8-9/2005

Niedersachsen - vom Grenzland zum Land der Mitte von Peter Hoffmann

Flüchtlinge in Niedersachsen von Dr. Dieter Brosius

Sonderdruck zum Jubiläum 100 Jahre Niedersächsischer Heimatbund e.V. in Hannover am 7./8. Oktober 2005 Grußwort

zum Jubiläum 100 Jahre Niedersächsischer Heimatbund

Der Niedersächsische Heimatbund feiert am 7./8. Oktober 2005 sein 100jähriges Jubiläum. Zu diesem Geburtstag gratulieren der Niedersächsische Städtetag und die in ihm zusammengeschlossenen 131 Städte, Gemeinden und Samtgemeinden recht herzlich. Der Niedersächsische Heimatbund hat in den 100 Jahren intensiv das Heimatbewusstsein der Menschen gefördert. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche Aktionen durchgeführt, die sich mit der vielfältigen Geschichte und dem kulturellen und landschaftlichen Reichtum unseres Landes befassen. Beispielhaft zu erwähnen sind die Veranstaltungen, die von den Fachgruppen des Niedersächsischen Heimatbundes auf allen Gebieten der Geschichte, Kultur und Landschaft durchgeführt wurden. Bundesweite Anerkennung hat die „Rote Mappe“ des Niedersächsischen Heimatbundes gefunden. Unter intensiver Mitarbeit der Mitglieder, aber auch der Bürgerinnen und Bürger, beschreibt die „Rote Mappe“ kritisch, aber auch wohlwollend die Entwicklung der Heimatpflege in Niedersachsen. Mit dieser Veröffentlichung hat der Niedersächsische Heimatbund in besonderer Weise die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Bedeutung der Heimat gerade in der modernen Welt gerichtet. Es ist eine gute Tradition, dass die „Rote Mappe“ auf der Festversammlung des Niedersachsentages vom Präsidenten des Niedersächsischen Heimatbundes dem Ministerpräsidenten überreicht wird. Auch die Städte, Gemeinden und Samtgemeinden, von denen viele Mitglieder im Niedersächsischen Heimatbund sind, benutzen die „Rote Mappe“ als ideenreiche Zusammenstellung von Initiativen, die, trotz vieler kritischer Anmerkungen, auch der örtlichen Selbstverwaltung dienen.

Wegen der Bedeutung der Geschichte unseres Landes für die Entwicklung eines eigenen Landesbewusstseins hat der Niedersächsische Städtetag bereits zum 84. Niedersachsentag des Niedersächsischen Heimatbundes in Duderstadt einen Sonderdruck veröffentlicht, in dem ein Kenner der niedersächsischen Geschichte, Prof. Dr. Hans-Heinrich Seedorf, unter dem Titel „Niedersachsen vom Bardengau zum Bundesland“ die Geschichte Niedersachsens bis zum Jahr 1945 anschaulich beschrieben hat. Zum 100jährigen Jubiläum überreicht der Niedersächsische Städtetag als Anerkennung der Arbeit des Niedersächsischen Heimatbundes einen weiteren Sonderdruck, in dem Peter Hoffmann die Geschichte Niedersachsens vom Jahr 1945 bis zur Gegenwart beschreibt. Da Niedersachsen außerdem in der Kriegs- und Nachkriegszeit ca. 3 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene zumindest vorübergehend aufgenommen hat, ist in dieser Veröffentlichung auch der am 7. April 2005 zum “Tag der Landesgeschichte” im Niedersächsischen Landtag gehaltene Vortrag von Dr. Dieter Brosius enthalten, in dem der Autor die vielfältigen Probleme beschreibt, die mit der Aufnahme und Integration dieser Menschen verbunden waren. Dieser Sonderdruck des Niedersächsischen Städtetages wird in einer Auflage von 1.000 Exemplaren veröffentlicht und soll das Geschenk unseres Verbandes zum 100jährigen Geburtstag sein. Außerdem sind die Beiträge dieses Sonderheftes sowie der Aufsatz von Prof. Dr. Hans-Heinrich Seedorf ab 9. Oktober 2005 im Internet unter www.nst.de veröffentlicht. Alle im Rahmen der Reihe “Landesgeschichte im Landtag” gehaltenen Vorträge finden Sie im Übrigen unter “www.landtag-niedersachsen.de”. Damit erhalten alle Bürgerinnen und Bürger unseres schönen Bundeslandes die Möglichkeit, sich über unsere Geschichte und die Vielfalt des Landes zu informieren. Zugleich wollen wir damit insbesondere den Schulen, aber auch anderen Bildungseinrichtungen, die Möglichkeit eröffnen, Informationen über die Geschichte unseres schönen Landes zu erhalten.

Martin Biermann Dr. Wolfgang Schrödter Präsident Hauptgeschäftsführer Sonderdruck „100 JahreSCHULE, Niedersä cKULTURhsischer UNDHeim aSPORTtbund“

Niedersachsen – vom Grenzland zum Land in der Mitte von Peter Hoffmann1

Zwei Generationen misst die Zeit, die Beachtung. Doch Gestapo und SS britische Militärverwaltung mit der amt- seit dem Ende des Zweiten Weltkrie- mordeten mancherorts weiter. So wur- lichen Bezeichnung „Militärregierung ges vergangen ist. Für die noch leben- den u.a. am Anfang April auf dem Deutschland - Britisches Kontrollge- den Zeitzeugen sind die letzten Kriegs- Seelhorster Friedhof in Hannover 154 biet“, die nach der Kapitulation der tage und die ersten Nachkriegsjahre russische Kriegsgefangene erschos- Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 erlebte - meistens leidvolle - Geschich- sen und bei Soltau 269 politische KZ- für das nordwestdeutsche Besat- te, für die Mehrzahl der Nachgebore- Häftlinge auf einem Transport nach zungsgebiet zuständig war, stellte vor- nen bereits ferne Vergangenheit, die Bergen-Belsen erschlagen. Leiden übergehend die früheren Länder Ol- gelegentlich in Erzählungen von Eltern musste auch die Bevölkerung von Uel- denburg, und Schaum- und Großeltern oder an Gedenktagen zen, das von Wehrmachts- und SS-Ein- burg-Lippe wieder her. in Erinnerung gerufen und damit parti- heiten gegen britische Truppen erbit- Schaumburg-Lippe gliederte die Mili- ell nacherlebbar wird. Für die Men- tert verteidigt wurde, die ihrerseits die tärregierung zunächst dem Bereich der schen zwischen Ems und Elbe, zwi- Stadt mit starkem Artilleriefeuer beleg- Region Westfalen ihrer Besatzungszo- schen Nordsee und Harz brachte der ten. Dabei wurden von den fast 4500 ne ein. Die Schaumburg-Lipper sahen 8. Mai 1945 nicht nur den Neuaufbau Wohnungen 644 total zerstört, 470 sich jedoch historisch mehr Hannover in Demokratie und Humanität, sondern stark und weitere 2700 leicht beschä- als Westfalen verbunden. Deshalb un- auch eine neue territoriale Ordnung, digt. terstellte die britische Militärregierung das Land Niedersachsen. Das Ende der Kampfhandlungen auf am 15. Mai 1946 das Land Schaum- Die letzten Tage des Krieges in niedersächsischem Boden kam burg-Lippe der Aufsicht des Oberprä- Niedersachsen schließlich mit der Teilkapitulation sidenten von Hannover, soweit dieser sämtlicher deutscher Streitkräfte in den damals zentrale Reichsaufgaben wahr- Anfang April 1945 erreichten erste alli- Niederlanden und in Norddeutschland nahm. Den Status eines selbständi- ierte Truppen niedersächsisches Terri- am 4. Mai 1945 im Zeltlager des briti- gen Landes behielt Schaumburg-Lip- torium. Ihr operatives Konzept sah vor, schen Feldmarschalls Sir Bernard pe jedoch weiterhin. Die ehemalige das Land in drei Stoßrichtungen zu er- Montgomery in der Gemeinde Häck- preußische Provinz Hannover blieb obern. Während die 1. Kanadische Ar- lingen bei Lüneburg. Diese auf Zeitge- zunächst erhalten. An ihre Spitze wur- mee mit Unterstützung durch eine pol- winn zur Rückführung des Flüchtlings- de am 18. September 1945 Hinrich nische Panzerdivision nach Ostfries- stroms aus dem Osten angelegte poli- Wilhelm Kopf als Oberpräsident be- land vorrückte, stieß die 2. britische tische und militärische Initiative ging rufen. Armee im Zentrum nach Nordosten vor. der bedingungslosen Gesamtkapitu- Teile dieser Armee besetzten Olden- Im Herbst 1945 rief die Besatzungs- lation der Deutschen Wehrmacht, die burg, während weitere Kräfte in Rich- macht den Gebietsrat Niedersachsen am 9. Mai in Kraft trat, voraus. tung Lüneburg rollten. Im südlichen ins Leben. Er sollte der Zusammenar- Abschnitt nahm die 9. US-Armee Han- Der Krieg forderte den Niedersachsen beit und Abstimmung des Verwal- nover, Hildesheim und Braunschweig schwere Opfer ab. Nahezu 300.000 tungshandelns in den staatlichen Ge- ein, um sich dann in Richtung Harz zu Soldaten waren gefallen, die Zahl der bietskörperschaften dienen. An ihn er- wenden. Dabei leisteten die schwa- zivilen Bombenopfer sowie der ermor- ging auch die Aufforderung der briti- chen deutschen Truppenteile ange- deten Juden betrug ca. 350.000. Dazu schen Militärregierung, Vorschläge zur sichts der Übermacht der Alliierten kamen die Zehntausende Menschen, Neugliederung der britischen Besat- kaum Widerstand und ergaben sich die in Konzentrationslagern auf dem zungszone zu erarbeiten. Gleichzeitig oftmals kampflos. Gebiet Niedersachsens um Leben ge- waren in großer Zahl Verwaltungsbe- kommen waren. Neben den vielen To- amte vom Bürgermeister bis zum Ober- In dieser Phase fanden auch letzte ten zählte man mit Ende des Krieges präsidenten hinauf als allein ausführen- Durchhalteparolen von nationalsozia- in Niedersachsen rund 175.000 unbe- de Organe ohne eigene Entschei- listischen Parteifunktionären, wie z.B. wohnbar gewordene Wohnungen - in dungskompetenz ernannt worden. Die die des Gauleiters von Südhannover- Wilhelmshaven 58,4 Prozent, in Emden Demokratie sollte von unten, in den Braunschweig, Hartmann Lauterba- 50 Prozent, in Hannover 47,5 Prozent, Kommunen beginnen, und so fanden cher, bis auf wenige Ausnahmen kaum in Hildesheim 40,7 Prozent, in Braun- im September und Oktober 1946 die schweig 34,6 Prozent und in Osna- ersten Kommunalwahlen statt. Vorher 1 Dipl.-Soz. Peter Hoffmann, geboren 1943 in Landau/Pfalz, 1962 Abitur in Holzminden, Zeit- brück 28,7 Prozent aller Wohnungen. war nach britischem Vorbild die zwei- gleisige kommunale Leitung - d.h. die soldat, Studium der Soziologie, Volkswirtschaft Neuordnung der Länder in der und Neueren Geschichte in Hamburg und Ber- Trennung in eine hauptamtliche Verwal- britischen Besatzungszone lin, 1969 Diplom, Wissenschaftlicher Mitarbei- tungsleitung (Gemeindedirektor) und ter der Konrad-Adenauer-Stiftung, 1971 - 2004 Referent und Referatsleiter in der Niedersäch- Für die Verwaltungsstruktur brachte eine ehrenamtliche Ratsrepräsentation sischen Landeszentrale für politische Bildung. das Kriegsende einen Neubeginn. Die (Bürgermeister) - eingeführt worden. 189

