1 . Literarische Salons 1

Abb. 1

Die Salonkultur gilt als Ausdruck der bürgerlichen emanzipato­ rischen Bestrebungen im Zuge der Aufklärung. Sie geht mit der Entwicklung des jüdischen Bildungsbürgertums einher und ist eine Erscheinung des städtischen Kulturlebens vor allem des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. In Wien kommt es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer historisch verspäteten Blüte der Salons, wobei hier neben den frühen Salons von Caroline Pichler und der Familie Greiner vor allem die Salons Auspitz, Gomperz, Lieben, Todesco und Wertheimstein zu nennen sind. Die Salons waren das Ergebnis großer Kulturbeflissenheit und Liberalität. In Wien wurden im Gegensatz zu anderen europäi­ schen Metropolen wie etwa die Standesschranken weit­ gehend eingehalten, adelige und bürgerliche Salons existierten nebeneinander, wobei der Salon im Hause Wertheimstein auf­ grund der »gemischten« Gästelisten als Ausnahme zu nennen ist. Im Allgemeinen standen in den Salons gemeinsame Themen, Talente und Interessen als verbindende Elemente im Vorder­ grund, was allmählich zur Überwindung der sozialen Schranken führte – eine Entwicklung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien insgesamt zu bemerken war. Denn so unterschiedlich die inhaltliche Ausrichtung der Salons auch gewesen sein mag, sie funktionierten nach immer gleichen Regeln: Im Zentrum stand die Dame des Hauses, die Salonnière, die für die Einladung und das leibliche wie seelische Wohl der Gäste sorgte und für das Programm der Nachmittage oder Abende verantwortlich war. Meist gab es einen wöchentlichen jour fixe, was die Regelmäßig­ keit der Zusammenkünfte garantierte. Neben den Stammgästen (Habitués) gab es auch gelegentliche Gäste; die Zugehörigkeit zum engen Kreis einer Salonrunde lässt aufgrund des sozialen und künstlerischen Kontextes Rückschlüsse auf politische und ästhe­ tische Standpunkte zu. Der Salon war ein geselliges Veranstaltungsformat in privatem Rahmen, das vor dem Hintergrund der politischen Repression nach dem Wiener Kongress entstanden war. Hier konnte frei über Kunst, Kultur und Politik diskutiert werden, und auch Frauen stand die Teilnahme am Gespräch grundsätzlich offen. Für lange Zeit war dies die einzige Möglichkeit für Frauen, mit Männern

23 außerhalb des Familienverbandes ins Gespräch zu kommen oder sich selbst zu produzieren, wie dies etwa Pauline Metternich mit Vorliebe tat; dennoch blieben sie von politischen Themen lange Zeit weitgehend ausgeschlossen. Was den frauenemanzipatorischen Hintergrund der Salons betrifft, so gibt es grundsätzlich zwei Sichtweisen: Zum einen kann der Salon als Chance für Frauen gesehen werden, am Gesell­ schaftsleben und aktuellen Diskurs teilzunehmen. Zum anderen wird ihre Funktion innerhalb der Salonkultur auf die Pflege ge­ sellschaftlicher Kontakte, die Unterstützung der beruflichen Projekte des Ehegatten, die Hilfestellung für bedürftige Künst­ lerInnen und die Schaffung einer guten Atmosphäre und eines gepflegten, harmonischen Gesprächsklimas reduziert. Obwohl den Wiener Salons in der Sekundärliteratur im inter­ nationalen Vergleich weniger geistige Sprengkraft als repräsenta­ tiver Charakter attestiert wird, da weniger der emanzipatorische Gedanke als die Geselligkeit im Vordergrund gestanden sein dürfte,2 kann der Salon durchaus als ernst zu nehmendes geistig- ästhetisches Projekt betracht werden: Hier wurden etwa Neu­ erscheinungen in Originalsprache vorgelesen und diskutiert, Mei­ nungen zu aktuellen kulturellen Ereignissen und Entwicklungen ausgetauscht. Der Salon kann auch als indirektes Mäzenatentum betrachtet werden: KünstlerInnen wurde ein geschützter halb­ öffentlicher Rahmen und damit eine Test-Öffentlichkeit für erste Lesungen oder andere künstlerische Darbietungen geboten. Man­ che Salonnières erwiesen sich dabei als geschickte Networkerinnen und stellten ihre Gästelisten so zusammen, dass Kunstproduzen­ tInnen auf Vermittler treffen konnten, arrivierte Schriftstelle­ rInnen und Förderer auf Nachwuchstalente etc. Auch waren die meisten Gästelisten äußerst prominent besetzt und ließen auf einen transdisziplinären Diskurs zwischen Politikern, Intellektuel­ len und KünstlerInnen, Wissenschaftlern und Ökonomen schlie­ ßen. In einigen Salons wurde nicht nur über gesellschaftspolitische Entwicklungen diskutiert, sondern auch staatstragende Politik gemacht. Im Folgenden wird deutlich, dass einige der oben beschrie­ benen Merkmale der Salonkultur auf die Wiener Salons zu Beginn

24 des 20. Jahrhunderts nicht mehr zutreffen; deren großes Verdienst liegt vielmehr im Vermittlungspotenzial. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich Ausläufer dieser Salonkultur in eine veränderte Welt hinüberretten; gleichzeitig kam es zur Herausbildung zweckorientierter Zusammenkünfte in Privatwohnungen, wo sich Zeitschriftenredaktionen zur ge­ meinsamen Arbeit formierten oder Freundes- und Dichterkreise sich in Ermangelung geeigneter Lokalitäten trafen. Auch hier waren es meist die Wohnungen von Frauen, die zu beliebten Treffpunkten erwählt wurden.

