Beiträge zur historischen Sozialkunde 1/1999

Kunst und Kultur im 20. Jahrhundert

Verein für Geschichte und Sozialkunde 29. Jg./Nr. 1 Jänner–März 1999 Liebe Abonnentinnen und Abonnenten!

Wie Ihnen sicher aufgefallen sein wird, hat der Verein für Geschichte und Sozialkunde seine Buchproduktion in den letzten beiden Jahren erheblich gesteigert. Die vier Beiträge werden durch eine Sondernummer pro Jahr, die Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft thematisieren soll, ergänzt. Leider können wir diese Hefte aus Kostengründen nicht im Abo anbieten. Neben unserer Buchreihe „Historische Sozialkunde/Internationale Entwicklung(IE)“, in der im Frühjahr Band 15 erscheinen wird, und die – wie Sie aus der Erweiterung des Titels entnehmen können – in Zukunft immer einen Außereuropa-Schwerpunkt aufweisen soll, haben wir zwei weitere Reihen begonnen, die wir Ihnen hier näher vor- stellen wollen:

Edition Weltregionen In dieser Reihe, für die in den nächsten beiden Jahren drei Titel in Planung sind, geht es nicht um Ereignisgeschichte von außereuropäischen Großräumen, sondern um den Entwurf von größeren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungszusammenhängen. Auch dabei handelt es sich um Reader, angelehnt an die sogenannten „Area Studies“, die im englischsprachigen und nicht-europäischen Forschun- gsbereich weit häufiger betrieben werden als im deutschsprachigen, wo ein starker Eurozentrismus gerade in den historischen Disziplinen nicht zu leugnen ist. Die Reihe versucht nicht, einem enzyklopädischen Anspruch gerecht zu werden, sondern exemplarische Strukturen und Lebenswelten durch Schwerpunktsetzungen in der Darstellung näher zu bringen. ReihenherausgeberInnen: Peter Feldbauer, Wien; Sepp Linhart, Wien; Renate Pieper, Graz; Erich Pilz, Wien; Walter Schicho, Wien Der erste Band ist im Jänner 1999 erschienen: Ostasien. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert Sepp Linhart, Erich Pilz (Hg.), Wien 1999 Promedia – Edition Weltregionen, ISBN 3-85371-145-6 Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte Wie der Reihentitel bereits verdeutlicht, handelt es sich um Einführungstexte, die sozial-, wirtschafts- und/oder kulturgeschichtliche Themenstellungen von unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten – diesmal allerdings mit einem Europa-Schwerpunkt. Ähnlich wie bei HSK/IE wird zumindest ein Band pro Jahr erscheinen, und es ist auch geplant, regelmäßig Monographien in die Reihe aufzunehmen. ReihenherausgeberInnen: Birgit Bolognese Leuchtenmüller, Wien; Markus Cerman, Wien; Peter Eigner, Wien; Friedrich Edelmayer, Wien; Peter Feldbauer, Wien; Margarete Grandner, Wien; Sylvia Hahn, Salzburg; Renate Pieper, Graz; Reinhold Reith, ; Andrea Schnöller, Wien; Eduard Staudinger, Graz Bisher erschienen: Querschnitte 1: 1848 im europäischen Kontext Helgard Fröhlich, Margarete Grandner, Michael Weinzierl (Hg.), Jänner 1999, Wien ISBN 3-85132-209-6 Erscheinungstermin Frühjahr 1999: Querschnitte 2: Von der mediterranen zur atlantischen Expansion Peter Feldbauer, Gottfried Liedl, John Morrissey (Hg.)

Sie ersehen aus den auf der Seite 40 angeführten Kombi-Abos verschiedene Möglichkeiten und wir würden Sie er- suchen zu überprüfen, ob Ihr bestehendes Abo weiterhin Ihren Vorstellungen entspricht oder ob Sie vielleicht auf ein anderes „umsteigen“ wollen. Falls Sie nähere Informationen wünschen (Vorschau, Bücherabstracts etc.) senden wir Ihnen diese gerne zu; wir wollen Sie aber auch auf unsere Internet-Homepage unter der Adresse http://www. univie.ac.at/wirtschaftsgeschichte/vgs hinweisen. Sie können als AbonnentIn bei uns auch die meisten bereits erschienenen Bücher zum ermäßigten Preis beziehen.

Wir stehen in der Zeit von 9-14 Uhr täglich zur Ihrer Verfügung.

Ihr VGS-Team

Die redaktionelle Bearbeitung der „Beiträge“ wird auch im Jahr 1999 durch eine Förderung der Magistratsabteilung 18, Gruppe Wissenschaft,unterstützt Inhaltsverzeichnis

Hubert Christian Ehalt 2 Einleitung: Kunst und Kultur im 20. Jahrhundert

Helmut Konrad 5 Alltagskultur in Österreich im 20. Jahrhundert Rahmenbedingungen – Alltagskultur vor 1914 – Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit – Alltag im Nationalsozialismus – Der breite Strom der Zweiten Republik

Manfred Wagner 14 Kunst/Kultur und Politik in Österreich im 20. Jahrhundert Die Wiener Moderne – Die Erste Republik – Die Ostmark – Die Zweite Republik

Eric J. Hobsbawm 24 Kunst und Kultur am Ausgang des 20. Jahrhunderts Kultur und technische Entwicklung – Zur Reproduzierbarkeit von „hoher Kunst“ – Die Nekropolisie- rung von Kunst – Konsequenzen der Technisierung von Kulturprodukten – Neue Kulturerlebnisse – Zur Globalisierung westlicher Hochkultur

Michael Lobgesang (Glosse) 29 Nur wo heute heute ist, kann morgen morgen werden. Kunst und ihre Vermittlung am Vorabend der Jahrtausendwende

Hubert Christian Ehalt 31 Kunst zwischen Formenspiel, Psychoanalyse, Philosophie und Design Entwicklungen der Kunst im 20. Jahrhundert Die großen Entwicklungslinien – Kunstentwicklung im 20. Jahrhundert: Epochen, Ismen? – Die großen neuen Ideen: Der Readymade-Effekt; Die Magie des Verschütteten; Zufall als Methode – Ende der Kunstgeschichte?

AutorInnen

Anton BADINGER, geb. 1969, Absolvent der Sudienrichtungen Gestaltungslehre (Universität für Angewandte Kunst in Wien) und Geschichte (Universität Wien); derzeit AHS-Lehrer am GRG Wien XV. Hubert Ch. EHALT, geb. 1949, Wissenschaftsreferent der Stadt Wien, Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst, zahlreiche Publikationen zu kulturwissenschaftlichen Themen. Eric J. HOBSBAWM, geb. 1917, Professuren an der Stanford University, dem Massachussetts Institute of Technology der Cornell University, der École des Hautes Études en sciences sociales und am Collège de France. Seit 1984 lehrt er an der New School for Social Research in New York. Seine Hauptwerke in deutscher Übersetzung: Sozialre- bellen, Europäische Revolutionen 1789–1848, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Nationen und Nationalismus. Helmut KONRAD, geb. 1948, Professor für allgemeine Zeitgeschichte in Graz, 1993–1997 Rektor der Universität Graz, zahlreiche Publikationen zur Kulturgeschichte und Geschichte der Arbeiterbewegung. Michael LOBGESANG, geb. 1968, studiert Geschichte an der Universität Wien und Bildnerische Erziehung an der Akademie der bildenden Künste in Wien; Video- und Fotoarbeiten. John MORRISSEY, geb. 1953, AHS-Lehrer für Geschichte und Englisch; Universitätslektor am Institut für Wirt- schafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien; zahlreiche Publikationen zur mittelalterlichen Geschichte des mediterranen Raumes. Manfred WAGNER, geb. 1944, seit 1974 Vorstand der Lehrkanzel für Kultur- und Geistesgeschichte an der Universität für angewandte Kunst, zahlreiche Publikationen zur Kunst- und Kulturgeschichte.

Titelbild: Duan Hanson, Supermarket Lady, Fieberglas, Lebensgröße, 1970, Ausstellung im Künstlerhaus 1977 „Kunst um 1970“ 2 • Beiträge zur historischen sozialkunde

Individuen wie vor nicht allzu langer Zeit die Künstler: immer mehr Menschen basteln am Denkmal ihrer eigenen Individualität, Einleitung gestalten dementsprechend ihr Inneres (Psychodesign) und ihr Äußeres (Outfit) und Kunst und Kultur im begegnen der wachsenden Zahl unmittelbar persönlich erlebter und medial vermittelter 20. Jahrhundert Stile mit einem immer feineren Sensorium. Hubert Christian Ehalt Das vorliegende Themenheft bezieht sich analysierend, beschreibend und erzählend vor allem auf drei Veränderungsprozesse, die den alltäglichen und intellektuellen Umgang Kultur hat Konjunktur und ist ein Stand- mit Kunst und Kultur im 20. Jahrhundert ortfaktor von immer noch wachsender prägten und prägen. Bedeutung. Qualität und Vielfalt kultureller Die Lebenskultur der Menschen hat sich – Angebote bestimmen wesentlich Lebens- und nicht nur im „Westen“ – im 20. Jahrhundert Wohnqualitäten. Mit zunehmender Freizeit, unter dem Einfluß einer dynamischen mit wachsendem Einkommen und mit höhe- Veränderung wirtschaftlicher, technologi- rer Bildung steigen die Ansprüche an Lebens- scher, gesellschaftlicher und intellektueller kultur und Wohnqualität. In Entsprechung Rahmenbedingungen radikal gewandelt. zu diesen wachsenden neuen Kulturbedürf- Urbanisierung, Auflösung traditioneller nissen enstand eine Industrie, die wachsende ländlicher Lebensformen, Säkularisierung, Umsätze erzielt und Kaufkraft, Steuerein- Entritua li sierung, Aufbrechen der tradierten nahmen und Arbeitsplätze bringt. Und nicht Wert- und Verhaltenskorsette, Emanzipation, zuletzt ist Kultur ein wichtiger Impulsgeber Entpolitisierung, Veränderung des Lebens- für die Tourismusbranche geworden. laufes vom deutlich in Altersphasen struktu- rierten Leben zum Patchwork-Curriculum, Kunst und Kultur haben in vielfältigen begrifflichen Kon- vom durch die Familie geprägten Alltag zum notationen Konjunktur. Auf dem Opernball – ein Ereignis, das Single-Haushalt, Mobilität, Konsum-, Frei- vielfältige traditionelle Kulturassoziationen evoziert – koexi- zeit- und Erlebnisgesellschaft sind Begriffe, stieren Hollywood- und Kommerztycoons und Pornostars. Die die diese Änderung des Alltags, der Ziele, Ge- „wirklich feinen Leute“ gehen daher auf den Philharmonikerball, fühle und Ansprüche zum Ausdruck bringen. die „phantasievolle Avantgarde“ trifft sich am Life-Ball, die „ech- Die „alltägliche Kultur“, d.h. der Umgang mit ten“ Kulturgourmets, die Persönlichkeit und Kompetenz haben, anderen Menschen, mit Tieren, mit Dingen, wirklich schlechten Geschmack zu genießen, finden sich am mit der äußeren Natur und mit sich selbst, „Mauerblümchenball“ und am „Ball des schlechten hat sich in diesen letzten 100 Jahren radikaler Geschmacks“. verändert als in den 300 Jahren davor. Man kann das 20. Jahrhundert also auch als eine Kunst und Kultur haben in den letzten drei Folge vieler größerer und kleinerer Kultur- Jahrzehnten ihre Begriffsinhalte, ihr Asso- revolutionen sehen. ziationsfeld, ihre Identifikationsangebote Die Kunst im engeren Sinn hat in ihrer und Qualität und Spektrum der Emotionen, Formensprache im 20. Jahrhundert die tra- die sie hervorrufen, dynamisch und entschei- dierten Inhalte, Methoden, Ausdrucks- und dend verändert. Die Begriffe, die Diskurse Vermittlungsformen aufgegeben. Sie hat und die Institutionen und Medien, die sie sich auf einem Weg mit vielen Schritten von formulieren, definieren und verbreiten, Funktionen, Bedingungen und Zuschrei- vermitteln zunächst einmal die feudalen bungen autonom gemacht. Im Kosmos der und bürgerlichen Inhalte: Repräsentation, Künste gab es vom 17. bis zum Ausgang des Lebensstil, Geschmack, elitäres Bewußtsein, 19. Jahrhunderts ein Bezugssystem „archime- Avantgarde, künstlerisch-formale Qualität. discher Punkte“, von dem aus Bewertungen, Die Begriffe sagen aber auch viel über ak- Qualitätszuschreibungen, Zielsetzungen, tuelle Lebensstile und Trends aus. In den Vermittlungs- und Aneignungsformen von von Ulrich Beck, Pierre Bourdieu, Gerhard Kunst möglich waren. Dieser Wissens- und Schulze und Richard Sennett analysierten Bildungskanon, der den „feinen und gebilde- Lebensweisen der individualisierten west- ten Leuten“ aber auch den Avant garden jene lichen Gesellschaften agieren immer mehr Orientierung gab, die gleichzeitig Grund lage Beiträge zur historischen sozialkunde • 3 ihrer gesellschaftlichen Hegemonie war, wur- wie die Wertmaßstäbe, die wir unseren Ent- de in den Höheren Schulen, an den Univer- scheidungen zugrunde legen und die unsere sitäten, Kunstakademien und -hochschulen Wahrnehmung formen. zelebriert und vermittelt. Erst in den letzten Die Kulturwissenschaften haben in den Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde er letzten 30 Jahren dazu beigetragen, daß zunächst zaghaft, schließlich jedoch radikal der Kulturbegriff aus seiner Zentrierung in Frage gestellt. Der Künstler, so postulierte auf intellektuelle und künstlerische Arbeit Wassily Kandinsky am Beginn des 20. Jahr- herausgelöst wurde. Kulturkritik und -dis- hunderts, ist einer, der „sieht und zeigt“; kurs in diesem Sinn hatten Konsequenzen nicht ein Schöpfer und Gestalter, vielmehr für Wissenschaft und Politik. „Kultur ist das ein „Hinweiser“. Im Sinne dieses propheti- eigentliche Leben, sie liegt in der Politik und schen Postulats wandelten sich die Künste im Wirtschaft, im Lokalen und im Feuilleton 20. Jahrhundert in ihren Ausdrucksformen, zugrund und verbindet beide. Kultur ist in ihrem Selbstverständnis, in Rhetorik und kein Vorbehaltsgrund für Eingeweihte, sie ist Kommentar vom „Hand- zum Kopfwerk“. Die folglich auch die Substanz, um die es in der Idee wurde immer wichtiger, die eindeutige Politik geht.“ (Weizsäcker 1987) gesellschaftliche Funktion und Bedeutung Die „Beiträge zur historischen Sozialkun- verblaßte. Der Auto nomiepro zeß, der Inhal- de“ beschäftigen sich seit 23 Jahren – als Nr. te, Methoden, Ausdrucksformen, Kontext 1/1976 erschien ein Themenheft „Architektur und Vermittlung betraf, war gleichzeitig und Gesellschaft“ – mit dem sich verändern- ein Prozeß der Desintegration. Gleichzeitig den gesellschaftlichen und intellektuellen emanzipierten sich die populären und Unter- Feld, das sich zwischen „Kunst“, „Kultur“ haltungskünste und machen am Ende des 20. und „Gesellschaft“ aufspannt. Ich persönlich Jahrhunderts der „E“-Kunst Quoten, Profit, habe als Schwerpunktredakteur über zehn aber auch gesellschaftliches Prestige streitig. Themenhefte, die die Kulturdebatte thema- In den Geisteswissenschaften gibt es seit tisiert, analysiert und vorangetrieben haben, den 70er Jahren einen „cultural turn“. Die betreut. „Ritus und Gesellschaft“, „Bild und Wissenschaften erkannten in den Disziplinen Gesellschaft“, „Denkmalkultur“, „Fotografie“, der Geschichte, der Soziologie, der Ethno- „Volksfrömmigkeit“, „Kitsch und Kunst“ hie- logie, der Volkskunde, der Linguistik, daß ßen einige der Rahmenthemen. Zielsetzung eine umfassende Gesellschaftsanalyse und auch des vorliegenden Heftes ist es, die In- -beschreibung mit den Begriffen, Inhalten terdependenzen zwischen Gesellschafts- und und Methoden der Kulturwissenschaften Kunstentwicklungen, zwischen den Formen adäquater möglich ist als mit jenen der Po- der Kunst und den wichtigen gesellschaftli- litikwissenschaften und der Soziologie. Die chen Ideen und Symbolen herauszuarbeiten, Kulturwissenschaften eröffnen einen Blick sichtbar zu machen. auf die Rituale und Symbole, auf die Lebens- Die Behandlung des Themas „Kunst und und Wahrnehmungswelten des Alltags. Sie Kultur im 20. Jahrhundert“ ist aus mehreren zeigen, daß Kultur etwas ist, was sehr tief in Gründen sowohl für die Kulturwissen schaften der Seele des Individuums sitzt. Kultur ist als auch für den Unterricht interessant und jenes Feld, in dem sich individuelle Kreativi- wichtig. tät und individuelle Glückssuche in kollektiv überlieferten Inhalten und Formen ausle- m Es gibt im alltagssprachlichen Umgang ben. Kultur ist das Material, das uns hierfür mit Kunst und Kultur eine heillose Begriffs- gleichsam zur Verfügung steht. Kultur ist verwirrung. also jenes Vermittlungsfeld zwischen vor- m Der Umgang mit Kunst und Kultur ist von gegebenen Strukturen, kollektiven Mustern unaufgeklärten Mythen, Vorurteilen und von einerseits „und den Erfahrungen, der Praxis, einer dogmatischen Perspektive bestimmt, der Subjektivität der jeweils handelnden die zwischen reaktionärem Antimodernis mus oder betroffenen Menschen“ (Hanisch 1994) und politisch korrekter Aufgeschlos senheit – andererseits. Der kulturelle Zusammenhang oft nur als Lippenbekenntnis – schwankt. Die ruht auf drei Säulen: auf dem Wissen, auf eingefahrenen, ideologisierten und emotional dem Bewerten und auf den Symbolen. Alles, stark aufgeladenen Positionen lassen jene was unser Weltbild, unser Wissen um Natur offene Betrachtung nicht zu, die für Erkennt- und Menschsein, unsere technischen Fertig- nis, Verständnis, Kritik und Genuß notwendig keiten ausmacht, gehört ebenso zur Kultur ist. 4 • Beiträge zur historischen sozialkunde

m Ergebnis der grundsätzlich positiv zu Rationalität und Diskursordnung, damit aber bewertenden Auflösung herrschender Wer- auch von den Grundlagen einer demokrati- tesysteme seit der Mitte der 80er Jahre, die schen Ordnung der politischen Agenda. die Wirklichkeit mit vielen blinden Flecken m Analysen zum Verhältnis von Kunst, ortete, betrachtete und erzählte, ist eine Kultur und Politik und zum Verhältnis von „neue Unübersichtlichkeit“. Die Orientie- Ge schichte(n) und Diskursen tragen we- rungslosigkeit, die aus der Frustration über sentlich zu einer Orientierung im Labyrinth den Verlust ganzheitlicher Weltbilder resul- gegenwärtiger Postulate und Ideologeme bei. tiert, führt immer häufiger zu einer Abwen- dung von einer wissenschaftlich fundierten

WEItErfüHrEndE LItErAtur

ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale subpolitik, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 52, Wien, 1997 ulrich Beck, risikogesellschaft. auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main, 1986 Walter grasskamp, Museumsgründer und Museumsstürmer. zur sozialgeschichte des kunstmuseums, Mün- chen, 1981 Maurice godelier, Wird der Westen das universelle Modell der Menschheit? die vorindustrielle gesellschaft zwischen Veränderung und auflösung, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 5, Wien, 1991 ernst h. gombrich, künstler, kenner, kunden, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 19, Wien, 1993 ernst hanisch, der lange schatten des staates. Österreichische gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, (Österreichische geschichte 1890–1990, hg. von herwig Wolfram), Wien, 1994 hartmut häußermann, Walter siebel, neue urbanität, Frankfurt/Main, 1987 eric J. hobsbawm, das zeitalter der extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München, 1995 Werner hofmann, die kunst, die kunst zu verlernen, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 27, Wien, 1994 richard sennett, civitas. die großstadt und die kultur des unterschieds, Frankfurt/Main, 1991 sittenlockerung, nr. 77/78 der zeitschrift „der alltag“, Berlin, 1997

Offenlegung lt. Pressegesetz: Der Verein, dessen Tätigkeit nicht auf Gewinn gerichtet ist, bezweckt die Förde- rung der Forschung, Lehre und Fortbildung in allen Bereichen der Geschichte und Sozialkunde. Für den Inhalt verantwortlich: Obmann Univ. Prof. Dr. Ernst Bruckmüller AU ISSN 004-1618 Beiträge zur historischen Sozialkunde – Zeitschrift für Lehrerfortbildung. Inhaber, Herausgeber, Redaktion: Verein für Geschichte und Sozialkunde (VGS), c/o Institut für Wirt schafts- und Sozialgeschichte, Dr. Karl Lueger Ring 1, 1010 Wien. Hergestellt mit freundlicher Unterstützung der Bank Ständige Mitarbeiter Wien: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Ernst Bruckmüller, Markus Cerman, Franz Eder, Alois Ecker, Hubert Ch. Ehalt, Peter Eigner, Peter Feldbauer, Eduard Fuchs, Herbert Knittler, Andrea Komlosy, Michael Mitterauer, Alois Mosser, Walter Sauer, Andrea Schnöller, Hannes Stekl Ständige Mitarbeiter Graz: Eduard Staudinger; Ständige Mitarbeiter Linz: Michael John, Roman Sandgruber; Ständige Mitarbeiter Salzburg: Josef Ehmer, Sabine Fuchs, Peter Gutschner, Sylvia Hahn, Albert Lichtblau, Norbert Ortmayr; Ständige Mitarbeiter Luxemburg: Jean-Paul Lehners Preise Jahresabonnement: ATS 220.– (Studenten ATS 170.–), Ausland DM 38.–, inkl. Versandkosten. Einzelheft ATS 60.– (Ausland DM 10.–) zuzügl. Porto. Bankverbindungen: Bank-Austria Kto. Nr. 601 718 703, Bankleitzahl 20151 Wien; Deutschland: Hypo Bank München, Bankleitzahl 70020001; Kto. 6060714949 Herausgeber (Bestelladresse): Verein für Geschichte und Sozialkunde, c/o Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Dr. Karl Lueger Ring 1, A-1010 Wien Tel.: +43-1-4277/41305 (41301) Fax: +43-1-4277/9413 E-mail: [email protected], http://www.univie.ac.at/wirtschaftsgeschichte/vgs Redaktion: Hubert Christian Ehalt, Eduard Fuchs, Andrea Schnöller Satz und Satzbegleitung/Layout/Coverdesign: Jarmila Böhm, Marianne Oppel Beiträge zur historischen s ozialkunde • 5

Helmut Konrad der Beobachtung fremder Kulturen als Besonderheit wahrgenommen wird, auf den eigenen Kulturraum Alltagskultur in Österreich anzuwenden und diesen damit aus einer kritischen Distanz sichtbar im 20. Jahrhundert zu machen.

rahmenbedingungen

Seit etwa zwei Jahrzehnten läuft betrieben Alltagsgeschichte und Die Alltagskultur des 20. Jahrhun- auch innerhalb der österreichischen waren überzeugt, Kulturgeschichte derts ist von einigen gesamtge- Geschichtswissenschaft die Diskus- zu schreiben. sellschaftlichen Entwicklungen sion um die Alltagskultur, die, ange- Heute ist es an der Zeit, den ganz beeinflußt, die zu teilweise ein- lehnt an Vorarbeiten aus der Volks- breiten Kulturbegriff zu hinterfra- schneidenden Veränderungen der kunde (Tübingen und Wien, insbes. gen und ihn im Wissenschaftsbe- Lebenswelten geführt haben. Einige Fielhauer, 1982) und der englischen trieb auf eine bewilligbare Größe zu dieser Prozesse besitzen interna- Sozialge schich te (Thompson, 1963) reduzieren. Dazu läuft eine breite tionale Relevanz, andere wiederum und aufgenommen von der poli- internationale Diskussion mit un- sind für Österreich charakteristisch. tischen Geschichte in Österreich erhörter Vielfalt und Tiefe. Sie hat Einiges davon ist weltweit zu beob- (Kon rad, 1981), anfangs stark die inzwischen auch Österreich erfaßt. achten, anderes ist wiederum eine Arbeiterkultur im Auge hatte und Ein verwendbarer Alltagskul tur- österreichische Besonderheit. diese als „andere Kultur“, als Alterna- begriff sollte sich, und daran werden Allgemein ist im 20. Jahrhundert tive im Sinn einer Gegenkultur, zum sich die folgenden Ausführungen ein dramatischer Urbanisierungs - österreichischen Ver ständnis von orientieren, von der umfassenden prozeß festzustellen, der die Me- (Hoch-)Kultur begriff. Dabei wurde Darstellung des alltäglichen Le- gastädte der Dritten Welt entstehen der Begriff „Alltagskultur“ weitge- bens dadurch unterscheiden, daß ließ, in Österreich hingegen nur hend mit „Alltag“ gleichgesetzt und er Riten, Mythen und Symbole im als Landflucht zu sehen ist, denn hatte die Bewältigung des täglichen Auge hat, die Geschichten und die Wien, am Beginn des Jahrhunderts Lebens, das Woh nen, die Ernährung, Lieder, die Eckpfeiler des Jahres- die Metropole eines Großreichs die Kleidung und die Erziehung zum ablaufs und der Lebensgestaltung, mit einem extremen Wachstum bis Inhalt. also die Initia tionsriten, die Hei- zum Ersten Weltkrieg, stagniert Ein so breit angelegter Kultur- rats- und Be gräb nisrituale. Es geht seither. Moderne steht aber auch begriff läuft Gefahr, in die Belie- um das kulturelle, subkulturelle in Österreich für Stadt und Urba- bigkeit abzugleiten. Er war in den bzw. gegen kul tu relle Vermitteln nisierung. Waren um 1890 noch siebziger Jahren eine wichtige von Orien tie rungs punkten, von 50% der gesamten Berufstätigen Herausforderung für all jene, die Werthal tungen und Normensy- in der Land- und Forstwirtschaft Kultur mit Kunst gleichsetzten stemen, die sowohl als moralische tätig, so sind es 100 Jahre später und die sogenannte „Hochkultur“ Instanzen für das Individuum nach nur mehr 7,2%. Mehr als die Hälfte als ausschließ lich beachtenswert innen wirken als auch das kollektive der Beschäftigten arbeitet heute im ansahen. Vieles in der Kulturszene Bewußtsein formen, sichtbar in vie- Dienst lei stungs bereich (Sandgruber der späten Sechzigerjahre ist daraus len Zeichen des öffentlichen Raums. 1995: 255). erklärbar, daß die protestierende Hier gerät die Alltagskultur meist War die Volkskunde als kultur- jüngere Generation im Alltag das in Konflikt mit konkurrierenden wissenschaftliche Disziplin noch Kulturelle und im Privaten das Angeboten; die Auseinandersetzung vor einigen Jahren ganz auf die Be- Politische entdeckte. „Trari, trara, um die kulturelle Hegemonie wird schreibung des bäuerlichen Lebens die Hochkultur“, spottete ein hoher mit unterschiedlichen Härtegraden ausgerichtet, so ist dieses am Ende österreichischer Beamter, mit einem geführt. Es steht aber außer Zweifel, des 20. Jahrhunderts nur mehr ein kritischen Seitenblick auf die staat- daß vieles aus der österreichischen Minderheitenprogramm. Urbane Le- liche Kulturpolitik. Die „Grabe, wo Geschichte durch diesen Wettstreit bensformen sind fast allgegenwärtig du stehst“-Bewegung, in Österreich um die kulturelle Vorherrschaft und auch die Volkskunde trägt dem ausgelöst durch die Über setzung verstanden werden kann. Rechnung, indem sie sich zuneh- des Sven Lindquist-Textes im Buch Jedenfalls beschreibt diese De- mend mit urbanen Lebensformen „Geschichte von unten“ (Ehalt 1984) finition von Alltagskultur die be- beschäftigt. löste auch hierorts einen Boom der stimmenden Faktoren von dem, Wesentlichen Anteil am Auf- Laiengeschichts schrei bung und was man Lebenswelt nennt. Sie schwung städtischen Lebens haben der Geschichtswerkstätten aus. Alle versucht das, was üblicherweise bei natürlich die im 20. Jahrhundert so 6 • Beiträge zur historischen s ozialkunde dynamischen Entwicklungen in den von Bildung und Wissen lag in den Bereichen Mobilität und Kommu- Händen von Universitäten und Er- nikation. Zwar war zu Beginn des wach senen bildungseinrich tun gen Jahrhunderts das österreichische wie der Urania und anderen Volks- Eisenbahnnetz bereits im heutigen hochschulen. Meine Generation Ausmaß vorhanden, das heute aber wuchs noch ohne Fernseher auf, viel wichtigere Fortbewegungs- erst zu Beginn der sech ziger Jahre mittel, das Auto, steckte noch in erfaßte das Fernsehen mit einer den Kinderschuhen. Wohl beginnt für heute unvorstellbar schlechten „Der Mann ohne Eigen schaf ten“ mit einer Be schreibung dieser neuen Ver kehrstechnologie. „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze“ (Musil 1978, Bd.1:9). Aber trotz der bei Musil zitierten 190.000 Verkehrstoten pro Jahr (ebenda:11) – wohl deutlich über- trieben – aber doch schon damals gedanklich präsent, war Autofahren noch ein eher exklusives Abenteu- er. Auch die zivile Luftfahrt sollte erst durch den Ersten Weltkrieg wesentliche Impulse erhalten. Die Mas sen fuhren Rad, das war das am deutlichsten sichtbare Phänomen des Jahr hun dert beginns. Damit waren aber keine großen Strecken zu über winden; das Rad galt zudem auch eher als Sportgerät denn als Transportmittel. Bildqualität auch das Lavanttal. Votivbild anläßlich der Genesung nach Inzwischen überzieht ein Netz Inzwischen sind die meisten Haus - einem Verkehrsunfall, 1907, Franzis- von Autobahnen das Land und die halte ver kabelt und die Dach land- kanerkloster Maria Enzersdorf, aus: Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Erhöhung der Motorisierungsdichte schaf ten der Dörfer von Satel liten- Staates. Österreichische Gesellschaftsge- resultiert inzwischen aus dem Trend schüs seln geprägt. Das Stadt-Land- schichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, zum Zweit- und Drittauto; jeder Ort Gefälle ist hinsichtlich des Zugangs S. 168 Österreichs ist landesweit in wenigen zu Informationen verflacht, wäh- Stunden erreichbar. Flugreisen sind rend das Netz heute drauf und dran zur Selbstverständlichkeit geworden, ist, den Bibliotheken den Rang ab- die Über windung großer Distanzen zulaufen. Nicht mehr „Kathedralen hat sich auf ein marginales Problem der Wissenschaft“ – so heißt etwa reduziert. das Zentralgebäude der University Fast noch dramatischer war und of Penn sylvania – die noch das Bild ist die Entwicklung auf dem Sektor der Jahrhundertwende prägten – der Kommunikation. Das wesent- sondern die Steckdosen bieten in liche Kommunikationsmedium unseren Tagen die Möglichkeit des war am Beginn des Jahrhunderts Zugangs zu globaler und blitz- die Zeitung; Telephon, Telegraph schneller Kommunikation und und Schallplatte standen gerade werden uns als „Weg zum Wissen am Beginn ihrer Entwicklung. Die der Welt“ angepriesen. Photographie war schon etabliert, Ideologisch ist das 20. Jahrhun- die bewegten Bilder machten die dert das Zeitalter beschleunigter Sä- ersten Gehversuche. Als „Tempel kularisierung. Dem „Gottesgnaden- des Wissens“ fungierten die Bi- tum“ in Mittel- und Osteuropa bliotheken und die Vermittlung mit seinem intaktem Bündnis von Beiträge zur historischen s ozialkunde • 7

