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Jahresbericht 2015 Jahresbericht

Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Jahresbericht 2015 Schwerpunktthema: Flucht, Migration, Exil Gedenken Bewahren Forschen Vermitteln

Die Stiftung soll dazu beitragen, dass das Wissen über das historische Ge­ schehen in den Jahren 1933 bis 1945, insbesondere über die Geschichte von Verfolgung und Widerstand auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen, im Bewusstsein der Menschen wach ge­ halten und weiter getragen wird.

Gesetz über die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, § 2, Abs. 1

Die Stiftung niedersächsische Gedenk- Die Stiftung niedersächsische Gedenk­ stätten erhält und gestaltet die Gedenk­ stätten unterstützt die auf das historische stätten Bergen-Belsen und Wolfenbüttel Geschehen in den Jahren 1933 bis 1945 als Orte der Erinnerung an die Leiden und dessen Folgen bezogene Forschung. der Opfer des Nationalsozialismus und Sie unterhält zu diesem Zweck eine zent­ der Opfer der Justizverbrechen sowie rale Dokumentationsstelle zur NS-Zeit in als Orte des Lernens für künftige Niedersachsen. Generationen. Die Stiftung niedersächsische Gedenk- Die Stiftung niedersächsische Gedenk­ stätten verwirklicht ihren Stiftungszweck stätten fördert Gedenkstätten und darüber hinaus durch Erinnerungsinitiativen in nichtstaatlicher • Zeitzeugengespräche, Film- und Trägerschaft durch Zuwendungen, Be­ Theateraufführungen und Lesungen; ratung und wissenschaftliche Dienst- • Sonderausstellungen, wissenschaft- leistungen. liche Tagungen und Netzwerktreffen; • Projekte im Bereich Forschung, Vermittlung und Bildung; • Fortbildungen für Gedenkstätten- mitarbeiter, Lehrkräfte und Multi- plikatoren; • Publikationen und Informations- materialien. Inhalt

EDITORIAL...... 2 Kalendarium ...... 78 Forschung und Dokumentation ...... 86 SCHWERPUNKTTHEMA FLUCHT, MIGRATION, EXIL...... 4 Archiv und Sammlung...... 88 13 Millionen Sklaven. Zwangsarbeit und Zwangsmigration Lebensgeschichtliche Interviews...... 90 im Nationalsozialismus...... 4 Namensverzeichnis der Häftlinge des Polnische und jüdische Displaced Persons im Konzentrationslagers Bergen-Belsen...... 93 DP-Camp Bergen-Belsen...... 10 Neuerwerb: Dokumente zum jüdischen Die „Auswandererkartei“ des Zentralkomitees der befreiten DP-Camp Bergen-Belsen...... 94 Juden in der britischen Zone...... 18 Neue Fotosammlungen aus dem Privatbesitz „Die Exodus 1947“ – Ein Planspiel zur Migration von Befreiern...... 96 von Displaced Persons nach dem Zweiten Weltkrieg...... 24 Bildung und Begegnung ...... 100 „Wir sprachen also darüber, wohin wir ohne Beruf, Einblicke in die Bildungs- und Vermittlungsarbeit...... 102 1 ohne Möglichkeiten fahren könnten…“ Mein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Ein Studientag zum Thema Displaced Persons...... 28 Gedenkstätte Bergen-Belsen...... 106 Neu-, das größte Flüchtlingslager „Zukunft der Erinnerung“...... 107 im Landkreis ...... 32 Die französischen Internierungslager – GEDENKSTÄTTE IN DER JVA WOLFENBÜTTEL...... 108 Spiegel einer europäischen Erinnerung (1938–1946)...... 40 Neugestaltung...... 108 Veranstaltungen...... 114 STIFTUNG ...... 48 Bildungsprojekte...... 118 Bericht des Geschäftsführers...... 48 Publikationen der Stiftung...... 52 ANMERKUNGEN ZUM ERINNERUNGS- UND Veröffentlichungen und Vorträge von Beschäftigten GEDENKJAHR 2015...... 120 der Stiftung...... 52 Projekt „Entrechtung als Lebenserfahrung“ (EaL) – GEDENKSTÄTTENFÖRDERUNG NIEDERSACHSEN...... 124 Netzwerk für Menschenrechtsbildung...... 58 Dokumentationsstelle...... 128 Projekt „Menschen achten – Rechte verstehen“ (MaRve)...... 62 Friedhöfe und Mahnmale als Gedenk- und Lernorte Projekt „Kompetent gegen Antiziganismus/Antiromaismus sowie Forschungsobjekte...... 130 (KogA) in Geschichte und Gegenwart...... 64 Bildungsarbeit...... 131 Vermittlung, Bildung und Pädagogik in der Arbeit Förderung der Gedenkstättenarbeit und der Stiftung...... 66 Erinnerungskultur durch finanzielle Zuwendungen...... 132

GEDENKSTÄTTE BERGEN-BELSEN ...... 68 GEFÖRDERTE GEDENKSTÄTTEN...... 136 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Gedenkstätte Augustaschacht...... 136 Bergen-Belsen ...... 70 Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte...... 140 Besuch des britischen Königspaares in der Gedenkstätte Gedenkstätte Esterwegen...... 144 Bergen-Belsen ...... 72 Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V...... 148 Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche und Räumungs- KZ-Gedenkstätte Moringen...... 152 transporte im April 1945 – Eine Wanderausstellung der Dokumentations- und Gedenkstätte Lager Sandbostel...... 156 Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora...... 76 Impressum...... 160

Editorial

2 Für die niedersächsischen Gedenk- denkstätte Bergen-Belsen im Juni. Auch Flüchtlingskrise. Nach Angaben des UN- stätten war 2015 ein bewegtes und be- für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Flüchtlingshilfswerkes UNHCR waren wegendes Jahr. 70 Jahre nach ihrer Be- der Stiftung war das etwas ganz beson- 2015 weltweit fast 60 Millionen Menschen freiung aus Lagern und anderen Haft- deres. Doch angesichts solcher High- auf der Flucht, vor Kriegen und Bürger- stätten kehrten weit über 100 meist lights droht die ganz grundständige, all- kriegen, Terror, politischer Verfolgung hochbetagte Überlebende des NS- tägliche Arbeit in den Gedenkstätten in und sozialer Ausgrenzung. Knapp zwei Terrors an die Orte ihres Leidens zurück, der öffentlichen Wahrnehmung manch- Prozent der Flüchtlinge kamen 2015 nach um gemeinsam mit zahlreichen Gästen mal zu verblassen. Die pädagogische Deutschland, in ein Land, das weitrei- aus dem In- und Ausland an die Befrei- Betreuung Tausender Besuchergruppen, chende historische Erfahrungen mit dem ung vor 70 Jahren zu erinnern und zu- das Sammeln und Erfassen historischer Thema Flucht, Migration und Exil hat: gleich derjenigen zu gedenken, die Dokumente, die konzeptionelle Arbeit an Hunderttausende Juden und politische nicht überlebt haben. Ausstellungen und neuen Bildungsfor- Gegner der Nationalsozialisten flüchte- Gedenken braucht Wissen und Ver- maten sind eben auf den ersten Blick ten in den 1930er Jahren aus Deutsch- mittlung. Die Gedenkstätten in Nieder- nicht so spektakulär, von Verwaltungs- land, und es wären noch deutlich mehr sachsen haben deshalb zum 70. Jahrestag tätigkeiten, der Bauunterhaltung und der gewesen, wenn die Einwanderungspoli- der Lagerbefreiungen ein breites inhalt- Grünflächenpflege ganz zu schweigen. tik in den Zielländern liberaler gewesen liches Programm zusammengestellt, das Doch genau damit beschäftigen sich die wäre. Nach Beginn des Zweiten Welt- neben den Gedenkveranstaltungen auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ge- krieges brachten die deutschen Besatzer Lesungen, Filmvorführungen, Tagungen, denkstätten mit großem Engagement je- Millionen Menschen als Zwangsarbeiter Ausstellungseröffnungen, Internet-Blogs den Tag und stellen damit sicher, dass in das Deutsche Reich, die nach dem und andere Formate umfasste mit dem an den historischen Orten würdig an die Krieg wie die KZ-Überlebenden zu Ziel einer nachhaltigen und kritischen Opfer der NS-Verbrechen erinnert wird „Displaced Persons“ wurden – oder hei- Auseinandersetzung mit der Geschichte. und zugleich eine nachhaltige Bildungs- matlosen Ausländern, wie sie die Deut- Die Bandbreite dieser Veranstaltungen arbeit im Sinne eines kritischen Ge- schen nannten. Viele DPs, insbesondere stellt Rolf Keller, Leiter der Abteilung Ge- schichtsbewusstseins betrieben werden die jüdischen KZ-Überlebenden, muss- denkstättenförderung Niedersachsen, kann. Hiervon zeugt der vorliegende ten noch Jahre nach ihrer Befreiung in im vorliegenden Jahresbericht vor. Jahresbericht. Sammellagern und Notunterkünften Ein weiterer (nicht zuletzt medialer) Auch wenn 2015 ein „Supergedenkjahr“ leben – wie auch viele Flüchtlinge und Höhepunkt des Jahres war der Besuch war – die meisten Schlagzeilen galten ei- Vertriebene aus den ehemals deutschen des britischen Königspaares in der Ge- nem anderen Thema: der sogenannten Ostgebieten. Kurzum: Nie in seiner Geschichte war Ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu 3 Deutschland mehr von Flucht und Migra- vermitteln ist das Ziel der Arbeit der Stif- tion geprägt als in den 1930er und 1940er tung niedersächsische Gedenkstätten. Jahren – für uns ein mehr als guter Grund, unserem Jahresbericht 2015 das Jens-Christian Wagner Schwerpunktthema Flucht, Migration Geschäftsführer der Stiftung und Exil voranzustellen. Essays von Stif- niedersächsische Gedenkstätten tungsmitarbeiter_innen widmen sich der europaweiten Verschleppung von Män- nern, Frauen und Kindern zur Zwangs- arbeit im Deutschen Reich sowie der Ge- schichte der DP-Camps in Bergen-Belsen und des Flüchtlingslagers Neu-Hohne. Zudem werden in der Stiftung entwickel- te spezifische Bildungsangebote zu den Themen „Fahrt der Exodus“ und „Dis- placed Persons“ vorgestellt. Dankbar sind wir dem französischen Historiker Pierre- Jérôme Biscarat von der Gedenkstätte „Maison des Enfants d'Izieu“ für seinen Gastbeitrag zur europäischen Perspektive auf die französischen Internierungslager der späten 1930er und 1940er Jahre. Die genannten Beiträge machen deut- lich, dass die aktuellen politischen Ereig- nisse eine Vorgeschichte haben, deren Kenntnis und Bewertung Voraussetzung sind für einen ethisch verantwortungs- vollen und politisch klugen Umgang mit dem Thema Flucht, Migration und Exil.

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil

13 Millionen Sklaven Zwangsarbeit und Zwangsmigration im Nationalsozialismus

Jens-Christian Wagner

Nachdruck aus: DIE ZEIT Geschichte, H. 4/2015, S. 78–84.

4 Das kleine Holzbrett mit seiner Num- ländischen Zivilbeschäftigten genannt Lücken zu füllen, die durch Einberufun- mer verdeckt fast den ganzen Oberkör- wurden. Dazu kamen noch mehrere gen zur Wehrmacht entstanden waren. per des zehnjährigen Jan Farion. Der hunderttausend KZ-Häftlinge sowie Bereits im Herbst 1939 arbeiteten meh- polnische Junge musste von Sommer überwiegend polnische und ungarische rere hunderttausend polnische Kriegs- 1943 an mit seinen Eltern nahe Aachen Juden. gefangene und Zivilisten in der deut- Zwangsarbeit in der Landwirtschaft leis- In der Ausgrenzungs- und Verfol- schen Landwirtschaft. Dazu kamen ten. Wie alle Zwangsarbeiter wurde er gungspolitik der Nationalsozialisten Tausende polnische Zivilbeschäftigte. vom Arbeitsamt registriert und für seine spielte die Zwangsarbeit von Beginn an Deren Einsatz auf deutschen Feldern war Arbeitskarte fotografiert. Den Ausweis eine wichtige Rolle. In den ersten Jahren nichts Neues: Seit vielen Jahrzehnten musste er immer mit sich führen. der NS-Herrschaft waren von ihr aller- kamen polnische Saisonarbeiter ins Jan Farion war einer von 13 Millionen dings fast ausschließlich Deutsche be- Deutsche Reich. Nun allerdings erfolgte Menschen, die während des Zweiten Welt- troffen: politische Häftlinge, sogenannte ihre Rekrutierung mehr und mehr durch krieges zur Zwangsarbeit ins Deutsche „Asoziale“ und andere verfolgte Grup- Zwang. Reich verschleppt wurden. Nie zuvor ka- pen. Das änderte sich mit Beginn des Einen Wendepunkt stellte der Winter men binnen so kurzer Zeit so viele Men- Zweiten Weltkrieges 1939. Allerdings 1941/42 dar. Im Feldzug gegen die Sow- schen nach Deutschland wie während war der Einsatz ausländischer Arbeits- jetunion war die Blitzkriegsstrategie ge- der NS-Jahre. Es gab kaum einen Be- kräfte höchst umstritten, propagierten scheitert. Spätestens als die Wehrmacht reich der NS-Gesellschaft, in dem keine die Nationalsozialisten doch eigentlich vor Moskau stecken blieb, zeichnete sich ausländischen Zwangsarbeiter anzutref- eine ethnisch reine „Volksgemeinschaft“ ab, dass der Krieg länger dauern würde fen waren. Das Spektrum reichte von In- deutscher „Herrenmenschen“. Eine als geplant. Die NS-Führung ging nun dustriekonzernen, Bergbauunternehmen „Durchmischung“ mit „Fremdblütigen“ daran, die Kriegswirtschaft grundlegend und Baukonzernen über die Landwirt- – dazu zählten sie nicht nur Juden oder zu reorganisieren. Da immer mehr deut- schaft bis zu kleinen mittelständischen Sinti und Roma, sondern zum Beispiel sche Männer als Soldaten an die Fronten Handwerksbetrieben. Auch kirchliche auch Slawen – war in ihren Augen um abgezogen wurden, mangelte es in im- und kommunale Einrichtungen sowie jeden Preis zu verhindern. mer größerem Maße an Arbeitskräften. private Haushalte profitierten von der Aus diesem Grund betrachteten die Bereits im Sommer 1941 plädierten Ver- systematischen Versklavung. Insgesamt deutschen Behörden den Einsatz auslän- treter des Reichsarbeitsministeriums da- war 1944/45 etwa jeder vierte Arbeiter discher Arbeitskräfte in den ersten für, sowjetische Kriegsgefangene in den im Deutschen Reich ein Kriegsgefange- Kriegsjahren auch nur als eine vorüber- Rüstungsfabriken einzusetzen. Auch die ner oder „Fremdarbeiter“, wie die aus- gehende Notstandsmaßnahme, um die Reichsvereinigung Kohle – ein Zusammen- schluss der Kohleproduzenten – machte tod in den von Deutschen besetzten Ge- Im Reich wurden die Neuankömmlinge 5 sich dafür stark. Doch in der Führungs- bieten zu entgehen, zum Teil noch frei- in Durchgangslagern registriert, einer riege gab es noch immer ideologische willig, von Sommer 1942 an dann nahe- Desinfektion unterzogen und anschlie- Vorbehalte. Bis zum Frühjahr 1942 ver- zu ausnahmslos unter Zwang. ßend von Mitarbeitern der Arbeitsämter dursteten, verhungerten oder erfroren Organisiert wurden die Deportationen von auf Unternehmen verteilt, die Zwangsar- mehr als zwei der insgesamt drei Millio- Thüringen aus. Hitler hatte den dortigen beiter beantragt hatten und nachweisen nen Rotarmisten in deutscher Gefangen- Gauleiter Fritz Sauckel zum „Generalbe- konnten, dass sie die nötigen Unterkünf- schaft – eines der größten Verbrechen vollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ te (häufig handelte es sich um firmenei- der Wehrmacht. Man hatte keine Veran- (GBA) berufen. Seine Mitarbeiter waren gene Sammellager) bereitstellen konnten. lassung gesehen, die Männer als poten- zumeist Angestellte in Arbeitsämtern. Bisweilen durften Unternehmer die zielle Arbeitskräfte angemessen zu er- Sauckel und seine Leute sollten dafür Zwangsarbeiter auch direkt im Durch- nähren und unterzubringen. Um Konven- sorgen, in kurzer Zeit möglichst viele gangslager mustern. Nach Berichten tionen des Kriegs- und des Völkerrechts Arbeitskräfte nach Deutschland zu brin- Überlebender ging es dabei oft zu wie scherte sich die Wehrmacht im Vernich- gen. So rekrutierten sie besonders in auf einem Sklavenmarkt. tungskrieg ohnehin nicht. Die sowjeti- Polen und in den besetzten sowjetischen Setzte man die Zwangsarbeiter in den schen Gefangenen galten als gefährli- Gebieten Menschen auf brutalste Weise, ersten Kriegsjahren meist in der Land- cher Todfeind und als minderwertige indem die Einwohner ganzer Ortschaften wirtschaft ein, stieg ihr Anteil seit 1942 „Untermenschen“ zugleich. Ihren mas- nach Deutschland verschleppt wurden. vor allem in Industrie, Bergbau und Bau- senhaften Tod nahm man billigend in Allein vom 1. April bis zum 31. Dezember wirtschaft stark an. Neben Polen, Ukrai- Kauf. 1942 verpflichteten sie nach Sauckels ei- nern, Russen und Weißrussen brachten Da Kriegsgefangene also nicht mehr in genen Angaben mehr als 1,4 Millionen Sauckels Menschenfänger von 1943 an genügender Zahl zur Verfügung standen, „Ostarbeiter“ (überwiegend Frauen und auch Arbeitskräfte aus Frankreich, den rückte die sowjetische Zivilbevölkerung Kinder; die Männer waren ja bei der Ro- Niederlanden, Belgien, dem Protektorat in den Fokus der deutschen „Arbeits- ten Armee). Wöchentlich wurden etwa Böhmen und Mähren (dem heutigen einsatz“-Politik. Bis Sommer 1944 wur- 40.000 Menschen in Güter- oder Vieh- Tschechien), aus Serbien und anderen den fast drei Millionen „Ostarbeiter“, waggons nach Deutschland transpor- besetzten Ländern ins Deutsche Reich. wie die sowjetischen Zivilarbeiter von tiert. Bis 1944 blieben die Zahlen auf ei- Erfassungsfoto von 1943 für die Arbeitskarte des zehn- den deutschen Behörden bezeichnet nem solch hohen Niveau, dass manche jährigen Jan Farion • Stiftung Polnisch-Deutsche Aus- wurden, nach Deutschland gebracht. Regionen in den besetzten Gebieten söhnung, Warschau Anfangs kamen sie, etwa um dem Hunger- bald nahezu unbewohnt waren. • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 6 Ein Sonderfall waren die Italiener. Be- als Arbeitssklaven ins Reich. Je nach sollten die unter Federführung des reits vor dem Krieg arbeiteten Zehntau- Herkunft waren die Lebensbedingungen Reichssicherheitshauptamtes formulier- sende freiwillig auf deutschem Gebiet. sehr unterschiedlich. Am schlechtesten ten „Polenerlasse“ vom März 1940 und Ihre Zahl stieg nach Kriegsbeginn auf ging es (abgesehen von den jüdischen die „Ostarbeitererlasse“ vom Februar fast 200.000 an. Die meisten waren auf Zwangsarbeitern, die aber bis 1944 vor- 1942 dienen. Diese rassistischen Regel- Grundlage eines Abkommens mit dem wiegend außerhalb der Reichsgrenzen werke schrieben etwa vor, dass die sow- Mussolini-Regime nach Deutschland ge- eingesetzt wurden) den sowjetischen jetischen und polnischen Zwangsarbeiter schickt worden. Dort wurden sie als Bür- Frauen, Männern und Kindern. Bei här- in umzäunten Barackenlagern unterzu- ger eines verbündeten Staates bis 1943 testen Arbeitsbedingungen erhielten sie bringen waren und Kennzeichen auf der deutlich besser behandelt als Arbeits- die geringsten Lebensmittelrationen und Kleidung zu tragen hatten (die „Ostarbei- kräfte aus anderen Ländern. Nach Mus- Kleiderzuteilungen, und ihre meist aus ter“ das Kürzel „OST“, die Polen ein „P“). solinis Sturz im Sommer 1943 und dem elenden Baracken bestehenden Sammel- Geringste Verstöße, etwa sogenannte italienischen Bündniswechsel unter unterkünfte waren am dichtesten belegt. „Arbeitsbummelei“, „Vertragsbruch“ Marschall Badoglio aber änderte sich Den polnischen Arbeitskräften erging es oder unerlaubtes Verlassen der Lager, das dramatisch. Die Italiener hatten nun nur wenig besser, während die überwie- wurden mit der Einweisung in „Arbeits- massiv unter den zuvor nur mühsam gend männlichen Zwangsarbeiter aus erziehungs-” oder Konzentrationslager gezügelten rassistischen Vorurteilen zu dem Westen Europas allgemein etwas geahndet. leiden. Und sie galten als Verräter – besser gestellt waren. Zahlreiche Bestimmungen betrafen „Badoglio-Schweine“ wurden sie voller Die NS-Sicherheitsbehörden und die den „verbotenen Umgang“ zwischen Verachtung genannt. Besonders traf dies ideologischen Scharfmacher betrachte- Deutschen und Ausländern. Bei sexuel- die 600.000 italienischen Soldaten, die ten den Ausländereinsatz bis zum lem Kontakt mit deutschen Frauen (oder sich nach der Absetzung des Duce ge- Schluss mit Misstrauen. Zum einen sa- auch nur dem Verdacht) drohte polni- weigert hatten, auf deutscher Seite weiter- hen sie durch die Anwesenheit derart schen und sowjetischen Männern die öf- zukämpfen, und deshalb im Herbst 1943 vieler fremder Arbeitskräfte die innere fentliche Hinrichtung. Die Strafe für die als Zwangsarbeiter nach Deutschland Sicherheit gefährdet. Zum anderen deutschen Frauen reichte von der Demü- kamen. fürchteten sie um den Erfolg ihrer tigung und Diffamierung durch Haare- Insgesamt verschleppten die deut- „Volkstumspolitik“, weil es zwangsläufig

schen Behörden bis zum Kriegsende Kontakte zu Deutschen gab. Man be- „Ich habe mich mit einem Polen eingelassen.“ Öffentli- rund achteinhalb Millionen Zivilisten und mühte sich deshalb um eine deutliche che Demütigung eines Polen und einer deutschen Frau, denen eine intime Beziehung vorgeworfen wurde, 1940. viereinhalb Millionen Kriegsgefangene räumliche und soziale Trennung. Dazu • Stadtarchiv Eisenach Abschneiden bis zu Gefängnis- oder so- bei: Niedere, schmutzige und schlechter verhindern – weil dies einige Wochen 7 gar KZ-Haft. Deutsche Männer wurden bezahlte Arbeiten wurden nach 1942 Arbeitsausfall bedeutete und die „Rein- für verbotene Kontakte zu Ausländerin- kaum noch von Deutschen verrichtet. heit“ der deutschen „Herrenrasse“ nicht nen deutlich milder bestraft. Die soziale Stufenleiter in den Betrieben gefährdet werden sollte. Im Winter Die NS-Propaganda rechtfertigte die wurde künstlich um eine oder mehrere 1942/43 weitete der NS-Staat deshalb Ausgrenzung der ausländischen Arbeits- Sprossen nach unten verlängert. Damit die Abtreibungsmöglichkeiten für Ostar- kräfte als Maßnahme, die „öffentliche stand ein noch so einfacher deutscher beiterinnen und Polinnen aus. Was den Sicherheit“ aufrechtzuerhalten. Die Aus- Arbeiter automatisch über einem aus- „wertvollen“ Deutschen verboten war, länder wurden als Gefahr dargestellt, ländischen Kollegen, den er zur Arbeit wurde für die als „rassisch minderwer- vor der es die deutsche Bevölkerung zu antreiben konnte. Gerade dieser Wandel tig“ geltenden Zwangsarbeiterinnen zur schützten gelte. Die „lagermäßige Unter- in der Sozialstruktur hat dem National- Regel: Zehntausendfach wurden bei ih- bringung“, wie das Einpferchen in be- sozialismus auch in der Arbeiterschaft nen auf Geheiß deutscher Behörden Ab- wachte Massenquartiere im NS-Jargon eine breite Zustimmung verschafft, an treibungen vorgenommen, häufig gegen hieß, half zugleich, das Bild des gefährli- der sich bis zum Kriegsende nur wenig den Willen der werdenden Mütter. Kamen chen Fremden zu untermauern – immer- änderte. in den Zwangsarbeiterlagern trotzdem hin haftete jemandem, der im Lager unter- In sämtlichen gesellschaftlichen Berei- Kinder zur Welt, mussten die Mütter we- gebracht war, automatisch das Stigma chen hielten Segregation und Selektion nige Tage nach der Niederkunft wieder des Undisziplinierten und „Gemeinschafts- die „Ordnung“ im NS-Staat aufrecht. In arbeiten – von der unzureichenden me- fremden“ an, der zur „Ordnung“ gezwun- besonders fürchterlicher Weise zeigt dizinischen Betreuung, der schlechten gen werden muss. Folglich nahmen die sich das am Umgang mit ausländischen Ernährungslage und den mangelhaften meisten Deutschen das Unrecht, das den Neugeborenen. Anfangs wurden hygienischen Bedingungen in den Mas- ausländischen Zwangsarbeitern wider- schwangere Zwangsarbeiterinnen wie- senquartieren ganz zu schweigen. fuhr, überhaupt nicht wahr, ja, oft waren der in ihre Herkunftsländer abgescho- es, wie unzählige Eingaben an Partei- ben. Doch um die Frauen als Arbeits- und Polizeidienststellen belegen, ganz kräfte nicht zu verlieren, verbot Fritz Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion bei der normale „Volksgenossen“, die ein noch Sauckel dies Ende 1942. Schwangere Ankunft im Durchgangslager Berlin-Wilhelmshagen, Dezember 1942. • Gerhard Gronefeld / DHM, Berlin drastischeres Vorgehen gegen die Zwangs- Polinnen und Ostarbeiterinnen mussten Ukrainische Familie, 1943. Die gesamte Familie wurde arbeiter forderten. fortan als dringend benötigte Arbeits- im Mai 1943 zur Zwangsarbeit nach Volzum (Kreis Wolfen- Zur Akzeptanz des Regimes trug in kräfte vor Ort bleiben. Die Behörden büttel, Niedersachsen) verschleppt. • Braunschweigischer Geschichtsverein e.V. / Niedersächsisches Landesarchiv – dieser Hinsicht noch ein weiterer Punkt setzten nun alles daran, Geburten zu Staatsarchiv Wolfenbüttel

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 8 Dass Frauen rund um die Geburt trotz- hinaus, „entsprechende Kinderlager un- zwischen 1933 und 1945 insgesamt dem unweigerlich für einige Wochen als ter Leitung von Ukrainern im General- 2,7 Millionen Zwangsarbeiter ums Leben Arbeitskräfte ausfielen, führte immer gouvernement einzurichten“. Tatsäch- – durch Überarbeitung, durch gezielten wieder zu Protest seitens der Betriebe lich wurden derartige Kinderlager nicht Mord, durch Verhungern, Erfrieren, und der lokalen Behörden. Reichsweite im besetzten Polen, sondern – bereits seit durch Krankheiten infolge katastropha- Regelungen zum Umgang mit den Neu- Anfang 1943 – überall im Deutschen Reich ler Lebensbedingungen. geborenen aber gab es nicht. Die regio- eingerichtet. Euphemistisch wurden Jan Farion hatte Glück. Der polnische nalen Instanzen hatten in dieser Angele- diese Einrichtungen „Ausländerkinder- Junge, der 1943 nach Aachen deportiert genheit daher erheblichen Handlungs- Pflegestätten“ genannt. Dorthin wurden worden war, überlebte und konnte nach spielraum. Wie sie diesen nutzten und die kurz nach der Geburt von ihren Müt- dem Krieg mit seinen Eltern in seine Hei- wie stark sie auf mörderische Lösungen tern getrennten Säuglinge gebracht. Oft mat zurückkehren. Das Erfassungsfoto setzten, wird am Beispiel des Landkreises starben sie innerhalb weniger Wochen – für seine Arbeitskarte diente ihm später, Sangerhausen im heutigen Sachsen- wie im niedersächsischen Rühen, wo als er einen Antrag auf Entschädigung Anhalt deutlich. Im Januar 1943 forderte zwischen Juni 1944 und April 1945 nach- stellte, als Nachweis, und tatsächlich be- Landrat Hans Müllenbrock (der nach weislich mindestens 350 Kinder von kam er 2004, zehn Jahre vor seinem Tod, dem Krieg die Schiedsstelle für Zuzugs- Zwangsarbeiterinnen des Volkswagen- eine wenn auch eher symbolische Sum- angelegenheiten beim West-Berliner Se- werkes starben. Die Gesamtzahl der in me zugesprochen. Den meisten seiner nat leitete), schwangere Ausländerinnen den Heimen gestorbenen Kinder auslän- Leidensgenossen war das nicht ver- in ihre Herkunftsländer abschieben zu discher Mütter ist unbekannt; sie dürfte gönnt – sie waren längst verstorben, als dürfen, obwohl der Generalbevollmäch- aber bei mindestens 50.000 liegen. sich Deutschland fast sechs Jahrzehnte tigte für den Arbeitseinsatz, Sauckel, Ähnlich brutal gingen die deutschen nach dem Krieg endlich zur Entschädi- dies verboten hatte. Nachdem Müllen- Behörden seit 1944 gegen osteuropäi- gung der Zwangsarbeiter durchrang. brock sich damit nicht hatte durchsetzen sche Zwangsarbeiter vor, die als nicht können, schlug er vor, die neugeborenen mehr arbeitsfähig galten. Tausende Kinder „in die Ostgebiete“ abzuschie- schickten die Arbeitsämter unter dem ben: „Damit wäre grundsätzlich das Pro- Vorwand angeblicher psychischer Er- blem gelöst, und die Ausländerkinder krankungen in „Euthanasie“anstalten, fielen dem deutschen Volk nicht zur etwa ins hessische Hadamar, wo sie im Last“. Im Januar 1944 wiederholte er Gas erstickt wurden. Nach Schätzungen Ausländische Arbeitskräfte im Deutschen Reich nach Nationalitäten, 1943. Abbildung aus einer deutschen seinen Vorschlag und forderte darüber des Historikers Mark Spoerer kamen Propagandabroschüre • Archives Nationales, Paris 9

Titelbild einer vom „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ herausgegebenen NS-Propagandabro- schüre, 1943 • KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 10

Elektrikerausbildung der ORT-Berufsfachschule in Bergen-Belsen, undatiert • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen

Der kleine Wojtek fährt die im DP-Camp geborene Teresa Dąbrowska mit dem Kinderwagen spazieren, vermutlich Sommer 1945. • Privatbesitz Richard Dąbrowski Polnische und jüdische Displaced Persons im DP-Camp Bergen-Belsen*

Thomas Rahe

* Zuerst veröffentlicht in: Freilegungen. Displaced Persons. Leben im Transit: Überlebende zwischen Repatriierung, Rehabilitation und Neuanfang, hg. von Rebecca Boehling, Susanne Urban und Rene Bienert (= Jahrbuch des International Tracing Service, Bd. 3), Göttingen: Wallstein 2014, S. 61–72.

Es war die spezifische Struktur der spezifischen Funktion unterstellt war, es unter den aus Polen Deportierten in 11 Häftlingsgesellschaft im Konzentrations- dazu über, in einem Prozess zunehmen- etwa gleicher Größenordnung sowohl lager Bergen-Belsen und seine räum- der Funktionserweiterungen andere jüdische als auch politische Häftlinge. liche Lage in unmittelbarer Nähe des Häftlingsgruppen, die nichts mit der ge- Um eine unkontrollierte Ausbreitung Truppenübungsplatzes Bergen-Hohne, planten Austauschaktion zu tun hatten, der unter den ehemaligen Häftlingen die die Entstehung und Entwicklung des nach Bergen-Belsen zu verlegen. Da- grassierenden Typhusepidemie zu ver- DP-Camps Bergen-Belsen vorzeichneten. durch entwickelte es sich schließlich zu hindern, bestand die britische Armee da- Entstanden war das KZ Bergen-Belsen einem Auffang- und Sterbelager, das welt- rauf, alle Befreiten in den Kasernenkom- im Frühjahr 1943. Bestimmte Gruppen weit zu einem Synonym für die national- plex des kaum zwei Kilometer entfernten jüdischer Häftlinge, die aus Sicht des sozialistischen Massenverbrechen wurde. Truppenübungsplatzes Bergen-Hohne zu Auswärtigen Amtes und der SS als wert- Mit diesen Transporten waren auch bringen. Hier sollten sie untersucht und volle Geiseln galten, sollten hier gesam- zahlreiche nichtjüdische, vor allem poli- gegebenenfalls medizinisch betreut wer- melt und für einen Zivilpersonenaus- tische Häftlinge in das KZ Bergen-Belsen den. Trotz der unverzüglich eingeleiteten tausch gegen Auslandsdeutsche bereit- gekommen. Obwohl fast alle jüdischen medizinischen Hilfeleistungen starben gehalten werden.1 Es war damit das ein- „Austauschhäftlinge“ mit drei Zugtrans- in den ersten zwölf Wochen nach der Be- zige der nationalsozialistischen Konzen- porten Anfang April 1945 noch aus Bergen- freiung noch fast 14.000 ehemalige Häft- trationslager, das ausschließlich zur Un- Belsen abtransportiert worden waren, linge Bergen-Belsens an den Folgen ihrer terbringung von jüdischen Häftlingen waren noch etwa die Hälfte der im KZ KZ-Haft. Diese Zahl wäre wohl noch höher eingerichtet wurde. Seit Frühjahr 1944 Bergen-Belsen befreiten rund 55.000 Häft- gewesen, wenn es nicht in unmittelbarer ging die SS, der das Lager trotz seiner linge Juden. Das entsprach mindestens Nähe des ehemaligen Konzentrations- einem Drittel aller auf dem Reichsgebiet 1 Zur Geschichte des Konzentrationslagers Bergen-Bel- lagers den nun großenteils als Nothospital sen vgl. Kolb, Eberhard: Bergen-Belsen. Geschichte des befreiten Juden. Anders formuliert: An genutzten Gebäudebestand des Truppen- „Aufenthaltslagers“ 1943-1945. Hannover 1962; Wenck, Alexandra-Eileen: Zwischen Menschenhandel und „End- keinem anderen Ort in Deutschland be- übungsplatzes gegeben hätte. Er war im lösung“. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Pader- fanden sich zum Zeitpunkt der Befreiung Zuge der Kriegsvorbereitungen des NS- born, München, Wien, Zürich 2000; Rahe, Thomas: Ber- gen-Belsen. Stammlager. In: Benz, Wolfgang Distel, so viele Juden wie in Bergen-Belsen. Regimes seit 1934 errichtet und ab 1936 Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nati- onalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 7, Niederha- Die größten nationalen Gruppen unter in Betrieb genommen worden. Es war der gen/Wewelsburg, Lublin-Majdanek, Arbeitsdorf, Herzo- den befreiten Häftlingen des KZ Bergen- größte Übungsplatz der Wehrmacht, auf genbusch (Vught), Bergen-Belsen, Mittelbau-Dora. München 2008. S. 187-220. Stiftung niedersächsische Belsen waren Polen und Ungarn. Während dem gleichzeitig bis zu 18.000 Soldaten Gedenkstätten (Hg.), Bergen-Belsen. Kriegsgefangenen- lager 1940-1945. Konzentrationslager 1943-1945. Dis- es sich bei den Ungarn zum weitaus für militärische Übungen untergebracht placed Persons Camp 1945-1950. Katalog der Daueraus- größten Teil um Juden handelte, gab werden konnten. Zu seinem Gebäude- stellung, Göttingen 2009.

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 12 bestand zählten u.a. 94 zweigeschossige ihrem Heimatland im Mittelpunkt. Viele Eine vergleichbare demographische Kasernenbauten für die Soldaten, 35 Offi- hatten zudem nach der Annexion der Entwicklung gab es unter den polni- ziersunterkünfte, 40 Großgaragen, polnischen Ostgebiete durch die Sowjet- schen DPs in Bergen-Belsen nicht. Hier 50 Pferdeställe und ein Lazarett mit union ihre Heimat verloren. Die jüdi- gab es nach Kriegsende keinen nennens- 200 Betten.2 Damit bot dieses Areal die schen Überlebenden aus Osteuropa hat- werten Zuzug aus Polen. Auch hatte das Voraussetzungen für die Entstehung ten alles verloren. Der größte Teil ihrer DP-Camp Bergen-Belsen für die polni- eines der größten DP-Camps im Nach- Familienangehörigen und Freunde war schen DPs zunächst in der britischen kriegsdeutschland. ermordet worden und fast alle hatten Zone keinen vergleichbar zentralen Stel- Hatten in den ersten Wochen nach der ihre materielle Existenzbasis verloren. lenwert. Von den mehr als 230.000 polni- Befreiung noch der verzweifelte Kampf Oft hatten sie auch die Kollaboration der schen DPs in der britischen Zone lebten um das Überleben vieler schwerkranker einheimischen Bevölkerung bei der national- bis Mitte 1946 zeitweise rund 10.000 in ehemaliger Häftlinge im Nothospital und sozialistischen Judenverfolgung miter- Bergen-Belsen. Im jüdischen DP-Camp die Repatriierung der Überlebenden im lebt. Mit dem Kriegsende war der Anti- Bergen-Belsen lebten dagegen bis zu Mittelpunkt gestanden, rückte seit dem semitismus in ihren Herkunftsländern seiner Auflösung Mitte 1950 im Durch- Herbst 1945, nach dem vorläufigen Ab- zudem keineswegs verschwunden. Ins- schnitt etwa 50 Prozent aller Juden in schluss der Repatriierung, die Funktion besondere in Polen gab es immer wieder der britischen Zone. Unterschiedlich des Kasernenareals als Displaced-Persons- antisemitische Vorfälle. Als Anfang Juli waren auch die Verfolgungserfahrungen Camp in den Vordergrund. Nun war un- 1945 bei einem Pogrom in Kielce 42 Ju- der polnischen DPs einerseits und der übersehbar, dass es hier zwei Gruppen den ermordet wurden, nahm die Ausrei- jüdischen DPs andererseits. Während es unter den DPs gab, die nicht oder jeden- se jüdischer Holocaustüberlebender aus sich bei den Polen sowohl um ehemalige falls vorerst nicht repatriiert werden Polen in die westdeutschen Besatzungs- KZ-Häftlinge als auch um befreite wollten: Polen und Juden osteuropäi- zonen geradezu fluchtartige Formen an. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter scher Herkunft. Ihre Motive für die Ver- Da diesen Flüchtlingen in der britischen handelte, waren die jüdischen DPs zu- weigerung der Repatriierung waren Zone der DP-Status zunächst verweigert nächst in ihrer überwältigenden Mehr- durchaus unterschiedlich. Bei den polni- wurde, entschied sich die große Mehrheit heit Überlebende der nationalsozialisti- schen DPs stand die Ablehnung des nun für die amerikanische Zone. Dennoch ent- kommunistisch dominierten Regimes in wickelte sich das DP-Camp Bergen-Belsen Zweiter Kongress der befreiten Juden in der britischen Zone vom 20. bis 22. Juli 1947, Eröffnungsveranstaltung 2 Vgl. Olaf Mußmann, Geschichte des Truppenübungs- 1946 mit zeitweise 12.000 Bewohnern zu im Kinosaal des DP-Camps Bergen-Belsen. Unter dem platzes Bergen, Münster 1996, S. III und 31; Work at dem mit Abstand größten jüdischen DP- „Judenstern“ steht in hebräischer Schrift „Jiskor“ Belsen, April-Juni 1945 (The National Archives, London: (Erinnere Dich) • Yad Vashem Archive, Jerusalem, Josef WO 205/1142). Camp im Nachkriegsdeutschland. Rosensaft Collection FA 186_288 schen Vernichtungs- und Konzentrations- gierung vertrat die Position, dass das Belsen waren kurz nach der Befreiung 13 lager. Die Kategorie „Zivile Zwangsar- Judentum lediglich eine Religion sei, so Komitees entstanden, die ihre Interes- beiter“, die einen Großteil der polnischen dass die jüdischen Überlebenden der NS- sen vertreten sollten. Aus dem Protokoll- DPs ausmachte, gab es unter ihnen Verfolgung nicht als eine eigene, nationale buch des Polnischen Komitees, das sich praktisch nicht. Gruppe zu behandeln seien – eine Ein- bereits am 16.4.1945 konstituierte, geht Für beide Gruppen von Displaced Per- stellung, die wesentlich auch auf die po- hervor, dass es sich ausdrücklich um die sons gab es zunächst kaum Auswande- litischen Eigeninteressen Großbritanniens Einbeziehung jüdischer DPs in das polni- rungsmöglichkeiten. Länder wie die USA, als Mandatsmacht in Palästina zurückging, sche Komitee bemühte. So gehörte in Kanada und Australien hielten an ihrer die die britische Regierung durch eine der Anfangsphase Ada Bimko, die später kriegsbedingten restriktiven Einwande- jüdische Staatsgründung gefährdet sah. den gewählten Leiter des jüdischen DP- rungspolitik fest und auch die Einreise Folglich wurden die polnischen Juden Camps, Josef Rosensaft, heiratete und nach Palästina, wo der erhoffte Juden- zusammen mit den nichtjüdischen Polen als einzige Frau Mitglied im Zentralkomi- staat entstehen sollte, wurde von der untergebracht usw. Während dies die tee der befreiten Juden in der britischen Mandatsmacht Großbritannien nur in sehr ausdrückliche Unterstützung durch die Zone (mit Sitz im DP-Camp Bergen- geringem Umfang zugelassen. So waren Interessenvertreter der polnischen DPs Belsen) war, laut Protokollbuch zu den die Displaced Persons gezwungen, auf fand, lehnten die jüdischen DPs diese jüdischen Mitgliedern des Polnischen unbestimmte Zeit in Deutschland zu Politik der Briten strikt ab. Unter dem Komitees.3 Noch in seiner Sitzung vom bleiben. Eindruck ihrer Erfahrung des Völker- 6.6.1945 beschloss das polnische Vorrangiges Ziel der Alliierten im Blick mords an den europäischen Juden und Komitee, den Vorsitzenden des Jüdi- auf die von ihnen auf deutschem Boden ihrer Schutzlosigkeit hatte sich die Mehr- schen Komitees, Josef Rosensaft, in den angetroffenen DPs war deren schnelle Re- zahl der Überlebenden dem Zionismus patriierung. Dafür war ihre Registrierung zugewandt und sah für sich nur in einem 3 Vgl. Protokollbuch des polnischen Lagers in Bergen- Belsen (Protokollbuch), Archiv des Verbandes ehemali- entsprechend ihrer Staatsangehörigkeit jüdischen Staat in Palästina eine Zukunft. ger politischer Häftlinge des Konzentrationslagers vor dem Krieg und eine nach Nationali- Ihrer politischen Grundposition ent- Bergen-Belsen, Warschau. Vgl. zum Folgenden auch Karl Liedke/Christian Römmer, Das polnische DP-Camp Bergen- täten gegliederte Unterbringung schon sprechend wurden von den Briten die Belsen, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialisti- schen Verfolgung in Norddeutschland 12 (2010), S. 65-74. aus organisatorischen Gründen notwen- jüdischen Vertretungskörperschaften zu- Dieser Beitrag ist bislang die einzige Veröffentlichung dig. Der Lebenssituation und dem gewan- nächst nicht anerkannt und die Koopera- zur Geschichte des polnischen DP-Camps Bergen-Belsen. delten Selbstverständnis der jüdischen tion mit ihnen verweigert. Sowohl unter Überlebenden wurden die Briten damit den polnischen als auch unter den jüdi- Wohnsituation im DP-Camp Bergen-Belsen, undatiert jedoch nicht gerecht. Die britische Re- schen Überlebenden des KZ Bergen- • Wiener Library/London, II-2-05_WL1895

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 14 Vorstand des Polnischen Komitees Antisemitismus unter den Polen im DP- sche DP-Camps in der britischen Zone, zu- aufzunehmen.4 Camp Bergen-Belsen ab und forderte mal dies auch ihrer Politik der nationalen Auf Dauer konnten die Briten ihren das Jüdische Komitee auf, „eine Fest- Homogenisierung der DP-Camps ent- Konfrontationskurs gegenüber den jüdi- stellung herauszugeben, dass die Ein- sprach. Seit September 1946 war Bergen- schen DPs nicht durchhalten. So wurde stellung der Polen gegenüber den Juden Belsen damit ein DP-Camp ausschließ- im Lauf der zweiten Jahreshälfte 1945 im Lager positiv sei.“6 Die jüdischen lich für jüdische Displaced Persons. allmählich eine Unterbringung jüdischer Funktionäre nahmen diese Vorfälle im Das Leben im DP-Camp blieb gleich- DPs in Bergen-Belsen in gesonderten DP-Camp auch vor dem Hintergrund der wohl in hohem Maße politisiert, denn es Häuserblocks nur für Juden hingenom- antisemitischen Ausschreitungen in Po- waren die (welt-)politischen Entwicklun- men, was vom Polnischen Komitee um- len wahr. So war in der 5. Ausgabe der gen, die für das weitere Schicksal der gehend kritisiert wurde, das betonte, jiddischsprachigen Lagerzeitung Unzer jüdischen DP’s von entscheidender Be- dass „man weder Rassen– noch Religions- Sztyme zu lesen: „Der militante Antise- deutung waren.8 Diese Politisierung war unterschiede unterstreichen“ dürfe.5 mitismus in unserer ehemaligen Heimat in Bergen-Belsen noch ausgeprägter als Diese zunehmende räumliche Differen- ist für uns kein neues Phänomen. Zu gut in den jüdischen DP-Camps der amerika- zierung in ein polnisches und ein jüdi- kennen wir die Psyche der polnischen nischen Zone, da die jüdischen DPs hier sches DP-Camp konnte jedoch die Span- Oberschicht und der Landbevölkerung, unmittelbar mit den Briten als einfluss- nungen zwischen den beiden Gruppen, als dass wir wegen der sadistischen reichstem Gegner der jüdischen Staats- die immer wieder auch zu gewalttätigen Pogrome lautstark um Hilfe schreien

Auseinandersetzungen führten, nicht möchten, die von unseren ehemaligen 8 Vgl. zum Folgenden Angelika Königseder/Juliane auflösen. Für die jüdischen DPs waren Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs Leidensgenossen, den ehemaligen pol- (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, sie Ausdruck eines unverminderten pol- nischen Häftlingen in deutschen Konzen- Frankfurt/M. 2004, S. 173-218; Hagit Lavsky, New Begin- nings. Holocaust Survivors in Bergen-Belsen and the nischen Antisemitismus. Das Polnische trationslagern und von Kriegsgefangenen British Zone in 1945-1950, Detroit 2002; Nicola 7 Schlichting, „Öffnet die Tore von Erez Israel“. Das jüdi- Komitee stritt dagegen die Existenz von organisiert werden.“ sche DP-Camp Bergen-Belsen 1945-1948, Nürnberg Aus den anhaltenden Konflikten zogen 2005; Thomas Rahe, Bergen-Belsen. Das jüdische Dis- 4 Bezeichnenderweise werden in den Erinnerungsbe- placed-Persons-Camp, in: Herbert Obenaus (Hg.), Histo- richten bzw. autobiographischen Aufzeichnungen von die Briten schließlich die Konsequenz risches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Nieder- Hadassah und Josef Rosensaft das Polnische Komitee und verlegten Mitte 1946 die polnischen sachsen und Bremen, Bd. 1, Göttingen 2005, S. 198-211; und die Rolle, die Juden in ihm spielten, mit keinem Erik Somers/René Kok (Hg.), Jewish Displaced Persons Wort erwähnt. Vgl. Josef Rosensaft, Our Belsen, in: DP’s aus Bergen-Belsen in andere, polni- in Camp Bergen-Belsen 1945-1950. The unique Photo Belsen. Published by Irgun She’erit Hapleita Me’Haezor Album of Zippy Orlin, Zwolle 2003. Habriti, Tel Aviv 1957, S. 24-57; Hadassah Rosensaft, 6 Protokollbuch, Eintrag zur Sitzung vom 8.10.1945. Yesterday. My Story, Washington 2004. 7 Paul Trepman, Das Thema Polen, in: Musikveranstaltung im jüdischen DP-Camp Bergen- 5 Vgl. Protokollbuch, Eintrag zur Sitzung vom 7.7.1945. Unzer Sztyme 29.11.1945, S. 6. Belsen, 1948 • Gedenkstätte Bergen-Belsen gründung in Palästina konfrontiert wa- Die jüdischen DPs vollzogen in Bergen- Belsen anfangs nahezu ausschließlich 15 ren. Erst mit der Staatsgründung Israels Belsen durch den Aufbau quasi-staatli- um KZ-Überlebende, so bildeten bald im Mai 1948 entschärfte sich dieser cher Institutionen wie des Zentralkomitees die Juden die Mehrzahl, die den Holo- Konflikt spürbar. der befreiten Juden in der britischen caust in Ghettos oder im Versteck, in Der Zionismus war für die jüdischen Zone (als „Regierung“ des jüdischen DP- Partisanenverbänden oder in östlichen DPs jedoch mehr als nur ein Programm Camps) einer eigenen Polizei und eines Territorien der Sowjetunion überlebt für den politischen Kampf um die jüdi- Lagergerichts, von Schulen, Einrichtungen hatten. sche Staatsgründung. Auch für die Mehr- beruflicher Bildung, politischen Parteien Mit den Emissären des Yishuv und sei- zahl jener, die für sich selbst eher in etc. den Prozess der jüdischen Staats- ner politischen Parteien und Organisati- den USA oder anderen Einwanderungs- werdung in ihrem eigenen Lebensum- onen nahmen seit 1946 parteipolitische ländern eine Zukunft sahen (oft weil dort feld. Zugleich hatten diese Institutionen Differenzierungen und Konflikte im DP- noch die einzigen Verwandten lebten), auch die Funktion einer praktischen Vor- Camp deutlich zu, während die Soldaten bildete der Zionismus eine gemeinschafts- bereitung auf das künftige Leben in Israel, der Jüdischen Brigade, die im Sommer stiftende Basis. Er war mehr als nur eine insbesondere im Blick auf die Hebräisch- 1945 in das DP-Camp gekommen waren, politische Konsensposition, sondern bot kurse und die Berufsausbildung. In eher das Gemeinschaftsgefühl gestärkt als eine historisch-politische Definition dieser Hinsicht glich das jüdische DP- hatten. des Judentums und plausible Deutung Camp Bergen-Belsen geradezu einer Deutlich unterschiedlich war auch der der eigenen Verfolgungserfahrung im Hachschara. Grad der religiösen Bindung unter den Holocaust auch eine persönliche Orien- Das jüdische DP-Camp Bergen-Belsen jüdischen DPs in Bergen-Belsen. Zwar tierung. Er war deshalb nicht zuletzt war zunächst und vor allem eine Schick- waren hier alle für die Aufrechterhaltung auch für jene, die ihren religiösen Glau- salsgemeinschaft. Die jüdischen DPs des religiösen Lebens im orthodoxen Sin- ben durch die Erfahrung des Holocaust verband die Schockerfahrung des Holo- ne notwendigen Institutionen vorhanden. verloren hatten, zu einem Sinnreservoir caust, der sie entwurzelt und zu einer so- Nimmt man jedoch das Bemühen, die jü- geworden. Er prägte daher nicht nur das zialen Gemeinschaft ganz eigener Art dischen Speisegesetze einzuhalten bzw. politische Handeln, sondern alle Berei- zusammengeführt hatte. Dies bedeutete die Nachfrage nach koscheren Lebens- che des Lebens im jüdischen DP-Camp, jedoch nicht, dass sie frei von Konflikten mitteln als Indikator, so praktizierten vom Schulunterricht für die Kinder über und in sozialer Hinsicht homogen war. die kulturellen Aktivitäten bis hin zu Schon die Verfolgungserfahrungen wa- Abschlusszeugnis der Auto- und Motoradschule im den Organisationsformen des sozialen ren durchaus unterschiedlich: Handelte polnischen DP-Camp Bergen-Belsen für Janina Platek, 1946 • Gedenkstätte Bergen-Belsen, Schenkung Janina Lebens. es sich bei den jüdischen DPs in Bergen- Platek

