgemälden des Klosters breche ich mitten im Satz ab. Tief durchatmen ist angesagt. Schweigen legt sich über den Raum.

Das Lächeln der Souveränität -29- Meine Eltern sind einfache Menschen. Aus dieser Einfachheit ist ihr Sohn ausgebrochen, eignete sich Wissen und Bildung an, wenn auch eher außerhalb der zuständigen Schulen. Das ist nicht ihr Gebiet. Es schmerzt mich, dass ich mich soweit weg bewegt habe. Aber ich kann vor den neugewonnenen geistigen Horizonten doch nicht die Augen verschließen. Es reizt mich, was sich dort hinten tut. Doch tut die Trennung weh, schürft wund, bös wund.

Nach einer Weile will ich ein paar praktische Dinge wissen und frage, ob sie den jetzigen Wohnort von Sigrid kennen. Der Kommunikationsbruch ist überwunden. Sie wissen, wo sie wohnt. In einem Vorort von Korbach hat sie sich mit ihrem Lebensgefährten niedergelassen. „Die hat doch schon vor fünf Jahren die Baumschule und Landschaftsgärtnerei Burghard Finke übernommen. Die kennst Du doch noch gut, oder? Hast Du das denn nicht gewusst?“ Ich habe es nicht gewusst.

Schlagartig wird mir bewusst, dass ich schon wieder vermintes Gebiet betreten habe. Während der Schulzeit habe ich des öfteren für Finke gearbeitet. Mir hat die Arbeit in der Natur, mit den Bäumen, Sträuchern und Blumen auch recht gut gefallen, irgendwie so eine Ahnung von Ordnung im Durcheinander der wilden Natur war in mir. Doch standen die wahrlich verlockenden Horizonte für mich noch viel, viel weiter hinten, raus aus dem umhegten Raum.

Finke mochte mich, wollte mich überreden, Landschaftsgestaltung zu studieren. Im Rheingau gab es eine entsprechende Fachhochschule. Finke war begeistert von der Idee. Er stellte mir in Aussicht, dass ich sein Partner werden könnte, den ganzen Betrieb eines Tages gar übernehmen könnte.

Natürlich wussten meine Eltern von dem Angebot, redeten mir zu. Doch was war all das gegen den Versuch zum Durchbruch auf die andere Seite. Die Doors spielen sich erneut durch die Hirnwindungen direkt in die Ohren hinein. „The gate is straight - Deep and wide“. Voller Wut ist der Sound, stürmisch reißt er in den stampfenden Rhythmus rein, yeah, yeah, yeah.

Mit grimmigem Blick erhebt sich Vater, geht in das Wohnzimmer nebenan und legt sich auf das Sofa. Er ist müde, wälzt seinen Ärger jetzt im Liegen hin und her. Mutter erzählt mir, dass Sigrid die Landschaftsgärtnerei mit ihrem Lebensgefährten erworben hat. Der hat wohl tatsächlich in Geisenheim studiert. „Wo die bloß das Geld zum Kauf her hatten? Keiner weiß

Das Lächeln der Souveränität -30- das so genau.“ Es wird gerätselt hier in der Stadt. Ihr Gärtner hatte gerüchteweise noch eine Oma mit etwas Geld in Paderborn. Finke ist fort, irgendwo im Osten, wo er einst wohl herkam.

„Was willst Du denn von denen?“ Misstrauisch schaut Mutter mich an. „Ich will mich mit ihr über Hermann unterhalten, will wissen was ihn wirklich in den Selbstmord getrieben hat.“ „Meinst Du, das bringt was? Die fühlen sich inzwischen doch bestimmt entlastet. Du reißt nur alte Wunden wieder auf. Auch der Sohn versteht sich gut mit ihrem Lebensgefährten. Da hat dieser Hermann doch nur noch gestört.“

„Es geht mir um den Hermann, wie ich ihn kannte. Und ich war mal sehr gut mit ihm befreundet.“ Langsam fließt die Luft durch die Nasenflügel in die Lunge hinein. Ich muss das Rätsel lösen!

Meine Beziehung zu Hermann kann ich ihr nicht tiefer darlegen, sonst vermutet sie bestimmt sogleich, dass wir zusätzlich zu unseren Abgedrehtheiten auch noch schwul gewesen wären. Mit meinen ewigen Versuchen, mich verständlich zu machen, reite ich mich häufig immer tiefer in die Scheiße. Aber ihre ewige Skepsis gegen mein Denken und Tun, das schmerzt. „Na ja, ich weiß nicht so recht.“

Laut aufschreien könnte ich bei diesem Satz. Beendet er doch jegliches weitere Gespräch. Er schneidet ab und hinterlässt Misstrauen und Skepsis. Warum dieser permanente Zweifel? Lächeln, allein ein souveränes Lächeln wird darüber siegen. Es ist ein schwieriger Weg dorthin, doch ich will dorthin. Nur dort ist die Befreiung von diesem ewigen Selbstzweifel.

Ich muss schon wieder laufen, gehen, herumstreunen. Das wirkt wie ein Therapeutikum. Früher hatten wir den Beat, was down and out heißen sollte, und das aber voll inbrünstiger Gewissheit. Jetzt herrscht draußen ein milder Sommerabend. Vorbei an einem neu aufgeschütteten und bewachsenen Hügel strolche ich. Früher gab es den noch nicht.

Von der Wut in den Zweifel und hinein in die Depression, diese Richtung schlägt häufig der Pfad der verletzten Gefühle ein. Ausbremsen muss ich die Automatik. Ich laufe dagegen an. Gehe schneller. Haste. Weg. Schwierig ist es, das erlöste Lächeln zu erringen. Es war mir schon vorher klar, dass eine wahre Probe auf das Lächeln allein in Gegenwart meiner Eltern

Das Lächeln der Souveränität -31- geschehen kann. Nur wenn ich mich hier über alteingefahrene Verhaltensmuster erheben kann, dann habe ich Souveränität erlangt.

Am anderen Morgen mache ich mich auf den Weg zurück nach Frankfurt. Wobei ich einen Umweg zur Landschaftsgärtnerei von Sigrid einschlage. Langsam nähere ich mich ihrem neuen Haus, dem alten von Finke. Es war für mich immer der Inbegriff eines Försterhauses gewesen. Eingekleidet ist es mit Holzlatten, wechselnd gestrichen in hellgrüner und brauner Farbe. Bäume stehen drumherum.

Es war mir früher immer äußerst peinlich, wenn mir bei dem Anblick das schnulzige Lied in den Kopf kam, dieses „alte Försterhaus“. Ich machte mir böse Vorhaltungen, wie mir nur so ein Scheiß das Hirn verkleben konnte. Denn das ging tief in die deutsche Seele. Sicherlich war es schon so leicht faschistisch verseucht, wie ich schließlich vermutete.

Ich schämte mich wegen dem verdächtigen Lied und verriet niemandem meine seltsamen Anwandlungen. „Der Wilddieb der gibt keine Antwort“, er erschießt den Förster. Das wandert zusätzlich durchs Hirn. Und dann kommt die heftige Reue, herausgequetscht von der deutschen Volksmusik, die das schlechte Gewissen pflegt. Der Wilddieb trauert um den von ihm erlegten Förster und stellt sich gar der Gerichtsbarkeit. Ich könnte schreien.

Sigrid empfängt mich, freudig überrascht. Unten trägt sie festes Schuhwerk und weiter oben, statt offener Bluse, ein Sweatshirt. Sie lächelt mich an. Und dieser Augenaufschlag, der könnte mich schon wieder kirre machen. Auch wenn die Stirn darüber faltig wirkt.

Wir trinken einen Tee, und ich sage ihr, dass mich der Tod von Hermann sehr berührt. Skeptisch blickt sie mich an. „Wirklich? Du hattest Dich doch völlig von ihm abgewandt.“ Ich spüre einen Vorwurf gegen mich, will mich schon leicht erregt verteidigen.

„Wir haben uns nicht mehr so recht verstanden.“ Meine mir selbst gestellte Falle habe ich umgangen. Fest und bestimmt klingt meine Stimme. „Worunter hat er denn zuletzt gelitten?“ „Hast Du denn zwischenzeitig auch alles vergessen, was ihn so umgetrieben hat? Du hast wohl die Löschtaste gedrückt.“ Ich verneine ganz resolut. „Dann wirst Du Dich ja vielleicht daran erinnern können, dass er mal eine Mutter hatte. Was das für eine schwerstbelastete Beziehung war, wird Dir auch nicht völlig entgangen sein.“

Das Lächeln der Souveränität -32-

Ihre Versuche, mich als ahnungslos und naiv hinzustellen, die stinken mir. Ich bewahre nach außen die Ruhe, doch innen rumort es. Und aus dem Rumor wird eine Erinnerung hervorgeschleudert. „Wenn Du so genau informiert bist, dann weißt Du doch auch sicherlich, dass er seine Mutterbindung lockern konnte. So ein Zentralgestirn war sie schon seit längerem nicht mehr für ihn.“ Erinnern kann ich mich plötzlich gut an die letzte Phase meiner Kontakte zu Hermann. Er war irgendwann mal für ein paar Wochen abgetaucht, in so ein Meditationszentrum. Schon fast schwebend selbstsicher kam er daraus zurück.

Sigrid schaut mich verdutzt an. „Die Fixierung auf die Mutter war halt immer noch irgendwie da.“ Mit abgesenktem Blick schenkt sie Tee nach. Weiter hinten im Gartengelände wird ein Transporter mit Bäumen und Büschen beladen. Ich nutze ihre Verdutztheit, frage nach ihrem Sohn. „Ich wusste überhaupt nicht, dass Hermann der Vater ist. Überhaupt, dass ihr eine Beziehung hattet, das habt ihr gut verheimlicht.“

„Was hat das denn jetzt mit seinem Tod zu tun?“

Das weiß ich auch nicht, frage aber danach, was der Sohn jetzt so macht. „Jan studiert Landschaftsplanung in Kassel.“ Fast hätte ich nachgehakt und mich erkundigt, ob er mit seinen dreißig Jahren jetzt nicht allmählich Studiengebühren zahlen müsse. Doch kommt sie mir zuvor. Reichlich empört klingt ihre Stimme.

„Was soll denn die Fragerei bloß? Was bezweckst Du damit? Ich kann Dir zu Hermanns Selbstmord nur das sagen, was ich weiß. Und außerdem bin ich diejenige, die sich noch um ihn kümmert. Ich sorge dafür, dass er nach Korbach überführt und hier im Familiengrab beerdigt wird.“

Na, dann hast du ihn ja endlich mit seiner Mutter wiedervereint. Diese Bemerkung verkneife ich mir.

„Von Eurer Frankfurter Truppe ist in dem Fall ja keinerlei Regung zu verspüren. Weder dieser Herr Kulturreferent Rudi, noch der runtergekommene Anwalt Gerd Göbel, weder diese flatterhafte Kathrin und schon gar nicht die völlig entrückte Brigitte Meier. Du selber hast Dich ja schon längst abgeseilt, machst aber jetzt noch so ein bisschen in Anteilnahme.“ Jetzt

Das Lächeln der Souveränität -33- gucke ich verdutzt. Sigrid verspürt wieder Oberwasser. „Ja befrage doch die beiden Mädel mal, wie es sich so auf Hermanns Kosten gelebt hat. Die können Dir wahrscheinlich mehr zu seinen letzten Stunden erzählen als ich. Jetzt muss ich aber auch los, wir haben einen Kundentermin.“

So ein Termin ist etwas Heiliges, das begreife ich. Sie gibt mir die Hand. Beim Schütteln erwähne ich noch, dass Brigitte verschwunden ist und seit einiger Zeit als vermisst gilt. Die Bemerkung muss ich noch loswerden, um Sigrid zu zeigen, dass sie nicht die große Allwissende ist. Sie schaut mich denn auch verwundert an, wendet sich aber sogleich einem Herrn in Knickerbockern zu, vermutlich ihrem Mann. Sie stellt ihn mir gar nicht mehr vor.

Sie ist reichlich geladen, mit meiner Fragerei habe ich schwer an ihren Nerven gezerrt. Vielleicht hätte ich wirklich nicht zu ihr fahren sollen, alte Wunden aufreißen. Meine Mutter hatte vermutlich recht. Ich steige wieder ins Auto, die Selbstvorwürfe setzen sich auf die Rückbank.

Ich starte den Wagen und versuche mich am melancholischen Hohnlächeln gegen meine Mitfahrer. Ich mache mich again on the road, ich subterranean hero, vielleicht beatific. Ein Mann des Untergrunds, immer noch auf der Suche nach einem intensiv souveränen Dasein.

Beim Starten fällt mir vor allem ein, dass ich recht haben will. So einiges von dem, was Sigrid mir erzählt hat, muss ich durchdenken. Also mache ich mich auf zu einer Landpartie und fahre gemächlich durch das Waldecker Hinterbein in Richtung Frankenberg.

Gut, den Rudi, den konnte sie nie so recht leiden. Aber wieso kam sie auf Gerd Göbel? Zu dem waren auch wir alle in der Frankfurter Zeit auf Distanz gegangen. Schon während unserer Kellergeisterzeit hatte er manchmal bösartige Ausfälle, und dann wurde er uns zu radikal, beziehungsweise wir ihm zu wankelmütig. Sein Jurastudium hatte er flott beendet, und stieg ein als Anwalt im Rahmen der Prozesse um die Rote-Armee-Fraktion.

Ich konnte deren Gewalttätigkeit nichts abgewinnen, obwohl sie doch von vielen wegen ihres konsequenten Auftretens gegen den Unterdrückerstaat bewundert wurden. Diese Art von kämpferischer Aufrichtigkeit wurde glorifiziert. Es wurde schon auch bewundert, wie jemand sein gesamtes Leben in den Dienst der Sache stellen konnte. Alle, die sich in diesem Umfeld

Das Lächeln der Souveränität -34- bewegten, hatten teil an dem Bewundertwerden, und sie zogen ihre aufgeblasene Hochnäsigkeit daraus, wähnten sich als Besonderes. Sie gaben sich so konspirativ, versprühten eine opake Atmosphäre des Geheimnisvollen um sich.

Und dann erwähnte Sigrid die Kathrin, von der ich seit einigen Jahren nichts mehr vernommen habe. Sie tauchte früher zeitweise in Frankfurt auf, machte eine Weile mit Hermann rum und spielte gar kleinere Rollen in seinem Theater. Richtige Schauspielerin wollte sie werden und verschwand irgendwann nach München, wo sie sich die Aufnahme in eine Schauspielschule versprach. An unseren theoretischen Debatten war sie sowieso nie sonderlich interessiert. Wer dem verbürgerlichten Proletariat als revolutionäres Subjekt nachfolgen könnte, solche hochrangigen Fragen, die gingen glatt an ihr vorbei.

Sie lief sogar mit Stöckelabsätzen in Frankfurt rum, gab sich richtige Mühe, sich schön zu machen, und überhaupt nicht in so einem Hippiechic. Das erregte selbstverständlich die Verachtung durch das revolutionäre Weiberkomitee. Das immer eine Einschränkung von Ausdrucksmöglichkeiten, von Spontaneität dahinter konstatierte. Es hielt solchen Zurichtungsweisen die Beauvoir entgegen, die meinte, diese Frauen würden die Ordnung der Dinge als gegeben annehmen, sich dieser herrschenden Ordnung selber unterordnen.

Kathrins Auftreten, oder besser dessen Bewertung färbten auch auf uns ab, die wir mit Kathrin Umgang hatten. Der revolutionären Elite galt so ein Tun als verdächtig. Sie bestraften uns mit ihrer Hochnäsigkeit, dieser völlig blasierten.

# Das alte Försterhaus

Ich könnte mich jetzt im Auto erneut in Kathrin verlieben, mit ihrem Aussehen wie France Gall, und singe "Je suis une Poupée De Cire, une Poupée De Son", sehe sie in ihren Stöckelschuhen und schwarzen Nylons, möchte ihr über den Arsch streicheln. Doch kämpft diese unterleibsgesteuerte Begierde gegen den gewalttätigen Tyrannen des Zorns, der die Feste des Zwerchfells beherrschen soll und so den Quell des Lebens selbst, das Herz.

Dieser Zorn drängt sich vor, um die Reihen der überheblichen Altvorderen zu durchkämmen, die der Avantgardisten. Viele von ihnen hatten später prekäre Jobs bei der Volkshochschule

Das Lächeln der Souveränität -35- oder so, oder fuhren Taxi. Zerbrochen war das schöne, das dörflich einigende Gefühl der früheren „scene“. Immerhin waren daraus so einige auch zu einer Karriere aufgebrochen, nach oben.

Ich muss mich entscheiden, ob ich die zornigen Rachegedanken pflegen will oder ob ich Kathrin an die Wäsche gehen will, gedanklich, beides absorbiert den Kopf. Steil geht es plötzlich bergab, sehr zügig. Die Straßentrasse hat die Führung übernommen und meinen begierigen Gedankenspielen muss ich entsagen, muss mich auf die serpentinenartigen Kurven konzentrieren, dort „Wo der Wildbach rauscht, dort im grünen Wald“.

Ich fahre in das Tal der Orke hinein. Jetzt therapiert die gebirgige Landschaft die getriebenen Gedankenverstrickungen. Ich fahre in die Gegend, in der ich meine Kindheit verbracht habe. In dieser Gegend war mein Vater nach dem Krieg gelandet und lernte hier ein schönes Mädel vom Lande kennen. Mein großer Bruder, mehrere Jahre älter, und ich, wir gingen aus der Verbindung hervor. Die Mutter zog uns auf und Vater ging Geldverdienen, besser: Er fuhr hinaus.

Das Wirtschaftswunder war harte Arbeit, doch es ging aufwärts. Der Bausparvertrag musste bedient werden. Er war der Preis für den Aufstieg. Ein Auto kam auch bald hinzu, ein blauer Lloyd 300, als "Leukoplastbomber" verulkt oder auch als "Schlaglochsuchgerät". Egal, ich stand samstagmittags an der Einfahrt zum Ort und harrte sehnlichst meines Vaters. Der war die ganze Woche unterwegs, und ich konnte ihn nun wenigstens für eineinhalb Tage sehen. Der Loyd, so blau und immer blauer kam näher und näher, kam heraus aus dem grünen Wald.

Die Zeit war knapp bemessen für eine gestrenge väterliche Erziehung. Und dann wollte er sich in der Zeit natürlich auch noch wohlfühlen, wollte eine angenehme Familienatmosphäre. Harsche Töne und gestrenges Verhalten standen dem entgegen. Das war auch ein Preis für den Aufstieg. Die Familie war der Dreh- und Angelpunkt, wobei der Vater sich weiter entfernt um sie drehte. Und während all des wirtschaftlichen Voranschreitens wurden eher verdeckt so kleine, aber heftige Zeitbömbchen installiert.

Das Wirtschaftswunder verlangte seinen Tribut. Vater schaffte daran mit, an den Baustellen in Köln und Düsseldorf, in Hannover und Frankfurt. Ins Waldecksche hatte es ihn nach dem

Das Lächeln der Souveränität -36- Krieg verschlagen, geschlagen vor Stalingrad. Aus seinem zerstörten Panzer konnte er sich nur unter großen Schwierigkeiten und verletzt befreien, um dann in die weiteren Torturen von Hunger und Kälte zu stürzen. Zerschlagen waren all die jugendlichen Erwartungen in das große kommende Reich. Der Rattenfänger hatte sein Gift gefressen. Heilsideen, davon waren die Finger zu lassen, das war die Lehre aus dem Zusammenbruch. In der Familie, da waren seine Erwartungen erfüllbar.

Es ging doch erkennbar vorwärts. Hier im Waldeckschen konnte er eine Lehre als Maurer machen. Schön ordentlich vernagelt und zugemauert ist der Eingang zu dem früheren Handwerksbetrieb. Ich kann ihn aus dem Autofenster erkennen. Fort ging er dann auf die Baustellen der jungen Republik, fort war er für fünfeinhalb Tage der Woche. Ich durchstreifte derweil die gebirgige Landschaft, Feld, Wald und Wiesen zwischen den Flüsschen Nuhne und Orke und Ölfe.

Die innere Begleitung gab mir der Großvater. Sein Bild ist massiv in meinen Kopf gemeißelt. Ganz markant saß er auf seinem Sofa, steif und mit festem, doch irgendwie melancholisch wirkendem Blick. Vor ihm an der Wand stand der Schrank mit dem Plattenspieler, auf dem drehten sich die Polydor-Scheiben von Friedel Hensch und Die Cyprys. „Es liegt der Wald im letzten Abendschimmer. - Der Nebel steigt herauf vom Wiesengrund.“ Schwer ist die Musik, ein Versuch, der schweren Vergangenheit zu entkommen.

Auf der Suche nach meinem Heideröschen stromerte ich durch die Wälder, Wiesen und Auen und zwischen den Flüsschen herum. Ich baute kleine Staus darin, durchquerte den Nadelwald und stieg über die Heide. Die Flüsschen nimmt alle die Eder auf. In ihrem breiten Tal münde ich ein. Am ihrem Hang erblickte ich das Licht der Welt und kollerte in sie hinein, „into this world we’re born – into this world we’re thrown.“ Untertauchen tut gut. Dann sieht man auch den himmelstrebenden Turm nicht mehr.

Brigitte Meier, sie wurde von Sigrid auch noch erwähnt, und auch als völlig entrückt. Verschollen ist sie in ihrem mystischen Indien. Vielleicht ist sie ins Nirwana entrückt, spurlos ins Nichts. Sie war eine schöne Frau mit blondgelocktem Haar. Bei unseren Tagungen der Kellergeister saß sie im Schneidersitz auf der Bodenmatratze und schien zu schweben. Wir debattierten über die autoritäre Erziehung. Erst später fiel mir auf, dass wir selten über uns

Das Lächeln der Souveränität -37- selber sprachen. Unsere persönliche Erziehung blieb ausgeblendet, wir wollten die Theorie begreifen, mussten an ihr das Leben orientieren, ausrichten.

Erst später erfuhr ich, dass ihr Vater, Handelsvertreter einer Korbacher Metallwarenfabrik, ständig unterwegs war. Wenn er zuhause war, dann war er anscheinend auch unterwegs, zur Jagd, seinem Hobby. Verächtlich nannte Brigitte ihn nur den „Oberförster“ und manchmal, wenn sie besonders stark drauf war, sang sie ihren Kommentar zu ihm: „Der Wilddieb, er gibt keine Antwort, er kennt seine sichere Hand / Ein Knall und gleich drauf ein Aufschrei, und der Förster liegt sterbend im Sand.“

Ihrer Mutter oblag das Heim und die restliche Familie. Von ihr hatte sie das künstlerische Talent geerbt. Sie malte unentwegt Bilder und fühlte sich zudem als Schauspielerin berufen. Das studierte sie in Berlin, jedoch nie zu Ende. „Riders on the storm“. Sie pendelte zwischen Berlin und Frankfurt, wo sie mit Hermann einige Bühnenstücke produzierte.

Sie reiste nach Jamaica und verschrieb sich in der Folge irgendwelchen Dritte-Welt-Gruppen. Sie studierte noch ein bisschen Ethnologie und Kunstwissenschaften in Frankfurt und in Heidelberg. Hier übte sie sich in diesen pathopraktischen Schritten des Sozialistischen Patientenkollektivs, und schließlich versuchte sie den Ausstieg aus aller Zeitlichkeit und fuhr nach Indien. „Take a long holiday“.

Immer wenn ich an dieser heruntergekommenen Hofanlage kurz vor Marburg vorbeifahre, fahre ich zeitlich im Geiste zurück. Wir trampten alljährlich zur Buchmesse nach Frankfurt und hier, in Göttingen an der Lahn, blieben wir hängen. Keine Anschlussfahrt ergab sich mehr an diesem frühen Abend. Die Chancen zum Mitgenommenwerden sanken mit zunehmender Dunkelheit. Die Hofanlage bot sich zum Übernachten an.

Mittlerweile hat die Natur bedenkenlos begonnen, sich die Hoheit über die Backsteingebäude zu verschaffen. Errichtet sind sie auf gehauenen Natursteinen und derartige Reste stehen direkt an der Straße, eine nach oben offene Ruine, aus der Bäume und Sträucher buschig dicht hervorquillen. Gegen die ungestümen Triebe der Natur hat die versteinerte Kultur keine Chancen. Nicht allein der Geist, mein ganzer Körper fährt zurück und gerät in wilde Aufruhr. „If ya give this man a ride - Sweet memory will die”.

Das Lächeln der Souveränität -38- Brigitte und ich, wir suchten uns den Eingang zu einem weiter zurück liegenden Gebäude, das sich als eine große Scheune erwies. In dem noch vorhandenen Heu entrollten wir unsere Schlafsäcke, und ich rollte näher an Brigitte heran, schob meine Hand auf ihren Busen, was ihr gefiel. In ihren Schlafsack rückte ich ein, und sie ergriff mein Trimm-Dich-Männchen, sie nannte es so. Sie zitierte aus „Sexfront“ und sprach „Komm, fick mal wieder“. „Take him by the hand.“

Zunächst, wegen der Wortwahl schockiert, lief mir dann ein warm wohliger Schauer über den Rücken. Und sie fummelte gleichfalls an mir weiter und redete erregt. „Oh Bernd, mach mir den wilden Bär. Komm dichter an mich ran, komm ran an mein Honigtöpfchen. Komm, gib mir das Ding. Komm tiefer, tiefer, deep and wide.“ Aufgeputscht heftig drehte und bewegte ich mich zwischen ihren Schenkeln, und das alte Scheunengebälk quietschte und knarrte im Takt unserer zuckenden Stöße. Dabei sah ich ihr Gesicht im Dunkel vor mir. Ihre offenen blonden Haare leuchteten, beleuchteten ihr Gesicht mit den verdrehten Augen und dem unsittlich lüstern geöffneten Mund.

Mein erregter Körper streckt die Beine durch und ich fahre wieder viel zu schnell. Glücklicherweise kann ich rechtzeitig den Polizeiwagen hinter den Büschen erkennen. Brigittes leuchtendes Haar und Gesicht verblassen, ihre häufig recht drastischen Sprüche hallen hinter mir her. „An actor out alone.“

# Straight to the top

Die prächtigen Türme der hohen Häuser stechen in den blauen Himmel hinein. Sie bilden die Herberge von begnadeten Menschen, die fieberhaft bewegt irgendwelche Pumpmaschinen bedienen. Rastlos arbeiten sie an der Beschleunigung des Geldflusses und der Mehrung des Geldes in aller Nachhaltigkeit. Sie experimentieren in den Höhen aufgewühlt mit ihren betriebs- und volkswirtschaftlichen Formeln, geben sie emsig in ihre Rechner ein und surrend kommen all die mathematisch berechneten menschlichen Vorteile heraus, die, die das statistisch ermittelte Wohlergehen, den Reichtum und die Freiheit völlig kompatibel zu einer UN-Vorgabe nachhaltigst befriedigen.

Das Lächeln der Souveränität -39- Zu diesem Zweck sammelt sich stetig das Geld hoch droben in den Hochhäusern an. Eine ge- waltige Fallenergie kumuliert sich, und die geballte, monströse Kraft lässt man mit Karacho in die Tiefe sausen. Sie prescht dröhnend in die präparierten Kanäle, reißt unerbittlich die per Zielvorgaben avisierten Zinsen und Abgaben an sich, greift sich alles was nur eben geht. Und das Geld vermehrt sich derart mehr und mehr und immer mehr.

In Bockenheim sticht aus der Menge der Frankfurter Türme ein besonderer hervor. Es ist der heruntergekommene AfE-Turm, ein in schäbigen Beton gegossenes Monument der Bildungspolitik. Er dient als schnell gegossenes Hochstaubecken für die verlängerte Pubertät, für die Postadoleszenten, diese neuen Sozialisationstypen eben. In immer größerer Anzahl sind sie in die Uni geflutet, und so hat man dieser Masse wenigstens flott ein Hochbecken betoniert. Die Studenten haben das staatliche Anliegen schnell begriffen und unten am Sockel des Turms ein Café aus Sperrmüll erstellt. Immerhin haben sie dem Ding einen modernen Namen verpasst: „Kommunikationszentrum“, kurz „KOZ“ genannt. Das passt.

Einige junge Leute sitzen draußen, zu Füßen des maroden grauen Staubeckens auf den unteren Treppenstufen. Sie haben Trommeln dabei und bekunden singend, dass sie mal ganz nach oben wollen. „I know that I will never stop, oh no - Until I know I'm wild and free Just like a champagne bubble - Pop pop pop.” Bezwingend, stetig ist der Trommelklang und so rau sind ihre Stimmen, einfach ätzend, kratzig schmerzend. Voll mit zerschrammenden Dornen ist der Weg straight to the top. Pop pop.

Als ich damals an die Uni kam, da gab es all das noch nicht. Seinerzeit habe ich gar nicht durchgeblickt. Einige machten in Marx, andere in Marcuse, Adorno wurde hochgelobt und Freud galt als große Nummer, ein Benjamin wurde als Geheimtipp gehandelt und irgendein Schelsky verachtet Die sogenannten Positivisten waren das letzte und über einen Max Weber wurde hinter vorgehaltener Hand gesprochen.

In den Seminaren und daneben unterhielt man sich eloquent über all das. Man spielte elegant mit den Titeln der Bücher und bestimmten Passagen daraus wie mit Bällen. Sie schienen wie voller Wind und Wolle. Mir schien es wie ein Traum. Nach einem gelungenen Spielzug grunzten die Unterlegenen zuweilen, brummten und schimpften. Doch ergriffen sie flott neue Bälle und jonglierten federleicht mit ihnen, eine wunderbare und seltsame Sache. Glänzenden

Das Lächeln der Souveränität -40- Kugeln gleich schwebten sie nach oben mit einem phrasierten Glitzerdrill versehen und begaben sich sogleich wieder auf den Niedergang, verglüht.

Es versetzte mich damals in tiefes Erstaunen, nämlich, dass beim ersten Schlagabtausch gleich Bällen nichts übrigblieb, sie auch nicht wieder gebraucht werden konnten, wodurch eine Menge alter und neuer Bücher draufging, dass es ein Wunder war.

Es herrschte viel Rauch und Rätselnebel in den Labyrinthen des Fachs. Nur die ganz Zähen, die konnten das ertragen und auch noch Spieler werden. Ich wollte im Grunde eine handfeste Literatur zwecks Orientierung im Leben allein.

Die Füße vermochten den Boden nicht wahrlich zu fassen, fanden keinen festen Stand, um darauf eine Art von Gewissheit zu errichten. Fear death by water. Doch trotz aller hektisch rudernden Bewegungen verspürte ich seltsamerweise nicht den geringsten Wunsch nach Erlösung. Absolut konsequent war die Parole, die revolutionäre Kommilitonen an die Wand der Mensa sprayten: „Schafft alles ab“. Es mangelte uns an einem wohl blinden, aber eindeutig klaren Seher. Ich hatte lediglich eine sehr, sehr entfernte Idee von Souveränität.

Nun ja, wir waren schließlich nur Spätberufene, die Älteren waren schon viel weiter. Sie hatten das Leben im Begriff, wussten sofort, wenn etwas dem Imperialismus geschuldet war, sich der kapitalistischen Verwertungslogik zu unterwerfen hatte und dadurch Entfremdung erfuhr. Ganz flott hatten sie eine passende Bezeichnung parat, ob jemand ödipal, kleinbürgerlich, autoritätshörig oder gar faschistoid veranlagt war, ob er verdrängte oder sublimierte, was wohl auch nicht so gut war. Das ging alles atemberaubend fachkundig vor sich. Ein Sachverhalt, und schon war das passende Schächtelchen bei Hand.

Wir Spätberufenen hatten uns selbstverständlich an den Kompetenzvorsprung zu gewöhnen, denn wer als Revoluzzer erst nach den Hochzeiten der Achtundsechziger dazugestoßen war, der galt nicht so recht als vollwertig. Noch in den neunziger Jahren traf ich in Frankfurt mir persönlich gut bekannte Altachtundsechziger, die grußlos an mir vorbeigingen.

Allmählich kann ich darüber lachen, wenn ich an Gesine und Udo und Jürgen denke, alte SDS-Kämpen. Ganz zwanghaft waren sie immer noch bemüht, Distanz zum Fußvolk zu bewahren, indem sie den Blick angestrengt und starr nach vorne richteten. Andächtig

Das Lächeln der Souveränität -41- konzentriert wohlgemerkt war ihr Schreiten, voller Bewusstheit von den heroisch vergangenen Schlachten gegen Axel Springer und so. Gewonnene Würde galt es im Schreiten zu demonstrieren, immerhin waren Orden verpönt.

In ihrer Vorstellung von einer wirklich legitim herrschenden Ordnung, eine gefühlte Ordnung, die natürlich nie formuliert wurde, waren sie die Fürsten, wir nur die Gemeinen.

„Fürsten“, also ich weiß nicht, „Dorfschulze“ ist wohl eine treffendere Bezeichnung. Denn es galt generell, dass wir alle die Nähe einer dörflichen Gemütlichkeit für uns aus der Distanz der Verdrängung zurückgeholt hatten. Draußen war es bedrohlich, auf jeden Fall vernebelt. Gar dringend mussten wir uns die Begrifflichkeiten der Theorie erarbeiten, eine Fronarbeit, um dieses Draußen zu taxieren, um Licht dorthinein zu lenken. Unsere verschwiemelte Distanz gebar allerdings einen anderen, moderneren Namen für das Dorf: „scene“. Das hörte sich besser an.

Das war so eine Art von lokal, örtlich offener Gesellschaft, man traf sich an bekannten Orten und registrierte oder ignorierte sich. Aber man sah sich, gar häufig, eventuell auch nur aus gesenkten Winkeln des Blicks. Man palaverte vielleicht ein bisschen, manchmal auch ein bisschen differenzierter, dann hieß es aber sogleich im lokalen Jargon, dass man „kommuniziere“.

Man schuf Erregung, man empörte sich, dass draußen im feindlichen Umland die RAF-Leute nicht als Kriegsgefangene anerkannt wurden. Man erzürnte sich über den Militärputsch im fernen Chile und über den rücksichtslosen Chemiegiganten Hoechst, der, am Horizont des Dorfes schon erkennbar, bedrohlich Böses in die Umwelt und in die südamerikanische Ferne schickte.

Die wohlhabenderen Bauern gaben im Dorf den Ton an. Sie besaßen sehr viel mehr und tiefer bearbeitete Äcker des richtigen und guten Bewußtseins. Das war auch schon historisch gereifter, hatte sich über viel mehr Jahre entwickeln können.

Das wussten die kleineren Bauern nicht immer zu würdigen, schon gar nicht diese Dorftrottel. Wir hausten am Dorfrand, schon quasi im Sumpf und wildem Waldgelände, in einem kleinen Haus am Ende der Straße, wo sich unsere Wohngemeinschaft, die WG, befand. Wir sangen

Das Lächeln der Souveränität -42- im Chor „we are the other people“ und machten schäbige Scherze über die, die genau wussten gegen welche Lebensform sie waren.

Hundsgemein kommentierten wir die Altvorderen, die nun wahrlich keine Vorstellung von einer richtigen und dabei stabilen ländlich-sittlichen Lebensform entwickeln konnten. Das Leben war nun mal falsch. Und wir wollten ihrem Bild von uns schließlich Genüge tun, vollendet. Wir hatten dabei keinerlei Vorstellung, sondern auch nur Beschwerden gegen all die da oben. Doch konnten die immerhin noch so tun, als hätten sie Vorstellungen.

Und so klatschten wir in der Dorfkirche, das war der große Hörsaal der Universität, Jakob Jassmann wie immer zu. Willig ließen wir uns in seinen theoretisch tiefsinnigen Netzen verstricken, da waren wir wenigstens schön eng und gemeinsam beisammen. Der puschte uns hoch. Der Mann hatte, wie auch immer, eine unwiderstehliche Kraft.

Und dann kam der Pfaff, der David Pfaff, der beeindruckende Reden hielt und unsere revolutionäre Glut zu fackelnden Feuersbrünsten entfachte. Wir standen auf den Klappsitzen, auf den Schreibpulten und jubelten ihm zu, halleluja.

Anschließend saßen wir in der Dorfkneipe „Lindenbaum“ und grübelten darüber, was der Pfaff uns wohl zu sagen gedacht hatte. Er besaß einen gewaltigen Bonus an Ansehen bei uns, war er doch aus den USA, aus Kalifornien rausgeschmissen worden. Seine Aufenthaltsgenehmigung wurde nicht verlängert. Diese Sache trug den Titel die „Kiste mit dem Rausschmiss“ bei uns. Wir hatten eben unseren eigenen Dorfjargon, getrieben von der Sehnsucht, alle Probleme der Innen- und Außenwelt in deklarierbare Kisten zu sortieren.

Winnie der Mathematiker kam zwischenzeitig vom Flipper zu uns an den Tisch und sagte: „Denkt mal ein bisschen logisch über Eure Gefühle nach. Der Pfaff hat wie immer gar nichts gesagt, aber wie er es gesagt hat, das ist spitze, das reicht doch auch. Das schöne Gefühl ist es, was uns eint. Wir schwingen dann emotional getaktet auf der gleichen Frequenz. Als Trümmer einer einst einheitlichen Bewegung können wir nur so. Warum macht Ihr Euch also einen Kopp?“

Die bäuerlichen Seelen, an denen der Zweifel nagte, empfanden Trost und die dörfliche Gemeinschaft, der Frieden war wieder gefestigt. Hier war ich also angelandet, dem

Das Lächeln der Souveränität -43- Kleinstadtmief entronnen, untergekrochen im Dorf. Denn wir brauchten dessen simulierten Sumpf, seine schwiemelige Nähe, wollten wir doch tief versacken, ab in jede Form von Untergrund.

I see crowds of people walking round in a ring. Doch wenn man mitläuft, sieht man die ewige Kreisbewegung und in den Massen das wüste Land nicht recht. What shall we ever do? Das ist eine ewige Frage, und immer dringlich. Abwarten vielleicht. Listen to the voices singing out of empty cisterns and exhausted wells. Mit denen kann man ja dann mal darüber sprechen. Man muss sogar dann mal.

Sprechen, reden, quatschen, immer nur seichen, mit sich, mit anderen. Mir dröhnen die Ohren vom ständigen, dunstigen Geschwafel, vom leeren Gerede. Ich will dem Kreis entkommen. Schon so lange. Über die düstere Verbaltretmühle will ich mich erheben. Will souverän über all dem Verlaberten stehen. Ich will das klare Licht. Weg mit den Schleiern! Freie Sicht auf das Realitätenmeer!

# Hör die Großstadtmelodie

Diese total sorgsam gestapelten Tücher, exakt, Kante an Kante genau, gefaltet, und zuvor mit einem Dampfbügeleisen geglättet und geplättet, die sind irgendwie faszinierend für mich. Obenauf liegt das Staubtuch, das einen zart-flauschigen Eindruck ausstrahlt und dadurch mit der Drastik des Ordentlichen, des Geradlinigen, des akribisch Rechtwinkligen versöhnen will.

Ich habe dahinter immer einen Ausdruck von Familienleben gesehen, so wie sich ein Familienleben als übersteigertes Ideal darstellen könnte, schön ordentlich und peinlichst genau, aber mit versöhnender und betörender Zartheit bedeckt. Das war darüber hinaus die Einübung ins Militärische, wo im Spind alles auf Kante liegen muss. Und das hatte gar nichts Versöhnendes. Das Exakte stellt nämlich die Kampfansage an das Chaos der Wildnis dar. Wo ich dabei stehe, das ist klar. Also ich habe zumindest den festen Eindruck irgendwie.

Diese Installation im Museum der modernen Kunst gibt für mich das wieder, wogegen wir in unserer Jugend gekämpft haben. Oder zumindest das, von dem wir glaubten, dagegen sein zu

Das Lächeln der Souveränität -44- müssen. Diese geraden Linien, die genauen rechten Winkel stehen für das Ordentliche, das Rationalistische, dem sich das Leben der Gesellschaft überhaupt völlig untergeordnet hat.

Immer schön ordentlich zu sein, das leitende Gebot der Eltern echot in den Räumen, im Oberstübchen. Anständig sollte man damit ebenso sein, ordentlich eben zu den Menschen, zu den Dingen gleichfalls. Außerhalb der engen elterlichen Welt, schon in der Schule, war das Gebot nur noch ein manifestes Hindernis. Da draußen war eine andere Welt, da verliefen die Horizonte ferner, da war fantastisch viel Raum zum Bewegen.

Das war nicht mehr gleich mit dem elterlichen Verständnis des Ordentlichen. Heraus kam ein persönliches Pingpong zwischen dem Versuch, dem mächtigen Schub des Gebots zu folgen und dem Abgewiesensein am Hindernis, oder, vielleicht besser, dem Verlaufen in der Weite. Und zurück ging es als der Unordentliche, der Geschlagene, unfähig, das Ordentliche zu erkennen. Zu blöd! Schuldig…

Das Leben schien so hermetisch geschlossen, eingezirkelt, eng, zerstörerisch beklemmend. Ich und die anderen, wir wollten raus! Sprengen! In die Luft jagen! Ich weiß überhaupt nicht, warum ich diese dämlichen Tücher so hingerissen anstarre, sie fast als Götzen bewundere, oder gar als Reliquien von Heiligen. Sie duften stinkend nach dem weißen Riesen.

Als Tücher hätten wir früher die miefigen Dinger in lodernde Flammen geworfen und drumherum getanzt. Wir erhoben uns gewaltig trotzig gegen eine bedrängende Übermacht, die wir dann transferiert im hohen Himmel der Abstraktion, im Ordentlichen und Rationalistischen ansiedelten. Und dabei verbrannten wir uns die Fittiche gar heftig.

Nur wenig ist von den Inhalten unseres Revoluzzertums übrig geblieben. Die unspektakulären Reste des Falles kann man im Museum ebenfalls gewürdigt sehen. Einige Ecken weiter steht das mit gefüllten Plastiktüten behangene Fahrrad von Slominski, ein Symbol der Obdachlosigkeit, des unerheblichen Absturzes, besonders des persönlichen.

„Das Fahrrad lässt Du aber mal schön hier stehen. Du musst Dir schon selber eins besorgen.“ Die Sätze werden von einem hellen, scheppernden Lachen begleitet. Deren Quelle ist mir schlagartig bewusst. Wegen dem Herrn Kulturreferenten bin ich immerhin auch in diese Ausstellungseröffnung gegangen. Wegen dem Kerl, wegen dieser Äußerung wäre ich fast

Das Lächeln der Souveränität -45- explodiert. Doch wie seltsam, es ergreift mich ein Gefühl des Erhabenen. Ich lächle gar. Ich will das Rätsel knacken!

„Hallo Rudi, mal wieder so liebenswürdig heute. Redet Ihr so spaßig in Euren Amtsstuben jetzt? Ach, das muss ich Dir hier passend sagen: Ein Modell von Deiner ehemaligen Unterkunft, dem Korbacher Hochhaus, das hätte auch gut in diese Ausstellung gepasst. Dem haben sie nämlich ein Satteldach verpasst. Das sieht wirklich sehr lustig aus, so ein spitz bedachtes Hochhaus.“

Erneut lacht er scheppernd. „Ich kann es mir gut vorstellen, wirklich krass albern, fast schon cool. Du siehst, die Sehnsucht nach einem bedachten Leben ist auch im Waldecker Land erwacht. Du warst dort oben?“ „Nun ja, meine Eltern leben immerhin noch dort. Und dann hat mich auch Hermanns Tod neugierig gemacht.“

„Ach ja, er ist ja gestorben. Ich habe davon gehört. Der alte Mime, dem werden von der Nachwelt wohl keine Kränze geflochten, trotz dieses dramatisch effektvollen Abgangs.“ Schon wieder drängt es ihn zu lachen, doch ist es wohl mein böser Blick, der ihn abhält.

„Na ja, was soll ich dazu sagen. Der hat mich zum Schluss schwer genervt, vor zwei Jahren noch, da habe ich ihn einige Male aus meinem Büro rausgepfeffert. Die Zeit war längst über seine Schauspielkunst hinweg gestiefelt. Das Zeug will doch keiner mehr sehen. Video killed the Theatre-Star, sage ich nur. Versteh’ mich bitte nicht falsch, ich bin nicht gegen die kleinen Bühnen. Besser hätte ich es hier Frankfurt sowieso gefunden, wenn sie das Schauspiel dicht gemacht und dafür das Ballett aufgewertet hätten. Da ist doch action drin, voll cool. Aber behalt das für Dich.“

Ein verschwörerisches Lächeln schenkt er mir und redet sich jetzt in Hitze, fängt an sich zu verteidigen, dass er für Hermann wirklich gar nichts mehr habe machen können, und die Kassen der Stadt sowieso recht leer seien. „Anmaßend ist er mir gegenüber aufgetreten. Ich habe vor ihm gesessen und mich nur noch schuldig gefühlt. Zusammengeschrumpelt bin ich vor ihm, verdörrt vor seinem Blick, eingelaufen.

Das Elend kam über mich. Das war noch schlimmer als damals in der Schule, als dieser Mathematiklehrer Baldur Gassmann mich einmal fertigmachte. Ich musste ihn

Das Lächeln der Souveränität -46- rausschmeißen, das konnte ich ja nun im Amt. Das war ein Akt der Selbstverteidigung. Der Kerl war ja eine hochgefährliche Explosivwaffe. Jetzt ist sie wohl implodiert.“ Ein unterdrücktes Lachen gluckert in ihm. Hinter seinen Mundwinkeln kann er die Verbitterung nicht länger verstecken.

Seiner aufgekratzten Vortragsweise entsprechend hat er wohl Schuldgefühle. Das nutze ich aus. „Aber weißt Du, was denn bloß der Grund war, dass er zum Strick gegriffen hat?“

„Woher soll ich das denn wissen? Bei dem ging doch alles schief, da war meine Absage an weitere Subventionierung doch nur ein kleiner Bestandteil von, auch wenn sie ihn aus den Räumlichkeiten seines Theaters bald herausgeschmissen hätten.“

Mein verwunderter Blick lässt ihn kurz innehalten. „Ja, dieses heruntergekommene Gebäude hatte er wohl immer noch gemietet, doch wohl nichts mehr für zahlen können. Zum Schluss hat er darin ja richtig gewohnt.“ Meine Augen werden immer größer.

Den Rudi hält jetzt nichts mehr auf. „Aus seiner Wohnung war er doch draußen, und da hat er sich in seinem Theater die Heimstatt errichtet. Das war der Ort, an dem er seinen tragischen Abgang inszenieren konnte. Dort war die entsprechend dramatische Fallhöhe gegeben, sie verlieh ihm die Wucht, um sich das Genick zu brechen. Und im dortigen Fundus war der Strick. Was weiß ich warum.“

Rudis Stimme wird schriller. „Er wollte doch liebend gerne die „Bettleroper“ aufführen, da kommt doch auch ein Strick vor.“ Er stutzt. „Na ja, unseren guten Hermann, den konnte allerdings kein Publikumsgeschmack mehr retten, wie in der Oper, ein Knack und das Ende.“ Er lacht hysterisch und fängt an zu singen, „Do you know me now? I am Jack the knife“.

Gereizt fordere ich ihn auf, dass, wenn schon, dann auch richtig zu machen, so wie Sinatra. „Und tanz den Foxtrott dazu, hier quer durch den Raum.“

Rudi stoppt seinen Gesang. „Pardon, aber das nervt mich, so wie Du mich hier als einen Schuldigen darstellst.“

„Ich stelle Dich nicht als Schuldigen dar. Ich stelle nur Fragen.“

Das Lächeln der Souveränität -47-

„Ja ja, ist ja gut. Da empfehle ich Dir, gehe mal an seine Frauen. Du weißt, unsere Korbacher Grazien. Frage mal die Kathrin, die stöckelt doch immer noch hier irgendwo rum. Mit der hat er es doch getrieben. Aber sie erst mit ihm! Aah. Und dann unsere Sinnsucherin, unseren Rauschegoldengel, mit dem hat er wohl tagelang gevögelt.“

Schon wieder steigert sich seine Tonlage, bremst sich dann wieder aus, doch nur kurz. „Mit der hast Du doch auch rumgebumst. Weißt Du noch damals, als wir zur Buchmesse trampten? Wir anderen waren schon längst hier und haben auf Euch gewartet. Und Ihr? Ihr seid Euren geilen Vergnügungen nachgegangen und habt die Nacht in dieser Scheune bei Marburg durchgefickt.“

Mein Mund springt sperrangelweit auf, die Augen treten aus dem Kopf. Was sollte denn das bedeuten? Ich habe keinem Menschen von dem Scheunenerlebnis erzählt. Und dann kann es nur Brigitte gewesen sein, die davon erzählt hat.

„Weg ist sie, fort. Sie lebt vermutlich nicht mehr, seit drei Jahren wird sie vermisst“, informiere ich Rudi erregt und frage nicht, woher er sein Wissen hat. Der Kerl, der provoziert mich mit seinem deftig-heftigen Sprachstil. Ich beiße die Zähne jetzt fest zusammen.

„Ach, der Engel ist wohl abgestürzt.“ Dieser Scheißer, denke ich momentan, neidisch ist er wohl auf das lüsterne Scheunenerlebnis, das ich mir als Ikone im Kopf bewahrt habe. Immerhin bringe ich es schon zu einem Lächeln in meinem Gesicht. Wir sind im Eingangsbereich des Museums angelangt, wo die Gläser mit Wein und Sekt massenweise rumstehen. Es ist nicht unbedingt die beste Qualität, doch schon hat Rudi das dritte Glas fast geleert.

„Ha, wenn ich ein Künstler wäre, dann würde ich den Sturz des Engels hier im Museum nachbilden, so mit Laser, so weiß den Engel noch hinten, doch vorne schon schwarz verkohlt, und dazu geblendet vom großen Sinn. Passend würde ich eine Duftkanone installieren, so mit dem Geruch von verkokeltem Gefieder. Echt cool.

Oder, ach ich hätte da noch eine bessere Idee. Eine große Wanne mit Mainwasser würde ich aufstellen, und da würden so zwei Beine rausgucken.“ Rudi nimmt das vierte Glas. „Ja und

Das Lächeln der Souveränität -48- dann, der Unterleib würde auch noch so ein Stückchen rausgucken, so mit weißem Höschen, gelb im Schritt, Urin. Vor Schrecken, Schmerzen, Angst hat sie sich ins Höschen gepisst.“ Er lacht und schluckt. „Im Hintergrund zieht ein Vergnügungsdampfer vorbei und noch weiter hinten stehen die unbeteiligt die Hochhäuser rum, schön farbig illuminiert.“

Ein aufgekratztes Lachen schwappt zwischen seinen Beißerchen hindurch. „Ha, klasse Idee, voll cool, und richtig, von dem Vergnügungsdampfer hört man noch Musik, ‚Another one bites the dust’, ha ha.“ Er stoppt seinen Redefluss, schaut mich irritiert an. „Na ja, war ja nur so eine Idee. Dabei habe ich die Alte doch wohl erst letzte Woche noch auf der Adalbertraße gesehen, na gut, nur von hinten und aus dem Auto heraus.“

Und jetzt bin ich irritiert. „Der, der da hinten steht, ist das nicht Frank?“ Ein Herr, etwas älter als ich, steht dort an der Plastik mit dem exakt geordneten Schieferdach und den langen Dachrinnen. Mit einer eleganten Bewegung zieht er eine Taschenuhr hervor, genau so cool wie damals die stanniolverpackten Klümpchen, aber jetzt aus einem noblen Anzug heraus.

„Genau, das ist er. Vom Schulabbrecher, über Dealer und Autoschlosser und Drucker hinein in den diplomatischen Dienst. Das hast Du doch mitbekommen? Einfach toll, wie der das gemacht hat.“ Tatsächlich hat sich Rudis zuvor lästerlich-hysterischer Tonfall zu einem anerkennend getragenen entwickelt. „Er tritt jetzt als Sponsor für dies Museum auf, bringt mexikanische Kunst ein, also so moderne, aus den Tijuana Sessions.“

Die kenne ich nicht, doch müssen wir unser Gespräch beenden. Schon vorher hatte ich aus den Augenwinkeln beobachtet, wie uns Sylvia umkreiste. Jetzt kommt sie direkt auf mich zu. Meine Lebensgefährtin will nach Hause.

„Wer war denn das?“ Will sie von mir wissen. „Wie der sich aufputzt, da sieht er doch etwas schräg aus.“ Das Outfit von Rudi habe ich nur am Rande registriert, nicht richtig wahrgenommen. Jetzt, wo Sylvia mich darauf anspricht, fällt mir dieser hochgestellte Kragen von seinem Polohemd wieder ein. „Und diese gegelten Haare, für einen Herrn seines Alters wirkt das doch ein bisschen lächerlich.“

Das Lächeln der Souveränität -49- Das kann ich nicht bestreiten, sein Versuch, jugendlich zu wirken, hat etwas Albernes an sich, so wie das Korbacher Hochhaus mit Satteldach. „Na ja, auch er ist auf der Suche nach einer Art von Schutz, und da hat er sich momentan das Dach ewiger Jugendlichkeit ausgesucht.“

Ich muss mich noch etwas unterhalten, will aber noch nicht in die Wohnung zurück. Somit gehen wir zu „Magister Motte“, eine Gaststätte in unserer Nähe. Auch wenn Sylvia den Laden nicht so mag. Ich muss das zuletzt Gehörte verdauen und weiß nicht wo anzufangen. Ich beginne bei Rudi. Der hatte uns damals völlig überrascht, als er eine Lehre als Verlagskaufmann begann. Auf einmal war er weg. Gut, wir haben ihn anfangs noch in Frankfurt besucht. Aber die Verbindung lockerte sich zunehmend.

Schließlich holte er noch das Abitur nach, hier in Frankfurt auf dem Abendgymnasium. Da hatten wir wieder stärkeren Kontakt. War doch das Abendgymnasium ein befreundeter revolutionärer Bereich. In einem nahe gelegenen Ecklokal da pflegten wir unsere Kontakte. Literaturwissenschaften studierte er dann und irgendwann war er im Kulturamt gelandet, da war der Kontakt aber schon längst wieder abgebrochen.

Mit meinen Erzählungen drücke ich mich um das herum, was mich eigentlich bewegt. Die Begründung Rudis, also die, die er mir heute gegeben hat, warum er damals die Lehre begann. Ich mag es Sylvia nicht so recht zu erzählen. Doch dann rutscht es raus. Es soll mit dem Scheunenerlebnis zu tun gehabt haben. Rudi meint, er wäre so sauer darüber gewesen, dass wir an dem Abend nicht in Frankfurt eingetroffen waren, sondern stattdessen in der Scheune gevögelt hätten. Er hätte dann nur noch von Korbach weg gewollt. Ich glaube das nicht so recht.

Ich kann es eigentlich nicht glauben. Was Rudi mir erklärte, das ging noch weiter. Mit der sexuellen Tätigkeit hätte ich mir eine Art von mythischem Ruf mindestens in der Kellergruppe erworben. Vielleicht wir beide gar noch als eine Premium Marke, als „das fickende Paar“. Das habe ich nie gewusst, das war mir nie klar. Irgendwie wäre mir das auch unangenehm gewesen. Es war nicht in Ordnung für mich.

Ich lache. Das entspannt mich hier in der Situation vor Sylvia. Der Selbstzweifel nagt an mir, so einem legendären Ruf überhaupt entsprechen zu können. Ich kann fast die beklemmende Stimme in meinem Kopf hören: „Ach Bernd, schaffst Du das denn überhaupt?“

Das Lächeln der Souveränität -50-

„Andererseits“, so sage ich zu Sylvia, „könnte mich so was natürlich auch stolz machen. So was kam in der Szene damals an. Frank zum Beispiel hatte sich seinen Ruf erworben, weil er sein Interesse bekanntermaßen auf die Frauen in der Politszene gerichtet hatte. Der hat das ausgebaut, richtig zu einem Bewusstsein von Überlegenheit ausgebaut. Ich habe mir meinen ständigen Selbstzweifel immer als Ehrlichkeit vor mir selber zu verkaufen gesucht.“

Was soll Sylvia dazu schon sagen? Beschwörend rutscht mein Blick in die Höhe, da wo die Schnapsflaschen über der Theke schweben. Zwischen ihnen steht ein Grammophon, die Nadel springt, der Trichter schaut auf mich herab, „das schaffst Du nie.“ Meinen hilflosen Blick erfasst zumindest Tanja sofort, die Bedienung, und bringt mir ein neues Bier. Ich weiß nicht, ob ich noch eins wollte, nehme aber einen tiefen Schluck. Trostvoll stillend rinnt das Bier die dürstende Kehle hinab. Und das Grammophon nudelt einfach weiter, „Mama, ich will noch einmal Deine Hände küssen“.

„Weißt Du, ich glaube in dieser Kneipe hier, da saß früher häufiger so eine Großkopfete des Frankfurter SDS. Er schmiss seine Groschen in die Musikbox und drückte Heintje. Immer wenn er seine hohen theoretischen Erklärungen in seelische Tiefen transferieren musste, machte er das mit Saufen. Dann ging er nach hier und soff und hörte Heintje und ließ die Seele brennen, nahm noch ein Bier als Kühlflüssigkeit und diverse Doppelkorn. Hardenberg schluckte er wie ein Loch.“

Sylvia bemerkt meinen Blick in Richtung Theke. „Hör jetzt auf mit dem Alkohol“, sagt sie zu mir, „Du hast im Museum schon Wein getrunken. Es reicht, morgen hast Du sonst einen dicken Kopf.“ Sie hat recht. Alkohol retardiert, wirft einen zurück in längst vergangene Gefühlswelten voller Selbstmitleid. Eigentlich habe ich die schon längst verlassen, eigentlich.

Hans von Lohmar, oder so ähnlich hieß der Theoriecrack von damals. Der hatte sich in dieser braunen, holzverkleideten Berliner Bierkneipe einfach wohl gefühlt, für sich allein, ohne seine Anhängerschar, soff und ließ die Seele baumeln.

„Gebt dem Hans ‚nen Doppelkorn. Auch der hat sich einen sagenhaften Ruf erschaffen können.“ Mein Rededrang setzt sich wieder durch. „Seinen Mythos hat er darüber hinaus mit einem Buch begründet, das kein Mensch verstanden hat. Die esoterische Theoriesprache war

Das Lächeln der Souveränität -51- Bestandteil seines Rufs. Sie gab er wohl damals ebenso im großen Hörsaal zum besten. Und fasziniert starrten alle nach vorn, seine Worte klangen so verständlich, jeder wusste, was er wohl so cirka meinen könnte. Alle einte die tiefe Überzeugung, es doch nur ehrlich zu meinen.

Auch ich hätte meinen Ruf ausbauen sollen, Bernd vögelt über tiefen deutschen Landen rum, in morschen Bauernscheunen und alten Arbeiterhäuschen. Diese Scheune steht übrigens an der Bundesstraße, auf der von Lohmar seinen tödlichen Autounfall hatte, nicht weit davon entfernt. Das ist doch von tiefster mystischer Bedeutung. Also in die Richtung hätte ich es drehen sollen. Das wäre wie das Erschaffen einer Premium Marke gewesen.“

Sylvia lacht. „Aber Du bist jetzt auch der Meinung, dass diese sogenannte Ehrlichkeit vor Dir selber eine reine Selbsttäuschung ist, oder? So ein Rückzug in eine Gedankenhöhle. Da macht man sich doch nur etwas vor, nicht wahr? Eigentlich ist es doch so, dass man ganz einfach nicht kann, dass man nicht in der Lage ist, so einen legendären Ruf um sich aufzubauen. Hör auf damit, Deine Gedanken drehen sich im Kreis. “

Na ja. Sylvia hat wohl recht. Diese Tricks der eigenen Psyche, sich selber zu täuschen, sind mir vertraut, also so theoretisch zumindest. „Sei doch froh, dass Du es nicht gemacht hast. Sonst würdest Du jetzt auch so geckenhaft mit aufgestelltem Kragen rumlaufen oder mit einer närrischen Gestik die Taschenuhr aus der Weste ziehen, so richtig wie ein Parvenü, wie dieser Kerl vorhin, der aus diplomatischen Diensten.“

Ja ja. Das ist kein Ausgang aus der Tretmühle. Mir fällt ein, dass Hermann den von Lohmar sowieso nicht mochte. Er hatte ihn in seiner Göttinger Zeit kennengelernt. Hermann, das wird mir bewusst, ist für mich bislang noch unerreichbar geblieben. Dieses faszinierende Lächeln, diese Aufgabe stellt sich mir mit tiefstem Nachdruck. Aber bei all seiner Souveränität begreife ich immer noch nicht, wieso er sich aufgehängt hat. Das kann doch nicht die Konsequenz gewesen sein.

„Ein Mensch, der in die Hauslosigkeit geht, der sollte sich all der Unbeständigkeiten gewahr sein.“ So sprach mein Lehrer. Gehen, gehen, endlich losgehen sollte der Bernd. Gate, gate, spricht der Spirituelle auf Sanskrit.

Das Lächeln der Souveränität -52- # Was die Stadt so bietet

Ich habe eine Einladung zum Arbeitsamt. Die wollen mich vermitteln. Können sie aber nicht! In die Werbung wird niemand über das Arbeitsamt kommen. Und ich, mit meinem Alter, schon gar nicht mehr. So gut wie nie war ich in der Gestaltung von Werbung tätig, also in dem, was gemeinhin als Kreativität bezeichnet wird. Ich hatte zwar hin und wieder eine Idee, die auch umgesetzt wurde, aber tätig war ich dort als ein Korrektor.

Ich habe nur die textlich geistigen Ausflüsse der Kreativen und Geschäftsleitung in eine Art von ordentlichem Deutsch gebracht. Das war die Nische, die ich glaubte gefunden zu haben. Jetzt gibt es das Korrekturprogramm von Word, damit werden dann aus den gegelten Haaren per Mausklick gegellte und selbstbestimmtes Handeln schreibt man nun mit einem großen S, wie Scheiße.

Die korrekte Sprache vermochte meinem Leben zumindest einen gewissen Halt zu bieten, auch wenn die wild kreativen Kollegen mich gerne als pedantisch belächelten. Sie kamen trotzdem gerne zu mir, wie in eine geschützte Höhle. Sie setzten sich vor meinen Schreibtisch und erzählten von ihrem momentanen Auftrag, von ihren Ideen und einem passenden Text, von einem Bild dazu, und so ging es fort.

Manchmal tischten sie mir selbst ihre grauslichsten Beziehungsprobleme auf. Sichtlich entspannt verließen sie anschließend mein Zimmer und ihre Stimmung pendelte sich in Richtung Fröhlichkeit ein. Sie kamen trotz aller vermeintlichen Pedanterie gerne zu mir. Irgendwie mochten sie mich. Ich vermochte ihre negativen Gefühle auszubremsen, wie ich irgendwann begriff.

Gedankenverloren trete ich auf mein Fahrrad ein, trete ganz sanft in einen mir altbekannten Traum ein. Die Gespräche gestern Abend nehmen im Kopf anscheinend wieder überhand. Ein Fluss treibt mich in die Stadt, sie ist überkrönt ist von einem illuminierten, turmartig hohen Haus. Doch all die Wege, die ich sehnsuchtbeladen dahin einschlage, führen immer nur drumherum. Wo ist der Weg nach oben?

Ein Brunnen steht vor mir und davor eine Frau mit weißer Bluse und blondgelocktem Haar, hinter dem sie telefoniert.

Das Lächeln der Souveränität -53-

Ich habe wohl doch zuviel gesoffen gestern abend, denn ich glaube, bin überzeugt, dass ich Brigitte sehe. Sie ist gar nicht abgestürzt, nicht in den Brunnen gefallen, sie steht dort voll vor mir, optisch präsent, optimal in meiner Fiktion. Sie ist immer noch faszinierend, eine mystische Schönheit. Sie dreht sich um, in meine Richtung, zu mir. Da hupt ein Auto. Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren. Und schon ist sie weg. Ich kann sie nicht mehr wieder finden, Halluzination. Meine Ikone ist scheppernd auf das Pflaster gestürzt. Frustriert trete ich auf mein Fahrrad ein.

Im Hof des Arbeitsamts laufe ich ein, gehe hoch und die langen Gänge lang. Hinter all den Türen sollten doch eigentlich überall Jobs, Tätigkeiten, Arbeitsangebote gelagert sein. „Was darf’s denn bitte sein?“ Wir leben doch in einer Angebotsgesellschaft. „Wir hätten hier eine Topofferte, einen Spitzenjob, wahrlich eine Traumarbeit, genau passend für sie, ganz persönlich auf sie zurechtgeschnitten. Unsere charmante Local-Office-Beraterin berät Sie gerne weiter.“ Tja, wo bleibt sie denn bloß?

Ich sitze gelangweilt vor den Türen der Lagerräume, doch dann: „Ich könnte Ihnen eine Tätigkeit für die Öffentlichkeitsarbeit im Museum für Kunsthandwerk anbieten. Oh, ich sehe, Ihr Interesse geht mehr in Richtung bildende Kunst. Da haben wir ja was ganz Feines in unserer Angebotspalette. Den äußerst attraktiven Posten eines Publicity Managers im Städel, den könnten wir offerieren. Das ist eine ganz neue Kreation unseres Hauses, wird in den heimischen Thinktanks unserer bundesweiten Agentur für Arbeit entworfen und in Taiwan kostengünstig produziert. Das ist ein Schnäppchen! Das hat allerdings eine gewisse Lieferfrist.“

Ich bin gerne bereit, diese Wartefrist in Kauf zu nehmen, als mich endlich der lokale Office- Berater anspricht, keine charmante Beraterin, aber auch ganz nett. Er zieht des öfteren die Schultern hoch, dreht dabei die Handinnenflächen offen nach oben und erzählt von den Schwierigkeiten des Arbeitsmarkts, der nun wahrlich kein Angebotsmarkt sei. Gerade bei meiner Ausbildung und auch noch bei meinem Alter. Seine Arme fallen auf den Schreibtisch, und er stützt sich den Kopf.

Plötzlich nimmt er die Hände fort vom Kopf und schaut mich an. „Ich habe da eine Idee. Wahrscheinlich haben Sie in Ihrem alten Beruf doch nicht nur auf die Rechtschreibung

Das Lächeln der Souveränität -54- geguckt, sondern auch noch inhaltliche Kontrollen vorgenommen, Zahlen und Fakten geprüft, geprüft, ob rechtlich und formal alles in Ordnung ist.“

Der Mann hat recht. „Nennen Sie sich doch einfach ‚Lektor’, vollziehen Sie ein Branding Ihrer Berufsbezeichnung. Korrektor, das klingt doch nach Pickelhaube, da kann man schon die Amtsstube riechen. Lektor hingegen, da klingt etwas Mystisches an, das schmeckt leicht nach Gläubigkeit, eine religiöse Duftnote deutet sich an und im Abgang zeigt sich starke universitäre Genauigkeit.“

Ich starre ihn an. „Und denen, die keine Geschmacksnerven haben, erklären Sie, dass man das Wort mit CK schreibt.“ Er lacht. Ich kann es kaum fassen, der Mann vom Amt macht Scherze.

„Doch Spaß beiseite. Die Idee hat was. Es gibt dazu auch noch Fortbildungskurse, da lernen Sie mit zugehörigen Begriffen wie Projektmanagement, Producing und Ghostwriting zu jonglieren. Leider haben wir für so was kein Geld mehr, das müssen Sie schon selber zahlen. Aber wir sagen Ihnen zusätzlich, wo Sie das Schreiben einer Geschäftsidee erlernen können. Die schauen wir uns dann an und entscheiden, ob Sie von uns ein Überbrückungsgeld in die Selbständigkeit bekommen. Allerdings…“ Er macht eine kleine Pause.“ Allerdings müssen Sie selber mitarbeiten. Sie müssen selber, ja auch selber schauen, wo sich etwas für sie tun könnte.“

Ich kläre ihn auf, dass ich ganz engagiert bin, heute morgen allein hätte ich schon drei Absagen von Firmen in meinem Briefkasten gehabt, alle selber erarbeitet. Ich weiß nicht, ob es Zufriedenheit ist, die der Mann vom Amt mir mit seinem undeutlichen Gesichtsausdruck signalisieren will. Von Lachen jedoch ist keine Spur mehr zu sehen. Er dreht rasch sein Gesicht wieder den Akten zu, die vor ihm liegen. Er tut mir leid.

Da komme ich von außen auf ihn zu, und ich will auch noch was von ihm. Dabei hat er schon mit den amtsinternen Änderungen hin zu einer richtigen Kundenorientierung zu kämpfen. International soll das jetzt auch noch werden. Eine Untersuchung zum Corporate Branding des Arbeitsamtes hat ergeben, dass es wohl in Federal Agency for Labour umbenannt werden sollte. Das könnte die Wirkung des Amtes nur steigern.

Das Lächeln der Souveränität -55- Ich gehe die Agentursgänge zurück, die Amtstreppen wieder runter und verlasse auf meinen Drahtesel den Hof. Ich habe schlechte Laune und trete auf den Esel ein. Er kann nichts dafür, aber ich habe auch noch an meinem schlechten Gewissen zu tragen. Der Mann vom Arbeitsamt tut mir wirklich leid. Was soll er denn machen? Und dann so jemanden wie mich zu vermitteln, da muss er doch die Krise kriegen. Ich kann schon wieder diese beklemmend sorgenvolle Stimme in mir hören: „Ach Bernd, was machst du denn auch?“

Beladen mit den Selbstvorwürfen lande ich schließlich im städtischen Anlagenring, fahre durch den schönen Park mit Teichen und Wasserfontänen. Doch zieht es mich daraus sogleich wieder fort, und ich lande im Ostend ein. Hier hat Hermann gewohnt, bevor er sich aufgehängt hat. Den Weg kenne ich gut. Ist er für mich, Bernd, denn noch gangbar?

Vor dem Haus, in dem er einst wohnte, liegt Sperrmüll, Plastiktüten und haufenweise Prospekte von Möbelmärkten und Lebensmittelketten. Der Papiermüll liegt auch im Eingangsbereich des Hauses, die Einwurfkästen für die Post sind teilweise zerstört. Die Eingangstür hat keinen Griff, sie lässt sich problemlos aufschieben. Hier ist ein offenes Haus. Kippen und Papierfetzen bedecken Gänge und Treppen, abwechselnd mit irgendwelchen Essensresten, kalte Stäbchen von Pommes Frites, dazu gereichte Mayonnaise ist auch noch erkennbar.

Taubenscheiße überzieht ganz oben den Flur. Die Türen zu den Wohnungen sind teilweise aufgebrochen. Aus einer von ihnen höre ich eine Stimme. Sie stammt von Franz Semmler, einem mir seit Jahren leider gut bekannten Versicherungsvertreter und Makler. Er hat mir eine Rechtsschutzversicherung verkauft, die ich nur einmal vielleicht gebraucht hätte. Und dann hat er über mich Hermann kennengelernt und ihm die Wohnung verkauft, aus der gerade seine Stimme tönt. Er steht darin zusammen wohl mit einem Architekten, und sie besprechen den Umbau der Räumlichkeiten.

„Er hätte noch eine Weile warten sollen, dann hätten wir seine alte Wohnung verkauft gehabt und er wäre weitgehend schuldenfrei gewesen.“ Ich schüttele den Kopf. „Warten sollen, bevor er sich aufhängt? Du meinst, dann wäre er weitgehend schuldenfrei in den Tod gegangen? Wäre dann entlastet vor der Himmelspforte gestanden?“

„Ach höre doch mit diesen Wortverdrehungen auf. Du weißt, was ich meine. Ich habe ihn noch kurz vor seinem Tod gesehen und ihm den baldigen Verkauf gemeldet. Obwohl ich das

Das Lächeln der Souveränität -56- nicht gemusst hätte, Du weißt ja, die Wohnung gehört ihm nicht mehr und steht unter Zwangsverwaltung des Darlehensgebers.“

„Ach so ist das. Er hat dann vermutlich Deinen ewigen Versprechungen nicht mehr geglaubt, und sich schließlich dem Strick ergeben.“ Wütend schaut Semmler mich an. „Ach ja, immer dann, wenn ein Schuldiger gesucht wird, dann kann es nur der Semmler sein.“ Er geifert und schaut sich aufgebracht zu dem Architekten um, irgendwie um Bestätigung suchend.

Ich bin jetzt reichlich heftig drauf und zacker weiter. „Wann hast Du ihn denn aus der Wohnung hier rausgeworfen? Kann doch noch nicht so lange her sein. Hast Du für so was ein Räumkommando?“ Semmler zittert am ganzen Körper, kann nicht mehr ruhig sprechen. Er wendet sich seinem Begleiter zu und schreit ihn recht laut an, dass sie weitermachen müssten.

Er gönnt mir noch einen kurzen Blick. „Der Hermann ist hier freiwillig ausgezogen, da gab es überhaupt keinerlei Druck von mir. Wahrscheinlich willst Du mir auch noch die Schuld an seinem Tod in die Schuhe schieben.“ Ich hätte große Lust, ihn weiter anzuheizen.

Er verschwindet hinter einer Ecke. Ich trete durch die Taubenscheiße den Rückweg an, vorbei an zerschlissenen Sofas und Sesseln im Flur, gleichfalls zugeschissen. Ich weiß ja nicht, ob Hermann diesen Verfall noch erlebt hat. Als ich ihn hier letztens besucht hatte, sah es so schlimm nicht aus. Aber es lag an mir, dass er diesen Semmelmakler überhaupt kennengelernt hat.

Neben seinen Aktivitäten als Makler hatte Semmler eine Zeit lang eine Finanzagentur in Bockenheim, nahe bei der Uni. Sie war rundum verglast und auf den Scheiben stand in dicken Lettern: „Vom Campus zum Schampus“, pop pop pop. Hermanns Theater war einige Häuser weiter.

Semmler wollte ihn unbedingt für seine Unternehmensstruktur gewinnen, denn Hermanns soziale Qualitäten, oder Qualifikationen wurden auch von dem Versicherungsfritzen bewundert. Damit hätte er Kunden noch und nöcher gewinnen können, wie er meinte. Er hatte sich Hermann als Rekrutierungsstar gewünscht. Der vermochte intensiv auf das Gefühlsleben der Menschen zu wirken, sie gar zu steuern.

Semmler schwärmte ausdauernd von dem „Millionen-Dollar-Lächeln“, vom Multi-Level- Marketing, wollte allen möglichen Leuten die Videokassette andrehen, „Denke nach und werde reich“. Er sprach von seinem großen Team, das sich mit Hermann ständig verdoppeln

Das Lächeln der Souveränität -57- sollte, von vielen Gruppenpräsentationen, alle nach gleichem Schema gestaltet. Neue Leute wollte er ständig aufbauen, wollte an einer sogenannten große Downline schaffen, an deren Spitze stehen und seinen Provisionsscheck explodieren lassen. „Just like a champagne bubble - Pop pop pop.”

Jetzt muss ich aber Schluss machen. Diesen rasenden Emotionalaufstand gegen Semmler muss ich stoppen. Der ist so überflüssig wie ein Loch im Kopf. Das Ausbremsen gelingt. Doch tut er mir nun wieder leid, weil ich ihn so heftig angegangen bin. Die nächste Emotion hat mich gekapert.

Eigentlich empfinde ich es als etwas verwerflich, jemanden so fertigzumachen. Die Ablehnung von derartigem Tun habe ich wohl von meiner Mutter infusioniert bekommen. Sie ist immer so freundlich, offen für Menschen.

Aber ich, ich habe das verdrängt. Nur zwischenzeitig blitzt es mal als ein ungutes Gefühl aus der Tiefe raus. Schon damals, in der Korbacher Eisdiele, als Hermann den vermeintlichen Reaktionär vorführte, da kam es kurz nach oben. Aber dieser Typ, der war ein typischer Vertreter des herrschenden Systems, und das hatte die Macht, allerdings war es absolut im Unrecht. Und Schadenfreude ist bekanntermaßen die Macht der Ohnmächtigen.

Der Selbstzweifel nagt an mir. Bin ich es etwa, der dem Hermann kriecherisch auf den Leim gegangen ist? Dabei wollte ich doch bloß etwas Selbstbewusstsein, ich will endlich souverän mit der Wirklichkeit umgehen. Aber geht das nur in Verbindung mit Häme? Ist Gehässigkeit die zugehörige andere Seite der prunkenden Souveränität? Aber er hat mit einen Weg gezeigt, sein Lächeln bewundere ich immer noch, oder wieder. Frage mich, willst Du den Weg wirklich gehen, Bernd?

Jahrelang war diese Art von Selbstzweifel in der Nische meiner beruflichen Existenz verschwunden, zumindest ist er mir nie stärker aufgefallen. Jetzt ist er wieder offen da, bisweilen zermürbend.

Ganz plötzlich gibt es einen Klack im Kopf. „Wo meine Sonne scheint“, das Lied lässt die emotionalen Schalter in eine neue Position kippen.

Ich will gerade in die Kleinmarkthalle eintreten, da ist das Lied zu hören, „wo meine Sterne steh’n“. Aus den Tönen tritt ein Gesicht heraus. Kathrin steht dort in einem kleinen Schmuckladengeschäft im Eingangsbereich der Halle. Verwundert gehe ich auf sie zu, Das Lächeln der Souveränität -58- begrüße sie und sage, es wäre schön, sie zu treffen. Ich frage, ob wir was zusammen trinken könnten. Zuerst will sie nicht so recht, sie betreibt den Laden und kann ihn nicht so einfach schließen. Doch da kommt eine Mitarbeiterin von ihr, und sie sagt nicht länger „nein“.

Ich erzähle Kathrin von meinem Liederlebnis soeben. „ Das war einmal ein Lieblingslied von mir.“ Sie schaut mich an, ich ergreife ihre linke Hand, und sie vollzieht eine Damendrehung unter meinem Arm. Ich gehe wieder in den Grundschritt einer Rumba, lasse ausgleiten und meine rechte Hand rutscht ihren Rücken herunter und gleitet über ihren Po. Ein alter Traum wird auf der Dachterrasse der Kleinmarkthalle wahr.

„Du hättest die Tanzschule damals nicht abbrechen sollen. Dann hättest Du gewusst, dass sich das nicht gehört. Die rechte Hand bleibt immer oben.“ Sie lacht mich an. Sie kann sich gut erinnern. Es war ein herausragendes Erlebnis, ich glaube nur einmal für mich, mit ihr in der Tanzschule zu tanzen. Ich habe es ihr vor diversen Jahren schon einmal zu erklären versucht, dass ich aus revolutionären Gründen den Tanzkurs beenden musste. Das war ja so was von kleinbürgerlich.

„Ach schade“, sagt sie. „Du warst nicht schlecht. Aber Ihr, Du und Dein ganzer Revolutionärsclub, ihr wurdet ja dermaßen borniert. Ihr habt Euch kavernenartig eingemauert in Euren Gedanken und Ideen und in den Überlegungen, wie das in der Praxis umzusetzen wäre. Und schließlich waren diese festen Mauern einfach fortgeweht, die waren flott weggepustet. Ein Dach habt ihr sowieso nie über den verquasselnden Köpfen gewollt. Und viele von Euch stehen jetzt ganz tief im Regen.“

Ich will es nicht hören. „Ich war kürzlichst in Korbach. Immer wenn ich in die Stadt hereinfahre muss ich an Dich denken. Ich sehe das Haus, in dem Du gewohnt hast.“ Und schon erzähle ich das, was ich zuvor noch niemanden erzählt habe. Ich rede von meinem sehnsuchtgeladenen Warten vor ihrem Fenster, in der Hoffnung wenigstens einen Blick von ihr zu erhaschen. Ich erzähle von meinem letztendlichen Rückzug vor der gehegten Hoffnung. Immerhin war da doch dieser Waldecker Alain Delon.

Sie lacht schon wieder. Sagt mir, dass sie mich hin und wieder vor dem Haus gesehen hat. „Aber Du hast ja immer nur geglotzt. Und dieser Delon, das ist mein Cousin Christoph gewesen, rein verwandtschaftliche Beziehung. Hast Du das nicht gewusst?“ Sie lacht, und aus ihren dunklen Augen schaut sie mich schelmisch an. „Und das hat Dir dann als Grund für den Rückzieher genügt?“ So ein Mist! Obzwar, hatte die wahre France Gall nicht blonde Haare?