Der literarische Salon im Hause Wertheimstein3 in Wien Döbling war 1907, zum Zeitpunkt des Todes der letzten Gast­geberin Franziska von Wertheimstein, eher einem Museum denn einem Ort lebendigen intellektuellen Austauschs vergleichbar. Mit dem Tode der beiden Stammgäste Eduard von Bauernfeld (1890) und Ferdinand von Saar (1906) schien die 130-jährige Ära des Alt­ wiener Salons zu Ende zu gehen. So wurde der dort gern gesehene junge Hugo von Hofmannsthal, der bei der ersten Begegnung mit der Gastgeberin 1892 noch unter dem Pseudonym Loris publizierte, zum Zeugen einer untergehenden Welt, bevor er die Wiener Salons des neuen Jahrhunderts, die Kaffeehäuser, frequen­ tierte. Das Haus Wertheimstein-Gomperz war berühmt für den Hof von KünstlerInnen, Gelehrten, Staatsmännern und Dichtern, unter denen sich auch Nicht-Wiener und internationale Namen wie Franz von Lenbach oder Paul Heyse befanden. Neben den täglichen spontanen Besuchen war jeder Sonntag jour fixe. Fol­ gende Persönlichkeiten fanden sich u. a. regelmäßig ein: der Komponist Josef Dessauer, der Publizist Hermann Günther Meynert, der Chemiker Adolf Lieben und sein Neffe, der Physiker Robert von Lieben, der Physiologe Ernst von Fleischl, der Philo­ soph Franz Brentano, die Politiker Adolf Exner und Ernst von Plener, die Gräfinnen Dönhoff, Salm, Wickenburg-Almasy, die Sängerinnen Karoline Bettelheim und Maria Wilt, die Burgschau­ spielerin Auguste Baudius, die Frauenrechtlerin Iduna Laube, unter deren Vorsitz in ihrem eigenen Salon die Satzungen für den

25 Wiener Frauen-Erwerb-Verein entworfen wurden, die Dichter ­Moritz Hartmann, Hans Hopfen, Richard Voß und Adolf Wilbrandt, die Maler Franz von Lenbach und Moritz von Schwind, die Musiker Josef Hellmesberger, Teodor Leszetycki und Anton Rubinstein. Jede(r) von ihnen brachte wiederum Bekannte mit oder führte neue Leute in den Kreis ein.

Lebhafter und weit über die Schwelle des neuen Jahrhunderts hinweg aktiv war der Salon im Hause der Großindustriellen Isidor und Jenny Mautner, die sich auch als KunstmäzenInnen und - samm­lerInnen betätigten.4 In der 1888 erworbenen Villa, dem Geymüllerschlössel, das sie bis zur Zwangsenteignung durch die Nationalsozialisten 1938 (»Arisierung«) bewohnten, gab es einen sonntäglichen jour fixe, der von zahlreichen namhaften Künstle­ rInnen frequentiert wurde.5 Neben Persönlichkeiten aus dem Bereich des Theaters (u. a. Attila Hörbiger, Josef Kainz, Max Reinhardt, Ida Roland, Helene und Hermann Thimig, Paula Wessely), der Musik (u. a. Ignaz Brüll, Pablo Casals, Julius und Erich Wolfgang Korngold, ) und bildenden Kunst (u. a. Leopold Horovitz, Hans Larwin) verkehrten dort u. a. fol­ gende SchriftstellerInnen: Raoul Auernheimer, Julius Bauer, die auch als Grafikerin tätige Helene Bettelheim-Gabillon, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, Ludwig Ganghofer, Paul Gold­ mann, Hugo von Hofmannsthal, der hier 1912 seine berühmte Rede auf den abwesenden, doch zum Freundeskreis der Familie zählenden Gerhart Hauptmann hielt, Paul Lindau, Ernst Lothar, der auch Regisseur und Theaterdirektor war, Eduard Pötzl, Felix Salten, Alice Schmutzer, Hermine von Sonnenthal, Edgar von Spiegl-Thurnsee, Daniel Spitzer sowie Burgtheaterdirektor Adolf von Wilbrandt.