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil Bild einfügen

16 allenfalls 20 Prozent der DPs eine strikt Kind ums Leben kamen. Rosensaft wur- für zahlreiche jüdische DPs ihre Heirat jüdisch-orthodoxe Lebensführung. Auch de 1911 im polnischen Bęndzin geboren, und die Gründung einer eigenen Familie. wenn sich die jüdische Campleitung war seit seiner Jugend Zionist gewesen Mindestens 1.500 Kinder wurden hier bis darum bemühte, durch die Bereitstellung (in der links gerichteten Poale Zion) und Mitte 1950 geboren. Die enorme Zahl der materiellen Voraussetzungen und hatte die Konzentrationslager Auschwitz, und Bedeutung von Eheschließungen entsprechende soziale Regelungen Dora und Bergen-Belsen überlebt. Sein und Familiengründungen im DP-Camp (etwa im Blick auf die Einhaltung des autokratischer Führungsstil machte ihn resultierte nicht nur aus dem Verlust der Sabbat im DP-Camp) eine jüdisch-ortho- zu einem unter den jüdischen DPs zwar meisten oder sogar aller Familienange- doxe Lebensführung zu ermöglichen nicht unumstrittenen, aber doch respek- hörigen im Holocaust, sondern hatte bzw. zu erleichtern, kam es doch immer tierten und wichtigsten Repräsentanten auch mit der ganz außergewöhnlichen wieder zu Konflikten zwischen der religi- des DP-Camps Bergen-Belsen wie auch demographischen Struktur der jüdi- ösen Orthodoxie einerseits und der Camp- zum einflussreichsten Vertreter jüdischer schen DP-Gemeinschaft vor allem in der leitung bzw. säkular-zionistisch orien- Belange in der britischen Zone insge- Anfangsphase zu tun. Unter den Überle- tierten Juden andererseits, die u. a. zur samt. Dazu trug nicht nur seine persönli- benden gab es kaum Kinder und Ältere. Bildung separater Organisationen der che Autorität, sondern auch sein selbst- Die große Mehrzahl der jüdischen DPs Orthodoxie innerhalb des DP-Camps und bewusst-kämpferisches und weitgehend war zwischen 15 und 35 Jahre alt. Erst einer Verweigerung der Kooperation mit erfolgreiches Auftreten gegenüber der mit der starken Zuwanderung von Juden, dem Zentralkomitee führten. britischen Militärregierung bei. Dass das die den Holocaust in der Sowjetunion Dass insgesamt jedoch die politischen, Verhältnis zwischen den aus Osteuropa überlebt hatten, kamen seit 1946 sozialen und religiösen Gegensätze die stammenden jüdischen DPs und den re- verstärkt jüdische Familien mit Angehö- Binnensolidarität im DP-Camp nicht lativ wenigen überlebenden deutschen rigen mehrerer Generationen nach ernsthaft gefährdeten, war auch das Ver- Juden in der britischen Zone insgesamt Bergen-Belsen. dienst charismatischer Führungsfiguren weniger von Spannungen und offenen Auch wenn die jüdischen DPs das Le- wie Norbert Wollheim als Vertreter der Konflikten geprägt war als in der ameri- ben im DP-Camp als einen durch das deutschen Juden im Zentralkomitee der kanischen Zone, war nicht zuletzt auch Fehlen von Emigrationsmöglichkeiten befreiten Juden in der britischen Zone das Verdienst der beiden charismatischen erzwungenen Aufenthalt im Land der und insbesondere Josef Rosensaft als Führungspersönlichkeiten Rosensaft

dessen Vorsitzenden. Wollheim, 1913 in und Wollheim. Demonstration in Bergen-Belsen gegen die zwangsweise Berlin geboren, hatte Auschwitz über- Das wichtigste soziale Ereignis ihres Rückführung der Exodus-Passagiere, 7. September 1947 • Yad Vashem Archive, Jerusalem, The Josef Rosensaft lebt, während dort seine Frau und sein Lebens im DP-Camp Bergen-Belsen war Collection, FA 186-316 Mörder empfanden, so boten die DP- trauerten. Die Schicksalsgemeinschaft sich nur außerhalb Europas, vor allem in Camps in mancher Hinsicht doch spezifi- des DP-Camps verstand sich gerade vor einem jüdischen Staat in Palästina eine sche Möglichkeiten, die in dieser Form diesem Hintergrund auch als Erinnerungs- Zukunft. Sie bereiteten sich auf die Aus- und Intensität nach der Emigration nicht gemeinschaft. Keine größere politische wanderung in Staaten und Gesellschaf- mehr gegeben waren. Dies galt in be- Veranstaltung im DP-Camp fand ohne ten vor, die für sie in vieler Hinsicht neu sonderem Maße für die Erinnerungskul- ein explizites Gedenken an die jüdischen waren, deren Sprachen und kulturelle tur. Erinnerung war für die jüdischen Opfer der NS-Verfolgung statt. Regeln sie erst noch erlernen mussten. Überlebenden der NS-Verfolgung zu- Auch dem kulturellen Leben im DP- Das kurze Wiederaufleben der durch den nächst vor allem ein physischer und psy- Camp kam in diesem Kontext eine spezi- Holocaust weitgehend zerstörten jiddisch- chischer Zustand. Ihre Erinnerung an die fische Funktion zu.10 So führte das im sprachigen Kultur des osteuropäischen erlebte Verfolgung manifestierte sich in Sommer 1945 im DP-Camp entstandene Judentums in den DP-Camps würde in Hunger, Schwäche, unterschiedlichsten jiddischsprachige „Kazet-Theater“ nicht ihren neuen Heimatländern keine Fort- Krankheitssymptomen, fortdauernder nur unterhaltende Stücke aus der Traditi- setzung finden. Angst und Einsamkeit.9 Erst allmählich on des jiddischen Theaters auf, sondern Für die polnischen DPs blieb dagegen wandelte sich die Erinnerung zu einem auch von seinem Regisseur Samy Feder Polen und seine nationale Kultur der zen- stärker intellektuell gestalteten Prozess selbst verfasste Stücke, die in den Ghettos trale Bezugspunkt ihres Lebens auch im und je stärker er sich in kulturellen und sowie den Vernichtungs- und Konzentrati- DP-Camp. Sie hatten ihre polnische politischen Medien entfaltete, umso onslager spielten und die von den Zu- Staatsangehörigkeit behalten und konn- deutlicher sichtbar war seine kollektive schauern selbst erlebte Verfolgung im ten sich jederzeit für eine Repatriierung Dimension. Die intensive Politisierung Sinn eines „reenactments“ auf die Bühne nach Polen entscheiden. Ihr kulturelles, des Lebens im jüdischen DP-Camp präg- brachten. Weder ein so zusammenge- soziales und politisches Leben sollte vor te auch seine Erinnerungskultur. Sie hat- setztes Publikum noch eine solche Art allem dazu dienen, in der polnischspra- te schon deshalb eine starke kollektive von Theater gab es nach der Auswande- chigen Kultur verwurzelt zu bleiben und Komponente, weil die spezifische Quali- rung in Israel oder anderen neuen sich selbst und vor allem die Kinder und tät des Holocaust einer individuellen Heimatländern. Jugendlichen der nationalen polnischen Erinnerung an seine Opfer enge Grenzen Viele der politischen, sozialen und kul- Gemeinschaft nicht zu entfremden. Die setzte. Die Leichen waren in Bergen- turellen Aktivitäten und Institutionen wie meisten der polnischen DPs hatten noch Belsen wie in den meisten anderen La- sie sich im jüdischen DP-Camp Bergen- Familienangehörige in Polen. Dies dürfte gern in überwiegender Zahl verbrannt, Belsen entwickelten, finden sich auch im wohl der Hauptgrund dafür sein, dass ihre Asche verstreut worden. Die nicht polnischen DP-Camp, trotz seiner kürze- sich schließlich rund 70% der polnischen verbrannten Leichen waren anonym in ren Existenzdauer.11 So gab das Polni- DPs in der britischen Zone doch für die Massengräbern beigesetzt worden und sche Komitee z.B. schon ab Mai 1945 ein Repatriierung nach Polen entschieden. kaum einer der Überlebenden im DP- tägliches Informationsblatt heraus, das Erst mit der Gründung des Staates Camp Bergen-Belsen wusste, in welchem über politische und ökonomische Ent- Israel im Mai 1948 gab es für die meisten der Massengräber seine Angehörigen wicklungen und über die Situation in jüdischen DPs die Möglichkeit einer le- 17 bestattet waren. In vielen Fällen war zu- Polen berichtete. Deutlich früher als galisierten Emigration aus Deutschland. dem unbekannt, wann genau die Ange- beim jiddischen „Kazet-Theater“, näm- Die erhalten gebliebene Auswanderer- hörigen umgekommen waren, so dass lich schon im Mai 1945, gab es die erste kartei des jüdischen DP-Camps belegt, es keine gesicherten Daten für ein indivi- Vorstellung des von polnischen DPs or- zumal in Verbindung mit den Schätzun- duelles Jahrzeit-Gedächtnis gab. Zudem ganisierten „Internationalen Kabaretts“. gen zu der in der Kartei nicht berücksich- war der Holocaust ein zutiefst auf das Ähnliche Parallelen finden sich im Blick tigten illegalen Auswanderung aus dem jüdische Volk als Kollektiv zielendes auf die Gründung von Schulen, berufli- DP-Camp Bergen-Belsen nach Palästina Massenverbrechen gewesen. Dem ent- cher Ausbildung und sportlicher Aktivi- seit 1945, dass die meisten der jüdischen sprachen im DP-Camp kollektiv gestaltete täten. Auch viele polnische DPs heirate- DPs aus Bergen-Belsen schließlich nach Daten und Formen der Erinnerung wie ten im DP-Camp Bergen-Belsen, mehr Palästina bzw. Israel emigrierten. z.B. „Trauerakademien“ (gemeinschaftli- als 200 polnische Kinder wurden hier che Trauerzeremonien) oder festgesetzte geboren. Daten für ein kollektives Jahrzeit-Gedächt- Eine detaillierte, nicht nur phänome- nis. Der genozidale Charakter der NS- nologische Betrachtung zeigt jedoch, Judenverfolgung und seine demogra- dass es trotz aller Parallelen doch auch, phischen Folgen prägten die Erinnerungs- gerade in kultureller und politischer Hin- kultur gleichermaßen. Anders als in ihrem sicht, wesentliche Unterschiede zwischen deutschen Umfeld waren es im DP- dem polnischen und dem jüdischen DP- Camp nicht die Kinder, die Alten und die Camp gab. Für die jüdischen DPs kam Frauen, die um die jüngeren Männer als eine Repatriierung nicht mehr in Frage. Opfer des Krieges trauerten, sondern Die große Mehrzahl von ihnen sah für vor allem die jüngeren Männer und Frau- 10 Zum kulturellen Leben im jüdischen DP-Camp Bergen- en, die um ihre Eltern und die Kinder Belsen vgl. Sophie Fetthauer, Musik und Theater im DP- Camp Bergen-Belsen. Zum Kulturleben der jüdischen Displaced Persons 1945-1950, Neumünster 2012; Thomas 9 Vgl. zum Folgenden Thomas Rahe, Rückkehr in die Rahe, Kultur im jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen. Be- Zeit. Erinnerung im Übergang vom Konzentrationslager dingungen und Strukturen, in: Habbo Knoch/Thomas zum jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen, in: Janine Doer- Rahe (Hg.), Bergen-Belsen – Neue Forschungen, (Bergen- ry/Thomas Kubetzky/Katja Seybold (Hg.), Das soziale Belsen – Dokumente und Forschungen, Band 2), Göttin- Gedächtnis und die Gemeinschaften der Überlebenden. gen 2014, S. 206-225. Bergen-Belsen in vergleichender Perspektive, (Bergen- Belsen – Dokumente und Forschungen, Band 3), Göttin- 11 Vgl. zum Folgenden K. Liedke/Ch. Römmer gen 2014, S. 197-213. (wie Anm. 3).

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil Die „Auswandererkartei“ des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone

Katja Seybold

18 Prolog 10.000 Juden vor allem aus Polen und auch als Erfolg der eigenen politischen Ungarn. Schließlich ordneten die Briten Bemühungen.3 Nach der Befreiung erhielten die im Herbst 1945 die Trennung in ein polni- Viele osteuropäische Juden wollten aus ganz Europa nach Deutschland ver- sches und ein jüdisches DP-Camp Bergen- nicht in ihre Heimatländer zurückkehren. schleppten KZ-Häftlinge, Kriegsgefange- Belsen an. De facto jedoch lebten die jüdi- Sie hatten dort keine materielle Existenz- nen und Zivil- und Zwangsarbeiter_in- schen und nichtjüdischen DPs eng beiein- grundlage mehr und zumeist ihre Famili- nen von den Alliierten den Rechtstatus ander und in einigen Fällen lebten sie in en und Freunde verloren. Überdies sahen „Displaced Person“ (DP).1 Damit besaßen denselben Blocks. Anhaltende Auseinan- sie sich mit politischen Entwicklungen sie u.a. einen Anspruch auf medizinische dersetzungen zwischen den beiden Grup- und antisemitischen Ausschreitungen in Versorgung, Verpflegung, Kleidung und pen veranlassten die Briten im Sommer ihren Herkunftsländern konfrontiert, was Repatriierung, d.h. auf eine Rückkehr in 1946, das polnische DP-Camp aufzulösen.2 auch in vielen Fällen zur Entscheidung ihre Heimatländer. gegen eine Repatriierung beitrug. Einen Bis auf große Gruppen polnischer und Die jüdische Auswanderung dauerhaften Verbleib in Deutschland jüdischer DPs erfolgte die Repatriierung aus Bergen-Belsen konnte sich jedoch kaum jemand vor- der am 15. April 1945 in Bergen-Belsen stellen. Zudem hatte die Erfahrung des befreiten Personen noch im selben Jahr. Das DP-Camp war aus der Sicht der Mehr- Holocaust das Selbstverständnis der Im Sommer 1945 waren zudem etwa zahl der jüdischen Displaced Persons meisten jüdischen Überlebenden nach- 6000 (jüdische und nichtjüdische) Über- eine zeitlich befristete Schicksalsgemein- haltig verändert. Sie verstanden den lebende Bergen-Belsens zur medizini- schaft und zugleich ein erzwungener nationalsozialistischen Massenmord an schen Betreuung nach Schweden ge- Aufenthalt im Land der Täter, der sobald den europäischen Juden als Bestätigung bracht worden. Zurück blieben etwa wie möglich durch eine Emigration – vor des Zionismus, der die Juden als Nation 10.000 nichtjüdische Polen und etwa allem nach Palästina bzw. Israel – been- definierte und Anspruch auf einen eige- det werden sollte. Daher begrüßten die nen Staat der Juden in Palästina erhob. 1 Vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Zurückbleibenden jede Auswanderung Zu den weiteren Zielen der jüdischen Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in West- deutschland 1945–1951, Göttingen 1985, S. 16. Die Inter- aus dem DP-Camp und verstanden sie DPs zählten die klassischen Einwande- national Refugee Organization (IRO) formulierte es in rungsstaaten wie die USA, Kanada und Abgrenzung zu Flüchtlingen wie folgt: „Others were en- gulfed by the Nazi tide and wrenched from their home- 2 Zur Geschichte des polnischen DP-Camps siehe Karl Australien. lands to serve as slave labourers on German farms and Liedke/Christian Römmer, Neuanfang. Das polnische DP- in German factories. In other words, they were ‚dis- Camp Bergen-Belsen 1945–1946, in: Habbo Knoch/Thomas 3 Der erste legale Transport nach Palästina mit etwa placed‘ to serve the Nazi State and they became known Rahe, Bergen-Belsen. Neue Forschungen (Bergen-Belsen – 400 DPs verließ Bergen-Belsen im März 1947. Die Ab- as ‚displaced persons‘.“ International Refugee Organiza- Dokumente und Forschungen, Band 2), Göttingen 2014, fahrt der Auserwählten wurde als „Sieg über Hitler“ tion (Hg.), The Facts about Refugees, Geneva 1948. S. 242–256. gedeutet. Vgl. Unzer Sztyme, Nr. 19, 15.4.1947, S. 32. Die Auswanderung der DPs wäre ohne Programm, mit dessen Hilfe sämtliche DP-Camps nach Frankreich und Italien 19 die Unterstützung verschiedener Hilfs- Informationen zu einem DP und seinen zu bringen, um sie von hier aus nach Pa- organisationen nicht möglich gewesen. Auswanderungsdaten dokumentiert lästina einzuschiffen. Es war eine Emig- Ein wichtiger Partner für die Emigration wurden. Die Organisation prüfte u.a., ob ration, die eher einer Flucht glich und nach Palästina war die Jewish Agency for der DP-Status und die damit verbundene mit vielen Strapazen und Gefahren ver- Palestine (JAfP). Sie entsandte bereits Fürsorge gerechtfertigt waren. Beim In- bunden war. im Herbst 1945 Emissäre aus Palästina ternational Tracing Service (ITS) in Bad nach Bergen-Belsen. Das American Arolsen liegen etwa 350.000 dieser so- Legale Emigration nach Palästina/Israel Joint Distribution Committee (AJDC), genannten CM/1-Akten. Eine Auswertung das ab Juli 1945 im DP-Camp tätig war, für DPs in der britischen Zone und insbe- Ab März 1947 ermöglichte die britische unterstützte die DPs materiell und ideell sondere für diejenigen, die sich in Bergen- Mandatsmacht durch eine Erhöhung der in vielen alltäglichen Belangen und half Belsen aufhielten, steht noch aus. limitierten Einwanderungszertifikate mit einem Suchbüro in Bergen-Belsen nach Palästina, dass nun eine größere beim Auffinden von Verwandten und Illegale Emigration nach Palästina/Israel Gruppe von DPs legal nach Erez Israel Bekannten – zwei wichtige Aspekte, die auswandern konnte. Die Aktion trug den neben der beruflichen Perspektive in die Für jene DPs, die nicht länger bereit Namen „Grand National“.4 Auf die briti- Entscheidung der DPs für ein Emigrations- waren, erneut in einem lagerähnlichen sche Zone entfielen monatlich etwa 300 ziel einflossen. Zustand zu leben und auf unabsehbare Zertifikate, der Großteil davon auf DPs, Eine wesentliche Rolle in der DP-Für- Zeit auf eine Auswanderungsmöglichkeit die in Bergen-Belsen lebten. Bis zur sorge und in Auswanderungsfragen zu warten, blieb bis 1947 fast nur die ille- Staatsgründung Israels im Mai 1948 spielte ab Juli 1947 die International Re- gale Emigration nach Palästina. Die briti- konnten auf diese Weise etwa 4000 DPs fugee Organization (IRO), die damit die sche Regierung versuchte hingegen, aus der britischen Zone legal nach Paläs- Aufgaben der United Nations Relief and eine von ihr nicht kontrollierte massen- tina auswandern. Rehabilitation Organization (UNRRA) über- hafte Einwanderung von Juden nach Pa- nahm. Zugleich änderte sich die DP-Poli- lästina zu verhindern. Sie befürchtete 4 Vgl. Technical Instruction No. 13, Emigration of Jewish Displaced Persons to Palestine, Operation „Grand tik: Erstmals wurde auch die Möglichkeit u.a. politische Konflikte zwischen den National“, 3.2.1947, The National Archives, London, FO 1071/41. einer Auswanderung der DPs (neben der Arabern und Juden im Nahen Osten. bereits von Beginn an angestrebten Re- Der zionistischen Fluchthilfeorganisa- patriierung) als Ziel bestimmt. Die IRO tion Bricha gelang es dennoch, zahlrei- Karte der Auswandererkartei, ausgestellt für David Mlynowski • Yad Vashem Archive, Jerusalem, The Josef installierte ein „Care and Maintenance“- che Juden aus Osteuropa bzw. aus den Rosensaft Collection, O.70/55

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 20 Trotz der Staatsgründung Israels und gesetz diese Einschränkungen auf.5 auf ihren Kongressen kategorisch fest- der damit verbundenen legalen Einreise- Die Entscheidung für eine Emigration gestellt, dass es in Deutschland nach möglichkeit gab es zeitweise noch Ein- in ein anderes Land als Israel bedeutete dem Holocaust keine jüdische Gemein- schränkungen: Jüdischen DPs in der bri- jedoch zumeist keine Distanzierung vom schaft mehr geben könne und dürfe. tischen Zone, die im militärfähigen Alter Zionismus. Viele Juden hielten die Exis- Diese Mahnung zur Auswanderung waren, erteilte die britische Militärregie- tenz eines jüdischen Staates für notwen- wurde nun vor allem von Israel aus wie- rung bis Ende Januar 1949 keine Aus- dig, auch wenn sie nicht selbst dort ein- derholt und intensiviert. Israel kündigte wanderungsgenehmigung aus der briti- wanderten, sei es, weil sie Verwandte 1949 an, die Arbeit seiner Institutionen schen Zone nach Palästina. in anderen Ländern hatten, sei es, weil in Deutschland zu beenden. Ende Sep- sie nicht die Kraft hatten, am kollektiven tember 1950 wurden in Deutschland die Legale Emigration in andere Länder Existenzkampf des Staates Israel Büros der Jewish Agency geschlossen. teilzunehmen.6 Zudem ging Mitte 1950 auf Initiative Neben den beschränkten Möglichkei- der Alliierten die administrative Zustän- ten einer Emigration nach Palästina gab Schlussphase des DP-Camps digkeit für die DP-Camps bzw. die DPs es bis 1948 kaum Gelegenheiten für eine auf die 1949 gegründete Bundesrepublik Auswanderung in andere Länder. Auch In den letzten Monaten vor Schließung Deutschland über. Zu diesem Zeitpunkt die klassischen Einwanderungsländer des DP-Camps Bergen-Belsen nahm der befand sich das DP-Camp Bergen-Belsen wie die USA und Kanada behielten ihre Druck auf die jüdischen Displaced Per- bereits in Auflösung. Zurück blieben kriegsbedingten, strikten Einreisebedin- sons, die noch nicht ausgewandert wa- etwa 1000 „‘hard core‘ cases”, d.h. DPs, gungen bei und ließen zunächst nur we- ren, stark zu. Sie selbst hatten schon ab die zumeist aufgrund ihrer Erkrankungen nige Fachkräfte einreisen, die sie für Frühjahr 1945 in ihren Publikationen und nicht auswandern konnten bzw. keine 7 ihren Arbeitsmarkt benötigten. 5 Hier ist die Rede vom „Displaced Persons act of 1948“, Aufnahme in einem Land fanden. Kein Dies änderte sich erst nach einer Libe- einem US-amerikanischen Bundesgesetz, das am Staat wollte sich mit hohen finanziellen 25. Juni 1948 verabschiedet und 1950 von einem modifi- ralisierung des Einwanderungsgesetzes zierten „DP act“ abgelöst worden war. Zeitlich fällt der Ausgaben belasten, ohne selbst einen Beschluss des ersten „DP acts“ in die Zeit nach der in den USA im Juli 1948, das jedoch nur Staatsgründung Israels – ein Indiz dafür, eine massen- solchen DPs die Einreise gestattete, die hafte Zuwanderung von jüdischen DPs in die USA zu 7 Die Angaben zur Anzahl der nach Upjever verlegten verhindern. DPs differieren und liegen zwischen 600 und 1000. vor dem 22. Dezember 1945 in einem 6 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass DP-Camp registriert worden waren. Erst die Mehrheit der Mitglieder des Zentralkomitees der be- 1950 hob ein neues Einwanderungs- freiten Juden in der britischen Zone, die beständig für Karte der Auswandererkartei, ausgestellt für Etel die Öffnung der Tore von Erez Israel warben, in andere Bobrowska • Yad Vashem Archive, Jerusalem, The Josef Länder als Palästina/Israel emigrierte. Rosensaft Collection, O.70/43 Gewinn von den Einwanderern zu ha- später zum Leiter des Zentralkomitees komitees der befreiten Juden in der bri- 21 ben. Die unerwünschten DPs wurden im der befreiten Juden in der britischen tischen Zone (ZK) mit Sitz in Bergen- Sommer 1950 von Bergen-Belsen in das Zone (ZK) gewählt worden. Er spielte ne- Belsen vom 21. Juni 1946,10 in dem das DP-Camp Upjever im Landkreis Fries- ben weiteren Mitgliedern des ZK eine ZK an die jüdischen Komitees und Ge- land gebracht, dessen Pforten sich ein zentrale Rolle bei den Bemühungen und meinden in der britischen Zone appel- Jahr später schlossen. Auseinandersetzungen um eine rasche liert, namentliche Aufstellungen der Mit- Auswanderung der jüdischen DPs, vor glieder mit dazugehörigen persönlichen Zur Quelle Auswandererkartei allem nach Palästina bzw. Israel. Angaben und dem letzten Wohnort vor Im Findbuch der Gedenkstätte Yad der Verfolgung zu schicken. Die Begrün- Das Original der sogenannten Aus- Vashem sind die Einzelkarten den jewei- dung für dieses Vorgehen lautet: „Die wandererkartei befindet sich heute in ligen Ländern, in die die DPs emigrierten, Listen werden in Zusammenhang mit der der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusa- zugeordnet. Die Kartei umfasst etwa Auswanderung zum Zwecke der Richtig- lem/Israel und gehört zum Bestand der 10.200 Karten und stellt damit eine der stellung unserer Zentral-Kartothek benö- dortigen Josef Rosensaft Collection.8 umfangreichsten namensbezogenen tigt.“ Weiter heißt es: „Die Listen sind Der im Konzentrationslager Bergen- Quellen zum DP-Camp Bergen-Belsen getrennt für Männer, Frauen, Kinder bis Belsen befreite Josef Rosensaft9 war kurz dar. 2012 erfolgte die Erfassung der 12 J., Kinder von 12-18 Jahren sowie nach der Befreiung zum Leiter des jüdi- Karteneinträge in einer Datenbank der Männer und Frauen über 60 J. zu füh- schen Komitees und wenige Wochen Gedenkstätte Bergen-Belsen, wodurch ren.“ Die Einteilung in die Alterskohor-

8 Siehe Yad Vashem Archive, Jerusalem, The Josef eine empirische Auswertung ermöglicht ten erfolgte vermutlich hinsichtlich der Rosensaft Collection (YVA RC), O.70/43-60. wird. Beurteilung, wer in einem arbeits- bzw. 9 Josef Rosensaft, geb. 1911 in Będzin, wurde als Jude wehrfähigen Alter war. Tatsächlich fin- verfolgt. 1943 deportierte ihn die Gestapo nach Ausch- witz. Nach der Haft in verschiedenen Konzentrationsla- Statistische Auswertung der Kartei – den sich diese Angaben denn auch in gern kam Rosensaft mit einem Räumungstransport des Einführung fast allen Karten. KZ Mittelbau-Dora Anfang April 1945 nach Bergen-Belsen. Nach der Befreiung avancierte er zu einem der wichtigs- Was sich hinter der Zentral-Kartothek ten Funktionäre des jüdischen DP-Camps Bergen-Belsen. Seine Funktion als Vorsitzender des Zentralkomitees der Die Auswandererkartei enthält keine verbirgt und wie diese aufgebaut war, ist befreiten Juden in der britischen Zone übte er auch nach Angaben zur illegalen Emigration nach Verlegung des DP-Camps Bergen-Belsen nach Upjever 10 Vgl. ebd., O.70/15. bis zu dessen Schließung im August 1951 aus. Er gehör- Palästina, d.h. zahlreiche Personen fehlen. te damit zu einem der ZK-Vertreter, die ab 1945 bestän- dig für die Auswanderung der DPs warben. Nach einem Des Weiteren können keine Angaben zu Aufenthalt in der Schweiz emigrierte Josef Rosensaft im den Anfängen der Kartei gemacht wer- Karte der Auswandererkartei, ausgestellt für Hermann Jahr 1958 mit seiner Familie in die USA, wo er 1975 Chojna • Yad Vashem Archive, Jerusalem, The Josef starb. den. Es existiert ein Aufruf des Zentral- Rosensaft Collection, O.70/59

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil bislang ebenso wie ihre Überlieferung Aufteilung nach Ländern werden: Es gibt etwa 7100 Einträge für nicht geklärt. Indes scheint klar, dass die Polen, 700 für Rumänien, etwa 680 für Verantwortung für diese Kartothek in In dieser Übersicht sind die vier Länder Ungarn. In weitaus geringerer Anzahl den Händen des ZK lag. Somit spiegelt hervorgehoben, die zu den klassischen finden sich Einträge für Litauen, die sich in der Auswandererkartei zumindest Einwanderungszielen zählten, was die Sowjetunion, Österreich, Lettland, die ein Teil der Zentral-Kartothek wider. Zahlen belegen. Da die illegale Auswan- Slowakei, Belgien, die Niederlande, Allein jedoch hätte das ZK die mit einer derung nach Palästina hier nicht erfasst Frankreich und Palästina. Auswanderung verbundenen Aufgaben wurde, lagen die Zahlen der Emigrierten nicht bewältigen können. Hier spielten aus Bergen-Belsen dafür weit höher. Weitere Auswertungsergebnisse verschiedene im DP-Camp tätige Hilfsor- Josef Rosensaft spricht im August 1951 ganisationen wie die JAfP, AJDC, UNRRA von 23 000 jüdischen DPs, die seit 1945 In der ehemaligen Wehrmachtskaser- und IRO eine gewichtige Rolle. die britische Zone verlassen hatten.11 ne lebten die DPs in den auch als Blocks Demnach umfasst die Kartei knapp die bezeichneten Kasernengebäuden, in de- Zu den Zahlen Hälfte aller Emigrierten. nen zu Zeiten des Nationalsozialismus

Land Gesamt Land 1947 1948 1949 1950 1951 Argentinien 6 Australien 13 36 63 0 0 Australien 119 Kanada 13 620 116 9 0 Belgien 3 Palästina/ 2706 2068 2187 30 117 Bolivien 4 Israel Brasilien 1 USA 1 1 1255 269 103 Kanada 783 Chile 1 Es verwundert nicht, dass sich in der Soldaten untergebracht waren. Die Bri- England 32 Kartei die jeweilige Migrationspolitik ten behielten die Bezeichnungen und niederschlägt. So machten sich der Nummern der einzelnen Blocks bei. Für Ecuador 1 Kartei zufolge mehr als 7100 DPs auf den etwa 6200 Personen lässt sich die Block- Frankreich 15 Weg nach Palästina/Israel, davon etwa angabe im DP-Camp Bergen-Belsen und Palästina/Israel 7148 2000 im Jahr 1948 und davon wieder- in einigen Fällen auch die Zimmernummer Italien 12 um etwa die Hälfte vor der Staatsgrün- im jeweiligen Block ermitteln. Diese Neuseeland 4 dung Israels. Bei den USA spiegelt sich spielen für die Erforschung der Ge- der „DP act“ von 1948 wider: In Folge Norwegen 35 schichte des DP-Camps Bergen-Belsen des Bundesgesetzes vom Sommer 1948 eine wesentliche Rolle. Es ist bekannt, Paraguay 15 wanderten 1949 etwa 1250 DPs und 1950 dass die politischen, religiösen und so- 22 Rhodesien 9 etwa 500 in die Vereinigten Staaten aus. zialen Gruppen dicht beieinander bzw. Schweden 56 Aus dem DP-Camp Upjever wanderten in ein- und demselben Block wohnten. Schweiz 5 1951 mindestens 231 DPs nach Israel, Beispielhaft sei hier der sogenannte 12 Uruguay 2 in die USA und nach Argentinien aus. Jeschiwa-Block genannt. Im November Die etwa 280 DPs, denen die Einwande- 1945 wurde die Jeschiwa (Talmud-Hoch- USA 1758 rung verweigert wurde, mussten in noch schule) im DP-Camp Bergen-Belsen ge- keine Angabe 179 bestehende jüdische DP-Camps in Bayern gründet. Sie hatte ihren Sitz im Block umziehen.13 Mit diesem Umzug endete MB 52. Anhand der Auswandererkartei Wie bereits erwähnt, umfasst die Aus- die Ära jüdischer DP-Camps in der ehe- können 80 Personen als Bewohner_innen wandererkartei insgesamt etwa 10.200 maligen britischen Besatzungszone. dieses Blocks eindeutig identifiziert wer- Karten für die Jahre von 1947 bis 1951. den. Bei einigen von ihnen ist bekannt, Lediglich vier Karten weisen in der Zeile Herkunft dass sie der bereits kurz nach der Befrei- „Datum der Auswanderung“ das Jahr ung gegründeten Chewra Kaddisha 1945 (3) bzw. 1946 (1) auf. Es lässt sich In mehr als 8000 Fällen ist der Ge- (hebr., Heilige Beerdigungsbruderschaft) nicht feststellen, ob hier ein Versehen burtsort angegeben. Dazu zählen auch angehörten und sich um die Bestattung vorliegt – dabei handelt es sich genau die Angaben zu 870 Kindern, die im jüdi- der jüdischen Verstorbenen kümmerten. um die beiden Jahre, in denen die Zahl schen DP-Camp Bergen-Belsen geboren Bei anderen ist bekannt, dass sie als Mo- der illegal nach Palästina Emigrierten worden sind. Das entspricht etwa der hel (ein für die Beschneidung ausgebilde- sehr hoch lag. Hälfte aller im DP-Camp geborenen Kin- ter Fachmann) und als Herausgeber religi- In manchen Fällen ist ein- und dieselbe der.14 Auch auf die Nationalitäten kann öser Schriften tätig waren. Für andere Person auf mehr als einer Karte verzeich- aufgrund dieser Angabe geschlossen Blocks kann eine solche Differenzierung net. Zumeist ist dies auf differierende ebenso erfolgen. Das bedeutet, dass mit- Schreibweisen des Namens zurückzufüh- 11 Vgl. Schreiben des Vorsitzenden des ZK, Josef Rosen- hilfe der Karteikarten nicht nur eine de- saft an den Land Commissioner von Niedersachsen, Bri- ren. Nicht alle Personen, die in der Kartei gadier Gibson, Hannover, 15.8.1951, YVA RC, O.70/11. mographische, sondern auch eine sozio-

genannt sind, lebten auch im DP-Camp 12 118 DPs emigrierten nach Israel, 105 in die USA und kulturelle Auswertung erfolgen kann. Bergen-Belsen. Zur Registrierung für die zwei nach Argentinien. Bei sechs Personen findet sich Bei etwa 9600 Personen ist eine „D.P. keine Länderangabe. Auswanderung war es nötig, vor Ort zu No.“ angegeben. Diese Nummer ent- sein; zwar erforderte dies keinen dauer- 13 Zu dieser Zahl siehe YVA RC, O.70/11. sprach derjenigen Nummer auf der soge- haften Aufenthalt in Bergen-Belsen, wohl 14 Dazu zählen auch die 290 Kinder, die im Jahr 1945 in nannten „D.P. Index Card“, die von der Bergen-Belsen das Licht der Welt erblickten und deren aber in der britischen Zone. Mütter nichtjüdisch waren. Allied Expeditionary Force eingeführt worden war. Die Card galt als persönli- 23 ches Dokument, ausdrücklich nicht als Pass, wies den Inhaber aber als DP aus und sicherte ihm somit die damit verbun- dene Fürsorge. Die Nummer tauchte in je- dem offiziellen Dokument auf, sei es in Namenslisten, auf persönlichen Doku- menten oder in IRO-Papieren und diente als wichtige Referenz. Erwähnenswert ist auch, dass sich in der Auswandererkartei für 636 Personen detaillierte Verfolgungswege durch die deutschen Ghettos und Konzentrations- lager finden lassen. Es handelt sich hier um DPs, die 1950 und 1951 vor allem in die USA und nach Israel einwanderten. Zusätzlich sind bei diesen Karten die Ge- burtsnamen der Frauen genannt, was sonst nicht vorkommt. Die Gründe für diese Erweiterung der Angaben sind nicht bekannt. Abschließend bleibt zu konstatieren, dass die Kartei noch viele weitere An- knüpfungspunkte für eine empirische Auswertung bietet.

Karte der Auswandererkartei, ausgestellt für Moniek Heber • Yad Vashem Archive, Jerusalem, The Josef Rosensaft Collection, O.70/52

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil „Die Exodus 1947“ Ein Planspiel zur Migration von Displaced Persons nach dem Zweiten Weltkrieg

Anja Schade

24 Im Rahmen des aus dem europäischen Vorüberlegungen zur zwingen), bot sich ein Schwerpunkt an, Sozialfonds (ESF) finanzierten Projekts Seminarkonzeption in dem sich Teilnehmende mit dem Phä- „Entrechtung als Lebenserfahrung“ nomen Migration – hier auf der Basis der wurden seit 2008 historische Inhalte zum Der Themenkomplex der Displaced historischen Migration jüdischer DPs – Nationalsozialismus, wie sie sich nicht Persons nach dem Zweiten Weltkrieg all- aus verschiedenen Perspektiven nähern zuletzt aus der Geschichte des Lagers gemein und in Bergen-Belsen im Beson- können. Bergen-Belsens ergaben, in der pädago- deren ist einem fachfremden Publikum Hinsichtlich eines möglichen Transfers gischen Arbeit aufgegriffen. nach wie vor eher unbekannt. Somit lag zu anderen Migrationsbewegungen Einen Themenschwerpunkt stellte es nahe, sich diesem Thema im Rahmen stellte sich die Herausforderung, keine hierbei die Auseinandersetzung mit der der pädagogischen Vermittlungsarbeit beliebigen Analogien zu evozieren und Geschichte des Displaced Persons- der Stiftung niedersächsische Gedenk- dabei historische und aktuelle Migrations- Camps (DP-Camps) Bergen-Belsen so- stätten verstärkt zuzuwenden. Daraufhin themen unterschiedslos nebeneinander- wie seiner Bewohner_innen dar. Nach wurde im Projekt „Entrechtung als Le- zustellen. Vielmehr sollte der Migrations- der Befreiung des Konzentrationslagers benserfahrung“ ein Planspiel erarbeitet, prozess und die damit verbundenen Bergen-Belsen am 15. April 1945 durch erprobt und weiterentwickelt. Der As- Themenkomplexe wie die Bedeutung die britische Armee entstand auf dem pekt „Migration“ innerhalb des Themen- der Sprache, langes Warten respektive nahe gelegenen ehemaligen Kasernen- gebietes „DP-Camp“ rückte dabei aus Ungewissheit über den Fortgang der gelände der Wehrmacht das DP-Camp zwei Gründen in den Fokus der Seminar- Reise, Abhängigkeit von anderen Perso- Bergen-Hohne. Die Bewohner_innen des konzeption: Zum einen war die Frage nen oder die Frage nach den eigenen größten DP-Camps im norddeutschen nach dem „Wohin“ und die Suche nach Handlungsoptionen aufgegriffen Raum waren KZ-Überlebende verschie- einer neuen Heimat der tragende Gedan- werden. dener Herkunft und Glaubensrichtungen, ke insbesondere jüdischer DPs, die nicht Aufgrund der Vorüberlegung, ein nied- die von der britischen Armee in ihre Her- in ihre Heimatstaaten zurückkehren rigschwelliges Bildungsangebot zu ent- kunftsländer repatriiert werden sollten. konnten oder wollten. Zum anderen ist wickeln, fiel die Entscheidung, dieses Vor allem nichtjüdische Pol_innen sowie das Thema Migration in der heutigen Seminarmodul mit der Methodik „Plan- jüdische Befreite widersetzten sich jedoch Gegenwart ebenfalls sehr präsent. Da es spiel“ durchzuführen. Mit Hilfe eines diesem Vorhaben. Viele der Letzteren ein dem Projekt „Entrechtung als Lebens- Planspiels können komplexe Themenge- blieben dort, bis zur Auflösung des DP- erfahrung“ immanentes Ziel war, einen biete eingehender vermittelt werden, Camps im Sommer 1950. Gegenwartstransfer zu historischen und die Teilnehmenden partizipieren er- Themen zu ermöglichen (nicht zu er- fahrungsorientiert an den Lerninhalten. Erfordernisse herkömmlicher Vermitt- und für die pädagogische Umsetzung Der Ablauf des Planspiels 25 lungsmethoden wie sprachliches Aus- aufbereiten lassen. drucksvermögen und Konzentrationsfä- Grundsätzlich ist die Teilnahme am higkeit beim Lesen längerer Texte rücken Rahmen des Seminars und Zielgruppe Planspiel freiwillig, und es besteht für in den Hintergrund. Dem Anspruch der jede_n Teilnehmer_in die Möglichkeit, je- Stiftung niedersächsische Gedenkstät- Das Planspiel stellt den Kern des derzeit aus dem Geschehen auszustei- ten allgemein und des Projekts „Ent- Seminars dar. Insgesamt umfasst das gen. Das Spiel besteht aus sieben Statio- rechtung als Lebenserfahrung“ im Be- Seminarmodul zwei Tage. Da die DP- nen, die sich stark an den historischen sonderen, inklusive Seminarmodule zu Thematik tendenziell unbekannt ist, ist Begebenheiten der Exodus-Fahrt sowie entwickeln, konnte auf diese Weise eine ausführliche Einführung in das his- den Erlebnissen der Passagiere besser entsprochen werden. torische Setting unumgänglich. Diese orientieren. Passend zu einer sehr dynamischen erfolgt an einem dem Planspiel vorange- Ausgangssituation Methode wie dem Planspiel fiel die Ent- stellten Thementag in der Ausstellung Angelehnt an die authentischen Erfah- scheidung zur Darstellung des Migrations- der Gedenkstätte Bergen-Belsen, die ei- rungen ehemaliger Exodus-Passagiere prozesses jüdischer DPs auf die Über- nen eigenen Ausstellungsteil zum DP- lernen die Teilnehmenden anhand von fahrt mit einem der 63 Schiffe, die Euro- Camp enthält. Die Einführung in den Rollenbeschreibungen die Situation eu- pa zu Zeiten des britischen Mandats in historischen Rahmen des Planspiels um- ropäischer Jüdinnen und Juden nach Richtung Palästina verließen. Die „Pre- fasst ebenfalls eine kurze Darstellung dem Zweiten Weltkrieg kennen, deren sident Warfield“, besser bekannt unter der Situation in Palästina seit dem Ers- Ziel die Auswanderung nach Palästina ihrem späteren Namen „Exodus 1947“, ten Weltkrieg sowie die damalige Rolle war. Da nicht nur DPs an Bord der Exo- war eines dieser Schiffe, die im Zeitraum der britischen Mandatsmacht. Das dus waren, werden in den Beschreibun- von 1945 bis zur Gründung des Staates Planspiel selbst ist ortsunabhängig und gen neben den „klassischen“ DPs auch Israel am 14. Mai 1948 ihre Fahrt über kann somit außerhalb der Gedenkstätte ungarische Jüdinnen und Juden vorge- das Mittelmeer begannen. Die Fahrt der Bergen-Belsen durchgeführt werden. stellt, die den Weltkrieg im Budapester „Exodus 1947“ ist publizistisch gut er- Es ist für Jugendliche ab Klassenstufe 9, Ghetto überlebten, sowie polnische schlossen. Eine Vielzahl von Dokumen- aber ebenso für Multiplikator_innen ge- Flüchtlinge nach den Pogromen 1946. ten und Berichten liegt vor, anhand de- eignet. Die Materialien sind auf Deutsch rer sich die Fahrt an sich wie auch die und Englisch vorhanden und wurden be- Ereignisse zuvor und danach in ihrer reits mit mehreren Altersgruppen sowie Teilnehmende finden sich in ihre Rolle ein, deutsch-israelischer Multiplikator_innenaustausch, Vielschichtigkeit sehr gut nachvollziehen in beiden Sprachen verwendet. Mai 2013 • Anja Schade

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 26 Die Teilnehmenden lernen ebenfalls britischen Marine aufgeteilt. Mittels sowie eine Auslandsarbeitsvermittlung. die jüdische Untergrundorganisation Aktionskarten wird der Verlust von Ge- Das Ende des Planspiels stellt die Grün- Bricha kennen, welche die Begleitung päckstücken simuliert. Die Passagiere dung des Staates Israels dar, die allen der Flüchtlinge gewährleistete, sowie müssen die Rückreise nach Frankreich Teilnehmenden erlaubt, nun legal aus- die Motivation einzelner Mitglieder, in antreten. zuwandern. dieser Organisation zu arbeiten. Hafen Port-de-Bouc Im Anschluss erfolgt eine umfangrei- Der Weg zur „Exodus“ und die Fahrt Die Teilnehmenden haben wie die Pas- che Reflexionsrunde, die mit der Möglich- über das Mittelmeer sagiere damals einen längeren Stopp an keit eines Gegenwarttransfers endet. Die Teilnehmenden werden aufgefor- der französischen Küste sowie die Mög- dert, drei Gepäckstücke aus einer Liste lichkeit, von Bord zu gehen. Den „Exodus“- Erfahrungen mit dem Planspiel auszuwählen und sich gemeinsam auf Passagieren bot 1947 die französische in der Durchführung den Weg zur „Exodus“ zu begeben. Die Regierung die Möglichkeit auf Asyl in Bricha-Mitglieder sind dabei die einzi- Frankreich an. Diese Möglichkeit erhal- In den Reflexionsrunden wurde grund- gen, die einen Wegeplan erhalten und ten die Teilnehmenden im Planspiel sätzlich deutlich, welches Potential das die Route kennen. Es werden Hindernis- ebenfalls. Zur Verdeutlichung der Spra- Genre Planspiel bei der Vermittlung his- se simuliert, die den Weg durch Europa chenrelevanz erfolgen Informationen für torischer Ereignisse bietet. Die Frage bis zur französischen Küste erschweren. die Passagiere erneut in Fremdsprachen: nach der Zusammenstellung des Ge- So verzögert etwa die Geburt eines diesmal auf Französisch und Englisch. päcks (und somit die Setzung von Priori- Kindes die Weiterreise, oder es ergeben Teilnehmenden, die auf dem Schiff blei- täten), die langen Wege durch Europa, sich Transportschwierigkeiten. Nachdem ben, wird kurz vor Verlassen der Station die Verunsicherung beim Verlassen des die Teilnehmenden das „Schiff“ – den offenbart, dass das nächste Ziel Ham- Schiffes oder beim Gang durch die Des- nächsten Raum – betreten haben, zeigt burg sein wird. Im Anschluss gehen sie infektion bei der Station Pöppendorf eine Powerpoint-Darstellung anhand zur nächsten Station. waren Anhaltspunkte, die in der Auswer- von Fotos, Interviewausschnitten und Hamburg und Lager Pöppendorf tung auftauchten und die mit herkömm- überlieferten Tagebucheinträgen die Er- Nach ihrer Ankunft in Hamburg errei- lichen Vermittlungsmethoden schwer zu eignisse während der Fahrt nach Haifa. chen die Teilnehmenden das Lager Pöp- demonstrieren sind. Haifa pendorf. Dort durchschreiten sie an den In der Reflexion mit Schulklassen wur- Die Passagiere müssen die „Exodus“ damaligen Umständen orientierte Bege- de deutlich, dass die Beschäftigung mit verlassen. Die Teilnehmenden werden in benheiten: Desinfektion, Registrierung, dem Schicksal europäischer Jüdinnen englischer Sprache auf drei Schiffe der Austeilung von „Exodus“-„Ausweisen“ und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg in deutschen Schulen kaum Beachtung die Fahrt auf der „Exodus“, an der fran- deutlich, dass es vielschichtige Anknüp- 27 findet. Die Auseinandersetzung mit der zösischen Küste, während der Registrie- fungspunkte und Transfermöglichkeiten Frage, wie es nach dem Überleben des rung). Der im Planspiel temporär ent- von der Geschichte in die Gegenwart Holocaust weiterging, stieß bei den standene Leerlauf, in dem verhältnis- gibt. Schüler_innen auf großes Interesse. mäßig wenig passierte, wurde in der Die Themen Nationalsozialismus sowie Die Beschäftigung mit den Rollenbe- Nachbesprechung mit den Teilnehmen- historische und gegenwärtige Migration schreibungen in der ersten Phase des Plans- den intensiv thematisiert sind Bestandteil des Curriculums – das piels nahm viel Raum ein und wurde von In der Reflexion wurden sowohl seitens Planspiel ermöglicht im Rahmen der Ge- den Teilnehmenden im Anschluss an das der Jugendlichen als auch der Multipli- denkstättenarbeit unkonventionell und Planspiel jeweils sehr positiv hervorge- kator_innen sehr schnell Bezüge zur ak- fächerübergreifend, das Thema DPs als hoben. Bereits in der DP-Ausstellung der tuellen Flüchtlingssituation hergestellt. kausale Folge des NS und als Bestand- Gedenkstätte war es den Teilnehmenden Anknüpfungspunkte hierfür waren die teil der Geschichte Bergen-Belsens in möglich, sich intensiv mit Aussagen von Faktoren Sprache (und deren Nicht-Ver- den Fokus zu rücken und gleichzeitig die Zeitzeug_innen zu befassen. Dass die stehen) in der Kommunikation mit Auto- Brücke zu Inhalten wie Migration und Rollenbeschreibungen keine authenti- ritäten und Behörden, die Dauer der Flüchtlingsrechten zu schlagen. schen Biografien darstellten, tat dem In- Reise oder das Schiff als Transportmittel teresse keinen Abbruch. Die anfängliche über das Mittelmeer. Es wurden die Situa- Befürchtung, die intensive Auseinander- tion der Boat People an der EU-europäi- setzung mit dem Leben Holocaust-Über- schen Grenze und die Wichtigkeit von Aus- lebender, die nicht selten ihre gesamte weispapieren genannt. Ebenso wurden Familie verloren hatten, wäre insbeson- Parallelen hinsichtlich Sprachschwierig- dere für Schüler_innen zu belastend, hat keiten während des Migrationsprozesses sich nicht bestätigt. gezogen. Ein Ziel des Planspiels war, Phänomene, Gegenwartsbezüge bringen stets die die während des Migrationsprozesses Gefahr inhaltlicher Verflachung und un- virulent werden, in der Simulation aufzu- angemessener, bisweilen historisch fal- greifen. Dazu gehört der Faktor Zeit. scher, Analogien. So sind die damaligen Während des Ablaufs erleben die Teil- Bricha- und Hagana-Mitglieder nicht nehmenden zum Teil längere Wartezeiten gleichzusetzen mit den heutigen Schleu- Seminarmaterialien zum Planspiel (Hindernisse auf dem Weg zum Schiff, ser über das Mittelmeer. Dennoch wird „Die Fahrt der Exodus 1947“ • Anja Schade

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil „Wir sprachen also darüber, wohin wir ohne Beruf, ohne Möglichkeiten fahren könnten...“1