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Am 23. August 1946 wurde mit der Verordnung Nr. 46 der britischen Mili- tärregierung aus der preußischen Pro- der „rote Welfe“, Vater des Landes Niedersachsen vinz Hannover das Land Hannover ge- und Landesvater zugleich, schaffen. Dies verkündete der stellver- geb. 1893 in Neuenkirchen bei Otterndorf tretende Oberbefehlshaber der briti- schen Besatzungszone im Neuen Rat- nach dem Studium der Rechtswissenschaften am haus in Hannover den zuvor ernann- OLG Celle, dann in Hamburg ten Mitgliedern des Hannoverschen 1921 Regierungsrat zunächst im Preußischen, dann Landtages: „Wir sind der Meinung, im Thüringischen dass die Zeit nunmehr gekommen ist, Innenministerium nicht mehr von der Provinz Hannover 1923 - 1928 Tätigkeit als Bank- und Versicherungs- zu sprechen, sondern ihrer Verwaltung kaufmann den Namen und die staatsrechtliche 1928 - 1932 Landrat des Kreises Land Hadeln Stellung eines Landes zu geben.“ Zum 1932 - 1934 Tätigkeit beim Regierungspräsidenten von Oppeln ersten Ministerpräsidenten wurde der bisherige Oberpräsident Hinrich Wil- 1934 Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst helm Kopf 2 ernannt. 1934 - 1943 Tätigkeit als Immobilien- und Finanzmakler in Berlin und Oberschlesien Am 1. März 1946 hatten sich bereits die zonalen Länderchefs für die Zu- 1943 - 1945 Bewirtschaftung eines Rittergutes in Oberschlesien sammenfassung wirtschaftlich-geo- 1945 nach der Flucht Ernennung zum Regierungspräsidenten, dann zum graphisch-stammesmäßig einheitlicher Oberpräsidenten in Hannover Gebiete zu leistungsfähigen Ländern 1946 Ministerpräsident des Landes Hannover ausgesprochen, doch zu einem ge- 1946 - 1955 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen meinsamen Konzept der Neugliede- rung fanden sie nicht. Deshalb erteilte seit 1946 Mitglied des Landtages (SPD) die britische Militärregierung am 4. Juli 1957 - 1959 Innenminister des Landes Niedersachsen 1946 dem Zonenbeirat - einem Bera- 1959 - 1961 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen tungsorgan der britischen Militärregie- gest. 1961 rung zur Koordinierung der Politik der Landesregierungen ohne gesetzgebe- rische Befugnisse - den Auftrag, ei- sich Brüning für ein Wirtschaftsgebiet neue Land Niedersachsen als einheit- nen Sonderausschuss zur Neugliede- Niedersachsen aus, das die preußische lichen Natur- und Wirtschaftsraum zu rung der britischen Zone zu bilden. Ihm Provinz Hannover, Teile der Provinz begreifen und die Gelegenheit zu er- gehörten Vertreter aller politischen Par- Westfalen, den zu Hessen-Nassau ge- greifen, die veralteten und nur aus his- teien, der Gewerkschaften, sämtlicher hörenden Kreis Grafschaft Schaum- torisch-dynastischen Gründen ent- Länder der britischen Zone, Fachleute burg, einige zur Provinz Sachsen ge- standenen innerdeutschen Grenzen des Verkehrs und der Wirtschaft, Sach- hörende Exklaven (u.a. das heutige und Verwaltungsgliederungen zwi- verständige der Justiz und der Kultur- Wolfsburg), die Freistaaten Oldenburg, schen den vormaligen preußischen und Kirchenangelegenheiten an. Braunschweig, Lippe (Detmold) und Provinzen Hannover und Westfalen Schaumburg-Lippe, die Freie Hanse- zugunsten einer naturräumlich orien- Konzeption für den Natur- und stadt Bremen und das zur Freien und tierten und wirtschaftlich vernünftigen Wirtschaftsraum eines Landes Hansestadt Hamburg gehörende Ge- und zeitgemäßen Lösung zu überwin- Niedersachsen biet um Cuxhaven umfassen sollte. den. In mehreren Sitzungen erörterte dieser Er begründete dies damit, dass „die Es gelang Kopf, den Zonenbeirat mehr- Sonderausschuss eine Reihe von Vor- politische Zerrissenheit Niedersach- heitlich von seiner Konzeption zu über- schlägen. Während die Ministerpräsi- sens nicht das Ergebnis natürlicher, zeugen, die eine Dreiteilung der briti- denten von Braunschweig und Olden- stammesmäßiger, wirtschaftlicher oder schen Zone in drei Flächenstaaten burg ihre Länder erhalten wissen woll- kulturgeschichtlicher Gegebenheiten (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen ten, trat der hannoversche Ministerprä- sei, sondern als Überbleibsel einer und Schleswig-Holstein) vorsah, dazu sident Hinrich Wilhelm Kopf für die durch viele Zufälligkeiten beeinflussten zwei Stadtstaaten (Bremen und Ham- Schaffung eines Landes Niedersach- dynastisch-territorialen Entwicklungs- burg). Am 20. September 1946 nahm sen ein. geschichte anzusehen“ sei. Im Einzel- der Beirat aus fünf Vorschlägen des Er griff die Empfehlungen auf, die der nen wies er nach, welche nachteiligen Sonderausschusses den Vorschlag Geograph Kurt Brüning im Jahr 1929 Auswirkungen die territoriale Zersplit- Kopfs mit zwei Drittel seiner Stimmen im Auftrag des hannoverschen Pro- terung Niedersachsens auf Wirtschaft, an, und auch General Sir Brian H. vinziallandtages in einer Denkschrift Verkehr und Verwaltung gebracht hat- Robertson, der britische Militärgou- unter dem Titel „Niedersachsen im ten. verneur, stimmte diesem Vorschlag von Rahmen der Neugliederung des Rei- Gemäß den Vorschlägen Brünings Kopf zu. ches“ vorgelegt hatte. Darin sprach steckte Kopf die Grenzen eines künfti- Die territoriale Zuordnung Lippe-Det- 2 Informationen über Hinrich Wilhelm Kopf im gen Landes Niedersachsen ab. Die molds und der westfälischen Gebiete 190 Internet unter www.niedersachsen.de. Grundidee seines Vorschlags war, das um Minden, Bielefeld und Tecklenburg

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sollte später in einer Volksabstimmung Ein Teil der Bevölkerung bedauert zwar jedoch über Uelzen und Helmstedt ins geklärt werden. Zu dieser kam es je- den Verlust alter Selbstständigkeiten. Land kamen. Dabei ergaben sich be- doch nicht, da am 23. August 1946 aus Es wird aber, davon sind wir überzeugt, züglich der Ansiedlung starke Un- dem nördlichen Teil der ehemaligen bald die Richtigkeit der getroffenen gleichgewichte mit einem sehr deutli- preußischen Rheinprovinz und der Entscheidungen erkennen. Das Zu- chen Ost-West-Gefälle von den grenz- preußischen Provinz Westfalen das sammenwachsen aller Teile unseres nahen Regierungsbezirken und Kreisen Land Nordrhein-Westfalen gebildet Landes wird schnell und reibungslos zu den mittleren und westlichen. So worden war, dem am 21. Januar 1947 vonstatten gehen.“ stellten die Flüchtlinge und Vertriebe- das Land Lippe-Detmold eingegliedert nen im Regierungsbezirk Lüneburg die Integration von 2,5 Millionen wurde. Hälfte, in den Regierungsbezirken Os- Flüchtlingen Gründung des Landes nabrück und Aurich jedoch nur ein Vier- Niedersachsen Gut vier Monate nach Gründung des tel der einheimischen Bevölkerung. Landes Niedersachsen wurde am 20. Dabei trafen sie oftmals auf eine Be- Die Verordnung Nr. 55 der „Militärre- April 1947 der erste niedersächsische völkerung, die mangels Erfahrung mit gierung Deutschland (Britisches Kon- Landtag gewählt. Bei einer Wahlbetei- sich wandelnden Arbeitsverhältnissen trollgebiet)“ vom 8. November 1946, ligung von 65 Prozent erhielt die SPD, und sozialer Fluktuation nur wenig Ver- die gemäß ihrem Artikel VIII rückwir- die Partei des „Landesvaters“ und des ständnis für die „Neubürger“ zeigte. kend zum 1. November 1946 in Kraft „Vaters des Landes“ Hinrich Wilhelm Andererseits hatten von den Flüchtlin- trat, vereinigte die nunmehr ihrer Kopf, mit 43,4 Prozent die meisten gen diejenigen im ländlichen Raum Selbstständigkeit entkleideten Länder Wählerstimmen. Integrationsprobleme, die nicht platt- Braunschweig, Hannover, Oldenburg deutsch verstanden, geschweige denn Zu den politischen Hauptaufgaben der und Schaumburg-Lippe zu dem neu- sprachen. en Land mit dem Namen „Niedersach- ersten Landesregierungen unter Hin- sen“. Damit war der insbesondere von rich Wilhelm Kopf (1946-1955) gehör- Besonderen Konfliktstoff barg die Woh- Oldenburg ausgehende Widerstand ten die Schaffung eines erträglichen nungsnot. Wo vor dem Krieg jede Woh- gegen ein „Groß-Niedersachsen“ er- Verhältnisses zur Besatzungsmacht nung im Durchschnitt mit knapp vier folglos geblieben. Am 23. November und zu den Besatzungstruppen, Besei- Personen belegt gewesen war, da bestätigte der Gebietsbeauftragte der tigung der Kriegs-, insbesondere der drängten sich 1948 - im Jahr der Wäh- britischen Militärregierung die Ernen- Bombenschäden, Aufnahme der zahl- rungsreform - sechs Personen in jeder nung Hinrich Wilhelm Kopfs zum Minis- reichen Vertriebenen und Flüchtlinge Wohnung. Für dringend benötigte In- terpräsidenten des Landes Nieder- und deren Eingliederung in die heimi- standsetzungen und Neubauten fehlte sachsen und genehmigte die Ernen- sche Bevölkerung. Diese Aufgabe war es zunächst an Baumaterialien und Bau- nung der von diesem vorgeschlagenen vorrangig, da ca. 2,5 Millionen Flücht- genehmigungen. Erst im Jahr 1947 bes- acht Persönlichkeiten zu niedersäch- linge und Vertriebene nach Nieder- serte sich die Lage in der Bauwirtschaft, sischen Staatsministern. Noch am glei- sachsen strömten, von denen viele von obwohl die Beseitigung der Flüchtlings- chen Tag gab Ministerpräsidenten Kopf Südosten über das bald weltbekannte und Wohnungsnot noch lange ein vor- den Erlass über die „Bildung des Lan- Flüchtlingslager Friedland, die meisten rangige öffentliche Aufgabe blieb. des Niedersachsen - Aufbau der Nie- dersächsischen Staatsregierung“ her- Landesregierungen und Ministerpräsidenten aus. In diesem Erlass wurde u.a. be- stimmt: „Mit der Bildung der Nieder- Regierungsbildung Regierungspartei(-en) Ministerpräsident sächsischen Staatsregierung sind die 1946 (ernannt) SPD/CDU/NLP/FDP/KPD Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) Hannoversche Staatsregierung, das 1947 (Landtagswahl) SPD/CDU/DP/KPD/FDP Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) Oldenburgische Staatsministerium, 1948 SPD/CDU/DZP Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) das Staatsministerium in Braun- 1951 (Landtagswahl) SPD/BHE/DZP Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) schweig sowie die Schaumburg- 1955 (Landtagswahl) DP/CDU/FDP/GB-BHE (DP) 1957 DP/CDU/SPD Heinrich Hellwege (DP) Lippesche Landesregierung aufge- 1959 (Landtagswahl) SPD/FDP/GB-BHE Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) löst.“ Damit wurde der 23. November 1961 SPD/FDP/GB-BHE (SPD) 1946 zum offiziellen Gründungstag des 1963 (Landtagswahl) SPD/FDP Georg Diederichs (SPD) Landes. 1965 SPD/CDU Georg Diederichs (SPD) 1967 (Landtagswahl) SPD/CDU Georg Diederichs (SPD) In seiner ersten Regierungserklärung 1970 (Landtagswahl) SPD (SPD) vor dem am 9. Dezember 1946 erst- 1974 (Landtagswahl) SPD/FDP Alfred Kubel (SPD) mals in Hannover zusammengetrete- 1976 CDU Ernst Albrecht (CDU) nen Ernannten Niedersächsischen 1976 CDU/FDP Ernst Albrecht (CDU) Landtag fasste Ministerpräsident Kopf 1978 (Landtagswahl) CDU Ernst Albrecht (CDU) das „niedersächsisches Konzept“ 1982 (Landtagswahl) CDU Ernst Albrecht (CDU) Brünings noch einmal zusammen: „Das 1986 (Landtagswahl) CDU/FDP Ernst Albrecht (CDU) Land ist kein künstliches Gebilde, son- 1990 (Landtagswahl) SPD/Grüne Gerhard Schröder (SPD) 1994 (Landtagswahl) SPD Gerhard Schröder (SPD) dern durch die Stammesart seiner Be- 1998 (Landtagswahl) SPD Gerhard Schröder (SPD) wohner, durch seine gleichartige Struk- 1998 SPD (SPD) tur, Tradition und wirtschaftliche Ge- 1999 SPD (SPD) schlossenheit ein organisch gewach- 2003 (Landtagswahl) CDU/FDP (CDU) senes zusammenhängendes Ganzes. 191