Während sich die junge (und anfangs vor allem) männliche Intel­ ligenzia und die Kulturschaffenden nun bevorzugt um Kaffee­ haustische zu versammeln begannen, waren es bezeichnenderweise wiederum Frauen, die diese immer schon vor allem von Frauen gepflegte Tradition der Salonkultur über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweg weiterführten. Dabei kann nicht von

26 einer zeitlichen Ablöse der literarischen Salons durch die litera­ rischen Kaffeehausrunden gesprochen werden,6 vielmehr von einem temporären Nebeneinander und einer Überlappung der dort versammelten Runden. Dennoch ist ein allmählicher Über­ gang vom Salon als institutionalisiertem Treffpunkt des litera­ rischen und geistigen Lebens der Stadt auf das Café zu verzeich­ nen. Während dem Salon auf Grund der Zensurbestimmungen im 18. und 19. Jahrhundert mehr Bedeutung zukommt, da er dem allgemeinen Rückzug ins Private entspricht, gilt das Café vor allem in Wien als ein Phänomen der Moderne, das bis heute untrennbar mit dem Stadtbild verbunden ist. Der Kaffeehaus­ besuch ist außerdem Ausdruck einer indivuellen Lebensführung, einer großen Geselligkeit und eines spontanen Austausches. Die Intimsphäre der Salons erhielt im »verlängerten Wohnzimmer« des Kaffeehauses zwar einen öffentlicheren, wenn auch nur schein­ bar ungezwungener-willkürlicheren Charakter, doch folgten die Kriterien für die Aufnahme in eine solche Runde nach wie vor denselben unausgesprochenen Gesetzen.

Um die charismatische Journalistin und Feministin Marie Lang7, die 1899 zuerst gemeinsam mit Auguste Fickert und Rosa ­Mayreder, dann alleine die Zeitschrift Dokumente der Frauen heraus­gab, versammelte sich um 1900 ein Kreis, der über die frühere Wohngemeinschaft ihres Mannes, des Juristen Edmund Lang, entstanden war und den Schriftsteller Hermann Bahr sowie den Komponisten Hugo Wolf ebenso mit einschloss wie die Ehe­ frau ihres Sohnes Erwin, die Tänzerin Grete Wiesenthal, Franz Hartmann, den Begründer der theosophischen Gesellschaft in Deutschland, den Anthroposophen oder die eng befreundete bürgerliche Feministin Rosa Mayreder, die wiederum eine Freundschaft mit dem Universalgelehrten Friedrich Eckstein verband. Dieser, ein Tarockpartner Sigmund Freuds und Freund des Schriftstellers Gustav Meyrink, hatte in seiner Badener Villa Peter ­Altenberg, Karl Kraus, und Arthur Schnitzler häufig zu Gast. Seine Schwester Therese Schlesinger-Eckstein war eine der führenden sozialdemokratischen Frauenrechtlerinnen, während sich seine Ehefrau Bertha Eckstein-Diener (Sir Galahad)

27 mit Matriarchatsforschung beschäftigte. So stand Lang, die stets darum bemüht war, zwischen den Bürgerinnen und Arbeiterinnen zu vermitteln, auch privat mit den unterschiedlichen Lagern der Frauenbewegung in Verbindung. Die eheliche Wohnung in der Belvederegasse wurde ein beliebter Treffpunkt von Politikern, KünstlerInnen und Intellektuellen.

Die jüdische Schriftstellerin und engagierte Journalistin, Kunst- und Kulturkritikerin Berta Zuckerkandl-Szeps8 verstand es, in ihrem Salon, der sich bis 1917 in einer Biedermeier-Villa in der Döblinger Nussbaumgasse, dann in einer Wohnung oberhalb des Café Landtmann befand, die Intellektuellen und politisch bedeu­ tenden Persönlichkeiten des Landes ebenso um sich zu versam­ meln wie die jungen Künstler der Secessionsbewegung: Hier sind vor allem Gustav Klimt und Josef Hoffmann zu nennen, den sie mit der Ausstattung ihrer Wohnung betraute, aber auch Otto Wagner, Kolo Moser, Carl Moll. Ihr Salon galt als inoffizielles kulturelles und wohl auch politisches Machtzentrum, wo sich die Vertreter der unterschiedlichsten Anschauungen am selben Ort versammeln konnten. Berta Zuckerkandl war antikonformistisch und von jenem Fortschrittsglauben geleitet, der das jüdische Großbürgertum im Allgemeinen charakterisierte: Ihr Salon überdauerte den Zusam­ menbruch der Donaumonarchie und war auch in der Zwischen­ kriegszeit eine Art Institution – vor allem für die kulturelle Avantgarde: Jeden Sonntagnachmittag traf man sich bei der »Hofrätin«. Mit dem Ende der Demokratie im Jahre 1934 redu­ zierte sich der Kreis allerdings um die politischen Köpfe – wie den christlich-sozialen Kanzler Ignaz Seipel oder den Sozialde­ mokraten Julius Tandler – auf einen rein künstlerischen, der bis zu Zuckerkandls Emigration nach Frankreich im Jahre 1938 existierte. Berta Zuckerkandl war nicht nur politisch wach, sondern auch in sozialen Bereichen äußerst engagiert: So begrüßte sie etwa Hermann Bahr als Sprecher und Mitinitiator der (in seiner Zeitschrift Zeit am 29.5.1897) und wurde in ihrem Nuss­ dorfer Salon von Gustav Klimt, Josef Hoffmann, Otto Wagner