Ein Studientag zum Thema Displaced Persons

Nicola Schlichting, Karen Bähr

28 Ausgangspunkt davor, also die Geschichte des Kriegsge- mit den Teilnehmenden ins Gespräch fangenen- und Konzentrationslagers und kommen möchten. Der Studientag zum Thema Displaced der jeweilige Kontext, als vorhanden vor- Persons in Bergen-Belsen ist von Nicola ausgesetzt werden müssen. Daraus re- Historischer Kontext Schlichting aus der Abteilung Bildung sultieren, zumindest in der derzeitigen und Begegnung der Gedenkstätte Bergen- Konzeption, sowohl Einschränkungen In der Geschichte Bergen-Belsens Belsen unter Mitwirkung der Volontärin hinsichtlich der Zielgruppen als auch, spielen die Themen Flucht und Vertrei- Karen Bähr konzipiert und an ersten Re- für die Vorbereitung des Besuches der bung, insbesondere aber Verschleppung ferenzgruppen in Zusammenarbeit mit Gruppen. und Deportation, eine große Rolle: Zehn- David Reinicke erprobt worden. Zum anderen gab es aufgrund des tausende sowjetische Kriegsgefangene Drei Faktoren gaben Anstoß zu seiner Themas „Flucht, Vertreibung und Um- wurden hierher verschleppt, tausende Entwicklung: Zum einen umfasst der Auf- siedlung“, das derzeit im Kerncurriculum als Juden verfolgte Menschen als Geiseln trag der Gedenkstätte Bergen-Belsen, im Fach Geschichte in Niedersachsen in das Austauschlager Bergen-Belsen die Geschichte des Displaced Persons festgeschrieben ist, konkrete Anfragen deportiert, und zehntausende Menschen Camps Bergen-Belsen und seiner Be- von zwei Lehrerinnen der IGS Roder- gelangten in den letzten Monaten vor wohner zu vermitteln. Häufig jedoch bruch in Hannover und der Marienschule der Befreiung mit Räumungstransporten konzentrieren sich Bildungsangebote in Hildesheim. Beide kannten die Ge- oder auf Todesmärschen aus anderen wie Führungen und Studientage auf die denkstätte bereits und zeigten Interesse Konzentrationslagern nach Bergen- umfangreiche und komplexe Geschichte an einem Studientag, der die Displaced Belsen. des Konzentrationslagers und lassen Persons, das Thema Zwangsmigration Die britische Armee befreite in diesem wenig Raum für die Zeit nach der Befrei- und die humanitären Folgen behandelte. Lager rund 53.000 Frauen, Kinder und ung. Dementsprechend schwer fiel uns Schließlich sind Flucht und Migration Männer. Die Überlebenden wurden in die Konzeption einer Bildungsveranstal- verstärkt Gegenstand gesellschaftlicher die nahegelegene Wehrmachtskaserne tung, in der sich Teilnehmende vorran- Debatten um menschenwürdiges Leben, Bergen-Hohne gebracht, erhielten Klei- gig mit der Zeit nach der Befreiung be- Kriegsbeteiligung und Verantwortung dung und Lebensmittel und wurden schäftigen und das Wissen über die Zeit der europäischen Staaten. Die Beschäfti- medizinisch versorgt. Nachdem die gung mit diesen Themen in historischer meisten von ihnen in ihre Heimatländer 1 Janina Kobusińska, Biografische Medienstation / Jüdisches DP-Camp. Filmtext deutsch. Wege aus dem Perspektive wirft Fragen auf, die auch zurückgekehrt oder (un-)freiwillig ge- DP-Camp Bergen-Belsen. Rückkehr nach Polen. für die Ereignisse in der Gegenwart bracht worden waren, blieben insbeson- © Stiftung niedersächsische Gedenkstätten / Gedenk- stätte Bergen-Belsen. relevant sein können und über die wir dere nichtjüdische Polinnen und Polen sowie Jüdinnen und Juden aus Ost- gesamte Familie in der Shoah verloren. chen und führten dazu, dass zahlreiche 29 europa in Bergen-Belsen zurück. Die Ein neues Leben in der ehemaligen Hei- Überlebende noch für Jahre in Deutsch- aus ganz Europa nach Deutschland ver- mat, in der sie oft auch nicht mehr will- land ausharren mussten. schleppten KZ-Häftlinge und Zwangsar- kommen waren, schien vielen unmög- beiter_innen erhielten von den Alliierten lich. Die polnischen DPs waren damit Konzeptionelle Überlegungen den Rechtsstatus „Displaced Persons“ konfrontiert, dass ehemals polnische für den Studientag (DP). Sie hatten dadurch einen Anspruch Gebiete nun unter sowjetischer Herr- auf besondere Fürsorge. In Bergen-Belsen schaft standen. Auch hier war die Rück- Ein Blick in die Geschichte nach 1945 lebten sie in zwei separaten Lagern: kehr mit einer gewissen Unsicherheit hilft zu verstehen, wie komplex Sachver- Das polnische DP-Camp bestand bis verbunden oder wurde von polnischen halte wie Flucht und Migration sind. Im zum September 1946 und beherbergte Überlebenden nicht gewünscht. Den Rahmen eines sechsstündigen Studien- zeitweise mehr als 10.000 Personen, kommunistischen Einfluss, der die politi- tages haben Teilnehmende die Möglich- während das jüdische DP-Camp mit zwi- sche Situation auch in Polen beherrsch- keit, verschiedene Aspekte dieser Ge- schenzeitlich 12.000 Bewohnern erst te, nahmen viele polnische DPs als Be- schichte zu beleuchten. Die Ana-lyse von 1950 aufgelöst wurde. Damit wurde drohung wahr. Einzelbiographien macht zudem unter- Deutschland zum „Wartesaal“ für die Die Beweggründe der Menschen waren schiedliche Perspektiven und Lebens- Überlebenden der Konzentrationslager vielfältig und individuell, gemeinsam wege deutlich. Auf Fragen wie: „Was soll und zum Endpunkt für diejenigen, die war jedoch allen, dass sie Deutschland ich nun tun? Wo soll ich hin? Wohin ge- Osteuropa in Richtung Westen verlie- so schnell wie möglich verlassen woll- höre ich? Wo finde ich gute Bedingungen ßen. Das „Land der Täter“ wurde zum ten, um anderswo ein neues Leben zu für eine neue Zukunft?“, gibt es verschie- zwischenzeitlichen Aufenthaltsort vieler beginnen. Viele Überlebende der Kon- dene Antworten, Hoffnungen realisieren heimatlos gewordener Menschen, die zentrationslager waren der Meinung, die sich oder werden enttäuscht. Die Hoff- insbesondere dieses Land verlassen Welt würde sie mit offenen Armen emp- nung, vielleicht doch noch Familienan- wollten. fangen und alles tun, um ihnen ein neu- gehörige zu finden und der Wunsch, Zumal die jüdischen DPs stellten sich es Leben zu ermöglichen, sie müsse eine neue Familie zu gründen; Schule, die Frage, ob sie noch irgendwohin oder doch aus den Erfahrungen der letzten Studium oder eine Berufsausbildung zu zu irgendwem zurückkehren konnten. Jahre gelernt haben. Doch geostrategi- beenden, um auf eigenen Füßen zu stehen Die großen jüdischen Gemeinden in sche, außen- und innenpolitische Über- Osteuropa waren ausgelöscht, und die legungen bestimmten in vielen Ländern Plakat vom Studientag zum Thema Displaced Persons, meisten der Überlebenden hatten ihre die Entscheidungen der Verantwortli- 20. Juli • Karen Bähr

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 30 und sich ein neues Leben aufzubauen, ein grund von Zwangsarbeit oder KZ-Haft Praktische Durchführung Leben in Sicherheit und Frieden, frei von körperlich und seelisch krank ist und Diskriminierung und Verfolgung – diese sich davon vermutlich auch nicht wieder Der Studientag beginnt mit dem Be- Motive sind nur allzu gut nachzuvoll- erholen wird, dann werden die Auswir- such des Außengeländes der Gedenk- ziehen. kungen politischer Entscheidungen stätte Bergen-Belsen. Angeregt durch Um strategische Faktoren und politi- greifbar. die heutige Gestaltung entwickeln die sche Zielsetzungen mit einer Lerngruppe Analysiert man das Verhalten der deut- Teilnehmenden Fragen zur Genese des zu analysieren, bietet es sich an, die Teil- schen Bevölkerung oder der Behörden, heutigen Zustands und zur Geschichte nehmenden den Einfluss solcher Faktoren die im weiteren Sinne mit den DPs, der der Lager. Im Seminarraum erfolgt im und Zielsetzungen auf die historischen „bevölkerungs- und arbeitspolitische[n] Anschluss eine zeitliche und räumliche Subjekte und deren Entscheidungen nach- Hinterlassenschaft der nationalsozialisti- Orientierung zur Situation in Europa vollziehen zu lassen. Welche Umstände schen Herrschaft“,2 zu tun hatten, so ist nach dem Kriegsende 1945. In der fol- bedingen das Handeln von Staaten wie das Fazit eindeutig. Antijüdische Vorur- genden Kleingruppenarbeit untersuchen den USA und Großbritannien? Warum teile und Stereotype gegenüber diesen die Teilnehmenden des Studientages an- dürfen DPs nur in geringer Zahl z.B. nach „heimatlosen Ausländern“ waren naht- hand verschiedener Quellen die Situati- Australien oder ins britische Mandats- los anschlussfähig, und die Bevölkerung on der DPs in Bergen-Belsen. In einer gebiet Palästina bzw. ab 1948 nach Israel hinterfragte weder die Ursachen für die Phase von anderthalb Stunden arbeiten auswandern? Warum wird der Plan zur Situation dieser Menschen noch das sie anschließend interessegeleitet selbst- Repatriierung, der Rückführung in die eigene Verhalten. Ein Bewusstsein, dass ständig in der Ausstellung des Doku- Heimatländer, schließlich aufgegeben es auch in ihrer Verantwortung lag, für mentationszentrums in Bergen-Belsen und welche Strategie verfolgt die neu die Überlebenden zu sorgen, war bei mithilfe von Leitfragen wie: Welche gegründete International Refugee Orga- den allermeisten Deutschen nicht Hoffnungen, Wünsche und Pläne hatten nization (IRO)? Welche Personen werden vorhanden. die Menschen für ihre Zukunft, und wel- als Arbeitskräfte gesucht, und was pas- che Ziele verfolgten die verschiedenen siert mit denjenigen, die diese Kriterien Hilfsorganisationen, welche Motive hat- nicht erfüllen? Betrachtet man die Bio- ten die beteiligten Nationen? Aufgabe graphie eines Menschen, der den Holo- der Kleingruppen ist die Analyse der caust überlebt hat, und der eben nicht in Quellen, das Herausfiltern der relevan- das Schema des gesuchten Facharbeiters 2 Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum ten Informationen und die Bildung eines Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in oder der Facharbeiterin passt, der auf- Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985, S. 15. eigenen Urteils. Dabei werden die Teilnehmenden, wie auch die Historiker_ welchen Kriterien wird die wirtschaft- der Thematik ist ein Vorwissen über die 31 innen in ihrer Arbeit, mit widersprüch- liche Produktivität eines Immigranten Geschichte der Konzentrationslager und lichen Quellenaussagen und Lücken in oder einer Immigrantin bewertet? Darf den Verlauf des Zweiten Weltkrieges not- der Überlieferung konfrontiert, so dass eine Person ihre Familie mitbringen? In wendig. In der Erprobung des Studien- der Konstruktionscharakter der Geschich- welchem Verhältnis stehen humanitäre tages haben die jeweiligen Gruppen die te deutlich wird. und realpolitische Anforderungen? Geschichte des Kriegsgefangenen- und In einer Abschlusspräsentation oder in Die Beschäftigung mit der Situation Konzentrationslagers Bergen-Belsen einer Kleingruppendiskussion, je nach der DPs in Bergen-Belsen zeigt, wie vorher (in der Schule) thematisiert. Die Gruppe und Absprache, stellen die Teil- Menschen trotz aller traumatischen Er- bereits erprobten Bildungsmaterialien nehmenden ihre Ergebnisse und ihre fahrungen versuchen, ihr Leben zu füh- werden derzeit entsprechend der Anre- Schlussfolgerungen vor und tauschen ren, eine Familie zu gründen, einen Be- gungen der Teilnehmer_innen der Erpro- sich darüber aus. Abschließend können ruf zu erlernen oder auszuüben. Ob und bungsphase überarbeitet und neue As- im Plenum offene und weiterführende wo ihnen das gelingt, hängt maßgeblich pekte für die Kleingruppenarbeit hinzu- Fragen diskutiert werden, sowohl zu den von den Entscheidungen anderer ab. An- gefügt. Das Angebot ist buchbar und historischen Inhalten als auch zum heuti- gesichts eines oft formulierten Eindrucks wird 2016 zudem als Fortbildungsange- gen Umgang mit Flucht und Migration. einer Überinformation zum Themenfeld bot für Lehrer_innen und Referendar_ Nationalsozialismus zeigt sich gerade innen sowie Multiplikator_innen in der Fazit beim Thema Displaced Persons, wie we- außerschulischen Bildungsarbeit in das nig deren Geschichte und ihre oft aus- Programm der Abteilung Bildung und Durch die gegenwärtigen Ereignisse weglose Situation bekannt sind. Dieser Begegnung aufgenommen. rücken Fragen nach Flucht und Flucht- Studientag soll ein Beitrag dazu sein, die ursachen, Migration und Einwanderung Geschichte der überlebenden Häftlinge verstärkt in den Fokus der öffentlichen wieder und weiterhin präsent zu Diskussion. Einige der Fragen, die heute machen. gestellt werden, sind auch relevant für die Bewertung der historischen Situation Ausblick Schüler_innen arbeiten in Kleingruppen zum Thema Displaced Persons. • Julia-Carolin Boes der Displaced Persons. Wen lässt man Schüler_innen präsentieren ihre Ergebnisse zum Thema einreisen, wen nicht und warum? Was Der Studientag richtet sich in seiner Displaced Persons. • Julia-Carolin Boes bewegt Staaten dazu, ihre Grenzen vor derzeitigen Form an Schüler_innen der Schüler_innen arbeiten in der Ausstellung zum Thema Hilfesuchenden zu verschließen? Mit Oberstufe und an Erwachsene. Aufgrund Displaced Persons. • Julia-Carolin Boes

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil Neu-Hohne, das größte Flüchtlingslager im Landkreis Celle

Martina Staats

32 Der größte Teil des früheren Häftlings- Die Baracken des Vorlagers standen zu- Lager) near the Hohne Camp are to bereichs des Lagers Bergen-Belsen – das nächst leer. Im Nachkriegswinter 1945/46 be derequisitioned and will be used for Gebiet rund um die Massengräber – wurde das Gelände von der deutschen housing the following: Workmen for the wurde noch in den 1940er Jahren auf Bevölkerung und den DPs genutzt, um Cemetery and Memorials, Civilians Befehl der britischen Militäradministra- sich Baumaterial, Haushaltsgegenstände being evacuated from the Truppenübungs- tion zu einem kollektiven Gedächtnisort und insbesondere Heizmaterial zu be- platz.”4 in Form einer parkähnlichen Friedhofs- schaffen – trotz Betretungsverbots und Ein anderer Grund für die Weiternut- anlage mit Mahnmalen umgestaltet und Bewachung durch hiermit beauftragte zung der Baracken des früheren Vorlagers 1952 als Gedenkstätte Bergen-Belsen polnische DPs.2 und Verwaltungsbereichs des Konzen- eingeweiht. Gleichzeitig verkaufte der für das trationslagers war die im Landkreis Celle Der direkt am früheren Hauptlagerein- Gelände zuständige Gutsvorsteher des und auch im Gutsbezirk Bergen herr- gang gelegene Vorlagerbereich des frü- Gutsbezirks Bergen, August Lehmann, schende gravierende Wohnungsnot.5 heren Kriegsgefangenen- und Konzent- das noch verwertbare Baumaterial der „Das ehem. SS-Lager des Kz.-Lagers rationslagers war jedoch für eine Weiter- Holz- und Steinbaracken wie Stachel- Belsen wurde dem Gutsbezirk Lohheide nutzung vorgesehen und wurde nicht draht, Klinker, Kochkessel, Öfen und Anfang Februar des Jahres 1946 von in die neu zu errichtende Gedenkstätte Waschbecken.3 dem damaligen engl. Kommandanten und in die Landschaftsgestaltung einbezogen.1 Das frühere SS-Vorlager wird zur 4 Schreiben des 152 Town Major – Celle an den Landrat von Celle, 9.1.1946, GBB, Bestand Lohheide, Neu-Hohne, Siedlung Neu-Hohne Allgemeines.

5 Nach Schätzung der britischen Militärregierung leb- Überlegungen bezüglich einer Weiter- ten im April 1945 im Landkreis Celle neben 52.000 Ein- 1 Vgl. Martina Staats: Neu-Hohne 1946 bis 1953: Die heimischen, 3000 Ausländerinnen und Ausländern und Weiternutzung des ehemaligen Vorlagers des Kriegsge- nutzung der Baracken als Unterkünfte 15.000 „Lagerverfolgten“ insgesamt 30.000 Flüchtlinge; fangenen- und Konzentrationslagers Bergen-Belsen, in: bestanden bereits im Januar 1946: Der vgl. Anordnungen und Maßnahmen der Besatzungs- Zwischenräume. Displaced Persons, Internierte und macht, LCA, N 345, Nr. 3. Bis 1950 hatte sich im Land- Flüchtlinge in ehemaligen Konzentrationslagern. (Beiträ- Town Major – Celle ordnete gegenüber kreis Celle die Bevölkerung durch die Auswirkungen von ge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung Flucht, Vertreibung und Evakuierung im Verhältnis zum in Norddeutschland, 12), S. 90-107. Hierzu ist umfangrei- dem Celler Landrat an: “The 16 huts (SS Vorkriegsstand beinahe verdoppelt. Vgl. Eike Frenzel: ches Aktenmaterial vorhanden, welches insbesondere Flüchtlinge und Vertriebene im Raum Celle 1945-1950, durch lebensgeschichtliche Interviews und Erinnerungs- 2 Schreiben der Firma Brockmann und Mang, Bergen, Hannover, [Leibniz Universität Hannover], Magister-Ar- berichte von Anwohnerinnen und Anwohnern Neu-Hoh- an August Lehmann, Gutsbezirk Platz Bergen, 4.2.1946, beit, 2002, S. 23. Zur Thematik der Flüchtlinge im Land- nes ergänzt wird. Vgl. Niedersächsisches Landesarchiv – LCA, N3, Nr. 3a. kreis Celle vgl. u. a. Reinhard Rohde/Rainer Schulze/ Hauptstaatsarchiv Hannover (HSTA), Bestand Nds. 1241 Rainer Voss (Hg.): Fremde Heimat Niedersachsen. Be- Lohheide und den Aktenbestand der Stiftung nieder- 3 Vgl. Lebensgeschichtliches Interview mit Marian- gleitheft zur Ausstellung „50 Jahre Flüchtlinge und sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen na Z., vom 5.September 2003, GBB, BV 12 , Kassette 3, Vertriebene in Stadt und Landkreis Celle“ im Bomann- (GBB). Timecode 00:15:00 ff. Museum Celle vom 20.3. bis 29.8.1999, Celle 1999. 33

Übersicht über die Umgebung von Neu-Hohne (Landkreis Celle) 1945. Ausschnitt aus einem Luftbild der US Air Force, 19.6.1945 • National Archives and Records Administration, Washington, D.C., Bildflug 19-BS-9026-22

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 34 Major Fowler zu dem Zweck übergeben, metern mit einer genutzten Wohnfläche Zustands der Baracken wurde teilweise um dort die Einwohner von dem Ortsteil von 3193 Quadratmetern das größte keine Miete erhoben. Da die stark baufäl- Hohne unterzubringen, weil der Ortsteil Lager.7 ligen Baracken einen unerwünschten Hohne in der Schiesslinie des Schiess- Bei den Gebäuden handelte es sich zu- Kontrast zu dem hergerichteten Gedenk- platzes liegt und Ende Februar 1946 voll- meist um Holzbaracken, errichtet aus stättengelände bildeten, ließ die britische kommen von deutschen Einwohnern ge- Modulen der sogenannten Reichsar- Militärregierung durch Pflanzungen die räumt werden mußte. Das SS-Lager beitsdienstbaracken, und um eine soge- „Sicht auf das störende Barackenlager“10 trägt seit dieser Zeit die postalische Be- nannte Protektoratsbaracke sowie um verdecken. zeichnung Neu-Hohne.“6 wenige massive Bauten. Der allgemeine Die vorhandenen insgesamt 184 Räu- 1946 erfolgte zudem die Umsiedlung bauliche Zustand der insgesamt 17 Ge- me waren insgesamt überbelegt, die der Bewohner_innen der Hoppenstedter bäude wurde im Jahr 1951 als „unbrauch- laut Behördenvorgabe höchstmögliche Straße und Zietenstraße des Truppen- bar“ bewertet. Belegung mit 240 Personen überschrit- übungsplatzes. Die Umgesiedelten wur- Die 1946 in Neu-Hohne Ankommenden ten.11 1946 waren 106 Familien mit 492 den von der Verwaltung des Gutsbezirks fanden die Baracken in einem schlech- Personen offiziell gemeldet.12 Durch die Lohheide unter der Bezeichnung „Altbe- ten Zustand vor: „Sie waren stark de- illegale Untervermietung von Wohnraum satzungsverdrängte“ getrennt von den moliert, fast sämtliche Fußböden waren an Personen, die in der Nachkriegszeit übrigen Bewohnerinnen und Bewoh- herausgerissen, ein Teil der Baracken auf der Suche nach Arbeit und Nah- nern Neu-Hohnes erfasst. „Altbesat- war zusammengebrochen.“8 Im April 10 Der Niedersächsische Minister der Finanzen, Vermerk zungsverdrängte“ hatten im April 1945 1951 waren von 17 Baracken zwölf bau- betreffend Belsen, Besprechung 13.12.1946 zwischen Vertretern der britischen Militärregierung, Oberst Jones, auf dem Truppenübungsplatz Bergen fällig, und fünf Baracken, in denen 22 Major Williams sowie Oberstleutnant Cleaver u.a. und gewohnt und waren in der Regel bei der Familien mit 85 Personen wohnten, ab- deutscher Seite, 14.12.1946, HSTA, Nds. 401 Acc. 112/83, Nr. 440. Wehrmacht beschäftigt gewesen. bruchreif.9 Aufgrund des schlechten Die meisten der Bewohner_innen Neu- 11 Verzeichnis: Die Flüchtlingslager im Regierungsbezirk 7 Verzeichnis: Die Flüchtlingslager im Regierungsbezirk Lüneburg, Stand: 1. Juli 1951, LCA, Berichte des Kreises Hohnes waren jedoch Flüchtlinge. Von Lüneburg, Stand: 1. Juli 1951, LCA, Berichte des Kreises Celle-Land vom 23.8.1951 und 18.9.1951, LCA, Fach Celle-Land vom 23.8.1951 und 18.9.1951, Fach N 175, N 175, Nr. 7. den insgesamt 39 Flüchtlingslagern im Nr. 7. Landkreis Celle war Neu-Hohne mit ei- 12 Berichte des Kreises Celle-Land vom 23.8.1951 und 8 Baustands-Bericht von August Lehmann, örtliche 18.9.1951, LCA, Fach N 175, Nr. 7. ner genutzten Fläche von 3726 Quadrat- Bauleitung, Gutsvorsteher Gutsbezirk Lohheide, 17.4.1946, CA, N 3, Nr. 3a. 6 Schreiben des Gutsbezirks Lohheide, August Leh- Siedlung Neu-Hohne, Lagerskizze, ca. 1953. Quelle: mann, an den Regierungspräsidenten von Lüneburg, 9 Handschriftliche Zusammenstellung: Neuhohne, Abbruch der Baracken: Neu-Hohne, Muna. • Stiftung 10.06.1948, HSTA, Nds. 1241 Lohheide, Acc. 2003/189, Abbruchreif, Baufällig,1951, GBB, Bestand Lohheide, niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen- Nr. 30. Neu-Hohne, Allgemeines. Belsen, Bestand Lohheide, Fotoarchiv 9000-869 rungsmitteln in die Nähe der britischen der Errichtung der Gedenkstätte zu einem Treffpunkt von britischen Sol- 35 Kaserne und des DP-Camps zogen, ver- beschäftigt.15 daten und Bewohnerinnen Neu-Hohnes, schärfte sich diese Wohnsituation noch. In Neu-Hohne selbst hatten sich meh- worüber sich der Kommandant des 5th Da sogar eine akute Gesundheitsge- rere Handwerksbetriebe und Selbststän- Royal Tank Regiments beschwerte und – fahr für die Bewohner_innen bestand, dige angesiedelt. Besonders häufig ist vergeblich – die Schließung forderte.17 plädierte Gutsvorsteher August Leh- sowohl in den Akten als auch in den Er- mann 1950 für die Auflösung der gesam- innerungen von Zeitzeug_innen die Gast- Materielle und soziale ten Wohnsiedlung Neu-Hohne mit ihren wirtschaft Poschmann erwähnt. Lebensbedingungen „Elendsbaracken“.13 Diskutiert wurden Erich Poschmann, Pächter mehrerer die schlechten Lebensverhältnisse auch Kantinen der Truppenübungsplätze Ber- Das Leben in Neu-Hohne kann insge- zwischen dem britischen Land Commis- gen und Munster, erhielt im Juni 1948 samt als beschwerlich und zum Teil als sioner und dem niedersächsischen Innen- die Genehmigung zur Einrichtung einer nicht menschenwürdig beschrieben ministerium, da die örtlichen Militärbe- Schankwirtschaft in der „Baubaracke“ werden. hörden „die Lebensbedingungen [in dem von Neu-Hohne. Die ursprüngliche Zeitzeug_innen, die als Flüchtlingskin- Dorf Neu-Hohne; M.S.] als den Gesund- Zweckbestimmung der Baracke als Un- der in Neu-Hohne aufgewachsen sind, heitszustand der örtlichen Garnison terkunft für Arbeiter bei die Errichtung berichten über Hunger, Verwahrlosung, gefährdend“14 ansahen. der Gedenkstätte wurde aufgehoben.16 Elend und Not. Ihr Leben wurde außer- Nachdem die Baracke am 25. Oktober dem von den Hinterlassenschaften und Die meisten Bewohner_innen Neu- 1948 niedergebrannt war, beantragte Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges Hohnes waren auf dem Truppenübungs- Erich Poschmann eine Gaststättener- geprägt. Als Spielzeug wurde Munition platz, im DP-Camp und bei Arbeiten bei laubnis für das Gebäude der früheren benutzt: „Wir hatten nur Munition und „Kleinen Entlausung“. In der Folgezeit entwickelte sich die Gaststätte, die spä- ter sogar über einen Tanzsaal verfügte, 17 Schreiben Lt. Col. Witheridge, Kommandant der RAC 15 Vgl. Aufstellung über Personen, die im Lager Belsen Training Area, an den Landkreis Celle, November 1950, 13 Schreiben des Gutsvorstehers des Gutsbezirks Loh- wohnhaft und polizeilich gemeldet sind, HSTA, Nds. GBB, Bestand Lohheide, 7-724/3, Schankerlaubnisse bis heide, August Lehmann, an die Kreisverwaltung in Celle, 1241 Lohheide, Acc. 2003/225, Nr. 11. 1951, Schankstätten und Kantinen im Lagerbereich. 24.11.1950, GBB, Bestand Lohheide, Schankerlaubnisse bis 1951. Schankstätten und Kantinen im Lagerbereich. 16 Verwaltungsstreitsache Erich Poschmann gegen die Regierung in Lüneburg, Gerichtsurteil des Bezirksver- 14 Chief Governmental Officer, Land Commissioners waltungsgerichts in Lüneburg, 28.6.1948, GBB, Bestand Gastwirtschaft Poschmann • Stiftung niedersächsische Office, an das Innenministerium in Hannover, 26.6.1951, Lohheide, 7-724/3, Schankerlaubnisse bis 1951, Schank- Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen, Fotoarchiv: GBB, Bestand Lohheide, Neu-Hohne, Allgemeines. stätten und Kantinen im Lagerbereich. Sammlung Lohse, 8595

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 36 unsere Phantasie“,18 erinnerte sich als Tochter eines Lehrers der Schule in gen oder ganz ohne materielle Güter an- Peter T., der als uneheliches fünftes Kind Neu-Hohne aufwuchs: „Mit den Kindern kommenden Flüchtlinge kaum Möglich- einer Witwe in großer Armut in Neu- [der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge; keiten vor, ihr Leben eigenständig zu Hohne aufwuchs. Die Bombentrichter M.S.] hatten meine Schwester und ich gestalten: „Ich bin die einzigste [sic!] wurden im Winter zu Rodelbergen um- ganz selten Kontakt, vielmehr spielten hier die nichts vorgefunden auch keine funktioniert, beim Schrottsammeln wir in unserem eingezäunten Stückchen Baustoffe aus dem Lager Belsen wie es mussten die Kinder auf Minen und Wald mit Garten“.21 hier fast alle gehabt haben“,23 beklagte Granaten achten.19 Auch die Lebensverhältnisse in Neu- sich Frieda K. beim Finanzministerium in Die Bewohner_innen der angrenzen- Hohne waren unterschiedlich: Die „Alt- Hannover. Auch Schwarzmarktgeschäf- den Orte Bergen und Belsen begegneten besatzungsverdrängten“ verfügten über te, die die materielle Lebenssituation den Flüchtlingen und Vertriebenen mit eine bessere materielle Ausstattung: verbessert hätten, waren aufgrund der Vorurteilen, Abneigung und Stigmati- So konnte die Familie von Renate A., fehlenden Tauschgüter für Flüchtlinge sierungen.20 geb. S., deren Vater als Kasernenwärter kaum möglich. Dagegen schlug den „Altbesatzungs- während der NS-Zeit auf dem Truppen- Die Kontakte zwischen Bewohner_innen verdrängten“ – den Umsiedler_innen aus übungsplatz beschäftigt gewesen war, des DP-Camps und Neu-Hohnes waren dem Gebiet des Truppenübungsplatzes – ihr komplettes bewegliches Mobiliar aus vor allem ökonomisch motiviert. Die von Mitleid entgegen. Sie waren durch sozia- ihrem Haus von Hohne nach Neu-Hohne den Bewohner_innen Neu-Hohnes wahr- le Kontakte mit der Bevölkerung der um- bringen. Nach dem Einzug in das Gebäu- genommene große soziale Ungleichheit liegenden Dörfer und Städte verbunden de der früheren „Arrestanstalt“ fühlte zwischen den eigenen Lebensverhältnis- und lebten nicht isoliert. sich die Familie S. den anderen gegen- sen und denen der DPs sind eine der Innerhalb des Flüchtlingslagers grenz- über „wie so kleine Könige“.22 Die frühe- Ursachen für das Gefühl, ungerecht be- ten sich die „Altbesatzungsverdrängten“ ren Angestellten der Wehrmacht auf dem handelt zu werden und die eigentlichen von den „Heimatvertriebenen und Flücht- Truppenübungsplatz nutzten Chancen Kriegsopfer zu sein. Vielfach bezogen lingen“ ab. So erinnert sich Inge S., die zur Weiterbildung oder eröffneten mit sich die Kontakte der „Altbesatzungs- vorhandenem Vermögen Geschäfte. verdrängten“ auf die Abwicklung von 18 Interview Peter T. vom 17. September 2004, BV 245, Dagegen fanden die häufig mit weni- Schwarzmarktgeschäften. Inwieweit Kassette 1, Timecode 00:10:00 ff. persönliche Kontakte, die im Zuge der 19 Erinnerungen von Inge S. (vgl. Anm. 1), ohne 21 Erinnerungen von Inge S., geb. G., ohne Paginierung, Seitenzahl. unveröffentlichtes Manuskript, GBB. 23 Frida K. Neu-Hohne (Muna), an das Finanzministerium 20 Vgl. Interview Peter T. (vgl. Anm. 18), besonders 22 Interview Renate A. vom 12. Juni 2004, GBB, BV 228, in Hannover, 6.1.1954, GBB, Bestand Lohheide, H 1084 Kassette 2, Timecode 00:14:00 ff. Kassette 2, Timecode 00:01:00 ff. Neu-Hohne, Muna Nr. 4. Arbeit im DP-Camp entstanden waren, hatten wir die Beeren unter größten reichs des Konzentrations- und Kriegs- 37 diese Gefühle der Ungerechtigkeit relati- Ängsten und schwierigsten Bedingun- gefangenenlagers führte nicht zu einer vierten, ist nicht bekannt. gen gepflückt. Waren wir doch verbote- aktiven Auseinandersetzung mit der Hatte das Wissen um das Kriegsgefan- nerweise unter dem Stacheldrahtzaun nationalsozialistischen Vergangenheit, genen- und Konzentrationslager Bergen- durchgekrochen, der die Massengräber sondern zu einer Gleichsetzung der eige- Belsen für die Bewohnerinnen und Be- einzäunte. Dort reiften die dicksten und nen Lebenssituation mit der der KZ-Häft- wohner Auswirkungen auf den Umgang schönsten Brombeeren.“25 Außerdem linge in der NS-Zeit, da sie in einem mit ihrem Lebensort? fanden die Kinder menschliche Knochen „Barackenlager im KZ“ lebten. Viele von ihnen arbeiteten auf dem sowie Gegenstände aus der Zeit des Areal, das zur Gedenkstätte umgestaltet Konzentrationslagers in einer Kuhle hin- Auflösung und Räumung wurde. Dabei wurden sie zwangsläufig ter der Schule. Peter T. erinnert sich von Neu-Hohne mit den nationalsozialistischen Verbre- auch an Abwehrreaktionen der Erwach- chen konfrontiert: durch Aufschüttung senen auf Fragen nach dem Konzentrati- Pläne seitens der Briten, den Truppen- der Massengräber, Umbettungen von onslager: „Alles Lüge“.26 übungsplatz Bergen zu erweitern, führten Toten, Abbau des Krematoriums und Fragen nach Schuld und Verantwor- schließlich 1953 zur Räumung von Neu- den Umgang mit den Überresten und tung wurden mit Hinweisen auf die „ei- Hohne. In einer Besprechung zwischen Objekten. genen schlechten Lebensumstände im dem britischen Schießplatzkommandeur Auch die Kinder wurden mit dem KZ KZ“ beantwortet. Die Bewohner_innen und Vertretern des Staatshochbauamtes Bergen-Belsen konfrontiert: „Und hinter fühlten sich gegenüber den DPs als Op- Soltau, Außenstelle Fallingbostel, des der Schule gings dann ins KZ,“24 so eine fer des Krieges.27 Die Weiternutzung der Gutsbezirks Lohheide sowie der Bundes- Formulierung von Peter T., der 1944 ge- Baracken des früheren Verwaltungsbe- vermögensstelle Soltau am 24. Septem- boren wurde und ab 1946 in Neu-Hohne ber 1953 wurde festgelegt, dass „im lebte. Das Gedenkstättengelände nahm 25 Erinnerungen von Inge S. (vgl. Anm. 21), ohne Lager Neu-Hohne […] alle vorhandenen Seitenzahl. Inge S. als „unheimlich“ wahr, es sollte Holzbaracken und massiven Gebäude 26 Interview Peter T. (vgl. Anm. 18), Kassette 1, nicht betreten werden: „Irgendwann ein- Timecode 00:20:00 ff. oder sonstigen Bauwerke einschl. der mal pflückten Natchen und ich einen Hauptleitungen der Be-, Entwässerungs- 27 Erinnerungen von Inge S. (vgl. Anm. 1), ohne Seiten- großen Milchtopf voll Brombeeren und zahl. Siehe dazu auch Alexander Clifford: Das „Belsen und Eltanlagen [Elektroanlagen] entfernt ohne Stacheldraht“, in: Hannoversche Presse, 4.8.1946. gingen damit stolz nach Hause. Dabei Clifford beschreibt darin die materielle Not der Deut- werden [sollen]. Alle Straßen und befes- schen, die in der britischen Besatzungszone lebten: „Die tigten Plätze sollen, da das Gelände des 24 Interview Peter T. (vgl. Anm. 18), Kassette 1, Leute, die hier in den Ruinen leben, nennen ihr eigenes Timecode 00:20:00 ff. Land heute bereits das ‚Belsen ohne Stacheldraht‘„. Lagers Neu-Hohne von der Besatzungs-

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 38 macht für truppentechnische Zwecke Von der Räumung waren 94 Familien mit würdigen Leben war. Für Peter T. ist Neu- (Panzerfahrgelände) in Zukunft benötigt 341 Personen betroffen. Eine Unterbrin- Hohne „Heimat – und der schlimmste wird, verbleiben [sic!].“28 gung dieser Familien in Bergen oder ei- Ort, den man sich vorstellen kann“.32 Die Versteigerung sämtlicher Holzba- nem anderen Ort im Kreis Celle war Herta K. frühere Bewohnerin von Neu- racken Neu-Hohnes durch die Bundes- nicht möglich, da sowohl Bergen als Hohne, schrieb nach ihrem Umzug nach vermögensstelle Soltau erfolgte am auch die übrigen Gemeinden des Krei- Osnabrück: „Ich […] fühle mich jetzt als 30. Oktober 1953, nachdem dies mit ei- ses zumeist mit Flüchtlingen überbelegt vollwertiger Mensch. […] Glauben Sie es ner Zeitungsannonce angekündigt wor- waren. Ziele der Umsiedlung waren da- mir, dass man sich bisher wirklich wie den war. So bot u.a. der Dipl.-Volkswirt her Industriestandorte wie Wolfsburg, ein Fremdling vorkam? Sie konnten im- Herbert L. aus Hermannsburg im März Hannover und Salzgitter. In den nahe ge- mer nicht hören, wenn man das Wort 1954 für die „Große Entlausungsanstalt legenen Ortschaften wurden Siedlungs- ‚Flüchtling‘ gebrauchte. Aber in der Um- H 1098 Neu-Hohne“ 500 DM.29 programme durchgeführt, um letztlich gebung und in den Wohnungen mussten Die Siedlergemeinschaft e.V. Hassel- auch dort Bewohner_innen Neu-Hohnes wir uns doch immer so fühlen.“33 horst – der viele ehemalige Bewohner_ anzusiedeln. In dem kleinen Ort Hassel- innen Neu-Hohnes angehörten – durfte horst waren zuvor speziell für die soge-

im Frühjahr 1954 nach Genehmigung der nannten „Altbesatzungsverdrängten“ 32 Interview Peter T. (vgl. Anm. 18), Kassette 3, Bundesvermögensstelle Soltau die Mau- Siedlungshäuser errichtet worden. An- Timecode 00:03:00 ff. erreste in Neu-Hohne abfahren, um sie dere Bewohner_innen erhielten u.a. vom 33 Schreiben von Herta K. an Otto Jahr, Gutsbezirk Lohheide, 17.3.1954, HSTA, Nds. 1241 Lohheide, zum Ausbau der Sportplatzanlage bei Vertriebenenministerium Wohnungen in Acc. 2003/189, Nr. 15. der Schule Hasselhorst zu verwenden.30 Oldenburg, Gifhorn, Köln, Emmelndorf im Kreis Harburg und Osnabrück zugewiesen.31 Allgemein entwickelten die Bewohner_ 28 Niederschrift über die am 24.9.1953 stattgefundenen innen keine eigene Identität als „Neu- Besprechung, Protokollant: Schunke, GBB, Bestand Loh- heide, H 1082 Nr. 3 Neu-Hohne Muna, Mieter Erich K. Hohner“, sondern nahmen diesen Lebens- abschnitt als Zwischenstation auf dem 29 Herbert L., Hermannsburg an die Bundesvermögens- stelle in Soltau, 26.3.1954, GBB, Bestand Lohheide, Weg zu einem normalen, menschen- H 1098 Neu-Hohne, Grosse Entlausungsanstalt.

30 Bescheinigung des Gutsbezirks Lohheide, Otto Jahr, 31 Aufstellung der Räumungsbetroffenen im Gutsbezirk Barackenleben in Neu-Hohne. • Stiftung niedersächsische 24.41954, GBB, Bestand Lohheide, Neu-Hohne, Lohheide, 1953, GBB, Bestand Lohheide, Neu-Hohne, Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen, Fotoarchiv: Allgemeines. Allgemeines. Sammlung Weber, 8578 39

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil Die französischen Internierungslager – Spiegel einer europäischen Erinnerung (1938–1946)

Pierre-Jérôme Biscarat1

40 Innerhalb der Sondergesetzgebungs- brachte. Für die Schüler_innen ist diese einem Jahr. Die Zuweisung eines Auf- und Ausgrenzungspolitik, wie sie die Geschichte völlig neu. enthaltsortes für Ausländer, wie sie das französische Verwaltung betrieben hat, Dekret vom 2. Mai vorsah, wurde am stellen die Internierungslager einen der Die Internierungslager von der III. 12. November mit der Einrichtung von düstersten Aspekte dar. Zwar taucht die- Republik bis zum Vichy-Regime „Sonderzentren“ für die „unerwünsch- se Geschichte seit ein paar Jahren in den ten Ausländer“ ergänzt. Mit dieser Not- Schulbüchern auf, dennoch ist die Leer- Die Geschichte der „Lager der Schan- verordnung begann die französische stelle in der Erinnerung bei Weitem noch de“ begann nicht erst mit dem Vichy- Internierungspolitik. nicht ausgefüllt. Hinsichtlich der Aner- Regime. Lange vorher schon hatten die Der absehbare Kriegseintritt beschleu- kennung aller Erinnerungen bleibt vieles Ausländer die fremdenfeindlichen Maß- nigte diesen Prozess ebenso wie die noch zu tun. nahmen der ausgehenden III. Republik massenhafte Flucht von 465.000 Spaniern Seit 16 Jahren arbeite ich in der Bildungs- ertragen müssen. Kurz nach dem „An- [aus dem Bürgerkrieg; M.G.], darunter abteilung des „Hauses der Kinder von schluss“ [Österreichs, M.G.], am 14. April etwa 170.000 Zivilisten, zwischen Januar Izieu“, und noch immer entdecke ich das 1938, unterstrich ein an die Präfekten ge- und März 1939.2 Die französische Ver- sprachlose Erstaunen auf den Gesichtern richteter Runderlass des Innenministers, waltung richtete provisorische Lager ins- der Lehrer_innen, wenn ich das Thema Albert Sarraut, die Notwendigkeit eines besondere an den Stränden des Mittel- anhand von Dokumenten, Archivfotos „methodischen, energischen und promp- meeres ein. Das erste dieser „Lager im und Berichten von Zeitzeug_innen ver- ten Vorgehens mit dem Ziel, unser Land Sand“,3 Argelès-sur-Mer, war sehr bald tiefe. Sehr oft vermögen sie nicht zu er- von den unerwünschten ausländischen überfüllt. Um dem Zustrom der Flücht- messen, welche materiellen Ausmaße Elementen zu befreien“. Am 2. Mai wur- linge standzuhalten, wurde in aller Eile dieses französische Lagersystem hatte den die Ausländer per Dekret verpflich- ein Lager in Saint-Cyprien eröffnet und und welche Schäden es für die Menschen tet, die Behörden von jedem Wechsel mit der Errichtung des Lagers Barcarès ihres Wohn- oder Aufenthaltsortes zu 2 Nach dem Fall Kataloniens. Von den 450.000 Spaniern benachrichtigen. Der Innenminister kehrten schätzungsweise 340.000 wieder nach Spanien 1 Der Autor ist Historiker und Mitarbeiter der Bildungs- zurück, im Wesentlichen Zivilisten, die in der Fluchtbe- abteilung der Gedenkstätte „Haus der Kinder von Izieu“. konnte Ausländern den Aufenthalt an ei- wegung mitgerissen worden waren. Vgl. Denis Peschan- Er gehört der Kommission „Enseignement de la Shoah“ nem beliebigen Ort vorschreiben, sie ski, „Exode et exil espagnol“, in: „La France des camps. innerhalb der „Fondation pour la Mémoire de la Shoah“ L’internement, 1938-1946“, Paris 2002, S. 36-71. an; außerdem ist er Mitglied der wissenschaftlichen aber auch ausweisen. Wer ordnungswid- Beiräte des „Mémorial de Caen“ und des „Centre de 3 Emile Temime, Geneviève Dreyfus-Armand, „Les ressources pour la recherche et l’enseignement sur la rig ins Land kam, konnte mit einer Geld- camps sur la plage, un exil espagnol“, Collection Monde, Shoah à l’Est“ an der Universität Paris-Sorbonne strafe belegt werden, aber auch mit Ge- Éditions Autrement, Paris 2008; Serge Barba, „De la (Paris-IV)-Yahad-In-Unum. frontière aux barbelés. Les chemins de la Retirada. Die Übersetzung des Beitrags besorgte Monika Gödecke. fängnis zwischen einem Monat und 1939“, Perpignan 2009. Compiègne

Drancy Ecrouves Linas-Montlhér y Schirmeck Struthof Goudrecieu x Pithiviers Beaune-la-Rolande Moisdon-la-Rivière La Lande Jargeau Montreuil Bellay Poitiers

Vénissieux Nexon Angoulême

Mérignac Chancelade

Rieucros Septfonds Brens Noé Gurs Sallers Les Milles Récébédou Lager für jüdische Internierte Agde  „gemischte“ Internierungslager Le Vernet Marseille (Bombard, Le Levant, Terminus)  Sammellager vor der Deportation Rivesaltes  Demarkationslinie  Konzentrationslager  Lager für Roma und Sinti

begonnen. In diesen Lagern wurden gern für die 12.000 spanischen Flüchtlinge genüber „Individuen, welche die natio- 41 hauptsächlich geflüchtete Mitglieder der in Nordafrika (in Algerien und Tunesien), nale Verteidigung und die öffentliche Republikanischen Armee untergebracht, und die Lebensbedingungen dort waren Sicherheit gefährden“. Von jetzt an ver- aber sie umfassten auch extra Abteilun- ebenso kümmerlich. fügten die Präfekten über die unmittel- gen für Frauen und Kinder.4 In diesen La- Während Geheimverhandlungen des bare Entscheidungsmacht zur Internie- gern, wo die Zelte und Baracken auf dem Generalstabes bereits im April 1939 die rung. Diese Verordnung sanktionierte blanken Sandboden standen, waren die Unterbringung von „männlichen Auslän- nicht mehr nur erwiesene Straftaten, sanitären Bedingungen sommers wie dern“ in Lagern in Betracht zogen, sah sondern umfasste auch deren Präventi- winters äußerst hart. Von Ost nach West ein Runderlass vom 30. August 1939 für on. Es war die Ära der Verdächtigungen. wurde hinter der spanischen Grenze ein den Konfliktfall vor, „alle Ausländer mit In der Umgebung von Paris und dann Netz von sechs speziellen Lagern einge- Staatsangehörigkeit eines Feindstaates auch in der Provinz wurden an die hun- richtet: Bram (im Département Aude), in Sonderzentren zusammenzufassen“. dert Zentren für die Zusammenfassung Agde (Hérault), Rivesaltes (Pyrénées- Am 3. September 1939, dem Tag der der deutschen, österreichischen, spani- Orientales), Septfonds (Tarn-et-Garonne), Kriegserklärung, erhielten die Präfekten schen, belgischen, tschechischen und Le Vernet (Ariège) und Gurs (Basses- im Zusammenhang mit dem Belage- polnischen Flüchtlinge sowie Angehöri- Pyrénées). Zwischen dem 5. April und rungszustand ein Telegramm zur „Kon- ge weiterer Nationalitäten eingerichtet; dem 10. Mai 1939 wurden in diesem letz- zentrierung der Staatsangehörigen des hinzu kam die Internierung französischer teren Lager – zusammen mit Rivesaltes Deutschen Reiches“. 12.000 Deutsche kommunistischer Aktivisten, von Pazifis- einem der größten – 18.985 Männer unter- und 5.000 Österreicher, darunter zahlrei- ten, Anarchisten und Gewerkschafts- gebracht. Eine 1,7 Kilometer lange Straße che Juden, wurden interniert. Von „un- aktivisten. durchzog das Lager in seiner ganzen erwünschten Ausländern“ wurden sie zu Nach dem deutschen Angriff und der Länge; seine Breite betrug 500 bis 800 „Staatsangehörigen eines Feindstaates“ Flucht der Bevölkerung im Mai 1940 Meter. 428 Baracken waren mit 250 Kilo- – dabei wurden sie doch von eben die- wurden unter Polizeiaufsicht 8.000 Inter- meter Stacheldraht eingezäunt.5 Ebenso sem Staat verfolgt, und viele von ihnen nierte in Lager verlegt, nach Saint-Cyprien chaotisch verlief die Einrichtung von La- hatten den Nationalsozialismus be- im Département Pyrénées-Orientales, kämpft. Insgesamt waren es schließlich 4 Die spanischen Frauen und Kinder wurden auch in Aufnahmezentren im Hinterland und in Zentralfrankreich 40.000 Internierte. Die Internierungs- und Deportationslager für Juden untergebracht. (August 1942); Karte erstellt auf der Grundlage von Anne Am 18. November 1939 verkündete Grynberg, „Les camps de la honte. Les internés juifs des 5 Vgl. Claude Laharie, „Le Camp de Gurs 1939-1945. Un eine weitere Notverordnung die Auswei- camps français 1939-1944“, ergänzt durch Dominique aspect méconnu de l’histoire de Vichy“, Société Atlantique Natanson (mémoire juive et éducation / d’Impression, J&D Éditions 1993. tung der Internierungsmaßnahmen ge- http://d-d.natanson.pagesperso-orange.fr/).