Das Lächeln der Souveränität -59- Und eine kindlich-naive Stimme, mit der sie gar zauberhaft das anrüchige Lied mit dem Lutscher sang?

Mir wird wieder ganz heiß, nicht wegen dem Lied, die eigene Blödheit glüht in mir. Ich könnte schmachvoll ein Loch in den Boden schmelzen und nach unten in eine Salatkiste plumpsen. „Ach, die Revolution rief uns doch alle an die Fahne.“ Mit einem dünnen Lächeln schaue ich sie an, will ironisch wirken. „Und dann der Hermann… Ach, das wollte ich Dir erzählen.“ Jetzt ist mein Ausweg gefunden, und ich berichte ihr von dem Erlebnis in Hermanns alter Wohnung.

„Hermann hat sein ganzes Geld verpulvert und die Wohnung wurde wegen seiner Schulden gepfändet. Gegen den Rausschmiss hätte er wohl noch was machen können, aber dann auch wegen dem Bauamt war er sehr genervt. Der Semmler hat ihn beschissen, der hat ihm eine Wohnung verkauft, die keine richtige war, nach dem Baurecht. Und dann kam das Bauamt und wollte die ganze Etage dicht machen. Das war ein Graus, weit mehr als ein Jahr nur Streit und Unsicherheit. Da ist er letztendlich weg und mit Sack und Pack in sein Theater gezogen.“

Ich erwähne Sigrid, dass sie gemeint hätte, ich solle all die Korbacher Grazien zu seinem Selbstmord befragen. Kathrin schaut mich misstrauisch an. „Die Dame hat gut reden, die profitiert am meisten von seinem Tod. Ihre gesamte Baumschule, samt Haus und Gerätschaften, die hat sie von Hermanns Geld bezahlt. Der hatte entsetzliche Schuldgefühle wegen seinem Sohn, und dem hat er das vermacht.

Schon vor der großen politischen Wende habt ihr ja keinen Kontakt mehr gehabt, und so hast Du nicht mitbekommen, dass er viel Geld bekommen hat aus Immobilienbesitz in Berlin und Dresden. Nach der Wiedervereinigung floss viel Geld in seine Kasse, und wieder raus.“

Ganz langsam kommt es mir, dass sich Hermanns Familie und die von Kathrin schon vor dem Kriegsende kannten, beide haben sie im Berliner Osten gewohnt, sind geflohen und trafen sich wieder in Korbach. „Du kennst seine ganze Familiengeschichte?“ Ich frage verblüfft. Sie klingt etwas schroff. „Nach derartigen Kleinigkeiten hast Du Dich ja nie erkundigt. Ihr wolltet unbedingt die reaktionäre Normalität stürzen. Doch auch Hermann hat gerne verschwiegen, was sein Vater im Krieg so alles getrieben hat.“

Kathrin kann es mir jetzt auch nicht darstellen, sie muss in ihr Geschäft, und ich will einkaufen. „Dir scheint es ganz gut zu gehen“, meint sie beim Abgang freundlich zu mir.

Das Lächeln der Souveränität -60- „Dabei hängst Du doch beruflich zur Zeit in der Luft. Du bist doch arbeitslos, oder?“ Ich bin leicht irritiert. „Naja, ich habe so meine Drähte, darüber weiß ich das.“ Und ich habe gedacht, dass mich mein berufliches Nischenloch verschluckt hätte. Dabei nehmen mich Leute auch nach all den Jahren noch wahr.

Meine Stimmung ist tatsächlich besser als die Lage. Warum, weiß ich auch nicht so genau. Ich blicke hinter ihr her. Die Jeans modelliert den Po heraus, die Pumps klackern die Treppe hinab. Da halten ihre schlanken Beine inne. Sie dreht sich um zu mir, die dunklen Haare drehen mit Schwung hinterher. „Da fällt mir noch ein, der Hermann sagte manchmal: ‚Der Bernd, der wird die Nuss schon knacken’.“ Das war eine ersehnte Szene wie im Fenster, ihre Haare fallen wie eine Gardine wieder vor. Vor dem Bernd liegt ein Weg, den er begehen könnte.

So richtig gut geht es mir nun aber auch nicht. Mein Kopf, der schwirrt. Rätsel über Rätsel türmen sich auf. Dieser gaunerhafte Semmler, das Bauamt und Sigrid, Hermanns Vater und woher wusste Kathrin über meine Arbeitslosigkeit? Und dann ein Job, eine Arbeit, vielleicht sogar Beruf. Grübeln beim Wein bringt es auch nicht. Dann habe ich am helllichten Tage schon einen sitzen. Ich muss einkaufen.

Die Augen des Pferdemetzgers kreisen über die Halle. Wie ein Wächter wirkt er mit dem markanten Gesicht in seinem Metzgerstand. Anneliese babbelt unentwegt einladend bei den Salatkisten, denen ich soeben noch entronnen bin. Dabei sei der Salat frisch vom Feld. Der Perser bietet den Vorbeilaufenden Nüsse an. Hermann gab mir ein Rätsel auf, um dann zu verschwinden. Die Gardine fiel vor, den Vorhang ließ er runter, den „final curtain“. Eine kräftige Kopfnuss hinterließ er mir. Ich kann deren Bedeutung noch nicht erkennen.

Ich muss jetzt sowieso einkaufen. Die nette Verkäuferin vom Asiatenstand schaut mich auffordernd an. Ich gehe meinen Einkaufszettel Position für Position durch. Sylvia hat mir ein Buch geschenkt, „Meditatives Kochen“. Darin heißt es, dass die innere Bereitschaft zum eigenen Tun aus der Last eine Lust mache. Alle Gefühle sollen hineinfließen, in das Kochen und in das zuvorige Einkaufen. Ein geklärter Geist wird versprochen. Das liest sich sehr überzeugend. Über diese Art des Kochens wird vielleicht der Weg zur Souveränität beschreitbar.

Das Lächeln der Souveränität -61- # Zurück in den Tiefen der Vergangenheit

Das Telefon klingelt. Gerd Göbel ist dran, will wissen, ob ich ihn im Auto mit zur Beerdigung nach Korbach nehmen kann. Entweder habe ich dieses Datum verschnarcht, oder ich wurde nicht informiert. Sigrid ist die Organisierende, na ja gut. Schmollen muss das Mädchen wohl. Damit hat unser Juri nichts zu tun. Dem bestätige ich seine Mitnahme und sage ihm, dass ich es schön finde, dass er dabei ist.

Gerd erahnt sogleich, dass ich seine Teilnahme nicht als selbstverständlich erachte. Allzu heftig waren seine Attacken auf Hermann am Ende unserer gemeinsamen Zeit in Frankfurt. Das waren ebenso Angriffe und Beleidigungen auf alle anderen. Entschuldigend fügt er an, dass wir immerhin eine gleichartige Entwicklung miteinander verbracht hätten, dass wir uns gemeinsam aus der engen Kleinstadt, aus all dem kleinbürgerlichen Mief herausgearbeitet hätten. Das hätte doch etwas Verbindendes geschaffen.

Das ist richtig, auch wenn sich zwischenzeitig ein Vierteljahrhundert an völliger Differenz zueinander ergeben hat. Als die so richtig zu Brodeln begann, daran kann ich mich sehr gut erinnern. Die beiden Frauen, Gerd und ich, wir waren Hermanns Theateraktivitäten stark verbunden. Unser Prinzipal wollte eine Bearbeitung von Kleists „Hermannsschlacht“ auf die Bühne bringen.

Wir waren zunächst alle zusammen sehr begeistert, dachten wir doch, dass unser Hermann jetzt seine definitive Theaterschauschlacht gestalten würde. Und zusätzlich war dann noch irgendwo aus einer anderen deutschen Stadt bekannt geworden, dass dem Hermann aus Cheruska eine Baskenmütze aufgesetzt werden sollte. Als ein Che Guevara sollte er dort neu geboren werden, um nun den Revolutionsschlachten in Südamerika zum Sieg zu verhelfen. Also alles in allem, ein richtig revolutionsträchtiges Ding wurde erwartet.

Doch dann ging’s los. Unser lebende Hermann hatte so gänzlichst eigene Vorstellungen. Er wollte an dem Stück all die Selbstherrlichkeit der radikalen Achtundsechziger und ihrer Kombattanten darstellen. Unser knarzige Jakob Jassmann, der heillos schwafelnde Pfaff, auch der vergeistigt verweste von Lohmar, der glutäugige Rudi Dutschke gar, sie alle sollten in der Person des Hermann erkennbar sein. Deren Patriarchalismus, die Arroganz gegenüber dem gemeinen Volk galt es darzustellen.

Das Lächeln der Souveränität -62-

Hermann arrangierte Provokationen des gemeinen Volks durch die Revoluzzer, die gebenedeit darüber schweben sollten. Er trug zu der Zeit eine Lederjacke, hielt ständig Kippen in den Händen, verschränkte die vor dem Gesicht und guckte sinnierend wie Fassbinder auf irgendwelchen Fotos. Er war auf der Suche nach einem Gesicht, und zu einer richtigen Theaterprovokation passte das von Fassbinder bestens.

Wir pafften alle, Roth Händle, Gauloises, Gitanes, alles was die Lungen richtig teerte. Kathrin fiel auch hier aus dem Rahmen, sie rauchte Stuyvesant. In den Besprechungen und Proben standen die Qualmwolken im Raum. Brigitte war extra für das Stück aus Berlin zu uns gekommen, rauchte Lucky Strike und spielte die Geliebte des Hermann, Tussy genannt.

Die Kippen vergaßen wir alle, als Tussy ihre Rache an einem Unterhändler der deutschen Wirtschaft vollzog. Sie lotste ihn in ihre Liebeshölle und ließ den Bär los. Sie lockte mit süßlich geilen Sprüchen, schwang plötzlich die „Peitsche aus zähem Leder“, wie sie formulierte, und verdrosch den Herrn. Der winselte erbärmlich um Gnade und Tussy flötete süßlich ihr Verzeihen, „komm, ach komm her zu mir, Du kleiner Schweinehund Du. Ja komm mal zu Deiner Tussy. Na marsch, mach los, flott wie ein kleiner Windhund, Du. Hier kriegst Du Naziarsch, was Du verdienst.“

Der Unterhändler stammelte noch ein „Ja, ja gib’s mir“, schaute dann entsetzt auf ihr Messer, runter auf seine zerfetzte, blutige Brust, jammerte „dudu, Dussy, du.“ Die schüttelte erhaben ihr goldenes Lockenhaar. „Ja komm her zu mir, jetzt fick ich Dich mit meinem harten Kruppstahlmesser. Von unten her schlitz ich Dich auf bis Dein Gehirn zerspritzt.“

Ich warf die selbstgedrehte Kippe weg, hatte mir die Finger verbrannt bei dieser Szene. Die gesamte Scheune stand jäh in Flammen. Diese Frau, von Dämonen besessen. Hermann sprang auf und klatschte Beifall. „Famos, Brigit, ganz famos.“ Sein Schlapphut fiel zu Boden, als er auf sie zustürzte und sie in den Arm nahm. „Das wird den Zuschauern wahrlich zu denken geben.“

Ich fand die Bearbeitung des Stücks dann einfach nur erschreckend fabelhaft, nachdem sich der Schauer über die Präsenz der massiven Gewalttätigkeit gelegt hatte. Die Welt der RAF war nicht meine Welt. Mich störte, ja sie beleidigte mich schon, die Arroganz, diese Selbstherrlichkeit des revolutionären Adels. Die hatte Brigitte glasklar entschleiert, gar nichts

Das Lächeln der Souveränität -63- Neues, Revolutionäres war mehr zu entdecken, nur der alte menschliche Hass, die Rachegefühle.

Aber wo stand ich? Ich fühlte die halluzinogene Einöde, die Leere, ebenso wie Hermann. Wir waren beide nicht für die imperialistischen Besatzer, also im Sinne unseres Bühnendramas. Aber die Aufständischen schienen uns auch nicht verlockend. Die Quittung für unser reichlich gewagtes Theaterstück erhielten wir am Abend der Uraufführung.

Tussy schlitzt soeben genüsslich ihren verräterischen Wirtschaftsvertreter auf, als Jassmann aus seinen Sitz, gleich in der vordersten Reihe, aufspringt und laut „so ein erbärmlicher Scheiß“ brüllt. „Sowas muss man sich doch nicht angucken.“ Er schmeißt sich seine schwarze Lederjacke über die Schulter und verlässt krakeelend und mit flatterndem Palästinensertuch den Saal. Frank in seiner rosa-rötlichen Latzhose stürzt ehrerbietig hinter ihm her. Die hennarotgefärbte Frauenriege von der „Roten Stütze“ beschmeißt mit zorngefüllten Blickbomben die Bühne und drängt sich heftig schubsend durch die Stuhlreihen zum Ausgang.

# Viele, viele bunte Perlen

„Kinders, make love, not war“. Der Pfaff ergreift die Chance und schmeißt provokative Sprüche quer durch den Raum, auch während der weiteren Aufführung. Der Zuschauerraum ist leerer geworden, aber gekichert wird bei allen flegelhaften Sätzen von Pfaff. Der Vertriebene aus San Francisco baut sich als Held des Abends auf, als Lümmel von der ersten Reihe.

Mir war die Rolle des Verbündeten von Hermann zugefallen. Der hatte mich inständig gebeten darin aufzutreten. Mir hätte es besser gefallen, die Dinge im Hintergrund zu erledigen, die Beleuchtung, die bescheidene Bühnentechnik, auch das Bühnenbild. Ich wusste nicht so recht, der Hermann war mir doch weit über. Der Kerl war einfach phänomenal. Selbst das war mir im Augenblick nicht so recht bewusst.

Und schon stand ich auf der Bühne. Und da gefiel ich mir unversehens gut. Zumindest gewann ich ein wohlgemutes Vertrauen in mich vor den anderen. Faszinierend, ich ließ mein angestammtes Dasein hinter mir zurück. Oh Bernd, wenn Du nur wirklich gehen könntest! Das waren doch schon erste Schritte.

Das Lächeln der Souveränität -64- Und nun sitze ich gebeugt an meinem Schreibtisch, soll einen Geschäftsplan verfassen. Das Arbeitsamt, also diese neumodische Agentur, hat mir einen Existenzgründungskurs spendiert. Ich bin schon ganz drauf und habe Gerd Göbel am Telefon mit „Was kann ich für Dich tun“ begrüßt.

Eine kleine Pause stellt sich in der Leitung ein, bevor er seine eher verschüchtert klingende Frage nach der Mitfahrtgelegenheit nach Korbach äußert. Im Prinzip klingt mir diese Amtssprache des New Business selber suspekt. Wie flott der Spruch aus mir raus kam, das irritiert mich, und ich bestätige die Mitnahme Gerds irgendwie mechanisch. Ich spreche nun, dass ich es schön fände, dass er dabei sei. Ich glaube, das gehört ebenso zum Newspeak.

Die anschließende Frage, wie es denn so ginge, befreit aus der kurzfristigen Sprachlosigkeit. „Nun ja, auch für Rechtsanwälte sind die Zeiten längst nicht mehr rosig. Ich kratze so am untersten Rand entlang. Du weißt, meine alte Klientel ist meinem Geschäftsruf nicht sehr förderlich.“

Das kann ich mir nun lebhaft vorstellen. Gerd hatte zwar einst ein blendendes Examen abgelegt, aber seine ehemaligen Klienten aus dem Umfeld der RAF, von all den Zellen, den revolutionären und den autonomen, die lassen ihn heute nicht mehr vertrauenswürdig erscheinen.

Früher hingegen, da hatte er seinen Nimbus genossen, Leute tuschelten, wenn er eine Szenekneipe betrat, „er war doch jetzt erst bei dem Folkerts in Stuttgart“ und „soll sich sogar konspirativ mit dem Klar getroffen haben“. Er war wer, ein aufrechter Kämpfer, so in Richtung Held. Da war eine Neuausrichtung seiner Tätigkeit auf, was weiß ich, Verbraucherschutz oder Naturschutz oder so Krams gar nichts dagegen.

Er wollte ehemals gegen das Große, das Ganze antreten. Alles daneben war piefig. Weil er derartig penetrant auf der Richtigkeit all seiner Ansichten bestand, nannten wir ihn verscheißernd in unserem kleineren Kreis nur noch Gerd Göbel den Erben des Universalrechts, oder den Universalerben. Jetzt kämpft er um die Sozialhilfe für ehemalige Revoluzzer, vielleicht auch schon für sich selber.

Unser Gespräch droht ins traurig Depressive abzurutschen. Ich wage einen Neuanfang mit Hermann.

„Weißt Du, mich treibt die Frage um, was den Hermann in den Tod getrieben hat.“ Das Lächeln der Souveränität -65- Die Frage lockert Gerd. Noch langsam fließt es aus ihm heraus: „Er fühlte sich allein gelassen.“ Die Antwort kommt wie aus dem Allertiefsten vom Göbelgerd selber. „Gerne hätte er den Kontakt zu Dir wieder hergestellt.“

Ich belle zurück. „Und warum hat er nicht?“ „Ja ja, ist ja gut. Du musst Dich nicht schuldig fühlen. Es gab viele Enttäuschungen, das Theater lag völlig am Boden, seine Theaterfamilie drumherum, in alle Winde zerstreut.“

„Er hat all seinen Freunden und Bekannten mit viel Geld ausgeholfen, hat Sigrid und ihrem Sohn den Kauf der Baumschule samt Haus ermöglicht, hat Kathrin bei der Einrichtung ihres Geschäfts geholfen.“

„Sigrid, das ist mir bekannt. Aber Kathrin? Wieso? Die hat doch…“

„Die hat, die hat na was wohl? Na die hat Geld gebraucht, um die Schmuckkollektion in ihren Schuppen zu stellen, die musste sie kaufen, bezahlen. Schön üppig musste die sein. Du kennst sie doch, schon seit ihrer Jugend liebte sie das Goldgeschmeide und die dicken Klunkern. Ihr Vater, dieser Proloprotzo, der hat sie doch schon zeitig ausstaffiert wie einen Paradegaul und seine Gesamtfamilie gleichfalls. Der musste doch zeigen, wo Wirtschaftswunderland liegt, direkt in ihrem Häuschen in der Korbacher Itterstraße.“

„Ja aber…“

„Nix ja aber. Oh Du bist manchmal so gutgläubig, so ein richtiger Gutmensch Du. Denkst, wenn sie Dir das nicht auf die Nase bindet, dann hätte sie es auch nicht getan, hätte nicht in das Geldtöpfchen gegriffen. Die hat Dich wohl mal so richtig reingelassen.“ Zynisch klingt er durchs Telefon. „Also, ich meine, sie hat Dich wohl mal so richtig tief in ihre dunklen Augen blicken lassen, wie den Hermann neben anderen auch. Und schon brannten Deine Synapsen durch.“

Nur matt kommt meine Antwort, „komm, lass den Scheiß.“

„Und dann hat er Brigitte immer wieder unterstützt, wenn sie von ihren Esoterik-Trips abgebrannt zurück ins Land kam. Weißt Du, wo die sich jetzt rumtreibt?“

„Sie ist verschollen, mystisch versackt in Indien.“ Ungläubige Stille herrscht in der Leitung. „Hat sie Dir das etwa gesagt? Sie ist nicht irgendwo hier in der Gegend? Aber na ja, da unten

Das Lächeln der Souveränität -66- in dem Chaos da findet sie sicherlich wohlwollendes Verständnis bei den Eingeborenen, als Chaotin unter Gleichen.“

Gerd läuft mit seinen bissigen Bemerkungen jetzt richtig an. Die waren von jeher seine Spezialität. Ich erspare mir eine Kommentierung. "Oh, war denn nicht alles Leiden Zeit, nicht alles Sichquälen und Sichfürchten.“

Sein juristisch trainiertes Gedächtnis war schon immer beeindruckend, er zitiert aus Siddharta. „Vielleicht hat sie sich mit dem All-Einen, Ataman oder so, nun so richtig im Stoß vereint, so richtig gut im Saft nimmt sie sein Ding.“ Sein Lachen kann immer noch verletzend klingen, gar obszön und auftrumpfend. Ich schweige. „So weit hast Du das in der knarrenden Scheune nicht geschafft, hast ihr nicht die endlose Erlösung verschafft.“

Dies Schwein. Noch nachträglich scheint mir ein grell enthüllendes Scheinwerferlicht die Scheune zu beleuchten. Wir liegen im Heu auf der Bühne. „Du Arsch!“ Ich brülle durch die Leitung und knalle den Hörer hin. Sie alle wissen es, machen sich auch noch lustig darüber. Aber andererseits, das muss denen mächtig imponiert haben, immerhin.

Ich versuche mich abzulenken und konzentriere mich auf meinen Geschäftsplan. Sechs Punkte gilt es zu darzustellen und ich bin erst beim ersten, der Geschäftsidee, Abteilung Bedürfnisbefriedigung, Lösungsangebot. Ich kratze mir soeben am Kopf, als erneut das Telefon klingelt. Gerds Stimme hört sich wieder gedämpft an, wie eingangs. „Es tut mir leid. Ich wollte Dich nicht beleidigen. Es ist einfach nur so rausgerutscht.“ Wir rekonstruieren die Stelle, bevor er ausrastete.

„Ja, die liebe Kohle also. Und davon hat er auch eine Menge an Gerda Gell verschoben, Du weißt, in ihre Galerie in der Fahrgasse, ‚Gellerie’ nennt sie das jetzt affig. Hört sich an wie Eisdiele, aber egal. Hermann wollte sich verändern, hinsichtlich seiner Kunstausrichtung.“

Ich kann mich gut an Gerda erinnern, Städelschülerin, war auch aus dem Waldeckschen, Bad Wildungen, glaube ich. Die kam eines Tages mit ihrem Zeichenblock in unser Theater auf der Suche nach lebenden Bildvorlagen. Ihre Nähe zu Hermann ist mir damals nie aufgefallen, wir haben allerdings noch einige gemeinsame Events gestartet. Das war aber um die Zeit herum, als ich ausstieg.

„Hermann sah für sich keine Entwicklung mehr im Theater. Du weißt, wie er früher Brecht zitierte, irgendwie, dass es keine Belehrung gäbe, ohne das Vergnügen daran. Heutzutage Das Lächeln der Souveränität -67- wäre allerdings aus dem Vergnügen reiner Spaß geworden, so Hermann, und der würde ganz penetrant zeigen, dass er ohne begleitende Belehrung auskäme.“

Der Göbelgerd ist mitten im Plädoyer, und ich wollte eigentlich heute noch den zweiten Punkt, die Marktanalyse, bewältigen. Ich kippe den Schreibtischstuhl nach hinten und lege den Hörer an das andere Ohr.

„Auf so ein ‚Spaß muss sein – Theater’ hätte er sich nie eingelassen. Ihr habt Euch ja damals schon heftige Gedanken darum gemacht, über Besucher, die nicht mal ansatzweise ein bildungsbürgerliches Wissen mitbringen, die sich nicht einmal richtig konzentrieren können, so ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom haben. Die wollen lieber action sehen, flotte Szenenwechsel, so schnell wie keine Drehbühne drehen kann.“

Ich muss wieder an den Lümmel aus der ersten Reihe denken. Unsere Aufführung mit der „Hermannsschlacht“ drohte unterzugehen, die Zahl der Scherzrufe potenzierte sich und ebenso das dämliche Gekicher im Raum. Wir waren vollständig der Lächerlichkeit ausgesetzt. Mein Auftritt stand bevor. Der Pfaff brüllte wieder eine blöde Bemerkung in den Saal, die Leute grölten. Der würde sicherlich gleich aus dem Fenster springen und den Schwerverletzten spielen, wie in dem Film. Ich hörte bereits das Publikum, das über den Streich johlte.

Gleich muss ich auf die Bretter und laufe völlig überdreht hinter der Bühne rum. Nicht ein einzelner Satz fällt mir mehr ein. Kathrin sitzt zusammengesunken in der Ecke. Hermann fällt aus der selbstgeschriebenen Textrolle raus, verspricht sich ständig. So scheint es mir. Der redet aber weiter, der Kerl, der lächelt auch noch dabei, bei all dem Spektakel. Ich könnte ihn würgen. Das ist mir alles so furchtbar peinlich. Ich muss irgendwas tun.

Da sehe ich so eine Filmklappe irgendwo im Regal. Ich greife das Ding. Und auch noch eine Brille liegt daneben, so eine mit breiten dunklen Rändern und dickem Glas. Ich stürze auf die Bühne, rufe laut „break, break“ und lasse zwei- dreimal die Klappe fallen. „Wir sind ab sofort im off. Aus tumultuarischen Gründen heraus müssen wir unser Programm unterbrechen.“

„Die Theaterleitung bekennt von sich aus, dass heute Samstag ist, das hat sie nicht gecheckt. Und dabei ist das seit jeher der Tag an dem das „Saturday Night Fever“ grassiert. Boys and girls want to have fun. Da machen wir nun mit. Ab jetzt machen wir die Scherze, wir hier vorne, und es gibt auch noch’n Gedicht.“ Absolute Ruhe ist im Saal.

Das Lächeln der Souveränität -68- Ich bin mit meiner Stimme in eine höhere Tonlage gerutscht und setze die Hornbrille auf. Ich bekomme einen Schreck, das dicke Glas ist geschliffen. Vor mir verschwimmt das Publikum, und ich bewege mich etwas tapsig. Aber das ist wohl die endgültige Zündung für die Zuschauer, sie brechen in Lachen aus. Jetzt haben alle erkannt, dass ich Heinz Erhardt spiele. Sie sehen in mir ihren etwas verwirrten Familienvater. Ich habe sie auf meiner Seite.

Ich lächle so richtig verschmitzt. „So jetzt will Euch der Pappi mal was erzählen.“ Verhaltenes Kichern ist im Raum zu hören. „Also, so das ist hier ein Theater mit häufig hoher Kultur.“ Ich hebe die rechte Hand hoch über meinen Kopf und blicke nach oben. „Kann man bequem drunter durchgehen.“ Lachen. „Heute gibt’s die Bearbeitung eines Stücks von Kleister. Äh, ich meine, erkannt habt den ollen Kleist ihr.“ Sie wiehern vor Lachen, so einfach ist das.

„Bei dem geht es um den Streit zwischen den Germanen, also denen mit dem gehörnten Helm. Kennt Ihr, nicht wahr?“ Ich hebe die Zeigefinger an meine Schläfen links und rechts.. Kichern. „Und dann sind da noch die Römer. Als literarisch versierte Fachleute wisst Ihr, die spinnen, diese Römer. Genau das will ich Euch mal zeigen, da habe ich nämlich ein Gedicht für.“ Das kenne ich noch aus meiner Schulzeit.

„Nero war nicht nur ein Kaiser, sonder auch fast immer heiser.“ Während des Vortrags schaue ich häufig in David Pfaffs Richtung, weise auch mal mit der Hand dorthin. Sie haben es wohl bald alle bemerkt, wen ich meine. „—sonst jedoch war Kaiser Nero – unter uns gesagt! – ein Zero.“ Jetzt habe ich es ihm gegeben. Das Kichern im Saal ist sehr verhalten, Stille stellt sich ein.

Da muss ich die Leute wieder rausholen. Ich drehe den Kopf hin und her, schaue ruhig im stillen Raum herum. „Tja, wenn das so ist, dann also noch’n Gedicht.“ Ich lächle wieder richtig verschmitzt, spitzbübisch. Das gefällt den Jungs und Mädels im Saal. „Es hat was mit Brettern zu tun, also nicht so mit solchen, mit denen wir uns die Welt vernageln, nein, nein, aber schon mit unseren Brettern, denn das sind die, die die Welt bedeuten. Sie sagen sich wohl jetzt, ‚was es nicht alles gibt’. Und genau das ist es, also so heißt es.“

„Zunächst ist da der Vorhangmann, eh der nicht zieht, fängt es nicht an.“ Jetzt habe ich freundlich glucksendes Lachen erzielt, beendet ist das schenkelklatschende Hohngelächter. Und so begleitet führe ich das Gedicht zu seinem Ende. „Wen gibt’s denn noch? – Den Intendanten! Den Ihnen sehr wohl bekannten.“ Ich hebe den Arm, Hermann hat genau

Das Lächeln der Souveränität -69- verstanden und kommt auf die Bühne. Es gibt sogar starken Beifall. Ich verneige mich vor allem in Richtung vom Pfaff und sage mein „Dankeschön“. Der Lausbube lümmelt sich müde im Sitz herum.

Hermann führt die unterbrochene Szene fort. Darin geht es ursprünglich um den kleistschen Hermann, der dem römischen Heerführer seine fundierte Kenntnis von Cicero und seine Vertrautheit mit dem antikrömischen Kriegsrecht vorführt. Daraus leitet er nun seine Rechtfertigung für die eigene Art der Kriegsführung ab, für seinen als grausam, täuschend und inhuman empfundenen Waffengang. Dabei weiß er, was Zivilisiertsein bedeutet. Unser Hermann hatte sich vorgenommen, daran die imposante Belesenheit der Achtundsechziger spielerisch aufzeigen.

Er trifft sich mit einem Vertreter der Bundesregierung, Legaus geheißen, der ihm vorwirft, nicht die menschlich gebotenen Umgangsformen zu respektieren und ebenso nicht die Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie verstanden zu haben. Da dreht der Hermann auf. „Ob Kantsche Rechtsphilosophie, ob die von Hegel und die vom historisch folgenden Marx, die haben wir wohl drauf. Sie sind es, die uns den Weg in den Zukunft weisen.“

Hermann spielt beide Figuren, denn der Göbelgerd hat sich von uns verabschiedet. Wenn Legaus spricht, setzt er einen Hut sich auf, so einen mit Ripsband und Knick oben drauf, beim Hermann nimmt er einen Helm mit Hörnern. Dazu verändert er seine Stimme. Anfangs wechselt die Kopfbedeckung noch hin und her, doch dann bleibt die gehörnte. Er rasselt runter die Namen von Carl Schmitt, Heidegger, Horkheimer und Hannah Arendt.

Hermann gab dem Legaus immer wieder einen über. Der konterte noch anfangs mit Stalin und Gulag, mit Mao und Tibet, Ungarnaufstand und Prag, Pol Poth und seinen Kindersoldaten. Doch bekam er immer wieder eins zurück, mit Hitler und Faschismus, Pinochet, mit Ho Chi Minh und Frantz Fanon.

Die Namen klatschten sie sich um die Ohren, flott wechselte Hermann zwischen Helm und Hut, doch obsiegte letztendlich der Helm. Wie Keulenschläge donnerten die Namen aus seinem Mund, Marcuse und Lukacs, Luxemburg und Benjamin, Thälmann und Wilhelm Reich, Che Guevara und Eberhard Richter, Habermas und Timothy Leary. Er spielte mit den Namen wie mit funkelnd bunten Perlen aus Glas.

Das Lächeln der Souveränität -70- Plötzlich meldet sich wieder der Lümmel von vorn, brüllt „Eldridge Cleaver“. Kichern im Raum, er korrigiert „Angela Davis ist besser“. Und Hermann greift es auf, setzt sein „und“ danach und fügt „Charles Bukowski“ an.

Das Publikum johlte bei Nennung jedes Namens und freute sich, wenn der mit Hut sich schützend duckte. Das flotte Name-dropping riss sie alle fort, flutete die Hirne. Berauscht in den Wogen klammerten sich die Zuschauer an positiv, so gut klingenden Namen fest, schwappten in der Brandung des wohligen Gefühls. Wir wollen alles. Wir sind unendlich gut.

Doch dann, keiner sah woher er kam, setzt sich Herman einen Turban auf und befiehlt die Besetzung der amerikanischen Botschaft, die sofortige Verschleierung aller Frauen im Land und das erbarmungslose Schießen auf die irakischen Nachbarn. Und wieder blitzartig hatte er eine Militärkappe mit rotem Stern auf dem Kopf. Er brüllt, dass jetzt Tibet ergriffen werde, sämtliche Geistlichen seien zu massakrieren. Ein erderschütternder, tiefer Klang eines Dungchen erfüllte den Raum, brachte das Leiden auf erbärmlich wehklagende Töne.

All die bunt glitzernden Perlchen aus Glas schepperten über den Boden, so einige schon längst zerknirscht. All der magische Scherbenzauber schien verblasst.

Legaus ließ sich sowieso nicht blenden und hatte die Bühne längst verlassen. Fortgerannt war er, als die Namen auf ihn niederprasselten, hatte schützend die Arme nach oben gerissen. Jetzt läßt sich Hermann erschöpft und jappsend auf den Boden fallen, stapelt Hut und Helm auf den Turban oben drauf, zaubert noch ein Palästinensertuch aus der Tasche und darauf eine Baskenmütze und weiter eine Militärkappe, beide mit glitzernd rotem Stern.

Neben ihm ein Tapeziertisch, vollgeladen mit den Büchern aller genannten Personen, auch der ungenannten, kracht unter der schweren, aufgetürmten Last zusammen. Der kalt glänzende Turm kracht in sich zusammen und wirbelt eine heftige Staubwolke auf.

Hustend arbeitet sich Brigitte unter dem Tisch und aus den Büchern heraus, wühlt in ihnen rum und zieht einen gelblich in dickem Papier eingebundenen Band heraus, „Mao Tse Tung: Ausgewählte Werke“. Sie liest laut: „Die Taktik der Menschenwelle“, klappt das Buch zu und kommentiert: „Menschenmassen als Kanonenfutter“. Sie legt es exakt Kante auf Kante zu den anderen drei Werken des großen Vorsitzenden. Dann greift sie ein weiteres Buch aus dem Haufen, „Wir, die Verdammten dieser Erde“ und spricht sinnierend weiter: „Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen mit einer Klappe treffen“.

Das Lächeln der Souveränität -71- Brigitte wühlt sich tiefer hinein, zieht ein anderes Werk heraus und geht damit humpelnd über die Bühne. „Theorie des Partisanen“, liest sie, liest weiter, „eine nur skizzenhafte, selbständige Arbeit, deren Thema unvermeidlich in das Problem der Unterscheidung von Freund und Feind einmündet. Der Partisan kämpft irregulär. Zu allen Zeiten der Menschheit und ihrer vielen Kriege und Kämpfe hat es Kriegs- und Kampfregeln gegeben, und infolgedessen auch Übertretung und Mißachtung der Regeln.“

Sie ballert wild und unkontrolliert mit einer Pistole herum und brüllt heroisch „yeah, yeah“, um dann jäh und äußerst qualvoll „aua“ zu schreien. Noch heftiger humpelnd verlässt sie die Bühne. Ich fege den stumpf schillernden bunten Scherbenbruch fort.

„Hörst Du mich Bernd? Du gibst keinen Laut mehr von Dir.“ Es rauscht am Ohr. Bedrückte Stille stellte im Raum sich ein. Ich glaubte, die laut knackenden psychischen Erschütterungen zu hören. Schließlich drehte ich das Licht auf Hermann, Musik setzte ein. Eine regelmäßig pulsierende Notenfolge schaffte eine melancholisch gefärbte Stimmung.

Schließlich fielen Tropfen, ein Klavier perlte Noten hervor. Der minimalistisch sanft getönte Regen tropfte den Staub aus der Luft, spülte all die Lasten fort. Hermann riss sich die gesamten Kopfbedachungen herunter. Sie purzelten über die Bretter. Er griff sich auf den Kopf, massierte die Tropfen ein. Er spielte die Freude. Er strahlte durch den Regen hindurch, völlig erhaben.

Das war seine Wahrhaftigkeit. Darin strahlte er eine unglaubliche Präsenz aus. Ich war fasziniert. Ich fühlte mich tatsächlich entlastet. All der innere Ballast war fortzuspülen. Oh Bernd, dort könntest Du gehen.

Ich tauche auf und entschuldige mich bei Gerd für mein unkonzentriertes Verhalten, erkläre ihm, dass mein Weg in die berufliche Selbständigkeit so aufreibend sei. Immerhin bemerke ich mittlerweile mein geistiges Wegdriften genau. Somit habe ich mich tatsächlich schon bewegt.

Dabei war dies tiefe Absacken in ein Gedankenloch schon sehr mächtig. Doch wenn man schon in so einem Loch hockt, dann sollte man nicht weitergraben. Das zu bemerken, das ist mein Fortschritt. Das innere Getriebensein ist abzulegen, die Hetze, zu der man sich selber peitscht.

Das Lächeln der Souveränität -72- # Looking for a job

Hermann hat mich aus meiner Eremitenhöhle im Nordend gelockt, wieder ins Gefilde des Lichts geholt, hatte mir den Einblick in die Formen und Mechanismen der grassierenden Besessenheit gewährt. Das war die Suche nach dem Heiligen Gral, es wurden Namen genannt, Titel von Büchern, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, „Marx allerneust lesen“, so hieß es, Weisendes bei Paul Mattick, dann das mythisch legendär gemachte „Grünberg-Archiv“. Es ging ein Raunen durch die Reihen, dort irgendwo tief drinnen müsse die Lösung liegen. Drunten in Italien vielleicht, Adriano Sofri. Wo lag das schlagende Schwert zur Befreiung aller Verdammten dieser Erde? Potere Operaio? Das singende Schwert.

„Bei uns im Leben dreht sich ja auch alles recht flott.“ Lachen in der Leitung. Ich nehme die Stimme am Telefon kaum wahr. Ich drohe, in ein erneutes Loch zu rutschen, bin beim singenden Schwert, oder Excalibur. Das war von König Artus, oder auch Richard Löwenherz und dann Prinz Eisenherz mit seinem Pagenschnitt. So blau war dessen Kleid. In der kolorierten Fassung des Comics leuchtete es hervor. In den Sümpfen des neuen Reichs fängt für den jungen Prinzen von Thule ein aufregendes Leben an. Er entdeckt eine neue Welt voller Geheimnisse und Abenteuer.

Im Fiebertraum durchlebe ich noch einmal die ereignisreiche, schöne Zeit im Dienste König Arthurs, erlebe erneut all die Abenteuer, das große, gefräßige Theoriekrokodil, Baldurs tumbes, grausames Gesicht, den kühnen Frank und seinen gewaltigen Henker, den großen König und den lustigen Gawain, die schöne, hennarote, aber böse Fee Morgana, das Ungeheuer von Finsterwald. Wieder kämpfe ich mit Prinz Göbel, während die Sonne von Mittag gen Abend sinkt und steigt und sinkt und ewig lockt Brigit. Abenteuer gibt es unendlich immer wieder. Und dann die goldene Horde der Freunde. Ich treffe auf Tristan, Emmerich und Lanzelot, den weisen Hermelin, Merlin, Hermann. Ich sehe das stille Gesicht meiner Mutter und ganz in meiner Nähe… Those were the days. Those were their ways, miracles everywhere are they now? Theyre gone.

„Sag mal, bist Du überhaupt noch am Apparat? Hörst Du mir eigentlich noch zu? Ich spreche mit Dir. Bist Du wieder absent im Kopp? Zurückgetreten in Deine Hirnklause, wie damals?“ Ich beharre etwas verunsichert auf meiner vollen Präsenz. „Na ja, wäre ja irgendwie nachzuvollziehen. Weil bei dem, was sich uns so alltäglich bietet, da ist ein Rückzug ja nur zu

Das Lächeln der Souveränität -73- verständlich.“ Jetzt wieder dieser joviale Tonfall, jetzt könnte ich ihm gerade in den Arsch treten. Aber er ist schneller.

„Ich will, dass Du auch das vernimmst, dass auch ich Schuldner bei Hermann war, oder bin. Nicht dass es nachher heißt, ich hätte was verheimlicht. Du machst doch momentan so ein bisschen in Richtung Philip Marlowe auf der Suche nach whohaddoneit, oder? Oder genauer, so im Gestus von Bogie?

Weißt Du noch damals? Wir standen unvermittelt in derselben Regalreihe der Korbacher Bücherei. Ich war mir sicher, dass ich hinter den Regalen versteckt wäre. Und dann fühlte ich mich entdeckt. Reflexartig rasant zuckten meine Finger zurück von ‚Der große Schlaf’.

Also egal jetzt, weißt Du, Hermann hat mir Geld gegeben, damit ich bei einem Einstellungsgespräch ordentlich auftreten kann, hat mir einen Anzug finanziert, so aus richtig feinem Tuch, von Brioni, Mister Marlowe.“

„Der professionelle Businessplan“, ich trete kurzfristig auf meinen Schreibtisch vor mir zurück, so rein geistig. Dieses ringbuchartige Ding liegt materiell vor mir und weist mich ein. Ich erfahre, dass der Weg zu einer guten Idee darin besteht, viele Ideen zu haben. Aber auch ein göttlicher Funke sei wirtschaftlich gesehen eher wertlos. Plausibel muss er schon sein! Marktchancen wollen geklärt sein, präzisiert, verbessert, verfeinert. Das finde ich absolut einleuchtend.

Präzise eigentlich, so fällt mir direkt dazu ein, müsste jetzt mal der Übersichtsplan sein. Laufend verfeinert, wer und wie bei Hermann überhaupt so alles in finanzieller Schuld steht. So ein Schema sollte ich präsentieren. Ich müsste es diskutieren, mit Freunden und Experten, in welchem Bezug sich all die Schuldner zu Hermann befunden haben, da sind ja so einige mittlerweile zusammengekommen. Das könnte innovativ sein. Doch die Bogartsche Lakonie ereilt mich auch hier, denn das Innovative sei „weniger offensichtlich, aber genauso bedeutend“, so zumindest laut Businessplan. Das begreife ich auf die Schnelle nicht, der Göbelgerd drängt im Hintergrund. Weist er den Weg? Das Bedeutende ist noch nicht sogleich offensichtlich, oder umgekehrt?

„Das muss ich Dir jetzt mal erzählen. Das war echt ein heißes Ding, diese Bewerbung. Also ich hatte eine Einladung bei der Max Munzinger Public Relation AG, MP genannt, kennst Du, hier im Nordend. Weißt Du, die fanden die Idee, dass da jetzt so ein ehemaliger

Das Lächeln der Souveränität -74- Terroristenanwalt in ihren Reihen ist, richtig schrill, sogar geil. Also, die haben mich genommen, sofort, ich brauchte gar nicht viel zu erzählen. Oh, Gott oh Gott, noch flotter haben die mich schräg angeguckt, schon nach einer Woche. Und ich hatte nur diesen einen Anzug. Max ist einfach an mir vorbeigegangen, sah mich gar nicht mehr an. Ich wusste nicht, was los ist, zunächst.

Die kleine Schnalle am Empfang verriet es mir dann, und ich bin samstags gleich los auf die Zeil, P&C, und habe mir noch einen nadelgestreiften Anzug zugelegt. Hermann war dabei, hat nur gelacht. Also, dass du mich richtig verstehst, der hat mir den zweiten auch noch bezahlt. Der war etwas billiger, nur von Boss. Doch dann, so allmählich hatte ich geschnallt, dass es nicht nur der Anzug war, weshalb die mich so komisch angeguckt haben. Dieser Anzug hat mir bloß ein anderes Äußeres gegeben, doch der Gerdsche Inhalt ist irgendwie gleich geblieben.“

„Also, jetzt verstehe mich bitte nicht falsch, also Du weißt, die Vergangenheit ist für mich abgeschlossen. Ich habe nun wahrlich keinerlei Gelüste auf eine MP 5 von Heckler und Koch, das Thema RAF ist für mich beendet. Also weißt Du, vielmehr wie ich an eine Arbeit rangehe, also so wie ich sie begreife, ich nehme die verdammt ernst.“ Das ist also jetzt für ihn bedeutend, doch noch nicht so offensichtlich.

Allmählich kann ich mich auf die veränderte Tonart einstellen, irgendwie sucht der Göbelgerd nach Irgendwas, irgendwas Bestätigendes. Sein Ernstnehmen, das kenne ich. Als wir die Hermannsschlacht besprachen, da brach es aus ihm heraus. Unser Hermann stand vor uns, das glänzende Schwert an die Brust gedrückt und sprach: „Die die schreiben, unser Land sofort und jetzt zu befreien, mit schicken Wörtern, flotten Sätzen, dicken Büchern, versammeln sich zu teach-ins und danach konspirativ beim Saufen, Fressen, Saufen und bumsen dann mit Frauen und mit Männern. Es braucht der Tat, nicht der Verschwörung.“ Dabei streckte er noch langsam das Schwert in die Luft und haute dann sogleich blindlings und wild um sich herum.

„Das ist doch das Allerletzte“, brüllte Gerd. „Da mach’ ich nicht mehr mit, das ist absolut konterrevolutionär, reaktionärer Scheiß. Ihr treibt Euch auf den Euch zugewiesenen Spielwiesen des Kapitalismus rum, schön eingehegt, wie diese lächerliche Figur des Donald Duck. Ich halte es mit Dutschke: ‚Ich bin Revolutionär. Der Revolutionär muss die Revolution machen’. Ihr zerquatscht doch alles.“

Das Lächeln der Souveränität -75- Ich hatte es schon länger kommen sehen. Schon länger moserte Gerd über unser konsequenzenfreies Handeln, über unser Verblendetsein durch kritisches Theoretisieren. Es drängte aus ihm raus, er wollte seine Empörung gegen dieses affirmative System umsetzen, dagegen die kollektive Initiative als ein Anwalt vorantreiben. Er verließ uns, er zog sogar weg aus der Innenstadt und ging in die Nordweststadt. Wir hielten ihn für reichlich überdreht.

„Weißt Du, ich muss was tun, meine Fähigkeiten, Kompetenzen, wie auch immer, nach bestem Wissen und bester Verantwortung umsetzen können, gesellschaftlich relevant einsetzen können. Du musst das doch besser wissen, Du bist doch der Soziologe und in einem Wörterbuch habe ich mal zum Thema „Beruf“ gelesen, dass das mit Berufung zusammenhängt, dass das was mit der durch die Ausbildung zusammenhängenden Eignung zu tun hat. Du weißt es doch besser als ich.“

Mir klingelt es in den Ohren, das hatte ich mir in der Verbindung nie überlegt. Natürlich sind mir diese soziologischen Theorien zu dem Thema bekannt, aber dass sie auch auf mir langjährig Bekannte zutreffen könnten, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Sie hätte ich nie einer soziologisch rationalen Verhaltenserklärung unterworfen.

„Weißt Du“, Gerd wartet meine Einlassung erst gar nicht ab, „ich dachte in meinem neuen Job bei MP, also meinem Beruf gewissermaßen, rede ich mit den Kunden, befrage sie genau, was sie wollen, natürlich auch gründlich was sie können. Das müsste schon übereinstimmen. Das ist freilich, weißt Du, alles überflüssige Hühnerkacke in der Branche. Du sollst denen schwülstig zureden, ‚hört mal, ich mach’ aus Euch was Besonderes, ein Premium Produkt. Dazu braucht Ihr nur Folgendes zu tun, blah blah blah’, Du sollst denen nur die Wünsche bedienen, das ist es, und dich selber als Wunschmaschine darbieten.“

„Die wollen auf der großen Bühne stehen, dafür soll ich sie herrichten. Aber ich, ich komme über diese Schwelle einfach nicht weg, ich bin persönlich so gestrickt. Weißt Du, Du konntest schon immer besser labern, das war klasse, Du konntest im Gespräch das jeweilige Thema, Problem ungeschehen machen, es war weg, keiner wusste noch, worum es eigentlich ging. Und zack, dann konntest Du steuern, wohin Du wolltest.“

Ich weiß im Grunde momentan auch nicht so recht, wie ich mich verhalten soll. Fühle ich mich geschmeichelt oder moralisch untergraben? Auch Gerd ist sich nicht schlüssig: „Indes ich weiß nicht, ich kann das nicht. Ich bin im Kopf nicht so flexibel, es lahmt in den Windungen. Die alten Bremsen müssten wohl raus, so wird es heutzutage gefordert für das

Das Lächeln der Souveränität -76- Showbusiness.“ Er wird zögerlich im Tonfall, doch dreht er dann wieder auf, wird lauter, heftiger, lacht, fast hysterisch. „Asking only workmans wages, I come lookin for a job, but I get no offers”.

„Weißt du, ich bin momentan etwas überfordert. Ich kann Dir hier und jetzt, und auch noch am Telefon keine schlüssige Antwort geben.“ Mir hämmert der Doktor Luther durch die Leitung direktemang in den Kopf: „Hier steh ich nun, ich kann nicht anders.“ Göbel und dieses, vermutlich auch seines eigenen Bekenntnisses waren einst eins, das war offenkundig. Aber jetzt macht er sich Sorgen über seine Hirnwindungen. Als Soziologe herausgefordert würde ich sagen, dass er mächtige Identitätsprobleme hat. Das scheint eine klare Diagnose zu sein. „Wollen wir uns nicht mal treffen, nächste Woche Mittwoch, komm, wir trinken dann Kaffee und quatschen, da sag ich Dir was zu all dem.“

Eigentlich müsste ich wegen meines harrenden Businessplans das Gespräch beenden. Ich tue es dann aber, weil ich mich etwas überfordert fühle, der Gerd will irgendwie mit mir reden, das fühle ich auch. Wahrscheinlich will er, dass ich ihm seine Probleme zerquatsche, aber da muss ich mir zunächst mal was überlegen. In meiner alten Werbeagentur, „Trinck, Hall and Waterhouse“, „THW“ genannt, habe ich doch auch gut mit den Kollegen reden können.

Sie kamen gerne zu mir in mein hinteres Bürozimmer. Sie bestaunten mein großes Plakat von Sartre, fest im Mantel eingehüllt, den Kragen hochgeschlagen und seinem ewigen Rotzkocher zwischen den Zähnen. Ich sehe immer noch seine Glubschaugen vor mir, die die vorgestellte Brille ignorierten, aber skeptisch, gerade vorwurfsvoll die Welt erfassten. Es war so manches Mal, dass sie psychisch gestärkt aus dem Gespräch herausgingen.

Ich kann mir gut vorstellen, wie Gerd sein Anwaltsbüro betritt. Den Hut, wenn er einen hätte, würde er akkurat an den Garderobehaken hängen und sich dann an seinen Schreibtisch setzen. Wie Marlowe. Nur wäre er nicht so frei, die Beine auf den Tisch zu legen. Auf Kundschaft müsste er allerdings auch warten, genau wie in „Tote schlafen fest“. Auch die Langeweile könnte er nicht wie Bogie – Marlowe ausstechen, also so Kippen drehen und die dann anschließend ganz lässig wegschnippen. Vielleicht sollte ich mit ihm mal ins Kino gehen.

Im Büro sitzen und auf Kundschaft warten, der Gedanke macht mich wieder kribbelig. Ich nehme mir sofort und auf der Stelle einen Venture Capitalist als Vorbild, der meinte, einen Businessplan zu schreiben, würde mich in ein diszipliniertes Denken treiben. Also wende ich

Das Lächeln der Souveränität -77- mich meinem Computer zu. Ein Executive Summary sollte vorangestellt werden, es stellt in geraffter Form mein Anliegen dar.

Bei meinem Anliegen bleibe ich hängen. Schon meine Geschäftsidee verursacht mir wieder ein tiefes Nachdenken. Da sollte ich doch noch mal was ändern. So eine Idee, das ist schon fast philosophisch. Es geht darum, wo ich meinen Platz im geschäftlichen Leben einnehmen will, und dieses Leben wird mit dem gesellschaftlichen doch mehr und mehr identisch. Also warum bin ich überhaupt da, wo will ich hin? Der Körper macht mir einen Strich durch weitere Überlegungen, ich habe Hunger. Schon wieder ist es Mittag. Das Telefonat hat ewig gedauert.

Oh Bernd, gehen würdest Du schon ganz gerne. Kannst Du die Richtung schon ahnen?

# The God of Hellfire

Zum Kochen habe ich keine Zeit mehr. Also beschließe ich, mir eine Pizza zu holen. „La Calore“, so heißt meine nächstliegende Pizzabäckerei. Ich kenne den Laden schon ewig. Da wird die Pizza im glühenden Steinofen gebacken. Meine Kollegen in der Werbeagentur, die waren von ihr begeistert, futterten aber vornehmlich Nudelgerichte, Spaghetti Carbonara natürlich. Dazu lief mtv in der Glotze. Für sie war der Laden alsbald nur noch die „Nudeldisco“. Sie liegt nicht weit von meiner Wohnung.

Unter einem Balkon verläuft mein Weg dorthin, da bücke ich mich immer unwillkürlich. Glühend peinliche Erinnerungen treiben mich in Deckung. Es ist schon lange Jahre her, da habe ich mit Ellen darauf gehockt. Wir waren besoffen, in der Wohnung fand eine Party statt. Wir haben beide von dem Balkon runter auf die Straße gepinkelt und wild gekichert, gelacht, gerotzt, haben uns zwischen die vertrockneten Topfpflanzen und stinkenden Balkonkräuter geworfen und gebumst, gevögelt, gefickt.

Einen völlig verschrammten Rücken habe ich mir beim Bumsen geholt, Ellen blutige Knie. Unser Ziel lag jenseits des völligen Exzesses. Das lief und steigerte sich so lange, bis ein Topf runter auf das Pflaster krachte, und wir uns verschreckt in die Wohnung verdrückten. Dort johlten die Mitfeiernden über unseren nackig verfickten Zustand und grölten mit Patti Smith „Take me now, baby, here as I am - Hold me close, try and understand - Desire is hunger is the fire I breathe“. Sie forderten uns auf, weiter und immer heftiger weiter zu machen.

Das Lächeln der Souveränität -78- Dieser entsetzliche Ausbruch an geiler Wildheit, der bereitet mir heute immer noch unangenehme Gefühle, schweißtreibende. Ellen hatte mich den ganzen Abend belegt. Wir soffen den Wein aus der Flasche, und sie redete und redete von ihrer literarischen Neuentdeckung, dem Franzosen Bataille, dessen obszönem Werk. Sie schwelgte geistig säuisch im Außer-sich-Sein, las mir begeistert von den wuchernden Erregungszuständen vor, wie die Lust den Körper spannte, von detaillierten Genitalbeschreibungen und deren Aktionen, wie sich eine Simone, gepeitscht von ihrer Erregtheit, in Pfützen suhlt und im Schlamm wälzt.

Mein innerer Aufruhr wuchs und stieg und schwoll an. Die Geilheit waberte, rhythmisch angeheizt von den tanzenden, dann stampfenden Freunden. Die sangen mit der Musik „I was lost in a valley of pleasure. I was lost in the infinite sea.” Sie drehten und wanden ihre Körper, sie hüpften, fielen auf die Knie, und sie wälzten sich am Boden: „Baby was a black sheep. Baby was a whore. Baby, baby, baby was a rock-and-roll nigger.” Es loderte, Notengeschosse flogen durch den Raum, Minen explodierten.

Besessen war diese Frau, die wir verehrten. Energie in Reinform, zuckend, blitzend, manisch vibrierend. Sie heulte, flüsterte, schrie, legte sämtliche Nervenenden bloß und kitzelte schauderhaft daran. Ihre Stimmbänder schossen Licht, grell, blendend, schrill und brennend, „got to lose control“.

Sie war die Schamanin in unserem verwüsteten Land. All unser Chaos, die Verworrenheit, die transferierte sie in ein kosmisches System. Zu einem Sinn.

Du musst gehen Bernd, gehen, doch keinesfalls im Kreis.

Sie war eine blutstachlige Rose auf verdorrter Erde. Deren stechend schwefelnder Brandgeruch mischte sich mit ihrem intensiv süßen Rosenduft. Die Mischung machte das Stammhirn verrückt, machte die Hirnzellen brausen und tosen. „Life is full of pain, I'm cruisin' through my brain”.

Hier irgendwo müsste scheppernd der stinkige Blumentopf gelandet sein, auf dem Pflaster, unter dem sich schon damals der Strand befand, so wie er an der Adria war, algenverseucht und mit Quallen und zurückflutender Scheiße. Das ist die wahre Wildnis, zugekackt und stinkend. Hier an dem Strand fand der Schiffbruch statt.

Das Lächeln der Souveränität -79- Neben alten Bekannten treffe ich auch in Frankfurt auf alte Erinnerungen. Und die sind wahrlich nicht gut abgehangen und gereift, sondern sie sind schmerzhaft, brennend wund, blutig, blutig sowieso. „Oh no, oh no, oh no, you gonna burn!” Lodernde Fackeln warf unser Höllenschamane.

Diese Exzesse, ich kann sie immer noch nicht so ganz begreifen. Ellen bekam wohl irgendwann ein Kind, so einen armen Wurm, höchstwahrscheinlich nicht von mir. Dann ist sie irgendwann in der Klapsmühle gelandet. “Now 's your time burn your mind, you're falling far too far behind.” Etwas später, nach diesem unersättlich gefräßigem Fickerlebnis habe ich mich zumindest in meine Eremitenhöhle im Nordend zurückgezogen. „And your mind, your tiny mind, you know you've really been so blind.”

Eigentlich weiß ich gar nicht genau, warum es mir noch so gut geht. Eine gewisse Stabilität scheine ich denn doch zu haben. Hermann steht vielleicht stützend rum, pardon, er stand vielmehr. Und besser noch: Er ging voraus, ging voran, als ein diskreter Führer durch dies Höllenleben. Er ließ mich kraxeln, stürzen, klettern, rutschen, steigen, fallen. Mit seinem blauen Hemd steht er wohl immer noch begleitend mir zur Seite. Der Gott des Höllenfeuers hat mich noch nicht greifen können, äußerlich. Von der Blindheit gilt es zu genesen.

Dem Blauhemd verdanke ich immerhin so einiges, ja so einiges an klassischer Bildung. Dort habe ich es erworben. Die Uni stand mir zunächst völlig fern. In einigen Seminaren, die ich anfangs absolvierte, fühlte ich mich komplett deplaziert. Was hatten all die begrifflichen Linien, wie sie dort entwickelt wurden, mit dem gesellschaftlichen Leben zu tun? Um dieses Leben zu begreifen, hatte ich das Fach schließlich gewählt. Und immer, wenn der Einsatz an mir war, kam ich ganz grässlich ins Schwitzen und redete schließlich wohl wirr. Im Felsenmeer der Begriffe war der Faden mir abhanden gekommen. Ääh, ja. Also, so ungefähr, irgendwie. Ihr wisst schon wie.

Ich saß in einem Seminar und blieb an einem Satz hängen, an einer Aussage. Sollte das eine Negation der Aussage sein oder eine Bestätigung? In der Gesamtaussage waren negierte Teilaussagen in Nebensätze gesteckt. Vertrugen die sich mit der Bestätigung der Gesamtaussage? War die letzte Aussage überhaupt kompatibel mit der vorherigen? Ich begann zu grübeln, tief, rutschte geistig in mich hinein und verlor den Anschluss an das Seminargespräch.

Das Lächeln der Souveränität -80- Das steigerte sich zu richtiggehenden Absenzen. Aus denen tauchte ich nach oben auf wie eine Luftblase aus dem Wasser, nach außen gedrängt zerplatzte sie. Die Blase löste sich in der Umgebung auf. Je weiter ich studierte, um so mehr erkannte ich, dass ich einfach lächerlich erschien. Als hätte das Universitätsstudium gleichsam den einen Zweck, mir meine Lächerlichkeit zu beweisen.

Ich erinnere mich an ein Seminar über jugendliche Subkulturen, bunt gemischt, Altachtundsechziger in der Mitte und vorne, adaptierte Achtundsechziger, sinnsuchende Postachtundsechziger, alles drin. Bei den Punks wurde die Folgeformation für das revolutionäre Subjekt der Geschichte ausgemacht. Die Konterrevolutionäre, das waren ganz offenkundig die Skinheads. Ein keuchend asthmatischer Rechts-Links-Gegensatz wurde künstlich beatmet.

Im Kopf war ich wieder weggerutscht, grübelte über diese Jugendlichen. Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich weggerutscht war oder nicht vielmehr die anderen Teilnehmer. Waren das nicht Menschen, die schon frühzeitig fest in fesselnden Begrifflichkeiten eingeschmiedet waren, so dass sie unbeweglich sitzenblieben und nur vorwärts schauten, aber nach links und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen vermochten? Aus ihrer geistigen Höhle erkannten sie die besprochenen Jugendlichen nur als vorüberwandernde Schattenbilder. Simulierten sie nicht einen schönen Scheinzusammenhang, um sich die Welt draußen verständlich zu machen? Den könnte ich zerbrechen, einfach zerhauen, auf der Stelle.

Ich grüble tiefer, und da liegt es, rotten, Johnny Rotten: “Dont know what I want – but I know how to get it - I wanna destroy the passer by cos I”. Weil ich, Sid Vicious, wenn mich die bösen Buben locken, dann drängt mein ich so schnell nach oben, es macht mich Schwitzen. Ich will den geistigen Passanten, all die gefesselten Passanten aus der Seminarhöhle gar nicht einmal zerstören, sondern ihnen das Lied der Sex Pistols vorsingen, rausquetschen, vor die Füße werfen, diesen bornierten Gaffern. Doch zerplatzt es. Oi Oi Oi. Kotzen könnte ich.

„La Calore“ besitzt Schaufensterscheiben. Dahinter sind die jungen Pizzabäcker zu sehen, wie sie die Hefeteigkugeln mit ihren Händen ergreifen, drücken, quetschen, breit klopfen. Die Teigscheibe werfen sie elegant und drehenderweise in die Luft, fangen sie wieder ein, und legen sie auf das Blech. Sie immerhin haben ihr Material im Griff, bestreichen es mit Tomatensauce, legen fettige Salami, feuchte Pepperoni, Pilze und tränentreibende Zwiebeln drauf. Mit ihren flotten Fingern greifen sie die in verschiedenen Schüsseln herumstehenden

Das Lächeln der Souveränität -81- Einzelteile und komponieren sie auf dem Boden des Teigs. Mit langstieligen Schaufeln schieben sie die bunten Räder in die Ofenglut.

Der Chef der Gluten, Arturo, sitzt zumeist mit dem Rücken zur Scheibe und hat den Laden im Blick. Jetzt steht er in der Eingangstür und mit einer stummen Geste weist er zur benachbarten Einfahrt des Hermannschen Theaters. Dort steht ein Lieferwagen, und der besitzt das Kennzeichen von Korbach. Das macht mich neugierig, und ich laufe um die Ecke. Jemand steht an der Eingangstür zum Theater und inspiziert sie sehr genau, besonders das dort klebende Polizeisigel. Ich fühle mich irgendwie verantwortlich und frage, ob ich helfen könne. Die Person fängt an zu zittern, dreht sich reichlich verschreckt um, und vor mir steht Hardy, der alte Schluckspecht aus Korbach.

„Bernd?“ „Hardy!“ Wir begrüßen uns. Und er beginnt sogleich zu erklären, warum er hier ist. Er wolle nur mal so schauen, wo der Hermann so gewirkt habe. Er redet viel und schnell, die Worte purzeln aus ihm raus. Er fühlt sich entdeckt, verdächtigt, Leichenfledderei zu betreiben. So weit ich weiß, betreibt er jetzt in einem Vorort von Korbach ein Antiquitätengeschäft. Und ich bin tatsächlich überzeugt, dass er wohl hoffte, hier sein Lager auffrischen zu können.

Ich lade ihn ein, mit in die Pizzeria zu gehen. Wein will er nicht trinken. Er habe aufgehört zu saufen, erklärt er mir. Arturo gibt unsere Pizzabestellung an die virtuosen Bäcker weiter. Hermann habe auch hier in der Pizzeria gewirkt, wir wären früher öfter hier gewesen, erkläre ich Hardy. Arturo freute sich immer, uns hier zu sehen.

Und eines Tages, es war schon etwas dämmerig geworden, sprang Hermann von seinem Sitz auf und stieg auf den erhöhten Rundgang rund um den Laden. Er rezitierte: „Mittwegs auf unseres Lebens Reise fand – In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen, - Weil mir die Spur vom graden Wege schwand.“ Er hatte den gesamten ersten Gesang Dantes im Kopf.

Er lief den Gang entlang bis zu dem gemauerten Pizzaofen und zurück zu den Tischen, besprach den Leoparden, Löwen, die Wölfin, „das Tier, das nahend Schritt für Schritt, das schlimme – Hinab mich drängte, wo die Sonne schweiget.“

Eine spannungsvolle Ruhe stand im Raum, verstummt war selbst die Glotze. Und dann, ich meinte, dass er mich fest im Blicke hatte, „erblickend ihn in dieser Wüstenei.“ Mit den

Das Lächeln der Souveränität -82- Händen wies er auf sich selbst. „Rief ich ihn an“, die Hände zeigten auf mich. „Wer du auch seist, ob Schatten, - Ob Mensch, erbarme dich und steh’ mir bei!“

Arturo klatschte lautstark Beifall am Ende. Er schmiss eine Ladung Kastanien in die Ofenglut, Importware aus seiner Heimat, und holte eine große Flasche Lambrusco hervor. Er empfand die Vorstellung als für ihn gemacht, ich für mich. Hermann vermochte alle Menschen einzubinden. Er war schlichtweg phantastisch.

Arturo stammt aus der südlichen Toskana, irgendwo aus der einsamen Gegend vom Monte Amiata. Er schwärmte von den Maronenwäldern und erzählte von den dampfenden Quellen dort. In dieser qualmend fauchenden Region hatte Dante einst die Inspiration zu seinem Werk gefunden. Und Arturo ist sein glühender Verehrer.

Hardy ist angetan von meiner Erzählung. Und ich dachte schon, ich hätte allein für mich in meinen Erinnerungen gekramt. Hardy erzählt von seinen Erinnerungen in „Werthers Freuden“. „Do what you like“, und dann der gemeinsame Auftritt mit Hermann auf der Tanzfläche, das hat sich tief in sein Gedächtnis eingegraben.

„Weißt Du“, sagt er zu mir, „das war zwar alles erbärmlich lustig für die anderen, aber mit diesem Auftritt da habe ich es erst gerafft, was für Kämpfchen da liefen. Vorher war es ja einfach so Spaß, so unbedarft irgendwie. Und dann sah ich mich darin wirken. Ich habe in dem Moment mehr mitgemacht dabei als all die ganzen Lacher am Rande.

Der dicke Brede hatte längst die Biege gemacht, oder, na ja, der hatte noch andere Geschäfte am laufen. Das habe ich zusätzlich erfahren, später dann. Er brauchte wohl den Discoschuppen irgendwie für die Steuer. Das waren erbärmlich piefige Siege, die wir übermütig feiern konnten. Und wir waren schließlich nur so ein kleines Teil im Rad, das andere drehten. Wir konnten uns dabei austoben. ‚Freiraum’, hat Hermann mal dazu gesagt, so kinderstallartig.“

Die Einsicht in die Piefigkeit der Siege hatte Hardy indessen zutiefst deprimiert. Die Unschuld war verloren. Er soff noch viel mehr und war schon fast in der körperlichen Auflösung begriffen, am zerfließen.

„Eines abends, unsere Disco, Du weißt, hatte schon dicht gemacht, da sind wir dann mit ein paar Flaschen Wein oder Bier zum Schießhagen rüber. Da war er gerne, und wir lagerten uns unter dem kolossalen Lindenbaum an. Das Lächeln der Souveränität -83- ‚Stell’ Dir vor, Du wärst in einem dunklen, finsteren Tal’, ich war bereit ihm zu folgen. Völlig bekifft, komplett zugedröhnt, waren wir ja auch noch. Frank hatte uns einige Krümel von seinem schwarzen Afghanen gegönnt. Hermann heulte plötzlich gierig wie ein Wolf, machte das gefräßige Tier, wütend, böse. Er schnaufte, blies den Atem dröhnend durch die Nase und hechelte so brünstig rum. Sein Kopf, mit Haaren wuchs ganz viehisch zu, die Koteletten sprossen, die Brusthaare quollen aus dem Hemd heraus und glühend wurden die Augen. Mit den Zähnen rückte er nahe an mich ran, immer näher ran und dann: ‚Du musst auf einem andern Wege gehen - Wenn du aus dieser Wildnis willst entfliehen’.

Ich weiß nicht, irgendwie bewusstlos oder so, fröstelnd bin ich wach geworden. Hermann schnarchte neben mir. Langsam kroch ich um den Baum und konnte schon die Sonne sehen. Ich zog die Beine an mich ran.“

Hardy trinkt jetzt tatsächlich von meinem Wein. Arturo gibt mir noch ein Glas.

„Ich habe die Beatles gehört, die spielten irgendwo um mich rum, zwischen den alten Stadtmauern, dieses Lied mit der Sonne und dem schmelzenden Eis, du weißt.“ Hardy zittert leicht, als er ein Stück Pizza nimmt, die von Arturo, mit dem knusprig krossen Boden.

„Ich glaube, Hermann sagte später mal dann, dass das von diesem Dante wäre, die Szene, und die hat gesessen! Tief und stark. Kurz drauf bin ich beim Schreiner Schüttler eingetreten, also so arbeitsmäßig. Und mit Trinken habe ich dann auch Schluss gemacht, na ja, also so mit ein paar Ausnahmen.“ Er lacht und hebt mein früheres Glas, wir stoßen an.

„Also nicht dass Du denkst, ich hätte ihm jetzt die letzten Besitztümer hier wegtragen wollen. Ich wollte nach einer Erinnerung, so einem richtig schönen Stückchen, suchen. Ich kann es nicht so mit Worten beschreiben, der Hermann war für mich so ein Phänomen, absolut enorm. Nach Frankfurt bin ich ja auch nur gekommen, weil ich im Auftrag von Sigrid hier bin, wegen all dem Regelungsscheiß, dass der nach Korbach kommt. Mir wollten sie ihn ja nicht mitgeben, mein Auto wäre jedenfalls groß genug.“ Hardy lacht.

„Ach, weißt Du, wir haben uns gedacht, die Sigrid und ich, dass Du die Rede bei der Beerdigung halten könntest. Du weißt ja, da kriegen wir keinen Pfarrer für.“ Ich kann es mir denken, doch fühl ich mich geschmeichelt irgendwie. „Wirklich? Das mache ich gerne.“, antworte ich. „Das Leben, die Hölle, und viel doller noch wird es wohl kommen“, irgendwie so wäre der Titel meiner Rede. Ich fange schon an mit dem Formulieren.

Das Lächeln der Souveränität -84- Hardy steigt in seinen Wagen und fährt unauffällig und auf geradem Kurs in Richtung Autobahnauffahrt West. Arturo schüttet mein Glas wieder voll mit Wein. Arturo ist gläubig, tief katholisch. „Hermann kommt nie ins Paradies!“ Verzweifelt schaut er mich an.

Standhaft blicke ich zurück. „Vorchristlich ist die Zeit, der er entstammt, der kannte nie ein Paradies.“ Das tröstet Arturo nicht sonderlich. „Schau hinauf zu den Sternen, dort entlang wird er wandern demnächst, im Licht, die Hölle muss er nie fürchten.“

Trotz klaren Himmels waren die Sterne jetzt noch nicht erkennbar, es war früher Nachmittag. Verpasst hatte ich demgegenüber die Zeit und die Chance, Hardy zu befragen, warum er gekommen wäre und nicht etwa Hermanns Sohn. Ich hätte nachgehakt. Der Sohn hätte doch genügend Zeit. Mit seinen zwanzig Semestern müsste er sich doch einen zeitlichen Spielraum erschaffen haben. Ich habe nicht gefragt, weil ich mich selber auf Ausblenden geschaltet habe, vermutlich.

Ich schalte mich wahrscheinlich schon selber aus, weil ich weiß, dass meine Frage bös zynisch geklungen hätte. Jeder hätte sie als gemein verspürt. „Na, der bringt es wohl nicht“, das hätte immer als meine eigentliche Feststellung im Hintergrund geklungen. Das kann ich nicht bringen, darf ich nicht. Ich will eigentlich keinen verletzen.

Und dann, ich habe selber lange genug studiert, da kann ich anderen nicht einen irgendwie gearteten Vorwurf machen. Ich bin verstrickt in dem argumentativen Scheiß, hätte einen bohrenden Vorwurf auch an mich selber noch empfunden. Quälend ist die Schuld auch schon, und ich hätte mich mal wieder lächerlich gemacht. Bitte, bitte ausblenden, Bernd.

Eigentlich hätte ich irgendwie liebend gern den verletzenden Zynismus rüber gebracht, zumindest verbal einen reingewürgt. Allen hätten sich die Haare gesträubt, Gelüste entfalte ich dann wie mein Vater, irgendwie strafend wäre er schon gerne gewesen. Wenn schon nicht körperlich sanktionierend, dann wenigstens verletzend nur so mit Worten. Und das ist noch nicht alles.

Ich werfe mir auch noch vor, dass ich wie mein Vater bin. Und dann, das ist der Hammer, ich werfe mir auch noch vor, genauso zögerlich zu sein, einfach inkonsequent. Eigentlich qualvoll erbärmlich ist dieses Bild von dem Messer, das er erregt in die Luft schiebt, und dann sackt alles in sich zusammen, puff.

Das Lächeln der Souveränität -85- Es ist so duster. Wenn ich mich ganz ehrlich innerlich bereise, stelle ich so häufig fest, dass es dort drinnen tief dunkel ist. Da weiß man gar nicht mehr, wo man gerade steht oder geht.

Heftig wie Dornenruten schmerzt das Schuldgestrüpp, innen ist alles wund, aufgekratzt. Ich möchte es gerne in die Ofengluten schmeißen, verbrennen dieses Gestrüpp, das ein undurchdringliches Dickicht bildet. Warum eigentlich nicht? „Fire, I'll take you to learn. I'll see you burn!“ Ich kann schon die glühenden Funken den Kamin hoch stieben sehen, dem Hermann als ein begleitendes Freudenfeuer hinterher.

Arturo der Kunstbär, der kennt tatsächlich seinen Dante: „Und führte mich zum Strauch, der ach vergebens – Aus blutigen Schrammen weint’“. Er bespricht das Lasterleben der Selbstmörder und “Wer warst Du, der aus so viel Wunden - - Du Worte hauchst der Pein, mit Blut genetzt?“ Gegen Arturos katholische Nöte, Hermann betreffend, wende ich nochmals ein, dass er nicht aus blutigen Schrammen weint. „Hermann entstammt einem völlig unchristlichen Zeitalter.“

# Psychofundus

Richtig massiv erscheint mir sein Theater im Sonnenlicht, völlig überlegen in sich ruhend, fast wie ein unbezwingbarer Bunker. Es wirft einen prächtig-großen Schatten. Arturo war es, der Hermann hier hängend gefunden hat. Das habe ich jetzt erfahren. Ich gehe drumherum. Ich kenne das imponierende Gebäude genau.

Ich weiß, wo ich reinkomme, ohne ein Siegel zu brechen. Es ist schon reichlich seltsam das Gefühl, dieses Gebäude wieder zu betreten, und auch noch durch einen verdeckten halbhohen Eingang. Obwohl ich hier tausendmal drin war, ist es mir jetzt, als würde ich in Hermanns Innerstes eindringen wollen. Es ist, als wollte ich in etwas Verbotenes, gar allzu Verlockendes mich heimlich hineinbegeben, in dieses Gedächtnistheater.

Allzu betörend wirkt das Haus auf mich, so massiv, so schützend. Es ist, als würde ich in eine faszinierende Welt eintreten, für sich, und geschlossen gegen das störende Außen. Hier ist der geschützte Raum, um die Erinnerungen frei purzeln zu lassen, hier finden sie ihr Material und umgekehrt.

Das Lächeln der Souveränität -86- Durch die Requisitenkammer geht es rein. Hier hatte Hermann wohl seine Schlafstätte eingerichtet. Das zerwühlte Bett steht verlassen. Fort ist er mit all seinen Musen, mit denen er es in den Federn getrieben hat. Die himmlische Urania hat ihn der Erde jetzt entrissen. Muffig riecht es im Raum.

Hosen, Hemden, Socken, Schuhe, alles ließ er so unaufgeräumt zurück. Bücher, Zettel, Seiten liegen überall herum, wohl viel von dem Tapeziertisch aus der Hermannsschlacht. Der steht zusammengeklappt an die Wand gelehnt. Zwielichtig ist es hier drinnen.

Ein Manuskript kann ich entziffern, „Theater der Grausamkeit. Erstes Manifest“. Die ersten Sätze hat, vermutlich, Hermann dick markiert, nämlich dass die Idee des Theaters nicht fortwährend prostituiert werden könne, dass seine Wirkung nur in einer magischen und furchtbaren Verbindung mit der Wirklichkeit bestehen könne. Notiert hat er an den Rand, dass die Verbindung gegenwärtig reichlich zerstört sei.

Mit Antonin Artaud, dem französischen Theoretiker und Schauspieler hat ihn Brigitte damals vertraut gemacht. Ich setze mich auf das Bett, das ist lustigerweise auch noch ein Himmelbett. Er hatte es für eine Bearbeitung der Leiden des jungen Werthers benutzt. Und diesen Himmel hat er zur Hölle gewandelt. „Die Leiden der jungen Bewegten“, so hatte er das Stück benannt.

Er spielte selber den männlichen Part und Brigitte einen weiblichen. Er erzählte ständig von den Erfahrungen in seiner Männergruppe, angezogen mit einer Doppelrippunterhose und mit einem Modell von Schmetterlingsflügeln auf dem Rücken geschnallt. Er hopste über die Bühne und fiel auf das Bett. Gruppenfreak sei er geworden, so stöhnte er.

Er breitete die Arme aus und tat taumelnd, als wenn er in den Himmel flöge. „Daß das Leben des Menschen nur ein Traum sei, ist manchem schon so vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gefühl. Das Resultat einer gut durchgeführten Hypnose, nichts anderes ist mein Selbstbild als Mann. Ich denke, fühle und handle, als wär’ ich in Trance, so luftig, so subtil.“

Ganz das verletzbare, das zarte Gemüt, das er spielte, in sich gekehrt. Brigitte stellte dagegen das unzugängliche und ausgekochte Äußere dar. Gekleidet war sie in ein farbenfrohes Hippiekleid, jung und hip, gearbeitet aus alten indischen Kleidungsstücken. Auf dem Rücken war ein Stoffherz appliziert, fast verdeckt durch die eng umgeschnallten Flügel, gestaltet wie die eines heulenden Sturzkampffliegers.

Das Lächeln der Souveränität -87- Sie beschimpfte das Publikum, erklärte ihm, dass es keine Erlösung von außen gäbe, kein idiotisches Jammern helfe. „Steht Euren Mann. Unerbittlich ist das Leben, ein immerwährender Kampf.“ Aus den Lautsprechern war ein eindringliches Surren zu hören, Motorengeräusche, Geräusche von ganz langsam sich nähernden Flugzeugen.

Hermann fand Artaud gut, wollte mit ihm experimentieren. Bislang hatte er sich immer stark an Brecht orientiert. Artaud schien dem großen Anspruch Brechts, das Leben ändern zu wollen, völlig zu entsprechen. Er zitierte gerne und häufig: „Man muß an einen durch das Theater erneuerten Sinn des Lebens glauben, wo sich der Mensch unerschrocken dessen bemächtigt, was noch nicht ist, und es entstehen läßt.“ Den Brecht nun zu spielen, das Utopische wunderbar und perfekt bildlich zu zeigen, das könnten die Städtischen Bühnen viel besser.

Je mehr er sich allerdings mit Artaud beschäftigte, desto skeptischer wurde er. Er zerstritt sich mit Brigitte sehr heftig. Ich dagegen war mir nicht so recht schlüssig. Das rieb mich auf. Wenn ich mit ihr sprach, gab ich ihr recht, sprach ich mit ihm, gab ich ihm recht. Vom Gefühl war ich auf ihrer Seite, der Kopf stand genau auf der anderen. Ich sagte gar nichts mehr, ich litt unter meiner lächerlichen Entschlusslosigkeit. Ich hatte keine Meinung. Ich konnte zu nichts irgendwie was sagen, wusste gar nicht, warum die mich so bedrängten, oder ob sie mich überhaupt bedrängten.

Doch eigentlich mussten sie mich bedrängen. Vielleicht ist es alles garstiges Gewäsch, was ich da so sage, leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug eines Selbst ausdrücken. Ein andermal – nein, nicht ein andermal, jetzt gleich. Wieder blubbert die Blase von unten hoch, mächtig vibrierend. Ich dachte schon längst in den von Artaud formulierten Bahnen, etwas verwirrt. Ich vollzog sein Denken sowieso schon in meinen Handlungen außerhalb des Theaters. Nicht nur dieser Balkonfick war der Beleg.