28 und Kolo Moser um die Unterstützung ihrer Bewegung gebeten. In der so genannten Klimt-Affäre erfuhr Gustav Klimt Rücken­ deckung aus dem Hause Zuckerkandl: Klimt war 1904, zehn Jahre nach Auftragserteilung, aufgrund unterschiedlicher ästhe­ tischer Auffassungen vom staatlichen Auftrag für die Gestaltung der Zwickelbilder in der Aula der Universität Wien zurückgetre­ ten. Er wollte die bezogenen Gelder zurückerstatten, die Bilder behalten und sich dadurch von der Abhängigkeit vom Staat end­ gültig lossagen. Sein Versuch, die Kunst vor dem Staat zu schüt­ zen, rief einen Skandal hervor. Bei Kriegsausbruch im Jahre 1914 kamen aus dem Salon Zucker­kandl deutliche pazifistische Signale, und der allgemeine patriotische Taumel blieb aus. Berta Zuckerkandl startete in der Wiener Allgemeinen Zeitung eine Antikriegsmission, für die sie sich internationale Unterstützung holte. Die Intellektuellen- und Literatenkreise schwankten zwischen Patriotismus und Pazifismus. Während Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Peter Rosegger und Richard Schaukal für den Krieg eintraten, waren viele der Expressionisten wie Georg Trakl, Albert Ehrenstein oder Franz Werfel grundsätzlich Pazifisten. Im Wiener Kriegsarchiv gab es eine »Literarische Gruppe«, die das Kriegsgeschehen aus patriotischer Sicht zu dokumentieren und journalistisch aufzubereiten hatte, in ihrer Aufgabe jedoch bald enttäuscht wurde. Zu ihr zählten u. a. Rudolf Hans Bartsch, Franz Theodor Csokor, Franz Karl Ginzkey, Albert Paris Gütersloh, Alfred Polgar, , Felix Salten und Stefan Zweig. Wie die Literarische Gruppe bot auch das »Kriegspressequar­ tier« (KPQ) der österreichisch-ungarischen Armee vielen Journa­ listen, Schriftstellern und Künstlern ein Refugium vor dem Kriegsdienst mit der Waffe. Im KPQ waren u. a. Richard A. Bermann (d. i. Arnold Höllriegel), Egon Erwin Kisch, Ferenc Molnár, Leo Perutz, Roda Roda und Franz Werfel. Berta Zuckerkandl setzte sich zu Beginn des Weltkriegs auch für die galizischen Flüchtlinge ein und organisierte Lebens­ mittelaktionen. Im Jahre 1917 versuchte sie über ihre diploma­ tischen Verbindungen nach Frankreich und in die Schweiz für

29 einen ­Separatfrieden zwischen Österreich und Frankreich zu in­ tervenieren. Die Schweiz galt als Hafen der KriegsgegnerInnen, zu denen etwa Romain Roland, , Else Lasker-Schüler, Stefan Zweig, Friederike von Winternitz, Tilla Durieux, Paul Cassirer, Walter Rathenau, Annette Kolb und Franz Werfel zähl­ ten. Ihre Verbundenheit zu Frankreich und die Vielfalt der Salon­ gäste ergaben sich aufgrund von Berta Zuckerkandls familiärer Einbettung, war sie doch die Tochter von Moritz Szeps, dem Begründer, Chefredakteur und Herausgeber des liberalen Neuen Wiener Tagblatt und Berater des Kronprinzen Rudolf, Schwester von Julius Szeps, dem Chefredakteur der Wiener Allgemeinen Zei- tung, und Gattin des Mediziners Emil Zuckerkandl, der sich für die Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium einsetzte und Obmann des 1900 gegründeten Frauenbildungsvereins Athenäum war. Der Pariser Freundeskreis ihres Mannes umfasste Berühmt­ heiten wie , Maurice Ravel, dem sie zu Aufführun­ gen in Wien verhalf, oder die Schriftsteller Henri René ­Lenormand und Paul Géraldy. Der rege Kontakt zur Pariser und internatio­ nalen Gesellschaft ergab sich jedoch auch durch den Pariser Salon ihrer Schwester Sophie, der Schwägerin der Staatsmanns Georges Clemenceau. Zu Berta Zuckerkandls Gästen zählte auch Paul Zsolnay, in dessen 1923 gegründetem Verlag einige von Zuckerkandl über­ setzte französische Theaterstücke erschienen. Außerdem fand sich der erweiterte Kreis um Hermann Bahr regelmäßig ein: besonders Arthur Schnitzler, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Egon Friedell, Hugo von Hofmannsthal, der dort mit Burgtheater­ direktor Max Reinhardt sprach – auch dies sollte eine fruchtbare Begegnung werden, denn im Salon fand 1922 die erste Lesung des Großen Salzburger Welttheaters statt. Weiters waren im Hause Zuckerkandl der erste Präsident des Österreichischen P.E.N.-Clubs Raoul Auernheimer anzutreffen, der Burgtheaterdirektor Max Burckhard, der Kunstkritiker Richard Specht, der Volksbildner und stellvertretende Obmann des Frau­ enbildungsvereins Athenäum Ludo Hartmann, der Bildhauer Anton Hanak, der dänische Schriftsteller, Philosoph und Lite­raturkritiker