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 42 Gurs (Pyrénées-Atlantiques), Les Milles jüdischer Rasse abstammt oder aber von der Deutschen für eine Verkündung (bei Marseille), Rieucros (Lozère) und zwei Großelternteilen derselben Rasse, derartiger Gesetze mehr oder weniger andere. Eine deutsche Inspektions- wenn ihr Ehepartner auch Jude ist.“ direkter Druck ausgeübt wurde. Vichy abordnung, die Mission Kundt, zählte im Mit diesem ersten Judenstatut begann befürchtete nämlich, diese antisemiti- Juli 1940 mehr als hundert Zivilinternier- offiziell die Rassenpolitik des Regimes. schen Gesetze würden in der öffentli- tenlager allein in der südlichen [nicht Nachdem Vichy sich zunächst gegen die chen Meinung schlecht aufgenommen. besetzten, M.G.] Zone. Das autoritäre französischen Juden gewandt hatte, Dem war jedoch nicht so. Auf dem ge- und rassistische Vichy-Regime über- wurde kurz darauf, am 4. Oktober, das samten Staatsgebiet zählte man mehr nahm diese zur Ausgrenzung geschaffe- Gesetz bezüglich der ausländischen als 93 Hauptlager, die mit einem Netz ne Infrastruktur als Erbe. Mit Pétain Juden verkündet: von etwa 200 Nebenlagern und nicht schwenkte Frankreich von einer Logik „Art. 1. – Ausländische Staatsange- weniger als 5000 Internierungsstellen der Sonderregelungen um zu einer Lo- hörige jüdischer Rasse können mit Gel- oder „Kleinstlagern“ (in Scheunen, gik der Exklusion. Die Juden in Frank- tungsbeginn des vorliegenden Gesetzes Fabriken, Bauernhöfen, Mühlen und reich und insbesondere die Ausländer durch Entscheidung des Präfekten im ehemaligen Gefängnissen) verbunden unter ihnen waren die ersten Opfer. Département ihres Aufenthaltsortes in waren. In Vichy traten am 30. September Sonderlagern interniert werden.“ Die Lebensbedingungen waren dra- sämtliche Staatssekretäre unter Vorsitz Drei Ministerien waren in eine Kom- matisch schlecht. Kinder und alte Men- von Laval zum Kabinettsrat zusammen mission einbezogen, die mit der Organi- schen litten und starben als erste auf- und erstellten die Schlussfassung für sation und der Verwaltung „dieser Lager“ grund der mangelnden Hygiene. das „Judenstatut“. Am 1. Oktober wurde betraut war: das Innenministerium, das Lediglich einige karitative Einrichtungen6 sie vom Ministerrat gebilligt. Der den die Gesamtleitung hatte, sowie das halfen den Internierten in den Lagern Besatzungsbehörden am 2. Oktober un- Justizministerium und das Finanzminis- der nicht besetzten Zone. Als Freiwillige terbreitete Text wurde positiv aufge- terium. Vichy zählte bereits jetzt auf das

nommen. Offiziell trug das „Gesetz Netz der von der III. Republik geerbten 6 Beispielsweise das Kinderhilfswerk OSE (Œuvre de Secours aux Enfants), das Komitee CIMADE (Comité in- über das Statut der Juden“ den Vermerk Lager. Mit der Inkraftsetzung dieses ver- ter mouvements auprès des évacués), das Schweizer „Ausgefertigt in Vichy am 3. Oktober fügenden Teils einer Gesetzgebung über- Kinderhilfswerk (Secours Suisse aux enfants) und die amerikanischen Quäker. 1940. Ph. Pétain“: nahm Vichy die Spezifik eines „autoch- „Art. 1. – Als Jude, der von diesem Ge- thonen Antisemitismus“, der anfänglich setz betroffen ist, wird jede Person an- keineswegs mit einer Kollaborations- Blick auf das Lager Gurs (Pyrénées-Atlantiques), 1942 gesehen, die von drei Großelternteilen politik verbunden war, auch wenn seitens • Mémorial de la Shoah/Coll. Fédération (CC_276a_1) in den Internierungslagern kämpften die ihren roh gezimmerten Holzbettchen.“7 im Sommer 1942 die großen Razzien 43 Unterstützer_innen in jeder Hinsicht, Die Menschen in Rivesaltes hungerten; durch, bei denen 12.800 ausländische um dem Versagen der Verwaltung ent- im Winter war es extrem kalt und im Juden verhaftet wurden, unter ihnen gegenzuwirken. Einige wie etwa die OSE Sommer extrem heiß. Die Lebensbedin- 4000 Kinder. Sie sorgten auch für die holten Kinder mit mehr oder weniger le- gungen und die Hygienesituation waren Verbringung von 10.500 ausländischen galen Mitteln aus dem Lager heraus und äußerst dürftig. Vivette Samuel, eine So- Juden aus den Internierungslagern ins brachten sie in Ferienkolonien oder Pfle- zialarbeiterin, die von der OSE ins Lager Lager Drancy als dem Vorzimmer zum gefamilien unter. Friedel Bohny-Reiter, abgesandt worden war, schreibt in ihren Tod in der Deportation. Gleichzeitig er- eine junge Krankenschwester vom Memoiren: „Ich schäme mich, für Frank- reichten die französischen Behörden es Schweizer Kinderhilfswerk, hat einen reich und für die Menschheit.“8 von Berlin, dass die Kinder zusammen herzzerreißenden Bericht über die Le- Im Frühjahr 1942 begannen die National- mit den Eltern deportiert werden sollten, bensbedingungen im Lager Rivesaltes sozialisten mit der Umsetzung der „End- während die Deutschen dies noch nicht hinterlassen. Im Lagerteil K hatte sie lösung“ in Frankreich. René Bousquet, beabsichtigt hatten. Dennoch wurden sich in einer dem Schweizer Hilfswerk Generalsekretär der Polizei des Vichy- nicht alle Kinder, die aus den Internie- vorbehaltenen Baracke eingerichtet, in Regimes, handelte am 2. Juli 1942 mit rungslagern kamen oder im Juli 1942 in der die Kinder Essen und Trost fanden. der deutschen Polizei aus, dass zunächst der besetzten Zone verhaftet wurden, In ihrem Tagebuch schreibt sie: „An dem nur die ausländischen Juden der beiden nach Auschwitz deportiert. Den Hilfs- fehlt’s ja überall – Hygiene! Die Kinder Zonen verhaftet werden sollten. Die organisationen gelang es, eine sehr voller Furunkel, Geschwüre, Ausschläge französischen Ordnungskräfte führten große Zahl von Kindern vor und nach – jedes oft nur mit einem oder zwei den Razzien in Sicherheit zu bringen. Im 7 Friedel Bohny-Reiter, „Journal de Rivesaltes, 1942- ‚Schlüttli‘ (Jäckchen) – gewöhnlich liegen 1942“, Genf 2010, S. 40 f. [Deutsche Ausgabe unter dem Lauf der zweiten Jahreshälfte 1942 wur- Titel „Vorhof der Vernichtung: Tagebuch einer Schweizer sie ohne Windeln, ohne Leintuch, auf Schwester im französischen Internierungslager Rivesal- den zahlreiche Familien auseinanderge- bloßen, schmutzigen Maträtzchen in tes 1941-1942, hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz rissen. Ein Großteil der Kinder aus den 1995; erweiterte Neuausgabe: „Camp de Rivesaltes: Tagebuch einer Schweizer Schwester in einem französi- französischen Lagern war nun verwaist. schen Internierungslager 1941-1942“, hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2010, dort S. 40; Anm. M.G.] Siehe Insgesamt wurden 3907 Juden aus auch den Dokumentarfilm von Jacqueline Veuve, „Jour- dem Lager Gurs nach Drancy gebracht, nal de Rivesaltes, 1941-1942“, Aquarius Productions, VPS prod. Lausanne, Conseil général des Pyrénées- 2289 Juden aus Rivesaltes und mehr als Orientales, 1997 (77 min.). [Der Film wurde 1998 mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet; Anm. M.G.] Internierte Babys im Lager Gurs (Pyrénées-Atlantiques), 8 Vivette Samuel, „Journal d’une volontaire“, in: 1942 • Mémorial de la Shoah / Coll. Fédération Évidences, n° 14, November 1950, S. 9. (CC_276a_2)

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 44 2000 aus Les Milles. Von der Logik der Roma bleibt bislang in einem toten Berlin [Himmler; M.G.] per Dekret die Exklusion schwenkte Frankreich damit Winkel der europäischen Erinnerung. Ihr Deportation aller „Zigeuner“ im Groß- um zur Logik der Deportation. Die Kolla- Schicksal ist ein ganz eigener Fall, den deutschen Reich nach Auschwitz an. Be- boration wurde mörderisch und die Inter- zu begreifen wir an den Anfang des züglich der besetzten Länder bzw. der nierungslager zu „Reservoirs“ für die 20. Jahrhunderts zurückgehen müssen. Satellitenstaaten stellte sich die Politik Deportation. In Frankreich galt ab 1912 ein Gesetz, jedoch als zögerlich und wenig eindeutig demzufolge die Angehörigen dieser no- heraus. Das Schicksal der Sinti und Roma – madischen Bevölkerungsgruppen zu ih- In dieser Hinsicht stellt Frankreich einen im toten Winkel der europäischen rer effizienteren Kontrolle einen anthro- Sonderfall dar. Für die besetzte Zone Erinnerung pometrischen Pass mit sich führen verkündeten die Deutschen am 4. Okto- mussten. Die öffentliche Meinung war ber 1940 per Runderlass die Internierung Die Historiker_innen tun sich schwer, ihnen gegenüber feindlich eingestellt. der Roma. Es sollte sich um 1500 Perso- sich hier auf eine Zahl der Opfer zu eini- Sie wurden unterschiedlicher Vergehen nen handeln. In der nicht besetzten Zone gen. Insgesamt schwanken die Zahlen beschuldigt, etwa des Kinderraubs. wurden nur sehr wenige Roma interniert. zwischen einigen zehntausend und Gleichzeitig machten die Rassenkundler Vichy rechnete sie nicht zu denjenigen, 500.000 im Krieg ermordeter Sinti und aufgrund ihrer vermuteten indoeuropä- die für die Niederlage verantwortlich Roma.9 Einzig systematische historische ischen Herkunft aus ihnen Nachfahren waren. Sie wurden an einem zugewiese- Untersuchungen – für jedes Land einzeln der Arier. Andererseits wurden sie als nen Aufenthaltsort festgesetzt bzw. – werden es gestatten, eine Gesamtzahl „Asoziale“ beschrieben, deren Reinheit durften nicht reisen. Die in den Lagern zu nennen und präzise zu verstehen, des Blutes durch mehrfache Vermischun- Rivesaltes und Saliers internierten Roma welches das Schicksal der Sinti und gen verdorben worden sei. Bereits ab stammten aus Elsass-Lothringen und Roma war. Die Verfolgung der Sinti und 1935 wurden die Sinti und Roma im Nazi- waren 1940 von den Deutschen vertrie- Reich im Namen der „Rassenhygiene“ in ben worden. Im gesamten Staatsgebiet 9 Denis Peschanski (mit Marie-Christine Hubert und Lagern10 interniert. Der Zweite Weltkrieg – in beiden Zonen zusammen – lag die Emmanuel Philippon), „Les Tsiganes en France“, CNRS Éditions, 2015 ; Peter Longerich, Heinrich Himmler, Bio- ließ der Politik von KZ und Vernichtung Zahl der in Frankreich internierten Roma grafie, München 2008 ; Guenter Lewy, „‘Rückkehr nicht der Sinti und Roma in Europa freien erwünscht‘. Die Verfolgung der Zigeuner im Deutschen Reich, München 2001. In einem Artikel der Zeitung Lauf. Am 16. Dezember 1942 ordnete „Libération“ vom 26. Oktober 2012 nennt die Expertin Henriette Asséo die Zahl von 500.000 Opfern, während Peter Longerich von einigen zehntausend spricht und 10 Bei diesen Lagern handelte es sich nicht um Konzen- Denis Peschanski eine Zahl zwischen 50.000 und 80.000 trationslager, sondern um kommunale Sammellager Internierte Spanier im Lager Argelès-sur-Mer (Pyrénées- angibt. (Anm. M.G.) Orientales), nach 1939 • Mémorial de la Shoah (CIII_259) zwischen 3000 und 6500 Männern, me. Erneut sahen sich die französischen • Einer Politik der Exklusion im Vichy- 45 Frauen und Kindern.11 Behörden überfordert. Die fort-bestehen- Regime (1940–1942): Mehr als Im Kontinuum einer Politik der Exklusi- de Notfallsituation führte manchmal zu 100.000 ausländische Juden wurden on und der Stigmatisierung, wie sie seit dramatischen Folgen. Auch das befreite interniert sowie etwa 3000 Roma,12 Beginn des 20. Jahrhunderts angebahnt Frankreich knüpfte wieder an eine Politik 15.000 politische Gefangene und wurde, hat auch Vichy seinen Platz. Fak- der Sonderregelungen an. mehrere tausend Strafgefangene. tisch wurden keine Roma aus Frankreich Über das Los der Roma kann man sich • Der Politik der Deportation seit dem aus den Internierungslagern deportiert. ebenfalls nur wundern. Im Februar 1945 deutsch-französischen Abkommen Die einzige Razzia fand in der Region Nord- saßen noch 755 Personen hinter Stachel- vom Sommer 1942: Die Internierungs- Pas-de-Calais statt, aber diese Region draht in den Internierungslagern – dabei lager dienten als Reservoirs für die gehörte zu der vom deutschen Haupt- war das Land schon seit sechs Monaten Deportationen. Im Lauf des Sommers quartier in Brüssel verwalteten Zone. befreit. Noch im Mai 1946 war ein Rom 1942 wurden mehr als 10.000 Juden 145 Roma wurden ins Lager Mechelen der letzte Internierte. von den französischen Behörden an die (Malines) in Belgien gebracht, bevor sie Nazis ausgeliefert. am 15. Januar 1944 nach Auschwitz de- Fazit • Erneut der Politik der Sonderregelun- portiert wurden. gen in der ersten Zeit nach der Befrei- Dem Historiker Denis Peschanski zu- ung (1944–1946): Es gab noch 100.000 Die Lager nach der Befreiung folge waren zwischen Februar 1939 und Internierte, darunter zahlreiche Roma, Mai 1946 etwa 600.000 Menschen inter- deutsche Zivilisten und Soldaten so- Nach der Befreiung dienten die Lager niert. Diese Internierung entsprach der wie Kollaborateure. als Gefängnisort für deutsche Soldaten, jeweiligen Politik in vier aufeinander fol- aber auch für deutsche Zivilisten, sowie genden Zeitabschnitten: für französische Kollaborateure. Die In- • Einer Politik der Sonderregelungen, 12 Die Zahl könnte mit etwa 6.500 internierten Roma evtl. ternierung erfolgte als Sofortmaßnah- solange Frankreich noch eine (un- höher liegen; dazu Marie-Christine Hubert und Emmanuel Filhol, „Les Tsiganes en France“ (vgl. Fußnote 10). abhängige; M.G.] Republik war [1938– 11 Marie-Christine Hubert et Emmanuel Filhol, „Les Tsi- 1940]: Die Internierung betraf 350.000 ganes en France: un sort à part 1939-1946“, Paris 2009; siehe auch die Monographie von Alexandre Doulut, „Les Spanier, 40.000 „Staatsangehörige Internierte Roma-Kinder im Lager Rivesaltes Tsiganes au camp de Rivesaltes (1941-1942)“, Collection (Pyrénées-Orientales), 1942 • Mémorial de la Shoah/Coll. Les Cahiers de Rivesaltes, Mémorial du camp de Rivesal- aus Feindstaaten“ und mehr als tau- Jacqueline Geneste (MII_230_13) tes, Paris 1914. (Der Autor gibt die Zahl der zwischen send politische Gefangene, überwie- 1941 und 1942 in diesem Lager internierten Roma mit Internierte Frauen im Lager Gurs (Pyrénées-Atlantiques), 1334 an). gend Kommunisten. 1942 • Mémorial de la Shoah / Coll. Fédération

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil 46 Die Internierungslager verweisen Juden aus ganz Europa und Roma inter- (…) Der Alltag hier war entsetzlich. Fast ebenso auf die jüdische Erinnerung wie niert. Aufgrund seiner riesigen Aus- genauso wie jene Euphemismen, mit de- auf die der Roma, auf die spanische und maße, der sich überlagernden Schichten nen die Wahrheit schamvoll verdeckt auf die europäische. Angesichts dieser von Erinnerungen und der Verschieden- werden sollte: ‚Rückhaltelager‘, ‚Internie- vielfältigen Geschichten ist es angera- heit der hier internierten Gruppen14 ist rungslager‘, ‚Sammellager‘ … Dennoch ten, die Politik dieser verschiedenen das Lager Rivesaltes zu einem Symbol bezeichneten diese unterschiedlichen Zeitabschnitte nicht miteinander zu ver- geworden.15 Angesichts der historischen Begriffe ein und dieselbe Realität: ein quicken. Nichtsdestoweniger bilden die Ruinen und des Gebäudes der Gedenk- Lager, das Menschen aufgrund totaler Fragen zum Staatsrecht und zum Schick- stätte erklärte der Premierminister: „Wie Missachtung ausgrenzte und aus- sal der Ausländer zwei rote Fäden, die könnte man in diesen Ziegelsteinen, die- schloss. Dieses Lager von Rivesaltes sich durch die gesamte Dauer dieser vier sen Mauern, diesen Baracken denn auch steht hier, um laut und deutlich in Erin- Zeitabschnitte hindurchziehen und de- nicht die Ablagerung allen Unglücks des nerung zu rufen, was allzu lange nur ren Nachklänge in der Gegenwart nicht 20. Jahrhunderts erblicken: von bewaff- ganz leise geflüstert wurde. Es steht aufhören, uns vor Fragen zu stellen. neten Konflikten, von Diktaturen, des hier, um alle Erinnerungen und alle Antisemitismus, des Rassismus, von der Leiden anzuerkennen, ohne jedes Ver- Spätes Gedenken fieberhaften Verblendung der Völker? gessen (…). In der Republik darf es kein gegenseitiges Überbieten im Gedenken Am 16. Oktober 2015 weihte Premier- 14 Die zeitlichen Grenzen reichen weit über den Zweiten geben!“ Weltkrieg hinaus, denn das Lager diente sukzessive als minister Manuel Valls nicht weit von Per- „überwachtes Aufenthaltszentrum“ für französische Kol- Dies ist eine heilsame Erkenntnis, auch pignan in Südfrankreich die Gedenkstät- laborateure (1944-45), als „Kriegsgefangenenlager“ für wenn sie erst mehr als 70 Jahre nach Deutsche und Italiener (1944-1948), als „Strafvollzugs- te des Lagers Rivesaltes ein.13 Nach ihrer anstalt“ für die algerischen Nationalisten (1962), als Kriegsende kommt. Die Internierungsla- „Durchgangslager“ für die Harkis (Hilfstruppen der fran- Errichtung 1938 war diese Militärkaserne zösischen Armee in Algerien) und ihre Familien (1962- ger gehören zu den düstersten Aspekten bereits 1940 in ein Internierungslager 1964), als Unterbringungsort für guineische Soldaten der Politiken von Sonderregelungen und und ihre Familien (1964-1966) und als „administratives umgewandelt worden. Mit einer Fläche Rückhaltelager“ für illegale Einwanderer (1986-2007). Ausschluss, die von den französischen

von 612 Hektar, also 4 auf 2 Kilometer, 15 Anne Boitel, „Le camp de Rivesaltes, 1941-1942. Du Behörden angewendet wurden. Was war Rivesaltes das größte der französi- centre d’hébergement au « Drancy de la zone libre »“, die Anerkennung all dieser Erinnerun- Nachwort von Serge Klarsfeld, Perpignan 2001; Joël schen Lager. Während der dunklen Jah- Mettay, „L’archipel du mépris, Histoire du camp de gen betrifft, bleibt noch vieles zu tun. Rivesaltes de 1939 à nos jours“, Perpignan 2001; Roger re waren hier spanische Republikaner, Barrié, „Mémento chronologique du Camp de Rivesal- tes“, Perpignan 2011; Nicolas Lebourg, Abderahmen Moumen, Préface de Philippe Joutard, „Rivesaltes, le 13 www.memorialcamprivesaltes.eu. camp de la France“, Perpignan, 2015. Geschichtsschreibung und späte auf das Auftauchen „einer verworrenen Anerkennung im Gedenken Botschaft, die – weit davon entfernt, das notwendige Wissen einer Erinnerung an Dennoch hat die Geschichtsschreibung die Seite zu stellen, die nicht bloße Emo- zu diesem Thema seit der Pionierarbeit tion sein soll – vielmehr zum Desinteres- von Anne Grynberg Fortschritte ge- se beitrüge und die Unwissenheit aufrecht- macht; ihre Dissertation von 1989 er- erhielte.“ schien 1991 als Buch unter dem Titel Die Konfliktsituation im Gedenken „Les camps de la honte“.16 Dieser wis- dauert seit 1999 an, aber die Historiker senschaftlichen Gesamtdarstellung vor- haben ihre Arbeit fortgesetzt. 2000 legte angegangen waren Arbeiten, die den Denis Peschanski eine meisterhafte Dis- Weg frei gemacht hatten, etwa das erste sertation über die französischen Inter- Buch zu diesem Thema überhaupt von nierungslager vor, die den Zeitraum von Joseph Weill, das bereits 1946 das Centre 1938 bis 1946 abdeckt.22 Inzwischen ha- de Documentation Juive Contemporaine ben unzählige wissenschaftliche Mono- herausgegeben hatte, „Contribution à graphien, Kolloquien, Bücher und Doku- l’histoire des camps d’internement dans mentationen das Thema aufgegriffen. Es l’Anti-France“.17 Einige Jahrzehnte später tauchte auch in den Schulbüchern auf, brachten die aufeinander folgenden Ar- und die ersten speziell der Internierung beiten von Serge Klarsfeld18 und die Dis- gewidmeten Gedenkstätten entstanden. sertation von Claude Laharie (1982) zum Im Mai 2007 wurde mit der Anlage von Lager Gurs19 etwas mehr Klarheit. 1999 Wegen, Informationspulten und einem erschien eine Neuauflage der Arbeit von Dokumentationszentrum das Gelände Anne Grynberg mit einem zuvor unver- des ehemaligen Lagers Gurs erschlos- öffentlichten Nachwort, in dem die Auto- sen.23 Am 27. Januar 2011 eröffneten rin sich mit dem „Auftauchen des The- Jacques Chirac und Simone Veil in mas im Lauf dieser letzten Jahre in den Orléans das „Centre d’étude et de Kreisen der Historiker, insbesondere recherche sur les camps d’internement aber in der öffentlichen Meinung“ be- du Loiret“ (CERCIL).24 Elf Tage, nachdem schäftigte.20 Einerseits hob sie das Er- der Premierminister die Gedenkstätte scheinen zahlreicher Untersuchungen des Lagers Les Milles25 eröffnet hatte, hervor (Zeitzeugenberichte, Tagungs- eröffnete Präsident François Hollande bände, Aufsatzsammlungen) und das In- am 21. September 2012 die Gedenkstätte teresse junger Historiker_innen an Fall- Drancy.26 Als bisher letzte wurde am studien. Zur verlegerischen Aktivität 16. Oktober 2015 die Gedenkstätte des 47 hinzu traten Ausstellungen21 sowie meh- Lagers Rivesaltes eröffnet. rere Dokumentationen und Filme, und

Gedenktafeln wurden angebracht. Ande- 22 Denis Peschanski, „La France des camps. rerseits stellte die Autorin mit Bitterkeit L’internement, 1938-1946 », Paris 2002. fest: „Bis heute gibt es keinen Gedenk- 23 www.campgurs.com ort, der bezüglich der Internierung er- 24 www.cercil.fr dacht und eingerichtet worden wäre.“ 25 www.campdesmilles.org Sie mahnte zur Wachsamkeit ange- 26 http://www.memorialdelashoah.org/index.php/fr/me- sichts der Verwirrung, die aufgrund un- morial-de-drancy/le-memorial-de-la-shoah-a-drancy terschiedlicher Ansprüche an ein Geden- ken entstanden ist: deportierte Widerstandskämpfer, spanische Repub- likaner, Juden, Roma usw. In ihrem Fazit verwies sie insbesondere

16 Anne Grynberg, „Les camps de la honte. Les internés juifs des camps français, 1939-1944“, Paris 1991, Neuauf- lage 1999 als Taschenbuch.

17 Joseph Weill, „Contribution à l‘histoire des camps d’internement dans l’Anti-France », Paris 1946.

18 Serge Klarsfeld, „Le Mémorial de la déportation des Juifs de France“, Paris 1978 (die Ergänzungsbände 1 bis 4 folgten zwischen 1978 und 1982).

19 Claude Laharie, „Le Camp de Gurs 1939-1945. Un as- pect méconnu de l’histoire du Béarn“, Pau 1985 (Neuauf- lage 1993 unter dem Titel „Le Camp de Gurs 1939-1945. Un aspect méconnu de l’histoire de Vichy“).

20 Anne Grynberg, „Les camps de la honte“ (vgl. Anm. 1), S. 387-396.

21 Die im April 1994 eröffnete Dauerausstellung in der Gedenkstätte „Maison d’Izieu“ widmet dem Thema der Internierungslager breiten Raum. Anne Grynberg war die Kuratorin dieser Ausstellung.

Schwerpunktthema Flucht, Migration, Exil Bericht des Geschäftsführers

Jens-Christian Wagner

48 Gedenkstätten sind Orte der Trauer jungen Menschen, Theateraufführun- Hier ist im Frühjahr 2015 Großartiges ge- um die Opfer der NS-Verbrechen, sie gen, Konzerten, Lesungen und Diskussi- leistet worden, und dafür möchten sich sind aber auch internationale Lernorte onsrunden bis hin zu wissenschaftlichen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der und moderne zeithistorische Museen. Tagungen. Die große Bandbreite der Stiftung sehr herzlich bedanken. Das gilt Das zeigt nicht zuletzt auch das breite in- Veranstaltungen hat eindrucksvoll ge- auch für die finanzielle Unterstützung haltliche Programm, das die niedersäch- zeigt, was neben der Würdigung der Op- durch zahlreiche Spender und Sponsoren. sischen Gedenkstätten zum 70. Jahres- fer das Hauptziel unserer Arbeit ist: eine Neben der Vorbereitung und Umset- tag der Befreiung im Frühjahr 2015 kritische inhaltliche Auseinandersetzung zung des Veranstaltungsprogramms aufgestellt haben. mit den an den historischen Orten be- zum 70. Jahrestag der Befreiung lief Medial wurde sicherlich die Gedenkver- gangenen Verbrechen und ihrem gesell- selbstverständlich auch der alltägliche, anstaltung in Bergen-Belsen am 26. April schaftlichen Kontext. grundständige Betrieb weiter, der sich 2015 am stärksten beachtet, an der neben Welcher organisatorische und perso- mit den Stichworten Bewahren, For- 100 Überlebenden auch hochranginge nelle Aufwand hinter solchen Veranstal- schen und Vermitteln zusammenfassen Staats- und Verbandsrepräsentanten tungen steht, weiß nur, wer sie selbst lässt. Gemeint sind etwa die Betreuung aus vielen Ländern teilnahmen, darunter schon einmal vorbereitet hat. Erfolgreich von Besuchergruppen, das Sammeln Bundespräsident Joachim Gauck, Prinz kann das nur dann umgesetzt werden, und Inventarisieren von historischen Richard Duke of Gloucester als Vertreter wenn man sich auf Partner außerhalb Dokumenten und Exponaten, die Beant- des britischen Königshauses und Ronald der Gedenkstätten verlassen kann. An wortung wissenschaftlicher Anfragen S. Lauder, Präsident des Jüdischen Welt- erster Stelle sind hier die Verbände der und Anfragen zur Schicksalsklärung, die kongresses. Doch auch an vielen ande- Überlebenden zu nennen, in denen aus- Erarbeitung von Infotexten sowie didak- ren Orten in Niedersachsen wurde an schließlich ehrenamtlich gearbeitet wird. tischen und historiographischen Publika- die Befreiung vor 70 Jahren erinnert, Aber auch die Unterstützung aus Minis- tionen und die konzeptionelle Weiterar- etwa in den Gedenkstätten Salzgitter- terien, Behörden und Kommunen, von beit an didaktischen Formaten, Aus- Drütte, Wolfenbüttel, Moringen, Osna- diplomatischen Vertretungen und Reli- stellungen und baulichen bzw. land- brück-Augustaschacht, Esterwegen, gionsgemeinschaften, von der Polizei, schaftsplanerischen Gestaltungen. Sandbostel, Wehnen und Lüneburg. Er- Unfall- und Pflegediensten, Catering- Noch stärker als früher möchte die freulich gut waren dabei die inhaltlichen Dienstleistern, Hotels, Fahrdiensten, Stiftung in der Zukunft mit Wanderaus- Veranstaltungen besucht. Das Spektrum dem staatlichen Baumanagement und stellungen in Niedersachsen und dar- reichte von Ausstellungseröffnungen, nicht zuletzt Vereinen und ehrenamtli- über hinaus präsent sein. Ein Schritt in Begegnungen zwischen Zeitzeugen und chen Helfer_innen ist unverzichtbar. diese Richtung war die Erarbeitung der • Stefan Wilbricht • Jutta Wollenberg / Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Niedersächsische Landesbibliothek

15./16. Januar: Die Mitglieder der Internationalen Experten- Am 20. Januar präsentierte die Stiftung niedersächsische kommission für die Neugestaltung der Gedenkstätte in der Gedenkstätten zwei Publikationen in der Niedersächsischen JVA Wolfenbüttel trafen sich zur Gremiensitzung in Hannover; Landesbibliothek / Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek hier PD Dr. Thomas Henne und Prof. Dr. Inge Marszolek. Hannover; hier Vortrag von Dr. Thomas Rahe.

Ausstellung „Zwischen Harz und Heide. 2015 ist der Blog in erweiterter Fassung Rand der Kaserne. Die beiden Blöcke 49 Todesmärsche und Räumungstranspor- auch als Buch erschienen. dienten im April 1945 zur Unterbringung te im April 1945“, die in Kooperation mit Im Herbst 2014 hatten Presseberichte von KZ-Häftlingen aus dem geräumten der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora über den Sanierungsstau in der Gedenk- KZ Mittelbau-Dora sowie nach der Be- entstand und seit dem Frühjahr 2015 in stätte Bergen-Belsen für Aufsehen ge- freiung als Unterkünfte des DP-Camps. den Gedenkstätten Bergen-Belsen und sorgt. Zwischenzeitlich konnten Dank zu- Derzeit erarbeitet die Stiftung ein inhalt- Mittelbau-Dora sowie in Lüneburg, Salz- sätzlicher Mittel des Landes wichtige liches Konzept zur Nutzung der Kaser- gitter und Gardelegen gezeigt wurde Sanierungs- und Baumaßnahmen umge- nengebäude. Im Kern geht es um die und für weitere Orte fest gebucht ist. setzt werden, etwa am Obelisken und an Nutzung für Bildungszwecke (Seminar- Zur besseren Sichtbarkeit der Stif- der Inschriftenwand. Auch die seit Jah- räume), vor allem, um bessere Möglich- tungsarbeit soll auch der Ausbau der ren geplante Stilllegung der überlaste- keiten für hochwertige, vertiefende An- Web-Angebote beitragen. Anfang 2015 ten gedenkstätteneigenen Kläranlage gebote zu haben (Studientage und mehr- wurde das bereits im Jahresbericht 2014 und der Anschluss an das öffentliche tägige Projekte). Hier stehen auch neue vorgestellte Bildungsportal geschichte- Abwassernetz sind 2015 erfolgt. Für die Zielgruppen in Aussicht (Erwachsenen- bewusst-sein.de freigeschaltet. Es hat kommenden Jahre stehen weitere Ar- bildung, Soldaten, Polizei). Zusätzlich sich zu einer wichtigen Informations- beiten an, etwa die Konservierung der sollen historische Relikte des Konzentra- plattform für die Bildungsarbeit in den Umfassungen an den Massengräbern tionslagers und des DP-Camps ein- niedersächsischen Gedenkstätten entwi- und die Sicherung der erhalten gebliebe- schließlich der beiden benachbarten ckelt. Auf großen Zuspruch traf auch der nen baulichen Relikte des ehemaligen Friedhöfe sichtbar gemacht werden. Un- Internet-Blog „70 Tage Gewalt, Mord, Lagers. terstützung erfährt das Projekt durch die Befreiung. Das Kriegsende in Nieder- Nach dem Abzug der britischen Streit- Stadt Bergen, die die Errichtung einer in- sachsen“ (http://blog.befreiung1945.de), kräfte aus der Kaserne Bergen-Hohne ternationalen Jugendbegegnungsstätte ein Gemeinschaftsprojekt der Stiftung bietet sich der Gedenkstätte Bergen- in der Stadt plant, in der – ergänzend zur mit zahlreichen Gedenkstätten und Initia- Belsen die Chance, Teile der Kaserne, bewährten Kooperation mit dem Anne- tiven in Niedersachsen, das vom 27. Feb- die von der Bundeswehr übernommen Frank-Haus in Oldau – Gruppen unterge- ruar bis zum 8. Mai 2015 täglich eine wurde, für die Vermittlungs- und Bildungs- bracht werden könnten, die mehrtägige oder mehrere Fallgeschichten präsen- arbeit zu nutzen. Mit der Bundeswehr Bildungsformate in der Gedenkstätte tierte, die sich genau 70 Jahre zuvor in laufen derzeit Gespräche über die Über- buchen. den letzten Monaten der NS-Herrschaft lassung von einem oder zwei sogenann- Bedauerlicherweise endeten 2015 die in Niedersachsen ereignet haben. Ende ten Mannschaftsblöcken am südlichen beiden EU-geförderten langjährigen

Stiftung • Nadine Jenke / Gedenkstätte Mittelbau-Dora

Am 27. Januar erfolgte die Freischaltung des Teil 1 der Ausstellung „Zwischen Harz und Heide. Todes- Online-Bildungsportals „Geschichte.Bewusst.Sein“ märsche und Räumungstransporte im April 1945“ wurde am 13. April in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora eröffnet.

50 didaktischen Projekte „Entrechtung als gebäude soll die historische Struktur schacht Ohrbeck. Das historische Ge- Lebenserfahrung“ und „Menschen ach- sicht- und lesbar gemacht werden, zu- bäude wurde in Absprache mit dem ten – Rechte verstehen“. Ihre Ergebnisse dem werden die bisherigen Ausstel- Denkmalschutz den Erfordernissen einer sind in Form neuer Bildungsformate in lungsräume in den Sammelzellen zu arbeitenden Gedenkstätte angepasst. Im die Arbeit der von der Stiftung getrage- multimedialen Lernräumen umgebaut. Vordergrund standen die Herstellung nen und geförderten Gedenkstätten ein- Begleitend zu den Arbeiten an Teilpro- der Barrierefreiheit und die Schaffung geflossen, zudem stehen sie Interessier- jekt II, das im August 2016 abgeschlos- von Räumlichkeiten für die Bildungsar- ten auf dem Bildungsportal geschichte- sen werden soll, begannen die konzepti- beit und die Unterbringung der histori- bewusst-sein.de zum Download bereit. onellen Vorarbeiten für Teilprojekt III, schen Sammlung. In der KZ-Gedenk- Module aus dem Projekt „Entrechtung den Bau eines neuen Gedenkstättenge- stätte Moringen wird derzeit die Neu- als Lebenserfahrung“ werden auch in bäudes am Rande der JVA mit einer neu- gestaltung des Eingangsbereiches des unser neues Projekt „Kompetent gegen en Dauerausstellung, Seminarräumen, früheren Kommandanturgebäudes auf Antiziganismus in Geschichte und Ge- einer Besucherinformationen und – im der Basis mediengestützter Module ge- genwart“ einfließen, das auf fünf Jahre Gegensatz zu den derzeitigen Räumlich- plant. Die KZ-Gedenk- und Dokumentati- angelegt ist und vom Bundesprogramm keiten der Gedenkstätte – freier Zugäng- onsstätte Salzgitter-Drütte wiederum „Demokratie leben“ gefördert wird. Das lichkeit für Spontanbesucher_innen. Zur beabsichtigt die Nutzung zusätzlicher Projekt hat zum Ziel, Multiplikator_innen Architektur des Neubaus, der bis 2018 historischer Räumlichkeiten für Ausstel- und Vertreter_innen verschiedener Be- fertiggestellt werden soll, ist die Aus- lungs- und Vermittlungszwecke. Auch rufsgruppen für historische und gegen- schreibung bereits erfolgt, und das Kon- hier plant die Stiftung eine Förderung, wärtige Formen von Antiziganismus/An- zept für die neue Ausstellung ist in Ar- wie sie auch die konzeptionelle Planung tiromaismus zu sensibilisieren und beit – in enger Zusammenarbeit mit der für Neugestaltungsprojekte u.a. in der Handlungskompetenzen gegen die Dis- dafür eingesetzten Internationalen „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg, kriminierung von Sinti und Roma zu Expertenkommission. der Dokumentationsstelle Pulverfabrik vermitteln. Auch in den nicht in Trägerschaft der Liebenau und in den Gedenkstätten Eines der aktuellen Hauptprojekte der Stiftung stehenden Gedenkstätten in Augustaschacht Ohrbeck und Gestapo- Stiftung niedersächsische Gedenkstät- Niedersachsen sind mit Unterstützung keller Osnabrück fördert. Damit wird die ten ist die Neukonzeption der Gedenk- durch die Stiftung konzeptionelle Neue- Gedenkstättenlandschaft in Niedersach- stätte in der JVA Wolfenbüttel. 2015 rungen eingeleitet worden. Gefördert sen weiter ausgebaut und professionali- stand ganz im Zeichen der Arbeit an Teil- werden konnten 2014/2015 Baumaß- siert. Zugleich werden die Spezifika der projekt II: Im ehemaligen Hinrichtungs- nahmen in der Gedenkstätte Augusta- jeweiligen historischen Orte in den Mit- Sitzungen der Fachkommission für die Förderung und Fortentwicklung der Gedenkstättenarbeit in Niedersachsen fanden am 4./5. Juni in Hannover und am 27. November in Celle statt.

• Katrin Unger

Der Stiftungsbeirat tagte am 24. April in Bergen.

telpunkt gestellt. In der Summe zeigen 51 die Gedenkstätten in Niedersachsen (fast) die ganze Bandbreite der NS-Ver- brechen und ihrer gesellschaftlichen Verankerung. Mit diesem Fokus die ein- zelnen Bildungsangebote in den Gedenk- stätten noch besser untereinander abzu- stimmen sowie sie gegenwartsbezogen und handlungsorientiert zu akzentuieren, wird Aufgabe der gemeinsamen Arbeit in den kommenden Jahren sein.

Stiftung Publikationen der Stiftung

Jahresbericht 2014

52 Veröffentlichungen und Vorträge von Beschäftigten der Stiftung

Veröffentlichungen Keller, Rolf Rahe, Thomas Arbeitseinsatz und Hungerpolitik. Architekturskizzen von István Irsai aus Bähr, Karen Sowjetische Kriegsgefangene im Deut- dem Konzentrationslager Bergen-Bel- „Der Krieg ist vorbei. Heimkehr – Trau- schen Reich 1941/42, in: Christoph Dieck- sen, in: Postkarten von Bergen-Belsen. ma – Weiterleben“, Tagungsbericht vom mann/Babette Quinkert (Hg.): Kriegfüh- István Irsai und sein graphisches Werk. 11.–12.6.2015 Seelow, in: H-Soz-Kult, rung und Hunger 1939–1945. Zum Verhält- Bergen-Belsen Kleine Reihe, Band 2, he- 12.8.2015, und politischen Interessen, Göttingen sächsische Gedenkstätten, Celle, S. 56–61. 2015 (Beiträge zur Geschichte des Natio- Das Konzentrationslager Bergen-Bel- Hummel, Juliane nalsozialismus, Bd. 30), S. 123–154. sen und die Todesmärsche, in: Regine „Hier ruhen 156 unbekannte Opfer des (zusammen mit Jens Nagel und Rein- Heubaum/Jens-Christian Wagner (Hg.), Dritten Reichs“. Gräber und Gedenken hard Otto) Sowjetische Kriegsgefangene Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche an die Opfer der Räumungstrans-porte. – Zahlen und Dimensionen, in: Centralne und Räumungstransporte im April 1945, Skizzen aus Niedersachsen, in: Zwischen Muzeum Jencow Wojennych w Lambi- Göttingen 2015, S. 120–125. Harz und Heide. Todesmärsche und nowicach-Opolu: Lambinowicky Rocznik Räumungstransporte im April 1945. Muzealny Nr. 37, Opole 2015, S. 71–93 (in Seifert, Daniel Begleitband zur Ausstellung, herausge- polnischer Sprache). (zusammen mit Jens-Christian Wagner) geben von Regine Heubaum und Jens- Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Bergen- Christian Wagner, Göttingen 2015, Pope, Ruth Belsen, in: Stiftung niedersächsische S. 126–132. „‘Das haben Menschen Menschen an- Gedenkstätten (Hg.), Jahresbericht 2014, Sowjetische Kriegsgefangenenfried- getan‘ (Zofia Nalkowska) – Gedanken zur Celle 2015, S. 8–11. höfe des Zweiten Weltkriegs in der Lüne- Jugendbegegnung des Deutschen Bun- Historisch-politische Bildung und burger Heide, in: Historische Friedhöfe destages 2015“, in: Deutscher Bundes- Menschenrechtslernen in Gedenkstätten in Deutschland, herausgegeben vom tag. Tag des Gedenkens an die Opfer des zur Erinnerung an Massengewaltverbre- Bund für Heimat und Umwelt, im Druck. Nationalsozialismus, hrsg. vom Deut- chen. Bericht und Reflexion über ein schen Bundestag. Referat Öffentlichkeits- transnationales Fortbildungsprogramm arbeit, Berlin 2015, S. 36–46. der Gedenkstätten Bergen-Belsen, Zwischen Harz und Heide From Harz to Heath 70 Tage Gewalt, Mord, Befreiung. Todesmärsche und Räumungs- Death Marches and Evacuation Das Kriegsende 1945 in Niedersachsen transporte im April 1945 Transports in April 1945 Herausgegeben von Jens-Christian Begleitband zur Ausstellung Exhibition catalogue, volume I + II Wagner im Auftrag der Stiftung nieder- Herausgegeben von Regine Heubaum Edited by Regine Heubaum and Jens- sächsische Gedenkstätten und Jens-Christian Wagner im Auftrag Christian Wagner on behalf of the Göttingen (Wallstein), 166 Seiten der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald Buchenwald and Mittelbau-Dora und Mittelbau-Dora und der Stiftung Memorials Foundation and the Lower niedersächsische Gedenkstätten Saxony Memorials Foundation Göttingen (Wallstein), 136 Seiten 44 Seiten

Auschwitz-Birkenau und „Perm-36“, Wagner, Jens-Christian Die Befreiung des KZ Bergen-Belsen im 53 www.geschichte-bewusst-sein.de (Hg. Im Auftrag der Stiftung nieder- April 1945, in: Stiftung niedersächsische Die Gedenkstätte ‚Perm-36‘ in Russ- sächsische Gedenkstätten) „70 Tage Gedenkstätten (Hg.), 70. Jahrestag der land, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 176 Gewalt, Mord, Befreiung. Das Kriegsen- Befreiung des KZ Bergen-Belsen, Celle (12/2014), S. 39–50. de in Niedersachsen“, Göttingen 2015. 2015, S. 16–31. Kriegsende und Befreiung 1945 in Produktion des Todes. Das KZ Mittel- Seybold, Katja Niedersachsen, in: (Hg.) Jens-Christian bau-Dora. Aktualisierte und erweiterte (zusammen mit Martina Staats) „In Wagner, 70 Tage Gewalt, Mord, Befrei- Neuauflage, herausgegeben von der Auschwitz vergast, bis heute verfolgt" – ung. Das Kriegsende in Niedersachsen, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Gedenkfeier und Großkundgebung in Göttingen 2015, S. 6–12. Mittelbau-Dora, Göttingen 2015. der Gedenkstätte Bergen-Belsen am Mörderisches Ende. Todesmärsche, Zeugnisse des Grauens und der Humani- 27. Oktober 1979 zur Erinnerung an den Räumungstransporte und die Auflösung tät. Die KZ-Erinnerungen von Armand Völkermord an den Sinti und Roma, in: der Konzentrationslager, in: Detlef Gar- Roux und der Quellenfund von Celle, in: Stiftung niedersächsische Gedenkstät- be/Günter Morsch (Hg.), Kriegsendver- Armand Roux, Im Zeichen des Zebras. ten (Hg.), Jahresbericht 2014, Celle 2015, brechen zwischen Untergangschaos und Aufzeichnungen eines Überlebenden S. 18-20. Vernichtungsprogramm, Berlin 2015 über das KZ-Außenlager Holzen und den (Konzentrationslager. Studien zur Ge- Todesmarsch in das KZ Bergen-Belsen, Staats, Martina schichte des NS-Terrors; 1), S. 17–36. Holzminden 2015, S. 7–18. (zusammen mit Katja Seybold) „In Die Gedenkstätte als letzte Ruhestätte. Vorwort, in: Aimé Bonifas, Häftling Auschwitz vergast, bis heute verfolgt" - Historische Orte und Gedenkstättenar- 20801. Ein Zeugnis über die faschisti- Gedenkfeier und Großkundgebung in beit am Beispiel Niedersachsen, in: Vier schen Konzentrationslager, Berlin/Bonn der Gedenkstätte Bergen-Belsen am Viertel Kult. Vierteljahresschrift der Stif- 2015, S. 9–11. 27. Oktober 1979 zur Erinnerung an den tung Braunschweigischer Kulturbesitz, Kurz vor Kriegsende noch Hunderttau- Völkermord an den Sinti und Roma, in: 5. Jg., Nr. 19 (Winter 2015), S. 26–29. sende in den Tod getrieben, in: Evangeli- Stiftung niedersächsische Gedenkstät- 13 Millionen Sklaven, in: Die neuen sche Zeitung, Heft 18/2015. ten (Hg.), Jahresbericht 2014, Celle 2015, Deutschen. Vom Dreißigjährigen Krieg (zusammen mit Thomas Rahe) Sinti S. 18-20. bis heute: 400 Jahre Einwanderung nach und Roma als Häftlinge im KZ Bergen- Deutschland, in: Die Zeit Geschichte, Belsen, in: Stiftung niedersächsische H. 4/2015, S. 78–84. Gedenkstätten (Hg.), Jahresbericht 2014, Celle 2015, S. 8–11.

Stiftung Józef Gitler Postcards from Bergen-Belsen Dokumentation / Documentation Leben am seidenen Faden István Irsai and his graphic art 70. Jahrestag der Befreiung des Konzen- Tagebuch aus dem Austauschlager With contributions from Ladislaus Löb, trationslagers Bergen-Belsen Bergen-Belsen Thomas Rahe and Miryam 70th anniversary of the liberation of the Aus dem Polnischen von Joanna Liedke Sommerfeld-Irsai Bergen-Belsen concentration camp Eingeleitet und kommentiert von Karl Bergen-Belsen Kleine Reihe, Herausgegeben von der Stiftung Liedke herausgegeben von der Stiftung nieder- niedersächsische Gedenkstätten/ Bergen-Belsen – Berichte und Zeugnisse, sächsische Gedenkstätten, Band 2, Gedenkstätte Bergen-Belsen herausgegeben von der Stiftung nieder- 74 Seiten Mit einer DVD, 232 Seiten sächsische Gedenkstätten, Band 4 Göttingen (Wallstein), 120 Seiten

54 (Hg., zusammen mit Regine Heubaum) Vorträge Jüdische Flüchtlinge und Displaced Per- Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche sons während und nach der Zeit des NS” und Räumungstransporte im April 1945. Bähr, Karen – fünftes überregionales Netzwerktref- Begleitband zur Ausstellung, Göttingen „Die Arbeit der Gedenkstätte Bergen- fen der International School for Holo- 2015. Belsen und die Tätigkeiten dort im wis- caust Studies in Kooperation mit der Ge- (Ed. with Regine Heubaum) From Harz senschaftlichen Volontariat“. Vortrag denkstätte Yad Vashem (Israel) und dem to Heath. Death Marches and Evacuation beim Lions Club Bielefeld, 13. Oktober. Projekt „Entrechtung als Lebenserfah- Transports in April 1945. Exhibition cata- rung” (Stiftung niedersächsische Gedenk- logue, Vol. I, Nordhausen/Weimar 2015. Billib, Stephanie stätten), Gedenkstätte Bergen-Belsen, (Ed. with Regine Heubaum) From Harz (Zusammen mit Marc Ellinghaus) „Der 13. Februar. to Heath. Death Marches and Evacuation Geländeguide der Gedenkstätte Bergen- Transports in April 1945. Exhibition cata- Belsen“. Präsentation beim Treffen der Ellinghaus, Marc logue, Vol. II, Celle 2015. Außenlager-Initiativen und -gedenkstätten (Zusammen mit Stephanie Billib) „Der in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Geländeguide der Gedenkstätte Bergen- Wolpers, Christian 6. November. Belsen“. Präsentation beim Treffen der Mit Bildung gegen Antiziganismus, in: Außenlager-Initiativen und -gedenkstätten Stiftung niedersächsische Gedenkstät- Binner, Jens in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, ten (Hg.), Jahresbericht 2014, Celle 2015, „Täterloses Erinnern – die Schizophre- 6. November. S. 21-23. nie lokaler Gedenkkultur am Beispiel der Stadt Peine“. Vortrag bei der Tagung Gödecke, Monika „Erinnerungskultur und Vergangenheits- Jahresrückblick und aktuelle Schwer- politik – die Folgen der NS-Herrschaft punkte in der Arbeit der Stiftung nieder- und der gesellschaftliche Wandel im sächsische Gedenkstätten bzw. der Ge- Umgang mit den NS-Verbrechen“ der denkstätte Bergen-Belsen. Vortrag bei Stiftung niedersächsische Gedenk- der Generalversammlung der Amicale stätten, Hannover, 10. Oktober. des Anciens Déportés de Bergen-Belsen, Paris, 14. November. Brockhaus, Monika „Die Geschichte von Bergen-Belsen“. Gring, Diana Vortrag beim Seminar „Unwanted – „The Interview Project of the Bergen- „Es wird – Oh. Es wird!“ „Alles Erbkranke (ist) lückenlos neu gestalten Dokumentation zum 70. Jahrestag der auszumerzen” Das Neugestaltungsprojekt der Gedenk- Befreiung des Strafgefängnisses Die Anwendung des stätte in der JVA Wolfenbüttel Wolfenbüttel Erbgesundheitsgesetzes im Ausgabe 1 Herausgegeben von der Stiftung nieder- Freistaat Braunschweig 1934–1945 Herausgegeben von der Stiftung nieder- sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Thomas Kubetzky sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel in der JVA Wolfenbüttel 52 Seiten 32 Seiten

Belsen Memorial. Video Testimonies Bund für Heimat und Umwelt in Zusam- und das sowjetische Kriegsgefangenen- 55 with Survivors and other Witnesses”. menarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft wesen in der Forschung“; Veranstalter: Vortrag im Deutsch-Polnisch-Ukraini- Friedhof und Denkmal/Museum für Se- Centralne Muzeum Jencow Wojennych schen Jugendbegegnungsprojekt „Die pulkralkultur und der Gesellschaft für w. Lambinowicach-Opolu, Lambinowice Geschichte beginnt in der Familie”, Ge- Kultur- und Denkmalpflege – Hessischer (Polen), 20. November. denkstätte Bergen-Belsen, 26.August. Heimatbund, Kassel, 13. Juni. „Blick zurück nach vorn – Plädoyer für „Aspekte und Perspektiven im Um- Kubetzky, Thomas ein neues Verständnis von lebensge- gang mit den archäologischen Relikten Seminar „Justiz im Nationalsozialis- schichtlichen Zeitzeugen-Interviews im der Gedenkstätte Bergen-Belsen“, Vor- mus“ (Lehrauftrag am Historischen Ins- Kontext musealer, wissenschaftlicher trag bei der Tagung „Archäologie und titut der Universität Braunschweig, und pädagogischer Nutzung“. Vortrag Gedächtnis. NS-Lagerstandorte Erfor- Sommersemester 2015) bei der Konferenz „Digitale Wege gehen? schen – Bewahren – Vermitteln“, Veran- Vom Add-On zur digitalen Lernumge- stalter: Brandenburgisches Landesamt Lieske, Dagmar bung in Gedenkstätten und Erinnerungs- für Denkmalpflege und Archäologisches „Der Umgang mit ‚Kinderschändern‘ orten“, Gedenkstätte Bergen-Belsen, Landesmuseum, Brandenburg/Havel, im Nationalsozialismus“. Vortrag bei der 4. Dezember. 19. September. Tagung „Zucht und Ordnung: Gewalt ge- gen Kinder in historischer Perspektive“, Häring, Simona Keller, Rolf Veranstalter: Akademie für politische „Beseitigung der Grundrechte nach „GeschichtsOrt ‚Stedingsehre‘ – Per- Bildung Tutzing in Kooperation mit der 1933. Die Rolle der Justiz in der NS-Dik- spektiven der Kooperation und der För- Ludwig-Maximilians-Universität Mün- tatur“, Vortrag im Rahmen der Koopera- derung im Kontext der NS-Dokumenta- chen und der Johannes Gutenberg- tion mit amnesty international und dem tionsstätten und Erinnerungsorte“, Universität Mainz, (13.–15. November), Bildungszentrum des Landkreises Vortrag bei der Tagung zum zehnjährigen Tutzing, 15. November. Wolfenbüttel, Wolfenbüttel, 14. Januar. Bestehen des „Arbeitskreis Stedings- „Die Entwicklung von Bildungsmaterial ehre“, Ganderkesee-Bookholzberg, über die Verfolgung von ‚Kriminellen‘ im Hummel, Juliane 7. November. Nationalsozialismus“. Vorstellung des „Sowjetische Kriegsgefangenenfried- „Der ‚Russeneinsatz‘ im Vernichtungs- Projekts im Projektseminar „Justizver- höfe des zweiten Weltkrieges in der Lü- krieg – Sowjetische Kriegsgefangene im brechen im Nationalsozialismus“ von neburger Heide“, Vortrag bei der Tagung Deutschen Reich“, Vortrag bei der Tagung Dr. Wagner an der Universität Göttingen, „Historische Friedhöfe“, Veranstalter: „70 Jahre nach dem Krieg. Das deutsche 14. Dezember.

