Historische Wandlungsprozesse Im Gewerkschaftlichen Fü Hrungspersonal*
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Ulrich Borsdorf Historische Wandlungsprozesse im gewerkschaftlichen Fü hrungspersonal* Ulrich Borsdorf, geboren 1944 in Jüterbog, studierte Geschichte, Sozialwissen- schaft und Germanistik in Freiburg und Bochum. 1974 bis 1978 war er wissen- schaftlicher Assistent im Fach Geschichte an der Universität Essen, seit Juli 1978 ist er Redakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte. Dem vielschichtigen Funktionswandel, wie ihn die Gewerkschaften seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts erlebt haben, entspricht ein Wandel in der Sozial- und Qualifikationsstruktur ihres Führungspersonals. Diesen Veränderungs- prozessen im Funktionärskorps auf die Spur zu kommen, ist allerdings nicht einfach. Wissenschaftlich abgesicherte Biografien von Gewerkschaftsführern sind noch sel- ten 1; der Gewerkschaftsführer produziert wenig biografisch Verwertbares. Selten gibt es umfangreiche Nachlässe, Briefwechsel, Tagebücher oder ähnliches, so daß Rückschlüsse auf Art und Gewichtung einzelner Sozialisationsfaktoren oder auch individuelle Motivationsstrukturen im Leben von Gewerkschaftern kaum möglich sind. Im Vergleich zu Funktionären und Politikern bürgerlichen Zuschnitts, selbst im Vergleich zu Funktionären der Arbeiterparteien sind die Gewerkschaftsführer auch autobiografisch wenig ergiebig 2. Bei Gewerkschaftsführern scheinen die Sprachlo- sigkeit ihrer Klasse und die traditionelle Sprachlosigkeit der Bürokratie zusammen- zufallen. Gewerkschaften verdanken ihren Wert und ihre Schlagkraft nicht genialen Individuen, sondern der Solidarität vieler. Die Individualität der Funktionäre, auch derer in höheren Positionen, geht auf im demokratisch legitimierten Prozeß der Or- ganisation. Gewerkschaftsführer bleiben unbekannte Wesen. Der Typ des Gewerkschaftsfunktionärs begegnet uns im Spektrum bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorurteile, die von links und von rechts oft politisch ausge- * Hierbei handelt es sich um die gekürzte Fassung meines Aufsatzes „Deutsche Gewerkschaftsführer — biografische Muster", in: Ulrich Borsdorf, Hans O. Hemmer, Gerhard Leminsky, Heinz Markmann (Hg.): Gewerkschaftliche Po- litik: Reform aus Solidarität. Zum 60. Geburtstag von Heinz O. Vetter, Köln 1977, S. 11-41. Dort finden sich in Form von Tabellen alle im folgenden verarbeiteten Angaben. 1 Einen Anfang hat gemacht: Gerhard Beier: Willi Richter. Ein Leben für die soziale Neuordnung. Köln 1978. 2 Vgl. Wolfgang Emmerich: Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1974 und 1975. Als „klassische" Autobiografie der Arbeiter- bewegung kann gelten: August Bebel: Aus meinem Leben, Teile 1-3, Stuttgart 1910-1914. Neuauflagen in Ost-Ber- lin 1961 ff. 602 DAS GEWERKSCHAFTLICHE FÜHRUNGSPERSONAL beutet wurden, als „Bonze". In der politischen und wissenschaftlichen Literatur hat es seit der Jahrhundertwende, seitdem die Gewerkschaftsapparate expandierten, zwar Bemühungen gegeben, diesem neuen Beruf gerecht zu werden. Doch scheinen positive wie negative Urteile, aus welchem Lager auch immer, gleichermaßen aus der Unkenntnis dessen gespeist zu sein, was gewerkschaftliche Tagesarbeit aus- machte und es auch bis heute noch ausmacht. So hat Max Weber von den Gewerk- schaften als dem „einzige(n) Hort idealistischer Arbeit und idealistischer Gesinnung in der sozialdemokratischen Partei" gesprochen 3. Robert Michels hat im Rahmen seiner Oligarchiethese den Gewerkschaftsfunktionären nicht nur Eitelkeit, Autori- tarismus und Korrumpierbarkeit, die sich als Folgen ihres sozialen Aufstiegs erga- ben, bescheinigt, sondern auch den Funktionswandel der Gewerkschaften auf der personellen Ebene als Entwicklung vom „Commis voyageur" (Handlungsreisen- den) der Ware Arbeitskraft zum „trockenen und phantasielosen Rechnungsrat" be- schrieben 4. Auch Rosa Luxemburg hat auf dem Höhepunkt der theoretischen Aus- einandersetzung zwischen SPD und Gewerkschaften, in der Massenstreikdebatte, „das Aufkommen eines regelrechten gewerkschaftlichen Beamtenstandes" als ein „historisch notwendiges Übel" bezeichnet 5. Theoretische Beiträge von Gewerk- schaftsführern bleiben in der deutschen Arbeiterbewegung eine Seltenheit. Die im Vergleich zur Parteiarbeit als weniger attraktiv beurteilte Sisyphusarbeit des Ge- werkschaftsfunktionärs brachte eine pragmatisch-optimistische Haltung hervor, die größere theoretische Zusammenhänge vernachlässigte und aus einer Überbewer- tung gewerkschaftlicher Tageserfolge heraus an die Allmacht der Organisation glaubte und die grundsätzliche Reformierbarkeit des Kapitalismus voraussetzte. Erst in der Weimarer Republik gewannen wissenschaftlich begründete Einsich- ten über die Gewerkschaftselite an empirischem Gehalt. Theodor