30 Georg Brandes, die Sängerin Maria Freund, der Chirurg Arthur Kaufmann und Heinrich Mann. Als am 12.11.1918 die Erste Republik ausgerufen wurde, schlugen bei bürgerkriegsähnlichen Unruhen Aufrührer die Scheiben des Café Landtmann ein, die Gäste stürzten panisch nach oben – bis in die Zuckerkandl’sche Wohnung, wo im Salon neben einer radikalen Auffassung von Literatur auch die Nähe zum Austromarxismus gepflegt wurde. Berta Zuckerkandl selbst stand zwar sozialdemokratischen Ideen nahe, blieb jedoch altösterrei­ chisch-liberal gesinnt und vertrat die Idee der Donaukonfödera­ tion wider die christlich-soziale Ideologie. Sie war gegen einen Bruch zwischen den Lagern, weshalb sie über persönliche Bezie­ hungen Bundeskanzler Seipel mit Sozialdemokraten an einem Tisch zusammenbrachte. Die enge wechselseitige Verknüpfung zwischen den einzelnen Wiener Salons und Kreisen ist an den immer wieder in unterschied­ lichen Kontexten auftauchenden Namen der ProtagonistInnen ablesbar. 1901 wurde im Salon der Zuckerkandls die Verbindung zwischen Alma Schindler und geknüpft. Später äußerte sich Berta Zuckerkandl im Neuen Wiener Journal vom 21.11.1918 zum »Fall Franz Werfel«, dem nachmaligen Ehe­ mann von Alma Mahler, der damals im Glauben an eine sozialis­ tische Revolution nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie gemeinsam mit Egon Erwin Kisch (als zeitweiliger Anführer) und Franz Blei in der extrem links orientierten Roten Garde aktiv war und steckbrieflich gesucht wurde. In den 1920er Jahren verkehrten in ihrem Salon u. a. Egon Friedell und dessen enge Freundin Lina Loos, deren Intimus Franz Theodor Csokor, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Anton Wild­ gans, Stefan Zweig und expressionistische Dichter wie und die beiden Deutschen Fritz von Unruh und Theo­ dor Däubler, damaliger Präsident des Deutschen P.E.N., der mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnete Psychiater Julius Wagner-Jauregg, der Sozialdemokrat Julius Tandler, der Begrün­ der der Paneuropa-Bewegung Richard Coudenhove-Kalergi und seine Frau, die Schauspielerin und Pazifistin Ida Roland, die Schauspielerin und Gattin des deutschen Verlegers Paul Cassirer

31 Tilla Durieux, die französische Schriftstellerin Sidonie-Gabrielle Colette, die Schauspielerin und Max Reinhardts spätere Frau Helene Thimig, die Tänzerin Maria Ley und ihr Ehemann, der marxistische Regisseur , Burgtheaterdirektor Paul Heterich, Burgmime Alexander Moissi, der marxistische Kom­ ponist und Dirigent Oskar Fried, der Komponist und Musik­ schriftsteller Egon Wellesz. Dieser in seiner (kultur)politischen Bedeutung kaum zu über­ schätzende Wiener Salon löste sich mit der Emigration der Fami­ lie Zuckerkandl im Jahre 1938 nach Paris auf. Berta Zuckerkandl zählte dort zum Beirat der Zentralvereinigung österreichischer Emig­ ranten, dem u. a. auch Egon Friedmann, Alma Mahler-Werfel, Alfred Polgar, Bruno Walter, Franz Werfel und Friederike Zweig angehörten. Später emigrierte sie weiter nach Algier.

Ein Kreis, der von größter Heterogenität gekennzeichnet war und über alle politischen Lager hinweg reichte, hatte sich um Eugenie Schwarzwald9 herausgebildet. Ihr Salon befand sich in ihrer von Adolf Loos gestalteten Wohnung in der Josefstädter Straße 22 und war ähnlich wie der Salon von Berta Zuckerkandl ein Treff­ punkt für die liberale, fortschrittlich-intellektuelle Wiener und internationale Prominentengesellschaft: Georg Lukács und Else Lasker-Schüler waren ebenso zu Gast wie die dänische Schriftstel­ lerin und Frauenrechtlerin Karin Michaelis oder Rainer Maria Rilke. Eugenie Schwarzwald verfügte über ein großes Maß an sozialer Kreativität. In ihrem Umkreis tauchten Feministinnen wie Marie Lang und Rosa Mayreder auf, die ihr in ihren pädago­ gischen Projekten zur Förderung der schöpferischen Talente von Kindern große Unterstützung leisteten. Unter anderem betrieb sie ein Mädchengymnasium und gründete die erste koedukative Volksschule. Aber auch Karl Kraus und sind zu nennen, für die sich Eugenie Schwarzwald nachdrücklich ein­ setzte. Weitere Gäste waren: Peter Altenberg, Hanns Eisler, Egon Friedell, Egon Erwin Kisch, Oskar Kokoschka, Maria Montessori, Robert und Martha Musil, Leo Perutz, der Nestroy-Herausgeber Otto Rommel, Arnold Schönberg, Hilde Spiel (ihre ehemalige Schülerin), Friedrich Torberg, Jakob Wassermann, die Tänzerin