Thron und Altar, folgten die Ära eingetreten. Nachhaltig konnte sie andere weiterhin den alten, vorindu- der politischen Mas senparteien mit die Alltagskultur der Massen zwar striel len Strukturen verbunden ihren säkularreligiösen Denkwelten erst in der Zwischenkriegszeit prä- blieb. Diese gruppierten sich ent- in verschiedensten Aus formungen. gen; in Wien und Industrieorten wie weder um den Pfarrer oder hatten Diese Episode hatte in den meisten Wiener Neustadt oder Steyr war sie im – zumeist deutschnationalen Ländern West- und Mitteleuropas aber bereits vor 1914 eine durchaus – Lehrer ihre wesentliche Stütze. nach 1945 ein Ende, aber gerade in sichtbare kulturelle Alternative. Ohne Zweifel konnte man – trotz je Österreich hielten sich Reste davon Großstadt, bildungsbürgerlich unterschiedlicher Ausprägung der bis zum Mo der nisierungsschub geprägte Stadt, Industrieort und Gegensätze – von zwei Kulturen der sieb ziger Jahre. Religion und Land waren vor 1914 noch weitge- sprechen. Und bei aller Überschau- Politik bestimmten die Lebenswelt hend getrennte Lebenswelten. Am barkeit des Kreises der handelnden stärker als andere Faktoren, gaben Land z.B., auf dem etwa in jenen Personen herrschte oft beträchtli- die Normen vor, setzten die Zeichen Jahren meine Großmutter lebte, ches wechselseitiges Unverständnis. und Symbole und bestimmten damit galt noch die alte Ordnung – die Auch in den mittleren und grö- das Verhältnis von Individuen und Kirche gab die Regeln vor (und ßeren Städten prallten unterschied- Gemeinschaft. Der Bedeu tungs - diskriminierte meine Großmutter, liche kulturelle Milieus aufeinan- rück gang dieser Ordnungsin stan- die als Magd zwei ledige Kinder der. In den Grenzen des heutigen zen ist in der zweiten Hälfte des 20. hatte). Das Leben am Bauernhof war Österreich waren allerdings die Jahrhunderts unverkennbar. streng hierarchisiert und in seinem deutschnationalen Bildungsbürger Rhythmus an die Jahreszeiten und die eindeutig dominante Gruppe. Sie Alltagskultur vor 1914 das Wetter gebunden. Strom gab drän g ten, wie etwa in Graz, die Grup- es meist noch nicht, die nächste pe der ethnischen Minderheiten zur Die „gute alte Zeit“ der Jahrhun- Stadt war oft weit entfernt, das raschen Assimilation und besetzten dertwende wurde erst retrospektiv Leben spielte sich in einem engen das Leben der Städe, von den Stra- verklärt. Wohl hatten Kunst und Umkreis vom Wohnort ab. Wohl ßennamen bis zu den Denkmälern, Wissenschaft gerade in Wien ein gingen viele „in die Stadt“, um die von den musealen Sammlungen weltweit geachtetes Niveau, und dort vermuteten besseren Chancen der Museen bis zum Spielplan in auch in den mittleren und kleine- wahrzunehmen; die Mehrheit blieb den Theatern, von den Zeitungen ren Städten blühte das Geistes- und jedoch im Dorf. Meine Großmutter bis zu den Turnvereinen. Sozi- Kulturleben. Unter dieser Oberflä- hat damals wohl nie eine größere aler Aufstieg erforderte Anpassung che verbarg sich jedoch eine Welt Stadt gesehen, der Besuch der und Akzeptieren der „Spiel regeln“. voll von Spannungen, Ängsten und kleinen Bezirksstadt bildete schon Herausgefordert wurde diese, die Unsicherheiten. In den Städten wa- den Höhepunkt der Reisen im Jah- mittleren Städte dominierende ren die Zuwanderer zumindest für reslauf. Kultur ten dentiell bereits durch die eine Generation kaum integriert. In Industrieorten und in Bergbau- Angebote der Sozialdemokratie, in Sie brachten das Dorf in die Stadt gebieten hatte sich zeitgleich eine geringerem Ausmaß auch durch An- (Renner 1946:186f), bildeten Sub- ganz andere Alltagskultur heraus- gebote von nationalen Minoritäten. kulturen und hielten an der eigenen gebildet. Dabei besaß der Bergbau Solcherlei „Be drohungen“ hielten Sprache fest. Die Alltagskultur war die älteren Strukturen; eigene Ge- sich jedoch in engen Grenzen. zu dieser Zeit immer auch Kampf- setze, eigene Feiertage. Tänze und boden: die eigenen Lieder, die eigene andere männerbündische Rituale, Erster Weltkrieg und Zwischen- Kleidung, die eigene Art zu kochen Uniformen und Fahnen prägten kriegszeit hielten zumindest einige Zeit der die seit undenklichen Zeiten genau Konkurrenz anderer kultureller reglementierte Arbeit und Freizeit. Der Erste Weltkrieg war für zahllose Angebote stand. Teilweise kam es zu In den Industrieorten mußten Menschen mit Heilserwartungen Durchmischungs- und Inte gra tions - sich entsprechende Strukturen verbunden. Der Jahrzehnte vor dem prozessen, viele fanden eine neue erst herausbilden. Aber zu Jahr- Krieg dynamisch einsetzende Mo- Heimat in der Sozialdemokratie, die hundertbeginn existierten bereits der nisierungsprozeß hatte Ängste vor allem in Wien bereits vor dem Parteilokale, Büchereien, Frauen- geweckt, Unsicherheiten geschaffen Ersten Weltkrieg über ein dichtes und Jugendorganisationen. Und und fragile gesellschaftliche For- organisatorisches Netz verfügte. vom Gewerkschaftsheim über den mationen hervorgebracht. Waren Mit ihren eigenen Zeichen und Konsum bis zum Gesangsverein in der sogenannten „Moderne“ vor Symbolen, den roten Fahnen, den entwickelten sich Strukturen einer 1914 die Teilkulturen auseinander- Maiaufmärschen etc. war die Sozial - proletarischen Subkultur. Es war gedriftet, so fanden sie sich nun auf de mokratie mit Vehemenz in den dies jedoch nur die Welt eines Teils der Plattform des „Burgfriedens“ Kampf um den öffentlichen Raum der Dorfbewohner, während der wieder. „Ich kenne keine Parteien 8 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

mehr, ich kenne nur noch reichs Gren zen hinaus wahr genom- Deutsche“, diese Worte des men wurde die Lebenswelt, welche deutschen Herrschers stan- die Sozialdemo kratie in Wien, dem den für die nunmehr ange- „Roten Wien“, aber auch in den sagte „Klarheit“: Freund und anderen von ihr dominierten Kom- Feind, gut und böse, richtig munen aufbaute. Das sichbarste und falsch. Das „reinigende Zeichen im öffentlichen Raum war Stahlgewitter“, die Überwin- der soziale Wohnbau (Hautmann/ dung innerer Brüche durch Hautmann 1980), der das Stadt- äußere Bedrohung ließ vor bild Wiens bis zum heutigen Tag 1914 unterschiedlichen Grup- nachhaltig prägt. In diesen neuen pen unter dem Dach des Wohnanlagen wuchs das vermeint- gemeinsamen Patriotismus liche „Bauvolk der kommenden zu sammenkommen. Welt“ (Neuge bauer 1975) heran, Doch je länger der Krieg Menschen, die von der Wiege bis dauerte, umso mehr zeigten zur Bahre in einem geschlossenen sich neue Risse. Die Tren- subkulturellen System leben sollten, nung der männlichen und vom Säuglingspaket der Gemein- der weiblichen Lebenssphäre de Wien bis zur Feuerbestattung. führte zur Herausbildung Ersatzhandlungen für katholische neuer kultureller Muster Lebenseinschnitte (Jugendweihe an der Front und im Hin- statt Firmung), für die Zäsuren des terland – Männerbündische Kirchenjahres (Umzug am 1. Mai Propagandapostkarte: Kaiser Wilhelm Kameradschaft draußen und statt Fronleichnam), Kultur bis hin und Kaiser Franz Joseph als Garanten weibliche Überlebens stra tegien zu zu den Arbeitersympho nie kon zerten der Einigkeit, aus: Ernst Hanisch, Hause. Das Vordringen der Frau- (Kannonier 1987:109), die Organisa- Der lange Schatten des Staates. Öster- reichische Gesellschaftsgeschichte im en in traditionell von Män nern tion von Festen und Feiern (Rasky 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 240 dominierten Bereiche, fügte den 1992), all das prägte das Leben sozialen, nationalen und kulturel- einer Generation. Die Zeichen und len Trenn linien der Vorkriegszeit Symbole dieser Gegenkultur lösten erstmals deutlich die geschlechts- bei den anderen gesellschaftlichen spezifische dazu. Mit dem Andauern Gruppen massive Verunsicherung des Kriegs kam schließlich noch ein aus. Nach außen hin waren dies neues soziales Segment hinzu: jenes Symbole der Macht –Fahnen, Auf- der physisch oder psychisch Kriegs- märsche, Musik, große Sport feste versehrten, der „Krüppel“ und „Zit- und vieles mehr. Im Privatleben war te rer“, die, trau ma tisiert durch die es eine neue Partner schaftlichkeit, Kriegserlebnisse eigene, von der sexualfeindlich zwar, aber doch Regelmäßigkeit des Arbeitsalltags auf die Befreiung der Frau von losgelöste Überlebensstrategien äußerlichen Zwängen gerichtet: entwickeln mußten. Zu ihnen stieß „Bubikopf“, kurze Röcke, eine neue ein Jahrzehnt später das Heer der Beweglichkeit und die Annäherung Arbeitslosen – welche, einmal „aus- der Lebenswelten von männlicher gesteuert“, auf ähnliche Überleben- und weiblicher Jugend – all das spraktiken verwiesen waren. wurde von den (feindlichen) Au- In dem aus dem Ersten Weltkrieg ßenstehenden als Bedrohung des hervorgegangenen kleinen Öster- traditionellen Wertegefüges emp- reich, der „Republik, die keiner funden. Daß eine kleine Minderheit wollte“, hatte sich das Angebot der im Rahmen dieses Gegenentwurfs Teilkulturen verringert. Von den auch noch der Freikörperkultur vielen nationalen Kulturen war nur huldigte, ließ den nahen Untergang der Deutschnatio nalismus geblie- des Abendlandes befürchten. ben, der sich aber vorerst neben den Der katholische Konservativis- beiden vorherrschenden lagerspezi- mus war – vorerst noch – der Haupt- fischen Mustern behaupten mußte. kontrahent. Sein Weltbild war stark Prägend und weit über Öster- an vormodernen Mustern orientiert; Beiträge zur historischen s ozialkunde • 9

es wurden Formen be- Seipelregierung zur Entwaffnung wahrt, hinter denen nur richteten sich vornehmlich und ein- zu oft keine Inhalte mehr seitig gegen den Republikanischen standen. Wohl funktio- Schutzbund und trugen so zur Ver- nierte bäuerliches Le- schärfung der innenpolitischen Si- ben in einigen Regionen tuation bei. Mit den Bürgerkriegen noch; in anderen, wie von 1934 konnten sich für einige etwa der Oststeiermark, Jahre die katholisch-konservativen waren die Bauern im Re- Gruppen durchsetzen; es gelang gelfall hoch verschuldet ihnen aber nicht, kulturell domi- und hielten dem ökono- nant zu werden – die gespaltene mischen Druck in vielen Gesellschaft blieb zwischen 1934 bis Fällen nicht stand, was sie 1938 erhalten. schon in den 20er Jahren zu einem frühen Hoff- Alltag unter dem nungsgebiet deutschna - nationalsozialismus tionaler und nationalso- zialistischer Propaganda Die Bilderwelten des National- machte. Dennoch hatte sozialismus haben nach wie vor das alte Regelsystem un- starke Präsenz in unseren Köp- gebrochen Gültigkeit, die fen – von den Mas sen insze nie run- Plakat der Christlichsozialen 1930, aus: alten ge schlechts spezi- gen des Nürn berger Reichspar- Ernst Hanisch, Der lange Schatten des fischen Trennungen von Lebenswel- teitages, den Riefenstahl-Bildern Staates. Österreichische Gesellschaftsge- ten, der alte Jahresablauf mit den von den Olympischen Spielen in schichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 292 kirchlichen Festen. Mit Angst und Berlin 1936 bis hin zu den Bildern Aggression begegnete diese Welt der über Bücherverbrennungen und Herausforderung durch die öster- Wochenschauberichten über den reichische Arbeiterbewegung und Kriegsverlauf. Der Gedankenfluß ihrer kultureller Gegenentwürfe. führt zwangsläufig hin zu Dachau, Leichter hatten es die bürgerli- Mauthausen, Auschwitz. Aber das chen Städter, meist deutschnational sagt nicht alles. „Der Faschismus ausgerichtet, antisemitisch – das nämlich war nicht nur Massenritual bürgerliche Judentum hatte sich und Mas sen ver brechen; er war auch großteils der Sozialdemokratie an- das alltägliche Milieu, um nicht zu genähert. Und im Konflikt der bei- sagen die Heimat von Millionen von den Kulturen waren sie notwendiger Leuten, die weder Standartenträger Bündnispartner und daher meist la- noch KZ-Aufseher waren, sondern chender Dritter. Das Liebäugeln mit Block warte, Blitzmädel, Schriftfüh- dem „neuen Deutschland“ wurde rer, Obergefreite, Mutterkreuz trä- nach Hitlers Machtübernahme noch ge rinnen, Amtswalter, Pimpfe und heftiger und zog auch ursprünglich andere Arier, an denen das einzige liberalere Teile in den Sog national- Haarsträubende ihre Normalität sozialistischer Vereinheitlichung, war. Die meisten Deutschen haben verbunden mit der Herausbildung in dieser Zone zwischen „Flamme einer eigenen Subkultur in bezug empor“ und Endlösung gelebt, in auf Kleidung und politische Rituale. einem Reich des Zwielichts, wo alles Ein gemeinsames Merkmal aller unerledigt blieb, stumm, verklemmt, drei Gruppierungen war es, daß sie trübe ...“ (Hans Magnus Enzens- auch mit paramilitärischen Mitteln berger in Weber 1987:1f). um die Dominanz im öffentlichen In der sogenannten „Ostmark“ Raum kämpften – militärische war das ähnlich, es gab aber gra- Organisation, Drill, Uniformen duelle Unterschiede. Die Jahre in und Kampfübungen gehörten zum der Illegalität hatten die Natio- politischen Alltag für die männliche nalsozialisten zu einer verschwo- Jugend dieser Zeit. Die Gewalt ent- renen, aggressiven Gemeinschaft lud sich mehrfach; Maßnahmen der zusam men geschmiedet. Die Grenz- 10 • Beiträge zur historischen s ozialkunde land s itua tion, der tief verwurzelte führung“, erst zu Ende, als die Sie- Diskontinuität der ersten Jahrhun - Antisemitismus, verbunden mit germächte, aus unterschiedlichen derthälfte gegen die Kontinuität der dem Gefühl, die „besseren Na- Richtungen vorstoßend, mitten im zweiten. Aber dennoch hat sich kul- tionalsozialisten“ sein zu wollen, Land aufeinandertrafen. Die Er- turell in dieser zweiten Jahrhundert- hatte einen – gemessen an der fahrung, Kriegsschauplatz zu sein, wende ein Wandel vollzogen, dessen Bevölkerungszahl der Ersten Repu- war für Österreich neu; selbst die Geschwindigkeit und Nachhaltigkeit blik – überdurchschnittlich hohen Ältesten hatten keine Vorstellung die vorangegangenen Umformungen Täteranteil zur Folge. Aber auch davon. Der Dreißigjährige Krieg in den Schatten stellt. die Zahl der Opfer war größer, das oder die napoleonischen Feldzüge Die Welt meines Vaters, Jahr- Mordregime riß große Lücken in waren längst aus dem historischen gang 1914, verstorben schon in den die Reihen der „anderen“ Gruppen Gedächtnis entschwunden. Umso sechziger Jahren, hat sich, trotz und Kulturen. Es vernichtete die stärker prägt bis heute das Kriegs- der großen politischen Brüche, nie jüdische Gemeinde, die so viel zum ende von 1945 die kollektive Erinne- dramatisch verändert. Das Lavanttal kulturellen und geistigen Leben des rung – weniger als „Befreiung“ denn blieb sein Lebensmittelpunkt, und er Landes beigetragen hatte und es als „Besetzung“. voll zog zwar den bemerkenswerten verneinte die Existenzberechtigung sozialen Aufstieg vom ledigen Kind der übrigen ethnischen, kulturellen der breite Strom der Zweiten einer Magd zum Volksschullehrer. und religiösen Minderheiten bis hin republik Aber die Eckpfeiler seines Alltags- zu ihrer physischen Auslöschung. lebens blieben weitgehend stabil. In großen Zügen aber war der Ohne Zweifel wirken aus dem Blick- Reisen war für ihn kein wirkliches Alltag im ehemaligen Österreich winkel der politischen Geschichte Thema, obwohl er schließlich auch dem in Deutschland vergleichbar. Es die Jahre bis 1950 um sehr vieles selbst ein Auto besaß. Die weitesten waren „tausend ganz normale Jahre“ dramatischer als die mehr als 50 Reisen, bis nach Skandinavien, waren (Weber 1987) und sie prägten jene Jahre seit dem Ende des Zweiten mit dem Krieg verbunden. Eisen- am stärksten, die in jugendlicher Weltkriegs. Ein um die Jahrhundert- bahn und Postautobus erschlossen Begeisterung das einfache, dicho- wende Geborener verbrachte seine das Lavanttal im gesamten Lebens- tomische Weltbild als einziges Er- Jugend unter dem Symbol des Dop- zyklus meines Vaters gleich schlecht; klärungsmuster für die Betrachtung peladlers im großen Vielvölkerstaat. höhere Bildung wurde nur – mit der Dinge in ihrer politischen und Mit rot-weiß-roten Fahnen und neu- stark kirchlichem Hintergrund – im familiären Sozialisation erfahren en Staats wappen lebte er als junger Stift St. Paul angeboten. Die Kreis- haben. Mann in der kleinen Republik. Es läufe des Lebens waren geordnet, Der Krieg, weniger begeistert folgten die Jahre des Stän destaats, durch die Politik zwar mitbestimmt, begrüßt als der erste große Krieg symbolisiert durch das Krucken- aber nicht wesentlich verändert. des Jahrhunderts, trennte die männ- kreuz, und schließlich, noch nicht Für die Folgegeneration, also liche Erlebenswelt wieder deutlich 40 Jahre alt, fand er sich im Groß- für mich, sieht das anders aus. Als von der weiblichen: Die Männer deutschen Reich mit roten Fahnen Jahrgang 1948 konnte ich ein gutes zogen hinaus, vorerst als Eroberer, und dem Hakenkreuz im weißen Jahrzehnt in der Welt meines Vaters ab 1943 in die Kriegsszenarien von Feld wieder. An der Lebensmitte leben, dann ging es hinaus – nach Stalingrad. Und der Krieg kam – im war er schließlich wieder in der Klagenfurt erst, dann nach Wien. Gegensatz zum Ersten Weltkrieg – neubegründeten Zweiten Republik Mit dem Fahrrad wurden in den schließlich in das Land selbst. Die gelandet und hatte – wenn er Staats- Ferien „fremde Länder“ erobert – Sirenen, die die Luftangriffe an- diener war – in kaum 30 Jahren die Jugoslawien, Italien, später über kündigten, die Bomben, die Städte Eide auf fünf sehr unterschiedli- Auslandsstipendien der „Weg in auslöschten, besonders jene, in de- che Verfassungen geschworen. Ein die Welt“: Prag, England, Amerika. nen Rüstungsindustrien angesiedelt um 1950 Geborener lernte in der Das Erlernen und der Gebrauch wa ren oder die wichtige Bedeutung Volks schule die „Geschichte“ über fremder Sprachen, die zunehmend als Verkehrsknotenpunkte hatten die Entstehung der rot-weiß-roten schnel lere Kommunikation, die (Wiener Neustadt, Villach etc.), die Fah ne – eine Geschichte, die mich Me dien land schaft mit ihren 40 Angst vor der direkten Begegnung stets tief betroffen machte: ging es Fern sehsta tio nen – zu Hause hatte mit dem Feind, besonders jenem doch darum, daß Christen Heiden es kein Fernsehen gegeben –, das aus dem Osten, all dies prägte die hinmetzelten, bis das weiße Gewand In ter net, das Handy, all das gehört Erfahrung der letzten Kriegsjahre voller Blut war. Und ich selbst war heute zum kulturellen Alltag. und -monate. Der Krieg war – auch ein „Heide“, nicht getauft, in einer Losgelöst von der individuellen dies im Gegensatz zum Ersten Welt- Schulklasse mit lauter „guten ka- Ebene lassen sich die langen Jahre krieg – und speziell als Folge der in tholischen Christen“. der Zweiten Republik in ihrer all- der letzten Phase „Totalen Kriegs- Auf der Symbolebene steht also die tagskulturellen Dimension durch- Beiträge zur historischen s ozialkunde • 11 aus strukturieren, in eine chrono- überzeichnen, trifft aber die Rea- tige Abzug der Besatzungstruppen logische Ordnung bringen, die mit lität. Mit Care-Paketen und Mar- leitete eine Welle des Aufschwungs den politischen Einschnitten im shall-Hilfe wurde ebenfalls Politik ein. In der allgemeinen Sprachre- Lande korrespondiert. gemacht, die Basis für ein ohnehin gelung galt Österreich als „erstes Im ersten Jahrzehnt, jenen Jahren, westorientiertes Modell zusätzlich Opfer des Faschismus, die Täter in denen die 4 Besatzungsmächte im verstärkt. Ame ri kahäuser, Filme, waren die „häßlichen“ Deutschen. Land waren, ging es vorerst einmal Coca-Cola etc. wiesen den Weg. Im Wichtig war nun mehr vor allem die um das Überleben unter schweren Kindergarten von Frantschach-St. Realisierung des privaten Glücks. Rahmenbedingungen. Es galt, den Gertraud sehe ich mich auf einem In den späten fünf ziger und frü- Schutt wegzuräumen und Grundla- Faschingsphoto, wahrscheinlich um hen sech ziger Jahren setzte das ein, gen für eine meist neue Existenz zu 1953, als einziger Kasperl unendlich was man die „große Freßwelle“ nen- finden. Die Last lag großteils auf den traurig unter lauter Cowboys, die nen sollte. Die Genußbe friedigung Schultern der Frauen, da viele Män- verwegen mit ihren Colts in die machte der Mangelernäh rung der ner gefallen, noch nicht heimgekehrt Kamera zielen. Kriegs- und ersten Nach- waren oder teilweise noch Jahre in Die politische Alltagskultur dieses kriegs- jahre Platz, Fleisch Kriegsgefangenenlagern zubringen Jahrzehnts war eigenartig gespalten. hatte schon ei- mußten. Die völlige Umkehrung der Die handelnden Perso- nen fixen politischen Werte war oft das gerin- nen an der Spit- Platz im gere Problem, verglichen mit den ze hatten längst wöchtli- existentiellen Sorgen. Die Träger- den Weg zum chen Spei- schichten des Nationalsozialismus Konsens gefun- seplan. Im fanden sich, soweit man ihrer habhaft den und diesen Verlauf werden konnte, in Lagern (Glasen- in der Großen der Jahre bach, Wolfsberg) wieder; die breite Koalition und wurden Masse nahm aber den politischen dem Lohn-Preis- nunmehr Wechsel und den Austausch der Abkommen, den auch Symbole weitgehend passiv hin – es Vorläufern der So- langfristi- galt, sich im Alltag mit den „Be- zialpartnerschaft, ge Kon- satzern“ zu arrangieren. Die Kluft, realpolitisch sumgüter die durch das Land ging, war tief – umgesetzt, angeschafft insbesondere zwischen „Ost“ und so herrschte – teilweise ehe- „West“: Zwischen Linz und Ur fahr an der Basis malige Luxusgüter, zum die Donau zu überschreiten, war noch die Mentalität der Zwi schen- anderen Teil vollkommen neu ent- eine beträchtliche Hürde. Ent lau- kriegs zeit. Mein Aufwachsen bei den wickelte Produkte. Waschmaschi- sungspulver und strenge Kontrollen „Kinderfreunden“, „Roten Falken“, nen, Kühlschränke, Fernsehgeräte auf der Nibelungenbrücke, im Nor- mit Arbeiterliedern, Ferien lagern, und Autos begannen die österreichi- den das straffe Regime der Sowjets, Wanderlehrern etc., wie ich es am schen Haushalte zu erobern (siehe im Süden immerhin die Möglichkeit Dorf erfahren konnte, war weiter- Grafik auf der nächsten Seite). zum beschränkten „Fraternisie- hin stark den politischen Mustern Damit einher ging der Boom im ren“, was Nylons, Schokolade oder der Zwischenkriegszeit verhaftet. Eigenheimbau, die ersten Urlaubsrei- Zigaretten eintrug. Ich selbst habe Die politischen Lager bedeuteten sen an die italienische Adria. Pirron schemenhafte Erinnerungen an die Sicherheit, sie boten auch sozialen und Knapp besingen diese Zeit, von Engländer: wie ein Lauffeuer sprach Rückhalt in Fragen von Arbeit, der Waschmaschine Fifi bis zum es sich unter uns Kindern herum, Wohnung und Bildung. Der Platz Wirtschaftswunder, vom Goggomobil wenn sie durch das Dorf fuhren. Und im Volkshilfeheim, der mir den bis zur Campingfahrt nach Italien. wenn wir winkten, gab es manchmal Weg zur höheren Bildung mate- Dieses private Lebensglück deckte kleine Geschenke. riell eröffnete, war Ausfluß dieses die gesellschaftlichen Widersprüche Arrangieren mußte man sich aber Eingebettetseins in eine politische weitgehend zu. Die Ungarn-Krise be- auch, was das Marktangebot anbe- Subkultur. Diese hielt zumindest stätigte die Richtigkeit der politischen langte. Der Schwarzmarkt blühte, weitere zehn Jahre, als ein Relikt, Grundlinie, Verstaatlichte Industrie Hamsterfahrten aufs Land wurden das aus der ersten Jahr hun derthälfte und Sozialpartnerschaft schienen organisiert und in dieser Grauzone in die zweite hineinragte und im Vollbeschäftigung und Wirtschafts- der Legalität entstand erster Wohl- übrigen Westeuropa – sieht man wachstum zu garantieren – Öster- stand. Der Kalte Krieg brachte die von Skandinavien ab – schon längst reich wurde zum „Modell“, gewann Geheimdienste ins Spiel, der „Dritte verschwunden war. an Selbstvertrauen. Mann“ mag dies zwar tendenziell Der Staatsvertrag und der endgül- Retrospektiv sind schon in die- 12 • Beiträge zur historischen Sozialkunde

sen Jahren die Weichenstellungen neten neue Formen der Studienbei­ sichtbar, die in eine andere politi- hilfen die Universitäten und begrün- sche Kultur und damit auch in die deten den Bildungsboom der 70er Herausbildung einer neuen Alltags- Jahre. Die größere soziale Durch- kultur mündeten. Die „Kronen- lässigkeit ebnete einer Generation Zeitung“ wurde gegründet, ein po- den Weg zur Hochschulbildung, litischer Populismus mit deutlicher die alte Muster kritisch hinterfragte Negierung der Lagergrenzen oder und die Tabus der Elterngenerati- on zum Thema machte. Wichtige Impulse gingen von der Kunst aus, der Wiener Aktionismus wies die Richtung, in die sich 1968 die Studenten- und Ju­gendszene ent- wickelte. Die Pille war bereits am Markt, Aids noch unbekannt, und so wuchs erstmals eine Generation heran, die politische Reflexion und die Erfahrung sexueller Freiheit miteinander verbinden konnte: „Das Private ist politisch“ war die Parole, und unter diesem Motto prallte nach 2 Jahrzehnten des Wieder- aufbaus, bescheidener wirtschaft- licher Prosperität und verknüpft mit einem weitgehenden Rückzug in die Privatheit eine neue Kultur Während der Arena-Besetzung im der Tabus in kirchlichen Fragen auf die stabil geglaubten Muster. Sommer 1976, aus: Danneberg/Keller/ begann sich durchzusetzen. Politi- Die internationale Protestbewe- Machalitzky/Mende (Hg.): die 68er. kern, wie z. B. Franz Olah, kam hier gung gegen den Vietnamkrieg, Che eine generation und ihr erbe, Wien 1998, S. 144 eine Vorläuferrolle zu. Das stabiler Guevara, die Kritik am persischen werdende Öster­reich­bewußtsein Regime, an der Springer-Presse, wurde um die Facette eines neuen der Kampf um Bürgerrechte und Regio­nalismus erweitert. der Antifaschismus eroberten sich Die zweite Hälfte der sechziger zunehmend einen Anteil am politi- Jahre brachte eine weitergehen- schen Tagesgeschehen; der Prager de Umstrukturierung. Die Große Frühling nährte Hoffnungen auf Koalition zerbrach, gleichzeitg öff- ganz andere Formen der Politik. Beiträge zur historischen s ozialkunde • 13