Stiftung Gedenkstätte Bergen-Belsen Gedenkstätte Bergen-Belsen Halbjahresprogramm Halbjahresprogramm April bis September 2015 Oktober 2015 bis März 2016

56 Petry, Silke „Genese und Stand der historischen „Anne Frank und Bergen-Belsen“. „… ein notwendiges Übel“ – Der Ar- Forschung zu Kindern als Häftlingen in Vortrag im Rahmen der Wanderausstel- beitseinsatz der sowjetischen Kriegsge- den nationalsozialistischen Konzentra- lung des Anne-Frank-Zentrums Berlin, fangenen 1941–1945, Vortrag in der Do- tionslagern“, Vortrag beim „Child Witten, 5. Dezember. kumentations- und Gedenkstätte Survivor Forum“, Gedenkstätte Bergen- Sandbostel, 16. Juni. Belsen, 24. April. Schlichting, Nicola „Die jüdische DP-Gemeinde in Celle „Zur Geschichte der Displaced Per- Rahe, Thomas nach 1945“, Vortrag in der Synagoge sons in der amerikanischen und der bri- „Bergen-Belsen – Neue Forschungen", Celle, 5. Mai. tischen Besatzungszone“. Vortrag beim Vorstellung von Band 2 der Reihe „Überleben und Erinnerung. Jüdische Seminar „Unwanted – Jüdische Flücht- „Bergen-Belsen – Dokumente und For- Überlebende 1945 in Bergen-Belsen“, linge und Displaced Persons während schungen", Gottfried-Wilhelm-Leibniz- Vortrag in der jüdischen Gemeinde und nach der Zeit des NS” – fünftes Bibliothek/Niedersächsische Landes- Hannover, 19. Mai. überregioales Netzwerktreffen der bibliothek, Hannover, 20. Januar. „Das Konzentrationslager Bergen- International School for Holocaust „Der sogenannte Kapo-Friedhof auf Belsen und die Entwicklungsgeschichte Studies in Kooperation mit der Gedenk- dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne“, der Gedenkstätte Bergen-Belsen“, Vor- stätte Yad Vashem (Israel) und dem Pro- Vortrag beim Workshop des „Arbeits- trag im Museum Nienburg/Weser, jekt „Entrechtung als Lebenserfahrung” kreis Opfer des Nationalsozialismus – 20. Mai. (Stiftung niedersächsische Gedenkstät- Friedhöfe und Gedenkstätten“, Hannover, „Das jüdische DP-Camp Bergen-Belsen ten), Gedenkstätte Bergen-Belsen, 22. Januar. und die Publizistik in den jüdischen DP- 13. Februar. „Das Konzentrationslager Bergen- Camps“, Vortrag zur Eröffnung der Aus- Belsen und die Entwicklungsgeschichte stellung „Nach der Befreiung. Dokumen- Seybold, Katja der Gedenkstätte Bergen-Belsen“, Vor- te aus jüdischen Displaced Persons „Vorurteile mit Tradition. Zur Geschichte trag bei der Gedenkveranstaltung des Camps“ in der Villa Seligmann, Hanno- der Ausgrenzung und Verfolgung von Vereins „Gegen Vergessen Für Demo- ver, 29. September. Sinti und Roma“. Vortrag am 29. Mai im kratie“, Hermannsburg, 27. Januar. „Konzentrationslager und jüdisches Rahmen des Seminars „Vorurteile mit „Sinti und Roma im Konzentrations- DP-Camp. Zur Geschichte des Lagers Tradition: Roma und Sinti in Deutsch- lager Bergen-Belsen“, Vortrag beim Inter- Bergen-Belsen“, Vortrag vor der B’nai land – Bildungskonzepte zu Abbau von nationalen Roma-Tag, Winsen/Aller, B’rith Loge, Frankfurt/M., 8. November. Antiziganismus und Förderung gleich- 8. April. berechtigter Teilhabe“; Veranstalter: Gustav Stresemann Institut Bad Beven- Was können die Gedenkstätten leisten?“, „Zwangsarbeit und Zeitzeugen“ an der sen, 29.–31. Mai 2015. veranstaltet von: Bundeszentrale für High-Tech-Universität Woronezh (Russ- „Das Konzentrationslager Bergen- politische Bildung, Max Mannheimer land), 29. Mai. Belsen in der Endphase und das Dis- Studienzentrum Dachau, KZ-Gedenk- Führung durch das Stiftungsgebäude placed Persons Camp Bergen-Belsen in stätte Dachau, Stiftung Topographie des und Vortrag zur Tätigkeit der Stiftung, der Frühphase“, Vortrag im Rahmen Terrors, Berlin in Zusammenarbeit mit vor der Albrecht-Thaer-Gesellschaft, einer Besucherdienstsitzung in der Ge- Arbeitskreis Gedenkstättenpädagogik, 13. Juni. denkstätte Bergen-Belsen, 24. Juni. Dachau, 19. Juni. „Todesmärsche“, Vortrag zur Eröff- „Das Displaced Persons Camp Ber- „Zur Geschichte von Bergen-Belsen nung der Ausstellung „Zwischen Harz gen-Belsen. Fotografien aus dem All- und der Gedenkstätte als Einrichtung für und Heide“ im Lüneburg Museum, tagsleben“, Vortrag in der Gedenkstätte Forschung und Dokumentation wie für 13. September. Bergen-Belsen, 23. August. Bildung und Vermittlung“. Vortrag beim „Der Quellenfund von Celle. Die „Gemeinschaftsbildung im jüdischen Graduiertenkolleg „Vergegenwärtigun- Zeichnungen von Camille Delétang“, Displaced Persons Camp Bergen-Belsen gen“ der Universität Hamburg, Vortrag in Holzminden (Schloss Bevern), 1945–1950“, Vortrag am 21. September 19. November. 16. September und in der Synagoge Cel- im Rahmen des 7. Dialogforums der le, 22. September. KZ-Gedenkstätte Mauthausen in Koope- Wagner, Jens-Christian Führung durch das Stiftungsgebäude ration mit der Universität Barcelona, Projektseminar „Justizverbrechen im und Vortrag zur Tätigkeit der Stiftung, 21.–22. September. Nationalsozialismus“ (Lehrauftrag am vor dem Museumsverein Celle, Seminar für Mittlere und Neuere Ge- 24. September. Staats, Martina schichte der Universität Göttingen, „Die Zukunft der historischen Orte „Die Neugestaltung der Gedenkstätte Wintersemester 2015/2016) und der Auseinandersetzung mit den in der JVA Wolfenbüttel“. Vortrag im „Témoignages du camp de concentra- NS-Verbrechen“, Vortrag auf der Jahres- Rahmen einer Spezialführung in der Ge- tion de Holzen. Les dessins de Camille tagung der Abteilung Gedenkstättenför- denkstätte, am 14. und 21. Februar. Au- Delétang.” Vortrag in Latillé (Frankreich), derung Niedersachsen der Stiftung nie- ßerdem Präsentation beim Stiftungsrat, 17. Januar. dersächsische Gedenkstätten, Hannover, Bergen, 24. April; Vortrag beim Kultur- „Von Auschwitz nach Niedersachsen“, 11. Oktober. ausschuss der Stadt Wolfenbüttel, Ansprache im Niedersächsischen „Zur Zukunft der Gedenkstättenarbeit 2. Juli, und beim 2. Arbeitstreffen der Landtag zum Gedenktag für die Opfer in Niedersachsen“, Vortrag vor dem Kul- Justizgedenkstätten, Halle (Saale), des Nationalsozialismus, Hannover, turausschuss des Niedersächsischen 30. November. 27. Januar. Städtetages, Syke, 16. Oktober. „‘Das Lebensrecht verwirkt‘ – Todes- „Todesmärsche durch den Harz: Praxis „Gedenkstättenarbeit im Spannungs- urteile gegen so genannte, gefährliche und Erinnerung“, Vortrag im Höhlen- feld zwischen historischem Ort, seinem Gewohnheitsverbrecher‘“. Historische erlebniszentrum Iberg, Bad Grund, gesellschaftlichen Kontext und didakti- Einführung beim Ökumenischen Gedenk- 14. April. schen Herausforderungen“, Vortrag 57 gottesdienst „Gegen das Vergessen der „‘Kriegsendphasenverbrechen‘. Todes- in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Opfer im Strafgefängnis Wolfenbüttel märsche und Massaker im April/Mai 4. Dezember. während der Zeit des Nationalsozialis- 1945“, Vortrag auf der Tagung „besetzt – „Politische Verfolgung in der frühen mus“, Wolfenbüttel, 31. März. befreit – bestraft?! Das Kriegsende in Bundesrepublik als Thema in der Ge- „Das Konzept zur Neugestaltung der Niedersachsen in Forschung und Ver- denkstättenarbeit in Wolfenbüttel“, Gedenkstätte“. Vortrag im „Wolfenbüt- mittlung“, veranstaltet von der Stiftung Vortrag zum Workshop „Politische Ver- teler Jahr der Erinnerungskultur“ (veran- niedersächsische Gedenkstätten in Ko- folgung in der frühen Bundesrepublik“, staltet vom Verein Kulturstadt Wolfen- operation mit dem Volksbund Deutsche Wolfenbüttel, 5. Dezember. büttel e.V.), Wolfenbüttel, 21. April. Kriegsgräberfürsorge e.V., der Bildungs- „Neue Literatur zur Geschichte des vereinigung Arbeit und Leben Nds. e.V., KZ-Systems im letzten Kriegsjahr“, Unger, Katrin dem Europäischen Informationszentrum Vortrag und Buchvorstellung beim Wall- „Der Lernort Bergen-Belsen: Themen und dem Niedersächsischen Kultus- stein-Verlag Göttingen, 7. Dezember. und Formate in der Bildungsarbeit“. Vor- ministerium, Hannover, 15. April. „Plünderungen. Kriminalisierungs- trag bei der Tagung „besetzt – befreit – „Gedenkstätten und Geschichtsbe- und Selbstviktimisierungsdiskurse in bestraft?! Das Kriegsende in Nieder- wusstsein in Bildung und Öffentlich- der deutschen Nachkriegsgesellschaft“, sachsen in Forschung und Vermittlung“, keit“, Vortrag vor der 23. Hochschulkon- Ringvorlesung des Historischen Institu- veranstaltet von der der Stiftung nieder- ferenz der GEW Thüringen, Erfurt, tes der Universität Braunschweig, sächsische Gedenkstätten in Kooperati- 18. April 9. Dezember. on mit dem Volksbund Deutsche Kriegs- „Gedenkstättenarbeit in Niedersach- gräberfürsorge e.V., der Bildungsver- sen“, Vortrag vor der Landtagsfraktion einigung Arbeit und Leben Niedersach- von Bündnis90/Die Grünen in der Ge- sen e.V., dem Europäischen Informati- denkstätte Bergen-Belsen, 20. April. onszentrum und dem Niedersächsischen „Die nationalsozialistischen Konzent- Kultusministerium, Hannover, 15. April. rationslager und ihr gesellschaftliches „Der Lernort Bergen-Belsen“. Vortrag Umfeld“, Vortrag in der Universität im Workshop „Gedenkstätten als Orte Braunschweig, 6. Mai. des Lernens“ beim 61. Gedenkstätten- „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. seminar (18.–20. Juni) „70 Jahre nach Praxis und Erinnerung“, Vortrag im Rah- der Befreiung der Konzentrationslager – men der internationalen Konferenz

Stiftung Projekt Entrechtung als Lebenserfahrung (EaL) – Netzwerk für Menschenrechtsbildung

Bernd Grafe-Ulke

58 Seit 2008 war die Stiftung am Pro- Abschlussveranstaltung sowie die zum Nationalsozialismus“ und Gedenk- gramm des Niedersächsischen Kultus- Online-Publikationen des Projektes EaL stättenbesuchen bis hin zu historisch ministeriums „Inklusion durch Enkultura- berichtet. kontextualisierten aktuellen Themen wie tion“ (IdE) mit dem Projekt „Entrechtung „Ideologien der Ungleichwertigkeit“, als Lebenserfahrung: Netzwerk für Modulares Qualifizierungsprogramm „Der Holocaust und andere Genozide“, Menschenrechtsbildung“ beteiligt. „Geschichte ist nicht von gestern: „Kriegsgefangenschaft und Genfer Kon- Programm und Projekt endeten am Entrechtung und Menschenrechte in vention“, „Antiziganismus“, „Migration 30. August 2015. Vergangenheit und Gegenwart“ und Menschenrechte“ und „Europäi- Zielsetzung und Auftrag des Projektes scher Gerichtshof für Menschenrechte“ war es, spezifische Angebote der histo- Wie kann eine gegenwartsbezogene reichten.1 risch-politischen Bildung zu entwickeln, Auseinandersetzung mit der Geschichte Zur Zielgruppe des Programms zählten zu erproben und zu vermitteln. Dies be- des Nationalsozialismus aussehen, die Multiplikator_innen unterschiedlicher deutete, dass historisches Lernen zum gleichzeitig sowohl historische als auch Berufsfelder, insbesondere der schuli- Nationalsozialismus, das Lernen an Orten aktuelle Fragen von Grund- und Men- schen und außerschulischen Bildung, der Entrechtung wie Bergen-Belsen, schenrechten und deren Verletzungen der betrieblichen Aus- und Weiterbil- Wolfenbüttel oder anderen Gedenkstät- aufgreift und Menschenrechte selbst dung, der historisch-politischen Bildungs- ten in Niedersachsen mit gegenwartsbe- als handlungsleitende Werte vermittelt? und der Jugendarbeit. Insgesamt betei- zogener Menschenrechts- und Demokra- Mit dieser zentralen Frage richtete sich ligten sich 22 Teilnehmer_innen am tiebildung, Bildung für Inklusion und das Modulare Qualifizierungsprogramm gesamten Programm, weitere 15 Teil- gegen gruppenbezogene Menschen- (MQP) gezielt an Personen, die an der nehmer_innen an einzelnen Seminaren. feindlichkeit verbunden wurden. Auseinandersetzung mit historischen Das MQP umfasste insgesamt zehn Das Projekt und die Teilprogramme Themen zum Nationalsozialismus und ein- bis dreitägige Seminare, die je nach wurden in den früheren Jahresberichten mit Fragen nach deren Aktualität und Interessenlage ausgewählt und mitein- ausführlich dargestellt. Hier werden ab- Gegenwartsbezügen interessiert sind. ander kombiniert werden konnten. Das schließend die wesentlichen Ergebnisse, Es folgte dem Ansatz einer menschen- Seminar im Basismodul „Menschenrech- Erfahrungen und das Resümee aus zwei rechtsorientierten historisch-politischen 1 Zu den konkreten Seminaren und Inhalten Teilprogrammen, dem Modularen Quali- Bildung. Im Rahmen von Seminaren des MQP siehe http://www.stiftung-ng.de/de/projekte/ entrechtung-als-lebenserfahrung/ fizierungsprogramm (MQP) und dem wurden Inhalte vermittelt, die von den qualifizierungsprogramm-2014-2015.html und Transnationalen Fortbildungsprogramm „Grundlagen der Menschenrechtsbil- www.geschichte-bewusst-sein.de sowie den Jahresbericht 2014 der Stiftung niedersächsische (TFP) skizziert. Weiterhin wird über die dung“ über das „Historische Lernen Gedenkstätten. te und Menschenrechtsbildung“ fand Moderation der Seminare aus. Insge- nicht umfassend genug. Das MQP wurde 59 drei Mal statt; insgesamt waren es von samt erhielten wir dadurch 918 Wertun- als gut konzipiertes und strukturiertes, Mai 2014 bis Mai 2015 18 Seminartage. gen, die sich, wie in der Tabelle darge- offenes und teilnehmer_innenorientier- In einem Praxis- und Abschlussmodul stellt, verteilten. tes Fortbildungsangebot wahrgenom- entwickelten die Teilnehmenden eine men, das regelmäßig angeboten werden eigene Bildungseinheit, in der sie die In- Im Rahmen des Abschlussseminars sollte. Damit hat sich das MQP insge- halte und Methoden des Programms wurden zudem qualitative Rückmeldun- samt als sehr erfolgreich erwiesen. und der Seminare auf ihr jeweiliges Ar- gen zum MQP von den Teilnehmer_in- Ergänzt und bereichert wurde es durch beitsfeld anwendeten. Die Konzepte der nen abgefragt. Für manche von ihnen seminarbegleitende Veranstaltungen Bildungseinheiten, bei einigen auch die war es der größte Input zu Geschichte des „Kulturellen Begleitprogramms“ damit gemachten Erfahrungen, stellten seit langer Zeit. Einige sagten explizit, (siehe dazu Jahresbericht 2014, S. 31-32). die Teilnehmer_innen im Abschlussse- sie hätten gelernt, wie wichtig der Ge- Den Abschluss der Reihe bildete eine öf- minar vor. Dort wurden sie gemäß der genwartsbezug in der Vermittlung his- fentliche Veranstaltung: „Gerichtstag Methode „Kollegiale Beratung“ in klei- torischer Inhalte und Themen ist. Die halten über uns selbst“, die am 15. Januar nen Teams besprochen und reflektiert. Möglichkeiten, miteinander in kleinen 2015 in Kooperation mit dem Oberlan- Gruppen und Teams zu lernen, die Ver- desgericht Celle zum Thema „Rechtliche Auswertung, Rückmeldungen netzung mit Kolleg_innen und die Gele- Ahndung von NS-Verbrechen“ stattfand und Resümee zum MQP genheit, die eigene Arbeit zu reflektie- und mit über 300 Gästen voll ausgebucht ren, wurden ebenfalls als sehr positiv war. Referenten und Diskutanten waren Zu allen Seminaren erhielten wir von bewertet. Geschätzt wurde auch die per- u.a. Michael Horowitz, Rechtsanwalt aus den Teilnehmer_innen Rückmeldungen. sonelle und fachliche Vielfalt des Teams Jerusalem, der als Staatsanwalt am Die Teilnehmenden füllten Evaluations- und der Referent_innen. Viele der Teil- bögen mit 7 bis 9 Fragen zu Inhalten, nehmenden haben zum Ausdruck ge- Zielsetzungen, Methoden, Materialien, bracht, die bestehenden Angebote der MQP-Seminar im Basismodul „Menschenrechte und Menschenrechtsbildung“, Celle, 9. Mai 2014 eingesetzten Medien, Durchführung und historisch-politischen Bildung seien • Katja Seybold

MQP-Seminar im Vertiefungsmodul „Antiziganismus: Weniger Gar nicht Die Verfolgung der Sinti und Roma während des NS Sehr zufrieden zufrieden zufrieden zufrieden bis heute“, 14.–15. Oktober 2014 • Anja Schade Kulturelles Begleitprogramm: Auftaktveranstaltung 453 389 73 3 Theaterstück „Friedas Weg“, Celle, 8. Mai 2014 • Daniel Seifert

Stiftung 60 ersten Prozess gegen John Demjanjuk Onlinepublikation Fazit beteiligt war und Kurt Schrimm, leiten- der Oberstaatsanwalt der Zentralen Zur Dokumentation und weiteren Nut- Die Bildungsangebote des Projektes Stelle der Landesjustizverwaltungen zur zung wesentlicher Inhalte, Erfahrungen EaL haben eine sehr positive Resonanz Aufklärung nationalsozialistischer Ver- und Ergebnisse des Projektes EaL ist erfahren. Die Ansätze, Methoden und In- brechen in Ludwigsburg. eine Onlinepublikation unter dem Titel halte der verschiedenen Programme „Themen und Ansätze menschenrechts- wurden in den beiden Projektjahren von Abschlussveranstaltung orientierter historisch-politischen Bil- 2013–2015 in rund 10.000 Teilnehmer_innen- dung“ in Arbeit. Einige der geplanten stunden vielen Multiplikator_innen aus Den Abschluss der beiden Projekte Artikel werden sich inhaltlich mit der unterschiedlichen Zusammenhängen „Entrechtung als Lebenserfahrung“ und Frage von Menschenrechtsbildung im vermittelt. Das entspricht bei einer Se- „Menschen achten – Rechte verstehen“ Kontext von Gedenkstätten, den The- minargröße von durchschnittlich 20 Teil- bildete am 14. Juli 2015 eine als Praxis- men Rechte, Menschenfeindlichkeit und nehmer_innen und 8 Stunden pro Tag tag konzipierte gemeinsame Veranstal- Diskriminierung, Antiziganismus sowie 62,5 Veranstaltungstagen. Die Angebo- tung in Hannover: „Neue Ansätze für die Kriegsgefangenschaft und Genfer Kon- te, Inhalte und Seminarformate werden historisch-politische Bildung zum Natio- vention beschäftigen. Weitere Texte nun partiell in der Stiftung sowie den nalsozialismus. Ergebnisse und Reflexio- widmen sich der Frage von Vergleichen Gedenkstätten Bergen-Belsen und nen aus zwei Projekten der Stiftung nie- und Analogiebildung sowie methodi- Wolfenbüttel und im Rahmen des neuen dersächsische Gedenkstätten“. Die schen Zugängen wie dem Peer-to-Peer Projektes KogA „Kompetent gegen Projektergebnisse wurden vorgestellt Ansatz, der Vorstellung der Planspiele Antiziganismus/Antiromaismus – in und die im Rahmen der Projekte erarbei- „Fahrt der Exodus 1947“ und „Europä- Geschichte und Gegenwart“ fortgeführt teten Seminare in Form kurzer Work- ischer Gerichtshof für Menschenrechte“ und weiterentwickelt (siehe S. 64/65). shops angeboten. An der Veranstaltung sowie dem Konzept des Transnationalen nahmen rund 50 Personen teil. Fortbildungsprogramms. Die Beiträge werden sukzessive auf dem Bildungsportal der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

www.geschichte-bewusst-sein.de Kulturelles Begleitprogramm: Abschlussveranstaltung veröffentlicht. „Gerichtstag halten über uns selbst“, Vortragsabend am OLG-Celle, 15. Januar 2015, v. l.: Kurt Schrimm, PD Dr. Thomas Henne, Michael Horowitz • Gerald Hartwig Transnationales Fortbildungsprogramm

Daniel Seifert

Mit nationalen Auswertungssemina- Erwachsenen und Multiplikator_innen. tätsstiftendes Geschichtsbild zu vermit- 61 ren endete 2015 das vom Projekt „Ent- Gleichzeitig wurden die Lernmodule An- teln. Inzwischen ist die Umgestaltung rechtung als Lebenserfahrung“ koordi- fang 2015 auf der polnischen Webseite abgeschlossen und die Befürchtung hat nierte Fortbildungsprogramm „Historisch- „Lernen aus der Geschichte“ (http:// sich leider bewahrheitet, dass für eine politische Bildung und Menschenrechts- www.uczyc-sie-z-historii.pl/en) in engli- differenziert geführte Auseinanderset- lernen in Gedenkstätten zur Erinnerung scher Sprache veröffentlicht und so wei- zung mit der Vergangenheit und für zivil- an Massengewaltverbrechen“. Dabei teren Multiplikator_innen zugänglich gesellschaftliches Engagement bei der handelte es sich um ein Gemeinschafts- gemacht. Aufarbeitung endgültig kein Raum mehr projekt der Stiftung niedersächsische Mit dem Auslaufen des Projekts „Ent- gelassen wird. Gedenkstätten, des Staatlichen Muse- rechtung als Lebenserfahrung“ Ende ums Auschwitz-Birkenau, der Internatio- August 2015 endete vorerst auch die Ko- nalen Jugendbegegnungsstätte Ausch- operation mit den Partnern in Polen witz und der Gedenkstätte für die Opfer und Russland im Rahmen des transnati- politischer Repressionen „Perm-36“ in onalen Fortbildungsprogramms. Die wei- Russland. Im Fokus stand die Frage, wie tere Zusammenarbeit mit den Kolleg_ historisches Lernen über Nationalsozia- innen in Perm muss nach der zwangs- lismus und Stalinismus/Poststalinismus weise erfolgten Verstaatlichung der Ein- mit der Thematisierung von Menschen- richtung 2014 als sehr ungewiss angese- rechten in Vergangenheit und Gegen- hen werden. Die ehemalige Direktorin wart verbunden werden kann. Dazu lern- von „Perm-36“, Tatiana Kursina, gab im ten die insgesamt elf Teilnehmenden in Februar 2015 resigniert bekannt, die bis- den drei Ländern verschiedene Ansätze herige nicht-staatliche Trägerorganisation kennen, erprobten Bildungsmaterialien der Gedenkstätte werde sich auflösen, und diskutierten diese unter methodisch- da ihr von staatlicher Seite faktisch die didaktischen Gesichtspunkten. Darauf Existenzgrundlage entzogen worden sei. aufbauend entwickelten, testeten und Die neue staatliche Leitung begann evaluierten sie, ausgehend von selbst unterdessen, ihr Konzept der Umge- Auswertungsseminar der deutschen Gruppe bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gewählten historischen Themenkomple- staltung der Gedenkstätte mit dem Ziel im Februar 2015 • Daniel Seifert xen, eigenständig Lernmodule für die umzusetzen, am Ort der früheren Staats- Eine Teilnehmerin präsentiert ihr Lernmodul. Bildungsarbeit mit Jugendlichen, jungen verbrechen ein anderes, positiv identi- • Daniel Seifert

Stiftung Projekt „Menschen achten – Rechte verstehen (MaRve)“

Gerald Hartwig, Ulrike Pastoor

62 Von September 2013 bis Dezember 3. März 2015 fand in Lüneburg eine erste EaL beteiligt waren: (http://geschichte- 2015 führte die Stiftung niedersächsi- Fortbildung unter dem Titel „Kinderlite- bewusst-sein.de). sche Gedenkstätten das Projekt „Men- ratur über Nationalsozialismus und Shoah Am 30. Juni 2015 fand im Museum Lüne- schen achten – Rechte verstehen. Histo- für Schüler_innen im Alter von acht bis burg in Kooperation mit der Gedenk- risch-politische Bildung in Kooperation zwölf Jahren“ statt. Eine zweite Fortbil- stätte Augustaschacht zudem die Fort- von Gedenkstätten und Schulen im Pri- dung zum selben Thema wurde am bildung „Zwischen Fakten und Fiktionen. marbereich und der Sekundarstufe I“ 11. Juni 2015 in Zusammenarbeit mit Graphic Novels und historische Erzäh- durch. Es wurde aus Mitteln des Europä- der Gedenkstätte Lager Sandbostel lungen in der Bildungsarbeit zum Natio- ischen Sozialfonds im Rahmen des Pro- angeboten. nalsozialismus. Neue Perspektiven für gramms „Inklusion durch Enkulturation“ Auf Grundlage der Rückmeldungen Schulen und Gedenkstätten“ statt. Als (IdE) sowie mit Mitteln des Niedersäch- von Teilnehmer_innen der genannten Referent_innen waren der Comic-Zeichner sischen Kultusministeriums gefördert. Veranstaltungen entstand im Projekt- Eric Heuvel sowie die Autorin Martine Das Projekt richtete sich vorrangig an verlauf ferner die Idee, Bücher zum Aus- Letterie eingeladen. Beide haben im Multiplikator_innen aus Schulen, Gedenk- leihen zusammenzustellen. Dies um- Auftrag niederländischer Museen und stätten und Einrichtungen der Kinder- und fasst eine Auswahl von Kinder- und Gedenkstätten literarische Werke für Jugendbildung, die mit Schüler_innen Jugendliteratur für die Altersgruppe den Einsatz in der historisch-politischen der 3. bis 8. Klasse zum Thema National- acht bis zwölf bzw. zehn bis vierzehn Bildung verfasst. Mit den Teilnehmer_in- sozialismus arbeiten möchten. Im letzten Jahren. Pädagog_innen aus dem schuli- nen wurden bei der Veranstaltung Mög- Projektjahr wurden dabei zwei Ansätze schen und außerschulischen Bildungs- lichkeiten der Verwendung dieser Litera- vertieft: Der Zugang über Kinder- und bereich können sich über Publikationen turformen in der Zusammenarbeit von Jugendliteratur zum NS und das Lernen informieren und diese ausleihen. Die Gedenkstätten und Schulen diskutiert. an Biografien. Fortbildungen für Lehrer_ Gedenkstätte Bergen-Belsen informiert Am 14. Juli 2015 wurde zusammen innen und Gedenkstättenpädagog_innen über die Modalitäten der Ausleihe sowie mit den Kolleg_innen des Projektes wurden durchgeführt sowie Bildungs- über Verwendungsmöglichkeiten der „Entrechtung als Lebenserfahrung“ die materialien entwickelt. Bücher im Rahmen der Bildungsarbeit gemeinsame Abschlussveranstaltung Bei der Umsetzung des Themen- auf ihrer Website und dem Online-Bil- unter dem Titel „Neue Ansätze für die schwerpunkts Kinderliteratur wurden dungsportal „Geschichte.Bewusst. historisch-politische Bildung zum National- die Projektmitarbeiter_innen von den Sein.“ der Stiftung, an dessen Entwick- sozialismus. Ergebnisse und Reflexionen beiden Honorarkräften Sandra Wachtel lung neben den Bildungsabteilungen der aus zwei Projekten der Stiftung nieder- und Petra Maurer unterstützt. Am Stiftung auch die Projekte MaRve und sächsische Gedenkstätten“ in Hannover ausgerichtet. Dieses Praxisforum bot die leiste. Eine Auswahl der Materialien 63 Gelegenheit, gemeinsam die Ergebnisse wurde am 19. November 2015 im Fach- und Erfahrungen der beiden Projekte zu seminar Sachunterricht des Studiense- reflektieren. In mehreren Workshops minars Celle vorgestellt und mit den an- wurde eine Auswahl von Seminarange- gehenden Lehrer_innen diskutiert. Für boten und Materialien vorgestellt, die 2016 ist eine Veröffentlichung dieser für die Arbeit an Gedenkstätten, Schulen Materialien geplant. und anderen Bildungseinrichtungen kon- zipiert sind. Einen weiteren Schwerpunkt bildete zum Abschluss des Projekts die Entwick- lung von Bildungsmaterialien für Schüler_ innen ab 9 Jahren, die z.B. im Sachunter- richt der Grundschule eingesetzt werden können. Der dabei verfolgte Ansatz ori- entiert sich am Lernen an Biografien. Grundlage ist die Geschichte der jüdi- schen Familie Blumenthal aus der Klein- stadt Hoya in Niedersachsen. Im Mittel- punkt stehen deren Kinder Marion und Albert, die mit ihren Eltern in den Lagern

Westerbork und Bergen-Belsen inhaftiert Fortbildung zu Graphic Novels und historischen Erzäh- waren. Die Mutter und die Kinder über- lungen in der Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus: Marie Letterie (links) und Eric Heuvel (rechts) diskutieren lebten und wanderten später in die USA mit mit Projektleiterin Leyla Ercan über ihre Werke. aus. Die Bildungsmaterialien bestehen • Ulrike Pastoor aus einem Lektüreheft für Kinder und Gemeinsames Praxisforum der Projekte „Menschen achten – Rechte verstehen“ und „Entrechtung als Jugendliche (hier wird die Lebensge- Lebenserfahrung“: grafische Dokumentation der Ergeb- nisse aus der abschließenden Podiumsdiskussion schichte der Familie Blumenthal nacher- • Gerald Hartwig zählt) sowie Begleitmaterialien für den Auswahl von Kinderbüchern zum Thema National­ Unterricht, u.a. zur Arbeit mit einer Zeit- sozialismus • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Stiftung Projekt „Kompetent gegen Antiziganismus/Antiromaismus (KogA) in Geschichte und Gegenwart“

Bernd Grafe-Ulke, Tobias Neuburger, Marion Seibel, Daniel Seifert

64 Seit Juni 2015 führt die Stiftung nieder- und Genozid an den europäischen Sinti pädagogik, der historisch-politischen sächsische Gedenkstätten das Projekt und Roma im Nationalsozialismus wur- Bildung zum Nationalsozialismus und „Kompetent gegen Antiziganismus/Anti- den Kontinuitäten der Diskriminierung der Menschenrechts- und Demokratie- romaismus (KogA) – in Geschichte und aufgezeigt, die bis in die Gegenwart rei- bildung miteinander verknüpften. Gegenwart“ durch. Es wird für den Zeit- chen. In vier Workshops setzten sich die Ausgehend von diesem bewährten raum 2015 bis 2019 durch das Bundesmi- Teilnehmer_innen mit unterschiedlichen Konzept wird im Rahmen des Projekts nisterium für Familie, Senioren, Frauen Formen antiziganistischer Diskriminie- KogA ein Bildungsprogramm entwickelt und Jugend gefördert, als Modellprojekt rung, der Bürgerrechtsbewegung der und durchgeführt, das eine grundlegen- im Rahmen des Bundesprogramms „De- Sinti und Roma sowie Gegenstrategien, de historische Auseinandersetzung mit mokratie leben!“ Empowerment und Antidiskriminierung Antiziganismus um gegenwartsbezoge- Das Projekt hat zum Ziel, Multiplikator_ auseinander. Mit mehr als 80 Teilnehmer_ ne Inhalte sowie handlungsorientierte innen und Vertreter_innen verschiede- innen war die Veranstaltung gut besucht Ansätze und Methoden der beruflichen ner Berufsgruppen für historische und und stieß auf breites Interesse. Aus den Fort- und Weiterbildung erweitert. gegenwärtige Formen von Antiziganis- vielfältigen Wortbeiträgen, Diskussionen mus/Antiromaismus zu sensibilisieren und informellen Gesprächen konnten Zielgruppen und Handlungskompetenzen gegen die wichtige Anregungen für das Bildungs- Diskriminierung von Sinti und Roma zu programm und neue Kooperationen für Das Bildungsprogramm wird zwischen vermitteln. Die Stiftung verfolgt damit das Projekt KogA gewonnen werden. 2016 und 2019 für Multiplikator_innen das Anliegen, pädagogische Angebote aus unterschiedlichen Berufsfeldern an- zur Bekämpfung des Antiziganismus zu Ansatz geboten. Die Teilnahme versetzt sie in entwickeln, um diese auch über den För- die Lage, Stereotype zu dekonstruieren derzeitraum hinaus anbieten zu können. KogA knüpft an das Projekt „Entrech- und eigene Vorurteile kritisch zu reflek- tung als Lebenserfahrung“ an (2008– Auftakt 2015), das gegenwärtige Formen der Denkmal auf dem Gelände des Festspielhaus Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste Dresden zur Erinne- Exklusion und Entrechtung vor dem Hin- rung an den Sinto-Boxer und deutschen Meister im Am 20. November fand in Kooperation tergrund der historischen Erfahrung der Halbschwergewicht von 1933, Johann Rukeli Trollmann, der 1944 im KZ Wittenberge ermordet wurde. mit der Hochschule Hannover die Auf- NS-Verbrechen betrachtete. Auf dieser • Daniel Seifert

taktveranstaltung des Projektes KogA Basis wurden Bildungsangebote, Semi- Siegfried Franz (Niedersächsischer Verband Deutscher statt. Ausgehend von einem Überblicks- nare und Workshops konzipiert und um- Sinti e.V.) bei der Auftaktveranstaltung des Projekts KogA am 20. November 2015 an der Hochschule Hannover vortrag über Ausgrenzung, Verfolgung gesetzt, die Ansätze der Gedenkstätten- • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten tieren. Über diesen individuellen Aspekt werden Fragen nach der (alltäglichen) hinaus besteht der Anspruch darin, den Lebensgestaltung angesichts multipler Teilnehmenden aufzuzeigen, wie Barrie- Diskriminierung und Exklusion ren erkannt und strukturelle Diskriminie- thematisiert. rungen abgebaut werden können, um Das Vertiefungsmodul legt den die Teilhabe von Sinti und Roma in Poli- Schwerpunkt auf die Vermittlung von tik, Wirtschaft und Gesellschaft zu ver- Handlungskompetenzen gegen Antiziga- bessern. Die im Programm erworbenen nismus/Antiromaismus für die eigene Kenntnisse und Kompetenzen befähigen berufliche Tätigkeit. Gemeinsam mit Ex- die Teilnehmenden, sich in ihren Institu- pert_innen und Praktiker_innen werden tionen und Berufsfeldern wirkungsvoll innovative Ansätze, Konzepte und Me- gegen Antiziganismus/Antiromaismus thoden in der Sozial- und Bildungsarbeit, einzusetzen. der vorurteilsbewussten sowie gewalt- Damit verbindet das Projekt KogA auf und diskriminierungsfreien Kommunika- innovative Weise Ansätze der Gedenk- tion, Beratung und Unterstützung vor- stättenpädagogik mit Ansätzen der De- gestellt, erprobt und evaluiert. mokratie- und Menschenrechtsbildung Die Teilnehmenden des Bildungspro- und erweitert diese zielgruppenspezi- gramms haben die Möglichkeit, das in fisch durch handlungsorientierte Metho- den Seminaren gewonnene Wissen in den und Konzepte aus dem Bereich Per- Form einer Bildungseinheit, Mitarbeiter_ sonal- und Organisationsentwicklung. innenfortbildung, Beratungskonzept o.ä. Die Zielgruppen von KogA wurden auf für ihre eigene berufliche Praxis umzu- Basis aktueller Studien zur Verbreitung setzen. Das Praxis-/Abschlussmodul von Antiziganismus ausgewählt. Diese dient dazu, die Ergebnisse dieser Eigen- zeigen: Antiziganismus ist in seinen un- leistungen vorzustellen, zu besprechen terschiedlichen Ausprägungen und For- und kritisch zu reflektieren. men weit verbreitet und tritt in Deutsch- land insbesondere im Bildungssektor, In den Jahren 2017 bis 2019 wird das in staatlichen Institutionen und in der Bildungsprogramm für weitere, wechseln- medialen Öffentlichkeit in Erscheinung. de Berufsgruppen zielgruppenspezifisch konzipiert und richtet sich an Mitarbei- Das Bildungsprogramm 2016 ter_innen aus den Bereichen staatlicher Institutionen, öffentlicher Verwaltung Das Bildungsprogramm umfasst vier und Behörden, Kommunalpolitik, Polizei Block-Module von je zwei bis drei Seminar- und Justiz sowie Medien, Presse- und 65 tagen: Basis-, Aufbau- und Vertiefungs- Öffentlichkeitsarbeit. modul sowie ein Praxis-/Abschlussmodul. Weitere Informationen: http://ge- Das erste Jahresprogramm von KogA schichte-bewusst-sein.de/koga/ startet im März und endet im November 2016 und richtet sich vorrangig an Multi- plikator_innen aus den Bereichen Sozia- le Arbeit, Jugendarbeit, (außer-)schuli- sche Bildung, Ausbildungs- und Berufs- förderung, historisch-politische Bildung sowie Demokratie- und Menschenrechts- bildung. Das Basismodul vermittelt Grundla- genwissen über die Geschichte und Ver- folgungsgeschichte der Sinti und Roma, die Funktionsweisen und Mechanismen von gruppenbezogener Menschenfeind- lichkeit (Ideologien der Ungleichwertig- keit) und verfolgt das Ziel, die Teilneh- menden zur Reflexion und Sensibili- sierung eigener Vorurteile anzuregen. Das Aufbaumodul widmet sich dem Thema Antiziganismus innerhalb des Bezugsrahmens der universellen und unteilbaren Menschenrechte und legt ei- nen inhaltlichen Schwerpunkt auf die so- ziale, politische und rechtliche Situation von Roma und Sinti in Deutschland und Cover des Programmflyers zum Projekt KogA (Gestal- Europa heute. Im direkten Austausch tung: Christoph Ermisch) mit einem Foto aus der Kunst- installation „Safe European Home?“ des britischen mit Angehörigen dieser Minderheiten Künstlerpaars Delaine & Damian Le Bas. • Daniel Seifert

Stiftung Vermittlung, Bildung und Pädagogik in der Arbeit der Stiftung

Christian Wolpers, Katrin Unger

66 Die Stiftung niedersächsische Ge- kontextualisiert oder instrumentalisiert anderen Kurzinformationen begegnet denkstätten agiert auf verschiedenen wird. Wie Gedenkstätten ein hohes Maß werden soll. Feldern und Ebenen der Vermittlungs- an regionaler, gesellschaftlicher Wirk- Die Wahrnehmung der Heterogenität und Bildungsarbeit. Neben der Arbeit samkeit erzielen können, zeigt sich an von Besuchenden gilt für Einzelbesu- mit Besucher_innen in den Gedenkstät- der gefestigten Bedeutung einiger nie- chende wie für Gruppen, deren einzelne ten Bergen-Belsen und Wolfenbüttel, dersächsischer Gedenkstätten, die nicht Mitglieder mit sehr unterschiedlichem wo in Bildungsveranstaltungen mit den nur anerkannte Orte des Gedenkens, des Vorwissen und verschiedenen Interes- Teilnehmenden zur jeweiligen Ortsge- Erinnerns und der historischen Expertise senlagen die Gedenkstätten besuchen. schichte und deren Kontextualisierung sind, sondern auch Träger von Erinnerungs- Im Zuge der inklusiven Beschulung ist gearbeitet wird, entwickeln die Mitarbei- kultur und Bildung in ihrem regionalen die Diversität programmatischer Be- ter_innen der Stiftung Ideen und Kon- Umfeld. standteil schulischer Erziehung und for- zepte zur Gestaltung und Umsetzung zu- Die Mehrzahl der Teilnehmenden an dert dort wie auch an außerschulischen künftiger Gedenkstättenarbeit. Dieser Bildungsveranstaltungen sind Jugend- Lernorten binnendifferenzierte Angebo- Arbeitsschwerpunkt wird zusammen mit liche, die in schulischen und außerschu- te für die individuelle Zugangsentwick- der Abteilung Gedenkstättenförderung lischen Kontexten Gedenkstätten besu- lung der Lernenden. Für die gedenk- Niedersachsen und den Mitarbeitenden chen. Bildungsarbeit nimmt allerdings stättenpädagogische Grundhaltung be- der in den letzten Jahren durchgeführ- nicht nur die Jugendlichen in den Blick, deutet dieser gesamtgesellschaftliche ten Bildungsprojekte umgesetzt. Insbe- die an angemeldeten – geschlossenen – Ansatz der Schaffung inklusiver Ange- sondere die Beteiligung der Projekte an Veranstaltungen teilnehmen, sondern bote keinen Paradigmenwechsel, war der Entwicklung der historisch-politi- muss stets adressatenorientierte Angebo- doch schon immer die Bildungsarbeit an schen Bildungsarbeit in Gedenkstätten te auch für erwachsene Besucher_innen den Orten der Exklusion ganzer Bevölke- hat zur Folge, dass der Rahmen histori- entwickeln. Perspektivisch werden hier rungsgruppen mit dem Auftrag verbun- scher Orte als alleinige Bildungs- und verstärkt Programme für interessierte den, adressatenspezifisch und inklusiv Vermittlungsorte hinterfragt wird und Einzelbesuchende, Multiplikator_innen zu arbeiten. Mit anderen Worten: Bil- nicht nur die Herausforderung besteht, wie Berufsgruppen erarbeitet. Diversität dungsarbeit an Gedenkstätten hat den wie Besuchende in Gedenkstätten zu sowie Heterogenität der Besuchenden Anspruch, den heterogenen Vorausset- „locken“ sind, sondern auch, wie Bildungs- stellen hierbei eine besondere Heraus- zungen aller Besucher_innen bestmög- arbeit in die Gesellschaft außerhalb der forderung dar, der mit differenzierten lich zu begegnen. Gedenkstätten getragen werden kann, Informationsebenen und -materialien Arbeit mit der Checkliste zum Thema Barrierefreiheit ohne dass das am Ort Geschehene ent- wie Ausstellungen, Faltblättern oder • Katrin Unger Um diesem Anspruch zu genügen, digitalen Informationsangebots, das ne- 67 müssen Gedenkstätten schulische ben historischen und organisatorischen Belange kennen und Bildungsansätze Informationen die Möglichkeit der ver- vorhalten, an denen Schüler_innen mit tiefenden Vor- und Nachbereitung eines ihrem Wissen und Interesse anschluss- Besuchs der Gedenkstätte bietet. fähig sind. Dazu gehört seit einigen Jah- Dafür wurde seit 2013 das Bildungs- ren vermehrt auch die Aufgabe, Wege portal „Geschichte-Bewusst-Sein.de“ der Informationserschließung von Besu- entwickelt, auf dem sich die niedersäch- chenden im Voraus zu (er)kennen und sischen Gedenkstätten mit einem kurzen Angebote entsprechend zu gestalten. geschichtlichen Abriss und ihren Bildungs- Insbesondere Jüngere sind nicht mehr angeboten vorstellen. Das Portal steht nur über zu lesende Texte, Bilder oder seit 27. Januar 2015 online zur Verfü- Fotografien ansprechbar, sondern es gung. Seitdem wird den Nutzer_innen muss ihnen auf ihren – oft digitalen – dort eine Vielzahl unterschiedlicher The- Informationswegen begegnet werden. men und Angebote aus der Bildungsar- Ein offener Zugang zu Telekommunikati- beit von Gedenkstätten und Projekten on, inklusive Internet, ist dafür unerläss- vorgestellt. Ein aktueller landesweiter lich. Die Gedenkstätte Bergen-Belsen Veranstaltungskalender informiert Inter- hat mit ihrem multimedialen Gelände- essierte über Bildungsveranstaltungen guide Zugangs- und Erschließungsformen der niedersächsischen Gedenkstätten, entwickelt, die im digitalen Zeitalter für Geschichtsinitiativen und -werkstätten. Gedenkstätten in vielerlei Hinsicht rich- tungsweisend sein können. Zur Verbreiterung von Zugängen zur jeweiligen Ortsgeschichte einer Gedenk- stätte oder eines anderen historischen Ortes gehört auch die Möglichkeit, sich Dokumente und Materialien: Checkliste zur Barriere- Informationen zu verschaffen, ohne vor freiheit, Bildungsmaterialien zum Thema Kinder und Ort zu sein. In diesem Verständnis der Jugendliche im Lager, Bildungsmaterialien zum Thema Sinti und Roma • Stiftung niedersächsische Gedenk- Bildungsarbeit liegt das Vorhalten eines stätten

Stiftung Gedenkstätte Bergen-Belsen

Thomas Rahe, Katrin Unger, Jens-Christian Wagner

68 Im Jahr 2015 war die Gedenkfeier zum Survivors“ und „Second Generation“ nem Zeitpunkt statt, an dem die briti- 70. Jahrestag der Befreiung des Konzen- wiesen zudem in die Zukunft. schen Truppen nach 70 Jahren Präsenz trationslagers Bergen-Belsen durch briti- Am 8. Mai 2015, dem 70. Jahrestag in der Region die benachbarte Kaserne sche Truppen am 15. April 1945 für die von Kriegsende und Befreiung, fand auf Bergen-Hohne verließen. Künftig wird Arbeit der Gedenkstätte Bergen-Belsen dem Gelände der Gedenkstätte Bergen- die Bundeswehr das Areal nutzen, auf von besonderer Bedeutung. Mehr als Belsen eine von der IG Metall, Bezirk dem sich im April 1945 das Nebenlager 100 Überlebende nahmen zusammen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, des KZ Bergen-Belsen befand und das mit ihren Familienangehörigen zwischen organisierte Gedenkveranstaltung mit anschließend bis 1950 als DP-Camp dem 22. und dem 26. April 2015 an zahl- mehr als 1000 Teilnehmer_innen statt. diente. Voraussichtlich wird die Gedenk- reichen Veranstaltungen u.a. in Bergen- Mit ihr knüpfte die IG Metall an eine stätte ein oder zwei der original erhalte- Belsen, Celle, Hannover, Farsleben und langjährige Tradition gewerkschaftlich nen Unterkunftsgebäude am Südrand Tröbitz teil. Dass hohe Repräsentanten getragener Erinnerungskultur in der der Kaserne für Bildungszwecke nutzen von Staat und Gesellschaft, etwa Bun- Gedenkstätte an. können. Der Abzug der britischen Garni- despräsident Joachim Gauck und der Große internationale Beachtung fand son, zu der die Gedenkstätte über Jahr- Präsident des Jüdischen Weltkongres- der Besuch von Queen Elisabeth II. in zehnte enge Beziehungen aufgebaut ses, Ronald Lauder, an der Gedenkfeier Bergen-Belsen am 26. Juni 2015 anläss- hatte, ist Anlass, allen Verantwortlichen am 26. April teilnahmen, unterstrich die lich ihres Staatsbesuchs in Deutschland. herzlich für die vertrauensvolle Zusam- anhaltende internationale Bedeutung Es war der erste Besuch einer KZ-Gedenk- menarbeit zu danken. Stellvertretend für und Notwendigkeit der Erinnerung an stätte durch das britische Staatsober- viele andere sei in diesem Zusammen- die im KZ Bergen-Belsen begangenen haupt. Er wurde u.a. im ZDF live übertra- hang Hugh Pierson genannt, langjähri- Verbrechen. Zugleich verdeutlichte die gen. Großen Zuspruch erfuhr die eigens ger britischer Verbindungsoffizier in der Gedenkstätte mit der inhaltlichen Aus- für den 70. Jahrestag und den Besuch Kaserne. Ihm und seinen Mitarbeiter_ richtung des breiten Veranstaltungspro- der Queen erarbeitete Website www.be- innen wünschen wir alles Gute für die gramms, dass Gedenken Wissen voraus- freiung1945.de. Sie bietet Hintergrundin- Zukunft. setzt und in eine kritische Auseinander- formationen zur Bedeutung Großbritan- Die Sanierung der Denkmale der Ge- setzung mit der Vergangenheit und ihren niens für die Geschichte Bergen-Belsens denkstätte Bergen-Belsen konnte Anfang Folgen münden muss. Die aktive Einbin- sowie Biographien Überlebender und 2015 fortgesetzt werden. Die Arbeiten dung junger Menschen in die Gedenk- Befreier, mit denen die Königin in der konzentrierten sich auf den Obelisken veranstaltungen wie auch die Schwer- Gedenkstätte zusammentraf. und die Inschriftenwand. Weitere Sanie- punktsetzung auf die Themen „Child Der Besuch von Elizabeth II. fand zu ei- rungsarbeiten, etwa an den Umfassun- gen der Massengräber, aber auch an den das aus dem Konzentrationslager Bergen- baulichen Überresten des Konzentrations- Belsen überliefert ist. lagers Bergen-Belsen, stehen für die nä- Die Bildungs- und Vermittlungsange- here Zukunft an. bote der Gedenkstätte Bergen-Belsen Hinweisen Überlebender auf möglicher- erfuhren 2015 eine thematische Erweite- weise nicht gekennzeichnete zusätzliche rung, die perspektivisch vor allem längere, Massengräber ging die Gedenkstätte didaktisch besonders nachhaltige For- 2014/15 nach, indem Spezialfirmen an mate umfasst. Die starke Nachfrage vor konkreten Verdachtsstellen nicht-invasi- allem nach Führungen und Studientagen ve Sondierungen vornahmen. Diese er- bedingen eine lange Vorlaufzeit, um pas- gaben jedoch keinen neuen Sachstand. sende Termine zu vereinbaren. Der Ge- Eine definitive Klärung könnte nur durch ländeguide mit einer 3D-Rekonstruktion Grabungen erfolgen, die jedoch aus reli- des Lagergeländes ist fester Bestandteil giösen Gründen nicht in Frage kommen. des Vermittlungsangebotes. Gruppen Zudem ist das gesamte Areal ohnehin erkunden mit dem Tablet im Rahmen ei- als Friedhof gekennzeichnet. Von zentra- nes Studientages das historische Lager- ler Bedeutung ist es jedoch, alle bekann- gelände und verknüpfen es mit den An- ten Quellen zu Zahl und Bestattungsor- geboten der Dauerausstellung. An den ten der Opfer des KZ Bergen-Belsen Wochenenden steht der Geländeguide systematisch zusammenzuführen und zur individuellen Nutzung zur Verfügung. historiographisch auszuwerten – das gilt Dank einer Spende der SVO Celle und ih- insbesondere für erst in den letzten Jah- rer Mitarbeiter_innen konnten weitere ren neu erschlossene Quellen. Mit dieser Geräte angeschafft werden. Mit unseren systematischen Zusammenführung ist Kooperationspartnern loten wir derzeit im Winter 2014/15 begonnen worden. inhaltliche Erweiterungen und Einsatz- Durch die aktive Sammlungstätigkeit möglichkeiten aus. der Gedenkstätte konnten auch 2015 Insgesamt war die Arbeit der Gedenk- wichtige Bild- und Textquellen ermittelt stätte Bergen-Belsen auch 2015 durch und in das Archiv der Gedenkstätte auf- regionale, nationale und internationale genommen werden. Dies gilt insbeson- Kooperationen geprägt, von Konzert- und dere für die Geschichte des DP-Camps Vortragsveranstaltungen in der Celler Bergen-Belsen. Solche Neuerwerbun- Synagoge und den Kammerlichtspielen gen bedeuten eine besondere Verant- Celle bis hin zu Kooperationen in den wortung für ihren materiellen Erhalt. So Arbeitsbereichen Dokumentation und wurden auch 2015 restauratorische Ein- Bildung, etwa mit Yad Vashem oder der 69 zelmaßnahmen und Papierentsäuerun- Gedenkstätte Auschwitz. Auch die Fort- gen im Zentrum für Bucherhaltung in führung des internationalen Jugend- Leipzig durchgeführt. workcamps und der Summer School Im Rahmen des inhaltlichen Begleitpro- spiegelten die internationale Dimension gramms zum 70. Jahrestag der Lager- der Arbeit der Gedenkstätte Bergen- befreiung wurde in Kooperation mit der Belsen wider. KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora die Wanderausstellung „Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche und Räumungs- transporte im April 1945“ erarbeitet. Thema der Ausstellung sind die Räu- mungstransporte von Mittelbau-Dora in das Kasernenlager Bergen-Belsen vor 70 Jahren. Nach der Erstpräsentation in den Gedenkstätten Bergen-Belsen und Mittelbau-Dora wurde die Ausstellung bis Anfang 2016 in Lüneburg, Salzgitter und Gardelegen gezeigt. Weitere Aus- stellungsorte sind fest gebucht. Zur Aus- stellung ist ein gleichnamiger Begleit- band erschienen. Unter den Veröffentlichungen zur Ge- schichte Bergen-Belsens ist insbesonde- re die kommentierte deutschsprachige Publikation des in polnischer Sprache verfassten Häftlingstagebuchs von Józef Gitler zu erwähnen. Es ist das einzige Tage- buch aus dem sogenannten polnischen Sonderlager und zugleich das früheste,