Brigitte schwor auf den spontanen Aufruhr, verglich ihn mit der Pest, die alles umwälze und nichts anderes als eine ungeheure Liquidation darstelle. Das überzeugte mich intuitiv, Verflüssigung, Auflösung empfand ich als adäquate Ziele der Begierde. Sie hielt ein Buch in der Hand, zitierte: „Und wie die Pest ist auch das Theater zur kollektiven Entleerung von Abszessen da.“ Oh Bernd, Du gehst und gehst, und gehst glatt am Ausgang vorbei.

Hermann hielt strikt dagegen. Wir saßen hier im Theater, und diese pestilenzialische Revolte, die vollzog ich schon draußen. Dort spielte ich das Artaudsche Theater schon als reales

Das Lächeln der Souveränität -88- Leben. Hier im Theater war mein Kopf gefordert, und Hermanns Logik überzeugte mich. „Wir können nicht das, was im Leben vielerorts schon abläuft, auch noch ins Theater holen, das wäre eine bloße Verdopplung des Bestehenden. Das Theater zielt auf den Menschen als ein denkendes Wesen, da werden keine leidigen Wiederholungen und Abstraktionen hervorgebracht, sondern ein Reflektieren auf Leben, woraus letztendlich Veränderungen möglich werden.“ Gut, gut, Bernd, aber die Gefühle, die verwehren das Hinausgehen.

„Diese erbärmliche Härte, Leistung, Konkurrenz und Gewalt, unsere furchtbaren Lebensregeln selbst, dieses traditionelle Männerbild, das ist doch geprägt wie von kaltblütigen Pedanten, daran müssen wir rühren. Wollen wir sie doch überwinden, diese schrecklichen, gemeinen Leidenschaften. Immerhin wollen wir doch gar nicht als trunkene Wahnsinnige gelten, gesteuert gänzlichst von unseren männlichen Leidenschaften.“

Sein Widerpart Brigitte entgegnet, dass er ebenso als Nüchterner rein gar nichts steuern könne. „Du schaffst mich nicht. Denn jedes elende Geschäft des Jammerns zieht Dich mehr an, als eine teure, köstliche Frau. Also lass fahren alle Vernunft. Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Komm zu mir, in diesen rasenden Himmel der Liebe.“

Brigitte moserte, dass ihre Rolle viel zu komplex sei, einfach zu widersprüchlich für die Zuschauer. „Es ist unbegreiflich, dass ich einmal die unzugängliche Lebensumwelt spiele und dann die geile, männerfressende Frau.“

„Das ist Dir selber vermutlich zu widersprüchlich, aber das passt genau zusammen. Das zarte Seelchen kann an der Umwelt auf zwei Wegen scheitern, abgewiesen in der Selbstauflösung, Selbstmord oder im Vernichtetwerden durch Gefressensein. Das zarte männliche Pflänzchen kann bei Dir keinerlei Wurzel fassen, kann nur an Dir scheitern. Und das musst Du ausspielen, beide Möglichkeiten.“

Hermann erzählt in seiner Rolle von einem guten Freund, der lebensfreundlich und an Geschwisterlichkeit orientierter Männlichkeit interessiert sei, „ein scheues Wesen, das mir sein Unglück klagte.“

Und Brigitte hob zum Kontra an: „Wahrlich ist es ein Unglück. All seine tätigen Kräfte sind zu einer unruhigen Lässigkeit verstimmt. Er kann nicht müßig sein und kann auch nichts tun. Wenn er sich selbst fehlt, dann fehlt ihm doch alles. Ich erkläre, besser wäre es für ihn, ein Fließbandarbeiter zu sein, um nur des Morgens beim Erwachen eine Aussicht auf den

Das Lächeln der Souveränität -89- künftigen Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben. Und, seltsam, da schaut er mich kurz und nachdenklich an.“

„Siehst Du, so klappt es. Die Realität gibt es portionsweise. Abgepackt in kleine, jeweils überschaubare Rationen lässt sich die eigene Lebensperspektive ertragen.“ Hermann war auf freier Montage, montierte Satzstücke aus dem Werther zusammen mit Sätzen von Männergruppenbewegten und für die Rolle der Brigitte auch noch mit deftigen und zynischen Worten und Kommentaren. „Du kannst nicht immer nur Dich selber spielen, das ist schlicht eindimensional, auch wenn deftige Sprüche fallen und kannibalisch roh agiert wird. Ich baue ein Kontra ein.“

Und mit seinen lächerlichen Schmetterlingsflügeln hoppelt Hermann etwas ungelenk auf der Bühne rum. „Immer wenn ich Albert sehe, ergreift mich die Angst. Ich fühle mich wie Nichts neben ihm. Vielleicht ist er ja ein edler Mensch, vielleicht liegt es allein an mir selber, dass er so unerträglich wirkt.

Erst neulich, bei dieser Fete, die so schön begann, da tanzte er so obszön, schon richtig rabiat und nahm sich fast den gesamten Platz auf der kleinen Fläche. Die Fete wäre fast geplatzt wegen ihm. Aber mit einem Mal machte er wieder so gelassen, auch wieder so grässlich unerträglich. Ansprechen wollte ich ihn, doch redete ich plötzlich närrisch und fing viel Possen und viel verwirrtes Zeug an. Da war er plötzlich ganz freundlich zu mir, so böse, hinterhältig schon. Ich war so verzweifelt und mich drängte es nur noch fort.“

Gemeinsam saßen wir am großen Tisch im Theater, aßen eine extragroße Pizza, tranken Wein und besprachen den Werther. Ich stolperte über den Namen „Ossian“. „Den kennt doch kein Mensch mehr heutzutage. „Den könnten wir durch Prinz Eisenherz ersetzen, der hat dieselbe Qualität, ist aber bekannter.“

Hermann befragte mich sogleich, wer dieser junge Prinz denn überhaupt sei. Ich erzählte ihm von den aufregenden Abenteuern des jungen Prinzen in den Sümpfen, die er allein besteht. Er ernährt schließlich seinen gesamten eigenen Stamm. Sumpfechsen und Drachen besiegt er. Es nähert sich ihm die schattenhafte Gestalt eines Ungeheuers, er kann es besiegen, und es entpuppt sich als ein verwachsener und missgestalteter Mensch. Er rettet ihn.

Das Lächeln der Souveränität -90- Hermann besorgte sich einen Band von dem Helden und montierte: „Prinz Eisenherz hat in meinem Herzen den Faust verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche mich führt! Den Sumpf zu durchschippern, umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu hören vom Gebirge her, im Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister, Monster und Drachen aus ihren Höhlen und Sumpflöchern, und die Wehklagen der übelgelaunten, visionären Hexe, die um ihren geliebten, verkrüppelten Sohn jammert. Was habe ich ihm angetan? Wie kann ich meine Schuld nur löschen?“

„Ach er versucht es, in seiner Hodenwärmer-Clique, palaver palaver.“ Gut, gut, gut Brigitte, das ist ein passender Kommentar dazu. Du siehst, es klappt auch bestens ohne die Hau-drauf- Manier. Brigitte war trotzdem irgendwie beleidigt. Hermann meinte, dass all die erlebnissteigernden Effekte, die Artaud so anführe, Licht und Ton, gewaltige Bilder und auch die Plötzlichkeit von überraschenden Situationen im Film viel besser zum Ausdruck kämen. Seine Drastik dagegen, die könnten wir voll übernehmen.

„Wir sind hier vor allem auf unsere körperliche Präsenz verwiesen. Wir stehen am Rand der Bühne, vor dem Abgrund und tragen vor: ‚Mußte denn das so sein, daß das, was des Menschen sumpfige Glückseligkeit macht, wieder der Sumpf seines Elendes würde? Das volle, warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen, der blubbernden Natur, das mich mit so viel Wonne überströmte, das rings umher die Welt mir zu einem abenteuerlichen Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unerträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geist, der mich auf allen Wegen verfolgt..’“

Mit seinen Schmetterlingsflügeln flattert er an das Bett heran. „Mein ganzes Wesen zwischen Sein und Nichtsein zittert, da die Vergangenheit wie ein Blitz über dem finsteren Abgrund der Zukunft leuchtet. Alles um mich her versinkt.“ Er steht am Himmelbett. „Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten! Das ist alles Und warum das Zaudern und Zagen? Weil man nicht weiß, wie es dahinten aussieht?“

Vom Stukaflieger kommt die Antwort: „Ich zeig’ es Dir.“ Zitternd fasst sie in das Hippiekleid und zieht ihren stahlglitzernden mongolischen Dolch daraus hervor. Sie putzt die kalte Klinge und stürzt zu ihm ins Himmelbett.

Das Lächeln der Souveränität -91- Es stand mit der Längsseite am Bühnenrand und der weiße Stoff hing herab. Ich war für die Beleuchtung zuständig und konnte das Geschehen im Bett wie einen Scherenschnitt wirken lassen.

Rittlings sitzt sie auf ihm und macht sich an seinem Gesicht zu schaffen, zieht ab die Haut. Blut fließt. Es spritzt in dicken Tropfen auf den Stoffvorhang. Er lechzt und stöhnt und schreit: „Ja ja, und tiefer noch. So werde ich eins mit der Welt, kann aus mich treten heraus. Mein Gesicht, ich verliere mein Gesicht. Nichts Trennendes besteht mehr vor mir, vereint bin ich mit dem All.“

Ein lautes Röcheln, der Vorhang geht auseinander und Spotlight on, Musik: „Oh Haupt voll Blut und Wunden“. Heraus kommt eine Hand von Brigitte, darin ihr mongolischer Dolch, daran hängt eine schlaffe Gesichtsplastik, davon tropft das Blut.

Mittlerweile bin ich zu der Auffassung gelangt, dass Hermann mit diesem Stück das Theater der Grausamkeit hervorragend inszeniert hatte. Gerade an der Unbeholfenheit des Schmetterlingsflüglers kommt das Grausame bestens zur Geltung. Dabei war dem Stück keinerlei größerer Erfolg beschieden, also wenn man die Zahl der gut besuchten Aufführungen betrachtet.

Schon während der Uraufführung verließen einige Besucher empört den Saal. Männer waren entrüstet, da sie einen ungehörigen Angriff auf die Männergruppen darin erkannten, wenn nicht gar auf die gesamte Männlichkeit. Frauen gaben sich schockiert, da sie eine kultische Verehrung des männergeilen Vamps darin witterten, verbunden mit einer Weiterung zur Verunglimpfung der Frau an sich. „Unter Stalin hätte es das nicht gegeben“, brüllte einer. Er erntete nur verhaltenes Kichern.

Fast die gesamte Politszene war aufgebracht. Zwar kam es zu keinem Tribunal im großen Hörsaal, aber im Studentenhaus müssen sich wohl einige Versammlungen damit beschäftigt haben. Auch soll Jakob Jassmann, die unstrittige Führungsfigur der Gruppe „Permanenter Kampf“, sich negativ über die „Leiden der jungen Bewegten“ geäußert haben.

Eigentlich waren ihm die Probleme der Männer- und Frauengruppen reine kleine Nebenwidersprüche im Großen und Ganzen. Jedoch galt er vielen als ein autoritärer Knochen,

Das Lächeln der Souveränität -92- als die Wiederbelebung einer tyrannisch anmaßenden Persönlichkeit. Jetzt hatte er die Chance, an diesem Bild ein paar Einstellungsveränderungen vorzunehmen. Die Gruppe „PK“ war nicht sonderlich erfolgreich in ihren Bemühungen, die Fabrikarbeiter von den Farbwerken zu revolutionieren. Jassmann wollte seinen Einfluss auf die gesamte Politscene ausweiten.

Er hatte fast immer einen grantigen Blick. Ich gehe nicht davon aus, dass er sich den als ein taktisch zu verwendendes Instrument draufgeschafft hat. Vermutlich guckte er schon immer so, war halt so ein mürrischer Deutscher und wurde sich später der taktischen Bedeutung dieses Blicks bewusst. Wenn er mit dem griesgrämigen Gesicht irgendwelchen Leuten Gehör schenkte, dann musste es diesen wie ein Gnadenerweis erscheinen, dass der große Jassmann ausgerechnet sie erhörte.

Er wusste, wie er ihnen seine Besorgnisse angesichts dieser scheußlichen Aufführung darstellte, äußerte seine Bedenken, dass sich in der Aufführung die zunehmende Verrohung der Gesellschaft zeige. Schon Adorno habe doch über das grassierende triumphale Unheil berichtet. Jassmann war ein strategischer Denker, wusste, wie er Kritiker in sein Boot holte und sich seine führende Stellung sicherte.

Gerüchtemäßig war dem Stück somit ein großer Erfolg beschieden. Er zeigte sich in den Pöbeleien, denen Hermann und Brigitte ausgesetzt waren. In Bockenheim konnten sie sich nur im Dunkeln auf die Straße wagen. Das Theater zierte bald eine Aufschrift aus fetten, roten Spraylacklettern: „Du Chauvischwein“.

Brigitte war in ihrer Lebensgier sowieso frustriert, sie meinte, bei der Konzeption des Stücks nicht zur Geltung gekommen zu sein. Dabei hatte Hermann die Wirkung ihrer ursprünglichen Idee wahrlich potenziert, und sie hatten mit dem Stück erreicht, worauf Artaud abzielte. Das war nämlich das Aufspüren von Gefahr, der Gefahr der Skandalisierung, der Gefahr, dass sich wichtige und viele Leute von einem abwenden, wenn man ideenmäßig nicht mehr mit ihnen übereinstimmt, gar die Gefährdung der eigenen Existenz.

Das waren allerdings außertheatralische Ergebnisse. Im Grunde ging es uns doch um das Aufzeigen von Lebensweisen der Innerlichkeit, also nicht im Sinne der Verdoppelung,

Das Lächeln der Souveränität -93- sondern um das verschärfte Zuschneiden. Die Wut auf und das Scheitern an der Außenwelt wollten wir darstellen, wollten zeigen, wie es ist, wenn das Leben nicht mehr lebt.

Also, ich gebe soeben Rechenschaft darüber, wie mein Kopf das so begriffen hat. Wie es so ist, wenn man das Äußere mit dem emotionalen Pathos des Inneren überschwemmt wird, wenn die Entgrenzung zwischen innen und außen erreicht ist, wenn die Haut, die äußerste Grenzstation des Körpers, abgezogen wird. Für mich war das theoretisch einsichtig, für andere rein gefühlsmäßig unverständig. Eigentlich war die Pleite unseres Stücks rational völlig klar.

Auch wenn Brigitte von der Hoffnung getragen wurde, mit dem Theater eine kollektive Entleerung von Geschwüren zu erreichen, was immer sie damit meinte. Nachvollziehbar war ihre Hoffnung, mit dem Theater ein paar Märker zu verdienen, um nach Mexiko zu reisen. Richtig grimmig äußerte sie ihre abschließende Meinung, das tatsächliche Drama fände sowieso nicht auf der Bühne statt. Unklar blieb uns jedoch auch ihr transatlantisches Ziel. Sie erwähnte irgendein verlorenes Ritual, das mittels eines Pilzes stattfinde, Peyotl genannt.

Aber trotz des finanziellen Reinfalls im Bockenheimer Theater verschwand sie alsbald nach Mexiko. Woher sie das Geld hatte, blieb uns hingegen schleierhaft. Vitale Lebenssubstanz wollte sie sich erobern, dort, so sagte sie. Die Leere bedrohe sie. Dagegen wollte sie das Ewige, das Unendliche für sich körperlich, mit allen Nerven erfahrbar machen, und das mittels des Rituals von irgendwelchen Indios. Nach vielen Monaten kehrte sie zurück.

Wegen des finanziellen Reinfalls steuerte Hermann profitträchtigere Stücke an, Kinder- und Jugendtheater erwählte er sich als Tätigkeitsbereich. Dabei hatte er sich verschiedene Comic- Bände über Prinz Eisenherz beschafft und daraus Theaterstücke gezimmert. Die waren tatsächlich recht erfolgreich, so einige Kindergartengruppen und Grundschüler waren davon begeistert, ebenso wie David Pfaff, der sich keines der Stücke entgehen ließ.

Auch wegen des Reinfalls im Theater machte ich mich schließlich auf den Weg in meine Eremitage im Nordend. Vor allem mit Dostojewskis „Dämonen“ unter dem Arm verließ ich meine letzte Wohngemeinschaft und wollte nur noch allein sein.

Das Lächeln der Souveränität -94- Zweimal brach ich dann später aus meinem klaren Lebensrhythmus aus. Auf meinem Schleichweg begab ich mich ins Theater und betrachtete verdeckt die Eisenherz – Aufführungen mit der schönen Aleta, seiner Königin. Gespielt wurde sie von Kathrin, die München verlassen hatte. Es war faszinierend, Aleta tanzte zum Klang der Trommeln und unheimlich klingender Flöten. Ihre Füße wirbelten wie Schmetterlinge über die rauen Bühnenbretter. Schwarze Augen, in denen Begierde flammte, sahen den anmutigen Tanz der hellhäutigen Aleta zu, die im flackernden Schein des Feuers mit der kühlen Würde einer Königin dahinschwebte.

Das Himmelbett riecht richtig muffig, erdig modrig, wie ewig nicht gelüftet. Der Duft beschwert meine Sinne. Ich lege mich in das Bett hinein und Brigitte mit Slip im Leopardenlook und ihren Stukaflügeln rauscht hernieder, streut ihre Bomben herum. Kathrin trägt eine Perücke mit langen blonden Haaren. Die Frauen rutschen durcheinander, verwischte Figuren. Die Musen haben Seidenhemdchen, Satinhöschen, String-Tangas, Wonderbras und geile Nylons darin liegen lassen. Ich fühle mich gelähmt, die Pizza liegt schwer im Magen, und der Wein hat den Geist erschlafft.

Es brennt zudem auch noch, so lichterloh. Kantige Häuser, Rundtürme daneben, moscheenartig, kann ich durch den Rauch im rötlichen Licht erkennen. Samarand? Oh Eisenherz, die Flammen lodern hoch hinauf. Nein, dies ist Dis, die Höllenstadt. Das Bett vibriert, es wackelt, beginnt bewegt zu schwanken. Vor den hohen Wellen schießt es nach oben und dahinter geht es tief bergab. Ein animalischer Mief kriecht ferner meine Nase hoch.

Menschenmengen in der sturmdurchpeitschten See. Es wogt gewaltig, wie im großen Hörsaal. Einzelne kann ich erkennen. Jakob Jassmann haut sein Gebiss in den Bootsrand, will sich irgendwie festhalten. Eine Nackte hat schon ihren kräftigen Schenkel in das Boot geschoben. Ihr hennarotes Haar ist mit kaltem Wasserschlamm durchsetzt. Unser Bootsmann will sich den Schenkel greifen, doch muss er sich auf das Ruder konzentrieren. Roland von der revolutionären Zoffgruppe zerrt dafür an der Nackten. Er ist wild auf das Plätzchen im Boot.

Das Höllenboot taumelt durch die Flut. Ich will schreien. Es kommt kein Ton. Ich glotze aufgekratzt herum, gelähmt vor Angst und Schrecken. Absolut gefasst steht Hermann neben mir, einen Kranz hat er sich aufgesetzt. Und eine souveräne Ruhe strahlt er aus, dem Toben überlegen, standhaft, fest wie eine Statue. Völlig wacklig sind meine Knie. Ich aber kann mich an ihn lehnen, mich stützen felsenfest. Sein Kleid, seine Toga ist blau, so blau.

Das Lächeln der Souveränität -95- Gar zu schrill bimmelt die Bootsglocke. Alle starren auf mich. Empört! Der Bootsmann blickt mich aufgebracht an. Heftig erzürnt schauen all die Ertrinkenden drumherum. Ich bin es, ich schon wieder habe sie alle in ihrem Tun gestört. Die Statue neben mir, jählings halte ich die im Arm, zerknittert, eine Plastikpuppe, aus der die Luft raus pfeift. Ist das etwa meine Schuld? Schon wieder habe ich keine Schuhe an, keine Socken. Vor Scham könnte ich im Boot versinken.

Das Handy bimmelt erneut, schön schrill. Lautstark drängt sich die äußere Welt in diesen verschlossenen Theaterbau hinein. Das ist jedoch die Rettung. „Ist irgendwas mit Dir? Du hörst Dich so komisch an.“ Rudi fragt mich. „Nein, nein, alles in Ordnung, nur ein bisschen außer Puste.“ „Sag’ mal, Du hältst doch die Rede bei Hermanns Beerdigung. Und ich, also ich dachte, ich sage Dir das jetzt mal lieber gleich.“

Ich muss mich erst einmal im Bett orientieren. Von wegen Seidenhöschen, meine Füße stecken unten in der dreckigen Unterwäsche von Hermann, diesen Doppelrippdingern. Die könnten noch dem Schrank seines Vaters entstammen. Sparsam gegenüber sich selber war er immer.

Wie schnell sich das mit meiner Rede rumgesprochen hat. Ich setze mich aufrecht, und vom Baldachin des Himmelbetts rieselt der Staub hernieder. Ich war wohl etwas eingenickt. „Wahrscheinlich kommst Du da sowieso darauf. Also ich habe Dir vor kurzem im Museum nicht so die ganze Wahrheit erzählt. Der Hermann ist mir gegenüber überhaupt nicht anmaßend aufgetreten. Ich dachte, also so eigentlich hätte er schon das Recht dazu gehabt. Ich habe da ein bisschen überreagiert, als er bei mir im Büro stand, habe ihn angebrüllt. Ich fühlte mich schuldig, weißt Du.

Vorher, als er noch Kohle hatte, da hat er mich mal eingeladen. Wir sind nach New York geflogen, wollten mal so moderne Kunstrichtungen studieren, wollten gemeinsam erkunden, was wir davon hier in Frankfurt umsetzen könnten. Wir hatten so was in Richtung ‚Events’ im Kopf. Er wollte sowieso das Theater aufgeben. Ich wollte mich mit einem neuen Kunstkonzept hier im Amt präsentieren. Na ja, irgendwie ging alles nicht so auf wie gedacht, wie erhofft.“

Ich begreife gar nicht, was er eigentlich will. Ich will eigentlich lieber wieder ins Boot zurück, diesen geilen Schenkel greifen, doch flutscht der immer wieder fort, genauso wie diese

Das Lächeln der Souveränität -96- Plastikpuppe. Frank sitzt auch schon im Boot, das heißt, er will die Begräbnisfeierlichkeiten gestalten.

Das ist bedeutsam, Rudi sagt es mir, als wolle er irgendwie teilhaben an dieser großen Bedeutung. Es soll wohl um den Tod als unserem neuen Star gehen. Irgendwie haben wir was ausgemacht, und ich sitze plötzlich aufrecht im Bett und klopfe den Staub von mir ab.

Langsam werde ich wacher, stehe auf und stolpere fast über das singende Schwert, das heißt, dieser Plastikattrappe. Die Schmetterlingsflügel liegen im schiefen Regal an der Wand, gleich neben der Filmklappe von meinem Erhardt – Auftritt. Ich will die Todesstätte Hermanns betrachten, also gehe ich jetzt gleich auf die Bühne.

Hier müssen sie ihn abgepflückt haben. vielleicht mit so einer großen Heckenschere abgeschnitten, schrapp. Die Fallstrecke muss lang genug sein, ebenso der Strick, sonst erstickt man qualvoll. Dabei schlägt die Zungenwurzel gegen die hintere Rachenwand an und weg bleibt die Puste, so definitiv.

Zu lang sollte der Strick auch nicht sein, sonst platzt der Kopf auf. Na gut, das interessiert nur noch die Entdecker, die sich ästhetisch angewidert fühlen könnten. Im günstigsten Fall bricht das Genick, also dieser obere Knochen der Wirbelsäule. Dann verliert man sofort das Bewußtsein. Man baumelt von der Decke, während das Herz noch einige Minuten länger schlagen kann. Ein Henker aus England veröffentlichte einst eine Tabelle, der man die jeweils benötigte Fallstrecke entnehmen konnte.

Doch bin ich mir sicher, dass Hermann all die Techniken kannte. Als Mann des Theaters hatte er seinen Shakespeare genau kapiert, King Lear und diese Sachen. Erdrosseln, Vergiften, Erhängen, alles drin.

Sein zentrales Betätigungsfeld, die Bühne, hielt Hermann immer geordnet und sauber. Auch jetzt wirkt sie leergefegt, keinerlei Strickreste, Leiter oder Stuhl sind zu sehen. Ein giftgrünes Büchlein allein liegt in der Ecke, vom Vorhang leicht verdeckt.

Zwischen dem giftgrünen Einband befindet sich ein Lehrstück von Brecht, „Die Maßnahme“. Lange hat er für ein neues Stück daran herum gebosselt, aktualisiert und kombiniert mit erstaunlichen Dingen wie diesem sogenannten Fememord an dem Studenten Ulrich Schmücker, der Kaufhof-Brandstiftung in Frankfurt, dem misslungenen Anschlag der RAF

Das Lächeln der Souveränität -97- auf einen Journalisten, mit all den verworrenen verbalen Verrenkungen um die so verstandene lethargische Masse der bundesdeutschen Gesellschaft.

Natürlich sollte auch das Kostümtheater dieser kommunistischen Parteien, marxistisch- leninistisch selbstverständlich, als Aufbauorganisation oder sonstwie in seine Bearbeitung eingehen. Wie die Parteien als technische Instrumente dienen sollten, das Gewissen ihrer Mitglieder zu entlasten, um sie sich damit vollständig unterzuordnen, das interessierte ihn an dem Brecht-Stück und an der Gegenwart.

Hermann hat lange daran hin und her geschrieben, es kam nie zu einer Aufführung. Ich riet ihm davon auch ab, es hätte nämlich böses Blut gegeben. Waren die damit angesprochenen Leute doch die Besucher seines Theaters, und die verstanden keinen Spaß und keine Ironie, was ihr eigenes Handeln und Selbstverständnis anging. Sich neben sich selbst zu stellen und sich zu betrachten, das ging nicht an. Das würde als teuflischer Anschlag auf dieses empfindsame Selbst empfunden. Aus dem giftgrünen Büchlein, einem Lehrstück über ein kommunistisches Parteigericht, fiel mir ein zusammengefalteter Zettel in die Hand, eine Epistel über den Selbstmord, von Brecht.

Hermanns ewig großes Vorbild rät darin, als Grund einen Schwindel zu benennen, etwa dass einem die Frau untreu geworden sei. Er selber brauchte nicht zu schwindeln, war er doch mit dem Theater verheiratet. Und das war ihm in der Tat untreu geworden. Innige Liebe war es gewesen, in der er die Barrikaden zwischen dem Eigentlichen und dem Imaginierten abzubauen vermochte, die zwischen Leben und Kunst. Entscheidende Momente waren das für ihn. Die Untreue versetzte niemanden mehr in Erstaunen. Ich glaube, mit dem Sendschreiben Brechts war er überhaupt nicht einverstanden.

Ein heftiger Wind fegt durch das Haus, düsterer ist es geworden, draußen haben sich dunkle Wolkenberge aufgebaut. Irgendwo schlägt ein Fenster an. Ich mache mich auf die Suche und komme an einer geöffneten Tür vorbei, ein kleiner Raum dahinter. Ein Blitz erhellt und am Boden kann ich ein Sitzkissen erkennen. Ich begebe mich in den Raum hinein und schließe das Fenster.

Bevor Hermann das Gebäude als sein Theater erkor, war darin eine Maschinenschlosserei gewesen. Dieser Raum diente damals als Lager für Schmierfette und Maschinenöle. Die schweren Düfte sind darin konserviert und strahlen etwas höchst Sinnliches aus. Ich lasse mich auf das Sitzkissen nieder. Ein mächtiger Donnerschlag, und die Dachziegeln vibrieren.

Das Lächeln der Souveränität -98- Ich gewinne nicht die angestrebte Ruhe, die innere Leere. Die Gedanken laufen sturmgepeitscht. Ich denke an meine Eremitenhöhle, aus der Hermann mich ehedem herausholte, mich wieder ins Boot brachte. Und wieder kreise ich um meinen Traum, erlebe das stürmisch bewegte Boot, den wie ewig verdrießlichen Jassmann am Bootsrand, die aufgebrachten Ertrinkenden und weiß zutiefst, ich will an das andere Ufer, das Ziel des Sehnens. Ich werde die Nuss schon knacken.

In aller Fülle dringt ein Licht herein, es strahlt so hell. Wie fortgeblasen sind all die dunklen Wolken, Sonne scheint. Meine Augen verfolgen den Weg des Lichts von oben. Ein Eisenträger befindet sich direkt oberhalb meines Kopfes und daran hängt ein verknoteter Reststrick. Völlig bestürzt springe ich auf, kann indessen die Augen gar nicht abwenden.

Hier also ist es geschehen. Und ich sitze die ganze Zeit schon arglos darunter.

# Jenseits des Denkens – Sitzen machen

Eine Monsterwelle rast rund den Kesselrand entlang, macht schwindlig, droht den Kessel zu kippen. Ein hochverdichtetes Gedankenkonzentrat absorbiert sämtliche Gefühle, hält den gesamten Körper im Griff. Dieser Kopf macht, was er will. Er denkt sich seinen Gedankenscheiß und errichtet sich die Welt nach seinem Willkürbild, reißt schließlich gar den Körper mit sich.

Ich dagegen falte die Beine zusammen. Der linke Fuß ruht auf dem rechten Oberschenkel, der Hintern auf einem Kissen. Auch die Gedankenmaschine ruht. Die Lage im Oberstübchen ist mittlerweile entspannt.

Es knospt so friedlich in mir, zuerst nur Knospen von Sammet oder Seide, dann Blümchen, Seidenhöschen, Baumwolle, Feinripp, Hanf, ein Strick mit Knoten, um die Gurgel. Hermann hang down. Das Monsterkarussell im Kopf gewinnt schon wieder an Fahrt. Die Gedanken kreisen wild. Da haut der linke Unterschenkel dazwischen

Ein Krampf in der Wade, blitzartig ist die Aufmerksamkeit darauf gerichtet. Er wird von der Aufmerksamkeit begrüßt. Sie kennen sich. Er verharrt, kurz, und macht sich fort. Kichernd. Es umkreist mich nun. Hat meine Beine, den atmenden Leib im Blick. Gelöstheit macht sich breit. Achtsam dreht es seine Runden.

Das Lächeln der Souveränität -99- All along the watchtower. Und ich sitze hier. Immer noch im Schweinesystem. Hat nicht geklappt damals. Wäre das gut geworden? Ach Anmaßung. Omnipotenzgefühle. Break on through. Auf dem Friedhof. Immerhin Paris. Maschinenschlosserei. Achtsam hat es die Gedanken im Blick, im Griff. Sie rasten nicht aus.

Wo kommen all die Gedanken her? Von mir bestimmt nicht, ich bin nicht deren Erzeuger, sie überfallen mich vielmehr. Auch die Gefühle. Nicht von mir bewusst verursacht. Was habe ich mit denen zu tun? Nur aufreiben tun die mich. Und mein Handeln? Bin ich dessen willentlicher Produzent? Ich kann einfach nichts frei tun! Jegliche Selbstbeherrschung geht mir ab. Ich beginne zu schwitzen. Im Schritt verspüre ich so ein lähmendes Ziehen. Das halte ich kaum noch aus. Diese Schmerzen

Die übereinander geschobenen Handflächen rutschen zudem auseinander. Da ist es wieder da, besänftigend. Die Aufregung schwillt ab. Die Hände sind gerichtet, aufrecht der Rücken. Die Bauchdecke hebt sich und sanft gleitet der Atem hinein. Sie senkt sich. Mein Atem entweicht, fließt in den Raum. Ich, oder das, was meine Mitte ist, sitzt tief im Bauch unten drin, mein Schwerpunkt ist rund um den Nabel versammelt.

Das souveräne Selbstvertrauen scheint seine Heimat hier zu haben. Wenn das fehlt, ist man getrieben, rennt geschäftig hin und her, lässt sich ablenken von den Umständen und diesen Milliarden von Dingen in der Welt. Wo habe ich das denn bloß gelesen? Schon wieder fliegen die Gedanken. Doch es meldet sich, und die Konzentration sucht nach dem festen Boden, der Erde. Die Knie sind perfekt auf der Matte verankert. Der Schwerpunkt zentriert sich erneut in des Leibes Mitte. Der Atem fließt. All die mitreißenden Bilder im Hirn, die rasenden Phantasien liegen zerbröselt am Boden. Sie fliegen beim Ausatmen fort. Es kreist. Der linke Fuß ist eingeschlafen.

Von Ferne tönen Kirchenglocken, von weit oben ein Flugzeug, Vögel zwitschern und die Luft riecht heute so frisch. Meine Achtsamkeit registriert das und zieht weiter. Kein Gedanke heftet sich an den sinnlichen Erfahrungen fest. Keine Begriffe suchen sie zu fassen. Die sind sowieso nur reines Menschenwerk. Sein Denken hat sie erschaffen, und er gestaltet die Wirklichkeit damit. Aber sein Denken setzt folgend die Begriffe an Stelle der Wirklichkeiten, seine Gedanken ersetzen die Erfahrung. Das System ergreift die Stelle des Lebens. Dabei hat der Mensch die Begriffe doch alle erfunden.

Das Lächeln der Souveränität -100- „Begriffe und Namen steigen von innen aus dem Meer des Atems auf, und ihr heftiges Trommeln lässt eure Zähne klappern, und diese stottern Bedeutungen hervor. Erkennt ihr denn nicht, dass dies alles Vorstellungen und Täuschungen sind?“ Kein ‚wer war das’ steigt in mir auf. Der Name des Zenmeisters bleibt tief unten.

Es hat die erneuten Gedankenschübe im Blick, lässt sie sich ruhig entfalten. Ich drücke den Rücken aufrecht durch. Kopf, Nacken und Rückgrat bilden eine Linie. Die Achtsamkeit erfasst ein schmerzendes Knie, eine Störung ergibt sich nicht daraus. Ich sauge die Ruhe mit dem Atem von oben herein. Der feste Boden befindet sich in mir. So ein Gefühl von Frieden macht sich breit.

# Der Welt abhanden gekommen

Ich werde zu Kathrin gehen und sie fragen, was es mit dieser zu knackenden Nuss auf sich hat. Sie hat sie mir mit dem Schwung ihrer Haare zugeworfen, vor Tagen an der Kleinmarkthalle. Dazu kommt, dass ich ganz meditativ eine simple Hühnerbrühe bereiten möchte. Bestandteile gibt es ebenfalls in der Kleinmarkthalle.

Kochen habe ich mir erst spät im Leben beigebracht, dabei sollte es doch zum Alltäglichen gehören, also eigentlich. In meinen Wohngemeinschaften haben wir nur selten gekocht. Das Essen war eher so was wie eine dringliche Notwendigkeit wie Tanken. Der Kühlschrank war ohnehin meistens recht leer. Butter, Marmelade, häufig Milch für den vielen Kaffee, das gab es schon.

An einem Sonntagmorgen saß ich allein in der Küche, trank einen Kaffee und blickte in den Hinterhof, der mit Gestrüpp zugewachsen war. Mein Gefühl war völlig durchweicht, voller Sentimentalität. Das begann schon am Abend zuvor, bei einer dieser ewigen Parties. Es lief ein Song von der Band „America“. Ich hockte in einer Ecke, als mich die Sehnsucht heftig packte, weg von all dem. Ich wollte nur noch allein sein, remember my name, 'Cause there ain't no one for to give you no pain.” Nur weg aus meiner Wohngemeinschaft wollte ich.

Das was sich so WG nannte, war sowieso nur noch eine Sammlung diverser Einzelner. Zum Kaffeetrinken hatte ich das Radio eingeschaltet, so automatisch. Ein Klassiksender war voreingestellt, und es klang sonntäglich, ruhig, wie ein Kirchenchor. Dabei war ein weltliches Lied, „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Bei einer hochjauchzenden Sopranstimme

Das Lächeln der Souveränität -101- wandelte sich mein durchweichtes Sentiment. Schlagartig offenbarte mir der Chor, dass ich, Bernd, der Welt abhanden gekommen war, „Mit der ich sonst viele Zeit verdorben“.

Mir wurde ebenso blitzschnell bewusst, dass ich raus aus der WG musste. Die anderen wussten, dass ich an dem Theaterstück über die Leiden der jungen Bewegten beteiligt war, und es gab so einige Anfeindungen. Und dann diese Fete am Abend zuvor, eine Semesterabschlussfete. Da gab es im Grunde gar nichts zu feiern für mich. Alles war in dem Semester mal wieder daneben gegangen.

Besonders ekelhaft fand ich diese Statistik-Veranstaltungen. Die passierten auch noch bei den Wirtschaftswissenschaftlern. Das war für mich wie Mathematik in der Schule. Das Gesicht von Baldur Gassmann, dem Lehrer, saß strafend vor mir. Ich musste durch, wollte aber eigentlich gar nicht. Ich war beileibe nicht allein. Und es kam der Tag, da krabbelte ich heraus aus meiner Abgeschlossenheit. Ich stand auf und brüllte dem völlig verschreckten Assistenten entgegen, dass er seine faschistoide Law-and-Order-Rechnerei nicht mit freien Menschen treiben könne.

Also im Nachhinein war ich selber sehr erschrocken, aber es musste doch mal raus. Ich erhielt kräftigen Beistand bei vielen Leuten, einer brüllte: „Lernt von den Worten des großen Churchill - traut keiner Statistik, die ihr nicht selber gefälscht habt.“ „Ihr Vergewaltiger der Wahrscheinlichkeit“ und „Stichprobenverzerrer“ wurde in den Raum gerotzt und dann zogen wir aus. Die Veranstaltung war sowieso geplatzt. Wir Sezessionisten gründeten einen Arbeitskreis, „Stochastik – Stochern in der Zahlenscheiße“, trafen uns auch mit abnehmender Teilnehmerzahl dreimal, dann war die Luft raus. Also, wir wussten zumindest schon, wo wir dagegen waren.

Den Schein hätte ich in der Tat gebraucht, aber ich hatte ihn mir zunächst versaut. Ich schaffte dafür an einem Referat über „Melancholie und Gesellschaft“, das war richtig spannend. Ich kam ständig auf neue Gedanken, musste irgendeine Argumentationsschiene genauer begründen, beschaffte mir frische Literatur und las und las und schrieb und entdeckte neue Lücken, die zu füllen waren. Das Semester ging vorüber und ich war längst nicht fertig. Ich saß auf dem ungestümen Pferd ohne Namen der Band America, und fühlte mich schließlich wie abgeworfen in der Wüste.

Das Lächeln der Souveränität -102- Also gut, ich habe nicht durchgängig an diesem Melancholie – Referat gearbeitet. Ich war ja auch noch politisch aktiv. Wir hatten unsere Politgruppe, wobei, eigentlich waren wir auch gegen diesen Politscheiß, das stellte sich uns doch sowieso als ein reines Gelaber dar. Spontan, initiativ wollten wir sein, nicht mehr aus dem tief verkorksten Material der Vergangenheit schöpfen.

Wir gaben uns den bezeichnenden Namen „Frankfurter Unni – Y(Un)nütziative“, „Funny“ genannt, und machten Spaß. Mittels einer Zeitung geschah das im Wesentlichen, worin wir uns über Laberhas, Mabuse, Abnormo und Worteimer mokierten. Auch der mürrische Jassmann wurde darin als Gasmann gewürdigt. Und aus dem geschwätzigen Pfaff machten wir den Dompfaff.

Das war ein gar zu lustiges Unterfangen, denn irgendwann mal da rückte eine versammelte Gruppe von Politgurus zu einer unserer Redaktionssitzungen an. Wir hatten nämlich in einer Ausgabe von dem unverständlichen, aber glitzernden Glasperlenspiel der magischen neuen Linken mit den Scherben vergangener Ideologien geschrieben. Und da schrie selbst der Dompfaff hysterisiert, das wäre doch ein scheißreaktionärer Spruch, der wäre doch von so einem faschistoiden Soziologen aus Köln. Ich wusste nicht, woher er stammte und begriff auch den Aufstand nicht. Die Glasperlen waren doch schön schillernd bunt.

Ein Mitglied der Politkommission war der Alkman. Der hieß so, weil er so viel soff. Gut, es wurde generell viel gesoffen in unseren alternativen Kreisen, aber beim Alkman war es schon was Besonderes. Manchmal benannten wir ihn mit einem Doppelnamen: Alkman-Seltsam. Er hatte bisweilen nämlich bizarre Verhaltensdefekte.

Bei unseren revolutionären Großversammlungen im großen Hörsaal konnte er sich ganz plötzlich erheben und in den Raum brüllen: „Also jetzt hört mir aber mal zu, ja. Das ist alles ja.....“ Er endete abrupt und drehte den Kopf hin und her, guckte hierhin und dorthin und verfiel in tiefes Schweigen. Ob er uns seine umwälzenden Einsichten verheimlichen wollte? Ungewohnte Stille herrschte im Saal. Alkman setzte sich mit gesenktem Kopf wieder auf seinen Klappstuhl.

Das Lächeln der Souveränität -103- Eine gewisse Autorität war ihm nicht abzusprechen, hatte er sich doch einige Jahre als Kofferträger für einen früheren Theorieguru verdient gemacht. Der wiederum galt damals wohl als ein Intimfeind von Hans von Lohmar, so wurde zumindest gemunkelt. Er war Vertreter eines Internationalismus, wollte die Aufständischen der Welt, Studenten, Jugendliche und so, in einer Internationalen zusammenbringen.

Der flog auch nach Japan, um Kontakt mit der dortigen revolutionären Studentengruppe „Zengakuren“ aufzunehmen und kehrte nie mehr zurück. Einige Vermutungen gingen in die Richtung, er wäre in einem japanischen Kloster gelandet. Zen, oder nicht Zen? Dem Vernehmen nach hätte er eigentlich nur noch Frieden mit seinem zerrissenen und heftig bewegten Inneren machen wollen.

Sein verbliebener Repräsentant Alkman redete sich vor uns in Schwung. Er betitelte diesen Kölner Soziologiescheich, oder so, als einen Positivisten. Ich hatte jetzt lange genug studiert, um zu wissen, dass dahinter ein vernichtendes Urteil stand. Der Mensch war gewissermaßen für sein Leben disqualifiziert. Einer von uns antwortete: „Oh wei, das haben wir ja gar nicht gewusst, Dr. Seltsam.“ In der vorletzten Ausgabe unserer Zeitschrift hatten wir ihm den Doktortitel verliehen, denn wir befanden, dass Alkman durch seine Nähe zu dem verschwundenen Internationalisten als promoviert zu gelten habe.

Der Promovierte wurde durch die Bemerkung wütend. Er schrie uns an, wurde gar puterrot im Gesicht. „Das ist das allerletzte, das ist doch bloß so ein dämlicher ödipaler Scheinaufstand, den Ihr hier fabriziert, ein erbärmlich skandalöses Abenteurertum. Ihr windigen Jugendlichen wisst doch gar nicht wogegen ihr seid. Eine vom Vater verlassene Truppe seid ihr, genau wie schon Professor Mitscherlich formulierte, eine vaterlose Truppe.“

Markus Schliemann, der zu unserem Redaktionskollektiv gehörte, ging den Alk ruhig an, er lächelte maliziös. „Der Herr Professor hat rausgefunden, dass wir ab und zu mal Dresche bräuchten? Zumindest mal einen hinter die Ohren?“ Dr. Seltsam schnaufte, die Nasenflügel vibrierten, die Hände zitterten. Er unternahm aber trotzdem einen erneuten Anlauf.

„Provokation, wie Ihr sie betreibt, das war zuallererst unsere Erfindung, von uns den alten 68ern stammt sie. Wir haben sie als eine politische Waffe zuerst vorbereitet, eingepflanzt und großgezogen, und Ihr könnt sie nur noch verstümmeln, verzerren.“ Er trommelte mit den

Das Lächeln der Souveränität -104- Fingern auf den Tisch. „Dagegen seid Ihr ja erbärmliche Früchtchen, in Eurem Tun da ist überhaupt kein ursprünglicher Kern oder Gedanken mehr drin.“

„Ihr von der alten Schule habt doch alle einen höllischen Ehrgeiz. Aber hört mal, es darf auch nicht gar zu langweilig werden. Und Du, Dr. Seltsam, Du bist doch zudem so ein richtig guter Mensch. Und Du bist auch noch völlig kinderlos. Wenn wir Dich bitten, uns ein Vater zu sein, dann wären wir glücklich und Du könntest Deine Lehren von dem Professor sogar praktisch umsetzen. Das Leben bekäme endlich einen Sinn, für uns alle.“

Die langen hellblonden Haare von Markus hingen dünn und schlaff an seinem schmalen Gesicht. Er blickte den Alkman freundlich fragend an. Der wiederum schnaubte heftiger, wie ein alter Dampfkessel kurz vor der Explosion. Er bibberte am ganzen Körper.

Mir tat er eher leid. Die Situation war mir unangenehm, und ich geriet selber ins Schwitzen. Der Dompfaff schien sich zu amüsieren, bei ihm kam der Lümmel von der ersten Bank wieder raus. Also gut, ich muss gestehen, ich war nicht so ganz entschieden. Diesen arroganten Altachundsechzigern gehörte schon mal eins reingewürgt. Und dann setzte Markus noch einen nach. „Und wenn Du Papa bist, dann gibst Du uns hin und wieder mal ein Bierchen aus. Wir zischen gemeinsam einen, und dann sind wir richtig unödipal friedlich, haben null Bock mehr auf den adoleszent-provokativen Aufstand.“

Jetzt wurde der Blick von Dr. Seltsam stier, ich konnte die Dampfwolken aus den Nasenlöchern zischen sehen. Blitzschnell erhob er sich, ging zur Tür und stammelte „das, das, das ist…ja…“ Jetzt sprang auch der Dompfaff auf und versuchte ihn zu beruhigen. Zusammen mit dem erbärmlich stöhnenden Alk verließen die Gurus den Raum.

Auf dem blassweißen Gesicht von Markus zeichnete sich ein Lächeln ab, das, ich weiß nicht, es schien mir schon so etwas besessen, schon teuflisch vielleicht. Er erinnerte mich an Klaus Kinski. Sein Gequatsche war sicherlich pubertär, wurde jedoch durch seine tief ergriffen wirkende Aussprache, seinem Blick und seiner Gestik überspielt.

Aber ich konnte doch nichts gegen diesen seltsamen Auftritt unternehmen. Und schließlich war mir das Erscheinen des antiautoritären Zentralkomitees zu unserer Sitzung absolut unbegreiflich, ein derartig hochgepuschter Aufwand zu einem dürftigen Anlass. Vielleicht

Das Lächeln der Souveränität -105- mochten es die Politgurus ganz einfach nicht leiden, daran erinnert zu werden, dass sie auf einem Scherbenhaufen vergangener Ideologien saßen. Das tat vermutlich sehr weh. Und entsprechend hoch war der Energieaufwand für die Verdrängungsleistung.

Wir bewerteten das schlicht als eine Form der Energieverschwendung. In unserem Funny- Blatt veröffentlichten wir einen Nachruf: „Revolutionäre Kontrollkommission versagt beim Redaktionstribunal – Vaterschaft verweigert“. Außer vereinzeltem Lachen gab es keine weitere Resonanz.

Unser Redaktionsteam war nicht ohne. Zuweilen taten sich Untiefen zwischen den Beteiligten auf. Ich selber fühlte mich dort manchmal wie in der Wüste. Es gab elende Auseinandersetzungen über einen Artikel von mir. Mein Thema war der Weg der Rockmusik von der Band „The Who“, „My Generation“ hin zur Punkmusik. Einigen war der Artikel zu unspaßig, meinten der wäre zu inhaltlich, gar zu theoretisch. Bei dem entscheidenden Treffen fehlten einige. Meine Argumentation, dass es dabei um böse Ironie ging, kam an, und mein Artikel wurde gedruckt.

Oh Bernd, schon einmal aufrecht gehen tut gut. Auch wenn es Ärger bringt. Damals gab es den auf jeden Fall in unserer Redaktion später.

# Who’ll Stopp the rain?

An dieser Stelle, beim morgendlichen Kaffee mit Blick auf das heillose Gestrüpp, kulminierte mein gesammelter Frust. Heftige Sehnsucht packte mich, weg von all dem. Ich wollte nur noch allein sein, „remember my name, 'Cause there ain't no one for to give you no pain.” Weg aus der Wohngemeinschaft in einem besetzten Haus im Westend wollte ich. Da es sich sowieso nur um eine Sammlung nebeneinander her lebender Einzelner handelte, wollte ich jetzt gleich alleine wohnen.

Und schließlich war auch noch meine geliebte Freundin Charlee mit einem Freund auf die griechischen Inseln durchgebrannt. Ach, mich kotzte das alles so an. Verlassen und frei wollte ich sein, wollte weg von der Uni, wollte weg von allen und auch von allem. Es ergriff mich wie ein Erdstoß, ein vulkanisch stoßendes Verlangen.

Das Lächeln der Souveränität -106-

Der verdichtete Frust trieb die Erkenntnis von all der von mir verdorbenen Zeit voran. Einsam war ich auf einmal, dem Weltgewimmel futsch gegangen. Die Einsicht wiederum trieb die Entscheidung voran, mich wie ein Eremit zurückzuziehen. Eine Art von Freude ergriff mich bei der Idee, und ich fasste spontan den Beschluss, jetzt in einem Café richtig frühstücken zu gehen.

Beim Hinausgehen lief mir Christian über den Weg, ein Kommunarde von uns. Er war freundlich, war gewissermaßen das letzte integrative Element in dieser WG mit gewaltigen Fliehkräften. Er sorgte darin für eine Art von Grundreinigung, so dass der Laden nicht zu einer vollständigen Müllkippe ausuferte. Das betraf ebenso das Soziale. Ich war darin allein. Hingegen die Kommunarden, sie aber waren sie alle, die Gemeinschaft, einschließlich Christian.

Auch die WG-eigene, pflegeleichte Yuccapalme überlebte nur dank seiner Pflege. Vielen waren seine Qualitäten wohl nicht so bewusst. Sie gehörten eben zu dem Allsozialen einfach dazu. Mir war das klar, stand ich doch als ein Einzelner sowieso davor.

Christian lächelte mich an, und ich lächelte flüchtig zurück. Wir fanden keinerlei Ebenen der Kommunikation. Jeder lebte für sich selbst bei gleichzeitig hoch gehaltenem Anspruch auf die Gemeinschaft. Aus ihm war auch ein Gruppenfreak geworden. Von seiner Therapiegruppe fühlte er sich richtig aufgesogen. Seine Seele vermochte sich in der Gemeinschaft frei zu entfalten.

Er hat sich vor einigen Jahren vom Goetheturm gestürzt. Sein Lächeln blieb immer leicht verschämt.

Ich muss auf meinem Weg zur Kleinmarkthalle die Bockenheimer Landstraße entlang. Sie war früher unsere Aufmarschstrecke. Hier demonstrierten wir gegen den Vietnamkrieg, aber nicht mehr zum Sieg der Vietcong, demonstrierten gegen die Militärjuntas in Chile und in Griechenland, gegen das Anti-Terror-Gesetz in der Bundesrepublik und auch gegen die Zerstörung des Frankfurter Westend und gegen die Räumung besetzter Häuser.

Das Lächeln der Souveränität -107- Die Märsche begannen häufig an der Uni und gingen in Richtung Innenstadt. Auf der Strecke komme ich an einem der ehemals besetzten Häuser vorbei und verfalle schon wieder ins Grübeln. Dieses Haus ist richtig aufgemotzt, die klassizistische Fassade bestens restauriert. Teure Büroräume befinden sich mittlerweile darin, und darin ist unter anderem die Frankfurter Niederlassung eines Berliner Beratungsinstituts.

„Trends in Lifestyles“, so lautet der Name dieses Instituts, dessen Chef Markus Schliemann ist. Neulich habe ich ihn erst im Fernsehen gesehen. Er hat seine dünnen, strohigen Haare abschneiden und sich eine Glatze rasieren lassen. Er sieht jetzt echt markig aus. Fast wie Yul Brunner, doch beileibe nicht so schön. So meisterhaft kann kein plastischer Chirurg sein. Probiert hat der es vermutlich.

Er spielt nun mit den glitzernden Perlen der Lebensstiltypen. Und gebannt schauen all die Werbefritzen zu ihm auf wie zu einem Guru. All die Zielgruppendetektoren schlagen heftig aus und bewundern die schillernden Ideen, die seinem Kopf entwachsen. Er hat sich mit der Verbalpolitur des neumodischen, unumgänglichen Liberalismus meisterhaft überzogen.

Das haben viele andere schnell begriffen. Ich nicht. Es sind meine eigenen weidwunden Ressentiments, die mir die Kraft verleihen, kräftig in die Pedalen zu treten. Ich konzentriere mich auf das ständige Auf und ab. Das Auf und Ab konzentriert mich, ich will hin zu der simplen Hühnerbrühe.

Gleichwohl drängen die Märsche sich wieder nach vorne, die gegen die Startbahn West. Die zeigten schon so etwas wie Endzeitstimmung der diffus bewegten Szene, denke ich mir so. An eine Demonstration anfangs der Achtziger kann ich mich bestens erinnern. Sie war nicht angemeldet, aber es war stadtbekannt, dass wir, all die Unsrigen, sie durchführen wollten.

Ein mächtiger Polizeikonvoi stand an der Bockenheimer Warte zu unserer Begleitung parat, all die Mannschaftswagen und Wasserwerfer. Unendliche Reihen von grünberockten, schlagstockbewaffneten und schutzschildbewehrten Polizisten trabten in ihren Schnürstiefeln im Gleichschritt und festem Schrittrhytmus neben uns her, links und rechts. Aus ihren Lautsprechern tönte es unentwegt, dass diese Demonstration nicht genehmigt sei und dass wir uns dringend auflösen sollten. Mit aufgekratztem Lalü und zuckendem Blaulicht donnerten panzerartige Maschinen neben uns her.

Das Lächeln der Souveränität -108-

Es war wie im Rausch, verdichtete Realität. All die Unsrigen, wir waren vereint. Der zentrale, gleichartig schlagende Takt der Zeit schweißte uns in einem Hoch zusammen.

Wir kamen bis zum Opernplatz, wollten aber weiter bis zur Hauptwache und dort eine Verkehrsblockade errichten. Von unserem Vorhaben mussten die Bullen wohl irgendwie Wind bekommen haben. Sie riegelten unseren weiteren Weg durch die Fressgasse einfach ab. Wir dagegen hatten schon längst die flexible Demonstrationstaktik intus, gesteigerte Mobilität nannten wir das.

In kleinen Grüppchen hintergingen wir den Polizeiriegel links und rechts und machten Terz auf der Fressgass, hinter dem Riegel und aus der Deckung der verwirrt herumlaufenden Zivilbevölkerung heraus. Wir empfanden uns als autochthon-ortsfest gegenüber den aus Gesamthessen und Umgebung angereisten Polizisten. Was hatten die mit unserer Region zu schaffen? Wir lebten hier! Ich hatte aus der Hermannsschlacht Strategisches gelernt.

Wir standen gegen den hiesigen, verkommen handelnden „Souverän“, und das gab uns tiefes, tiefes Recht. In diesen Momenten standen wir außer uns. Da draußen war ich nicht mehr allein. Phantastische Ausnahmezustände ließen sich derart erreichen, ausreichend für Jahrzehnte währende eindringliche, wilde Phantasien.

Wir erprobten es an einem Feinkostladen in der Fressgass. Immerhin hatten wir ein höherwertiges Ziel im Auge und dafür musste die Schaufensterscheibe des Geschäfts eben dran glauben. Ein Wackerstein flog hindurch, und der Laden stand uns offen. Ich hatte mir soeben eine Flasche von einem herausragenden Haselnussgeist gegriffen und wollte sie in Siegespose gen Himmel erheben, als mich eine tiefe Erschütterung traf. Eine verführerisch- gebieterische Stimme fragte mich, was ich hier denn bloß mache. Ich ließ den Arm samt Flasche sinken.

Meine Mitpartisanen hatten den Laden klugerweise und der Taktik gemäß flott wieder verlassen, doch ich stand hier immer noch mit beiden Füßen fest in feinsten Huhn- und Krabben- und Carpacciosalaten. Es war ruhig draußen, volltönend hingegen die Stimme aus dem Körper von unten. Sie war der Auffassung, dass ich hier nur noch meine konzentrierte persönliche Verbitterung ausagierte. Ich konnte dem nichts Adäquates entgegnen, stellte die

Das Lächeln der Souveränität -109- Flasche mit dem hochwertigen Schnaps wieder ins Regal und stieg durch das Schaufenster nach draußen.

Dieser Einsturz war natürlich nur meine lächerlich persönliche Angelegenheit, denn aus Sicht einer Kampfstrategie war die Aktion erfolgreich gelaufen. Gar mein Ich war, wenn auch kurzfristig, mit den anderen gemein geworden.

Die Polizei konnte niemanden von uns festnehmen. Sie verprügelte nur einige unbeteiligte Passanten. Sie hätte die Unsrigen schon vollständig einkesseln müssen, um das zu verhindern. Indes hätten sie viel, viel mehr Einsatzkräfte haben müssen, und die standen nicht zur Verfügung. Immerhin fanden die Demonstrationen überall im Rhein-Main-Gebiet statt, von Offenbach bis Wiesbaden. Darauf konnten wir unser Vorgehen aufbauen. Dazu kam anderntags die empörte Öffentlichkeit. Die verprügelten Passanten konnten ihren Ärger in den Medien darstellen, ebenso wie die wütenden Geschäftsinhaber von der Fressgass.

Dem ungeachtet bewirkte die Scham über das Geschehene bei mir mürbe Schultern, sie hingen tief herab. Nicht einmal die wild herumflitzenden Polizisten beachteten mich noch. Und dabei hatte ich noch in Hermanns Theater, im Rahmen der Hermannsschlacht all das längst begriffen, offenkundig jedoch ganz abgeschieden im Kopf weit droben.

Zu meinem jetzigen Trost erinnere ich mich, irgendwo gelesen zu haben, dass ein großer Gott die Vernunft des Menschen in einen engen Winkel des Kopfes verwiesen habe. Ausgeliefert sei sie dort draußen außerdem dem Zorn, der die Festung der Brust samt Herz besetzt halte und darüber hinaus der sinnlichen Begierde, die in den unteren Bezirken des Körpers ihre Herrschaft behaupte. Meine Vernunft hatte offenkundig freiwillig gegen diese Gegner abgedankt und deprimiert war ich den Schaufensterauslagen entstiegen.

Oh Bernd, oh Bernd, das war wirklich der Moment zum Losgehen. Diese Art von Erweckungserlebnissen kenne ich mittlerweile sehr gut. Die Erfahrung in dem Feinkostladen war eine davon. Es ist so unerwartet, so als träte mit einem Mal eine unsichtbare Person an meine Seite. Sie fordert mich inständig auf, endlich loszugehen. All die alten Fesseln hinter mir zu lassen. Es ist keine Stelle bei Dir, die sie nicht sieht: Du mußt dein Leben ändern!

Das Lächeln der Souveränität -110- Zu diesen Erlebnissen gehörte ebenso die von dem Sonntagmorgen in der WG-Küche einige Jahre zuvor. Gestern gab es zwei eher verunglückte Ansätze in die Richtung. Das Boot über den Höllenfluss hätte mich fast zum anderen Ufer, zu neuen Einsichten gebracht, wäre da nicht das Bimmeln des Handys gewesen.

Irgendein Hindernis stellte sich mir immer in den Weg. Und ebenso als ich unter dem Strick des Hermann saß, da war ich blöderweise erschreckt. Vielleicht hätte ich dort die Nuss geknackt. Vielleicht gibt mir Kathrin gleich den entscheidenden Tipp.

Es gab weitere derartiger Erlebnisse, immer verbunden mit einer heftigen Loslösung von vorherigen und eingefahrenen Denkstrukturen. Jedoch was die zeitliche Tiefenwirkung der schlagartig über mich gekommenen Einsichten angeht, da bin ich mir völlig unsicher. Zumindest hätte ich nach meiner sonntäglichen Erleuchtung mit Kaffee vor Gestrüpp alle weiteren Bemühungen in Richtung eines Politaktivismus unterlassen sollen. Die Bemühungen, mich als ein Streetfighting Man zu stilisieren, die waren überflüssig bis hochgradig regressiv.

Und es geschah, trotzdem ich mich zusätzlich in meiner Eremitage intensiv mit Dostojewski beschäftigt hatte. Ich weiß es nicht. Vielleicht waren es meine Abneigungen gegen diese christlich-religiösen Erleuchtungen des russischen Schriftstellers, die bewirkten, daß seine tiefgreifenden Erkenntnisse menschlicher Handlungsweisen sich bei mir nicht so festsetzen wollten. Vielleicht waren es aber auch die im Lob der Torheit dargestellten Beschränkungen der menschlichen Vernunft. Ich irrte weiter rum.

Mittlerweile bin ich sogar an meiner Überzeugung irregeworden, Hermann hätte mich damals in der Korbacher Eisdiele mit seiner Souveränität gerettet. Das ist vielleicht auch nur aus einem rückwärts gewandten heftigen Wunschdenken entstanden. Das ist unter Umständen reine Täuschung. Möglicherweise hat mich Hermann mit seinem Talent geblendet. Dem ungeachtet ist sie verlockend, diese Souveränität. Wahrscheinlich will ich da ran.

„Long as I remember the rain been comin down.“ Vor der Kleinmarkthalle steht ein Straßenmusiker mit Gitarre und singt: „Clouds of mystry pourin confusion on the ground.” Ich gehe hinein und sehe durch das Schaufenster des Schmuckgeschäfts wie der Creative director, genannt CD Müller, mein vorheriger Vorgesetzter, Kathrin umarmt und abknutscht.

Das Lächeln der Souveränität -111- Er dreht sich nun um und verlässt den Laden. Verschreckt springe ich hinter die Eingangstür. Er sieht mich nicht. Das ist echt ein Ding. Mir läuft es kalt den Rücken runter.

Ganz abrupt wird mir so einiges klar. Angefangen von meiner Verwunderung, warum Kathrin bei unserem letzten Treffen schon von meiner Arbeitslosigkeit wusste. So einige Fragen klären sich just im Augenblick, auch nie gestellte. Ich muss erst einmal weg von der Halle und die wild schwirrenden Gedanken sortieren. Der Musiker setzt zum Ende an: „And I wonder, still I wonder“. Ich lasse mich hinter Otto Hahn, dem alten Kernknacker nieder, also hinter seinem Denkmal neben der Halle.

Ich habe die beiden einmal tanzen gesehen. Es lief ein Song von Bryan Ferry, „Easy living“, oder so, zumindest ein Slowfox. Es war ein faszinierender Anblick, wie die beiden so eben über der Tanzfläche schwebten. Das war ganz nach Kathrins Geschmack, sie war versessen auf Bryan Ferry und rechnete sich selber diesem Lebensstil der neuen Bohème zu

Sie war eines Tages beseelt aus Paris zurückgekehrt, hörte Charles Aznavour und erzählte ständig von ihrer Buchentdeckung, Beschreibungen des Pariser Künstlerproletariats in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie kramte dann irgendwo einen deutschen Autor hervor, der das das wilde Leben der Bohème beschrieben hatte. Dazu hörte sie Queen und tanzte, auch allein, eine Rumba bis Cha Cha Cha darauf. Sie war von ihrem neuen Thema besessen.

Fanatisiert war sie nun von den Teddyboys, Lord Byron und Tom Wolfe, so dass diese Namen selbst mir geläufig wurden. Ich kam gleichsam nicht umhin zu registrieren, dass es neben meinem eher spontaneistisch punkig geratenen Lebensstil auch noch andere Stile gab.

Aus der Entdeckung entstand schließlich meine Diplomarbeit. Kathrin verfolgte meine Recherche- und Schreibarbeiten, und sie wird diese Informationen auch an CD Müller weitergegeben haben. Sie kannte ihn schon länger, der hatte über seine Mutter auch irgendwelche verwandtschaftlichen Bezüge ins Waldecksche.

Es beginnt in mir zu kochen, tiefer Ärger lässt den Blutdruck emporschnellen. Wenn der Kopf hoch oben offen gewesen wäre, wäre daraus eine Geysirfontäne in den Himmel gespritzt. Wie zum Hohn hat der Barde nun den Komponisten gewechselt, und er singt: “Oh, where have you been, my blue-eyed son?“

Das Lächeln der Souveränität -112-

Vor schrill bohrendem Scham könnte ich die kritische Masse annehmen und in einer Kernschmelze zerrinnen. Wie blauäugig bin ich gewesen? Und ich dachte bislang, man hätte mich aus Menschenfreundlichkeit in meiner Arbeitsnische der Werbeagentur „THW“ belassen. CD Müller war immer freundlich zu mir gewesen, schon als ich meine Bewerbungsunterlagen vorgelegt habe. Nicht einmal an meiner ewig langen Studiendauer hat er Anstoß genommen.

Momentan wird mir indessen offenbar, dass das lediglich eine Nische war, die ich in meinem Kopf geschaffen hatte. Richtig stolz war ich, als ich anfangs noch zu den Meetings der Agentur geladen wurde, wie ich so beiläufig um Kommentare zu jugendlichen Zielgruppen gebeten wurde. Die haben mich richtig abgezapft! Alles, was ich über das Image oder die Erscheinungsbilder, über Körpersprache und den Jargon der Lebensstile wusste, das floss in Zielgruppenbestimmungen der Agentur ein. Ich Einfaltspinsel habe das nicht bemerkt, habe mit meinen bunten Glasperlen gespielt und war bescheiden dankbar, ein Arbeitsplätzchen mit regelmäßigem Gehalt bekommen zu haben.

Glühend vor Wut könnte ich soeben den Schmuckladen stürmen, Kathrin anbrüllen, sie würgen, treten, prügeln oder sonst was. Doch es gelingt mir, den hemmungslosen Tyrannen aus der Brust, den Zorn, in Schach zu halten. „Oh, what'll you do now, my blue-eyed son?“ Ich will von Kathrin eine Auskunft über die knackbare Nuss haben. Und die bekomme ich wohl kaum, wenn ich sie anbrülle, also tief durchatmen.

Ich schmeiße dem Barden einen Euro ins Körbchen und gehe zu Kathrin und lächele sie an. Auf meine Frage hin schaut sie irritiert. Dann lacht sie. „Genau dafür hat mir Hermann eine Anweisung gegeben. Er sagte, wenn er nach der Nuss fragt, dann sage ihm, dass er mit der Frage eine kräftige Kopfnuss verdient hätte, und das wäre gewiss nicht als eine pädagogische Maßnahme zu verstehen.“ Mein Lächeln gefriert.

Ihr durchscheinender chiffonartiger Rock schwingt, als sie sich dreht. Sie stellt ein Paket hinter sich, und wir palavern noch kurz über die Beerdigung. Sie fährt mit CD Müller nach Korbach, wie sie mir sagt, in seinem BMW ohne Dach.

Das Lächeln der Souveränität -113- „Ach mit dem Müller, den habe ich doch vorhin aus Deinem Laden kommen sehen. Habt Ihr eigentlich so irgendwie was miteinander?“ Treuselig, eher unbewusst, blicke ich sie an.

Kopf, Oberkörper mit dem hellrosa, tiefausgeschnittenem Seidenblüschen fahren auf mich zu, weit geöffnete Augen blicken mich scharf an: „Oh ja, Du Holzkopf Du, Du willst mich wohl verarschen. Oder hast Du wirklich nichts geschnallt? Zuzutrauen wäre es Dir ja. Denn Du registrierst häufig nicht das Leben um Dich rum. Bist vielfach reichlich weggedreht. Ich hab’ was mit ihm, oh ja. Und er kann tanzen. Und dazu kommt weiter, er hilft mir im Leben. Er hat mir geholfen, diesen Laden hier zu eröffnen, hat mir Geld gegeben.“

Dagegen muss ich auftrumpfen: „Da habe ich aber was ganz anderes gehört. Unser freundlicher Hermann hat Dir dafür doch das Geld gegeben. Das sind zumindest meine Informationen.“

Sie steigert die Schärfe ihres Blicks. Diffus schuldbewusste Gefühle entzünden sich in meiner Tiefe unten. Sie flackern wild. „Das hat Dir doch sicherlich diese Schnalle von Sigrid eingeflüstert.“

Ich bin gehörig mit der Bekämpfung der Flammen beschäftigt. Es dauert, bis ich die Antwort ausgabefähig bereit habe. „Nein, nein, nein, Hardy hat mir das gesagt.“ Ein Zischlaut zischelt durch ihre Lippen, und dann kommt es ironisch ruhig: „Ach so der Hardy.“ Und jetzt donnernd: „Der ist doch sowieso nur Wachs in ihren gierig schwieligen Fingern.“

Reichlich beschränkt stehe ich vor der Verkaufstheke. Natürlich weiß ich das, doch möglicherweise nicht alles.

„Du lebst manchmal neben dem Leben, folgst eher Deinen fixen Ideen statt der Realität. Auch dass Hermanns Mutter schon seit mehr als zehn Jahren tot ist, nicht einmal das willst Du begreifen.“

Die Scham nimmt mich völlig in Besitz. Doch dann ein klarer Gedanke zu dieser Scham. Ist sie es doch, die den Geist benebelt. Das habe ich zumindest mal gelesen, genau, in dem Buch über die Torheiten der Menschen.

Das Lächeln der Souveränität -114- Ein Bein bekomme ich immerhin schon mal in die Wirklichkeit. „Ach ich weiß es nicht. Eigentlich ist es doch scheißegal.“ Aus dem auf Musicbox gestyltem Radiogerät in der Ecke singt Elvis Presley. „You give me fever.“ „Oh yeah fever. Du verstehst es, mich so richtig heiß zu machen. Ich glaube nur Dir.“

Jetzt ist es an ihr, mich irritiert anzuschauen. „Oh yeah fever. Ich glaube, die Kopfnuss hat erste Wirkungen.“ Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und gehe endlich die Bestandteile für meine simple Hühnerbrühe einkaufen.

# Ein Höhlenleben – Psycho Killer ran ran ran

Meine Höhle im Nordend lag im fünften Stock, ein einziges Zimmer ohne Bad, Klo über dem Flur. Ein kleines Waschbecken befand sich darin. Ich hatte mir selber einen großen Bettkasten besorgt und kräftige Matratzen darauf gelegt. Der Kasten diente auch als Kleiderschrank, sowie als Ablage für die Wichsvorlagen. In einer Art von Truhe befanden sich mein schmales Geschirr und weitere Gerätschaften. Das Ganze war mithin sehr minimalistisch gestaltet. Aber was will man schon von einer Eremitenhöhle anderes erwarten.

Nachts ging ich im Hauptbahnhof bei der Bundespost Pakete sortieren, und bei Tagesanbruch kehrte ich in meine Höhle zurück. Zum Essen gab es manchmal eine heiße Fleischwurst in der Kleinmarkthalle, die lag genau auf der Strecke. Manchmal kochte ich aber auch selber auf einer elektrischen Ofenplatte. Dann gab es meistens Eintopf aus der Dose.

Ganz störungsfrei von allen überflüssigen Einflüssen der Außenwelt wollte ich leben, zurückgezogen. Mit diesem Lebensstil der Kargheit wollte ich nun wirklich nicht Buße betreiben. Dieses ungerechtfertigte Zukreuzekriechen in schweren Ketten, wie es Dostojewski betrieben hatte, seine christlich getriebenen Reueschübe, um sich dann von dem despotischen Zar das Leben schenken zu lassen, damit hatte ich nichts zu schaffen.

Und darin lag denn auch nicht der Grund dafür, dass ich zunächst sein Buch „Die Dämonen“ mit in meine Höhle schleppte. Es war reine Neugier. Ich hatte so viel von diesem Werk gehört. Nicht allzu lange vor meinem Rückzug lief eine Fernsehserie, eine Verfilmung des Werks. Ich hatte sie nicht gesehen, aber das Thema kreiste in der Politszene. Es musste einen

Das Lächeln der Souveränität -115- engen Bezug dazu haben. Bei der Ansage des Films musste die Fernsehsprecherin wohl extra darauf aufmerksam machen, dass diese Sendung nicht in Verbindung mit den Tumulten um die RAF stehen würde.

Die Stammkneipe der Dorfszene hieß „Pasta-Paolo“. Sie versammelte sich hier tagein tagaus in den späteren Abendstunden. Dort wurde der Film abgehandelt. Manche regten sich darüber auf, sagten, dass die politische Situation in dem russischen Gouvernement gar nichts mit der bundesdeutschen Wirklichkeit zu tun habe. Weder werde man hier von einem degenerierten, psychotischen Gouverneur regiert, noch von seiner anmaßenden Ehefrau, die sich gar als eine Gesalbte fühle. Die Alte ließe überhaupt ein schräges Gesülze vom Stapel, mit dem sie angeblich die Jugend wertschätzen wolle. „Uns wird niemand vor einem vermeintlichen Abgrund schützen. Keiner von den Herrschenden kommt uns hier freundlich entgegen. Dieser Buch- und jetzt Filmklopps ist gesellschaftlich nicht relevant.“

Klaus vom „Komitee befreiter Häuser“ unterbrach seine Ausführungen an der Stelle, es ging nämlich eine Geraune durch die Reihen. Jassmann mit seiner revolutionären Zoffgruppe war in der Dorfkneipe eingetroffen. Er kam immer etwas später als die anderen, um dann mit seiner „Zentralistischen Organisation für Freiheit“ durch die Reihen der gefüllten Kneipentische zu schreiten.

Er schenkte eine Art von Lächeln an diesen und vielleicht auch an jenen Tisch, senkte gewissermaßen huldvoll seinen Kopf dann und wann und übersah nebenher andere Anwesende. Zumeist blieb bei den Aktionen sein linker Mundwinkel nach oben und das linke Auge zusammengezogen. Sein Lächeln wirkte verkniffen, das Mürrische wollte, oder sollte nicht weichen. Das Lächeln wirkte somit irgendwie tief spöttisch. Doch kann der Eindruck meinem dritten Halben zu verdanken sein.

Schließlich ließ er sich breitbeinig an seinem Stammsitz nieder. Der wurde immer freigehalten. Sein Gesicht brachte er wieder in die angestammte Ordnung, so finster als möglich. Der Wirt rückte in eigener Person an, voller Freundlichkeit, wie es die Ausländer bei uns so an sich hatten, um ihn zu bedienen. Als konträr zu den Deutschen freundlich nobilitiert vermochte er ganz gestelzt den Jassmann laut fragen: „Aah, signore, como esta?“ Und der bestellte zwei Flaschen Chianti, „per favore“, so penetrant überheblich, für sich und seine Truppe, auch er so freundlich wie die im Ausland, dieser wichtigtuerische Scheißprotzo.

Das Lächeln der Souveränität -116-

Vom Nachbartisch hatten einige Kampfgenossen mitbekommen, dass Jassmann die cosa „Dämonen“ mit dieser angeblich weichen Regierung wohl gelöst habe. Dem Vernehmen nach habe er klargestellt, dass ein Gouvernement so etwas wie ein Bundesland zu sein habe. Und in dem hiesigen Bundesland regiere der dicke Börner. Der sei gelernter Betonfacharbeiter. Wer könne da ein Entgegenkommenkommen erwarten?

Also so wurde es mir zumindest vom Nebentisch kolportiert.

So quasi als Zar regiere übergeordnet im Staate zudem ein früherer hackenschlagender Oberleutnant aus dem Reichsluftfahrtministerium. Sämtliche Analogiebildungsversuche wären damit wertlos, wie er zu kommunizieren pflegte. Und dann, dieser Dostojewski, der sei ja einer der schlimmsten Antisemiten gewesen, generell indiskutabel mithin.

Man konnte auch von weiter her beobachten, wie die Chiantiflaschen leerer wurden. Beim Klogang, da musste ich an der Truppe vorbei. Da bekam ich mit, dass sie den militaristischen Killer von Mogadischu verurteilte. Beim Rückweg wurde er als der Großexekutor von Stammheim decouvriert. Gar wütend und lautstärker wurde er als Despot hingestellt, der wieder die Allmacht des Überwachungsstaates errichten wolle.

Mein Interesse an Dostojewski war trotz allem geweckt. Also Gründe dafür kamen wohl aus meiner frühjugendlichen Vergangenheit, da hatte ich nämlich diesen großen Hollywoodschinken „Die Brüder Karamasow“ gesehen. All meine inneren Bilder von Russland bezog ich seitdem daraus, diese Holzhütten, tanzende Bären und schlittschuhlaufende Menschen mit Pelzkappen vor Waldkulisse und Lagerfeuern. Und dann gab es den Mord am Vater, den der verdächtige Sohn nicht begangen hat. Ich hatte mit Dimitrij Yul Brunner tief gelitten.

Ich grübelte in meiner Eremitage über die Organisationsprinzipien für Sozialisten. Dostojewski lässt eine der zentralen Figuren sagen, dass die Sentimentalität sich als eine treibende Kraft erweise. Das vermochte ich sehr gut nachzuvollziehen. Das Innere von vielen der Unsrigen glühte vor Leidenschaft für das Gute und, zwangsläufig dazugehörig, gegen das Schlechte.

Das Lächeln der Souveränität -117- Die benannte Figur führte eine weitere Kraft an, die bei uns aber eher als Schwundstufe anzutreffen war, das war die der Bürokratie. In der könne man den bewegten Sozialisten zu bekleidende Posten zuweisen, nichts anderes ziehe die Leute mehr an. Diesbezüglich waren wir jedoch zutiefst desillusioniert. Die Zoffgruppe bildete da keine Ausnahme, war sie doch nur nach dem Prinzip der flachen Hierarchie organisiert, und selbst die war absolut freiwillig.

Der Archipel Gulag hatte unter anderem viel verbrannt, also mit Ausnahme der sich Kommunisten nennenden. Nun gut, also den Namen Solschenizyn konnte man auch bei uns nicht nennen, ohne einen Stoß tiefer Empörung zu provozieren. Also nun, um das festzuhalten, der Bürokratismus wurde konsequenterweise selber der Seite des zu hassenden Schlechten zugewiesen. Da musste man dagegen sein.

Die Räuberbande bot sich alternativ als wilde soziale Bindungsform an. Ich lag auf meiner harten Matratze und sinnierte mit Blick durch das verschmutzte Fenster auf die rötliche Strahlenkorona der abgetauchten Sonne.

Aber auch ohne diese formalen Organisationsstrukturen blühte in unseren Reihen die Hierarchie. Die war natürlich wild, dicke Muckis und Charisma bildeten ihre Grundlagen. Und denen ordneten sich die Unsrigen absolut freiwillig unter.

Die waren natürlich auch irgendwie unkontrollierbar. Um dagegen zu stehen, musste man schon persönlichen Mut haben. Aber schließlich, und das sollte man immer im Kopf behalten, waren wir absolut fortschrittlich, und da konnten wir unbedenklich auf eher archaische Formen der Gruppenbildung zugreifen.

Mit dem Gurgeln der Klospülung über dem Flur jagte mich Dostojewski von einem Erkenntnisschauer zum nächsten. Um die Kraft zum revolutionären Handeln, zum Wollen, hervorzulocken, lässt er die benannte Figur ein Rezept verraten. Er brauche Unentschlossenen nur zuzurufen, sie wären nicht freisinnig, das heißt radikal genug, und schon gingen sie durch’s Feuer. Diese Figur ist ein Zyniker, er benennt die Zaudernden als „Schafsköpfe“.

Er sprach wohl auch von den unsrigen Schafsköpfen, die beim letzten Schritt, nämlich zu den Waffen zu greifen, schon zauderten, ihn aber bewunderten.

Das Lächeln der Souveränität -118- Meine Arbeit bei der Deutschen Bundespost fand in den Katakomben des Hauptbahnhofs statt. Es ging darum, ankommende Pakete so zu sortieren, dass sie neu gebündelt wieder an einen weiteren Verteiler geschickt werden konnten. Jim hatte mich auf den Job gebracht. Er war der Sohn eines höheren amerikanischen Militärs in Heidelberg, der gerne Lederhosen mit Hosenträgern trug.