Neue Musik, heute vornehmlich mit formen können aus einer Vielzahl Europa wird dies noch deutlicher „Wood stock“ assoziiert, neue Klei- von Angeboten ausgewählt werden. machen, Öster reich wird zum eu- dung, neue Frisuren, all dies war Teil Die Integration ins gemeinsame ropäischen Normalfall. des einsetzenden, grundlegenden Wertewandels. LItErAtur Politisch manifestierte sich dies im Modernisierungsschub, den Österreich in den siebziger Jahren aBleitinger a. u.a. (hg.), Österreich unter alliierter Besatzung. Wien 1998. durchlief. Die Ära Kreisky brach- ehalt h. ch. (hg.), geschichte von unten. Wien 1980 (siehe unten Weber). teein neues Strafrecht, ein neues Fielhauer h. P. / Bockhorn o. (hg.), die andere kultur. Volkskunde, sozialwissen- Hoch schulrecht – alles schien in schaften und arbeiterkultur. Wien 1982. diesen Jahren möglich, und mei- haller M. u.a. (hg.), Österreich im Wandel. Werte, lebensformen und lebensqualität ne Generation faßte im – wenige 1986 bis 1993. München 1996. Jahre zuvor noch heftig bekämpf- hanisch e., der lange schatten des staates. Österreichische gesellschaftsgeschichte im ten – universitären System Fuß. 20. Jahrhundert. Wien 1994. Österreich holte rasant den Moder- hautMann h./hautMann r., die gemeindebauten des roten Wien 1919-1934. Wien ni sie rungsprozeß nach, und zwar 1980. so atemberaubend schnell, daß kannonier r., Bruchlinien in der modernen kunstmusik. kulturstudien bei Böhlau, Bd. der Blick auf neue Konfliktlinien 8. Wien 1988. verstellt wurde. Eine modernisie- konrad h., das entstehen der arbeiterklasse in oberösterreich. Wien 1981. rungskritische Linie, die sich in kriechBauMer J. (hg.), Österreichische nationalgeschichte nach 1945: der spiegel der Volksabstimmung zum Kern- der erinnerung: die sicht von innen. Wien 1998. kraftwerk Zwentendorf durchsetzte, neugeBauer W., Bauvolk der kommenden Welt. geschichte der sozialistischen Jugend- machte erstmals deutlich, daß die bewegung in Österreich. Wien 1975. unkritische Fortschrittsgläubig- Pelinka a./Plasser F. (hg.), das österreichische Parteiensystem. Wien 1988. keit nicht unwidersprochen blei- rásky B., arbeiterfesttage. die Fest- und Feiernkultur der sozialdemokratischen Bewe- ben konnte. Und die Artikulierung gung in der ersten republik Österreich 1918-1934. Wien 1992. geschlechtsspezifischer Anliegen renner k., an der Wende zweier zeiten. lebenserinnerungen. Wien 1946. durch die neue Frauenbewegung riesenFellner st./seiter J., der kuckuck. die moderne Bild- illustrierte des roten stellte von einer anderen Warte aus Wien. Wien 1995. die Mehrheitspositionen der siebzi- ruPPert W. (hg.), die arbeiter. lebensformen, alltag und kultur. München 1986. ger Jahre in Frage. saFrian h./Witek h., und keiner war dabei. dokumente des alltäglichen antisemitis- Seither hat Österreich seine all- mus in Wien 1938. Wien 1988. tagskulturellen Besonderheiten sandgruBer r., Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom weitgehend abgelegt. Später als Mittelalter bis zur gegenwart. Wien 1995. in anderen Staaten sind die alten thoMPson e. P. , the Making of the english Working class. harmondsworth 1963. Strukturen aufgebrochen, nunmehr WeBer o., tausende ganz normale Jahre. ein Photoalbum des gewöhnlichen Faschismus. aber herrscht Individualismus. Das die andere Bibliothek, sonderband. nördlingen 1987. Überschreiten von Grenzen ist heute Weidenholzer J., auf dem Weg zum „neuen Menschen“. Bildungs- und kulturarbeit keine Provokation mehr, die Lebens- der österreichischen sozialdemokratie in der ersten republik. Wien 1981. 14 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

Manfred Wagner schichte, die man wie der Autor ganz zweitrepublikanisch, die Generation vor ihm auch noch (zu mindest teil- Kunst/Kultur und Politik in Österreich weise) erstrepubli ka nisch erlebte. Obwohl inzwischen einige be- im 20. Jahrhundert deutende Aufarbeitungen der öster- Kunst/Kultur ist ein weites Land. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind die reichischen Geschichte dieses 20. Jahrhunderts vorliegen (genannt sei vor allem Ernst Hanischs „Der lange Schatten den Staates. Öster- Begriffe gegeneinander austausch- Menschen in der Versinnlichung reichische Gesellschaftsgeschichte bar und erfahren selten Differen- seines intellektuellen, emotionalen im 20. Jahrhundert“, Wien 1994), zierungen. Wenn sie formu liert sowie sozialen Vermögens denkbar. so wird gewöhnlich nicht nur Kultur werden, dann geschieht dies eher Der Zusammenhang zwischen Kunst auf Kunst begrenzt, sondern auch mit einer Rezeptionsvor stel lung, die und Kultur wäre dann dahingehend ausschließlich der Rezeptionsaspekt die Kunst den Eliten und die Kultur herstellbar, daß Kultur entweder als als gesellschaftspolitisch relevanter den Massen zuspricht. Darüber hin- Derivat der Kunst in der Konnexi- herausgestellt. Wenn auch der Zu- aus ist der Kulturbegriff dermaßen on mit gesellschaftlichen Kräften sam menhang von Kunst/Kultur und inflationär verwendet worden, daß interpretierbar würde oder daß Politik zwingend besteht, hingegen er letztlich schon wieder auf die ur- innerhalb ihrer künstlerischen es meistens sehr schwierig ist, die sprüngliche Bedeutung reflektiert, Dar stellungskategorien die kul- Fäden der Verknüpfung zu entwir- die aber keineswegs intendiert ist: turelle Befindlichkeit der jeweilig ren und dies, wie ich ausführlich daß nämlich Kultur jenes Phä- topographisch gebundenen Gesell- darstellte, ohnehin nur am einzel- nomen ist, das den Menschen im schaft explizit und radikal sichtbar nen Kunstobjekt zu verifizieren wesent lichen von der faunalen und würde. Da diese Differenzierungen ist (Wagner 1991), so läßt sich die floralen Welt unterscheidet, also in der Literatur nahezu ununter- Einfachgleichung von sozialdemo- mensch liches Handeln schlechthin brochen verwischt werden, sei mit kratischer = linker Kunst/Kultur darstellt. Dem widerspräche auch der Krücke Kunst/Kultur jenes Feld und konservativer = rechter Kunst/ nicht die moderne Gesellschafts- abgesteckt, über das – undefiniert Kultur oder nationalsozialistischer theorie mit ihrem Posi tivappell, zumindest – die Einheitlichkeit = Nazi-Kunst/Kultur nicht aufstel- daß Kultur die Vorstellung von einer gewissen Begriffsvorstellung len. Darauf wies schon Friedrich dem sei, was gemeinschaftlich sein besteht. Heer hin (Heer 1981), der dies als soll (Habermas) und/oder in die Bislang ist es nicht gelungen, unge rechtfertigte Vereinnahmung Gemeinschaft wirke, also ein offener eine Kunst/Kulturgeschichte des späterer Generationen sah und als Prozeß sei, durch den individuelle 20. Jahrhunderts zu schreiben, auch Projektion von Wunschvorstellun- und gemeinschaftliche menschliche nicht auf einen so kleinen Raum gen. Lebensbedingungen, Verhaltenswei- wie Österreich bezogen. Möglicher- Demnach ist auch die strikte Tren - sen und Lebensformen vermittelt, weise hängt dies mit dem üblichen nung von Hochkultur, Bürgerkul- gestaltet und entwickelt würden. Zwei-Generationen-Abstand für tur, Staatskultur, Landeskultur, Demgemäß wären kulturelle Ent- die Akzeptanz und damit auch die Arbeiterkultur oder Fremdkultur wicklungen (wenn überhaupt) nur Internalisierung historischer Ge- methodisch unbrauchbar, obwohl durch konzertierte Strukturmaß- schehnisse zusammen, möglicher- bestimmte Rezeptionsergebnisse nahmen der gesamten Sozialsphä- weise hat es mit kollektiver Scham zumindest undifferenziert dafür re, konkret also vom gesamten oder kollektiver Verdrängung der sprächen. Sinnvoller ist daher, die politischen Wollen auf lange Sicht durchaus unrühmlichen Phasen Geschichte dieses Jahrhunderts von beeinflußbar. zwischen 1930 und 1960 zu tun, der politischen Szene her zu begrei- Auch wenn viele Theoretiker, die möglicherweise sind die ideologi- fen, diese gesellschaftspolitisch zu sich mit Kunst beschäftigen, den schen Bindungen oder Vorurteile beschreiben und damit die geisti- Überbegriff an sich leugnen oder zwischen „links“ und „rechts“ nach gen Strömungen der Kunst/Kultur ihn, wie es in den Szenen geradezu wie vor auch wissenschaftsprägend offenzulegen, wobei die Grenzen Mode wird, zum Promotionsvoka- und möglicherweise ist ebenso das allerdings nicht mit jenen starren bular des eigenen Tuns machen steil aufsteigende Nationalbewußt- Rahmendaten zu setzen sind, die (Drexler/Eiblmayr/Maderthaner sein der Österreicher, das im politi- die politischen Geschehnisse kenn- 1998), wäre eine Definition im Sinne schen Alltag teilweise chauvinistisch zeich nen. der Kunst als Höchstentwick lung ausartet, der Hinderungsgrund für Grob gefaßt wären dies: eine spe- des schöpferischen Potentials des eine kühle Beschreibung der Ge- zielle Wiener Moderne, die sich sehr Beiträge zur historischen s ozialkunde • 15 wohl von der formalen der Pariser zu. Auch das öster reichische Kai- nung gerufen wurden. Die oftmals Szene unterscheidet und bis in die serhaus, dem vermutlich auf Grund zitierte Zensur war, verfolgt man späten zwanziger Jahre hinein- der Kunstfeindlichkeit des Thron- ihre Entscheidungen genau, eine reicht, eine deutsch-nationalistische folgers Franz Ferdinand immer relativ autonome Behörde mit Phase, die von Ende der zwan ziger noch die Vorurteile einer vermeint- relativ autonomer Will kür, deren Jahre bis in die fünfziger Jahre lichen künst lerischen Ablehnung Ent scheidungsgrundlagen selbst der währt und im Nationalsozialismus begegnen, sperrte sich nicht gegen Kaiser nicht durchschaute. Außer- (wo Österreich allerdings nicht als diese neuen Strömungen, wie der dem war die Jahrhundertwende das souveräner Staat bestand) seinen oftmalige Besuch des Kaisers in der Resultat einer Informations ex plosion Höhepunkt erfährt, sowie die Ge- Seces sion, deren rasch umgesetzte im Druck bereich sowie einer Innova- schichte der Zweiten Republik, die Gründungsge schichte oder die tionskultur auf jedem Sektor, wobei allerdings künstlerisch erst ab den Beset zungspolitik der Universitäten die technischen Errungenschaften, späten sechziger Jahren zum Tragen beweisen. Beispielsweise war 1910 die teilweise Welt be rühmt heit er- kam, und zur Jahrtausendwende, keine der Lehrkanzeln der Juri- langten (Gasglüh licht, Auto, Film, so scheint es zumindest, sich selbst dischen Fakultät mit einem Lehr- Turbine …), in der Rezeption eher neu formieren wird müssen. stuhlinhaber besetzt, der aus dem vernachlässigt wurden und eine Art deutschsprachigen Kernland kam, Flucht in die Kunst/Kultur (Carl die Wiener Moderne und ebenso selbstverständlich war E. Schorske) das Bewußtsein do- die eher prosemitische Haltung des minierte. Diese Epoche, gewöhnlich als „Jahr- Kaiserhauses, die vielen jüdischen Zweifellos hat dieser Umstand hundertwende“ bezeichnet oder Künstlern, und noch dazu, wenn sie mit der Konzentration auf die See- als „Fin de siècle“ – wobei die Ein- aus den Kronländern kamen, nichts le (oder was man dafür hielt) zu schätzung vom Weltuntergang in den Weg legte. tun, ein Phänomen, das die Psy- (Werner Hofmann, in Schorske) bis Wenn man eine Matrix über die choanalyse erklärbar macht und zur Utopie des Machbaren (Berner/ Künstlerbiographien dieser Epoche jene Bevorzugung der inneren Brix/Mantl 1986) reichte –, währte aus allen Genres legte, würde man Empfindungen, die sich so deutlich in ihrer Kulmination circa vierzig annähernd zu folgenden Parame- von der Konzentration auf die äu- Jahre (1882–1918), mit den Eck- tern kommen: ßere Formulierung, wie sie in der daten der Verfassungs ge bung der – regionale Abstammung und Be- Pariser Moderne sichtbar wurde, Deutschnationalen Partei von Georg folgung des metropolitanen Sogs unterschied. Diese Empfindun- Ritter von Schönerer am 1. Septem- – humanistische Ausbildung gen konnten schon auch konkrete ber 1882, der die Sozialdemokraten – professionelle Handwerklichkeit Gestalt annehmen, z. B. in den (1889) und die Christ lich sozialen – Akzeptanz des Fortschritts bei Produkten der Wiener Werkstätte, (1891) folgten und die das Zentrum gleichzeitigem Respekt vor der den Bühnenbildern Alfred Rollers, der politischen Auseinandersetzung Geschichte der Erfindung des Zwölftonsystems im 20. Jahrhundert bilden soll- – Wissen um die Notwendigkeit der durch Arnold Schönberg oder jener te, und dem Ende der Monarchie Mobilität Jugend stilkunst, die in ihrer ge- 1918, wobei sowohl die Eingangs- – Glaube an die uneingeschränkte sellschaftlichen Nachwirkung erst als auch die Ausgangsphasen viel Machbarkeit und in den letzten Jahrzehnten dieses großflächiger anzusetzen wären. – eine gewisse Liberalität, ver- Jahrhunderts voll erfaßt und damit Beispielsweise ist Wien um 1900 standen als egalitäre Position nach geahmt wurde (Architektur). ohne den Faktor Migration gar gegenüber allen Ausformungen Das Kennzeichen dieser Wie- nicht denkbar, eine Bewegung, die von Pluralität. ner Moderne war Pluralität, mit bereits im zweiten Drittel des 19. Die vielbeschworene Kluft zwi- teilweise offenen Feindschaften, Jahrhunderts einsetzte und die schen Herrscherhaus und Kunst/ mit der Vorstellung einer unendli- besten Kräfte der Völker der Monar- Kultur war also nicht prinzipiell chen Mach barkeit der Welt in ihrer chie aus allen Teilen dazu bewegte, gegeben, sondern – wie im Falle physischen wie auch psychischen dem „Sog des Vakuums“ (Hermann Loos – eher eine Frage des persön- Struk tur, eine Utopie, die bis heute Broch, Schriften zur Literatur 1. lichen Geschmacks. Andererseits nicht ausgereizt scheint, aber auch Kritik [1947/48], 1976:145), der in hielten sich eigentlich nur Stefan mit einem gefährlichen Totalitäts- Wien herrschte, zu folgen. Tatsäch- Zweig und Karl Kraus aus jener anspruch, der fast präfaschistische lich bot Wien jedem eine Chance, Kriegseupho rie heraus, die in den Züge annehmen konnte, wenn bei- half ihm aber nicht dabei (Pulzer künstlerischen Äußerungen vor spielsweise bei der Gründungsfeier 1986:35ff), ließ aber die Selbst- dem Ersten Weltkrieg aufleuchte- der Wiener Secession nach dem entfaltung und die sich schnel ler ten und erst durch die persönliche Kunstdurchsetzungsfaktor Staat durchsetzende Gruppenstruktur Erfahrung (Kokoschka) zur Besin- verlangt wurde (Bahr 1901). 16 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

Spinnennetz“) 1923 in der Arbei- höchste aller anzustrebenden Bil- die Erste republik terzeitung als Fortsetzungsroman dungsgüter sei, womit nicht nur die erscheinen ließ, so war Karl Kraus bürgerlichen Vorstellungen kopiert Auch wenn nach dem verlorenen nicht nur ein enger Freund des wurden, sondern letztlich auch das Krieg und dem Zerfall der Donau- Chefredakteurs der Arbeiterzei- Problem der Massenuniversität monarchie niemand an ein autono- tung, Friedrich Austerlitz, sondern programmiert war. Andererseits mes Österreich glaubte („Deutschö- unterstützte die Sozialdemokraten betonte Glöckel die Chancengleich- sterreich ist ein Bestandteil der auch; so war denkbar, daß Franz heit und die Begabtenförderung in Deutschen Republik“), verbindet Werfel und Josef Weinheber an der Erkenntnis eines vernünftigen sich mit dieser Zeit – zumindest mit den revolutionären Umtrieben von Kreativitätsbegriffs, er förderte die ihrem weitaus größten Teil – der 1918 (Rote Garden) partizipierten, In dividualentwicklung durch Klas- Begriff vom „Roten Wien“. Tatsäch- ja selbst die politische Führung der senschülerzahlenbegrenzung, die lich war ja die Sozialdemokratie, die Sozialdemokratie künstlerisch tätig Unabhängigkeit von der Ökonomie nicht nur an die Regierungsmacht war: beispielsweise Karl Renner, der und die Einbeziehung der neuent- kam, sondern auch erstmals den Gedichte schrieb, die erste öster- deckten psychologischen Forschung. Bürgermeister stellte, als Kulturbe- reichische Staatshymne textete (die Die Arbeit der Hochschule als Spitze wegung gegründet worden, wobei in von Wilhelm Kienzl vertont wurde) der sozialistischen Bildungszentrale den Gründungs- wie auch späteren und die öffentlich kaum bekannt umschloß die Gebiete Ökonomie, Parteiprogrammen unter Kultur war, oder sein großes Lehrgedicht Soziologie, Rechtswissenschaft, eher Bildung verstanden wurde und „Das Weltbild der Moderne“ in den Gewerkschaftskunde und Rheto- die Kunst egalitär zur Wissenschaft fünfziger Jahren schreiben konnte. rik und entwickelte damit eine gesetzt wurde. Noch im Linzer So waren spätere Minister, wie der Lebensschule, die beispielsweise Parteiprogramm vom 3. November aus Schlesien stammende Ferdi- dem Schriftsetzer Franz Jonas den 1926, als bereits die Verbürgerli- nand Hanusch, Romanciers, die Aufstieg zum Staatsoberhaupt der chung der Kunstvorstellung immer das Elend der Arbeiterschaft am Republik Österreich ermöglichte. sichtbarer wurde, heißt es expressis eigenen Leib kennengelernt hatten Die Volkshochschulen mit ihrem verbis: („Die Namenlosen“, „Auf der Walz“, durchaus hohen Niveau, die Ar- „Sie [die Sozialdemokratie] un- „Lazarus“), so war die bekannte Adel- beiterbüchereien mit einer Ent lehn- terstützt alle Anstrengungen der heid Popp, das „Engels-Schatzerl“ ziffer von 3 Millionen Büchern pro fortgeschrittensten Schichten der der Partei, ebenso autobiographisch Jahr, die Turn- und Sportverbände Arbeiterklasse, sich die Errungen- tätig, oder schrieb Rudolf Brunn- und die Wohlfahrtspflege, die der schaften der Wissenschaft und der graber in seinen Romanen „Radium“ wohl bedeutendste Sozialre former Kunst anzueignen und sie mit den und „Opiumkrieg“ über die moderne der Ersten Republik, Julius Tandler, sich allmählich aus den Lebensbe- technische Welt und der Arbeiterzei- mit Hilfe seiner Frei mau rerfreunde dingungen der Arbeiterklasse selbst tungsredakteur Ernst Fischer (der institutionell umsetzte, liefen im entwickelnden, vom Geiste ihres später zu den Kom munisten abwan- wesentlichen auf die Eman zipation Befreiungskampfes erfüllten Kul tur- derte) sein Stim mungs buch „Krise der Lebensweisen bislang benach- elementen und Keimzellen der wer- der Jugend“. Jura Soyfer widmete teiligter Bevölkerungsschich ten denden proletarisch-sozialistischen dem Untergang der österreichischen hinaus, ohne klas seneigene Kapazi- Kultur zu verschmelzen.“ (zit. n. Sozialdemokratie seinen Fragmen- tät aufzubauen. Kadan/Pelinka 1979:88) troman „So starb eine Partei“, und Die Verbindung Sozialdemokratie Tatsächlich war die politische Alfons Petzold und Josef Luitpold und Avantgarde ist auch aus dem Gleichsetzung von Sozialdemokra- Stern galten als Arbeiterdichter, die Programm der sozialdemokrati- tie und Avantgarde erklärtes Hand- über ihre Klientel hinaus Ränge in schen „Kunststelle“, die 1919 ins lungsprogramm, sogar soweit, daß der allgemeinen Literaturgeschichte Leben gerufen wurde, abzulesen. der 35jährige klerikale Architekt erreichen konnten. Dort wurden nicht nur verbilligte Clemens Holzmeister beauftragt Daß die Sozialdemokraten Konzert- und Theaterkarten aus- wird, das Wiener Krematorium (1922) wußten, welchen Stellenwert die gegeben, sondern auch Arbeiters- zu errichten. Weniger von Bedeu- Bildung in der Veränderung der infoniekonzerte veranstaltet, um tung war damals das ideologische Gesellschaft einnahm, zeigt sich den Zuhörern den Zugang sowohl Bekenntnis der Künstler, sondern nicht nur aus dem neuen sozia- zur klassischen Musik als auch zur vielmehr ihr Arbeitseinsatz, ihre listischen Schul modell, das Otto Avant garde zu ermöglichen. Anton Innovationsbereitschaft, ihre Ge- Glöckel durch zog, sondern auch an von Webern, Paul Amadeus Pisk, dankenschärfe und ihre Ana ly- einer heute von uns empfundenen aber auch Pultstars wie Ferdinand senmethodik. So kam es, daß Joseph Fehleinschätzung: daß nämlich Löwe, Wilhelm Furtwängler oder Roth seinen ersten Roman („Das der Zugang zur Universität das stellten sich für die Beiträge zur historischen s ozialkunde • 17

Sinfoniekonzerte der Wiener Arbei- Mittel überbrachten außermusika- 3:1 in Darstellungen von Stilleben, terschaft, dessen erstes schon am 29. lischen Botschaft wie bei Richard Landschaften, Genres oder Interieur Dezember 1905 im Großen Musik- Strauss als Erbe Wagners, das „deut- und in religiöse, mythologische vereinssaal stattgefunden hatte, zur sche Idiom“ anstelle der Weltver- oder allegorische Werke. Wenige Verfügung. 1919 hatte sich auch ein ständlichkeit wie bei Hans Pfitzner, Künstler wie Carry Hauser, Herbert Verein für volkstümliche Musik- die sentimentale Stim mungsmache Boeckl, Sylvia Koller, Albert Paris pflege konstituiert, den Karl Weigl anstatt des Kunstverstandes wie bei Gütersloh oder Max Oppenheimer und Karl Prohaska dominierten, Karl Goldmark, die beliebige außer- nehmen in ihre eher neutral gesehe- und ebenso ein Dilettantenorche- ästhetische Projektion anstelle des ne Thematik Aspekte der ausländi- ster (Wiener Volksorchester). Die ästhetischen Geschmacks wie bei schen Moderne auf, gleichgültig, ob „Kunststelle“ hatte seit 1923 einen Wilhelm Kienzl. Wohin die Reise aus Paris, Italien oder Deutschland. eigenen Singverein (mit Anton von ging, ist aus einer rein quantitativen Nur ganz wenige von ihnen wurden Webern als Chormeister) und ab Seitenzählung der Kritiken vom Mai Lehrer an den Kunstakademien, an 1930 ein Kammerorchester unter 1931 zu ’ „Frau ohne denen sich bereits Sympathisanten Paul Amadeus Pisk. Es gab eine Rei- Schatten“, uraufgeführt am 10. Ok- der neuen nationalsozialistischen he von Kompositionsaufträgen, im tober 1919, und Anton von Weberns Bewegung festgesetzt hatten. Viele wesentlichen an Schönberg-Schüler, Quartett op. 22 (1930) abzulesen: verließen auch Österreich wegen es wurden Wiener Erstaufführungen Die in Wien in einhelligem Jubel er- der „Absperrung von allem frischen von ausländischen Avant gardisten schienenen Strauss-Besprechungen Luftzug, die jeden neuen Aufbruch wie Bartók, Janacek, Kodály oder machen knapp 100 Seiten aus, jene im Keim zu ersticken drohte“, wie Prokofjew geboten. Allerdings sieht über Webern nicht ganz vier. der Kunstkritiker Hans Tietze schon man auch zunehmend jenes hilf- Auch in der Dichtung wurde die 1921 feinfühlig bemerkt hatte, so lose Umsteigen in die bürgerliche deutsch(national)e Zugehörigkeit Oskar Kokoschka, Anton Kolig, Unterhaltungskul tur, die von weit- immer durchscheinender. Die Füh- Georg Ehrlich, Gerd Frankl, Georg sichtigen Theoretikern wie Hugo reridee taucht immer öfter auf, auch Merkl, später Fritz Wotruba oder Kauder oder Paul Stefan schon ab wenn sie sich hinter unverdächtigen Max Oppen heimer. 1920 prophezeit wurde. Themen verbirgt, der historische Der Doyen der österreichischen Das Programm der 100 Arbeiter- Roman wird zum Träger der Umin- Architekturkritik, Friedrich Ach- chöre mit rund 20.000 Mitgliedern terpretation der Geschichte und die leitner, registrierte intelligent den zeigt erbarmungslos diese Degene- Geschichte zum Argument. Die Brü- gravierendsten Unterschied in der ration des ehemaligen Avant garde- chigkeit der Gegenwart wird immer architektonischen Bauweise als gedankens und das langsame Abglei- mehr beschworen (Bruno Brehm eine 1. Nachkriegs- und eine 2. ten in jene immer stärker deutsch - oder Egon Caesar Conte Corti), den Vor kriegs phase. Damit war die Pro- national geprägte Stim mungs- Gegensatz zur Stadt – jenem Symbol blematik der sozialistischen Kom- maschinerie, die den Übergang für Weite, Grenzüberschreitung und mu nalbauten und ihrer bivalenten in den Hitlerfaschismus so leicht Veränderung – bildet das Dorf, des- Haltung ebenso angesprochen wie werden ließ. So siegte denn auch sen Kleinheit, Erdverbundenheit, jene der Repräsentativbauten des im Verlauf der Ersten Republik der Fruchtbarkeit, kurz alles, was der Stän de staates. Als Kennzeichen des zweite Strang der von mir seit 1920 Kulturpessimist Oswald Spengler letzteren fungieren ein genereller konstatierten Gegensätzlichkeit des in seinem „Untergang des Abendlan- Zug zu traditionalistischen Formen Umgangs mit Kunst (Wagner 1981). des“ längst prophezeit hatte. Zivili- und andererseits eine stärkere Ten- Nicht die Auseinandersetzung mit sa tionsabkehr, Hierarchie, Blut und denz zum Monumentalismus (wie dem musikalischen Material wie bei Boden, Antiintellektualismus und er allerdings weltweit zu bemerken Schönberg, nicht die Entwicklung Antiinternationalismus nahmen war). Die ersteren – abgesehen von der Kunstform als oberstes Ziel zu, wie Josef Nadler sie in seiner ihrem sozialen Modellcharakter, der, wie bei Webern, nicht eine unver- völkischen Literaturwissenschaft auch aus der Nachwelt betrachtet, wechselbare Eigen sprach lichkeit diagnostiziert hatte, und führten zu heute noch punktet – orientieren wie bei Alban Berg und nicht die seiner Realisierung der „Literatur- sich an der Fragestellung, die schon Durchsetzung einer sozialistischen geschichte der deutschen Stämme Josef Frank 1926 aufgeworfen hatte Ästhetik in Allianz mit der Avant- und Landschaften“. und zwischen „Volkswohnungspa- garde wie bei Hanns Eisler behielten Auch im visuellen Kontext dreht last“ und „Volkswohnung“ unter- die Oberhand. Statt dessen siegte die sich das Rad zurück (oder schon schied. Andererseits ist auch heute Dema terialisierung der ästhetischen nach vor in Richtung Nationalsozia- überzeugend abgeklärt, daß Ge- Formulierung wie bei Schreker, die lismus?). Über die Hälfte der veröf- meindebauten nicht als Instrumen- Hintanstellung der Kunstform zu- fentlichten Bilder sind Porträts oder te einer geplanten proletarischen gunsten einer durch künstlerische Akte, der Rest teilt sich im Verhältnis Revolution konzipiert gewesen 18 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

waren und deswegen auch keine der immer in der Nähe der Sozi- fortifi ka to rische Bedeutung haben aldemokratie angesiedelt war und konnten. Auch wenn der Eindruck den Fortschritt im Denken auf seine des Wehrcharakters ganz sicher Fahnen geschrieben hatte, wurde intendiert war, sogar ein gewisser aufgelöst, und langsam gewann in Aggressionscharakter, sei er aber der Literatur jene Heimatschiene bloß als Symbol Architektur gewor- die Oberhand, die ungebrochen den (Kap ner 1981). durch die Zeit des Nationalsozia- Der christlich-deutsche Bun- lismus und auch die ersten Jahre desstaat von 1934, auch als Stän- der Zweiten Republik vor allem die destaat oder austrofaschistischer Provinz beherrschen sollte (Karl Staat bezeichnet, war jedenfalls ein Heinrich Waggerl). auto ri taristischer Staat mit einigen Dies galt auch – zumindest teil- faschistoiden Zügen. Er hatte zwar weise – für Komponisten vom Rang kein eigenes Kunst/Kulturkonzept, Joseph Marx’ oder Franz Schmidts, wohl aber kulturelle Vorlieben, die Erich Markhls oder Cesar Bresgens. die Ghettokulturen links und rechts, Obwohl Ernst Krenek sich lange Zeit die sich gegenseitig kaum wahrnah- Mühe gab, mit vernünftigen Konser- vativen zu kooperieren, mußte auch er – spät, aber doch – einsehen, daß der Weg nach dem von ihm anfangs gar nicht geliebten Amerika dem Bleiben vorzuziehen war.