Cassau erkannte aus einer Analyse der bis zur Mitte der zwanziger Jahre erkennbaren „Generatio- nen" von Gewerkschaftsführern, daß der alte autodidaktisch gebildete Führertyp allmählich von einem im partei- oder gewerkschaftseigenen Bildungswesen heran- gewachsenen „Gewerkschaftsbeamten" verdrängt worden war 6. In der sozialwis- senschaftlichen Eliteforschung der zweiten deutschen Republik kam der Gewerk- schaftsführer als Typ zunächst nicht vor. Erst als Otto Stammer den Begriff der „Funktionselite" geprägt und ihn in die Analyse demokratischer Strukturen von Herrschaft eingeführt hatte 7, wurden die Gewerkschaftsführer von der Forschung 3 Schriften des Vereins für Socialpolitik, 116. Bd.: Verhandlungen der Generalversammlung in Mannheim, 25., 26., 27. und 28. September 1905, Leipzig 1906, S. 217. 4 Robert Michels: Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligar- chischen Tendenzen des Gruppenlebens (Neudruck der 2. Auflage), Stuttgart 1970, S. 286. 5 Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin (Ost) 1972, S. 163. 6 Theodor Cassau: Das Führerproblem innerhalb der Gewerkschaften, Berlin 1925, und ders.: Die Gewerkschaftsbe- wegung. Ihre Soziologie und ihr Kampf. Halberstadt 2. Aufl. 1930, sowie Philipp Koller: Das Massen- und Führer- problem in den freien Gewerkschaften, Tübingen 1929. 7 Otto Stammer: Das Elitenproblem in der Demokratie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 71. Jg. (1951) H. 5, S. 1-28. 603 ULRICH BORSDORF wieder entdeckt. Neuere Daten über die „Sozialfigur" des Gewerkschaftsführers be- stätigen die Ausnahmestellung der Gewerkschaftsvorstände im Elitenspektrum der Bundesrepublik: Die Väter von Gewerkschaftsvorsitzenden sind immer noch Arbei- ter, und sie besitzen einen niedrigeren Ausbildungsabschluß als andere Gruppen, die in dieser Gesellschaft an den Schalthebeln von Macht und Einfluß sitzen. Ein gängi- ges Vorurteil, die Gewerkschafter seien auf dem Weg zur Professionalisierung, es gebe also eine spezielle Berufskarriere des Gewerkschaftsführers, wird in den Un- tersuchungen im wesentlichen widerlegt. Auch heute noch arbeitet der typische Ge- werkschaftsvorsitzende vor dem Beginn seiner hauptamtlichen Tätigkeit längere Zeit in seinem erlernten Beruf 8. Es soll im folgenden der Versuch gemacht werden, die Generationen deutscher Gewerkschaftsführer seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes in ihren Haupt- merkmalen zu skizzieren. Untersucht wurden für die Zeit vor 1933 die Dachver- bandsvorsitzenden der drei Gewerkschaftsrichtungen, die Generalkommission der deutschen Gewerkschaften und der Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerk- schaftsbundes. Für die Zeit nach 1949 ist der Geschäftsführende Bundesvorstand „Gegenstand" der Betrachtung 9. Die Generation der „Gründer" — geboren zwischen 1860 und 1875 Von proletarischer Herkunft dieser ersten Generation 9 der deutschen Gewerk- schaftsvorsitzenden kann man nur sehr bedingt sprechen; ein Industriearbeiter ist nicht unter den Vätern: Der Vater des Führers der Hirsch-Dunckerschen Gewerk- schaften, Gustav Hartmann (1861-1940?), war Schuhmachermeister, der von Carl Legien (1861-1920) Steueraufseher. Der christliche Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald (1874—1945) stammte aus einer Kleinbauernfamilie. Es sind auch nicht die Zentren der Industrialisierung, aus denen die späteren Vorsitzenden kommen, sondern es ist die agrarisch geprägte Kleinstadt; allein Hartmann wächst in der aufstrebenden schlesischen Industriestadt Görlitz heran. Das auffälligste Merkmal der christlichen und sozialistischen Gewerkschaftsführer ist der allen gemeinsame Beruf in der Holzverarbeitung: Legien und auch sein Nach- folger Theodor Leipart (1865-1947) sind Drechsler, Stegerwald ist Tischler. Das heißt, die deutschen Gewerkschaften sind bis zum Ende der Weimarer Republik von „Arbeiteraristokraten", in der Holzverarbeitung tätigen, hervorragend qualifizier- ten Handwerkern geführt worden. Alle haben eine achtjährige Schulausbildung und eine mehrjährige Lehre, z. T. mit anschließender Wanderschaft (Legien, Leipart) 8 Claus-Winfried Witjes: Gewerkschaftliche Führungsgruppen. Eine empirische Untersuchung zum Sozialprofil, zur Selektion und Zirkulation sowie zur Machtstellung westdeutscher Gewerkschaftsführungen, Berlin 1976,und Rein- hard Jühe: Soziale Herkunft und Aufstieg von Gewerkschaftsfunktionären (Beiträge zur Gesellschafts- und Bil- dungspolitik. Institut der deutschen Wirtschaft, Bd. 13) Köln 1977. 9 Für die Gewinnung der Daten wurden außer den gängigen biografischen Nachschlagewerken sämtliche Jahrbücher und Geschäftsberichte der gewerkschaftlichen Dachverbände seit 1892 benutzt. 604 DAS GEWERKSCHAFTLICHE FÜHRUNGSPERSONAL absolviert. Die beiden nichtsozialistischen Vertreter haben sich formal eine bessere