Gedenkstätte Bergen-Belsen 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen

Jens-Christian Wagner

70 70 Jahre nach den Ereignissen im Mal, dass sich ein deutscher Bundes- in Celle. Der 23. April stand im Zeichen Frühjahr 1945 kamen vom 22. bis zum präsident an den Gräbern der Opfer von von Gedenkveranstaltungen an den bei- 27. April 2015 über 100 teils hochbetagte Bergen-Belsen verneigte. Die Überle- den Orten der Befreiung von Räumungs- Überlebende mit ihren Angehörigen an benden werteten das als Versprechen, transporten aus dem KZ Bergen-Belsen den Schreckensort zurück, der sie für ihr dass sich die Bundesrepublik auch in Zu- in Farsleben (Sachsen-Anhalt) und Trö- Leben prägte. Sie kamen, um den briti- kunft der Verantwortung für die wache bitz (Brandenburg). Dort wurde eine von schen Befreiern und den vielen Men- Auseinandersetzung mit den hier began- der Stiftung Brandenburgische Gedenk- schen, die sich im April und Mai 1945 genen Verbrechen bewusst ist – auch stätten in Kooperation mit der Gedenk- um die Überlebenden kümmerten, zu dann, wenn es keine Zeitzeugen mehr stätte Bergen-Belsen erarbeitete Open- danken. Vor allem aber kamen sie, um geben wird. Air-Ausstellung zum „Verlorenen gemeinsam um diejenigen zu trauern, Transport“ eröffnet. Den 24. April ver- die nicht überlebten. Und sie kamen, um Veranstaltungsprogramm brachten die meisten Überlebenden Freunde und Leidensgefährten zu tref- und Angehörigen in der Gedenkstätte fen, von denen sie manche seit der Be- Gedenken braucht Wissen. Die Ge- Bergen-Belsen. Dort wurden Führungen freiung nicht mehr gesehen hatten. denkstätte Bergen-Belsen rahmte die und Präsentationen des neuen Multime- Der Stiftung niedersächsische Ge- Gedenkveranstaltungen deshalb mit ei- dia-Geländeguides angeboten, ferner denkstätten war insbesondere daran nem breiten inhaltlichen Programm. Die- Besuche und Recherchen im Archiv. Am gelegen, dass die Überlebenden bei ses begann am 15. April 2015, dem ge- Nachmittag wurde in der Gedenkstätte den zahlreichen Veranstaltungen zum nauen Jahrestag der Befreiung, mit die Sonderausstellung „Zwischen Harz 70. Jahrestag der Lagerbefreiung im einer gemeinsam mit dem Volksbund und Heide. Todesmärsche und Räu- Mittelpunkt standen und ihre Stimmen Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der mungstransporte im April 1945“ erheben konnten. Dennoch war es ein Stiftung Arbeit & Leben organisierten eröffnet. wichtiges Zeichen, dass auch ranghohe wissenschaftlichen Tagung zum Thema Zwei Veranstaltungen standen am staatliche Repräsentanten aktiv an den Kriegsende in Niedersachsen. 24. April im Zeichen internationaler Be- Veranstaltungen teilnahmen, etwa der Am 22. April begrüßten der Oberbür- gegnungen. Das Child Survivor Forum Duke of Gloucester als Vertreter des bri- germeister der Stadt Celle, Dirk-Ulrich bot Gästen, die als Kinder oder Jugendli- tischen Königshauses sowie Bundesprä- Mende, samt Kulturausschuss des Stadt- che das KZ Bergen-Belsen überlebt ha- sident Joachim Gauck und der nieder- rates die angereisten Überlebenden und ben, eine Möglichkeit zur Begegnung sächsische Ministerpräsident Stephan ihre Angehörigen mit einem abendli- und zum Austausch. Letzteres stand Weil. Es war seit 20 Jahren das erste chen Empfang in der Alten Exerzierhalle auch im Mittelpunkt der internationalen Jugendbegegnung „Zukunft der Erinne- am Obelisken und am Jüdischen Mahn- Öffentliche Wahrnehmung 71 rung“, an der 25 Jugendliche aus Deutsch- mal in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. land, Israel, Polen, Russland und der Uk- Die Hauptreden hielten neben den KZ- Sehr ausführlich berichteten die Medi- raine teilnahmen. Überlebenden Ariel Yahalomi (Israel), en über die diversen Veranstaltungen. Am 25. April wurde den Gästen wiede- Anastassia Gulej (Ukraine), Maurice Die Gedenkfeier am 26. April wurde live rum die Möglichkeit für Führungen und Zylberstein (Frankreich), Maria Gniatczyk im NDR-Fernsehen übertragen. Zur brei- Gespräche in der Gedenkstätte Bergen- (Polen), Dr. Zsuzsa Misur (Ungarn) und ten öffentlichen Wahrnehmung der Ver- Belsen geboten. Zudem stellte der Jurist Dr. Emanuel Mandel (USA) Bundespräsi- anstaltungen trug sicherlich auch die Menachem Rosensaft, der im DP-Camp dent Joachim Gauck, der Präsident des stark ausgeweitete Internetpräsenz der Bergen-Belsen geboren wurde, in Han- Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Gedenkstätte bei. Auf der eigens für den nover seine Publikation „God, Faith and Lauder, sowie die Vorsitzenden des 70. Jahrestag geschalteten Website Identity from the Ashes: Reflections of Zentralrates der Juden in Deutschland, www.befreiung1945.de wurden die ein- Children and Grandchildren of Holocaust Dr. Josef Schuster, und des Zentralrates zelnen Veranstaltungen detailliert vorge- Survivors” vor. Am Abend fanden sich Deutscher Sinti und Roma, Romani stellt. Zudem bot die Website vertiefen- alle Gäste, organisiert vom Landesver- Rose. Der Veranstaltung schloss sich ein de Informationen zum historischen band der Jüdischen Gemeinden in Nie- Empfang im „Roundhouse“ in der briti- Kontext. Dazu gehörte auch ein Internet- dersachsen, zu einem Gedenkkonzert im schen Kaserne Bergen-Hohne an. Dabei Blog, der die 70 letzten Kriegstage vom Landesfunkhaus des NDR in Hannover übergaben das Land Niedersachsen, der 27. Februar bis zum 8. Mai 1945 täglich ein. Landkreis Celle, die Stadt Celle und die anhand eines oder mehrerer lokaler Ge- Der 26. April stand ganz im Zeichen der Stadt Bergen dem Duke of Gloucester schehnisse im KZ Bergen-Belsen oder zentralen Gedenkfeier zum 70. Jahrestag eine gemeinsame Informationstafel zur an anderen Orten in Niedersachsen vor- der Lagerbefreiung. An einer Gedenkver- Geschichte des Roundhouse mit Dank- stellte (http://blog.befreiung1945.de). anstaltung samt Kranzniederlegung auf widmung an die britischen Befreier. Den Ausführlich beleuchtet die Bandbreite dem Kriegsgefangenenfriedhof Bergen- Abschluss des Tages bildeten zwei Ge- der Veranstaltungen die im Oktober 2015 Belsen nahmen rund 300 Personen teil. denkveranstaltungen auf dem Zelttheater- fertiggestellte 232-seitige Dokumenta- Redner waren u.a. Maksim Tretiak, russi- friedhof in der Kaserne Bergen-Hohne, tion „70. Jahrestag der Befreiung des scher ehemaliger Kriegsgefangener, und gestaltet u.a. von jüdischen Veteranen Konzentrationslagers Bergen-Belsen”. Landtagspräsident Bernd Busemann. der britischen Armee, und auf der Ram- Mehr als 2000 Gäste beteiligten sich an- pe nahe Bergen (veranstaltet von der AG schließend an der Gedenkveranstaltung Bergen-Belsen).

Gedenkstätte Bergen-Belsen • Jesco Denzel Besuch des britischen Königspaares in der Gedenkstätte Bergen-Belsen

Jens-Christian Wagner

72 Zum Abschluss ihres möglicherweise machten, prägten ganz maßgeblich die zeigten sie für die Geschichte des DP- letzten Staatsbesuches in Deutschland öffentliche Wahrnehmung des Lagers. In Camps in der Kaserne Bergen-Hohne, in besuchten Königin Elizabeth II. und ihr Großbritannien gilt Bergen-Belsen bis der jüdische KZ-Überlebende auf die Er- Ehemann Prinz Philip am 26. Juni 2015 heute als das Symbol für die NS-Verbre- laubnis zur Ausreise nach Palästina war- die Gedenkstätte Bergen-Belsen. Anlass chen schlechthin, vielleicht noch mehr teten, das vor der Gründung des Staates war die Befreiung des Lagers durch briti- als Auschwitz. Israel britisches Mandatsgebiet war. sche Truppen 70 Jahre zuvor. Noch aus einem weiteren Grund ist Ebenso interessiert zeigte sich das Kö- Es war das erste Mal, dass die Königin Großbritannien eng mit der Geschichte nigspaar am Schicksal der polnischen die Stätte eines ehemaligen Konzentrati- des Ortes verbunden. Nach dem Krieg Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge, die onslagers besuchte. Dass die Wahl auf übernahm das britische Militär nämlich als Widerstandskämpfer und Angehöri- Bergen-Belsen fiel, ist dem Umstand ge- den benachbarten Truppenübungsplatz; ge der polnischen Heimatarmee unter schuldet, dass es das einzige Konzentra- seit 1946 waren in der Kaserne Bergen- Führung der polnischen Exilregierung in tionslager war, das von britischen Solda- Hohne britische Soldaten stationiert (bis London gegen die deutsche Besatzung ten befreit wurde. Andere Lager, etwa 1950 noch als Nachbarn des dortigen jü- Polens gekämpft hatten. Auch aus die- Buchenwald und Dachau, wurden von dischen DP-Camps). Die 70-jährige briti- ser Gruppe lebten viele Überlebende den Amerikanern befreit oder, wie sche Präsenz endete erst 2015 mit dem nach dem Krieg zunächst in der Kaserne Auschwitz und Sachsenhausen, von der Abzug der britischen Soldaten aus der Bergen-Hohne. Sie waren es, die bereits Roten Armee. Den britischen Soldaten Kaserne. Auch das mag ein Grund für im November 1945 das Hochkreuz er- bot sich, als sie am 15. April 1945 das La- den Besuch der Queen in diesem Jahr richteten, das sich Queen Elizabeth und ger erreichten, ein Anblick des Grauens. gewesen sein. Prinz Philip ebenfalls zeigen ließen. Etwa 10.000 verwesende Leichen lagen Bei aller politischen Symbolkraft und Dem Rundgang und einer Kranznie- verstreut im Lagergelände und in den trotz eines eng getakteten Zeitplans war derlegung an der Inschriftenwand Baracken, dazwischen stoisch vor sich es dem Königspaar wichtig, sich Zeit für schlossen sich am Obelisken Begegnun- hinstarrende Menschen, die nur noch historische Erläuterungen und stilles Ge- gen mit Vertretern der niedersächsi- aus Haut und Knochen bestanden. denken zu nehmen. Ganz allein, ohne schen Politik sowie Schülerinnen und Selbst für hartgesottene britische Front- jeglichen protokollarischen Tross, ließen Schülern des Celler Kaiserin-Auguste- kämpfer war der Anblick der Toten und sich die Königin und ihr Ehemann das jü- Viktoria-Gymnasiums an. Letztere hat- Sterbenden im Lager ein Schock. Die Fo- dische Mahnmal von 1946 und den nahe ten im April 2015 bei der Organisation tos und Filmaufnahmen, die britische gelegenen Gedenkstein für Anne und der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der Kriegsberichterstatter in Bergen-Belsen Margot Frank zeigen. Großes Interesse Befreiung des KZ Bergen-Belsen mitge- holfen und präsentierten der Königin Königspaares angesehen werden. Dane- 73 den neuen multimedialen Geländeguide. ben sind Biographien der KZ-Überleben- Für die Gespräche mit den Schüler_innen den und der britischen Befreier abrufbar, ließ sich Elizabeth II. besonders viel Zeit. die mit der Queen zusammentrafen, Doch der emotionale Höhepunkt ihres ferner Hintergrundinfos zu den Orten, Besuches war die Begegnung der Queen die sie im Gedenkstättengelände mit den KZ-Überlebenden Anita Lasker- besichtigte. Wallfisch, Rudolph Oppenheimer und Stefan Hertz sowie mit den britischen Veteranen Captain Eric Brown, Bernard Levy und Sir Brian Neill, die am 15. April 1945 an der Befreiung des KZ Bergen- Belsen beteiligt gewesen waren. Der Besuch des britischen Königspaa- res in der Gedenkstätte traf auf großes mediales Interesse im In- und Ausland, besonders natürlich in Großbritannien selbst. Das ZDF berichtete live, und viele andere Sender brachten Sondersendun- gen. Dabei gelang es der Gedenkstätte erfolgreich, die Journalisten und andere • Jesco Denzel

Interessierte mit historischen Hinter- Erläuterungen durch Dr. Jens-Christian Wagner, den grundinformationen zur Geschichte des Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenk- stätten • Jesco Denzel Kriegsgefangenen- und des Konzentrati- Bei ihrem Besuch in der Gedenkstätte begegnete die onslagers sowie zur Wirkungsgeschichte Queen mehreren Überlebenden des Konzentrations- nach 1945 zu versorgen. Einen großen lagers Bergen-Belsen; v.l.: Bernard Levy mit Ehefrau Doreen, Anita Lasker-Wallfisch, Captain Eric Brown, Sir Zuspruch erfuhr eine eigens für den Be- Brian Neill und Rudolph Oppenheimer • Jesco Denzel such geschaltete Website auf der Do- Queen Elizabeth II. im Gespräch mit der Überlebenden main www.befreiung1945.de. Hier kön- Anita Lasker-Wallfisch • Jesco Denzel nen Fotos vom Besuch des • Jesco Denzel

Gedenkstätte Bergen-Belsen 74 75

Gedenkstätte Bergen-Belsen Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945

Eine Wanderausstellung der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

Jens-Christian Wagner

Harz und ZwischenHeide. Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945 Ausstellung KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, 13.4 – 5.9. 2015 Gedenkstätte Bergen-Belsen, 24.4 – 15.6.2015

76 In den letzten Kriegswochen eskalier- und Mittelbau-Dora diesem lange ver- Bestandteile der Ausstellung ten die NS-Verbrechen – nun nicht mehr drängten Thema eine eigene Wander- im vermeintlich fernen „Osten“, sondern ausstellung. Diese wurde zunächst in • 2 Tafeln Prolog/Epilog ca. 2 × 2 m inmitten der deutschen Gesellschaft. zwei komplementären Teilen an den • 10 Ausstellungstische teils mit zusätz- Anfang April 1945, als sich von Westen beiden Standorten eröffnet – Teil 1 am lichen vertikalen Elementen und Video- her die US-Armee näherte, räumte die 13. April 2015 in der KZ-Gedenkstätte monitoren; insgesamt ca. 30 laufende SS das KZ Mittelbau-Dora im Harz. In Mittelbau-Dora, Teil 2 am 24. April 2015 Meter aller Hast verlud sie 40.000 Häftlinge in in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Seit • 1 Geländemodell Bergen-Belsen Viehwaggons oder trieb sie zu Fuß Rich- dem Sommer 2015 wurden beide Teile ca. 1,50 m × 1 m tung Norden. Etwa die Hälfte der Trans- gemeinsam in Lüneburg, Salzgitter und • Die Ausstellung wird für den Transport porte endete im KZ Bergen-Belsen, ge- Gardelegen gezeigt. Weitere Ausstel- in Kisten verpackt. Als Transportfahr- nauer im nahe gelegenen „Kasernen- lungsorte werden Seesen und Osna- zeug wird ein 7,5-t-Fahrzeug benötigt lager“, das zur Unterbringung der Häft- brück sein. (vorzugsweise mit Ladebühne). linge aus Mittelbau-Dora als Nebenlager Interessierte Museen, Vereine oder des KZ Bergen-Belsen eingerichtet wur- Schulen können die Ausstellung gebüh- Kontakt: veranstaltung.bergen-belsen@ de. Später befand sich hier das größte renfrei ausleihen. Der Entleiher hat ledig- stiftung-ng.de. jüdische DP-Camp Deutschlands. lich die Kosten für den Transport und die Tausende Häftlinge, die ihre Befreiung Versicherung zu tragen. Für die Ausstel- schon vor Augen hatten, wurden während lung wird eine Fläche von ca. 200 m² der Todesmärsche ermordet. Nach dem benötigt. Die Ausstellung verfügt nicht Krieg bemühten sich die Alliierten, die über eigene Beleuchtungselemente, während der Todesmärsche begangenen bedarf aber nur normaler Raum- Verbrechen aufzuklären. Die meisten beleuchtung. Deutschen hingegen lehnten eine Aus- 24. April: Geschäftsführer Dr. Jens-Christian Wagner führt den Überlebenden Ariel Yahalomi durch die einandersetzung mit dem Thema ab, neueröffnete Ausstellung. • Martin Bein obwohl oder vielleicht gerade weil die Präsentation in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, April Todesmärsche öffentliche Verbrechen bis Juni 2015 • Jens-Christian Wagner

gewesen waren. Januar 2016: Präsentation der Ausstellung in der Nikolai- Zum 70. Jahrestag der Befreiung wid- kirche Gardelegen • Jens-Christian Wagner meten die Gedenkstätten Bergen-Belsen Zeichnung: Aufbau der Pulte (Gewerk Design, Berlin) 77

Gedenkstätte Bergen-Belsen Kalendarium

Januar Februar

8. Februar: Unter dem Thema „Bergen-Belsen virtuell“ bot ein begleiteter Rundgang mit Stephanie Billib den Teilneh- mer_innen die Möglichkeit zu eigenständigen Erkundungen des historischen Lagergeländes mit dem multimedialen Ge- ländeguide und zu einem anschließenden Gespräch.

18. Februar: „Bergen-Belsen – Erinnerungs- und Lernort. Grundlagen, Methoden und Praxis für das Kerncurriculum Geschichte im Bereich Sek II“ hieß eine Fortbildung für schu- lische Multiplikator_innen.

• Carsten Maehnert

25. Januar: Anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus fand ein Gedenkkonzert in der Celler Syn- agoge statt, veranstaltet vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, der Gedenkstätte Bergen- Belsen, der Stadt Celle und der Gesellschaft für Christlich- Jüdische Zusammenarbeit Celle e.V. Chor und Orchester der Jüdischen Gemeinde Hannover führten unter der Leitung von Naum Nusbaum u.a. Werke von Sergej Kolmanovskij und Max Bruch auf.

78 März

18. März: Zum Thema „Lernort Bergen-Belsen – Grund­ lagen, Methoden und Praxis“ fand eine Fortbildung für Multiplikator_innen statt.

• Daniel Seifert

21. Februar: „Wir sind, was wir erinnern…“ war Thema ei- nes Workshops für Interessierte zum Thema Gedenken und Erinnerung – bezogen auf die Gedenkstätte Bergen-Belsen sowie auf die Erinnerungskultur in anderen Ländern. 23. März bis 2. April: Beim Internationalen Jugendwork- camp begegneten sich 47 Jugendliche aus neun Ländern.

• Ruth Pope

April 79

• Daniel Seifert • Karen Bähr

8. April: In einer Kooperationsveranstaltung der Gedenk- 15. April: „besetzt – befreit – bestraft?! Das Kriegsende in stätte Bergen-Belsen mit der Stadt Celle sprach der Historiker Niedersachsen in Forschung und Vermittlung“ lautete der Dr. Bernhard Strebel in der Celler Synagoge am Jahrestag Titel einer Tagung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräber- über den Bombenangriff und das Massaker an KZ-Häftlingen fürsorge, der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben und der vom 8. April 1945. Gedenkstätte Bergen-Belsen, die in Hannover stattfand; hier Vortrag von Dr. Jens-Christian Wagner.

Gedenkstätte Bergen-Belsen • Andreas Fröse-Karow • Monika Brockhaus

17. bis 19. April: „Für die Zukunft“ war das Thema eines 22. bis 27. April: Unter dem Motto „Zukunft der Erinnerung” Fotoworkshops für Erwachsene zum 70. Jahrestag der stand eine internationale Jugendbegegnung im Rahmen der Befreiung. Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzent- rationslagers Bergen-Belsen. Gespräch zwischen Teilneh- menden des Oral History-Workshops mit der Zeitzeugin Klara Belkin aus Kanada am 25. April in der Gedenkstätte (siehe auch den Bericht auf S. 107).

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• Karen Bähr • Jesco Denzel

23. April: Gedenkveranstaltungen fanden statt in Langen- 23. April: Besuch des Befreiungsortes Farsleben und des naundorf und in Tröbitz, dort wurde eine in Kooperation mit ehemaligen DP-Camps Hillersleben; historische Fotos waren der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten realisierte Frei- hilfreich bei der Ortsbegehung. luftausstellung zum „Verlorenen Zug“ eröffnet. • Martin Bein • Helge Gaudlitz

24. April: Dr. Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der 26. April: Ansprachen bei der Gedenkfeier auf dem Kriegs- Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, eröffnete die in gefangenenfriedhof Bergen-Belsen hielten der Präsident des Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora erarbei- Niedersächsischen Landtages, Bernd Busemann (li.), und der tete Ausstellung „Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche Überlebende Maksim Tretiak. und Räumungstransporte im April 1945”.

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• Martin Bein • Carsten Maehnert

26. April: Die Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages 26. April: Bei einem Empfang im „Roundhouse“ wurde eine der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen fand Gedenktafel zu Ehren der britischen Befreier des KZ Bergen- in Anwesenheit zahlreicher Überlebender sowie prominenter Belsen enthüllt. Gäste aus dem In- und Ausland statt.

Gedenkstätte Bergen-Belsen • Peter Wanninger

26. April: Die Überlebende Anita Lasker-Wallfisch hielt die Ansprache bei der Gedenkveranstaltung an der Rampe.

26. April: Gedenken auf dem „Zelttheaterfriedhof“

• Jesco Denzel

82 Mai

5. bis 8. Mai: „Unrechtssysteme in Deutschland“ waren Thema einer Seminarwoche, die für Schüler_innen der Ober- schule Walsrode und der Sekundar-schule Hagenberg/Gern- rode als zweiteiliges Seminar mit der Gedenkstätte Marien- born durchgeführt wurde.

• Carsten Maehnert

5. Mai: „Die jüdische DP-Gemeinde in Celle nach 1945“ war Thema eines Vortrags von Dr. Thomas Rahe, der als Koopera- tionsveranstaltung der Gedenkstätte Bergen-Belsen, der Stadt Celle und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in der Celler Synagoge stattfand. 19. Mai: „Überlebende und Erinnerung – Jüdische Über- lebende 1945 Bergen-Belsen“ war Thema eines Vortrags von Dr. Thomas Rahe, der als Kooperationsveranstaltung der Ge- sellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hannover e.V., der Jüdischen Gemeinde Hannover K.d.ö.R. und der Gedenkstätte Bergen-Belsen in der Jüdischen Gemeinde Hannover stattfand.

31. Mai: Zum Thema „Massengräber, Gedenksteine, Einzel- schicksale“ fand eine thematische Führung mit Dr. Thomas Rahe auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers statt.

• Ruth Pope

8. Mai: Der Bezirk Niedersachsen/Sachsen-Anhalt der IG Metall veranstaltete anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes in Europa eine Gedenkfeier in Bergen-Belsen. Ansprachen vor den über 1000 Anwesenden hielten die Über­ leben-den Michael Gelber und Sally Perel, Felina Bodner und Lisa Hartinger als Jugendvertrete-rinnen sowie der Bezirksleiter der IG Metall, Hartmut Meine, und Dr. Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung durch die Gruppe „Spätlese“.

Juni 83

• Jesco Denzel

28. Juni: Queen Elizabeth II. ließ sich bei ihrem Besuch der Gedenkstätte von Jugendlichen den multimedialen Gelände- guide erläutern.

• Katja Seybold Juli 21. Juni: Mit einem Vortrag der Leiterin Forschung und Bildung des ITS Arolsen, Dr. Susanne Urban (hier beim Gespräch mit einer Besucherin), wurde die ITS-Sonderaus- 4. Juli: Im Rahmen eines Projekts des United States Holo- stellung „‘Wohin sollten wir nach der Befreiung?‘ Zwischen- caust Memorial Museum (USHMM) fand ein Seminartag mit stationen: Displaced Persons nach 1945“ eröffnet. Sie wurde Multiplikator_innen des Holocaust and Jewish Resistance bis zum 30. August 2015 in der Gedenkstätte gezeigt. Teachers Programme (HJRTP) statt.

Gedenkstätte Bergen-Belsen • Karen Bähr • Carsten Maehnert

7. Juli: Als Kooperation der Gedenkstätte Bergen-Belsen 8. Juli: In der Celler Synagoge fand abends eine Lesung mit mit den Kammer-Lichtspielen Celle und der VHS Celle wurde Laura Waco statt, bei der sie einige Passagen aus ihrem auto- in der Reihe „Film und Gespräch“ Michael Verhoevens Film biographischen Bericht "Von Zuhause wird nichts erzählt!" „Let’s go!“ gezeigt; anwesend war auch Laura Waco, auf de- vortrug. Die Veranstaltung war eine Kooperation der Gedenk- ren autobiographischem Buch „Von Zuhause wird nichts er- stätte Bergen-Belsen mit der Stadt Celle. zählt!“ der Film basiert. Das anschließende Gespräch mode- rierte Dr. Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.

Der Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen am nächsten- Tag war insbesondere für Laura Waco sehr berührend, da ihre Mutter das KZ Bergen-Belsen überlebt hatte. Nach einer Füh- rung durch Dr. Jens-Christian Wagner hatten die Gäste ein längeres Gespräch mit Mitarbeiter_innen der Gedenkstätte.

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• Carsten Maehnert

Erläuterungen zur Celler Synagoge und zur Geschichte 19. Juli: „Fotografien aus dem Alltagsleben im Displaced der Juden in Celle; v.l.: Sabine Maehnert, Leiterin des Stadt- Persons Camp Bergen-Belsen“ waren Thema eines Vortrags archivs Celle, Dr. Monika Gödecke, Stiftung niedersächsische von Katja Seybold. Gedenkstätten, die Autorin Laura Waco und der Filmemacher Prof. Dr. Michael Verhoeven. August

1. bis 7. August: „Memory in the Digital Age“ war das Motto der 2. Bergen-Belsen International Summer School, die zum Thema „Space“ stattfand. 20 Studierende nahmen teil.

Auf der Terrasse des „Round House“ • Ruth Pope

9. August: Das ehemalige Displaced Persons Camp Bergen- Belsen war Thema einer Exkursion in die Kaserne Bergen- Hohne, geleitet von Dr. Thomas Rahe. In der Kaserne Bergen-Hohne: Besuch der Ausstellung zum DP-Camp • Ruth Pope

September Oktober 85

27. September: „Die Rampe in Bergen – Ein versteckter 18. Oktober: „Hatikva“ (hebr. Hoffnung; zugleich der Name Ort“: Elke von Meding gab bei einer thematischen Führung der Israelischen Nationalhymne): Das Konzert mit dem Klari- Hintergrundinformationen über die Verladerampe am Orts- nettisten Daniel Graumann (Foto unten) und Band erklang im rand von Bergen. Foyer des Dokumentationszentrums.

29. September: Im Rahmen der Ausstellungseröffnung 25. Oktober: „‚Am meisten gefährdet ist man im Bett!‘ „Nach der Befreiung – Dokumente aus jüdischen Displaced Die Fleckfieber-Epidemie im Konzentrationslager Bergen- Persons Camps“ hielt Dr. Thomas Rahe in der Villa Seligmann Belsen“ war Thema der Führung mit Jakob Rühe über das in Hannover einen Vortrag zum Thema „Das jüdische DP-Camp Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Bergen-Belsen 1945–1950“.

November

1. November: Dr. Henning Pieper (Lüneburg) setzte sich unter dem Thema „‚Kalte Amnestie‘ trotz ‚erheblicher Ver- dachtsmomente‘“ mit der juristischen Aufarbeitung von Ver- brechen der Waffen-SS in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander.

• DVO Druck und Verlag Obermayer GmbH

Gedenkstätte Bergen-Belsen Forschung und Dokumentation

Thomas Rahe

86 Der 70. Jahrestag der Befreiung des Befreiung, in der Gedenkstätte Bergen- Bergen-Belsen am 26. Juni 2015 war Konzentrationslagers Bergen-Belsen Belsen eröffnet. Im Zuge der Arbeiten Anlass für die Erarbeitung einer beson- durch britische Truppen am 15. April für diese Ausstellung konnte eine Reihe deren Website zur Bedeutung Groß­ 1945 prägte auch die Arbeit der Abtei- bislang unbekannter Text- und Bildquel- britanniens für die Geschichte des lung Forschung und Dokumentation im len zu den in das KZ Bergen-Belsen ge- Konzentrationslagers, aber auch des Jahr 2015. Dies betraf zunächst zwei do- leiteten Todesmärschen und den Gräbern DP-Camps Bergen-Belsen. kumentarische Ausstellungen, die im bzw. Friedhöfen ihrer Opfer ermittelt Sowohl der 70. Jahrestag der Befrei- Kontext der Gedenkfeier im April eröff- werden. ung als auch der Besuch der Queen tru- net wurden. Viele der mehr als 100 Überlebenden gen dazu bei, dass die öffentliche Auf- So war die Abteilung Forschung und des Konzentrationslagers Bergen-Belsen merksamkeit für die Geschichte Bergen- Dokumentation durch Beratung sowie sowie zahlreiche Angehörige ehemaliger Belsens wesentlich zunahm, was sich Mitarbeit bei Bildauswahl und Textre- Häftlinge nutzten ihre Anwesenheit bei auch in einer deutlich erhöhten Zahl von daktion maßgeblich an einer Open Air- der Gedenkfeier, um Anfragen zum Anfragen an den Arbeitsbereich Archiv Ausstellung in Tröbitz beteiligt, wo einer Schicksal einzelner Häftlinge bzw. Bitten und Dokumentation niederschlug. der Häftlingstransporte aus dem „Aus- um Unterstützung bei der Anfertigung Neben den für das Jahr 2015 spezifi- tauschlager“ Bergen-Belsen befreit wor- und Aufstellung von Namenstafeln bzw. schen Projekten wurden weiterhin die den war. Die Eröffnung der Ausstellung Gedenksteinen auf dem Gelände der Ge- Kernaufgaben der Abteilung in den fand im Rahmen einer Gedenkfeier am denkstätte persönlich vorzutragen. Bereichen Videointerviews und audio­ 23. April 2015 in Tröbitz statt, dem 70. Das von der Abteilung Forschung und visuelle Quellen, Namensverzeichnis Jahrestag der Befreiung dieses „Verlore- Dokumentation organisierte „Child Sur- der Häftlinge des KZ Bergen-Belsen nen Transports“, in Anwesenheit zahlrei- vivor Forum“ bot Gästen, die als Kinder sowie Archiv und Dokumentation cher hier befreiter Überlebender des KZ und Jugendliche das KZ Bergen-Belsen wahrgenommen. Bergen-Belsen. überlebt haben, eine Möglichkeit zur Be- Insgesamt sechs Videointerviews wur- Die Sonderausstellung „Zwischen gegnung und zum Austausch und ver- den mit Child Survivors des KZ Bergen- Harz und Heide. Todesmärsche und Räu- mittelte zugleich Anstöße für die Weiter- Belsen geführt; im Mittelpunkt standen mungstransporte im April 1945“ wurde entwicklung der historischen Forschung vor allem die Folgen der Verfolgung. Bei vor allem von Mitarbeiter_innen der Ab- zu diesem für die Geschichte des KZ der Arbeit am Namensverzeichnis stand teilung Forschung und Dokumentation Bergen-Belsen zentralen Thema. einmal mehr die internationale Koopera- erarbeitet und am 24. April, im Vorfeld Der Besuch von Queen Elizabeth II. tion im Vordergrund. Der gewachsene der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der und Prinz Philip in der Gedenkstätte Bestand an Namen und biographischen Daten von Häftlingen des KZ Bergen- 87 Belsen macht das Verzeichnis für histori- sche Forschungsvorhaben und Gedenk- initiativen zu einer zunehmend bedeut- samen Quelle. Durch die aktive Sammlungstätigkeit der Gedenkstätte Bergen-Belsen konnten die Bildsammlung wie auch die Textdokumentation 2015 nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ wesentlich ergänzt werden, durch Schenkungen von Privatpersonen ebenso wie durch Ankäufe bei speziali- sierten Antiquariaten. Die Nutzung der Sammlung der Au- genzeugenberichte wurde durch profes- sionelle Übersetzungen mehrerer Erin- nerungsberichte und tagebuchähnlicher Aufzeichnungen insbesondere aus dem Polnischen und Ungarischen erleichtert. In der Dauerausstellung bei den Medienstationen wurden sämtliche 130 Tafeln mit zweisprachigen Kurzbio- grafien von Zeitzeug_innen durch neue ersetzt. Erforderlich war dies aufgrund von Gebrauchsspuren, vor allem jedoch aufgrund einer Fülle von ergänzenden Informationen.

Gedenkstätte Bergen-Belsen Archiv und Sammlung

Klaus Tätzler, Corinna Rathjen

88 2015 wurden im Arbeitsbereich Archiv Fundstücken vom ehemaligen KZ-Lager- Veranstaltungen, insbesondere zum und Dokumentation 156 Besucher (im gelände konnte fortgesetzt werden und 70. Jahrestag der Befreiung und zum Vorjahr 128) betreut und ca. 500 Anfra- hatte wieder maßgeblich Anteil an der Besuch der Queen. gen bearbeitet. Während die Zahl der hohen Zahl der Einträge in der Objekt- Die Sammlung der Original-Dokumen- Anfragen in etwa konstant blieb, hat sich datenbank. te und Objekte wurde auch 2015 durch die Zahl der Besucher gegenüber dem Außerdem wurden in diesem Jahr vie- Ankäufe und Schenkungen erweitert. Vorjahr deutlich erhöht: Demnach hat an le Korrekturen und Überarbeitungen be- Besonders zu erwähnen sind unter den etwa 3 von 5 Tagen in der Woche ein Be- reits vorhandener Daten durchgeführt. 19 Neuzugängen der vermutlich früheste sucher vor Ort die Angebote des Archivs Von großer Bedeutung sind dabei die Bericht des Central Jewish Committee wahrgenommen. Übersetzungen von acht umfangreichen Bergen-Belsen vom Juni 1945, eine Pub- Hervorzuheben sind dabei einmal mehr Augenzeugenberichten in polnischer likation vom August 1945 mit Namens- die vielen neuen Kontakte zu Angehöri- Sprache, etwa die Berichte von Hanna listen von Juden, die in Celle im Juli gen der britischen Befreier, die zu einem Barsuk und von Chaja Rosenblatt. 1945 registriert waren (Sche‘erith regen Austausch von Informationen und Auch im Aktenbestand wurden einige Hapletah, Jewish Survivors in Celle) und Materialien führten. retrospektive Überarbeitungen und Neu- zwei Gedichte aus dem Jahr 1944 von Die Gesamtzahl der Einträge in den ver- erfassungen vorgenommen. So konnten Schlomo Samson aus dem „Sternlager” schiedenen FAUST-Datenbanken stieg u.a. über 1000 Blatt eines Aktenbestan- im KZ Bergen-Belsen. 2015 von 24.279 auf 25.078; sie verteilen des zur Geschichte der Gedenkstätte Durch die Förderung des BKM im Rah- sich folgendermaßen: Sammlung Objek- erschlossen und verzeichnet werden, men des Projekts „Digitalisierung von te (BO): 230 (Vorjahr 270), Sammlung ebenso wurde der zentrale Fotobestand wichtigen Archivalien zur inhaltlichen Text (BT): 21 (Vorjahr 26), Audiovisuelle zur Erinnerungskultur in Tröbitz aus der Sicherung in den KZ-Gedenkstätten Medien (BV): 5 (Vorjahr 13), Fotoarchiv Sammlung von Erika Arlt gescannt, er- Sachsenhausen, Ravensbrück, Bergen- (BF): 538 (Vorjahr 430), Aktensammlung schlossen und verzeichnet. Belsen, Mittelbau-Dora und Dachau“ (BA): 15 (Vorjahr 10). Für das Pressearchiv wurden die ge- war es möglich, zwei Fotoalben von Ein großer Teil der neuen Erfassungen eigneten Artikel thematisch geordnet Helena Wróbel-Kagan inventarisieren zu entfällt auf das Fotoarchiv. Mit 538 liegt und chronologisch abgelegt. Der Zu- lassen und eine konservatorische Aufar- die Zahl hier gegenüber dem Vorjahr (430) wachs betrug ca. 500 Artikel. Diese Ver- beitung im Zentrum für Bucherhaltung wieder höher. doppelung gegenüber dem Vorjahr er- in Leipzig in Auftrag zu geben. Die fast Die Reinigung und konservatorische klärt sich durch die umfangreiche Bericht- 400 Fotos wurden beidseitig gescannt Behandlung sowie die Verzeichnung von erstattung zu einigen herausragenden und in verschiedenen Formaten gespei- chert. Es erfolgte ein Abgleich mit Quel- Bibliothek der 89 len zum historischen Kontext und zur Gedenkstätte Bergen-Belsen Lebensgeschichte von Helena Wróbel- Kagan, die in den Konzentrationslagern Der Gesamtbestand der Bibliothek in Plaszow, Auschwitz-Birkenau und Bergen- der Gedenkstätte ist 2015 auf etwa 9500 Belsen inhaftiert war und nach der Be- Bücher, CDs und DVDs angewachsen. freiung im DP Camp Bergen-Belsen als Hinzu kommen 15 laufende Zeitschrif- Lehrerin arbeitete. Die in unterschied- tenabos sowie weitere 20 Zeitschriftenti- lichen Sprachen, vor allem in Polnisch, tel, die die Gedenkstätte kostenlos von Russisch und Hebräisch, beschrifteten anderen Institutionen erhält. 2015 gab es Rückseiten wurden übersetzt, in die in- 342 Neuerwerbungen, davon 136 durch haltlichen Erschließungen mit einbezo- Kauf, 206 durch Schriftentausch, Schen- gen und die Daten für den Import in die kung u.ä. Etwa 230 Besucher_innen Datenbank des Fotoarchivs aufbereitet. nutzten die Bibliothek, inklusive Anfra- Am 23. Februar 2015 wurde eine Original- gen per Email, Telefon, durch Kollegen Häftlingsmarke von Michail Lewin aus und durch Gruppenbetreuung z. B. der Sammlung der Gedenkstätte für während des Jugendworkcamps. die Ausstellung „1945 – Niederlage, Befreiung, Neuanfang“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin ausge­ liehen. Die Ausstellung endete am 10. Januar 2016.

Aufbereitung und Inventarisierung von Bodenfunden • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen

Gedenkstätte Bergen-Belsen Lebensgeschichtliche Interviews

Diana Gring

90 Seit 1999 führt die Gedenkstätte Bergen- britische Truppen mindestens 500 Kinder, weges, die Topographie des Konzentra- Belsen lebensgeschichtliche Videointer- vermutlich lag die Anzahl sogar noch tionslagers und mögliche Parallelüber- views mit Überlebenden des Konzentra- deutlich darüber. lieferungen in anderen Interviews und tions- und Kriegsgefangenenlagers Bergen- Im Jahr 2015 konnten sechs Interviews historischen Quellen eine Orientierungs- Belsen, mit ehemaligen Bewohnern des mit Überlebenden der Jahrgänge 1938 hilfe darstellen. Der inhaltliche Schwer- DP-Camps sowie anderen Zeitzeugen bis 1942 geführt werden. Interviewpart- punkt der meisten Interviews mit jünge- der historischen Ereignisse. Dieser voll- ner dieser Altersstufe verfügen über sehr ren Child Survivors ist die oftmals sehr ständig digitalisierte Interviewbestand unterschiedliche Erinnerungen an die komplexe und schwierige Nachkriegs- umfasst derzeit rund 445 filmische Bio- Verfolgungs- und Lagerzeit: Manche situation. Für die meisten Kinder, die als grafien mit mehr als 2.000 Stunden können sich detailliert einzelne Verfol- Voll- oder Halbwaisen überlebt hatten, Material. gungsphasen und -stationen ins Ge- war sie geprägt von existentieller Not, In den letzten Jahren verlagerte sich dächtnis rufen. Bei anderen sind die unklaren Familien-, Pflege- und Adoptions- der Schwerpunkt des Interviewprojektes Schilderungen eher episodenhaft und konstellationen, erneuten schmerzhaften zunehmend auf die Child Survivors, also fragmentarisch, umfassen jedoch häufig Trennungen von sozialen Bezugsperso- die Kinderüberlebenden, die zum Zeit- etliche wichtige Geschehnisse. Vor allem nen, psychischen und physischen Be- punkt ihrer Befreiung jünger als 15 Jahre stark traumatische Erlebnisse – beispiels- schwerden, Integrationsproblemen nach waren. Unter den aktuell vorhandenen weise die Trennung von den Eltern oder einer Emigration, Anpassungsstörungen 330 audiovisuellen Zeitzeugenberichten das Sterben von Angehörigen – haben und Schwierigkeiten in der Schule. von Überlebenden des KZ Bergen-Belsen sich oft in großer Detailschärfe in die Durch den lebensgeschichtlichen Ansatz gehört rund ein Drittel zur Verfolgten- Erinnerung der Child Survivors einge- der Interviews entstehen umfangreiche gruppe der Child Survivors. Insgesamt brannt, ebenso wie intensive körperliche Berichte, die neben den mehr oder weni- befanden sich zwischen 1943 und 1945 Sinneseindrücke wie Hunger, Schmerz, ger vorhandenen Erinnerungen an die im KZ Bergen-Belsen schätzungsweise Kälte und Krankheit, was einen Hinweis Lagerzeit auch die vielfältigen Folgen 3000 Kinder, mehrheitlich jüdische Ver- auf die Lebensbedingungen dieser Kin- der Verfolgung und den späteren Lebens- folgte, aber auch Kinder von politisch der im Lager gibt. Für die damals noch weg dokumentieren. Verfolgten und Kinder, die zur Gruppe sehr jungen Child Survivors ist es manch- Hans Reens, geboren 1940 in Amster- der Sinti und Roma gehörten. Vermutlich mal schwierig, ihre Erinnerungsbilder in dam (Niederlande), wurde im Alter von wurden etwa 100 Babys im KZ Bergen- Raum und Zeit zu verorten. Hier kann ein Belsen geboren, wovon die allermeisten umfangreiches Wissen des Interviewers umkamen. Am 15. April 1945 befreiten über die Chronologie des Verfolgungs- Interview mit Hans Reens, Juli 2015. • Olaf Markmann drei Jahren von seinen Eltern aus Angst jüdischen Familie in den Niederlanden ten, der in den Niederlanden, den USA 91 vor der drohenden Deportation zu einem geboren. Ihr Vater war ein erfolgreicher und in Israel an verschiedenen Universi- nichtjüdischen Ehepaar in Pflege gege- Anwalt. Im Februar 1943 verhaftete man täten tätig war, beschrieb im Interview ben. Wenige Monate später wurden die die Familie und deportierte sie zunächst anschaulich die verschiedenen Erinne- Eltern im Vernichtungslager Sobibor ver- in das Durchgangslager Westerbork. Mit rungsfragmente und Geschehnisse, die gast. Hans hat keine Erinnerungen an sie der Hilfe von sogenannten Palästina-Zer- Hinweise auf seine Herkunft geben so- und besitzt nicht einmal ein Foto von ih- tifikaten kamen sie im Februar 1944 als wie seinen Prozess der Auseinanderset- nen. Er selbst wurde als Kleinkind im Häftlinge in das Austauschlager des KZ zung damit. Er reflektierte über seinen Sommer 1944 festgenommen, nachdem Bergen-Belsen. Die Großeltern väterli- besonderen Lebensweg unter diesen seine Pflegeeltern ihn bei einer Razzia cherseits starben dort. Nach der Befrei- schwierigen Vorzeichen. vergeblich als eigenes Kind ausgegeben ung und der Rückkehr in die Niederlande Frank Diamand ist 1939 in den Nieder- hatten. Gemeinsam mit 50 anderen jüdi- zerbrach die Familie; die Eltern heirate- landen in einer jüdischen Familie gebo- schen Kindern, die in den besetzten Nie- ten neue Partner. Pim und Tamar setzten ren worden. Sein Vater, der von Beruf derlanden „untergetaucht“ waren und sich später auf unterschiedliche Weise Richter war, hatte Deutschland 1934 ver- bei denen die SS eine jüdische Identität mit ihrer Verfolgungsgeschichte ausein- lassen. Zusammen mit seinen Eltern und nicht eindeutig klären konnte, befand ander und berichteten im Interview ein- mehreren Verwandten kam Frank im sich Hans von Juni 1944 bis Mai 1945 im drucksvoll von ihren Erinnerungen und September 1944 aus dem Durchgangs- Durchgangslager Westerbork und in den Lebenswegen. Tamar lebt in den Nieder- lager Westerbork in das KZ Bergen- Konzentrationslagern Bergen-Belsen landen; Pim hat seine Heimat in Israel Belsen. Im Februar 1945 verlegte die SS und Theresienstadt. Nach der Befreiung gefunden. die Familie Diamand in das sogenannte kehrte er zunächst zu seinen Pflegeeltern Wann und wo er geboren wurde, weiß Neutralenlager, eines der Teilbereiche zurück, wurde dann aber von einem Gideon Kornblum nicht. Im April 1945 des Austauschlagers Bergen-Belsen. Onkel adoptiert. Später emigrierte Hans wurde er als zwei- bis dreijähriges Kind Frank und seine Eltern überlebten, wur- nach Israel, wo er heute lebt. Für den Be- von einem der Räumungstransporte aus den aus einem der Räumungstransporte such in der Gedenkstätte Bergen-Belsen dem KZ Bergen-Belsen befreit, und von befreit und kehrten in die Niederlande war er zum ersten Mal seit 1945 wieder einer niederländischen Familie an Kindes in Deutschland. statt angenommen. Das Leben von Interview mit Gideon Kornblum, August 2015 Auch die Geschwister Michael „Pim“ Gideon ist geprägt von der Suche nach • Olaf Markmann de Vries und Tamar Walma van der Molen Zugehörigkeit und seiner wahren Identi- Interview mit Katalin Shaw, November 2015. de Vries wurden 1939 und 1942 in einer tät. Der Professor für Naturwissenschaf- • Olaf Markmann

Gedenkstätte Bergen-Belsen 92 zurück. Hier arbeitete Frank nach dem Howard, mit dem sie drei Kinder bekam. Studium beim Fernsehen und machte Sie lebt noch heute in England. sich als Produzent und Regisseur von Über viele Jahre war die jüdische politischen Dokumentarfilmen einen Überlebende Marion Bienes (1925-2014) Namen. Zudem veröffentlichte er meh- eng mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen rere Lyrikbände, in denen er sich auch verbunden. Bereits vor mehreren Jahren mit seiner Kindheit in Bergen-Belsen fand ein lebensgeschichtliches Interview auseinandersetzte. Sein letzter Film mit ihr statt. Als ihr Sohn Michael Horo- „When Memory Comes“ (2013) ist ein witz, geboren 1951 in New York, an einer Portrait des Holocaust-Forschers Saul Veranstaltung der Stiftung niedersächsi- Friedländer, ebenfalls ein Kinderüber- sche Gedenkstätten teilnahm, konnte in lebender. diesem Rahmen auch ein Interview mit Die 1938 in Ungarn geborene Katalin ihm als Mitglied der sogenannten Zwei- Shaw besuchte gemeinsam mit Familien- ten Generation geführt werden. Micha- angehörigen zum ersten Mal die Gedenk- els Kindheit und Jugend waren sehr stätte Bergen-Belsen. Im Ghetto hatten stark durch das Verfolgungsschicksal sich ihre Eltern 1944 das Leben genom- seiner Mutter geprägt, wie er an vielen men. Katalin wurde von einer Cousine Beispielen erläuterte. Er wuchs in den ihrer Mutter aufgenommen, mit der sie USA, den Niederlanden, Deutschland auch gemeinsam im Ungarnlager des KZ und der Schweiz auf. Besonders interes- Bergen-Belsen inhaftiert war. Nach der sant waren seine Schilderungen über Befreiung lebte Katalin zunächst mit ih- den israelischen NS-Prozess gegen den rer Pflegemutter in Ungarn, dann muss- ehemaligen SS-Mann John Demjanuk, te sie zu einem ihr unbekannten Onkel bei dem er als Staatsanwalt beteiligt nach England umziehen, was einen war. Heute arbeitet Michael als Rechts- Schock und eine große Umstellung für anwalt in Jerusalem. das Mädchen bedeutete. Für einige Zeit Frank Diamand mit seinem Vater, vor 1943. lebte Katalin auch in einem jüdischen • Frank Diamand Waisenhaus in London. Sie ging früh in Interview mit Frank Diamand, Dezember 2015. die Lehre und heiratete 1963 ihren Mann • Olaf Markmann Namensverzeichnis der Häftlinge des Konzentrationslagers Bergen-Belsen

