DAS MAGAZIN DES LANDTAGS VON SACHSEN-ANHALT 04|2019

30 JAHRE MAUERFALL Der ZwischenRuf im Zeichen der Friedlichen Revolution

ANGEHÖRT: Gabriele Brakebusch zum Herbst 1989 ANGELESEN: Die DDR und ihr Nachhall ANGESPROCHEN: Junge Menschen aus Ost und West Abschied vom früheren Landtagspräsidenten

Prof. Dr. Adolf Spotka 1943–2019

Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat sich in Anwesenheit seiner Hinterbliebenen und früheren Wegge- fährten während eines Trauerakts am 22. Oktober 2019 von seinem früheren Präsidenten Prof. Dr. Adolf Spotka verabschiedet; es sprachen Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch und Ministerpräsident a. D. Prof. Dr. Wolfgang Böhmer. Spotka hatte dem Landtag von der 1. bis zur 4. Legislaturperiode ange- hört, in Letzterer hatte er als Landtagspräsident gewirkt.

„Wir im Landtag und seine Weggefährten empfinden tiefe Anteilnahme“, bekundete Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch, ihr Amtsvorgänger habe sich ein Denkmal in den Herzen der Menschen geschaf- fen. „Mit seiner soliden Arbeit hat er das Wirken des Landtags maßgeblich mitgeprägt, er hat einen großen Anteil daran, dass unser Land politisch wieder befähigt worden ist“, betonte die Präsidentin.

Als studierter Wirtschaftswissenschaftler sei Adolf Spotka mit großem Sachverstand darangegangen, die Probleme zu lösen, die sich mit der Wiedervereinigung im wiedergegründeten Land Sachsen-Anhalt ergeben hätten, erklärte Wolfgang Böhmer. Er erinnerte an die intellektuellen und geistreichen und anhörenswerten Reden Spotkas im Landtag, er habe stets präzise, aber niemals verletzend formuliert. Spotka sei ein überzeugter Föderalist und Europäer gewesen und habe immer Wert auf einen kulturvollen Umgang gelegt. „Das Leben von Adolf Spotka hat sich vollendet“, er hinterlasse viele Erinnerungen als Ehemann, Vater und Großvater – an seine Herzlichkeit und Güte. INHALT

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GRÜNES BAND VOM GROSSEN GLÜCK LIEBLINGSORTE DER WIRD NATURMONUMENT DES MAUERFALLS LANDTAGSABGEORDNETEN Die ehemalige innerdeutsche Landtagspräsidentin Gabriele Fragt man die Abgeordneten des Grenze wird per Gesetz als Brakebusch im Interview zu den Landtags nach ihren Lieblingsor- Nationales Naturmonument Ereignissen im Herbst 1989 und ten, dann fällt die Entscheidung bei ausgewiesen. in der Nachwendezeit. jedem sehr unterschiedlich aus.

AUS DEM PLENUM 18 | Grenzenloser Tagebau: 6 | Ein Anschlag auf uns alle Kleiner Ort mit großem Geheimnis „Freiheit. Sicherheit. Verantwortung. Solidarität mit der Auf 342 Kilometern Länge verlief auf dem Gebiet des Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt.“ – so lautete heutigen Sachsen-Anhalt bis 1990 die strengbewachte der Titel einer Regierungserklärung von Ministerpräsident innerdeutsche Grenze. Dr. Reiner Haseloff während des Oktoberplenums. ZEITZEUGENINTERVIEW 8 | Invasion ist Bruch des Völkerrechts 20 | Das Geheimnis der Magdeburger Die militärische Invasion des NATO-Partners Türkei in Nord- Montagsdemos im Herbst 1989 syrien stelle einen Bruch des Völkerrechts dar und müsse Domprediger Giselher Quast würdigt den Mut und die zu breitem Protest der demokratischen Kräfte der EU und Besonnenheit der Demonstranten im Angesicht tödlicher Deutschlands führen. Staatsgewalt.

10 | Krankenhäuser erhalten! Aber wie? REGIONALFENSTER Wie können die Krankenhäuser im Land zukünftig so finanziert 22 | : werden, dass flächendeckend eine gute medizinische Versor- Junge Stadt mit über 1 000-jähriger Geschichte gung sichergestellt wird und die Häuser trotzdem „schwarze Natur pur mit ausgedehnten Bergwiesen, Fichten-, Laub- Zahlen“ schreiben? und Mischwäldern, idyllisch gelegenen Seen, ursprünglichen Bächen und imposanten Talsperren sowie dem „Berg der 12 | Mehr Schulabschlüsse ermöglichen Deutschen“, der höchsten Erhebung des Harzes. Die Landesregierung legte in der Oktober-Sitzungsperiode des Landtags ein „Konzept zur zukünftigen Gestaltung von JUGENDFORUM Förderschulen“ vor. 32 | „Ost und West“ aus Schülersicht Das Jugendforum 2019 hat Schülerinnen und Schüler aus EINBLICK Sachsen-Anhalt und Niedersachsen anlässlich „30 Jahre 13 | Änderungen durch neue Gesetze Mauerfall“ in Hannover an einen Tisch gebracht. Der Vorsitzende des Psychiatrieausschusses des Landes Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner hat den 26. Bericht des 34 | Geschichtsstunde mal anders Ausschusses an Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch Jugendliche aus Weferlingen und Helmstedt beteiligten sich übergeben und wesentliche Inhalte vorgestellt. in den letzten Monaten an einem Geschichtsprojekt rund um den Mauerfall vor 30 Jahren.

3 IMPRESSUM

Herausgeber Die Präsidentin des Landtags von Sachsen-Anhalt

Auflage und Erscheinen 10 000 Exemplare, vierteljährlich Fragesteller werden

Redaktion/Bestelladresse im Livestream eingeblendet Landtag von Sachsen-Anhalt Referat Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, as Videoarchiv auf der Besucherdienst und Protokoll Website des Landtags Domplatz 6 – 9, 39104 Magdeburg D beinhaltet rückwirkend bis zum Fon: 0391 560-0, Fax: 0391 560-1123 www.landtag.sachsen-anhalt.de Beginn der Wahlperiode im Jahr [email protected] 2016 alle Aufzeichnungen der Landtagssitzungen (www.landtag. Redaktion sachsen-anhalt.de). Die jeweili- Ursula Lüdkemeier (Ltg.), Stefanie Böhme, Beate Grau, gen Beratungsgegenstände und Ulrich Grimm, Dr. Stefan Müller, Gudrun Oelze, die Redebeiträge wurden separat Michael Rahmfeld, Wolfgang Schulz Gibt es Nachfragen aus dem Plenum, abgelegt, sodass individuell nach werden die Frage­stellenden nun per Themen und Rednern recherchiert Fotos & Grafiken Titelseite: Bundesstiftung Aufarbeitung, PiP-Funktion eingeblendet. werden kann. Ein neues Feature Uwe Gerig, Bild 4591 sowohl im Livestream als auch Seite 2: Dr. Eva Mahn im Video-on-Demand-Angebot betrifft die Einblendung weiterer Redner mittels Seite 3: Manuel Pape, Dr. Stefan Müller, der von vielen Fernsehgeräten bekannten PiP-Funktion (Picture in Picture). In der Gabriele Brakebusch Vergangenheit wurde ausschließlich das Bild vom Rednerpult übertragen. Andere Seite 4: Landtag von Sachsen Anhalt Abgeordnete, die sich während eines Redebeitrags meldeten und anschließend (Screenshot), Ideengut Halberstadt eine Zwischenintervention abgaben oder eine Frage stellten, waren nicht im Bild Seite 6-7: Stefanie Böhme Seite 8: UNHCR/Ritzau Scanpix zu sehen und dementsprechend schwer zu identifizieren. Die neue Funktion wird Seite 9: Manuel Pape automatisch ausgeführt und sorgt für mehr Transparenz. Ulrich Grimm Seite 10-11: Christoph Droste/pixelio.de Seite 11: Horst Schneider/pixelio.de Seite 12: fotolia.com Seite 13: Dr. Stefan Müller Seite 14-15: Dr. Stefan Müller Seite 17: Dr. Stefan Müller Seite 19: wikipedia.de, LMBV/Andreas Kadler Landtag füllt Klassenkasse! oder: (Grafik) Seite 21: Wolfgang Schulz, Schülerkalender kommt gut an! Evgl. Domgemeinde Magdeburg Seite 22-25: Gudrun Oelze n Sachsen-Anhalt gibt es jede Menge Schüler/ Seite 26-29: Privat, Johannes Kunze (Erben), I-innen, die zurzeit täglich gespannt zum Brief- Volksstimme (Kurze), Coolcopter.de/ kasten laufen. Warum? Sie erwarten Post vom Patrick Lange (Buchheim), KSDW/ Landtag von Sachsen-Anhalt, weil sie bei unserer Heinz Fräßdorf (Haseloff) Seite 30-31: Verlage Links, Aufbau, Ullstein und Beck Aktion „Werdet Heldin oder Held eurer Klasse“ Seite 32-33: Dr. Stefan Müller mitgemacht haben. Im Sommer hatten wir dazu Seite 34: Stefanie Böhme aufgerufen, unseren aktuellen Schülerkalender zu Seite 35: Matthias Pavel bewerten, Einsendeschluss war der 31. Oktober Seite 36: fotolia.com 2019. Und was sollen wir sagen? Die meisten Meinungen zum Kalender waren sehr positiv. Satz & Gestaltung „Vielen Dank!“ an alle, die sich beteiligt haben. genese Werbeagentur GmbH Unter allen Einsendungen haben wir drei glückli- www.genese-md.de che Gewinner ausgelost.

Druck Harzdruckerei GmbH Jeweils 200 Euro für die Klassenkasse gehen an: www.harzdruckerei.de Klasse 6b der Sekundarschule „Drei Türme“ in Hohenmölsen (Schuljahr 2019/20) Klasse 10R2 der Sekundarschule „Johann Wolfgang von Goethe“ in Merseburg Redaktionsschluss Klasse 8b der „Brüder-Grimm-Sekundarschule“ in Calvörde 13. November 2019. Dieses Magazin dient der Öffent- Herzlichen Glückwunsch! Stefanie Böhme lichkeitsarbeit des Landtags von Sachsen-Anhalt. Es wird kostenfrei verteilt. Es darf weder von Wahlbewer- bern noch von Wahlhelfern während eines Wahlkamp- fes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. 4 Liebe Leserinnen und Leser, wir lieben die Freiheit – zu reisen, wohin lächerliche Ostalgie abtun. Doch sich wir wollen, zu sagen, was uns auf den seiner Herkunft zu besinnen, heißt ja nicht Nägeln brennt, zu sein, wer immer wir sein zwangsläufig auch, dorthin zurückkehren wollen. Nichts anderes als ein Segen war zu wollen. Jeder sollte sich fragen, wie dieser Fall der Mauer im Herbst 1989, und es ihm ginge, wenn jahrzehntelange mit großen Schritten gehen wir dem 30. Lebensbegleiter aus dem Alltag plötzlich Jubiläum der ersehnten Wiedervereinigung und für immer verschwunden sind. Oft entgegen. Selbst wer damals noch ein spielt die DDR in der kollektiven Erinnerung Kind war und den DDR-Alltag eben mit so gut wie keine Rolle. Hier zeigt sich, Kinderaugen wahrgenommen hat – dass offenere und andere Formen der behütet, heimisch, friedlich –, der weiß Erinnerung gefunden werden müssen. heute, dass dieser politische und Und wer meint, heute nicht mehr alles gesellschaftliche Umbruch mit zu vielem sagen zu dürfen, der sollte die in Guten einhergegangen ist, als dass er von Deutschland oder andernorts in Europa den schlechtgelaufenen Dingen gänzlich und der Welt befindlichen Gedenkstätten überschattet werden sollte. über die Zeit des Nationalsozialismus Natürlich glänzt nicht mehr alles wie Gold, und der SED-Diktatur aufsuchen und mancher Glanz nutzt sich eben auch ab sich vor Ort über Unrecht und Unfreiheit und bleibt nur noch als matte Patina informieren, der sollte sich vor Ort wieder an den Dingen zurück. Die vielen vollen ins ausgeglichene Maß zurücksetzen Geschäfte vom ersten „Westbesuch“ (lassen). gibt es noch heute, das Internet hat noch Der Traum von der deutschen Einheit ist einmal in Sachen Freiheit eine Schippe ein alter Traum, viele vergessen, dass draufgelegt. Wir leben heute in einem der er nach dem Zweiten Weltkrieg auch reichsten Länder der Erde und kamen doch im Osten der Republik weitergeträumt wirtschaftlich gesehen aus dem „So-gut- worden ist. Nicht umsonst hieß es in der wie-Nichts“. Wer seinerzeit aber schon DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen den „goldenen Westen“, wo „das Geld und der Zukunft zugewandt. Lass uns auf der Straße liegt", erwartet hatte, der dir zum Guten dienen, Deutschland einig musste zwangsläufig enttäuscht werden. Vaterland“. Das war in der Entstehungszeit Denn den sagenumwobenen Ort „El nicht weit vom „Einigkeit und Recht und Dorado“, die Stadt aus Gold, ist eben – nur Freiheit“ der westdeutschen Hymne eine Legende. Und so liegt das Geld bis entfernt, und statt sie zu verleugnen, heute nicht auf der Straße, und was der sollte man sie als Fingerzeig in die Zukunft Kommunismus niemals realisieren konnte werten, die – ja, es waren 40 lange Jahre – – nämlich, dass alle gleich sind –, das war doch einige Zeit auf sich warten ließ. auch im Kapitalismus nie vorgesehen. Nur Diesen Traum wollten die Oberen aus den sollten die Unterschiede zwischen Arm und Köpfen und Herzen der Menschen bannen. Reich nicht so groß sein, oder vielmehr: Das ist ihnen nicht geglückt, der Herbst sollte arm dann nur im Vergleich bedeuten, 1989 ist dafür ein unwiderlegbarer Be- zwar weniger, aber dabei doch auch alles weis. In dieser Ausgabe und im Internet zu haben. spüren wir der Zeit von vor 30 Jahren in Vieles ist im und aus dem Osten Wort, Ton, Bild und Film nach. verschwunden – und damit ein großes Stück der Identität. Der eine oder andere mag das nicht begreifen und als Ihr ZwischenRuf – Team

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt AUS DEM PLENUM

Ein Anschlag auf uns alle

„Freiheit. Sicherheit. Verantwortung. Solidarität mit der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt.“ – so lautete der Titel einer Regierungserklärung von Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff während des Oktoberplenums.