Jim, mit dem ich kurzfristig zusammen gewohnt hatte, war dagegen völlig fertig, fast ständig auf Droge. Hinter den hohen Paketbergen stiegen manchmal die Wolken auf, und süßlicher Haschischduft oder der von Marihuana durchflutete den Keller. Seine Augen glubschten aus ihren Höhlen,und er sprang zwischen den Bergen hervor und sang: „I can’t seem to face up to the facts - I’m tense and nervous and I can’t relax.” Er stürzte durch die Paketschluchten zum Licht und gröhlte: “Psycho Killer - Qu'est-ce que c'est?” Und nachdem er das dreimal vorgeführt hatte, stimmten einige an den Transportbändern ein „Run run run run run run run away.“

Es war eine schaurig schräge Stimmung hier in der halbdunklen Tiefe. Ich fand die Musik spannend und klaute mir bei Montanus zunächst die neuste Langspielplatte der Band. Die Rechtfertigung dafür hatte ich mir bei dem zweiten Karamasow-Sohn, Iwan, geholt, den ich argumentativ überzeugend fand. Der hatte ausgeführt, dass dann, wenn es keinen Gott mehr gäbe, nichts mehr unmoralisch sei, alles wäre erlaubt, sogar Verbrechen. Die dann gar unvermeidlich würden. Also ging ich zu Montanus, machte ein freundliches Gesicht und ging mit der versteckten Platte wieder heraus.

Einen passenden Plattenspieler für meine Anlage hatte ich mir beim Sperrmüll besorgt. Einen noch gut funktionierenden Dual-Spieler hatte ich gefunden, und der passte gut zu meiner Anlage. Zeitweise lief bei mir ständig „What is happening to my skin? Where is that protection that I needed?” Ungeschützt empfand ich mich beim Laufen durch eine als verwildert empfundene Welt und suchte schließlich den Schutz in der Höhle.

In den Schutzraum kam kein störender Besuch. Völlig ungestört vermochte ich durch das verschmutzte Fenster zu sinnieren und die dunkle Wolke zu betrachten.

Doch eines Tages standen meine Eltern vor der Tür. Absolut überrascht war ich. Meine Mutter meinte: „Mein Junge, Du lässt gar nichts mehr von Dir hören.“ Und nach dem

Das Lächeln der Souveränität -119- Betreten meiner Höhle, „wie kannst Du uns das nur antun.“ Ich war komplett geplättet. Der Alte lief im Zimmer auf und ab, sagte, „hier sieht es aus als hätte eine Bombe eingeschlagen.“ Ich antwortete: „Das hat sie.“

„Du bist ja völlig verwahrlost.“ Rein inhaltlich konnte ich dem nur zustimmen. Aber er meinte das natürlich als einen Vorwurf. Ich antwortete, dass dies für mich der Himmel sei. Das sei alles so entspannend für mich, nichts täte sich hier mehr, immer nur die selben, alten Sachen.

Mein Vater begriff das nicht, es war vermutlich wohl auch etwas zu esoterisch für den alten Herrn. Talking Heads kannte er schon gar nicht. Unsere Ebenen der Verständigung hatten sich zu weit voneinander entfernt.

Ich bewegte mich rückwärts. „It’s always been the same, same old story“. An dieser Stelle höre ich immer „How can I try to explain, when I do he turns away again.” Wenn dieses Lied mittlerweile im Radio läuft, stelle ich den Kasten aus. Ich kann diese Cat-Stevens - Jammerschnulze nicht mehr hören. „I know I have to go.“

Also Vater begriff also nicht, was ich meinte und dachte, ich wollte ihn verarschen. Er wurde zunehmend sauer. „Dieser Ölofen hier, mit dem fliegst Du bald in die Luft. So etwas ist doch gar nicht erlaubt.“

„Ich fliege völlig unerlaubt und ganz ohne Flugschein.“ Die Hitze näherte sich dem Siedepunkt.

Sprachlos verschämt rückte die Mutter in eine Ecke. Sie versuchte verschüchtert das drohende Desaster zu verhindern: „Komm doch lieber nach Hause. Wir haben doch genug Platz.“ Wie vom Furor getrieben lief Vater durch das Zimmer.

„Und dieses erbärmliche Waschbecken, da wirst Du doch nie sauber. Du musst doch schon völlig stinken.“

Das Lächeln der Souveränität -120- „Ich rieche mich gerne.“ Er explodierte. „Ein verloddertes Loch ist dies. Da wirst Du rundweg untergehen, abstürzen.“ „Zur Ruhe kann ich mich in diesem Loch erheben. Absolut ungestört komme ich zum Nachdenken.“

„Dann wollen wir Dich dabei nicht länger stören. Komm Mutter, wir gehen.“ Die war gänzlichst aufgelöst, Tränenströme flossen ohne Unterlass über ihr Gesicht. Sie schluchzte, stammelte, konnte keine Worte mehr finden und folgte dem alten Herrn.

Ich sah ihnen beim Treppenabgang hinterher. Ich hätte den Alten abmurksen können. In meinem Kopf herrschte Windstärke zwölf. Aber ich stand dort oben und lächelte überragend wie Yul Brunner in dem Film. Das heillose Elend überfiel mich sogleich im Anschluss. Ich schnappte mir eine Jacke und tappte aus meinem Höhlenloch. Ich besoff mich hemmungslos in einer nahen Weinstube.

Über diese kurze familiäre Episode spreche ich bis heute nicht mit meinen Eltern. Rund drei Jahre war danach jeglicher Kontakt unterbrochen. Die Episode bleibt ein Tabu. Ich akzeptiere das, obwohl ich mich doch immer für einen hartnäckigen Vertreter der aufklärerischen Ideen gehalten habe. Allerdings hatte sich in der Zwischenzeit eine wertvolle Einsicht eingestellt. Bei der Höhlenszene sind zu viele Dinge in kürzester Zeit geschehen, ist derartig viel Hintergründiges abgelaufen, zu viel, um es in dem kurzen Leben noch zur Sprache zu bringen.

Die Einsicht beinhaltete das schmerzhafte Eingeständnis mir selbst gegenüber, dass es meinen Eltern reichlich verwehrt ist, mich zu begreifen. Ihre Herkunft, Erwartungen, Hoffnungen, die sind so grundlegend unterschieden. Völlig entfernt davon hatte ich mich schon in meinen jungen Jahren. Und dann, meine eigene Herkunft mit all ihren einengend hemmenden Ausgangsbedingungen, die kann ich wohl noch erklären, also mir selber zumindest. Ich weiß allerdings nicht, ob ich meinen Eltern die jemals verständlich machen könnte.

Und gar völlig unverständlich würde alles, wenn ich meine Erwartungen und Hoffnungen darlegen müsste, die waren und sind mir selber ja nicht so einsichtig. Also, ich hoffe, sie werden es werden, wenn ich zumindest schon mal einen Zipfel der Souveränität erwischt habe.

Das Lächeln der Souveränität -121- All diese unabgeschlossenen, grübelnden Überlegungen zeitigen freilich schon ein Resultat. Ich bin es, der meine Eltern zu begreifen hat. Ich muss sie so akzeptieren, wie sie mir gegeben sind. Ich kann mich doch nicht mein ganzes Leben lang auf die Beschränkungen durch meine Geburt verweisen. Ich bleibe meinen Eltern verbunden.

# Ein Höhlenleben – Die Lust- und Lasterhöhle

Nachdem meine Eltern in meine Höhle des Grauens eingedrungen waren, wunderte ich mich später, dass ich in meinem Tonfall so ruhig geblieben war, wenn ich auch zynische Kommentare losließ. Ich hatte damit immerhin meine letzten sozialen Bindungsnetze zerfetzt, war in meiner Nisthöhle frei geworden von allen Verpflichtungen. Jetzt hätte ich das Leben genießen können. Dazu kam, dass ich mir mit Dostojewski einen guten Wissensfundus über soziale Beziehungsformen angeeignet hatte. Trotzdem wollten sich all die gewonnenen Einsichten nicht zu einer neuen Lebensform verändern. Im Gegenteil, die Höhle führte weiter in elende Untiefen.

Jim war kaum noch ansprechbar, war verstrickt in seine zerebralen Auseinandersetzungen mit dem Generalsvater. Die Flucht vor ihm suchte er unablässig in der Musik der Talking Heads. Unsere Arbeit in den Katakomben verlief problemlos, Vorgesetzte ließen sich so gut wie nie blicken. So bauten wir freie Zeiten zu musikalischen Sessions aus.

Jim war der Sänger. Er hatte die passende, kindlich klingende Stimme und kannte alle Texte auswendig. Spastisch zappelnd tanzte er durch die Paketschluchten. Seine Jeans flatterten ihm um die Knochen, sahen aus wie vom großen Bruder geborgt. Andere trommelten auf den Paketen und Abfalltonnen, ahmten stimmlich heulende Gitarren nach.

Ein heiserer Schrei aus seiner Kehle und “So many people...have their problems – I’m not interested...in their problems”. Die Haare schwirrten wirr um sein Gesicht. Wir am Band nahmen Textpassagen auf und wiederholten im Chor: „I guess ive...experienced some problems - But now ive...made some decisions.” Die rumstehenden Bierflaschen leerten sich im Rhythmus, und die Post ging gab.

Das Lächeln der Souveränität -122- Jim zog die Arme in die Luft, wedelte elegant mit den Händen, den Zeigefinger in die Luft gestreckt, und sang: „What are you, in love with your problems?“ Unbändig wandte er seinen Körper. Vom Transportband tönte der Chor: „Its...not so cool to have so many problems.”

Flaschen mit Rotwein machten unerwartet die Runde. Warnend ging Jims Zeigefinger wieder in die Luft: „Be a little more selfish, it might do you some good”. Mit Tschubidub machten einige die Gitarre nach, und der Chor setzte kraftvoll ein: “ In a world where people have problems“. Wir schmissen uns sinnlos die Pakete zu, warfen sie gegen die Wand, voller Wucht auf den Boden. Sie zerbrachen und Inhalte fielen umher. Aus einem flog ein Totenschädel, sah aus wie der von einem Bär. Ich ergriff und nutze ihn fortan als Zierde meiner Höhle.

Ungefähr ab der Stelle stürzten schäumend Vorgesetzte herein, drohten wild herum, schüchterten uns mit Entlassungsdrohungenen ein. Ein energievoll geladenes „here we go“ lag für uns Choristen vibrierend in der Luft. Der Ausbruch der Vorgesetzten hatte keinerlei Konsequenzen für uns, ansonsten lief ja alles nach Plan. Die ausgeflippte Nacht hat sich tief in mein Gedächtnis gegraben.

Mit Jim hatte ich ein Gespräch über zufrieden stellende Lebensformen versucht, aber außer den Autoren Kerouac und Borroughs kam nichts. „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“ fand er auch noch ganz gut, vielleicht ein bisschen langweilig. Ich übernahm den Tipp, wusste, wenn ich so weiterleben würde, würde es mich zerfressen.

Bei dem genannten Roman hoffte ich eine Verbindung zu finden zwischen dem „Easy Rider“ und einem Leben in Entspannung. Zen hatte für mich was mit Buddha zu tun, jemandem, der eher Vorbild war, kein Gott.

Ich war auf der intensiven Suche nach einer neuen Lebensform und beschaffte mir das Buch. Ich versuchte mich im Schneidersitz vor meinem Bett und las. Doch ich fand das Ding langweilig, geschwätzig. Und Buddha wurde auch noch in irgendwelche digitale Schaltungen gesteckt. Dazu kamen ermüdende Auflistungen von Motorradaustattungen und Versuche in griechischer Philosophie. Meine Beine schmerzten von den Sitzbemühungen, und der Autor saß auf dem Motorradsitz. Das war ein absolut Kalter.

Das Lächeln der Souveränität -123- Mitten im Frust über die erneute Bruchlandung klopfte es an die Tür. Brigitte stand davor. Ich dachte, sie wäre mir zum Trost gekommen. Aber sie kam soeben vom Flughafen, zurück von Amerika und suchte eine Unterkunft. Interessant, wie sie auf meine Adresse gestoßen war. Egal, wir fielen uns in die Arme und knutschten noch in der offenen Tür wie ein lang getrennt lebendes, tief verliebtes Paar. Das Wasser kochte für einen Tee und wir lagen verhakelt auf der harten Eremitenmatratze.

Beim Teetrinken wollte ich mehr über ihre Exkursion wissen, wollte wissen, ob sie mit Peyote an die wahren Quellen ihres Ichs gelandet sei, wollte, unformuliert, wissen, ob ich irgendwas für meine weitere Suche nach einer wahrhaften Lebensform ergattern könnte. Fast schreiend kam mein Wunsch zu hören, ob sie nun, nach all den Erfahrungen, nicht länger daran zweifle, wer sie tatsächlich sei.

Sie holte eine Flasche mit dunklem Tequila aus ihrer Reisetasche und goss ihn in unseren Tee. In ihrem dunkelroten Hippiekleid saß sie vor mir, das war unten etwas ausgestellt. Und so lag der Rocksaum auf ihren Schenkeln, als sie mühelos in den Schneidersitz rutschte. Ich starrte auf dies formschöne Bild. Herb lächelte sie mich an, signalisierte, dass sie unter einer Enttäuschung leide. Sie hob ihre Tasse und nahm einen tiefen Schluck.

„Weißt Du“, sagte sie im tragischen Tonfall, „Artaud hat seine Geschichten über die Indianer alle in der Klappse geschrieben, in Frankreich, Jahre nachdem er in Mexiko gewesen war.“ Sie seufzte, „das war eine düstere Erfahrung. Für die bin ich bis nach Mexiko gereist.“ Ich schaute sie mitfühlend an und nahm ebenfalls einen Schluck.

„Man kann ihm nicht einmal böse sein, eher den Herausgebern seiner Werke, die täuschen, wollen die Schriften halt verscherbeln. Artaud dagegen wollte immer rein und gut sein, gegen die, die all den Totschlag und die Ungerechtigkeit der Welt als normal empfunden haben.“

Mit Blick auf die mir bekannte Szene entgegnete ich, dass uns der Sachverhalt bestens vertraut sein müsste. ‚Pro bonum – contra malum’, das wäre hier doch eine bekannte und anerkannte Größe, ein klares Handlungsprinzip. Sie sagte, dass sie selber gerne das Böse darstelle, lachte und nahm einen Schluck vom kräftigen Tee.

Das Lächeln der Souveränität -124- „Peyote oder Schnapskopf, wie es in Deutschland heißt, ist dermaßen bitter im Geschmack, das ist eigentlich nichts für mich, dass habe ich in Mexiko auch noch gelernt. Und dann habe ich gelernt, dass die Wahrnehmung der anderen Realität überhaupt nicht an die Einnahme von Drogen gebunden ist. Ich habe die Erleuchtung durch Carlos Castaneda, beziehungsweise durch die Lehren des Don Juan Matus vermittelt bekommen.“

Sie schaute mir tief in die Augen. „Die Welt anzuhalten, das ist die große Kunst, und dann, dann siehst du.“ Ihre Stimme klang tiefernst.

„Dann siehst Du die gesamte Welt, auch die, die über diese direkt und banal vorliegende Realität hinausgeht. Wir beide leben hier gerade in einem baulich eng umgrenzten Raum. Der ist wohlweislich ein Kraftort, das hast Du vielleicht noch nicht bemerkt. Hier können wir gut die Welt anhalten, sie stoppen. Wollen wir es nicht einmal probieren?“ Das tönte so magisch zwingend, dass nur eine Antwort in Frage kam.

Die Welt stand also still in unserer Höhle. Brigitte erzählte über die Geschehnisse danach, über das Sehen, über das Wahrnehmen von Dingen außerhalb der ursprünglich gelernten Welt. Und sie erzählte die Geschichten mit Pathos, mit einem bezwingenden Ernst, und es wurde mir nicht erkennbar, ob sie irgendwas Angelesenes referierte, oder ob sie von eigenen Erlebnissen berichtete.

Ich sah sie in ihrem Hippiekleid vor einem Kaktus sitzen. Die Abwasserleitung im Haus, die gluckerte kräftig, und ich sah Echsen und Molche umherhuschen. Sie beherrschte auf jeden Fall die Fähigkeit zu einer dichten, hochkompakten Erzählweise. Sie imaginierte mir fühlbar den Wüstensand unter den Füßen.

„Hast Du den Wunsch, die eigene, persönliche Geschichte zu löschen?“ Ein warmer, schmeichelnder Wüstenwind umwehte mich, und ich antwortete zögerlich: „Das wäre gar nicht mal schlecht. Völlig von vorn anfangen, das wäre schon irgendwie toll.“

Ihre Stimme wurde leiser, sie flüsterte dramatisch. „Keine Geschichte zu haben, bedeutet, dass niemand über Deine Handlungen enttäuscht oder gar böse ist.“ Sie stellte mir in der Höhle hier oben eindringlichst die Lehre des Don Juan dar. „Du lernst, die eigene Wichtigkeit zu verlieren und gewinnst dafür den Tod als Deinen Ratgeber.“

Das Lächeln der Souveränität -125-

Plötzlich schreckte ich auf, lechzende Coyoten dachte ich hinter mir zu hören. Es war lediglich der Plattenspieler. Ich hatte zuvor „Eric Burdon Declares War“ gehört und der musste schon seit Ewigkeiten abgelaufen sein. Jetzt stand ich auf und schaltete das Gerät endlich aus.

Sie bat mich, die Platte noch einmal laufen zu lassen. Sie erinnere sie sehr an alte Zeiten mit unserer Kellergruppe. „Der Burdon hat doch unseren Frust und unsere Ausbruchswünsche phantastisch zum Ausdruck gebracht, in seinem Haus in New Orleans.“

Brigitte erhob sich ebenfalls vom harten Matratzenlager und fing an, im Zimmer aufzuräumen. Etwas irritiert nahm ich zur Kenntnis, dass sie sich hier so ganz selbstverständlich einzurichten gedachte. Völlig unerwartet stieß sie auf meine Wichsvorlagen in der Bettkiste. Und sie lachte, gluckste vor Lachen. „Ach Bernd, was machst Du denn mit all dieser Flachware in der Kiste?“

Ich glaube, ich errötete von Kopf bis Fuß. Sie lüftete ihr Hippiekleid: „Hier“, sagte sie, „handfestes Fleisch, alles dreidimensional, fühlbar und häufig gierig.“

Ich war völlig aus dem Häuschen, stürzte auf sie zu, und dann ging es los. Wir vögelten. Ohne Unterlass glaube ich. Wir bumsten über Bett und Truhe, quer durch einen roten Sitzsack und rund um den Plattenspieler. Der hatte zuvor noch einen „Blues for memphis slim“ gedudelt, recht lethargisch, aber knuddelig. Es war, als heulten die Coyoten um uns rum, und ich warf mich wieder lechzend zwischen ihre kräftigen Schenkel.

Mit einem Mal hämmerte es gegen die Zimmerwand. Das war der Nachbar, der „Ruhe“ brüllte. Wir wanden unsere verschränkten Gliedmaßen auseinander, schauten uns an und lachten. Wenn die Musik mal etwas lauter war, dann hatte der sich noch nie beschwert. Aber sie schrie ja so brünstig beim Vögeln. Ich stöhnte vielleicht, manchmal etwas vernehmlich.

Wir streunten gemeinsam durch die Stadt. An der Hauptwache spielten drei irrsinnig wirkende Musiker, verkiffte wohl, und sie sangen langsam anhebend „I have lost love before …. But your sun shined just once more”, und dann sich heftig steigernd “… you’ve made me so very happy”. Wir tanzten dazu wild um die Band herum, so rumbaartig, reckten die Hände

Das Lächeln der Souveränität -126- beim “I’m so glad – you came into my life” in die Luft und fielen uns in die Arme. Anschließend klauten wir beim Montanus alle greifbaren Blood, Sweat and Tears – Platten.

Also sie vor allem. Ich hielt mich schon für recht fit, aber sie, sie trug die Dinger offen an der Kasse vorbei, lächelte bezwingend und ließ ihr Hippiekleidchen schweifen. Mit unserer Jagdbeute gut bestückt kehrten wir zurück in unsere Höhle. Wir legten die Scheiben auf, auf drehten wir lautstark die Musik, „I love you more than you ever know“, womit der Nachbar offenkundig besänftigt war. Und wir flogen darüber die Vögelroute rückwärts.

Ich weiß nicht mehr so genau, wie viel Tage flugartig ins Land gingen. Schließlich erhob sie sich von unserem Lodderbett. Bei ihren Aufräumaktionen hatte sie den Kasten mit Acrylfarben entdeckt, den ich irgendwann zuvor mal im Sperrmüll aufgegabelt hatte. „Weißt Du“, sagte sie mir, „wir müssen dieses animalische Triebleben jetzt mal überwinden, voran gehen müssen wir nun in Richtung einer Zivilisiertheit, Du weißt, wie zwingend der Fortschritt ist.“

Sie begann auf der Raufasertapete einfach mit weitflächigen Darstellungen von Felsgesteinen und pinselte weiter einen Auerochsen, Wisent oder wie und gepunktete Pferde. Bei Figuren, die wie Tiermenschen aussahen, ging uns die Farbe aus. Wir mussten folglich wieder raus auf die freie Wildbahn. Ich hatte sowieso einen Arzttermin, denn ich musste mich schließlich krankmelden. Eine gute Begründung hatte ich, meine Knie waren von der bodennahen Vögelei etwas wundgeschürft, rot und leicht geschwollen.

Ich war gewissermaßen waidwund, während meine blondgelockte Jagdgöttin die Farbgeschäfte und entsprechende Abteilungen stürmte und die benötigten Farben besorgen ging. Mit reicher Beute kehrte sie zurück zu mir. Ich hatte eine Weile beim Arzt verbracht. Wir spazierten noch gemeinsam am Main entlang.

Sie sagte, dass ihr soeben unser damaliges Fickerlebnis in der Scheune durch den Kopf ginge. "Das war der helle Wahnsinn. Das hat sich tief in meinen Kopf gebrannt, samt dem Heuduft und dem quietschenden Scheunengebälk. Dein Trimm-Dich-Männchen war damals schon sehr fit.“

Das Lächeln der Souveränität -127- Ich fühlte mich schon reichlich geschmeichelt, begriff allerdings nicht, warum sie so sentimental wurde. Sie erzählte, dass sie mit Rudi darüber gesprochen habe, der sie bis auf die Einzelheiten ausgefragt habe. „Der hatte einen solchen Ständer in der Hose, dass der Tisch fast umgestürzt wäre.“

Das war genau die Aussage von ihr, die hatte ich später völlig vergessen. Daher wusste der Rudi darüber Bescheid, aus erster Hand. Ihre Schmeichelei hatte meinen wahrnehmenden Verstand samt Gedächtnis blockiert.

„Aber danach, da gab es auch noch einige koitale Begegnungen, nach der Aufführung der Hermannsschlacht, da haben wir es gemacht, vorbei an Deinem germanischen Wollschlüpfer.“ „Ach, das war doch nur ein Frustfick. Wenn ich an diese verknarzte und verkorkste Politbagage vorne im Raum denke, dann wird mir jetzt noch übel. Die meinten alles erklären zu können und haben nichts begriffen.“

„Und dann ging es im Himmelbett noch mal heftig rund.“ „Ouh, das war gut. Da hat mir die Bagage schon nichts mehr ausgemacht.“ „Geil sahst Du aus mit diesen Stukaflügeln und dem Schmetterlingsslip.“ Sie ignorierte die reizvollen Details. „Mir ist da noch was ganz anderes durch den Kopf gegangen. Kannst Du Dich noch Leonard Cohen erinnern? ‚Suzanne takes you down…“ Ich konnte, ich kann es immer noch sehr gut. „Kannst Du es singen?“ Wir saßen im Nizzapark am Main, und ich sang: „Suzanne takes you down to her place near the river.”

Das ist die pure Sentimentalität, tief und schwer, bei dem Lied sacke ich ab, eigentlich immer noch. „Weißt Du noch damals, als wir hier zur Buchmesse waren und bei dem Verleger von Rudi übernachtet haben? Also seinem Lehrherrn gewissermaßen?“

Ich kann mich daran erinnern, nicht mehr so vollständig, aber in bestimmter Weise ist mir die Erinnerung auch unangenehm. Der Verleger hatte uns die Wohnung in der Hochstraße zum Übernachten überlassen. Mit von der Partie war Heinz, ebenfalls aus Korbach, etwas älter als wir, studierte in Gießen und war ein glutäugiger Kämpfer gegen all die Schlechtigkeiten der Welt.

Das Lächeln der Souveränität -128- Der holte auf einmal Trips aus seiner Tasche, LSD, so eine rot-weiß marmorierte Pille. Er überredete mich zu einer Hälfte davon, und dann hörte ich die Geschosse zischen. Irgendwer hatte eine Platte mit Lautgedichten von Ernst Jandl aufgelegt, „Schtzngrmm, Schtzngrmm, dededede, dededede“. Phonetisch ging der totale Krieg ab. Meine Augen schwirrten durch die Wohnung, suchten verschreckt die Quelle, die Schützen. Aufgekratzt lief ich umher, von Kugeln verfolgt, unter ihnen durchtauchend und versteckte mich endlich hinter einem Schrank.

Dort ging der Terror weiter, „Rinninninder brüllüllülleln, Fröschschöschösche quackackacken“. Es war die Hölle, die hatte ich allmählich fest im Blick, versuchte sie strategisch zu erfassen. „Falamaleikum – falamaleitum – falnamaleutum – fallnamalsooovielleutum.“ Es waren weitere Geräusche, zumeist Worte, die wie Schrapnells durch die Luft sausten. Dann war aber mal das Dichten vom Krieg aus.

Jetzt flogen einzelne Worte wie Blasen herum, wurden größer, schwabbelten und schillerten buntig. Sie wollten mich bedrängen, bedrücken, eierten auf mich zu. „Ihr Schweineblasen“ so beschimpfte ich sie boshaft. Das war risikolos, denn mein Unterstand hinter dem Schrank war geschützt. Die Blasen zerplatzten an den spitzen Kanten vom Schrank.

Schlagartig änderte sich die Stimmung. Sanft klingende Noten eroberten sich die Lufthoheit. Leonard Cohen war zu hören. Und der führte mich in völlig ungeahnte Gefühlswelten hinein, alles war mir so nah, ich empfand mich mit allem verbunden. Ein tiefer Sinneseindruck von Aufgehobensein bemächtigte sich meiner. Brigitte mit ihren glänzenden blonden Locken lächelte mich so faszinierend freundlich an, als wollte sie sagen, „so schön kann das Leben sein.“

Es war nicht zu beschreiben, nicht mehr fassbar. Die Gehirnwindungen glühten, brannten durch. Mein Bewusstsein setzte aus. Mir wurde später erzählt, ich hätte draußen auf dem Fenstersims der Wohnung gestanden. Ich weiß nicht, ob ich diese Art von Nähe zum Leben, zu den Dingen einfach nicht verkraften konnte. Dieses intensive Gefühl der Zugehörigkeit zur Welt, das war mir zutiefst suspekt. Vorsichtshalber riss ich die zerebrale Hauptsicherung raus und überließ meinen körperlichen Rest dem Schicksal. Die anderen in der Wohnung konnten mich schließlich aus der Höhe über der Straße zurück in die Wohnung bugsieren. Ich habe nie begriffen, was mich getrieben hatte.

Das Lächeln der Souveränität -129-

Sitzend am Main meinte Brigitte zu mir, dass in dem Lied von Cohen doch auch die Rede von ertrinkenden Seeleuten sei. „Fear death by water.” Sie hätte manchmal Angst um mich.

„Weißt Du, ich habe mir gedacht, dass ich in Deiner Höhle einen heiligen Christopherus an die Wand male, diesen Schutzheiligen der Seeleute. Du kennst ihn“ Mitfühlend glotzte sie mich an. „Eine gewaltige Kraft wird ihm nachgesagt. Er wird Dir Schutz geben. Er soll es. Ich habe ihm alle Farben beschafft, viel grün für sein Kleid, rot für den Umhang.“

Ich kannte dieses Bildnis von ihm. Ich wurde wütend. „Ich will ihn nicht in meiner Wohnung haben. Ich mag keine christliche Symbolik direkt neben mir. Wenn Rettung, dann kommt sie nur von mir selber.“ „Gut, gut.“ Sie versuchte mich zu beruhigen. „Ist ja gut. Ich lasse das.“ Mir war ihre mitfühlende Art zuwider, ich wusste nicht, warum sie mich so unerwartet sanft umgarnte. „Was soll der Scheiß, Du kommst in meine Wohnung, nistest Dich breit ein und willst alles bestimmen.“

Verdattert guckte sie mittlerweile. „Ich kann Spione und Psychologen nicht leiden, wenigstens solche nicht, die mir in die Seele dringen. Ich fordere niemanden auf, in meine Seele einzudringen, ich brauche niemanden, ich kann allein fertig werden.“

Sie gab keine Antwort, umarmte mich dafür. Ich selber war reichlich erschrocken, ich hatte soeben aus den „Dämonen“ zitiert. Sie fasste meinen memorierenden Kopf und knutschte an ihm rum. Ganz flott hockte sie auf mir, ihre Schenkel nahmen mich in die Zange. Und schon wieder ließ ich mich ganz einfach besänftigen. Ich knutschte heftig zurück auf unserer hölzernen Bank und fummelte engagiert unter ihrer Bluse rum.

Gebieterisch erklang ein „Tock, tock, tock“. Ein Grufti stand neben uns und hämmerte mit seinem Krückstock gegen die Bank. „Schweinerei, was ihr da treibt, dies ist ein öffentlicher Park, kein Puff. Wie die wilden Viecher. Es hier zu treiben! Unerhört.“ Er wedelte mit dem Stock in der Luft herum, und wir zogen uns aus der Wildnis zurück in den Schutz der Höhle.

Brigitte bemalte weiter die Tapete, begann gemächlich mit irgendwelchen abgenagten Knochen, herumliegenden Schädeln und so, und zeichnete ein Feuer mit zwei haarigen,

Das Lächeln der Souveränität -130- menschenähnlichen Figuren davor. Ich schonte derweil meine Knie, kochte uns hin und wieder ein Dosensüppchen mit Wursteinlage auf der Kochplatte und baggerte sie an.

Manchmal pinselte sie nackt, und wenn ich sie auf meinem Matratzenlager von hinten sah, wie ihre wohlgerundeten Pobacken sich rasant im Takt der Pinselschwünge mitbewegten, dann hielt mich nichts. Wegen der gesundheitlichen Genesung musste ich mich natürlich immer irgendwie unter ihr platzieren. Ich flüsterte ihr zu: „Komm, lass uns vögeln gleich fliegen, come fly me to the moon.“ Wie einem Farbkasten entsprungen sah ich danach aus.

Sie malte weiter, jetzt nahe beim Ausgang der Höhle, also so neben der Eingangstür zu meiner Wohnung. Mit wilden Pinselstrichen brachte sie einen Affen, oder Primaten, wie immer man wohl korrekt sagt, auf die Wand. Der stand dort in Siegerpose und schmiss einen Oberhalsschenkelknochen weit in die Luft.

Ein geklautes Motiv, es stammte aus einem kultigen Film. Sie erklärte mir den Weg der Zivilisation, von der wilden Horde zum Knochenwerkzeug, über das Feuer zur Kunst an der Wand. Raumschiffe kämen später dann auch.

Zwischendurch versuchte sie mich immer wieder zu Don Juan zu missionieren, erzählte vom Weg der Krieger, der gar nicht so kriegerisch sei, sondern der die Kraft verfolge.

„Ich male hier hinten in der Höhe noch ein Grab. Krieger begraben sich zwecks Erleuchtung und für das Erlangen der Kraft. Bemerkst Du das langsam steigende, kräftig werdende Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit? Lass Dich drauf ein.“ Ich genas zumindest an den Knien dabei und musste irgendwann wieder in die Bahnhofskatakomben.

Als ich morgens von der Schaffe zurückkehrte, begegnete sie mir unten an der Haustür, mit gepackter Tasche. „Du, ich muss fort.“ Sagte sie zu mir. „Ich habe die Rolle in Berlin bekommen. Macbeth ruft.“ Schon war sie an mir vorbei und weg. Ich stieg die Treppen ins fünfte Stockwerk hoch. Die dunkle Wolke stand dort fett und breit hinter dem verschmutzten Fenster.

Das Lächeln der Souveränität -131- # Ein Höhlenleben – Die Speläologie

Es war zweifellos eine Lücke entstanden, besser gesagt, Lücken. Absolut langweilig war es in den Katakomben geworden, Jim war fort. Sein Father general hatte ihn entmündigen lassen und in eine amerikanische Psychiatrie überführt, wo er dann wohl statt der berauschenden Drogen mit dubios heilensollenden Medikamenten vollgestopft wurde, vielleicht noch immer wird. Der schräge Vogel fehlte hier zwischen den Paketen.

In meiner Grotte sah es nicht besser aus. Als ich einmal auf’s Klo musste, wurde ich gar von meinem Flurnachbarn gestört. Er riss die Tür auf und fragte: „Wo ist Alde? Du nix mehr ficken Du?“ Dazu machte er geifernde, unmissverständliche Wichsgesten und inszenierte ein Lachen auf seiner Visage, das schäbig wirken sollte. Aus der Hocke guckte ich ihn gelangweilt an: „Man soll mich doch in Ruhe scheißen lassen.“ Der Spruch war von Artaud, also von Brigitte vor Castanedas Zeit, aber gut, gut passend.

„Ich nur machen Spass.“ Er schmollte und schmiss die Scheißhaustür wieder zu.

In der Wohnung störten selbst mich die umher fliegenden Farbtuben, und ich sammelte sie in einer Mülltüte, auch die gefüllten. Besonders die mit grüner Farbe mochte ich nicht leiden. Statt dem Christopherus hatte sie mir in der letzten Nacht eine Kopie der schwebenden Person, von der, die auf all den Einbänden der Bücher Castanedas erscheint, an die freie Wand gepinselt. Das ist diese rostrote Person ohne Kopf, aber mit einer strahlenden Kugel stattdessen.

Und so richtig klugscheißerisch hatte sie in großen Lettern „das Nagual“ drunter geschrieben und dem knochenschmeißenden Affen gegenüber „das Tonal“ unterstellt. Der Montanus hielt alle Werke der geistigen Weiterbildung griffbereit im Regal. Ich griff zu und war willig, mich in die Wüstenlandschaft Arizonas verführen zu lassen, war bereit, eine Entfernung zwischen mir und diesen obskuren „Wesen“ zu legen. Ich bemühte mich, die Häuserkette vor meinem Fenster auf einen Hinweis als ein gewaltiges Feld winziger Lichttupfer zu sehen. Es klappte, aber was es mir brachte, das verblieb in den Sternen.

Mit einem flauschigen Roller an Drahtgestell überrollte ich den rostroten Schweber samt radioaktiv strahlendem Schädel. Es war ein weißes, leeres Feld, das ich mir statt einer

Das Lächeln der Souveränität -132- hippiehaften Religionscollage in die Wohnung stellte. Genau da, da in der Leere, da war wirklich schon ein Ziel und Inhalt erkennbar. Da hättest Du lang gehen sollen, oh Bernd.

Stattdessen hörte ich immer wieder die Songs von Cohen. Die Langspielplatte hatte sie als eine Jagdbeute ergattert. Ich grübelte über mein Erlebnis in der Hochstraße. Dieses damalige intensive Gefühl des Aufgehobenseins war schon irgendwie faszinierend. Doch wie konnte ich dorthin gelangen? An LSD würde ich mich nie wieder versuchen. Es war eine zutiefst mystische Erfahrung, ein jubilierendes Wunder. Das Erlebnis war fast ebenso packend wie Hermanns souveränes Lächeln. Ich übermalte nun auch noch das Wort „tonal“. Ich mochte die Begriffe hier nicht, sollten sie doch lieber bei den Az- oder Tolteken bleiben.

Ich stieg in die düsteren Katakomben hinab, die von ähnlich Verlorenen bevölkert waren. Bier- und Weinflaschen kreisten hier häufiger in letzter Zeit. Zwischendurch schrie mal einer „ouh, heaven“. Und wir vom Band fuhren fort mit „heaven is a place, where nothing, nothing ever happens”.

Dafür ging hier unten wieder die Post ab. Wir schmissen uns rücksichtslos die Pakete zu, schmissen sie gegen die Wände, auf den Boden und gegen die anderen Pakete. Und bevor die oberste Leitung eintraf, waren wir schon wieder am schaffen.

Zweimal schlich ich mich in Hermanns Theater ein. Von einer verdeckten Stelle bewunderte ich die schöne Aleta mit ihren schwarzen Haaren. „Es gibt immer einen, der meint, funkelnde Augen und lachende Lippen wären eine Einladung, die ausgerechnet ihm gelte.“ Sehr glaubwürdig setzte Kathrin die Eifersuchtsszenen theatralisch in einer Prinz-Eisenherz- Geschichte um. Bei dieser heimlichen Beobachtung fühlte ich mich wie früher, wie vor ihrem Fenster.

Vor allem bewegte ich mich allerdings zwischen den Katakomben und meiner Höhle, irrte dazwischen durch das Bahnhofsviertel. Dort fiel ich Verirrter nicht weiter auf, haufenweise liefen Betrunkene rum. In den frühen Morgenstunden kam aus den Schenken gewisser Häuser, von denen es hier viele gab, ein unerträglicher Gestank. Baugerüste standen an heruntergekommenen Gebäuden. Einen starken Geruch von verfallendem Sandstein strahlten sie besonders an schwülen Tagen aus. Ich mochte diese abstoßende, traurige Stimmung. Tief

Das Lächeln der Souveränität -133- sinnend ging ich da durch, mich besinnend, dass ich eigentlich sehr schwach war. Meine Tage waren immer gleich und leer.

Ich ging zum Montanus hinab in die Tiefebene und griff mir die Dünndruckausgabe von „Schuld und Sühne“. Im Schneidersitz, den beherrschte ich immerhin schon recht gut, schlug ich das Buch auf. Das fing ja an, als wäre es eine Beschreibung von mir. Ich befand mich hier schließlich auch im fünften Stock, in einer Wohnung, die natürlich nicht unbedingt sargartig begrenzt war, aber doch recht klein. Glücklicherweise wohnte der Vermieter nicht im Haus. Der Lügenbold hatte mir sowieso Reparaturen versprochen, die er nicht durchführte. Meine Wohnungsklingel hat nie funktioniert und die Haustür schloss auch nicht.

Ich sah eigentlich niemanden der Mitbewohner, bis auf den Kerl über dem Flur. In letzter Zeit sah ich ihn sogar öfters. Er grinste mich kolossal bescheuert an, wenn ich mal wieder auf dem Weg zum Klo war. Ich litt damals unter heftigem Durchfall. Ich hätte ihm geradewegs eins in seine feixende Visage langen können.

Mit Raskolnikow erregte ich mich über die gierige Pfandleiherin und konnte mich mit seinem Abscheu völlig identifizieren. Auch besaß ich noch viel von seiner jugendlichen Empfindlichkeit. Allerdings zerlumpt sah ich nicht gerade aus. Gut, meine Kleidung war nicht die gepflegteste, aber schämen tat ich mich ihrer überhaupt nicht.

Es gab also bei allen Gemeinsamkeiten gewisse Differenzen, wobei man allerdings auch das Zeitalter bedenken sollte. Raskolnikow war rund hundert Jahre älter als ich. Aber umgebracht habe ich keinen, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Vielleicht habe ich vorher einfach nur die zerebrale Hauptsicherung rausgeschraubt.

Ich bekam irgendwann, aus was für Gründen auch immer, riesige Lust auf Rote Beete, auf eine Suppe davon, und machte mich mit meinen bescheidenen Möglichkeiten daran. Drei frische Knöllchen hatte ich wohl gekauft. Die mussten geschält werden. Mein Küchenmesser, also was ich als solches bezeichnete, das war recht stumpf. Ich hatte zuletzt auch nur noch Brot damit geschnitten, bis ich nur noch geschnittenes beim Kaiser holte. Beim Schälen entwickelte ich den Ehrgeiz, die Knollen nur ganz dünn zu häuten.

Das Lächeln der Souveränität -134- In meinen jungen Jahren, so fiel mir ein, hatte mein Vater aus dem Schälen von Kartoffeln einen großen Akt der Sparsamkeit gemacht. Ich konnte es nicht fassen, aber das verfolgte mich Und jetzt wollte ich mich wem auch immer beweisen. So nahm ich mein Taschenmesser, das hatte eine scharfe Klinge, und hob die Haut von der Knolle ganz zart ab. Rot Beete ist farbintensiv und trotz all meiner Sicherheitsmaßnahmen färbte ich die Umgebung ein. Auch meine frisch besorgte Dünndruckausgabe litt. Der rote Fleck ziert das Buch noch heute. Ich habe den Dostojewski, wie wenige meine Bücher, über alle Umzüge hinweg noch im Bestand.

Mein Suppenwerk gelang, auch wenn ich beim Schneiden der Zwiebel, im Schneidersitz, ganz furchtbar weinen musste. Aber ich starrte durch die Tränen den roten Fleck an. Dass ich derartige Gemeinsamkeiten mit meinem Vater besaß, das machte mir zu schaffen.

Und dann war da noch Raskolnikow, der in der Öffentlichkeit durch einen hohen Hut ohne Krempe auffällig wurde. Zufällig wurde ihm das bewusst, und ich grübelte darüber nach, ob ich selber nicht auch etwas Auffälliges an mir hätte. Eigentlich wollte ich mich lieber verdeckt durch die Stadt bewegen, wollte in Ruhe gelassen werden.

Durch den Geschmack der fertigen Suppe im Mund wurde ich von diesem Gedankenausflug erlöst. Ich stellte fest, dass mir Raskolnikow zu nahe auf den Pelz gerückt war. Er ging mir unter die Haut. Seine Morde hatte er noch nicht begangen und so beschloss ich, die „Dämonen“ zuerst zu Ende zu lesen. Erst danach wollte ich mich wieder langsam der „Schuld und Sühne“ widmen.

Mühsam nur konnte ich mir wieder die russischen Namen vergegenwärtigen, das war recht schwierig. Plötzlich klopfte es an der Tür. Hermann stand vor mir. „Hallo Bernd! Ich wollte Dich einmal in der Bärenhöhle besuchen. Es wird soviel darüber gemunkelt.“

Ich wollte ihm entgegnen, dass es mir egal wäre, ob darüber geredet würde. Außerdem wurde ich ärgerlich darüber, dass überhaupt darüber Bescheid gewusst wurde.

Hermann lächelte mich so bezwingend an, dass mir die Worte im Hals stecken blieben. Wie ich erfuhr, hatte Brigitte mit ihm kurz telefoniert, als sie hier war, und ihm von mir berichtet.

Das Lächeln der Souveränität -135- „Darf ich reinkommen?“

„Klar doch, komm rein.“ Ich konnte ihm nicht viel zum Sitzen anbieten, nur den Sitzsack, so ein Ding zum Reinflegeln. „Du hast Dich hier ja richtig höhlig eingerichtet.“ Er betrachtete die Wandgemälde und vermutete richtig, dass Brigitte mir die Höhle mit Wandschmuck versehen hatte.

Augenblicklich war mir klar, dass Brigitte bei unserem letzten Gang in die Innenstadt auch mit dem Theater in Berlin telefoniert hatte. Sie hatte von der Post aus ihr Engagement geregelt. Und mit Blick auf den kommenden Abschied war sie am Main so sentimental geworden.

„Unser schöner blondgelockter heißer Feger spielt die Lady Macbeth. Das ist eine Rolle, die passt bestimmt zu ihr.“ Hermann stand neben meinem knochenschmeißenden Affen und hob beschwörend die Hände. „Kommt jetzt, ihr Geister alle, deren Geschäft es ist, tödliche Gedanken einzuhauchen, kommt und entweibet mich hier; füllt mich vom Wirbel bis zum Zehen topfeben mit Grausamkeit an; macht mein Blut dick, verstopft die Zugänge der Reue.“ Ich glaube, sein Kopf war ein Hochregallager gefüllt mit einer unendlichen Anzahl von Theaterszenen.

„Und wirst Du aus Dir hier in der Höhle einen Heiligen machen, einen Sankt Bernd? Sprichst Du hier in dieser Höhe auch schon mit den Vögeln, wie der aus Assisi?“

Ob Provokation oder Scherz, ich reagierte zornig. „Du weißt, dass ich mit dem Christenkram nichts am Hut habe. Ich habe keinen Gottvater über mir.“

„Das ist eine eindeutige Stellungnahme. Damit befindest Du Dich in einer herausgehobenen Position, denn der vollkommene Atheist steht auf der vorletzten Stufe vor dem vollkommensten Glauben.“

Ganz heiter sprach er das zu mir. Meine Verwirrung steigerte er derart. Zum Thema „Glauben“ hatte ich ihn bislang überhaupt kaum vernommen, und jetzt nahm er diese Abstufung vor. Und was meinte er mit „vollkommen“? Ich zitterte, schwitzte. Der ließ mich irgendwie ins Leere laufen.

Das Lächeln der Souveränität -136-

Wütend entgegnete ich, dass ich diese Einteilungen hassen würde, ob gottgläubig oder atheistisch. „Warum müssen Menschen immer in Schablonen denken. Ich habe damit nix zu tun, ich bin leer, völlig frei davon.“

Hermann zögerte etwas irritiert. Mit dem Rücken zum Höhlenfeuer fletzte er sich im Sack. Der erlaubte keine geregelte Sitzhaltung. Ich hockte vor meinem Bettkasten auf dem Boden.

„Deine Empfindsamkeit hast Du also nicht verloren. Ich freue mich, dass Du in der Einsamkeit nicht abgestumpft bist. Also ich finde das schon als eine große Leistung, sich zugunsten des Seelenheils von allem zurückzuziehen.“

Zunächst fühlte ich mich geschmeichelt. Aber dann fiel mir ein, dass ich mich nicht wegen einem Seelenheil zurückgezogen hatte. Es war im Prinzip auch keine Leistung, ich wollte ja nur meine Ruhe haben, eher eine Bequemlichkeit. Aber wenn ich damit den Anschein einer Leistung erweckt hätte, dann könnte ich mir darauf auch noch was einbilden. Vielleicht war es aber auch reine Schmeichelei von ihm.

Das waren drei Deutungen seiner Sätze, und für jede einzelne hätte ich eine unterschiedliche Antwort parat haben müssen. Das überforderte mich momentan kolossal, die Sicherung sprang selbständig raus, und ich wollte ihn schon anbrüllen, dass er seinen scheiß Sabbelsülz bleiben lassen solle. Allerdings schaute er mich unbändig freundlich, so offen an. Die Sicherung blieb drin in der Fassung.

„Du wusstest doch längst, dass ich komme. Du hast es Dir doch gewünscht, dass ich bald vor Deiner Tür stehe, oder?“

Ich war absolut verblüfft über diese Feststellung. Ich fing sogar an zu überlegen, ob es tatsächlich so war. Ich schwankte hin und her mit meiner Antwort, wusste es nicht so genau und wollte wegen meiner Unsicherheit wieder irgendwas Satzartiges schreien. Ich fühlte mich zudem etwas entblößt und stammelte daraufhin nur noch irgendwas Wortartiges.

„Ach, Du brauchst mir wirklich nicht zu antworten. Das ist doch wahrlich kein Verhör hier.“ Ich fühlte mich beruhigt.

Das Lächeln der Souveränität -137-

„Ich hoffe, Du freust Dich wenigstens etwas über mein Erscheinen.“ Neugierig schaute er mich an, zog die Augenbrauen hoch.

„Ich, ich denke.“ Ich dachte wirklich, als ich das sagte. Ich grübelte darüber, dass ich hier in meiner Höhle reichlich wortkarg geworden war, reichlich unkommunikativ. Mit meinen Büchern kam ich bestens aus, da konnte ich mir zu jedem Satz in Ruhe Gedanken und Bilder machen, ohne dass ich gedrängt wurde. Aber jetzt, im direkten Gespräch, da wurde jede geforderte Antwort zum Stress. Ich hatte begonnen, mich mit dem Schweigen zu arrangieren, hatte dem gesellschaftlichen Leben gekündigt.

„In gewisser Weise habe ich ja mit Deinem Rückzug in die Einsamkeit auch zu tun. Deswegen musste ich zu Dir kommen. Wir waren alle sehr enttäuscht wegen dem Misserfolg der ‚Leiden der jungen Bewegten’. Dabei habe ich auch einige sehr positive Rückmeldungen bekommen. Das Thema eines persönlichen Rückzugs, der Abkapselung in sich selbst, das ist wirklich keine fixe Idee von uns gewesen. Es gibt viele Leute, die uns darin bestärken, die das bestätigen und die das auch nicht als eine Sado-Maso-Show wahrgenommen haben.

Ich habe mit Psychologen gesprochen, die unser Stück gesehen hatten. Sie sagten, dadurch wäre diese fundamentale Unterscheidung zwischen persönlicher Innenwelt und der Außenwelt sehr klar gemacht worden. Dass diese Welten nur durch Austausch miteinander existieren könnten, vermittelt durch die Haut. Die Haut ist das größte Organ des Menschen und sie besitzt eine wichtige Bedeutung für die sinnliche Wahrnehmung des Menschen. Sie ist der Moderator zwischen den beiden Welten. Ihre kommunikative Rolle sei gewaltig, erklärten sie mir.“

Warum er mir das alles erneut erzählt? Ich weiß es nicht, wir haben bei der Vorbereitung des Stücks lange und breit über die Themen debattiert. Ich drücke meinen Rücken gegen den mächtigen Bettkasten und statte mein Gesicht mit einem gelangweilten Ausdruck aus.

„Die Haut in dem Stück ist natürlich hochsymbolisch gemeint, sie steht hier als die Grenze zwischen einem menschlichen Ich und seiner Umwelt. Sinn macht die Grenze nur, wenn sie ebenfalls durchlässig ist. Die Innenwelt muss das Äußere soweit an sich heranlassen, dass es

Das Lächeln der Souveränität -138- die damit verbundenen Probleme und Aufgaben bewältigen kann. Ein ständiger Austausch ist notwendig.“

Die Spannung zwischen meinen Oberschenkeln und dem Rücken wuchs. Ich rutschte langsam den Bettkasten hoch. Alles längst bekannt. Gut erkennbar unterdrückte ich ein Gähnen.

„Wenn die Grenze, oder die Haut aber nun zu fest wird, wenn sie eine gewisse Härte angenommen hat, dann wird man unsensibel gegen die Umwelt. Weißt Du, das ist selbstverständlich auch eine Methode der Abschirmung, weil der Grad der innerlichen Verwundbarkeit zu sehr gestiegen ist und die eigene Leidensfähigkeit das nicht mehr bewältigt.“

Ich rutschte höher und höher, hatte mit dem Po fast die Bettkante erreicht. Das Thema der Abkapselung, das drohte jetzt erneut behandelt zu werden. Was sollte das? Ich glotzte gar nicht mehr so cool.

„Die Zurückgezogenen müssen jetzt mit den Beständen ihrer Innenwelt auskommen und die Außenwelt wird nur noch als entweder böse oder als gut wahrgenommen. Ein Psychologe hat mir das mal erklärt, wie die Wahrnehmung dann eher instabil wird. Unrealistische, unklare und damit unerreichbare Ideale führen oft ganz schnell zu einer Entwertung des eigenen Selbst.“

Ich stand plötzlich aufrecht und es platzte aus mir raus: „Ach diese Scheißpsychologen, die sind das doch nur geworden, weil sie selber Psychowracks sind.“ Hermann schaute mich ruhig an, die Stirn leicht gerunzelt.

„Als Dir damals die Gesichtshaut abgezogen wurde, da habe ich das auch als eine Art Befreiung empfunden. Alles was sich innerlich so heftig angestaut hatte, was das Innere fest im Griff besaß, dass konnte ohne die abgrenzende Haut frei nach außen fließen.“

„Das ist ja spannend. Das empfinde ich als eine sehr wichtige Form der Selbstwahrnehmung. Daran siehst Du, dass das Innere das Äußere sucht. Die Wechselwirkung soll wieder hergestellt werden. Es gibt aber auch Menschen, die eine heftige Angst vor dieser

Das Lächeln der Souveränität -139- Grenzenlosigkeit haben, sie haben Angst, dass sich ihr Ich auflöst. Das sind die zwei Seiten der Aktion.“

Ich hörte schon gar nicht mehr richtig hin, saß wieder auf dem Boden. Was ich als eine Art von Befreiung empfunden hatte, das war mir noch nie so bewusst geworden. Das hatte ich folglich auch noch nie in Verbindung mit der Selbstauflösung durchdacht. Beides ist gleichzeitig vorhanden, Angst und hoffender Wunsch, dass das Innere nach Außen dringt, wenn keine Begrenzung mehr da ist. Irgendwas sitzt vermutlich fest in mir drin, und ich wäre froh, wenn es fort wäre. So eine Art von Exorzismus wäre eventuell angebracht.

Hermann hatte wohl erkannt, dass ich soeben einigen inneren Erschütterungen ausgesetzt war. Ich weiß nicht, ob er mich einfach nur besänftigen wollte. „Ich habe mir schon gleich gedacht, dass Du damals nicht nur an dem Misserfolg vor dem Publikum gelitten hast.“

Allmählich konnte ich mich wieder auf ihn konzentrieren.

„Die Erkenntnis vom eigenen Wunsch zur Auflösung, die muss natürlich verdaut werden. Und das sehe ich dann als die bewundernswerte Leistung von Dir, dass Du die innere Eingegrenztheit in ein Verhältnis zur äußeren Realität bringst, dass Du mit dieser Höhle die erkannte Einsamkeit zum Ausdruck bringst.“

Immer noch besaß ich Widerstände, mich seinen Ausführungen anzuschließen. „Es war nicht nur der Misserfolg des Theaterstücks, Du weißt, dass mich meine Freundin Charlee einfach hat sitzen lassen, dass ich die Uni nur noch als Leerlauf wahrgenommen habe. Und da waren die politischen Ideen oder Ideale, mit denen konnte ich nichts mehr anfangen. Maßlos irritiert hat mich das Handeln des Staats, dessen massive Machtauftritte, eine absolut unverständige Feindseligkeit. All das, das waren die Gründe. Zurück, Rückzug, ich wollte mich einfach nur zurückzuziehen.“

„Das kann ich alles sogar sehr gut verstehen“, tröstend blickte er mich an. Er saß seltsamerweise aufrecht in diesem formlosen Sack, hatte die Beine ineinander verkreuzt. „Die Angst vor der inneren Leere, leere Beziehungen, leere Ideale, das sind erschreckende Erfahrungen. Da fragst Du dich, ob diese unbeständige Außenwelt nicht eine bloße Projektion

Das Lächeln der Souveränität -140- der eigenen irrlichternden Ideen ist. Die Reduktion der irritierenden Erfahrungen, was liegt da näher, als sich in einer Höhle niederzulassen.“

Mit einem vagen Verdrehen der Augen allein vermochte ich noch meine Empörung über unerbetene Tröstversuche zu äußern

„Hier kannst Du den außenseitigen Höllenlärm reduzieren. Ich habe Dir früher mal von einem Erlebnis zur Weihnachtszeit erzählt, als ich mit meinem Schlitten im Schnee stecken geblieben bin. Es war schon etwas dunkel geworden, am hohen Himmel die Sterne leuchteten hell. Ich blickte über das weite Feld vor Korbach. Das war eine weiße, weite Welt mit verschlafenen Wäldern am Horizont. Das war für mich ein riesiges Ereignis, das widerfuhr mir dort in einer meiner stillsten Stunden.“

Endlich hatte er von seinen Tiefenforschungen Abstand genommen. Meine innere Spannung ließ nach, und ich konnte mich genau an die Geschichte erinnern.

„Wir hatten doch noch vor Deinem Abitur hervorragend intensive Gespräche über den Einbruch des Fantastischen in die Realität, wie die Übergänge von den Geschehnissen, erlebt wie im Fiebertraum, hin zur Wirklichkeit und wieder zurück gestaltet sind. Wir sprachen über eine als abstrus erscheinende Realität und Absurditäten, die als höchst realistisch in Erscheinung treten.“

Noch in meiner Schulzeit war ich mit einem Referat beschäftigt. Mein Deutschlehrer war eines Tages zu der Auffassung gelangt, dass ich die Welt nicht immer nur mit Brecht erklären könne. So verhalf er mir zu einem anderen Autor, der E.T.A. Hoffmann hieß. Über dessen „Nussknacker und Mausekönig“ - Geschichte sollte ich ein Referat schreiben.

Mit Hermann debattierte ich damals über das Verwirrende an diesen Übergängen von traumhaft Groteskem zu einer als gewiss empfundenen Tatsächlichkeit. Das war es, was Hermann von seinem himmlischen Erlebnis auf dem Schlitten erzählen ließ. Alles nervös Aufreibende konnte dadurch zumindest zeitweise still gestellt werden. Mit einer solchen Ruhe konnte man sogar eine souveräne Distanz zu einer traumhaft abstrusen Realität bekommen.

Das Lächeln der Souveränität -141- „Ich erinnere mich gerne an die damaligen Gespräche, und insgesamt ist für Dich auch ein hervorragendes Referat bei rausgekommen. Dein alter Lehrer Schmeil war doch begeistert. Sag mal, hast Du nicht Lust, daran wieder anzuknüpfen? Wir haben doch gemeinsam recht schöne Projekte entwickelt, und Du hast mit Deinen Ideen und Deinem Einfallsreichtum sehr viel dazu beigetragen. Hier in Deiner Höhle, das waren doch auch stille Stunden der Besinnung für Dich. Fühlst Du Dich fit, wieder in die verwirrende Welt einzutreten?“

Der Kerl schmeichelte mir ohne Ende. Ob ich darüber böse werden sollte? Eigentlich wollte der doch nur was von mir. Aber irgendwie hatte er ja recht, ich konnte hier oben schließlich nicht verschimmeln.

„Emmy ist zur Zeit auch in Frankfurt, Du weißt, unser alter Korbacher Discjockey, spielt jetzt in einer Berliner Band. Die spielen viel von dieser amerikanischen Gruppe Talking Heads, mit sehr poetischen Texten, und wir haben uns gedacht, wir könnten darum mal ein Theaterstück stricken. So weit mir bekannt ist, kennst Du die Band auch gut. In den Katakomben unter dem Hauptbahnhof habt ihr doch damit heftig experimentiert. So in der Art zum Beispiel könnte ich mir gut was vorstellen, das könnten wir auf die Bühne bringen.“

Jetzt hatte er mich erneut völlig verblüfft. Woher wusste Hermann von den Geschehnissen in den Tiefen des Hauptbahnhofs? Er wartete meine Frage erst gar nicht ab.

„Du wunderst Dich jetzt sicherlich, aber Frankfurt ist recht klein.“ Er hatte mit Jane ein Verhältnis, und diese wiederum war die Schwester von Jim, studierte Japanisch. Sie hatte Hermann berichtet, was sie von ihrem Bruder erfahren hatte.

Hermann schmeichelte nicht allein, er lockte mit saftigen Ködern. Aus den Katakomben wollte er mich raus holen. „Ich kann Dir vermutlich eine Stelle bei einem Marktforschungsinstitut besorgen. Die machen jetzt umfangreiche Jugendstudien und brauchen Leute. Die zahlen gut, wahrscheinlich besser als die Post, und die Arbeit ist dabei sicherlich spannender.“

Er hatte mich fast im Boot, doch bat ich mir etwas Bedenkzeit aus. Etwas Widerstandskraft musste ich schon noch zeigen, und außerdem wollte ich vorher „Die Dämonen“ zu Ende lesen. Und dann war gestern in mir wieder ein Interesse an wissenschaftlichen Themen

Das Lächeln der Souveränität -142- erwacht, urplötzlich im Montanus in der Tiefebene. Dort stand ein Buch über jugendliche Alltagskulturen, Rocker, Popper, Punks und Hippies. Das hatte viel mit Rock- und Popmusik zu tun, und es interessierte mich. Ich nahm das Buch. Und es wollte gelesen werden.

Hermann erhob sich und ging ein paar Schritte durch das Zimmer, schüttelte die Beine aus. „In Deine Höhle kommt immerhin noch viel Tageslicht herein.“ Er blickte durch das Fenster und lachte. „Das ist lustig, von hier oben blickst Du tief auf den Größenwahn herab.“

Unten befand sich das recht neu eröffnete „Café Größenwahn“. Da liefen mir zuviel der alten Spontibekannten rum. Da ging ich nicht rein.

„Wie war doch gleich diese Geschichte aus der griechischen Mythologie? Von diesem Jüngling, der ermüdet von Leidenschaften und der Hitze an einem Quellwasser niedersinkt? Er sieht darin sein Spiegelbild und verliebt sich darin. Du hast Dich mit der Höhle voll über den Narziss erhoben. Das ist ein gutes Zeichen. Du siehst immer das Licht und weißt, wo der Ausgang ist.“

Was der nur wieder zu deuten und zu interpretieren hatte, um den Narziss und den verbundenen Theorien über den Größenwahn. Ich war rein zufällig in diese Eremitage geraten.

Als er sich zur Tür wenden wollte, erblickte er das große weiße Feld auf der Tapete. „Du denkst sicherlich, wo ich wohl hier überall Bedeutungen riechen würde. Aber wenn ich jetzt dieses Weiß sehe, dann bewege ich mich in die reine Leere. In der Leerheit gibt es keinen Körper, keine Empfindung. Aber sie ist eine unerschöpfliche Quelle der Energie. Heraus aus dem großen kreisrunden Loch der Dunkelheit, das treibt auch mich. Das ewig quälende Ich hinter sich zu lassen, das ist ein großes Ziel.“

„Das Häuten des Gesichts hat eine psychologische Bedeutung, aber es steckt viel mehr dahinter. Das Ich ist die Maske, die herunter muss, um reines Sein hervortreten zu lassen. Das ist der exakt umgekehrte Narziss. In dem heruntergelassenen Zustand hast Du die Loslösung von allen Beschwernissen erreicht.“ Er schenkte mir sein faszinierendes Lächeln

Das Lächeln der Souveränität -143- Ich sah ihm beim Treppenabgang hinterher. Wenn er seine Deutungen und Interpretationen entfaltete, dann konnte ich ihn zumeist ja noch verstehen. Aber diese letzten Äußerungen, die klangen mir sehr mysteriös. Verlockend hörte sie sich allerdings an, diese Loslösung. Das musste ich noch einmal ansprechen. Ebenso reizvoll fand ich dies Bild von dem steckengebliebenen Schlitten. So könnte ich auch eine weite, weite Welt über meiner Höhle etablieren, in aller inneren Ruhe. Dank meiner Beharrlichkeit war die dunkle Wolke hinter dem verschmutzten Fenster verschwunden. Sie war mir nicht gewachsen.

# „Jesus died for somebody's sins but not mine.”

So ruhig fließt der Main. So floss er wohl schon immer, auch bevor er an sein jetziges Bett gefesselt wurde. Früher legte er sich auch schon einmal gerne in Nebenbetten, das ist vorbei. Man hat ihn gezähmt, wohl prophylaktisch vollgepumpt mit Ritalin. Zähmen wollte man auch den Rhein, doch bricht der manchmal aus der Ruhigstellung aus. Dann erhebt er sich hooliganartig aus seinem Bett und ersäuft nahegelegene Anrainer.

Der Main mäandert auf seinem Weg gen Westen zwar immer noch kraftvoll von Nord nach Süd und zurück, bleibt jedoch tranquilized ruhig. Ich fahre gerne an seinen Uferstraßen mit dem Fahrrad entlang. Die Ruhe strahlt aus.

Ich habe mich mit Dieter zu einer Tour verabredet, bis Mainz, vielleicht nur bis Hochheim. Das hängt davon ab, wieviel wir reden. Ich möchte von ihm etwas zu meiner geplanten Ich- AG wissen. Er hat Erfahrungen in der Richtung.

Wir kannten uns seit der gemeinsamen Tätigkeit zu den Jugendstudien, die mir Hermann vermittelt hatte. Dieter hatte damit seine Diplomarbeit verbunden, hatte also auch den Statistikschein längst in der Tasche. Er half mir viel bei den Berechnungen und ich bemerkte, dass ich davon schon mehr begriffen hatte als gedacht.

„Mein Businessplan steht eigentlich fest, ausformuliert und so. Aber jetzt kommen mir einige Zweifel, ob dieser Plan doch nicht zu kurz greift.“ „Businessplan“, beim Aussprechen des Wortes schon komme ich mir etwas lächerlich vor

Das Lächeln der Souveränität -144-

Ich weiß nicht genau, was es ist. Es hört sich irgendwie gestelzt an. Aber es hat auch was Totalitäres an sich, als sollte dieser Plan für's Geschäft das gesamte Leben ergreifen. In meinen Vorbereitungskursen war schon immer von der Notwendigkeit die Rede, das eigene Produkt anpreisen zu können wie ein Heilprediger, ein amerikanischer gar.

Dieter meint, ich solle den Plan so stehen lassen, wie er jetzt sei. „Der ist soweit doch auch arbeitsamtkonform. Differenzierungen schätzen die vom Amt gar nicht. Alles, was aus deren Regelkanon fällt, das stößt auf Misstrauen und leicht auf Ablehnung. Wenn Dein Antrag erst einmal durch ist, dann kannst Du den Plan oder Deine Tätigkeit nach Deinen Vorstellungen umgestalten.“

„Arbeitest Du eigentlich ständig bis in die späte Nacht hinein? Bist Du ständig unzufrieden, suchst permanent nach neuen Chancen? Verfolgst Du Deine Ziele wie ein Besessener?“

Dieter lachte. „Du hast Deine Lektionen zu der Persönlichkeit des Existenzgründers gut gelernt. Aber weißt Du, ich habe Freunde, die mir wichtig sind. Ich habe eine Lebensgefährtin, und, und das ist ganz neu, ich werde auf meine alten Tage auch noch Vater. In einem halben Jahr ist es soweit.“

Das überrascht mich. Mich überrascht aber auch die Distanziertheit Dieters zu dem Businessplan. Die beruhigt mich allerdings auch. Er ist gewissermaßen ein alter Hase im Beratungsgeschäft, ist durch verschiedene Tätigkeiten durchgegangen. Er hat nach dem Diplom in derselben Werbeagentur wie ich gearbeitet. Er war der Kontaktmensch zu den Firmenkunden. In der Agentur sah er für sich schließlich keine Entwicklungsmöglichkeit mehr. Er ging zu einer anderen. Da ging es auch nicht weiter, und so landete er in einer Marktforschungsfirma. Die hatte nur drei Kunden, einen großen und zwei kleine. Als der große, eine bedeutende Reifenfirma absprang, konnte der Laden dicht machen. Die Umsätze trugen nicht mal mehr die Mietkosten.

Eine Unternehmensberatung war die folgende Station auf seinem Berufsweg. Dort haben ihn nach einigen Jahren firmeninterne Konkurrenten ausgebootet. Er hatte mittlerweile auch eigene Vorstellungen zu einem Beratungskonzept entwickelt.

Das Lächeln der Souveränität -145- „Bis in die Puppen zu arbeiten, ständig rastlos auf Suche zu sein, eben, richtig besessen zu sein von seinem Job, das sind die Mantras dieses Denkens. Das Wort ‚Heilprediger’ bezeichnet den Sachverhalt sehr gut, es macht das religiöse Fundament sichtbar, auf dem das Ganze beruht. Du musst nur fest glauben: ‚Noch nie zuvor in meinem Leben war die Chance so groß, Erfolg zu haben.’ Du musst nur einen inneren Schalter umlegen, und schon kannst Du aus Deinen Schwächen Stärken zaubern. Wenn Du nicht richtig glaubst, dann hast Du auch keinen Erfolg. Die Höllenstrafe des schändlichen Misserfolgs steht massiv drohend im Hintergrund.“

„Der Mensch sollte auf Knien rutschen und sich geißeln zumindest bis zum ‚break even’ – Punkt.“ Dieter redet sich richtiggehend in Rage. Kraftvoll haut er in die Pedalen und fährt immer schneller. Ich muss mich sputen, um ihn noch zu verstehen

„Rund um den Heiligenschrein des Erfolgs ist mittlerweile eine ganze Korona von Gründungslegenden angeschwollen. Theologische Schriften, wenn Du willst, Katechismen, Andachts- und Gebetsbücher gibt es zuhauf.“

Ich fahre wieder auf gleicher Höhe mit ihm. „Gibt es in dem Rahmen nicht auch etwas zu diesem sogenannten ‚USP’, diesem ‚Alleinstellungsmerkmal eines Produkts?“ Ich versuche meine Frage etwas besänftigend scherzhaft auszudrücken, lamentiert Dieter doch mittlerweile heftig bewegt. Mich bewegt das Thema trotz meiner beruhigenden Tonart, zweifele ich doch selber etwas an der Einzigartigkeit meines Angebots.

Ich bin mittlerweile zu der Auffassung gelangt, dass die Regelungsfähigkeiten des Staates sowieso dem Ende entgegen gehen. Der Einzelne ist danach für sich selber zuständig. Aus dem Grund ist mir das Selbständigwerden wichtig. Ich will keinen Fehler begehen.

Dieter bemerkt wohl die Ernsthaftigkeit meines Anliegens, und er schaut mir in die Augen. „Auch hier gilt die Feststellung, dass Deine Sache arbeitsamtkonform ist, und die Förderung damit wohl erfolgreich sein wird. Also lass es so stehen.“

Plötzlich schaut er mich lustig an. „Du weißt immerhin, was dieses ‚USP’ bedeutet. Ich habe kürzlichst die Meldung einer Industrie- und Handelskammer gelesen, worin sich bitter

Das Lächeln der Souveränität -146- beschwert wird, dass Ich-AG – Kandidaten überhaupt nichts über die Einzigartigkeit ihres Produkts wissen. Eine wachsende Mitnahmementalität wirrd ihnen unterstellt.“

Er lacht „Das sind alles Ungläubige, Ökonomie-Heiden. Kommen nur zum Amt, um die milden Gaben einzufahren, aber den Katechismus ignorieren sie. Diese Heuchler! Ist das nicht furchtbar?“

Dieter irritiert mich. Das klingt schon recht zynisch. Auch er vertrat lange Jahre den Standpunkt, dass der Einzelne in seiner Leistung stärker zu fordern sei, und dass der Staat ihm vielmehr Möglichkeiten einräumen sollte. Dieter musste sich deswegen des öfteren den Vorwurf anhören, er sei auch so ein Neoliberaler.

Ein seltsamer Begriff, der anscheinend alles zu enthalten schien, um einen Menschen abzuwerten, ihn gar moralisch fertig zu machen. Im irgendwie gearteten Gegenlager konnte der Begriff allerdings eine moralische Aufwertung bedeuten. Jedoch gab es auch Leute, die einem Lager zugeordnet wurden, sich aber überhaupt nicht zugehörig fühlten.

Dieter nimmt seine Hände vom Lenker. Ich sehe ihn schon den Damm hinunterstürzen. Ich fahre neben ihn. Er erhebt gemächlich seine Hände und summt eine Melodie, hört sich klassisch an, so nach Mozart vielleicht.

„Schau Dir die Bäume hier an, sie wachsen nach oben, der Sonne entgegen. Ihre innere Kraft zieht sie dorthin. Das ist beim Menschen der Optimismus.“ Er spricht ganz langsam, getragen. Hinter ihm erhebt sich imposant der Taunus als Kulisse nach oben, mit Königstein, der Burgruine. Beschwörend fährt er fort.

„Wir müssen optimistisch, müssen positiv denken, der Sonne entgegen. Das heißt dann, dass wir nach Chancen suchen müssen. Das heißt, nicht nach all den Fehlern suchen wir, nicht den Schwächen. Konzentrieren wir uns ganz tief, tief in unserem Inneren, tief auf das Positive. Noch niemals ist ein Mensch durch Kritik besser geworden, denken wir somit gut von uns.“ Ergreifend hört sich seine Rede an.

„Denken wir doch positiv, aufbauend, von dem frisch gepressten Aloeverasaft, den wir verkaufen wollen, schöpferisch von der Haftpflichtversicherung, ganz formidabel von den

Das Lächeln der Souveränität -147- magnetisierten Schuhsohlen. Das wird der schönste Tag in unserem Leben. Unsere Zukunft wird von unseren Wünschen bestimmt, verkaufen, verkaufen, verkaufen, weg mit all den Befürchtungen. Die Kunden sind wild erpicht auf unser Produkt. Wir gehen der Sonne entgegen.“

Hypnotisierend hört Dieter sich an. Ich befürchte schon, dass er nun freihändig abgehoben durch das Leben stürzt. Dabei stand er für mich immer mit beiden Beinen in der Realität. Erst jetzt fällt mir auf, dass er keine eng anliegende Fahrradhose trägt, so wie früher, wie frisch aus dem Rennstall von Team Telekom ausgebüxt. Er trägt nur eine einfache kurze Hose und ein grünes Polohemd.

Er ergreift wieder den Lenker. „Autosuggestion, das musst Du wissen, das ist die technische Lösung. Damit kreierst du dich als gut, toll, einzigartig, zu einem Star. Zumindest für dich, aus dir selbst heraus. Eine Bestätigung von außen benötigst du längst nicht mehr. Das ist wie bei den Bäumen. Sie wachsen der Sonne entgegen, trotz dem sauren Regen, trotz der heftigen Stürme, die sie entwurzeln und trotz irgendwelcher Borkenkäfer, die an ihnen herumfressen. Sie scheren sich nicht um die Umwelt, und zur Belohnung bekommen sie unverdauliche Mengen an Kohlendioxid, das mögen sie, bestimmt. Und sie können davon noch einiges für das Alter zurücklegen, bei einer CO2 – Bank vielleicht.

Autosuggestiv eingerichtet kannst Du alles verkaufen, hundertprozentige T-Shirts von Tünnes und Mauritz, Zahnspangen in den Farben der Frankfurter Eintracht, Handyklingeltöne in der persönlichen Furztonlage, aber vor allem Dich selber. Alles dreht sich ums Verkaufen heutzutage. Ein massives und nachhaltiges Sich-Einreden ist der Erfolgsgarant, du musst dein Ich dafür funktionalisieren. Du musst Dir sagen, ‚ich kann, was ich will’, möchte der Mensch doch gern allmächtig sein.“

Dieter hängt nach vorn gebeugt über dem Lenker und malträtiert die Pedalen. An einer heruntergekommenen Fabrikanlage im Ziegelsteinlook bin ich wieder gleichauf mit ihm.

„Du musst Dir merken: Das „Sich-Einreden“ ist parallel dem USP zu denken, alles einzigartig, grandios. Tausende von Menschen in Deutschland wollen dir das Gleiche verkaufen, alles von der Stange und jedes Einzelne davon ist außerordentlich. Das muss man zumindest nach außen behaupten.“

Das Lächeln der Souveränität -148-

Wir fahren durch einen schön angelegten Park am Main. Gemächlich zieht ein Schiff an uns vorbei, vollgeladen mit Metallschrott. Es herrscht eine beruhigende Stimmung. „Du hältst nicht viel von diesem USP, oder?“ Dieter blickt mich nun leicht aggressiv an.

„Also, wenn Du es immer noch nicht geschnallt hast, dann jetzt noch mal im Klartext. Du musst Deinen Geldgeber glauben machen, dass Dein Angebot von einer großartigen Exzellenz ist. Deine potentiellen Kunden müssen das natürlich auch glauben. Wenn die das überhaupt zur Kenntnis nehmen. Das ist doch alles Gelaber in der täglichen Verkaufspraxis, aber egal.“

Er lehnt sich wieder nach vorn. Doch plötzlich bremst er, steigt vom Rad ab.

„Hast Du einen Platten?“

„Na ja, nicht direkt. Ich muss mich mal etwas entspannen. Mich regt das alles immer noch zuviel auf.“ Dieter schüttelt die Beine aus, streckt sich, reckt den Hals nach oben und schaut in den Himmel.

„Es ist die alltägliche Knochenarbeit, sich bei möglichen Kunden bemerkbar zu machen. Die werden doch alltäglich vollgekoffert mit Prospekten, Bildern, Texten und Tönen. Alle schreien ‚Kauf mich, kauf mich. Ich mach Dich so glücklich.’ Behaupte dich einmal daneben! Du bist in ein wild bewegtes Meer gestoßen und versuchst dich an der Oberfläche zu halten. Du ruderst mit den Händen und strampelst mit den Beinen. Einen Arm musst Du dabei immer mal nach oben reißen, um Dich bemerkbar zu machen. Keine rettende Insel ist in Sicht und auch kein Unterseeboot, um drunter durch zu schippern.“ Er steht vor seinem Rad, die Hände in die Hüften gestemmt.

„Also erzähle dem Amt von der berauschenden Einzigartigkeit Deines Produkts.“ Dieter steigt wieder in den Sattel. „Das muss in dem Moment, wo Du es darstellst, mitreißend klingen. Danach ist es gleichgültig. Du musst bei allen Sachen auf den Moment zielen, Du musst prächtig beeindrucken, Sicherheit vorgeben, Druck erzeugen, schnell verkaufen und dann weg.“

Das Lächeln der Souveränität -149- Wir fahren weiter, vorbei an einer ehemaligen und jetzt recycelten Kiesgrube.

„Ich hatte viel Hoffnung in die Organisationsberatung gesetzt, hatte viele Adressen, um Kundenkontakte aufzubauen. Doch sind nur noch die wenigsten an einer solchen Beratung interessiert.

Selbstorganisation, so lautet das Stichwort für die Gestaltung von Betriebsabläufen. Die Berufswelt ist ein Dschungel, mit Gegnern über und unter dir, von hinten selbstverständlich und einigen von vorn. Sie kommen von allen Seiten, das blanke Messer in der Hand. Fairness ist ein romantisches Wort, eine Illusion aus einer vergangenen tiefmythischen Zeit, einer heilen Zeit der ungefähren Gerechtigkeit.“

Schlangen und Kröten treiben sich jetzt in der ehemaligen Kiesgrube rum. An sumpfigem Gelände geht es lang, schwefelreich, mit einem Faulborn, der hier entspringt.

„Ich kann Dir all die Literatur über die Kunst der Kampfrhetorik benennen, über verbotene Rhetorik, über die Kunst des Krieges, die schon Mao Tse Tung nutzte, um jeden, wirklich jeden Feind zu bekämpfen, vor allem den, aus dem direkten Umfeld.

Das perfekte Einsatzgebiet dafür liegt im Bereich der Arbeit, von Büros und sonstigen Jobs. Auf den dortigen Krieg muss man antworten, und dafür liegt mittlerweile eine ausgefeilte Kunst der Kriegsführung vor. Sie zeigt, wie man die Kollegen auf´s Kreuz legt. Mobbing muss gepflegt werden, wer das ernst nimmt, der kennt die rund dreißig Formen des Mobbings, der kann kunstvoll die lieben Kollegen, oder die Untergebenen auf die Fresse fliegen lassen. Denn die sollen es schließlich nicht zu schnell merken, das ist die hohe Kunst. Bitte nur keine offene Feldschlacht!

Also, ich will nicht unfair sein, es gibt auch die technisch ausgefeilte Kunst, Freunde zu gewinnen. So unter uns gesagt, das passt gut zusammen. Du erklärst jemanden zu deinem Freund, du erkennst ihn an, munterst ihn auf, machst all das natürlich sehr herzlich. Das kannst du schnell lernen. Und dann hast du ihn im Boot. Du musst nur immer daran denken, dein Freundschaftsanliegen soll nie als Schmeichelei daherkommen. Das ist nur eine Frage der richtigen und erlernbaren Technik.

Das Lächeln der Souveränität -150- Der zu gewinnende Freund soll es immerhin ernst nehmen, das ist wichtig für dein weiteres Vorgehen. Also warum solltest du dich überhaupt um diesen „jemand“ als Freund bemühen? Du willst doch was von ihm, ihm vielleicht irgendwas andrehen, oder? Und wenn er dann im Boot ist, dann steuerst du das Ganze. Mach ihn nass, so richtig nass, diese vertrauensselige Pflaume. Dein Einsatz muss sich doch auszahlen. Du hast wertvolle Lebenszeit investiert in diese Figur, mit ihren dämlichen Fragen. Und die aufgewendete Zeit, das lehrt uns die moderne Ökonomie, muss kalkulierbar berechenbare Arbeitszeit sein.

Das ist die betriebliche Selbstorganisation heutzutage. Wer braucht da noch eine Organisationsberatung? Das ist doch alles nur eine sozialtechnizistisch getunte Humanitätsduselei.

Trotz all der kriegerischen Turbulenzen fließt der Main verschlafen hinter den Weidenbäumen.