die Ostmark

Auch wenn formal gesehen die österreichische Identität mit dem Einmarsch Hitlers am 13. März 1938 endete und nur dank dieser äußerlichen Besetzung dem Land von den alliierten Befreiern später die Souveränität zurückgegeben wurde, war die Gleichschaltung der Kunst/Kulturpolitik mit jener des Deutschen Reiches ein Kahlschlag für die österreichische Geistigkeit, Bildhauerklasse Michael Powolny, men, auch wenig irritierten. Die wie er in seinen Folgen immer um 1934. Die Bildhauerausbildung im wenigen Emigrationen dieser Jahre noch und vermutlich noch längere autoritären Ständestaat ebnete bereits fanden eher aus ökonomischen Zeit schmerzhaft spürbar ist. Dies den Weg für die spätere Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus – Abkehr Gründen denn aus politischen statt, hängt vor allem mit der Tatsache von der Moderne und ja Österreich wurde, zumindest für zusammen, daß viele der Intellek- Hinwendung zu „treudeutscher“ Darstel- einige Jahre, durchaus die Heimat tuellen und der Künstler jüdischer lungsweise. deutscher Emigranten, die hier vor Abstammung waren resp. jüdische Aus Kunst: Anspruch und Gegenstand, Hitler sicher zu sein glaubten. An- Verwandte hatten und damit aus Salzburg-Wien 1991, Seite 193. dererseits spaltete die Ära Dollfuß Rassegründen emigrieren muß- die bürgerlichen Intellektuellen in ten, wenn sie konnten, oder in die Anhänger des Systems, die das auto- Konzentrationslager eingeliefert ritäre Experiment als kleineres Übel wurden, wo eine Reihe von ihnen gegenüber dem Nationalsozialismus verstarb. Daß es durchaus auch verteidigten (Karl Kraus, Sigmund Nichtjuden gab, die – weil man ihre Freud, Moritz Schlick), und jene Arbeit nicht wollte oder das Regime großdeutschen Dollfuß-Gegner, die sie nicht schätzte – das gleiche gleich – wenn auch vorerst noch Schicksal erleiden mußten, ist zwar illegal – zu den Nationalsozialisten wahr, aber angesichts der Zahlen- abwanderten. Der „Wiener Kreis“, verhältnisse vernachlässigbar. Jene, Beiträge zur historischen s ozialkunde • 19 die in den Grenzen des ehemaligen verbargen (Generalmusikdirek- die sie bei Kriegsende innehatten Österreich verblieben, ließen sich, tor Dr. Karl Böhm), teils weil ihr und die sie um keinen Preis mehr soweit es ihre Ästhetik zuließ, von künstlerischer Ruf derart autonom freigeben wollten. So ist kein Zufall, den neuen Machthabern vereinnah- schien, daß man nach kurzen Ver- daß der prominenteste und höchst- men, wobei festzuhalten wichtig bots bezeigungen auf sie nicht ver- ausgezeichnete österreichische Ma- ist, daß die Vereinnahmung nicht zichten wollte (Generalintendant ler des Nationalsozialismus, Rudolf in erster Linie reichsgesteuert war, Heinz Tietjen, oder Eisenmenger, nicht nur späterer sondern durch die Überführung der Wilhelm Furtwängler …). Rektor der Wiener Kunst-Akademie vorhandenen Verbände mit ihren Der schwerwiegendste Umstand wurde, sondern auch 1955 auf Jury- Funktionären in die neuen Forma- aber war zweifellos, daß die langfri- vorschlag den „Eisernen Vorhang“ tionen durchaus lokale Unterschie- stige kunst/kulturelle Entwicklung für die Wiener Staatsoper schuf, de zuließ. So war es beispielsweise seit dem Wiener Kongreß – zu- sowie es auch kein Zufall ist, daß möglich, daß in Tirol eine weit „li- mindest jener Strang, der sich Heinz Tietjen und Karl Böhm 1955 beralere“ Künstlerpolitik betrieben der Nationalisierung verschrieben die Staatsopernwiedereröffnung wurde als in der Steiermark oder in hatte und im Nationalsozialismus mit Beethovens Fidelio betreuten; Wien. Vor allem Vertreter der Neuen kulminierte – nahezu nahtlos eine nebenbei bemerkt jenes Stück, Sachlichkeit und der Wiener Spezia- historische Entwicklung formu- das 1938 nach dem Einmarsch der lität der Expression waren verständ- lierte, die sich auch weiterhin und Hitlertruppen ebenso als Befrei - licherweise anfechtbar für die neuen bis in die unmittelbare Gegenwart ungsapologie (damals vom nichtger- Versuchungen, und die Lehrerver- gegen den anderen Strang der manischen Joch) apostrophiert wur- zeichnisse der Akademien beweisen formalen und ma terialeigenen Ent- de, 1955 tendierte die Interpretation dies auch schlagend. Andererseits wicklung stemmte und letztlich in Richtung Aufhebung der Besat- ging eine kleine Zahl der Künstler durchsetzte. Tatsächlich hatte die zungsmacht, die verbal niemals als in eine Art innere Emigration und Ästhetik des Nationalsozialismus Befreiungsmacht gesehen wurde. entzog sich damit zwar einer for- in der Akzeptanz ihrer äußeren Die Problematik bestand nicht so malen Zugehörigkeit, bezahlte dies Erscheinungsformen, die clever sehr in einem Festhalten am natio- aber in der Regel, wie im Bereich der aus bereits vorhandenen und mas- nalsozialistischen Ideengut, son- Architektur durchaus nachweisbar, senwirksamen (monarchistischen, dern in dem, was der sozialdemokra- mit Verunsicherungen, die nach katholischen und marxistischen) tische Grazer Architekt Ferdinand dem Krieg zu schweren Hypotheken zu sammen geklittet war, eine derart Schuster als den „Provinzialismus wurden. hohe Attraktivität in der Ästheti- der allgemeinen Ängstlichkeit und Abgesehen von den persönlichen sierung der Politik aufgewiesen, Enge“ bezeichnete, den fehlenden Opfern war die eigentliche Tragödie daß sich ihr nur Minderheiten mit Mut vor dem Bruch mit dem Vor- dieser Zeit, daß die Wirkung des Ver- starken Fun damen talismen entzie- hergehenden und das Nicht einsehen bots der Moderne, die Emigration hen konn ten: strenge Christgläubi- der Notwendigkeit desselben. vieler ihrer Repräsentanten und die ge, strenge Marxisten und strenge Zweifellos hatte dies auch damit auf die Antimoderne ausgerichtete Monarchisten. zu tun, daß der materielle Wieder- Bildungsstruktur bis zum Ende Der Nichtglaube an ein auto- aufbau und das Stehen zur neuen dieses Jahrtausends nahezu unge- nomes Österreich in der Ersten Identität, die in der Regierung poli- brochen nachwirkt und durch eine Republik und die Vertauschung des tisch mehrheitlich von Konzentra- vermutlich verfehlte Bildungspolitik Reichs gedankens mit der Volksidee tionslager-Geschädigten getragen der Zweiten Republik nicht kompen- tat ein übriges, der Bürgerkrieg wurde, alle Kraft aufbrauchte. Dann siert werden konnte. von 1934 mit dem Beginn des au- galt es scheinbar nichts, wenn laut toritativen Ständestaates hatten Ministerratsprotokollen weiterhin die Zweite republik den Weg zum Faschismus geebnet. antisemitische Aussagen fielen, Die Vertreibung des Geistigen aus wenn – außer vom damaligen Wie- Kulturell gesehen war das Jahr 1945 Österreich, wo im schöpferischen ner Kulturstadtrat Viktor Matejka – alles andere als ein Jahr der Zäsur. Bereich, aber auch in der Interpre- keine Anstalten zur Rückholung Zwar wurden die gravierendsten tation mehrheitlich jüdische Intel- der Emigranten getroffen wur- Machtpositionen ausgetauscht, an- lektuelle und Künstler tätig waren, den, wenn intelligente Juristen der dererseits blieb aber eine Reihe von hatte freie Stellen geschaffen, die AEG wie Egon Seefehlner mit der Funktionären im Amt: teils weil man nicht nur von Parteigenossen und Leitung von Kulturinstitutionen auf sie angeblich nicht verzichten Mitläufern schnell besetzt wurden, (Konzerthaus) betraut wurden, konnte (Wiener Stadtbaudirektor), sondern auch von Karrieristen, die wenn Salzburg den Nationalsoziali- teils weil sie ihre nationalsoziali- durch mehr oder weniger Anpas- sten Hans Sedlmayr, der zwar keine stische Vergangenheit geschicktest sung jene Positionen erklommen, nationalsozialistische Kunsttheorie 20 • Beiträge zur historischen s ozialkunde auf gestellt hatte, aber sonst alle Heil im Ausland suchen mußten, der Ausstellungen aus fernsten Richtungen des Regimes vertrat, auf die Zornigen wie Adolf Frohner, Ländern (China) und lange zu- den Lehrstuhl für Kunstgeschichte Otto Muehl und Hermann Nitsch, rückliegenden Epochen (Thraker). rückberief. die 1962 mit ihrem „Blutorgelma- Die aktuelle Szene zog sich in die Avantgarde hieß damals nicht nifest“ den Aktionismus einläuteten, durchaus auch selbstgewählten oder nur eine junge Künstlergeneration, die Dichter Handke und Bern hard, zugewiesenen Ghettos zurück. die sich später im „Art Club“ unter die sich gegen jede obrigkeitliche Letztlich ging es in der Unterhal- dem Schutzmantel von Albert Pa- Vereinnahmung wehrten, selbst tungsbranche nicht viel besser, denn ris Gütersloh zusammenfand und einen Friedensreich Hundertwasser, was funktionierte, waren die „Big sich endlich auch mit nichtdeut- der mit seiner „Spirale“ oder dem Bands“ in der Nachfolge der Wehr- scher Kunst beschäftigen konnte, „Verschimmelungsmanifest“ Front machts ta nz or chester (in denen sich Avantgarde hieß auch das Nach- gegen die nationalsozialistische auch durchaus respektable Jazzmu- holprogramm für Komponisten und Linie machte. Die Kunst fand im siker verbargen), die Operet tenselig - Schriftsteller, die in den dreißiger Untergrund und im Skandal statt, keit, die inzwischen internationale Jahren nicht zu Wort gekommen wurde deswegen auch kriminali- Berühmtheit erlangt hatte (Robert waren. Daß dabei manches von siert, ins Ausland vertrieben – vor Stolz) und die Blasmusik, deren dieser Avantgarde nur in einem allem nach Berlin –, mit Boykott Kontext auf dem Lande ohnehin nie veränderten Formalgefühl bestand, bedroht (Brecht) oder mit billigen verlorengegangen war, die aber auch weil man eben nicht mehr im Na- Lehraufträgen an den Kunstaka- den Sprung in eine neue Ästhetik turalismus des vorherigen Regimes demien abgespeist. Kokoschka nicht schaffte. Zwar war das Kaba- weiterarbeiten wollte, ist ebenso bot man höchstens eine Stelle an rett der Zwischenkriegszeit ausge- offensichtlich wie der große Einfluß der Linzer Kunstschule an, die löscht, aber – wie immer in harmlos der Alliierten, die wieder einmal Überlebenden der Zweiten Wiener wirkenden Zeiten – war andererseits „nichtdeutsche“ Kunst nach Öster- Schule hatten die Presse gegen ein kräftiger Gegenwind entstanden. reich brachten, wobei allerdings sich, und viele der Dagebliebenen Das Gift Georg Kreis lers, der scho- die westlichen Alliierten stärker glaubten noch einmal den Romanti - nungslose Spiegel Helmut Qualtin- ihre künstlerische Gegenwart ver- zismus des totalitären Ständestaates gers und die intelligente jüdische traten als die Russen. Ergebnis aufleben lassen zu können. Weiterführung der Tradition durch war – zumindest bis 1955 – eine Art Das offizielle Österreich setzte Bronner und Wehle, Waldbrunn ungeordneter Pluralismus, wobei inzwischen auf anderes: auf die und Farkas boten Ventile. Und es die österreichischen Künstler schon Interpretation, vor allem von hi- entstand, was als „Austropo p“ später selbst die Initiative bezüglich der storischem Material. Der Weg dazu kurze Zeit europäische Bedeutung Akzeptanz des Angebots ergreifen hatte sich in den dreißiger Jahren erhalten sollte – nicht wegen des mußten. Das Überschwappen der angebahnt, als die Zeitgenossen- Dialekts, wie viele meinten, sondern materiellen Wiederaufbaupolitik schaft immer mehr verdächtig wegen der qualitativ hochwertigen schob allerdings die Kunst in den wurde. Jetzt waren die Dirigenten Liedstruktur in der Verknüpfung Untergrund oder zumindest in die die Mäch tigen der Branche, ähnlich von Text und Musik, ein wenig ähn- Welt des „Phantastischen Realis- wie die Germanisten anstelle der Li- lich jenem Modell der Beatles, die mus“ und ließ dort jene Talente sich teratur, die Kunsthistoriker mit dem in ihren Produktionen auf Purcell entwickeln, die ihren Erfolg letztlich Spezialgebiet Mittelalter anstelle schielten. Jürgens, Fendrich, Am- erst in den 1990er Jahren einfuhren. der Maler und Bildhauer. Die Qua- bros bis hin zu Falco und EAV hatten Die übliche österreichische Vereins- lität der Interpretation wurde nicht die Wiener Klassik internalisiert, meierei machte, wie gewohnt, auch nur technisch gesteigert (Karajan), vor allem Schubert und die musi- vor den Künstlern nicht halt und sondern durch die Hereinholung kalischen Dialekte der Völker der schuf die passenden Vereinigungen einer zumindest europäischen In- Monarchie, und konnten mit dem, und dazugehörigen Funktionäre, ter pre tenelite auch musikalisch. was sie als fremd einführen wollten, Interessenvertretungen schließlich, Dazu kam ein wissenschaftlich und der sensiblen Linie der Melodie die heute in die Parallelaktion und gewecktes Interesse an bislang eher umgehen. Diese Einfachheit der die Anonymität abgetaucht sind. unbekannter Musik: die Harnon- Idee, immer noch tonal gebunden, Zwar gab es stürmische Junge wie courts gründeten den Concentus sollte auch ein Kennzeichen jener Gottfried von Einem in Salzburg, Musicus, weil ihnen die Arbeit im mittleren Komponistengeneration die „Wiener Gruppe“ um Rühm und Orchester zu langweilig erschien, werden, die mit den Namen Gruber, Achleitner, die jungen Architekten und Gegenensembles ließen nicht Schwertsik und Zykan unmittelbar Spalt, Kurrent, Hollein und Holz- lange auf sich warten. verknüpft ist. bauer, denen höchstens die Kirche Desgleichen brachen die großen Die Studentenunruhen der 68er Aufträge gab und die deswegen ihr Zeiten im Burgtheater an und jene Generation, die an Österreich bis Beiträge zur historischen s ozialkunde • 21 auf eine Großdemonstration, an der Mauer wur de eingeweiht, die Ars auch der Minister teilnahm (1967), electro nica erfunden, das 1. Wiener vorübergingen, formulierten sich Stadtfest gefeiert und Bergs „Lulu“ hierzulande ästhetisch: 200 Intel- von Cerha mit einem dritten Akt ver- lektuelle, mehr oder weniger um das sehen. Aktivität hieß die Parole, ent- „Neue Forum“ Günther Nennings sprechend der Offenheit, Pluralität geschart, leisteten die Kärrner ar- und Aktion, was einerseits im in den beit. Nun wurde Handke diskutiert sechziger Jahren noch strafrechtlich anstelle von Wildgans, die Archi- verfolgten Aktionismus wurzelte, tektengruppen Coop Himmelblau andererseits in der internationalen und Missing link machten von sich Vernetzung (Systemanalyse Laxen- reden, Valie Export ließ ihr „Tapp- burg) und in der Reform der erstarr- und Tastkino“ an sich vollziehen, ten Systeme (ORF-Novelle 1974, die neue amerikanische Kunst wie Fristenlösung 1975, Fami lienrecht Bern steins „West Side Story“ oder 1976). Transparenz erfüllte gemäß Mitch Leighs „Der Mann von La den „Kunstberichten“ der Bundes- Mancha“ füllten die Häuser, Zykan regierung die Ausstellung „Die un- wurde modern, sogar eine Sig mund- bekannte Sammlung“ 1979, die be- Freud-Gesellschaft wurde gegrün - wies, daß das Gießkannenprinzip als det, und der ORF strahl te sein erstes System funktionierte und von allen farbiges Fernsehprogramm aus. Die Veranstalter wurden mutiger, und die Politik sah dies als Folge der neuen sozialistischen Regie- rungsführung unter Bruno Kreisky ab 1970. Sein Konzept von der ge- sellschaftlichen Veränderung, das er mit über 1.500 Fachleuten mar- ketingmäßig ankündigte, war zwar in der Realität staatsverordnet aus- schließlich auf die Transparenz der Kunstförderung beschränkt, virtuell aber kam Wind in die verstaubte Kulturverwaltung. Der „Steirische Herbst“ konnte Kreneks von Cle- mens Krauss und dem Ständestaat geschändeten „Karl V.“ zeigen, und die österreichischen Kulturge sprä- che, die von immer neuen Zirkeln, Vereinigungen, Kontakten abgelöst wurden und sich auf die IFES- Kulturuntersuchungen stützten, brachten Reflexionen über die Kunst wohlgelitten war und daß es einen Eine antimodernistische Haltung blieb unter die Leute. Die Universität direkten Zusammenhang zwischen im „offiziellen“ Österreich bis in die wurden zur drittelpari tä tischen Förderung und veröffentlichter Gegenwart wirksam – ein Beispiel dieser Kulturpolitik: der Abriß des von Hans Mitbestimmung reformiert und Meinung gab (Eisler/ Secky/Sterk/ Hollein 1978/79 gestalteten Verkehrsbü- die Hochschultaxen abgeschafft, Wagner 1979), und – daß es nahezu ros im Jahr 1987. das Gratisschulbuch eingeführt, keinem österreichischen Künstler Aus Kunst: Anspruch und Gegenstand, das Linzer Brucknerhaus eröff- gelang, sich dem Förderungssystem Salzburg-Wien 1991, Seite S. 61 net. Die Nationalbibliothek erwarb zu entziehen. Damit gleichzeitig die Hobokensammlung, das Frei- wurde ein Bei ratsystem eingerich- maurermuseum in Rosenau wurde tet, eine (immer noch wachsende) eröffnet und die Zeit der großen Anzahl von Jurien erstellt, aber we- Landesausstellungen begann. Wot- der die Verfassungsänderung über rubas Kirche „Zur heiligen Drei - die Freiheit der Kunst (Artikel 17a faltigkeit“ am Georgenberg in Wien- Staatsgrundgesetz 1982) noch das 22 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

Bundeskunst förderungsgesetz von bestimmter Schulpolitik das Defizit turelle Output immer interessanter 1988 (BGBl. 146/1988) änderten hätte längst beseitigen, zumindest wird), wobei allerdings Egali sie- etwas an der Ministerkompetenz, aber mildern können. rungsbe stre bungen zwischen Kunst die sich im Einzelfall über alle Auch die an sich vernünftige Idee, und reiner Unterhaltungskultur Beiratsempfeh lungen hinwegsetzen Kunst aus einem Ministerressort einen falschen Weg gehen. Das konnte. herauszulösen und der Koor di na- nach wie vor deutlichste Versagen Die Entscheidung für Kunstkura- tionskompetenz des Bundeskanzlers ist hier dem Bil dungsbereich vom toren, die in der Papierform einiges mit möglichem Zugriff auf alle Mi- Kindergarten bis zur Universität an- für sich hatte, war letztlich ein nisterien zu überantworten, schei tert zulasten, weil weder im frühen Kin- Fehlgriff. Das Ergebnis war bislang bislang an der Realität. Ein ähnli- desalter die vernünftigen emotiona- nicht die Förderung der österreichi- ches Schicksal erfuhr die Techno - len Intelligenzen, die allesamt für schen Kunst, sondern die Förde- logieoffensive, die, auch von einem Kunst ver ständnis und -produktion rung der Anliegen der Kunstkura- vernünftigen Koordinationskonzept notwendig sind, entsprechend ge- toren, die – vermutlich auch, weil ausgehend, an ministeriellen Eigen- fördert noch später in den höheren sie sich eher mit Kunstvermittlung, nützen starb. Die weitere Aufwer- Schulstufen bis hin zur Universität Kunstver breitung, Kunstsoziologie tung der Kunstausbil dungs stätten geeigneten Reflexionen zugeführt beschäftigten – andere Zielsetzun- in Universitäten (ein mutiger sym- werden. gen als kunstfördernde hatten. Die bolischer Schritt!) könnte, sofern Österreich hat sich in der Zwei- unglü ckliche Parole des damaligen die Autonomie funktionierte und ten Republik relativ eindeutig (mit Unterrichtsministers Sinowatz, Kul - nicht Partikularinteressen geopfert wenigen Ausnahmen) für die Mu sea- tur politik sei Fortsetzung der Sozial- würde, kulturpolitisch von entschei- lisierung seines Erbes entschieden politik mit anderen Mitteln (1974), dender Bedeutung sein. Die Plurali- und dafür hohe Summen seines die von vielen heute noch als richtig täten der Szene und die Explosion Staatsbudgets aufgewendet. Der angesehen wird, tat ein übriges dazu, auf dem Veranstaltungssektor, wo Preis dafür war eine Hintanstellung Kunst als Angelegenheit der Künstler nicht nur die traditionellen Stät- der Bedeutung des Zeitgenössi- und ihres sozialen Fortkommens ten bis zum Übermaß ausgelastet, schen, das aber dennoch – zumin- und nicht als Angelegenheit der Ge- sondern darüber hinaus auch eine dest in den Bereichen Architektur sellschaft und ihrer möglicherweise Reihe neuer Angebotsorte (Museen, und Literatur – international re- durch die Kunst hervorgerufenen Galerien, Kunsthäuser etc.) erfun- zipiert wird. Zwar wurden mehr gesellschaftspolitischen Verände- den wurden, trugen viel dazu bei, und mehr Museen renoviert und rungen zu verstehen. Tatsächlich das Bewußtsein für zeitgenössische revi talisiert, wobei aber jene für erweist sich als das schwerste Defizit Kunst zumindest sze nenartig und in zeit genössische Kunst das absolute der österreichischen Kulturpoli- bestimmten gesellschaftlichen Zu- Schlußlicht bilden. Dies bedeutet, tik der Zweiten Republik die Kluft sammenhängen zu erweitern. Dies daß in breiten Bevölkerungsschich- zwischen Kunst und Gesellschaft, spiegelt sich allerdings kaum in den ten immer noch die Welt um 1900 obwohl mehr als in an de ren euro- einschlägigen Publikationsorganen, als jene Moderne gilt, die das Neue päischen Ländern – wahr schein lich die im Fall der Musik nur durch die für sich beansprucht, und damit fast prozentual sogar am meisten der „Österreichische Musikzeitschrift“, ein Jahrhundert Verspätung der ge- Welt – für Kunst ausgegeben wird, im bildnerischen Bereich durch den sellschaftlichen Rezeption entstan- weil einerseits die Partizipation der szeneneigenen „Springer“ und die den ist, die nur im Widerstand oder Gesellschaft im historischen Kontext oberösterreichische Glanzpostille in der Klausur wirksam bekämpfbar verharrt und das Zeitgenössische „Parnass“ repräsentiert wird, und erscheint. entweder nicht zur Kenntnis ge- im literarischen Bereich ca. 40 Titel Spätestens der Wechsel von der nommen wird oder, wie zunehmend verzeichnet. In der Tagespubli zistik Industrie- zur Informationsgesell- bemerkbar und von bestimmten spiegelt sich die Realität des Über- schaft wird hier einen energischen populistischen Parteien gefördert, maßes an Reproduktion gegenüber Paradigmenwechsel verlangen, wütend bekämpft, andererseits aber dem primär schöpferischen Werk weil statt Wiederholung des einmal von einander konkurrierenden Sze- mit nahezu gleichen Verhältniszah- Vorhandenen die Kreativität von nen unter sich auf geteilt wird. So ist len. Derzeit dürfte dieses Verhältnis Neuem und die Disposition dieses es kein Zufall, daß die Regierungser- in 78:1 bestehen. Zwar gibt es in Neuen auch in der wirtschaftlichen klärung von 1994 Kunstvermittlung den letzten Jahren mehr und mehr Debatte eine zunehmend wichtige als zentrales Problem einer politi- Untersuchungen über das kultu- Rolle spielt und ein Umdenken schen Strategie beschreibt, wobei relle Verhalten der Österreicher unserer Verhaltensweise nach sich allerdings außer acht gelassen wird, (nebenbei bemerkt ein Indikator ziehen wird. Sofern die Kulturpo- daß eine seit 1970, also über ein Vier- dafür, daß auch für kunstfremde litik nicht einsieht, daß sie mit den teljahrhundert relativ monokolor Wissenschaftsdisziplinen der kul- alten Methoden der Verwaltung, der Beiträge zur historischen s ozialkunde • 23