ie Regierungserklärung hielt Haseloff insbesondere vor dem D Hintergrund des terroristischen Überfall- und Tötungsgeschehens in Hal- le (Saale) und Landsberg. Im Anschluss hatten die Fraktionen die Möglichkeit, zu der Rede Stellung zu beziehen und eige- ne Aspekte in die Debatte einzubringen. Parallel dazu wurden zwei Anträge behan- delt. Die Fraktion DIE LINKE forderte die Einsetzung einer Enquete-Kommission noch in diesem Jahr. Diese soll sich mit Rassismus, Antisemitismus und grup- penbezogener Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft auseinandersetzen und deren Bedeutung für aktuelle Entwick- lungstendenzen rechten Terrors unter- suchen. Die Koalitionsfraktionen stellten Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff mit ihrem Antrag klar, dass Gewalt und aus. Die Grenzen des Sagbaren seien während seiner Regierungserklärung Terror eine Bedrohung für unser Zusam- längst verzogen. Es gelte, diesen ab­s­ im Landtag von Sachsen-Anhalt. menleben in einer offenen Gesellschaft trusen Gedankengängen entschieden zu darstelle. widersprechen. „Der Rechtsstaat muss die jüdische Gemeinde von Magdeburg „Nach Halle können wir nicht zur Tages- sich mit allen ihm zur Verfügung stehen- für eine neue Synagoge statt. „Wer Syn- ordnung übergehen, unsere Gedanken den Mitteln wehren“, stellte der Minister- agogen baut, will bleiben – das ist unser gelten den Opfern und ihren Angehöri- präsident klar. Zeichen, das wir vor dem Hintergrund des gen“, erklärte Ministerpräsident Dr. Rei- Die Schlüssel zu demokratischem Han- 9. Oktobers in die Welt hinaussenden ner Haseloff (CDU). Der versuchte Mas- deln seien eine intakte Zivilgesellschaft wollen“, schloss Haseloff. senmord an jüdischen Mitbürgerinnen und ein hohes Maß an politischer Bildung „Das, was am 9. Oktober in Halle pas- und Mitbürgern am höchsten jüdischen und Aufklärung. Nur so könnten diffuse sierte, ist von Grund auf verachtenswert“, Feiertag Jom Kippur sei „ein Angriff auf Zukunftsängste aufgelöst und nicht län- erklärte Oliver Kirchner (AfD). Alle Bürger uns alle“ gewesen. Ziel und Motiv des ger einfache Antworten auf komplexe unseres Landes hätten das Recht, sich Täters seien gewesen, möglichst viele Fragen gesucht werden. „Ich bin zutiefst im Land sicher zu fühlen. Kirchner fragte, Menschen in der Synagoge zu töten. vom Wert der Bildung überzeugt“, sagte wo der starke Staat, den der Innenminis- „Ich schäme mich dafür, dass jüdische der Ministerpräsident. „Wir bestimmen, ter in der Vergangenheit versprochen hat- Mitbürger wieder um ihr Leben fürchten in welcher Gesellschaft wir leben wollen“, te, an diesem Tag gewesen sei. Der mut- müssen, Sachsen-Anhalt hat ein antise- sagte Haseloff, „alle Menschen, die in maßliche Täter Stephan B. hätte nichts mitisches und rechtsradikales Problem“, Deutschland leben, müssen sich dieser mit der AfD zu tun, da er sich über Recht bekannte Haseloff. Verantwortung gegenüber der Vergangen- und Gesetz hinweggesetzt habe und zu- Dass die Probleme keine Randerschei- heit und der Zukunft stellen.“ Demokratie dem den Holocaust leugne. Beides werde nung seien, zeige sich in Wort und Bild und Antisemitismus schlössen einander man bei seiner Partei nicht finden, so der und Tat. Die sozialen Medien wirkten als aus und jeder Antisemitismus sei eine AfD-Fraktionsvorsitzende. Laut Kirchner Echoräume für die Verbreitung von kru- der Folgen eines überstarken Nationa- müsste man stattdessen anerkennen, den Ideen; Unwahrheiten, Verfälschungen lismus. Am 5. November 2019 fand in dass die Mehrzahl der Übergriffe auf jü- von Zitaten und Berichten breiteten sich Magdeburg die Grundstücksübergabe an dische Mitmenschen in Deutschland aus

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dem muslimischen Kulturkreis komme. Tat von Halle nicht aus, für einen stär- wort genutzt und das Internet sei voll Kirchner plädierte für ein gemeinsames keren Schutz für jüdische Einrichtungen von antisemitischen Ressentiments. Die Maßnahmenpaket aller Fraktionen und einzustehen. Für ihre Fraktion seien unter Grünen-Abgeordnete forderte alle Demo- wunderte sich, dass Linke und Koaliti- anderem verstärkte Maßnahmen zur Auf- kratinnen und Demokraten auf, zusam- on jeweils eigene Anträge eingebracht klärung über Antisemitismus und bei der menzustehen, damit die Forderung „Nie hätten. Des Weiteren kritisierte er die Prävention von Radikalisierung im Netz wieder Faschismus!“ glaubhaft bleibe. Sicherheitsmaßnahmen des Innenminis- besonders wichtig. Ihre Fraktion setze sich vor allem dafür ters vor dem Anschlag, Stahlknecht hätte „Man steht fassungslos vor der Tat und ein, über die Bildungseinrichtungen des versagt, deshalb sollte er zurücktreten. dem Täter, der Menschen wie in einem Landes „die geistigen Abwehrkräfte der Dr. Katja Pähle (SPD) betonte, es werde Computerspiel erbarmungslos abknallt“, Gesellschaft zu stärken“. der AfD nicht gelingen, „sich von ihrer sagte Thomas Lippmann (DIE LINKE). Er Der Täter habe mittlerweile seine Verbre- Verantwortung freizuzeichnen“. Denn in sei betroffen vom Krisenmanagement der chen gestanden und antisemitische und der Motivation des Täters ließen sich Landesregierung und schäme sich dafür. rechtsextreme Motive eingeräumt, stellte zweifellos die von der AfD-Fraktion seit Die AfD und ihre Gesinnungskumpane sei- Siegfried Borgwardt (CDU) fest. „Die Tat deren Einzug ins Parlament skizzierten en zweifellose die geistigen Brandstifter ist ein Spiegelbild der Gesamtentwicklung Feindbilder erkennen. Als Beweis zitier- für solche Taten wie in Halle, ist Lippmann in unserem Land, auch mit internationaler te Pähle den AfD-Abgeordneten Dr. Till- überzeugt. Seiner Meinung nach könne Vernetzung“, radikale und antisemitische schneider der in einer AfD-Veranstaltung man der rechten Propaganda den Nährbo- Hetze im Internet hätten sich längst auf in Bayern im Januar 2018 gesagt habe: den nur entziehen, wenn man es schaffe, das reale Leben ausgewirkt. Jeder sollte „Der Islam wird von vielen, sowohl vom das Vertrauen der Menschen in die Gestal- dafür kämpfen, dass alle Menschen in Zentralrat der Juden als auch von den tungskraft der Politik zurückzugewinnen. Sachsen-Anhalt friedlich und frei zusam- etablierten Parteien […] benutzt, um […] Dabei gehe es vor allem um die Sicherung menleben können, Borgwardt wandte sich die deutsche Kultur zu schwächen, […] der Lebensgrundlagen für die Menschen. aber gegen die von den Linken initiierte was nichts anderes ist als die Zersplit- Cornelia Lüddemann (BÜNDNIS 90/DIE Enquete-Kommission. Er unterstrich, die terung und letzten Endes die Abschaf- GRÜNEN) konstatierte, dass diese Tat CDU stehe an der Seite derjenigen, die sich fung unseres Volkes.“ Dies sei nicht nur leider absehbar gewesen sei, zumindest für die Demokratie einsetzten und gegen irgendwie antisemitisch, dies sei das für alle, die mit offenen Augen durch das Rassismus einträten. Insbesondere im Be- antisemitische Narrativ schlechthin, Land gingen. Denn Begriffe wie „Juden- reich der inneren Sicherheit seien Maßnah- betonte Pähle. Nach Ansicht der SPD- sau“ würden auf vielen Schulhöfen und men nötig, beispielsweise mehr Personal Fraktionsvorsitzenden reiche es nach der in Fußballstadien wieder als Schimpf- bei der Polizei, zudem dürfe das Internet kein rechtsfreier Raum sein. André Poggenburg (fraktionslos) erklärte, der feige Anschlag in Halle sei in Sachsen- Anhalt und darüber hinaus mit sehr viel Entrüstung und Empörung aufgenommen worden. „Dass aber diese antisemitische Bluttat in Halle nun einer einzelnen Partei in die Schuhe geschoben werden soll […], ist nichts weiter als scham- und pietätloses Wahlkampfgeplänkel“. Am Ende der Debatte zur Regierungserklä- rung wurde der Antrag der Koalitionsfrakti- onen von CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beschlossen. Der Antrag der Frak- tion DIE LINKE wurde in den Ausschuss für Inneres und Sport (federführend) und in die Ausschüsse für Bildung und Kultur sowie für Arbeit und Soziales (mitberatend) Blick ins Plenum während der Regierungserklärung überwiesen. von Ministerpräsident Reiner Haseloff. Dr. Stefan Müller/Stefanie Böhme

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 7 AUS DEM PLENUM

Invasion ist Bruch des Völkerrechts

Die militärische Invasion des NATO-Partners Türkei in Nordsyrien stelle laut Fraktion DIE LINKE einen Bruch des Völkerrechts dar und müsse zu breitem Protest der demokratischen Kräfte der EU und Deutschlands führen. Sie brachte einen entsprechenden Antrag ein.

rdogans˘ strategische Ziele seien keine legitimen Sicherheitsinteres- E sen, denn es sei noch kein Fun- ken einer Gefahr für die Türkei seitens der kurdischen Selbstverwaltungszone in Syrien ausgegangen, so Wulf Gallert (DIE LINKE). Der türkische Präsident strebe offenbar die Wiederauferstehung des Osmanischen Reiches an und wolle die erstarkende Opposition gegen sein auto- kratisches System spalten. Erdogan˘ be- nutze seine islamistischen Verbündeten gegen die Kurden und reaktiviere den IS gegen Assad. Ziel sei es, Kurden, Jesiden und Christen dort zu vertreiben, wohin er die in der Türkei lebenden Syrien-Flücht- linge zwangsumsiedeln wolle. Gallert kri- tisierte, dass es seitens der NATO keine Sanktionen, keine militärische Isolierung der Türkei gebe. Die Appeasement-Politik sei ein großer Fehler. Tausende Kurden sind im Nordosten Syriens auf der Flucht. Kein Land habe das Recht, die Souverä- nität eines anderen Staates hinsichtlich (AfD). Die Türkei spreche von einer Frie- auseinandersetzen und entsprechende eigener Interessen zu missachten, kons- densmission, aber mit dem Völkerrecht Entscheidungen treffen. tatierte Innenminister Holger Stahlknecht passe das in keiner Weise zusammen. Markus Kurze (CDU) zeigte sich beruhigt (CDU). Europa müsse sich als geeinte Erdo˘gan wolle eine Besatzungszone über die zwischen Erdogan˘ und Putin be- Kraft der Türkei entgegenstellen. in einem strategisch sehr wichtigen schlossene Waffenruhe in Syrien, denn „Was sich derzeit in Syrien vor den Gebiet in Syrien einrichten. Die Türkei Krieg sei keine Lösung. Die türkische Augen der Welt abspielt, ist eine hu- wolle damit verhindern, dass sich die Invasion habe unendlich viel Leid in die manitäre Katastrophe“, sagte Holger dortige kurdische Selbstverwaltungs­ Region gebracht; auch die CDU-Fraktion Hövelmann (SPD). Mit dem Einmarsch zone festige. verurteile diesen völkerrechtswidrigen in Syrien habe Erdogan˘ die NATO und Wir seien weit weg und würden dennoch Einmarsch der Türkei in Syrien. Deutsch- die ganze Weltgemeinschaft bloßge- Zeugen der schrecklichen Militärinvasion land bekenne sich zur NATO, ob Deutsch- stellt und sie zur Geisel seiner natio- in Syrien, „wir verurteilen diese Vorgän- land sich aber an einer Friedensmission nalistischen Pläne gemacht. Hövel- ge“, sagte Dorothea Frederking (BÜND- in Syrien beteiligen werde, bezweifle er, mann sprach sich dafür aus, Erdogan˘ NIS 90/DIE GRÜNEN). Erdogans˘ „Grün- so Kurze. Er sprach sich für Sanktionen vor dem Internationalen Gerichtshof in de“ für die Invasion seien zynisch und gegen die Türkei wegen deren völker- Den Haag anzuklagen. Zudem forderte menschenverachtend. Es gehe Erdogan˘ rechtswidrigen Handelns aus. er die Durchsetzung eines europäischen allein um die Erlangung der politischen Im Anschluss an die Debatte wurde der Waffenembargos gegen die Türkei sowie Hoheit in einem Land, das nicht die Tür- Antrag der Fraktion DIE LINKE mit Aus- nationale und europäische Wirtschafts- kei sei, ethnische Säuberungen seien nahme von zwei Stimmen in den Aus- sanktionen gegen das Land. zu befürchten. Der Deutsche Bundes- schuss für Bundes- und Europaangele- „Wir sehen die Situation in Syrien mit tag müsse sich dringend mit der Ver- genheiten sowie Medien überwiesen. ähnlicher Sorge“, betonte Tobias Rausch antwortung von Deutschland und der EU Dr. Stefan Müller

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Grünes Band wird Naturmonument

Die ehemalige innerdeutsche Grenze wird als Nationales Naturmonument ausgewiesen. Das hat der Landtag im Oktober-Plenum beschlossen. Ziel: Die Erinnerung wachhalten und die einzigartige Natur schützen.

ationales Naturmonument ist in Deutschland seit 2010 eine N Kategorie für Schutzgebiete in Natur und Landschaft von nationaler Be- deutung. Dazu gehört das sogenannte Grüne Band, die 1 400 Kilometer lange ehemalige innerdeutsche Grenze. Kurz vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls hat Sachsen-Anhalt nun seine 343 Kilo- meter per Gesetz als Nationales Natur- monument ausgewiesen. Jürgen Barth (SPD) resümierte die teils herausfordernde Entstehung des Geset- Grenzabschnitt zes, bei der es hohe Anforderungen ins- entlang der ehe­- besondere an die Transparenz gegenüber maligen inner- der Bevölkerung gab. Für eine öffentliche deutschen Grenze Anhörung seien beispielsweise über 150 bei Dahrendorf, west- betroffene Vereine und Verbände einge- lich von Salzwedel laden worden, eine Stellungnahme zum und zukünftig Teil Gesetz abzugeben. Umweltministerin des vom Landtag Prof. Dr. Claudia Dalbert (BÜNDNIS 90/ beschlossenen DIE GRÜNEN) ergänzte, dass es teils Nationalen Natur­ kontroverse Debatten um das Grüne- monuments. Band-Gesetz gegeben hätte. Die meis- ten Sachsen-Anhalter/innen würden der Idee jedoch positiv gegenüberstehen. tisierte zudem, dass ein Haushaltsvorbe- Nach 30 Jahren habe sich die ehemalige Verständliche Ängste hätte es bei Eigen- halt in den Gesetzentwurf eingefügt wurde, Grenze zu einer einzigartigen „ökologi- tümern und Nutzern entlang des Grünen dies verstoße gegen Artikel 23 Abs. 3 der schen Schatzkammer“ entwickelt, stell- Bandes gegeben, dass sie erneut „ent- Geschäftsordnung des Landtags. te Wolfgang Aldag (GRÜNE) fest. Dabei eignet“ werden könnten. Die Ministerin Die CDU-Fraktion hätte immer zu dem finde die Identitätsstiftung in erster Linie versicherte: „Das wird nicht geschehen!“ Gesetz gestanden, besonders wichtig durch die Menschen vor Ort statt. Diese Mit den Akteuren vor Ort müssten nun sei seiner Fraktion die Erinnerungskultur ehrenamtlichen Akteure warteten auf Un- Projekte entwickelt werden, wie Natur- und die Klärung aller rechtlichen Fragen terstützung, die nun mit der Ausweisung schutz und Erinnerungskultur entlang des des Eigentums und der Bewirtschaftung des Nationalen Naturmonuments möglich Grünen Bandes mit Leben erfüllt werden gewesen, konstatierte Andreas Schu- werde. Silke Schindler (SPD) fasste zu- könnten. mann (CDU). Beides sei letzten Endes sammen: Mit der Ausweisung des Natio- Für Hannes Loth (AfD) ist das Gesetz gelungen. Kerstin Eisenreich (DIE LINKE) nalen Naturmonuments sei es möglich, „ungerecht, ungenau, unzureichend und unterstrich, das Gesetz ermögliche eine die Belange von Naturschutz und Erinne- daher nicht umsetzbar“. Die Kenia-Koaliti- Kombination aus Erinnern und Beschüt- rungskultur zu verbinden. Genau dies sei on wolle Deutschland 30 Jahre nach dem zen und werde so dem einzigartigen Na- den vor Ort lebenden Menschen und der Mauerfall erneut trennen, so Loth. Die im turmonument gerecht. Allerdings könne SPD-Fraktion besonders wichtig gewesen. Gesetz festgelegten Auflagen für die Land- das Gesetz nur ein erster Schritt auf dem Am Ende der Debatte wurde das Gesetz wirte würden teilweise einem Berufsverbot Weg zu einem Grünen Band durch ganz mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gleichkommen. Der AfD-Abgeordnete kri- Europa sein. beschlossen. Stefanie Böhme

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 9 AUS DEM PLENUM

Krankenhäuser erhalten! Aber wie?