„Ich verdiene mein schmales Geld jetzt mit Kursen zum Aggressionsmanagement, also in erster Linie an Schulen in Frankfurt. Das ist in den Schulen ein topmodisches Thema. Du weißt, meine Frau arbeitet im städtischen Schulamt. Es ist mir ja selber furchtbar unangenehm, aber darüber kriege ich die Kontakte. Was soll ich denn machen, wenn es nicht anders klappt? Verdienen tue ich sowieso nicht viel, doch habe ich gleichzeitig meine materiellen Ansprüche reduziert.“

Wie streng gekämmt wachsen die ersten Reihen von Rebstöcken rechts von uns hoch.

„Weißt Du, ich bin wieder in die christliche Kirche eingetreten. Du hast doch nichts gegen die Kirche?"

„Jesus died for somebody's sins but not mine.” Ich darf jetzt nicht singen. "Nein, nein, das kann ich alles sehr gut verstehen."

„Das finde ich wirklich toll. Du warst schon immer sehr verständig. Ich finde diesen modernen Lebensstil einfach als zu heftig, es gibt nichts Glaubwürdiges mehr darin. Man begibt sich hinein, und dann kommen schon die Querschüsse von allen Seiten. Dagegen steht Gott. Ich glaube, durch ihn erfahre ich Sicherheit."

Das Lächeln der Souveränität -151- Er blickt mir tief in die Augen. „People say beware, but I don’t care.“

"Oh ja, das Leben ist aufreibend. Ich kann Dein Vorgehen bestens verstehen." Die Worte rollen begütigend aus mir raus. „The words are just rules and regulations to me, me.”

Aber plötzlich ist es an ihm, der brüllt. "Du alter Schleimer Du. Auch Du gehst nach der Methodik der Manipulation vor. Mir kannst Du allerdings nichts vormachen, ich kenne Dich. Du schleimst Dich soeben bei mir ein, tust so verständig. Dabei weiß ich doch genau, dass Du mit einem Gott wahrlich nichts am Hute hast. Du betreibst die Strategie der manipulativen Rhetorik, Einschleichen, willst meine Zuneigung erschleichen"

„And then I hear this knockin' on my door.” Ich könnte geradewegs auf die Knie fallen und stöhnen. „Das habe ich doch nie so gemeint.“

„Das sagen alle. Aber Du hast Glück, weil ich Dich kenne. Doch sei Dir bewusst, wenn ich gesagt hätte, ‚mein Chef musste mich ficken, tief in den Arsch’, dann hättest Du auch gesagt, ‚ich kann Dich gut verstehen, Dein armer, sanfter Anusmuskel’. Einstehlen nennt man das.“ Aufgebracht betätigt er die quietschenden Bremsen.

„Gloria. Gloria“

Wir stehen nun am Bahnhof unterhalb von Hochheim.

„Wir sollten hier bleiben, denke ich. Bis Mainz, das könnte ein bisschen knapp werden.“ Ich habe wohl die richtige Tonart getroffen. Er entspannt sich und steigt ab vom Rad. Er stimmt mir sogar zu. Aus mir nicht erklärlichen Gründen schieben wir nun die Räder gemächlich durch den Weinberg hoch nach Hochheim.

„Diese Einschmeichelei, weiß Du, die betreibst Du ja noch ohne Hintergedanken. Aber sie ist als eine soziale Technik durchaus bekannt, gezielt kann man sie einsetzen. Dazu gibt es teure Fortbildungsseminare, und auch die Literatur.“

Das Lächeln der Souveränität -152- Angeheiterte Menschen kommen uns entgegen. Es ist schwül. Eine Kirche steht oben markant am Hang, triumphierend. Der Spitzhelm des Turms streckt sich tief in den Himmel, bietet Orientierung wie eine Kompassnadel.

„Diese Technik findet ihre Opfer. Das war mir schon vor zwanzig Jahren klar, in unserer Werbeagentur. Weißt Du, dass die Dich dort erbarmungslos ausgenommen haben? Die haben Dir geschmeichelt ohne Ende. Und Du hast ohne Ende all Deine Kenntnisse zum Thema Lebensstil ausgepackt, ohne Not, ohne finanzielle Gegengaben. Erzählt, geplaudert, geredet hast Du noch und nöcher. Und CD Müller hat sich alles flugs notiert. Die Agentur hat darauf ihr Konzept entwickelt. Die sind richtig erfolgreich damit geworden.“

Wir nähern uns einem Tordurchgang. „Sei mir bitte nicht böse, aber Du bist manchmal so vertrauensvoll, so richtig kindlich. Man stopft oben ein paar Schmeicheleinheiten hinein und unten an der Ausgabe klingelt es, es klingelt und klingelt, ohne Unterlass, es hört nicht auf.“

Müdigkeit ergreift mich, eine tiefe Müdigkeit. Freundlich will ich doch sein. Ein bisschen freundlicher sollte ich sein. So sagte es beständig meine Mutter zu mir. Und ich werde es sein! Allen abgebrühten Strategien zum Trotz.

Wir schreiten durch das Tor in die Stadt. Eine herrliche Rosenanlage empfängt uns. Sie duftet voll schwerer Süße. Hermann freilich zerrt mich in Richtung Kirche.

„Bevor wir reingehen, noch ein letztes Wort zu unserem Thema. Du musst bei Deiner Tätigkeit als Selbständiger vor allem darauf achten, dass Du die Zeiten Deiner Beschäftigung genau notierst, ganz rigide. Auch da neigt man dazu, dem Kunden immer wieder Informationen und Hilfestellungen so nebenher anzubieten. Auch das läuft unter dem Titel ‚erschlichene Vertrauensseligkeit’. Schreibe alles auf und lasse es sogleich gegenzeichnen.“

Er öffnet die Tür. Schön kühl ist es hier drin, weiß gestrichen und recht barockig gehalten. Weiter vorn befindet sich ein aufwendiger Gerüstaufbau mitten im Kirchenschiff.

Dieter ist informiert: „Dort oben entsteht zur Zeit wieder das phantastische Deckenfresko aus dem Barockzeitalter. Das war zuvor alles dunkel gehalten, nachdem im Krieg hier eine Granate einschlug. Die Bedachung der Kirchengemeinde wird jetzt wieder himmlisch.“

Das Lächeln der Souveränität -153-

Es ist ruhig in der Kirche. Der Gerüstaufbau ist abgeriegelt, und es ist nicht erkennbar, ob der Künstler ganz oben am Fresko malt. Wir setzen uns in eine Kirchenbank, legen den Kopf nach hinten und betrachten die Malereien über uns.

„Meine Aussage, dass ich wieder in die Kirche eingetreten bin, die stimmt. Sie war nicht als eine Grundlage gedacht, um Dich zu provozieren.“

„Oh, ich kann Dein Vorgehen bestens verstehen.“ Ich wiederhole einfach den Satz. „Ich kann es sehr gut nachvollziehen. Berserkerhaft wild tritt uns die Welt, in die wir hinein geboren wurden, manchmal gegenüber. Wir sind da mitten hinein geworfen. ‚An actor out on loan’. Ausgeliefert den Entladungen von erregten Kräften und denen folgen unvermittelt nichtige Leerläufe, nichts tut sich. Wo soll das bloß hinführen? Gibt es da überhaupt ein Ziel? Die wilden Kräfte suchen sich selbst ihre momentanen, kleinen Ziele. Alles will weitergehen, sich steigern gar. Aber wohin treibt das richtungslose Strudeln? Gott ist dagegen für Dich zu einem transzendenten Rückzugsziel geworden.“

Oben an der Decke der Kirche scheinen die Namensgeber der Kirche, Peter und Paul, Petrus und Paulus, vor den Toren Roms zu stehen. Sie missionieren, oder so.

„Ich danke Dir für Dein Verständnis“, sagt Hermann zu mir. „Die Provokation vorhin war nicht nur eine rhetorische Übung von mir. Auch ich bin bei dem Thema ‚Kirche und Gott’ immer noch höchst empfindlich. Es gibt viele der alten Bekannten, die sich lustig machen über meinen Kircheneintritt. Höhnisch fragen sie mich, ob mir der irdische Wind zu heftig ins Gesicht geblasen habe, dass ich mich jetzt in die Arme eines übermächtigen Gottvaters werfen müsse. Solche Bemerkungen schmerzen leider immer noch.

Es schmerzt, Leute zu sehen, die sich immer noch ihren jugendlichen Idealen verpflichtet sehen. Sie bezeichnen das als ‚Ehrlichkeit sich selbst gegenüber’. Sie hatten einmal ein Ideal und erachten es als moralisch verwerflich, wenn man diesem untreu wird. Das ist eine tief konservative Haltung. Dabei ist der Mensch doch entwicklungsfähig, kann Neues erkennen, sich darauf einstellen, Neues erproben.“

Das Lächeln der Souveränität -154- Es knarrt in dem Gerüstaufbau. Irgendjemand steigt die steilen Treppen hoch. Ob es der Künstler ist?

„Der Maler muss nicht nur die noch vorhandenen Reste der Deckenmalerei renovieren, der muss sogar das Loch, das die Granate auch in das Gemälde gerissen hat, rekonstruieren.

Doch wieder zu meiner Geschichte, ich fühlte mich in der Organisationsberatung tatsächlich wie von einem vorwärtspreschenden Pferd geschmissen, fast wie Paulus, von einer Granate vielleicht, mit einem mal mit dem Rücken am Boden liegend, die Arme hilflos in die Luft gestreckt und unfähig, mich zu regen, noch irgendwas zu sehen.“

Ich sage ihm, dass ich seine Provokation auch nicht als Beleidigung empfunden habe. „Es tut manchmal gut, wenn man auf seine Schwächen aufmerksam gemacht wird. Auch wenn es schmerzt. Es ist tatsächlich so, dass diese Freundlichkeit oft mit einer Leichtgläubigkeit einhergeht, dass man dadurch leicht abgeschöpft und ausgenutzt werden kann. Das ist ein Loch im Selbst, wodurch man leerzulaufen droht. Und das bedroht letztendlich die Haltung der Freundlichkeit selber. Kein Mensch erträgt eine Frustration auf die andere.“

Ich habe einen hohen Grad an innerer Ruhe und Ausgeglichenheit erreicht. Ich denke, dass ich mich jetzt intensiv dem Dieter widmen muss. Der glüht.

„Es wird einem nichts gedankt, die Menschen danken immer weniger. Sie zocken sich ab. Sie haben die Ideologie dafür parat, dass nur der Flotteste überlebt, die Lahmen werden ausgemerzt. Gewissen, das ist ein Fremdwort, noch mehr das von der Stimme Gottes. Gott ist ein unsichtbares Wesen, und alles, was diese Menschen erlangt haben, sehen sie als Produkt ihres eigenen geierhaften Strebens nach Erfolg.

Aber Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Wesen.“

Dieter baut sich ungestüm zwischen den engen Kirchbänken auf, wird richtiggehend laut. „Diese Wesen, die auf alles ihr natürliches Anrecht anmelden, leben wie die Ratten, mit flottem Griff auf abzunagende Knochen. Die liegen eben so zufällig, griffbereit vor ihnen. Sie, die richtigen Ratten, führen dabei immer noch ein soziales Leben, auch wenn sie von Gott nichts wissen und ihm nicht danken müssen. Diese beißenden Nager bilden keine

Das Lächeln der Souveränität -155- Gedanken im Kopf wie der Mensch, um mit ihnen letztendlich dem Nichtigen zu verfallen. Ihr unverständiges Herz ist darum auch nicht verfinstert.“

Ein krachender Laut ist vom Gerüst zu hören. Dem Maler oben ist vermutlich der Pinsel aus der Hand gefallen.

„Lieber Dieter, die schöne Kanzel vorn ist Dir für Deine lutheranische Strafpredigt versperrt, Du kommst da nicht rein. Du weißt zudem, dass Dein Missionieren bei mir nicht ankommt. Ich habe eine tiefe Abneigung gegen raumergreifende, quasi imperialistische Ideen, auch wenn sie religiös sind. Du scheinst Dir selbst noch nicht so sicher zu sein.

Ein Mensch, der Gott sucht, wird ihn finden. Ich respektiere Deinen Eintritt in die Kirche. Wir stimmen in der Bewertung all der kümmerlichen Menschen überein, die sagen, jedes Knöchlein, das ich habe, das habe ich. Und die, die keine Knöchlein finden, fühlen sich niedergeschlagen, erfolglos, mit Jim Morrisson ‚Like a dog without a bone.’ Wir stehen beide den erbärmlichen Menschen gegenüber, die lebenspragmatisch sagen, dass allein das körperliche Überleben das Bewegende sei. Die dir ein aufgeklärtes ‚so sei es nun mal’ entgegen halten.“

„Gut, gut.“ Dieter hat sich wieder hingesetzt.

„Hermann hat auch nicht an Gott geglaubt. Er war ein Freidenker, hatte es mehr mit Zen, Buddha, Satori und so rätselhaften Koans. Er war faszinierend in seiner Erscheinung, in seiner Glaubwürdigkeit. Seine Selbstsicherheit hat mich immer begeistert. Sein Selbstmord hat mich zutiefst verstört.“

„Er hätte viele offenkundig scheinende Gründe für seinen letzten Schritt haben können. Ihm war in letzter Zeit klar geworden, dass er gar nicht der Vater seines sogenannten Sohnes war. Das hat ihn beschäftigt, mehr aber noch die Tatsache, dass dieser Junge, zu dem er lange Zeit einen guten Kontakt hatte, ihn zu ignorieren begann.“

Wie erschlagen rutsche ich die harte Kirchenbank herab, lande fast auf der Kniebank. Ich ziehe mich allerdings sogleich wieder hoch. „Wie bitte? Das ist ja echt ein Ding. Dann hat ihn

Das Lächeln der Souveränität -156- die Sigrid zutiefst verarscht und ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Woher wusste Hermann das denn?“

„Ich glaube, der tatsächliche Vater des Jungen hat es ihm erzählt.“ „Und wer ist das?“ Mein alter Verdacht gegen Sigrid lodert hell auf in mir.

„Er hat es mir nicht gesagt. Es hat mich nur gewundert, wie Hermann das hingenommen hat. Das war genauso, wie kurz zuvor, als er aus seiner Wohnung geflogen ist, und ebenso als er feststellte, dass sein Finanzpolster allmählich dem Ende entgegen ging. Er hat gelacht! Er hat bei allem gelacht, und überhaupt nicht resignativ. Es klang wie immer befreiend, gerade als wollte er sagen, ‚was mir da nur eben wieder passiert ist’. Von Verwundung, von Verletztheit keine Spur. Er stand über den Dingen, einfach phänomenal.“ Ich sitze in einer Art von Lotussitz auf der schmalen Kirchenbank.

„Allerdings, etwas verlassen fühlte er sich von Dir, mein lieber Bernd. Er mochte Dich sehr, er schätzte Dich. Er hat nie verstanden, wieso Du Deine theatralischen Qualitäten nicht ausgebaut und entfaltest hast.

Ich saß damals im Publikum, als Du die Aufführung von der Hermannsschlacht gerettet hast. Diese Zweideutigkeit, in der Du Dich in Person des Heinz Erhardt des verständnislosen Publikums angenommen hast und es gleichzeitig ob seiner kindlichen Gemütsverfassung so hoch genommen hast, das war wirklich eine Glanzleistung.

Ich habe viel mit Hermann darüber geredet, auch weil, ja weil mir persönlich das Stück eine Menge gegeben hat. Ich wollte damals in so eine Marxisten / Leninisten – Truppe einsteigen. Aber als ich dann die Aufführung gesehen hatte, da ist mir klar geworden, was dieser Mao Tse Tung mit Tibet gemachte hatte und was die Roten Khmer in Kambodscha veranstalteten. Die Bilder von den Killing Fields sind noch heute in meinem Gedächtnis. Genauso wie mir dieser Wechsel der Kopfbedeckungen durch Hermann auf der Bühne damals immer noch präsent ist.“

Auch der Blick zum Altar ist uns verstellt. Wir erheben uns und verlassen die Kirche.“

Das Lächeln der Souveränität -157- Draußen erzählt mir Dieter, dass Hermann ihm die Chancen des Theaters häufig sehr dramatisch schwermütig dargestellt habe. Er wusste nicht mehr, wie er den Laden noch füllen konnte. Diese Geschichte mit der Band ‚Talking Heads’, die ist ja gut angekommen. Du kannst Dich erinnern. Als Du dann abgetaucht warst, dachte Hermann, er könnte das fortsetzen mit der musikalischen Fabel vom „Black Rider“. Wir haben mit Eurem Berliner Freund Emmy zusammengearbeitet, der hat mit seiner Band die Musik von Tom Waits gespielt. Das kam fabelhaft an. Ich habe mich etwas im Marketing des Stücks engagiert, und es kam zu vielen Gastauftritten in verschiedenen Städten.

Wir stehen auf dem Platz vor der Kirche. Ich schweige, fühle mich schon irgendwie schuldig, dass ich Hermann derartig ignoriert habe. Wir schließen unsere Räder auf.

„Doch ließ sich der Erfolg nicht fortsetzen. Er hatte ja auch immer seine Maximen, wollte Einsichten vermitteln über sein Theater, alles Gunst- und Kunstgewerbe war ihm eher ein Greuel.“

„Aber was dann mit Gerda Gell gelaufen ist, das lässt sich doch sicher darunter fassen.“

„Da gebe ich Dir recht. Aber erstens hat da dieser Rudi aus dem Kulturamt mit dran rumgeschraubt, weil er etwas besonderes Neues, Herausragendes in der Stadt kreieren wollte. Der wollte sich kostenlos einen Namen machen. Und zweitens hatten sich Hermanns Augen an den Titten der Dame festgesaugt, und so ist er kopflos seinem Blick und dem Schwanz hinterher gelaufen. In ihrer üppigen ‚Gelleria’ hat er viel Geld in den Sand gespritzt.

Du hast mit ihm sehr viel über Deine Lebensstilforschungen geredet. So war er eine zeitlang der Auffassung, die Menschen kämen nicht mehr ins Theater, weil sie in ihren frei gewählten Lebensstilrollen selber Theater spielen. Die Theaterbühne würde ihnen dann nur die schlichte Wiederholung ihres Alltags bieten. Diese Auffassung hat er später verändert, aber er war interessiert an Dir. Verstehst Du?“

„Lieber Dieter, zum vierten oder fünften Male gibst Du mir heute zu verstehen, dass ich Hermann missachtet hätte. Lasse es bitte bleiben. Ständig bombardierst Du mich mit Schuldvorwürfen, ihn ignoriert zu haben. Lasse es bitte sein! Ich stand in keinem Vertragsverhältnis zu ihm, nie, mündlich oder schriftlich. Ich bin ihm nichts schuldig!“

Das Lächeln der Souveränität -158-

Ich sage dass, weil ich die Schuldvorwürfe gegen mich nicht ausstehen kann. Aber mir wird zunehmend bewusst, was Hermann mir gegeben hat. Diese Bewusstwerdung wird allerdings außerhalb jeglichen Rahmens einer Sündenschuld stattfinden. Was er mir geben wollte, darüber bin ich mir noch nicht so ganz im Klaren, aber da komme ich hin, ohne das Gefühl, Schandtaten verrichtet zu haben. Das alles wirkt zumindest sehr komplex, rätselhaft. Das kann ich Dieter nicht erklären.

Gegen die zerknirschenden und entmündigenden Schuldgefühle habe ich begonnen, mich freizuschaufeln, frei zu hauen. Sie umschlingen einen wie Schlangen und Lianen. Ich habe die Machete gefunden.

„’Sie sind allesamt Sünder’, so heißt es doch irgendwo in der Bibel von den Menschen, sie erscheinen dort als an die Sünde verfallen. Und auch wenn sie nicht da ist, gehört sie trotzdem den Menschen als ewige Schuld eingepflanzt. Lieber Dieter, bei allem Respekt vor Deinem Kircheneintritt, wenn Du meinst, damit auch in die Kirchenrhetorik einfallen zu müssen, dann bekommst Du von mir zunächst die gelbe Karte.“

Schweigend schieben wir unsere Räder durch die verwunschen anzuschauenden Straßen der Altstadt. Keine Menschenseele stört die selige Ruhe. Nur im Inneren von Dieter rumort es. Ich spüre das, bin tief konzentriert, registriere irgendwie intuitiv seine Eruptionen.

„Hermann stand wirklich zu Dir. Der hat doch auch noch Deine Rückzugshöhle völlig verklärt. Dabei war sie doch tatsächlich nicht mehr als eine versiffte Absteige, zumindest in meinen Augen. Er sagte irgendwann mal, ein Buddhist müsse die schmählichsten Seiten des Lebens kennen. Aber Du hast doch einfach den für dich billigsten und bequemsten Weg genommen, wolltest Dir nur Ruhe verschaffen. Später auch als Korrektor. Hast Du etwa einen inneren Antrieb in eine Richtung? Was hast Du denn schon mit Buddhismus oder gar Zen zu tun?“

Jetzt rumort es rasend in mir, mein Rad fällt krachend in einen der vielen Blumentöpfe auf der Straße. Ich balle beide Fäuste vor mir wütend zusammen. Mein dämonisches Karma ergreift mich. „Du dämlicher eingebildeter Arsch Du.“ Ich sehe mich schon auf dem Rad und auf dem Heimweg, allein. Ich hätte einen Freund verloren.

Das Lächeln der Souveränität -159-

Doch das Zuvorige stimmt alles nicht so ganz, das waren nur meine eiligen, rasterartigen Bilder im Kopf. Dagegen befinden sich meine Hände weiter auf dem Lenker. Jedoch ist meine abgeklärte Konzentriertheit dahin.

„Zen, wieso Zen? Ich weiß nicht, was Du damit meinst. Ich kenne mich wirklich nicht mit diesem Buddhismus aus. Das ist doch genauso eine religiöse Idee, oder? Mit verknarzt freundlich blickenden, orangefarbigen Männern, die alle ausgeleierte Kniebänder und Hämorrhoiden haben durch ihre Lotussitzerei. Was willst Du mir sagen? Wo liegt das Problem, Dein Problem offensichtlich?“

Am anderen Fahrrad bleibt es ruhig. Dafür tönt die Stimme tief aus meinem Körper, fragt mich, warum ich so beleidigt reagiere, was es mir nutze, es dem Dieter mal so richtig gegeben zu haben. Sie will wissen, warum ich diesen billigen Sieg erringen musste. Sie schafft es nicht ganz, meinen Ärger zu zügeln.

„Dass Du Dich jetzt beleidigt fühlst, das ist völlig unangebracht. Du hast Dich nun einmal entschieden, hast eine Position bezogen, da musst Du auch den Wind ertragen, der Dir daraufhin ins Gesicht bläst, all die Kritik. Ich kann Deine Vorstellungen von Gottvater nicht akzeptieren. Für mich setzt sich die Reihe über den Vater Staat hin zum persönlichen Vater nach unten fort. So ist unser Lebenszusammenhang aufgebaut. Aber wenn allein der eigene Vater wegbricht, dann bricht in dem Weltbild die Verwirrung aus. Ich habe gelitten daran. Ich lasse mich nicht wieder darauf ein. Ein berühmter Meister sagte einst: ‚Setze keinen Kopf über deinen eigenen’.“

Es ist so verdammt menschenleer hier in den Straßen. Sie schaffen wohl alle im Weinberg. Nicht mal eine Gaststätte, eine Straußenwirtschaft hat geöffnet. Reichlich ziellos schieben wir die Räder durch die Gassen. Dieter räuspert sich, leicht schnauft er.

„Ich wünschte, mir ginge es wie dem Saulus, würde vom Pferd gestürzt und die Erleuchtung käme schlagartig über mich. Das wäre eine vollendete Sicherheit für den Glauben.“

„Lieber Dieter, rede Dich nicht raus. Du weißt genau den Unterschied zwischen Heiligenlegenden und historischer Geschichte. Zu dem von Dir erwählten Glauben musst Du

Das Lächeln der Souveränität -160- Dich hinarbeiten, da gibt es keine spektakuläre Abkürzung. Legenden sind konstruierte Geschichte, verdichtete schöne Bilder. Oder… Du willst vermutlich auch als Heiliger in das Reich Gottes einziehen, so richtig imponierend prächtig. Dabei ist schon dieser Saulus allein wegen einem Krampfanfall vom Pferd gefallen.“

Schon wieder reizt mich die Provokation. „Bremse Dich“, rät die innere Stimme.

„Ich kenne Dich als einen recht disziplinierten Schaffer. Und genau mit diesen Deinen Qualitäten wirst Du den Einzug halten. Du weißt es doch außerdem, Gott in seiner unendlichen Gnade macht keinen Unterschied. Muss ausgerechnet ich Dir jetzt in den Sattel des christlichen Glaubens helfen?“

Dieter ist immer noch schweigsam. In der Ruhe reift so langsam eine Einsicht bei mir ins Bewusstsein, nämlich dass der Ausflug heute wahrlich kein lockeres easy going bedeutet. Ich begreife zögerlich, dass ich dem Dieter gegenüber in der Verantwortung stehe. Der Kerl ist reichlich durch den Wind, will von mir wissen, ob all die buddhistische Sachen zu einer Versöhnung mit dem Leben beitragen könnten. Oder ob das nicht auch so ein aller Pflichten enthobenes Marketinggelaber darstellt. Er testet mich momentan, ob hier nicht mystifizierende Wortzauberei betrieben wird. Ich muss mich dem stellen.

Wir sind an einem großen Weingut angekommen.

„Das ist das Gut der Stadt Frankfurt. Vielleicht bekommen wir als Frankfurter Bürger ja freien Eintritt.“ Mein Scherz klingt ziemlich einfältig, aber ich will bloß wieder mit Dieter ins Gespräch kommen. Er lächelt immerhin schon, wenn auch nur ganz dünn. Jedoch ist uns das Tor zum Weingut fest verschlossen.

# Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis

Lauter werdende Geräusche, Stimmen sind aus dem Gebäude zu hören. Eine Gruppe von Menschen tritt daraus in den Hof. Sie sind lustig. Die Männer haben zwar elegante Anzüge an, aber die Schlipse fehlen oder hängen weit geöffnet um die Hälse. Die verkrumpelten

Das Lächeln der Souveränität -161- Jacketts sind offen. Auch die Kleider der Frauen wirken reichlich zerknittert. Sie reden fast alle gleichzeitig. Mir klingt das alles sehr spanisch.

Ein Mann ragt aus all dem heraus. Er hat einen breitkrempigen Sombrero auf dem Kopf. Fast wie ein Patronengurt wirkt das breite Schlüsselband über der Brust. Lässig zieht er eine Uhr aus seiner Westentasche.

Die Gruppe bewegt sich auf uns zu. Der mit dem Sombrero schließt das Tor auf und steht nun vor mir.

„Bernd, was willst Du denn hier? Ihr kommt hier nicht rein. Das ist nur für geladene Gäste. Wärt Ihr beiden früher hier gewesen, hätte ich Euch gerne mitgenommen.“

Frank begleitet eine Gruppe von Mexikanern, alles Ehrengäste der Bundesrepublik und der Stadt Frankfurt. Wie schon früher hört sich seine Stimme blasiert an.

„Wir müssen dringend miteinander reden, Du weißt, wegen der Beerdigung von Hermann. Ich übernehme die Finanzierung und möchte gerne mit einer kleinen Feier im Korbacher Schießhagen beginnen. Von da starten wir einen lebhaften Trauerzug mit Blasmusik und Gitarren zum Friedhof.“

Er dirigiert mit „Viva“ die angetrunkenen Mexikaner in Richtung einer Flotte von noblen schwarzen Karossen.

„Dort hältst Du ja Deine Rede am Grab. Und dann abschließend gibt es eine wilde Fete in der Scheune von Helmut Tent. Wir telefonieren.“ Rasch sucht er den Anschluss an seiner Gruppe.

An die Scheune kann ich mich gut erinnern. Wir haben dort früher so einige Feten veranstaltet, sie liegt in den Feldern. Da gab es keine Beschwerden von Nachbarn. Die Beerdigungsfete wird sicher grandios.

Ich fühle mich nicht gut. Die Begegnung mit Frank wirbelt unspezifische Gefühle in mir herum, gespickt mit starken Schuldgefühlen. Eigentlich ist es absoluter Blödsinn, aber es kratzt eine Schuld in mir. Sie beruft sich auf meine Leichtgläubigkeit, wegen dieser

Das Lächeln der Souveränität -162- bedepperten Vertrauensseligkeit, die mir Dieter bescheinigt hat. Es ist abstrus, aber sie fühlt sich mit Frank schlagartig mit aufgerufen, gegen mich zu protestieren.

Dieter bemerkt meine seelische Taumelei schneller. „Diesen Gockel, den kenne ich doch irgendwoher. Lässt Du Dich etwa durch den verunsichern? Und ich dachte vorhin noch, dass Du mittlerweile zu stark bist, dass ich mit all meinen verschrobenen Ansichten noch einen Eindruck bei Dir schinden könnte. Ich meinte, früher wärst Du leichter zu beeindrucken gewesen.“

Kann ich meine gewonnene Stärke behaupten? Soeben wollte ich noch meine Verantwortung gegenüber Dieter wahrnehmen. Haben sich die Rollen schon wieder verschoben? Ich werde geistig nicht in die Duselei versacken! Ich werde also Dieter an meinen Gedanken über Frank teilhaben lassen.

Vor rund 25 Jahren kam Frank eines Tages zu mir mit einem unordentlichen Paket an Manuskripten unter dem Arm. Er wirkte mächtig zerstört. Er wollte sein Magister in Literaturgeschichte machen und kam mit der schriftlichen Arbeit überhaupt nicht zurecht. Er bat mich, ihm zu helfen. Er argumentierte, der Prüfungsmist sei doch sowieso alles bürgerlicher Scheiß und vor allem auf die Abwehr von arbeitenden Menschen bedacht, die sich ihr Abitur nachträglich erschaffen hätten. Mit seinen Klagen und Beschwerden hatte er mich schnell im Griff.

Ich arbeitete mich in die Materie ein. Es ging um den s, vor allem um seine Romane aus dem südlichen Mexiko. Ich ordnete das chaotisch wirkende Manuskript, schmiss Überflüssiges und mitleidend vergossenes Herzblut raus und strukturierte den gesamten Textverlauf stringent um. Frank stimmte in allem zu.

Er begeisterte sich im Wesentlichen für die revolutionären Positionen und empörte sich über alles Böse. Ich half ihm schließlich gerne. Das war mir auch neu, gewissermaßen eine Entdeckungsreise, wie jemand einen Roman wie einen aktuellen Tatsachenbericht verstand. Er begriff sich auf dessen Grundlage als ein Revolutionär, der das Leiden zu bekämpfen habe. Er litt mit den Romanindianern und wäre seinem gequälten Gesicht zufolge schon in Frankfurt bereit gewesen, sich für die tierra libre zu opfern. Frank wirkte in seiner

Das Lächeln der Souveränität -163- Anteilnahme so kindlich, so wie er sich erregte, dass die Indianer innerhalb Mexikos verschleppt wurden, und voller innerer Entrüstung brüllte er „Vive la Rebellion“ beim Lesen.

„Die Rebellion der Gehenkten“ begriff er wie einen Tatsachenbericht. Ich weiß noch wie er sich heftig über den Gott aufregte, der die Menschen erlöste, aber die Indianer vergaß. Ihre menschlichen Entdecker hätten ein Kreuz in den westindischen Boden gerammt, ein Vorgang, an dem die Indianer immer noch zu leiden hätten, oder gar haben.

Diese Überlegung zum Romangeschehen erzähle ich dem Dieter nicht. Ich will ihn nicht noch mehr irritieren.

Die grundlegenden ethischen Fragen spielten für Frank keine Rolle. Er erfasste sie nicht als eine humanistische Grundsatzdiskussion, sondern als harte Tatsachen. Eine Art von wissenschaftlicher Distanz ging ihm völlig ab, während mir hingegen ihre Bedeutung in all dem sehr plastisch wurde.

Und er erregte sich. Ich wusste häufig nicht so genau, ob seine Empörung ernst zu nehmen war oder ob es ein Spiel war, sein Spiel mit mir, oder gar sein Spiel mit Dingen der Realität generell, und auch mit Dingen der Fiktion, ohne Ansehen der jeweiligen Person. Die Übergänge zwischen den Positionen schienen mir häufig fließend, vor und zurück, je nach entsprechender Lage. Es klang zutiefst überzeugt und überzeugend.

Dieser akademische Hilfsdienst war damals ein Meisterseminar für mich, ohne Dozent und Professor. Ich hatte begriffen, dass die Lehrenden selber von diesem fließenden Wechsel häufig überflutet und ersoffen wurden, nicht nur durch Frank. Vielleicht waren viele auch selber von dem Wunsch beseelt, ehrliche Lehrer des Volkes sein zu wollen, keine Lecker und Schlecker. Vielleicht wünschten sie selber so zu sein wie der Professor Martin Trinidad in dem Roman, der sich weder von den Politicos noch von den Cientificos einseifen lassen will.

Ich versöhnte mich damals mit der sich als objektiv zu verstehenden Wissenschaft, begriff aber auch, dass die Fähigkeit zur Unterscheidung von Fiktion und Realität nicht nur mit Wissenschaft zu tun habe, sondern schon allein für das Alltagsleben von grundlegender Bedeutung sei. Wie intensiv allerdings der gefesselte menschliche Höhlengeist die

Das Lächeln der Souveränität -164- Wahrnehmung von Realität zu prägen vermag, das ist eine Erleuchtung, die mir erst so allmählich dämmert.

Dieter räuspert sich vernehmlich. Meine verbalen Äußerungen sind wohl hinter den geistigen Exkursionen zurück geblieben. Dass Frank mich damals für vage Versprechungen überredet hat, das wage ich mich überhaupt nicht zu gestehen. Eine kostenlose Auflage unserer Zeitschrift „Funny“ hat er gedruckt, das war es. Und auch dafür bezahlte er selber gar nichts. Er hatte auf jeden Fall ein recht gut benotetes Examen hingelegt.

„Ach, ich bin am überlegen. Was sich Frank da für Gedanken zu der Beerdigung macht, das kommt mir so bekannt vor. Ich weiß nicht, ob ich das bei dem Schriftsteller Traven gelesen, oder ob ich das irgendwo mal im Film gesehen habe. So schwer sentimentale Bilder tauchen in meinem Kopf auf, von einem Beerdigungszug, bei dem die Tequilaflaschen kreisen und Musiker, Bläser und Gitarristen aufspielen. Manchmal scheint es, als bewege sich der gesamte Zug im Gleichtakt, als würde er schwingen. Mit Ponchos bekleidete Menschen bewegen sich zum Grab, mit den Flaschen wird an den Sarg angestoßen. Schließlich fällt auch noch ein Lebender ins Grab, aber das macht der Freudenfeier keinen Abbruch. So ein Ding, und das in Korbach, das wird mächtig für Furore sorgen, wie früher, als wir die Leute noch mit unseren Mao-Plaketten schocken konnten.“

„Von diesem Frank hat mir Hermann auch erzählt. Der wollte ihn für seine Partei gewinnen. Er versprach ihm Zuschüsse für sein Theater durch das Land. Doch Hermann lachte. Er erzählte mir, dass mehrere Leute scharf auf ihn waren, irgend so ein Finanzmakler und auch CD Müller war an ihm dran. Müller wollte seinen Agenturkunden ein eigenes Theater in Frankfurt anbieten, und dabei so jemand überzeugendes, wie es Hermann war. Er sollte den Menschen Glücksgefühle für diese schöne Welt anbieten, sie sollten das positive Denken vorgeführt bekommen.

Übrigens, das, was ich heute auf dem Fahrrad über Autosuggestion vorgetragen habe, das stammt alles von Hermann. Er hatte ein sehr zynisches Theaterstück mit diesen selbst suggerierten Glücksgefühlen ausgearbeitet, irgendeine Bearbeitung des Miller-Stücks ‚Tod eines Handlungsreisenden’. Na ja, das war nun auch nicht gerade ein Publikumsbringer. Doch hat ihn das schließlich überzeugt, dass die meisten Menschen heute nur noch ins Theater gehen würden, wenn sie lustig unterhalten werden wollten. Nicht mehr, um über ihre eigene

Das Lächeln der Souveränität -165- jeweilige Lebenssituation mal drüber raus zu denken, um ihre momentane eigene Lage mal geistig zu überschreiten.“

„Das wirst Du mit Deinen fundierten Lebensstilerfahrungen sicherlich auch bestätigen können, dass die Menschen sich so sehr an ihren Lebensstatus klammern, dass sie keinerlei Irritation darin vertragen können. Deren Umgangsformen damit, ihre Spielfähigkeiten sind doch völlig verkümmert. Mit dieser Wirklichkeit können die nicht spielen. Die können einem schon ganz schön leid tun. Für die ist das Leben ein terminierter Durchlauf von der Geburt bis zum Tod und zwischen den beiden Polen sagen sie ‚ich will alles, tutto e subito. Das kennst Du doch als alter Sponti.“

Ich bestätige ihm das eher beiläufig. „Vielleicht habe ich das mit dem Beerdigungszug auch in dem Film ‚Viva Maria’ gesehen. Frank hat den häufig angeguckt. Da wurden seine Vorstellungen von Revolution in Bilder umgesetzt.“

Dieter und ich, wir befinden uns momentan auf unterschiedlichen Längenwellen. Ich bin noch dabei, die Erregung über meine Einfältigkeit Frank gegenüber zu dämpfen. Das geschieht, indem ich mir dessen Beschränktheiten vergegenwärtige.

„Hast Du den Film mal gesehen?“

Dieter blickt mich nachdenklich skeptisch an.

„Der ist ein Ausbund an tiefster Satire. Das hat Frank nie begriffen. Die war manchmal richtig bösartig. Da stürzen Menschenwellen beseelt auf die Linien der feindlichen Infanterie zu, lassen sich abballern, ja richtig verheizen, und die nächste Welle schwappt über die Soldaten weg. Das grenzt schon an üblem Zynismus. Hingegen, wenn man will, kann man darin auch eine Verklärung der ‚Taktik der Menschenwelle’ sehen. Das macht das Irritierende des Films aus.“

Auch die Kirche bekommt ihr Fett ab, sie wird als speichelleckerisch jeglicher Macht gegenüber dargestellt. Den Punkt nehme ich an dieser Stelle von meiner Zunge einmal zurück.

Das Lächeln der Souveränität -166- „Mit engelgleichem und geöffnetem Haar hält die Bardot zielsicher die Maschinenpistole auf die Regierungssoldaten und mäht sie um. Mit fliegendem Haar stürmt sie voran, die Bombe in der Hand, bei der von der Lunte leuchtende Funken stieben. Und mit gerundetem Kussmund befestigt sie Sprengsätze am Denkmal des Diktators. Der fliegt von seinem Bronzepferd, und das alles ist voller schräger Komik. Die fliehenden Gegner springen auf ihre Pferde und einer von ihnen landet auf dem Bronzegaul. Wie ein fettes Kind so unbeweglich sitzt er dort, wie auf einem Holzpferdchen. So schön kann Schadenfreude sein. Frank hing an den geilen Lippen der Bardot und auch an der Zirkustruppe. So hätte doch die Revolution sein können, so artistisch und voller Vergnügen.“

Wir finden Sitzplätze in einem umfriedeten Eckchen mit einem großen Planschbecken in der Mitte. Sanft rieselt das Wasser aus einem Rohr. Wir nehmen die letzten Schlucke aus den Thermosflaschen.

„Ich habe den Film selber nicht gesehen, aber ich erinnere mich, Hermann sprach davon. Er erwähnte, dass auch Dutschke ihn gar häufiger gesehen habe. So wie sich Kinder früher über einen leuchtenden und glänzenden Weihnachtsbaum gefreut hätten, vollbehängt mit Glitter und Tand, so hätten sich einige 68er daran erfreut. Mit viel Erotik im Film, mit artistischen Showeinlagen und laufenden Gags. Da würden selbst sich abschlachtende Menschenmassen als normal bis lustig erachtet. Diese stinkenden Verwilderungen sind bis in die siebziger Jahre geschwappt, in diese Zeit der geistigen Wüstenei.

Entschuldige bitte, ich will Dich wirklich nicht unter moralischen Druck setzen, aber der Hermann hat Dich beobachtet, Deine Abstürze in dieser bleiernen Zeit verfolgt. Auch er hat Dir nie eine Schuld daran gegeben, denn er wusste, dass damals eine melancholiereiche Ratlosigkeit herrschte. Davon warst Du ihm ein lebendiger Ausdruck. Es war eine Zeit mit vielen Selbstzerstörungen und geistigen Verwüstungen. Von Dir hat er übrigens immer behauptet, dass Du Dich da rausarbeiten würdest, Du wärst so ein unerbittlicher Nussknacker.“

Ich bin richtig erfreut in dem Moment, stehe auf und blicke durch das Tor in der Mauer über den Weinberg hinweg und herab bis zum Main. Hier liegt ein weites Feld, eine weite, schweigende, so geordnete Welt. Es ist eine momentane Glückserfahrung. Sie durchdringt mich. Ich lächele. Nur die Nuss, die habe ich noch nicht geknackt.

Das Lächeln der Souveränität -167-

„Ich finde es lustig, dass diese selbsternannten Überwinder aller schrecklichen Vergangenheiten, die 68er, nun ihre eigene Heilige kreieren, einen Sankt Rudi. Auch an denen bleibt die Vergangenheit kleben. Das wurde zuvor schon mit Che Guevara betrieben. Erinnerst Du dich an das schwülstige Lied vom Comandante von Wolf Biermann: ‚Uns bleibt, was gut war und klar war: Jesus Christus mit der Knarre’. Und sein Heiligenschein brennt sich auf die T-Shirts sogar heutzutage ein. Das Bedürfnis nach dem Heiligen scheint ein sehr grundlegend menschliches zu sein.

Du hast es sicherlich bemerkt, dass unser CD Müller diese Realsatire rasch begriffen hat, bezeichnete er sich immerhin selber gerne als 68er. Er hatte immer Freude an den dadaistischen Experimenten der Subversiven Aktion Dutschkes gehabt und erfasste selber die Welt als ein Märchenspiel. Er zitierte häufig einen französischen Religionswissenschaftler, der gesagt hätte, gute Laune sei eine philosophische Grundhaltung.

Ich schaue auf die Uhr. „So allmählich könnte hier so eine Straußenwirtschaft offen haben.“ Statt eine Antwort zu geben, erhebt sich Dieter und ergreift sein Rad bei den Hörnern. „Den Wahlspruch, ‚alles ist eitel’, den hat sich CD-Müller auf seine Fahne geschrieben. Ich aber sage, dem ist nicht so, auch wenn es so scheint. Es ist allein die Religion, die Ernsthaftigkeit garantiert, nicht etwa diese phrasenhafte Schnippigkeit, denn jene allein sagt, ‚halt die Fresse’ zu allem hohlen Gequatsche und aller Klugscheißerei.“

Ich räuspere mich zustimmend und sage, dass wir da mal geradeaus gehen sollten.

„Ich habe verstanden“, sagt Dieter und lächelt mich an. „Hermanns Lachen hingegen gewann im weiteren Verlauf einen bitteren Unterton. Er hatte mittlerweile die britische Dramatikerin Sarah Kane entdeckt.

Ihr Stück ‚Gier’ führte er auf, mit all den identitätsgestörten Figuren darin, die ihre Gier nach Liebe, ihre brennenden Sehnsüchte benennen. Sie haben sich längst aufgegeben, und nur die Gier nach derartig elementaren Lebensformen macht sie noch Worte und dann auch Sätze sagen, nicht immer durchschaubar. Die Menschen verbrennen in ihrem hoffnungslosen Drang nach Erlösung, der nur die tiefen Abgründe ihrer Seele eröffnet. ‚Scheiß auf dieses Leben, scheiß auf dieses Leben, scheiß auf dieses Leben’, so heißt es im Stück’.“

Das Lächeln der Souveränität -168-

Jetzt sind auch schon wirkliche Menschen im Städtchen zu sehen. Die Bürger auf der runden Bank eines Dorfbaums heften interessierte Blicke auf uns.

Wir stehen vor den Hoftoren einer Wirtschaft. „Das Spiel endet mit einem Sturz ins Licht, einer ambivalenten Form der Erlösung, dem Sturz, der beides ist - die Befreiung vom Ich wie auch die Selbstzerstörung durch den Tod.“

Wir bestellen uns Winzerplatten und eine Flasche Hochheimer Hölle.

„Eines Tages hatte Hermann ein Foto auf seinem Schreibtisch. Darauf hat der Fotograf wohl selber den Selbstmord der Sarah Kane nachgestellt. Man sah darauf die an einem Abflussrohr hängende Leiche baumeln, sogleich neben einer Scheisshausschüssel mit offenem Deckel.“

Der pikante Riesling belebt den Geist. Schon geht das Glas zur Neige. Ich fühle mich dringend genötigt, noch ein paar Überlegungen zu Dostojewskis „Dämonen“ einzubringen. Dort spricht eine der Hauptpersonen über die Auswirkungen des Sozialismus, der ein richtiggehendes Zersetzungswerk an den Menschen vollbringe. „Der zerstöre zwar die alten Kräfte, wäre aber nicht in der Lage, neue aufzubauen, wie der verschwörerische Sohn der geistigen Situation der Zeit, Pjotr, konstatierte. Trunksucht würde mit ihm einziehen, Klatsch und Verrat. Eine unerhörte Sittenverderbnis werde Einzug halten, so dass die Erde nach den alten Göttern weinen würde.

Ich dagegen meine, dass macht der Kapitalismus doch heute viel besser, diese Zerstörung des Überkommenen, effektiver und kostengünstiger. Wer braucht da noch den Sozialismus?“

Unsere Flasche neigt sich dem Ende entgegen. Wir ordern eine neue Höllenlage. Dieter springt auf mein Thema nicht an.

„Das Gesicht der baumelnden Person ist durch das Gegenlicht nicht erkennbar. Aber drastisch ist die Bildachse, die von rechts oben direkt in das Klo gerichtet ist. Die hängenden Füße sind ebenfalls auf den Abort links unten orientiert. Ein Plumps und die Spülung gurgelt, fort ist sie. Prost.“

Das Lächeln der Souveränität -169- „Hermann war sicherlich kein Psychotiker wie Sarah Kane, er stand sehr fest im Leben. Ich weiß nicht, was ihn getrieben hat. Es ist wahrlich äußerst mysteriös.“

Wirklich gut ist der deftige Presskopf und erst der Winzerkernschinken, sehr lecker. Die delikate Wildschweinterrine, ich schwebe fast, doch hält mich die Hölle am Boden. Wir stoßen an.

Zackig mit klackernden Tritten kommen zwei Radler heran, also Radfahrer in voller Bikermontur. Sie lassen sich an unserem Tisch nieder und bestellen Traubensaft und Weinschorle, dazu einen Salat mit rohem Gemüse. Ihre knackigen Schenkel, umhüllt von Elastic-Power-Höschen, wippen voller Tatkraft auf und nieder, ohne Ende.

„Mein Rad bringt es jetzt auf sieben Kilo. Ganz phantastisch, dies Scenario-Rad, genial leicht und dabei grandios steif, aus erwähltem Carbon. Eine begnadete Fahrperformance, die ist Top getestet. Und das Rad ist komplett Custom-Made kreiert, die geile Gruppe um den Rahmen herum habe ich komplett über Ebay bezogen, die feinste Shimanoschaltung, Ultegra, auch die Ritzel aus Carbon, einfach supi.“

Zwischen Dieter und mir ist die Kommunikation zusammengebrochen. Dabei sind die Ohren gewachsen.

„Das machen die Japaner spitzenmäßig, die sind einfach besser als die Italiener, befähigter. Ich stehe auf der Dura Ace Gruppe, mit so ganz liebevoll verlegten Zügen am Rahmen. Doch Ebay, den Laden kannst Du langsam vergessen. Im Internet gibt es mittlerweile billigere Anbieter, da habe ich einen Lenker aus Carbon geordert, 210 Gramm leicht, bombenstabil und die Form ist ein Traum an Ergonomie.“

Ich verstehe nur schwer, was die knackigen Jungs so meinen, Dieter wird da wohl noch eher mithalten können.

„Die haben einen schwer esoterischen Sprachstil“, sage ich zu ihm.

„Oh ja, der kann süchtig machen. So wie der gesamte Radsport.“ Unsere Stimmen sind leiser geworden. Ich schmiere mir die restliche Leberwurst auf die dicke Brotscheibe.

Das Lächeln der Souveränität -170-

„Wenn Du hier durch die Weinberge gehst, dann wirst Du allenthalben auf Stelen mit Bildern von Heiligen treffen, auf Bildstöcke, auf Plastiken auf Sockeln. Vor allem Bildnisse des Sankt Urban wirst Du sehen, dem Schutzheiligen der Weinberge, des Weines, der Winzer. Du wirst Traubenmadonnen sehen und Weinheilige. Genauso in den Kirchen der Weinorte hier wirst Du sie finden.

Das sind die Fetische der hiesigen Bevölkerung, die für sie über Jahrhunderte Geltung hatten. Sie verehren sie, weil sie Glück bringen, Nutzen und Macht. Und umgekehrt wehren sie Unheil und Feinde ab. Sie besitzen Kraft, magische Kraft. Sie sind im religiösen Denken der Menschen tief verankert.

Wir hingegen, wir modernen Menschen haben uns vom religiösen Glauben frei gemacht. Doch ohne Fetische kommen auch wir nicht aus. Die beiden Radler haben uns das soeben gezeigt. Ihre Fetische bewegen sich rund um das Rad. Es gibt Menschengruppen mit anderen Fetischen, sie fahren BMW, rauchen Marlboro, telefonieren mit Nokia und und und, Du kennst all den Kram.“

Dieter redet sich in Rage, die zweite Flasche ist leer. „Wir haben dasselbe Fach studiert, soll ich Dir jetzt noch was über Warenfetischismus erzählen? Und dann die Werbung, die kenne wir ja nun beide ebenfalls. Wenn ich manchen Leuten vom Fetischcharakter der Ware erzähle und dann noch etwas vom religiösen Hintergrund des Fetischs, dann lachen viele. Sie freuen sich über meine blühende Phantasie.“

„Den nächsten Kreis der Hölle für die Herren.“ Die nette Bedienung schüttet sogleich die Gläser wieder voll. „Willkommen im Kreis der Schlemmer und Gaumensünder.“

„Die Leute begreifen es nicht so recht. Dabei werden sie als eine Zielgruppe für Fetischobjekte längst gescannt. Die Werbefritzen haben all die soziologischen, anthropologischen und ethnologischen Forschungsergebnisse in ihren lebenspragmatischen Konsequenzen besser begriffen als die Forscher selber.“

Dieter schüttet nach und redet noch lauter. Die beiden Radler schweigen und hören.

Das Lächeln der Souveränität -171- „Die Agenturen haben die Bedeutung des Fetischs längst begriffen. Sie setzen sie um, bauen Symbolwerte auf und kreieren Objekte der Begierde, wie die flotten Schaltsysteme von Shimano, eine Welt von Freiheit und Abenteuer. Ursprüngliche Ziele sind uninteressant, sie baggern tief in den verborgenen dunklen Kräften. Sie schaffen daraus Ikonen für das, wofür die Menschen leben möchten, emotionalisierte Produkte. Sie haben das Ziel, mit ihren Premiumprodukten vom stressigen Leben abzulenken.“

Geräuschvoll erheben sich die beiden Nachbarn und mit klackernden Schritten watscheln sie zum Tresen.

„Ach schaue Dir die Heiligen in den Weinbergen an, die Hochheimer Muttergottes. Wie lange stehen die schon da? Was denkst Du, wie lange sich dort ein Handy von Nokia, ‚done beautifully’, halten wird? Auf so einer Stele? Spätestens morgen wird das Ding doch vom Sockel gekippt, würde zwischen verfaulenden Beeren liegen. Und schon stände dort ein neues Handyphone, ‚done most beautifully’, und schon liegt auch es wieder in einem stinkenden Traubenhaufen.“

Dieter kichert. „Komm, prost.“ Wir stoßen an. „Du als gebildeter Mensch kannst Dich an Jean-Luc Godard erinnern, den französischen Filmregisseur. Sein Film ‚Außer Atem’ war eine Ikone für einige 68er. Er hat sie selber in einem anderen Film als die Kinder von Marx und Coca Cola charakterisiert. Da liegt der traurige Beginn des modernen Warenfetischismus, der weit über das bei dem ollen Marx Gelesene hinausreicht. Bei dem war der Begriff eher noch ironisch gemeint. Da sind wir heute längst drüber raus.“

Ich erhebe mein Glas. „Also jetzt wollen wir mal festhalten. Was die Belebung von Heiligenlegenden angeht, was das Schnitzen von neuen Fetischen betrifft, da haben wir uns menschheitsgeschichtlich nicht viel weiter entwickelt. Und für unsere moderne Zeit, da stehen die 68er ganz vorn an der Front der ewigen Wiederkehr. Ist das lustig? Oder eher zum Weinen? All die selbst zugeschriebene Fortschrittlichkeit löst sich auf, wie bei des Kaisers neuen Kleidern.“

Für den folgenden Kreis der Hölle ordern wir eine neue Flasche. Wir sind bei den Verschwendern und den Geizigen. Aber das ist nicht mehr so genau nachvollziehbar. Wer mich mal endlich hört, der kann vielleicht verstehen, was ich noch mit dem

Das Lächeln der Souveränität -172- Warenfetischismus sagen will. Darüber redet doch längst kein Mensch mehr, also so kein 68er, dem ist das eher peinlich. Früher war das wirklich noch alles anders, also mehr so realitätsmäßig. Da gab es keine rätselhafte Höllensprache, ach scheiße. Verdrängung wirkt befreiend. Oder? Prost! Weil, es gibt irgendwie kein richtiges Leben im falschen, also zumindest so in der Richtung. Ach, es ist doch sowieso alles völlig daneben.

Aber Schluss jetzt, wir müssen endlich mal zahlen.

Dieter hebt stützend auf seine christliche Weise an: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Also er summt so die Melodie, mit laut gesungenen Worteinlagen. Wir haben den Ortsausgang erreicht und durch das Tor geht es mal flott bergab. Ganz verantwortungsbewusst übernehme ich die Tonführung und singe „Riders on the storm“. Der Bahnhof unten schält sich plötzlich klar heraus und auch der Main da weiter vorn. Wir müssen links rum.

# Ganz entspannt im Hier und Jetzt

Perlend tönt es aus dem Radiowecker, „Into this world we’re thrown“. Sylvia muss aufstehen. „There’s a killer on the road“, langsam schlafe ich wieder ein. „Girl you got to love your man”, Sylvia sitzt an meiner Seite. Sie will sich verabschieden.

“Habt ihr die Flasche Hochheimer Hölle auf dem Küchentisch nicht mehr geschafft?“

Ich muss kurz nachdenken. „Nein, nein, die habe ich Dir mitgebracht.“ Sie umarmt mich, wir küssen uns. Sie nimmt die Flasche zu ihrem Gepäck. Sie fährt nach Wörlitz, wo eine Fortbildung für Landschafts- und Stadtplaner stattfindet. „Landschaften der Erkenntnis“ lernen sie dort zu gestalten, irgend so was Japanisches.

Ich döse noch einmal ein. Ich träume. Sigrid liegt im Fenster, und ich stehe hinter ihr, fummel an ihr rum, schiebe den Rock nach oben, will weiter, weiter. Da geht die Tür auf. Sigrid dreht sich grinsend rum. Sie hat einen kugelrunden Bauch. Hermann kommt näher. Ich ziehe die Schultern hoch, drehe die Handflächen nach oben. „Ich, ich weiß nicht … kann äh nichts

Das Lächeln der Souveränität -173- dafür.“ Ich stammele, tauche aus dem Schlaf auf. Ich kann aber wirklich nichts für das Kind. Als ihr Sohn gezeugt wurde, zu der Zeit da war ich definitiv nicht an ihr dran. Ich bin wach.

Das Arbeitsamt gibt mir freie Fahrt. Am Telefon berichtet mir mein Sachbearbeiter, dass das Geld ab jetzt immer in der Mitte eines Monats auf meinem Konto sein wird. Na, das ist doch was. Dann werde ich noch heute zum Gewerbeamt der Stadt fahren und mich anmelden.

Das Telefon klingelt. Dieter ist dran. Er will sich entschuldigen. „Ich hoffe, dass ich Dich gestern nicht zugelabert habe.“ Ich verneine natürlich und erkläre, dass es ein sehr schöner Ausflug war.

„Das Arbeitsamt bezahlt mich für mein Selbständigwerden“, kann ich ihm berichten.

„Na siehst Du, ich habe es doch gleich gesagt. Zwei Sachen muss ich Dir übrigens noch mitteilen, die sind gestern irgendwie untergegangen. Diese Sache mit der Autosuggestion, die stammt von Hermann. Das habe ich wohl noch erzählt. Also, so jetzt nun, also ich wollte Dich damit keinesfalls verunsichern, weißt Du. Hermann hat selber schon immer darauf verwiesen, dass diese Autosuggestion mit einer Zen-Erfahrung rein gar nichts zu tun hat.“

„Lieber Dieter. Ich weiß nicht genau, wohin Du mich steuern willst. Ich habe nur gesagt, dass ich auf der Suche bin.“

„Das ist schon so bei mir angekommen. Ich sage das auch nur, damit keine Missverständnisse aufkommen. Hermann erklärte, dass das Suchen im Zen immer von einem tiefen Unbehagen begleitet sei, nicht wie bei der Autosuggestion, bei der sämtliche Bedenken platt zu machen sind. Da geht es gewissermaßen straight ahead voraus. Ich bemerke doch bei Dir diese Beunruhigung und Unrast, vielleicht Verstörung. Vielleicht kann ja ausgerechnet ich Dir in den Sattel des Zen verhelfen.“

Ich habe den Eindruck, dass Dieter mich in seine eigenen religiösen Tastbewegungen einsetzen will. Dass er sich mit meiner Hilfe irgendwelche Klarheiten verschaffen will. Ich gehe nicht weiter auf das Thema ein und sage nur mein Dankeschön an meinen Möchtegern- Reitknecht. „Du hattest noch eine zweite Sache.“

Das Lächeln der Souveränität -174- Eine kurze Pause entsteht in der Leitung. „Äh ja. Also ich hatte auch von dem Stück der Dramatikerin Sarah Kane erzählt. Das ist mir heute morgen wieder alles eingefallen. Hermann erzählte damals, dass er für das Stück gerne die Brigitte Meier eingesetzt hätte, die wäre dafür absolut passend gewesen. Aber ich sage das jetzt auch nur, weil ich glaube, ich habe diese Frau in der Stadt gesehen heute.“

„Ganz in weiß vermutlich.“

„Genau. Du hast sie auch gesehen, oder? Die war doch so mysteriös in Indien versackt. Ist sie wieder hier?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass häufig von einer Frau in weiß berichtet wird, die Ähnlichkeit mit ihr hätte.“

„Na ja, ist ja auch nicht so wichtig. Das ist mir nur wieder eingefallen, weil Hermann lange Zeit nicht sehr gut auf sie zu sprechen war. Sie wollte ihn wohl als Propagandisten für Bhagwan gewinnen.“

Blöderweise reicht mir dieses kurze Telefonat, und meine Augen sind bei der Tour zum Gewerbeamt gar weit geöffnet. Ich will die mysteriöse Frau in weiß erblicken. Ich sehe sie natürlich nicht. So richtig habe ich sie zuletzt noch in orange gesehen, dieser Kluft der Bhagwan-Jünger.

Ich fand den Typ selber immer unerträglich. Ich habe noch so ein Foto im Kopf, da sitzt er feist grinsend in einem seiner fetten Rolls Royce. Und diese hopsenden und blumenwerfenden Deppen drumherum haben ihm mehrere dieser Nobelkarossen geschenkt, so knapp hundert an der Zahl.

Ich fand den Typ ja andererseits auch ganz lustig, wie er von sich ganz schnodderig behauptete, der Gründer der einzigen Religion überhaupt zu sein. Die anderen Religionen wären lauter Hokuspokus und Jesus, dieser Christus wäre ein psychiatrischer Fall, weil er sich erdacht hätte, dass er ein Sohn Gottes und Retter der ganzen Welt sei.

Das Lächeln der Souveränität -175- Ich fand, dass das in die Rubrik „Komik“ gehörte. Denn mir fielen dabei immer nur die Bilder des am Kreuz hängenden Monty Python ein, dem singenden, „Allways looking on the bride side of life“.

Ich fand das zum Lachen, das ich Brigitte gegenüber zum Ausbruch brachte. Sie fand das freilich gar nicht lustig. Ich konnte dem Bhagwanschen Blendwerk nichts abgewinnen. Brigitte saß mir gegenüber und steigerte sich darin tief hinein.

„Bhagwan, das ist der Erleuchtete.“ Feierlich erklang die Stimme von Ma Saminda.

„Er lehrt uns das Sein und das Vergessen des Egos, denn auf diesem verläuft der falsche Weg.“ Sülzend bewegte sie sich nach vorn, hatte ihren Arm auf Brusthöhe und schwenkte ihn vor ihrer orangenen Kutte aus. Ihre Hand öffnete sich dabei veranschaulichend.

„Gefragt ist die Intelligenz des Herzens.“ So ein betuliches Getue war neu an ihr, oder ein von mir noch nicht erkannter Bestandteil ihrer Bühnenqualifikation.

„Vorsicht, Dein Rosenkranz hängt gleich im Tee.“

Auf diese meine Bemerkung ging sie hoch.

„Du Arsch Du. Du wirst ja schon erbärmlich wie mein beknackter Alter mit Deinen verschissenen Bemerkungen.“

Klasse, jetzt war aus Ma Saminda wieder ganz die alte Brigitte geworden.

„Ihr Scheißer wollt immer nur verletzend wirken. Dies ist kein Rosenkranz, und der hat auch nur 55 Perlen. Aber meine Mala hat 108 Kugeln und das Bildnis des Erleuchteten. Begreift das endlich mal. Und dann, an diesen Rolls Royce, da geilt Ihr Euch alle so richtig auf. Die schenken wir ihm, wir die Gemeinde der Sannyasins, da kann er so gut drin sitzen, die sind gut für seinen erlauchten Rücken.“ Sie schwafelte schon wieder so tiefst ergeben.

„Na wenn ihr die kauft, dann habt ihr genügend Kohle, und die könnt ihr in Eurem Ashram bestens verbrennen. Ein Heiland für Wohlstandskinder, ist er das nicht? Bhagwan, wie

Das Lächeln der Souveränität -176- schreibt der sich eigentlich? Das H kommt vor dem N, nicht wahr?“ Gut gebrüllt hatte ich, Ma Saminda steigerte sich wieder auf einhundertachtzig.

„Du Schwachkopf, Dein verworrenes Inneres kennt nur die Provokation. Ich aber…“ Schon wieder wurde ihr Blick beseelt umflort. „… ich aber, ein spiritueller Mensch, ich stehe darüber. Du weißt nicht, was es heißt ‚to play many games’. Ich habe die eine Identität überwunden, ich spiele nur noch mit ihr.“

Arme Brigitte, jetzt tat sie mir schon leid, sie langweilte mich. Ich machte mir fast Sorgen. Ob die wohl ihr Hirn weich bekommen hatten?

Ich hatte früher mal kurzfristig in Bornheim gewohnt, in einer WG, in der auch so eine Bhagwan-Anhängerin wohnte. Schon zum Frühstück erklärte sie beim Tee ohne Brötchen, dass sie auf der Basis individueller Wahrheit wirken wolle. Ich fand das damals gut, sagte ihr das auch so, ohne irgendeinen Anflug von Ironie.

„Wenn Du da drin bist, dann kannst Du Dich direkt vom Leben führen lassen.“ Das sprach sie zu mir und lächelte dabei unendlich. Ihre beiden Kinder waren an dem Tag nicht in der WG, sondern zu ihren Eltern irgendwo in der Wetterau abgeschoben. Sie präsentierte ihr „verworrenes Inneres“ und bestand darauf, dass ein Ernstnehmen des Wortes ihren Gedanken zur Klärung helfen würde.

„Kurz vor Büdingen dahinten, da formte sich mein vollendetes Unbehagen an der gesamten Welt. Ich suchte und fand den roten Weltverbesserungskanal der 68er. Aber, deren Sendungsbewusstsein wiederum war so hoch gesteckt, dass sie das mit der Realität nicht mehr zusammengekriegt haben.“

Bis dahin klappten die Gespräche mit ihr auch immer noch, aber dann tauchte sie ab in ihre Kindheit, verglich sich mit ihrer Schwester, meinte selber von sich, nie eine Ahnung auch nur von irgendwas gehabt zu haben, dass sie sich in den einzelnen Dingen verloren hätte, ihre Begabung hätte nicht wachsen dürfen, und brav hätte sie immer das Geforderte gebracht, ohne das mit sich selber zusammenbringen zu können.

Das Lächeln der Souveränität -177- Sie hatte Scheu vor der großen Welt, wollte dagegen zu größerer Absolutheit in der Denkfreiheit an der Universität. „Alles das zuvor Zerdachte aber neu zusammenfügen, das klappte nicht, Ich sah meine Ohnmacht, die Ohnmacht aller Sehenden, aller Gesellschaftsveränderer. Was blieb? Resignation oder Korruption durch das System.“

Sie nahm einen Schluck vom kalt gewordenen Tee. Unter dem Motto: „Tu was für dich“, vollzog sie die Kehrtwende ins Innere, wollte dort putzen, klären und reinigen. Bekam zwei Kinder und deren Väter wendeten sich neuen Liebschaften zu. Ich hörte nur noch betroffen zu.

Sie war ein armes Huhn, das eine Karriere in der Psychotherapie begann, dort ein Gruppengefühl aufbaute, welches sich fernab von jeglichem Alltagsleben abspielte. Nichts gewann sie für sich daraus. Und dann kamen die Orange-People. „Change faces“, so englisch durchgeknallte Titel besaßen die folgenden Gruppengespräche.

„Ich will meine Lebenswildheit verändern.“ Sie hatte die Arme vor sich verschränkt und immer noch dieses penetrante Lächeln. „You have to open the gaps to the unknown“. Break on through, yeah.

„The gate is straight - Deep and wide“. Was immer jene „gaps“ heißen mochten, Risse, Abbrüche oder Lücken, sie stürzte tief in eine geöffnete Schlucht und wurde eines Tages abgeholt, eingewickelt in einer engen Jacke.

Nun ja, bei Brigitte brauchte ich mir diese Sorgen nicht zu machen. Sie war ein aktiver Mensch und nahm sich, was sie brauchte. Und wenn sie den gesegneten Rauschebart zwischen ihre Schenkelschere bekommen hätte, dann auf ihn ein Halleluja. Wer weiß, was im Zeitpunkt seines Ablebens geschah.

Der Kreative Erich aus der Werbeagentur war auch so einer. Er hatte die Erlaubnis ohne orangene Kutte in der Agentur anzutreten. Er war immer freundlich gestimmt und erzählte mir in meinem Korrektorenbüro von seinen Erlebnissen in der Bhagwan –Disco in Sachsenhausen. Feierabends schmiss er sich immer in seine Kluft, hängte sich die Mala um den Hals und baggerte die strampelnden, zuckenden und nach Erleuchtung lechzenden Mädels an. Er schleppte massenweise ab, wie er sagte.

Das Lächeln der Souveränität -178-

Er war auf jeden Fall ein gläubiger Bhagwanist. Richtig traurig war Swami Erich, als den Meister das Zeitliche gesegnet hatte. Er geriet auf Distanz zu dem Verein, kündigte und vollzog ein Rebirthing. Die zugehörige Trauerarbeit war mit Geständnissen in meinem Büro verbunden, wo er mir die Wahrheit über die Rolls Royce beichtete. Sie gehörten nämlich irgendwelchen, dem Rauschebart nahestehenden Sannyassins, die sie für viel teures Geld weiterverscherbeln konnten, nachdem Shree Rajnesh seinen Rücken darin geschont hatte. Bhagwan schob seinen gebenedeiten Arsch hinein und schon waren die Schlitten hochgeadelt und scheißschwer teuer.

„Nutzenstiftung nennt sich das. Die Wertsteigerung tritt dadurch ein, dass die krudesten Bedürfnisse erfüllt werden. Auch da, da findest Du reine Geldmacherei.“

Es klang leicht resigniert. Aber der Mann war ein Werbefuzzy und kam sogleich auf den Namenswechsel zu sprechen, den der große Meister noch kurz vor seinem Ableben vollzogen hatte. Mein alter Swami fand den „geil“. Osho nannnte sich der spirituelle Provokateur nun bescheiden, auch so ein selbstgewählter Titel.

„Das Branding ist bedeutsam“, meinte der Ex-Swami.

Der kannte übrigens auch Brigitte. Sie turnte in den oberen Hierarchieetagen der Bhagwan- Clique herum. Dabei hatte er sie noch in den Verein eintreten sehen. Eine schnelle Karriere startete sie dann. Anfangs erzählte sie noch immer von Castaneda und Don Juan, erzählte von ihrer Fahrt nach Mexiko, eingeladen von diesem Politiker Frank. Und dann ging es flott nach Poona und schließlich auf die Steuerflucht nach Oregon.

Jetzt bin ich richtig drauf. Ich sehe sie. Brigitte in weiß steht dort am Zebrastreifen. Ich trete kräftig in die Pedalen, fahre fast eine Frau mit vier Einkaufstüten um und stehe neben meinem ersehnten Ziel.

"Was glotzt Du denn so blöd Alter? Willst Du mich etwa anmachen? Du geiler Sack Du." Verschreckt erkenne ich, dass sie, nabelfrei und mit rotem String-Tanga versehen, von der Hüfte bis zu den Füßen in eine klassisch blaue Jeans gehüllt ist. Gerade mal das knappe Hemdchen ist weiß.

Das Lächeln der Souveränität -179-

Ich entschuldige mich nicht einmal, da ich dieser Tanga-Tante gegenüber keine Schuld empfinde.

Mir fallen dafür die Frauenärsche von Peter Mosler ein, dargeboten in einer literarischen Exkursion durch die Frankfurter B-Ebene. Ausladende und wippende Ärsche, und dagegen die grazilen Zitronenpopos, schalenartig eingehüllt in Jeans. In seiner heftigen, 70er Jahre Attacke auf Frankfurt, in der Stadt, grässlich und anziehend zugleich, hätten auch beide Arschformen ihre Vor- und Nachteile. Das klang immerhin noch halbwegs erregend. Ich fahre einfach weiter, verlasse die Hauptwache.

Erich hat damals mit seiner Aussage auch das Rätsel der Mexikoreise geklärt, so nebenher. Warum Brigitte uns das nie erzählt hatte? Wieso wollte sie verschweigen, woher die Knete dafür kam?

Erichs Kreativität war der Agentur eines Tages zu undynamisch geworden, und er machte sich selbständig, „The Branding-Company“ nannte er seine eigene Firma. Ich verlor ihn zunächst aus den Augen. Neulich machte er mir vor den Türen des Arbeitsamts den Vorschlag, meine Firma als „Clear Your Mind Group“ zu titulieren.

„Ich fand die Gespräche mit Dir in Deinem Büro damals klasse. Wir alle kamen gerne zu Dir, um über unseren Stress und die Verwirrungen zu quatschen. Und meistens wurde uns danach im Kopf etwas klarer. Weißt Du eigentlich, dass Du bei uns immer der ‚Entspanner’ genannt wurdest?“

Schmeicheln kann der Kerl bestens. Ich fühlte mich richtig gut nach dem Lob, dachte ich doch in der Zwischenzeit oft, dass ich in der Agentur als so eine Art gutes Seelchen nur lächerlich gewirkt haben müsste.

Im Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts kann ich mein Gesicht erkennen. Ich probiere mal, ob ich so einen gnadenlosen Geschäftsblick drauf bekomme. Immerhin bin ich jetzt selbständig. So ein Blick, so mit einem unerbittlichen Lächeln, das würde es sicherlich bringen. Ich kann mich erinnern, wie Hermann es auf seinem Gesicht inszenierte, damals als

Das Lächeln der Souveränität -180- er seine Geschichte von dem waldeckschen Amerikaauswanderer ausmalte, diesem erfolgreichen.

Ob ich wohl genügend Selbstsicherheit ausstrahle? Ich bin mir nicht sicher, ob der unternehmerische Ausdruck klar zur Geltung kommt. Ich glaube, bei den Härtegraden mangelt es noch, da muss ich dringend nachregulieren.

Exaktemang hinter meinem Gesicht kann ich einen Anzug erkennen, feiner Stoff. Ob ich den wohl als Arbeitskleidung von der Steuer absetzen kann?

Da fällt mir was ein. Ich rufe noch auf der Stelle beim Finanzamt an. Jetzt wo ich gelisteter Entrepreneur bin, brauche ich eine neue Steuernummer.

Kurz vor dem Westendplatz klingelt das Handy. Sigrid ist dran. „Was erzählst Du denn da unten in der Stadt herum von wegen der Vaterschaft von meinem Sohn?"

„Äh, nichts weiter. Wieso denn?" Ich suche intensiv nach der plötzlich belastenden neuen Schuld von mir. Es fällt mir überhaupt nichts ein, mir wurde doch nur was so erzählt.

"Ach, tu nicht so! Du weiß genau, was ich meine." Sigrid herrscht mich an.

Den Argumentationsstil kenne ich doch. Doch fruchtet der nicht mehr.

"Ich wollte Dir mit dem Angebot der Totenrede eine Chance geben. Aber Du bist einfach undankbar."

"Chance? Wieso Chance? Auf was denn bitte bloß? Für was sollte ich Dir dankbar sein?"

Na ja gut. Die Rede würde ich schon ganz gerne halten.

"Nun äh, also ich meine ja bloß. Du solltest da nicht so viel rum erzählen."

"Ich erzähle hier gar nichts rum. Ich habe nur gehört, Hermann wäre gar nicht der Vater von Jan, Deinem Sohn. Das ist alles."

Das Lächeln der Souveränität -181-

"Siehst Du, da quatscht Ihr so rum da unten, setzt so Zeugs in die Welt. Das gehört sich nicht. Das ist das Allerletzte." Kreischend dreht sie auf.

Kalte Füße hat sie anscheinend da oben im Waldeckschen bekommen. Ich hingegen entspanne mich zunehmend hier auf der Bockenheimer Landstraße. „Ich weiß nicht, was Du von mir willst. Ich weiß, Du hast ein Kind in die Welt gesetzt, dessen Vater vermutlich im Dunklen weilt. Du hast sicherlich Hermanns alte Tante in Berlin über den Sachstand informiert.“

„Wieso alte Tante? Lebt denn die noch?“

Hoch gepokert habe ich mit der alten Tante, denn ich weiß tatsächlich nicht, ob die noch lebt. Ich antworte nicht direkt. Ich sage: „Na die ist doch an einer Genanalyse bestimmt interessiert.“

„Ach komm. Ich weiß nicht. Also ich melde mich bei Dir, also wegen der Rede.“ Sie legt auf.

Ich hänge jetzt in der Luft. „Scheiß auf die Rede“, denke ich mir. Ich weiß sowieso nicht, was ich dort sagen könnte. So was in der Art wie: „Ein guter Freund ist aus unser Mitte gerissen, wie vermissen ihn“, das wäre sowieso nur bescheuert. Sigrid würde sich bei meiner Totenrede eine trockene Träne auf die Wange quetschen und Frank gelangweilt die Taschenuhr aus der Westentasche ziehen.

Dabei hätte ich gerne einen Schuldigen präsentiert, so richtig gerne jemanden benannt, der Schuld an Hermanns Tod ist, am Grab. Dem schweinischen Bösen schauen dann alle an, sehen in das Loch in der Erde. Empörung zieht auf, Schreie, Handgemenge, und sie schmeißen den verfluchten Sack hinterher in die Tiefe. Ein quälend angsterfüllter Schrei steigt von dort unten auf.

Wobei ich längst begriffen habe, dass das alles so nicht funktioniert. All meine ursprünglichen Verdächte, dass ich Kathrin oder Frank hätte fassen können, die Sigrid oder Brigitte, den Semmelmakler vielleicht oder Rudi, die haben sich doch alle aufgelöst.

Das Lächeln der Souveränität -182- Hermann entzieht sich offenkundig einer solchen Lösung selber. Und was soll’s. Der Kerl hat sich selber aufgeknüpft und nicht jemand anderes. Das ist kein Mord, da gibt es keinen Täter, keinen Killer. Selbst die Fehlschläge in seinem Leben, geschweige des vergeigten Studiums und auch nicht die verstorbene Mutter, das ist doch alles abgeperlt an ihm. Sie geben keinen Grund für die Tat. Souverän erhebt er sich auch noch darüber.

„Scheiß auf die Rede“, denke ich mir, „das ist doch alles ein heilloses Unterfangen“. Ich bin jetzt selbständig und muss meine Zeit für das Geschäft nutzen. Ein unternehmerisches „Carpe Diem“ muss mich ab nun beseelen.

„Scheiß auf die Nuss“, denke ich mir. Das schwere Laufrad der Geschichte hat sie mit dem heutigen Tag sowieso plattgewalzt.

# We are the champions

Hiltrud steht in Bockenheim vor mir, nicht als Frau in weiß, sondern ganz real als fleischliches Wesen, das in einen mausgrauen Rock gewickelt ist. Sie ist freundlich zu mir, lächelt mich gar an. Das ist völlig neu an ihr. Sie begrüßt mich.

So viel Zuwendung von ihr habe ich seit den gemeinsamen WG-Tagen in Sachsenhausen nicht mehr erfahren. Wir wohnten dort zu fünft, also eher zu sechst. In Hiltruds Zimmer saß und lag nämlich immer noch eine weitere Person, Norbert, ihr Freund.

Der kam eigentlich so gut wie nie an unseren gemeinsamen Küchentisch. Den Kaffee und auch mal eine Stulle servierte ihm Hiltrud immer an seine Lagerstätte. Sie bediente ihn rundum.

Seine regelrechte Unlust mit anderen von uns Kontakt aufzunehmen, ließ er uns offen spüren. Wenn ich ins Zimmer kam, sprach er häufig knarzig, was es denn bloß gäbe. Er verdeckte schnell seine momentane Literatur. Manchmal konnte ich, wohl auch beabsichtigt, die "Schwarzen Protokolle" oder „Kalaschnikow“ erkennen. Jene Anarcho-Zeitschrift gab es in jeder linken Buchhandlung, das andere Blättchen war nicht so ohne weiteres zu bekommen.

Das Lächeln der Souveränität -183- Norbert pflegte sein klandestines Image, Mitglied der "Revolutionären Zelle" oder den "Zellen" zu sein, auch "RZ" genannt.

Unsere Stimmen wurden automatisch leiser, wenn wir über Norbert sprachen. Wir flüsterten fast, immer angedenk der großen Vermutung "Feind hört mit". Seine eigenen Stellungnahmen zum Leben und insbesondere seinen Aktivitäten darin waren selten richtig verständlich. Häufig beendete er seine Sätze nicht und beschränkte sich auf Andeutungen.

Na klar, klandestin war das zu verstehen. Das gab selbstverständlich Raum für weitläufige Auslegungen. Neben Bakunin, Kropotkin und so nannte er auch den frühen Dutschke irgendwie als Garanten seines Weltverständnisses. Das hatte wohl was mit diesen Zellen zu tun. Also nichts Genaues wussten wir nicht, wir munkelten.

Keinerlei Unklarheit hinterließ er bei der Benennung seines Gegners. Das war der Imperialismus. Über den erregte er sich gar heftig, über die Amis und deren deutschen Büttel in Bonn. Norbert erhob sich von seinem Matratzenlager, schimpfte wild gestikulierend über SDI, die Dominotheorie, den CIA und deutsche Waffenexporte nach Südafrika. Zwecks Beruhigung drehte er sich eine Zigarette mit Schwarzem Krausen und krümelte zitternd Tabak auf den Boden. Er war mächtig bewegt.

Nach meinem Verständnis war er sicherlich irgendwie verdeckt mit dem Unterwandern beschäftigt. Immer wenn er spätnachmittags die Wohnung verließ, um durch Stadt und Umland zu streifen, blieben seine Ziele obskur. Manchmal setzte er sich ein Barett auf den Kopf. Aus Gründen der Tarnung hatte er den Guevara-Button abgenommen. Er war halt so ein richtiger Antiimpi, der verdeckt gegen das Schweinesystem kämpfte.