32 Grete Wiesenthal, ihre wichtigste Mitarbeiterin (und offizielle Geliebte ihres Mannes) Maria Stiasny, die im selben Haushalt lebte und ihr eine wichtige Stütze war. Nicht für Wien, aber für Schwarzwalds Sommerfrische am Grundlsee sind Treffen mit folgenden Personen verbürgt: Felix Braun, Franz Theodor Csokor, Arno Holz, Käthe Kollwitz, Sinclair Lewis, Adolf Loos und Elsie Altmann-Loos, , Ida Roland und Richard Couden­ hove-Kalergi, ihren ehemaligen Schülerinnen Vicky Baum und Alice Herdan-Zuckmayer sowie Carl Zuckmayer. Da Eugenie Schwarzwald dem Verein abstinenter Frauen ange­ hörte, gab es in ihrem Salon niemals Alkohol. Ihr Einsatz für die Kunstprojekte ihrer (männlichen) Gäste wurde nicht gewürdigt und blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen, auch ließ man ihr von behördlicher Stelle wenig Unterstützung für ihre ambitionierten pädagogischen Unternehmungen angedeihen. Ihr Networking, das in Wien seinen Ausgang genommen hatte, dehnte sie in den Kriegsjahren in Form von Ferienkolonien für Kinder (Aktion »Wiener Kinder aufs Land«, gegründet 1916) und Erwachsene – insbesondere bedürftige Künstlerinnen und Künstler – auf Mödling, das Raxgebiet, das Salzkammergut und Berlin aus und rettete durch ihr weit verzweigtes Hilfswerk Tau­ senden Menschen das Leben. Die von ihr ins Leben gerufenen Gemeinschaftsküchen bewahrten viele vor der schlimmsten Hun­ gersnot. Nach der Niederschlagung der Februarkämpfe 1934 half sie den verfolgten SozialistInnen in Österreich. Ihrem Wiener Salon war mit dem Einmarsch der deutschen Truppen 1938 ein jähes Ende gesetzt, was sie nur noch aus der Ferne ihres Schweizer Exils wahrnehmen konnte. Die Offenheit ihres Salons hatte jeden­ falls dazu geführt, dass Kommunisten wie Egon Erwin Kisch und Ministerialbeamte wie ihr Gatte Hermann, Sektionschef im Finanz­ministerium, unter demselben Dach verweilen konnten.

Die Schriftstellerin Gina Kaus zog in der Zwischenkriegszeit in das Palais des Juristen und Präsidenten der Depositbank, Franz Kranz, in der Liechtensteinstraße im 9. Wiener Gemeindebezirk. Dort lebte sie offiziell als für den Haushalt zuständige Adoptiv­ tochter und inoffiziell als Geliebte von Kranz, der ihr allen Luxus

33 bot. Das Palais war ein wichtiger Treffpunkt eines Literaten­ kreises, der sich zum Großteil mit der so genannten Herrenhof- Runde überschnitt, zu der u. a. Franz Blei, , Egon Erwin Kisch, Franz Werfel, später auch Eduard Frischauer, Milena Jesenská, Karl Kraus, Alfred Polgar und Friedrich Torberg zähl­ ten. Zentrum der ausgelassenen Abende waren Gina Kaus und ihr geheimer Geliebter Franz Blei, der über Kaus’ Vermittlung als Sekretär für Kranz arbeitete. Franz Blei gründete die philo­ sophische Zeitschrift Summa, deren Redaktion Gina Kaus über­ nahm. Die eigens für diese Arbeit angemietete Wohnung war ein weiterer Treffpunkt für diesen Kreis. Kaus stellte Franz Werfel die Redaktionsräume als Wohnung zur Verfügung, was ihm ­geheime Zusammenkünfte mit seiner späteren Ehefrau Alma Mahler-Gropius ermöglichte. In den 1930er Jahren durch die zahlreichen Bühnenerfolge ihrer Dramen zu eigenem Reichtum gekommen, mietete Gina Kaus im Philipphof (an der Stelle des heutigen Hrdlicka-Denk­ mals vis-à-vis der Albertina) ein eigenes Luxusappartement. Im selben Haus war neben dem Sitz des noblen Jockey-Klubs auch Eduard Frischauers Anwaltskanzlei untergebracht. Dort lebte sie mit ihrem nunmehrigen Lebensgefährten Frischauer und machte durch eine legendäre Herzmanovsky-Soirée die Lektüre von Tex­ ten Herzmanovsky-Orlandos in der Herrenhof-Runde populär.

Im Jahre 1931 ließ sich das nunmehrige Paar Alma Mahler- Werfel10 und Franz Werfel von Josef Hoffmann in unmittelbarer Nähe zur Villa von Alma Mahlers Mutter und ihrem Stiefvater Carl Moll auf der Hohen Warte eine Villa erbauen, in dem sie einen Salon unterhielten. Dieser war in politischer Hinsicht we­ niger wählerisch als vergleichbare Salons: Es verkehrten dort ­sowohl Vertreter des alten Hochadels und des Klerus als auch bedeutende Politiker aus allen Lagern wie Kanzler Kurt Schusch­ nigg, die Sozialdemokraten Julius Tandler und Karl Renner, der rechte Heimwehr-Führer Ernst Rüdiger Starhemberg, illegale Nationalsozialisten sowie Faschismus-Gegner. Ab den 1930er Jahren waren dort häufig Heimwehroffiziere anzutreffen, gleich­ zeitig aber auch der revolutionäre Sozialdemokrat und spätere