Wie können die Krankenhäuser im Land zukünftig so finanziert werden, dass flächendeckend eine gute medizinische Versorgung sichergestellt wird und die Häuser trotzdem „schwarze Zahlen“ schreiben? Die Fraktionen haben dazu unterschiedliche Vorstellungen.

emäß Krankenhausfinanzierungs- Petra Grimm-Benne (SPD), Ministerin für gesetz ist das Land Sachsen- Arbeit, Soziales und Integration, erinnerte G Anhalt für die Investitionsförde- daran, dass erst im Frühjahr ein moder- rung zuständig. Diese Finanzierung sei in nes Krankenhausgesetz verabschiedet den letzten zehn Jahren jedoch nur un- wurde, das als Basis für die zukünftige zureichend erfolgt, konstatierte die AfD- Krankenhausplanung gelte. Grundsätz- Fraktion. Um über die Aufrechterhaltung lich trete die Ministerin natürlich für die der flächendeckenden Krankenhausver- Grundversorgung in den Krankenhäusern sorgung zu diskutieren, hatte sie daher ein, allerdings müsse man auch die Qua- eine Aktuelle Debatte beantragt. Parallel lität im Blick behalten. Dies gelinge nur, dazu brachte sie einen Antrag ein, mit wenn es eine bestimmte Anzahl an Fällen dem sie sich für eine verantwortungsvolle pro Jahr gebe. Krankenhaus-Investitionsförderung sowie Ministerin Grimm-Benne räumte ein, den Abbau von Investitionsstaus und die dass die 50 Millionen Euro, die bislang Qualitätssicherung in den Einrichtungen im Haushalt geplant sind, nicht ausreich- einsetzen wollte. Die Koalitionsfraktionen ten, um den Investitionsstau in den Kran- (CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kenhäusern aufzulösen. Deshalb sei die NEN) und die Fraktion DIE LINKE legten Landesregierung bereits in Gesprächen jeweils einen Alternativantrag vor. mit der Investitionsbank, um eventuell Seit 1991 sei die Zahl der Krankenhäu- ein langfristiges Investitionsprogramm ser in Sachsen-Anhalt von 72 auf 48 zu- aufzulegen. Die Ministerin sprach sich rückgegangen, stellte Ulrich Siegmund ebenfalls dafür aus, dass die Klinik in (AfD) fest. Während die SPD für das Zeitz in kommunaler Hand bleiben und Gesundheitsministerium zuständig war, die Geburtenklinik erhalten bleiben soll, seien außerdem die finanziellen Mittel insbesondere vor dem Hintergrund der deutlich reduziert worden, von 180 Mil- zu erwartenden Strukturveränderungen lionen Euro (2005) auf nur noch 39 Mil- durch den geplanten Kohleausstieg in tionsprogramm und Neuauflage eines lionen Euro (2015). Jährlich bedürfe es der Region. Sonderinvestitionsprogramms im Bund). allerdings etwa 120 Millionen Euro, um Tobias Krull (CDU) erläuterte die aktuel- Die Schieflage von kommunalen Kran- zumindest den Ist-Zustand zu erhalten, len Herausforderungen für die Kranken- kenhäusern werde nicht selten durch erklärte Siegmund. Für ihn sei völlig un- hauslandschaft: Fehlende Investitionen, die vorhandenen Rahmenbedingungen klar, wie auf diese Weise in den nächs- Fachkräftemangel und bürokratische provoziert, zeigte sich Dagmar Zosch- ten Jahren der Investitionsstau aufgeholt Hemmnisse waren einige Stichworte. ke (DIE LINKE) überzeugt. Der von ihrer werden soll. Zudem räche sich jetzt die Krull unterstrich: „Wir sind für den Erhalt Fraktion eingebrachte Alternativantrag Privatisierung der Krankenhäuser, die aller Krankenhäuser, aber eine Profilie- sah vor, die Krankenhausplanung so wei- AfD spreche sich deshalb in ihrem An- rung der Häuser und eine verbesserte terzuentwickeln, dass für die einzelnen trag für eine „Rekommunalisierung“ aus. Kooperation untereinander sind notwen- Krankenhäuser in der Fläche sowohl die Krankenhaus- und Stationsschließungen dig.“ Zudem bekenne sich die CDU-Frak- Grund- und Notfallversorgung als auch seien unbedingt zu verhindern, denn sie tion zu einer Trägervielfalt. Der Abbau eine vernetzte profilbildende Spezialisie- bewirkten einen Teufelskreis. Aus aktu- des großen Investitionsstaus könne nicht rung für jedes Krankenhaus im ländlichen ellem Anlass forderte die AfD-Fraktion aus eigenen Mitteln gelingen. In diesem Raum sichergestellt wird. Dafür sollten zudem, den vollumfänglichen Erhalt der Sinne seien die Forderungen aus dem vorrangig die Mittel des Krankhausstruk- Frauenklinik mitsamt Geburtenstation Alternativantrag der Koalitionsfraktionen turfonds eingesetzt werden, so Zoschke. sowie der Kinderklinik am Standort Zeitz. zu verstehen (kreditfinanziertes Investi- Zudem müssten ab dem Haushaltsjahr

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arbeitet, sondern die Rahmenbedingen hätten zu der derzeitigen Krise (Insolvenz in Eigenverantwortung) geführt. Ihm sei wichtig, dass das Klinikum in kommuna- ler Hand bleibe, dies sei jedoch nur mög- lich, wenn sich das Land nach dem In- solvenzverfahren über den Strukturfonds finanziell engagiere. Erben unterstützte das von der Ministerin vorgestellte Inves- titionsprogramm, jedoch habe der Bund einen entscheidenden Einfluss auf das Wohl der kommunalen Krankenhäuser. Deshalb werde die Landesregierung im Alternativantrag gebeten, auch auf Bun- desebene für Veränderungen einzutreten. André Poggenburg (fraktionslos) sagte, die von der AfD-Fraktion eingebrachten Punkte seien sehr zu begrüßen, aller- dings greife der Antrag etwas zu kurz, da er die Bundesebene zu wenig be- rücksichtige. Im Antrag der Regierungs- koalition sei hingegen die Bundesebene einbezogen und daher ergänzten sie Über die Zukunft der Krankenhäuser im Land sich konstruktiv. Der Aspekt einer mögli- diskutierten die Abgeordneten im Oktober-Plenum. chen Rückumwandlung derzeitig privater Krankenhäuser in die öffentliche Hand 2020 die landeseigenen Investitionen Spezialisierung und Kooperation der werde dagegen allein beim Antrag der erhöht werden und sollten jeweils zur Krankenhäuser sowie die Einführung Fraktion DIE LINKE aufgegriffen. Gerade Hälfte als pauschale Summe und als an- von Telemedizin. Ebenfalls vorstellbar bei diesem existenziellen Thema der Si- tragsbezogene Einzelfallförderung ausge- seien der Ausbau von Apotheken zu Ge- cherung der Krankenhausstandorte wäre reicht werden. Des Weiteren plädiert die sundheitsserviceeinrichtungen und die es erfreulich, so Poggenburg, wenn der Linken-Abgeordnete für die Einrichtung Einrichtung von Kurzzeitpflegeplätzen Landtag einmal einen „fraktionsüber- eines Sondervermögens. Aus diesem in Krankenhäusern. Für Lüddemann sei greifenden Konsens“ erarbeiten würde. solle die Überführung der privatisierten der ganz kurze Weg zum Spezialisten Vielleicht seien dann nicht die einzelnen Krankenhäuser in die öffentliche Hand dabei nicht entscheidend, wichtiger sei Fraktionen die Gewinner, dafür aber die finanziert werden. eine „qualitätsbezogene Planung“ mit Bürger. Cornelia Lüddemann (BÜNDNIS 90/DIE dem Ziel einer hochwertigen Versorgung. Am Ende der Debatte wurde der Alterna- GRÜNEN) skizzierte einige Lösungsmög- Sie appellierte an alle, offen und ehrlich tivantrag der Fraktionen von CDU, SPD lichkeiten, um die Zahl der im bundes- über mögliche Veränderungen und Neu- und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beschlos- weiten Vergleich überdurchschnittlich erungen zu diskutieren. sen, der Alternativantrag der Fraktion DIE hohen Krankenhauseinweisungen zu Das Klinikum Burgenlandkreis stehe sym- LINKE hatte sich damit erledigt. Der An- verringern. Sie nannte beispielsweise ptomatisch für die Probleme der Kranken- trag und der Änderungsantrag der AfD- die Delegation von Ärzten, den Aufbau häuser, konstatierte Rüdiger Erben (SPD). Fraktion wurden abgelehnt. von Versorgungszentren, eine größere Die Geburtsklinik habe nicht schlecht ge- Stefanie Böhme

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 11 AUS DEM PLENUM

Mehr Schulabschlüsse ermöglichen

Die Landesregierung legte in der Oktober-Sitzungsperiode des Landtags ein „Konzept zur zukünftigen Gestaltung von Förderschulen“ vor, für das der Landtag sein Einvernehmen erklärte.

aut Koalitionsvertrag seien die Die Konzeptvorlage des Bildungsministe- berufsbildenden Schulen sowie die För- Förderschulen ein fester und wich- riums habe er stets nur als vielseitigen derschulen würden künftig besser zusam- L tiger Bestandteil unseres Schul- Aufsatz über das Förderschulwesen ver- menarbeiten, so Aldag, die wohnortnahe systems, die Weiterentwicklung der In- standen, denn sie habe keine konzep- Beschulung werde vereinfacht. klusion werde angestrebt, rekapitulierte tionellen Gedanken enthalten. „Es ist Sie sei stolz und glücklich, das Konzept Bildungsminister Marco Tullner (CDU). keine Stärkung der Förderschulen und „Chancen eröffnen, Möglichkeiten schaf- Das Konzept diene dem Aufzeigen von auch kein Bekenntnis zur Inklusion“, fen“ im Landtag im Einvernehmen mit der wohnortnahen Beschulungsmöglichkei- monierte Lippmann, es sei fragwürdig, Landesregierung zu beschließen, betonte ten, der Einrichtung von Förderschul- ob die Landkreise als Schulträger damit Angela Gorr (CDU). Es garantiere Kindern klassen an allgemeinbildenden Schulen etwas werden anfangen können. mit sonderpädagogischem Förderbedarf sowie der Zusammenlegung von Förder- Das nötig gewordene neue Förderschul- eine Wahlfreiheit für die Beschulung. Ih- schwerpunkten an einem Standort. För- konzept habe eigentlich die schrittweise nen werde es besser ermöglicht, einen derschulen könnten sich nun aktiv in die Umgestaltung des Landesbildungssys- Schulabschluss zu machen. Viele Ju- Umsetzung der UN-Behindertenrechts- tems unter Berücksichtigung der UN- gendliche könnten sich schulisch besser konvention einbringen, dabei könnten Behindertenrechtskonvention zum Ziel entfalten, wenn deren individuellen Fähig- die Schulträger ihr Förderzentrum mo- haben sollen, räumte Wolfgang Aldag keiten optimal begleitet würden, so Gorr. dellhaft weiterentwickeln. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein, dafür Im Anschluss an die Debatte wurde das Nach drei Jahren Beratungszeit habe habe es nicht so ganz gereicht, eine Konzept der Landesregierung bestätigt, die Landesregierung ein rund 25 Seiten Besserung des Status quo werde aber die AfD-Fraktion stimmte dagegen, DIE langes, wenig befriedigendes Konzept erreicht. Die allgemeinbildenden und LINKE enthielt sich. Stefanie Böhme zur Zukunft der Förderschulen vorgelegt, kritisierte Jan Wenzel Schmidt (AfD). Die AfD habe sich ein klares Bekenntnis ge- gen die Inklusion gewünscht, nun werde die Förderschule zur reinen Wahloption für Eltern und Schulen degradiert. „Der inklusive Unterricht ist ein Irrweg“, statt- dessen sei das Förderschulnetz weiter auszubauen, so der AfD-Abgeordnete. Prof. Dr. Angela Kolb-Janssen (SPD) lob- te die gute Zusammenarbeit zwischen den Landtagsausschüssen und dem Bildungsministerium bei der Erstellung des Förderschulkonzepts. Das Konzept zeige Möglichkeiten der Fortentwicklung von Inklusion auf. „Wir müssen es den Schülerinnen und Schülern mit Förder- bedarfen ermöglichen, zumindest einen Hauptschulabschluss zu machen, um später einen Beruf ergreifen zu können“, so Kolb-Janssen. Die Meinungen zum vorgelegten Konzept gehen doch ein Stück weit auseinander, Mehr Schülerinnen und Schüler sollen durch individuelle sagte Thomas Lippmann (DIE LINKE). Förderung für einen Schulabschluss qualifiziert werden.