Unterstützenswürdig waren aus seiner Sicht allerdings auch andere Kämpfe, solche die die Befreiung zum Ziel hatten. Dazu gehörte auch der Widerstand gegen die Spekulanten im Frankfurter Westend. Als der legendäre Häuserblock geräumt werden sollte, waren wir richtiggehend empört, ja aufgebracht und demonstrierten, was das Zeug hielt.

Das ließ sich Norbert nicht entgehen. Ein mächtiger solidarischer Aufmarsch für unsere, von Obdachlosigkeit bedrohten, Freunde stand bevor und natürlich ebenso gegen das gefräßige

Das Lächeln der Souveränität -184- Spekulantentum. Noch am Vorabend vor einer Demonstration ging ich mit Norbert Plakate kleben, Aufrufen für die Demo und "Weg mit Spekulantendreck".

Norbert erzählte mir unterwegs von den amerikanischen Werbeagenturen, die sich im Westend ansiedeln wollten. Diese Propagandisten der Imperialisten würden sich hinterhältig Bauland für ihre Büros ergattern wollen. Ich hielt dagegen mit Aussagen zur Verwahrlosung von Stadtteilen, heruntergekommenen Häusern und sinkenden Mieten. Die Grundstückspreise allerdings, die seien dabei im Steigen begriffen. Das ist das Szenario zum Einstieg der Spekulanten, bekannt aus der Stadtentwicklung und der Ökonomie von Grund und Boden.

Gleichwie, die Connection von Spekulanten und Staatsmacht hatte ihre Binnenkräfte mobilisiert und Polizei in der Stadt massiert. Die versuchten nun das Westend zu kontrollieren. Und zwei von der Sorte tauchten plötzlich nahe bei uns auf. Norbert ergriff den Kleistereimer und schmiss ihnen das Ding entgegen. Leider konnte ich nicht in Ruhe verfolgen, wie die Polizisten auf dem ausgelaufenen Kleister entlang schlitterten.

Zumindest hatten wir etwas Zeit gewonnen, um zu verduften. Wir liefen in Richtung Universität, durch die Corneliusstraße. Und am Beethovenplatz wurden wir schon von mehreren Einsatzkräften verfolgt. Die Kirche in der Mitte des Platzes mit all dem Gebüsch drumherum bot uns Deckung.

Ein Polizeiwagen umkreiste uns. Wir stolperten hinter den Sträuchern rum, als Norbert sich mit einem mal Steine schnappte und sie gegen einige parkende Autos schmetterte. Das gab einen scheppernden Krach und die Polizei fuhr dorthin.

Unsere Fluchtlinie war damit frei, und flugs stürzten wir ins Walter-Kolb-Heim, sowieso ein befreites Gebiet. Da würde sich eine Polizei nicht so schnell rein wagen. Im Keller tobte eine Fete.

Jassmann samt seinem mehr oder weniger getrimmten Bartgestoppel im Gesicht stand an der Eingangstür gelehnt, die Arme gekreuzt und die Hände unter die Achseln geschoben. Die Daumen waren auf die Brust geklemmt. Die Kippe hing ihm im linken Mundwinkel, und er schnarrte uns derart an: „Na, da habt Ihr den Arsch aber gerade noch mal durch die Tür

Das Lächeln der Souveränität -185- gekriegt.“ Die Kippe bewegte sich im Sprechtakt. Doch völlig unbeeidruckt glitten seine Augen sogleich weiter über die verzückte Masse der Tanzenden.

Für seine gelungenen Befreiungsschläge spendierte ich Norbert ein Henninger–Bier und mischte mich unter die Zappelmasse. Sie stampfte im Rhythmus von „I can’t get no satisfaction“. Ich musste schließlich noch meine Aufregungsenergie abagieren.

Im oberen Treppenhaus saß derweil Jassmans Zoff-Truppe. Diese sogenannte „Zornoffensive für Frieden“ führte so spät noch ein Meeting durch. „Sie besprechen den morgigen Einsatzplan“, so wurde im Tanzkeller verdeckt kolportiert.

Jassmann stand mittlerweile am Hauseingang und stritt sich mit einer Frau im Morgenmantel über verschwundene Bücher. Er habe sie wohl geklaut und verscherbelt, so brüllte sie ihn an.

Norbert meinte später, dass wäre bloß seine Ex-Geliebte gewesen, die sei ab neuestem in der autonomen Frauenbewegung aktiv, und irgendwie wäre sie mit dieser Schwarzer verbandelt und der ihrem kleinen Unterschied, oder so, aber mit großen Folgen.

Also egal, ich kannte Norbert recht gut. Somit war ich befugt, meine Bewertung eines tragischen Zwischenfalls abzugeben, der einige Jahre später Norbert das Leben kostete. Eine Bewertung, die mir die Feindschaft von vielen Revolutionären einbrachte, einschließlich der absoluten Verachtung durch Hiltrud.

Unser gegenseitiges Verhältnis war freilich auch schon vorher nicht so astrein. Nur immer nebenher hörte ich von Beschwerden Norberts über mich durch Hiltrud oder noch weiter durch Charlee. Letztere war eine verflossene Beziehung von mir, die Frau, die dann mit einem verflossenen Freund in die Ägäis ausgebüxt ist. Sie wohnte auch in unserer WG.

Einmal hatte ich Norbert einen Kaffee an die Matratze gebracht und gefragt, ob er den auch aus meiner Hand genießen könne. Ich ahnte da noch nicht, dass er hochgradig sensibel war, und ich fand im Nachhinein meine Bemerkung etwas zu flapsig. Norbert lächelte mich an, kalt, wie ich im Nachhinein empfand, und er sagte „aber klar doch, den nehm’ ich“.

Das Lächeln der Souveränität -186- Später erzählte mir Charlee, dass sich Norbert bei Hiltrud furchtbar aufgeregt hätte. Dass ihm Kaffee ins Zimmer gebracht würde, dass sei doch mal seine Angelegenheit, und dafür hätte er sich nicht zu rechtfertigen. Ihm wäre es vorgekommen, als hätte ich ihn ausschnüffeln wollen. Aber dafür wäre meine Vorgehensweise dann doch zu dilettantisch.

Dabei wollte ich nur seine Meinung hören, ob der bundesdeutsche Staat sich positiv verändern würde. Immerhin hatte er gegen die Freilassung des CDU-Politikers Peter Lorenz aus dem Volksgefängnis eigene revolutionäre Gefangene freigelassen, also den Pohle, Horst Mahler, die Becker und so. Eigentlich hätten es sehr viel mehr sein können.

Norbert legte ein reichlich zerlesenes Buch beiseite, „Die Saat“, ein Roman aus den Bauernkriegen. Er schaltete das Radio neben sich an und nahm einen Schluck vom Kaffee. Er blickte zum Fenster und sagte, dass Lorenz freigelassen wurde, das sei beileibe kein humaner Akt der Regierung gewesen. „Die Amerikaner haben Druck gemacht, der Kerl war doch bei denen ein hochrangiges Mitglied im Geheimdienst.“

Bedeutsam riss er seine Augen auf. „Die hatten Schiss, dass der Junge plaudert. Die in Bonn wollten ihn ja auch angeblich nicht austauschen. Aber da waren die Amis unerbittlich.“

Norbert hatte sich wieder in einen Kessel voll brodelnder Erregungen verwandelt. Dabei blickte er öfters zum Fenster. Ich erfuhr, dass er im Haus gegenüber den BND witterte, dass der ihn observierte. Mit dem laufenden Radio könnten die ihn angeblich nicht abhören.

Einige Wochen später hörte ich morgens im Radio, in unserer Küche, dass der Vietcong in Saigon einmarschiert wäre. Wir hatten einen Sieg errungen. Ich befragte meine Kommunarden, ob wir diesen denkwürdigen Tag nicht wenigstens mit einem gemeinsamen Kaffee feiern sollten, vielleicht sogar mit Sekt. Aber sie waren noch reichlich schläfrig. Norbert kam gerade zur Wohnungstür herein, nahm sein Barett vom Kopf und war zu müde zum feiern. Damit verhallten all die kämpferisch bewegten „Ho Ho Ho Chi Minh“ – Rufe in der staubigen Wüste der Vergangenheit.

Ich wollte Norbert aber noch mitteilen, dass die Wohnung gegenüber schon seit Monaten leer stehen würde, da wäre kein BND. Ich war ganz einfach in das Haus hinein gegangen und

Das Lächeln der Souveränität -187- hatte nachgeschaut. Ich wollte Norbert mitteilen, dass er sich sicher und unbeobachtet fühlen könne.

Er ergriff mich recht ruppig am Arm und zog mich in eine Ecke des Flurs. „Das ist denen ihre Verschleierungstaktik, weißt Du. Die wissen, dass ich ihnen auf die Schliche gekommen bin. Und sei doch nicht so leichtgläubig. Der äußere Anschein trügt. Die haben schon eine neue Stelle für die Observierung bezogen.“ Mit einem letzten und heftig bedeutungsvollen Blick auf mich verzog er sich in das Zimmer von Hiltrud.

Ich war mir momentan nicht ganz sicher, bei wem die Verschwörung nun lag, beim allumfassenden Staat, dem Schweinesystem, diesem Ungeheuer „Leviathan“, wie ich mal gelesen hatte. Dass ein gigantischer Komplott also von dessen Schergen, wie BND oder BKA vollzogen wurde, oder ob der nicht eher von seinen mannhaften Bekämpfern betrieben wurde. „Der äußere Anschein trügt“, dieser Satz hallte in meinem Kopf hinterher. Wer konnte da noch garantieren, dass Norbert nicht selber Organ dieses Leviathans war?

Sicher, an den Taten sollte man das erkennen, aber die wurden verschleiert, verdeckt und sonst was. So ein Morgen, oder beginnender Tag, der könnte so unschuldig sein. Immerhin war Brot da, Butter im Kühlschrank und ebenso Marmelade von meinem letzten Heimatbesuch.

Charlee schlief noch. Sie war sauer ins Bett gegangen, hatte ich gestern doch recht eng mit Gudrun geflirtet, nah dran an der Wäsche. Mir hatte das gut getan, weil ihre Zunge, die tanzte wie ein Derwisch in mir und daran. Ich fühlte mich sauwohl und machte mir so meine Gedanken zu Norbert beim einsamen Kaffee. In Saigon gingen die Menschen schon seit Stunden einer befreiten und kommunistisch-gloriosen Zukunft entgegen.

# Wait for the ricochet

War Norbert von Gaukelbildern getrieben? Oder verstand er sich darauf, bei mir und anderen Hirngespinste zu produzieren? Seine Welt war mir dann doch zu dubios. Wohin sollte das führen? Fährten lesen, Spuren erkunden, Zeichen ermitteln, und das immer im Bewusstsein, dass alles ein bloßer Schein ist?

Das Lächeln der Souveränität -188-

Hinter jedem simplen Busch ein wilder Tiger, hinter jedem Strauch ein gewalttätiger Gorilla, unter jedem harmlosen Gestrüpp eine giftige Schlange und Fußspuren eines gefährlichen Löwen, die aber von einem spaßigen Affen stammten. Die Wildnis des Tarzan war demgegenüber wohlgeordnet.

Und Norbert musste seinerseits all die scheinhaften Spuren setzen. Kam er da noch zu einer hinter all dem beabsichtigten Tat? Oder war die ihrerseits wieder nur Blendwerk? Ich stand mit meiner Kaffeetasse auf und blickte rüber zu dem verdächtigen Fenster auf der anderen Straßenseite. BND! Ich musste lachen.

Norbert war ein Wildnissucher, der die Grenzen einer geordneten Klarheit längst überschritten hatte und mit der Wildnis eins geworden war. Diese von mir gewonnene Erkenntnis war in meinem Bekanntenkreis jedoch kaum mitteilbar, schnell hätte ich mich Verdächtigungen ausgesetzt. Den Ausweg aus diesem Irrsinn fand ich später in „Funny“, unserem universitären Magazin, von Satire bis Zynismus reichend.

Norbert war ein kühler Analytiker, der seine weit und tief geschraubten Verdächtigungen mit eigner Logik versah und sich somit Gewissheit verschaffte. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite war er aber auch hochgradig explosiv. Ungeheuerlich schon war es, wie er sich manchmal erregte, wie sein Temperament mit ihm durchging.

Ich kannte ihn also. Und eines Tages lag er plattgewalzt auf dem Pflaster wie ein präparierter Schmetterling. Ein träger Koloss von Wasserwerfer hatte ihn unerbittlich erfasst, war einfach über ihn weg gerollt. Die leblosen Körperteile klebten am Asphalt und die entsprechende Politszene tobte. Der Leviathan hatte ihn mit einem lockeren Schlag seiner Flosse ins Jenseits befördert.

Ich kannte Norbert und wusste, dass er sehr gut provozieren konnte, dass er mit einer in den Himmel gestreckten Faust dem Wasserwerfer entgegen gerannt sein könnte. Er kannte diese massig-schwerfälligen Maschinen, die einmal in Fahrt, nur schwer von ihrer eingeschlagenen Richtung abzubringen waren.

Das Lächeln der Souveränität -189- Wenn es so gewesen sein sollte, dann ließ das nur zwei Schlussfolgerungen zu: Sein ansonsten klares Bewertungsvermögen, dass auch solche Resultate aus Masse mal Geschwindigkeit einschätzen konnte, das war eingeschränkt, vielleicht zuviel Henninger. Oder, und das steigerte das Provokative meiner Überlegung zusätzlich, er hatte es gewusst und schlichtweg in Kauf genommen. Das würde natürlich eine Tendenz zum Suizid unterstellen, ein Gedanke, der Empörung provozieren musste.

Andererseits war es auch vorstellbar, dass ihn die Polizei ins Visier genommen hatte. Allerdings nicht, weil er als ein Staatsfeind auf einer Abschussliste gestanden hätte. Diese Überlegung hielt ich für völlig absurd. Aber Polizisten sind ja nun auch nicht ohne Emotionen, inklusive Rachsucht, ausgestattet. Die Polizei stritt selbstverständlich alles ab, wie sich das so gehörte für so einen Apparat.

Ich hielt mit meinen Überlegungen nicht hinter den Berg. Mir ging die Erhöhung Norberts zu einem Märtyrer anschließend auf den Zeiger. Jetzt wurde er als der verfolgte Unschuldige in den Himmel gehoben, der getreue Kämpfer für die große Gerechtigkeit, gegen die schweinisch Herrschenden.

Ich wollte mich nicht entscheiden, wem ich die Schuld für den Tod Norberts geben sollte. Vorstellbar waren beide Positionen. Und das saß wie ein Stachel im Fleische der trauernden Gemeinde. Es gab böse Anwürfe an mich, bis an den Rand der körperlichen Bedrohung. Ich sah für mich auch keine Notwendigkeit, mich zu entscheiden.

Hiltrud in ihrer persönlichen Trauer tat diese martyriumsgesättigte Zuneigung der Gemeinde natürlich gut. Sie war nun die Gefährtin des Helden, die auf grauenhafte Weise zur Quasi- Witwe geworden war. Sie nahm all die Zuwendungen gerne an. Mich verachtete sie.

Hiltrud hat mir nie sonderlich gut gefallen. Ihre Haare waren streng gekämmt, wodurch sie mich an eine ehemalige Religionslehrerin erinnerte. Beide schauten sie auch recht verbittert in die Welt. Jetzt aber trägt sie ihr Haar offen, und auch die Verbitterung scheint sich gelegt zu haben. Gar nicht mal unhübsch.

Sie grüßt mich von Charlee, war jetzt erst bei ihr in der Ägäis. Sie fragt mich, ob wir nicht einen Kaffee zusammen trinken sollten. Ich weiß nicht so recht, will sie auch nach all den

Das Lächeln der Souveränität -190- Jahren der Ignoranz nicht unbedingt düpieren. Aber Charlee interessiert mich zur Zeit wie dieser berüchtigte Sack Reis in China. Und dann heißt es auch, dass time cash sei, money gewissermaßen. Immerhin bin ich jetzt ein selbständiger Unternehmer.

Doch Hiltrud schiebt sich schon neben mir her auf die Treppen zum Eiscafé Calabrese. Da sitzen sie, die müden Krieger, die Gestrandeten des Schiffs “Amok-Absurd”. Sie, die einst bewegten Tänzer auf wilden Wellen, waren an den unteren Rand der Gesellschaft gepurzelt. Sie schlürfen dort friedlich ihren Capuccino, den ihnen die italienische Mama schon seit zwanzig Jahren serviert. Gebeugt und mit eingefallenen Gesichtern palavern sie über Erdöl und islamistischen Terror, über die Weltlage generell und die Gestaltung von Radwegen in Bockenheim. Leerzeiten sind zu füllen.

Aufrecht hatte sich Norbert wohl wutschnaubend auf die Wasserwerfer geworfen, vielleicht mit einer Flasche Henninger in der oben schwebenden Hand, als wolle er sie siegestrunken in den Himmel schmeißen. Bullets flying.

„Ihr Arschlöcher“ hat er ihnen vielleicht entgegen gebrüllt, „Ihr könnt mich mal.“ Und da stand er unbeugsam mit seinem gestählten Willen, Aug in Aug gewissermaßen mit dem massigen Koloss der Reaktionäre. Zwingend rollte der auf ihn zu. You'd better close your eyes.

Ein Stöhnen, ein Dröhnen in seinen Ohren, hysterische Schreie, ein immer schneller werdendes wildes Trommelstakkato. Stopp!

Bow your head. Eine Explosion, dramatisch und laut. Dunkel überall. Aus.

Hiltrud bemerkt schnell mein Desinteresse am Thema „Charlee“. Für solche, noch nicht verbalisierten Dinge besaß sie immer schon ein gutes Gespür.

Ich finde mich in einer Spannung zwischen sowas wie Verpflichtung, ihr gegenüber freundlich zu sein, und meinem Desinteresse am Thema. Sie wechselt, erzählt von sich, von ihrer neuen Stelle. Sie ist ausgebildete Archivarin und hat, nach langen Jahren der beruflichen Abstinenz, nun eine nicht eben gut bezahlte Stelle in einer Bibliothek der Uni erhalten. In

Das Lächeln der Souveränität -191- ihrem neuen Gebäude im Westend werden irgendwelche bislang getrennten Bücherbestände zusammengeführt.

Ich habe soeben gegähnt. So glaube ich. Ich weiß nicht genau. Dabei habe ich heute gar eine Entschuldigung für mein Desinteresse. Ich fühle mich einfach gedrängt, meine Zeit für meine Firma einzusetzen. Früher hätte ich die Spannung ganz einfach beseitigt, indem ich gesagt hätte, dass mich das alles nicht interessiere, wäre aufgestanden und gegangen. Aber derartig abrupte, schroffe Fluchtbewegungen habe ich mittels Meditation gut in den Griff bekommen.

Jetzt lächelt mich Hiltrud von unten an, so irritierend schüchtern. Irgendwie mäuschenhaft war sie schon immer. Was mag denn jetzt bloß kommen?

„Du hast doch zu diesem Hermann einen guten Draht gehabt, dem vom Theater hier.“ Ich bestätige. „Der hat sich doch irgendwie umgebracht.“ Ich kann nicht verneinen. „Der hat sich vorher sehr intensiv mit Norbert beschäftigt, so unterhalten, also schon so richtig persönlich gesprochen und hat auch Aufzeichnungen gemacht.“ Ich kann dazu gar nichts sagen. Was der sich wohl davon versprochen hat?

„Also diese Aufzeichnungen, die hätte ich eigentlich gerne. Diesem Hermann so, dem hat Norbert irgendwie unendlich vertraut, hat dem wirklich sehr viel erzählt von sich, fast alles. Ich weiß nicht, der wollte damit wohl so Theater machen. Und der hat doch auch schon Aufführungen gemacht, die, die haben hier doch viel Ärger verursacht, Du weißt. Da waren doch so richtige Chauvi-Sachen dabei. Ich weiß nicht, mir wäre es lieber, wenn ich diese Aufzeichnungen bekommen könnte.“

Ich antworte, dass ich gerne helfen würde, aber nicht wüsste wie. Bei meinem Theaterbesuch habe ich tatsächlich keine Unterlagen von Hermann gefunden. Vermutlich hatte Sigrid schon alles abgegriffen. Ich versuche, Hiltrud Mut zuzusprechen. Sicherlich würde nichts von den Aufzeichnungen in die Öffentlichkeit gelangen. Ich persönlich hätte indessen nur allzu gerne gewusst, was die beiden so besprochen haben.

Später beim Kochen kreisen meine Gedanken völlig unmeditativ um die unentdeckten Papiere. Ob Hermann über die Interviews einen Einblick in die Machenschaften der

Das Lächeln der Souveränität -192- Geheimdienste gewonnen hat? Vielleicht haben die ihm ja den Strick um den Hals gelegt. Der wurde denen zu gefährlich mit seinem Hintergrundwissen. Durchschaut! Der BND also.

Ich muss lachen. Meinen Zeigefinger erwische ich dabei mit dem Messer. Die Zwiebelringe färben sich rot ein.

Beim Essen mit verpflastertem Finger bespreche ich mit meiner geliebten Sylvia den heutigen Tagesverlauf. Gemeinsam strukturieren wir die nächsten Schritte in meine Selbständigkeit.

# Karma, kein Erbarmen

Ich sitze in meinem Homeoffice, bereit, auf meinem jüngst über Ebay erstandenen Bürostuhl. Der ist praktisch. Der hat flinke Rollen, und ich kann ihn zurückkippen. Ich lege meine Beine auf den Schreibtisch. Der Tag steht nämlich still.

Dieser Tag ist seltsam. Das war mir sofort bewusst, als ich aufstand und in meine Unterhose stieg. Der Tag ist grau. Das wusste ich schon, ohne dass ich aus dem Fenster hätte sehen müssen. Auch das morgendliche Kaffeetrinken reiht sich nahtlos in den Stillstand ein. Sylvia ist schon fort. Es gibt absolut nichts Besonderes heute, die Salami ist rund und das Ei weich gekocht, Normalfall alles.

Ich habe keine Socken an, es ist so formlos warm. Eine einfache Trainingshose kleidet meine Beine, die dort neben einem Taschenbuch der Dinge harren. Ein schlichtes weißes T-Shirt bildet den oberen Abschluss meiner lockeren Business-Kleidung.

Seit mehreren derartigen Tagen warte ich auf Anrufe, Meldungen: „Wir möchten Ihnen Manuskripte zur Korrektur zusenden.“ Nichts.

Auch der tägliche Griff in den Briefkasten erfasst nur die tiefe Leere, ungriffig wie eine Mailbox. Rund hundert Briefe mit meinem unnachahmbaren Angebot habe ich dagegen versand. Ich werde wohl noch bis morgen warten, vielleicht bis übermorgen, dann werde ich all die Angeschriebenen anrufen müssen.

Das Lächeln der Souveränität -193- Mein Blick wandert ziellos durch den Raum, erfasst das Buch neben meinen ruhenden Beinen. Es wurde mir bei der Einführung in die Selbständigkeit empfohlen und ist eine technische Anweisung, wie man Freunde gewinnen kann. Vor allem soll man den anderen keinesfalls kritisieren, weil dessen Stolz nur verletzt würde. Und das könnte ein Geschäftsfreund sein. Der Autor ist der Auffassung, dass sich auf dieser alten Erde fast kein Mensch jemals selbst beschuldige. Also würde er auch keine Kritik von anderen akzeptieren. Woher der Herr nur diese Überzeugung nimmt, das ist mir schleierhaft.

Ich fühle mich so oft schuldig. Wie jetzt. Jetzt sitze ich hier nur so rum und warte, dass mir die Kunden ins Haus fallen. Mit der frisch erworbenen Technik könnte ich sie flott zu meinen lieben Freunden machen. Ich müsste was tun, und viel vielmehr davon damit sie meine offenherzige Freundlichkeit begreifen.

Jetzt sollte ich zumindest mal meine Beine auf den Boden stellen. Und just im Moment klingelt das Telefon. Ich ergreife das Gerät und konzentriere mich erregt aufs Säuseln: „Guten Tag, Firma Klartext hier, was kann ich für Sie tun?“ Das habe ich geübt. Eine kleine Pause entsteht.

„Was redest Du denn da für ein Zeugs? Dieser Sprachstil steht Dir gar nicht. Den solltest Du Dir wieder abgewöhnen.“ Rudi ist am Apparat.

Rudi will mir ausrichten, dass die Totenfeier organisatorisch planerisch eingerichtet sei. Er schwärmt von den mexikanischen Musikern, Blechbläsern, Geigern und Gitarristen. Ich kann mir die georderten heißblütigen Musikanten gut vorstellen, alle mit buschigem Schnurrbart, breiter Schärpe über dem fülligen Bauch und auf dem Rücken einen zwei Meter großen Sombrero.

Schon beim Trauerzug soll Cerveza mexicana gereicht werden, Tequila erst am Grab.

„Das macht Ihr ja einfach toll.“ Ich versuche meinen ironischen Unterton zu unterdrücken. „Und einen Kran habt Ihr auch bereit stehen, um die Besoffenen aus dem Grab zu hieven.“

„Lass Deinen blöden Sarkasmus. Das wird eine Vollblutshow, die Musiker sind Spitzenklasse.“

Das Lächeln der Souveränität -194-

„Und das richtest Du mir im Auftrag von Frank aus, oder?“

Rudi reagiert empfindlich. „Ich weiß gar nicht, was Du gegen den hast. Der Mann kann sowas bestens arrangieren, die Öffentlichkeitsarbeit, darin ist der ein wahrer Meister, ein atemberaubender Zampano. Der holt sogar ein Fernsehteam vom Hessischen Rundfunk ran.“

„Dass mitten im Festgelage eine Beerdigung stattfinden soll, das ist den Beteiligten doch bewusst, ja?“

Durch die Telefonleitung hindurch sehe ich, wie sich der Hemdkragen von Rudi gereizt nach oben stellt. Seine bislang schon aufgedrehte Sprechweise gewinnt an Drive.

„Weißt Du, der Mann ist spitze. Wir haben den jetzt als Sponsor für unser Modernenmuseum gewonnen. Der stellt uns hochkarätige Kunst aus Mexiko zur Verfügung. Und im Herbst starten wir zur großangelegten Eröffnungsfeier, eine Woche lang.“

„Und Frank prescht täglich auf einem Gaul die Berliner Straße lang, ausstaffiert wie Emiliano Zapata, mit gekreuzten Patronengurten über der Brust und Knarre in der Hand. An seinem rechten Bein hängt eine schmachtende Frau mit fliegenden Kleidern. Ich kann Euch dahingehend beraten.“

Ich höre Rudi durch die Leitung schnaufen. Ich frage ihn, wie denn die Sponsorentätigkeit von Frank aussähe und erfahre, dass es dabei um eine Dauerleihgabe geht.

„Was macht Ihr denn, wenn der eines Tages mit der Knarre des rechtlichen Eigentümers vor der Tür steht und seine geliehenen Bilder zurückverlangt? Die hingen bis dahin in einem berühmten Museum, sind dadurch selber sehr bekannt geworden, und haben somit ihren Marktpreis nach oben geschraubt. Der ist wahrlich ein wahrer Meister, ein Zampano wie Du es gesagt hast.“

„Ach Du mit Deine dämlichen Unterstellungen. Du bist so ein richtig deutscher Bedenkenträger.“ Völlig missgelaunt teilt er mir nun mit, dass er mir lediglich die Sache mit der Beerdigung in Korbach erzählen wollte. „Wir haben also alles im Griff.“

Das Lächeln der Souveränität -195-

„Da seid Ihr gut in der Zeit. Ich habe dagegen meine Rede längst noch nicht fertig.“ Pause.

„Rede? Wieso Rede? Du bist doch schon längst nicht mehr dabei.“

Das ist ein Tritt. Meine Beine räumen schleunigst den Schreibtisch. Tiefe Empörung steigt hoch.

Die haben mich kaltgestellt, ausgetrickst. Ich bin denen zu unberechenbar. Die reden schon gar nicht mehr mit mir darüber. Versöhnlicher hätte ich mich zeigen sollen, dann wäre ich dabei gewesen. In meinem Heimbüro laufe ich auf und ab. Vorhin, die Provokationen an Rudi, die waren gleichfalls so kontraproduktiv wie nur was. Ich reite mich ständig selber in die Scheiße.

Aber wie hatte ich zuletzt noch gedacht: „Scheiß auf die Rede!“ Ich atme tief ein, tief in den Bauch hinein. Ruhe senkt sich herab.

Hingegen werde ich nicht auf die Rede scheißen. So einfach werde ich es denen nicht machen. Es treibt mich wohl weiter die zu knackende Nuss. Die Faszination für das magische Licht, das überirdische, es erfasst und führt mich über Felder, Wälder, tief und weit, über Flüsse und saftige Wiesen. Eine Idee ergreift mich von oben herab.

Erneut rufe ich bei Sigrid an, und wieder ist nur der Anrufbeantworter dran. Den bespreche ich genau: „Liebe Sigrid. Ich wäre Dir sehr verbunden, wenn Du mich endlich anrufen und mir sagen könntest, ob ich die Totenrede halten soll oder nicht. Wenn Du das bis morgen Mittag nicht erledigen kannst, werde ich mit dem Korbacher Ordnungsamt Kontakt aufnehmen und Weiteres regeln.“

Mehr sage ich nicht. Ich habe schon einige Male angerufen und um Rückruf gebeten und wieder nichts gehört. Und soeben habe ich mir ein böses Mittel der Erpressung ausgedacht. Sigrid wird garantiert anrufen.

Jetzt rufe ich auch noch meine Eltern an, das muss ich tun. Mein Vater hatte in Rücken und Beinen mächtige Schmerzen bekommen. Sie haben ihm ein neu entwickeltes Pflaster gegen

Das Lächeln der Souveränität -196- die Qualen verschrieben. Meine Mutter ist guter Dinge. Das Pflaster wirkt. Gegenwärtig ist der alte Herr weniger grantig. Er selber spricht kaum am Telefon, das funktioniert mit seinem Hörgerät nicht so gut. Manchmal denke ich, der will gar nicht mehr so viel von außen mitbekommen, der hat genug mit sich und der Vergangenheit zu tun.

Meine Mutter dagegen verfolgt das Geschehen noch genau. „Sag mal, diesen Jassmann kennst Du doch auch. Ich habe den gestern im Fernsehen gesehen. Der ist wohl gerade in New York. Die haben ihn deswegen befragt, aber ich habe ihn kaum verstanden, der hat so komisch genuschelt. Im Hintergrund stand da jemand rum, das hätte dieser Frank sein können. Der war doch auch damals bei Euch in der Korbacher Disco oder bei Euch Kellergeistern mit dabei. Kannst Du die denn nicht mal fragen, ob die so beruflich was für Dich tun können? Die haben es doch wirklich zu was gebracht.“

Ich möchte meine Mutter an dieser Stelle nicht mit meinen Problemen mit den beiden Herren belasten und sage nur, dass wir uns schon ewig nicht mehr gesehen hätten.

„Ich dachte ja nur, dass die Dir hätten helfen können.“ Meine Mutter macht sich halt auch im fortgeschrittenen Alter noch Sorgen um ihren Sohn, ob der im Leben Fuß fasst. Berechtigt vielleicht.

Ich habe Jassmann auch im Fernsehen gesehen, sein dauergequält schauendes Gesicht, die Stirn gerunzelt. Es scheint, als müsse er überzeugt den sorgenden, den strafenden Vater darstellen. Eine Verkörperung, die wohl so haarscharf trifft, ja geradezu gefordert wird. Dieser sturmzerzauste Stamm, den nichts zermalmt, wenn all das undurchschaubare politische Drumherum sich mit matter Bangigkeit erfüllt. Aufrecht steht die väterliche Zucht dagegen, die all die Unsrigen zur Weisheit ziehen will. Das wollen wir doch. Er sorgt sich gleichwohl um uns. Also, irgendwoher muss sein Erfolg schließlich wohl kommen. Es ist nun mal Kindespflicht, das anzuerkennen.

Also, möchte wohl sagen, dass man ihn tatsächlich kaum verstehen kann. Ich fand es schon irgendwie anders bewundernswert, wie er im Fernsehen völlig verbissen quasselte, die Zähne kaum auseinander bewegte. Das Team, ganz geil auf bedeutende Bilder, hielt die Kamera über Minuten unentwegt auf ihn gerichtet, und nichts kam rüber, trotz quälender Dauerrede.

Das Lächeln der Souveränität -197- Das ist schon phänomenal. Manche reden von einer Kommunikationsgesellschaft. Jassmann führt die vor laufenden Kommunikationsmaschinen ins Absurde.

Der hat die Weisheit sowieso. Dutschkes Marsch durch die Institutionen, die hat Jassmann bis weit nach oben realisiert. Und von dort betreibt er nun seine subversiven Aktionen. Er nutzt die Möglichkeiten der kommunikativen Bewegungen à outrance aus. Purster Dada, einfach phänomenal. „Berlin Berlin – Die Rot’n und die Jrien – Berlin zieht blank, Berlin zieht blank – Wem nie jelang der große Wurf – bei Börsenbaisse bei jrünen Turf“. Und all so weiter, rutsch mir den Buckel lang. Und dann, dann merkt es auch kaum einer. Sorgt er sich doch scheinbar leidend um uns! Auch um so Punks wie mich.

# Reih’ Dich ein

Erneut klingelt das Telefon. Gedanklich bin ich tief in die surrealen Leistungen der Medienindustrie versunken und vergesse prompt meinen gelernten Ansagetext. Ein Herr Wilke ist dran.

„Willy Wilke, Du erinnerst Dich doch.“ Und natürlich, es kommt schnell schneidend über mich. Das ist doch dieser Eissalon-Reaktionär von damals, aus Korbach. Ich kann es nicht fassen. Ein Mensch aus der tiefen, dämmrigen Vergangenheit.

Er weilt momentan in Frankfurt, irgendeine Besprechung. Den neuen Tatbestand muss ich zunächst mit meiner Realität synchronisieren. Das dauert. Er hat jetzt etwas Zeit und würde mich gerne sehen. Ich antworte zögerlich. Doch schon bin ich up to date. Ich kann nun also wirklich nicht so tun, als würde ich bloß hier rum sitzen und auf Willy Wilke warten. „Also wie ich meinem Kalender entnehmen kann, habe ich heute keine weiteren festen Termine. Wir könnten uns also treffen.“

Ich entledige mich rasch meiner Trainingshose, rasiere mich und stehe einigermaßen manierlich zum Empfang an der Wohnungstür.

Das Lächeln der Souveränität -198- Er ist wohl nur ein Jährchen älter als ich, sieht jedoch viel mitgenommener aus. Die Haut im Gesicht ist faltig. Aber ansonsten ist er adrett gekleidet, Hose mit Bügelfalten, kurzärmeliges Hemd und, nicht so ganz der Kleiderordnung entsprechend, Krawatte, aber oben geöffnet.

„Darf ich Dir einen Kaffee anbieten?“ Ich übe mich in gepflegter Sprechweise. Er fühlt sich unter dem Zwang, mir jetzt zu erklären, warum er mich besuchen kommt, und ausgerechnet jetzt.

„Also Du weißt ja, dass uns beide ein einschneidendes Erlebnis verbindet. Das hast Du, und das habe ich ganz unterschiedlich erlebt, damals, in der Eisdiele Cortina. Ich war völlig aufgelöst. Das Gespräch hatte meine gut gefügte Sicht der Welt völlig durcheinander gehauen. Ich litt. Ich litt unter den Schmerzen der Niederlage, vor allem aber darunter, dass das Fundament meines Lebens zerstört, ja fast zerrieben war.

Wie ein geprügelter Hund verließ ich die Eisdiele. Es wunderten sich alle über mein Seelendebakel. Und es hat viele Monate gedauert, bis ich mich wieder gefangen hatte und das Abitur dann einigermaßen über die Bühne bekommen habe. Trotz allem, das war eine Meisterleistung Hermanns, so unbeschwert selbstbewusst, ein zutiefst bestrickendes Charisma, sein bezwingend freundliche Lächeln.

Ich hatte mich schmerzvoll seziert gefühlt, ohne Narkose, vor anderen Menschen auseinandergenommen. Später dann, mit wachsender Distanz, entstand eine schwere Bewunderung für ihn. Sehr viel später traf ich ihn schließlich.

Schließlich passierte es erst in Göttingen, dass ich endgültig Distanz zum Geschehen in Korbach bekam. Ich studierte Jura. Und auf einmal gab es die Geschichte mit den Pentagon- Papieren. Du kannst Dich erinnern. Der Vietnam-Krieg hatte mich somit ergriffen. Die letzten Stützen meines schon nicht mehr so stabilen Weltbildes stürzten knatternd in sich zusammen. Ich ging in die Partei.

Hinter der roten Fahne wollte ich marschieren. Die Partei, das war geregelte Organisation, da waren identifizierbare Strukturen. Das war nicht so wie bei Euch Spontis, die Ihr immer nur um Euren eigenen Nabel rotiert seid, oder wie bei den Desperados von der RAF. Lenin hat hinter den Maschinenstürmereien der Spontaneisten ja immer nur eine Keimform der

Das Lächeln der Souveränität -199- Bewusstheit gesehen. Ein gewisses Erwachen des Bewußtseins war schon feststellbar. Immerhin war der Glauben an die Unerschütterlichkeit der sie unterdrückenden Ordnung ins Wanken geraten.

Aber wir, wir waren längst weiter. Wir waren dagegen Anhänger, na ja, zu lasch, äh, sagen wir mal besser, wir waren die Vertreter der geschichtlichen Aufgaben des Kommunismus und konstituiert zum Zwecke der Vollendung des objektiven Geschichtsverlaufs. Die Arbeiter haben es aus sich heraus nicht so recht begriffen. Sie neigten subjektiv schon immer lediglich zu einem trade-unionistischen Bewusstsein. Und wie Marx bereits festhielt, war trotz des objektiven Tatbestands auf der Seite des Proletariats keinerlei geschichtliche Selbsttätigkeit feststellbar.

Da musste doch zwangsläufig irgendwas, irgendwer einspringen, um die allmählich vor sich gehende Organisation des Proletariats zur Klasse auf den Weg zu bringen. Wissende mussten heran. Sie mussten die Wege deuten und den kommunistischen davon exakt markieren und begehbar machen. Ich fühlte mich aufgerufen, dem wissenschaftlich-objektiven Weg, wie er verlaufen würde, zum Durchbruch zu verhelfen. Das Objektive der historischen Veränderung musste in den subjektiven Willen des Proletariats transformiert werden.

Also ich konnte da nicht daneben stehen und schauen, wie mich die historische Wahrheit des Lebens überrollte. Der geschichtliche Fortschritt, er passierte nun mal. Ich musste dabei sein, zwangsläufig. Ich wollte in die Partei.

Allerdings war das nicht so einfach. Wie in einer Korona versammelten sich Organisationen um sie herum, Sympathisantenzirkel, die Liga gegen den Imperialismus, kommunistische Schülervereinigungen oder Studentenvereinigungen. Sie umgaben den Nukleus, die Kommunistische Partei Deutschlands. Sie war genial wie eine Blackbox konstruiert, man musste nicht wissen, was in ihr geschah. Aber nichts geschah ohne sie im Zentrum. Auserwählte nur befanden sich darin.

Sie bildete das Zentrum des Begehrens. Sie hielt das Feuer einer allgemeinen Begeisterung für die Theorie des Marxismus am Lodern. Sie gab dem Leben einen Sinn. Heraus aus den rührend-sentimentalen Familienverhältnissen, denen die Bourgeoisie längst den verklärenden Schleier entrissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt hatte, wie es Karl Marx

Das Lächeln der Souveränität -200- einst so treffend formulierte. Und er zeigte auf, wo es entlang ging, nämlich über den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.

Die Gesellschaftsordnung galt es revolutionär niederzumachen, da mochten die Herrschenden noch so zittern. Die Proletarier hatten nichts als ihre Ketten zu verlieren. Ich musste ihnen zeigen, wie sie die Welt gewinnen konnten.

Und Kommunisten verschmähen es nun mal, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Hindurch durch die Korona musste ich mich arbeiten. Da war kein Platz für überzogene Empfindsamkeit, für das Ich-Theater von Euch Spontis. Mit so einer dem Anton Reiser nachgemachten Hypochondrie war bei uns kein Staat zu machen, und dann, auf dem Bett zu liegen und zu träumen, König von Deutschland zu sein.

Sie war für mich faszinierend verkleidet, die Blackbox, mit einem purpurroten Mantel, exklusiv und voll außergewöhnlicher Leuchtkraft, flauschig und mit einem geilen Fellchen darauf. Das war meine Box des Begehrens. So ungefähr musste man sich das damals vorstellen.

Du hättest das erleben sollen, unsere Parteikonferenzen, Parteitage, grandiose Schauspiele. In alten, behäbigen Kinos zum Beispiel waren wir, mit tiefroten Vorhängen sowieso, mit Unmengen von roten Transparenten. Auf der Bühne, im gleißendem Scheinwerferlicht, saß unser Zentralkomitee, so fern, und glänzend faszinierend, entrückt. An der Decke, umringt von vielen weißen Lichtern, da stand er, der rote Stern. Zur Bühne gelungen kontrastiert saßen die Parteimitglieder im Dunkel.

Verstehst Du, dem Untergang der antiautoritären Bewegung konnten wir ins Auge sehen. Wir hatten den Schlüssel gefunden, den für die revolutionäre Arbeit, wir brachten den Menschen das ABC des Kommunismus bei.

Die tägliche Kleinarbeit war natürlich schwer, aber nützlich, wie wir es sahen. Ich hatte eine klare Aufgabe. Ich musste zu Schulungen und die „Rote Fahne“ verkaufen, vor den Werktoren von Sartorius, so einer Firma für Filtertechnologien und den Alcan Aluminiumwerken. Verkaufen mussten wir auch in den Stadtteilen, in Grone war ich häufig.

Das Lächeln der Souveränität -201- Da habe ich auch in Agit-Prop gemacht, Unterschriften sammeln, Hausbesuche bei Interessenten durchführen und an den Parteiständen Präsenz zeigen und agitieren.

Ich war zunächst nur so ein Sympi und musste viel lernen, politische Ökonomie und dialektischen Materialismus. Für mich war das ein Fulltime-Job, schon stressig. Doch es hieß: ‚Politik an die erste Stelle setzen.’ Zudem stießen wir häufig auf eine uns feindliche Umwelt, richtig verblendete, aggressive Menschen, die uns nicht mochten.

Es gab auch Ausflüge zu Demonstrationen nach Dortmund zum Beispiel. Das war immer ganz schön, aber hinten im Bus fingen dann einige von uns an, irgendwelche Schlager zu grölen, „Griechischer Wein, schenk noch mal ein“. Wie bei einer Klassenfahrt, grausig. Ich saß jedoch vorne, setzte „Drum Links zwei drei“ dagegen und hoffte damit bis nach hinten durchdringen zu können.

Rund eineinhalb Jahre ging das, und ich wollte dann mal weiter kommen und habe mich an die Partei gewandt. Nach den Gesprächen wurde gesagt, dass das ZK letztendlich entscheide. Aber es tat sich nichts. Dabei war ich gut, meine täglichen Reden enthielten all die angesagten Begrifflichkeiten, ich war eine lebende Broschüre unserer Partei. Aber eineinhalb Jahre sind lang, zweimal waren mir darin die Freundinnen abgehauen. Sie hatten irgendwelche Abneigungen gegen die Partei. Das siegreiche Gesetz der Geschichte war ihnen schnuppe. Susanne schmiss gar ein ganzes Paket der „Roten Fahne“ auf die Kasseler Landstraße. Und dann auch noch das Studium, der Stoff an der Uni war mir längst entrückt.

Ich wurde wohl etwas liederlich, habe auf einer Sitzung mit einer Genossin rumgeknutscht. Den Tadel erfuhr ich postwendend. Ich musste es einsehen. Die generelle Lage erforderte nun einmal Zurückhaltung. Die Schlingen der Partei erfassten jede Freude des Lebens. Aber irgendwas musste nun mal geschehen, auch wenn mir mein Zellenleiter mitteilte, dass meine Probleme nun einmal reine Nebenwidersprüche seien.

Ich gedachte trotzdem, an der Uni weiter zu kommen. Irgendwie erwischte ich einen mir offenkundig wohlgesonnenen Parteikader. Er machte sich genaue Notizen und mir Hoffnung, dass das Zentralkomitee zweifellos in meinem Sinne entscheiden würde. Doch war das ZK wohl mit den wirklichen gesellschaftlichen Widersprüchen voll beschäftigt. All seine Arme

Das Lächeln der Souveränität -202- standen im Dienst des Weltgeistes. Nichts hörte ich. Die Blackbox blieb mir gegenüber stumm.

So soff ich mir eines Tages tatsächlich einen an, in so einer legendären Kellerkneipe. Und ich habe mir dort wahrscheinlich gar so tanzartig die Knochen verrenkt, als dann frühmorgens der Wecker klingelte. Der harte Klassenalltag schmiss mich aus dem Bett.

Es fanden Tarifverhandlungen in der Metallbranche statt und unser Kampfausschuss hatte eine Flugblattkampagne durchzuführen. Die war wichtig, denn es ging gegen die Sozialfaschisten der Gewerkschaft. Mit verbrummtem Kopf stand ich also am Werktor der Aluminiumwerke und kam so verzauselt mit einem Jüngeren ins Gespräch, der sich als Lehrling erwies.

Ich konnte daraus einen jungen Arbeiter für uns gewinnen. Das war phantastisch. Unsere Arbeiterpartei litt schließlich an einem gewissen Mangel an Arbeitern. So zutraulich war er. Ehrlich, ich weiß nicht mehr so recht, wie und warum wir uns so gut verständigten. Er war ein bisschen schlicht, so im Kopf.

Ich mochte ihn, so unbedarft wie er war. Ich lud ihn ein, und er besuchte mich auch. Ich erzählte ihm beim Tee von der großen Welt des Klassenkampfs, und er staunte. Ich begeisterte ihn, erklärte ihm, wieviel nötig sei, die Welt zu verändern, Zorn und Zähigkeit, Wissen und Empörung, schnelles Eingreifen, tiefes Bedenken – kaltes Dulden, endloses Beharren. Er begeisterte sich. Die Augen glänzten.

Ich musste natürlich Mutter Partei unterrichten und wurde beauftragt, ihn einzuführen. Das war ein halbes Jahr voller Glück für mich. Ich baute was auf, einen jungen Menschen, lief nicht länger wie ein Hamster im Rad ohne auch nur irgendeine Art von Wirkung nach außen. Marxistische Wirtschaftstheorie, historisch-materialistische Entwicklungsprozesse, Histomat und Diamat, er saugte sich mit Wissen voll, der junge Hans.

Dann kam die Partei, und mein Hans wurde zur Betriebszelle der Aluminiumwerke beordert. Ich nicht! Mein Zögling wurde mir entzogen. Fort ging er. Ich erhielt immerhin einen Aufnahmestatus in die Partei und wurde für den örtlichen KSV zuständig. Aber mit der Uni hatte ich mittlerweile genausowenig zu tun, wie mit der Fabrik.

Das Lächeln der Souveränität -203-

Störend erwies sich zudem, dass meine Eltern auch noch einen Abschluss verlangten, oder zumindest irgendwelche Ergebnisse wollten sie sehen. Falls das nicht geschähe, drohten sie mir ungestüm mit Einstellung der monatlichen Überweisung. Die Partei erlaubte mir einen Studienwechsel, und ich machte nun Pädagogik. Um meine finanziellen Engpass zu überwinden, bat ich um Rücküberweisung eines beträchtlichen Kredits, den ich der Partei gewährt hatte. Keine Antwort erhielt ich.

Dafür kam dann ein Schreiben der Partei, in dem mir verkündet wurde, dass ich bald zur Vorhut des zu verehrenden Proletariats zählen würde. Das war das ersehnte Vorrücken in der Werteskala, in Richtung der stählernen Vorhut. Das konnte ich schon genießen. Jetzt konnte ich all die Studis herumkommandieren, die für Verkauf und Verteilung der „Roten Fahne“ eingesetzt waren, diese bourgeoisen Sympis. Ich erklärte, dass wir sehr breite und proletarische Teile der Bevölkerung, und damit historisch wegweisende Klassen, mit unserem Zentralorgan erreichen würden.

Ich hatte mir so einen schwarzen Aktenkoffer zugelegt, so ein Diplomatenköfferchen. Und ich hatte die Jungs im Griff. In unserer WG in der Martin-Luther-Straße, weißt Du, ich ging hinein in deren Zimmer, und schon sprangen sie aus dem Bett, schwupp die bupp, saßen am Schreibtisch, schubidupp. Sie bemühten sich, pausenloses Arbeiten vorzutäuschen, klassenkämpferisch zu schwitzen, es war herrlich.

Ich hatte mir einige Posen ausgedacht, oder abgeguckt. Also ich positionierte mich breitbeinig, stemmte die Fäuste in die Hüfte und offenbarte, dass das Ziel der sozialistischen Revolution die Befreiung der Produktivkräfte sei. Wir hatten allerdings direkte Konkurrenten bei unserem Zielprojekt, das waren diese Typen vom Kommunistischen Bund. Sie waren stark in Göttingen, die konnten sogar mal so einen schnöseligen Präsidenten des Studentenparlaments stellen.

Ich wurde zum Kader in leitender Position bestellt. Das war mit Arbeit verbunden, viele Sitzungen, Protokolle, Einsätze organisieren, Direktiven, Gespräche. Schöne Gespräche hatte ich mit den sympathischen Genossinnen, das war fast das Beste an dem Job. Sie bewunderten mich, waren willig und ganz offen gegenüber meinen Direktiven, herrlich.

Das Lächeln der Souveränität -204- Meine Eltern stellten die Zahlungen glücklicherweise noch nicht ein. Zum Geldverdienen hätte ich gar keine Zeit gehabt. Mein Terminkalender war einfach voll. Ich musste aufpassen, dass ich mich nicht selber verlor. Aber ich war nun einmal in direktem Auftrag von etwas Höherem tätig.

Sogar für das untere, das richtige Leben habe ich damals gelernt. Die Techniken, mit denen ich zu organisieren begriff, mit denen ich beispielsweise Ablaufpläne für Einsätze erstellte, die habe ich später im Berufsleben nutzen können. Dabei habe ich zu den Zeiten gar nicht mehr geglaubt, dass ich je einen Beruf haben könnte. Als ich meine Studierwünsche der Partei mal wieder rüberbrachte, sagten die mir, mit meiner kommunistischen Vorgeschichte hätte ich wegen des Radikalenerlasses sowieso keine Chance, je einen Job beim Staat zu kriegen.“

Willy Wilke, er hieß eigentlich gar nicht Willy mit Vornamen. Den hatten wir ihm damals in Korbach verpasst, weil es so viel schöner klang. Richtig heißt er Günther Wilke, und er ist schon ein hervorragender Redner. Seine Selbstdarstellung ist mir an keiner Stelle langweilig, auch seine Stimme kann er so gut modulieren, dass richtig Spannung in seine Erzählung über das triste Parteileben kommt.

Früher erschienen uns all die Kommunistenverbände wie folkloristische Trachtengruppen. Wir machten Scherze über die Kommis. Die verzogen keine Miene, blieben ganz eisern. Und wie aus der Pistole geschossen kam die Attacke auf die Gefährlichkeit einer sozialfaschistisch degenerierten Sowjetunion.

Jetzt höre ich hingegen eine spannende Lebensgeschichte. Die mir sonst so bekannten Ex- Kommunisten verschweigen ihre Erfahrungen am liebsten. Ich lausche weiter und fülle laufend Kaffee nach.

„Mittlerweile hatte ich mich in der Parteihierarchie hochgearbeitet. Allmählich begriff ich die Technik, Arbeiten zu delegieren und mich für längere Zeiten aus dem parteilichen Arbeitsgeschehen zurückzuziehen. Ich konnte mir jetzt Zeitinseln schaffen. Ich brauchte nicht mehr so intensiv zu leiden. Das bemerkte ich aber erst als ich die Zeit hatte. Selbst das Leiden darüber, dass ausgerechnet Franz-Josef Strauss als erster westdeutscher Politiker von Mao Tse Tung empfangen wurde, dass konnte ich gut verdrängen.

Das Lächeln der Souveränität -205- In meiner richtig engagierten Zeit, als ich noch den 24-Stunden-Bereitschaftsdienst erfüllte, begriff ich eines Tages, dass ich aussah wie das Leiden Christi. Und es war wahrlich ein trauriges Leiden. Ich opferte mich für das Höhere auf, für die Menschheit, und die bemerkte es nicht einmal. Ich hing quasi am Kreuz, opferte mich, und die Menschen gingen vorbei, ignorierten mich. Was für einen Sinn macht dann das Leiden? Sie machten sich gar noch lustig über mich. Alle, und besonders Ihr Spontis. Dabei wart Ihr es doch, die haltlos durch das Leben getaumelt seid.

Bei uns lief das geordneter. Wenn ich nur an diese Parteitage denke. Wir traten in den Versammlungsraum, die Bühne war bereits für das große Ritual präpariert. An dem mir bestimmten Tisch packte ich mein Diplomatenköfferchen aus und stapelte die verschiedenen wichtigen Dokumente, Flugblätter von uns, von denen der Konkurrenz, bedeutende Protokolle und so weiter, vor mir auf. Derartig entstanden Türme, deren Höhe das persönliche Engagement für das Höhere dokumentierte. So bekam ich dann irgendwann auch das goldene Parteiabzeichen.

Eines Tages traf ich bei einer Tagung Werner Konze. Auch er war zu einem Zellenkader aufgestiegen und für Finanzen zuständig. Er verwaltete die Spendenbücher, schön mit Emblemen verziert, und er schnitt die Spendenmarken aus einem Bogen aus. Konze vollzog das mit engagierter Akkuratesse, den Parteitag verfolgte er gar nicht mehr. Er drehte und wendete die Marken bis er sie ganz exakt platziert hatte, in jedem einzelnen Spendenbuch, besah sich anschließend alles noch einmal von vorne und hinten, bügelte die Bücher mit der Faust flach und stapelte sie akribisch auf, exakt, Kante an Kante genau, äußerst ordentlich. Ein beseeltes Lächeln stand auf seinem Gesicht.“

Ich muss lachen, gar allzu genau kann ich mir das vorstellen. Zudem kenne ich Konze von früher war er doch auch in unserer Korbacher Kellergruppe. Mit einem Filzstift schrieb er dort eines Tages „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ an die Wand.

Mein Vater hat den Keller längst wieder geweißt, alle unsere damaligen Werke, viele von Brigitte darunter, hat er übermalt. Nur der Spruch von Konze, der steht dort immer noch. Sentimental lächelnd weist er immer wieder darauf. „Kannst Du Dich noch erinnern, Bernd? Daran hätte ich mich halten sollen, ganz strikt.“ Ein dicker Brocken Wehmut verdichtet sich in meiner Bauchregion. Ich konzentriere mich wieder auf Willy Wilke.

Das Lächeln der Souveränität -206-

„Also ging ich zum Studieren nach Hannover. Dort kannte mich keiner. Wenn ich mich in Göttingen zu einem ernsthaften Pädagogikstudium entschlossen hätte, dann wäre das böse aufgefallen. Dort liegt die Pädagogik ganz zentral, und ich war bekannt. Kein Mensch hätte mich ernst genommen. Zwei Tage in der Woche konnte ich mich von den Parteiverpflichtungen freischaufeln und nach Hannover fahren.

Und schon bald stürzte dort ein KPDler in unser Seminar über Sozialisationstheorien. Er positionierte sich breitbeinig, stemmte die Fäuste in die Hüfte und attackierte die Gefährlichkeit des Sozialimperialismus und dass die Viererbande in China zu eliminieren sei. Ich musste grölen vor Lachen. Das waren meine Posen, meine Tonart in Göttingen. Der hier hatte gar noch eine Schiebermütze auf. Die anderen im Raum grölten mit und riefen ‚Ernesto Thälmann, dreh’ uns nix an’ und reimten weiter: ‚Mao, Mao, wo ist Lin Piao’.

Hier in Hannover kam man um die Beschäftigung mit Peter Brückner nicht herum, der stand Euch Spontis doch recht nahe. Seine politische Richtung habe ich nie begriffen, besser er hatte eigentlich keine, zumeist hat er nur den moralischen Zeigefinger erhoben. Das war für mich verbale Radikalität, ohne die Chance einer praktischen Umsetzung. Dass man den anderen eine aufmerksame Rücksichtnahme entgegenbringen soll, das ist zwar schön, aber keinesfalls im politischen Geschäft zu realisieren.

Die Partei bemerkte eines Tages die Unregelmäßigkeiten in meinem wöchentlichen Zeitablauf und sie entsandte einen sogenannten ‚Ausrichter’ zu mir, beziehungsweise meiner Zelle. So eine Person, ein höherer Kader, hatte die Aufgabe, die Zellen ganz im Sinne der Partei auszurichten. Wenn Du von Brecht „Die Maßnahme“ kennst, dann weißt Du, was es mit diesen Agitatoren dort auf sich hat. Von dieser Machart war ein Ausrichter.

Äußerst adrett in einen grauen Anzug gekleidet, mit schönem Hemd, Manschettenknöpfen und Krawatte, trat er briskfrisiert auf und wurde völlig unflätig. Er erhob die Frage ‚Wie steht Ihr denn zur Arbeiterklasse und ihrer Partei?’ Er beschimpfte uns böse und insbesondere mich, weil wir nicht die wahre Idee wahren würden.

Da hatte ich einen Einfall. Ich lächelte ihn durchschlagend freundlich an und befragte ihn, was er denn überhaupt so machen würde. Seine aggressive Frontlinie konnte ich derartig soft

Das Lächeln der Souveränität -207- durchbrechen und hatte ihn flugs an der Leine. Er offenbarte uns sein Leben, das in einem ständigen Gekränktsein bestand, zeigte uns sein beleidigtes Seelchen. Alles im Raum hörte fasziniert auf seine offenherzigen Darlegungen, bis er sein Seelenstriptease selber bemerkte. Gehetzt packte er sein Aktenköfferchen und verschwand grußlos.

Das Erlebnis war grandios. Mit meinen Zellengenossen saß ich nun trinkend die gesamte Nacht zusammen, und wir erzählten uns voneinander, wie wir es nie getan hatten. Die gesamte Zelle fiel am anderen morgen für die Parteiarbeit komplett aus.

Ich machte in Hannover weiter. Dort vermochte ich mich auch weiter mit Brückner zu beschäftigen, dort wo er sich mit dem ‚Infamen’ in der Parteilichkeit auseinandersetzt, einer Partei, die selber infam wird. Brückner forderte, eine Anerkennung solcher Praktiken zu verweigern, auch wenn sie im Namen eines gesellschaftlichen Fortschritts geschähen. Nicht mitzumachen, das war die Forderung, genauso wie es gegenüber dem gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhang bereits geschah.

Aber ich war Mitglied der revolutionären Partei der Arbeiterklasse, agierte im Namen eines Höheren. Doch viel Zeit zum Überlegen blieb mir nicht, die Ereignisse überschlugen sich. In Göttingen erschien dieser berühmt-berüchtigte ‚Mescalero-Artikel’. Für mich war die RAF ein Haufen Desperados, für meine Partei nicht viel anders. Der Mord an Buback stellte für mich eine individualistisch-anarchistische Terroraktion dar. Buback war Teil der herrschenden Klasse, die durch die kommunistische Partei allein zu entmachten war.

Zu diesem Artikel, „Buback – Ein Nachruf“, brauchte ich keine Stellung beziehen. Mich irritierte nur die Hysterie, wie die Öffentlichkeit damit umging. Und dabei ist der Artikel doch schon eine Art von Distanzierung von Gewalt. Mit welchem Elan dieser Aspekt ignoriert wurde, das war das eigentlich Spannende. Jenseits aller Bewertungen oder Ignoranzen durch die Partei war ich schon dabei, mir einen Schlüssel zu erarbeiten, um die Geschehnisse zu begreifen.

Es warfen sich Politiker mit ihrer massiven Öffentlichkeitspräsenz vor die Mikrophone und produzierten ihr strafendes Eltern-Ich auf den Artikel. Es war frappierend zu sehen, wie ignorant und schnell sie vor den Mikrofonen standen. Das war hysterisch! Eine kleine Andeutung von Verständnis für den Mord an Buback erschien, und der Apparat röhrte

Das Lächeln der Souveränität -208- erbarmungslos zurück. Woher stammte dieses außerordentliche Maß an Verletztheit, das diesen Schritt verursachte? Der Verfasser hatte doch schon die Friedenspfeife entzündet.

Aber die Mörder von Buback, das waren erkennbar all die bösen Kinder der Bundesrepublik. Sie hatten den staatlichen Familienfrieden vollends zersetzt mit ihrem rebellischen Kindheits- Ich. Das hatte doch nichts mehr mit einer politischen Auseinandersetzung zu tun, das waren gesellschaftspsychische Verwerfungen. Und in diesem übergreifenden Feuer ist Buback verbrannt. Die Automatik der komplementären Aktionen, ihrer sich steigernden Verstricktheit miteinander, die war längst manisch geworden.

Da war nicht mehr viel zu retten. Die beteiligte Elternseite war durch die Studentenbewegung und die folgenden RAF-Aktionen zutiefst verletzt und jetzt, in den siebziger Jahren bewirkte jedes kritische Stimmchen ein tiefes Schürfen und Kratzen an den nicht verheilten Wunden.

Sie schrieen schon wieder erbärmlich und tief verletzt auf, als die Dokumentation zu dem Buback-Nachruf rauskam. Sie schrieen so laut, dass sich die rebellischen Kinder völlig verschreckt gegenseitig in die Haare bekamen, ob diese Dokumentation wirklich nötig gewesen war. Vor lauter Qualm konnten sie die Friedenspfeifen selber nicht mehr sehen. Und Peter Brückner wurde als Hochschullehrer suspendiert.

Aber ich war da nur Beobachter. Ich bekam nun meine eigenen Schwierigkeiten, denn mir flatterte ein Brief ins Haus, der meine Vorladung zur Parteizentrale in Dortmund enthielt. Ich war meiner Parteiführung gegenüber zu unkalkulierbar geworden.

Das machte mich nun reichlich nervös. Und ich lief rum, stolperte an der Leine lang, fiel oder sonst was, was wohl schon so was wie Parteiflucht für mich war. Schuldig geduckt schlich ich mich zwischen den Fachwerkhäuschen durch, ich, ein kleinbürgerlicher Zurückweichler. Ich war wohl endgültig entlarvt. Es war gerade Weihnachtsmarkt mit Glühwein und Gänseliesel, und ich fing tatsächlich an zu singen. Weißt Du, wie nahe mir der Ernst Busch gekommen war?

Ich sang die Moorsoldaten, Brüder zur Sonne zur Freiheit, und ich sang das Solidaritätslied auf dem Weihnachtsmarkt. Die gesungene Emotionalität wollte mit mir vorwärts und nicht

Das Lächeln der Souveränität -209- vergessen. Ich gehörte doch dazu, war aktiver Bestandteil der Bewegung für die neue Welt, die kommende.

Aber ich verhaspelte mich in den Noten. Beim Hungern und beim Essen wurden mir zudem die Stimmbänder rau. Ich musste husten, laut prusten,. Und ich wankte und fiel.

In meiner Wohngemeinschaft beäugten mich die Genossen schließlich scheel. Wer im Stich läßt seinesgleichen, läßt ja nur sich selbst im Stich. Oh dieser Glühwein!

In meinem aufgeschraubten Taumeln war mir dennoch ein Plakat ins Auge gefallen. Die Aufführung von Hamlet, dem Prinzen der Dänen, wurde darin verkündet. Doch nicht das war es, was den Eintrag in meinem Gedächtnis bewirkt hatte. Es war der Name, Hermann Bodi.

Unser, uns verbindende Hermann trat auf, hier in Göttingen, in der Nähe der Unikliniken, als Hamlet, als Delegierter der Vergangenheit. Das Stück hatte mich weniger gereizt. Ich habe darin immer ein Spontitheater gesehen, so was für die Krise in der Adoleszenz. Prinz Hamlet war für mich schon seit der Schulzeit ein Gefühlsgetriebener, und die Gefühle kriegte er weder auf den Begriff noch in den Griff.

Doch wurde die Aufführung dieses widerspenstigen Stücks eine Überraschung für mich. Keine Romantik, keine sehnsuchtgeladene Erinnerung an das Vergangene gab es da. Es war nicht mal eine vollständige Aufführung des Stücks, Hermann und Brigitte sprachen erklärend aus dem Off, zitierten häufig auf Englisch. Hermann trat aufklärend als Shakespeare auf, mit Perücke und Schnurbart. Und Stück für Stück entblätterten sich mir die Geheimnisse des Stücks.

Weißt Du, ich habe einen guten Hunger.“

Völlig überraschend versetzt mich Willy Wilke in die Gegenwart.

„Wollen wir nicht zu dieser Pizzeria neben Hermanns Theater gehen? Er hat mir davon erzählt, von Arturo aus dem Land des Dante. Geradewegs auf unseren Lebensreisen schwand uns die Spur vom geraden Wege. Begeistert berichtete Hermann vom Wein und den gerösteten Kastanien.“

Das Lächeln der Souveränität -210-

Wir gehen. Arturo fragt, ob es für mich, wie immer die „zehn“ sein soll und nimmt auch die „zwölf“ von Willy Wilke entgegen. Ich mag die Sardellen nicht so sehr, dafür das Spiegelei in der Mitte. Wir stoßen mit Lambrusco an. „While memory holds a seate in this distracted globe.” Von den Nachbartischen wird dämlich rüber geglotzt.

„Weißt Du, nicht einmal im Lager unseres Gedächtnisses findet sich eine Spur, ein Ausweg aus dem dichten und rauen, wilden Wald auf. Distracted ist selbst das Gedächtnis, keinen festen Wohnsitz hat es mehr wie noch bei Hamlet. Zerdacht ist die Welt, zerfahren die Spuren des Geistes, der Sinne. Selbst ein aufdringlich schwefliger Höllengestank vermag es nicht einmal, dass man die Hölle auch nur irgendwie registriert. Man liest vielleicht darüber, sieht es im Fernsehen und empört sich.

So allmählich roch ich den verbrannten Braten. Völlig neben der Zeit waren wir mit unserem Wiederbelebungsversuch der KPD, das war schon Don Quichote auf dem Rücken des ausgemergelten Kleppers Rosinante, auch Arbeiterklasse genannt. Es war ein verblendeter Wunsch, Ordnung in einer Welt zu sehen, die sich dem Verfall aller Strukturen überlässt.

Hermann gab eine modernisierte Version des Stücks. Er spielte den Vater-Hamlet, gebeugt in rostiger Rüstung, mit steifem Bein hinkend und stotternd, Sätze als Mischung aus Englisch und Deutsch von sich gebend, ein Kauderwelsch gar häufig. Beim klassischen Hamletstück da stand der Alte noch aufrecht und machte seinem Sohn klare Handlungsvorgaben. Schon damals war der Sohn verzweifelt und wusste nicht wo lang, passten doch die väterlichen Vorstellungen längst nicht mehr in seine veränderte Gegenwart.

Ihr Spontis, als Söhne der Moderne habt Euch der Perspektivlosigkeit ergeben, ein bisschen gebrüllt und protestiert habt Ihr dagegen, aber dann doch nur nette Geschichtchen und Spektäkelchen fabriziert, um die Zeit zu überbrücken. Abtauchen war angesagt. „As we live a life of ease, in a yellow submarine“, um Euch das bergende Meer.

Aber gut, auch wir waren Söhne der Moderne und mit unserem absolut disziplinierten Vorgehen waren wir jenseitig von allem. An dem Abend der Aufführung in Göttingen habe ich mich dem Hermann nicht zu erkennen gegeben. Na ja, vor allem aus Eitelkeit. Ich dachte,

Das Lächeln der Souveränität -211- in meiner aufgelösten Situation hätte ich ihm nur einen neuen Trumpf über mich in die Hand gespielt. Sag mal, kannst Du mir Hermanns Theater nicht einmal zeigen?“

Das Siegel ist fort, aber ein dickes Schloss hängt vorne vor. Also müssen wir doch wieder von hinten in den Hort der Erinnerung eindringen. Willy Wilke ist begeistert. Wir drücken uns zwischen den engen Pfosten und niedrigen Durchlässen durch und geraten in die verödete Requisitenkammer. Völlig leer zeigen sich alle Räume, ausgeräumt. Ein neuer Besitzer wollte wohl schon mal klar Schiff machen.

Willy Wilke will den Todesort sehen, „wo hat er sich erhängt?“ Ich zeige ihm den immer noch sinnlich duftenden Raum, immer noch mit dem verknoteten Reststrick am Eisenträger oben, im sanften Dunkel. Irgendwo quietschen Fenster.

# Die Zeit ist aus den Fugen!

„Sein oder Nichtsein.“ Günther Wilke verbeugt sich. „Du hast Dich entschieden. Souverän hast Du den bösen Beleidigungen des Lebens eine existentielle Antwort entgegengesetzt. Du hast einen Schritt vollzogen, den viele schon für sich selber möglich hielten, hast den Freitod gewählt. Sie bewundern ihn, auch Dich, manchmal voller Neid. Doch sie fürchten ihn auch, den Schritt. Du hast Dich wahrlich nicht einfach davon gemacht. Zu stark sind wir Dir zu Dank verpflichtet. Vielen hast Du im Leben geholfen. Kein Vorwurf wird bleiben im Raum, nur Dank!“

Ich weiß nicht. Kräftig peinlich berührt mich diese Szene. Beeindruckend ist sie zugleich. So was Ehrfurchtsvolles erscheint mir zumeist wie bloßes Getue. Es ist jedoch auch imponierend.

Auf jeden Fall bietet Günther mir im Moment komplett neue Blicke auf den Selbstmord, gänzlichst abseits meiner bisherigen kleinkarierten Versuche von Schuldzuweisungen.

Diese hohlen Nüsse sind alle komplett zerknackt. Der Vorhang ist längst davor gefallen. Aber von ganz unten schaut noch eine Schuldnuss darunter hervor. Ich bin dann wohl schuldig. Wer sonst? Ich, schon wieder ich, am Marterpfahl, alle schauen auf mich. Es ist grauenerregend. Der Schauder treibt Angstschweiß heraus.

Das Lächeln der Souveränität -212-

Um diese Nuss muss ich herum. Ich bin nicht der heldenhafte Nussknacker, der gegen das Mäusereich kämpft oder gegen das der Ratten, die sich durch den Speck des Hermann fressen wollen. Ich habe bislang nur falsche Nüsse geknackt. Etwas Höherwertiges liegt an, Souveränität. Willy Wilke, Günther hat es benannt.

Angesichts der Beleidigungen des Lebens war es wohl eher eine Art von autonomer Entscheidung, dass Hermann zum Strick gegriffen hat. Allerdings haben es neue und von außen kommende Ideen schwer, sich gegen alteingesessene Selbstvorwürfe durchzusetzen. Sie kämpfen um ihre Interessen als Besatzungsmacht im Kopf.

Günther Wilke reißt mich aus meinem schweißverklebten Gedankensumpf. Er will weiter, den Theatersaal sehen. Wir gehen. Auch der ist ausgeräumt. Auf der Bühne allerdings steht noch das Himmelbett ohne Himmel, ohne Decken und Matratzen. Es steht dort nur noch das Stahlgestell samt dem metallischen Federkernrahmen, einem dürren Gerippe gleich.

„Brigitte hat damals in Göttingen die Ophelia gespielt, bezaubernd, das unschuldige Mädchen, ohne jeglichen Argwohn. In ein weißes Kleid war sie gehüllt, als man sie zum Grabe trug. Schön war sie, überdeckt von Blüten, betäubend schön.“

Ich muss lachen. „Ihre Rollenvielfalt ist doch bedeutend größer, als ich dachte. Ich dachte schon, sie sprach: ‚Hey Macker Hamlet, Du Arsch, willst Dich verpissen. Erst tust Du labern von großer Liebe und so, und dann, dann treibst Du Dich sonst wo rum. Oder Dich treibt was. Ich weiß nicht was. Sagst mir: Geh in ein Kloster oder in eine Frauen-WG. O hilf ihm, gütige Psychiatrie. Sein Geist ist zerstört. Mit Komplexen ist er schwerst beladen, denen vom Ödipus und so. Zerrüttet im Kopp, hätte er doch den Alten lieber selber gekillt.“

Willy Wilke schaut mich irritiert an, ich lache schon wieder.

„Was macht sie denn jetzt eigentlich?“

„’Me waas es nett so eggsackt, wie man hier so in Frankfurt sagt. Sie geistert halt durchs Städtche, als die geheimnisvolle Frau in Weiß, so wird gemunkelt. Also kurz: Sie ist wohl verschwunden, nichts Genaues weiß man wirklich nicht.“

Das Lächeln der Souveränität -213- # Hell aus dem dunklen Vergangenen

„Sie war wirklich überzeugend. Ich habe die beiden nochmals in Göttingen gesehen, in einer Theaterwerkstatt, es ging um ‚Die Maßnahme’ von Brecht. Wirklich klasse die beiden. Dabei ist es mir dann endlich klar geworden, was für ein menschenverachtendes Potential sich in den kommunistischen Parteien zum Ausdruck bringen kann, und auch tatsächlich bringt.“

Wir setzen uns auf das quietschende, himmellose Bett.

„Mit derartigen Eindrücken versehen fuhr ich also nach Dortmund, zur Partei. Ich hatte eine Adresse im Kreuzviertel genannt bekommen. Und ich war überrascht, so eine hochbürgerliche Wohngegend, so ein nobler Bau, der mir als Treffpunkt genannt wurde.

Und die Überraschung steigerte sich kolossal, als mein ehemaliger Göttinger Zögling mir die Tür öffnete. ‚Günther, schön Dich zu sehen.“

Freundlich bat er mich hinein, er, den ich als ein bisschen schlicht im Kopf empfunden hatte, so unbedarft wie er damals war.

‚Man hört ja so allerhand von Dir. Dein Interesse an jungen, liebreizenden Sympathisantinnen ist uns nicht entgangen. Nun gut, wenn das der Partei dient, dann ist das in Ordnung. Aber Du spielst in Hannover den Konterrevolutionär. Das hätte ich nie von Dir gedacht. Egal, meine persönliche Enttäuschung ist hier nicht relevant. Wenn Du in der Tiefe der Seele nicht gefestigt bist, dann guckt die Partei nach.’

‚Auf jeden Fall warst Du es, der mir damals die wahren Tugenden eines Kommunisten gelehrt hat, na ja, mit Brecht. Aber der hat die zentralen Punkte auf den Begriff gebracht, das, was nötig ist, die Welt zu verändern. Dazu gehört nun einmal ein kaltes Dulden, ein endloses Beharren. Ist Dir das etwa gleichgültig geworden?’

Schwerbeladen wollte sich mein schlechtes Gewissen auf den Weg machen, auf den Knien rutschen. Aber die Wohnungseinrichtung stand dem im Weg. Mein Zögling hatte sich mit feinen Möbeln im Bauhausstil umgeben. Ich bin da nicht so bewandert, aber beim Anblick des Schreibtischs fiel mir der erlauchte Namen ‚Gropius’ ein und bei anderen Möbeln

Das Lächeln der Souveränität -214- ‚Breuer, Marcel’. Äußerst gediegene Sachen im Raum, wohl nur Remakes. Egal, ich glaube diesem Zögling nicht.

‚Bei Brecht klingt es brutal, aber genau so, wie das reale Leben nun einmal ist. Es fällt uns allen nicht leicht: Furchtbar ist es zu töten.’ Die letzte Satzhälfte betonte er scharf, er wollte mich schocken. Große Ölgemälde an seinen Wänden ließen den Schock schmierig abgleiten.

Leicht gereizt hakte mein Zögling nach: ‚Abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper’. Mein Blick wanderte über Radierungen an der Rückwand, irgendwas zum Armen Heinrich von Hauptmann.

‚Das sind Grafiken nach Heinrich Vogeler’, belehrte er mich. ‚Aber wir amputieren Dich nicht so schnell. Deine Form von Parteiflucht müssen wir allerdings ahnden. Ich habe mich für Dich eingesetzt, dass Du drin bleiben kannst. Du wirst lediglich Deinen Status als Mitglied verlieren, wirst wieder zum Kandidaten zurückgestuft.’

Ich überlegte mir, dass vermutlich ich diese teure Wohnungsausstattung meines Zöglings mit meinen Parteikrediten mit finanziert hatte. Und ganz plötzlich stand mir dieses immens bezwingende Lächeln im Gesicht. Äußerst liebenswürdig sagte ich: ‚Du hast Dich hier ja wunderbar eingerichtet, geschmackvoll, wirklich gut. Wie hast Du das bloß geschafft?’

Er blickt leicht verschämt zu Boden. „Na ja, ich habe gute organisatorische Arbeit in der Partei geleistet, hervorragende Leistungen erbracht. Ich bin führender Kader geworden, ich muss repräsentieren. Erst vor kurzem war ein Betriebsrat von Hoesch bei mir. In meinen Bildern in Öl werden die neuen kommunistischen Menschen verkörpert. Sie zeigen auch das glückliche private Leben. Sie sind für die Massen leicht verständlich. Sie versinnbildlichen das kollektive Ziel von einer neuen Welt und einem neuen Menschen. Ich finde das so toll, wirklich echt gut.’

Sein Blick klärte sich schnell wieder auf. ‚Wenn Du in Göttingen Deine verwilderte Zelle wieder auf Vordermann bringst, wenn Du die Delegierten darunter wieder in den Griff bekommst, dass sie bei unserem großen Parteitag keinen Ärger machen, dann kann ich mich gar dafür stark machen, dass Du Parteimitglied bleibst. Auf Vorschlag des Zentralkomitees

Das Lächeln der Souveränität -215- kandidiere nämlich ich für dieses oberste Gremium. Und das ZK besteht darauf, dass seine Vorschläge demokratisch erwählt werden.’

Ein schallendes Lachen schüttelte mich, fegte das freundliche Lächeln fort. ‚Du hast ja wirkliche Probleme. Dein schöner Lebensstil sei Dir gegönnt, aber ohne mich.’ Ich erhob mich und ging. Er brüllte hinter mir her, ich sei ein erbärmlich Aussätziger. ‚Ich hätte Dir helfen können.’ Er sah mir beim Treppenabgang hinterher. ‚Ich murkse Dich ab. Das wirst Du mir büßen.’

Bei der Heimfahrt durchdachte ich meine frisch erworbene Heimatlosigkeit, meine Obdachlosigkeit. Es gab so einige Genossen, die Angst hatten, als kleinbürgerliche Zurückweichler entlarvt zu werden und drin blieben, andere, die nach der Parteiflucht in Depressionen verfielen, sich heftige Vorwürfe machten, das große Ganze verraten zu haben. Drin bleiben konnte ich nach dem Debakel mit meinem Zögling sowieso nicht mehr. Ich, Hamlet in this distracted globe.

Es war seltsam, dass mir gerade da Karl Marx einfiel. Wo er die Menschen beschreibt, die all die Dinge umwälzen wollen, um noch nie Dagewesenes zu schaffen. Gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie nach Marx ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen. War das jetzt meine verdrehte Weltwahrnehmung? War ich, jetzt hier auf der Autobahn, auf der falschen Spur? So ein Geisterfahrer?

Im Zimmer meiner Göttinger WG hatten mittlerweile meine Kommunarden gehaust, einige Dinge, Dokumente geklaut, andere zerstört. Keiner war da. Sie hatten ihre eigenen Zimmer alle abgesperrt. Die Meldung von meiner Erbärmlichkeit war mir von Dortmund direkt in die Wohnung vorausgeeilt. Ich packte das Notwendigste zusammen, verriegelte auch meine Tür und ging zu einer WG, in der Leute aus meiner Zelle wohnten. Auch sie waren schon, zumindest im Geiste, aus der Partei ausgetreten.“

Willy Wilke schaut auf seine Uhr. „Um es abzukürzen, ich machte meinen Studienabschluss. Doch hielt es der Staat für richtig, mich abzuweisen, abzustrafen, Du weißt, die Berufsverbote. Einige Jahre lebte ich im Ausland, promovierte dort und hatte Anstellungen an

Das Lächeln der Souveränität -216- Universitäten. Über einige gute Kontakte habe ich schließlich eine Stelle an der Lüneburger Fachhochschule ergattert. Ich muss jetzt aber bald fort. Hier ist meine Visitenkarte. Lass uns doch einen Kontakt aufbauen.“

Auf dem skelettierten Himmelbett wippt er auf und ab, und das Ding knarzt und quietscht. „Manchmal denke ich, unser Hermann war eine Fiktion allein, aus einem großen Roman. Denn irgendwoher muss doch seine große Bedeutung für uns stammen. Bringt sowas das einfache Leben denn hervor?“ „Plong, plong“, so dezidiert knacksen die Metallfederkerne.