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Denn die Einwohnerzahl stieg trotz al- der Bevölkerung bei 1000 Kalorien und der SED-Führung in Ost-Berlin ler Kriegsverluste von 4,5 Millionen weniger pro Person und Tag immer „Staatsgrenze West der DDR“ genannt. (Vorkriegsstand) bis 1950 auf fast 7 katastrophaler. Andererseits war die So wurden in einem 40 km breiten Millionen. So kam auf je zwei Alt-An- Bodenreform aus politisch-sozialen Streifen 26 Prozent der gesamten nie- sässige eine weitere Person aus dem Gründen nicht unbedingt dringlich, da dersächsischen Landesfläche „Zonen- „Osten“, die in die kleinere oder grö- der private Großgrundbesitz im Rau- randgebiet“, in dem 32 Prozent der ßere Gemeinschaft des Dorfes, des me Niedersachsen keine herausragen- Bevölkerung des Landes wohnten. Kreises und des Staates eingegliedert de wirtschaftliche Bedeutung besaß. werden musste. Die Einwohnerdichte Auf die Folgen der Teilung hatte bereits Erst als die britische Militärregierung wuchs von 96 (1939) auf 145 Perso- Ministerpräsident Kopf in seiner ersten drohte, die Bodenreform durch ein ei- nen pro km2 im Jahr 1948. Hinzu kam Regierungserklärung am 9. Dezember genes Gesetz zu regeln, erließ die Lan- eine tiefgreifende Umschichtung der 1946 hingewiesen, als er sein politi- desregierung schließlich am 22. No- Bevölkerung, sowohl in der altersmä- sches Ziel bekräftigte, den Anspruch vember 1949 eine Verordnung, nach ßigen Zusammensetzung als auch in auf niedersächsische Gebiete rechts der es möglich war, Grundbesitz über der Geschlechterverteilung. Gleichzei- der Elbe, die durch die Grenzziehung 100 ha bei Bedarf zu Siedlungszwe- tig setzte eine starke Binnenwanderung zwischen der britischen und russischen cken zu enteignen. Allerdings wurde in Niedersachsen ein, weil sehr viele Zone abgetrennt worden waren, auf- nach 1950 von dieser Verordnung kein Menschen an neuen Orten bessere rechtzuerhalten: „Wir denken aber Gebrauch gemacht, da genügend Öd- Wohn- und Arbeitsbedingungen, auch an jene Landstriche, die zzt. land zu Verfügung stand, um Flücht- Schul- und Lebensmöglichkeiten so- durch die Zonengrenzen von uns ge- lingen und Vertriebenen die Möglich- wie Verwandte, Freunde, Landsleute trennt sind. Wir fordern, mit ihnen im keit zur Unterbringung zu geben. Au- und Berufskollegen suchten. Verbande unseres Landes einmal wie- ßerdem schuf der wirtschaftliche Auf- der vereinigt zu werden. Den Bewoh- Arbeitsmarkt, Strukturwandel und schwung zunehmend Arbeitsplätze in nern dieser Landesteile entbieten wir Bodenreform der Industrie und bewegte immer mehr unsere Grüße.“ Flüchtlinge, in die Städte zu ziehen. Erschwert wurde die Arbeitsmarktlage Vier Jahre später kamen die Grenzlän- durch Demontagen von Industrieanla- Das alte „Bauernland Niedersachsen“ der Schleswig-Holstein, Niedersach- gen, so vor allem in Wilhelmshaven und begann allmählich zu einem Industrie- sen, Hessen und Bayern in einer Denk- Salzgitter. Dadurch stieg die Zahl der land mit einer landsmannschaftlichen schrift zu einer dramatischen Bewer- Arbeitslosen, deren Quote infolge des Mischbevölkerung zu werden. Für die tung der wirtschaftlichen und sozialen durch die Währungsreform vom 21. Landwirtschaft zogen durch diesen Auswirkungen der Teilung: „Die Erfah- Juni 1948 bedingten Kapitalmangels Strukturwandel schwierige Krisenjah- rung, dass Grenzziehungen die Gefahr bis zum Februar 1950 auf 22 Prozent re herauf. Da die Vertriebenen und einer Verödung der betroffenen Grenz- wuchs, unter ihnen ca. 40 Prozent Flüchtlinge zunehmend den ländlichen gebiete mit sich bringen, bestätigt sich Flüchtlinge. Dagegen besserte sich Raum verließen, gingen dort die „billi- an dieser neuen Ostgrenze. Am deut- nach der Währungsreform die bis da- gen“ Arbeitskräfte verloren, obwohl lichsten zeigen diese die Aufstellungen hin prekäre Ernährungslage sowie die noch 1960 ca. 20 Prozent (Bundes- über die Arbeitslosigkeit, nach welchen Versorgung mit Brennstoff. durchschnitt 14 Prozent) und 1969 14 mehr als zwei Drittel der Arbeitslosen Da von den Vertriebenen und Flücht- Prozent (Bundesdurchschnitt 10 Pro- der Bundesrepublik auf die Grenzlän- linge fast ein Drittel aus der Landwirt- zent) der Erwerbspersonen in Nieder- der entlang des ‚Eisernen Vorhanges‘ schaft kam und deshalb in ihr auch ei- sachsen in der Landwirtschaft be- entfallen. Diese Grenzländer sind zu nen neuen Anfang suchte, stellte sich schäftigt waren. Der wachsende Ar- einer wirksamen Eigenhilfe um so we- den Politikern die wichtige Frage der beitskräftemangel zwang die Bauern niger imstande, als sie zugleich die Bodenreform. So kennzeichneten har- zur Mechanisierung ihrer Betriebe, und Hauptflüchtlingsländer sind, in denen te politische Kontroversen um die Bo- so stieg die Zahl der Traktoren von ca. die Masse der Heimatvertriebenen ver- denreform die Arbeit des ersten Nie- 14.000 im Jahr 1948 auf fast 125.000 blieben ist.“ dersächsischen Landtages, die jedoch im Jahr 1961. lange kein Ergebnis brachten. Die Lan- Erst als der Bund ab 1954 erhebliche Folgen der Grenzziehung im Gelder zur Verfügung stellte, wurde ein desregierung ihrerseits wich ebenfalls Zonengrenzgebiet so lange wie möglich einer definitiven besonderes Zonenrandprogramm ent- Entscheidung dieser Kernfrage aus. Eine weitere schwere Last für das jun- wickelt, das allmählich die Verkehrsver- Denn einerseits drohten aus wirtschaft- ge Land Niedersachsen bedeutet von hältnisse, die Wasserversorgung, die lichen Gründen Eingriffe in die Struk- den Tagen seiner Gründung an seine Berufsausbildung, die Land- und Forst- tur der Landwirtschaft zu einer gefähr- Grenzlage gegenüber dem Osten. Dort wirtschaft sowie die industrielle und lichen Verringerung der Ernteerträge zu entwickelte sich zwischen Niedersach- gewerbliche Struktur verbesserte. führen, zumal die erste Nachkriegs- sen und Mecklenburg, Brandenburg, Vorläufige Niedersächsische ernte nur bei ca. 70 Prozent des Vor- Sachsen-Anhalt und Thüringen auf ei- Verfassung und politische Parteien kriegsdurchschnitts lag und der Vieh- ner Länge von 550 km die zunächst als bestand erheblich gesunken war. Ob- vorübergehend eingestufte Zonen- Am 1. Mai 1951 verabschiedete der wohl die Landwirte bis zur Währungs- grenze immer mehr zu dem die Bevöl- Landtag die Vorläufige Niedersächsi- reform 20 bis 25 Prozent ihrer Erzeug- kerung trennenden sowie durch Sperr- sche Verfassung. Die weitgehende nisse auf den „Schwarzen Markt“ anlagen unüberwindlichen und Tod Übereinstimmung zwischen den Par- 192 brachten, wurde die Ernährungslage bringenden „Eisernen Vorhang“, von teien spiegelt das Abstimmungsergeb-

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nis wider: Von den 138 anwesenden Abgeordneten stimmten 107 mit Ja, 28 Landtagswahlen in Niedersachsen mit Nein und drei enthielten sich der SPD CDU DP FDP BHE Die Grünen Sonstige* Stimme. Mit der Bezeichnung „vorläu- 1947 43,4 % 19,9 % 17,9 % 8,8 % 10,0 %2 fig“ dokumentierten die Parteien den 1951 33,7 % 23,8 %1 8,4 % 14,9 % 19,2 %3 Anspruch auf Wiedervereinigung. 1955 35,2 % 26,6 % 12,4 % 7,9 % 11,0 % 6,9 %4 Auf die Vorgeschichte des Landes ver- 1959 39,5 % 30,8 % 12,4 % 5,2 % 8,3 % 3,8 %5 weist der Artikel 56 der vorläufigen 1963 44,9 % 37,7 % 2,7 % 8,8 % 3,7 % 2,2 %6 Landesverfassung. 1967 43,1 % 41,7 % 6,9 % 8,3 %7 1970 46,3 % 45,7 % 4,4 % 3,6 %8 „Die kulturellen und historischen Be- 1974 43,1 % 48,8 % 7,0 % 1,1 % lange der ehemaligen Länder Hanno- 1978 42,2 % 48,7 % 4,2 % 4,9 %9 ver, Oldenburg, Braunschweig und 1982 36,5 % 50,7 % 5,9 % 6,5 % 0,4 % Schaumburg-Lippe sind durch Gesetz- 1986 42,1 % 44,3 % 6,0 % 7,1 % 0,5 % gebung und Verwaltung zu wahren und 1990 44,2 % 42,0 % 6,0 % 5,5 % 2,3 %10 zu fördern. Die überkommenen heimat- 1994 44,3 % 36,4 % 4,4 % 7,4 % 7,5 %11 gebundenen Einrichtungen dieser Län- 1998 47,9 % 35,9 % 4,9 % 7,0 % 4,3 %12 der sind weiterhin dem heimatlichen 2003 33,4 % 48,3 % 8,1 % 7,6 % 2,6 %13 Interesse dienstbar zu machen und zu erhalten.“ 1 Gemeinsamer Wahlvorschlag CDU-DP; * Parteien mit mindestens 1% - 2 KPD: 5,7%, Zentrum: 4,1%; 3 SRP (Sozialistische Reichspartei): 11%, Deutsche Zentrumspartei: Als Landeswappen wurde 1952 das im 3,3%, DRP (Deutsche Reichspartei): 2,2%, KPD: 1,1%; 4 DRP: 3,8%, KPD: 1,1%, Deut- roten Feld platzierte weiße Sachsen- sche Zentrumspartei: 1,1%; 5 DRP: 3,6%; 6 DRP: 3,6%; 7 NPD: 7,0%; 8 NPD: 3,2%; ross bestimmt, das schon die früheren 9 GLU (Grüne Liste Umweltschutz, ab 1979 Die Grünen): 3,9%; 10 REP (Die Republika- Welfenlande seit Mitte des 14. Jahr- ner); 1,5%; 11 REP: 3,7%, STATT Partei (STATT Partei DIE UNABHÄNGIGEN); 12 REP: hunderts in ihrem Wappen geführt hat- 2,8%; 13 SCHILL (Partei Rechtsstaatlicher Offensive): 1,0% ten und das nach altem Volksglauben dem Stammesherzogtum der Sachsen reichte ihren Tiefpunkt 1947. Die Lan- bestimmt, dass kein Aktionär mehr als zugeschrieben wurde. Mit ihm sollten desregierung bemühte sich in harten 20 Prozent der Stimmrechte ausüben welfische Anspruchsrechte auf alle Auseinandersetzungen mit der briti- darf, auch wenn er mehr Anteile be- Gebiete des „alten Sachsens“ unter- schen Militärregierung um die Bewah- sitzt. Außerdem erhielten der Bund und strichen werden. Somit ist dieses Wap- rung zahlreicher Betriebe oder Be- das Land Niedersachsen eine Sonder- pentier als altes Volkssymbol im Un- triebsteile. Obwohl sie dabei erfolgreich stellung. Ihnen stehen je zwei Sitze im terschied zu den meisten deutschen manche Demontageabsichten einzu- 20 Mitglieder umfassenden Aufsichts- Länderwappen nicht dynastischen Ur- schränken vermochte, konnte sie die rat zu, sobald sie auch nur eine Aktie sprungs. Zerstörung größerer Teile des Industrie- besitzen. Zusammen mit den 10 Arbeit- komplexes Salzgitter und des Hafen- nehmervertretern besitzt so die öffent- Unter den politischen Gruppierungen und Werftgeländes in Wilhelmshaven liche Hand die Mehrheit für strategi- trat in Niedersachsen neben den über- nicht verhindern. sche Entscheidungen. Zudem ist das regionalen Parteien SPD, CDU und Land Niedersachsen mit seinem FDP die Niedersächsische Landespar- Dagegen erwies sich die Entscheidung Stammaktienanteil von 18,2 Prozent tei (NLP), die sich 1947 in Deutsche britischer Offiziere, im Volkswagenwerk bei Beschlüssen - wie z.B. über die Ver- Partei (DP) umbenannte, hervor. Die DP in Wolfsburg nicht nur Reparaturen lagerung des Firmensitzes oder zu stand in der Tradition der Deutsch- durchführen, sondern auch den „Kä- möglichen Übernahmen - nur schwer Hannoverschen Bewegung, doch fer“ bauen zu lassen, als segensreich. zu überstimmen. Gegen das Gesetz, konnte sie sich nicht auf Dauer be- So gewann der Volkswagenkonzern insbesondere die Bestimmungen über haupten und ging 1961 in der CDU auf. mit seinen zahlreichen Zuliefererindus- die Sperrminorität, die Höchststimm- Unter den Vertriebenen und Flüchtlin- trien eine herausragende Bedeutung rechte und die Entsenderechte der gen fand in den fünfziger Jahren der für den Zonengrenzraum, aber auch Landesregierung bei der Beset- BHE (Block der Heimatvertriebenen für Gesamt-Niedersachsen. zung des Aufsichtsrates, reichte die und Entrechteten) große Resonanz. Er EU-Kommission im Oktober 2004 Kla- kam bei den Landtagswahlen von 1951 Die 1937 gegründete Gesellschaft des ge beim Europäischen Gerichtshof ein. auf ca. 15 Prozent, schied jedoch 1963 deutschen Volkswagens, die nach dem aus dem Landtag aus. KPD und ande- Krieg von den Besatzungsmächten Ein positives und hoffnungsvolles Si- re linke Gruppen sowie das rechtsex- treuhänderisch der Bundesrepublik gnal für den wirtschaftlichen Neube- treme Lager (SRP, DRP, NPD) blieben Deutschland und dem Land Nieder- ginn setzte die erste Hannover-Messe trotz zeitweiliger Erfolge bedeutungs- sachsen übergeben worden war, wur- im August 1947, auf der 1298 Firmen los. de 1960 privatisiert und in eine Aktien- auf dem ehemaligen Rüstungsindus- gesellschaft umgewandelt. Mit einem triegelände in Laatzen ihre Produkte Wirtschaftsentwicklung, Hannover- speziellen Volkswagengesetz, das am präsentierten und Exportaufträge in Messe, Volkswagengesetz 21. März 1961 in Kraft trat, versuchten Höhe von 55 Millionen Reichsmark er- Die wirtschaftliche Entwicklung, die der Bund und das Land Niedersach- zielten. Zu dieser Industriemesse, die unter den Demontagemaßnahmen der sen den Einfluss auf den Autoherstel- sich zur Technologiemesse entwickelt Besatzungsmacht zu leiden hatte, er- ler zu behalten. In dem Gesetz wurde hat, ist die CeBIT als Fachmesse für 193