Transpa rentmachung, der Unter- LItErAtur suchungen zur gesellschaftlichen Bertsch ch./neuWirth M. (hg.), die ungewisse hoffnung. Österreichische Malerei Wirkungsweise nicht das Auslangen und graphik zwischen 1918 und 1938. salzburg-Wien 1993. finden kann, sondern durch eine Bontinck i./ sMudits a. (hg.), elektronische kultur zwischen Politik und Markt. dynamische, selbstbewußte und so- kulturindustrie und Medienpolitik in Österreich. Wien u.a. 1996. wohl der Gesellschaft als auch dem Botstein l., Judentum und Modernität. Wien u.a. 1991. Einzelnen nützliche Distribution ellMeier a./rásky B., kulturpolitik in europa – europäische kulturpolitik? Von natio- ihre Ressourcen zur Verfügung stel- nalstaatlichen und transnationalen konzeptionen. Wien 1997. len muß, ist zu befürchten, daß jene hirt e./gronner a. (hg.), dieses Wien. Wien 1986. Kunst-Ersätze, die zunehmend im hladschik P./Vyoral J. (hg.), Bildkunst Österreich. Wien 1997. elektronischen, aber auch in allen anderen Medienbereichen um sich hoFMann Werner, der irrende ritter, in: oskar kokoschka symposion, Bericht, hg. hochschule für angewandte kunst in Wien. Wien 1986. greifen, an die Stelle jener Substanz treten, die vormals Kunst genannt kadrnoska F. (hg.), aufbruch und untergang. Österreichische kultur zwischen 1918 und 1938. Wien u.a. 1981. wurde. Anstelle einer Kulturpolitik MÖrth i./niel g./stoik o., kulturheimat oberösterreich? kulturelle identität im im strengeren Sinn, für die eine europa der regionen. 1995 konzertierte Aktion aller beteiligten Österreichische kulturdokumentation (hg.), Bildende kunst, architektur, design. ein Kräfte, die in Österreich ohnehin auf handbuch der kunstförderung. Wien 1994. 20 bis 25 Verbände, Kammern und PFaBigan a. (hg.), ornament und askese. im zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende. Vereine beschränkt sind, notwendig Wien 1985. ist, wäre es sinnvoller, eine vernünf- Pulzer P. , liberalismus, antisemitismus und Juden im Wien der Jahrhundertwende, in: tige Kunstpolitik zur Erreichung Berner/Brix/Mantl, 32-38. punktueller kulturpolitischer Vor- ruiss g., literarisches leben in Österreich. Wien 1997. stellungen schnell und entschieden schorske c. e., Wien – geist und gesellschaft im Fin de siècle. Frankfurt a. M. 1982. in Angriff zu nehmen. Wagner M., kultur und Politik – Politik und kunst. studien zu Politik und Verwaltung 32. Wien u.a. 1991. WiMMer M., kulturpolitik in Österreich. darstellung und analyse 1970-1990. inns- bruck-Wien1995. WunBerg g. (hg.), die Wiener Moderne. literatur, kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. stuttgart 1981. 24 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

Eric J. Hobsbawm auch durch die technologisch primi- tive handwerkliche Herstellung oder Ausführung der Kunstpro dukte. Kunst und Kultur am Ausgang des In mancher Hinsicht hatte sich diese Einengung der Beziehun- 20. Jahrhunderts gen zwischen Kunstpro duk tion und Publikum im großen Zeitalter der bürgerlichen Kultur, d. h. im 19. Jahr hundert, noch verstärkt; wie immer mit Ausnahme der Literatur. Die Kunst am Ende des 20. Jahr- vier erfordern den persönlichen Es ist eigenartig, daß dieses Zeitalter hunderts steht im Zeichen der heu- Kontakt, die unmittelbare sinnliche der industriellen Revolutionen und tigen, immer mehr beschleunigten Wahrneh mung durch das Publikum des rasenden wissenschaftlichen Technologie. Das ist allerdings nicht der aufgeführten oder ausgestellten und technologischen Fortschrittes neu. Es trifft auf die gesamte Kunst Werke, bzw. den unmittelbaren so wenig Auswirkung auf die Hoch- des 20. Jahrhunderts zu. Denn oku laren oder auralen Kontakt mit kulturproduktion hatte. Um nur was an ihr neuartig ist und sowohl den sie aufführenden und körper- ein Beispiel zu nennen: Wohl gab deren Angebot und Nachfrage, d.h. lich präsenten Künstlern. Daher es technische Verbesserungen der die Produktion und die Aufnahme erfordern sie alle unsere körperliche Musikinstrumente, aber die Beset- der Kunst bestimmt, fußt – auch Gegenwart. Das allein macht sie ja zung des klassischen Orchesters, heute noch zum großen Teil – auf so exklusiv, und daher für zahlungs- und noch mehr der Kammermusik, drei technischen Durchbrüchen, fähige Kulturbewußte so geeignet, veränderte sich kaum. Das Forel- die in den letzten Jahrzehnten vor auch wenn sie nicht im Smoking lenquartett hört sich zweihundert dem Ersten Weltkrieg erzielt und erscheinen müssen. Es kann ja nicht Jahre nach Schuberts Geburt noch dann zwischen den beiden Kriegen jeder hin. Daher bezeugt der Besuch so an wie zu Schuberts Lebzeiten, weiterentwickelt wurden. Es handelt der kleinen, aber ungeheuer noblen und der moderne Bösen dorfer, auf sich erstens um die photogra phi sche Oper in Glyndebourne nicht nur die dem Andras Schiff besteht Schubert Wiedergabe der Bewegung – also leidenschaftliche Teilnahme an der zu spielen, wäre dem Komponisten Film und Video –, zweitens um die Hochkultur, sondern auch, daß man auch nicht fremd. Die neuen In- mechanische Schallaufzeich nung in der Lage ist, viel mehr Geld als an- strumente, die im 19. Jahrhundert und -wiedergabe, also Grammo- dere für sie auszugeben. Ja die Tatsa- erfunden wurden – Sar rusophon phon, Platte und Tonband, und che, daß man sich Zeit nimmt und (Blechblasinstrument), Tuba, Sa- drittens um die unmittelbare Über- Geld ausgibt, um persönlich nach xophon, Harmonium, Harmonika tragung von Schall und Bild über Glyndebourne zu fahren, beweist, usw. –, hatten nur am äußersten weite Entfernungen, d.h. Radio und daß man, gleichviel aus welchen Rande Einfluß auf die mu si kalische Fernsehen. Die Kunst im letzten Gründen, einen besonderen Wert Hochkultur. Sie beschränkten sich Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an dem persönlichen Kunsterlebnis auf die weniger anspruchsvollen ist allerdings weit mehr als eine findet, obwohl heute manche dieser Branchen der Musik – auf Militärka- Verlängerung und technische Ver- Darbietungen auch den Abwesenden pellen, Gasthausmusik, die beschei- besserung dessen, was schon vor indirekt, und übrigens viel billiger, deneren Stätten des Gottesdienstes 1914 – aber nicht vor 1890 – mög- zugänglich sind, nämlich durch und dgl. Erst der Siegeszug der lich war. Eben dieser Unterschied ist Radio- und Fernsehübertragung, demotischen Unterhaltungsmusik das eigentliche Thema meiner Dar- Platten usw. hat das Instrumentarium der heu- stellung. Es ist aber doch notwendig, Aber vor dem Ersten Weltkrieg tigen Musik, vom Saxophon bis daß wir uns vor Augen halten, wie hätten wir nicht einmal diese Wahl zur Elektronik, revolutioniert. Und grundlegend sich die gesamte Kul- gehabt. Mit der einzigen Ausnah- ohne diesen Siegeszug wäre das turszene unseres Jahrhunderts von me der Literatur, die schon seit auch nicht geschehen. der aller früheren Jahrhunderte und dem 15. Jahrhundert durch den Neu in jenem Jahrhundert war Jahrtausende unterscheidet. Buchdruck ein unbegrenztes und also nicht die Kunstproduktion, Das läßt sich am Beispiel einer anonymes Fernpublikum erreichen sondern etwas anderes: der Kunst- noch heute florierenden vorindu - konnte, waren die Künste an den un- betrieb und die Rolle des Künstlers, st riellen Kulturszene erläutern: mittelbaren, körperlichen Kontakt d.h. dessen Beziehung zum Publi- Das Programm der Salzburger zwischen Publikum und Kunstwerk kum. Neu waren die gesellschaft- Festspiele z.B. ist in vier Sekto- oder Künstler gekettet. Und zwar lichen, die begrifflichen, und nicht ren geteilt: „Schauspiel“, „Oper“, nicht nur aus den schon besproche- die technischen Änderungen. Ich „Konzert“ und „Ausstellung“. Alle nen technischen Gründen, sondern denke hier besonders an die An- Beiträge zur historischen s ozialkunde • 25 gleichung der Kunst an das Fort- Kultur des bürgerlichen Zeitalters bewiesen hat, daß er sich wirklich schritts modell und des Künstlers an wurden. Die Weltkarte dieser Kultur auf der Bühne durchsetzen kann? den Individualismus des Privateigen- läßt sich von der geographischen Heute kann man es nicht, und Herr tümers. Die hohe, die „eigentliche“ Verteilung dieser Gebäude ablesen. Roberto Alagna erscheint vor uns. Kunst – zum Unterschied von der Der technische Durchbruch am Selbstverständlich hat sich auch Produktion und der durch die In- Anfang dieses Jahrhunderts brachte das alte Publikum für den direkten, dustriegesellschaft revolutionierte das Massenpublikum – und zwar fast technisch unvermittelten Genuß Reproduktion der Ware – erforderte sofort. Für wieviel Zuschauer und der Hochkultur vergrößert, zum das Individuum als einzigen Schöp- Zuhörer war in den gesamten 500 Teil wegen des steilen Anstiegs des fer. Das Urteil des Künstlers als Schauspielhäusern Deutschlands für Kulturausgaben vorhandenen Individuum wurde also zur einzigen und der Donaumonarchie am Ende Einkommens in den entwickelten und letzten Instanz für alle, inklu- des 19. Jahrhunderts überhaupt Ländern seit der Mitte des Jahrhun- sive Mäzen und Publikum. Richard Platz? Bestenfalls für eine Million derts, zum Teil durch die Revolution Wagner hat das sofort erkannt und der, sagen wir, 110 Millionen ihrer des Freizeitreisens in den letzten mit großem Erfolg ausgebeutet. Was Einwohner. Die Bevölkerung der Jahrzehnten. Nicht nur Künstler „den Künst ler“ kennzeichnete, war Vereinigten Staaten war damals mit und Kunstwerke, sondern auch die und ist eben die Verbindung von jener der beiden europäischen Mon- Kulturhungrigen reisen heute um „Genie“, Originalität – also Unver- archien vergleichbar. Doch kaum die Welt, wie jeder feststellen kann, wechselbarkeit – und ‚Mo dernität‘. ein Dutzend Jahre nach den ersten der sich in den großen Tempeln der Wagner nahm auch eine Entdek- Aufführungen eines Films – also um Malerei einen Weg durch die Mas- kung vorweg, die seit den 1880er die Zeit, als die New sen der anderen ehrfurchtsvollen Jahren den Weg der Kunst bestimmt Yorker Philharmoniker dirigierte – Europäer, Japaner, Nord- und Süd- hat: „die Moderne“. Die neue Kunst gingen schon 26 Millionen Amerika- amerikaner zu bahnen sucht. Ja, am war nun als solche besser als die ner wöchentlich ins Kino. Heute, wo Ende des Jahrhunderts versuchen alte, heute war ein Fortschritt ge- der Bildschirm in jeder Wohnung die Museen, diese Tempel der bil- gen gestern, morgen mußte einer gegenwärtig ist, kann eine einzige denden Künste der alten Hoch kultur gegen heute sein. Also, einzig die Übertragung – z.B. eines Fußball- eben durch die neue Mobi lität den garantiert individuelle Signatur spiels – gleichzeitig 300 Millionen Anschluß an ein Massen pu blikum bestimmte nun den Wert des Kunst- oder noch mehr erreichen. zu finden, nämlich durch die ver- werkes, jedenfalls in den bildenden Es ist klar, daß diese Technisie- hältnismäßig neuen, wandernden Künsten. Sie bestimmt ihn noch rung der Kunstproduktion für ein Riesenausstel lun gen, die in den immer auf dem Kunstmarkt. Aber Millionenpublikum den Adressaten- letzten Jahrzehnten Usus geworden auch anderswo ist das Plagiat die kreis für die Werke der Hochkultur sind – trotz ihrer gigantischen und Todsünde. Wert hat nur das Original ungeheuer erweiterte; und übrigens steil ansteigenden Trans port- und bzw. der Name des Künstlers, nicht auch die Gagen der Künstler und die Versicherungskosten. Diese und aber die Kopie und nicht der Name Einkünfte ihrer Agenten, die seit nicht die ständigen Sammlungen des Nachahmers oder Fälschers. Das den 1950er Jahren fast senkrecht bringen heute die Massen, beson- hatte aber schwer wiegende Folgen. ansteigen. In der Musik verdienen ders die der Einheimischen, in die Da, wie schon Walter Benjamin heute Unternehmer ein Vielfaches Museen. erkannte, das Wesentliche an der der Einkünfte an den Kassen der Man könnte – im Hinblick auf Kunst des 20. Jahrhunderts eben Opern und Konzertsäle aus dem Florenz und Venedig in der Hoch- ihre „Re pro du zierbar keit“ war, be- Plattenverkauf. Ja, die Karriere der saison – sogar behaupten, daß wir gaben sich die Künste, welche alles Künstler hängt jetzt im Grunde von heute die Grenzen dieser Demokra- auf das einmalige Original setzten, der Marktstrategie der Schallplat - tisierung und Globalisierung des auf den Holzweg. ten firmen ab. Heute ist es möglich, Gebietes der persönlichen Pilger- Das bedeutet folgerichtig, daß im daß eine äußerst begabte, aber jun- reisen in die Kulturstätten erreicht bürgerlichen Zeitalter des 19. Jahr- ge und verhältnismäßig unbewähr te oder sogar überschritten haben. hunderts die hohe Kunst (wie immer Sängerin wie Cecilia Bartoli im Lauf Jetzt – ja man kann sagen erst mit Ausnahme der Literatur) eben von 3-4 Jahren, und ohne viel direk- jetzt – erkennt man den kulturell nicht „wirklich“ reprodu zier bar, ten Kontakt mit dem Publikum, zur ausschlaggebenden Unterschied oder nur lokal repro du zierbar war. weltbekannten Diva und Spitzen- zwischen unbegrenzt reprodu zier- Der Öffentlichkeit war sie nur an verdienerin wird. Der Mas sen markt baren und räumlich begrenzten bestimmten Stellen zugänglich wie braucht einen neuen Tenor, da die Erlebnissen. Alle Menschen können z.B. in den Museen, Galerien und großen Drei auch nicht mehr die theoretisch zur gleichen Zeit das Theatern, die im 19. Jahrhundert jüngsten sind. Kann man warten, bis Finale der Olympiade im Fernsehen die Brennpunkte der öffentlichen ein neuer Pavarotti auftaucht, der beobachten, aber nur wenige kön- 26 • Beiträge zur historischen s ozialkunde nen das im Stadion selbst. Ein be- Toten mit den Blumen neuer Insze- als Vorreiter der Kunst von morgen, schränkter Raum gestattet einfach nierungen bekränzen. die ja als solche besser ist und sein kein unbeschränktes Wachstum Diese Verwandlung der Kunst in muß als die von heute. des Publikums. Das lernte man in eine Ehrenhalle für zumeist tote Die Avantgarde, als eigentliche Frank reich schon vor vierzig Jah- Klassiker ist wohl bei der Musik am Vertreterin der künstlerisch ernst- ren, als sich herausstellte, daß die auffälligsten, weil das zahlende Pu- zunehmenden zeitgenössischen Kul- Besucher der Höhlen von Lascaux blikum seit, sagen wir, 1910 die von turschöpfung, hat sich besonders einfach durch ihre Anwesenheit – der Kritik ernstgenommenen Kom- seit den 60er Jahren insofern mar- durch ihren Atem – die wundervol- ponisten praktisch ablehnt. Und gina lisiert, als sie nicht ihre Eigen- len Höhlenmalereien zu zerstören die Musik hängt nun, zum Unter- ständigkeit als Kultur aufgegeben drohten. Früher oder später muß es schied von den bildenden Künsten, hat und sich der Industrie und der daher entweder zum systematischen von der Reproduzier barkeit ihrer Werbung unterordnet. Aber nicht Ausschluß des Publikums – oder Schöpfungen und daher von einem, nur sie, sondern auch der gesamte zur Rationierung der Besucherzahl wenn auch quantitativ bescheidenen, Kunst-, und Kulturbegriff des 19. kom men – wie es ja seit 1990 bei Mas senpubli kum ab. Die Nekro poli- Jahrhunderts steht zur Disposition, den großen internationalen Kunst- sie rung gilt aber auch für die andern obwohl das vom wachsenden Reich- ausstellungen Usus geworden ist. Künste alten Stils, etwa mit Ausnah- tum der Kunstkonsumenten und, Das trifft bekanntlich nicht nur auf me der zeitgenössischen Literatur; vor allem, vom steilen Anstieg der die Kunst zu, sondern auch auf die denn eben diese hatte sich schon höheren Schul- und Universitäts - Natur. Ein Caspar David Friedrich seit Gutenberg an das Zeitalter der bildung verdeckt wird. Man darf nie konnte sie allein bewundern; die Reproduzierbarkeit angepaßt, und vergessen, daß die klassische Musik Begeisterung von Millionen kann zwar nicht nur dank der glorreichen heute bestenfalls 7% der Schallplat- sie zerstören. Das stellen heute die Erfindung des gedruckten Buches, ten und Tonbänder darstellt. Amerikaner sogar bei gigantischen sondern auch durch die Unmöglich- Das ist hauptsächlich der wahren Touristenzielen wie dem Grand Ca- keit, mit dem Wort soviel Blödsinn Kulturrevolution des 20. Jahrhun- nyon fest. Wenn wir als Millionen zu stiften wie mit Pinsel und Noten. derts zuzuschreiben, nämlich der die Landschaft umschlingen, wird Der steile Aufstieg des Denkmal- technisierten Kunstproduktion, sie erdrosselt. schutzes ist sehr typisch für diese die ja die grundlegende Kunst des Das sprunghafte Wachstum des Auflehnung gegen die Gegenwart. 20. Jahrhunderts überhaupt erst Publikums für die alte Hochkul- Heute wird praktisch jedes Gebäude, ermöglicht hat, nämlich den Film. tur hat diese aber, leider, nicht das mehr als ein paar Jahrzehnte Diese Technisierung der Kunst hat verjüngt. Im Gegenteil. Die alten alt ist, unzerstörbar, jedenfalls äu- drei hauptsächliche Folgen. Künste florieren nicht, so gut sie ßerlich. Alt ist gut – dem Neuen Erstens ersetzt sie sowohl alte sich auch verkaufen, bzw. so groß mißtrauen wir. Und das nicht nur Kunst wie alte Künstler. So hat die die öffentlichen oder privaten Sub- im alten konservativen Europa, Photographie den Porträtmaler als ventionen auch sein mögen. Blei- sondern unter den Wolkenkratzern Beruf größtenteils ersetzt. Das läßt ben wir bei der Oper. Seit Puccini, Amerikas. Es geht so weit, daß man sich z.B. in den zeitgenössischen Sä- Richard Strauss und Janaček (alle in New York heute daran denkt, den len der Londoner National Portrait spätestens um 1860 geboren) gibt alten, stolzen Pennsylvaniabahnhof Gallery leicht feststellen. Die alte es kaum zeitgenössische Komponi- im Ori ginalstil des frühen 20. Jahr- Tradition des Romans, der in regel- sten, die immer wieder neue Werke hunderts wieder aufzubauen, der mäßigen Fortsetzungen erscheint, schaffen, welche ins internationale erst vor dreißig Jahren abgerissen ist praktisch tot: was ihr heute ent- Repertoire aufgenommen werden. und durch eine moderne Kom- spricht, ist die Fernsehserie. Seit der Zwischenkriegszeit lassen bination von Büro, Geschäft und Zweitens – und das ist wohl wich- sich die zeitgenössischen Opern im Sporthalle ersetzt worden war. Und tiger – werden Künstler und Pro- internationalen Spielplan an den das in einer Stadt, deren eigentliche dukt nun von der Technik seiner Fingern abzählen. 58–60 Opern im Tradition bis vor kurzem eben die Herstellung dominiert. Darüber Programm der Wiener Staatsoper ständige Erneuerung war; in der braucht man nicht viele Worte zu in der Saison 1996–97 stammen von den Schauspielhäusern der verlieren. Die heutige Popmusik, von Komponisten, die vor mehr als Metro politan Oper, die vor dem Bau die gegen 75% der gesamten Pho- 100 Jahren geboren wurden. Nur des Lincoln Center existierten, kein no produktion ausmacht, ist z. B. – eine kommt von einem lebenden Stein mehr übrig ist. Das bedeutet zumindest seit den 60er Jahren – ein Komponisten. Das Opernrepertoire für die alte Hochkultur die Krise, fast zur Gänze von der Studio tech nik ist praktisch ein Friedhof geworden, vielleicht sogar das Ende des Kunst- beherrschtes Produkt. Hier wird auf dem wir die Gräber der großen begriffes der Moderne, und ganz der Künstler, ob als Schöpfer oder sicher des Begriffes der Avantgarde Darsteller, zum Endprodukt des kol- Beiträge zur historischen s ozialkunde • 27 lektiven Prozesses der Technik und das Erlebnis der guten Kunst, ver- an die jugendlichen Konsumen- der Techniker. Im Grenzfall spielt ändert sich durch endlose Wieder- ten wen den, und ganz besonders und singt die Rockgruppe sogar holung. Das hat uns Andy Warhol, von den ans Popmusik-Publikum beim öffentlichen Auftritt ihre Num- dieser Mephisto unserer Zeit, mit adressierten Kanälen wie dem MTV. mer nicht einmal selbst, sondern seinen endlos wiederholten Ikonen Es liegt mir nicht daran, den Wert ahmt das im Studio aufgenommene von Mao bis Marilyn Monroe zu dieser oft originellen und technisch und elektronisch ausgearbeitete beweisen versucht. Noch nie waren sehr anspruchsvollen Produktio- Band pantomimisch nach. Ohne die ästhetische Erfahrungen schwerer nen kritisch einzuschätzen. Ich Technik und die Techniker bestünde zu umgehen. wüßte eigentlich nicht, wie das zu diese Musik einfach nicht. Es geht Aber nicht nur das. Durch die machen wäre, und ob überhaupt aber noch weiter. Heute beginnt die heutigen technisierten Massenkün- die Maßstäbe, die Leute meiner Technologie, sich von der mensch- ste ändert sich der Begriff des Kunst- Generation an Kulturproduktionen lichen Schöpfung ganz unabhängig erlebnisses selbst, ja ist vielleicht in anlegen, passend sind. Wichtig ist zu machen und durch den Compu- Auflösung begriffen. Schon das Kino bloß festzustellen, daß es sich um ter oder einfach durch die Registrie- hatte das Erfassen der Natur durch eine neue Art des Kulturerlebnisses rung der Na turformen – wie sie z.B. das menschliche Auge grundlegend handelt, die mit der althergebrach- aus der Chaos-Theorie entwickelt verändert – es war in dieser Hinsicht ten äußerst wenig gemein hat. Und werden – selbständig Bilder zu unvergleichlich viel revolutionärer, daß die Technisierung der geisti- schaffen oder Töne zu komponieren oder jedenfalls erfolgreicher, als gen Tätigkeit, die im Zeitalter des und zu verbinden. etwa der Kubismus, der Futurismus Personal Computers eingesetzt hat, Drittens aber – und das ist viel- und ähnliche Salon moden. Seitdem unsere Einstellung zu Kunst und leicht das wichtigste – bedeutet die ist durch das kontrollierbare Ton- Kultur im 21. Jahrhundert noch Technik eine Umwälzung unseres band und Videogerät die notwendige mehr bestimmen wird als im 20. Verhältnisses zur Kunst, ja des Zeitfolge des Films und der Musik Heißt dies, daß die alte Kultur menschlichen Erfahrungsvermö- aufgehoben worden. Das war bis ge- ihrem Ende zusteuert? Natürlich gens. Und das schon allein durch die stern nur beim Lesen möglich, und nicht. Die Literatur beweist, daß unendliche, unausweichliche Flut auch hier bringt die Technologie des sogar die alte Hochkultur nicht nur von Tönen, Bildern, Worten, welche Computers und der CD-ROM bedeu- lebensfähig, sondern lebendig ist, das Leben des modernen Menschen tende Änderungen. Ich glaube, wir wenn sie nicht, wie die Malerei und durchtränkt. Nie vorher in der Ge- sind uns noch nicht ganz bewußt, die Musik der Avantgarde, einen schichte haben wir so gelebt. Das wie tiefgreifend die Wandlung un- bewußten Kurs in die Wüste ein- ist wohl die eigentliche Kulturrevo- serer Wahrnehmung von Kultur schlägt. Große Komponisten und lution des späten 20. Jahrhunderts: durch die kleinen Tasten „Fast Maler – nämlich solche, die sich mit die Allgegenwart, die Unausweich- forward“, „Rewind“ und „Pause“ Brahms und Bruckner, mit Degas barkeit des Kulturproduktes. Wenn oder „freeze“ ist, besonders für die und Picasso messen können, sind sie auch ab den 30er und Kriegsjah- Generation, die sich ohnehin daran wohl heute Mangelware, nicht aber ren vom Radio vorweggenommen gewöhnt hat, die Fernsehkanäle im große Dichter und Werke in Worten. wurde, gehört sie eigentlich doch Eiltempo zu durchstreifen. Durch Diese sind am Ende unseres Jahr- in die Epoche des Fernsehapparates diese Technologie wird das Erfassen hunderts ebenso zu finden wie an im Wohnzimmer (d.h. seit den 60er der Kulturproduktion zu einem seinem Anfang und auf gleiche Wei- Jahren), in die Zeit der Radios in Mosaik von fast gleichzeitigen, oder se zugänglich wie früher. Es stimmt allen Zimmern (d.h. seit den 70ern), einander überschneidenden kurzfri- allerdings, daß es heute ohne das und noch mehr in die Epoche, in stigen Eindrücken. Der Ablauf der Massen publikum der mittleren und der die Musik durch die verkleinerte Erzählung oder des Arguments, die höheren Schulen mit der Kultur – Tonbandkassette und den Walk- Verbindung schaffende Reihenfolge, jedenfalls der Literatur – schlecht man in jedes Auto, ja potentiell in das nur in der Zeitdimension mög- bestellt wäre. Ich bin ziemlich die Tasche jedes Kindes kam (d.h. liche Crescendo und Decrescendo, überzeugt, daß nur die englischen ab 1980). Zum ersten Mal in der d.h. der Aufbau der musikalischen Mittelschulprüfungen garantieren, Geschichte wachen wir in dieser oder dramatischen Architektur, daß Shakespeare regelmäßig auf Flut auf, wir schlafen in ihr ein. Der versinkt. Die Synchronik siegt über dem Spielplan steht: in den USA ist Schwall der Töne, Bilder und Worte die Diachronik. Wie gewöhnlich hat er jedenfalls von dort verschwunden. begleitet uns durch Tag und Nacht. das die Industrie – genauer gesagt Und doch ist es falsch anzuneh- Technologie durchtränkt das private die Werbung – viel früher erkannt men, daß sich die alte Hochkultur wie das öffentliche Leben mit Kunst, als die Hochkultur. Das läßt sich gänzlich in ein von Schulmeistern, ob mit guter oder schlechter tut von den Werbespots im Fernsehen reichen Eliten und der Frem den- nichts zur Sache. Denn alles, auch ablesen, besonders denen, die sich verkehrswerbung gehütetes Ghetto 28 • Beiträge zur historischen s ozialkunde zurückzieht. Denn wir intellektuel- mehr Namen aus der nicht-anglo- schen Wirtschaftshegemonie des 19. len Kulturhasen sind ja auch in der amerikanischen Welt vorfinden als Jahrhunderts wurzelt und von der neuen Kulturlandschaft des Films früher: Salman Rushdie, Vidia Nai- Welt seitdem über nommen wurde? und der Rockmusik aufgewachsen paul aus Trinidad, Kazuo Ishiguro, Wird Bombay das Weltzentrum der und existieren gleichzeitig in der Vikram Seth, Michael Ondaatje aus Medienkultur werden – es ist schon Welt der Traviata und des Quentin Sri Lanka, Derek Walcott aus St. heute deren Zentrum für die 1.000 Tarantino. Und umgekehrt macht Lucia, Wole Soyinka aus Nigeria. Millionen der Inder –, wenn Banga- auch unsere Kultur mit den Herren Wird sich diese globalisierte west- lore das Weltzentrum der Software Pavarotti, Domingo und Carreras liche Hochkultur halten? In den wird? Werden Weltkunst und Kultur kleine Abstecher in die Welt der reichen und kultivierten Minder- im nächsten Jahrhundert im Kimo- Massen, beziehungsweise schalten heiten voraussichtlich ja, trotz der no oder Sari antreten? Wird sie so sich die alten Klassiker der Musik Verschiebung des wirtschaftlichen synkretistisch werden, wie schon durch ein paar geborgte Takte in die Zentrums der Welt vom Atlantik heute ein Teil der kommerziellen Welt der Fernsehwerbespots ein. Wir zum Pazifik und zum Indischen Massenkultur – der Popmusik oder leben einfach heute in einer kom- Ozean. Der globale Status der der Filmindustrie von Hong kong plizierteren Kulturszene als unsere Reichen wird am besten durch an- mit ihrer eigenartigen Verbindung Vorfahren. erkannt internationale Statussym- der Themen aus weit entfernten Aber das führt mich doch zu bole bewiesen, also besser durch Kulturkreisen? Und wie viel von meiner letzten Frage, die ich – die Rolls-Royce, Ferrari und Porsche der unseren wird noch in dieser vielleicht bis jetzt noch niemand – (und deren kulturelle Äquivalente) neuen, anders gefärbten Weltkultur beantworten kann. Die Kultur, die als durch Lokalprodukte. Auch wenn stecken? Ich glaube es nicht. Es ist ich hier besprochen habe, ob Hoch- man ein paar Zimmer im Schloß für unwahrscheinlich, daß sich im an- kultur und moderne Massenkultur, nationale bzw. regional-kulturelle gehenden dritten Jahrtausend eine hat rein westlichen Ursprung: euro- Kultur reserviert. Schließlich – um von den aufsteigenden östlichen päisch einerseits, nordamerikanisch ein regionales Beispiel zu nennen – Kulturen global so durchsetzt wie andererseits. In dieser westlich zählt ein Matisse im Salon der seinerzeit die westliche. Schon weil geprägten Form hat sie die Welt Arrivierten auch in Europa mehr mehrere heute miteinander wie erobert, doch gilt dies mehr für die als ein Lovis Corinth oder eine an- auch mit der westlichen Hochkultur Kultur der Eliten, weniger für die dere Lo kal größe. Nationalistische rivalisieren. Ich glaube also nicht, Massenkultur. Das Konzertreper- oder kulturell-religiöse Reaktionen daß es eine solche neue globale Kul- toire philharmonischer Orchester, gegen die westliche Kultur wird es tur überhaupt geben wird, die mit das Jazzkonzert in Minneapolis sicher geben, auch – und vielleicht der in der Zeit der westlichen Hege- unterscheidet sich wenig von dem ganz besonders – unter Intellektu- monie vergleichbar ist. Eine solche in Osaka, Baku oder Düsseldorf – es ellen. In den Eliten werden sie aber Kunst- und Kultur hege monie ist bei handelt sich in beiden Fällen um noch lange nicht den Ausschlag weitem keine automatische Folge Künste, die ein ausgewähltes Min- geben: Auch in islamisch-funda- der Existenz einer einzigen Welt- derheitspublikum ansprechen. Ich men talismus geprägten Regimen wirtschaft, einer globalen Wissen- bin über zeugt, daß dies trotz der rie- orientiert sich das Privatleben – schaft und Technologie. Diese gibt sigen Durchschlagskraft der ameri- soweit dies möglich ist – mehr an es unbestreitbar, aber sie erfordert kanischen Medien beim Massenpub- New York, Paris und London als an nur die Möglichkeit der Kommu- li kum in Bombay, Hongkong, Seoul Aya tollah Khomeini; und sicherlich nikation, wie das mittelalterliche und Sao Paulo nicht der Fall ist. Was bis jetzt auch mehr als an der Kultur Latein, nicht aber die gemeinsame wir dort vorfinden, ist bestenfalls asiatischer Metropolen. Kultur. Wir beurteilen die Kultur etwas anderes: ein Synkretismus Stellen wir die Frage umgekehrt. des westlichen Mittelalters nicht der Lokaltradition mit der interna- Wenn einmal der Schwerpunkt der nach den Nebenprodukten dieser tionalen, d.h. amerikozentrischen Welt im Fernen Osten und in Indien Kommunikation, z.B. den Gedich- Popkultur. Das läßt sich z.B. ziem- liegt, werden Tokio oder Bombay ten des Archipoeta, sondern nach lich klar in der kommerzialisierten die Maler der Welt so anziehen wie Dante und Petrarca, nach Walther Filmkultur Hongkongs erkennen. einst Paris? Wird die Freizeit der von der Vogelweide, Chaucer und Andererseits hat die Globalisierung Menschen des dritten Jahrtausends Villon. der westlichen Kultur auch die so japanisch oder chinesisch ausse- Anders steht es meiner Ansicht Produktion der Kulturwerke, die in hen, wie die des 20. Jahrhunderts nach um die Massenkultur und wohl diesen Idiomen Ausdruck finden, durch den Sport englisch aussieht, auch um die gesamte, nicht mehr glo balisiert. Ich denke z.B. an die denn der Sport – vom Fußball zum in die Sprache des bürgerlichen englischsprachige Literatur, in der Golf und zum Tennis – ist eine rein 19. Jahrhunderts rückübersetzba- wir in den letzten Jahrzehnten weit britische Erfindung, die in der briti- re, technisierte Kulturproduktion Beiträge zur historischen s ozialkunde • 29 und Reproduktion unseres fast leicht steckt in den Paradoxien uns für das einundzwan zigste Jahr- schon beendeten Jahrhunderts. des Postmoder nis mus, die den hundert das zu schreiben, was der Ich möchte jedenfalls bezweifeln, Unterschied zwischen Autor und alte mit „Die Kunst im Zeitalter der daß dieser Entwicklungsstrom, der Leser abschaffen wollen, irgend eine Reproduktion“ fürs 20. Jahrhundert durch Technologie und immer mehr Ahnung dieser neuen Beziehung geleistet hat. auch durch künstlich vermittelte zwischen Leben und Kunst. Wohin Sinnesempfindungen geprägt ist, trägt uns dieser Entwicklungs - überhaupt mit der über kom menen strom? Ich weiß es nicht. Wenn Begrifflichkeit von Kunst und Kul- zufällig ein neuer Walter Benjamin tur beschrieben werden kann. Viel- existiert, darf ich ihn oder sie bitten,