„Auch dieses Theater hier. Er hat Theater gespielt, eingesperrt in einer Nussschale, und war doch König von unermesslichem Gebiete. Wenn nur meine bösen Träume nicht wären, die das verneinen wollen. ‚Nussschale’, so wollte er sein Theater nennen. Dann meinte er ‚Globaltheater’ wäre auch nicht schlecht. Das würde passen in diese Stadt. Doch dann blieb er hängen an ‚Theater alles’. Alles andere war ihm bedeutungsmäßig zu hoch gehängt.

Aber war er es, der sich aufgehängt hat, an einem rauen Strick? Wirklich? Oder ist das nicht nur eine Phantasie? Deine und meine? So eine Art Wunschtraum. Weil wir diesen Schritt selber nicht schaffen, ganz einfach zu feige sind, dichten wir ihn unserem Hermann voran an. Und wir sind entlastet, fühlen uns zumindest so. Und nach vollendeter Gedankentat überlegen wir spießbürgerlich die Konsequenzen.

Dabei hat er doch mit wahrem Furor den Ausbruch geschafft, den Ausbruch der geknechteten Seele aus dem Knast des bedrückenden Körpers.

Ach, hast Du mal daran gedacht, für ihn einen Verein zu gründen? Wir leben in flüchtigen Zeiten. Und gegen deren Spott und Geißel setzen wir „Denkmal Hermann“, den Verein. Wir bleiben in Verbindung, zunächst am Tag der Beerdigung. Vielen Dank für das Gespräch.“

Ich schüttle ihm auf der Adalbertraße fest die Hand und lache. „Gespräch ist gut. Ich habe dabei nicht viel gesagt, aber viel gehört von Dir, Günther. Vielen Dank, wirklich.“ Ein Lachen erscheint auch in seinem faltigen Gesicht. Der Kerl ist mir recht sympathisch geworden. Aber auch der weiß wohl nicht so recht wohin mit sich.

Das Lächeln der Souveränität -217- „Ouh, es tut mir wirklich leid, Du denkst vermutlich, der redet genau wie früher, immer viel und laut. Aber Du hast so interessiert zugehört, dass ich einfach immer weiter erzählt habe. Sonst interessiert sich doch kein Schwein mehr dafür, keiner will diesen Schnee von gestern. Keinen interessieren die eigenen Erinnerungen, memory is homeless.

‚The sky, too, is folding under you’, den Song habe ich Hermann einmal vorgejammert, und ‘it's all over now’. Und er meinte bloß, dass ich aufhören sollte, mich selbst zu bemitleiden. Mein ‚Baby blue’ solle ich in den Wind schießen. Ach Scheiße, ich komme zu spät. Duseleien der Erinnerung bestrafen mich jetzt in der Gegenwart. Mach’s gut. Wir sehen uns.“

Auch seine Hose sieht jetzt faltig aus, zumindest von hinten. Ein Radfahrer klingelt und schreit mich heftig an. Ich glaube, ich trete etwas zurück. Willy Wilke singt mir heute was von Bob Dylan, erzählt mir von seiner Eisdielenperspektive und seiner bleibenden Begeisterung für Karl Marx. Eine Mutter schiebt ihren Kinderwagen über meinen rechten Fuß.

# The gate is straight - Deep and wide

Ich schaue auf das Theater, irgendwie zieht mich sein Hintereingang erneut an. Irgendwas war da. Ich bewege mich zum Lagerraum für die Fette und Öle, dieser duftenden Schmierkammer. Da, wo Hermann hing.

Die Regale sind aus ihren Wandverankerungen herausgerissen. An einer Stelle dort, genau, da war eine Einbuchtung in der Wand, verdeckt durch die Regale. Da habe ich Hermann einmal per Zufall gesehen, wie er Unterlagen hineingesteckt hatte. Ich schiebe ein Regal beiseite und erkenne einen gelben Ordner in der Wand.

Viele Blätter befinden sich darin, solche, die die Aufzeichnungen über meinen ehemaligen verschworenen Kommunarden Norbert enthalten und auch schon Ideen, wie dessen Leben bühnentauglich gemacht werden könnte. Weitere Aufzeichnungen sind dabei, Abrechnungen, Dokumente und bloße Notizen. Ich überfliege die Seiten nur kurz und lege den Ordner unterhalb des Strickrestes oben am Eisenträger.

Das Lächeln der Souveränität -218- Ich setze mich darauf und verschränke die Beine ineinander. Ich erwarte die Ruhe. Vielleicht kommt die Inspiration von oben. Selbstmord ist im Buddhismus kein besonderes Thema. Er ist dort eigentlich unangebracht. Aber eine schöne Geschichte fällt mir ein, nämlich die von dem Hasen, der sich ins Feuer wirft, um einem hungrigen Brahmanen als Wegzehrung zu dienen. Das ist dort eine legitimierte Art der Selbsttötung.

Ich spinne den Gedankenfaden fort, binde Hermann darin ein. Der könnte sich demgemäß als Hasenbraten für seine Anhänger selbst geopfert haben. Ein konvulsivisches Zucken der Bauchmuskulatur will mich aus meiner meditativen Ruhe vertreiben.

Doch ganz souverän kann ich die gackernden Lachgelüste lenken. Die obigen Strickreste ziehen gar an mir, als wollten sie mir einen Ausstieg zeigen. Lachen befreit. Meine Schuldgefühle gegenüber Hermann lösen sich mit einem mal auf, meine ehedem so trockene Zunge, dies spröde Ding, bewegt sich wieder ganz flutschig im Mund.

Wo die Schuldgefühle im Körper mal saßen, da sind nun aber Leerstellen entstanden. Diese Gefühle, verbunden mit den ewigen Selbstvorwürfen werden im Verlauf von vielen Jahren zu einem vertrauten Freund. Der ist nun weg, verstorben oder so. Da konnte ich mich immer verlässlich aufstützen. Und dafür durften die Vorwürfe in mir fressen. Das war so ein Pakt auf Gegenseitigkeit. Ich taumele im Sitzen. Die Leerstellen machen alles natürlich etwas instabil.

Das klingelnde Telefon lenkt ab. Die Stimme von Sigrid hämmert in mein Ohr. Sie will wissen, was das mit meinem letzten Anruf sollte. Ich krame im Gedächtnis.

„Was soll das mit dem Korbacher Ordnungsamt? Wozu willst Du Kontakt aufnehmen und Weiteres regeln?“

Ich habe den Anschluss gefunden. Ich antworte, dass dann, wenn ich die Totenrede nicht halten kann, ich beim Ordnungsamt eine Demonstration anmelden werde.

„Wir veranstalten einen Klagezug durch Korbach, vor der mittelalterlichen Stadtkulisse die Stechbahn entlang zum alten Markt. Dort am Pranger halten wir Reden für den guten Hermann und gegen seine teuflischen Abzocker. Dann kannst Du Deinen Gartenbaubetrieb

Das Lächeln der Souveränität -219- wegen geschockter Kundschaft bald einstellen. Wir verstehen uns hier in Frankfurt immer noch auf das Demonstrieren. Und alles steht dann in der Waldeckschen Landeszeitung.“

„Das ist glatte Erpressung.“ Kläfft sie zurück.

„Ja, das stimmt.“

„Du bist wirklich ein Arsch.“

„Das kann gut sein.“ Mit Vorwürfen von außen kann man spielen.

„Na gut, dann rede halt. Aber pass gut auf, was Du redest, und nicht zu lang.“

„Keine Angst, ich werde Eure Totenparty nicht stören. Und bitte keine Tricks vor Ort, sonst verkünde ich laut, dass nicht Hermann, sondern Frank der Vater Deines Sohnes ist.“

„Woher weißt Du das denn nun wieder? Ich meine, woher willst Du denn sowas wissen wollen? Also, wenn das auch nur mal wahr wäre, so vorausgesetzt.“

Ich schweige. Ihre hysterisierte Stimme durchbricht die Stille im mobilen Funk. „Was soll denn der Scheiß?“

Ich weiß selber nicht so genau, woher ich die Gewissheit nehme. Jedoch habe ich wohl voll getroffen. Sigrid gesteht mir das Totenrederecht ohne Abstriche zu.

Dabei weiß ich selber doch gar nicht mehr genau, was ich reden sollte. Die alten Ideen und Vermutungen sind zusammengebrochen. Dieses Höherwertige, das habe ich längst nicht im Griff. So eine Art von Legitimierung für den Selbstmord aus religiöser Sicht, so in der Richtung. Also passen täte das schon. Aber den Faden, den finde ich nicht.

# Alltag

Das Lächeln der Souveränität -220- Schon wieder klingelt das Handyfon. Hier unter dem Strick geht es ab. Ein ehemaliger Kollege ist dran, Erich der Kontakter. Er will mir so einige Schreiben an Kunden zukommen lassen. „Du machst das doch jetzt auch frei. Sei froh, da kannst Du selber bestimmen. Aber mit der Vertraulichkeit, da bleibt es wie immer. Da kann ich mich drauf verlassen?“ Ich bestätige.

„Wann bist Du zuhause? Ein Fahrradkurier kommt dann mit den Papieren. Bist Du mit dem Korrigieren fertig, rufe mich an, und ich schicke ihn Dir erneut.“ Ich bestätige alles. Hier unter dem Strick mache ich mein erstes Geschäft. Ich erhebe mich ruhig und hebe den gelben Ordner voller Ehrfurcht vom Boden auf.

Jäh pfeift mich eine Stimme vom Eingang her an: „Was machen Sie denn hier?“ „Ich, ich äh, ich wollte nur mal gucken.“ Jetzt bin ich mit dem linken Fuß auch noch in so ein herumfliegendes Porzellanoval einer Kloschüssel getreten.

„Das ist Einbruch, strafbar, Sie. Sie glauben wohl, gerade Sie ständen über dem Recht. Ich rufe mal lieber die Polizei. Ich bin nämlich der Besitzer.“

„Entschuldigen Sie bitte Herr Besitzer, aber es sind bloße Erinnerungen, die mich hier hinein getrieben haben.“ Die Schüssel kneift böse das Schienbein.

„Na na na, den Ordner unter ihrem Arm, den haben Sie hier doch zweifellos geklaut.“ Mein Fuß schüttelt sich und versucht, sich zu befreien. Das Ding traktiert nun heftig meine Wade.

„Ach, hier gibt es doch nichts mehr zu klauen. Der Ordner gehört mir. Mit dem alten Theaterdirektor war ich befreundet, habe mit ihm zusammen hier gespielt.“ Ob ich mir den Fuß verdreht habe? Er schmerzt.

Der Besitzer kommt auf mich zu. „Sie, Sie wollen den kennen?“ Eben kann ich meinen Fuß aus dem verkackten Ding rausziehen.

„Oh ja, ich habe ihn gekannt, den Hermann Bodi, war wirklich gut befreundet mit ihm.“

Das Lächeln der Souveränität -221- „Er war ein toller Mensch. Ich wünschte wahrlich, ich hätte ihm das Ende ersparen können. Wissen Sie, er hat mir dieses Erbe, diese Immobilie hier als Eigentum wieder zukommen lassen. Ich konnte es kaum fassen. Einfach grandios.“

Ich fasse das Alles jetzt sowieso nicht mehr. Was das bloß wieder bedeuten mag? Doch der Herr Besitzer hat keine Zeit, mir noch irgendwas zu erklären. Sein Architekt rückt an. Er schleppt große Mappen mit sich.

Darauf einen Balsam oder so, das brauche ich. Sylvia, ich denke an sie. Sie kommt erst spät am Abend von einer weiteren Reise zurück. Da wäre doch ein Hühnersüppchen recht passend, so beruhigend von der Tageslast. Ich würde sie mit Grießklößchen machen wollen. Die führen doch bislang nur ein Schattendasein und wirken von da aus schon schlummerfördernd.

Ich kaufe soeben das Suppenhuhn samt Hartweizengrieß ein, und noch im Latschamarkt klingelt das Handyfon erneut. Göbelgerd ist dran.

„Du hältst ja jetzt die Totenpredigt oder?“

Woher er das bloß wieder weiß?

„Ich weiß es von Frank, der hat mich angerufen, du solltest nur keinen Scheiß bauen, meinte er. Ansonsten wäre wirklich was los, also so der Rachehammer ohne Ende. Dagegen sage ich, ‚Wollen wir nicht tatsächlich Scheiß bauen?’ Das geht mir nämlich auf den Senkel, so ein Erpressungsversuch. Und dann natürlich dieses Begräbnisevent.

Unsere Chancen für eine Verscheißerung des Happenings mit Leiche, die stehen gut. Denen geht nämlich reichlich die Muffe, dass da was schief laufen könnte.“

Gerd kennt mich. Früher wäre ich für derartige Provokationen nur zu empfänglich gewesen. Doch brennen diese Gelüste nicht mehr so ungestüm. Sie sind vor der beunruhigenden Tatsache zurückgetreten, dass sich Hermann aufgeknüpft hat.

Das Lächeln der Souveränität -222- Ich muss das Gespräch beenden. Ich habe viel zu tun. Ich habe einen Arbeitsauftrag, den ersten, der muss korrekt erledigt werden. Dann interessieren mich brennend die entdeckten Aufzeichnungen von Hermann. Zudem will ich noch das Süppchen kochen.

„Bloß keine Schnitzer solltest Du Dir bei der Predigt erlauben. Entgegen Deiner Meinung hat Hermann schon lange nicht mehr geraucht, auch nur noch wenig gesoffen. Der hat sich sogar einigermaßen gesund ernährt. Der wäre wahrlich bald ein richtiger Heiliger geworden. Das ist doch ganz in Deinem Sinne.“ Er lacht.

Ich spüre genau, wie der Göbelgerd gerne mit mir plaudern will. Da blickt doch schon wieder mein Schuldgefühl um die Ecke. Das Ding ist so penetrant. Aber ich muss das Gespräch beenden! Das Gefühl verpieselt sich so gemächlich.

Dafür stehe ich jetzt in einer unendlich langen Schlange vor der Kasse. Und vorne steht einer, so ein Trottel, der hat idiotischerweise die Geheimnummer von seiner Scheckkarte vergessen.

Es schleppt sich träge. Es kommt zum Stillstand jetzt. Und da marschiert auch noch jemand frech an der Schlange vorbei, will sich vordrängen. Es kocht in mir abrupt. Ich schreie dem Kerl hinterher, er solle sich gefälligst hinten anstellen.

Der schlaumeierische Schlawiner blickt mich verächtlich an. Alle anderen blicken mich auch so seltsam an. Ich habe wohl etwas überreagiert.

Mein Schuldeingeständnis rast von oben auf mich nieder. Schon wieder liege ich auf den Knien. Es ist grausig! Ich hatte gehofft darüber hinaus zu sein. Von wegen Ausbruch der Seele aus dem Körperknast, wie ich es erhoffte. Ein wahrlich tiefer innerer Wunsch hätte das vollbracht. Doch reicht es bis dahin wohl immer noch nicht. Furios bricht mir wie so häufig die gebrannte Seele aus. Allerdings muss der schwitzende Körper hinterher.

Tief durchatmen, Bernd! Mir fällt eine Meditationstechnik ein. Das Zwerchfell kontrahiert und saugt Luft bis tief in die Lunge rein. Körper wie Seele werden ergriffen. Ganz entspannt stehe ich gegenwärtig hier im Latschamarkt, unmittelbar vor mir das Tor, unergründlich und weit. Break on through! Ich kann es fast fassen.

Das Lächeln der Souveränität -223- Erich der Kontakter kommt persönlich, um die korrigierten, also die von mir lektorierten Texte abzuholen. Vertrauen hat die Firma schon noch in mich, denn sie hat mir die Unterlagen für ihr Bewerbungsschreiben bei einer großen Möbelfirma gegeben. Sie will ein Werbeprogramm für ihre Betten starten. Ich habe mir erlaubt, für ein Werbefoto mit Bett das Umfeld einer lauschigen Scheune vorzuschlagen, wo man das getrocknete Heu schon riechen kann. Eine Fotografie von dieser Scheune an der Bundesstraße nach Korbach habe ich beigefügt.

Erich kommt selber, denn er will mit mir quatschen. Seine Wut scheint hinter seinen Worten immer wieder auf, dass er so plötzlich die Kündigung bekam. Längst scharrten jüngere Leute ungeduldig vor seiner Position.

Auch in den Discos ist er nicht mehr so erfolgreich. Er kommt sich alt vor. Er fängt an zu plaudern, zu klagen. Das Geschäft mit der Möbelfirma ist wichtig für ihn. Da will er zeigen, was er so kann. Zuvor fühlte er sich gemobbt, in der Firma und jetzt noch auf der Tanzfläche.

„Hast Du nicht irgendwann einmal gesagt, arbeiten und lieben zu können, wäre notwendig für ein erfolgreiches und glückliches Leben?“

Sicherlich habe ich das einmal oder des öfteren gar gesagt. Jetzt muss ich ihm sagen, dass ich heute keine Zeit mehr habe, mich der Sache zu widmen. Er sieht es auch sofort ein.

„Du bist ja jetzt auch selbständig, musst Dir Deine Zeit genau einteilen. Lasse Deine alten Kollegen doch zahlen für so ein persönlich stärkendes Gespräch mit Dir. Da ist beiden Seiten gedient.“

Ich bin überrascht über den Vorschlag, so quasi eine Lebensberatung aufzumachen. Ich fühle mich auch geschmeichelt. Was die mir so zutrauen. Das muss ich mir nun wirklich überlegen.

Jetzt muss das Huhn schleunigst in den Topf. So ein Ding braucht Stunden. Ganz konzentriert geht das vor sich. Zwiebel schälen, die Möhre. Ich bin schon fast eins mit dem klackernden Messer. Da haut es beim Lauch knapp daneben. Schon wieder Blut. Beinahe wäre es wieder aus dem linken Zeigefinger gequollen. Doch nichts. Glück gehabt! Nur eine kleiner Schreck.

Das Lächeln der Souveränität -224- Meine Gedanken waren schon wieder am Wandern, waren ziellos im Gebiet der Lebensberatung unterwegs, streunten unachtsam zu dem, mir neu offenbarten Besitzer von Hermanns Theater, fragten behutsam, was da denn bloß los sei. Wo kommt der denn nun her?

Das Huhn wandert in den Topf und Wasser fließt dazu. „Wasser nutzt allen Dingen und wetteifert nicht mit ihnen.“ So ein taoistischer Leitspruch fällt mir dabei ein. Ich finde ihn einsichtig, gut gewissermaßen. Aber ob ich diesen wettbewerbsfremden geistigen Gehalt zu den Freunden aus der Werbung rüberbringen kann? Die stehen sicherlich eher auf natural water von den Fiji-Inseln. Doch habe ich immerhin Erich ohne Schuldgefühle verabschieden können. Da würde ich das mit dem Wasser auch noch gebacken bekommen.

Der Kopf wendet sich wieder den Händen zu. Die drei formen die Grießklößchen. Ich fühle die pampige Masse, die sich zwischen meinen Handinnenflächen rollt, spüre die Körnung vom Grieß.

# Child in time

Das Huhn liegt im Topf und blubbert vor sich hin. Ich sitze auf dem Balkon und lese. Es berührt mich stark, dass ich persönliche Aufzeichnungen von Hermann in den Händen halte. Ein leicht böiger Wind umtänzelt mich hier. Er kommt aus Nordost, aus der Wetterau und transportiert ein kräftiges Jauchearoma. Ein erdig-stinkiger Landduft liegt über der Stadt.

Hermann machte sich an meinen geheimnisvollen Kommunarden Norbert ohne Scheu heran, fragte ihn zutiefst einfältig, warum ihn der BND eigentlich überwachen sollte.

Das hätte ich damals nie gefragt, hätte die Frage als irrelevant empfunden, denn dieser BND trieb ja schon ein konterrevolutionäres Geschäft. Nun also! Und warum nicht bei Norbert? Das hätte ich damals fraglos als möglich unterstellt. Ich hätte wohl gefragt, warum er denn „ausgerechnet“ Norbert überwachen sollte. Und der wäre damit in die Luft gegangen. Das kleine zusätzliche Wörtchen und die verletzte Seele hätte gebrüllt vor Wut. Doch sehe ich nun diese bestrickende Freundlichkeit von Hermann. Ich sehe sein Lächeln genau vor mir.

Das Lächeln der Souveränität -225- Und Norbert, der Kerl kam bei seiner Antwort ins Stottern, die wüssten schon irgendwie, dass er für den Staat gefährlich werden könnte. Er „könnte“ gefährlich werden, er wusste stammelnd selber so cirka, dass er es nicht ist. Hermann hatte eine Psychokrücke Norberts weg gekickt.

Eine schlichte Frage und ein komplettes Selbstbildnis kommt ins Rotieren, seine Psyche. Ich bewundere Hermann wegen dieser Frage. Er ging im folgenden nicht mehr darauf ein. Er nervte Norbert nicht wegen dessen Inkonsistenz, denn der fühlte sich entdeckt. Das war unausgesprochen offenkundig für beide. Hermann redete in seiner abgrundtiefen Freundlichkeit einfach weiter.

Norbert war glücklich, ja heilfroh, denn Hermann reizte seine akute Wunde nicht länger. Norbert erklärte ihn geistig als Freund, der wollte nichts Böses. Er übergoss ihn mit beseligtem Vertrauen, stellte sich schon verschämt exhibitionistisch dahin als der Möchtegern-Bösewicht. Und er erzählte weiter.

Jassmann hätte ihn gerne für seine Zoff-Gruppe gewonnen, doch er konnte nicht. Er hatte Jassmann bei einer Demonstration gesehen, wie er mit brutaler Wucht auf einen wehrlosen Polizisten einschlug. Dabei hielt den einer von der Zoff-Truppe fest an den Boden gepresst. Norbert fand das eklig. Norbert fand Jassmann fortan eklig, ließ der sich doch seine Opfer griffbereit legen. Machte der dabei noch den dicken Macker. Manchmal grübelt er, ob der wohl für den BND spitzeln tät.

So betrieb er seine eigene Politik ganz klandestin und ohne Hierarchien. Hingegen hatte Hermann nun sein Zutrauen errungen. Und so purzelten seine Bekenntnisse und lange gehüteten Wünsche und Vorstellungen nur so aus ihm heraus. Bewegt erzählte er, wie er den Schwarzwald durchstreifte, das heißt die Wiesen mit büscheligem Gras und Tannenwälder und besonders die weitläufigen Heidekrautflächen.

Bei diesen Touren hatte er genügend Raum für seine Phantasien, so wie er Versammlungen des Bundschuhs am Kniebis organisieren würde. Er streifte umher als Bettlerkönig mit einem roten Barett auf dem Kopf im Auftrag seines großen Helden Joß Fritz.

Das Lächeln der Souveränität -226- Norberts Großvater hatte in ihm die Saat des Aufständischen ausgebracht, indem er über diesen geschickten Verschwörer und Organisator der Bauernaufstände seine Geschichten erzählte. Er hatte ihm Reglers Roman von den Bauernkriegen geschenkt, aus dem Norbert passagenweise aus dem Kopf zitierte.

Er benannte Stellen daraus, nach denen die reaktionären Kräfte allein wahre Rebellen köpfen sollten. „Aber keine, die nur nachts herumgeschlichen sind, verstehst du! Die, die Pläne machten, um sie nie auszuführen. Die klug nur in den Wirtsstuben redeten. Die Angst vor Pulver haben. Nein, wahre Rebellen, keine lichtscheuen Maulwürfe, hörst du!“

Und diese Rebellen ergatterten die Reaktionäre, vor allem durch Verrat aus deren eigenen Reihen. Untreue und Hinterlist verübt von so einem wie Lux Rapp, der von den Stimmen seiner eigenen Feinde becirct gewesen ist, denen, „die immer aus dem dunklen Loch des Gestern heraus reden“. Von den aufrechten Rebellen gegen Unterdrückung, den Bundschuhlern hingegen fühlt er sich behext, verführt. Verkehrte Welt!

Mit künstlich offengehaltenen Wunden, dazu in einem ähnlich abenteuerlichen Kostüm schlich Norbert an den Wasserfällen vorbei und durch die alten Bergweiden, die gegen jegliche Erosionen noch mit Steinwällen abgegrenzt waren. Später las er zusätzlich den Friedrich Engels zum Thema.

Doch zunächst brachten die Erzählungen des Großvaters seine Phantasie zum Brodeln. Der wollte dem Jungen ein guter Großvater sein, war doch dessen Vater bald nach der Geburt verschwunden, einfach weg.

Mit der Mutter wohnte der Junge mittlerweile in Freudenstadt, wo er eine Freundschaft zu Flipper aufbaute. Flippers Vater war schon frühzeitig verstorben, ein Zwangsarbeiter aus Kattowitz, der den Weg heim nicht mehr geschafft hatte.

Norbert bewunderte Flipper, denn der platzte vor Energie, tänzelte auf dem tiefen Wasser, tauchte blitzschnell ab, flog unter der See und stand unversehens vertikal zu den Wellen, stolz. Das war ein Kerl!

Das Lächeln der Souveränität -227- Mit ihm zog Norbert durch Freudenstadt. Sie hingen gemeinsam am Marktplatz rum und rangelten sich ein wenig mit der nahen Polizei. Flipper strampelte sich frei, von der katholischen Kirche „Christi Verklärung“ und begriff nicht, warum sein verschleppter Vater so daran hing. Er strampelte sich kraftvoll frei von seinen einschränkenden Überlegungen dazu, war der Vater doch ein von den Nazischweinen Missbrauchter, ein klapperdürrer Ausgelaugter.

Die Zuwendung des Vaters zur Kirche bedeutete für Flipper einen erbärmlich-peinlichen Fleck auf dessen ansonsten klarer Leidensgeschichte. Sie schuf für ihn keine klare Konturierung der Leiden, sondern eine Verunklarung, Verklärung eben. Flipper stellte sich gegen die Wellen, die ihn in die katholische Kirche schwemmen wollten. Ganz selbstbewusst stellte er sich konträr, trat aus. Vollzog das, was der Vater eigentlich hätte tun sollen.

Doch Flipper konnte noch mehr. Er schwänzte die Schule und brach eines Tages gar seine Lehre ab. Er verschwand aus diesem abgelegenen Nest in den Schwarzwälder Bergen und war eines Tages weg. Norbert blieb allein zurück.

Der verwest-scharfe Jauchegeruch liegt über der Stadt, zumindest hier auf dem Balkon. Immer noch dieser leicht böige Wind aus der Runkelrüben-Wetterau, der ihn hereintreibt.

Bedächtig meinte Hermann, dass das doch ein herber Verlust für Norbert gewesen sei, ob das nicht eine unendliche Trostlosigkeit bedeutet hätte. Das hatte es tatsächlich. Hermann hatte exakt getroffen.

Den Norbert zog es wieder nach Kniebis und er lief stundenlang durch die Wälder mit all ihrem Totholz, durch das sich die Insekten fressen. Diesem modernden Gehölz, voll vermoost und voller kriechender Larven.

Aus der Küche höre ich das wild blubbernde Wasser. Das nutzvolle Element ist als Brühe heftig aufgebracht. Ich regle die Temperatur nochmals herab, will den Topf ein wenig beiseite schieben und verbrenne mir dabei fast die Finger. Sie zucken zurück.

Im Kopf durchwandere ich mit Norbert die Landschaft, eine Neigung, die mir nur zutiefst vertraut ist. Der Vorgang beruhigt, narkotisiert irgendwelche wildwuchernden Emotionen.

Das Lächeln der Souveränität -228- „Sweet child in time“ verbunden mit einem säuselnden Gesang. Das war längst Norberts Lieblingssong geworden.

Und dann rast er mit wild kreischend singenden Stimmen den Hügel hinab, Schreckensschreie, die sich in den Buntsandsteinfelsen verstärken, und wird verfolgt von fliegendem Blei. „See the blind man“.

Norbert zog es zum Glaswaldsee, in dem ein ganzes Nonnenkloster versoffen war und Norbert vögelte sie alle, die Verbliebenen, die so lieblich sangen und in ihren weißen Kleidern am Rand des Sees tanzten. Er schwor mit seiner in den Himmel gestreckten Faust, dass er die gesamte katholische Kirche ficke. Er hasste sie entsprechend dem verfressenen Bischof, der letztendlich über seinen Helden Jost Fritz obsiegt und ihn vertrieben hatte.

Seinem Freund Flipper konnte die katholische Kirche keine sichere Heimat mehr bieten, wie seinem Vater noch. Norbert gehörte ihr sowieso nie an. Der wollte er es nur zeigen.

Ihn hätte schon wieder ein unerbittliches Schicksal überrollt. Schon wieder wäre ein ihm nahestehender Mensch plötzlich verschwunden, der Vater und dann Flipper.

Von dieser Feststellung Hermanns wurde Norbert vollends ergriffen. Es stellte sich heraus, dass er nicht nur Aufträge von Jost Fritz am Kniebis verrichtete. Er war dort im Gelände auf der Suche nach seinem Vater.

Der war eines Tages aus Thüringen hergekommen, als Mitglied im Wachkommando Tannenberg. Das machte Norbert schwer zu schaffen. Sein Freund Flipper war mit seinem Vater besser dran. Norbert bewunderte ihn dafür. Zwar waren sie beide ohne Vater groß geworden, aber Norbert schämte sich wegen dem seinen, hatte der doch mit dem Führerhauptquartier hier am Kniebis zu tun. Der war so ein Nazi gewesen.

„Oh weih! Das ist ja eine verdammt beschissene Lage für Dich.“

Das war ein spontaner Kommentar Hermanns, den Norbert als zutiefst begütigend und einfühlsam begriff. Er hatte einen tiefen Glauben an dessen persönliche Aufrichtigkeit aufgebaut. Er erzählt ohne zögerliches Nachdenken von seinen hoffnungsschwangeren

Das Lächeln der Souveränität -229- Wunschvorstellungen, dass der Vater sicherlich von den richtigen Nazis verführt worden sei, missbraucht. Der äußere Anschein, er sei einer von denen gewesen, musste garantiert trügen. Die hatten zweifellos seinen wahren Vater verhext.

Er war sich sicher, dass diese kindlich-naiven Wünsche von Hermann nicht verlacht wurden. Oder besser, dem Hermann gegenüber klangen sie überhaupt nicht kindlich-naiv. Der nahm die Wünsche ganz ernsthaft. Auch seine frühen Ängste, der Vater wäre wegen ihm verschwunden. Dass der Vater noch da wäre, wenn er nicht auf die Welt gekommen wäre, das nagte als Schuldgefühl an ihm. „If you've been bad…“

Die Aufzeichnungen lesen sich erschütternd. Sein Leiden, den Mächten der Welt preisgegeben zu sein und auch noch seinen eigenen bohrenden Selbstvorwürfen, all das drückte sich in seiner schleppenden Sprechweise aus. Hermann hat das penibel notiert.

Sie rollte immer wieder auf ihn zu, geradewegs, diese Maschine. Auf fester Spur, die direkt auf sein Zentrum führte. „Ich kann nur noch zuschauen, gelähmt. Ich bin doch ein fester Teil dieser Spur, oder Maschine, ach von diesem ganzen Komplex, ohnmächtig, ausgeliefert.“ „Wait for the ricochet.“ Irgendwann wird ihn der Querschläger treffen. Das wird dann kein Zufall sein. Er musste treffen.

“In the clearing stands the boxer“. Vor seiner klaren Realität gab es keine Flucht in die Landschaft. Ich spüre ihn hautnah. Es gab einfach kein Entrinnen. „The fighter still remains.“ Die Ohnmacht bedrückt, schnürt die Luft ab.

Ein kräftiger Windstoß legt die Balkonblumen flach. Ein fauliger Jauchegestank senkt sich herab. Die Natur ist präsent in der Stadt. Allein hauchend gibt sie eine Ahnung von den allmächtigen Kräften des Zerfalls.

Von wegen nur Ahnung, offenbaren tun sie sich mir manifester, richtig massiv. Der stechend morastige Gestank der Jauche, Gülle, Odel oder wie auch immer, der huscht in mich hinein, rein in die offene Nase. Deftiger Fäkalgeruch umtänzelt die wehrlosen Schleimhäute, wirbelt herum, kriecht ammonium- und nitratgetränkt tief in sie, überschwemmt all das. Der chemisch-aggressive Pfuhl flutet mein Hirn, verätzt die

Das Lächeln der Souveränität -230- Synapsen. Ich muss mit den Armen rudern, röchle und ringe nach Atem. Gar übel geladen stürzt das nutzvolle Element Wasser nun vollends über mich herab, will mich gar eklig ersäufen.

Ein Rettungsring, ein fallendes Blatt Papier reißt mich aus dem wild gurgelnden und stinkenden Tohuwabohu heraus. Meine Augen finden den Anschluss an die zuletzt gelesene Zeile.

Der alte Großvater bedrängte Norbert, dass er seine Lehre nicht auch noch abbrach. Und nach dem Abschluss zieht es ihn sofort nach Frankfurt. Dort trifft er eines Tages wieder auf Flipper, Anfang der siebziger Jahre, doch nur kurz. Der Tod von Holger Meins trifft Flipper massiv, er bäumt sich auf, taucht wieder ab und geht zur RAF.

Das ist nichts für Norbert. Er klagt Flipper an, dass er die alten Ideale von einem hierarchie- und autoritätsfreien Kampf vergessen habe. Doch der ist längst rastlos unterwegs, in Palästina, in Köln, Brüssel, im Elsass, Paris, der hört nichts mehr. Und Norbert ist darin bestärkt, dass nichts ist, wie es scheint, schon gar nicht im Nahbereich.

„Ich traue niemandem. Nicht einmal mir selbst!“ Das bekannte gar schon Josef Stalin. Und der war ja nun bekanntermaßen von einer ganz anderen Fraktion. Die Ohnmacht greift zu.

Die Küchenuhr klingelt. Das Wasser hat sich endgültig zur Brühe gewandelt. Ich lade meine eigene Unruhe, die diffusen Sorgen ein, mit mir in die Küche zu kommen. Wir müssen noch die Graupen in den Topf schaffen. Der Windsturm legt sich allmählich und die Verwesungsdüfte ziehen fort. Ich decke auf dem Balkon ein, illuminiere mit Kerzen und freue mich auf Sylvia.

# Within You, Without You

Ein langer Gang liegt vor mir. Das entlastet. Es geht schlicht geradeaus. Doch da liegt schon ein Nebengang, nur nach wenigen Schritten. Und der ist auch noch verbogen. Schon wieder

Das Lächeln der Souveränität -231- geht es los. Immerhin ist es ein eleganter Bogen und führt doch glatt an meinem Ziel vorbei. Schon wieder sind meine Schuhe fort. Ich trage jetzt auch noch bloß ein langes weißes Hemd. Als ich losging, war mir das so bewusst. Es wurde immer weniger. Und jetzt bin ich hier, oder besser, ich gehe, laufe gar. Ich muss einfach weiter, vorbei, sonst sehen es die anderen. Oder wissen die es sogar schon? Ich hätte doch vor dem Losgehen mich in einen Anzug kleiden können, sollen, einen Mantel auch noch darüber. Und jetzt, ein Windstoß, und ich bin völlig entblößt.

Die Anderen tun so, als merkten sie nichts. Wenn die so tun, dann tue ich es jetzt auch. Reichlich verwegen wiederum kommt mir das nun vor. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, so fast nackt. Es klappt. Wenn auch langsam. Ich lasse mich nieder. Sie sind so freundlich, schon fast zutraulich zu mir. Es geht um den neuen Theaterbesitzer. Sie sind so neugierig, wollen wissen, was es mit dem auf sich hat. Sie wollen die Lösung, von mir. Es funktioniert! Es ist faszinierend. Ich lächle.

Ich liege immer noch im Bett. Sylvia ist schon wieder fort zur Arbeit. Ich grüble noch ein wenig, fühle mich erneut in dem weißen Kleid.

Brigitte hatte in ihrer Funktion bei den Bhagwanisten viel mit Jüngern zu tun, die bereit waren, ihren ganzen Besitz für den Rauschebart zu opfern. Sie hat übertragene Besitztümer verwaltet. Nachdem nun der Erleuchtete erloschen war, eignete sie sich die Verfügung darüber an. Das Gebäude, in dem Hermanns Theater war, gehörte dazu. Sie hat es ihm schließlich übertragen. Sie fühlte sich ihm gegenüber verpflichtet, wollte ihm ihren Dank beweisen.

Doch fühlte der sich überhaupt nicht wohl mit dem neuen Besitz. Der ehemalige Besitzer und Sanyasin kam eines Tages in das Theater. Beide kamen ins Gespräch, fanden sich sympathisch, und Hermann übertrug ihm das Gebäude wieder zurück. Das war eine absolut bewundernswürdige Tat, so selbstlos. Diese Geschichte macht tiefen Sinn, zumindest in meiner Bewunderung für Hermann. Der Kerl ist phantastisch. Die freundlichen Anderen begreifen mein Anliegen sofort. Ich bin zufrieden.

Im Bad rieche ich noch die verfliegenden Reste von Sylvias wohligem Parfüm. Ich trinke meinen Kaffee bereits am Computer, bei der Gestaltung meiner neuen Webseite. Neue E-

Das Lächeln der Souveränität -232- Mails gehen raus. Ich tüte meine Flyer ein, klebe Adresszettel drauf, stempele die Briefe frei, fülle Formulare aus.

Ich telefoniere mit Roger von „Clapps, Mill and Friends“, einer Agentur mit herrlich neurotischen Kreativen, so richtig gut durchgedreht, längst über das Stadium der Afterkopie hinaus. Roger meint, die Neurose wäre das Betriebskapital, das gelte es zu schützen. Das gierige Feuer müsse konserviert werden. Sie würden schließlich alle nicht jünger.

Wie kann ich denn denen da bloß helfen? Ich will das ja nur in verständliche Sätze packen, flammende Begierde grammatikalisch korrekt gestalten. Das ist immerhin meine ausformulierte Geschäftsidee. Aber braucht das denn überhaupt jemand? Spastisch strecke ich meine Beine auf dem Schreibtisch aus.

Die Anderen starren mich immer noch an. Ich sitze ausgeliefert in diesem Theater, völlig preisgegeben dem richtigen Besitzer. Ja, was will denn mein kärgliches Ich hier bloß, lässt es sich auch noch so überheblich danieder. Dabei sollte ich im weißen Hemd auf den Knien rutschen. Das müsste ich sogar, müsste den Besitzer anflehen, mit verdrehten Augen Vergebung erbitten, denn ich habe hier eigentlich nichts zu suchen. Fassungslos schauen mich die Anderen an.

Sie schauen entsetzt auf mein jämmerliches, mein leichenfledderndes Ich, denn das kriecht so begierig durch diesen entseelten, leeren Körper. Die Strafe muss sein! Sie ist ihnen, Herr Besitzer.

Ich ziehe die Beine an und strecke sie wieder aus, und das nochmals und dann wieder erneut. Dieses Schreckliche verfolgt mich bis in die hintersten Office-Ebenen. Es quietscht gequält der Schreibtischstuhl. Ja was? Soeben war ich noch stolz und hoch zufrieden, und schon geht es wieder bergab. Zermürbt nehme ich die verkrampften Beine vom Tisch. Wo stehe ich denn nun?

Meine Finger gehen voran und tippen die Nummer vom Göbelgerd ein. „Sag mal“, sage ich, „Hermanns altes Theatergebäude, woher hatte er das denn? Von Brigitte etwa?“

Das Lächeln der Souveränität -233- „Von Brigitte? Wie kommst Du denn auf solche Ideen? Er hat den runtergekommenen Schuppen vor langen Jahren mal günstig erworben.“

Was war denn jetzt bloß los? Das kann ich noch nicht so recht begreifen. Das mit dem Herrn Besitzer, das war reine Fiktion. Ich habe geträumt. Das waren Wunschträume, und auch noch in zwei Versionen. Die völlig kontroversen Bedeutungen versuche ich soeben zu rekonstruieren.

„Hallo Bernd! Bist Du schon wieder abgetaucht?“

„Nein, nein, ich bin ganz Ohr.“

„Du willst wohl unsere Hippiebrigitte verklären, in ein mildes und wohltätiges Licht tauchen.“ Er lacht wie über einen gelungenen Scherz.

Ich allerdings kann ihm jetzt nicht meine seltsamen Traumvisionen erklären. „Ach jeh, Du merkst aber auch immer alles, unerbittlich. Dabei wäre es doch so schön gewesen.“

„Ach hol’ Dir doch einen runter darauf. Aber jetzt mal ernsthaft. Meinst Du, ich würde total aus dem Rahmen fallen, wenn ich zu dem Korbacher Sepulkralhappening in dem feinsten Anzug komme, den Hermann mir spendiert hat? Da hätte er doch noch eine Bedeutung. Also bevor der mir noch von den Hartz IV-Agenten konfisziert wird.“

„Darauf geht Dir, als alter militanter Linksextremist, doch garantiert keiner ab. Derartige Rahmen hast Du doch immer runtergeholt. Davor wirst Du doch jetzt nicht kapitulieren. Aber ganz im Ernst, mache es doch so im Anzug, genau so, wie Du es für richtig hältst. Dieser gesamte Verscharrungsevent ist doch sowieso nicht ganz ernst gemeint. Man darf das alles doch nicht als so erhaben begreifen, denn schon das Leben ist elend genug, inklusive der vergnügungssüchtigen Trauergemeinde.“

„Ach, rück mir mit Deiner gedrückten Stimmung nicht näher ran, mein lieber Bernd, life goes on, within you or without you. Haha. Ich finde, an der Größe von Hermann können die sowieso nicht kratzen. Weißt Du, der Mensch war schon irgendwie phänomenal, so richtig super.“

Das Lächeln der Souveränität -234-

Ich weiß soeben nicht mehr so ganz genau, an welchen Grenzen sich unsere Auseinandersetzung entlang bewegt. Ich habe jedoch das Gefühl, es wäre eine. Ich will das Gespräch beenden, dagegen spricht Göbelgerd einfach weiter.

„Ach weißt Du, ich finde es so in Ruhe betrachtet schon ganz schön beknackt. Macht der Kerl sich einfach fort. Der Arsch, gerade jetzt, wo wir ihn alle doch recht nötig hätten. Dabei konnte er uns doch immer prima auf die Beine helfen, immer, wenn wir mal in seelisches Loch gerutscht waren. Der alte Sack, der verduftet so locker.

Wie war das mit der gedrückten Stimmung? Ich will das Gespräch mal lieber schnell beenden. Jetzt klopft von woanders her auch noch jemand an meinem Telefonanschluss an und will da rein.

Erich ist dran. Er hat den Auftrag mit der Möbelfirma gewonnen, also zumindest teilweise. Also die Werbeagentur THW hat mit dem Konzept von Erich die Ausschreibung der Firma gewonnen und kauft nun von Erichs Konzept lediglich zentrale Bestandteile, die sind derartig reduziert billiger, enthalten aber alle anderen Teile zwangsläufig. Erich ist empört, aber machtlos. Also so eine Firma muss nun einmal kosteneffizient wirtschaften. Was will man da machen!

„Diese erbärmlichen Abzocker, nur auf der Suche nach dem flotten Yankeedollar. Du kennst mich, ich bin ein verträglicher Mensch, aber jetzt könnte ich denen ihren Schuppen in die Luft sprengen, zertrümmern, oder sonstwas. Den CD Müller, jetzt in der Geschäftsleitung, den würde ich mit stumpfem Messer skalpieren. Erichs Wutzittern macht die Leitung beben.

„Setz Dich hin und meditiere. Das kennst Du wohl noch aus Bhagwans Zeiten.“

„Verschone mich mit dem Verein. Mit dem will ich schon garnichts mehr zu tun haben.“

„Aber Meditieren geht doch noch, oder?“

„Ach weißt Du, ich hasse das alles. Der Mann war doch ein Schwätzer, gestern ein Satz, heute der genaue Gegensatz.“

Das Lächeln der Souveränität -235-

„Nun bleib doch mal auf dem Teppich und setz Dich. War nicht das meditierende Sitzen Kern und Angelpunkt dieses Lebenswegs? Was hast Du aus Deinem bisherigen Leben mit in die Gegenwart gebracht?“

„Der Mann, der hat doch nur geschwafelt, heute dies, morgen jenes, und die Widersprüche hat er auch noch verschwafelt. So ein Journalist aus Hamburg hat sogar einmal behauptet, Bhagwan wolle ein Spiegel sein, in dem sich jeder in seiner ganzen Unvollkommenheit erkennen könne. Er würde sich ständig nur widersprechen, um zu verwirren und aufzuwecken.

Dieser Journaillenswami meint, der Kerl wolle die unvollkommene Realität einfach nur nachstellen. Aber das ist nun wirklich keine Kunst. Es ist jedoch Anmaßung, sich dabei als ein Spiegel für die anderen zu deklarieren. Ich bin Werber, und ich weiß, wie man mit Wortgeklingel und schönen Bildern auf etwas oder sich selber aufmerksam macht: ‚Ich bin der Spiegel eures Ichs. Schaut auf mich!’

Mit neunzig Rolls Royce klappt das bestens, ein phantastischer Background. Die Kunst der Werbung besteht dann darin zu behaupten, dass es darauf nun gar nicht ankäme. Noch schärfer, dass nur die anderen, die uneinsichtigen Gegner, das immer in den Vordergrund rücken würden, diese Neidhammel. Man selber hat damit eigentlich garnichts zu tun. Ohne den Glamour, ohne diese in sich schon abartige Anzahl von Nobelkarossen wären die nichts.

Als Werber lernst du, irgendwas als etwas Besonderes zu deklarieren, als Premiumprodukt, als Einzigartigkeit. Das ist die Kunst der Erstellung des schönen Scheins. Ich aber wollte dahinter kommen, wollte etwas Vorbildhaftes.

Dieser windige Journalist behauptet mythisierend, Bhagwan wäre in die Kategorie dieser legendären Zenmeister einzuordnen. Aber soweit ich weiß, ist denen ihre Logik schon ganz schön schräg, aber sie zeigen auf der anderen Seite eine hohe Anerkennung, gar Dankbarkeit gegenüber der gegebenen Welt. Sie allesamt haben sich nie mit Luxusgütern umgeben, gar damit geprotzt. Die waren eher am einfachen Leben orientiert.“

Das Lächeln der Souveränität -236- Woher der bloß all das Wissen hat? Schon Siddharta, in einem reichen Haus geboren, wurde zum Asket. Und dann Bodhidharma, geboren als ein Königssohn, wanderte über den Himalaya, lebte in einer Höhle und ging in ein Kloster. Die Beruhigung des Geistes war seine Lebensaufgabe.

Ich grunze zunächst zustimmend in das Telefon, und dann: „Doch es gibt nun mal auf jedem Gebiet die Nachahmer, die Falschmünzer, die Krämer, die mit Dingen aus erster Hand Geschäfte machen.“ Ich glaube, ich habe soeben lediglich jemand zitiert.

„Siehst Du, diese Trennung von Anmaßung und wirklichem Sein, die wollte ich immer überwinden, diese Zweiheit, alle ewigen Zweifel. Ich wollte die Klarheit, zumindest für mich persönlich.“

Es klingelt mir aus den Ohren bei diesen Worten. Ich glaube, es scheppert die knackige Nuss im Kopf herum. Ich kann sie fast greifen. Aber nur fast. Erich irritiert mich eben. Dass er so tief überlegt mit seinen Erfahrungen umgeht, dass hätte ich nicht gedacht. Dachte schon eher, er wäre vor allem an den schönen langbeinigen Mädchen mit geshapten Titten interessiert.

„Ich wollte doch nur ein leuchtendes Vorbild. Oh, ich hasse ihn. Allerdings hasse ich mich manchmal selber noch viel mehr, dass ich auf den Scheiß reingefallen bin. Der Arsch ist ein reiner Künstler in Sachen Selbstmarketing gewesen.“

„Erich!“ Ich muss laut werden am Telefon. „Du bejammerst Dich doch momentan nur selber. Hänge Dich doch nicht an dieser Person fest. Weißt Du, die haut Dich immer noch völlig aus dem Lot. Seine Stimme hallt immer noch in Deinem Kopf. Dabei solltest Du Stille erzielen, Deinen Sinn wieder öffnen. Das erreichst Du mit Meditieren.“

Schon gequält klingt es aus der Leitung. „Affenarsch, ein aufgeblasener Affenarsch war er.“

„Verstricke Dich nicht in das Äußere, in all das das, was diese Figur umgibt. Das provoziert gleichzeitig tiefe innere Leere. Darin solltest Du nicht verharren.“

Das Lächeln der Souveränität -237- Keinerlei Frequenzen durchziehen den elektrischen Draht, die auf eine menschliche Äußerung schließen ließen. Das tut mir gut, denn ich bin just etwas sprachlos, da selber verwundert über meine letzte Aussage. Aber sie passt. Also, finde ich.

„Drückst Du mir gegenüber, mit dieser Wortlosigkeit, die Wahrheit aus?“ Die nonverbale Frage steht in der Leitung. Allerdings blieb auch Buddha stumm.

Gleichwohl ist Erich von mir angetan, sagt, er hätte wohl noch so einen Banker bei Hand, der sich für eine Beratung interessieren würde, aber nichts aus zweiter Hand, nur Premium. Ob ich das denn schaffe?

# Feel like I am leaving life behind

Meine Augen schwadronieren durch den Raum. Sie entdecken erneut die Aufzeichnungen von Hermann. Da sind doch sicherlich mehr Seiten, als ich sie bislang gelesen habe. Neugierde quillt auf.

Ich weiß nicht, ob ich das wirklich so gewollt habe. Auf einer der Seiten finde ich meinen Namen, Bernd. Unterstrichen! „Wie komme ich an den nur ran? Der flieht anscheinend ständig.“

Etwas benommen blättere ich weiter. Rollt die Maschine jetzt wieder auf mich zu? Es gibt wohl kein Entrinnen.

Die Stunde der Wahrheit, sie ist da. Total angespannt im nach hinten gelehnten Stuhl und die Beine bequem wacklig auf den Schreibtisch gelegt, starte ich energisch in die freie Transpiration. Die Füße drehen sich hin und her. Die demütigen Finger legen auftragslos das Folgeblatt frei.

„Ganz begeistert erzählte er von irgendwelchen Sträuchern, von schönen Blumen, Tulpen und den Rosen, wie die zu beschneiden seien. Und dann lässt er das Angebot, in der Baumschule einzusteigen, sausen. Er geht stattdessen in die Protesthochburg Frankfurt. Doch ein richtiger Revoluzzer wird auch nicht aus ihm. Dafür lebt er sich in dostojewskische Welten ein. Aus

Das Lächeln der Souveränität -238- denen hätte er tatsächlich so einige gute Extrakte herausbekommen. Er kannte sich aus mit all den Karamasows, den Raskolnikows, Sokoljskijs, Werchowenskijs und Stawrogins.

Aber nein, problemlos jonglierte er zwar mit all diesen Namen, gar blind ordnete er sie ein. Und dann, dann bleibt er lieber in seinem Kellerloch hängen.“

Ich liege japsend versackt in diesem Stuhl oder Sessel. Der dreht sich, so um einige Grade und die wieder zurück. Also nur aufgrund all der häufigen Umzüge sind meine Bücher von Dostojewski irgendwie verschwunden. Da kann ich doch wirklich nichts für. Alle sind weg, bis auf ein dünnes, „Traum eines lächerlichen Menschen“. Aber das scheint mir jetzt kein tragfähiges Argument gegen Hermanns Ausführungen zu sein. Die Qual geht weiter.

"Sometimes I feel like I am leaving life behind.” Läuft da das Radio?

„Mit mir am Theater hätte er so einiges bewegen können, dessen ungeachtet weigerte er sich, sein Talent zu entwickeln. Und auch nur entgegen seinem innerlichen Sträuben machte er schließlich den Abschluss an der Uni. Und das allein aufgrund der rigorosen Schubkraft von Dieter.

Und mit dem Ding in der Tasche, ich kann es nicht fassen, lässt er sich letztendlich im hinteren Bürozimmer einer Werbeagentur nieder. Und dabei hatte er diese ganze Lebensstildebatte voll im Griff. Ganz lethargisch hängt er dort hinten ab und freut sich über die gereichten Brotkrumen.“

Ich weiß nicht so recht. So dürfte ich das letztendlich nicht akzeptieren. Lethargisch, das hat so nie gestimmt. Vergeblichkeit in allem eitlen Tun und Bemühen, so muss ich die Erkenntnis nennen, die sich mir eröffnet hatte. Nüchternheit im Leben, Abstinenz in allem chaotischen Begehren, das hatte ich mir zum Lebensziel erkoren. Nichts wollte ich letztendlich mehr! Nur in einer strengen Ruhe vermochte ich mein eignes Ich zu fassen. In diesem hinteren Bürozimmer da konnte ich das leben.

Das konnten all die anderen Werbefritzen erahnen. Sie kamen gerne zu mir, bestaunten mich samt meinem Sartre-Plakat schon als irgendwie exotisch Anderes. Doch saß ich dort im Zentrum des Sturms, gelassen und gefasst im Knotenpunkt des schmelzenden Kerns, in der

Das Lächeln der Souveränität -239- infernalischen Hitze des Reaktors, der all die unbändigen Begierden der Menschen befeuern will, damit die hybrid potenzierte Dynamik des Lebens nicht zum Stillstand kommt.

Dagegen, meinen Weg der reinigenden Askese, den hat der Hermann wohl nicht so recht begriffen. Ach, der wollte doch eigentlich auch nur den großen Ruhm. Sein selbstgewähltes Ende, das hat er jetzt davon.

Das ist ein schuldbeladender Gedanke. Den nehme ich sofort zurück. Aus! Aber dieses schon irgendwie allmächtige Gefühl, inmitten der wild bellenden, kläffenden Meute zu sitzen, die all diese dämlich gierigen Seelen per Fernseher, Radio, Kino und Prospekte vierteilen, zerkratzen und schinden, die sie so richtig schrill aufgeilen, so zum Haben, Haben, Haben, das hat schon was.

Stolz, Neid und Habgier, das sind die Brände, die sie in all den Herzchen so meisterlich zu entfachen vermögen. Mit ihren medialen Voodookulten verpassen sie ihnen den scheelen Geist. Ich dagegen begehre nur schwach. Ich habe den Ekel vor all der Gier. Er kam eines Tages über mich.

Also, ich bin nicht unbescheiden, will mich wirklich nicht mit diesem griechischen Göttersohn namens sowieso, diesem großen Helden, vergleichen. Und ich hatte es gar mit vielen Höllenhunden zu tun. Trotzdem waren all sie alle immer zutraulich zu mir, ein freundliches Wort und sie wackelten, um im Bild zu bleiben, gar freudig mit ihren Schwänzen vor mir. Ganz ehrlich, es erging mir so!

Also gut, so ging das irgendwie. Ich wollte ja nur mal gegen Hermanns leichtfertige Meinung halten. Ich muss jetzt wohl wirklich wieder zum Text kommen.

„Nun, das muss ich ihm anrechnen, er wusste genau, was all diese Subkulturtheorien bedeuteten. Sie wären schlichtweg eine Verklärung der Auflösung jedes kollektiven Seins. So konnte er es mir gut erklären. Mehr noch, diese Lebensstiltypen verklärten letztendlich auch noch die Auflösung des individuellen Seins. Lebensstile sollen frei wählbar sein, wie die Zahlen im Lotto. Jede Person soll sich nach momentanem Geschmack neu definieren können. Das wäre dann die wahre Freiheit. Das kann man nachvollziehen.

Das Lächeln der Souveränität -240- Um mit dem Wissen über die Techniken Geld zu verdienen, das ist nicht einfach. Dazu muss man schon die Dreistigkeit eines Markus Schliemann besitzen, der sich zum Propagandisten der Lebensstilfreiheit und damit des Zerfalls gemacht hat.“

Nun gut, also ich resümiere. Der Propagandist des Zerfalls hat seinen Weg in die gesellschaftliche Oberschicht gemacht. Er nennt es allerdings nicht Zerfall, sondern Freiheit. Ich dagegen, der diese freiheitliche Auflösung eher mit einem gewissen Missbehagen betrachtet hat, ich hätte damit sicherlich eine beachtliche Karriere in den gesellschaftlichen Untergrund vor mir gehabt. Ich hätte mich erfolgreich hinter den Ruinen des modernistisch modernden Verfalls versteckt und von dort Überfälle auf staatliche Transferzüge gestartet, Hartz IV – Gelder erbeutet, oder so was.

Ich schichte meine Beine um, lege das linke auf das rechte. Der Hermannsche Spiegel zeigt mir ein Gesicht, das ich so nie gesehen habe. Geahnt vielleicht. Ja schon, irgendwie. Das klingt ja nun schon gar nicht mehr wie eine beatitude, eher nach the everlasting deadbeat. Indes habe ich wohl immer geglaubt, die Lebensstilsache wäre zu wichtig, als sie so schnell abzuhandeln, gar flott darauf zu reagieren. Ich hätte einfach mehr Zeit haben müssen, um sie zu begreifen. „My hands are moving faster than the moving of my mind.” Nächste Seite.

„Das muss ich Bernd also anrechnen. Da kann ich den Rückzug von diesem Lebensstilkram als eine Resignation gar verstehen.“

Immerhin stimmt Hermann mir da zu, wenn auch in meinem Versagen.

„Aber dass er selbst das, was er als seine heiß ersehnte Souveränität charakterisierte, nie wirklich verfolgt hat, das enttäuscht mich maßlos.“

Meine Hände werden soeben noch viel schneller als der Kopf, und sie lassen die Papiere fallen. Auch die Füße stehen plötzlich ungeplant auf dem Boden. „Thoughts and generations of my dreams are yet unborn.“ Tief rutsche ich in den Schreibtischsessel hinein, rutsche immer tiefer.

Also nun halt einmal! Weil ich all das längst geahnt habe, habe ich also jetzt meine Karriere in die andere Richtung gestartet. Mit staatlicher Unterstützung mache ich mich ab sofort

Das Lächeln der Souveränität -241- selbständig. Dafür war ich auf die klugscheißerischen Entdeckungen von Hermann erst gar nicht angewiesen. „Trying to avoid a taste of that reality.“ Ich will nicht nach unten. Hingegen ist sein letzter Satz ein Tiefschlag. Der klingt, wie von meinem Vater. Empört rutsche ich vom Sessel herab. „My moving gets too worn“.

Das, also das, also ich stottere nun auch noch in meine Gehirnwindungen hinein. Störungen gibt es in den Synapsenkontakten, den Schnittstellen. Es flackert dort. Ich will also denken, dass das zuviel sei, „and whistled like a sigh“. Ich rutsche. „Da ist sie, da ist sie endlich, die Konfrontation mit der Realität“, murmele ich beseelt und rutsche Hals über Kopf den Sessel hinab.

Ich rutsche auf die Knie und, so geht es mir durch den Kopf, also ich denke, dass ich ein Schuft sei, wenn ich darüber jetzt auch noch lache, lache über all das. Aber können tun könnte ich das nun wirklich, zu schräggeschraubt sind diese Konstrukte, „my head was still in gear“.

Hermanns Konstrukte sind das. „And my body's getting tired of carryin' another's load.” Was wollte der mir anhängen? Wahrscheinlich sich seiner Schuldgefühle entledigen? Wegen der Geschichte mit Willy Wilke eventuell? Denn lange haben wir zusammen darüber gesprochen.

Wir wollten so eine moderne KPDler-Biographie auf die Bühne bringen. Hermann kannte so einen aus Göttingen. Brigitte war sofort begeistert. Sie meinte, die Stalinisten seien für ein Theater der Grausamkeit geradezu prädestiniert. All die KPDler, die würden Stalins brutales Handeln bewundern, da sie selber im Sumpf des eigenen Bewusstseins versackt und gelähmt seien. Sie wollte sie vorführen, wie sie zum Beispiel Völker wie die Ukrainer rücksichtslos in den Kannibalismus getrieben hätten.

Ich glaube, ihr Mund war wässrig schon. Doch ich hielt dagegen. Ich wollte an die Beamtenmentalität der Revolutionäre ran, wollte die Gleichzeitigkeit ihres Handelns, endzeitmäßig geprägtes revolutionäres Tun bei parallelem Wunsch nach einer Karriere im Apparat, offenlegen. Ich wollte einem derartigen Revolutionär bis in seine Jugend nachstellen. Er sollte aus Korbach stammen, sollte sich dort schon mit uns geprügelt haben, also geistig.

Das Lächeln der Souveränität -242- Wir drei saßen im Eiscafé Calabrese, als mir die Idee von dem Eissalonreaktionär kam. Der sollte sich in einer Korbacher Eisdiele in eine Debatte verstrickt sehen, wo ihn Hermann dann glänzend vorführen würde. Völlig verstört von Hermanns Wirkung und Ausstrahlung sollte er die Krise kriegen und später zu unserem Eissalonrevolutionär konvertieren.

Ich fand die Idee bestechend. Willy Wilke sollte der Kerl heißen und einen puterroten Kopf bekommen, wenn ihn Hermann, so zutraulich lächelnd, auseinandernehmen würde, die absolute Souveränität repräsentierend

Ich hatte die Szene rasch skizziert, doch fand sich Hermann darin zu überhöht. Er wolle nicht so eine Astralfigur sein, erklärte er uns, das sei ihm allzu peinlich. Ich allerdings glaube, der war nur in der Bredouille, weil er an Brigitte ran wollte. Und um sie nicht zu frustrieren, von ihrer Idee war er auch nicht so überzeugt, schlug er einen Kompromiss vor. Ich sollte die Eisdielengeschichte mit Willy Wilke streichen und Brigitte ihren kannibalistischen Stalinismus. Ich konnte es schon so ungefähr verstehen, Brigitte war eine phantastische Frau.

Ich nahm mir dann vor, das Erlebnis in der Eisdiele später an anderer Stelle zu verwenden und erstellte die Geschichte eines karrierebewussten KPDlers namens Willy Wilke, so eines richtig entschlossenen Machers. Wir hätten daraus ein Theaterstück entwickeln können, doch schoss Brigitte , diese blöde Kuh, immer wieder quer, sagte, auch darin sei die Verklärung Hermanns immer noch vorhanden. All die Hamletgeschichten wollte sie raus haben.

Ich war den Tränen nahe. Hatte ich doch dem Hermann als meiner jugendlichen Leitfigur ein Denkmal setzen wollen. War er doch der Ausdruck meines tiefen Verlangens nach dem höchsten Sinn der erhabenen Wirklichkeit, einer spektakelfreien, geklärten Realität. War er es doch, der meine tiefen Wünsche und Sehnsüchte repräsentierte, der mich leiten konnte, souverän über allem gleitend. „The sunshine's waiting for me a little further down the road.”

Im Dunkel ließ er mich stehen, hat mich versetzt! Erklärte er mir doch, diese Eisdielengeschichte sei zu kitschig. Jugendromantischer Kitsch! Ich konnte es nicht fassen.

„Entschuldige bitte, aber da sind wir im Theater längst drüber raus.“

Das Lächeln der Souveränität -243- Scheiße noch mal, da habe ich wohl wieder den Anschluss verpasst. Es war ja völlig verwirrend. Abgebrüht und konsistenzfrei zu sein, das muss man lernen.

Stattdessen saß ich tief eingesunken auf dem Stuhl im Eiscafé. Alles Blut war raus aus dem Kopf. Sprachlos hockte ich am Rand des weiteren Geschehens. Dort unterhielten sich Hermann und Brigitte über meine Idee, in der Geschichte jemand ins Zentrum zu stellen, der ganz geil auf die Karriere in der kommunistischen Partei ist und von einem Jüngeren schließlich überholt wird. Sie palaverten sogar recht positiv über meine Vorstellungen, bemerkten aber nicht einmal, dass ich zwischenzeitig komplett woanders war.

Ich bin jetzt denkend in den Schneidersitz gerutscht. „While memory holds a seate in this distracted globe.” Die Verknüpfung mit Hamlet fand Hermann entschieden gut, die Erweiterung hin zu der „distracted memory“ als gelungen. Das vertrat er sogar gegen Brigitte, die Erinnerung als diffus und nicht mehr bei der Sache zu sehen.

Er wollte alles noch einmal genau überarbeiten, die sogenannt kitschigen Verklärungen darin rausschmeißen. Interessiert muss er tatsächlich gewesen sein, sonst hätte er meine Darstellung von Willy Wilke nicht in dem Geheimfach im Theater aufbewahrt. Ich weiß noch, wie er von der absurden Szene im Reisebus begeistert war, diesem Bus, der die Revolutionäre zu einer Demo kutschierte. Voller roter Fahnen, Sterne, Devotionalien drinnen im Bus und innen beseelt waren die Kämpfer vom „Griechischen Wein“, der aus den Flaschen floss und voll aus den Kehlen.

Völlig egal. Ratzekahl ignorant hatte er mich abserviert. Das war ein tiefer Bruch. Die Vergeblichkeit allen Tuns hatte sich mir erneut bestätigt, bestätigt, dass alles Tun aus bloßer selbstsüchtiger Eitelkeit gespeist sei. Und der Sturz in den Orkus des nackten Nichts sei daraus die Konsequenz.

Ich taste nach dem Weinglas, finde es nicht. Es ist momentan auch noch zu früh am Tag. Dabei ist alles doch sowieso absurd. So hatte ich es zumindest damals empfunden. All die Vergangenheit ist schäumend in mir erwacht. Mir wird es eng in der Brust. Das Wort „Absurdität“ geriet, gerät mir in den Kopf, dabei war es keinesfalls diesem Kopf entsprungen. So sah ich es, oder gerade soeben.

Das Lächeln der Souveränität -244- Was nützten all die Erklärungen und Begründungen, wenn doch alles so rein zufällig verlief? Wenn persönlich gesicherte Erwartungen nur ins Leere liefen?

Ich denke mal, dass Hermann, wohl eher etwas neidisch auf mich war und dass er sich nicht traute, mir das auch zu sagen. Meinen Text, den verriet er aus Feigheit, getrieben aus lauter Eitelkeit. Ich habe es schon immer geahnt, dass er mich und mein Handeln bewundert hat, meine Zähigkeit beim Suchen, und das in all den verschiedenen Bereichen des Lebens.

In dem Papier erklärt Hermann das nun zu meinem Flüchten. Wenn er mich schon bewundert hat, dann hat er mich nie begriffen. Wenn ich bislang nur gewusst hätte, wie ich die Totenrede hätte halten wollen, dann hätte ich sie jetzt komplett ändern müssen. Aufbrechen sollte die Nuss, krachend

Dies Papier sollte eine Abrechnung mit meinem verpfuschten Leben darstellen. Es wirft mich glatt auf vergessen geglaubte Erinnerungen zurück, auf die distracted memories. Ich sollte eine Karriere auf dem Weg nach unten stoppen. „And sunshine is waiting form me a little further down the road“. Ich schalte das Radio ab. “Du must Dein Leben ändern.” Die innere Stimme klingt überzeugend. Es gibt keine Ausflüchte vor Hermanns Ausführungen.

Damals war mir die Absurdität des Zufälligen zum Absoluten geronnen. Das vollkommen Zwecklose, das machte die Welt aus, dieses feist-fette und absurde Wesen.

Heiß kochende Glut vor all der Wut. Damit erhob ich mich damals im Calabrese. Wohin mit dem Zeug? Mein Stuhl stürzte lärmend nach hinten weg. Ich ging.

Ob Welt oder Nichts, das machte doch sowieso keinen Unterschied. Das war die frisch gewonnene Erkenntnis. Sie festigte sich schnell. Sie galt es zu testen. Ich begab mich mit ihr in das Zentrum des absurden Handelns, mit all den Existierenden darin, die sich rings um all die flüchtigen Werbespots und Clips und Storyboards zu schaffen machten. Sie kamen von nirgendwo her und gingen nirgendwo hin. Unversehens existierten sie auch nicht mehr.

Zentrum? Dass ich nicht lache! Auch hier bastelte eine rein als omnipotent sich fühlende Selbstgefälligkeit an meinem Selbstbild. Im staubigen Hinterzimmer einer Werbeagentur war ich gelandet. Statt dem vermeintlichen Zentrum war ich in einer Nische gelandet, wo ich den

Das Lächeln der Souveränität -245- jungen Leuten als tattriger Opa erschien, der an den vorgelegten Worten rumnölte. Der sich geckenhaft als Höllenhundebändiger wähnte. Sie haben nun das Word-eigene Rechtschreibprogramm, und ich brauche nicht länger auf ihre Kosten meine Restzeit des Lebens abzusitzen.

Ich müsste CD-Müller dankbar sein, dass er mir die Nische verbarrikadiert hat, dass er mich wie ein gestrenger Berater von dieser aufgeschraubten Welt ausgeschlossen hat. Er hat mir einen Dienst damit erwiesen. Wohingegen Hermann die Schuld allein trägt, dass ich dort gelandet war. Und der Kerl macht mir jetzt gar noch Vorwürfe, dass es so passiert ist. Kotzen könnte ich. Soll er doch als Strauch, von mir aus als Baum in seinem Höllenkreis sein Dasein fristen, heftig zerzauselt von riesigen vogelartigen Figuren, die mit ihren scharfen Klauen gar heftige Seufzer und Ächzer hervortreiben.

Halt, halt! Das ist wohl doch etwas zu viel des Guten. Backspace. Eigentlich war es meine Schuld allein, dass ich in das Hinterzimmer geflüchtet bin. Ich selbst war es, der sich dafür entschieden hat. Auch eben zuvor war wohl bloße Selbstgefälligkeit am Werke, meine verletzte Eitelkeit. Es ist grässlich. Ich sollte mich schämen, dass ich mich von solch kindischen Gemütsbewegungen habe treiben lassen.

Meine Schenkel haben allmählich mit dem Boden Kontakt aufgenommen. All den Tumult der Welt will ich aus meinem Kopf entlassen, oder ihn erst nicht rein lassen. Ich weiß nicht. Schon setzt der peinvolle Ärger sein Rumoren fort. Nur eine durchlöcherte Art von Ruhe senkt sich andeutungsweise herab. Sie wird von zackig konvulsivischen Zuckungen gesprengt. Fast hätte ich das Licht am Ende des langen Tunnels gesehen.

Aber durch den Höllenschlund mit seinen ständigen Versuchen und ungeahntem Leid muss ich wohl durch, um vielleicht Beatrice, die everlasting beatitude, noch besser Prajna zu erreichen. Paragate.

# Once in a lifetime

Ich rutsche rückwärts, langsam, und sitze wieder auf dem Schreibtischstuhl, exakt getimt zum Klingeln des Telefons. Ohne Säuseln klappt es diesmal. Hoffentlich ein sachlicher Tonfall.

Das Lächeln der Souveränität -246- Der Banker ist dran, den Erich mir versprochen hatte. Er will sich mit mir in der Innenstadt treffen, in so einem neumodischen Café.

Ich weiß noch nicht, warum er diesen hippen Ort mitten im Zentrum gewählt hat. Immerhin gibt es so einen spröden Schuppen auch in dem Gebäude, in dem er arbeitet. Er erzählt mir davon, bei seinem „ausgewachsenen Getränk mit vollem Körper“, wie er es bezeichnet. Ich trinke wohl so normalen Kaffe, und harre der Dinge.

Er wirkt etwas nervös, uncool angespannt. Seine Blicke schweifen durch den Raum, und springen immer auf die Eingangstür, wenn die sich öffnet. Er scheint sich irgendwie verfolgt zu fühlen, als wolle er soeben den schützenden Kragen seines exquisiten Jacketts hochstellen. Und er redet pausenfrei und dauerhaft, brückenartig geschwungen. Ob er über irgendwelche bedrohlichen Untiefen hinweg gleiten will?

Er arbeitet in 213 Metern Höhe, hat aber noch knappe 90 Meter über sich. Es scheint, als würden die ihn wurmen. Es handelt sich auf jeden Fall um das höchste Haus Europas, dem „Campanile“, einer gefeierten Landmarke der Stadt. Darauf ist er stolz. Er schwelgt darin, dass hier ein Stück Venedig gewachsen sei. Ein der altehrwürdigen Handelsmetropole vergleichbares Ensemble mit dem Bahnhof, Sinnbild unserer mobilen Globalität, als Kathedrale.

Zuzuhören habe ich mittlerweile gelernt, auch wenn ich jetzt etwas mit dem rechten Fuß am Boden wippe. „Aber da befinden Sie sich ja tatsächlich in einem Zentrum unseres globalen Handelns. Das ist ja toll, ich meine so richtig super, und mit der Anspielung auf den Markusdom auch noch so symbolisch bedeutsam aufgerüstet. Sie sind ein bedeutender Mann in einer bedeutenden Stadt. Da müssen Sie sich doch super fühlen.“ Es gelingt mir, ironiefrei und ehrlich zu wirken.

Er hüstelt, nimmt einen Schluck von seinem erwachsenen Getränk. „Es ist nicht so einfach.“ Sein Blick scannt misstrauisch die räumlichen Gegebenheiten. Abgekürzt, er hat rund 200 Meter an Fallhöhe vor sich. Eine große Höhe, um zu stürzen. Ohne Karacho. Total unspektakulär.

Das Lächeln der Souveränität -247- „Der Handel mit Salz bildete eine Grundlage des Reichtums Venedigs. Heute hat das Geld diese Bedeutung. Eigentlich müsste man in der Krypta des Campanile die Gebeine von Hayek unterbringen, oder die von Eucken. Es beweist doch die Verpflichtung zu unserer europäischen Tradition, erweitert um unser Bekenntnis zur Mobilität mit dem Hauptbahnhof. Haben Sie schon einmal die krönende Atlasgruppe gesehen, diese Titanenfigur, die die Weltkugel trägt, diese gewaltige Last? Das ist doch ein wahres Symbol für uns Banker. Etwas derartig Großes zu tragen, das wagen wir uns. Wir sind die Leute, die große Dinge geschehen lassen.“

Jetzt fühle ich mich genötigt zu sprechen. „Aber als Sinnbild für die moderne Mobilität taugt der Hauptbahnhof hier doch gar nicht. Das ist doch ein Sackbahnhof. Da hört die Reise schließlich auf. Und heutzutage ist man doch ständig unterwegs, mit kurzen Zwischenstopps, und schon steigt man wieder ein in den Zug der Zeit. Ein Durchgangsbahnhof wäre da entsprechend, absolut.“

Der Banker schaut mich mit großen Augen an. „Also ich meine doch nur. Also, wissen Sie, Sie müssen das symbolisch begreifen.“

Völlig begriffswillig gebe ich mich, sofort. Ich habe mich soeben gehen lassen, mich unprofessionell verhalten mit meiner Aussage. In seinen Augen stehe ich jetzt wahrscheinlich als so ein Klugscheißer da, vielleicht sogar als einer dieser ewigen, typisch berüchtigten Bedenkenträger.

Sein Kopf dreht sich ruckartig zur Tür des Cafés und genauso schnell wieder zurück. Er hält sein Gesicht genau auf den Tisch gerichtet. Er erfasst die Tasse mit beiden Händen und starrt darauf. Jetzt muss ich retten.

„Sie sind schon sehr weit oben, das bewundere ich.“ Ich lüge wieder ohne rot zu werden. Von der Ferne sind Türme gut anzuschauen, aber darin hätte ich mich nie wohl gefühlt. Nicht dass es mir schwindlig werden könnte, doch wusste ich, dass ich sowieso wieder unten landen würde.

„Wissen Sie, ich komme aus der tiefen Provinz, regional und sozial.“

Das Lächeln der Souveränität -248- Der Banker fängt einfach an, von sich zu erzählen. Das ist gut so. Mein letzter Satz, der war mit einem Versuch des Lächelns ausgestattet, das ich schon ewig verfolge. Das erhabene, das verständige Lächeln, das die Menschen einzunehmen vermag. Das Lächeln war soeben der Schalter, der tatsächlich sein Vertrauen geöffnet hat.

Ich kann es kaum fassen. Meine momentane Beseligung zeitigt allerdings eine kleine Nachlässigkeit, denn ich verliere den Pfad der Konzentration auf seine Worte. Glücklicherweise bemerke ich das schnell und vermag mich wieder einzuklinken.

Er erzählt von der Provinz, aus der er schnell nach seiner Banklehre weg wollte, irgendwo im Norden, aus dem Lippischen Land genauer, da wollte er weg, der Sohn eines kleinen Postbeamten. Ich bin wieder auf der Höhe.

Er lacht. „Kennen Sie Mossenberg?“

Ich muss verneinen. Aber der kommt genauso aus der Provinz wie ich. Und der hält sich auf der Höhe des Glockenturms. Der hat vermutlich die Mühen des Aufstiegs nicht gescheut.

Sein Lachen reißt mich aus dem Gedankensumpf, in dem ich schon wieder abzusacken drohe. Der Kerl lacht!

„Der Ort wird auch das ‚lippische Schilda’ genannt. Die Einwohner haben einst die Kapelle aus dem Nachbartort klauen wollen, mit Seilen und Stricken, die sie darum gewickelt hatten, und auf Erbsen, da sollte sie drüber rollen. Das hat sich vermutlich ähnlich abgespielt wie hier bei den Frankfurtern, die die Bedeutung des Markusdoms samt Campanile herüber schleppen wollten. Sie sehen, ich bin von Geburt her der Fachmann für derartige Transfers.“

Ganz gelöst wirkt er jetzt. Wir haben eine Ebene der Verständigung gefunden. Fast hätten wir mit den Kaffeetassen angestoßen. Aber wir entscheiden uns, in ein altmodisches Café zu wechseln, das wenigstens üppige Sahnetorten im Angebot hat.

Der Banker legt vor mir wahrhaft das Jackett von seinem dunklen Anzug ab. Die Hosenträger kommen neben seiner breit gestreiften Krawatte gut zur Geltung.

Das Lächeln der Souveränität -249- „Nicht dass Sie jetzt denken, ich würde wegen meiner drohenden Entlassung zu Ihnen kommen. Das nervenaufreibend Zermürbende begann schon längst vorher. Kennen Sie die Branche?“

Schon wieder muss ich verneinen. Es gelingt mir aber, meinen Blick offen interessiert zu gestalten und kaue ungeniert genüsslich an meiner Herren-Sahne-Torte. Ob es nicht schon so ein bisschen nuttig ist, wie ich meine Aufnahmebereitschaft signalisiere, eher offeriere?

„Also ich, ich als ein Investmentbanker, habe schon einen reichlich höheren Verdienst als so ein normaler Banker, erfolgsabhängige Prämien kommen dazu, und hier bei der Galen-Invest- Bank, GIB, bin, na ja, war ich jedenfalls hervorragend gut im Geschäft.“ Er klemmt die Daumen hinter seine Hosenträger.

„Aber wenn's nicht so recht läuft, dann werden eben die Kosten reduziert. Als so ein Banker verliert man dann schon einmal seinen Job. Das kann passieren. Viele alte Kollegen sind in den letzten Jahren abgeschmiert. Aber wer gut war, der hat zeitig etwas beiseite gelegt, sich im Anschluss einen Traum verwirklicht, sich vielleicht ein Weingut gekauft.

Also ich war, meine, ich bin gut. Ich könnte mir sofort ein schönes Hofgut in Brandenburg kaufen. Schon in Nordhessen wurde mir kürzlichst was Tolles angeboten, sogar mit Perspektive auf Weinanbau dort, Klimawandel und so.

Wissen Sie, es ist aber schon beschissen, wie das läuft. Ich war gut, also ich meine, ich mache immer noch hervorragende Pitch-books, so dass die Mäuler wässrig werden, ich kann die Rating-Agenturen zu besten Bewertungen motivieren. Und wenn ich dann die Kaufpreise für die zu verkaufenden Unternehmen oder deren Anteile knallhart aufputsche, dann kann ich richtig Zaster einfahren, für den Kommittenten, für die GIB und natürlich auch für mich. Alle drei sind hochgradig zufrieden.

Beim Käufer ist das etwas anders gelagert, er muss viel Geld berappen für etwas, das, na ja, es ist dann ja auch richtig was wert, wenn ich es bearbeitet habe. Sie kennen doch Ähnliches aus der Werbung, wie dort die Premiumprodukte produziert werden.