12 EINBLICK

Änderungen durch neue Gesetze

Der Vorsitzende des Psychiatrieausschusses des Landes Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner hat den 26. Bericht des Ausschusses an Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch übergeben und wesentliche Inhalte vorgestellt.

er Ausschuss für Angelegenhei- ten der psychiatrischen Kran- D kenversorgung des Landes Sachsen-Anhalt ist beauftragt, für die Belange psychisch Kranker und behin- derter Menschen einzutreten und bei der Bevölkerung Verständnis für die besondere Lage der betroffenen Per- sonen zu wecken. Landtagspräsiden- tin Gabriele Brakebusch lobte den im Oktober vorgelegten Bericht als einen, „der wirklich viele Aspekte der psychi- atrischen Hilfe weitgreifend beleuchtet und die Probleme, die es zu beheben gibt, bereits im Blick hat“. Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch (r.) nahm den Psychiatriebericht 2019 Eine der wichtigsten Möglichkeiten der vom Ausschussvorsitzenden Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner in Anwesenheit von Öffentlichkeitsarbeit sind die Besuche Sozialministerin Petra Grimm-Benne entgegen. in den Einrichtungen der psychiatrischen Krankenversorgung und Behindertenbe- treuung. In den Einrichtungen werden Sozialministerium nimmt Stellung zum albereich) zur umfassenden Analyse der Gespräche mit Patienten, Bewohnern, aktuellen Bericht. psychiatrischen Versorgung in Sachsen- Angehörigen und Mitarbeitern geführt. Viele Entwicklungen, die die Belange Anhalt. „In dieser sehr detaillierten Be- Die Besuchskommissionen geben ihre der Betroffenen in erheblichem Maße standsaufnahme finden sich viele Punk- Erfahrungen weiter und beraten vor Ort. berührten, hätten sich im Berichtszeit- te, die für die zukünftigen Planungen auf Die Besuchsprotokolle werden – als ver- raum ereignet, ihre Auswirkungen seien Landes- und auf kommunaler Ebene von trauliches Material – den Teilnehmern größtenteils noch gar nicht richtig ein- zentraler Bedeutung sein werden“, kons- zur Kenntnis gegeben. Dadurch werden schätzbar, bewertete Ausschussvorsit- tatierte der Ausschussvorsitzende. die verantwortlichen Vertreter der Öffent- zender Hans-Henning Flechtner die im Sozialministerin Petra Grimm-Benne lichkeit detailliert informiert und können Bericht zusammengetragenen Resulta- (SPD) erklärte, dass nicht nur die FOGS- entsprechende Maßnahmen zur Lösung te. Zu nennen seien hier unter anderem Studie im Sozialausschuss vorgestellt offener Pro­bleme veranlassen. das Bundesteilhabegesetz und dessen werde, sondern dass das zu novellieren- Zur wirksamsten Öffentlichkeitsarbeit Ausgestaltung und die sich in Arbeit be- de PsychKG des Landes voraussichtlich des Ausschusses gehören die jährlichen findliche Novellierung des PsychKG des am 12. November in der zweiten Befas- Tätigkeitsberichte, die dem Landtag und Landes Sachsen-Anhalt. sung im Kabinett behandelt wird, sodass dem Sozialministerium vorzulegen sind. Ein weiterer Schwerpunkt des 26. Be- es ebenfalls im November im Parlament Der Landtag veröffentlicht die Berichte richts ist die Beschäftigung des Aus- beraten werden könne. Sie drängte auf als Drucksache. Im Sozialausschuss schusses mit dem Thema „Kinder psy- eine stärkere Vernetzung aller Akteure des Landtags wird der Auswertung der chisch und suchtkranker Eltern“. Zwei im psychiatrischen Bereich, auch auf Berichte ein spezieller Tagesordnungs- Gastbeiträge im Bericht widmen sich kommunaler Ebene. Grimm-Benne hob punkt in seinen Sitzungen gewidmet; den neuesten Erkenntnissen. Als Mei- die Umsetzung des Bundesteilhabege- der Psychiatrieausschuss trägt seine lenstein der Berichtsperiode benannte setzes hervor. Die Betreuungsvereine Erkenntnisse und Empfehlungen zur Flechtner die Vorlage des FOGS-Berichts und Betreuungsbehörden seien hier aktuellen Entwicklung der psychiatri- (Bericht der Gesellschaft für Forschung nun mit den nötigen Antragstellungen schen Krankenversorgung vor und das und Beratung im Gesundheits- und Sozi- beschäftigt. Dr. Stefan Müller

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 13 ZEITZEUGENINTERVIEW

ach dem Ende des Zweiten Welt- kriegs wurde nahe der Bördege- Nmeinde Harbke Kohle gefördert. 1952 wurden die Anlagen allerdings geteilt, die Grenze zwischen den un- längst gegründeten beiden deutschen Staaten befestigt. Doch im November 1976 schaufelt der erste Bagger aus Westdeutschland hinter der Grenzlinie, zwei Jahre später der erste DDR-Bagger auf bundesdeutschem Gebiet – dem vo- rausgegangen war ein Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten. Harbke scheint ein Schlupfloch zwischen Ost und West zu sein, eine Tür in einem einfachen Zaun lässt die Arbeiter ein- und ausge- hen. Doch war das so einfach, wie man es sich nach diesen wenigen Worten vor- stellt? Darüber und über die Erlebnisse zur Zeit des Mauerfalls im Herbst 1989 und in der Nachwendezeit sprechen wir mit Landtagspräsidentin Gabriele Brake- Vom großen Glück busch, die zu DDR-Zeiten genau hier – in Harbke – lebte und bis heute zuhause des Mauerfalls ist.

ZwischenRuf: Aufgrund des Braunkoh- Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch im Interview zu den letagebaus unterlag Harbke ja beson- Ereignissen im Herbst 1989 und in der Nachwendezeit deren Sicherheitsvorkehrungen zu DDR- Zeiten. Was haben Sie konkret davon mitbekommen? Gabriele Brakebusch: Den Braunkohleta- gebau Harbke, „Gustav Sobottka“ hieß der damals, kenne ich natürlich von Wie war die Lage ab 1976, als begon- hätten ja die ganzen Großgeräte umge- meinem Mann, der Kumpel im Braunkoh- nen wurde die Grenzpfeilerkohle (Kohle setzt werden müssen, und das war da- letagebau war. Da gab es schon ganz direkt unter dem Grenzzaun) abzubauen mals natürlich unwirtschaftlich. besondere Sicherheitsmaßnahmen, zum und damit quasi ein Loch in diesen To- Beispiel A-, B- und C-Zonen, und die in desstreifen zu schneiden? Ihr Mann war im Tagebau tätig, hat er der höchsten Sicherheitszone (A-Zone) Wir selber in der Bevölkerung haben da- mit Ihnen darüber gesprochen? War es waren diejenigen, die ganz dicht an der von nichts mitbekommen. Es wurde ein vielleicht doch eine Option, mal in den Grenze oder teilweise auch schon auf nie- Vertrag zwischen der DDR und der Bun- Westen zu gehen oder zu fliehen? dersächsischem Gebiet gebaggert und desrepublik geschlossen, dass man auf Ja, klar hat er von seiner Arbeit erzählt. Kohle gefördert haben. beiden Gebieten baggern kann. Sonst Viel natürlich davon, wie schwer die Ar-

1989 Das „Neue Forum“ veröffentlicht unter der Überschrift „Aufbruch 1989“ den von 30 Bürgerrechtlern unter- zeichneten Gründungsaufruf der DDR-weiten Oppositionsbewegung. Bis zum Ende des Jahres unterzeichnen 10 insgesamt 200 000 DDR-Bürger den Aufruf. September

14 fin, und er sagte oft: „Irgendwann wird eine Wiedervereinigung kommen, aber wir werden sie leider nicht mehr erleben und unsere Kinder wahrscheinlich auch nicht, aber vielleicht unsere Kindeskin- der.“ Die Sehnsucht war immer da. Aber wir haben nie damit gerechnet, dass wir selbst auch daran teilnehmen dürfen.

Spürt man in solchen Momenten, wenn man wirklich die Chance hat, in den Westen zu reisen, dass man tatsächlich eingesperrt wird? Das Eingesperrtsein ist mir sehr be- wusst gewesen, denn ich stamme ja aus Kloster Gröningen in der Nähe von Halberstadt – da war die Grenze weit weg. Und hier in Harbke, da hatte ich schon immer das Gefühl, eingesperrt zu sein. Einfaches Beispiel: Ich bin ein Fa- milienmensch und wir konnten zu keinem großen Familientreffen hier nach Harbke einladen, sondern diese mussten immer bei meinen Eltern in Kloster Gröningen stattfinden, weil wegen der Sicherheits- lage für den Tagebau und der grundsätz- lichen Grenznähe niemand nach Harbke kommen durfte.

Wie haben Sie von der Grenzöffnung am 9. November erfahren? Ich bin Leiterin einer Kindereinrichtung gewesen, und zu DDR-Zeiten mussten beiten waren. In den Westen zu gehen, War in den 1980er Jahren unter den be- alle, die eine leitende Tätigkeit hatten, war nie eine Option für uns, zumindest schriebenen Umständen eine Grenzöff- auch zu den Gemeindevertretersitzun- nicht zu DDR-Zeiten. Ich muss ganz ehr- nung oder sogar eine Wiedervereinigung gen kommen. Und diese Sitzung ging lich gestehen: Kurz vor der Wendezeit, für Sie jemals vorstellbar? abends bis um elf, halb zwölf. Als ich da hatten wir schon den Gedanken, aber Nein. Wir haben viel in der Familie dar- nach Hause kam, war mein Mann völlig diesen haben wir dann doch wieder ver- über gesprochen. Mein Schwiegervater aufgelöst und sagte: „Gabi, stell dir mal worfen, weil unsere jüngste Tochter ge- selber stammt aus dem Südharz, und vor, die Grenzen sind auf!“ Ach, habe rade im Oktober ’88 geboren worden wir hatten so manchmal die Sehnsucht, ich gesagt, nach so einem langen Tag – war. Deswegen haben wir davon Abstand auch diese Dörfer und Städte zu besu- so viele Scherze kann ich heute gar nicht genommen. chen. Mein Mann ist sehr geschichtsaf- vertragen. „Doch“, sagte er, „lass uns >>>

1989 Ungarn öffnet seine Westgrenzen. Innerhalb von drei Tagen flüchten 15 000 DDR-Bürger. Die SED startet letztmals eine propagandistische Offensive gegen die Flüchtenden und gegen die Bundesrepublik Deutsch- 11 land – die Weltöffentlichkeit dagegen sieht unvorstellbare Bilder. September

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 15 ZEITZEUGENINTERVIEW

doch einfach mal nach Marienborn fah- Ich bin in einer großen Landwirtschaft Und dann nochmal der nächste Sprung ren und wir gucken mal.“ Und nicht nur aufgewachsen und mein Vater wollte in die Politik … gesagt, sondern auch getan. Aber an der gern, dass ich auch in die Landwirt- Nach der Wende waren die älteren Leu- Grenze war noch nichts weiter passiert. schaft einsteige. Aber ich wollte gern te da, die wegen meines Engagements Wir haben natürlich auch noch die ganze in einer Kinderkrippe arbeiten. Zu rund um die Grenzöffnung gesagt haben: Nacht ferngesehen, weil wir jede Infor- DDR-Zeiten konnte man jedoch nicht „Mensch, Gabi, du musst unbedingt mation hören wollten. Ich dachte, das unbedingt den Beruf erlernen, den man Bürgermeister hier in Harbke werden.“ ist ein Traum. wollte, so habe ich ihn über Umwege Schließlich bin ich stellvertretende Bürger- erlernt: über Fernstudium zur Krippen- meisterin geworden, wusste aber zu dem Wann waren Sie selbst zum ersten Mal im erzieherin, über Qualifizierungen gar Lei- Zeitpunkt nicht, dass unser Bürgermeister Westen? Wissen Sie noch, was Sie von terin einer Einrichtung – und das war in München auf Montage arbeitete, also dem Begrüßungsgeld gekauft haben? für mich Berufung. Nun, was hat sich war ich doch für viele Entscheidungen Ja, das weiß ich noch. Wir sind am für mich geändert? Die Grenzen waren zuständig. Harbke hatte nicht viel Geld – 11.11.1989 das erste Mal rüber in den offen und ich hatte so einen Zulauf von also dachte ich: Dann müsstest du ei- Westen gefahren, nach Helmstedt. Wir Eltern aus Niedersachsen, die auch alle gentlich auch in den Kreistag gehen. Da waren ja fünf Personen, drei Kinder und in den Genuss kommen wollten, ihre kommt bestimmt auch das Geld her, damit zwei Erwachsene, 500 D-Mark haben wir Kinder betreuen zu lassen, damit sie ar- du hier in Harbke was bewegen kannst. bekommen. Ich habe das Geld erstmal beiten gehen können. Anfangs war das Ich habe dann bald merken müssen, dass auf einem Sparbuch angelegt. Wir haben überhaupt kein Problem, aber dann griff auch im Kreistag nicht entschieden wird, nicht sofort etwas gekauft, weil ich dach- immer mehr die Bürokratie und zuletzt dass wir Gelder bekommen können für te: Wenn das in Sachen D-Mark erstmal hieß es: Wir sind als Land Sachsen- Investitionen, die dringend nötig waren, alles war, dann das Geld lieber gut aufbe- Anhalt nicht für die Kinder aus Nieder- sondern es war der Landtag. Und so habe wahren, vielleicht kannst du später mal sachsen verantwortlich. Dann hieß es, ich mich zur Wahl für den Landtag aufstel- viel mehr damit anfangen. „die Kinderkrippen müssen weg“ – doch len lassen, wurde gewählt und da bin ich da sagte ich immer wieder und bleibe nun schon seit 2002. Wie hat sich das Leben in Harbke nach dabei auch heute noch: Kindereinrich- dem Mauerfall und in dem folgenden tungen, auch eine Kinderkrippe, sind Denken Sie, dass 30 Jahre nach dem Jahr 1990 geändert? das Schönste, was man hat. Sie sollten Mauerfall die Einheit in den Köpfen der Die Euphorie schwand schon bald nach immer elternbegleitend, niemals -erset- Menschen in Ost und West wirklich der Grenzöffnung. Harbke ist nie ein Bau- zend sein. Man gibt den jungen Men- stattgefunden hat? erndorf gewesen, sondern war immer ein schen die Chance, sich selbst etwas Also gänzlich bin ich nicht davon über- industrielles Dorf. Wir hatten den großen schaffen zu können, und sie können zeugt, dass das wirklich überall geglückt Tagebau mit 1 200 Arbeitsplätzen, das selbst entscheiden: bleibe ich zuhause ist. Wir hier in Harbke sind ein Bereich, große Kraftwerk mit nochmal etwa 1 000 oder kann ich einer Arbeit nachgehen. der nicht repräsentativ für diese Frage Arbeitskräften und eine große Gärtnerei, 1992/93 wurde der Druck – auch we- ist. Harbke, Helmstedt und auch Schönin- wo auch um die 500 Arbeitsplätze waren – gen baulicher Fragen – so groß, dass gen, diese ganze Ecke, wir sind ein Ge- die fielen alle weg. Da sind natürlich viele auch meine Einrichtung geschlossen biet, wo das vollzogen ist. Meine beiden erstmal in ein tiefes Loch gefallen und wa- werden sollte. Wer mich kennt, weiß, Söhne wohnen in Helmstedt, haben auch ren trotzdem froh, dass die Grenze endlich ich bin kein Mensch der lauten Töne, Helmstedter Frauen, und somit haben wir weg war. Die meisten haben dann auch aber ich kämpfe. Und ich kann Ihnen sa- auch familiär die Einheit vollzogen. ganz schnell wieder Arbeit gefunden. gen: Die Kinderkrippe gibt es als Haus nicht mehr, den Kindergarten gibt es als War der „Aufbau Ost“ – der ja durch den Wie hat sich Ihr persönliches Leben Haus nicht mehr, aber es gibt in Harbke Solidarpakt finanziell untermauert wurde – nach dem Mauerfall geändert (von Kita eine neue Kindertagesstätte mit Krippe, vielleicht an vielen Stellen falsch orien- und Verwaltungsstudium bis Politik)? Kindergarten und Hort. tiert? Ohne undankbar zu sein, aber was

1989 Die DDR lenkt im Prager Botschaftskonflikt auf sowjetischen Druck hin ein: Bundesaußenminister Hans- Dietrich Genscher reist nach Prag und verkündet die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer. In ver- 30 riegelten Sonderzügen fahren in den nächsten Tagen insgesamt 17 000 Flüchtlinge in die Bundesrepublik. September

16 nützen hergerichtete Dorfstraßen, wenn wir uns nichts vor, auch heute ist es oft Diese Frage bekomme ich oft gestellt. Wir ringsum kein Unternehmen mehr geblie- noch so, dass Industrieunternehmen sich müssen einfach über die Dinge und mit- ben war, um die Leute im Dorf zu halten? ansiedeln, aber nur als Tochtergesell- einander reden, damit wir wissen: auch Nein, „Aufbau Ost“ war wichtig und ist schaft, und die Hauptbetriebe sind in den wenn jemand aus München kommt – auch heute noch wichtig. Durch die Grenz­ Altbundesländern, das heißt, die Haupt- das ist kein anderer Mensch als wir öffnung sind ja viele, viele Betriebe in den steuern gehen dann auch in die alten hier zum Beispiel in Harbke. Es gibt so neuen Bundesländern weggefallen, und Bundesländer zurück. Es wird zukünftig wunderschöne Ecken, gerade in Bayern, die konnte man nicht innerhalb von ein immer noch wichtig sein, dass wir tatsäch- aber wir haben hier in Sachsen-Anhalt paar Jahren wiederaufbauen. Und an der lich Ungleichheiten ebnen können – ebenfalls so viele schöne Kleinode, die einen oder anderen Stelle entspricht inzwi- mit Augenmaß. Ob das noch „Aufbau wir einfach noch viel zu wenig anpreisen. schen auch in Teilen der alten Bundeslän- Ost“ heißen muss oder eher Unterstüt- Wir müssen uns mitteilen, und ich denke, der die Infrastruktur nicht dem neuesten zung strukturschwacher Regionen, wird dann sind auch irgendwann die Grenzen Standard. Und ja, Straßen haben wir fast man sehen. weg. Wir werden es ganz bestimmt nicht alle neu gebaut, aber wir haben dadurch in den nächsten zehn Jahren schaffen, auch hier bei uns das neue Gewerbege- Haben Sie eine Idee, wie auch die Gren- aber die nächsten Generationen, die biet errichten können und die entspre- ze in den Köpfen in den nächsten Jahren schaffen es ganz bestimmt, da bin ich chende Förderung erhalten. Aber machen überwunden werden kann? zuversichtlich.

Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch stellte sich in Harbke einem längeren Zeitzeuginneninterview.

1989 Montagsdemonstration in Leipzig mit bis zu 20 000 Teilnehmern. Die Losungen lauten unter anderem: „Frei- heit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, „Wir bleiben hier“, „Gorbi, Gorbi“, „Neues Forum zulassen“ und „Freiheit für 2 die Gefangenen“. Am Ende greift eine Kompanie der Volkspolizei mit Sonderausrüstung ein; es gibt Verletzte Oktober und 20 „Zuführungen“.

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 17 EINBLICK

Grenzenloser Tagebau: Kleiner Ort mit großem Geheimnis

Auf 342 Kilometern Länge verlief auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt bis 1990 die strengbewachte unüberwindbare innerdeutsche Grenze. Im kleinen Ort Harbke (Börde) gab es zwischen 1976 und 1986 allerdings ein besonderes Schlupfloch.

elbstschussanlagen, Stacheldraht und Verwaltungsgebäude waren teilwei- Anfang der 1970er Jahre merkten jedoch und Minen – das alles gab es se in verschiedenen Besatzungszonen. beide Seiten, dass die Braunkohle lang- Sinnerhalb von 40 Jahren an der Darum haben die Besatzungsmächte sam knapp wird. Insbesondere in der Grenze zwischen der ehemaligen DDR im Oktober 1945 eine Zusammenarbeit DDR war klar, spätestens 1976 ist die und der Bundesrepublik Deutschland. Die beschlossen. Kohle alle, gleichzeitig wurde der Strom 1 400 Kilometer lange Grenze durchzog Das Kraftwerk Harbke lieferte seinen dringend gebraucht. Einzige Chance war Orte und Landschaften von der Ostsee Strom auch nach Niedersachen und im ein Kohleflöz westlich von Harbke direkt über den bis zum Thüringer Wald. Gegenzug sollten Kohle, Wasser und unter der Grenze. Diese Vorkommen Der kleine Ort Harbke in der Börde lag Reparaturleistungen für das Kraftwerk waren aber auch für die Bundesrepublik mittendrin im Grenzgebiet und wurde be- aus dem Westen kommen. Auf diese interessant. sonders streng bewacht. Denn ganz in Weise war es möglich, dass Werkszüge Vor dem Hintergrund der deutsch-deut- der Nähe gab es seit 1976 ein „Loch“ und Angestellte aus beiden Zonen die schen Entspannungspolitik einigten im Grenzzaun, das – aus Angst vor Flucht- Demarkationslinie überqueren konnten. sich beide Seiten 1976 darauf, die so- versuchen von DDR-Bürgern – natürlich Nach der Gründung der beiden deutschen genannte Grenzkohlepfeiler gemeinsam möglichst geheim bleiben sollte. Erst Staaten 1949 manifestierte sich die Tei- abzubauen. In einem bis dato einzigarti- viele Jahre nach der Wende wurde das lung Deutschlands und der „Kalte Krieg“ gen Vertrag zwischen beiden deutschen „Geheimnis von Harbke“ bekannt. begann auch im Tagebau. Staaten wurde geregelt, dass Ost-Bagger In der Gegend um Harbke (Sachsen- Im Mai 1952 besetzte die Volkspolizei in den Westen fahren und West-Bagger Anhalt) und Helmstedt (Niedersachsen) der DDR – quasi über Nacht – die öst- Flächen im östlichen Teil nutzen dürfen. wurde bereits seit Ende des 19. Jahr- lichen Teile der Tagebaue Wulfersdorf „Die Verträge über den Abbau des Grenz- hunderts auf industrielle Weise Braun- und Victoria und beschlagnahmte alle kohlepfeilers und die Nutzung der Kohle kohle gefördert. Offiziell gehörte das sich darauf befindlichen Großgeräte und waren die ersten innerdeutschen Verträ- Abbaugebiet zum „Helmstedter Revier“, Werkbahnen. Offiziell in Volkseigentum ge über die gemeinsame Nutzung von allerdings reichten die Vorkommen weit umgewandelt, bildeten sie die Grundla- grenzüberschreitenden Rohstoffen und nach Sachsen-Anhalt hinein. So kam es, ge für das neugegründete Braunkohle­ somit für beide Seiten ein Präzedenzfall.“ dass sich die Tagebaue Wulfersdorf und werk Harbke. Im Gegenzug bauten die Die Verhandlungen hatten ergeben, erläu- Victoria zum Ende des Zweiten Weltkrie- Braunschweigischen Kohlebergwerke – tert Historikerin Christiane Rudolph, dass ges 1945 direkt auf der Zonengrenze die einen Großteil ihres Eigentums ab- die territorialen Hoheitsrechte bestehen zwischen britischer und sowjetischer schreiben mussten – innerhalb von zwei bleiben sollten und die jeweiligen Gebiete Besatzung befanden. Jahren das Kraftwerk Offleben als Ersatz nach dem Ende der Kohleförderung wie- Die Spaltung der Tagebaue führte dazu, für das Kraftwerk Harbke. In den nächs- der zurückgegeben werden. Die jeweiligen dass die eigentlich zusammengehören- ten zwei Jahrzehnten förderten Ost und Nutzungsgebiete seien präzise beschrie- den Betriebsteile getrennt wurden: Kraft- West getrennt voneinander ihre eigene ben worden und durch Drahtzäune vonei- werke, Brikettfabriken, Verladestationen Braunkohle. nander getrennt. Außerdem beschlossen

1989 Eine Ehrenparade der Nationalen Volksarmee in Berlin leitet die Feierlichkeiten zum 40. „Tag der Republik“ am 7. Oktober 1989 ein. Während am Abend im Palast der Republik gefeiert wird, demonstrieren draußen 7 Tausende Menschen gegen das Regime. Oktober

18 Blick auf den ehemaligen Braunkohletagebau bei Harbke/Helmstedt, derzeit Historische Entwicklung des Braun- entsteht hier der neue Lappwaldsee. Noch ist er allerdings nicht vollständig gefüllt. kohle­abbaugebiets direkt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen Helmstedt und Harbke. Grafik: LMBV und Andreas Kadler post-mining & brownfields consulting die Verantwortlichen, dass die Kohleab- kelste durfte nur mit einem besonderen baugebiete waffenfrei sein sollten. Passierschein betreten werden. „Politisch Das bedeutete, die DDR-Grenztruppen auffällige“ Personen, Unverheiratete und anlage wiederaufgebaut werden. Der hatten keinen Zutritt zum Tagebau. Au- Männer unter 40 Jahren erhielten keinen Mauerfall im November 1989 durch- ßerdem rückten Soldaten der Nationa- Passierschein. Das hohe Sicherheitskon- kreuzte jedoch die Pläne der SED. 1990 len Volksarmee an und befreiten rund zept und die ständigen Kontrollen hätten wurde das Kraftwerk Harbke stillgelegt. zwei Kilometer des Eisernen Vorhangs den Produktionsablauf zweifellos ver- Etwa zehn Jahre später gingen auch in von Minen. An die Stelle des ehemaligen langsamt, erinnert sich Reiner Orlowski, Helmstedt die Lichter für den Braunkohle- Todesstreifens trat bis 1986 lediglich ein damaliger Betriebsleiter des Tagebaus bergbau aus. Heute, 30 Jahre nach dem zwei Meter hoher Maschendrahtzaun, in Wulfersdorf in der MDR-Dokumentation Mauerfall, entsteht in den Restlöchern dem es auch noch vier Türen gegeben „Das Geheimnis von Harbke – Opera­ der ehemaligen Tagebaue der Lappwald- haben soll. Mit dem Vertragsabschluss tion Grenzkohle“. Allerdings hätte es see – ein Freizeit- und Naherholungsge- von 1976 stellte die rohstoffarme DDR während der zehn Jahre des gemeinsa- biet für die gesamte Region. „wirtschaftliche Interessen vor die Inter- men Abbaus der Grenzkohle nicht eine Stefanie Böhme essen der Grenzsicherung“, betont His- einzige Flucht aus der Belegschaft des torikerin Rudolph. Kohlekombinats gegeben. Quellen: Allerdings baute die Staatssicherheit Als 1986 auf ostdeutscher Seite die ver- „Wandlungen und Perspektiven“ Nr. 14, Wul- fersdorf, Hrsg.: Lausitzer und Mitteldeutsche nach und nach ein dichtes Netzwerk an einbarten 1,5 Millionen Tonnen Kohle un- Bergbau- Verwaltungsgesellschaft mbH inoffiziellen Mitarbeitern im Werkschutz ter der Grenze abgebaut waren, beschlos- Christiane String (verheiratete Rudolph): des Tagebaus auf. Um den Tagebau sen die Verantwortlichen auf DDR-Seite „Grenzkohle – Die Stasi im deutsch-deutschen Tagebau von Helmstedt und Harbke“, in: horch Wulfersdorf trotz „offener Grenze“ kon- den Tagebau Wulfersdorf aufzugeben. und guck, Heft 64, 2/2009, S. 36–39 trollieren zu können, wurde er in drei An seine Stelle sollte ein riesiger Damm MDR Dokumentation „Das Geheimnis von Sicherheitszonen eingeteilt und die hei- aufgeschüttet und die ehemalige Grenz- Harbke – Operation Grenzkohle“

1989 Die bislang größte Montagsdemonstration mit 70 000 Menschen – trotz schwer bewaffneter Einheiten von Polizei, Volksarmee und Staatssicherheit – in Leipzig wird zum „Tag der Entscheidung“. Die SED-Führung 9 wagt es trotz Drohungen im Vorfeld nicht, die Demonstration gewaltsam aufzulösen. Oktober

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 19 ZEITZEUGENINTERVIEW

Das Geheimnis der Magdeburger Montagsdemos im Herbst 1989

Domprediger Giselher Quast gehörte zu den Hauptinitiatoren der friedlichen Revolution in der Elbestadt. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer würdigt der heute 68-Jährige den Mut und die Besonnenheit der Demonstranten im Angesicht tödlicher Staatsgewalt.

ie Sicherheitslage in der Stadt reisewillige hatten sich am 5. Oktober in waren wir in großer Sorge vor dem Frie- Magdeburg hätte zu Beginn des dem Gotteshaus getroffen. Vor den Toren densgebet am 9. Oktober“, sagt Gisel- DHerbstes 1989 nicht brisanter warteten noch einmal mehrere Hundert her Quast heute. Die Bedrohung durch sein können. Die Unzufriedenheit der Unzufriedene. Nach dem Gebet wollten die Staatsmacht sei spürbar gewesen. Menschen mit dem sozialistischen Sys- alle gemeinsam zum Alten Markt spazie- An dem Tag selbst waren bis zu 20 000 tem wuchs von Tag zu Tag, die Zahl der ren. Doch die in Sturmuniform angerück- Polizisten, Stasi-Leute und Mitglieder der Ausreisewilligen nahm zu. Schon seit dem te Volkspolizei zeigte zum ersten Mal in Kampfgruppen aus den Großbetrieben Sommer trafen sich regelmäßig die, die diesem Herbst ihr wahres Gesicht und in der Magdeburger Innenstadt zusam- den Staat verlassen wollten, donnerstags prügelte mit extralangen Schlagstöcken mengezogen worden. Gepanzerte Fahr- zum Friedensgebet am Ernst-Barlach- vor der abgeriegelten Bärstraße auf die zeuge und Wasserwerfer rollten durch Denkmal im Magdeburger Dom. In klei- friedlichen Demonstranten ein. Viele die Stadt, im Ernst-Grube-Stadion [heute nen Gruppen spazierten die 30 bis 40 wurden ergriffen, auf Lkws geworfen und MDCC-Arena; A.d.R.] brannte das Flutlicht, Leute anschließend zum Reiterstandbild dort weiter verprügelt. Es gab zahlreiche weil dort die Gefangenen untergebracht auf dem Alten Markt, argwöhnisch verfolgt Verletzte, manche retteten sich blutend werden sollten. „In dieser Situation be- von der Volkspolizei und bespitzelt von zurück in den Dom. währte sich die Strategie unserer Gruppe der allmächtigen Stasi. Die Polizei war in Zwei Tage später gab es am Staatsfeier- von etwa 40 Personen, die regelmäßig die Mannschaftswagen angerückt, von denen tag in der Elbestadt die zweite Attacke Gebete und Demonstrationen vorbereitet einer mit offener Heckklappe langsam der Polizei gegen Demonstranten. In der hatte. In ihrem Sinne verhandelten mei- rückwärts gegen die Ausreisewilligen, die Leiterstraße hatten sich zwei Jugendliche ne damalige Kollegin Waltraut Zachhuber als gemeinsames Erkennungszeichen ein auf die Straße gesetzt und sangen Lie- und ich den ganzen Tag mit der Abteilung weißes Bändchen am Revers trugen, roll- der zur Gitarre. Die Uniformierten setzen Inneres des Rates der Stadt, um gewalt- te. „Wir haben die Macht, und ihr müsst 20 Hundeführer gegen die jugendlichen tätige Ausschreitungen zu verhindern.“ Als euch fügen“, sollte das wohl heißen. Doch Sänger und andere unschuldige Passan- ein Zugeständnis konnte erreicht werden, keiner ließ sich provozieren, friedlich gin- ten ein. Ein paar Meter weiter an der Jo- dass am Abend in Domnähe zehn Groß- gen die Demonstranten nach Hause. hannisbergstraße hatten sich Jugendliche raumzüge der Straßenbahn bereitgestellt Dann kam der Oktober 1989. „Wir hatten zu einem Konzert versammelt. Als es we- wurden, um mehr als 2 000 Dombesucher große Befürchtungen vor einer Eskalation gen eines Jugendlichen, der einen Schwä- nach dem Gebet ohne Zwischenfälle nach der Gewalt“, erinnert sich der damalige cheanfall erlitten hatte, zu einem kleinen Hause transportieren zu können. „Darin, Domprediger Giselher Quast. Wenige Tumult kam, sah die Polizei darin einen dass sich die Stadt nach den Demon­s­ Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR am willkommenen Anlass, die Konzertgäste tranten richtete und den Fahrplan der Ver- 7. Oktober sei die Lage noch brenzliger mit brutaler Gewalt auseinanderzutreiben. kehrsbetriebe änderte, sahen wir einen geworden. Zu den Montags­gebeten um Es begann ein Kesseltreiben gegen An- kleinen Sieg“, so Quast. gesellschaftliche Erneuerung im Mag- dersdenkende, das auf dem Alten Markt An diesem Abend verdreifachte sich die deburger Dom waren inzwischen immer mit zahlreichen Festnahmen endete. Zahl der Dombesucher. 4 500 Leute ka- mehr Leute gekommen. Bis zu 300 Aus- „Angesichts dieser brutalen Ereignisse men zum Gebet um gesellschaftliche Er-

1989 Das SED-Politbüro beschließt einstimmig die Absetzung Erich Honeckers. Am nächsten Tag bittet Honecker das Zentralkomitee der SED, ihn „aus gesundheitlichen Gründen“ von den Ämtern des Generalsekretärs 17/18 und des Staatsratsvorsitzenden zu entbinden. Zum neuen Chef wird Egon Krenz gewählt. Oktober

20 Giselher Quast Geboren 1951 in Dresden · Studierte Theologie am Kirchlichen Oberseminar · Von 1975 bis 1977 Vikar in Magdeburg · danach Pfarrer in Eilenburg · von 1979 bis 2016 Domprediger in Magdeburg · Initiator der Magdeburger Montags­demos · Auszeichnungen: Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, Ehrenring der Stadt Blick in den Dom an einem Montag. Magdeburg, Magdeburger des Jahres 2002

Faksimile der Themenliste vom 2. Oktober 1989.