Michael Lobgesang Gruppe der Kuratoren. So äußerte sich Starkurator Hans-Ulrich Ob- rist in einem Interview mit Marius nur wo heute heute ist, kann morgen mor- Babias, übertitelt mit Der Kurator muß verschwinden: „Eine Ausstel- gen werden lung organisiere ich nur dann, wenn Kunst und ihre Vermittlung am Vorabend sie ihre Notwendigkeit a priori neu der Jahrtausendwende definieren kann. Der Versuch neue Song lines zu orten, fordert Mobili- tät. Insofern kann jede Ausstellung die letzte sein.“ (in: Kunstforum, Rup pichteroth 1994, Bd. 125; 1/2 1994: 392). Analog zur Rolle des DJ Die Begriffsdefinitionen von Kunst Felder geworden und überschnei- in der Populärmusik treten auch in und Kultur waren im Laufe der den sich mit den Ansprüchen der der Kunst Kuratoren, Regisseure, Zeit immer wieder einem Wandel „Massenkultur“. Die scharfen Kon- Arrangeure und Animateure an die unterzogen. Der Begriff Kunst ist turen, die es bis vor kurzem gab, Seite des Primärproduzenten. Die im allgemeinen Sprachverständnis verschwimmen mehr und mehr, die Rollen verwischen sich und aus der und in der herrschenden Lehr- Trennlinien zwischen den „reinen bildenden wird eine quasi reprodu- meinung, mit der künftige Kunst- Künsten“, diversen Medien und zierende Kunst. Am grundlegenden pädagogen und Kunsthistoriker anderen kreativen Gattungen lösen Problem der Aufspaltung in eine konfrontiert sind, auch heute noch sich auf. elitäre „E“-Kunst und eine populäre weitgehend durch den Geniekult Ausstellungsmacher und Mu- „U“-Kunst hat sich jedoch bisher des 19. Jahrhunderts geprägt. seumspädagogen und andere Ver- kaum etwas verändert. Kunstvermitt lung muß sich heute mittler von Kunst sehen sich aufge- Mit dem vermehrten Auftreten aber vielmehr der gegenwärtigen fordert, Kunst „verbraucherfreund- privater und halböffentlicher Kunst- Situation stellen. Gerade durch lich“ aufzubereiten. Es gilt hier förder- und Kunstvermitt lungs - diese veraltete Auffassung „Bega- ein niederschwelliges Angebot an stellen – z. B. in Gestalt der Bun- bung sei nur au ßergewöhnlichen vermittelnder Zusatzinformation deskuratoren – zeichnet sich eine Menschen gegeben“, die sich stell- anzubieten. Im Bereich dieser Ver- wichtige Bewegung in der Kunst- vertretend für den Rest der „weniger mittlungstätigkeit in den großen landschaft ab. Zahlreiche NGOs und gesegneten Menschheit“ kreativ Kunsthallen und Museen, wo Kunst NBOs (non business organisation) ausleben dürfen, ist Kunst zu einem in breit umworbenen Großausstel- nehmen einen wichtigen Platz ge- hermetischen Sytem geworden. lungen präsentiert wird, entstand rade in der Vermittlung zeitgenössi- Aber „l’art pour l’art“ entspricht in die neue zentrale Funktion des scher, museal schwer vermittelbarer unseren Tagen weder dem Zugang Kurators. Dies führte aber nicht Kunst ein. Nichtsdestoweniger hat der Künstler, noch jenem der ver- zu einer Demokratisierung des Österreich in diesem Bereich einen antwortlichen Vermittler. Kunst und Kunstbetriebes, sondern zu einer großen Nachholbedarf. So gab es Kultur sind schwerer abgrenzbare Ausweitung des „Starkults“ auf die hierorts bereits bisher für zeitge- 30 • Beiträge zur historischen s ozialkunde nössische Kunst – im Gegensatz zur mentierung der Kunsthochschulen wirtschaftlichen Basiswissens für „etablierten Kunst“, die inzwischen in das Universitätsstudiengesetz Kün stler und Kunstvermittler durchaus als Kaufalter native zum in Angriff genommen wird, bietet m Einführung eines Studiums der Aktienpaket gilt, keinen funktionie- sich die einmalige Gelegenheit für Kunstvermittlung bzw. „Museo- renden Markt. An dieser Situation eine Anpassung der Kunst- und logie“ an den Kunsthochschu- konnte auch die Tätigkeit privater Kunst erziehungsstu dien an die len, unabhängig von eigener Sponsoren kaum etwas ändern. Erfordernisse der Zeit. Wesentliche künstlerischer Produktion der Der Staat als „Rechtsnachfolger“ Ergebnisse dieser Ad ap tierung soll- Studierenden von Kirche und Adel in der Funktion ten sein: m Abschaffung der Aufnahmsprü- des Hauptmäzens der Künste, tritt m Abschaffung des frühneuzeit- fung als Reaktion auf den Wan- im Zeitalter zunehmender Interna- lichen Meisterklassensystems del der Kunstdefinition und der tionalisierung und Privatisierung als Ausbildungsstruktur für den Konvergenz mit theoretisch- immer mehr in den Hintergrund: Kunstunterricht wissenschaftlichen Ansätzen Hier gilt es Strukturen zu entwik- m eine verstärkte Berücksichtigung (Ver abschiedung von der auf keln, welche die Förderung künstle- der neuen Bildmedien in den handwerkliches Können hin ori- rischer Produktion und Promotion theoretischen und praktischen entierten Idee des Künstlers). unabhängig von wirtschaftlichen Abschnitten des Studiums Zwängen, sehr wohl aber in Hinblick m Schaffung von Zentralwerkstä t- Gerade für Österreich wichtig auf gesellschaftlichen Bedeutung ten ist die bisher zu kurz gekommene und Verantwortung ermöglicht. m Schaffung eines offenen Pools Internationalisierung der Studien, Eine zentrale Bedeutung in der sowohl theoretischer als auch wofür die Austauschprogramme Kunstvermittlung haben die Kunst- künstlerisch-praktischer Lehre und Kooperationen zumindest für hochschulen, wobei aber deren mit dem Angebot an die Studie- die Länder der Europäischen Uni- Monopol als Vermittlungsinstanz renden, sich im Laufe des Studi- on eine große Chance bieten; dies längst obsolet ist und daher zur ums zu spezialisieren (Vorschlag würde auch eine Andockung der Diskussion gestellt werden sollte. vom Bundeskurator Zinggl) Arbeit der Kunsthochschulen an Sie produzieren in ihren Studien- m Etablierung eines Einführungs- internationale Entwicklungen er- zwei gen der Kunstpädagogik Kunst- jahres für die Kunststudien (ohne möglichen. Auch das Studium der vermittler, die später im schulischen Aufnahmsprüfung) nach deut- Kunstgeschichte an den Univer- Bereich, aber auch immer häufiger schem Vorbild sitäten hat eine Reform dringend außerhalb der Schule arbeiten. Das m Verstärkung der theoretischen notwendig. Daß die Gegenwart Arbeitsfeld für bildnerische Erzie- Lehrangebote als Reflex auf jetzt stattfindet, hat sich dort wie in her wird immer breiter. Gerade die Theorielastigkeit aktueller den Kunsthochschulen noch nicht jetzt, wo die Implementierung der Kunst ansätze überall herumgesprochen. Kunsthochschulen in das Universi- m Einführung von Vorlesungen tätsstudiengesetz in Angriff genom- zur Vermittlung rechtlichen und men wird, bietet sich die einmalige und notwendige Gelegenheit, die Kunst- und Kunster ziehungs stu- dien grundlegend an die Erforder- nisse der Zeit anzupassen. Im Bereich der Kunstvermittlung spielen die Kunsthochschulen eine zentrale Rolle, wobei ich jedoch LItErAtur dafür plädiere, ihr Monopol als Aus- bildungsinstanz der Kunstpädago- BaBias M., im zentrum der Peripherie. kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den gen zur Diskussion zu stellen. Das 90er Jahren. dresden/Basel 1995. Arbeitsfeld für bildnerische Erzieher goeBl r., kunstvermittlung ein auftrag. studie zur ausbildung und arbeit der Bildneri- wird immer breiter, gleichzeitig schen erzieher in Österreich. Wien 1994. wird die Arbeitsmarktsituation in oBerhuBer/Wagner/FiglhuBer/kadrnoska/reder, neuorientierung von kunst- diesem Berufszweig angespannter, hochschulen. Wien 1985. insbesondere weil die öffentliche interviews mit Bundeskurator Wolfgang zinggl (depot), Prof. herwig zens (institut für Bildnerische erziehung an der akademie der bildenden künste) und Ministerialrat Hand sich aus vielen Bereichen der höllinger (Ministerium für Wissenschaft und Verkehr), geführt von ulrike kohnen-zülzer Förderung und Vermittlung von (akademie der Bildenden künste) für ein Wandzeitungsprojekt (ohne Jahreszahl). Kunst und Wissenschaft zurück- zieht. Gerade jetzt, wo die Imple- Beiträge zur historischen s ozialkunde • 31

Hubert Christian Ehalt der Kunst – Lyrik, Tafelmalerei, klassisches Konzert – halten sich Markt- und öffentliches Interesse Kunst zwischen formenspiel, in stets enger werdenden Grenzen. Man hat den Eindruck – der Beitrag Psychoanalyse, Philosophie und design von Eric J. Hobsbawm in diesem Entwicklungen der Kunst im 20. Jahrhundert Heft geht darauf ausführlicher ein –, daß sich der Bereich der „ernsten“ Künste, die ihre Identität grosso modo gesprochen im „Wahren, Die in den letzten 300 Jahren entwik- haben zwar nach wie vor ein hohes Guten und Schönen“ hatten, im 20. kelten und internalisierten Begriffe, gesellschaftliches Prestige, errei- Jahrhundert kontinuierlich verklei- Normen und Werte des Umgangs chen aber trotz medialer Verstär- nert hat und sich gegenwärtig in mit Kunst und Kultur sind im 20. kung immer weniger Menschen. Auflösung befindet. Jahrhundert verändert und schließ- Ein große Publikumsschi chten er- Gleichzeitig hat insbesondere in lich an seinem Ende umgestoßen reichendes Interesse an klassischer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- worden. Es stellt sich die Frage, was Kultur konzentriert sich auf wenige derts eine immer noch expandie- die bewegenden Kräfte dieses Verän- Ikonen – das Neujahrskonzert im rende Kunst- und Kulturindustrie derungsprozesses waren, und wie Wiener Musikvereinssaal, die Opern- große Terrains, die früher durch dieser durch die Menschen wahrge- festspiele in Verona, die Auftritte die tradierten Künste besetzt waren, nommen und bewertet wird, wie die der 3 Startenöre etc. –, die populär und weitere, bisher noch nicht klar künstlerische und kulturelle Praxis aufbereitet, multimedial ausgewer- definierte Erlebnis- und Zeiträume der BürgerInnen heute aussieht tet und international vermarktet okkupiert. Aktiv und passiv sind im- und wie das gesellschaftliche und werden. Gleichzeitig gibt es, was mer mehr Menschen mit Produkten ökonomische Bedingungsfeld war, die kunstinteressierte Öffentlichkeit der Kulturindustrie konfrontiert. das den Formen und Wertewandel betrifft, eine „elitäre Konzentrati- Mehr Menschen als je zuvor hören in der Kunst des 20. Jahrhunderts on“. Kunstsoziolo gi sche Studien fast ununterbrochen Musik un- bewirkt hat. Diesen Fragen möchte zeigen, daß das kunstinteressierte terschiedlichster Qualität. Immer ich im folgenden im Hinblick auf und -kompetente Publikum noch mehr Menschen experimentieren die entscheidenden Entwicklungen häufiger als bisher anspruchsvolle selbst mit der Herstellung von und Zäsuren im formalästhetischen Angebote der klassischen Kultur in Musik und bedienen sich dabei der Bereich der bildenden Künste und Anspruch nimmt. neuen technischen Medien. Jeder, im Hinblick auf die Institutionen, Die kreativen, phantasievollen der seine Wohnung verläßt, seinen die diese Künste bewahren, verwal- Persönlichkeiten, die Künstler, Fernsehapparat oder Computer ten und fördern und die Diskurse die Profis in Sachen Gestaltung einschaltet, wird alltäglich mit un- steuern, untersuchen. verlassen jedenfalls zeitweise das zähligen Bildern überschwemmt. Die Künste finden sich heute in hehre und ernste Reich der Künste, Mehr Menschen als je zuvor stellen einer ungeklärten Position. Es gibt und sie pendeln gerne und immer derzeit mit den neuen technischen ein wachsendes, von der Touris- häufiger in die populäre Kultur aus. Mitteln – elektronisch hoch auf- musindustrie perfekt vermarktetes Das Interesse, im Feld der tradierten gerüstete Fotoapparate, Digitalka- Interesse an überlieferten kulturel- „Hochkultur“ aktiv tätig zu sein meras, EDV-Programme – Bilder len Werken, Ensembles, Städten, oder als kompetenter Konsument unterschiedlichster Qualität her Kulturlandschaften. Das Interesse teilzunehmen, wird jedenfalls in und vermitteln sie an eine immer an den gegenwärtigen „Ausläufern“ einer Reihe von Bereichen immer größere Öffentlichkeit. Mehr Men- jener Künste, deren historische kleiner, trocknet aus. schen als je zuvor schreiben über Ausdrucksformen die Zeitgenossen Wenn man die Isolierung be- ihre aktuellen Befindlichkeiten, so interessieren, wird jedoch immer denkt, in der sich bestimmte Spar- Sorgen und Gefühle und senden ihre kleiner. In der Freizeit- und Erleb- ten der „E-Kultur“ heute befinden, oft sehr persönlichen Botschaften nisgesellschaft erobern gleichzeitig drängen sich zwei Fragen auf: worin in das weltweite Netz und erhalten kulturelle, auf Ästhetik bezogene denn die viel zitierte große Bedeu- darauf Antworten. Hand lungsfelder Raum und Zeit tung der Kunst für die Gesellschaft Mehr Menschen als je zuvor sind im Leben der einzelnen Menschen, eigentlich bestehe und wie die heute passiv als Konsumenten mit im gesellschaftlichen Leben, im beiden Ströme, der gesellschaftli- einer unübersehbaren Flut von kollektiven Bewußtsein. Kunsträu- che und der der Kunst, historisch Bildern, Formen, Symbolen, Texten, me – Museen, Ausstellungshallen, miteinander verbunden waren und Geschichten und musikalischen Konzerthallen, Theatergebäude – sind. Für die alten Königsdis zi plinen Produkten unterschiedlichster Art 32 • Beiträge zur historischen s ozialkunde und Qualität konfrontiert. Die Ge- medialen Ensemble mit „Event cha- sie sich in der zweiten Hälfte des staltung und Pflege des eigenen rakter“ und deutlichen Fluchtlinien 19. Jahrhunderts von den über- Körpers durch Gymnastik, Training, zum Entertainment liegen im 20. kommenen Darstellungsinhalten, Body styling, Massage, Kosmetik, Jahrhundert Ideen, intellektuelle die die religiös fundierte feudal- Tätowierung, Piercing, Diäten, etc. und soziale Konstellationen, die bürgerliche Gesellschaft vorgab. Sie nimmt heute einen immer größeren manchmal in einem engen Wech- verließen ihre affirmative Rolle in Raum im Leben der Menschen ein sel wirkungsverhältnis, immer je- der Gesellschaft und traten in jene und beschäftigt ganze, immer noch doch in einem sehr losen geistigen der Kritik vorgefundener sozialer wachsende Wirtschaftsimperien. Die Zusammenhang standen. Da die Wirklichkeiten ein. Die Künste Mode branchen erreichen immer Künste wohl stets auf konkrete, übernahmen von der Philosophie mehr Menschen mit ihren stets intellektuelle, gesellschaftliche und die Aufgabe der Wahrheits findung, weiter ausdifferenzierten Produkt- politische Ereignisse und Situatio- die sie jedoch nicht mit der Ruhe paletten und fordern von Saison zu nen reagierten, dies jedoch sehr und Bedächtigkeit von Gelehrten Saison primär die Geldbörsen, wohl oft mit utopischen, innovativen, „sine ira et studio“, sondern mit aber auch die ästhetische Kompetenz vieldeutigen und numinosen Bot- Zorn und Ungestüm zu erfüllen der KonsumentIn nen. Die Qualität schaften, Methoden und Werken trachteten. Courbet schrieb als Devi- des Möbeldesigns ist international, taten, ist es fast der Regelfall, daß se über den Eingang seines Ateliers in den letzten Jahrzehnten aber auch das Beziehungs- und Abhängig- „Verité“, womit er zum Ausdruck in Österreich, gewachsen, und die keitsgefüge zwischen Kunst und bringen wollte, daß die Aufgabe des zahlreichen gedruckten und elek- Gesellschaft nicht durch klare und Künstlers die kompromißlose Su- tronischen Werbekataloge tragen eindeutige Kausalitäten beschreib- che nach Wahrheit sei. Konsequenz zweifelsohne auch zur Geschmacks- bar ist. Die folgenden Ausführungen dieses Anspruches war das Verlassen bildung bei. Die Fähigkeit, formaläs- skizzieren daher intellektuelle und der tradierten Themata, die Verab- thetische Qualitäten wahrzunehmen, gesellschaftliche Konstellationen, schiedung der Mimesis, die seit der zu erkennen, zu genießen, ist unter die für die Entwicklung der bil- Mitte des 19. Jahrhunderts durch dem alltäglichen Druck, unter dem denden Kunst im 20. Jahrhundert die Fotografie realisiert wurde, und jede/r steht, ästhetische Entschei- entscheidend waren, sie müssen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dungen zu treffen, größer geworden. jedoch im Hinblick auf die intel- auch von den überlieferten Techni- Viele Analysen der medialen Pro- lektuelle Eigendynamik der Kunst, ken der Tafelmalerei. dukte zeigen, daß sie von ihren die immer vielfältige chaotische Die Künstler verabschiedeten Aussagen, ihren Botschaften trivial, Momente enthielt, auf eine „Gesell- sich von dem durch die Akademien restringiert, primitiv, von ihrem De- schaftsgeschichte der Kunstformen“ vorgegebenen Kanon. Die Ende des sign und ihrer formalästhetischen verzichten. 19. Jahrhunderts neu gegründeten Qualität jedoch besonders differen- Akademien „für angewandte Kunst“ ziert und hochentwickelt sind. die großen Entwicklungslinien nahmen Anforderungen der sich Der Anspruch auf Wahrheit, Hu- industrialisierenden Wirtschaft und manität und Schönheit ist in diesem Seit dem 18. Jahrhundert haben sich der Gesellschaftspolitik auf, und neuen Kulturpuzzle mit seinen die Künste und ihre Protagonisten sie versuchten – sehr oft am Kern Billionen von Einzelteilen weder von ihren Auftraggebern und in der des sozialen Problems vorbei –, als Imperativ, noch als versteckte Folge von den vorgegebenen Ideen die soziale Frage des Pauperismus Botschaft spürbar. Die Schöpfer und und Themenwelten emanzipiert. mit ästhetischen Mitteln zu lösen. Designer haben ihn völlig aufgege- Die Machtansprüche der feudalen Das neue, einfache und funktionale ben. Zu allerletzt wollen die Pro- Herrschaftsträger waren Ende des Design, das Jugendstil und Wiener dukte ernst sein bzw. ernst genom- 18. Jahrhunderts so unglaubwür- Werkstätte entwarfen, erreichte men werden. Spaß, Unterhaltung, dig geworden, daß die Künste nur jedoch die angestrebte Zielgruppe, Überraschung, Kurzweiligkeit wird mehr ein sehr durchsichtiges und das wachsende Industrieproletariat, von den kulturellen Produkten und fadenscheiniges Feigenblatt vor nicht. Programmen verlangt. Bilder, Töne den durch die Aufklärung aus- Am Ende des ersten und im zwei- und Botschaften sind vom Unterhal- geleuchteten Machtansprüchen ten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts tungs- und Spaßcharakter getragen, der Dynastien und des Adels sein entstand als Konsequenz der skiz- und sie wirken für die Beobachter, konnten. Die Künste traten daher zierten Autonomieentwicklung das, die von den alten Kunstpodesten aus seit dem 19. Jahrhundert in eine was wir „abstrakte Kunst“ nennen. das Geschehen beobachten, daher Beziehung wachsender Distanz zu Die Bilder sind keine Abbilder mehr. auch infantil, trivial, banal. den Herrschaftsträgern. In einem Sie bestehen nur noch aus Farben Auf dem Weg vom genialen künst- weiteren großen Schritt dieses und Formen ohne Inhalt, der sich lerischen Einzelwerk zum multi- Emanzipationsprozesses befreiten aus der Gestaltung ableiten ließe. Beiträge zur historischen s ozialkunde • 33

Die Gedichte verwandeln sich in on. Die skizzierte Autonomieent- hat sie das Material historisch- Lautmalerei, die reizvoll klingt wie wicklung hat gegenständliche, ma- genetisch nach morphologischen eine fremde Sprache. Die Musik terielle und handwerkliche Kom- Gesichtspunkten geordnet. Der entledigt sich der Programmatik ponenten im Schöpfungspro zeß in skizzierte naiv-realistische Blick und der Tonalität. den Hintergrund treten lassen. Im auf die Geschichte hat insbeson- Im Verlauf des Jahrhunderts führ- selben Maß, in dem in den Künsten dere in den Kunstwissenschaften te diese Autonomieentwicklung die Idee, Regie, Dramaturgie, Prozeß eine Ordnung des künstlerischen Künste noch weiter von den über- und Kontext wichtiger wurden, Materials nach Epochen – Roma- kommenen Traditionen weg. Nach sind die Grenzen zwischen Kunst nik, Gotik, Renaissance, Barock, der Emanzipation von den Auftrag- und Philosophie, aber auch jene Klassizismus, etc. – begünstigt. gebern, den Inhalten und Themen, zwischen Kunst und Vermittlung Die Herauslösung der Künste aus den leitenden Werten und den alten fließend geworden. So gibt es in dem der integralen Verbindung mit der Maltechniken emanzipierten sie Lebens- und Handlungsfeld, das Herrschaftsgeschichte seit der Auf- sich im 20. Jahrhundert auch von die Kunst heute darstellt, ständig klärung stellt – jedenfalls für das 19. den Gegenständen. Sie verließen Grenzüberschreitungen, und die und in viel stärkerem Maß für das sehr bald auch die tradierte Ge- ehedem deutlichen Zäsuren zwi- 20. Jahrhundert – die Anwendung staltungsweise der bildenden Kunst, schen Künstlern und Philosophen, des Epochengliederungsprinzips auf Leinwandrechtecke mit Farben zu Künstlern und Kommentatoren die Kunstentwick lung nachhaltig füllen. Die Musiker verließen die und Künstlern und Vermittlern in Frage. Tonalität, die Dichter Versmaß und verschwinden. Zur Ordnung der Kunstwerke tradierte Erzählweisen. Das Experi- und der Kunstentwicklungen im ment wurde immer wichtiger, und Kunstentwicklung im 20. Jahr- 20. Jahrhundert haben die Kunst- die Künstler übernahmen jene Rolle hundert: Epochen, Ismen? historiker ein begriffliches Instru- in der Gesellschaft, die Kandinsky, mentarium vielfältiger Ismen – Da- einer der großen Innovatoren der Bis in die 70er Jahre des 20. Jahr- daismus, Surrealismus, Tachismus, Moderne, am Beginn des 20. Jahr- hunderts wurde Geschichte als Fauvismus, etc. – geschaffen. Das an hunderts so treffend beschrieben „Epochengeschichte“ erforscht, linearen Chronologien orientierte hat: „Der Künstler sieht und zeigt.“ geschrieben, erzählt und vermittelt. Geschichtsbild hat wohl auch die Der Künstler ist nach diesem Dik- Bis dahin gab es auch ein Über- Kunsthistoriker dazu bewogen, die tum kein Gestalter mehr; er wählt einkommen über die wichtigen Vielfalt an künstlerischen Ideen aus, zeigt auf, weist hin. Akteure des historischen Prozesses, und Formen, die das 20. Jahrhun- In diesem Autonomieprozeß das sich in den Fragestellungen der dert hervorgebracht hat, in einen wurde die innovative Idee immer Forschung ebenso spiegelte wie in linearen Ablaufkontext zu stellen. wichtiger, und die Traditionen, den Lehrplänen der Schulen und Diese Herangehensweise war aber die Techniken und kanonisierten den Perspektiven, aus denen Medien eher ein Hindernis denn eine Hilfe, Gestaltungsweisen verloren an und Erwachsenenbildungsinstitute Kunst prozesse dieses Jahrhunderts Bedeutung. Die Künstler wendeten Geschichte betrachteten. Dynastien zu verstehen, zu deuten und gesell- sich vom Publikum ab und kon- und Staaten, Kabinette, Parteien, schafts geschichtlich zu verorten. zentrierten sich auf ihr Werk, auf Bürokratien und Heere, Krieg und Wohl gibt es einige gesellschaftli- den schöpferischen Prozeß und Frieden, Männer und Mächte waren che Hauptentwicklungs- und Trenn- auf ihre persönliche Befindlich- zentrale Begriffe, die für die Erfor- linien, die auch die Entwicklung der keit. Gleichzeitig wendete sich das schung und Darstellung historischer Künste bestimmt haben, und auf die Publikum von der Kunst ab, die Prozesse die Entwicklungs- und ich kurz eingehen möchte. Am Ende immer schwieriger und sperriger Interpretationslinien vorgaben. Die des vorigen Jahrhunderts stand das wurde und de ren Schöpfer nicht politischen und sozialen Entwick- feudal-monarchische Herrschafts- bereit waren und sind, Konzessionen lungen der letzten Jahrzehnte ha- system im Hinblick auf seine ide- an den Geschmack einer größeren ben ebenso wie die inhaltliche und elle Fundierung, seine Konsistenz, Öffentlichkeit zu machen. Werner methodische Ausdiffe ren zierung Effizienz und Glaubwürdigkeit vor Hofmann beschreibt Arbeitsweise der historischen Forschung die dem Zusammenbruch. Der macht- und Auffassung aktueller Kunst mit homogenen Geschichtsbilder zum politische und ideelle Niedergang dem Postulat, das jeder gegenwärti- Einsturz gebracht. des durch den Adel dominierten ger Künstler mitträgt: „Die Kunst, Die Kunstgeschichte hat sich politischen Systems war in Europa die Kunst zu verlernen.“ beim Versuch, das riesige Depot von spätestens seit dem 18. Jahrhundert Die Künste finden sich am Ende Kunstwerken zu ordnen, einerseits eingeleitet worden. Ende des 19. der dargestellten Entwicklung heute an die politische und Gesellschafts- Jahrhunderts zeigen die politischen, in einer merkwürdigen Situati- geschichte angelehnt, andererseits wissenschaftlichen und ästhetischen 34 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