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Informationstechnologie hinzugekom- Hälfte der 50-er Jahre die Anwerbung bei zahlreichen ihrer Selbstständigkeit men. Beide Messen sind die welt- ausländischer Arbeitskräfte nach verlustig gegangenen Landkreisen und größten ihrer Art. Deutschland einsetzte. Lediglich in Gemeinden lange Zeit auf Unverständ- Kreisen und Städten mit hoher In- nis stieß. Übrig blieben schließlich 37 Alle weiteren Landesregierungen mit dustriequote, wie Wolfsburg, Salzgit- Landkreise, acht kreisfreie Städte und wechselnden Koalitionen sowie alle ter, Hannover und Braunschweig, stieg seit 2001 die Region Hannover. Von Landtage waren in erster Linie bemüht, der Anteil der Ausländer an der Bevöl- den nach dem Abschluss der Reform die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kerung Anfang der 70-er Jahre teilwei- ab 1978 1.023 Gemeinden bilden 287 des Landes weiter zu entwickeln und se über 10 Prozent. Einheitsgemeinden sowie 140 Samt- den benachteiligten Regionen wie dem gemeinden eigene Verwaltungseinhei- Wirtschaftlich litt Niedersachsen unter Emsland, dem Küsten- und Zonen- ten. randgebiet durch gezielte Maßnahmen dem Verlust der traditionellen, auf hei- zu helfen. Dabei erwies sich vor allem mischen Rohstoffen basierenden Indu- 1978 wurden die acht Verwaltungs- der Emslandplan als großer Erfolg, strie. So kamen der Kohlebergbau am und Regierungsbezirke auf vier redu- durch den über viele Jahre beträchtli- Rande des Berg- und Hügellandes, der ziert. Betroffen davon war auch der che Strukturverbesserungen im west- Erzbergbau am Rammelsberg sowie Verwaltungsbezirk Oldenburg, der den lichen Grenzland geschaffen wurden, der Kalisalzabbau - bis auf die Grube altoldenburgischen Zusammenhang einem Gebiet, das zwischen Ruhrge- bei Bokeloh am Steinhuder Meer - zum bewahrt hatte. Er wurde zugunsten des biet und Meer eine optimale Infrastruk- Erliegen. Die Eisen- und Stahlverar- größeren, Oldenburg mit Ostfriesland tur an Fluss-, Kanal- und Seeverkehrs- beitung in den Hüttenwerken Salzgit- und dem Osnabrücker Land verbin- möglichkeiten aufweist. ter und Peine sowie in Georgsma- denden „Regierungsbezirks Weser- rienhütte hat sich nur durch stete Maß- Ems“ aufgehoben. Zusammen mit den Dagegen erwies sich das „Zonenrand- nahmen der Modernisierung und der verbliebenen Regierungsbezirken gebiet“ im Osten trotz aller Zonenrand- Produktanpassung auf dem Weltmarkt Braunschweig, Hannover und Lüne- förderungsmittel als kaum entwick- als konkurrenzfähig erwiesen. burg wurde er zum Jahresende 2004 lungsfähig. Aus Sicht der europäischen aufgelöst. Die Aufgaben dieser Mittel- Kulturpolitik, Gebiets- und Wirtschaftszentren rückte es in eine behörden übernahmen teils Regions- Verwaltungsreform, Universitäts- wirtschaftlich äußerst nachteilige vertretungen, teils andere Landesbe- gründungen Randlage mit langen Verkehrswegen. hörden. Dadurch bot es den Menschen nur eine Ein weiterer Schwerpunkt der Landes- 1975 kam es zu den in den im Grund- ungenügende Arbeits- und Einkom- politik war die Neuordnung des allge- gesetz festgelegten Volksentscheiden mensperspektive, so dass vielen von meinen Schulwesens, der Ausbau be- in Oldenburg und Schaumburg-Lippe, ihnen allein die Abwanderung als Aus- stehender und die Gründung neuer in denen zwischen 31 und 40 Prozent weg blieb. Besonders betroffen vom Hochschulen (Medizinische Hochschu- der Abstimmungsbeteiligten für die Verluste seines Hinterlandes war der le Hannover, Universitäten Oldenburg, Wiederherstellung eigener Länder vo- Landkreis Lüchow-Dannenberg, wo Osnabrück, Lüneburg und Hildesheim). tierten. Doch reichten diese Ergebnis- der Prozess der Ausdünnung und der Seine Beziehungen zu den evangeli- se nicht aus, um die Mehrheit im Bun- Überalterung sich zunehmend be- schen Kirchen regelte das Land durch destag zu einem entsprechenden Be- schleunigte. den Loccumer Vertrag von 1955 (er- schluss zu bewegen. Es brachte aller- gänzt 1965) und zur römisch-katholi- Während insgesamt immer mehr Nie- dings beiden Landesteilen die Förde- schen Kirche durch ein Konkordat von dersachsen in der Industrie und Hand- rung von Einrichtungen kultureller Ei- 1965. werk Arbeit fanden, blieb die Zahl der genständigkeit, die über die Traditions- Industriebeschäftigten gegenüber dem Eine tief greifende Veränderung erfuhr bestimmungen der Vorläufigen Nieder- Bundesdurchschnitt zurück. So gehör- die Landesverwaltung durch die Mitte sächsischen Verfassung hinausreich- te Niedersachsen auch nicht zu den der 60-er Jahre begonnene Gebiets- ten. Dies half, Tendenzen zu einem Bundesländern mit den höchsten Zu- und Verwaltungsreform, die allerdings Zentralstaat in Niedersachsen zu ver- wanderungsraten, als in der zweiten viele historische Bezüge zerstörte und hindern und stattdessen die Pflege re- gionaler kultureller Besonderheiten von Ostfriesland bis zum Eichsfeld zu un- Literatur terstützen. Hauptmeyer, Carl-Hans: Niedersachsen - Landesgeschichte und Neue Verfassung und direkt- historische Regionalentwicklung im Überblick, Oldenburg 2004 demokratische Elemente Hoffmann, Peter: Niedersächsische Geschichte kurz gefasst, Nach der Wiedervereinigung 1990 Hannover 2004. setzte der Landtag einen Sonder- Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): ausschuss ein, der den Auftrag erhielt Niedersachsen zwischen Kriegsende und Landesgründung, Hannover 2004. einen Verfassungsentwurf zu erarbei- ten, der nicht mehr mit dem Vorbehalt Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): der Vorläufigkeit behaftet war. Am 13. Land Niedersachsen - Tradition und Gegenwart, Hannover 1976. Mai 1993 beschloss der Landtag die Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): neue Verfassung, die am 1. Juni 1993 Niedersachsen - Lexikon, Hannover 2004. in Kraft trat. In ihr sind als Staatsziele 194 u.a. Regelungen über den Schutz der

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natürlichen Lebensgrundlagen und Das erste Mal wurde von direkter De- der Bürgerbeteiligung, die jeweils un- über die Grund- und Menschenrechte mokratie Gebrauch gemacht, um die terschiedlichen Personengruppen - mit Hervorhebung der Gleichberechti- Verfassung zu ergänzen. Aufgrund ei- Bürgern, Einwohnern und Personen - gung von Frauen und Männern aufge- ner erfolgreichen Volksinitiative offen stehen. Analog zur Regelung auf nommen. In Art. 72 wird das Land ver- beschloss der Landtag 1994, dem Landesebene gibt es kommunalen pflichtet, die kulturellen und histori- Verfassungswerk eine Präambel voran- Bereich den Einwohnerantrag sowie schen Belange der ehemaligen zustellen, die sich zur Verantwortung die Instrumente Bürgerbegehren und Landesgliederungen des neu geschaf- des Gesetzgebers vor Gott und den Bürgerentscheid. fenen Niedersachsen zu wahren und Menschen bekennt. Insgesamt haben bisher die Nieder- zu fördern. Neue Kommunalverfassung sachsen - im Unterschied zu ihren süd- Neu aufgenommen wurden auch ple- Auf kommunaler Ebene brachte die deutschen Landsleuten - von ihren biszitäre Elemente auf Landesebene. Reform der Kommunalverfassung von direktdemokratischen Mitwirkungs- Sie sollen den Bürgerinnen und Bür- 1996 ein breites Angebot an Formen möglichkeiten bisher nur zurückhaltend gern die Möglichkeit geben, den Land- tag direkt aufzufordern, sich mit be- stimmten Sachverhalten der politi- PISA Deutschland schen Willensbildung zu befassen (Volksinitiative) oder selbst einen Ge- setzentwurf zur Abstimmung in den Landtag einzubringen (Volksbegehren) bzw. das Volk über ihn abstimmen zu lassen (Volksentscheid). Ein Ausführungsgesetz, das Nieder- sächsische Volksabstimmungsgesetz, verabschiedete der Landtag ein Jahr später einstimmig am 15. Juni 1994, und so können die Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen seitdem nicht nur durch Wahlen politischen Einfluss nehmen, sondern Demokratie auch di- rekt ausüben. Bei den Beratungen im Landtag hob der Abgeordnete Dr. Johann-Tönjes Cassens vier positive Aspekte direk- ter Demokratie hervor. „Erstens. Die plebiszitären Elemente sind ein wichtiges Mittel, um unsere Verfassung, die repräsentativ und de- mokratisch strukturiert ist, sinnvoll zu ergänzen. Zweitens. Wir haben klare rechtliche Vorgaben gefunden, den Zugang zu bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung des Landtages zu ermöglichen. Unsere Triebfeder war, das Ganze so praxis- nah, so praktikabel und so sachgerecht wie möglich umzusetzen. Drittens. Die vom Gesetzgeber für notwendig erach- teten organisatorischen Regelungsab- läufe dienen der Rechtsqualität, auf die - gerade bei politischen Willensbil- dungsprozessen, denn es geht um die Mitwirkung - nicht verzichtet werden Bayern punktet als klarer Sieger des deutschen PISA-Bundesländer-Ver- kann. Viertens. Mit diesem Gesetz lei- gleichs. Die 15-jährigen Schüler und Schülerinnen aus Bayern verwiesen sten wir einen Beitrag dazu, dass die in allen getesteten Bereichen die gleichaltrigen Jungen und Mädchen aus Demokratieabstinenz ein bisschen, den anderen Ländern auf die Plätze. Getestet wurde die Kompetenz in wenn auch nicht vollends, abgebaut Mathematik, Naturwissenschaft, Lesen und Problemlösen. In drei von vier wird und dass unsere Mitbürger aus Bereichen konnten die sächsischen Schüler und Schülerinnen den zwei- einer Zuschauermentalität wieder ins ten Platz erobern und zogen damit an Baden-Württemberg vorbei. aktive Geschehen zurückgeholt wer- Statistische Angaben: PISA-Studie den.“ 195