Bernd Horstmann

Der Austausch mit anderen Institutio- Beantwortung namensbezogener Gedenkbuch 93 nen ist für die Gedenkstätte Bergen- Anfragen Belsen von besonderer Bedeutung, da 2015 wurden 65 Exemplare des 2005 aufgrund der Vernichtung der Lagerre- 2015 beantwortete der Arbeitsbereich veröffentlichten Gedenkbuchs mit den gistratur durch die SS die wichtigste na- Namensverzeichnis insgesamt 787 ex- Namen und Daten von etwa 50 000 Häft- mensbezogene Quelle fehlt. Nur durch terne Anfragen (571 im Vorjahr). Diese lingen des Konzentrationslagers Bergen- umfangreiche Recherchen in Gedenk- lassen sich vier Gruppen zuordnen: Über- Belsen ausgegeben. stätten und Archiven, aber auch durch lebende des KZ Bergen-Belsen (106), An- die Unterstützung von Überlebenden, gehörige oder Nachkommen ehemaliger Angehörigen ehemaliger Häftlinge oder Häftlinge oder Kriegsgefangener (441), anderen Einzelpersonen konnte dies Gedenkstätten, Initiativen, Historiker, geleistet werden. Journalisten, interessierte Privatpersonen, 2015 erhielten mehrere Einrichtungen Studenten, etc. (217), Behörden und und Einzelpersonen Auszüge aus dem Suchdienste (23). Namensverzeichnis für ihre Projekte. Beispielhaft seien genannt: Besucherbetreuung • Gedenkstätte Yad Vashem, Israel • Marktgemeinde Gols, Österreich 124 Besucher_innen konnten durch die • Eduard De Meester, Thema: Häftlinge Mitarbeiter dieses Arbeitsbereiches 2015 aus Belgien betreut werden, zumeist Einzelpersonen • Peter Hudák, Thema: Juden aus oder kleine Gruppen, die als Angehörige Bardejov (Slowakei) ehemaliger Häftlinge oder Kriegsgefan- • Thomas Irmer, Thema: Zwangsarbeit gener einen persönlichen Bezug zum Ort für die Firma Telefunken im Ghetto Bergen-Belsen haben. In kleiner Zahl Minsk waren Überlebende des Konzentrations- • Daniel Putik, Thema: Slowaken im lagers zu Besuch. Daneben wurden His- KZ Bergen-Belsen toriker, Journalisten und andere Forschen- • Reimund Schulze, Projekt: de bei ihren Recherchen unterstützt. Gedenkbuch Landkreis Börde Gedenkbuch und Gästebuch im Foyer des Dokumentations­zentrums der Gedenkstätte (Sachsen-Anhalt) • Bernd Horstmann

Gedenkstätte Bergen-Belsen Neuerwerb: Dokumente zum jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen

Thomas Rahe

94 Durch den Ankauf mehrerer Autogra- liche Dokument des Zentralkomitees. Quellen dar. Da sie neben den Namen phen und von Originaldrucken aus dem Bei den angekauften Originaldrucken auch Angaben zu Geburtsdatum und -ort Jahr 1945 konnte die Sammlung der Ge- handelt es sich um gedruckte Namens- enthalten und nach nationaler Herkunft denkstätte Bergen-Belsen vor allem zum listen von jüdischen Überlebenden, die differenziert sind, ermöglichen sie auch jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen im sich im Sommer 1945 im DP-Camp wichtige sozialstatistische Aussagen zur vergangenen Jahr wesentlich erweitert Bergen-Belsen bzw. in Celle aufhielten. Repatriierung der jüdischen Überleben- werden. Der 38 Seiten umfassende Band, in dem den und zur Frühphase des jüdischen Unter den erworbenen Autographen die Namen der Juden in Bergen-Belsen DP-Camps Bergen-Belsen. befindet sich auch eines der wenigen verzeichnet sind, stellt die erste im jüdi- mit lateinischen Lettern geschriebenen schen DP-Camp Bergen-Belsen heraus- jiddisch-sprachigen Dokumente: der gegebene und gedruckte Publikation konstituierende Bericht des Jüdischen dar. Mit Hilfe solcher Verzeichnisse, von Zentralkomitees in Bergen-Belsen vom denen Exemplare an andere jüdische Juni 1945. Darin werden die zehn Grün- DP-Camps und Suchdienste verteilt dungsmitglieder des Zentralkomitees wurden, sollte die Suche der DPs nach namentlich genannt sowie die jüdischen überlebenden Familienangehörigen Gemeinden und DP-Camps in der Briti- unterstützt werden. schen Zone aufgelistet, deren Interessen Gleiches gilt für eine Broschüre mit den

das Zentralkomitee in Bergen-Belsen Namen von insgesamt mehr als 2100 Band mit 38 Seiten umfassenden Namenslisten • Stif- ebenfalls vertrat. überwiegend in Bergen-Belsen befreiten tung niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen Des Weiteren bietet der Bericht detail- Juden, die im Sommer 1945 in Celle leb- Broschüre mit Namen befreiter Juden, die im Sommer lierte statistische Angaben über Zahl ten. Für die meisten von ihnen war dies 1945 in Celle lebten • Stiftung niedersächsische Gedenk- und Unterbringung der jüdischen DPs die erste Station auf ihrem Repatriierungs- stätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen in Bergen-Belsen, Angaben zu den ge- weg. Konstituierender Bericht des Jüdischen Zentralkomitees (Punkt) Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/ wünschten Zielländern der Auswande- Beide Namensverzeichnisse dokumen- Gedenkstätte Bergen-Belsen rung, über Zahl und regionale Verteilung tieren nicht nur die zentrale Bedeutung Handschriftlicher Brief aus Bergen-Belsen vom 17. Mai jüdischer Kinder in der Britischen Zone der Suche nach Familienangehörigen für 1948 an Yitzack (Nachname unbekannt), der schon in Israel wohnte. Der Brief benennt verschiedene Gegen- sowie Struktur und Aufgaben des Zent- die jüdischen Überlebenden in den ers- stände, die er mit Jechiel Rodnitzki und seinem Bruder ralkomitees. Vermutlich handelt es sich ten Monaten nach der Befreiung, son- Elijahu nach Haifa schickt. In Jiddisch verfasst • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen- bei diesem Bericht um das erste öffent- dern stellen auch wichtige historische Belsen 95

Gedenkstätte Bergen-Belsen Neue Fotosammlungen aus dem Privatbesitz von Befreiern

Klaus Tätzler

96 Von Beginn an waren private Foto- finden sich in einigen Sammlungen auch Massengräber, davor Transportfahrzeuge sammlungen eine zentrale Quelle für die Fotos mit bisher nur selten oder gar nicht und Personen, die u.a. einen Toten ziehen; Forschungs- und Bildungsarbeit in der dokumentierten Details. im Hintergrund sind Zelte und die Schieß- Gedenkstätte Bergen-Belsen. Ist der his- In diesem Zusammenhang müssen vor anlage erkennbar. Bei den „Zuschauern“ torische und biografische Wert bei ent- allem drei Motive hervorgehoben werden, am Zaun handelt es sich vermutlich um sprechenden Sammlungen von ehe- die bisher in dieser Form nicht bekannt Angehörige der britischen Armee. maligen Häftlingen und Bewohnern des oder noch nicht in der Sammlung der Ge- Lionel Kentish Garstin war als Medical DP-Camps Bergen-Belsens offensichtlich, denkstätte vertreten waren: Student bei der 11Light Field Ambulance so besitzen die Sammlungen von briti- In der Fotosammlung von Michael maßgeblich an der Versorgung der befrei- schen Soldaten neben den „offiziellen“ Booth, dessen Vater Tom Booth als Lieu- ten Häftlinge in Bergen-Belsen beteiligt. Fotos – insbesondere den Fotos von der tenant bei der Britischen Armee war, sind In zwei Heften über seine Abreise aus Befreiung im Auftrag der britischen Ar- zwei Fotos mit bisher völlig unbekannten England und seine Tätigkeiten in Bergen- mee – auch einen eigenen Stellenwert. Ansichten. Sie zeigen eine Delegation der Belsen führte er vom 28. April bis zum Ihre Qualitäten bestehen vornehmlich in Wehrmacht und ungarischer Soldaten, 28. Mai 1945 ein Tagebuch. Neben einer der Erweiterung und Ergänzung der be- aufgenommen am 12. April 1945, am Ran- Kopie dieser Aufzeichnungen erhielten reits vorhandenen Sammlungen und häu- de der Verhandlungen mit den Briten um wir von seiner Tochter Jane Nicholls, die fig auch in einer besonderen Perspektive. eine Übergabe des KZ Bergen-Belsen und die Gedenkstätte am 15. April 2015 be- Schon im Jahresbericht 2014 wurde die Einrichtung einer Neutralen Zone. suchte, auch einige Fotos aus der priva- anhand der Fotosammlung von Rob Dix Frank Lawson war als Angehöriger der ten Sammlung ihres Vaters. Sie zeigen bzw. seines Großvaters Percy Burrows britischen Luftwaffe in Celle stationiert Garstin mit einer Gruppe britischer Medizin- auf die Entwicklung der letzten Jahre hin- und besuchte von dort aus wahrschein- studenten aus dem Westminster Hospital gewiesen, dass verstärkt Fotosammlun- lich Ende April oder Anfang Mai 1945 kurz vor der Abreise nach Deutschland gen von Kindern und Enkeln der Befreier Bergen-Belsen. Von seinem Sohn Brian Ende April 1945. für das Archiv der Gedenkstätte Bergen- Lawson erhielt die Gedenkstätte u.a. Die drei vorgestellten Sammlungen ste- Belsen übergeben werden. mehrere Fotos vom Gelände des befrei- hen exemplarisch für die aktuelle Entwick- Auch 2015 hat sich diese Tendenz er- ten Konzentrationslagers. Auf einem die- lung. Durch den Abgleich mit vorhande- freulicherweise weiter bestätigt. Neben ser Fotos sieht man im Vordergrund Män- nen Materialien und anderen historischen einigen Fotos, die nicht zuletzt aus vielen ner am ehemaligen Lagerzaun, die auf das Quellen dürften sich zusätzliche Informati- Publikationen und Ausstellungen bekann- Gelände blicken. Dort erkennt man ein of- onen ergeben, um bestehende Forschungs- te Örtlichkeiten und Situationen zeigen, fenes und einige bereits geschlossene lücken beseitigen zu können. 97

Tagebuch von Lionel Kentish Garstin, Medical Student bei der 11Light Field Ambulance; 28. April bis 6. Mai 1945, Aufzeichnungen über Anreise und Ankunft in Bergen-Belsen; die Zeitangabe auf dem Deckblatt „28. April bis 28. Mai 1945“ bezieht sich auf den gesam- ten Aufenthalt, der 2. Teil ist in einem extra Heft ver- zeichnet. • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/ Gedenkstätte Bergen-Belsen

Blick über das Gelände des KZ Bergen-Belsen kurz nach der Befreiung. Aus der Sammlung von Frank Lawson, der als Angehöriger der britischen Luftwaffe in Celle stationiert war und von dort aus Ende April / Anfang Mai 1945 Bergen-Belsen besuchte. • Stiftung niedersächsi- sche Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen

Gedenkstätte Bergen-Belsen 98

Medizinstudenten aus dem Westminster Hospital, die als Mitglieder der 11Light Field Ambulance, Royal Army Medical Corps, massgeblich an der Versorgung der befreiten Häftlinge in Bergen-Belsen beteiligt waren; in der 1. Reihe 4. von links Lionel Kentish Garstin, aufge- nommen vor der Abreise nach Bergen-Belsen, Ende April 1945 • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/ Gedenkstätte Bergen-Belsen

Deutsche und ungarische Soldaten, aufgenommen am 12. April 1945 in Buchholz/Aller, im Zusammenhang mit den Verhandlungen zur Übergabe des KZ Bergen-Belsen zwischen Angehörigen der britischen Armee und der deutschen Wehrmacht. Aus einer privaten Sammlung von Lieutenant Tom Booth, 159 Infantry Brigade der Britischen Armee • Stiftung niedersächsische Gedenk- stätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen 99

Gedenkstätte Bergen-Belsen Bildung und Begegnung

Marc Ellinghaus, Katrin Unger

100 Die Bildungs- und Vermittlungsarbeit oder geografischen Herkommen ihrer nach wie vor Schulklassen. Aber der Bil- in Gedenkstätten nationalsozialistischer Zielgruppen ausgehen. Sie muss inklu- dungsauftrag der Gedenkstätte geht da- Verbrechen wie im ehemaligen Kriegs- siv sein und damit die verschiedenen rin wie beschrieben nicht auf. Auch den gefangenen- und Konzentrationslager Hintergründe, Vorkenntnisse, Fähigkei- vielen Soldat_innen vor allem der Bun- Bergen-Belsen steht unter spezifischen ten der Teilnehmenden berücksichtigen. deswehr und der britischen Armee, Vorzeichen. Hier muss Bildung und Ver- Bildungsarbeit in der Gedenkstätte kirchlichen Gruppen, Studierenden, ver- mittlung vom historischen Ort aus ge- Bergen-Belsen bedeutet, vom histori- schiedenen Vereinen und Verbänden dacht und der Gedenkort auch als Bil- schen Ort in seiner heutigen überform- und Gruppen anderer Einrichtungen der dungsort gedacht und gestaltet werden. ten Gestalt auszugehen und sich mit Jugend- und Erwachsenenbildung, die Die Gedenkstätte ist als Friedhof Ort der den Verbrechen, die hier verübt wurden, Bergen-Belsen besuchen, bemüht sich Trauer und des Gedenkens. Gedenkstät- durch die Befassung mit Relikten, Quel- die Gedenkstätte in ihren Bildungsange- ten sind zugleich historische Orte, teils len und Selbstzeugnissen ehemaliger boten gerecht zu werden. Die Gruppen Tatorte nationalsozialistischer Verbre- Häftlinge und Gefangener auseinander kommen aus Niedersachsen, aus ande- chen. Gedenkstätten sind auch Ausdruck zu setzen und daraus Fragen an und ren Bundesländern, aber auch aus ganz einer Geschichte, Politik und Kultur des Schlussfolgerungen für die jeweils eige- Europa, Russland, den USA, Israel und Erinnerns an und des Umgangs mit die- ne Sicht auf die Gegenwart und das ei- Südafrika. sen Verbrechen. gene Handeln zu entwickeln. Damit das Die Veranstaltungsformate in der Ab- Bildungsarbeit in Gedenkstätten muss gelingen kann, muss diese Auseinander- teilung Bildung und Begegnung der Ge- bei ihren Angeboten, Themen und Me- setzung über die Historie und über den denkstätte Bergen-Belsen reichen von thoden diese Spezifika berücksichtigen. Ort hinausgehen; sie bedarf einer Vor- 90-minütigen Überblicksführungen für Sie beschränkt sich nicht auf eine Ziel- und Nachbereitung des Besuches oder Einzelbesuchende, Führungen von drei- oder Altersgruppe – wenngleich ein gro- der Teilnahme an einer Veranstaltung einhalb bis vier Stunden und themati- ßer Teil der Teilnehmenden Schülerin- und kann somit Relevanz für jede_n schen Studientagen für Gruppen bis hin nen und Schüler sind. Die Gedenkstätte Einzelne_n entwickeln. Deshalb ist die zu Fortbildungen für Lehrkräfte, Referen- richtet ihre Angebote an Jugendliche, Bildungsarbeit der Gedenkstätte auf dar_innen und Multiplikator_innen sowie Erwachsene und Senior_innen, die aus Kooperationspartner_innen und Multipli- mehrtägigen Seminaren, Workshops und unterschiedlichen Anlässen die Gedenk- kator_innen angewiesen, die sie in allen internationalen Begegnungen für Jugend- stätte einzeln oder in Gruppen besuchen. Bereichen der Gesellschaft findet. liche wie Erwachsene. Sie darf nicht von einem bestimmten Der weit überwiegende Teil der Besu- Die Zahl der Teilnehmenden an Bildungs- kulturellen, religiösen, weltanschaulichen chergruppen in der Gedenkstätte sind angeboten der Gedenkstätte Bergen- Belsen liegt seit Jahren annähernd kon- mithilfe eines digitalen Geländeguides 101 stant bei etwa 26.000; die Zahl der Grup- selbstständig zu erkunden. pen, die die halbtägigen Führungen, Seit August 2015 wird außerdem didak- sechsstündigen Studientage und andere tisches Material zu Personen entwickelt, Bildungsangebote wahrnehmen, liegt die im Nationalsozialismus als „Krimi- mit über 1100 ebenfalls wie bereits in nelle“ verfolgt worden waren, entweder den vergangenen Jahren an der Kapazi- auf Weisung der Kriminalpolizei mittels tätsgrenze der Gedenkstätte. Zugleich „Vorbeugehaft“ oder als Justizhäftlinge, steigt die Nachfrage nach den Bildungs- die sich zuvor in „Sicherungsverwahrung“ angeboten weiterhin an, besonders für befunden hatten. Ziel des Projektes ist, Termine in der Schulzeit. Seminarräume in Bildungsangeboten die Geschichte sind in der Gedenkstätte knapp. Auch in dieser bislang weitgehend ignorierten der Dauerausstellung, die von den meis- Opfergruppe sichtbar zu machen. ten Gruppen besucht wird, ist der Raum Ausbaufähig bleibt das Angebot für begrenzt. Ein halbes Jahr Vorlauf vor ei- Einzelbesucher_innen, denen bisher nur ner geplanten Gedenkstättenfahrt reicht in den Sommermonaten offene Führun- daher bei weitem nicht mehr aus. gen in deutscher und englischer Sprache Unterdessen entwickelt sich das An- angeboten werden. Rund 100 Mal konn- gebot an Themen und Vermittlungsme- ten bislang die Besucher_innen sich in thoden im Programm von Führungen jeweils 90 Minuten einen Überblick über und Studientagen weiter. Ein neuer Stu- die Geschichte Bergen-Belsens ver- dientag zum Displaced Persons Camp schaffen und einen kurzer Rundgang Bergen-Belsen greift auf neue Materia- durch die Dauerausstellung, über den len und vielfältige Quellen zurück. Siehe Friedhof und das historische Lagerge- dazu den Bericht auf Seite 28–30. lände machen. Da dieses Angebot den Nach einer längeren Evaluationsphase ganzen Sommer über große Nachfrage 30. September 2015: Schüler_innen der 12. Klasse des mit ausgewählten Gruppen können nun bekam, will die Gedenkstätte auf Dauer Christian-Gymnasiums Hermannsburg arbeiteten in der Bibliothek der Gedenkstätte Bergen-Belsen zum Themen- künftig regelmäßig Studientage gebucht ganzjährig solche offenen Führungen schwerpunkt „DP-Camp Bergen-Belsen“ und „Täterbio- werden, die es den Teilnehmenden er- anbieten. graphien“; Joachim Kasten und Doreen Krohne betreu- ten die Gruppe. • Stiftung niedersächsische Gedenk- lauben, das historische Lagergelände stätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen

Gedenkstätte Bergen-Belsen Einblicke in die Bildungs- und Vermittlungsarbeit

Karen Bähr, Sabine Bergmann, Monika Brockhaus, Marc Ellinghaus, Dagmar Lieske, Nicola Schlichting, Daniel Seifert, Katrin Unger

102 Neben der Vielzahl von Führungen Anlass des 10. Internationalen Gedenk- nen und Referendar_innen richten sich und Studientagen, die in der Gedenk- tages für die Opfer des Nationalsozialis- die Studientage zum Thema „Lernort stätte Bergen-Belsen vor allem von vier mus die Vortragsveranstaltung „Geteilt, Bergen-Belsen – Grundlagen, Methoden in Teilzeit abgeordneten Lehrkräften und aber nicht getrennt. Transnationale Erin- und Praxis“ und „Bergen-Belsen – Erin- etwa vierzig freien Mitarbeitenden im nerungskulturen in Europa“ mit Prof. Dr. nerungs- und Lernort“. Hier beschäfti- Besucher_innendienst getragen werden, Claus Leggewie statt. Der Politikwissen- gen sich die Teilnehmenden mit grundle- erweitert sich das thematische Angebot schaftler sprach vor 40 Zuhörer_innen genden Fragen zum Ort und seiner der Bildungs- und Vermittlungsarbeit so- über die Geschichte des Gedenktags. Einbindung in den schulischen Kontext wie ihre Formate. Beispielhaft seien eini- Außerdem ging er auf die Frage nach ei- sowie mit erinnerungskulturellen Fragen ge Einblicke gegeben. 2015 standen eine ner gemeinsamen europäischen Erinne- und solchen nach Funktion und Umgang Reihe Veranstaltungen der Abteilung Bil- rungskultur und die teilweise sehr kontro- mit individueller und kollektiver Erinne- dung und Begegnung unter dem Eindruck versen Diskussionen im Zusammenhang rung. Diese Veranstaltungen finden re- des 70. Jahrestages der Befreiung des mit dem Europäischen Gedenktag an die gelmäßig über das Jahr verteilt statt und Konzentrationslagers Bergen-Belsen und Opfer von Stalinismus und Nazismus ein, erfreuen sich stets großer Nachfrage. sich daran anschließende Fragen nach den das Europäische Parlament 2009 Dies möchte die Bildungsabteilung auf- der Bedeutung der Geschichte und der ausgerufen hatte. greifen und das Fortbildungsangebot Erinnerung an die Opfer von Entrechtung, Mit dem Workshop „Wir sind, was wir für Lehrer_innen und Referendar_innen Verfolgung und Vernichtung wie den da- erinnern…“ waren interessierte Besucher_ thematisch vervielfältigen. hinter liegenden politischen wie gesell- innen der Gedenkstätte am 21. Februar Vom 13. bis 15. Februar beteiligten schaftlichen Systemen, die dies ermög- eingeladen, sich mit dem Thema Geden- sich etwa 40 Personen an der Multiplika- lichten. Ziel der Bildungs- und Vermittlungs- ken und Erinnern auseinanderzusetzen. tor_innenfortbildung der International arbeit ist die Förderung einer aktiven Verschiedene Formen und Funktionen School for Holocaust Studies der Ge- Auseinandersetzung mit geschichtlichen des Erinnerns und Gedenkens in der Ge- denkstätte Yad Vashem, Israel und des Ereignissen, das Erkennen von Zusam- denkstätte Bergen-Belsen wie im inter- Projektes „Entrechtung als Lebenserfah- menhängen und Kontinuitäten bis in die nationalen Raum standen im Fokus der Gegenwart und eine Schaffung eines Veranstaltung. kritischen Geschichtsbewusstseins. Die Bildungsabteilung der Gedenkstät- 13. bis 15. Februar: Netzwerktreffen Bildung und In Kooperation mit dem Historischen te Bergen-Belsen bietet verschiedenen Begegnung in Yad Vashem • Katrin Unger Seminar der Leibniz Universität und der Zielgruppen Veranstaltungen mit Fortbil- 21. Januar: Prof. Dr. Claus Leggewie nach dem Vortrag in Stadt Hannover fand am 21. Januar aus dungscharakter an. Explizit an Lehrer_in- der Diskussion mit dem Publikum • Daniel Seifert rung“ der Stiftung niedersächsische Ge- den Holocaust insgesamt prägt: „Bilder, statt. Die Schüler_innen beschäftigten 103 denkstätten in der Gedenkstätte Bergen- die die Welt bewegen. Bergen-Belsen sich drei Tage lang mit der Geschichte Belsen und in Celle. Die Veranstaltung als Ikone des Holocaust?“ Der dritte Work- Bergen-Belsens und lernten wichtige widmete sich theoretisch und praktisch shop „Vom Vernichtungskrieg ins KZ- handwerkliche und gestalterische As- dem Thema „Unwanted – jüdische Flücht- System – Sowjetische Kriegsgefangene pekte der Fotografie kennen. Die intensi- linge und Displaced Persons während und in Bergen-Belsen“ bot die Gelegenheit, ve Beschäftigung mit dem Ort und sei- nach der Zeit des Nationalsozialismus“. sich mit der ersten Phase Bergen-Belsens ner Geschichte setzten sie schließlich in Das 21. Internationale Jugendwork- als Kriegsgefangenenlager intensiv zu kreative eindrucksvolle Fotogeschichten camp Bergen-Belsen fand mit Beteilig- beschäftigen. Im zweiten Teil der Begeg- um. Das Format des Fotoworkshops ist ten aus neun Ländern: Belarus, Deutsch- nung, den in inhaltlicher Verantwortung altersübergreifend als sinnvolle, kreative land, Israel, Litauen, Niederlande, Polen, der Landesjugendring Niedersachsen Methode zu sehen, die auch im nächsten Russland, Slowakei und Südafrika vom durchführte, wurden auch aktuelle Men- Jahr wieder in Veranstaltungen einge- 23. März bis 2. April statt. Die 47 Teilneh- schenrechtsverletzungen thematisiert. setzt wird. menden im Alter zwischen 16 und 25 Vom 17. bis zum 19. April 2015 fand Ausgewählte Bilder aus den verschie- Jahren setzten sich in viertägigen Work- in der Gedenkstätte Bergen-Belsen der denen Fotoworkshops der letzten Jahre shops mit der Geschichte des Kriegsge- Fotografie-Workshop „Für die Zukunft“ werden als Postkarten im Buchladen der fangenen- und Konzentrationslagers für interessierte Erwachsene statt. In Gedenkstätte zu erwerben sein. In der Bergen-Belsen auseinander und vertief- Zusammenarbeit mit Mark Mühlhaus, Cafeteria wird zudem eine Auswahl an ten verschiedene Aspekte in frei wählba- attenzione photographers, der für die Fotografien ausgestellt. ren Angeboten. So wurde im Workshop technische Umsetzung und kreative Aus- Etwas Besonderes ist der jährliche Be- „Recht als Grundlage“ der Frage nach- einandersetzung zuständig war, entwi- such von amerikanischen Lehrer_innen, gegangen, welche juristischen Grundla- ckelten die Teilnehmenden in Kenntnis die im Rahmen des „Holocaust and Je- gen die Verfolgungspolitik in der NS-Zeit der Geschichte Bergen-Belsens eine Fo- wish Resistance Teachers Programme“ hatte, um ein Verständnis über die Zu- togeschichte und beschäftigten sich so (HAJRTP) im Juli Gedenkstätten und sammenhänge von gesetzlichem Recht mit den versteckten und/oder verdeck- Erinnerungsorte in Europa bereisen und und der tatsächlichen Gesellschaft her- ten wie auch den sichtbaren Spuren der zustellen. Ein weiterer Workshop widme- Geschichte des Ortes. 19. April: Foto von Felix Steiner, entstanden im Foto- te sich der Frage, inwieweit das Foto- und Im November fanden Projekttage mit workshop • Felix Steiner Filmmaterial, welches zur Befreiung Bergen- der Methode Fotografie mit Teilnehmen- Diana Gring stellt das Projekt der Gedenkstätte Bergen- Belsen zur Erstellung lebensgeschichtlicher Interviews Belsens entstanden ist, die Erinnerung an den der Glocksee-Schule Hannover vor. • Daniel Seifert

Gedenkstätte Bergen-Belsen 104 2015 zum 5. Mal in Bergen-Belsen Station Anliegen des Programms und die Inhalte Polen, Ungarn und den USA beschäftig- machten. Der Fokus des Programms vor Ort in wertschätzender, einfühlsamer ten sich eine Woche lang intensiv mit liegt insbesondere in der Frage nach und eindringlicher Weise zu vermitteln. den Herausforderungen zukünftiger dem spirituellen Widerstand und der Desgleichen freuen wir uns auf die kom- Gedenkstättenarbeit. Das Programm Kraft des menschlichen Geistes und dar- menden Planungen mit Neil Garfinkle umfasste Workshops zur Geschichte auf, wie Menschen es schafften, ihre und Meryl Menashe. Bergen-Belsens und der Arbeit der Ge- Identität unter unmenschlichen Lebens- Die Internationalität der Besucher_in- denkstätte, Vorträge internationaler bedingungen zu bewahren. Die knapp nen der Gedenkstätte und Teilnehmen- Referent_innen, Führungen und einen 30-köpfige Gruppe, unter der Leitung den von Veranstaltungen zeigt sich auf Tagesausflug zum „Denkort Bunker Va- von Elaine Culbertson, Neil Garfinkle ganz unterschiedliche Weise. So gestal- lentin“. Die Sommeruniversität bot den und Meryl Menashe, arbeitete nach ei- teten die Mitarbeitenden im Rahmen der Studierenden die Möglichkeit, mithilfe ner allgemeinen kurzen Einführung in Gedenkfeierlichkeiten neben der Inter- des Bergen-Belsen Geländeguides die der Ausstellung: Gemeinsam wurden nationalen Begegnung „Zukunft der Er- Verknüpfung von digitalem Raum und Objekte und Dokumente untersucht und innerung“ ein Besuchsprogramm für historischem Gelände zu erproben und Fragen an ihre historische Aussagekraft den britischen Holocaust Educational mit Vertretern des politischen Kunst- gestellt, um im Anschluss zu diskutieren, Trust und im Juli für eine Gruppe Abori- projekts „Zentralrat der Asozialen in wie die Objekte und Dokumente im gines aus Australien. Die Mitglieder des Deutschland“ in Diskussion darüber zu schulischen Kontext eingesetzt werden Ntaria-Chores aus der im australischen treten, wem öffentlicher Raum gehört. könnten und wie sie im Rahmen von Outback gelegenen und von deutschen Der Blog, den die Teilnehmer_innen der Bildungsveranstaltungen in der Gedenk- Missionaren gegründeten Gemeinde letzten zwei Jahre verfasst haben, kann stätte eingesetzt werden. Zum Programm Hermannsburg waren auf einer Konzert- unter http://gbbbb.org/summerschool/ gehörten ebenso der Besuch des ehe- reise in Deutschland. aufgerufen werden. maligen Displaced Persons Camp, wo Die zweite Bergen-Belsen International Im August startete die Gedenkstätte nach Ende des Krieges jüdisches Leben Summer School, „Memory in the Digital Bergen-Belsen mit Partnern in Polen und neu erstand, und eine kleine Gedenk- Age“, beschäftigte sich im August mit zeremonie im „Haus der Stille“. Elaine dem Thema „Raum und Ort“. Neunzehn Teilnehmer_innen des Seminars „Digitale Wege“ Culbertson begleitete in diesem Jahr Studierende verschiedenster Fachrich- erkunden das Außengelände der Gedenkstätte mit dem Bergen-Belsen Geländeguide. • Christian Wolpers zum letzten Mal eine Gruppe nach Euro- tungen aus elf Ländern: Armenien, pa. Wir danken ihr sehr herzlich für die Deutschland, Großbritannien, Italien, Thomas Irmer stellt die Rummelsburg-App des Informa- tions- und Gedenkortes Rummelsburg in Berlin vor. Zusammenarbeit sowie ihre Art, das Kosovo, Kroatien, Lettland, Mazedonien, • Christian Wolpers der Ukraine unter dem Motto „Die Ge- Lernen? Welche Gründe stehen dem Ein- 105 schichte beginnt in der Familie…“ ein satz entgegen? Wie können sich Zeug- Bildungsprojekt für Jugendliche, dem nisse von Zeitzeug_innenschaft in digi- ein familienbiografischer Ansatz zu talen Medien abbilden? Wie erweiterten Grunde liegt. 22 Jugendliche im Alter sich die Nutzungsmöglichkeiten für Be- von 16 bis 20 Jahren begaben sich auf sucher_innen an historischen Orten? eine Spurensuche nach Familienge- Und wie kann dies zum Gelingen von schichten, wobei der Zweite Weltkrieg Vermittlungs- und Bildungsarbeit in Ge- im Mittelpunkt steht. Bei den ersten bei- denkstätten und Erinnerungsorten bei- den Begegnungen kamen die Jugend- tragen? Durch die Vorstellung von vier lichen im August in Deutschland und erfolgreich umgesetzten Projekten wur- im Oktober in Polen zusammen und be- de die Vielfalt des heutigen Einsatzes suchten die Gedenkstätte Bergen-Belsen von digitalen Bildungsangeboten deut- sowie das Staatliche Museum Auschwitz- lich. Kontrovers wurden unter anderem Birkenau. Während der Seminare entwi- die zunehmende Gamification von digi- ckelten sie ein Gespür für die Bedeutung talen Lernanwendungen und die Dar- der Methode „Oral History“ und lernten stellung von Zeitzeugen als Avatare in einem Workshop, selbst professionell diskutiert. ein Videointerview zu führen. Die dritte Begegnung findet im März 2016 in Lwiw (Lemberg)/Ukraine statt. Das Seminar „Digitale Wege gehen? Vom Add-On zur Digitalen Lernumge- bung an Gedenkstätten und Erinnerungs- orten“ bot am 4. und 5. Dezember Mit- arbeiter_innen von Gedenkstätten und Zum Abschluss des Seminars diskutieren die Erinnerungsorten und in der historischen Teilnehmenden nach der Fishbowl-Methode. Bildung Aktiven eine Diskussionsplatt- • Christian Wolpers form zu folgende Fragen: Welche Poten- Die Teilnehmer_innen der deutsch-polnisch-ukraini- schen Begegnung im Garten des Anne-Frank-Hauses tiale eröffnet digitales historisches Oldau • Daniel Seifert

Gedenkstätte Bergen-Belsen Mein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Gedenkstätte Bergen-Belsen

Ruth Pope

106 Nach meinem Abitur begann ich ein arbeiteten zum Thema „70 Jahre nach Aus über zehn Nationen kamen junge FSJ in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. der Befreiung: Das Konzentrations- und Menschen zusammen und tauschten Nach der Schule wollte ich nicht direkt Vernichtungslager Auschwitz und die sich über digitale, mediale und globale ins Studium, sondern gezielt ohne Leis- deutsche Besatzungsherrschaft in Entwicklungen in der Erinnerungskultur tungsdruck meinen Interessen nachge- Polen“. aus. Es war viel Arbeit, aber eine sehr hen. Ich zog von Osnabrück nach Celle Im April stand die Gedenkfeier zum gelungene Woche! und startete gespannt im September 70. Jahrestag der Befreiung von Bergen- Inzwischen ist mein FSJ zu Ende und 2014 in das Jahr. In den ersten Wochen Belsen an. Hier hatte ich Gelegenheit, ich blicke manchmal ein bisschen weh- lernten mein FSJ-Kollege Lukas Scholz Bekanntschaft mit vielen Überlebenden mütig auf diese Zeit zurück. Sie hat mich und ich uns, die Einrichtung und die Kol- zu schließen und sie während ihres Be- vieles gelehrt: über Englisch-Sprechen, leg_innen kennen. Ich verwendete viel suchs zu begleiten. Das war für mich einen Haushalt führen, alleine in einer Zeit darauf, mich mit der Geschichte ver- eine sehr intensive Woche mit viel Ar- fremden Stadt zurechtkommen, mir traut zu machen und Guides zu begleiten beit und sehr bewegenden Momenten. Aufgaben suchen und ausführen, eigene – mit dem Ziel, möglichst bald selbst Nach der Feier konzentrierte ich mich Fähigkeiten einschätzen, um Hilfe bitten, Gruppen zu führen. Direkt aus der Schu- auf mein „eigenständiges Projekt“, das vor Gruppen stehen... und sie hat mich le kommend kannte ich nur die Perspek- FSJler_innen im Laufe des Jahres konzi- in meiner Entscheidung bekräftigt, Ge- tive, hinten in der Bank zu sitzen und zu- pieren und durchführen. Gemeinsam mit schichte und Politikwissenschaften zu zuhören. Vorne zu stehen und anderen meiner Kollegin Nicola Schlichting ent- studieren. Ich freue mich aber über jede komplexe und verstörende Inhalte nahe- warf ich einen Studientag, in dem Aus- Gelegenheit, zurück nach Bergen-Belsen zubringen, war neu für mich. Mit jeder schnitte aus lebensgeschichtlichen Inter- zu fahren, Führungen zu geben und meine neuen Schulklasse oder Erwachsenen- views von Überlebenden eine wichtige „alten“ Kolleg_innen zu besuchen. gruppe habe ich mich sicherer gefühlt Rolle spielen. Das war eine Herausforde- und die Führungen wurden zu einer rung, denn ich musste mir eigenständig meiner Lieblingsaufgaben. Inhalte überlegen, Quellen heraussuchen Im Januar waren Lukas und ich bei der und alle meine Ideen in einem sechs- Jugendbegegnung des Deutschen Bun- stündigen Programm unterbringen. destages. Gemeinsam mit anderen his- Die letzten Wochen meines FSJ waren Ruth Pope mit Steffen Keller bei der Gedenkfeier zum torisch interessierten Jugendlichen ver- die wohl spannendste und anstrengend- 70. Jahrestag • Martin Bein brachten wir Tage in Berlin, in der Gedenk- ste Zeit – die Mitwirkung an der Bergen- Ruth Pope (Bildmitte) bei der Internationalen Jugend­ begegnung des Deutschen Bundestages, Januar 2015. stätte Auschwitz und in Krakau. Wir Belsen International Summer School. • Lukas Scholz „Zukunft der Erinnerung“

Daniel Seifert

70 Jahre nach der Befreiung: Welche chen Angehörige der Überlebenden an- anstößen und der Motivation nach Hau- 107 Gemeinsamkeiten und Unterschiede wesend waren, ergaben sich zudem inte- se, sich mit der Erinnerungskultur im gibt es in der Erinnerung in verschiede- ressante innerfamiliäre Gespräche sowie eigenen Land, aber auch mit privaten Er- nen Ländern? Wie wird sich Erinnerung Einblicke in die Form der intergenerativen innerungen näher auseinanderzusetzen. an das Geschehene verändern, wenn Weitergabe von Lebenserinnerungen. die letzten Zeug_innen dieser Zeit nicht Zum Auftakt einer Schreibwerkstatt mehr leben? Und welche Bedeutung hat unter dem Motto „Ein Bild mit Wörtern dies alles heute noch? Diesen Fragen malen…“ beschäftigten sich die Teilneh- gingen anlässlich des 70. Jahrestags menden mit Zeitzeug_innentexten aus der Befreiung des Konzentrationslagers Tagebüchern, Erinnerungsberichten oder Bergen-Belsen 25 Jugendliche im Alter lyrischen Werken. Von dieser Lektüre in- zwischen 16 und 21 Jahren aus Deutsch- spiriert, verfassten sie eigene fiktionale land, Israel, Russland und der Ukraine und non-fiktionale Kurzgeschichten und im Rahmen der internationalen Begeg- Gedichte, die am Tag der Gedenkfeier nung „Zukunft der Erinnerung“ nach. präsentiert wurden. Im Theater-Work- Begegnungen und Gespräche mit ver- shop stellten die Teilnehmer_innen in schiedenen Zeitzeug_innen spielten eine Kenntnis der Geschichte Bergen-Belsens sehr wichtige Rolle: Die Gruppe traf sich ihre Assoziationen zur NS-Zeit körper- gleich zu Beginn mit der Überlebenden sprachlich dar. Daraus entwickelten sie Toni Dreilinger, die sehr offen ihre Lebens- eine bemerkenswerte Präsentation, die geschichte schilderte und berichtete, wie bei der Gedenkfeier am 26. April als sie nach der Zeit im Lager neuen Lebens- Opening-Act den Besucher_innen präsen- mut fasste und im nahen DP-Camp eine tiert wurde. eigene Familie gründete. Durch die Begegnung realisierten die Weitere eindrückliche Treffen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Katharina Hardy, Klara Belkin und Moshe nach eigenen Aussagen die Vielfalt des- Austausch zwischen den Teilnehmenden der internatio- Nordheim fanden in einem Workshop sen, was Erinnerung und Auseinander- nalen Jugendbegegnung mit der Bergen-Belsen-Über- lebenden Toni Dreilinger am 23. April in Hannover statt, in dem sich die Teilnehmenden setzung mit Geschichte heißen kann und • Daniel Seifert auch mit der Methode „Oral History“ wie jede_r Einzelne sie aktiv mitgestal- Gruppenfoto am 26. April vor dem ehemaligen „Round- auseinandersetzten. Da bei den Gesprä- tet. Die Teilnehmenden fuhren mit Denk- house“ auf dem Kasernengelände Bergen-Hohne • Daniel Seifert

Gedenkstätte Bergen-Belsen Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel

Martina Staats unter Mitarbeit von Anett Dremel, Simona Häring, Arnulf Heinemann, Robert Heldt, Ulrike Pätzold-Prote, Cornelia Schmidthals, Bianca Armbrecht, Gerald Hartwig, Astrid Homann, Thomas Kubetzky und Stefan Wilbricht

108 Neugestaltung multimedialen Lernumgebung und für amt Niedersachsen kriminaltechnische die exemplarische Freistellung einer Ge- Untersuchungen an einem sogenannten „70 Jahre nach Kriegsende spüren wir meinschaftshaft- und einer Einzelarrest- „Blutfleck“ auf dem Boden des ehemali- zunehmend die Herausforderung, die Er- zelle zu Großexponaten. gen Hinrichtungsraumes an und kam zu innerung lebendig halten zu müssen. Die Grundlage im Vorfeld der für 2016 dem Ergebnis, dass es sich hierbei defi- Gedenken braucht Wissen. Heute und geplanten Umbauarbeiten am ehemali- nitiv nicht um einen Blutfleck handelt. morgen mehr denn je. Und um dieses gen Hinrichtungsgebäude waren intensi- Baurestauratoren untersuchten die Wissen künftig noch besser zu vermit- ve Archivrecherchen zur Baugeschichte Wände in den Zellenräumen des Hinrich- teln, ist es wichtig, die Gedenkstätte in des Gebäudes. Dazu wurden Akten des tungsgebäudes und den ehemaligen Ein- der JVA Wolfenbüttel neu zu gestalten.“ Niedersächsischen Landesarchivs – Stand- zelarrestzellen. Ziel war es, mögliche Mit diesen Worten stellte die nieder- ort Wolfenbüttel und des Bundesarchivs Wandinschriften in den Zellenräumen sächsische Kultusministerin Frauke Berlin sowie Unterlagen des Staatlichen aufzufinden. Die Suche im Hinrichtungs- Heiligenstadt das Neugestaltungsprojekt Baumanagements Braunschweig ausge- gebäude blieb ergebnislos, in den Ar- am 15. Mail 2015 nach der Landespres- wertet. Auf Basis dieser Recherchen restzellen konnten hingegen Inschriften sekonferenz der Öffentlichkeit vor. Zu- konnte die Firma Schulz & Drieschner und Einritzungen gefunden werden, die sammen mit der Beauftragten der Bun- Gbr im Oktober bauhistorische Untersu- künftig in die konzeptionelle Gestaltung desregierung für Kultur und Medien chungen durchführen. Diese führten zu der Räume mit einbezogen werden. fördert das Land Niedersachsen die vielen neuen Erkenntnissen, die in die Bei der Umgestaltung der ehemaligen Neukonzeption der Gedenkstätte in der Umgestaltung des Gebäudes einfließen Gemeinschaftshaftzellen standen zu- JVA mit insgesamt fünf Millionen Euro. werden: So konnten etwa für die Zeit der nächst ebenfalls umfangreiche Recher- Im Rahmen der über mehrere Jahre Nachnutzung des Gebäudes nach 1947 chen zur Bau- und Funktionsgeschichte geplanten Neugestaltung standen 2015 Spuren gesichert und darauf aufbauend der Zellen im Vordergrund. Zudem be- zwei Arbeitsschwerpunkte im Mittel- Bauzustände aus der Umbauzeit des Ge- gann im Frühjahr die konkrete Planung punkt: Zum einen der geplante Rückbau bäudes zur Hinrichtungsstätte im Jahre der multimedialen Lernumgebung, die des ehemaligen Hinrichtungsgebäudes 1937 rekonstruiert werden. Dies gilt ins- analoge und digitale Zugänge miteinan- auf den historischen Zustand von 1943 besondere für Detailfragen zur ursprüng- der verknüpfen soll. Im Zentrum der sowie die innere Ausgestaltung der Räum- lichen Lage von Tür- und Fensteröffnun- Konzeption steht die Entwicklung einer lichkeiten, zum anderen die Planungen gen, Wandkonstruktionen und Wand- digitalen Anwendung, mit deren Hilfe für die Umgestaltung der Räume der ehe- beschlägen. historische Dokumente und Quellen l maligen Gemeinschaftszellen zu einer Zeitgleich stellte das Landeskriminal- esbar gemacht werden sollen. In einer intensiven Auseinandersetzung mit Lebens- im Herbst ein beschränkter Wettbewerb 109 schicksalen von Opfern und Biografien durchgeführt und abgeschlossen. Unter von Tatbeteiligten sollen sich Besucher_ dem Vorsitz von Prof. Dr. Inge Marszolek innen in Kleingruppen einen eigenen entschied sich die Jury für den Entwurf Zugang rund um das Thema Justizge- des Büros Hinz & Kunst, Braunschweig. schichte im Nationalsozialismus am Im Anschluss an die umfangreichen Beispiel des Strafgefängnisses Wolfen- Voruntersuchungen durch Bauhistoriker büttel schaffen können. Die Arbeit mit und -restauratoren begannen in Zusam- der digitalen Anwendung ist über sieben menarbeit mit den Gestaltern und dem Multi-Touch-Tische geplant, an denen Staatlichen Baumanagement Braun- Besucher_innen durch Aufgaben gelei- schweig, der Architektin Gabriele Schö- tet, aber dennoch selbstständig, Inhalte ning, der JVA Wolfenbüttel sowie in erarbeiten und anschließend der Gruppe Rücksprache mit dem Landesamt für präsentieren. Ergänzt wird das digitale Denkmalpflege die Planung für die kon- Angebot durch eine Reihe analoger Ma- krete Umsetzung der Baumaßnahmen terialien wie Bilder, Dokumente (etwa im ehemaligen Hinrichtungsgebäude Verordnungen) oder einem Zeitstrahl, und den Gemeinschaftshaftzellen. die eine weitergehende Auseinander- Ziel ist es, die historische Struktur der setzung möglich machen. Räume weitgehend ohne überformende Für die technische Umsetzung der di- Ausstellungsarchitektur zu erhalten. gitalen Anwendung wurde die Entwick- Kurze Anmerkungen zur Funktions- und ler-Firma P.medien aus München enga- Baugeschichte der einzelnen Räume sol- giert. In Zusammenarbeit zwischen dem len die historischen Orte für Besucher_ Neugestaltungsprojekt und P.medien innen lesbar machen. Die Daueraus- Besprechung zum Konzept für die Neugestaltung der Gedenkstätte • Anett Dremel wurde seit November das Konzept für stellung, die zur Zeit noch in den ehema- die Multi-Touch-Tische verfeinert. Eine ligen Gemeinschaftshaftzellen zu sehen Kolloquium im Rahmen des Einladungswettbewerbs zur Auswahl von Ausstellungsgestaltern für die Neukonzep- Umsetzung ist bis Frühjahr 2016 geplant. ist, soll bis Sommer 2016 entfernt und tion der Gedenkstätte • Stefan Wilbricht

Für die Innengestaltung des ehemali- ab 2018 durch eine neukonzipierte neu gestalten – Das Neugestaltungsprojekt der Gedenk- gen Hinrichtungsgebäudes und der ehe- Ausstellung in einem Neubau ersetzt stätte in der JVA Wolfenbüttel, Ausgabe 1, 32 Seiten • Herausgegeben von der Stiftung niedersächsische maligen Gemeinschaftshaftzellen wurde werden. Gedenkstätten/Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 110 Mit der Neukonzeption der Gedenk- Neubaus war die Erstellung der Ent- stätte in der JVA Wolfenbüttel wird das scheidungsunterlage (ES) Bau gemäß bisherige Themenspektrum vertieft und RBBau. erweitert. Dafür wurde der vorhandene Die Auswahl des Architekturbüros für Sammlungsbestand durch Recherchen den Neubau findet im Rahmen eines EU- in einer Vielzahl von Archiven und weiten Verhandlungsverfahrens nach Sammlungen erweitert: Neben dem In- VOF (Vergabeordnung für freiberufliche ternational Tracing Service (ITS) in Bad Leistungen) zur Vergabe von Planungs- Arolsen, den niedersächsischen Landes- leistungen statt. Nach Zustimmung des archiven und den Bundesarchiven wur- Vorstands der Volksbank Wolfenbüttel- den u. a. auch Archive in den Niederlan- Salzgitter eG kann die Zuwegung zum den (NIOD), Belgien (CEGESOMA) und geplanten Dokumentationszentrum über Großbritannien (The National Archives) den Parkplatz der Volksbank erfolgen. nach einschlägigen Aktenbeständen Die Lage des Neubaus am Rande des Si- zum Strafgefängnis Wolfenbüttel ausge- cherungsbereiches der JVA und der öf- wertet. In einem nächsten Schritt wer- fentliche Zugang über das angrenzende den die Kopien und Scans nun mit dem Grundstück der Volksbank durch die Si- Archiverschließungssystem FAUST auf- cherungsmauer ermöglichen zukünftig genommen und inhaltlich erschlossen. den Besuch ohne Anmeldung. Der Zu- Der Neubau eines Ausstellungsgebäu- gang zu den historischen Orten erfolgt des soll im Rahmen des sog. Teilprojek- jedoch aus Sicherheitsgründen weiter- tes III der Neugestaltung realisiert wer- hin über eine Sicherheitsschleuse. den. Hierfür arbeiten Gedenkstätte und Zeitgleich zur Bauplanung ging auch Stiftung eng mit dem Staatlichen Bau- die Arbeit am inhaltlichen Konzept der management Braunschweig, der Ober- Dauerausstellung zu Justiz und Straf- finanzdirektion Hannover, der JVA, dem vollzug im Nationalsozialismus weiter. Niedersächsischen Ministerium für Kul- Besonders hilfreich und wichtig dafür tur und dem Niedersächsischen Landes- waren die gemeinsamen Diskussionen amt für Denkmalpflege zusammen. Ein in Sitzungen mit der Internationalen Ex- Kolloquium im Rahmen des Einladungswettbewerbs zur Auswahl von Ausstellungsgestaltern für die Neukonzep- wichtiger Schritt zur Realisierung dieses pertenkommission für die Neugestaltung tion der Gedenkstätte • Stefan Wilbricht der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel, 111 in die Prof. Dr. Inge Marszolek (Vorsit- zende), Dr. Imanuel Baumann (Mitglied der Kommission seit Juni 2015), PD Dr. Thomas Henne, Dr. Thomas Kranz (Mit- glied der Kommission bis Januar 2015), Dr. Michael Löffelsender (Mitglied der Kommission seit Juni 2015), Prof. Dr. Peter Romijn, Prof. Dr. Matthias Stein- bach, Dr. Christel Trouvé, PD Dr. Irmtrud Wojak und Dr. Anna Ziółkowska (Mitglied der Kommission seit Juni 2015) berufen wurden. Das Neugestaltungsprojekt hat großes Interesse bei Besucher_innen hervorge- rufen, die sich im Rahmen von Führungen über die Fortschritte im Neugestaltungs- projekt informieren konnten. Die 32-sei- tige Broschüre „neu gestalten“ stellt die Projektziele und -inhalte ausführlich vor. Tagesaktuell ergänzt dazu der Blog „blog.neugestalten-gwf.de“.