Diskurse die Wen dezeit besonders der Moderne die Einsicht in die gesetzt, die Grenzen zwischen den deutlich an. Es formierten sich jene grundsätzliche Widersprüchlichkeit Kunstmedien, zwischen Künstler Diskurse der „Moderne“, die bis vieler ihrer Paradigmen zwischen und Publikum und zwischen äs- zum Ende des 20. Jahrhunderts die Funktionalität und Ornament, Über- thetischem und realem Bereich zu Identität jedenfalls der westlichen sicht und Kolonisierung, Vernunft durchbrechen. Meist handelte es Gesellschaften bestimmen: Das und Magie. sich bei den Fluxus-Aktionen um intellektuelle Programm der Mo- Eine entscheidende Zäsur, mehr szenisch theatralische Veranstal- derne am Beginn des Jahrhunderts noch eine Bruchlinie in der Ge- tungen, mit denen auch Witz und läßt sich auf die folgenden Punkte schichte des 20. Jahrhunderts, die Spontaneität in die Kunst einge- bringen: die Künste und die Möglichkeiten bracht werden sollten. Gleichzeitig m Aufklärung überkommener For- ihrer Entfaltung und Rezeption experimentierten in Wien Otto Mühl, men wesentlich beeinflußte, setzten Günther Brus, Hermann Nitsch u. a. m Ablehnung des Überflüssigen die faschistischen Regime, die die in einer Reihe von Aktionen mit dem m Primat des Funktionellen und Moderne mit ihrem gestalterischen Körper als Medium von Aggression, Effizienten Einfluß auf Weltinterpretation Sexualität, Schmerz, Verletzung, m Kritik feudaler Lebensformen , Kunst- und Lebensformen mit Gewalt und Gewaltanwendung. und Schnörkel zwischen Korsett, Gewalt und Terror zerstörten und Die orgiastischen Aktionen mit Krinoline und Fassadenschmuck vertrieben. Es hatte vom Ausgang zum Teil explizit sexuellem und m Kritik aristokratischer Gesten, des 19. Jahrhunderts bis zu der sadomasochistischem Charakter Lebensformen, hierarchischer Machtübernahme durch die Natio- thematisierten gesellschaftliche Attitüden nalsozialisten eine konservative Ge- Tabus. In der berühmten Aktion m Kritik des repräsentativen Habi- genbewegung zur Moderne gegeben, „Kunst und Revolution“ im Jahr tus die in den Künsten, aber auch in den 1968 im Hörsaal 1 des Neuen Insti- m Schlichtheit und Einfachheit als Lebensformen die überkommenen tutsgebäudes der Universität trafen Postulat Formen bewahren wollte, und die sich avantgardistische, politische m Herausbildung eines neues Kör- auch über einen breiten Rückhalt und künstlerische Intentionen; und perbewußtseins in der Bevölkerung verfügten. Der vielleicht nicht zufällig bildete in m Erkenntnis der Komplexität des Nationalsozialismus holte die kul- Wien eine Veranstaltung mit Kunst- psychischen Geschehens und For- tur-konterrevolutionären Formen charakter den Ausgangspunkt für derung nach einer Ausleuch tung aus dem ästhetischen Untergrund einen politisch-gesellschaftlichen der Seelenlandschaft und einer Bedeutungslosigkeit, in Prozeß der Veränderung. m Forderung einer vernunftmäßi- der man sie – jedenfalls in den 20er Eine letzte Zäsur, die die Situati- gen Erklärung der Welt durch die Jahren – bereits versunken geglaubt on der Künste im 20. Jahrhundert Wissenschaften. hatte. Die massive antimodernisti- entscheidend prägt, sehe ich in der Die Entfaltung neuer wissen- sche Propaganda der Faschisten hat Durchsetzung und Verdichtung des schaftlicher Disziplinen, neuer fraglos auch bewirkt, daß das Ver- weltweiten elektronischen Infor- literarischer und künstlerischer hältnis zur Moderne in Deutschland mationsnetzes. Die Datenhighways Formen, der Psychoanalyse sowie und vor allem auch in Österreich machen in den letzten zehn Jahren vielfältiger lebensreformerischer ambivalent blieb. das gesamte kulturelle Erbe, aber Ansätze folgte diesem Forderungs- Einen entscheidenden Einschnitt, auch immer lückenloser das gegen- katalog der Moderne. Das künstleri- der nicht nur kunst- und kulturpoli- wärtige künstlerische Schaffen zu- sche Wirken von Gustav Klimt, Egon tisch wirksam wurde, sondern auch gänglich. Der einzelne „User“ steigt Schiele, Oskar Kokoschka, Adolf die Ausdrucks- und Formensprache in ein Informationsnetz ein, das in Loos, Otto Wagner, Josef Hoffmann, der Künste erreichte, setzten die den nächsten Jahren seine interakti- Alfred Roller steht ebenso unter dem 60er und 70er Jahre. Die Menschen ven Möglichkeiten noch verstärken Einfluß der Moderne wie jenes von der europäischen Länder – mit wird. Rechner, Monitor und Maus Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Phasenverschiebungen trifft dies geben jedem/jeder Teilnehmer/in die Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Peter auch für die anderen Weltkulturen Möglichkeit, sich jederzeit in ein un- Altenberg. In der bildnerischen For- zu – emanzipierten sich gründlich endliches „Kunstspiel“ einzuschal- mensprache der Moderne entstand von überkommenen Lebensformen ten. Jedenfalls steht jetzt schon fest, jene widersprüchliche Haltung zum und Rollenmustern; sie blieben daß „das Netz“ die über kommenen Ornament, die das Werk einzelner nicht wie ihre Vorläufer um 1900 Grenzen zwischen „Künstler“ und Künstler ebenso durchdringt wie im theoretischen Entwurf stecken. „Publikum“, zwischen Schöpfer und das gesamte künstlerische Schaffen Fluxus – eine internationale aktio- Urheber einerseits und Konsument jener Zeit. Sehr früh entstand bei nistische Kunstbewegung in den andererseits gründlich verwischen den künstlerischen Protagonisten 60er Jahren – hatte es sich zum Ziel wird. Beiträge zur historischen s ozialkunde • 35

ihn und schleust ihn in den Kosmos der Kunst ein. Weitere Readymades waren „Der Flaschentrockner“ (1914) und „Die Fontäne“, eine signierte Pissoirmuschel (1917). Die Rea- dymades machen darauf aufmerk- sam, daß zur Entstehung eines Kunstwerks immer sowohl ein Objekt als auch die psychische und intellektuelle Fähigkeit eines Be- trachters gehört, einen Gegenstand als Kunstwerk wahrzunehmen. Das Readymade macht auf die ästheti- schen Qualitäten aufmerksam, die in Alltagsgegenständen stecken, und auf die auratische Atmosphäre des Kunstmuseums, der es mühelos ge- lingt, einen trivialen Gegenstand zu verwandeln, wie der Kuß der Prin- zessin den Frosch in einen Prinzen. Der Readymade-Effekt durchzieht in der Folge die Geschichte fast aller künstlerischen Innovationen, von den Collagen über die Objekte des Surrealismus und der Pop Art bis hin zur Land Art und zur Kitsch- Kunst. Die Pop Art – entstanden in den USA in den 50er Jahren – holte sich Themen und Objekte aus der Konsum- und Massenkultur (z. B. Comic-strip, Pin-ups und Verpak- kungen). Die bekannten Pop Art Künstler der New Yorker Szene und der amerikanischen Westküste, Marcel Duchamp: die großen neuen Ideen Roy Lichtenstein, Claes Olden- Roue de Bicyclette, 1913 der readymade-Effekt burg, Mel Ramos, Andy Warhol und Duchamp nimmt alltägliche triviale Tom Wesselmann benutzten grelle Gegenstände aus ihrem Funktions- und Leuchtfarben und entlehnten ihre Wahrnehmungszusammenhang, stellt Die entscheidende Idee, die in der Themen aus den Warenhäusern und sie in neue ungewohnte Zusammen- Kunst des 20. Jahrhunderts in un- hänge und schmuggelt sie in die Räume der Vergnügungsindustrie, wobei terschiedlichen Ausformungen im- der Kunst ein. Er bringt damit Magie, sie die Dinge und Erscheinungen mer wiederkehrt, wurde von Marcel Geheimnis und Schönheit banaler des Alltags mit kühler Überzeich- Gegenstände und Situationen zur Duchamp (1887–1968) formuliert. nung aus ihrer nebensächlichen Erscheinung und ironisiert bewußt die Berühmt wurde Duchamp mit dem Funktionsweise des Museums. Existenz herausholten. Ketchup Bild „Nu descendant un escalier“, Aus: Catalogue Raisonné, Paris 1977 Dosen, Coca Cola Flaschen, Ziga- das eine nackte Frau zeigt, die eine rettenpackungen wurden so aus Wendeltreppe hinabsteigt, und mit ihrer trivialen, alltäglichen Positi- dem er er sich auch als Kenner und on eines Wegwerfprodukts in jene Meister des analytischen Kubismus eines ikonogra phi schen Superstars und des Futurismus erweist. 1913 em por gehievt. Die Pop Art war mit stellte er sein erstes „Readymade“, ihrem auf die vertraute und geliebte eine auf einem Barhocker montierte Konsumwelt bezogenen Transfor- Fahrradfelge, aus. mationsspiel wohl einer der wenigen Er nimmt damit einen Alltags- erfolgreichen Versuche, die moder- gegenstand aus seinem Verwen- ne Bildkunst in die Alltagswelt zu dungszusammenhang, verfremdet rein te grieren. 36 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

die Magie des Verschütteten chen Ausdruck brachten und wohl auch popularisierten. André Breton Eine zweite Idee, die die Kunst des formulierte 1924 das Manifest des 20. Jahrhunderts durchzieht, ist Surrealismus, das an die Stelle der jene der Anwendung psychoanalyti- rationalen Anschauung der Dinge scher Erkenntnisse auf den künstle- das Wissen von den irrationalen, rischen Prozeß. Die künstlerischen urtümlichen Beziehungen setzte. Ausdrucksformen, die durch die mo- „Surrealismus ist reiner psychischer derne Seelenwissenschaft beeinflußt Automatismus, durch den man sich wurden, reichen vom Surrealismus vornimmt, sei es mündlich, sei es über die Neue Sachlichkeit bis hin schriftlich, sei es auf ganz andere Weise, das wirkliche Funktionieren des Gedankens auszudrücken. Vom Gedanken diktiert, ohne jede von der Vernunft diktierte Kontrolle, außerhalb jeder ästhetischen oder moralischen Voraussetzungen. Der Surrealismus beruht auf dem Glau- ben an die überlegene Wirklichkeit gewisser bisher vernachlässigter Assoziationsfolgen, die Allmacht des Traumes, das selbstlose Spiel des Gedankens. Er strebt danach, endgültig alle anderen psychischen Mechanismen zu zerstören und sich an ihrer Stelle zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme einzusetzen.“ Giorgio de Chirico, Salvadore Dali, René Magritte, Joan Miró, Hans Arp, Max Ernst, Yves Tanguy, Man Ray u. a. waren wichtige Vertreter des Surrealismus, der sich auch gegen eine Herabwürdigung der Kunst zu einem bloß ästhetischen Gegenstand verwahrte. Ähnlich wie die Psychologie und Psycho- analyse wollten die Surrealisten die Kenntnis von den magischen Zwischenreichen vergrößern, ohne dabei auf eine poetische Dimension zu verzichten, die den Dingen in ihrem Eigenleben jenseits ihrer Funktionen innewohnt. „Wir leben noch unter der Herrschaft der Lo- Andy Warhol (1928–1987) „Big Campells zu den Installationen von Edward gik .... Der absolute Rationalismus, Soup Can“ 1962 Kienholz, Louise Bourgeois und Re- der weiterhin Mode ist, erlaubt nach Seit 1960 entstanden die ersten Gemälde becca Horn und den Gemälden eines unserer Erfahrung die Betrach tung mit Comic-strip-Figuren wie Batman, Dick Tracy und Superman, ab 1962 Francis Bacon und Lucian Freud. uns betreffender Tatsachen nur folgten dann Campells Suppendosen als Es lohnt sich einen Blick in die in einem sehr beschränkten Rah- Sujet. Seine Bilder thematisieren den Gedankenwerkstatt der frühen Sur- men ... Unter dem Banner der Zi- gesamten Bereich des Alltäglichen und realisten zu werfen, die mit ihren vilisation, unter dem Vorwand des Trivialen (Cola-Flaschen, Dollarnoten, Blumen) und den zeittypischer „Images“ Bildern die Erkenntnisse der neuen Fortschritts haben die Menschen es (wie Elvis Presley, Marilyn Monroe, Mao Seelenkunde über das Unterbewuß- fertig gebracht, etwas aus dem Geist etc.) te, über die Bedeutung der Träume zu verbannen, das – zu Recht oder und des Verdrängten zum bildli- Unrecht – als Aberglaube oder Hirn- Beiträge zur historischen s ozialkunde • 37 gespinst beschuldigt werden könn- oder in einem Environment, ebenso te. Sie haben jede nach Wahrheit das Arrangement von Farben und suchende Methode, die sich nicht Formen, bei dem dem Zufall eine in die Tradition einfügt, verbannt.“ ebenso wichtige Rolle zufällt wie (André Breton, Surrealistisches dem die Prozesse steuernden und Manifest) Und in dieser Entdeckung, überwachenden Künstler, werden in diesem Hinweis auf die Magie, die hier nur beispielhaft für all jene in den Dingen, Konstellationen und künstlerischen Prozesse genannt, Situationen steckt, und die freige- bei denen dem Ungeplanten, Spon- legt wird, wenn wir aus den inter- tanen und Zufälligen eine wichtige nalisierten Wahrneh mungsmustern herausgerissen werden, traf sich die Readymade- immer wieder mit der psychoanalytischen Methode in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die Werke von William Bailey, Christo Javacheff, Chuck Close, Domenico Gnoli, Ralph Goings, Michael Heizer, David Hockney und natürlich und nicht zuletzt von Joseph Beuys spielen mit der Magie der Objekte, die dann zum Tragen kommt, wenn die Gegenstände in einer für unsere Wahrnehmung ungewöhnlichen Konstellation erscheinen. Die fragilen Selbstver- ständlichkeiten unserer alltäglichen Wirklichkeitssicht werden dadurch zerstört, und es setzt jener psychi- gestalterische Rolle zufällt. Die Paul Delvaux, Die Schule der sche Automatismus ein, den wir aus frühe abstrakte Malerei, der Sur- Gelehrten, 1958, Öl auf Leinwand. unseren Träumen kennen und den realismus, die Experimente mit Die Darstellung von Gegenständen, Situationen und Inhalten, welche in der die Psychoanalyse deutet. Klatsch- und Schüttechniken, Col- uns bekannten Wirklichkeit nichts mit- lage und Action Painting wollten einander zu tun haben, auf einem Bild, Zufall als Methode durchwegs das Zufällige als Element stören Seh- und Erlebniskonventionen. der Offenheit, der Vieldeutigkeit und Die dargestellte Wirklichkeit erscheint in einem magischen Traumlicht. Eine dritte Idee von der immer eines Heraustretens aus dem Kanon Aus: wien. kunst der letzten 30 jahre. wieder neue Impulse für die Kunst tradierter Harmonievorstellungen museum moderner kunst wien kamen, bestand in der Entdek- in die Kunst einschleusen. kung der schöpferischen Kraft des Max Ernst erzielte den Eindruck Zufalls. Die Kritik an den rigiden archaischer Ruinenlandschaften gesellschaftlichen Ordnungsstruk- zum Teil mit der automatischen turen, am Korsett der ästhetischen „Zufallstechnik“ der „Calcomanie“, Normen und Werte und am Kanon die er in seinen frühen Werkphasen der Methoden bewirkte in der Kunst immer wieder anwandte, und bei der bereits Ende des 19. Jahrhunderts er den visuellen Effekt, der entsteht, eine Abwendung vom akademischen wenn frisch und pastos auf die Lein- Regelwerk zur Herstellung des schö- wand aufgetragene Ölfarbe mit einer nen Scheins und eine Hinwendung anderen Leinwand „abgeklatscht“ zum Unplanbaren. wird, systematisch einsetzte. Der Laut réamont beschreibt als ideale herausragenste Vertreter einer den surreale Konstellation mit Poesie Zufall integrierenden expressiven das Zusammentreffen eines Regen- Maltechnik war Jackson Pollock schirms mit einer Nähmaschine auf (1912–1956). In einem immer ex- einem Seziertisch. Das durch den tremeren Expressionismus fand er Zufall diktierte Arrangement von Ende der 40er Jahre zum Action Gegenständen in einem Stilleben Painting. Er breitete riesige Lein- 38 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

wände auf dem Boden aus, um die in vielen Formen der Computerani- herum er sich in einer Art Trance- mation spielen Zufallsgenerator und oder Rauschzustand bewegte, und chaotisch ablaufende Prozesse eine auf die er in spontaner Gestik Farbe wichtige Rolle. heruntertropfen ließ, verspritz te, schleuderte oder verschmierte. Ende der Kunstgeschichte? Die Betonung des Gestischen in der Arbeit von Pollock wurde von Am Ende des 20. Jahrhunderts anderen Künstlern aufgegriffen und fordern einige Vertreter der Kunst- führte geradewegs zur Entwicklung geschichte, der Philosophie und des Happenings (von to happen: sich der Kunst selbst eine kritische ereignen). Beim Happening, das in Bewertung der „Moderne“. Rudolf den 60er Jahren entwickelt wurde, Burger, Rektor der Wiener Univer- handelt es sich um elementare sität für angewandte Kunst, hat theatralische Abläufe – mit vorher vor kurzem in einem viel beachte- festgelegten Situationen, aber ohne ten Artikel die Frage gestellt, was fortlaufende Handlung. Die Happe- von den gegenwärtigen bildenden nings sollten in jeder Phase offen für Künsten übrigbleibt, wenn man Improvisationen sein, die gelehrten Kommentare abzieht. und sie bezogen un- Die Kom mentarbedürftigkeit der terschiedliche Reize – Gegenwartskunst steht jedenfalls visuelle, taktile, aku- außer Frage. stische – in den künst- Gleichzeitig gibt es wachsende lerischen Prozeß ein. Berufsgruppen, die mit Kunstver- Yves Klein (1928–1962), mittlung, -dokumen ta tion, -prä- Gründungsmitglied des sentation, dem „Kura tieren“ und Nouveau Réalisme, ex- Kommentieren von Einzelwerken perimentierte mit der und Ensembles ihr Geld verdienen. Idee des Monochromen. Hans Belting hat Mitte der 80er Jah- Er schuf monochrome re mit seinem Buch „Das Ende der Bilder und Skulpturen – Kunstgeschichte“ Aufsehen erregt. berühmt wurde er für Seine These ist, daß sich die Kün- sein leuchtendes Ultra- ste mit ihrer Entfernung von einer marin –, und er arran- durch Ikonologie, Ikonographie, gierte Happenings, bei Morphologie, Akkord- und Harmo- denen sich blau einge- nielehre beschreib- und analysierba- färbte Mädchen zu einer ren Formensprache einer kunsthi- von ihm dirigierten mo- storischen Analyse im traditionellen notonen Streichermu- Sinn fast zur Gänze entziehen. Die sik auf einer Leinwand Kunstgeschichte sei somit am Be- bewegten und darauf ginn des 20. Jahrhunderts mit dem ihre Farbspuren hinter- Wegfall des nach formalästhe tischen ließen. Jean Tinguely Kriterien zu beschreibenden Einzel- (1925–1991) konstru- werkes am Ende jener Entwicklung Der Maler Jackson Pollock bei der Arbeit ierte sinn- und funk tions lose Appa- angelangt, die im 15. Jahrhundert an einem „Drip Painting“ rate und mit den „META-MATICS“ begonnen hatte. Rat für Formgebung, Darmstadt absurd anmutende automatische Wie ich in meinen Ausführun- Malmaschinen. gen gezeigt habe, haben sich die In Wien experimentierte Hermann Künstler im 20. Jahrhundert aus Nitsch, der durch seine Ritualspiele einer Haltung und einem Gestus, des „Orgien-Mysterien-Theaters“ die Werte vermitteln wollten, zu- in den 60er Jahren bekannt wurde, rückgezogen. Der „pädagogische mit den Effekten und ästhetischen Zeigefinger“ findet sich fast aus- Reizen, die das Verschütten von Blut schließlich nur in der künstleri- und vor allem roter Farbe auf Lein- schen Produktion der autoritären wand erzeugt. In der Videokunst und Regime des Faschismus und des Beiträge zur historischen s ozialkunde • 39

Kommunismus. Die Botschaften viele Deutungsmöglich keiten, und sonst sind – und das macht meines die vielfältigen Verbindungen mit Erachtens die Kunst des 20. Jahr- den Freizeit- und Kul turindustrien hunderts auch gleichermaßen inter- haben die elitäre Attitüde, die den essant, anregend und sympathisch – Künsten bis in die 70er Jahre eigen sehr leise, vieldeutig, geheimnisvoll. war, gründlich gestört. Die Kritik Gleichzei tig entstand ein immer der kompromißlosen Vernunft an noch wachsendes Feld eloquenter Beschreibung der Kunstwerke, -prozesse und -ensembles, das vom Feld der gestaltenden Künste nicht mehr deutlich abgrenzbar ist. Der „eigentliche“ Kunstcharakter liegt bei den aktuellen Kunstereignissen nicht selten in der Hand der Kura- toren und Prozeßgestalter, und es kommt daher nicht selten vor, daß Persönlichkeiten auf diesem Terrain die Fronten wechseln und die Ebene des kunstvollen Kommentars zum Kunstwerk erklären. Trotzdem wäre es meines Er- achtens völlig falsch, „vom Ende der Kunst“ zu sprechen. Was die bildenden Künste betrifft, hat sich das Spektrum der Ausdrucksfor- men entscheidend erweitert, und es koexistieren heute Tafelbilder mit formalästhetischem Anspruch neben Objekten, Inszenierungen, Installationen und völlig offenen Kunstprozessen. Und im Hinblick auf die aktuelle Kritik an der Kom- mentarbedürftigkeit der Künste der Kunst richtet sich daher heute Daniel Spoerri: muß eines gesagt werden: Die Kün- nicht wie in den 70er Jahren gegen Hahns Abendmahl, 1964 ste waren in keiner Phase des histo- den elitären Musentempel, sondern Spoerri arrangierte für den Kunstsamm- ler Hahn ein Abendessen. rischen Prozesses so wenig dogma- gegen jene triviale Freizeitkultur- Nach dem Mahl hielt er das Ereignis tisch und in einem im Hinblick auf maschine, die die Menschen von der fest, indem er die Requisiten und die ihre Anbindung an Macht und Hege- Geburt bis zum Tod rund um die Uhr Reste des Essens auf der Tischplatte monie so freien Raum. Es gibt zahl- einnebelt. festklebte. Durch Drehung der Tischplat- te um 90° wurde daraus ein Tafelbild – lose Ausdrucksformen und ebenso eines von Spoerris „Fallenbilder“, bei denen Alltagsgegen- stände dem Künstler in die WEItErfüHrEndE LItErAtur Falle seiner Idee gehen. Aus: wien. kunst der letzten 30 jahre. Friedrich achleitner, die rückwärtsgewandte utopie: Motor des Fortschritts in der Wiener museum moderner kunst, Wien 1979 architektur?, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 29, Wien, 1994 ulrich Beck, u.a., eigenes leben. ausflüge in die unbekannte gesellschaft, in der wir leben, München, 1995 hans Belting, das ende der kunstgeschichte. eine revision nach 10 Jahren, München, 1995 hans Belting / lydia haustein (hrsg.), das erbe der Bilder. kunst und moderne Medien in den kulturen der Welt, München, 1998 holger Bonus / dieter ronte, die Wa(h)re kunst. Markt – kultur – illusion, stuttgart, 1997 ernst Bruckmüller, symbole österreichischer identität zwischen „kakanien“ und „europa, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 59, Wien, 1997 40 • Beiträge zur historischen s ozialkunde

Vilém Flusser, ende der geschichte, ende der stadt?, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 14, Wien, 1992 hermann glaser, die kulturstadt und die zukunft der industriegesellschaft, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 9, Wien, 1991 Walter grasskamp, die unästhetische demokratie. kunst in der Marktgesellschaft, München, 1992 Walter grasskamp, der lange Marsch durch die illusionen, München, 1995 Walter grasskamp, kunst und geld. szenen einer Mischehe, München, 1998 Michael hauskeller, Was ist kunst? Positionen der ästhetik von Platon bis danto, Mün- chen, 1998 hilmar hoffmann, die aktualität von kultur – Probleme mit dem kulturboom, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 3, Wien, 1990 gerhardt kapner, die kunst in geschichte und gesellschaft, Wien, 1991 Verena kast, zäsuren und krisen im lebenslauf, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 66, Wien, 1998 hartmut krones/Manfred Wagner, anton Webern und die Musik des zwanzigsten Jahr- hunderts, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 55, Wien, 1997 sigrid löffler,g edruckte Videoclips. Vom einfluß des Fernsehens auf die zeitungskultur, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 54, Wien, 1997 hermann lübbe, zwischen herkunft und zukunft. Bildung einer dynamischen zivilisati- on, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 62, Wien, 1998 kurt luger, sehnsucht abenteuer, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 40, Wien, 1995 donald a. Prater, stefan zweig und die Welt von gestern, Wiener Vorlesungen im rat- haus, hg. von h. ch. ehalt, Band 30, Wien, 1995 dieter ronte, ist kunst vermittelbar? ist kunstvermittlung eine kunst?, Wiener Vorlesun- gen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 64, Wien, 1998 leopold rosenmayr, streit der generationen?, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 23, Wien, 1993 carl e. schorske, eine österreichische identität: gustav Mahler, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 51, Wien, 1996 gerhard schulze, die erlebnisgesellschaft. kultursoziologie der gegenwart, Frankfurt/ new york, 1992 Walter schurian, Österreichische Malerei nach 1945, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 58, Wien, 1997 Walter sorell, heimat exil heimat. Von ovid bis sigmund Freud, Wiener Vorlesungen im rathaus, hg. von h. ch. ehalt, Band 53, Wien, 1997

Jahresabonnement der „Beiträge zur historischen Sozialkunde“ (Inland): Kombi-Abonnement 1 (Q1) der „Beiträge zur historischen Sozialkunde“ (Inland): vier Hefte jährlich inklusive Versand um S 220,– (für StudentInnen S 170,–) vier Hefte jährlich + 1 Band „Querschnitte“ inkl. Versand um S 420,– (für Jahresabonnement der „Beiträge zur historischen Sozialkunde“ (Ausland): StudentInnen S 370,–) vier Hefte jährlich inklusive Versand um DM 38,–/Eu 19,30 (für StudentInnen DM 35,–) Kombi-Abonnements (Ausland): Einzelhefte der „Beiträge zur historischen Sozialkunde“: Abo K1 oder Q1 inkl. Versand: DM 70,–/A 35,50 (für StudentInnen DM 64,–/ pro Heft S 60,–/DM 9,–/Eu 4,35 + Versandkosten (bis Jahrg. 1994) Preise älterer, Eu 32,50) noch lieferbarer Hefte auf Anfrage) Abo K2 inkl. Versand: DM 100,–/A 50,75 (für StudentInnen DM 91,–/Eu 46,20)

Kombi-Abonnement 1 (K1) der „Beiträge zur historischen Sozialkunde“ (Inland): Auch bereits erschienene Bänder der drei Reihen können von AbonnentInnen vier Hefte jährlich + 1 Band HSK inklusive Versand um S 420,– (für Student- bezogen werden: Preis pro Band: S 250,–/DM 36,–/Eu 18,20 + Versandkosten. Innen S 370,–) Kombi-Abonnement 2 (K2) der „Beiträge zur historischen Sozialkunde“ (Inland): Verein für Geschichte und Sozialkunde c/o Institut für Witschafts- und Sozial- vier Hefte jährlich + 2 Bände HSK/IE oder (falls nur ein HSK Band erscheint) geschichte der Universität Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 1Band HSK + 1 Band Edition Weltregionen inklusive Versand um S 620,– (für Tel. ++43/1/4277-41305, Fax ++ 43/1/4277-9413 StudentInnen S 570,–) Beiträge zur Fachdidaktik • 1

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John Morrissey skuril klingenden Wortes: aus dem „Un-Ort“ würde ein freischweben des „Überall“. Vielleicht ging es dem „Der Schlüssel der Träume“ Gesetzgeber um Spaß und Leichtig- keit – eine Botschaft, die listigerwei- Schule im Museum – Museum als Schule? se in gespreiztem Beamtendeutsch daherkommt.