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Gebrauch gemacht. Eine wichtige Ur- züglich der Flächengröße unter den Die neue zentrale Lage lässt die Be- sache dafür liegt sicher in den hohen deutschen Ländern, während es hin- deutung des Dienstleistungssektors Hürden, wie z.B. relativ hohe Unter- sichtlich der Einwohnerzahl mit knapp wachsen und führt zur Ansiedlung neu- schriften- und Zustimmungsquoren, 8 Millionen Einwohnern - davon fast 6 er Industrieunternehmen. Parallel dazu die den Initiatoren viel Kraft für die Or- Prozent Ausländer - auf dem vierten sorgen die Universitäten in Hannover, ganisation und Kommunikation abver- Rangplatz verblieb. Allerdings ist die Göttingen und Braunschweig, die Me- langen. Außerdem wirkt sich der Aus- Bevölkerung innerhalb des Landes dizinische Hochschule in Hannover schluss wichtiger Themen von den ungleichmäßig verteilt. Dem bevölke- sowie zahlreiche außeruniversitäre direktdemokratischen Entscheidungen rungsreichen Südosten stehen die Forschungseinrichtungen, Innova- motivationshemmend aus. weniger dicht besiedelten Gebiete im tionsnetzwerke und Transfereinrich- Nordwesten und Nordosten gegen- tungen für eine enge Verzahnung von Den Kernbestandteil des Gesetzes zur über. Dort finden sich allerdings mit Wissenschaft und Wirtschaft. Doch Reform des niedersächsischen Kom- Bremen und Hamburg zwei Oberzen- auch der Fremdenverkehr wird als munalverfassungsrechts vom 6. März tren, die eine Ausstrahlung auf die an- Wirtschaftsfaktor insbesondere in den 1996 bildete die neue Niedersächsi- grenzenden niedersächsischen Land- Regionen immer wichtiger, die nur über sche Gemeindeordnung, die am 1. kreise haben. wenige Arbeitsplätze im industriellen November 1996 in Kraft trat. Sektor oder in anderen Dienstleistun- Den Grenzkreisen am ehemaligen „Ei- gen verfügen. Sie führte - nach dem Vorbild der mei- sernen Vorhang“ brachte die deutsche sten Bundesländer - in den Kommu- Einheit die Erfüllung eines lange geheg- Unbestimmt ist, ob Niedersachsen - nen mit dem Prinzip der Eingleisigkeit ten Wunsches. Doch der Fortfall der ein junges Land mit altem Namen - der kommunalen Leitung gleichzeitig Zonenrandförderung sowie die Konkur- knapp 60 Jahre nach seiner Gründung eine weitere direktdemokratische Kom- renz der nunmehr mit öffentlichen Mit- einer gleichen Zeitspanne als Land mit ponente in die Kommunalverfassung teln geförderten Kreise in den ostdeut- dem derzeitigen territorialen Zuschnitt ein. Da der Bürgermeister nunmehr von schen Bundesländern trübten die Hoff- entgegensehen kann. Als eine vom den Bürgern unmittelbar selbst gewählt nung auf wirtschaftliche Impulse. Nun- Bundesminister des Innern eingesetz- wird, ist dies mit einer Stärkung ihrer mehr vom Grenzland zu einem Land in te Sachverständigenkommission 1974 Mitwirkungsrechte verbunden. Der der Mitte Deutschlands geworden, vorschlug, „die vier norddeutschen Übergang auf das neue Recht wurde kommt Niedersachsen im zusammen- Länder Bremen, Hamburg, Schleswig- gleitend geregelt, und zwar eine Wahl wachsenden Europa und in der sich Holstein und Niedersachsen zu einem nach der neuen Ordnung dann, wenn ausweitenden Europäischen Union die einheitlichen Nordstaat zusammenzu- der amtierende Gemeindedirektor aus- Funktion sowohl eines Durchgangs- als fassen“, begrüßte die damalige Nieder- scheidet. auch eines Verbindungslandes zu. Mit sächsische Landesregierung unter Mi- Mitten in Deutschland dem Jade-Weser-Port, dem neuen nisterpräsident Alfred Kubel diese Tiefwasserhafen für Super-Container- Empfehlung. Heute ist Niedersachsen Die Wiedervereinigung Deutschlands schiffe der Zukunft, soll bis 2009/2010 immer noch eins der jetzt 16 Länder, rückte Niedersachsen mehr ins Zen- in Wilhelmshaven eine neue Drehschei- und über eine neue föderale Struktur trum. Mit nahezu 47.611 km_ behielt be für den Handel mit Nord- und Ost- in der Bundesrepublik Deutschland es nach Bayern den zweiten Rang be- europa entstehen. wird wie eh und je diskutiert.

Erste Tage

Erste Arbeitstage nach einem langen Irgendetwas mit einem kurzfristigen umgetrieben, während uns vor Hit- Urlaub sind Mist. Zwar hatte ich am Arzttermin könnte sich doch machen ze und Arbeit das Wasser im Hin- Abend zuvor brav meine Mappe ge- lassen. Den Gedanken wischte ich tern gekocht hat? Aber warte man. packt, den Terminkalender aufge- schnell beiseite. Bald sind wir in den Ferien, und dann frischt und ein paar Pläne gemacht, kannst du sehen, wie du klar- Im Büro sah mein Schreibtisch aus aber das Räderwerk des Alltags kommst.“ Ich bedankte mich und wie immer. Ich fand die monatliche sprang nicht so recht an. gab schmallippig ein paar Urlaubs- Gehaltsabrechnung mit der nieder- geschichten zum Besten. Ich fuhr mit dem Fahrrad. Auf dem schmetternden Zahl in der Rubrik Spielplatz standen Senioren im Kreis „Urlaub Rest gesamt“ sowie mehr Man sollte erste Arbeitstage nach ei- und betrieben gemäßigte Morgen- als 500 E-Mails, 99 Prozent davon nem Urlaub verbieten. Am zweiten gymnastik. Auf den Bänken saßen Schrott. Nach und nach kamen Kol- Tag, da bin ich sicher, sieht die Welt Müßiggänger, lasen in Büchern oder legen. „Gut siehst du aus, schön er- anders aus. Dann habe ich mich wie- träumten vor sich hin. Als das holt“, sagten sie. In ihren Stimmen der eingefügt ins Räderwerk. se schlecht klimatisierte Verlagshaus, in schwang eine leicht süffisante Note, dem ich nun wieder schwitzen wür- „Schön erholt“ bedeutet ausformu- Quelle: de, in Sicht kam, überlegte ich, ob liert etwa: „Na, haste dich fette vier Göttinger Tageblatt ich nicht besser umdrehen sollte. Wochen in der Weltgeschichte her- vom 13. Juli 2005 196

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Flüchtlinge in Niedersachsen von Dr. Dieter Brosius1 Vortrag zum „Tag der Landesgeschichte“ am 7. April 2005 im Niedersächsischen Landtag2 Als mit der deutschen Kapitulation bringen. Der Strom der Flüchtenden Allmählicher Aufbau von vom 8. Mai 1945 der Schlusspunkt schwoll rasch an, kam nach der Be- Verwaltungsstrukturen unter den Zweiten Weltkrieg gesetzt setzung Deutschlands durch die Alli- worden war, da stand auch Nieder- ierten vorübergehend zum Stillstand, Zunächst waren die deutschen Be- sachsen vor dem Scherbenhaufen, nahm aber im Sommer 1945 schnell hörden, die ja zum Teil auch erst den zwölf Jahre nationalsozialisti- wieder zu. Und als dann im August wieder aufgebaut werden mussten, scher Herrschaft angerichtet hatten. 1945 das Potsdamer Abkommen die gar nicht in der Lage, diesen gewal- Fast eine halbe Million Soldaten aus Ausweisung der 6,6 Millionen Deut- tigen Andrang zu steuern, für eine dem niedersächsischen Raum waren schen verfügt hatte, die noch in den gleichmäßige Verteilung auf das im Krieg gefallen oder befanden sich zu Polen geschlagenen Gebieten jen- Land zu sorgen und wenigstens die noch in Gefangenschaft, fast alle grö- seits von Oder und Neiße und im nun notdürftigste materielle Versorgung ßeren Städte und Industrieanlagen russischen Bezirk Königsberg geblie- der Flüchtlinge und Vertriebenen zu waren zerstört, der Bombenkrieg hat- ben waren, da brach eine wahre Flut sichern. Die britische Besatzungs- te Zehntausende von Opfern unter der von heimatvertriebenen Menschen macht musste sich einschalten, und Zivilbevölkerung gefordert. Wirtschaft über das westliche Deutschland her- sie tat das mit einem Verantwortungs- und Verwaltung lagen am Boden, der ein. bewusstsein, das durchaus Respekt Verkehr war zusammengebrochen, erfordert. Erst nach und nach bildete und es erschien fast unmöglich, die Niedersachsen war sich auf deutscher Seite eine Verwal- Versorgung der Bevölkerung mit den besonders stark betroffen tungsstruktur heraus, die es möglich zum Überleben notwendigen Bedarfs- machte, den Briten die organisatori- gütern zu sichern. Die Fülle von Pro- Besonders stark betroffen von die- schen Aufgaben abzunehmen. Beim blemen, die sich vor den erst allmäh- sem Zustrom war der niedersächsi- Oberpräsidenten in Hannover wurde lich wieder funktionsfähigen Verwal- sche Raum, der anfangs noch aus zunächst ein Sonderbeauftragter für tungen auftürmten, war riesengroß. der Provinz Hannover und den drei das Flüchtlingswesen ernannt, dann Vollends ins Unermessliche wuchsen Ländern Oldenburg, Braunschweig ein Landesflüchtlingsamt eingerichtet. die Schwierigkeiten aber durch ei- und Schaumburg-Lippe bestand; erst Mit der Bildung des Landes Nieders- ne zusätzliche Aufgabe, auf die man im November 1946 wurden diese achsen trat ein Staatskommissar an nicht vorbereitet war und die sich vier historischen Einheiten zu einem die Stelle des Amtes, aber erst im Ju- zumindest in diesem Umfang auch Land zusammengeschlossen. Nach ni 1948 hielt man es für erforderlich, nicht hatte vorhersehen lassen: die Schleswig-Holstein und vor Bayern ein eigenes Ministerium für Flüchtling- Aufnahme, Unterbringung und Inte- hatte Niedersachsen die zweitgrößte sangelegenheiten zu schaffen. gration der Flüchtlinge und Vertriebe- Zahl an Zuwanderern zu verkraften. nen aus den deutschen Ostgebieten, Insgesamt kamen in den fünf Jahren Die praktische Arbeit in aus Ost- und Westpreußen, Posen, bis 1950 mehr als sieben Millionen den Kommumen Pommern und Schlesien. Schon in Menschen aus dem deutschen Osten den letzten Wochen des Jahres 1944 nach Niedersachsen. Die meisten da- Die eigentliche, die praktische Betreu- hatte das Näherrücken der Front eine von wanderten zwar bald weiter nach ungsarbeit hatten ohnehin die Männer massenhafte Fluchtbewegung ausge- West- und Süddeutschland; etwa und Frauen vor Ort zu leisten, also die löst; teils mit der Bahn, teils in dorfwei- 30 % blieben jedoch im Lande und Mitarbeiter in den Bezirks-, Kreis- und se zusammengestellten Trecks oder ließen die Einwohnerzahl Nieders- Stadtflüchtlingsämtern, und in den auch auf eigene Faust suchte man achsens von rund 4,5 Millionen im kleineren Gemeinden die meist eh- sich vor dem Kriegsgeschehen und Jahr 1939 auf fast 6,8 Millionen im renamtlich tätigen Flüchtlingsbetreu- vor den befürchteten Übergriffen der Jahr 1950 steigen. Das bedeutete er. Ihrem Einsatz vor allem ist es zu sowjetischen Truppen in Sicherheit zu einen Zuwachs von 51,9 %, gegen- verdanken, dass die oftmals ausweg- über nur 21 % im gesamten Gebiet los scheinende Situation nicht in ein der drei westlichen Besatzungszonen. 1 Dr. Dieter Brosius war bis zu seiner Pensio- Chaos einmündete. nierung Leiter des Niedersächsischen Haupt- Entsprechend stieg die Bevölkerungs- staatsarchivs in Hannover, zweiter Vorsitzen- dichte Niedersachsens von 96 auf 147 Dabei waren die Lasten der Zuwande- der der Historischen Kommission für Nieder- Einwohner pro Quadratkilometer. sachsen und Bremen sowie Vorsitzender des rung innerhalb Niedersachsens sehr Historischen Vereins für Niedersachsen. ungleich verteilt. Im Osten des Lan- des, in den damaligen Bezirken Lüne- 2 Alle im Rahmen der Reihe „Landesgeschichte im Landtag“ gehaltenen Vorträge finden Sie im burg und und im Braunschwei- Übrigen unter gischen, war eine weitaus größere „www.landtag-niedersachsen.de“. Zahl von Flüchtlingen zu verkraften I Sonderdruck „100 Jahre Niedersächsischer Heimatbund“