Am 23. Oktober öffneten sich die Dom- den Stasigefängnissen berichteten. Den tore zum ersten Mal nach dem Friedens- nächsten Höhepunkt der noch bis ins gebet zu einer Demonstration außerhalb neue Jahr andauernden Montagsdemos der Kirche. Mehrere Tausend Menschen bildete ein beeindruckender Schweige- strömten nach draußen, aber nicht um marsch Zehntausender am 22. November nach Hause zu gehen, sondern um auf vom Domplatz bis zum Stasiquartier an Magdeburgs Straßen friedlich für ihre der Walther-Rathenau-Straße. „Dort haben Ziele zu demonstrieren. Auch diese Ak- die Stasi-Mitarbeiter mit schussbereiten tion hatten Quast, Zachhuber und ihre Waffen im Dunkeln gesessen und nur auf Mitstreiter mit der Stadt abgesprochen. eine Provokation gewartet, um losschla- neuerung. Draußen vor dem Dom drehte Die Polizei sperrte die Straßen für die gen zu können. Aber auch dazu haben es die Stadt die Straßenbeleuchtung ab. Demonstranten ab, Straßenbahnen fuh- die verantwortungsbewussten Magdebur- „Es war gruselig“, sagt der Domprediger. ren nicht, und der erste Marsch rund ger nicht kommen lassen“, ist Giselher Tödliche Gewalt lag in der Luft. „Auf kei- um den Dom verlief ebenfalls absolut Quast heute noch froh. nen Fall wollten wir die Leute ins Messer friedlich. Nach den Erfahrungen des einstigen laufen lassen.“ Deshalb wurde zum Ab- Am 4. und 6. November folgten tagsüber Dompredigers waren etwa 80 Prozent schluss der Veranstaltung immer wie- machtvolle Zusammenkünfte auf dem der Dombesucher im Herbst 1989 kei- der aufgerufen: „Ruft nicht! Singt nicht! Domplatz und dem Alten Markt, auf de- ne Christen. Für ihn ist klar, dass der Sagt nichts! Hebt keine Steine von den nen die politischen Forderungen nach Geist der Kirche während der Gebete Straßenbahnschienen im Südabschnitt Erneuerung vorgetragen wurden. Nach um gesellschaftliche Erneuerung auf die der Karl-Marx-Straße [heute Breiter Weg; dem Mauerfall am 9. November folgte an Nichtchristen übergegriffen und so dazu A. d. R.] auf!“ Alle richteten sich danach, dem nebligen Montag, dem 13. Novem- beigetragen hat, dass die Demos seitens es blieb an diesem Abend absolut ruhig. ber, auf dem Domplatz eine Kundgebung, der Demonstranten mutig, besonnen und Ein riesengroßer Erfolg der Magdeburger auf der inzwischen entlassene Häftlinge ohne Blutvergießen über die Bühne ge- Montagsdemonstranten. über physische und psychische Folter in gangen sind. Wolfgang Schulz

1989 In der ersten Novemberwoche erlebte die DDR die größte Demonstration ihrer Geschichte – eine halbe Million Menschen beteiligten sich am 4. November in Berlin, zwei Tage später folgten bei der Leipziger Montags- 2-8 demonstration 400 000 Bürger. Demonstrationen gab es auch in Magdeburg, Halle (Saale) und kleineren November Orten wie Calbe/Saale, Stendal und Egeln.

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 21 REGIONALFENSTER

Oberharz am Brocken: Junge Stadt mit über 1 000-jähriger Geschichte

Natur pur mit ausgedehnten Bergwiesen, Fichten-, Laub- und Mischwäldern, idyllisch gelegenen Seen, ursprünglichen Bächen und imposanten Talsperren sowie, fast immer in Sichtweite, dem „Berg der Deutschen“, der höchsten Erhebung des Harzes.

berharz am Brocken ist eine Stadt mit zehn Ortsteilen, die es erst Oseit dem 1. Januar 2010 gibt. Der gemeinsame Name dieses Konglo- merats mehrerer Kommunen, die sich im Zuge der Gemeindegebietsreform zu einer Einheitsgemeinde zusammen- schlossen, will ihren Bewohnern Identität vermitteln und für Urlauber gut klingen. Und die Zahl der Touristen übertrifft die der Bewohner der Stadt Oberharz am Bro- cken, die sich im Harz über ein Terrain von 271,5 Quadratkilometer erstreckt, erheblich: rund 10 850 Einheimischen stehen jährlich geschätzte 1,5 Millio- nen Tagesbesucher gegenüber. Markus Mende, Chef des städtischen Tourismus- betriebs, verweist stolz auf eine im ver- gangenen Jahr gegenüber 2010 um 21 Prozent gestiegene Übernachtungszahl „Oben im Harz“ – und das bei gesunke- ein Abschnitt des „Grünen Bandes“, das Oberharz am Brocken gehörenden Orte ner Bettenzahl! Sachsen-Anhalts Landtag gerade erst Benneckenstein, Sorge und Elend. „Oben im Harz“ ist die Marke, unter der zum Nationalen Naturmonument erklärt Besonders eindrucksvoll nacherlebbar Markus Mende und sein Team Gästen und unter besonderen Schutz gestellt ist die jüngere Harzgeschichte in und der Stadt Oberharz am Brocken unter an- hat und damit Natur und Erinnerungs- um Sorge, wo ein Verein die Erinne- derem Abenteuer-Urlaub und auch tolle kultur verbindet – die Erinnerung an die rung an die Zeit der deutschen Teilung Aussichten auf schönen Wegen bieten einstige innerdeutsche Grenze. 30 Jahre wachhält. Sorges langjährige, ehemalige möchten. Immerhin 500 Kilometer um- nach dem Mauerfall lässt sich der Natur Bürgermeisterin Inge Winkel hat diese fasst das ausgewiesene Wanderwege- gewordene Grenzstreifen im Harz erwan- Zeit miterlebt. Sie kam nach ihrer Hei- netz im Terrain der Stadt Oberharz am dern – auf beinahe hundert Kilometern, rat 1971 nach Sorge, weil es dort für Brocken: der Harzer-Hexen-Stieg, der Teu- sowohl auf lauschigen Pfaden als auch die junge Familie Wohnraum gab, aber felsstieg von Elend zum Brocken, der Weg auf Betonplatten des einstigen Kolonnen- auch wohlwissend, dass sie künftig in Deutscher Kaiser und Könige gehören wegs. Ein Stück dieses geschichtsträch- einem Sperrgebiet leben würde, Besuch ebenso dazu wie der Harzer Grenzweg als tigen Wegs tangiert auch die zur Stadt nur nach Anmeldung und Genehmigung

1989 Kurz nach 19 Uhr wird die Agentur-Meldung verbreitet: „DDR öffnet Grenze“. So titelt um 20 Uhr auch die 10 Tagesschau. Tausende Menschen strömen daraufhin zu den Berliner Grenzübergängen. Zuvor hatte Polit- 9 / büromitglied Günter Schabowski seine mittlerweile legendäre Pressekonferenz gegeben. November

22 Vor 30 Jahren für Wanderer noch unerreichbar: der Brocken (l.). Dazu der Blick auf den Turm der Stadtkirche St. Jakobi (M.) und auf die Harzer Schmalspurbahn (r.).

empfangen durfte, die Grenze und deren em Leben. Seit fünf Jahren von einem Sperrgebiet berichtet. Vereinsvorsitzende Bewacher allgegenwärtig waren, obwohl Holländer mit Familienangehörigen und Inge Winkel erklärt an einem anschauli- es kaum Kontakt zu ihnen gab. Sorge Freunden geführt, erinnert das Interieur chen Modell, wie die 13 Kilometer lange hatte damals mehr als 250 Einwohner, an längst vergangene DDR-Zeiten. Grenze am Abschnitt Sorge gesichert eine Kita, Post und Konsum. Man hielt Wie sie kommen auch viele Gäste der war. Sechs Menschen wurden dort nach zusammen, passte aber auch auf den modern ausgestatteten Pension Sonnen- 1960 erschossen. Die tragisch endende Nachbarn auf, blickt Inge Winkel zurück. hof nach Sorge, um den dortigen Bahn- Flucht von zwei 15-jährigen Schülern im Heute leben nicht einmal mehr hundert hof zu besuchen. Fahrkarten werden in Dezember 1979 wurde im Dokumentar- Menschen in dem hübschen und kleins- dem Gebäude schon lange nicht mehr film „Tödliche Grenze – der Schütze und ten Ort der Stadt Oberharz am Brocken. verkauft. Seit 2009, dem 20. Jahrestag sein Opfer“ nachempfunden. Das einstige FDGB-Ferienheim „Sorgen- der Grenzöffnung, aber ist es Domizil für Schnaufen und Pfeifen kündigt das Nahen frei“, das kurz vor dem Mauerfall noch eine Ausstellung des Vereins Grenzmuse- der Harzquerbahn an, die mehrmals täg- einmal generalüberholt worden ist, er- um Sorge e. V., die vom Alltag der Bewoh- lich am Bahnhof Sorge hält. Das war auch wacht nach langem Leerstand zu neu- ner und der Grenztruppen im einstigen so, als Sorge nicht von jedermann >>>

1989 Die Sperrzone an der innerdeutschen Grenze und entlang der Berliner Mauer wird aufgehoben. Hans Modrow wird von der Volkskammer offiziell zum Vorsitzenden des Ministerrates der DDR gewählt. Seine Amtszeit 13 währte bis Anfang April 1990. November

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 23 REGIONALFENSTER

nach Lust und Laune besucht werden konnte. Transportpolizei habe damals genau aufgepasst, wer in dem Grenzdorf ein- und ausstieg, erinnert sich Inge Win- kel. Wer in Richtung Elend weiterfahren durfte, konnte nach einer Kurve einen Blick auf die Grenzanlage erhaschen, die hier keine Mauer, sondern ein ausgeklü- Die kleinste Holzkirche geltes Zaunsystem war. Deutschlands steht in Elend (l.). Die, die heute die Schmalspurschienen Nervenkitzel pur bietet die unweit des Bahnhofs Sorge überqueren Fußgänger-Hängebrücke über der und auf den oben mit Stacheldraht ge- (M.). Historische Einblicke sicherten Maschendrahtzaun zusteuern, gewinnt man im Grenzmuseum im bestaunen im Freiland-Grenzmuseum ehemaligen Bahnhof Sorge (r.). Reste der originalen Sicherungsanla- gen. Dass diese nicht gänzlich zerstört wurden, sei dem beherzten Handeln des lenden“ Altar bietet maximal 90 Perso- sam, dass sie früher im Wesentlichen ersten Bürgermeisters nach der Grenzöff- nen Platz und gilt als kleinste Holzkirche von der Montanindustrie lebten – vom nung zu verdanken, berichtet Inge Win- der Bundesrepublik. Bergbau, der Verhüttung der Erze, der kel, die sich als Vorsitzende des Vereins Idyllisch im Dreiländereck, unmittelbar Weiterverarbeitung des Metalls oder Grenzmuseum Sorge seit Jahren dafür an den Grenzen zu Niedersachsen und der Forstwirtschaft. Einen interessan- engagiert, dass Originalobjekte sowie Thüringen gelegen, zieht der Erholungs- ten Einblick in die Geschichte des Harzer viele erklärende Info-Tafeln in deutscher und Wintersportort Benneckenstein zu Eisenerzbergbaus und die schwere Arbeit und englischer Sprache nachfolgenden allen Jahreszeiten Besucher an. Ein unter Tage ermöglicht bei Elbingerode Generationen einen beeindruckenden An- weitverzweigtes Wandernetz mit Natur- das Schaubergwerk Büchenberg. Auch schauungsunterricht über das einstige und Erlebnis-, Heilkräuter- und Bergwie- auf anderen thematisch gestalteten Wan- System der Grenzsicherung am histori- senlehrpfaden lockt zu Ausflügen in die derwegen lädt vielfach ungestörte Natur schen Schauplatz bieten. Harzlandschaft. Im Ort selbst bietet das rund um Elbingerode mit seiner aus allen Wie Sorge lag damals auch Elend im ab- Bahnhofsmuseum Eisenbahnliebhabern Himmelsrichtungen weithin sichtbaren soluten Sperrgebiet, und wie der Name einen Einblick in die Geschichte der Kirche „St. Jakobi“ zu ausgedehnten des Nachbarortes spiegelt auch dieser 1899 eingeweihten Harzer Schmalspur- Streifzügen ein. weder Sorgen noch Elend seiner Bewoh- bahnen und die Heimatstube zeigt eine Auf dem Gebiet des heutigen Ortes Tanne ner wider: der von Sorge leitet sich von Ausstellung zu Kulturgeschichte, Brauch- lässt sich die Eisen- und Kupferverhüt- Zarge – Grenze – ab, denn das kleine tum, Tradition und altem Handwerk in der tung bis ins frühe 13. Jahrhundert zu- Dorf im Harz lag von jeher in einem Region. Ein besonderes Wintervergnügen rückverfolgen, stand hier doch über Jahr- Grenzgebiet. Und die Ortsbezeichnung bieten in Benneckenstein alljährlich im hunderte eine der ältesten Eisenhütten von Elend, des charmanten Erholungs- Januar die Huskys beim traditionellen der Region, die die Entwicklung der einst orts am Fuße des Brockens, hat ihren Schlittenhunderennen. bedeutenden Bergbausiedlung prägte. Ursprung im althochdeutschen Begriff Der Verwaltungssitz der Stadt Oberharz 1965/66 stellte die Tanner Hütte ihren „eli lenti“ – „fremdes Land“. Wahrzeichen am Brocken befindet sich in Elbingero- Betrieb ein, doch die Kultur dieser Zeit der etwa 400 Einwohner zählenden Ge- de – einem Erholungsort mit tausend- lebt in traditionellen Festen und der Pfle- meinde ist die 1897 erbaute Kirche, der jähriger Bergbaugeschichte. Ihr folgen ge des Brauchtums weiter. Die Geschich- 1904 nachträglich ein schlanker Turm kann man auf einem Lehrpfad zur Berg- te Tannes als Kur- und Erholungsort reicht hinzugefügt wurde. Der Fachwerkbau bau- und Hüttengeschichte der Region, bis in die Zeit vor 1900 zurück, wurde der im neugotischen Stil mit gerade einmal denn wie Elbingerode ist allen Orten Ort doch bereits 1894 als „Sommerfri- 60 Quadratmetern Fläche und einem „rol- auf der Hochfläche des Harzes gemein- sche für Erholungsbedürftige“ bezeichnet.