Das Lächeln der Souveränität -250- Manchmal, das muss ich gestehen, kommen mir dann aber doch Bedenken. Aber alle anderen machen es doch genau so. Wenn ich es nicht mache, machen die es eben. Das macht einen schon manchmal fertig. Und wenn dann die Käufer auch noch anfangen, die Qualität unserer Rating-Agenturen in Frage zu stellen, dann wird es böse.

In letzter Zeit fingen sogar schon potentielle Käufer an zu fragen, was es mit den ominösen Bewertungsfirmen so auf sich hätte. Die vertrauten meinen Aussagen nicht mehr. Manche fingen gar an, mich am Telefon zu beschimpfen, fragten, ob der Name unserer Bank, GIB, Programm wäre.

Der Name „Gib Zaster Bank“ machte sich allmählich in Investorenkreisen breit. Erfreulicherweise haben wir zwischenzeitig die Hengst Investmentbank übernommen und der Vorstand hat entschieden, dass auch der Name übernommen wird, HI Bank soll der Laden wohl bald heißen. Echt geiles Branding! Oder? Ha ha.

Wissen Sie, die fangen an, mich zu mobben, wollen mich los werden. Mir wurde schon die Leitung unserer Niederlassung in Utah angeboten. Bald werden sie mir eine Abfindung anbieten. Diese treulosen Figuren. Dabei habe ich denen unendlich viel Kohle in den Keller eingefahren. Ehrlich! Da klingelte die Kasse ohne Unterlass.“

Oberhalb des Tisches rückt der Banker immer näher an mich ran. „Bei all den wahnsinnigen spreads. Das ist doch ein Scheißverhalten! Ich begreife es nicht mehr.“

Ich momentan auch nicht. Eben gerade stand er seiner Entlassung doch ganz gelassen gegenüber. Jetzt nicht mehr? Überhaupt hat er sich während des gesamten Gesprächs wie auf einer Gefühlsachterbahn bewegt. Anfangs war er sehr misstrauisch, befürchtete ständig, dass ihn ein Kollege entdeckt, der ihn fragt, was er bloß mit mir hier machen würde. Dann war er kurzfristig recht locker und entspannt, um schließlich wieder in seine selbstbewusst klingenden Banker-Allüren zu verfallen. Und nun ein Fast-Absturz in eine sich selbst bejammernde Weinerlichkeit.

Der Kerl hängt ganz schön durch, da helfen auch die Hosenträger nichts. Der Kerl oszilliert zwischen depressiven und manischen Zuständen. Ich habe auf jeden Fall begriffen, dass man sich in derartigen Höhenlagen eines Turms nicht unbedingt wohl fühlen muss.

Das Lächeln der Souveränität -251-

Aber jetzt bin ich gefordert. Ganz verständig sanft wird mein Lächeln. „Oh, das kann ich gut verstehen. Eine solche Sache nimmt einen schon ganz schön mit. Bis hierher sind Sie schon phantastisch stark geblieben. Es ist schlicht schockierend festzustellen, wenn “you may find yourself living in a shotgun shack”, um es mal poetisch zu formulieren.

Was meinen Sie denn, wenn ich Sie jetzt beraten oder coachen soll, wie weit würden Sie denn gehen wollen? Für eine schnelle Hilfe empfiehlt sich natürlich ein Gespräch zwischen uns, so zwei bis drei Mal die Woche, anfangs. Das ist gut, um den täglich anfallenden Ärger in den Griff zu bekommen.

Allerdings nachhaltig wirken würde so ein Gespräch zwischen uns nur, wenn Sie sich auf eine Meditation einlassen könnten. Mindestens einmal in der Woche müssten Sie dann zu einer längeren Sitzung zu mir kommen und selber natürlich regelmäßig täglich üben. Ich muss Sie allerdings warnen, je stärker sich dort die Wirkungen einstellen, umso größer wird Ihre Distanz zum Bankgeschehen. Aber Sie werden fühlen, wie Sie ruhiger werden, wie sie einen Zugang zu sich selbst bekommen.“

Intuitiv war mir klar, was soeben in ihm abging. Der überlegte, wenn wir uns einige Male in der Woche zum Gespräch treffen würden, dann würde das den Kollegen auffallen. Sie würden misstrauisch werden, würden ihm wohl sogleich Schwäche attestieren. Aber auf der anderen Seite, das Meditationsangebot, das war ihm nicht so ganz geheuer. Ängste stiegen auf, den Bezug zu seiner Realität zu verlieren, vielleicht noch tiefer zu fallen.

Ich unterbrach ihn in seinen Gedankengängen. „Die innere Ruhe wird Ihnen ermöglichen, hinter das offensichtliche Getöse und Getümmel der Welt zu blicken. Sie werden Realität in ihrer ganzen Tiefe und Breite begreifen. Sie brauchen sich nicht zu fürchten, in die Tiefe zu fallen, denn das ist gar keine so schlechte Sache. Auch wenn sich das momentan etwas mysteriös anhört. Wenn Ihr Leiden groß ist, dann werden alle inneren Widerstände weg schmelzen. Into the blue again / after the moneys gone.“

Ich schaute ihn an und hatte ihn tief im Blick. Er antwortete mit verhaltenen Augenblicken.

Das Lächeln der Souveränität -252- Mit meiner Bemerkung hatte ich mich selber in ein handwerklich-professionelles Loch gestürzt. Vom Marketing her, vom Interesse des sich selbst Verwertens, da hatte ich soeben voll versagt. Ich hätte ihm sagen müssen, dass er die Lösung all seiner Probleme durch meine beratende Unterstützung erreichen könne.

„Mit mir entledigen Sie sich endlich unproduktiver Gedankengänge. Sie wollen doch was erreichen! Bedenklichkeiten fesseln allein. Erheben Sie sich! Fragen Sie nur mich. Straight ahead. Wir gehen da durch. Ich bin Ihr Experte dafür. We are the champions!“

Sorry! Das habe ich nicht gesagt. Hoffentlich geht diese Unterlassung nicht bis zum Arbeitsamt durch, die streichen mir sonst mein Selbständigengehalt. Aber ich kann den Kerl doch nicht im Dunkeln lassen, wohin der Weg geht. Das heißt, also, mein Weg, also, was weiß ich denn selber, wohin der geht? Ach, der geht schon so oder so geradeaus, so geht der doch immer irgendwie. Ich will ja nur ein paar milde Abgaben am Wegesrand. „Hallo Sie da, ich zeige Ihnen, wie Sie noch gerader gehen. Sie geben mir bloß Ihre Kontonummer, Lastschrift, das genügt.

Der Banker ist momentan etwas konfus. Er zieht sein Portemonnaie und bezahlt alles. Er grübelt. Für jemand, der es gewohnt ist, große Dinge geschehen zu lassen, ist er nun recht kleinmütig. In seiner Welt konnte er Großes tragen. Jedoch die Welt zerbröselt. Bequem hatte er es sich darin gemacht. Aber jetzt einen Schritt daraus zu probieren, das geht an die Nieren. Er sagt, „ich melde mich.“

Ich bin bei derartigen Bekundungen skeptisch. Häufig ist das nur so ein Gerede, um sich Verknüpfungen, die sich gerade ergeben haben könnten, schnell zu entfliehen, vielleicht einer etwaigen Verpflichtung gar. Außerdem weiß ich doch überhaupt nicht, ob ich zum Seelenlandschaftsgärtner geeignet bin. Zweifel nagen geräuschvoll an mir. Into the blue again / after the moneys gone.

Ach je, was soll’s. Immerhin hat mir Sylvia gestern angeboten, bei ihr in der Landschaftsplanung mitzuarbeiten. Pläne mit dem Computer zu gestalten, Vortragstexte zu arrangieren, vor allem für Powerpoint-Präsentationen und so. Das wäre schon eine finanzielle Entlastung. Der Gedanke verschafft mir momentan vor allem seelische Entlastung. Derartig versunken erhebe auch ich mich.

Das Lächeln der Souveränität -253-

Ob die Geschäftsidee wirklich trägt? Einer Rollator-schiebenden älteren Dame stehe ich schon wieder im Weg. Das Ding rollt über meinen rechten Fuß hinweg. Ich entschuldige mich.

Aber ich, ich habe soeben auf den rechten Abschluss mit dem Banker nicht warten können. Der rechte Schluss im rechten Augenblick blieb aus, weil ich nicht von mir selbst loskomme. Meine gespannte Erwartungskraft geriet in Not, weil ich nicht auf eine Erfüllung hin gespannt war, sondern auf mein Versagen. Und wegen meiner flotten Flucht ist der Banker nun außer Reichweite. Wer weiß, ob der sich je meldet. Wohl eher nicht. Same as it ever was... Same as it ever was...

Ich muss mich nun sputen. Ich will nämlich kochen. Sylvia hat beim Durchblättern des Buchs über das meditative Kochen das Rezept für einen gefüllten Saumagen gefunden, den hat sie sich gewünscht. Das ist freilich viel Arbeit. Besinnung ist angesagt, schon vorbereitend. Beim Metzger hole ich mir den vorbestellten Saumagen. Der muss gründlich gesäubert werden, was selbstverständlich mit dem hoch zu lobenden Wasser geschieht, das nicht einmal den niedrigsten aller Orte verachtet.

Dieses Hohlorgan ist höchst bedeutsam, indem es die von außen kommenden Mahlzeiten nicht nur für den Menschen aufnahmefähig macht. Der Magen- und Darmtrakt enthält die größte Ansammlung von Nervenzellen außerhalb des Zentralnervensystems und wird daher auch „Bauchgehirn“ genannt Es ist wohl davon auszugehen, dass das eigentliche Gehirn eine spätere Erweiterung des unteren darstellt.

Mit hoher Achtung vor dem Magen beginne ich ihn zu waschen, von beiden Seiten. Dazu muss man sein Inneres nach Außen stülpen. Dieser Wechsel ist dann wieder rückwärts zu vollziehen. Die Innen-Außen-Relation wird sorgfältig wieder instand gesetzt. Schließlich werden die drei Magenausgänge nach und nach zugebunden.

Während das Organ nun im warmen Salzwasser liegt, bereite ich die Füllung vor, hochkonzentriert meditativ. Sogar das Zerkleinern der Zwiebel geht ohne Verletzung ab.

Das Lächeln der Souveränität -254- Die Würzung ist vorsichtig vorzunehmen, kommen doch so kräftige Mittel wie Muskatnuss zum Einsatz, die einst zu heftigen Kriegen führte und sogar Rausch erzeugen kann. Und auch Wurstkraut stopfe ich in den Saumagen hinein, Majoran, das klassische Symbol der Glückseligkeit, der beatitude. So lieblich dufteten seine Salben, dass die Göttin der Liebe sie genoss. All die alten Griechen und Römer glaubten, eine der Aphrodite heilige Pflanze könnte auch die Liebesfähigkeit steigern, oh everlasting beatitude. Ich liebe Sylvia.

Das Zwerchfell lässt die Muskeln spielen. Der Brustraum wird weit, und die Luft strömt ein. Energie. Die nimmt von oben kommend den gesamten Körper in Besitz

Der Vorgang erreicht den Zenith und all die Energie strömt wieder nach unten heraus. So mitreißend langsam wie ein warmer Sommerwind. Der lungert nun im Bauch herum und macht mich damit zu einem festen Bestandteil dieser Welt. Ich gehöre zu all dem dazu. Und der Saumagen kommt bei milder Hitze in den Topf. Das wird ein feines Liebesmahl.

# Heimfahrt

Ich hole den Göbelgerd mit dem Auto ab. Er schleppt einen großen, schweren Koffer. Tragen tut er einen feinen Anzug. Richtig nobel sieht der aus. Ich denke mal Brioni oder so.

„Meine Herrn, Du siehst ja tadellos seriös aus.“ Er lächelt reichlich verbissen.

„Das ist die wahre Kunst, von außen wie ein blendender Kanzler auszuschauen und drinnen ein schäbiger Hartzler zu sein.“

Hoffentlich trägt mein Auto so eine gespaltene Persönlichkeit. Er schnallt sich und den Brioni an.

"Kommt die Gell eigentlich auch zur Beerdigung?" Fragend schaut er mich an.

"Was weiß ich? Weilt die nicht in New York? Oder zumindest auf Mallorca? Wie kommst Du denn gerade jetzt auf die?"

Das Lächeln der Souveränität -255- "Na, die hat doch da drüben mal gewohnt." Er zeigt nach hinten rechts. "Da müsstest Du Dich doch gut daran erinnern können." Mit den Händen vollführt er eine kurvige Bewegung vor seiner Brust.

Ich kann es. Bei unserer kurzen, heftigen Affäre habe ich sie dahinten des öfteren besucht.

"Ach, wo wir gerade beim Thema sind, was macht denn eigentlich Dein Kind?"

"Mein Kind? Mein Kind. Was soll denn das jetzt?"

"Na ja, ich gehe davon aus, dass bei Ellen doch ein Kind bei rausgekommen ist. In ihrem schwangeren Zustand war sie immerhin in meine damalige Wohnung in der Nordweststadt geflüchtet. Hat Rotz und Wasser geheult. Ich konnte mich aber auch nicht gut um sie kümmern, denn ich hatte damals noch ein Ziel, eine fast weltpolitisch bedeutende Aufgabe. Du erinnerst Dich."

Dass sie zu Gerd geflüchtet war, das habe ich nur so beiläufig mitbekommen. Zuvor ist sie mir schwer auf die Nerven gefallen. Erzählte mir ständig, sie bekäme ein Kind. Dabei war das doch nur erpresserisches Gerede. Sie wollte bloß diese vermeintliche Liebe zu mir retten. Also genau so, so stellte es sich für mich dar, auf jeden Fall damals. Aber jetzt, ein Kind. Ich fasse mal vorsichtig das Steuer fest in meine Hände.

So kurz vor der Autobahn bin ich nun Vater geworden. Ich muss mich jetzt kümmern. Ich bin längst überfällig. Ich bin wohl ein Schwein!

„Wo wohnt Ellen denn nun?“

„Keine Ahnung. Damals ist sie, glaube ich, zu ihren Eltern ins Fränkische rüber gezogen, tief im Walde, bei Coburg oder so, und von dort ging es dann wohl weiter, nach Thüringen.“

„Weißt Du denn nichts Genaueres? Ich habe da doch vielleicht ein Kind. Hättest Du nicht einmal nachfragen können?“

Das Lächeln der Souveränität -256- „Bleib auf dem Teppich, Mann. Du hast mir schließlich die Sache mit der meditativen Ruhe erzählt. Suche doch ihren Namen im Telefonbuch. Wenn sie da nicht mehr aufzufinden ist, dann sind es eventuell ihre Eltern oder so.“

„Ich kenne ihren Nachnamen nicht.“

„Oh, ihr Spontis, ihr seid schon so triebgesteuerte Flipper. Na ja, eine Frau, sogar eine mit Kind, wegen einer anderen sitzen zu lassen, das ist ja nichts Ungewöhnliches. Aber Ihr seid derartig gegen gesellschaftliche Erwartungen positioniert, dass Euch schon so was wie ein Nachname spießig bürgerlich erscheint, irrelevant.“

Ich nehme ihn kaum wahr. Was habe ich da bloß wieder angerichtet? Kann ich da denn überhaupt noch was richten? Da komme ich wohl wieder mal zu spät.

„Klasse, Vaterschaft wegen zeitigem Abtauchen abgewehrt.“

Eine Suche hat wohl keinen Zweck. Wo sollte ich denn auch ansetzen?

Ab dem Nordwestkreuz herrscht Stille auf der Autobahn.

Wie aus der Tiefe rückt Göbelgerds Stimme wieder näher, holt mich aus einer fern vergrübelten Grube zurück. Das war ein heftiger Rückfall, ein total verbrüteter Aufmerksamkeitsverlust. Da war keinerlei meditative Tiefe, Gewahrsein. Das wird mir unerbittlich klar. Nun klingt die Stimme der Anklage ganz sanft.

„Ich kann das gut verstehen. Sehr häufig hadere ich in letzter Zeit selber mit mir. Bis in die Träume drückt sich das aus. Hast Du das Bild von dem Polizeichef von Saigon noch im Kopf? Der, der einen gefesselten Vietcong-Guerilla direkt neben sich erschießt? Das Bild hat sich in meinem Kopf eingebrannt, aber statt dem Vietcong sehe ich seit einiger Zeit den Schleyer dort und, bumm, erschossen von den Genossen. Die Hände verknotet auf dem Rücken und vorne der unverständig leidende Blick, verzerrter Mund.

Satte Entschiedenheit trägt dagegen der Chef über Leben und Tod im Gesicht, ‚weg mit Dir Du Ungeziefer, ich knall Dich ab’. 'Notwendig, nützlich, beispielhaft', wer von uns kommentierte das damals so? Ob Alzheimer oder nur so schlichte Verdrängung, ich weiß es schon nicht mehr.“

Das Lächeln der Souveränität -257- O schmarotzendes Ungeziefer ich, oder auch Leiden, oh weh ich weiß nicht, nichts Eindeutiges, ein schillerndes Wechseln allein. Aufrecht klagend laufen die Bäume beidseitig neben der Autobahn an uns vorbei, hier in der Höhe.

Es macht doch alles keinen Sinn. Wenn das Kind nicht abgetrieben wurde, wer weiß denn, ob es mich nach fast dreißig Jahren noch sehen will? Ich dachte, ich hätte mir so langsam eine Art von Seelenruhe oder zumindest eine nicht mehr so aufgeriebene Seele erarbeiten können.

„Hast Du noch das Bild von dem Klar im Kopf? Du weißt, dem von der RAF. Dem seine Augen liegen so tief in dunklen Höhlen, geisterhaft, als würde sein nach innen gerichtetes Ich die Augen wie im Sog hinter sich her zerren. Auch das ausgemergelte Gesicht scheint der Saugkraft unterworfen. Dem Zug des Körpers folgen die Wörter, die Sprache. Sie will manchmal nicht die Schwellen seiner trockenen Lippen überschreiten. Diese Sprachlosigkeit, einfach frappierend. Öfters reißt er die Augen weit auf, und man meint, in ein bodenloses Loch zu schauen.“

Gerds hochgradig konzentrierte Weise des Sprechens zieht die Aufmerksamkeit von meiner quälenden Selbstanklage ab. Ich steige aus der Grübelgrube raus.

„Aus der Tiefe wandert sein Blick gespenstisch ziellos im Raum herum, aus dem zusammengeschrumpelten Ich heraus. All die kochend heißen Wortdämpfe, ventiliert in all den Erklärungen und Manifesten der RAF, tropfen hier kondensiert in den Raum, enthüllen ihre armselige Dürftigkeit. Die, na ja, ich war ja auch mal in deren Nähe. Also gut, ich meine also wir, wir hatten kein Verständnis in der Bevölkerung gefunden, hatten beileibe keine Massenbasis. Dabei war unser Ansatz ein echter und tiefangelegter Versuch, die wankende Gesellschaft zu retten.

Ach egal. Der Klar spricht nun davon, dass die RAF einen Bruch in dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit herbeiführen wollte, in dem, was er ‚reaktionäre Normalität’ nennt. Angesichts solcher ernsthaft-kindischen Worte muss es einem doch die Schamesröte ins Gesicht treiben. Wer da nicht vom Glauben abfällt, dem ist nicht mehr zu helfen. Schuld und Reue, sie erklärt er zu Begriffen, für die in seinem politischen Raum kein Platz ist.“

„Das ist die Unerbittlichkeit des Kleinbürgers, der sich mit der Macht identifiziert, die er nicht hat. Und er steigert sich in seiner überheblichen Maßlosigkeit bis in das absolute Grauen hinein, ‚ich knall Euch ab, Ihr Ratten.’.“ Ich meine, ich hätte soeben jemand zitiert.

Das Lächeln der Souveränität -258- „Du bist doch so ein Soziologe, wie nennt man denn bei Euch den Zustand, in dem jemand seine Vogelfreiheit als eine ungeheure Erweiterung seiner Möglichkeiten begreift. In dem Interview schildert er das dem Gaus doch als sein Erlebnis der großen Freiheit.“

„Euch Juristen täten einfache lebenspraktische Überlegungen manchmal auch ganz gut, da braucht es keine Spezialisten für. Es scheint mir, dass dabei ein Mensch sein Leben in einer absoluten Jetztzeit genießt. All sein Tun und Handeln ist bedingt. Er steht in einem Kausalzusammenhang mit der Welt und ist dabei allein die Wirkung von allem Vorangegangenen, ohne jemals selber Ursache für irgendwas geworden zu sein.

Dabei sollte man sich aber darüber im Klaren sein, das jedes momentane Jetzt kurze Zeit später Vergangenheit ist und damit auch seinerseits wieder Ursache wird. So ist das nun einmal in der westlichen Kultur. Dass alle Phasen der Vergangenheit auch einmal ein Jetzt waren, für alle, das ist notwendiger Bestandteil des Sachverhalts.

Ein auf die Jetztzeit zusammengeschrumpeltes Ich kassiert alle Geschichte für sich zur eigenen Legitimation ein, fühlt sich frei von aller Verantwortung, es wird anmaßend, arrogant. So werden Herrenmenschen produziert.“

Jetzt hat Göbelgerd den Part des Schweigers übernommen. Habe ich ihm jetzt einen Knick verpasst? Zuerst war er doch ganz gut drauf. Ich besinne mich erneut auf meine Pflicht zur Verantwortung.

„Ich kann ja gut verstehen, dass Dich das Interview mitgenommen hat. Der Klar ist ungefähr gleichaltrig mit uns. Warum wohl bloß unsere Lebenswege so anders geraten sind?“

Die Reifen summen monoton auf dem ansteigenden Asphalt.

„Dann lass Dich doch von unserm Wolferl trösten, ‚es irrt der Mensch, solang er strebt’. Das hat wahrlich Gehalt! Freue Dich, dass Du nicht wie der Klar geworden bist. Der hockt nun in seinem Knast und meines Erachtens will der gar nicht mehr raus da. Der ist doch hospitalisiert. Da drinnen kann er wenigstens noch das Renommee bei denen draußen genießen.“

Die fruchtbare Wetterau liegt vor uns, still schmachtend in der Sonne. Unschuldige Nebelstreifen werden gemächlich gelüpft.

Das Lächeln der Souveränität -259- „Hast Du auch die beiden Filme „Todesspiel“ gesehen? Weißt Du, was mich daran massiv beeindruckt hat?

Autobahnabfahrt Butzbach. Der Gerd sitzt mit seinen Gedanken wohl immer noch tief im Knast.

„Wir waren so unheimlich konsequent…“ Aus dem bodenlosen Dunkel drängt sich seine Stimme hervor. „Weißt Du, der Satz hört sich doch so richtig nach einer der berüchtigten deutschen Sekundärtugenden an. Aber, aber dann, der Satz geht weiter, er hat sich exakt in meine Hirnwindungen eingebrannt, ‚… als es darauf angekommen wäre, menschliche Stärke und Großzügigkeit zu zeigen’.

Die Logik des Satzes, die haut einen um. Er stammt übrigens von Wisniewski, Du weißt, diesem RAFler, ‚Fury’ genannt. Ich könnte Dir den Satz jetzt aussagenlogisch auseinandernehmen. Aber Du sitzt ja so gleichmütig hinter Deinem Steuer, bist für derartig Reflektierendes kaum empfänglich.“

„Rede einfach weiter. Ich höre Dir zu.“

„’Wäre, wäre’, es kam aber nie darauf an. Menschliche Stärke und Großzügigkeit brauchten sie nicht zu zeigen, genauso wenig wie der Staat. Wer hätte das zeigen sollen? Der Junge bleibt bewusst unklar. Vielleicht ist es auch einfach pathologisch.

Weißt Du, ich bin soeben auf eine Lösung aus all der Scheiße gekommen, denke ich mal. Du hast dieses Phänomen des Verweilens in der Jetztzeit angesprochen. Dieses Gefühl, als wäre man selber, samt dem eigenen Handeln immer nur bedingt durch die anderen, als sei man immer nur am Ende einer kausalen Wirkungskette angesiedelt. Aus einer derartig zügellosen geistigen Bequemlichkeit lassen sich die mörderischsten Aktionen starten. An deren Konsequenzen sind wiederum nur die anderen schuld.“

Ich glaube, dass ich seine Argumentation hier im Verkehrsgewusel an dem Autobahnkreuz verstanden habe. Ich bin zudem ganz korrekt auf der rechten Spur gelandet. Es ist ein phantastisches Gefühl, genau auf der Höhe der äußeren Geschehnisse zu sein.

„Ich glaube, ich könnte kotzen. Erkenntnisse tun manchmal richtig weh.“

Das Lächeln der Souveränität -260- „Vielleicht wirkt es ja etwas schmerzlindernd, wenn ich Dir sage, dass es auch bei mir lange gedauert hat, bis ich auf den Trichter gekommen bin. Das ist nämlich das Gemeinsame von Spontis und RAFlern, dies Leben im Jetzt. Beide betrachten ihr Leben als von allem vorher Passiertem bestimmt, mit dem, was durch das Jetzt kommt, haben sie nichts zu tun. Das ist doch ein glücklicher Moment, dieses Jetzt, das muss man ausdehnen, am liebsten ewig währen lassen.“

Gerds Konzentration ist von einem Rechtsüberholer gefesselt.

„Ich wollte von dem Film 'Todesspiel' erzählen. Du weißt, dieser Doppelschinken von Breloer zur RAF. Der könnte auch so einen Erkenntnisprozess auslösen. Allerdings muss man dafür schon seinen Kopfwächter eingeschläfert haben. Also einen dieser kräftigen Figuren, die mit unmerklicher Gewalt darauf drängen, dass man sich treu bleibt, wie man so gerne sagt. Die jeden kritischen Gedankenansatz zum vergangenen Handeln markieren, um dann die Löschtaste zu betätigen. Völlig betörend können sie gar singen, immer neue Heldenarien erfinden sie für das alte, das frühere Handeln. Erst wenn der schläft, dann kannst du einen Spalt in die hermetisch geschlossene Gedanken- und Befindlichkeitswelt hauen und ein zunächst fremdartiges Licht strömt ein.“

Eine Lichtorgel hinter mir verlangt gebieterisch, dass ich auf die rechte Spur wechsele.

„Nun mach mal, Du wolltest doch was über den Film erzählen.“

„Das Dokudrama war eine Bedrohung für all die Bewusstseinswächter. Sind sie doch zum Einsatz gebracht, um scharf aufzupassen, dass da nicht etwa was Falsches aufkommt, also im Sinne der Wächter. Da erzählte eine Frau von der damaligen RAF, dass sie mal die Verhörbänder von der Befragung Schleyers Vernehmung abtippen wollte. Sie hat es gelassen. Sie empfand die Befragung als Katastrophe hoch drei. Die Befrager wären so was von niedlich und dumm gewesen, einfach nur peinlich.“

Gerd fummelt am Autoradio rum, findet keinen akzeptablen Sender.

„Das kann ich nur bestens verstehen. Es war grässlich. Er war wohl gut gemacht der Film, bestimmt sehr nahe am Geschehenen. Zum Davonlaufen fast waren die Gesprächsszenen mit

Das Lächeln der Souveränität -261- dem Schleyer, das war, als hätten die renitenten Kinder endlich den sonst abwesenden Vater gepackt. Und nun fragen sie, ‚Papa, was machst Du denn eigentlich so’ und ‚was hast Du denn bloß früher da gemacht’. Ihre unermessliche Einfalt bringt sich in erschreckender Weise zum Ausdruck.“

„Schaurig, wenn einem dann auch noch der Verdacht aufsteigt, selber so gewesen sein zu können. Auch das Verhalten dieser blonden Frau in dem Film, die immer provozierend ist und laufend ihre Verachtung zum Ausdruck bringt, ist einem nicht fremd. Damit haben wir uns vernehmlich gemacht: power und patzig.“

Ein überholender LKW zwingt uns langsam zu fahren. Zäh zockeln wir über die Autobahn, zermürbend. Dagegen zieht sich das Zwerchfell unaufdringlich konsequent in die Tiefe zurück, und die Finger trommeln nicht länger auf das Lenkrad.

Gerd hat immer noch keinen passablen Sender gefunden. Er stellt das Radio ab und setzt sich gerade auf den Sitz.

„Weißt Du, wir waren ganz schön böse Jungs und Mädels damals, angry young men, empfindsam und wütend. Ich glaube hingegen, das war der geifernde Zorn der Betrunkenen auf all die leeren Flaschen drumherum. Ein hübsches Bild. Habe ich mal aufgelesen. Weniger ein Stoff für Heldengeschichten war all das. Eher für eine große Leere, oder?“

Ich weiß nicht, ob er auf eine Antwort wartet. Ich weiß vor allem nicht, was ihn momentan so treibt, schon gar nicht wohin. Seine Überlegungen zum Geschehen damals, die hingegen kenne ich von so vielen Gesprächen.

„Wir dürfen uns nicht fürchten, in die Leere zu fallen. Denn das ist wahrlich nicht schlecht, manifestiert sich hier doch die unendliche Fülle aller Erscheinungen.“

„Amen.“ Er blickt stumm nach oben in den Autohimmel hinein.

„Erzähle bei der Grabrede morgen bloß keinen Scheiß. Du hast die Leute alle sowieso schon schwer gereizt mit Deiner Fragerei. Es gibt keinen Schuldigen an Hermanns Tod. Da läufst Du komplett Deinen eigenen Fiktionen hinterher.“

Für mich überraschend spricht Gerd mit der Stimme meines inneren Begleiters.

Das Lächeln der Souveränität -262- „Du hast ihn zu Deinem Vorbild erkoren, als einen buddhistischen Heiligen von mir aus. Aber Du bist es auch, der das nicht mit dem Freitod in eine Reihe bekommt. Dein Hirn will das nicht raffen. Diese erkenntnismäßige Verstrickung musst Du lösen. Das ist Deine eigene kopfgemachte Rätselnuss, die Dich umtreibt, die musst Du knacken. Nur so erlangst Du die Klarheit.“

Hinter uns liegt Wetzlar.

„Goethe hat täglich zwei Flaschen Wein gesoffen. Wusstest Du das?“

Allein die große Klarheit klingt mir im Kopf hinterher.

„Der hat sich die Brezel vollgeschüttet, weil er seinen rasenden Grips anästhetisieren musste. Der lief sonst immer auf Hochtouren, und der Wein war der Umschalter für ihn, vom Kopf in den Unterleib. Der hat von der Tiefe dort unten aus gedacht, von wo aus sich die unerschöpfliche Lebenskraft entfaltet. Eigentlich hättest Du das wissen müssen. Da schreibt doch Dein Zenmeister sicherlich auch drüber.“

Ganz gelassen pulsiert das Zwerchfell, sanft expansiv gleitend und zurück, und hält alle Emotionen flach. Ich habe wieder auf Gerd geschaltet und bin ganz ruhig. Von hinten schieben sich schon die LKW’s wieder näher heran. Neben uns liegt Gießen.

„Kannst Du Dich noch an unseren Theo Ebel erinnern?“

„Und ob. Der Theo hatte Augen. Mannomann! Die glühten unter seinem langen, lockigen Haar. Besessen war der, irgendwie schon fast wie ein Heiliger. Ich weiß noch, wie er einmal zu uns in die Kellergruppe kam, um den Marx gewissermaßen, ja um den zu predigen: ‚Die zunehmende Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit.’ Das hat sich mir in den Kopf eingebrannt, ebenso wie seine Glutaugen, die schon allein die Profitrate nach unten zwangen.“

„Bingo. Da ging es um dies allmähliche Anwachsen des konstanten Kapitals, wobei der Mehrwert irgendwie gleich blieb, genauso wie der Ausbeutungsgrad der Arbeit. Das war es, was zu diesem graduellen Fall in der allgemeinen Profitrate führte. Theo hingegen hat sich dem freien Fall von einem Giessener Hochhaus ergeben. Freier Fall und Exitus. Das haben wir im fernen Frankfurt schon gar nicht mehr richtig mitbekommen.“

Das Lächeln der Souveränität -263- Leicht grantig kommt Gerds Antwort: „Heiligenfiguren waren mir schon immer suspekt.“

„Aber mit welch nachhaltigem Brennstoff hat der bloß seine revolutionäre Heiligkeit am Glühen gehalten?“

„Ach komplett egal. Gefressen wurde auch die schließlich vom allgemeinen Verdruss. Energiekrise! Diese ökonomischen Kalkulationen, diese dahinter stehende exakte Logik, die hat uns aus was für Gründen auch immer verlassen, allein gelassen. Vielleicht hat sie sich auch verschoben. Egal! Diese Kapitalisten, Schleyer, Herrhausen und so, das waren die Schweine, weil sie sich nicht mehr an diese Logik hielten, die wenigstens allgemein gültig war. Es war doch denen ihr reines Machtspiel, dass sie den zwingend notwendigen Untergang des Kapitalismus einfach aussetzen konnten.“

„Nun denn, in der Folge schmeißen sich die einen vom Hochhaus, die anderen ballern hektisch in der Gegend rum und wieder andere saufen sich voller Verdruss die Birne voll. Homeless, homeless, moonlight sleeping on a midnight lake.“

„Aber es gibt auch hier die Kriegsgewinnler. Aus denen so richtig was geworden ist.“

Stille zieht wieder ein auf der Autobahn. Auch die LKW’s verlieren sich lautlos hinter uns der Ferne. Gerd fummelt erneut am Radio rum. Irgendwas köchelt in ihm.

Plötzlich vergisst er den Radiosuchlauf. Sein Köcheln ist gestoppt.

„Wusstest Du, dass so mancher Samurai zwei Schwerter getragen hat? Davon ein kurzes zur Selbsttötung. Wenn er im Kampf sein Ziel verfehlt hatte, aber überlebte, so galt er sich und anderen als ein Feigling.

Gerd spricht sehr klug von den Samurai, die sich umbringen, wenn sie feststellen, dass ihr Lebensinhalt verschwunden ist und damit auch Schande über sie gekommen sei.

„Für sie ist das Schwert die Waffe, die das Ich tötet, diese Wurzel aller Streitigkeiten und Kämpfe. Die Samurai haben sich mit dem Schwert den Bauch aufgeschlitzt, ihr Seppuku gemacht, Hermann hat sich dem Strick anvertraut, das war gewissermaßen sein Arbeitsgerät auf der Bühne. Da hättest Du doch den Grund für seinen Selbstmord. Oder?“

Ich habe die Frage verstanden, antworte aber nicht. Wieso kennt der Gerd sich auf einmal mit den Samurais aus? Ich durchfliege geistig meine Lebensgeschichte mit Hermann. War da was Das Lächeln der Souveränität -264- mit Samurai? Haben wir nicht einmal gemeinsam diesen legendären japanischen Film gesehen? Das wäre tatsächlich eine Möglichkeit. Das muss ich mir genauer überlegen.

Vielleicht ist das die Rätselnuss, die ich mit einem eleganten Schwertstreich spalten könnte. Allerdings bin ich mir gar nicht sicher, ob das dem Hermann gefallen hätte. Er war kein Mann des Schwertes, wäre wohl nie den Weg des Kriegers gegangen. Ich müsste jetzt den Gerd enttäuschen. Doch wohl auch mich. Ein erneuter Versuch, rationale Erkenntnis als Nussknacker einzusetzen wäre fehlgeschlagen. Die Nuss hätte sich dem Geknacktwerden erneut entzogen.

Gerd widmet sich derweil erneut dem Radio und bringt schließlich einige schlicht wohlgeordnete Gitarrentöne zum Erklingen, von kräftigen Schlagzeugschlägen in ein enges Rhythmuskorsett gepresst. Irgendwie setzt so ein Wawa-Gedudel ein. Schmalz im Quadrat.

„Kennst Du das?“

Für mich hört es sich nach Clapton an, begleitet von einem Frauenchor mit Schubidubi- Gejaule, schön grässlich.

„Kennst Du nicht den Text?“

Die Frage ist schon berechtigt. Es ertönen wenige Akkorde eines Beat- oder Rockmusikstücks, und ich weiß bereits, was es ist, kann schon in den Text an der passenden Stelle einstimmen. Zumindest recht häufig.

„Das Ding ist mir zu triefend sülzig. Da merke ich mir keine Texte.“

Das Gesicht krampfhaft nach rechts gerichtet versucht er die vorbei fliegende oberhessische Landschaft zu erfassen. Ich habe ihn wohl eben beleidigt. Aber wieso steht der denn plötzlich auf Schnulzen? Keine entschuldigende Überlegung hilft. Meine Antwort war wahrlich fehl am Platz.

Ich vernehme das Bittgebet für den heilenden Regen aus den Lautsprechern, „to restore my soul again“.

„Kannst Du das verstehen? ‚That's when I need my father's eyes.’ Das singt Clapton hier. Kannst Du das verstehen?“

Das Lächeln der Souveränität -265- Mir wird soeben reichlich warm. Ich stehe auf der Bremse. Der Gerd ist heftig erregt. Um mich herum flitzen Autos und vor mir knickt eine scharfe Kurve.

„Lieber Gerd, ich sitze hier am Steuer, und ich kann mich nicht richtig auf den Clapton-Song konzentrieren, kann mich nicht zusätzlich noch mit all der notwendigen, der gebotenen Aufmerksamkeit auf Dein Problem konzentrieren. Multitasking liegt mir nicht. Ich will uns schließlich sicher nach Korbach chauffieren.“

Er schweigt. Was will er mir bloß erzählen?

Er erzählt nun von den Kriegsgewinnlern, von Leuten aus dem früheren Kommunistischen Bund Westdeutschlands, ebenfalls Rechtsanwälten, von einem Eckhard Kemper, der nun einen Chef der Deutschen Bank verteidige, von einem Thorsten Heilmann, der Berater der berüchtigten Heuschrecken geworden sei. Ob ihn das momentan wirklich interessiert?

Ich schweige. Kurz.

„Die vom KBW haben es geschafft, weil sie eine straffe Organisation aufgebaut haben. Lies einmal meine Geschichte über Willy Wilke. Da steht drin, wie all diese Kommis so agiert haben. Dagegen war die RAF, und wart Ihr als legaler juristischer Flügel, doch nur eine konfuse Räuberbande.“

Gut, gut, perfekt bin ich längst noch nicht. Diese letzte Bemerkung hat mir mein eitles Ich auf die Zunge gelegt. Ich hätte sie mir versagen sollen. Es geht nicht darum, dass ich eine Debatte gewinne. Es geht darum, einem Menschen in der Not zu helfen.

Wir fahren durch Todenhausen.

„Immer wenn ich hier durchkomme, stürzen Erinnerungen über mich herein. Die Häuser stehen dicht an der Straße, aber abgewandt. Es sieht so verlassen aus. Ich sehe die flirrende Luft über der geraden Hauptstraße und den Helden, John Wayne vielleicht. Quietschende Saloontüren, der Held mit angewinkelten Armen, die Hände griffbereit vor den Colts.

Vielleicht auch Gary Cooper, einer allein gegen vier Mann. Und der Einsame schafft es. Mit verächtlichem Blick schmeißt er zum Schluss der feigen und opportunistischen Bürgerbagage seinen Stern vor die Füße.“

Das Lächeln der Souveränität -266- „Da können all die ihre Rachegefühle jubilieren lassen, die sich im Leben von allen unterschätzt fühlen.“

Gerd schaut mich schräg von der Seite an. Ich wiederhole mich gestreng im Kopf, es geht nicht darum, dass ich billige Triumphe einfahre. Es geht darum, einem Menschen in der Not zu helfen. Aber der muss zunächst kotzen.

Ich fahre auf einen Parkplatz rechts. Kotzen muss er dann zwar nicht, aber etwas würgen und frische Luft schnappen. Er läuft einige Schritte um das Auto rum.

Für den Beruf eines Lebensberaters bin ich wohl wirklich nicht geeignet. Den Einstand darin habe ich offensichtlich nicht zu unrecht versiebt. Dabei ging heute alles einigermaßen glatt ab. Aber nur weil ich das Steuer in der Hand hielt. Und nur weil ich mich auf den zu fahrenden Weg konzentrieren musste.

„Willst Du mir nicht endlich erzählen, was Dich gerade wirklich umtreibt?“ Jetzt könnte es von mir aus klappen. Wir fahren weiter. Auch wenn soeben noch mein mickriger Triumphalismus im Spiel war, so waren meine Bemerkungen doch effektiv grobe Keile auf einen ignorant unzugänglichen Klotz. Jetzt nähert sich Gerd tatsächlich seinem ihn treibenden Kern.

„Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich schweigend durch die Trümmer meines Elternhauses wandere. Das war neu. Verschärft war das Thema für mich. Sonst träumte ich immer nur, ich würde im Hof meiner Eltern niederknien, inmitten einer Horde grunzender Schweine. Ich suhle mich im selben Dreck wie sie. Ich knie vor dem Schweinetrog, als wollte ich für sie das Tischgebet sprechen. Doch habe ich nicht einmal Teil an deren Fressen. Und runtergekommen ist der Hof, verfallen.“

„Und Du fühlst Dich schuldig, hättest all Deine ererbten Qualitäten vergeudet und verschleudert, hättest ein ehrloses Leben geführt.“

„Oh ja. Diese Schuld ist mörderisch.“ Seine Stimme ist schleppend. Der fängt doch nicht gleich an zu heulen.

„Kuckucksrufe - die ganze Nacht – Nun die Dämmerung.“ Er murmelt, macht Pause.

Das Lächeln der Souveränität -267- Der will mich wohl irgendwie testen. Mir dämmert irgendwas da von fern. Dieser tränentreibende Tonfall jedoch … Was will er denn wirklich? Einen Psychotest?

Zusätzlich gerät auch noch die Liebfrauenkirche in den Blick. Oh Schreck. Gar im warmen Sonnenlicht funkelt der Turm.

Mit der Schwere stimme ich ein Liedchen an, mehr so einen Sprechgesang: „And the band is going home, its raining hammers, its raining nails. And its true theres nothing left for him down here.” Dem Gerd hat das immer gefallen, und er stimmt lautstark ein in den Refrain: „And its time time time, and its time time time - And its time time time that you love - And its time time time.”

Schwerst beseelt düst unser Blechgefährt im Orbit um die Stadt.

Trotz der kleinen musikalischen Unterbrechung nimmt Gerd beständig seinen Faden wieder auf. „Du warst immer so klug. Kennst Du Matsuo Basho? Das war ein Rebell gegen seine Lebenswelt, gegen seine Familie, einsam und erfolgreich. Der Erfinder der Haikus.“

Ich müsste da eigentlich was korrigieren. Nie wollte ich mich als der große Kenner japanischer Kultur produzieren. Ungesagt bleibt mein Einwand. Ich liefere mich aus.

Und was wollte er mir nur mit diesem Kuckuck andeuten? Unten im Magen zieht sich was zusammen. Es kitzelt, als wollten die Muskeln dort zucken, um Halbverdautes zurück nach oben zu reichen.

Atmen hilft. Das Zwerchfell spreizt sich, bekommt die Zuckungen in den Griff. Das Edertal, das nimmt uns auf.

Jetzt erkenne ich ihn, den Dritten in dem Gefährt. Er sitzt gerade hinter mir, auf dem Rücksitz. Obwohl ich nur Gerd und mich zähle. Unter seiner Kapuze macht er mir klar, dass allein ich mir selber die Leuchte sei. Ich kenne ihn. Er ist mein intimster Führer, hilft mir dann und wann im wüsten Land.

Gerd war es, der meine Eitelkeit gekitzelt hat, so dass sie sich verletzt fühlte. Mein beleidigtes Seelchen hat er aufgestachelt. Geknickt und zugleich wütend wäre ich früher gewesen. Darauf hat der Dritte den Fokus meiner Leuchte gelenkt. Klar wird der Blick. Vor uns liegt das weite Edertal.

Das Lächeln der Souveränität -268- „Nicht einmal gegen meine Familie habe ich es geschafft.“

Ouh Gott. Mit seinen Anspielungen hat Gerd mich überhaupt nicht gemeint. Trotzdem war alles unter Alarm bei mir sogleich.

„Du weißt, niemals wirst du genießen all die Dinge, die sich dir einst verhießen. Auch ich wurde einst herausgeschmissen in das irdische Werden, doch was ward, war nur ein Nichts.“

Ich könnte ihm jetzt meine vorbehaltlose Zustimmung kundtun. Doch dieses Nichts, das sehe ich inzwischen wohl irgendwie anders.

„Aus des Vaters Zeugeschwengel rausgerotzt tat der mir bald kund, lieber einen toten, als einen ungezogenen Sohn haben zu wollen.“

Die Göbels gehörten zu einer Art von Korbacher Stadtpatriziat, alles Lutheraner, frühzeitig schon, seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. Pfarrer und Juristen gingen daraus hervor. Auch Gerds Vater war Jurist, und tiefgläubiger Protestant.

„Du weißt, er hat für die Gummiwerke geschafft. Ich hatte nie eine Vorstellung von dem, was er dort wirklich treibt. Das heißt, ich habe mir schließlich die Vorstellungen selber gemacht, dass er die Arbeiter dort zur Maloche am Band verknackt, dass er mit der Peitsche in der Hand den Akkord hochschraubt. ‚In Gottes Namen’ brüllt der Alte, ‚pumpt die Stundenrate höher, auf der Stelle, zackig’. Der Peitschenschwengel zuckt in seiner Hand.

Komplett tabu waren seine Aktivitäten zur Nazizeit, als das Waldecker Land ein kackbraunes war. Was ich da alles hinnehmen musste, war eine Last. Doch schließlich den Lastcharakter des Daseins überhaupt anzuerkennen, diese Desillusionierung, das habe ich erst spät in meinem Leben geschafft. Nun steht vor mir die Leere und mein gezeichnetes Ich.“

Eine Diskussion über das Verständnis von Leere, das wäre jetzt eine rein intellektuelle Wortschieberei geworden. Ich schweige. Gerd redet sowieso weiter.

„Und trotzdem sind da noch schöne Erinnerungen an früher, an den Fliederbaum vor unserem Haus, der mit seiner Blüte wahre Räusche zaubern konnte. Und dann dieses monumentale Bild! Du erinnerst Dich an unsere Kirche mit dem bärtigen Mann, grünes Kleid, roter Umhang. Er trägt die Rettung der Welt auf seinen Schultern. Sie ist so klein, ein Kind, das die

Das Lächeln der Souveränität -269- zarte Hand zur Segnung über seinen Kopf hält, und er so eine riesige Person. Er trägt es geduldig durch die tiefe Furt. “

Natürlich erinnere ich mich an die Kirche mit dem großen Hünenbildnis, das die gesamte mittlere Nordwand bedeckte. Äußerst beeindruckend. Dieser geduldige Blick. Beide Hände umfassten einen krummen, kräftigen Stock, auf den der Riese sich stützte. Gerd und ich, wir sind gemeinsam in der Kirche konfirmiert worden.

„Dieser beharrliche Gigant stellte seine Kräfte für die Rettung der Welt zur Verfügung. Den habe ich bewundert, der stellte so was wie ein Vorbild für mich dar. Der hat mich an die Kirche gebunden, der hat meinen Glauben getragen, auch dann noch, als ich längst kein Christ mehr war.

Ich habe mit der Kirche nichts mehr zu schaffen. Was kann man auch schon erwarten, wenn der Kirchturm des Gotteshauses schon mit einem schiefen Hut aufwartet, mit einer schrägen Bedachung.“

Wir passieren die Ederbrücke. Der See ist sehr trocken in diesem Jahr. Wahrscheinlich sieht man wieder die Spitze der abgesoffenen Kirche weiter abwärts.

„Oh ja, was dieses schiefe Turmdach bedeuten könnte, darüber haben wir häufig nachgedacht. Kannst Du Dich noch an unsere christliche Reinigungsaktion erinnern, als wir die üble Taubenscheiße aus dem schrägen Dachstuhl ausgemistet haben?“

„Genau, spitzigscharf stinkende Taubenscheiße im Dachstübchen, das ist mein Bild von der christlichen Kirche geworden. Doch aus all der Scheiße habe ich mir mein Vorbild von dem kräftig-riesigen Fährmann transferiert, dem Träger durch die Untiefen des Weltenflusses, der sich auf seinen stabilen Stab verlassen konnte, beharrlich und solide. Der materialistischen Wahrheit wollte ich zum Recht verhelfen, über alle Abgründe hinweg.

Kennst Du das Christopherusbild von Dix? Da tanzt das Kind auf seinen Schultern rum und haut ihm mit dem Stecken auf den Kopf. Die einst guten revolutionären Ideen sind nicht länger vertrauenswürdig. Das Kind ist gewissermaßen autistisch geworden, völlig losgelöst vom Leben drumherum. Tief innerlich ist nur noch ein Nichts bei mir, eine leere Wüste.“

Ein derartig depressiv zerrissener Mensch stellt für einen befreundeten Menschen eine absolute Herausforderung dar. Wie dann erst für einen Lebensberater, einen, der einer sein

Das Lächeln der Souveränität -270- will. Sollte dem die Heranführung des Zerrissenen an das Leben gelingen, dann wäre er ein wahrer Meister. Eine gewaltige Aufgabe! In dem engen Ittertal mir wird eher etwas Angst zumute.

Gerds böse Stimmung hat sich mit aller Wucht und Gewalt auf uns beide herabgesenkt. Da wirken alle Worte unangebracht. Es sei denn, ich würde sie mit tiefst unterlegter Autorität über die Lippen bringen: Es werde licht in Dir.

Bernd, Bernd, Du bist längst losgegangen, aber Wunder kannst auch Du nicht vollbringen. Nur wer bereit ist, sich von seiner Stimmung zu lösen, dem kann geholfen werden.

Die Person hinter mir auf dem Rücksitz hat recht.

„Der Schienenbus schwebt – dreckig rot über das Gleis – ohne Ziel, so leer.“

So eng ist das Tal. Der hohe Himmel leuchtet. Wir kommen da durch.

Oben angekommen biete ich dem Gerd an, mit bei meinen Eltern zu übernachten. Doch will er nicht.

Beim Rathaus hat er ein Hotelzimmer gebucht. Wir laden seinen großen, überschweren Koffer aus.

„Toll, wie die unsere alte Bücherei rekonstruiert haben. Die knarrenden Dielen, ich kann sie noch immer hören, kann immer noch den Geruch nach altem Papier und gebohnertem Holz wahrnehmen.“

Neben dem Rathaus steht das alte Mosheimsche Haus. Gerd kennt sich aus damit.

„Die elende Rathauserweiterung, diesen erbärmlichen Sachbau, den haben sie mittlerweile wieder abgerissen. Du hast ihn gesehen. Dank der Gummiwerke hat die Stadt das Geld, dass sie stattdessen jetzt die Rekonstruktion zur sentimental schönen Erinnerung auf den Weg gebracht hat. Die umlaufenden Bänder gliedern das Haus genau, jedes Geschoss wird betont herausgehoben. Und durch die blaue zweiflügelige Tür sind wir einst eingetreten und ließen unsere Phantasien üppig wuchern. Unter dem weiten Dach waren wir einst willkommen.

Zumindest äußerlich ist alles wie früher. Drinnen dagegen haben sie ein modernes Haus im Haus konstruiert, um dort ihren Verwaltungskram zu zelebrieren. Na ja, der körperliche

Das Lächeln der Souveränität -271- Eintritt in die Vergangenheit ist uns verschlossen. Da knarrt nichts mehr, und es riecht steril sauber allein. Kein substantieller Weg führt nach dem bedachten Damals zurück, nur die karge optische Simulation.“

Ich wünsche ihm alles Gute. Ich nehme ihn in den Arm. Ich glaube das erste Mal in meinem bisherigen Leben. Er schenkt mir ein tief melancholisches Lächeln und betritt seine schimmernde Unterkunft.

Auf dem Weg zu meinem Elternhaus komme ich an Hermanns Haus vorbei. Das große Schild, dass es zu verkaufen sei, ist verschwunden. Als wäre es nie dagewesen.

„Knacks!“ Ich stoße es hervor. Das war es, exakt.

Der lange, dunkelrote Schornstein der Gummiwerke ragt immer noch über der Stadt in den Himmel hinein.

Meine Eltern haben schon auf mich gewartet. Ich umarme die Mutter, den Vater. Der kommt nur unter großen Mühen von seinem Sofa hoch. Wir essen zu Abend. Es gibt Kräutertee aus dem Garten.

Vater starrt griesgrämig auf sein Brot. Auch die Mutter ist recht schweigsam.

„Musste das denn sein?“ Sie schaut mich kurz und fragend an.

„Der hat doch große Schande über seine Familie gebracht. Wie die den hier gefunden haben, da war das Entsetzen groß in der Stadt.“

Der heiße Kräutertee verbrüht mir die Gaumenhaut.

„Saß er doch einfach auf dem Balkon in der Kirche und war tot. Irgendwelche chemischen Mittelchen soll er genommen haben und dazu viel Schnaps. Weißt Du, er saß da und hatte sich einfach tot gemacht.

Den Vater habe ich jetzt auf der Bahnhofsstraße gesehen, tief gramgebeugt. Und früher war der doch mal was in der Stadt, war der doch in der Leitung der Gummiwerke. Musste das denn sein?“

Ich schweige, kann es nach all den Tagen selber noch nicht so recht begreifen.

Das Lächeln der Souveränität -272- Vater verzieht gequält den Mund und blickt auf. Er verallgemeinert. „Was habt Ihr denn bloß in Frankfurt da unten getrieben? Nicht mal die Revolution habt Ihr ja geschafft. Und um sich umzubringen, kommt er dann aber nach Korbach zurück. Dabei war Euch die Kleinstadt doch nie genug. Aber dafür hat es dann doch gereicht. Das gehört sich nicht!“

Was soll ich den Eltern antworten? Ich habe es zwar nicht vorausgesehen, aber aus dem Rückblick hätte ich es sehr wohl ahnen können. Gerd war in letzter Zeit äußerst schwermütig geworden. Meine Gespräche mit ihm waren nicht erfolgreich. Ich wollte ihn aus der schizophrenen Lage befreien, dass er zwar einerseits einen abgrundtiefen Hass auf seinen Vater besaß, jedoch andererseits voll von Schuldgefühlen ihm gegenüber steckte.

Vor rund zwei Wochen ist er nach Korbach gefahren, hat sich auf den Balkon der Kirche gesetzt und sein Todesmenu geschluckt. Auge in Auge mit Christopherus auf der Nordwand hat er sein Leben ausgehaucht, ersoffen. Seine Seele trug schwer an all Beschädigungen, die ihn auf den Boden geworfen haben, „till he cried out in his anger and his shame. I am leaving, I am leaving, but the fighter still remains.”

Die Mutter schaut mächtig ergriffen. „Der Pfarrer hat noch gute Worte für den Toten gefunden. Das hat hier einigen Ärger gegeben. Der Opfertod von Christus wäre doch auch so eine Art von Selbstmord gewesen. Auch wenn der von Gerd nichts mit Opfer zu tun hätte, doch müsste man mit seiner Seele doch mitfühlen. ‚Dieser armen Seele’, hat er gesagt.“

Ich bin erstaunt, dass die Kirche so einen Wandel vollzogen hat.

Vater blickt missmutig von seiner Stulle auf. “Früher hätte man den mit den Beinen nach oben an einem Galgen oder so aufgehängt.“

Früher wäre ich an der Stelle ausgerastet. Jetzt kann ich ruhig und selbstbewusst bleiben. Ich lächle ihn an. „Ach Väterchen, warum denn bloß so hart? Wohin der Hass die Menschen führen kann, das haben wir in diesem Land doch erlebt. Auch Deine Kriegsverletzungen sind ein Ergebnis davon.“

Ich kann jetzt keine Debatte darüber beginnen, dass Selbstmörder den Lebenden gefährlich scheinen. Es ist wohl eine empfundene Drohung, dass sie ansteckend seien, die heftige Abwehrgefühle erzeugt. Doch ist es Vater, der meine Gedankengänge ausbremst.

Das Lächeln der Souveränität -273- „Hass, Hass, Hass, was soll den das? Bei Deinem Studieren hast Du wohl nur gelernt, Dich rauszureden. Das ist doch eine verdrehte Welt bei Euch da unten in Frankfurt. Die Studiererei hat Dir doch garnichts gebracht. Auch Du hast keine richtige Stelle.“

„Ach Vater, soll ich Dir helfen?“

Der sitzt gequält vor seiner widerspenstigen Stulle. Die Mutter hat den Moment mal wieder richtig begriffen. Sie schneidet ihm das Ding auseinander. Ich bewundere ihre Qualitäten. Sie ist so ruhig und geduldig.

„Klappt das jetzt mit der Arbeit in der Firma von Sylvia?“

Ich bejahe, verschweige aber, dass ich dort bloß als Selbständiger arbeite.

Er bohrt weiter. „Hättest Du damals die Ausbildung als Landschaftsarchitekt gemacht, dann hättest Du eine richtig gute Stelle haben können. Beruflich bist Du von ihr dann auch noch abhängig.“

Vater bohrt weiter und schaut mich misstrauisch an. Ich kaue ruhig an meinem Brot.

„Das ist eine gute Frau. Bist Du denn auch immer anständig zu ihr?“ Mutter macht sich ihre Sorgen.

Ich trinke meinen Tee und lächle sie an.

# Ashes to ashes

Aus Berlin ist Emmy samt einem Musikerkollegen angereist und Willy Wilke auch. Der ist als Schauspieler tätig, hatte neulich einen großen Auftritt als Hamlet. Rudi hat sich immerhin entschuldigt und dabei Frank gleich mit. Der musste dringend nach Acapulco.

Kathrin kommt in ihrem offenen BMW, ohne CD Müller. Die hatten wohl Streit. Sie heult die ganze Zeit, als wäre sie die trauernde Witwe.

Sigrid sitzt mit Hardy weiter hinten in der Trauerhalle.

Das Lächeln der Souveränität -274- Dieter ist mitsamt seiner Frau gekommen. Weiter nach Kassel werden sie später fahren. Dort winkt ein Auftrag als Konfliktmanager, vermutlich ein kleiner.

Brigitte hat die Beisetzung organisiert.

Die Eltern von Gerd wollten oder konnten nicht. Sie sitzen kummerbeladen ganz hinten, neben sich zwei Verwandte.

Auch meine Mutter sitzt in ihrer Nähe. Sie will mich hören.

Einige weitere, mir nur noch oberflächlich Bekannte sind im Raum und dann drei mir unbekannte Personen, die sich Notizen machen.

Vorne steht die Urne mit Gerds Asche. Drumherum sind seidene Tücher, ganz in rot. Er mochte rot. Ein großes Foto von ihm steht mitten drin. Kerzen stehen darin und drumherum. Ebenso sind viele Blumen dabei. Brigitte hat sie aus dem Garten ihrer Mutter gepflückt. Einige von der Trauergemeinde gehen vor, verbeugen sich und legen Blumen dazu.

Eine gute Lautsprecheranlage legt dramatisch mit dem Allegro aus Mahlers Auferstehungssinfonie los. Die Trauerhalle vibriert.

Gerd war ein großer Verehrer des Komponisten. In seinen späteren Jahren hob er die Bedeutung der Negativität in seinen Werken hervor. Und er argumentierte gar mit Adorno, dass die Hingabe an den ungezügelten Affekt den Tod bedeute. Wie in der Mahlerschen Musik dargestellt, so in seinem Leben. Er sah die ungeminderte Rache des Weltlaufs an der blendenden gesellschaftlichen Utopie an sich selbst vollzogen.

Brigitte eröffnet. Sie leitet über von der Musik, die das heldenhafte Ringen eines Menschen mit dem Leben und Schicksal zum Ausdruck bringe, zu Gerd, der darin unterlegen sei.

„Auch er stand vor der bedeutenden Frage ‚Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten? Ist das alles nur ein großer, furchtbarer Spaß?’ Gerds Leben war einer Symphonie vergleichbar. Im verschlungenen Dickicht des Lebens ist er stecken geblieben. Jetzt ist er auf dem Weg zum ewigen Licht, dem Licht der Klarheit.

Wir möchten jetzt gemeinsam einen Sprechgesang rezitieren, das Herz-Sutra der höchsten Weisheit. Jeder, der mitsprechen will, kann das. Die Texte liegen bei den Sitzen.“

Das Lächeln der Souveränität -275- Ich war eigentlich gegen das Sprechen des Sutras gewesen, da ich nicht glaubte, dass die anderen in der Halle etwas damit anfangen könnten. Doch ist es der einprägsame Singsang, der schon seine eigene Wirkung entfaltet. Und es sprechen tatsächlich so einige mit. Anschließend erklärt Brigitte kurz den geistigen Gehalt der weisen Sinnsprüche. „In der Leerheit ist kein Erkennen.“

Nun machen Emmy und Kollege Musik: “I look at you all see the love there that's sleeping While my guitar gently weeps.”

Ich gehe zur Urne mit den Resten von Gerd und verbeuge mich. Die beiden Handflächen habe ich zusammengelegt. Ich gehe zum Rednerpult.

„Ein Freund ist von uns gegangen. Ich sage das Unaussprechliche jetzt lieber auf Englisch: ‚Do you remember a guy thats been - In such an early song.

Es ist gar nicht recht zu fassen. Waren wir doch einst zusammen. Es klingt mir immer noch wie ein Gerücht von unten, tief unten. ‚Oh no, dont say its true’.

Ich kann es immer noch nicht so recht begreifen, stehst Du doch exemplarisch für uns, für all die Freunde aus verwirrten Zeiten. Du hast Dich nun in Unfrieden von der Welt, von uns verabschiedet.

Vieles von Dir kann ich nachvollziehen, kann vieles davon mitleiden. Wir kannten uns seit mehr als dreißig Jahren.

Wir alle fühlten uns unbehaust, alleingelassen in einem erbärmlich harten Regen hier. Weder in der Familie, noch in der Stadt, gar in dem deutschen Land fühlten wir uns aufgehoben. Dennoch, großmäulig wussten wir damals schon immer, wo es lang zu gehen hat. Voller verächtlichem Stolz griffen wir alles, was wir so am Wegesrande fanden. Montierten es zu Bildern der Lösung. Siegesgewiss.

‚Strung out in heavens high’, illusionär zugedröhnt hoch droben am Himmel, ‘Hitting an all- time low’. David Bowie hat es für uns formuliert, tief, ganz tief unten sind so einige von uns gelandet. Gerd hörte den Bowie gern. Oft haben wir darüber gesprochen.

Wir können es mittlerweile besser wissen, auch unsere Lösungsversuche waren und sind allein Teil all der irdischen Phänomene der Vergänglichkeit tief unten. Sie begegnen zwar

Das Lächeln der Souveränität -276- jedem Menschen, doch wird deren Unheilscharakter von Nichtwissenden und am Dasein haftenden Menschen selten erkannt.

Und das ist es, was Leiden verursacht, die Vergänglichkeit, wozu auch all die Ideen einer Erlösung fallen. Und darüber stellen sich Alter und Tod, Kummer und Wehklagen, Schmerz, Gram und Verzweiflung ein. Solcherart ist die Entstehung dieser gesamten Leidensmasse.

Dagegen gibt es eine Lehre des Buddha, die uns zeigt, dass wir außerhalb der Welt des Wandels und Vergehens den festen, den absoluten Zustand zu gewinnen vermögen. Gewinnen können wir die Erleuchtung. Sie führt zum Nirwana.

Gerd hatte irgendwann erkannt, dass sich all seine Vorstellungen von einem revolutionären Umsturz verselbständigt hatten. Diese Ideen tanzten ihm auf dem Kopf herum. Sie hatten ihn im Griff.

Er begriff dann bald, dass dies sein Leiden war. Dadurch dass es ihm offenbar geworden war, konnte er sich davon trennen. Aber stattdessen tat sich tief unten vor ihm ein schwarzes Loch auf, ein schwarzes Loch der Schuld, mit gewaltiger Sogkraft.

Das Leiden an den Schuldgefühlen nahm ihn nun in den Würgegriff. Er fühlte sich schuldig seinen Eltern gegenüber. Er fühlte sich schuldig, es im Leben nicht geschafft zu haben, dass er versagt hatte. Viele, viele Jahre war er wie Staub, vom Winde umhergetrieben.

Mit all seinem Schuldenleid setzte er sich vor sein großes Vorbild, um im Angesicht dieses zu sterben. Dem gegenüber gestand er seine Unfähigkeit ein. Sehr bewusst hat er diesen Ort gewählt.

Doch niemand wird ihn richten, schon gar kein Strafgericht wird ihm gemacht. Allerdings nimmt er seine Belastung mit in den Tod. Das ist sein Karma. ‚But the little green wheels are following me’, wie es Bowie sang.

Ich kann mit ihm fühlen, fühle die Übersteigerung einer Persönlichkeit, die sich als Retter der Welt wähnte. Einer Persönlichkeit, die eins geworden war mit dem Bild eines Trägers durch die Untiefen des Lebens, als Träger der Rettung der Welt. Diese Empfindung war zu seinem Ich geworden, hat zu dem geführt, was man, vielleicht nicht nur literarisch, als eine dämonische Besessenheit bezeichnen kann.

Das Lächeln der Souveränität -277- Alle Wesen sind dem Tode unterworfen, der Tod setzt ihnen ein Ziel, dem Tode kann niemand entrinnen. Gerd hat das Ziel eigenmächtig vorverlegt, zu groß war sein Leiden. Zu heftig drehten sich die giftgrünen Räder der Schuld.

Doch wird Gerd niemals für irgendwelche Arten von Sünden büßen müssen. Buddha hat mit seinem Leben den Weg der Souveränität gewiesen. Er zeigt den Ausweg aus dem Leiden.

Gerd wird zum Licht wandern. Ich verbeuge mich vor den Resten Deines Lebens. Auch Du, Gerd, wirst den Weg des Heils beschreiten.“

Nun gibt es wieder Musik von Emmy samt Freund. Sie spielen den „Stranger Song“ von Leonard Cohen. Über Cohen verbindet mich eine starke Erinnerung an Gerd. Damals, vor rund fünfunddreißig Jahren, als ich in Folge des LSD-Trips auf dem Fenstersims in der Höhenstraße stand, war er es, der mich davon heruntergeholt hat.

Der Pfarrer kommt auch noch zum Pult, ohne Talar. Er hat es mit Brigitte verabredet. Es waren Gerds Eltern, die keine christliche Beerdigung wünschten. Sie hätten es vorgezogen, keinen Sohn zu haben.

Der Pfarrer hätte wohl beerdigt. Er betont, dass Gerd als Getaufter Mitglied der Kirchengemeinde sei, „auch wenn er sich in garstigem Unfrieden von uns getrennt hat.“

Er führt das Johannesevangelium an. Auch Christus hätte schon sein Leben gegeben. Für die Unglücklichen sei er gestorben. Vielleicht hätte Gerd sich einst wie ein guter Hirte gefühlt, droben am Himmel ganz oben. Doch wäre er schon im Leben von dort abgestürzt.

„Keinerlei Häme und Rache stehen uns an, dass er sein Leben von sich selber gelassen hat. Es gibt keinen grausamen Gott, und wir haben keinerlei Anlass, auch nur grausam gegen Angehörige unserer Gemeinschaft zu sein.“

Der Pfarrer ist mutig. Ich bewundere ihn dafür.

Emmy und Freund spielen „Father and son“. Das ist hier sicherlich etwas gewagt. Ich schiele rüber zu Gerds Eltern. Aber kein Zeichen einer Regung ist erkennbar. Sie sitzen immer noch geduckt auf ihren Stühlen. Das Lied ist sehr ausdrucksstark vorgetragen, und ich finde besonders an der Stelle, wo der Sohn singt: „I know that I have to go.“

Das Lächeln der Souveränität -278- Dabei hätte Gerd seinen Eltern dieses Klagelied wohl schon lange nicht mehr vorgesungen. Er hätte zweifellos der Aussage des Vaters zugestimmt, that „you will still be here tomorrow, but your dreams may not.” Eine äußerst verwirrende Einsicht für ihn.

Nachdem alle Versuche, dem Vater Staat Gespräche auf gleicher Ebene gewaltsam aufzudrängen, sämtlich gescheitert waren, hätte er auch den nicht weiter als ein Klageziel gesehen.

Allerdings hätte er immer noch die Meinung vertreten, dass er nicht ruhig bleiben könne, wenn irgendetwas nicht stimme. Jedoch dass er mittlerweile nicht einmal mehr aufgefordert wurde, auch nur geduldig zuzuhören, das verblüffte ihn zutiefst. Selbst diese kleinste Geste einer Wahrnehmung seiner Person war verlorengegangen. Als vom Leben ignoriert fand er sich am Rand stehend, irgendwie überflüssig. Wie Abfall.

Brigitte erzählt eine Geschichte von Menschen, die, wenn sie auf die Welt kommen, immer davon ausgehen, dass sie nur einen Fuß herüber auf das Ufer dieses Lebens gestellt hätten. Zeitlebens seien sie von dem Gefühl geprägt, auf dem anderen Ufer zu Hause zu sein. Zu sterben bedeute für sie nichts anderes, als den ausgestellten Fuß wieder zurückzuziehen, völlig selbstverständlich und ganz ohne Angst.

Sie rezitiert den Gesang des Meister Hakuin, dass jeder Mensch im Wesen Buddha sei. Wir verlassen die Trauerhalle.

Der Himmel ist weit und frei. Hinter uns ragen Bäume in ihn hinein. Vor uns liegt eine saftig grüne Wiese, und weiter tanzt der Blick über das Land. „Summer Running“ klingt leicht wie der Wind, macht schweben. Die Erdbindung leistet der kräftige Bass. Es fließt ein warmer - wunderbarer Sommertag - zwischen Himmel und Erde.

Schillernde Gitarrentöne heben ab. Sie sirren. Gerds Ascheteilchen flirren in der hellen Sonne. Do you remember a guy thats been -

Das Lächeln der Souveränität -279- # Abschied, Abgang ohne Verklärung

Unsere Totenfeier veranstalten wir in dem alten Korbacher Café Korner. Nach der Schule oder in den Freistunden hielten sich früher immer die Kinder der arrivierten Bürger darin auf. Gerd nicht. Es wird demnächst abgerissen.

Ich sitze neben Brigitte. Die ist ganz in schwarz, schickes Kostüm. Sie sagt, dass ihr meine Totenrede gefallen habe.

Ich bin skeptisch: „War es nicht zu philosophisch, zu intellektualistisch?“

„Nein. Es war ein passender Entwurf für einen Heilsweg. Das habe ich so erwartet.“

„Aber Zen ist eher praktisch orientiert.“

„Eine Theorie gehört schon noch mit dazu, freilich keine philosophisch verwickelte und kompliziert abstrakte. Zweifle nicht an Dir und Deinen Worten. Du bist genau auf dem Weg des ursprünglichen Gesichts der Wirklichkeit. Du kannst diese direkte und frische Erfahrung der Wirklichkeit schon gut rüberbringen.“

Sie kann mich besänftigen. Obwohl der alte Selbstzweifel immer noch nagt, wenn auch verhalten jetzt.

„Die Zitate von Bowie waren dafür passend. Auch sein Text ist sehr persönlich. ’More idols than realities / Oooh’, singt er das nicht auch?“

„Zunächst wollte ich ja Brentano zitieren, aus seinem ‚letzten Zweck aller Krüppelei’: ‚Ich halte dafür - Gott wollt ja gern schnitzeln - Ein Engel aus mir`. Aber Willy Wilke hat mir das ausgeredet. Er meinte, ich würde mir damit nur unnötig Feinde machen.

Willy Wilke hat mich auf den Bowie gebracht, weil er gerade ein Bühnenstück produziert. Du weißt, bei ihm handelt es sich um Günther Tent. Ich habe ihm nur ein schöner klingendes Pseudonym verpasst. Also, in dem Bühnenstück wird mit der Musik von „Scary Monsters“ gearbeitet. Angesiedelt wird das in den Kreisen von Investmentbankern.

Allein Silhouetten und Schatten kontrollieren noch die umfassende Revolution der Verhältnisse. ‚And it’s no game’. Irgendwie seltsam ähneln sich all die Dinge im Rausch der

Das Lächeln der Souveränität -280- geschwinden Überdrehtheit. Wir wollen alles und zwar jetzt. Und nach Möglichkeit noch mehr und immer schneller.“

"’Shut up, shut up’ verlangt Bowie dann. Er will die flotten Phrasen nicht mehr hören. All die Begriffe und Worte, die an die Stelle von Wirklichkeiten und Erfahrungen gesetzt werden. Die Begriffe sind eine eigene Schöpfung des Menschen. Worte und Gedanken führen sich im Kopf nun häufig auf wie die Affen, die durch den Wald rasen und von Baumwipfel zu Baumwipfel springen.“

Roshi Brigitte lächelt mich an. Sie ist eine faszinierende Frau und eindrucksvoll präsent.

„Verrätst Du mir, was Du und Gerd, ihr beide gemeinsam, mit diesem Christopherus zu tun hattet oder habt? Es stellt für mich großes Rätsel dar. Hattet Ihr etwa eine Brüderschaft gegründet?“

Ich muss verneinen. „Überhaupt nichts Geheimnisvolles ist daran. Du kennst dieses übergroße Gemälde in unserer Kirche hier. Wir sind gemeinsam darin konfirmiert worden.

Du weißt, ich habe mit Gerd lange Zeit intensive Gespräche geführt, über sein Leben, über unser Leben. Es ist der mörderische Dämon der Unbeständigkeit, der uns komplett durcheinandergewirbelt hat.

Wir haben längst vergangenen Ideen und Utopien angehangen. Wir hatten nichts Anderes. Wir haben mit denen Realität gespielt. Gerd hing an den Lehrschriften der Utopien. Man müsse nur konsequent sein, das war seine Meinung. Ich hingegen wusste beständig nicht so recht, auf was ich mich überhaupt hätte stützen können. Die Ideen rauschten flutartig durch den Kopf, eine nach der anderen, und wieder andere schossen zwischendurch hinein und schließlich strudelte alles auch noch zurück und dann wieder vor.

Mir war dieses Vertrauen in mich selbst schon sehr frühzeitig abhanden gekommen. Es schallt mir hinterher, dieses misstrauische „Junge, glaubst Du denn, Du kannst das?“. All diese schwankenden Gestalten, die waren nah bei mir, die wackligen Selbstverständnisse und Ideen. Sie waren mir nichts sonderlich Neues. Doch führte deren Zusammenbruch zum Ende von Gerd. Er kam nicht zur Ruhe, lief aufgeregt durch die Gegend und suchte seinen Kopf, den er glaubte, verloren zu haben.

Das Lächeln der Souveränität -281- Ich hingegen hatte ewig nicht dieses Vertrauen in mich selbst, hatte nicht diesen Kopf, vermisste ihn nicht. Mir der Ruhelosigkeit war ich groß geworden, war zeitig in die Hauslosigkeit gestoßen worden, fühlte mich der Welt ausgeliefert, als Spielball ihren Mächten preisgegeben.

Es handelte sich um eine übergreifende Gewalt, die mich in die Hauslosigkeit verstieß. Erst sehr spät gelang mir das Arrangement mit ihr. Von da an lief es entspannt. Ich konnte all die ewigen Veränderungen relativ ruhig und gelassen angehen. Ein inneres Auge begann sich mir zu öffnen.

Für Gerd hingegen war die Identifikationsfigur abgesoffen, die Identität flöten gegangen. Christopherus fortgetrieben vom unerbittlichen Strom. Er war weg, nicht mal ein leeres Loch erkennbar, in dem der abgetriebene Christopherus, sein Vorbild, als tot hätte erahnbar sein können.“

„Und wo hat sich Dir die Wahrheit offenbart?“ Brigitte bohrt.

„Ich habe einen anderen Weg eingeschlagen. Erinnerst Du Dich an mein früheres Höhlenleben? Du hast mich eines Tages dort besucht. Und Du wolltest mir gar den Christopherus auf die Raufasertapete malen. Da dachte ich mir, der Kerl kann dir gestohlen bleiben, keine Heiligkeiten. Aber wie er das mit seinem Stab macht, das ist klasse. Ich wollte ihn als Stütze durch die Untiefen des Lebens nutzen, als Haltepfosten gegen anschwellende, ergreifende Fluten und mörderische Strudel. Ich habe ihn mir als ein technisches Mittel zum Vorbild gewählt.

Ich habe mir einen Stab mit dem Namen ‚Hermann’ erkoren. Und der hat mich stützend begleitet, der hat mich zunächst aus meiner Höhle geführt, der hat mich sicher durch das Studium geleitet, hat mich mit Dieter bekannt gemacht. Er war in meiner Werberzeit letztendlich schläfrig geworden, bis die mir schließlich den Arschtritt verpassten.

Hermann hat als Person nie existiert. Es gab ihn allein in meiner Phantasie.“

„Es ist doch irgendwie phänomenal, wie nachhaltig das eigene Denken die Wahrnehmung der Realität beeinflusst, den Umgang mit ihr bestimmt. Wie Du Dein Leben auf die Fiktion ‚Hermann’ ausgerichtet hast.“

Das Lächeln der Souveränität -282- „Nachdem die mich in der Werbeagentur rausgeschmissen hatten, nachdem ich meine intensiven Gespräche mit Gerd begonnen hatte, da fiel mir wieder meine alte Stütze ‚Hermann’ ein. Sie half mir, meinen weiteren Weg zu finden, führte mich zur Gelassenheit. Nur meine Bemühungen um Gerd, die haben nichts bewirkt.

Je stärker ich seine Verbitterung realisierte, umso ruhiger wurde ich. So wollte ich keinesfalls werden. Und mir wurde klar, ich bräuchte den Hermann nicht länger. Ich konnte alleine gehen.

Er hatte sich allerdings verselbständigt in der Zwischenzeit. Ich musste ihn loswerden, umbringen oder so. Aber wie? Ich war tatsächlich verzweifelt. Bei einer Fahrt nach Korbach beschloss ich schließlich, dass er sich selbstmorden wird. Das durfte aber nie passieren nach dem Selbstverständnis, das ich ihm gegeben hatte.

Schlagartig begriff ich dann gestern endlich, dass er meine ureigenste geistige Schöpfung war. Die Wahrheit geht nicht aus Denkprozessen hervor. In welcher Verantwortung stehe ich denn schon meinen eigenen Hirngespinsten gegenüber? Es gibt keinen Grund, mich damit weiter zu beschäftigen. Das Rätsel ist gelöst.

Ich habe die Gelassenheit errungen. Ich bin zu mir gekommen, bin angekommen. Parasamgate.“

Brigitte schaut mich an: „Nicht dass Du Dich dort bequem und gemütlich einrichtest. Selbst der klar Erleuchtete ist hilflos. Der höchste Weg ist gar nicht schwierig, nur duldet er kein Wählen. Das heißt keinen Eigensinn und keine eigenen Ansprüche zur Geltung zu bringen. Dagegen steht die Klarheit. Ich selber weile nicht immer in der Klarheit. Willst Du an ihr festhalten?“

Das ist eine Frage.

Ich bestelle roten Wein für uns.

Zur Website bitte unten klicken: http://www.delvau.de/Das%20Laecheln%20der%20Souveraentitaet/Das%20Laecheln%20der%20Souveraenitaet.htm

Das Lächeln der Souveränität -283-

„Dies gesamte Universum ist wie Wasser. Es ist flüssig, ist flüchtig, wechselhaft. Und wenn du ins Wasser geworfen wirst, nachdem du dich an das Leben auf dem trockenen Land gewöhnt hattest, bist du mit Vorstellungen vom Schwimmen nicht vertraut. Du versuchst auf dem Wasser zu stehen, du versuchst einen Halt darin zu finden, und im Resultat bist du ersoffen. Der einzige Weg, um im Wasser zu überleben, und das bezieht sich besonders auf die Gewässer der modernen geistigen Konfusion … wo es wirklich nichts gibt, an dem man sich festhalten könnte, weil wir uns doch alle im freien Fall befinden. Und das Einzige, was man unter diesen Umständen tun kann, das ist zu schwimmen lernen. Um zu schwimmen, musst du entspannen, musst du loslassen und dich dem Wasser ergeben, und du musst wissen, wie du richtig zu atmen hast. Und dann findest du, dass dich das Wasser trägt. In der Tat, in einer bestimmten Weise wirst du zum Wasser.“

Aus: Lecture On Zen, by Alan Watts o. J. http://deoxy.org/w_lectur.htm

Eigene Übersetzung

Das Lächeln der Souveränität -284-