als im Westen. Der Zuwachs der Be- Hilfe der Militärregierung in Anspruch schafften Betten und Geschirr aus völkerung betrug in Lüneburg durch- genommen werden. Als Richtwert war den Depots der deutschen Wehr- schnittlich etwa 70 %, mit Spitzenwer- vom Alliierten Kontrollrat vorgegeben macht, oder sie ließen in Zusammen- ten in einzelnen Gemeinden von über worden, dass ein Erwachsener, Ein- arbeit mit den Innungen der Hand- 100 %. In Hannover, Osnabrück oder heimischer ebenso wie Flüchtling, werker Munitionskisten und anderes Aurich dagegen waren es nur 20 bis nicht mehr als 4 qm und ein Kind nicht Leergut zu Schränken, Regalen und 25 %. Das ergab sich daraus, dass mehr als 2 qm Wohnraum beanspru- Bettgestellen umbauen. Aus Flocken- viele Flüchtlinge sich möglichst bald chen dürfe. Natürlich hätte das eine säcken wurden Matratzen hergestellt nach dem Überschreiten der Grenze Umverteilung zur Folge gehabt, die und mit Stroh gefüllt. Es hatte sich ge- zur sowjetischen Zone eine Unter- gar nicht zu bewerkstelligen war, auch zeigt, dass die gemeinsame Nutzung kunft gesucht hatten, weil sie hofften, nicht mit Hilfe der so genannten „flie- der Küche und des Kochherds des rasch wieder in die Heimat zurück- genden Wohnungskommissionen“, Wohnungsgebers oft zu Streitigkeiten kehren zu können, und sich deshalb die außerhalb ihrer Heimatregion und führte, weil natürlich die einheimische nicht weiter als nötig von ihr entfernen daher ohne Rücksicht auf Verwand- Hausfrau über ganz andere Vorräte wollten. Alle Versuche, durch Um- te und Bekannte die Wohnsituation und Möglichkeiten zur Selbstversor- siedlung innerhalb Niedersachsens überprüfen sollten. In vielen Orten gung verfügte als die Flüchtlingsfrau oder in andere westdeutsche Länder mussten Notunterkünfte in Turnhallen und aufkommende Neidgefühle kaum eine gleichmäßigere Verteilung zu oder Gasthaussälen, vorübergehend zu vermeiden waren. Die Ämter lie- erreichen, scheiterten zunächst. Ein- auch in Zeltlagern eingerichtet wer- ßen deshalb in eigenen Werkstätten zelne Bürgermeister erließen Zuzugs- den, und noch in den fünfziger Jahren aus Altmaterial Öfen, Notherde und sperren für ihre Gemeinden, aber die existierten in Niedersachsen zahlrei- Kochstellen zusammenbauen und wurden von den Briten, die sich noch che Barackenlager, in denen meist den Flüchtlingen zur Verfügung stel- lange Zeit das letzte Wort vorbehiel- der sozial schwächste Teil der Flücht- len. Meist waren diese Fabrikate aber ten, meist schnell wieder aufgehoben. linge zurückgeblieben war. Erst nach nur bedingt brauchbar, und selbst Erst die Einrichtung zentraler Auffang- der Währungsreform von 1948 war es wenn sie funktionierten, dann schei- und Aufnahmelager in Uelzen-Bohl- den Gemeinden in größerem Umfang terte der Gebrauch oft am Fehlen von damm und in Friedland ermöglichte möglich, spezielle Flüchtlingssiedlun- Brennstoffen. Kohle war zumindest eine gezielte Steuerung und kontrol- gen zu errichten, um die Wohnungs- anfangs eine Mangelware, und auch lierte Weiterleitung der eintreffenden not zu lindern. Brennholz stand nicht überall zur Ver- Transporte. fügung. An manchen Orten wurden Aber auch da, wo es gelang, einer die Flüchtlinge zu Selbsthilfeaktionen Versorgung mit Wohnraum Flüchtlingsfamilie Unterkunft zu ver- wie Torfstechen oder Stubbenroden und Hausrat schaffen, traten weitere Probleme auf. aufgerufen, aber dazu fehlte ihnen Die Räume, die die Einheimischen häufig die körperliche Kraft. Viele von Die erste Sorge der britischen und abgetreten hatten, waren häufig leer ihnen mussten daher auch den Winter dann auch der deutschen Verantwort- oder nicht heizbar, oder es handelte 1946/47 noch in kalten oder unzurei- lichen galt natürlich der Versorgung sich gar nur um Abstellkammern oder chend geheizten Räumen überste- der Ankömmlinge mit Wohnraum. Verschläge auf dem Dachboden. Mö- hen. Bei der einheimischen Bevölkerung bel und Hausrat musste beschafft wer- tendierte die Bereitschaft, freiwillig den, Öfen und Kochherde und andere Die Lage wurde noch verschärft Flüchtlinge in die eigene Wohnung Bedarfsgüter. Bei der heimischen Be- durch einen immer größeren Engpass mit aufzunehmen, gegen Null. Es völkerung wurden Sammlungen von bei der Versorgung mit Textilien. Die hatten ja auch schon während des entbehrlichen Gegenständen durch- Kleidung, die die Zuwanderer auf der Krieges 600.000 Evakuierte aus den geführt. Anfangs brachten sie gute Flucht oder bei der Vertreibung am zerbombten deutschen Großstäd- Ergebnisse, aber schon bald ließ die Leibe getragen hatten, war allmählich ten untergebracht werden müssen, Spendenfreudigkeit spürbar nach. Auf verschlissen und konnte kaum noch und in Niedersachsen waren etwa Grund des Reichsleistungsgesetzes geflickt werden. Ersatz dafür konnte 12,5 % aller Wohnungen zerstört oder von 1939 und später auch des nieder- nicht oder doch nur in verschwindend beschädigt worden und fielen für ei- sächsischen Flüchtlingsbedarfsgeset- kleinen Mengen geliefert werden. Die ne Einweisung von Flüchtlingen aus. zes vom April 1948 wäre es möglich härtesten Notfälle wurden durch Alt- Außerdem hatten die Briten eine nicht gewesen, die benötigten Güter kur- kleidersammlungen und durch Klei- unbeträchtliche Zahl von Häusern, zerhand zu beschlagnahmen, doch derspenden aus Übersee gelindert, und zwar gerade die komfortabelsten, davor schreckten die Behörden meist aber das Problem wurde dadurch für ihre Zwecke beschlagnahmt und zurück, und auch die Vertreter der nicht gelöst. Ein ungeheurer Bedarf gaben sie nur allmählich wieder frei. Flüchtlinge waren dagegen, weil sie bestand besonders an Arbeitsklei- Die Bürgermeister und Gemeindevor- fürchteten, das ohnehin gespannte dung und warmen Mänteln. Weil sie steher hatten ihre liebe Not, die ihnen Verhältnis zwischen Eingesessenen nichts Geeignetes anzuziehen hatten, zugeteilten Flüchtlingsquoten einiger- und Neuankömmlingen werde durch konnten Männer im Winter nicht zur maßen angemessen unterzubringen. hartes Vorgehen noch mehr belastet. Arbeit gehen und Kinder die Schule Oft musste dabei Zwang gegenüber Die Stadt- und Kreisflüchtlingsäm- nicht besuchen. In einem Landkreis uneinsichtigen Hausbesitzern ange- ter entwickelten andere Initiativen, konnten noch im Juni 1947 bei einem II wendet werden, oder es musste die um dem Mangel abzuhelfen. Sie be- als dringend anerkannten Bedarf von Sonderdruck „100 Jahre Niedersächsischer Heimatbund“