Geschichte im Museum

Sehen kommt vor Sprechen. Exkursionen im Rahmen des GSK- Kinder sehen und erkennen, bevor sie sprechen können. Unterrichts orientieren sich aus ver- John Berger ständlichen Gründen am fachspe- zifischen Angebot: Urgeschichts- mu seen in Asparn an der Zaya und Traismauer, jährliche Großpräsen- Ende des Schuljahres statt: nach tati onen in den Bundesländern oder Dislozierter Unterricht Prüfungen oder Notenkonferenzen, im Wiener Künstlerhaus, Heimat- als halbwegs attraktive Überbrük- museen, Dokumentationsarchiv Unterricht außerhalb der Schule – in kung der Zeit bis zu den Ferien. Ein des österreichischen Widerstandes, welcher Form auch immer – wird solches Verständnis begreift Lernen etc. In allen Fällen steht historische vom Gesetz als „Dislozierung“ be- „vor Ort“ als Beiwerk oder – falls Information im Mittelpunkt, die zeichnet. Eine unfreiwillig komi sche, solche Veranstaltungen zu oft in „lehr plangemäß“ verarbeitet werden jedoch in ihrer Mehr deu tig keit auch den „wichtigen“ Monaten zwischen kann. Was konjunkturbe dingt allen charmante Wort schö pfung. Oktober und Mai angesetzt werden – Beteiligten inklusive Mu seums per- „Dis-loziert“ verweist, was den Ort als Störfaktor. Der Unterricht außer sonal nicht selten schweiß treibende des Lernens betrifft, auf hierarchi - Haus findet somit im Sinne einer Erlebnisse beschert: der frühherbst- sche Verhältnisse: Unterricht findet negativen Interpretation des amt- liche Massenauftrieb zuerst moti- zum größten Teil im Schul gebäude lichen Wor tes an „Un-Orten“ statt. vierter und dann wegen der Drän- statt. Der Bauernhof, die Fabrik, Warum aber nicht die Vorsilbe gerei frustrierter Zweitklassler im der Wald, das Aus gra bungs gelände, anders deuten – und die Schulbe- bereits erwähnten Asparner Schloß die Sportveranstaltung, das Thea- hörde beim Wort nehmen? Könnte darf als Beispiel erwähnt werden. ter und nicht zuletzt das Museum nicht auch gemeint sein, vom Klas- Der Wert der meisten Ausstellun- gelten als Ergänzung zur im Klas- senraum an nicht weniger wichtige gen ist unbestritten und ihr Besuch senzimmer geleisteten Arbeit, zum Schauplätze des Lernens „zurück-“ kann nur wärmstes empfohlen „Regelunter richt“, wie es so schön zugehen, oder jene durch die Raum- werden; man sollte sich jedoch der heißt. Bezeichnenderweise findet situation einer Schule vorgegebe- Problematik didaktisch geschickt ein nicht unbeträchtlicher Teil der nen Unterrichtsformen öfter „auf“- aufbereiteter historischer Präsen- Exkursionen und Lehr ausgänge am zulösen? Hier liegt der Charme des tationen bewußt sein. Ein solches 2 • Beiträge zur Fachdidaktik

Konzept bietet notwendigerweise erfassen läßt. Zwischen dem, was kompakte und vorgefertigte Bilder wir sehen, und dem, was wir wis- an, die den unbefangenen Blick sen, herrscht keine feststehende eventuell erschweren. Nur allzu Beziehung. Jeden Abend können wir die Sonne untergehen sehen. Obwohl wir wis sen, daß der Grund für diesen Vorgang die Drehung der Erde (und nicht der Sonne) ist, kann diese physikalische Erklärung niemals ganz dem Augenschein entsprechen. Der surrealistische Maler Magritte befaßte sich mit dieser immer gegenwärtigen Dis- kre panz zwischen den Worten und dem Sehen in seinem Gemälde Der Schlüs sel der Träume“ (Ber- ger 1990:7). Daher könnte der Besuch eines Museums, das sich zunächst nur wenig für den GSK-Unterricht zu Lucas van Valckenborch, schnell wandert das Auge eines Mu- eignen scheint und üblicherweise Herbstlandschaft mit Weinlese, 1585, seumsbesuchers zum begleitenden im Rahmen der Kunsterziehung Kunsthistorisches Museum Wien Text, zum Diagramm, zur Zeittafel. aufgesucht wird, große Möglich- Für den beschriebenen Gegenstand keiten eröffnen: Das Ausgestellte in wird vergleichsweise wenig Zeit seinem Wesen erfühlen und erken- aufgewendet. Der Eindruck, den nen, dann mit der Spurensuche und ein Kunst werk oder Fundstück Beurteilung beginnen – im Sinne hinterläßt und der vielleicht eine Carlo Ginzburgs, der den Histori- Reihe Fragen aufwerfen könnte, tritt ker als eine Art Sherlock Holmes sieht. Es ist dies eine Rolle, in der sich auch Kinder und Jugendliche äußerst wohl fühlen. Es sollen hier zwei Projekte vor- gestellt werden, die in Kunstmu seen stattfanden. Sie erfordern nur gerin- gen Planungsaufwand – es sei denn, Ausstellungsbesuche in der Freizeit werden als Belastung empfunden – und die Aufbereitung könn te den Schülern überlassen werden.

Bilder und Geschichten

Warum nicht die erzählerische En- ergie von Zweit- oder Drittklasslern nützen und die Kinder als ersten Schritt eines Geschichtsprojektes zu Gemälden oder Skulpturen frei asso- Bernardo Belotto, gen. Canaletto, hinter die Erklärung zurück. ziieren lassen? Das Kunsthisto rische Die Freyung in Wien von Nordwesten, „Auch in einem umfassenderen Museum in Wien scheint dafür be- 1758/61, Kunsthistorisches Museum Sinn kommt das Sehen vor dem sonders gut geeignet: Die meisten Wien Sprechen: Durch das Sehen be- Bilder besitzen enorme erzähleri- stimmen wir unseren Platz in der sche Kraft (Tizian, Cara vaggio, Cor- Umwelt, die sich mit Worten wohl reggio, Bellotto, van Val ken borch, beschreiben, nicht aber in ihrer Pieter Bruegel der Ältere, Rubens, räumlichen Existenz und Vielfalt etc.), die Texttafeln beziehen sich Beiträge zur Fachdidaktik • 3 eher knapp auf Darstellungsweise Wirtschafts- und Sozialgeschich te und Dramaturgie – der „große“ ge- durchgeführt. Es ging ihnen um schichtliche Zusammenhang fehlt. die Frage, inwieweit und in welcher Den Kindern stehen etwa drei Form eine Kunstsammlung die Stunden zur Verfügung, um die Bilder ihrer Wahl – in Einzelar- beit – genau zu beschreiben und danach der Phantasie freien Lauf zu lassen: „Was hat der Maler uns hier erzählt, wie könnte die Geschichte weitergehen?“ Das Resultat sind fast immer interessante Erzählungen, die manchmal eng um die darge- stellte Szene kreisen (z.B. Brue gels „Kreuzigung Christi“), in anderen Fällen rasant eine Kapriole nach der anderen schlagen (z.B. Correg gios „Jupiter und Io“). Der zweite Schritt erfolgt in der Schule: Nun arbeiten die Kinder in Gruppen, die sich aus den gewähl- ten Themen („Biblisches“, „Antike Sagen“, „Alltagsszenen“, etc.) oder den Künstlern (häufig Bruegel und Rolle der Frau in der Gesellschaft Caravaggio, David mit dem Haupt des andere Niederländer) ergeben. Mit reflektiert – als Objekt, Benützerin Goliath, 1606/07, Kunsthistorisches Hilfe der Schulbibliothek sollen oder Produzentin. Sie wählten dafür Museum Wien sie zu folgenden Fragen Stellung das Museum für Angewandte Kunst: nehmen: eine äußerst übersichtliche und 1. Was ist der Hintergrund zur dar- einladende Sammlung, außerdem gestellten Geschichte (z.B. Brue- gels „Kindermord zu Bethlehem“, Tizians „Der Bravo“). Hat dieses Ereignis wirklich stattgefunden oder hätte es in dieser Form ge- schehen können? 2. Welche Aussagekraft besitzen die Bilder als Quelle? Was können sie uns über Alltagskultur zur Zeit ihres Entstehens erzählen? Diese Nachbereitung – deren Schluß- punkt Referate oder schriftliche Berichte sein können – nimmt zwei bis drei Unterrichtsstunden in Anspruch. Die scheinbar schwieri- ge Fragestellung bereitete wenig Probleme – nicht zuletzt wegen einer Reihe von hervorragenden Jugendsachbüchern, die ihnen zur Verfügung standen. weniger von Massen überlaufen als Pieter Bruegel d. f., Jäger im Schnee, andere Wiener Museen und daher 1565, Kunsthistorisches Museum Wien Kunstgewerbe und Frauenge- für Gruppenarbeit besser geeignet – schichte nicht zuletzt wegen des weitläufigen MAK-Cafes als Rückzugsgebiet und Dieses Projekt wurde von drei Stu- des toleranten Personals, von dem dentinnen im Rahmen eines fachdi- später die Rede sein soll. daktischen Seminars am Institut für Den Studentinnen stand eine in- 4 • Beiträge zur Fachdidaktik

teressante Schülergruppe zur Ver- zur Raumkonzep tion, aber auch fügung: etwa 15 Mädchen und die schöne Mu seums bibliothek zur Burschen aus drei verschiedenen Verfügung. Außerdem wandten Schul stufen (6., 7. und 8. Klasse), sich die Schüler bei schwierigen die sich zum Teil gar nicht kannten, Fragen an die Studentinnen. Ziel im Laufe des Vormittags aber gut der etwa dreistündigen Arbeit war harmonierten. Die Aufgabenstel- eine Präsentation in der großen lung nahm wenig Zeit in Anspruch; Eingangshalle – über die Form der nach einer kurzen Erklärung des Darstellung ließen uns die Jugend- Mottos „Frauen und Kunst“ wur- lichen bis zur letzten Sekunde im den vier Gruppen gebildet, die sich Unklaren.

Kragen aus Spitze, Italien, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, MAK Inv.-Nr. T 8596/1932

Museum für angewandte Kunst – Spitze und Glas Der von Franz Graf gestaltete Saal „Renaissance-Barock-Rokoko“ beschränkt sich auf Spitzen- und Klöppelwerk sowie auf hauptsächlich in Venedig gefertigte Glas waren. Hier ließe sich anschaulich das Thema „Frau und Kunstgewerbe – Objekt, Konsumentin, Produzentin“ bearbeiten: Spitzenklöppeln ist bis heute eine Domäne der Frauen, die Glas produktion wird als Männersache betrachtet. Eine historische Analyse wirft also zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter auf. Nicht weniger interessant erscheint der Aspekt der Verwendung dieser Produkte: Bei Glasflasche, Venedig, welchen Anlässen und von welchen Bevölkerungsgruppen bzw. -schichten wurden die 16. Jahrhundert, MAK Inv.-Nr. KHM 3293 ausgestellten Objekte benützt (Spitze war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert modi- scher Bestandteil der Frauen- und Männermode)? Am Beispiel der venezianischen Laguneninseln Burano (Spitze) und Murano (Glas) dürfte den Schülern der Zugang zum Thema nicht allzu schwer fallen – zahlreiche Reiseführer bieten genug Material für den Einstieg.

zunächst Über blick im Museum Die Gruppen wählten äußerst verschaffen sollten, um dann auf unterschiedliche Themen: Ein Bur- einen speziellen Teil der Sammlung sche und drei Mädchen hatten sich oder ein besonderes Thema näher für die Sammlung orientalischer einzugehen. Den Jugendlichen Teppiche entschieden und refe- wurde bei der Themenfindung freie rierten detailliert über Produktion, Hand gelassen. Zur Information Handel und Anwendungszweck. standen ihnen die in den Sälen auf- Eine Mädchengruppe recherchier- gelegten Faltprospekte, die eher te in der Bibliothek zuerst über sparsam formulierten Texttafeln Jugendstil, wechselte aus Enttäu- Beiträge zur Fachdidaktik • 5 schung wegen zu spät angelieferter Museums direktion nun doch zu Bücher das Thema und stellte einen einem – nicht wirklich unfreund- Fragenkatalog zum Projektmotto lichen – Ordnungsruf durchrang. zusammen. Von Saal zu Saal zie- hend, interviewten sie Besucher und Museumspersonal. Die hastig mitgeschriebenen Meinungen wur- den dem Plenum vorgelesen und pfiffig kommentiert. Die dritte, aus Mädchen und Burschen bestehende Grup pe, präsentierte die Frankfurter Küche Margarete Schütte-Li hots- kys und wählte dazu die Rolle der Kulturredaktion einer reaktionären zeitgenössischen Zeitung. Im gei- fernden Stil und mit viel Liebe zum Detail wetterten die Kritiker gegen das Symbol „bedenklicher gesell- schaftlicher Entwicklungen“ und „des Angriffs auf die angestammte Position des Mannes“. In der Aula des Museums war es mittlerweile recht laut geworden – und das Personal ließ es schmunzelnd zu. Die Sprecherin der letzten Gruppe, welche sich mit den Textilien und Kleidern der Studien samm lung im Keller beschäftigt hatte, spielte die österreichische De le gierte zu einem internationalen Frauenkongreß in den Zwan zigerjahren. Ihre Brand- rede gegen die in jeder Hinsicht Wenig später verließen die Ju- Margarete Schütte-Lihotzky, einengende und alte Rollenbilder gendlichen aufgekratzt das Ge- Frankfurter Küche, 1989/90 fixierende Mode war mit derarti- bäude: höchst zufrieden mit ihrer (Nachbau aus 1926), Museum für Angewandte Kunst gem Elan vorgetragen, daß sich die „Eroberung“ des Museums.

LITERATUR

Berger J. u.a., Sehen. das Bild der Welt in der Bilderwelt. hamburg 1990. ginzBurg c., Spurensicherung. Über verborgene geschichte, kunst und soziales gedächtnis. Berlin 1983. Pomian k., der ursprung des mu seums. Vom Sammeln. Berlin 1993. 6 • Beiträge zur Fachdidaktik

Anton Badinger die Produktion selbst. Die Rede ist von der zunehmende Präsenz von Kunstinitiativen in weltweiten Da- Kunst im digitalen Zeitalter ten netzen. In diesen Bereich fallen die zahlreichen regionalen und überregionalen „Kulturserver“, aber auch digitale Verkaufsgalerien sowie mehr oder weniger opulent gestal- Die großen historischen Medienre- and play“) bei gleichzeitigem An- tete Onlinemuseen. Das Inter net ist volutionen zielten auf eine Erwei- steigen der Anwendungsmöglich- heute nicht nur ein elektronischer terung der Kommunikationsmög- keiten. Vorhaben, die noch vor fünf Marktplatz für Kunstwerke aller lichkeiten, marginalisierten im Jahren recht utopisch anmuteten, Qualitätsschattierungen, und eine Gegenzug aber fast zwangsläufig wie das digitale Speichern, Bear- digitale Präsentationsfläche für bereits vorhandene Medien und Aus- beiten und Abspielen halbstündiger Museen und Ausstellungsinitia tiven, drucksformen. So führte der Buch- Videosequen zen, sind heute bereits sondern auch ein funktionierender druck bekanntlich zur Verküm- die Norm. Die hohen Rechenanfor- Kommunikationspool für Künstler merung einer jahrhundertelangen derungen in der Bild- und insbeson- und Kunstinteressierte (www.dart. Tradition mündlicher Erzählkunst, dere Videobearbeitung haben diese fine-art.com, www.kunstnet.at [viele die Fotografie stellte die Malerei in Sparten geradezu zum Schrittma- Kunst-Links],www.art-online.de, Frage, der Siegeszug der Kinema to- cher der Hardware-Entwicklung www.thing.at). grafie schmälerte die Bedeutung der gemacht. Sinkende Anschaffungs- Wer immer noch glaubt, daß digi- darstellenden Künste, das Fernse- preise erlauben es schließ lich im- tal per se progressiv und avantgardi- hen verdrängte das Kino usf. mer breiteren Kreisen, an den neuen stisch bedeutet, wird allerdings auf Neue Medientechnologien haben Technologien zu partizipieren und einem Web-Spaziergang durch di- die etablierten Sparten der Kunst ihr kreatives Potential zu erkunden. verse Online-Galerien schnell eines immer verunsichert und, im besten Doch die Neue-Medien-Eupho- besseren belehrt. Die „Gleichzeitig- Fall, von Grund auf erneuert. Auch rie hat nicht nur die ausübenden keit des Ungleichzeitigen“, eine häu- angesichts der gegenwärtigen Um- Künstler ergriffen. Auch in den fig beschworene Signatur der Post- wälzungen auf dem Sektor der Neu- maßgeblichen Entscheidungsgre- moderne, manifestiert sich derzeit en Medien stellt sich die Frage nach mien der Kunst- und Kulturpolitik vielleicht nirgends so stringent wie kunstrelevanten Auswirkungen und erkennt man eben jetzt die Zeichen in den Weiten des digitalen Netzes. was man sich unter einer „Digita- der Zeit. Deutschland und Frank- Quantitativ dominiert hier immer lisierung der Kunst“ überhaupt reich, um nur zwei Beispiele zu noch das altbackene Tafelbild, und vorzustellen hat. nennen, haben erst vor kurzem neben eingefleischten Medienkunst- Unter Neue Medien verstehe ich und fast gleichzeitig zwei hoch- Fans kommt auch der Anhänger des im folgenden die neuen digitalen dotierte Institutionen ins Leben traditionellen Kunst ge schmacks auf Medien, also nicht nur digitales gerufen, die dem boomenden Trend seine Kosten – sofern er sich nicht Video und Fernsehen, sondern der neuen Medienkunst Rechnung an der Präsentation der Werke in auch Multimediacomputer und die tragen: das Studio national des arts hochkompri mier ten 256-Farben- weltweite Datenmatrix des Internet. contemporains Le Fresnoy und das JPEGs stößt, die auch im besten Außer Frage steht die enorme Fas- Zentrum für Kunst und Medientech- Fall nur schwerlich an das Original zination, die dieser Bereich seit ca. nologie (ZKM) in Karlsruhe, nach herankommen (www.uky.edu/Art- fünf bis zehn Jahren auf die Kunst- Eigendefinition eine „Kulturfabrik source, www.uni-erlan gen.de/wm/ welt ausübt. Es sind vor allem junge für das digitale Zeitalter“. Daß die paint, www.galerie-men sing.de). KünstlerInnen, die sich in diesem Kunst des Informationszeitalters di- Die Enthierarchisierung bzw. Feld engagieren, und viele stammen gital sein könnte, scheint angesichts Einebnung qualitativer Rangunter- aus einer Generation, für die seit solcher Entwicklungen alles andere schiede, die das Internet, wo URL frühester Jugend der Umgang mit als utopisch. neben URL quasi gleichberechtigt Computern, Joysticks und Video- nebeneinanderstehen, bewirken spielen eine Selbstverständlichkeit Kunst und Internet kann, bringt aber nicht nur die war. Ein wesentlicher Grund für das Gefahr einer weltweiten Provin zia- rasch wachsende Interesse an den Einer der greifbarsten Auswir- lisierung, sondern auch die Chance neuen Technologien ist aber zwei- kungen der Neuen Medien auf die einer echten Dezentralisierung mit fellos die rasant voranschreitende Kunst welt betrifft oberflächlich be- sich. Und hier liegt wohl eine der Vereinfachung in der Handhabung trachtet eher die Sphäre der Kunst- ganz entscheidenden Chancen des der technischen Werk zeuge („plug rezeption und Kunstdistribution als WorldWideWeb: Auch Künstlern Beiträge zur Fachdidaktik • 7 in entlegenen Weltregionen ist es auf die multisensorische virtuelle schen Träumen. Kulturkritiker wei- heute möglich, zur Informations - Immersion, das Eintauchen des sen im Gegenzug gerne darauf hin, avant garde zu gehören und auf der Betrachters in computersimulierte daß die künstlerische Besetzung der Höhe der Zeit zu arbeiten – sofern Räume mit der Möglichkeit umfas- virtuellen Welten (die sich bekannt- sie Anschluß an das digitale Netz sender Interaktion. Der Betrachter lich einem „spin off“militärstrate gi- haben. Es geht, anders gesagt, nicht wird so zum Teil der Bildwelt, sein scher Technologien verdanken), im mehr darum, ob man New York, Verhalten beeinflußt die virtuellen großen und ganzen ausgesprochen Wien oder Zagreb zum Mittelpunkt Szenarien, und die simulierten technikaffirmativ und distanz los- seines Wirkens macht, sondern ob Welten beeinflussen rückkoppelnd naiv vollzieht, und monieren einen der In ter net-Server, dessen Dienste den Betrachter selbst. Cyberspace Rückfall hinter die kritischen Posi- man beansprucht, schnell genug ist. ist also eine Medium, das die audio- tionen der Moderne – oder konsta- Die absehbaren Verlierer dieser visuellen Medien vor allem durch tieren gar das Heraufdämmern eines Entwicklung sind Institutionen und die Einbeziehung unserer taktilen neuen gigantischen Verblen dungs- Inititativen, die auf echte Ko prä senz, Sinne überschreitet. Man ist nicht zusammenhangs. auf körperliche Anwesenheit und auf mehr Beobachter eines Bildes, son- Die beklagte Distanzlosigkeit liegt den unmittelbaren kommunikativen dern integraler Bestandteil einer si- gewissermaßen in der Natur der Sa- Akt angewiesen sind, also auch tradi- mulierten, dreidimensionalen Welt. che selbst, denn der Cyber space zielt tionelle Museen. Wenn man sich die Noch hat das künstlerische Ex- ja gerade auf die Verschmelzung mit Bestände des Louvres samt nützli- perimentieren mit dem Cyberspace dem Betrachter und nimmt ihm so cher Zusatzinformationen bequem seine Schaubudenphase nicht hinter jene Distanz, die die Moderne dem am Bildschirm zu Gemüte führen sich gelassen (siehe z.B. www. inm. Betrachter immer wieder auferlegt kann (www.Louvre. com), erspart de/people/alba/espo/virtual/virtual. hat, und worin sie sich von der man sich unter Umständen die Reise htm). Daß die meisten aktuellen (vermeintlich) seichten Unterhal- und das lange Warten vor der Glas- Kunstanwendungen von Cyber- tungsware der „Kul turindustrie“ pyramide. Besonders gefährdet sind space eher banale Resultate zeiti- unterscheiden woll te. Die tradi- darüber hinaus natürlich Künstler, gen, gestehen sogar eingefleischte tionellen Grenzlinien zwischen deren Arbeit nicht „medien adäquat“ Enthusiasten wie Peter Weibel zu Unterhaltungs- und Hochkultur genug ist, um im Netz ohne seman- (vgl. Interview mit ZKM-Direktor könnten durch den Cyber space tische Einbußen vermittelt werden Peter Weibel, in: Der Spiegel Nr. ebenso schnell obsolet werden, wie zu können. Ihnen droht das Schick- 3/18.1.99:186ff). Der Hamburger das Prinzip der individuellen Auto- sal, von der digitalen Welle überrollt Philo sophieprofessor Martin Seel renschaft. zu werden. bringt die Problematik auf den Und was ändert sich für den Re- Punkt: „Die mögliche Zugänglich- zipienten? Unsere Vorstellung vom Der Cyberspace keit virtueller Räume und die mög- Bild als etwas Statischem, bzw. als liche künstlerische Verwendung Fenster, durch das man einen klei- Es bedarf keiner hellseherischen Fä- dieser Welten ist zweierlei … Die nen Ausschnitt der Welt beobachtet, higkeiten, um festzustellen, daß sich Technik des Cyberspace ist als solche wird sich zu einem multisenso - viele künstlerische Initiativen der keine künstlerische Technik.“ risch-interaktiven Erfahrungsraum aktuellen digitalen Szene auf einen In vielem erinnert die aktuelle verändern, in dem Text, Grafik, Fluchtpunkt zubewegen, der eben Cybereuphorie an die klassische Animation, Film, Video, Klang und erst die Sphäre der Imagination ver- Avantgarde der 20er Jahre, die Skulptur zusammenfließen. Ob die lassen hat, um technische Realität zu den Medien Film und Fotografie Reize dieser schönen neuen virtuel- werden, und der auf den glitzernden übersteigerte Hoffnungen entge- len Welten ausreichen, um etablier- Namen Cyberspace hört. genbrachte und dabei realistische te Ausdrucksformen zu verdrängen, Die ars electronica (www.aec. Entwicklungen aus den Augen wird sich weisen. Daß die Neuen at) als wesentliche Leistungsschau verlor. Ging es damals um eine Medien das Potential besitzen, echte der internationalen digitalen Kunst Befreiung der Kunst aus den Klau- imaginative künstlerische Kraft frei- gewährt dem Publikum alljährlich en ihrer bürokratisch-musealen zusetzen, belegen bereits einzelne einen Vorgeschmack auf das, was Verwaltung, um ihre Reintgeration realisierte Projekte, auch wenn sie schon bald jede Videoperformance in das „echte Leben“, so verleitet im Rückblick nur erste Gehversuche als hoffnungslos veraltet und über- heute der Fetisch „Interaktivität“ gewesen sein werden. holt erscheinen lassen könnte. mit dem möglichen Fernziel einer Was genau versteht man aber un- „basisdemo kratischen“ Kunst, an ter Cyber space? Cyberspace zielt der jeder mitwirken darf, zu utopi- 8 • Beiträge zur Fachdidaktik

Stichwort „Kunst“: Einstiegsadressen für das Internet

www.dar.fine-art.com Hier können Angebote von über 2.000 Kunsthändlern, Galerien und Künstlern abgefragt werden. Eine detaillierte Suche nach Künstlern, Techniken, Preisen, Themen usw. ist möglich. www.kunstnet.at Eine Website, die über laufende Aktivitäten auf dem österreichischen Kunstmarkt- und Ausstellungssektor informiert. www.art-online.de Eine echte virtuelle Kunstgalerie mit vielen Arbeitsproben von mehr oder weniger unbekannten Künstlern aus ganz Europa; Malerei dominiert. www.thing.at Die einmalige Registierung garantiert die regelmäßige Zusendung des THING-Newsletters mit wichtigen Informationen aus dem Kultur- und Netzkunstbereich. www.uky.edu/Artsource Ein Netztreffpunkt zu den Themenfeldern Kunst und Architektur (englischsprachig). www.uni-erlangen.de/wm/paint Eine riesige Gemäldesammlung, die von der Gotik bis zur Pop Art reicht und durch einen übersichtlichen Themen- und Künstlerindex abgefragt werden kann. www.galerie-mensing.de „Europas größtes Kunsthaus“ – Kommerzieller Kunstversand im Internet. www.zkm.de Die Homepage des ZKM in Karlsruhe. Interessant: www.Digitalbody.zkm.de Eine Website-Installation von Jill Scott mit Webcams und Chat-Diskussion. Für die Recherche auf eigene Faust eignen sich alle großen Suchmaschinen (Lycos, Altavista …). Das richtige Verknüpfen von Suchbegriffen ist eine Kunst für sich und wird im Help-Menü der Suchmaschinen erläutert.

AU ISSN 0045-1681 Beiträge zur Fachdidaktik. Inhaber, Herausgeber, Redaktion; Verein für Geschichte und Sozialkunde, Dr. Karl Lueger Ring 1, 1010 Wien. Ständige Mit­arbeiterInnen: Wien: Vera K. Cerha, Christa Donner­mair, Alois Ecker, Irene Ecker, Klaus Edel, Wendelin Hujber, Franz Lux, John Morrissey, Eveline Obitsch, Hildegard Pruckner, Christiane Russ, Walter Sauer. Graz: Gerda Hohenwarter. Salzburg: Reinhard Krammer. BЪhlau-Inserat Erscheinungsort Wien, Verlagspostamt 1010 Wien, P.b.b. 18170W82U