34 Kommunist Ernst Fischer. Die offensichtliche Beliebigkeit in der Gästeliste wird in der Sekundärliteratur auf die Schwerpunktset­ zung des Salons zurückgeführt, in der Kost und Logis im Vorder­ grund zu stehen schienen. Unter den regelmäßigen Gästen waren zahlreiche Musikerkol­ legen von Almas erstem Ehemann Gustav Mahler: die Dirigenten Fritz Stiedry und Bruno Walter, die Sängerin Lotte Lehmann, die Komponisten Joseph Marx und Egon Wellesz, der Vorstand der Philharmoniker Hugo Burghauser, die Musikkritiker Heinrich Kralik und Erwin Mittag, der Volksliedpädagoge Josef Gregor und der Schriftsteller Rudolf Kassner. Arnold Schönberg war Nutznießer der von Alma Mahler-Werfel ins Leben gerufenen Mahler-Stiftung, die über abgewickelt wurde. Zum engeren Freundeskreis, der sich zuweilen auch in Mahler-Werfels Sommervilla in Breitenstein am Semmering traf, zählten neben Arthur Schnitzler auch Karola und Ernst Bloch, Elias Canetti, Egon Friedell – der Franz Theodor Csokor einführte –, Gerhart Hauptmann, der Dramaturg Franz Horch, Ödön von Horváth, Anton Kuh, Max Reinhardt, der damalige österreichische P.E.N.- Präsident Felix Salten, Karl Schönherr, Richard Strauss, Conrad Veidt, Jakob Wassermann, Paul Zsolnay sowie Carl Zuckmayer. Durch die Anwesenheit des Schriftstellers und Historikers Richard von Kralik, Mitbegründer des Verbandes katholischer Schriftsteller Österreichs, von dem sich der Gralbund abzweigte, und Verfechter eines religiös-nationalen Kulturprogramms, geriet der Salon unter streng katholische Observanz. Die Salonnière selbst machte trotz diverser Bindungen zu ­jüdischen Partnern aus ihrem Antisemitismus bis ins hohe Alter keinen Hehl. Ab dem Jahre 1934 war der Mahler-Werfel’sche Salon politisch relativ angepasst, worüber der sozialdemokratisch orientierte Franz Werfel mit seiner Frau in immer größere Kon­ flikte geriet. Aufgrund seines mosaischen Glaubens musste das Paar 1938 emigrieren und lebte ab 1940 in den USA. Sie ließen sich in Los Angeles nieder, lebten phasenweise aber auch in New York, wo Alma Mahler-Werfel in ihrer Hotel-Suite ihren Salon weiterführte.

35 An den Namensnennungen lassen sich die Verbindungen zwi­ schen den Salonrunden rekonstruieren, die auch in mancher Anekdote Niederschlag fanden. So waren Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel durch die Verehelichung der Tochter Anna mit Paul Zsolnay und schließlich auch durch Verlagsverträge mit der Familie Zsolnay eng verbunden. Pauls Mutter, in deren Salon in Schloss Oberufer bei Pressburg prominente Künstler und Schrift­ steller wie Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Richard Strauss verkehrten, organisierte in ihrem Palais in der Maxingstraße regelmäßig Lesungen mit anschlie­ ßender kritischer Diskussion im kleinen Kreis. Mitte der 1930er Jahre war Elias Canetti zur Lesung aus der Komödie der Eitelkeit eingeladen und wurde von Franz Werfel heftig kritisiert. An solchen Ereignissen werden die komplexen beruflichen und pri­ vaten Verflechtungen zwischen den unterschiedlichen Gruppie­ rungen sichtbar.11

Der Kreis um die für ihre Wiener-Walzer-Variationen berühmte Tänzerin und Tanzprofessorin Grete Wiesenthal blieb auch wäh­ rend des Dritten Reichs ein Refugium für Freidenker, Verfolgte und Gefährdete, die sie sogar vor den SA-Truppen zu schützen wusste. Aus diesem Grund war ihr Salon nach dem Zweiten Weltkrieg für viele Heimkehrer ein Wiederanknüpfungspunkt. Grete Wiesenthal zählte zum engsten Freundeskreis Hugo von Hofmannsthals, der zwei Tanzlibretti für sie verfasste. Unter den Salongästen sind unter anderen zu nennen: die SchriftstellerInnen Felix Braun, Franz Theodor Csokor, Oskar Maurus Fontana, ­Albert Paris Gütersloh, Rudolf Kassner, Zeno von Liebl, Lina Loos, Max Mell, Rudolf Alexander Schröder, Carl Zuckmayer, der Dramaturg Benvenuto Hauptmann (Sohn des Dichters), der stell­ vertretende Direktor des Josefstadttheaters Alfred Ibach und der Verleger Leopold W. Rochowanski. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten alte Bekannte in Grete Wiesenthals Salon am Modenapark zurück, der bis in die 1960er Jahre bestand: Dazu zählten Felix Braun, Franz Theodor Csokor, der Philosoph Alois Dempf, Rudolf Kassner, der Soziologe und katholische Sozialreformer August Maria Knoll, Ernst Lothar,

36 Max Mell, Alfred Polgar, Carl Zuckmayer und Alice Herdan- Zuckmayer, deren Tochter Winnetou und Schwiegersohn Michael Guttenbrunner. Neu hinzu kamen etwa Imma von Bodmershof, Heimito von Doderer, der Philosoph Leo Gabriel, die Schauspie­ lerin Käthe Gold, der Historiker und Autor Friedrich Heer, der spätere Kunstförderer Monsignore Otto Mauer, die Sängerin Anne Michalsky, der Journalist Otto Schulmeister und die Staatsopern­ direktoren , und .