3600 Arbeitshosen ganze zwei Ex- matischen Reihenuntersuchungen Bedarf an Arbeitskräften, aber sie bot emplare ausgegeben werden. Ähn- und Impfungen gelang es den Ge- zu geringe Löhne, und ausserdem lich dramatisch war die Situation bei sundheitsämtern, das zu verhindern, hatten ehemals selbständige Bauern Schuhwerk. Einige Flüchtlingsämter und sie erhielten dafür viel Lob. Ge- verständliche Hemmungen, nun als richteten deshalb Werkstätten ein, die gen die Mangelernährung waren aber Knecht auf dem Hof eines fremden nur für Flüchtlinge arbeiteten und als auch sie machtlos; mit den nur 1023 Herrn zu dienen. Ein Großteil der Notbehelf Stoffschuhe mit Holzsohlen Kalorien pro Tag, wie sie im Dezem- Flüchtlinge war daher zumindest an- oder Sandalen aus alten Autoreifen ber 1947 auf den Lebensmittelkarten fangs gezwungen, eine berufsfremde herstellten. zugeteilt wurden, konnte ein Normal- Beschäftigung anzunehmen. Viele verbraucher beim besten Willen nicht Handwerker hatten den Wunsch, Katastrophale Versorgungslage auskommen, wenn er nicht über zu- rasch wieder einen eigenen Betrieb sätzliche Quellen verfügte. zu gründen. Die Handwerkskammern Die Versorgungslage in der unmittel- verhielten sich anfangs sehr reser- baren Nachkriegszeit kann auf fast al- Zum Glück blieb das ein einmaliger viert und zögerten mit der Zulassung; len Gebieten nur als katastrophal be- Tiefststand, aber gehungert wurde sie fürchteten nicht so sehr die Kon- zeichnet werden. Erstaunlicherweise auch weiterhin, bis über die Wäh- kurrenz für die einheimischen Betrie- galt das zunächst aber noch nicht für rungsreform hinaus. Immerhin ist in be als vielmehr die Auswirkungen auf die Versorgung mit Lebensmitteln. Der Niedersachsen kein einziger Flücht- die Materialzuteilungen, die ohnehin Ernährungszustand der Flüchtlinge ling an Unterernährung gestorben. viel zu gering waren. Aber sie änder- wird in den ersten zwei Jahren nach ten diese ablehnende Haltung bald Flucht und Vertreibung allgemein als Viele Flüchtlingsfamilien, vor allem und unterstützten die geflüchteten ausreichend bezeichnet und gab den solche, deren Ernährer gefallen oder Berufskollegen sogar mit Darlehen Behörden keinen Anlass zu Besorg- noch nicht aus der Gefangenschaft zur Existenzgründung. Etwas länger nis. Dazu trugen auch Aktionen wie zurückgekehrt war, gerieten in finan- sperrte sich der Handel gegen die die zum Teil von den Amerikanern zielle Not, nachdem die auf der Flucht Zulassung neuer Geschäfte. Trotz finanzierten Schul- und Kinderspei- mitgeführten Geldbeträge verbraucht solcher Hemmnisse konnte aber die sungen bei. Die Kreisbauernschaften waren. Die Zahl der auf Unterstüt- berufliche Integration der Flüchtlinge riefen während der Schlachtezeit zum zung Angewiesenen nahm bis 1950 in Niedersachsen 1948 als im großen Spenden von Fleisch- und Wurst- ständig zu. Die Stadt- und Kreiswohl- Ganzen gelungen bezeichnet wer- dosen auf. Die Verwaltungen waren fahrtsämter mussten erhebliche Mittel den. Es wird allerdings auch immer bestrebt, möglichst jeder Flüchtlings- aufbringen, um eine Verelendung ab- wieder von Fällen von Arbeitsunlust familie ein Stück Garten- oder Gra- zuwenden. Sie wurden dabei von den und Arbeitsverweigerung berichtet. beland zur Verfügung zu stellen, da- freien Wohlfahrtsverbänden tatkräftig Statistisch spielten sie kaum eine Rol- mit sie sich wenigstens teilweise mit unterstützt. Einzelne Städte und Krei- le, aber die Vertreter der Flüchtlinge Gemüse und Obst selbst versorgen se führten Geldsammlungen durch, selbst sahen darin ein Ärgernis, weil konnte. Nicht überall wurde dieses mit deren Ertrag Notstände gelindert sie geeignet waren, die bei vielen Ein- Angebot aber angenommen. und Kleinkredite zur Überbrückung heimischen vorhandenen Vorurteile momentaner Schwierigkeiten gewährt gegen die neuen Mitbürger zu ver- Seit dem Frühjahr 1947 nahmen aller- werden konnten. Generelle finanzielle stärken. dings die Klagen über unzureichende Unterstützungen für Flüchtlinge lehn- Ernährung zu, besonders über den ten aber auch ihre gewählten Spre- Beginnende Integration Mangel an Fett. Die Gesundheits- cher ab, aus Furcht, dadurch könnten ämter berichteten immer häufiger die Moral untergraben und der Wille Je mehr Zeit ins Land ging, desto über Ernährungsschäden wie erheb- zur Arbeitsaufnahme geschwächt stärker setzte sich die Einsicht durch, liches Untergewicht, Hungerödeme werden. dass an eine Rückkehr in die Heimat und Anämien. Nach ihrer Ansicht war bis auf weiteres nicht zu denken sei. die Gesundheit der Flüchtlinge aber Eingliederung in die Arbeitswelt Umso größer wurde aber der Wunsch weniger durch die Unterversorgung vor allem bei den Familien bäuerli- mit Lebensmitteln als durch die zum Der Eingliederung in die Arbeitswelt cher Herkunft, in der neuen Umge- Teil unerträgliche Wohnsituation und standen ohnehin erhebliche Schwie- bung wieder ein eigenes Haus oder durch den Mangel an Kleidung und rigkeiten entgegen. Niedersachsen gar einen Hof mit Grund und Boden Hausrat gefährdet, der zu schlimmen war, damals noch viel mehr als heute, zu besitzen. Das kam den politischen hygienischen Verhältnissen führte. ein industriearmes Land. Gewerbliche Vorstellungen der Landesregierung Leibwäsche musste wochenlang ge- Arbeitsplätze waren rar. Erst ganz all- entgegen, die von Anfang an die tragen werden, weil sie nicht gewech- mählich setzte wieder eine Nachfra- Sesshaftwerdung der Flüchtlinge zum selt werden konnte. Von einer Familie ge nach Facharbeitern ein, aber die obersten Ziel erklärt gesetzt hatte. wird berichtet, dass sie nur eine einzi- waren aus dem Kreis der Flüchtlinge Sie war aber dennoch bemüht, keine ge Schüssel besaß, in der das Essen schwer zu gewinnen, weil fehlende Hoffnungen auf eine Landzuteilung in zubereitet, die Wäsche gespült und Umzugsmöglichkeiten und schlechte größerem Umfang zu wecken, weil die Füße gewaschen werden muss- Verkehrsverbindungen die Mobilität solches Land gar nicht zur Verfügung ten. Man fürchtete den Ausbruch von stark einschränkten. In größerem Um- stand. Eine Bodenreform, die eine Seuchen und Epidemien. Mit syste- fang hatte allein die Landwirtschaft Neuverteilung der landwirtschaftli- III Sonderdruck „100 Jahre Niedersächsischer Heimatbund“

chen Flächen zugunsten der Flücht- der einheimischen Bevölkerung den Zeit die wichtigste Adresse für die linge ermöglicht hätte, kam in Nieder- Zugereisten ohne Verständnis oder Flüchtlingspolitik in Niedersachsen. sachsen nicht zustande. Auch Vor- gar mit offen zur Schau getragener 1947 kandidierte Albertz erfolgreich schläge, die Naturschutzgebiete und Ablehnung begegneten. Einzelne Fäl- für den ersten gewählten niedersäch- Truppenübungsplätze aufzusiedeln, le von feindseligem Verhalten oder sischen Landtag, und ein Jahr später erwiesen sich als undurchführbar. von Schikanen wurden dann leicht betraute ihn Hinrich Wilhelm Kopf Allein durch die Ödlandkultivierung, verallgemeinert. Im Extremfall wurde mit der Leitung des neu gebildeten besonders im Emsland, und durch den Einheimischen pauschal die Mei- Flüchtlingsministeriums. die Aufteilung von Staatsdomänen nung unterstellt – so heißt es in einem Als einer der ersten hatte Albertz er- konnte einigen tausend geflüchteten Lagebericht eines Flüchtlingsamts kannt, dass die Integration, wenn sie oder vertriebenen Bauern wieder zu -, „daß die Flüchtlinge unerwünschte gelingen sollte, sich nicht auf die ma- eigenen Höfen verholfen werden. Im und lästige Gäste sind, die sich wie- terielle Versorgung beschränken durf- übrigen blieb es bei Klein- und Ne- der in ihre alten Wohngebiete bege- te; sie musste ergänzt werden durch benerwerbssiedlungen, die seit 1948 ben sollten.“ Eine ähnliche Äusserung eine mentale Betreuung, die auf die in vielen Ortschaften entstanden – im- ist sogar von einem Minister im ersten psychische Situation der Flüchtlinge merhin 39.000 bis zum Jahr 1962. Ein Kabinett von Hinrich Wilhelm Kopf einging und dem Gefühl der Fremd- viel gerühmtes und gern vorgezeigtes überliefert; der Mann musste dann heit und Verlassenheit entgegenwirk- Beispiel für eine gelungene Eingliede- allerdings rasch seinen Hut nehmen. te. Noch 1945 rief Albertz in Celle ei- rung war die Siedlung Reinsehlen bei Aber das war nicht der Ausdruck ei- nen Flüchtlings-Kulturkreis ins Leben, Schneverdingen, wo in den Baracken ner allgemeinen Stimmung, ebenso aus dem eine kleine Wanderbühne eines ehemaligen Feldflughafens ei- wenig wie das Gesamtbild durch die hervorging, die auch in Nachbarge- ne Flüchtlingsgemeinde von 1300 Querulanten und ewig Unzufriede- meinden auftrat. Später versuchte er, Einwohnern mit Handwerksbetrieben nen bestimmt wurde, die es unter den solche Kulturarbeit flächendeckend und gewerblichen Arbeitsplätzen ent- Flüchtlingen natürlich auch gab. Zwei- auf das ganze Land auszudehnen. stand. fellos entstanden immer wieder einmal Das gelang ihm aber nur in Ansät- Spannungen und Verstimmungen, die zen; das Bedürfnis nach geistiger Die britische Besatzungsmacht und das Zusammenleben erschwerten, Orientierung und nach Weiterbildung die deutschen Behörden waren sich doch auf beiden Seiten überwogen war offenbar nicht so groß, wie er es von Anfang an darin einig, dass das ganz eindeutig die Vernunft und die erwartet hatte. Ihm wurde aber auch Ziel aller Betreuungsmaßnahmen Einsicht, dass man aufeinander zuge- entgegengehalten, ein gesondertes die rasche Integration der Flüchtlin- hen musste, um gemeinsam mit der Kulturprogramm für Flüchtlinge könne ge in die neue Heimat sein müsse. für beide Seiten nicht einfachen Situ- das Zusammenwachsen der beiden Auch die maßgeblichen Sprecher der ation fertig zu werden. Bevölkerungsgruppen eher behindern Flüchtlinge selbst bekannten sich zu als befördern. der Einsicht, dass die Hoffnung auf „Büro Pastor Albertz“ eine Rückkehr in den Osten keine Albertz kümmerte sich auch verstärkt realistische Basis habe und dass die Den größten Anteil daran, dass die In- um diejenigen unter den Flüchtlingen, Vertreibung als endgültig anzusehen tegration nach anfänglichen Schwie- die durch ihr Schicksal an den Rand sei. Aber natürlich gab es unter den rigkeiten dann doch rascher und pro- der Gesellschaft zu geraten drohten. Betroffenen auch Menschen, die das blemloser gelang, als man es hätte Zahlreiche Soldaten aus den deut- anders sehen wollten und die deshalb erwarten können, hatten die Männern schen Ostgebieten waren aus der versuchten, sich den Integrationsbe- und Frauen vor Ort, also die Leiter Gefangenschaft entlassen worden; mühungen zu widersetzen und den der Flüchtlingsämter und die gewähl- sie konnten nicht in die Heimat zurück Glauben an eine Rückkehr lebendig ten Vertrauensleute der Flüchtlinge und irrten nun auf der Suche nach zu erhalten. Solche Stimmen blieben und Vertriebenen. Einer unter ihnen ihren vertriebenen oder geflüchteten jedoch isoliert und hatten bei der gro- muss besonders genannt werden: Familien ohne festes Ziel durch das ßen Mehrzahl der Flüchtlinge kaum der geborene Schlesier Heinrich Land. Einfluss. Ein kollektives Aufbegehren Albertz. Im Alter von 30 Jahren hatte gegen den Verlust der Heimat und das die Flucht ihn 1945 nach Celle ver- Um sie von der Straße zu holen, rich- Schicksal der Vertreibung blieb entge- schlagen, wo er sofort eine überaus tete Albertz Heime ein, die er „Die gen manchen Erwartungen jedenfalls erfolgreiche Wirksamkeit entwickelte, Insel“ nannte. Hier sollten diese ent- aus. Aber es gab mentale Hemmnis- zunächst als Flüchtlingspastor, dann wurzelten Menschen betreut und wie- se, die der Eingliederungspolitik im auch als Leiter der Flüchtlingsämter der an ein geordnetes Leben gewöhnt Wege standen: Zunehmend stärker für die Stadt Celle und für den Be- werden, bis sie den Kontakt zu ihren machten sich Resignation und Mutlo- zirk Lüneburg und als Mitglied der Angehörigen wieder gefunden hatten sigkeit, Verzweiflung und Apathie be- Flüchtlingsbeiräte für Niedersachsen oder bis sie in der Lage waren, sich merkbar, und das war angesichts der und für die britische Zone. In all die- eine eigene Existenz aufzubauen. bedrückenden materiellen Situation sen Funktionen stieß er Initiativen Besondere Aufmerksamkeit galt und der ungewissen Zukunft ja auch an, die der Betreuungsarbeit wichtige auch den Jugendlichen, die durch verständlich. Genährt wurden solche Impulse vermittelten und vorbildlich die Kriegsereignisse oder durch die Zeichen der Hoffnungslosigkeit auch auch für andere Länder wurden. Sein Flucht von ihren Familien getrennt IV durch die Beobachtung, dass Teile „Büro Pastor Albertz“ blieb für lange worden waren. Sie zogen vagabun- Sonderdruck „100 Jahre Niedersächsischer Heimatbund“