1989 Die Volkskammer wählt eine neue Regierung unter Ministerpräsident Hans Modrow. Am 18. November nimmt die von der SED und den Blockparteien gebildete „demokratische Koalitionsregierung" die Arbeit 18 auf; neun der nunmehr 28 (statt wie früher 44) Minister stammen noch aus der alten Regierung Stoph. November

24 Mit urwüchsiger Harzlandschaft bezau- der Rappbode, können Abenteuerlustige Weltkulturerbe anerkannte Brauchtum bert auch Königshütte, ebenfalls ein an der größten Doppelseilrutsche Euro- des Harzer Finkenmanövers gepflegt wird. traditioneller Hüttenort, über dem die pas einen Kilometer pures Adrenalin Am Knotenpunkt der Harzer Schmalspur- Burgruine Königsburg thront. In dieser spüren. Außer der Megazipline und dem bahnen zwischen und Gün- Ortschaft der Stadt Oberharz am Brocken Wallrunning an der Wendefurther Stau- tersberge befindet sich das Harzörtchen vereinen sich die Kalte und die Warme mauer begeistert dort seit Frühjahr 2017 – mit Europas kleinster Wende- Bode, bevor sie gemeinsam in die Kö- auch die längste Fußgänger-Hängebrücke schleife für eine Eisenbahn. Wahrzeichen nigshütter Talsperre einmünden und der Republik die Harz-Urlauber. der weit über 1 000 Jahre alten Gemein- von dort als Bode weiter nach Rübeland Nicht weit davon entführt Pullman City, de aber ist das Stieger Schloss, eines fließen. die Westernstadt im Harz, in eine ganz der wenigen erhaltenen Bauwerke des Der Höhlenort Rübeland lockt mit andere Welt. Der Erlebnispark am Orts- frühen Hochmittelalters, das vermutlich schroffen Felswänden und mystischen rand von Hasselfelde und der Ortschaft als Jagdschloss oder Rastplatz für Harz- Höhlenwelten Besucher aus nah und Rotacker ermöglicht kleinen und großen durchquerungen während der Zeit Hein- fern an. Die Baumannshöhle als ältes- Besuchern bei einer Reise durch die richs I. um 919 erbaut wurde. te Schauhöhle in Deutschland und die Zeit des „Wilden Westens“, sich einmal Das Wahrzeichen des Ortsteils Trauten- Hermannshöhle im gleichen Ort gehören wie ein echter Indianer oder Cowboy zu stein ist die 1701 erbaute Kirche, ein neben dem Brocken zu den bekanntes- fühlen. Durch seine zentrale Lage „Oben Kleinod mit einer Tonnendecke, die mit ten Sehenswürdigkeiten „Oben im Harz“. im Harz“ sind Städte wie Wolken und Sternen bemalt ist. Neben den geologischen Wunderwerken oder Quedlinburg schnell erreichbar und Das Wappen der Stadt Oberharz am unterirdischer Tropfsteine und den dort der Brocken oder das Selketal mit der Brocken spiegelt die Gemeinsamkeiten entdeckten Knochenfunden des heute Harzer Schmalspurbahn „erfahrbar“. Seit aller Ortsteile wider: Einen mit silbernen ausgestorbenen Höhlenbären hat Rü- der Grenzöffnung vor 30 Jahren sind von Wellen unterlegten grünen Dreiberg, beland seinen Gästen auch Erlebnisfahr- Hasselfelde aus Ausflüge in alle Richtun- dessen größerer Mittelgipfel von einem ten mit der historischen Rübelandbahn gen und naturbelassenen Landschaften schwarzen Hirsch mit achtendigem Ge- über das höchste Eisenbahnviadukt des des Harzes möglich. Unweit der Stadt weih übersprungen wird. Darüber ein Harzes zu bieten und unweit des Orts die kündet das Freilichtmuseum Harzköhle- Bergmannsgezähe zwischen zwei grünen Rappbodetalsperre, die im Oktober 2019 rei Stemberghaus von der traditionellen Tannen – Berge für den Harz, Fichten für ihr 60-jähriges Bestehen feierte. Herstellung der Holzkohle. Zudem ist den Waldreichtum, Wellenlinien für den Entlang der höchsten Staumauer Hasselfelde einer der acht Orte, in denen Wasserreichtum und Gezähe für die Berg- Deutschlands, 120 Meter über dem Tal noch das seit 2014 als Immaterielles bautraditionen. Gudrun Oelze

1989 Im vogtländischen Plauen wird die erste öffentliche Forderung nach Wiedervereinigung erhoben. Diverse Bürgerrechtler, Künstler und SED-Reformer plädieren im gemeinsamen Aufruf „Für unser Land“ für einen 25 reformierten Sozialismus und für die Eigenständigkeit der DDR. November

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 25 LIEBLINGSORTE

Lieblingsorte der Landtagsabgeordneten

Fragt man die Abgeordneten des Landtags nach ihren Lieblingsorten in Sachsen-Anhalt, dann fällt die Entscheidung bei jeder und jedem erwartungsgemäß sehr unterschiedlich aus. Die meisten fühlen sich tatsächlich in heimischen Gefilden am wohlsten. Mit Blick auf „30 Jahre Sachsen-Anhalt“ haben wir einige Lieblingsorte zusammengetragen.

An der Goitzsche bei Bitterfeld

Grünes Refugium mitten in der Stadt Immer einen maritimen Besuch wert, zu Land und zu Wasser, auch für Hier kommt Frisches auf den Tisch – aus dem Lars-Jörn Zimmer (CDU): Die Goitzsche. eigenen Hallenser Garten, dem Lieblingsort von Katja Pähle (SPD).

Harbker Schlosspark – Oase für Jung und Alt Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch (CDU) genießt in ihrer Freizeit gerne die grüne Oase vor der Haustür.

Einer der schönsten Orte in Sachsen-Anhalt Ein Besuch in Wörlitz ist Erholung pur, er bietet Anregung und Harmonie, findet Ruhe und Erholung in der Dübener Heide Thomas Lippmann (DIE LINKE).

Eingefasst von Elbe und Mulde liegt hier Mitteldeutschlands größter Mischwald, weiß Siegfried Borgwardt (CDU).

1989 Der DDR-Schriftsteller Stefan Heym verfasst gemeinsam mit 30 Kollegen den Aufruf „Für unser Land“, der zwei Tage später auf einer Pressekonferenz vorgestellt wurde. Es ist ein Plädoyer für einen reformierten 26 Sozialismus, gegen die Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik. November

26 Der Saale-Radweg in Weißenfels

Der SPD-Abgeordnete Rüdiger Erben schwingt sich gern auf den Drahtesel und wagt einen Blick auf Einfach mal die Seele baumeln lassen seine Heimatstadt Weißenfels. Die Elbschaukel schräg gegenüber vom Magdeburger Dom gehört zu den Lieblingsorten

von Olaf Meister (Grüne).

An der Goitzsche bei Bitterfeld Andershausen: Auf keiner Karte zu finden

Immer einen maritimen Besuch wert, zu Andreas Steppuhn (SPD) findet seinen Land und zu Wasser, auch für Lieblingsort jedes Jahr in einer Kinderstadt im Lars-Jörn Zimmer (CDU): Die Goitzsche. Havelberg ist Heimat und Liebslingsort Ökogarten in Quedlinburg. Dort aufgewachsen und gearbeitet: Kein Wunder, dass Havelberg für Wulf Gallert (DIE LINKE) der Lieblingsort ist.

Wunderschöner Blick über die gesamte Stadt Am Arendsee, der Perle der Altmark Damit kann für Markus Kurze (CDU) am Dorothea Frederking (Grüne) liebt Bismarckturm natürlich nur dessen Heimatstadt die Beschaulichkeit des Arendsees. Klar, Burg gemeint sein. hier lässt es sich gemütlich verweilen.

1989 Bundeskanzler Kohl gibt im Bundestag ein deutschlandpolitisches Zehn-Punkte-Programm bekannt, das über einen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren die stufenweise Entwicklung konföderativer Strukturen beinhaltet. 28 Ziel dieses Prozesses soll die Wiedervereinigung sein. November

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 27 LIEBLINGSORTE

Auf Safari im Bergzoo Halle (Saale) Andreas Schmidt, Abgeordneter aus der SPD-Fraktion hat ein Herz für Tiere.

Ein Urlaubsgefühl mitten im Alltag Sein Lieblingsort ist daher echt tierisch. Der Große Goitzschesee ist für Angela Kolb-Janssen (SPD) ein Beweis dafür, wie positiv sich eine Region verwandeln kann. Sachsen-Anhalt-Tag war 2015 großes Erlebnis Köthen würdigt das Leben und Werk des großen Barockmusikers Bach und ist Lieblingsort von Christina Buchheim (DIE LINKE).

Im Kreuzgang gen Himmel schauen Den Blick auf die Türme des Magdeburger Doms genießt Tobias Krull (CDU). Hier ist sein Lieblingsort. Rosige Aussichten in Sangerhausen

André Schröder (CDU) liebt das Europa- Rosarium Sangerhausen zu jeder Jahreszeit. Kein Wunder: Hier hat er nämlich geheiratet.

Naturlandschaft an Elbe und Mulde Eine Oase der Ruhe fern vom Alltag

Cornelia Lüddemann (Grüne) liebt an Dessau Nur einen Katzensprung liegen in Merseburg insbesondere die Auenlandschaften an den beiden historische Sehenswürdigkeiten entfernt, sagt Flüssen Elbe und Mulde. Kerstin Eisenreich (DIE LINKE).

1989 Während verschiedene SED-Altkader in Untersuchungshaft (unter anderem wegen Amtsmissbrauchs und Korruption) genommen werden, besetzen Bürger die Stasi-Bezirksverwaltungen, beispielsweise in Erfurt 1-8 und Leipzig. Dezember

28 Auf Safari im Bergzoo Halle (Saale) Ein Ort, um den Kopf freizubekommen Andreas Schmidt, Abgeordneter aus der Das FFH-Gebiet Nordspitze Peißnitzinsel ist für SPD-Fraktion hat ein Herz für Tiere. Wolfgang Aldag (Grüne) ein besonderer Ort Sein Lieblingsort ist daher echt tierisch. mitten in der Stadt Halle.

Der tollste Blick über die Stadt Köthen

Der über 100 Meter hohe Scherbelberg bietet Ronald Mormann (SPD) den Blick auf Bachschloss und Jakobskirche.

Dieser Ort lässt einen nicht mehr los Das Gartenreich Dessau-Wörtlitz gehört seit Jahrzehnten zu den Lieblingsorten von MP Reiner Haseloff (CDU). Rosige Aussichten in Sangerhausen

André Schröder (CDU) liebt das Europa- Rosarium Sangerhausen zu jeder Jahreszeit. Kein Wunder: Hier hat er nämlich geheiratet.

Stopp! – Im Verkehrsgarten Völpke Doreen Hildebrandt (DIE LINKE) liegt die Die grüne Oase ist der eigene Garten Sicherheit im Straßenverkehr am Herzen. Ihr Lieblingsort ist daher in Völpke. Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah, denkt sich auch Jürgen Barth (SPD) in seinem Garten.

1989 In Ost-Berlin konstituiert sich der Zentrale Runde Tisch der DDR mit Vertretern von Parteien, Kirchen und Bürgerbewegungen. Die Debatten und Forderungen vom Runden Tisch hatten starken Einfluss auf die Arbeit 7 der Regierung Modrow bis zur Volkskammerwahl im März 1990. Dezember

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 29 WEITBLICK

Finale. Das letzte Jahr der DDR.

as letzte Jahr der DDR ist zugleich das spektakulärste und spannendste in der Geschichte dieses Landes. DZwischen dem 7. Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990 überschlagen sich die Ereignisse. Zu den wichtigsten Geschehnissen gehören der Sturz der alten SED-Führung, die Öffnung der Mauer und die ersten demokratischen Wahlen in der DDR. Mit dem Buch „Finale. Das letzte Jahr der DDR“ ist eine Chronik entstanden, in der die für die politische Entwicklung bedeutenden Ereignisse von den Autoren in kompakter Form geschildert werden. Anhand von Dokumenten, Hintergrundmaterial, Zeitzeugenberichten und Porträts geben sie Einblicke in das langjährige Funktionieren des ostdeutschen Staates. Es ist sehr interessant, das letzte Jahr der DDR mit Hilfe dieses Buches noch einmal Revue passieren zu lassen. Beate Grau

Hannes Bahrmann, Christoph Links: Finale. Das letzte Jahr der DDR. Berlin: Links, 2019.

Wie alles anders bleibt. Geschichten aus Ostdeutschland.

eit nunmehr dreißig Jahren befindet sich die ostdeutsche Gesellschaft im Wandel. Die Autorin Jana Hensel beschäftigt sich in ihren Büchern sehr intensiv Smit Ostdeutschland. Anhand vieler Reportagen, Essays, Interviews und Porträts beschreibt sie auch in ihrem aktuellen Buch „Wie alles anders bleibt“ die Gemütslage der Ostdeutschen. Sie schreibt über Hoffnungen, Zumutungen, Enttäuschungen und vor allem über den Umgang mit ständigen Veränderungen. Ohne Bitterkeit, jedoch mit viel Einfühlungsvermögen und stets aus der Sicht der Menschen berichtet sie aus ihrer ostdeutschen Heimat. Die Schilderung von Einzelschicksalen macht die Geschichte lebendig und das Lesen sehr interessant. Die Autorin zeichnet ein aktuelles Psychogramm der ostdeutschen Gesellschaft, das bestehende Problematiken ungeschönt in den Blick nimmt und auch Fehlentwicklungen deutlich anspricht. Durch die Verdeutlichung der unterschiedlichen Sozialisation der Menschen in den zwei deutschen Staaten kann das Buch zu einer Annäherung von Ost und West beitragen und so der teilweise noch immer bestehenden Spaltung in Deutschland entgegenwirken. Beate Grau

Jana Hensel: Wie alles anders bleibt. Geschichten aus Ostdeutschland. Berlin: Aufbau, 2019.

1989 Auf einem EG-Gipfeltreffen in Straßburg wird das Recht der Deutschen auf staatliche Einheit anerkannt – aber dennoch knistert die Luft: Nicht alle europäischen Nachbarn finden an der Perspektive eines verei- 9 nigten Deutschlands Gefallen. Dezember

30 Nachwendekinder: Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen

n welchem Maße prägt die ehemalige DDR Leben und Fühlen der Generation Ostdeutscher, die in ihr aufgewachsen ist und sozialisiert I wurde? Und wie erklärt sich die häufig festzustellende Sprachlosigkeit dieser Erlebnisgeneration gegenüber den Nachgeborenen? Der Journalist Johannes Nichelmann gehört selbst zur Generation der „Nachwendekinder“, die etwa zwischen 1985 und 1992 geboren wurden und deshalb kaum einen Bezug zur verlorenen Heimat ihrer Eltern und Großeltern haben. Nichelmann geht es bei den hier beeindruckend festgehaltenen Begegnungen und Gesprächen um eine lebendige Erinnerung und ehrliche Debatten, um die Herausarbeitung auch der Grau- und Zwischentöne, um große Hoffnungen und schmerzliche Verluste. Es wäre zu begrüßen, wenn dieses Buch zum konstruktiven generationenbezogenen und gesellschaftlichen Dialog beitragen würde, der das Land bis heute teilt. Michael Rahmfeld

Johannes Nichelmann: Nachwendekinder: Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen. Berlin: Ullstein, 2019.