Robert Musil war in der Zwischenkriegszeit regelmäßig in der Wohnung des Kunsthistorikers Bruno Fürst und dessen Frau Erna zu Gast. Die Mitinhaberin des Verlages Thieme-Becker war für die penible Auswahl der Gäste bekannt, zu denen u. a. Franz Blei, Alfred Polgar, Leonhard Frank, der Kunsthistoriker Ernst von Garger und der Architekt Max Fellerer zählten. Im Haus der Bankiersfamilie Alfred und Stella Ehrenfeld wurde im Dezember 1933 gemeinsam mit Bruno und Erna Fürst und dem Ehepaar Musil die Robert-Musil-Gesellschaft gegründet.

Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im Jahre 1938 lösten sich die meisten Runden auf; viele Salongäste emigrierten, andere wurden verfolgt oder ermordet. Nur an wenigen Orten wie etwa im Salon von Grete Wiesenthal und im Café Demel standen die Türen nach wie vor offen. Viele der in Wien Verbliebenen zogen sich zurück und vereinsamten aufgrund der zerbrochenen sozialen Strukturen, der sich auflösenden Briefkontakte und der sich ver­ wischenden Spuren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren von den meisten der ehemaligen Salons nur noch arisierte, geplünderte, zerstörte Wohnungen übrig geblieben.

Der Salon der Malerin Hilde Polsterer in der Hessgasse/Ecke Schottenring wurde nach ihrer Rückkehr aus dem Pariser Exil als Anlaufstelle für viele KünstlerInnen und Intellektuelle ins Leben gerufen. Hier trafen sich die literarischen MitarbeiterInnen der Zeitschrift Der Turm und der unter der Leitung des Gene­ ralsekretärs Egon Seefehlner neu gegründeten Österreichischen Kultur­vereinigung. Hier verkehrten u. a. Ilse Aichinger, Ingeborg

37 ­Bachmann, Zeno von Liebl, Elisabeth Löcker, Jörg Mauthe, der Maler Kurt Moldovan, die Fotografin Inge Morath (ursprünglich ­Mörath), George Saiko, Joseph Fürst Schwarzenberg, Hans ­Weigel und Otto Mauer, der selbst der Knotenpunkt eines be­ deutenden kulturellen Netzwerkes der Wiener Nachkriegszeit war.

Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre fanden in den kleinen Wohnungen der jungen Schriftstellergeneration – zwar unter weniger luxuriösen Umständen, doch mit nicht geringerer literarischer Ambition – regelmäßige Treffen statt, die wiederum um Frauen gruppiert waren: Um das Jahr 1950 etwa gab es Zu­ sammenkünfte bei Vera Ferra(-Mikura), wo sich René Altmann, Christine Busta, Hilde Diem, Jeannie Ebner, Johann Gunert, Elfriede M. Hauer und Hertha Kräftner einfanden; bei Jeannie Ebner in der Praterstraße kamen auch Gerhard Rühm und Wie­ land Schmied hinzu; auch bei einem katholischen Pfarrer hielt man öfters Einkehr.12

Die Tradition des Wiener Salons erfährt auch heutzutage noch sporadisch Fortsetzung; so finden etwa seit November 1988 im Atelier des Architekten Friedrich Schmidmair unter dem Titel Salon regelmäßig Veranstaltungen statt, deren Schwerpunkt sich in kürzester Zeit als literarischer herauskristallisierte. Damit wollte man einen Ort schaffen, an dem sich eine Gruppe Interes­ sierter ungestört treffen und ein Netzwerk zwischen Schriftstel­ lerInnen, KünstlerInnen und RezipientInnen entstehen konnte. Organisiert wurden die Veranstaltungen von Christian Loidl, Friedrich Schmidmair, Rainer Vesely und Bernhard Widder. Die beiden zuletzt Genannten fungieren außerdem als Herausgeber der Zeitschrift Bestände. Bis zum Jahre 2000 gab es Lesungen u. a. von: Friedrich Ach­ leitner, David Acht, Marc Adrian, Franz Binder, Gerald Bisinger, Georg Bydlinski, Manfred Chobot, Nora und Richard Dauen­ hauer, Ernst David, Günther Faschinger, Andreas Findig, Petra Ganglbauer, Marianne Gruber, Irene Halpern, Klaus Hollinetz, Norbert Holub, Christine Huber, Heinz Janisch, Günther Kaip,

38 Christian Katt, Kurt Klinger, Ko Eun, Gerhard Kofler, Christian Loidl, Doris Mühringer, Ludek Navara, Elisabeth Netzkowa, Thomas Northoff, Dine Petrik, Walter Pilar, Hans Raimund, Dieter Scherr, Friedrich Schmidmair, Karin Schöffauer, Rolf Schwendter, Petra Schwertschlag, Klaus Sinowatz, Peter Sragher, Peter Turrini, Rainer Vesely, Anna Waldman, Helmut Weish­ mann, Bernhard Widder und Bruno Wienhals.

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