dierend umher und drohten häufig in wurde dann aber doch geduldet, dass ge kommen, und gelegentlich hatten Verwahrlosung oder gar in die Krimi- sich seit Ende 1947 überall im Lan- auch Flüchtlingsvertreter damit ge- nalität abzugleiten. Für sie richtete de ohne behördliche Genehmigung droht, um auf die etablierten Parteien Albertz eigene Auffangstellen ein. Die Kreisverbände der „Aufbaugemein- Druck zu verstärkter materieller Hilfe Zahl solcher Jugendlichen nahm bis schaft der Kriegsgeschädigten“ bilde- auszuüben. Das Verbot politisch aus- 1948 ständig zu und ging erst danach ten, einer Vereinigung, die sich zum gerichteter Vereinigungen war vor al- allmählich zurück, auch dank der er- Ziel gesetzt hatte, die Versorgung der lem deshalb ausgesprochen worden, folgreichen Arbeit der Suchdienste, Flüchtlinge mit den wichtigsten Be- weil sie leicht zu Sammelbecken für die viele Familien wieder zusammen- darfsgütern zu verbessern. Im Herbst radikale Elemente hätten werden kön- führte. 1948 gab die Militärregierung dann nen. Die Flüchtlinge sollten ihre legiti- den Weg frei für eine Lockerung des men politischen Interessen innerhalb Landsmannschaften und Vereine Verbots. Untersagt blieben weiterhin der bestehenden Parteien verfolgen Vereine mit politischem und irreden- – ein Weg, den und Schon bald nach dem Sesshaftwerden tistischem Hintergrund, das heißt viele andere mit ihm ja auch gegan- in Niedersachsen hatten viele Flücht- solche, die offen die Rückgewinnung gen sind. Anlass zum Einschreiten linge den verständlichen Wunsch, der verlorenen Ostgebiete forderten. sah Albertz jedoch, wenn gewählte sich in Vereinen und Landsmann- Erlaubt waren dagegen Vereinigun- Vertrauensleute der Flüchtlinge oder schaften zusammenzufinden, um die gen auf Kreisebene mit rein sozialem auch Leiter von Flüchtlingsämtern ih- Erinnerung an die Heimat zu pflegen oder kulturellem Programm. Minister re Position einseitig zur Werbung für und um die gemeinsamen Interessen Albertz ließ sich vor jeder Genehmi- eine bestimmte Partei, gleich welcher besser vertreten zu können. Solche gung persönlich Bericht erstatten. Couleur, missbrauchten. Von solchen Zusammenschlüsse entstanden auf Nach seinen Vorstellungen sollte es Amtsträgern verlangte er strikte Neu- lokaler Ebene spontan schon im Som- in jedem Kreis nur eine Organisation tralität, weil nur so das Flüchtlingspro- mer 1945. Die Militärregierung und geben, die auch Landsmannschaften, blem aus dem Parteienstreit heraus- auch die deutschen Behörden waren Genossenschaften, Hilfsvereine und gehalten werden könne, der das Ziel darüber nicht erfreut; sie befürchteten ähnliches mit einschloss. Vor allem der raschen Eingliederung in Frage von der Vereinsbildung eine Abkapse- wollte er die Flüchtlingsvereine aus gestellt hätte. lung der Flüchtlinge, durch die die Be- dem politischen Spiel heraushalten, mühungen um Integration erschwert was ihm zunächst auch gelang. Erst Die Währungsreform werden mussten. Eine Verordnung als 1950 der Block der Heimatvertrie- des hannoverschen Oberpräsidenten benen und Entrechteten, der BHE al- Auf die Währungsreform vom 21. Ju- vom Januar 1946 machte deshalb die so, von Schleswig-Holstein aus nach ni 1948 hatten die Flüchtlinge große Gründung von Organisationen jeder Niedersachsen übergriff, entstand Hoffnungen gesetzt und sich von der Art von der Genehmigung durch den auch hier eine politisch ausgerichtete Geldumstellung eine spürbare Ver- Leiter des Landesflüchtlingsamts ab- Flüchtlingsbewegung. besserung ihrer materiellen Lage ver- hängig; bereits bestehende Vereini- sprochen. Um so größer war die Ent- gungen mussten aufgelöst werden. Kommunalpolitische Betätigung täuschung, als im Gegenteil zunächst Das lief faktisch auf ein Verbot hinaus, eine deutliche Verschlechterung ein- denn solche Genehmigungen wurden Bis dahin waren die Flüchtlinge auf die trat. Zwar waren in den Läden jetzt in keinem Fall erteilt, auch nicht für Mitarbeit in den anderen Parteien be- wieder manche Waren frei zu haben, landsmannschaftliche Verbindungen schränkt, die nach Kriegsende wieder die zuvor der Bewirtschaftung unter- und unpolitische Interessengemein- gegründet oder neu entstanden wa- legen hatten, doch fehlte wegen der schaften. Sogar die Abhaltung beson- ren. Sie wurden von der Landesregie- Abwertung der Sparguthaben vielen derer Flüchtlingsgottesdienste wurde rung und den Behörden immer wieder das Geld, sie auch zu kaufen. Es gab für unerwünscht erklärt. aufgefordert, sich aktiv und passiv an Flüchtlingsfamilien, die ihre Lebens- den Wahlen auf Gemeinde-, Kreis- mittel- und Raucherkarten zum Teil Dieses Verhalten der Behörden fand und Landesebene zu beteiligen. verfallen lassen mussten, weil sie die bei den Sprechern der Flüchtlinge zugeteilten Rationen nicht bezahlen wenig Verständnis. In Eingaben be- Doch in den kommunalen Parlamen- konnten. Finanzielle Unterstützungen schwerte man sich über die Verlet- ten blieben sie noch lange Zeit weit fielen geringer aus als vor der Reform, zung des demokratischen Grund- unterhalb ihres Anteils an der Ge- weil die Wohlfahrtsverbände und die rechts der Koalitionsfreiheit und samtbevölkerung vertreten. In man- Flüchtlingsämter über weniger Mittel kritisierte vor allem, dass sogar Verei- chen Orten war kein einziger Flücht- verfügten und auch das Spenden- nigungen mit rein sozialer Zielsetzung ling zu bewegen, sich als Kandidat aufkommen stark zurückgegangen nicht zugelassen wurden. Im Sommer aufstellen zu lassen. Erst seit 1948 war. Auch die Eingliederung in die 1947 wurde der Druck so stark, dass zeigt sich ein zunehmendes Interesse Arbeitswelt erlitt einen Rückschlag. der Flüchtlingsbeirat für die britische an kommunalpolitischer Betätigung. Viele Betriebe mussten wegen vor- Zone sich beim Zonenbeirat, und die- Die Behörden sahen darin zu Recht übergehender finanzieller Engpässe ser wiederum bei den Briten und den ein Indiz für das Voranschreiten der einen Teil ihrer Mitarbeiter entlassen, Länderregierungen für die Aufhebung Integration. Lange Zeit hatte man und das traf gerade die erst kürzlich des Koalitionsverbots einsetzte – vor- befürchtet, es werde zu einer politi- eingestellten Flüchtlinge, während läufig ohne Erfolg. Stillschweigend schen Radikalisierung der Flüchtlin- die alte Stammbelegschaft verschont V Sonderdruck „100 Jahre Niedersächsischer Heimatbund“

blieb. Flüchtlingsbetriebe, die erst stärkere Fortschritte; sie wurden – die kurze Zeit bestanden, hatten noch einen früher, die anderen später – in keine Reserven bilden können und Niedersachsen sesshaft, und sie tru- mussten wegen fehlender Betriebs- gen ihrerseits dazu bei, dass sich das mittel wieder schließen. Die Folge war Land veränderte, wirtschaftlich eben- ein steiler Anstieg der Arbeitslosigkeit so wie mental. Aber das ist ein ande- bis auf 21 %, an dem die Flüchtlinge res Thema, auf das ich heute nicht weit überproportional beteiligt waren. mehr eingehen kann.

Lastenausgleich

Schon seit dem Frühjahr 1946 war die Forderung nach einem Lasten- ausgleich erhoben worden, durch den auch die Einheimischen an den mate- riellen Folgen von Flucht und Vertrei- bung beteiligt werden sollten. Nach der Währungsreform wurde dieser Ruf nun lauter. Man bedauerte, dass ein Vermögensausgleich nicht zugleich mit der Geldumstellung durchgeführt und dass überhaupt die besondere Notlage der Flüchtlinge nicht berück- sichtigt worden sei, etwa durch eine niedrigere Abwertungsquote für ihre Sparguthaben. Die Stimmung sank auf einen Tiefpunkt, und auch Minis- ter Albertz sah durch die Reform „die Lage derjenigen, die wir zu betreu- en haben, in ein lebensgefährliches Stadium getreten“. Die schwächsten Glieder der Gemeinschaft, eben die Flüchtlinge, seien wieder einmal am stärksten betroffen. Er rief nun ver- stärkt zur Selbsthilfe auf, weil staat- liche Hilfsmaßnahmen wohl immer unzureichend bleiben würden, und gründete selbst einen „Aufbau-Selbst- hilfe-Fonds“, der den in Schwierigkeit geratenen Flüchtlingsbetrieben mit Krediten unter die Arme greifen soll- te. Zu diesem Zeitpunkt ließ sich noch nicht voraussehen, dass der auf die Währungsreform folgende und von ihr mit ausgelöste Wirtschaftsboom der fünfziger Jahre, das berühmte „Wirtschaftswunder“ also, auch für die Flüchtlinge in kurzer Zeit eine Wende zum Besseren mit sich bringen würde. Die hohe Arbeitslosigkeit wich rasch einer Vollbeschäftigung, von der wir heute nur träumen können. Zur Ent- spannung der Lage trug auch bei, dass nun endlich auch die bisher weit- gehend verschont gebliebenen Län- der wie Nordrhein-Westfalen, Rhein- land-Pfalz oder Baden-Württemberg bereit waren, den überlasteten Regio- nen größere Kontingente an Flüchtlin- gen und Vertriebenen abzunehmen. Bei denjenigen aber, die hier blieben, VI machte die Integration mit jedem Jahr Der Niedersächsische Städtetag

. ... ist ein kommunaler Spitzenverband, dem 131 Städte, Gemeinden und Samtgemeinden mit rund 4,6 Mio Einwohnerinnen und Einwohnern sowie der Zweckverband Großraum Braunschweig, die Region Hannover und die Stadt Bremerhaven als außerordentliche Mitglieder angehören.

. ... ist als eingetragener Verein organisiert und damit unabhängig von staatlicher Aufsicht, staatlichen Einflüssen und staatlichen Zuschüssen. Die Mitgliedschaft ist freiwillig.

. ... gehört als Landesverband dem Deutschen Städtetag (DST) an.

. ... zählt zu seinen Mitgliedern alle zehn kreisfreien Städte (einschließlich Göttingen u n d Hannover), alle sieben großen selbständigen Städte, 48 selbständige Städte und Gemeinden, 60 weitere kreisangehörige Städte und Gemeinden, sechs Samtgemeinden.

. ... vertritt als Sachwalter der Städte, Gemeinden und Samtgemeinden in Niedersachsen öffentliche Anliegen zum Wohle der Einwohnerinnen und Einwohner.

. ... veröffentlicht neben der monatlich erscheinenden Zeitschrift "Niedersächsischer Städtetag" in der "Schriftenreihe des Nievdonersä Pchetersische Hoffmannn Städtetages" kommunalwissenschaftliche Beiträge.

. ... nimmt die kommunalen Belange wahr und vertritt sie gegenüber Landtag und Landesregierung. Nach Artikel 57 Abs. 6 der Niedersächsischen Verfassung sind die kommunalen Spitzenverbände zu hören, bevor durch Gesetz oder Verordnung allgemeine Fragen geregelt werden, welche die Gemeinden oder die Landkreise unmittelbar berühren. von Dr. Dieter Brosius

. ... hat als Organe die Mitgliederversammlung (Städteversammlung) und das Präsidium. Die Städteversammlung findet zweimal in einer Kommunalwahlperiode statt, wählt das Präsidium und beschließt über Satzungsänderungen. Dem Präsidium gehören 18 Personen an, die Oberbürgermeister, Bürgermeister, ihre repräsentativen Vertreter oder Wahlbeamte sind.

. ...bereitet Sachentscheidungen in seinen Ausschüssen vor, die für die Bereiche Finanzen, Personal und Organisation, Planung und Bauen, Recht und Verfassung, Schule, Kultur, Soziales und Gesundheit, Umwelt sowie Europa, Wirtschaft und Verkehr gebildet wurden.

. ... Fördert die Arbeit seiner Mitglieder durch Beratung und Vermittlung des Erfahrungsaustausches in sechs regionalen Bezirkskonferenzen und 35 fachlichen Arbeitskreisen.

. ... bietet im Internet unter http://www.nst.de weitere Informationen an.