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

ie Reihe „Wissen“ des Beck-Verlags ist bekannt für die konzentrierte und dennoch fundierte Präsentation wesentlicher Fakten zu ganz Dunterschiedlichen Themenbereichen. Der ausgewiesene Zeithistoriker Andreas Rödder vermittelt dem Leser einen anschaulichen Eindruck über die wesentlichen Stationen der Wiedervereinigung Deutschlands. Im Zentrum der Darstellung stehen außerdem die Herausforderungen, jedoch auch die Versäumnisse dieser Zeit und die den Vereinigungsprozess prägenden Akteure. Der Autor versucht ebenfalls, eine Einordnung dieser spannenden Jahre im Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte zu entwerfen. Von besonderem Wert für eine vertiefte Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Einheit ist die umfangreiche kommentierte Auswahlbibliografie am Ende des Bandes. Michael Rahmfeld

Andreas Rödder: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung, 2. Auflage. München: Beck, 2018.

1989 Das Brandenburger Tor ist wieder offen! DDR-Ministerpräsident Hans Modrow und Bundeskanzler Helmut Kohl eröffnen unmittelbar am Brandenburger Tor eine Grenzübergangsstelle. Rund 100 000 Menschen sind 22 vor Ort dabei. Dezember

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 31 JUGENDFORUM

„Ost und West“ aus Schülersicht

Zwei Bundesländer, zwei Schulen, zwei Klassen: Das Jugendforum 2019 hat Schülerinnen und Schüler aus Sachsen-Anhalt (Oschersleben) und Niedersachsen (Meinersen) anlässlich „30 Jahre Mauerfall“ in Hannover an einen Tisch gebracht.

nter dem Motto „9. November 1989 – 30 Jahre Mauerfall“ dis- Ukutierten die Mädchen und Jungen im Landtag von Niedersachsen in Han- nover einen Tag lang über die Folgen der politischen Wende im Herbst 1989 und wie die Situation zwischen Ost und West heute insbesondere von Jugendlichen wahrgenommen wird. Die gemeinsame Veranstaltung fand auf Einladung der bei- den Landtagspräsidentinnen Dr. Gabriele Andretta und Gabriele Brakebusch statt. Der Fall der Mauer sei ein großer Tag für die Demokratiegeschichte der Deutschen gewesen, betonte Niedersachsens Land- Die Ergebnisse der beiden tagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta, Workshops wurden von denn die Menschen in der DDR hätten den Schülerinnen und auf friedlichem Wege die Mauer zum Schülern im Leibnizsaal Einsturz gebracht. Die deutsch-deutsche des niedersächsischen Teilung indes sei in Niedersachsen unmit- Landtags vorgestellt. telbar spürbar gewesen, die Grenze habe über eine lange Zeit Familien und Freun- de auseinandergerissen. Die Jugendli- Eindrücke aus der chen des Forums entstammten einer Arbeit in den Workshops Generation, die ohne Mauer und Teilung des Jugendforums 2019. aufgewachsen sei, sie hätten keine eige- nen Erinnerungen an ein Leben in zwei unterschiedlichen deutschen Staaten, so Brakebusch. Nur so könne man si- hätten klargemacht, dass das Volk sich so Andretta. Die Wiedervereinigung vor cherstellen, dass die nachgekommenen nicht länger einschüchtern lassen würde: 30 Jahren habe den Menschen im Wes- unbeteiligten Generationen nicht das In- „Unsere einzigen Waffen waren Kerzen ten, mehr noch im Osten viel abverlangt. teresse an der gemeinsamen deutschen und das Wort, und die wurden friedlich Heute gelte es, auch die Mauern in den Geschichte verlören. Niemand habe da- eingesetzt.“ Köpfen einzureißen, so Niedersachsens mit gerechnet, dass die DDR komplett Die Leiterin der Gedenkstätte Deutsche Landtagspräsidentin. zugrunde gehen würde, aber dass sich Teilung Marienborn, Dr. Annemarie Susan Sachsen-Anhalts Landtagspräsidentin Ga- „etwas tat“, das sei klar gewesen, so Baumgartl, legte mit ihrem Impulsreferat briele Brakebusch erklärte: „Wir müssen Brakebusch, die Montagsdemonstra- am Beginn des gemeinsamen Jugendfo- immer wieder über diese Zeit berichten“, tionen und die Gebete in den Kirchen rums den Grundstein für die später in

1990 Der Runde Tisch in Halle (Saale) spricht sich in seiner Sitzung gegen den neuen Nachrichtendienst der DDR aus. Stattdessen soll das Bezirksamt für Nationale Sicherheit aufgelöst und die Akten an einen sicheren 4 Ort transportiert und so vor der Vernichtung gerettet werden. Januar

32 Großes Gruppenbild auf der sogenannten Niedersachsentreppe im Landtag in Hannover.

den Workshops zu führenden Diskussi- waren eine Reihe von Fragen aufgeworfen hoben werden. Die Differenzierung von onen rund um den Themenkomplex „30 worden, für die die jungen Damen und Ost und West spiele vor allem bei den Jahre Mauerfall“. Es lohne sich, sich dar- Herren Antworten zu finden versuchten. älteren Generationen noch eine Rolle, bei über auszutauschen, woher wir kommen Eine denkbar schwierige Aufgabe, haben der Jugend von heute, so das Resultat und wohin wir gehen wollten, so Baum- doch selbst die Erwachsenen, die den der Workshoparbeit, sei das nicht mehr gartl. „Inwiefern sind wir anders oder sind Mauerfall und jene Monate davor und der Fall. Akzeptanz und Mitgefühl sollten Ost und West nur noch Konstruktionen, danach leibhaftig miterlebt hatten, bis stärker gefördert werden, ein zusätzlicher die dieser heutigen Gesellschaft gar nicht heute keine allseits befriedigenden Ant- Punkt war ein moderner Umweltschutz. mehr gerecht werden?“, fragte Baumgartl. worten gefunden: Was ist unsere Identi- Bei der Auswertung der Workshopergeb- Die Lebenserfahrungen aus 40 Jahren Ost tät? Gibt es Unterschiede zwischen der nisse diskutierten die Teilnehmer/innen und West seien mit Stand 1990 sehr un- Jugend im Osten und der im Westen? zum Abschluss des Jugendforums mit terschiedlich gewesen. Der Aufbruch ‘89 Wie wollen wir unsere gemeinsame po- den jugendpolitischen Sprecherinnen und habe viele Ideen freigesetzt, es habe aber litische Zukunft gestalten? Wofür enga- Sprechern der verschiedenen Fraktionen wenig Zeit und Raum für Verhandlungen gieren wir uns? der zwei Landtage. Hier stellten sich Im- gegeben. Heute seien die Möglichkeiten In Sachen Identität und Werte haben die macolata Glosemeyer (Niedersachsen; des Mitbestimmens und des politischen Workshopteilnehmer/innen zwischen Ost SPD), Marcel Scharrelmann (Niedersach- Engagements vielgestaltiger, diese müss- und West im Besonderen keine großen sen; CDU), Helge Limburg (Niedersach- ten nur angenommen werden. Unterschiede festgestellt. „Wir gehen in sen; Grüne) und Jan Wenzel Schmidt Den schwersten Teil des Jugendforums Ost und West alle in dieselbe Richtung“, (Sachsen-Anhalt; AfD) den zahlreichen hatten traditionsgemäß die Jugendlichen lautete das einhellige Fazit. Strukturelle Fragen und Anregungen. selbst zu bestreiten. In zwei Workshops Ungleichheiten sollten hier und dort be- Dr. Stefan Müller

1990 In Berlin wird die ehemalige Stasi-Zentrale in der Normannenstraße besetzt, die Demonstranten wollen die Akten retten. Die werden in der Tat seit dem Fall der Mauer auf Befehl Ex-Stasi-Chefs Erich Mielke gezielt 15 vernichtet, denn niemand sollte die umfassende Überwachung nachvollziehen können. Januar

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 33 JUGENDFORUM

Geschichtsstunde mal anders

Jugendliche aus Weferlingen und Helmstedt beteiligten sich in den letzten Monaten an einem Geschichtsprojekt rund um den Mauerfall vor 30 Jahren. Sie interviewten Zeitzeugen und erinnerten mit einem szenischen Spiel an die historischen Ereignisse.

ch habe mir die Grenzöffnung immer für meine Kinder und Enkelkinder ge- Iwünscht, aber wirklich vorstellen konn- te ich sie mir nicht“, sagt Landtagspräsi- dentin Gabriele Brakebusch im Rahmen des Zeitzeugenprojekts fast 30 Jahre nach dem Mauerfall. Die 65-Jährige hat eine ganz besondere Beziehung zur ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, denn sie kommt aus dem kleinen Börde- dorf Harbke, etwa acht Kilometer südlich vom Grenzübergang Marienborn. Kein Wunder also, dass die Landtagspräsi- dentin den Schülern Leonard Tiedge und Kai Wienecke vom Freiher-vom-Stein- Kai Wienecke (l.) und Leonard Tiedge vom Freiherr-vom-Stein Gymnasium in Gymnasium in Weferlingen jede Menge Weferlingen interviewen Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch im Rahmen eines spannende Dinge zu erzählen hatte. Zeitzeugenprojektes in Sichtweite der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze in Harbke. In einem Projekt der Gedenkstätte Ma- rienborn setzten sich Schülerinnen und Neben Gabriele Brakebusch wurden Neben den Zeitzeugeninterviews setzten Schüler aus dem Gymnasium Weferlin- Hans-Werner Kraul (Bürgermeister von sich die Schülerinnen und Schüler auch gen und dem Gymnasium am Bötschen- Oebisfelde-Weferlingen), Wittich Scho- künstlerisch mit dem Thema auseinan- berg in Helmstedt mit den Ereignissen bert (Bürgermeister von Helmstedt) und der. In einer Art Mini-Theaterstück stell- vom Herbst 1989 auseinander. zwei Zeitungsreporter aus der Region ten sie auf dem Helmstedter Marktplatz Für den 15-jährigen Leonard war die interviewt. Die einzelnen Sequenzen den Mauerfall dar. Die gespielten Sze- deutsch-deutsche Teilung und Wiederver- wurden anschließend im Offenen Ka- nen beschrieben kurz und exemplarisch, einigung zwar nichts völlig Neues, denn nal Magdeburg zu einem fünfminütigen jedoch durchaus bewegend verschiede- auch er lebt im ehemaligen Grenzgebiet, Film zusammengeschnitten, der am 9. ne Alltagssituationen an der innerdeut- aber das Interview mit der Landtags- November 2019 in der Gedenkstätte schen Grenze. Landtagspräsidentin Ga- präsidentin war schon etwas Besonde- Marienborn im Rahmen einer Gedenk- briele Brakebusch war sehr beeindruckt res: „Ich finde es sehr gut, auch mal feier erstmals gezeigt wurde. „Es ist von der Darstellung der Schüler. Sie hät- etwas Praktisches zu machen, denn ein hervorragendes Projekt, wenn sich ten es mit einfachen Mitteln geschafft, in der Schule bekomme ich meistens Schüler aus Sachsen-Anhalt und Nieder- sie wieder in die Zeit der politischen nur Theorie vermittelt.“ Sein Mitschüler sachsen so engagieren, finde ich das Wende und des Mauerfalls zurückzu- und er trafen die Landtagspräsidentin ganz klasse“, schwärmt Landtagspräsi- versetzen. „Ich war emotional wirklich in Sichtweite des ehemaligen Tagebaus dentin Brakebusch. Denn sie möchte, sehr berührt“, sagte sie anschließend Harbke und der Grenzlinie, gleich ge- „dass diese Zeit der Diktatur niemals und dankte den Jugendlichen für ihr En- genüber vom alten Kraftwerksgelände. in Vergessenheit gerät“. gagement. Stefanie Böhme

1990 Im Mai sollte die Volkskammerwahl eigentlich stattfinden, aber Regierung und Opposition entscheiden, sie vorzuverlegen – auf den 18. März 1990. So sollten laut Ministerpräsident Modrow die Bürger dazu 28 beitragen, „… die Situation zu bessern, zu beruhigen, zu stabilisieren.“ Januar

34 1989. Dreißig Jahre Friedliche Revolution in Magdeburg

Eine Fotodokumentation von Matthias Pavel a.k.a. Wenzel Oschington

2019 jährt sich die Friedliche Revolution in der DDR zum 30. nen ist. Weitere Einblicke vermittelt der BLOG „irgendwo – nir- Mal. Die Ausstellung zeigt Fotos aus jenen bewegten Tagen, gendwo.de“, den Pavel unter dem Namen Wenzel Oschington Wochen und Monaten, aufgenommen in Magdeburg. Fotos, führt. die Erinnerungen wecken. Mit seiner Kamera dokumentierte Matthias Pavel das Gesche- Die Ausstellung kann bis zum 20. Dezember 2019 montags hen dieser Zeit, von den ersten Montagsdemonstrationen bis bis freitags in der Zeit von 8 bis 18 Uhr kostenfrei im Land- zum Sommer 1990. Die Auswahl zeigt die historische Kund- tag besucht werden. gebung am 4. November 1989 auf dem Domplatz Magdeburg, wo sich Oberbürgermeister und Parteifunktionäre den Fragen der Bürger stellten. 50 000 Menschen auf dem Domplatz erwarteten Antworten. Fotografisch festgehalten sind auch die Demonstrationen ver- schiedener Interessengruppen (Neues Forum, SDP, SED, Allianz für Deutschland) und der sich im Verlauf der Zeit ändernde Charakter der Protestmärsche. So sind zum Beispiel Kundge- bungen der Rentner, HO-Mitarbeiter oder Studenten zu sehen, die in dem angestrebten Wandel und der Wiedervereinigung Gefahren sahen, bis hin zu den Wahlkampfauftritten westlicher Politiker auf dem Domplatz. Der Künstler ist Autor des Bildbandes „Ein Land vor langer Zeit“, das im Dezember 2016 im Verlag Ost-Nordost erschie-

Zwischenruf 04/2019 – Das Magazin des Landtags von Sachsen-Anhalt 35 Liebe Leserin, lieber Leser,

fühlt es sich nicht alle Jahre ähnlich an: Geradezu plötzlich ist die wundervolle Weihnachtszeit da! Dabei kündigt sie sich ja immer frühzeitig an mit Lebkuchen in den Geschäften, Lichterketten in den Städten, Weihnachtsmusik und -märkten und vielem mehr.

Besinnlichkeit darf sich nun einstellen, denn die Weihnacht lädt zur Muße ein. Zur Einstimmung auf das Fest gestatten Sie sich Zeiten der Ruhe, ordnen Ihre ‚Prioritätenliste‘ neu und entdecken das ein oder andere in Verges- senheit geratene Ritual wieder. Denn was gibt es Schöneres, als eine intensive Zeit mit der Familie zu verbringen, vom oftmals stressigen Arbeitsalltag abzuschalten und wieder neue Kraft zu tanken?

Ihnen, Ihren Familien und Lieben wünsche ich eine friedvolle und gesegnete Weihnachtszeit. Gehen Sie mit Dankbarkeit für das nun zu Ende gehende Jahr und mit Zuversicht, Frohsinn für das, was vor Ihnen liegt, Gesundheit und Gottes Segen in das Jahr 2020.

Ihre

Gabriele Brakebusch Präsidentin des Landtags von Sachsen-Anhalt

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