Baurestauratorische Untersuchungen in den Zellen des ehemaligen Hinrichtungshauses • Anett Dremel

Kriminaltechnische Untersuchung am sogenannten „Blutfleck“ im ehemaligen Hinrichtungsraum • Astrid Homann

Untersuchungen des Hinrichtungsgebäudes durch die Bauhistoriker Schulz & Drieschner • Stefan Wilbricht

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 112 113

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel Veranstaltungen

114 11. April 2015 – Befreiung des Straf- Unter den mehr als 200 Gästen waren Schuld vieler deutscher Richter und gefängnisses vor 70 Jahren auch Angehörige von Hingerichteten Staatsanwälte der NS-Zeit wurde nach und ehemaligen Gefangenen. Neben Be- 1945 von den Beteiligten zumeist mit „Sie haben mit dieser Veranstaltung grüßungsworten des Leiters der JVA der verschärften Gesetzeslage und dem aber auch wesentlich dazu beigetragen, Wolfenbüttel, Dieter Münzebrock, des politischen Druck erklärt, gerechtfertigt dass längst in Vergessenheit geratene Geschäftsführers der Stiftung nieder- und/oder entschuldigt. Bei genauerem Ereignisse wieder präsent geworden sächsische Gedenkstätten, Dr. Jens- Hinsehen jedoch und im Fortgang der sind. In unserer Familie wird seither viel Christian Wagner, und der Leiterin der Forschungen zur Spruchpraxis nicht nur darüber gesprochen.“ (Renate und Sieg- Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel, der Sondergerichte, sondern auch regu- fried Schulze, Familienangehörige eines Martina Staats, trugen der Bürgermeis- lären Strafkammern stellte sich aller- Gefangenen des Strafgefängnisses Wolfen- ter der Stadt Wolfenbüttel, Thomas Pink, dings heraus, wie groß die Handlungs- büttel) und die Landrätin des Landkreises Wol- spielräume der beteiligten Juristen bei Gemeinsam mit den Kolleg_innen der fenbüttel, Christiana Steinbrügge, mit der Subsumtion und schließlich im JVA Wolfenbüttel wurde in einer konstruk- Grußworten zur Veranstaltung bei. Strafmaß waren! Das – und genau das – tiven Zusammenarbeit eine Gedenk- Die Niedersächsische Kultusministerin ist jetzt das eigentlich Erschreckende. veranstaltung anlässlich des 70. Jahres- Frauke Heiligenstadt betonte die Bedeu- Dieses Versagen gilt es zukünftig weiter tages der Befreiung des Strafgefängnis- tung der Gedenkstätte und von Gedenk- aufzuarbeiten und zu dokumentieren. ses Wolfenbüttel konzipiert und durch- stätten allgemein, gerade in der heutigen Auch heute müssen Richter und Staats- geführt. Zeit: „Es ist gut, dass wir heute, 70 Jahre anwälte um die Vergangenheit wissen, Für die Gefangenen des Strafgefäng- nach der Befreiung des Strafgefängnis- damit in der Zukunft sich so etwas nicht nisses Wolfenbüttel bedeutete die Be- ses Wolfenbüttel und in Anwesenheit wiederholt.“ freiung in vielen Fällen die Rückkehr zu von Familienangehörigen, sagen kön- Schülerinnen des Theodor-Heuss- den Familien und markierte das Ende nen, dass wir nicht nachlassen in unse- Gymnasiums Wolfenbüttel berichteten eines oft jahrelangen Martyriums in Ver- rem Bemühen um Aufarbeitung, Doku- in einem eigenen Beitrag von dem Pro- folgungsstätten des Nationalsozialismus. mentation, Gedenken, Aufklärung und jekt „ZeitWechsel“, ein Zeitsprung in Daher luden wir zu der Veranstaltung Verdeutlichung der Zusammenhänge.“ das Jahr 1938 zur Progromnacht des mit dem hoffnungsfrohen Zitat „Es wird – Auf die Verantwortung der Justiz für 9. November. Oh, es wird!“ ein, Worte aus einer Erin- die in der NS-Zeit gefällten Urteile wies Die Kranzniederlegung an dem Gedenk- nerungstafel von überlebenden Wider- die Niedersächsische Justizministerin ort ehemalige Hinrichtungsstätte bildete standskämpfern. Antje Niewisch-Lennartz hin: „Die den Abschluss der Veranstaltung. Die Teilnahme am Gedenktag fiel be- JVA durch Jørgen Jensenius. Nach sei- tung in der Öffentlichkeit. Am 31. März 115 sonders den Angehörigen von Hinge- nem Besuch am 11. April überließ er der 2015 wurde unter dem Titel „Lebens- richteten und ehemaligen Gefangenen Gedenkstätte den Nachlass seines Vaters recht verwirkt“ Jugendlicher gedacht, schwer, da – völlig zu Unrecht – häufig Wilfred Jensenius, eines norwegischen die im Strafgefängnis Wolfenbüttel we- ein Gefühl von Scham über den Status Widerstandskämpfers und NN-Gefan- gen ihrer mitunter lediglich kleinkrimi- eines Verurteilten und Gefängnisinsas- genen. nellen Handlungen verurteilt und hinge- sen bestand und die persönliche und fa- Auch 2015 initiierte und führte die Ge- richtet wurden. miliäre Auseinandersetzung nicht statt- denkstätte verschiedene Veranstaltun- Gemeinsam mit der Gedenkstätte fand. „Diese Eindrücke kann ich nicht gen durch, von denen vier exemplarisch Schillstrasse in Braunschweig lud die wiedergeben. Ich kann sie selbst nicht vorgestellt seien: Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel aufnehmen. Muss mich schützen. Lasse Das Format „Wolfenbütteler Gedenk- am 17. Mai 2015, dem Internationalen die Fragen in meinem Kopf zu. Woher stättenforum“ wurde fortgesetzt. In der Tag gegen Homophobie, zu einer Lesung habe ich mein Wissen, wo doch niemand fünften, gut besuchten Veranstaltung ein. Unter dem Motto „Endlich den Mut, mit mir darüber gesprochen hat.“ (Sabine thematisierte am 12. März der Hambur- für meine Rechte als Homosexueller zu Pinkepank-Appel, Familienangehörige ger Historiker Christoph Bitterberg den kämpfen …“ las der Schriftsteller Lutz eines Gefangenen des Strafgefängnis- „Strafvollzug im Nationalsozialismus“. van Dijk aus den Briefen von „Stefan“ ses Wolfenbüttel) Wie wurde mit den Strafvollzugsrefor- T. Kosinski. Diese sind ein bewegendes Um eine regelmäßige Begegnung und men der Weimarer Republik verfahren? Zeugnis der Bewusstwerdung eines ehe- einen Austausch von Angehörigen zu Welche Rechte hatten die Gefangenen in mals verfolgten schwulen Mannes. ermöglichen, plant die Gedenkstätte zu- der NS-Zeit? Wie entwickelten sich die künftig jährlich zu einem Treffen der Haftbedingungen? Zweiten und Dritten Generation einzu- Der jährlich stattfindende ökumeni- laden. sche Gedenkgottesdienst „Gegen das Die Praktikanten Hüveyda Eken-Polat und Lukkas Busche tragen den Kranz vor das ehemalige Hinrichtungsgebäude. Die Gedenkveranstaltung ist in einer Vergessen der Opfer im Strafgefängnis • Yvonne Salzmann

Broschüre dokumentiert, die kostenlos Wolfenbüttel während der Zeit des Nati- Angehörige des Hingerichteten Wilhelm Schulze legen bei der Gedenkstätte bestellt werden onalsozialismus“, gemeinsam veranstal- Blumen vor der ehemaligen Hinrichtungsstätte nieder. • Yvonne Salzmann kann. tet von der Kolpingfamilie Wolfenbüttel, Der Grabstein des Hingerichteten Heinrich Hagen auf Besonders erfreulich ist das große der Pfarrei St. Petrus, amnesty internati- dem Friedhof Wolfenbüttel • Stefan Wilbricht Vertrauen in die Mitarbeiter_innen und onal und der Gedenkstätte in der JVA Durchsicht des Nachlasses des NN-Gefangenen in ihre Arbeit für die Gedenkstätte in der Wolfenbüttel, fand erneut große Beach- Wilfred Jensenius • Martina Staats

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 116 Im August besuchte eine Gruppe von dem Schießstand in Braunschweig- Simone Trieder und der Historiker Lars Familienangehörigen und Interessierten Buchhorst erschossen. Skowronski ihr Buch „Zelle Nr. 18. Eine aus Belgien die Gedenkstätte und ge- Das umfangreiche Begleitprogramm Geschichte von Mut und Freundschaft“ dachte in einer bewegenden Zeremonie enthielt einen Vortrag des Historikers vor. der belgischen im Strafgefängnis Wol- Lars Skowronski „Zum Wirken von Kriegs- fenbüttel Inhaftierten und Hingerichte- gerichten der Wehrmacht auf dem Ge- ten. Anschließend besichtigten sie die biet des heutigen Bundeslandes Nieder- Gedenkstätte Braunschweig-Buchhorst, sachsen – Problemaufriss, vorläufige Er- an einem Ort, an dem belgische Militär- kenntnisse, Einzelschicksale“ sowie eine angehörige erschossen wurden. Podiumsdiskussion zu „Militär und Jus- tiz im Nationalsozialismus. Praxis und Sonderausstellung Erinnerung“, an der sich, moderiert von „Was damals Recht war …“ Prof. Dr. Christoph Helm, der Jurist und Rechtshistoriker Dr. Helmut Kramer, der In der Zeit vom 3. Juni bis zum 2. Au- Historiker Dr. Hans-Ulrich Ludewig und gust 2015 zeigte die Gedenkstätte in der der Geschäftsführer der Stiftung nieder- Kommisse in Wolfenbüttel die von der sächsische Gedenkstätten, Dr. Jens- Stiftung „Denkmal für die ermordeten Christian Wagner, beteiligten. Juden Europas“ kuratierte Sonderaus- Besonders bewegend waren die Lesung stellung zur Militärjustiz: „‘Was damals und die Schilderung der Lebenserinne- Recht war…‘ – Soldaten und Zivilisten rungen des 93-jährigen Militärjustizver- vor den Gerichten der Wehrmacht“. Neu urteilten und Friedensaktivisten Ludwig von der Gedenkstätte erarbeitet und Baumann aus seinem Buch „Niemals ge- Workshop zur politischen Verfolgung in der frühen BRD, Zeitzeugengespräch von Martina Staats mit Willi Gerns erstmalig gezeigt wurde in einer Stele gen das Gewissen. Plädoyer des letzten • Anett Dremel

die Fallgeschichte Walter Sieberts. Der Wehrmachtsdeserteurs“: „Ich war kein Vortrag von Christoph Bitterberg im Rahmen des 24-jährige Soldat wurde wegen Fahnen- Widerstandskämpfer. Und auch kein 3. Wolfenbüttler Gedenkstättenforums • Anett Dremel flucht vom Gericht der Division Nr. 471 Held. Feige war ich aber auch nicht. Die Besuch eines Überlebendenverbandes aus Belgien in der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel in Brauschweig zum Tode verurteilt und Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und • Anett Dremel im Strafgefängnis Wolfenbüttel inhaf- ich wollte leben.“ Stefan Wilbricht im Gespräch mit dem Sohn eines tiert. Am 15. August 1944 wurde er auf Als Finissage stellten die Schriftstellerin ehemaligen belgischen Gefangenen • Anett Dremel 117

Podiumsdiskussion zur NS-Militärjustiz • Anett Dremel

Der Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Dr. Jens-Christian Wagner, im Gespräch mit einer Besucherin bei der Eröffnung der Sonder­ ausstellung • Stefan Wilbricht

Vortrag von Uwe Neumärker (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) bei der Ausstellungs­ eröffnung • Stefan Wilbricht

Vortrag von Lars Skowronski am 9. Juli im Rahmen der Sonderausstellung • Anett Dremel

Finisage, Lesung Simone Trieder • Anett Dremel

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel Bildungsprojekte

118 Workshop: Politische Verfolgung in der Über die Gegenwartsrelevanz der poli- Fahrrad Club (ADFC) Wolfenbüttel eine frühen Bundesrepublik am Beispiel des tischen Verfolgung in der frühen Bundes- Fahrradtour unternommen. Sie führte an Strafgefängnisses Wolfenbüttel republik für die heutige Erinnerungskultur Orte, die mit der Geschichte des Strafge- referierte Jan Korte, MdB. Dr. Jens- fängnisses Wolfenbüttel bzw. der NS-Zeit Historiker_innen, Zeitzeugen und mehr Christian Wagner und Stefan Krull stell- verbunden sind. Die Erkundung begann als 70 Interessierte widmeten sich am ten Bezugspunkte zur Gedenkstätten- am Wolfenbütteler Bahnhof. Hier kamen 5. Dezember während eines gemeinsam arbeit und zur politischen Bildungsarbeit nicht nur die Gefangenen an, die in der mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Nieder- her. Als Fazit ist festzuhalten, dass weiter- Strafanstalt am Ziegenmarkt inhaftiert sachsen e.V. organisierten Workshops hin Forschungsdesiderate bestehen und werden sollten, sondern auch jene, die der strafrechtlichen Verfolgung von Mit- der Workshop als ein erster Impuls für hingerichtet werden sollten. Darüber hi- gliedern und Sympathisanten der KPD in eine weiterreichende wissenschaftliche naus wurden auch die jüdischen Bürger den 1950er und 1960er Jahren am Bei- Forschung zu sehen ist. Wolfenbüttels von hier aus in die Ver- spiel des Strafgefängnisses Wolfenbüttel. nichtungslager deportiert. Der Freiburger Historiker Prof. Dr. Josef Bildungsarbeit Die zweite Etappe führte zu dem Foschepoth ordnete die Geschichte der Mahnmal, das an diesen Abtransport KPD in den Gesamtkontext des deutsch- Das Team der abgeordneten Lehrkräfte und die Ermordung der jüdischen Mit- deutschen Systemkonfliktes ein, den er wurde ab Herbst um Robert Heldt (IGS bürger Wolfenbüttels erinnert. Über die als Kalten Bürgerkrieg bezeichnete. Die Wallstraße/Wolfenbüttel) und Cornelia Lange Straße, an der sich ab 1942 die Auswertung der Gefangenenpersonal- Schmidthals (Geschwister-Scholl-Gesamt- sogenannten „Judenhäuser“ befanden, akten im Landesarchiv Wolfenbüttel durch schule Göttingen) ergänzt. Die drei Leh- ging es dann zum Gräberfeld 13a/b auf den Historiker Lukkas Busche ergab, dass rer_innen teilen sich eine Vollzeitstelle. dem Hauptfriedhof. Dort liegen 300 sow- mindestens 85 Männer im Strafgefäng- Sie betreuen abwechselnd die pädagogi- jetische Kriegsgefangene aus dem Zwei- nis Wolfenbüttel aufgrund der politischen sche Arbeit der Gedenkstätte. ten Weltkrieg, die im ehemaligen Laza- Strafjustiz inhaftiert waren. Zwei von ih- rett am Sternhaus größtenteils an den nen, Willi Gerns und Gerd Graw, berich- Neues Modul in Kooperation mit dem Folgen von Mangelernährung gestorben teten in einem Zeitzeugengespräch von ADFC Wolfenbüttel waren. Neben diesen Kriegsgefangenen ihrer Haftzeit. Ergänzt wurden ihre Schil- fanden dort 100 Personen, die in der derungen durch die Erinnerungen des Zeit- Unter der Leitung von Arnulf Heine- zeugen Walter Gruber und von Familien- mann wurde 2015 gemeinsam mit Mit- Seminartag mit Auszubildenden von MAN Truck & Bus angehörigen weiterer Gefangener. gliedern des Allgemeinen Deutschen AG am 21. Mai • Anett Dremel damaligen Strafanstalt hingerichtet wur- Workshop MAN Ausbildungsmöglichkeiten. „Wir können 119 den, ihre letzte Ruhestätte. An diese Men- für uns lernen, also für unser späteres schen erinnern seit Anfang des Jahres Auch 2015 wurde die gute Kooperation Leben, dass es wichtig ist, den Menschen neu gesetzte Grabsteine. mit MAN Truck & Bus AG Salzgitter fort- nach der Haft tolerant zu begegnen, da Über das Sternhaus im Süden von gesetzt. Im Rahmen der Workshops „Ge- sie ihre Strafe verbüßt haben.“ Wolfenbüttel fuhren die Teilnehmer_in- schichte verstehen – Toleranz leben“ be- nen anschließend zum Westrand des schäftigten sich Auszubildende, zunächst Neue Schriftenreihe Lechlumer Holzes zu der Stelle, wo in der am Beispiel des Strafgefängnisses Wol- NS-Zeit ein BDM-Heim entstehen sollte, fenbüttel, mit Ausgrenzung und fehlender Die neuen Forschungsergebnisse und das aber nicht mehr gebaut wurde. Toleranz während des Nationalsozialis- Erinnerungsberichte werden in einer neu Dann ging es zurück nach Wolfenbüt- mus. Unter Anleitung von Simona Häring konzipierten Schriftenreihe der Gedenk- tel in die Fritz-Fischer-Straße. Deren Na- und Beteiligung von Robert Heldt unter- stätte erscheinen. Das erste Heft themati- mensgeber gehörte der KPD in Wolfen- suchten sie mehrere Schicksale von Verur- siert die Ausgrenzung von Menschen mit büttel an, wurde Mitte 1933 verhaftet teilten und von denen, die damals Recht (vorgeblicher) Behinderung durch das und so schwer gefoltert, dass er an den sprachen. Die Entwicklung sowie Radikali- „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach- Folgen kurze Zeit später starb. An ihn er- sierung der deutschen Justiz in der NS- wuchses“ vom 14. Juli 1933. Archivre- innert auch einer von mehr als 100 Stol- Zeit wurde anhand mehrerer Biographien cherchen ergaben grundlegende, neue persteinen im Stadtgebiet von Wolfen- erläutert. „Mir gefiel es, dass man sich mit Forschungsergebnisse, die in Vorträgen büttel. Als letzter Ort wurde der frühere einzelnen Schicksalen auseinandergesetzt zur Ausstellung „1933 und das Recht“ vor- Standort der Synagoge in der Lessing- hat und sowohl die Opferseite als auch die gestellt wurden und nun gedruckt vorlie- straße besucht, die in der Nacht vom 9. der Täter, also den einen Staatsanwalt gen: Thomas Kubetzky: „‚Alles Erbkranke auf den 10. November 1938 im Rahmen zum Beispiel, betrachtet hat. Und das (ist) lückenlos auszumerzen’. Die Anwen- der reichsweiten Pogrome durch geziel- Ganze auch in Verbindung mit dem Ort dung des Erbgesundheitsgesetzes im Frei- te Brandstiftung zerstört wurde. Im An- hier stand“, äußerte ein Auszubildender. staat Braunschweig 1934–1945”. Die Publi- schluss an die Fahrt bekundeten viele Im zweiten Teil der Workshops beka- kation ist sowohl in der Gedenkstätte wie Teilnehmer_innen Interesse an einer Be- men die Auszubildenden einen Einblick in im Buchhandel zu beziehen. sichtigung der Gedenkstätte in der JVA, den laufenden Betrieb der heutigen Justiz- Seminartag mit Auszubildenden von MAN Truck & Bus die am 8. Mai stattfand. vollzugsanstalt. Martin Berger informierte AG am 3. Dezember • Simona Häring über die Unterbringung der Gefangenen Seminartag mit Auszubildenden von MAN Truck & Bus und berichtete von deren Arbeits- und AG am 28. Mai • Stefan Wilbricht

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel Anmerkungen zum Erinnerungs- und Gedenkjahr 2015

Rolf Keller

120 Der 70. Jahrestag des Kriegsendes bil- Kriegsende und die Folgen der NS-Herr- Einladung zur Teilnahme an den Feiern dete 2015 einen Schwerpunkt der Aktivi- schaft. Selbstverständlich wurde an den zu folgen, und es wurde schmerzlich täten der Gedenkstätten, Vereine und In- Gräbern und Mahnmalen der Opfer ge- deutlich, dass die Auseinandersetzung itiativen in Niedersachsen. Dabei standen dacht, und Überlebende, Politiker sowie mit dem Nationalsozialismus künftig nicht allein das historische Geschehen Vertreter von Kirchen und Verbänden ohne die Präsenz, die Erfahrungen und und das Gedenken an die Opfer im Fokus, hielten Ansprachen. Diese traditionellen die Autorität der Überlebenden auskom- sondern auch die langfristigen Nachwir- ritualisierten Akte waren jedoch zumeist men muss. Welchen großen Verlust dies kungen, verbunden mit einer Standort- eingebettet in ein ganzes Spektrum von bedeuten wird, zeigte sich bei den inten- bestimmung der Gedenkstättenarbeit Aktivitäten und Angeboten. Die Gedenk- siven und nachhaltigen Begegnungen und Erinnerungskultur und den Perspek- stätte Sandbostel beispielsweise organi- mit Jugendlichen oder Vertretern von tiven angesichts des Verschwindens der sierte im Vorfeld der Gedenkfeier eine Land und Kommunen. Doch auch die Erlebnisgeneration. Ausstellung einer Berliner Fotografin mit Nachkommen der Opfer haben großes Die Gedenkveranstaltungen fanden Porträtaufnahmen ehemaliger Kriegsge- Interesse an der Erinnerungskultur an wie in jedem Jahr vor allem im Umfeld fangener sowie eine Vortragsreihe zum den Leidensorten ihrer Vorfahren; das des 27. Januar (Gedenktag für die Opfer Thema Befreiung und Nachkriegszeit, zeigt nicht zuletzt die Teilnahme vieler der nationalsozialistischen Gewaltherr- die Gedenkstätte Drütte eröffnete im Angehöriger der 2. und 3. Generation schaft), des 8. Mai (Tag der bedingungs- April eine Sonderausstellung mit persön- an den Gedenkfeiern. losen Kapitulation) und der Befreiungs- lichen Gegenständen von KZ-Häftlingen, Die ehemaligen Häftlinge und Gefange- daten der Lager in Niedersachsen im und die Veranstaltung zum Tag der Be- nen, Angehörige von Opfern, Vertreter Laufe des April statt. Die „Euthanasie”- freiung in der Gedenkstätte Augusta- ausländischer Partnerorganisationen und Gedenkstätten Lüneburg und Wehnen schacht war von der Aufführung einer Jugendgruppen aus mehreren Staaten hingegen führten ihre Gedenkfeiern deutsch-niederländischen Theater- verliehen vielen Veranstaltungen inter- wiederum in zeitlicher Nähe zum 1. Sep- gruppe geprägt. nationalen Charakter und dienten damit tember durch – dem Jahrestag des soge- Die bei den Veranstaltungen anwesen- auch der Verstetigung der länderüber- nannten „Gnadentoderlasses“ durch den Zeitzeug_innen – insbesondere die greifenden Verständigung und Zusammen- Adolf Hitler. ehemaligen Häftlinge und Gefangenen – arbeit. Die Gedenkstätten sowie viele Vereine standen selbstverständlich im Zentrum Die Veranstaltungen wurden häufig und Initiativen an anderen Orten erinner- der Aufmerksamkeit. Allerdings waren in Kooperation mit mehreren Partnern ten mit gewohnt großem Engagement nur einige der wenigen verbliebenen ehe- durchgeführt, und vielfach wurden und in unterschiedlicher Form an das maligen Verfolgten noch in der Lage, der Schülergruppen und Auszubildende in die Vorbereitung und Durchführung ein- innen ihre Ergebnisse in einer Ausstel- Debatte über die Vermittlung des Natio- 121 bezogen; an einigen Orten hatten deren lung präsentierten. Auch künstlerische nalsozialismus nach dem Verschwinden Aktivitäten einen zentralen Stellenwert. Formen der Auseinandersetzung oder der Generation der Zeitzeugen ein. Das Seit mehreren Jahren werden – nicht al- die szenische Lesung von Erinnerungs- seiner Meinung nach schwindende Inter- lein im Zusammenhang mit den Gedenk- berichten ehemaliger Häftlinge des Ju- esse am Gegenstand könnte als Rekurs veranstaltungen – jenseits hergebrach- gend-KZ Moringen durch Schüler_innen auf die eine starke Fixierung auf die Zeit- ter Gedenk- und Erinnerungsrituale ermöglichen Jugendlichen einen Zu- zeugen interpretiert werden. Es habe au- vielerorts handlungsorientierte Formate gang zur NS-Geschichte. Die Gedenkver- ßerdem den Anschein, dass die Vorstel- mit Projektcharakter erprobt, die in her- anstaltungen werden auf diese Weise in lung einer kollektiven Verantwortung für vorragender Weise geeignet sind, nach- die Bildungsarbeit einbezogen und stel- das Erinnern an die Verbrechen heute als haltiges historisch-politisches Lernen zu len damit zwar ein herausragendes, aber Anachronismus gelte. Ziel der Bildungs- fördern. Dadurch entstehen zudem Bin- kein isoliertes Ereignis im Jahrespro- arbeit sei inzwischen eher das „empathi- dungen der Akteure an den Ort und das gramm dar. Sie verdeutlichen besser als sche Erinnern“ denn die Vermittlung ei- Thema, die eine Wirkung über den Tag die Redebeiträge vieler Offizieller den nes kritischen Geschichtsbewusstseins. und die Gedenkveranstaltung hinaus Stellenwert der Erinnerungskultur und Der Geschichtsunterricht würde auf haben. Die Gedenkstätte KZ Salzgitter- die Notwendigkeit eines kritischen „erinnern lernen“ zu Lasten der Vermitt- Drütte stellt beispielsweise wechselnde Geschichtsbewusstseins für den Fort- lung von historischem Wissen verkürzt; thematische Aspekte in den Mittelpunkt bestand unserer demokratischen Geschichte lasse sich jedoch nicht auf der Veranstaltungen, die von Auszubil- Gesellschaft. Erinnerung reduzieren. denden der Salzgitter AG vorbereitet Zu der Frage, wie das Gedenkjahr 2015 und durchgeführt werden. Die Doku- erinnerungspolitisch zu bewerten ist, mentationsstelle Pulverfabrik Liebenau zog der Historiker Prof. Norbert Frei im hatte ihre Partner aus Polen, der Ukraine Oktober 2015 auf der Tagung der Abtei- 29. April: Kaffeepause beim Workshop der Dokumenta- und Weißrussland zu Gast und veran- lung Gedenkstättenförderung Nieder- tionsstelle Pulverfabrik Liebenau zum 70. Jahrestag des Kriegsendes; angeregte Gespräche zwischen jungen staltete während deren zweiwöchigen sachsen eine vorläufige Bilanz. Nach und älteren Teilnehmer_innen nach dem Zeitzeugen- Aufenthalts einen Jugendworkshop. Die seiner Beobachtung habe das „Epochen- gespräch mit Karl Payuk • Martin Guse Gedenkstätte Sandbostel erstellte in Zu- jahr 1945“ nur eine kurzeitige und damit Schülerinnen des Kurses „Darstellendes Spiel“ der Kooperativen Gesamtschule Moringen bereiten sich auf sammenarbeit mit einer Schule aus An- punktuelle Konjunktur in Medien und die einstudierte szenische Lesung mit Auszügen aus lass des 8. Mai eine Unterrichtsreihe für Öffentlichkeit erfahren. Bei seinen weite- Erinnerungsberichten und Briefen ehemaliger Häftlinge des Jugend-KZ Moringen vor, die im Rahmen des die 4. Klasse, an deren Ende die Schüler_ ren Ausführungen ging Prof. Frei auf die offiziellen Festakts stattfand. • Julia Braun

Gedenkstättenförderung Niedersachsen 122 Prof. Frei kritisierte außerdem die ein- Bei der erwähnten Tagung im Oktober hörung und auf Grundlage von Anträgen geübte Gedenkrhetorik der Politiker und konstatierte der Geschäftsführer der der Linken und der Grünen beschloss, empfahl mehr Verbindlichkeit und Diffe- Stiftung niedersächsische Gedenkstät- den aus formalrechtlichen Gründen von renzierung bei der Betrachtung und Be- ten, Dr. Jens-Christian Wagner, dass in der Zwangsarbeiterentschädigung aus- wertung der NS-Geschichte. das Gedenken noch längst nicht alle Op- geschlossenen ehemaligen sowjeti- In der Tat waren die NS-Verbrechen fer gleichermaßen einbezogen sind. schen Kriegsgefangenen einen einmali- und deren langfristigen Folgen nach dem Während die Erinnerung an den Völker- gen Betrag in Höhe von je € 2.500 als Frühjahr 2015 in den Medien und in der mord an den Juden selbstverständlich freiwillige symbolische Leistung zu Öffentlichkeit kaum noch ein Thema. Da- sei, würden andere Verbrechenskomple- zahlen. gegen gab es eine Reihe von Berichten xe und Opfergruppen noch nicht ange- Ob die sowjetischen Kriegsgefange- und Serien über die Lebensumstände im messen wahrgenommen. nen und die anderen „vergessenen Op- zerstörten Deutschland und das Schick- Bundespräsident Joachim Gauck hat fer“ künftig in der Erinnerungskultur und sal der Flüchtlinge und Vertriebenen. versucht, in dieser Hinsicht einen Impuls in der historisch-politischen Bildungsar- Vereinzelt wurde jedoch auch beispiels- zu geben. Nachdem er an der Feier zum beit eine angemessene Berücksichti- weise über die Situation der Displaced Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen- gung finden, hängt nicht zuletzt auch da- Persons berichtet. Belsen teilgenommen hatte, setzte er von ab, wer im öffentlich-politischen Eher zufällig gerieten im zeitlichen am 6. Mai bei der Gedenkfeier auf dem Raum die Deutungshoheit übernehmen Zusammenhang mit den Gedenkfeiern Friedhof der sowjetischen Kriegsgefan- und das Vakuum füllen wird, das durch auch die Täter in den Blick. Der Lünebur- genen in Stukenbrock/Senne ein erinne- den Abschied der Erlebnisgeneration ger Prozess gegen den „Buchhalter von rungspolitisches Zeichen. Er stellte fest, entsteht – und auch der Stellenwert der Auschwitz“ stieß auf beträchtliches me- dass das Schicksal der sowjetischen

diales Interesse. Der Bergen-Belsen- und Kriegsgefangenen bisher nicht ange- 30. April: Workshop der Dokumentationsstelle Pulver- Auschwitz-Prozess, der erste alliierte messen im kollektiven Bewusstsein ver- fabrik Liebenau zum 70. Jahrestag des Kriegsendes; bei der Veranstaltung im Mehrgenerationenhaus Stolzenau Kriegsverbrecherprozess überhaupt, ankert sei. Es gelte diese Opfer aus dem trug der ehemalige Zwangsarbeiter Karl Payuk in der Mittagspause ein ukrainisches Volkslied für die jugend- der von September bis November 1945 „Erinnerungsschatten“ herauszuholen. lichen Teilnehmer_innen vor. • Martin Guse ebenfalls in Lüneburg stattgefunden Eine späte Anerkennung des Leidens der Das NS-Zwangsarbeiter-Mahnmal in Göttingen (Auf- hatte, blieb dagegen kaum erwähnt und Gefangenen und der Verbrechen, die die nahme vom 8. Mai 2015). Bei der vorangegangenen Kundgebung sprachen u.a. Sabine Lösing (MdEP/Die fand lediglich in lokalen Veranstaltungen Wehrmacht an ihnen verübte, hatte die Linke, Göttingen), Agnieszka Zimowska (DGB Göttin- am Ort des Geschehens breitere Bundesregierung kurz zuvor am 19. Mai gen), Arne Droldner (KZ-Gedenkstätte Moringen), Günther Siedbürger (Geschichtswerkstatt Göttingen) Beachtung. vollzogen, als sie nach einer Expertenan- und Jan Steyer (VVN-BdA Göttingen). • Jan Steyer Gedenkstättenarbeit, der Erinnerungs- 123 kultur und der historisch-politischen Bil- dung wird wesentlich davon bestimmt sein, welche Bedeutung die kommende (Politiker-)Generation dem beimisst.

France Strmcnik, Überlebender des Jugend-KZ Moringen, berichtet von seiner Haftzeit und seiner Befreiung. • Dietmar Sedlaczek

Generalprobe der Auszubildenden der Salzgitter Flach- stahl GmbH auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Drütte • Elke Zacharias

Igor Rudchin, ehemaliger Zwangsarbeiter und Gestapo- Häftling, im Gespräch mit Mitgliedern der Gedenkstätte Augustaschacht. Während seines Besuchs vom 5. bis 15. Mai führte er mehrere Zeitzeugengespräche mit Schüler_innen und beteiligte sich an einer bundesweiten Tagung der Gewerkschaftsjugend jungsBau, der Christ- lichen Arbeiterjugend (CAJ) und der Kolpingjugend; die Teilnehmer_innen suchten in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Zwangsarbeit nach Gemeinsam- keiten zwischen gewerkschaftlicher und christlicher Jugendbewegung. • Michael Gander

Das Mahnmal am Augustaschacht nach der Gedenkfeier am 19. April • Michael Gander

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Gedenkstättenförderung Niedersachsen

Rolf Keller

124 Das Frühjahr stand auch für die Abtei- erheblich unterstützt hat. perte geladen war. Anlass waren Anträ- lung Gedenkstättenförderung Nieder- Im Rahmen einer Feierstunde in der ge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sachsen im Zeichen des 70. Jahrestages Botschaft der Russischen Föderation zur „Anerkennung der an den ehemali- des Kriegsendes und der Befreiung. Für in Berlin zeichneten der Botschafter gen sowjetischen Kriegsgefangenen be- den Webblog „70 Tage Gewalt, Mord, W. Grinin und der Vertreter des Verteidi- gangenen Verbrechen als nationalsozia- Befreiung. Das Kriegsende in Nieder- gungsministeriums der Russischen Födera- listisches Unrecht und Gewährung eines sachsen“ (27. Februar bis 8. Mai) liefer- tion A. Taranow am 24. April Dr. Rolf symbolischen finanziellen Anerkennungs- ten Juliane Hummel, Silke Petry und Dr. Keller für seine Verdienste um die „Ver- beitrages für diese Opfergruppe“ und Rolf Keller etliche Beiträge, darüber hin- ewigung des Andenkens an die gefalle- der Fraktion Die Linke betr. „Finanzielle aus hat Juliane Hummel das Projekt re- nen Vaterlandsverteidiger“ aus. Diese Anerkennung von NS-Unrecht für sowje- daktionell und technisch koordiniert. Ehrung wurde auch Peter Wanninger tische Kriegsgefangene“. Im Ergebnis Bei den Gedenkfeierlichkeiten in Bergen- von der AG Bergen-Belsen e.V. zuteil, der Anhörung beschloss die Koalition, Belsen im April leisteten die Mitarbeiter_ der gemeinsam mit seiner Frau Angehö- ehemaligen sowjetischen Kriegsgefan- innen der Abteilung in unterschiedlicher rigen aus der ehemaligen Sowjetunion genen eine Anerkennungsleistung von Weise personelle Unterstützung. Im Vor- bei der Aufklärung von Opferschicksalen je 2.500 Euro zu zahlen. feld waren Juliane Hummel und Dr. Rolf hilft und sie bei ihren Besuchen in Nord- Auf der 26. Sitzung der Wissenschaft- Keller bei Umgestaltungsmaßnahmen deutschland betreut. Als dritter Vertreter lichen Fachkommission für die Förde- durch das Staatliche Baumanagement aus Niedersachsen wurde der frühere rung und Fortentwicklung der Gedenk- auf dem Friedhof Hörsten beratend tätig. Bezirksvorsteher des Gemeindefreien stättenarbeit in Niedersachsen (WFK) Einige der in den 1960er Jahren angeleg- Bezirks in Oerbke, Hinrich am 4./5. Juni in Hannover wurden unter ten Wege wurden zurückgebaut, da sie Baumann, ausgezeichnet; er bemühte anderem Neugestaltungsprojekte einzel- über Gräber führten; in diesem Zusam- sich während seiner Amtszeit intensiv ner niedersächsischer Gedenkstätten menhang musste auch der Friedhofs- um die Aufklärung der Geschichte der ausführlich beraten. Die KZ-Gedenkstät- eingang verlegt werden. Kriegsgefangenenlager in Fallingbostel te Moringen legte Planungen zur Neuge- Ebenfalls im April wurde in Bad Falling- bzw. Oerbke und baute zahlreiche Kon- staltung des Eingangsbereiches des frü- bostel eine Ausstellung zur Geschichte takte zu ehemaligen Gefangenen und heren Kommandanturgebäudes (heute der Kriegsgefangenenlager Fallingbostel Angehörigen auf. Maßregelvollzugszentrum) auf Basis me- und Oerbke eröffnet, bei deren Erarbei- Am 18. Mai fand im Haushaltsschuss diengestützter Module vor. Es wurde tung Silke Petry von der Dokumentations- des Deutschen Bundestages eine Anhö- empfohlen, Mittel für vorbereitende stelle Celle die lokale Arbeitsgruppe rung statt, zu der Dr. Rolf Keller als Ex- Maßnahmen bereitzustellen (Bauhistori- sche Untersuchung, Medienkonzept, Die WFK äußerte sich außerdem positiv Niedersachsen widmen, war mit 90 Teil- 125 Kostenermittlung). Die KZ-Gedenk- und über die Planungen des Trägervereins nehmenden ausgebucht. Der 70. Jahres- Dokumentationsstätte Salzgitter-Drütte der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüne- tag des Kriegsendes war Anlass, die lang- beabsichtigt im Rahmen einer Erweite- burg für eine Neugestaltung und Erwei- fristigen Folgen der NS-Herrschaft unter rung der Gedenkstätte die Nutzung zu- terung und empfahl die Förderung eines verschiedenen Aspekten zu diskutieren, sätzlicher historischer Räumlichkeiten Projekts zur Entwicklung eines Rahmen- die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag in- für Ausstellungs- und Vermittlungszwe- konzepts, das auch als Grundlage zur klusive der medialen und politischen Be- cke. Die WFK empfahl, die konzeptionel- Einwerbung von Drittmitteln dienen soll. gleitung kritisch zu betrachten und die len Planungen weiter zu verfolgen. Die Die Oberschule führt Herausforderungen und Perspektiven Gedenkstätten Augustaschacht Ohrbeck jährlich eine Projektwoche zum Thema für die Gedenkstättenarbeit und Erinne- und Gestapokeller Osnabrück wurden „Die Kriegsgefangenlager Fallingbostel rungskultur zu erörtern. Prof. Norbert Frei aufgefordert, das vorgelegte inhaltlich- und Oerbke“ mit dem Schwerpunkt auf (Universität Jena) referierte über Ge- räumliche Konzept für beide Orte im Hin- dem Schicksal der sowjetischen Gefan- schichtsbewusstsein und Erinnerungs- blick auf den geplanten Förderantrag bei genen durch. Am 6. Oktober standen kultur im Gedenkjahr 2015; Prof. Constan- der Bundesbeauftragten für Kultur und Silke Petry und Dr. Rolf Keller als Exper- tin Goschler (Universität Bochum) stellte Medien (BKM) weiter zu präzisieren. Für ten für die Fragen der Schüler_innen Konjunkturen der „Wiedergutmachung“ die Dokumentationsstelle Pulverfabrik zur Verfügung. seit 1945 und die damit verbundenen Liebenau hat sich nach der Absage einer Ein Höhepunkt im Berichtsjahr war die politisch-gesellschaftlichen Aushand- Förderung durch die BKM eine Alternati- Tagung „Erinnerungskultur und Vergan- lungsprozesse und Wahrnehmungen ve zu dem bisher verfolgten Plan der genheitspolitik – die Folgen der NS-Herr- der NS-Zeit vor; PD Dr. Christoph Rass Sanierung eines historischen Gebäudes schaft und der gesellschaftliche Wandel (Universität Osnabrück) präsentierte an- aufgetan: Es besteht die Option, künftig im Umgang mit den NS-Verbrechen“ hand von zwei Beispielen Modi kritischer Räumlichkeiten in der vor der Schlie- vom 9. bis 11. Oktober in Hannover. Die- ßung stehenden Hauptschule Liebenau se jährliche Fortbildungsveranstaltung 24. April: In der Botschaft der Russischen Föderation, für Gedenkstättenzwecke zu nutzen und für die haupt- und ehrenamtlichen Mit- Berlin: v. l.: Dr. Rolf Keller, Hinrich Baumann und Peter damit erhebliche Baukosten einzusparen. arbeiter_innen von Gedenkstätten, Mit- Wanninger • Alla Wanninger Die WFK begrüßte diese Perspektive und glieder von Geschichtswerkstätten oder 8. November: Eröffnung Denkort Bunker Valentin, Bremen-Farge. • Rolf Keller forderte die Dokumentationsstelle Pul- Vereinen sowie weitere Initiativen und verfabrik Liebenau auf, ein räumliches Personen, die sich der Aufarbeitung der 8. November: Eröffnung Denkort Bunker Valentin, Bremen-Farge. Blick in den Ausstellungsbereich und inhaltliches Konzept zu entwickeln. NS-Zeit und der Erinnerungskultur in • Rolf Keller

Gedenkstättenförderung Niedersachsen 126 Auseinandersetzung mit Vergangenheit Drütte und Sandbostel wurden aktuelle torischen Stellenwert, die Bildungspoten- und Geschichtspolitik, und Prof. Detlef Tendenzen der Gedenk- und Erinnerungs- ziale und die Perspektiven des ehemali- Schmiechen-Ackermann (Universität kultur thematisiert, und Dr. Jens-Christian gen NS-Spieldorfes und NS-Schulungs- Hannover) stellte aktuelle wissenschaft- Wagner, Geschäftsführer der Stiftung zentrums „Stedingsehre“ in Ganderkesee. liche Diskurse und Forschungstrends niedersächsische Gedenkstätten, refe- Der Förderverein Informationszentrum vor. Die juristische Aufarbeitung der NS- rierte über „Die Zukunft der historischen Freilichtbühne Bookholzberg e.V. plant Verbrechen durch die Alliierten und die Orte und der Auseinandersetzung mit die Einrichtung eines Dokumentations- westdeutsche Justiz und die Verände- der NS-Zeit“. Zum Abschluss stellten zentrums in einem der Gebäude des un- rungen in der Rechtsauffassung waren einzelne Vereine und Initiativen aktuelle ter Denkmalschutz stehenden Ensembles, ein weiterer Schwerpunkt der Tagung. Projekte vor. das in den 1930er Jahren Aufführungs- Anhand mehrerer regionaler und biogra- Im Hinblick auf das Projekt zum Auf- ort des ideologisch gefärbten Freiluft- phischer Fallbeispiele wurde außerdem bau eines Informations- und Lernortes Theaterspiels „De Stedinge“ war. Zum der politisch-gesellschaftliche Umgang zum Thema „Die ‚Reicherntedankfeste‘ Kreis der Diskutanten gehörten Prof. mit Tätern, „Mitläufern“, Profiteuren und auf dem Bückeberg bei Hameln“, das im Dietmar von Reeken (Universität Olden- Opfern des NS-Regimes weiter beleuch- April 2016 starten soll, fand am 15. Okto- burg, Mitglied der Wissenschaftlichen tet. Auch künstlerische Formen der Erin- ber in Emmerthal ein Workshop statt. Fachkommission der Stiftung) und nerungskultur wurden in den Blick ge- Drei Vertreter des Vereins für regionale Dr. Rolf Keller. nommen: Dr. Beate Meyer (Institut für Kultur- und Zeitgeschichte Hameln, drei die Geschichte der deutschen Juden) be- Lehrkräfte von Schulen im Landkreis richtete über Entwicklung, Chancen und Hameln-Pyrmont und drei Vertreter der 7. November: Tagung Stedingsehre, Ganderkesee-Book- Konfliktpotenziale des Projekts „Stolper- Stiftung niedersächsische Gedenkstät- holzberg, Besichtigung des Spieldorfes • Rolf Keller

steine“, und eine Exkursion führte zu ten (Juliane Hummel, Dr. Rolf Keller, 11. Oktober: Tagung „Erinnerungskultur und Vergangen- den „Rosebusch-Verlassenschaften“ Christian Wolpers) verständigten sich heitspolitik“ in Hannover. Vortrag von Andreas Ehres- mann/Gedenkstätte Lager Sandbostel • Christian des Künstlerpaars Breuste, das sich in über die zentralen Aspekte und Arbeits- Wolpers

seinem Schaffen intensiv mit der NS- felder (Dokumentationsumfang und 20. November: Vortrag Dr. Rolf Keller bei der internatio- Zeit auseinandergesetzt hat. Am letzten Narrativ, Potenziale des historisch- nalen Tagung „70 Jahre nach dem Krieg. Das deutsche und das sowjetische Kriegsgefangenenwesen in der Tag standen die Perspektiven der Erin- politischen Lernens, Erschießung und Forschung“ in Lambinowice (Lamsdorf), Polen. nerungskultur und der Gedenkstätten- Gestaltung des Geländes). • CMJW Opole arbeit in Niedersachsen im Mittelpunkt. Am 7. November diskutierten Referen- 15. Oktober: Mindmapping beim Workshop Reichsernte- dankfeste/Bückeberg im Rathaus Emmerthal. • Christian Am Beispiel der Gedenkstätten Salzgitter- ten und Teilnehmer_innen über den his- Wolpers Am 8. November wurde der „Denkort 127 Bunker Valentin“ in Bremen-Farge feier- lich eröffnet. Die Ausstellung und die Bildungsarbeit der Gedenkstätte thema- tisieren die Rüstungsprojekte und die Zwangsarbeit in einer Region, die sich heute auf bremischem und auf nieder- sächsischem Territorium befindet. Die von der Landeszentrale für politische Bildung Bremen getragene Einrichtung wurde in langjähriger enger Kooperation mit der Stiftung niedersächsische Ge- denkstätten konzipiert. Auf einer internationalen Tagung aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Zentralen Kriegsgefangenenmuseums in Lamsdorf/Oppeln (Polen) am 19./20. No- vember war Dr. Rolf Keller als Referent vertreten und nutzte die Gelegenheit, in den Beständen des Archivs des Museums in Oppeln zum Thema polnische Kriegs- gefangene in Niedersachsen 1939–1945 zu recherchieren.

Ortstermin in Lambinowice (Lamsdorf), Polen: Dr. Rolf Keller besichtigt die Reste der Baracken des „Russen­ lagers“ Lamsdorf; die baugleich mit denen in Bergen- Belsen waren. • Reinhard Otto

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Dokumentationsstelle

Silke Petry

128 Die Dokumentationsstelle unterstützt lagen wie Nachlässe, Fotografien und und lokalen Initiativen im Kontext der und berät Gedenkstätten, Vereine und Alben. Der überwiegende Teil der Be- Schicksalsklärung und Identitätsfor- Initiativen, Wissenschaftler und interes- stände umfasst die Themenbereiche schung sowie der Suche nach Friedhöfen sierte Einzelpersonen, Kommunen und „Konzentrationslager und Außenkom- und der Rekonstruktion von Grablagen Bildungsträger in Niedersachsen bei der mandos“, „Kriegsgefangenenlager und von Opfern in Anspruch genommen. In Aufarbeitung, Dokumentation und Ver- Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen“, diesem Bereich wurden 73 Anfragen be- mittlung der Geschichte der NS-Zeit. Sie „Ermittlungsverfahren und Prozesse der antwortet, zu sämtlichen NS-Opfergrup- führt Recherchen nach einschlägigen Alliierten zwischen 1945–1949“ sowie pen, im Schwerpunkt allerdings sowjeti- Quellenbeständen durch und betreibt ei- „Friedhöfe und Kriegsgräberstätten“. sche Kriegsgefangene. Die Dokumentations- gene Forschungen zu wichtigen Aspek- Die Sammlung wird regelmäßig genutzt stelle leistet hier wissenschaftliche Bera- ten der Geschichte von Widerstand und im Rahmen historischer Recherchen tung und Unterstützung bei der Suche der Verfolgung auf dem Gebiet des Lan- z.B. für Forschungs- und Ausstellungs- nach den Gräbern. Darüber hinaus unter- des Niedersachsen. Außerdem veran- vorhaben oder studentische Abschluss- nimmt sie Recherchen zur Hebung von staltet die Dokumentationsstelle jährlich arbeiten. Quellenmaterial zu den Kriegsgefange- eine zentrale Tagung für die haupt- und 2015 erhielt die Dokumentationsstelle nenfriedhöfen und führt aktuell intensi- ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen von insgesamt 190 schriftliche Anfragen, zu- ve Forschungen zum Friedhof des Kriegs- Gedenkstätten, Geschichtswerkstätten, meist von niedersächsischen Initiativen gefangenlagers Bergen-Belsen durch. In Vereinen und Initiativen in Niedersach- und Angehörigen ehemaliger Kriegsge- diesem Zusammenhang wurden 2015 sen und führt thematische Workshops fangener – vorwiegend aus den Staaten die einschlägigen Bestände der Vereini- zum Arbeitsbereich Forschung, Samm- der ehemaligen Sowjetunion. Die übri- gung der Verfolgten des Naziregimes lung und Dokumentation durch. gen verteilten sich auf Gedenkstätten, (VVN/BdA) in Hannover, des Niedersäch- Die Dokumentationsstelle verfügt über Archive, Museen, Kommunen, Medien sischen Ministerium für Inneres und Sport eine historische Dokumentation zur Ge- und sonstige Institutionen. Inhaltlich im niedersächsischen Landesarchiv in schichte von Widerstand und Verfolgung ging es hauptsächlich um Schicksalsklä- Hannover und des International Tracing 1933–1945 in Niedersachsen. Neben rung, Kriegsgefangenenwesen, Friedhö- Service (ITS) in Bad Arolsen gesichtet. Reproduktionen (Kopien, Mikrofilme, fe, sowie zu Verfolgung und Widerstand Außerdem wurden Recherchen zum Scans) von schriftlichen Quellen und allgemein. Thema „Kriegsgräber/Gräbergesetz“ im Fotografien aus Archiven im In- und Die Dienstleistungen der Dokumenta- Bundesarchiv in Koblenz durchgeführt. Ausland befinden sich in der archivali- tionsstelle wurden 2015 zunehmend von Als weitere wichtige Dienstleistung schen Sammlung auch originäre Unter- Suchdiensten, Angehörigen von Opfern der Dokumentationsstelle hat sich die Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und derung Niedersachsen eingesetzt, hier 129 Mitarbeiter von Gedenk- und Dokumen- insbesondere in der Dokumentations- tationseinrichtungen im Bereich Samm- stelle. Im Bereich der archivalischen lung und Archiv entwickelt. Im Arbeits- Sammlung war er mit der Inventarisie- feld „Archivierung, Inventarisierung, rung und inhaltlichen Erschließung von Erschließung und Konservierung von Aktenreproduktionen aus russischen Sammlungsgut“ sowie im sensiblen und italienischen Archiven betraut. Feld der rechtlichen Rahmenbedingun- Außerdem übernahm er verschiedene gen bei der Nutzung von Sammlungs- Arbeiten in der Bibliothek. beständen durch Dritte (Datenschutz, In der Präsenzbibliothek am Standort Copyright, Auflagen der Leihgeber etc.) Celle (Fachliteratur zur NS-Zeit und de- existiert eine großer Bedarf an Aus- und ren Folgen im Gebiet des heutigen Nie- Fotoserie aus dem Privatbesitz des ehemaligen Landes- schützen Joseph Landgraf, der ab Juni 1941 im Kriegs- Fortbildung. Dem versucht die Doku- dersachsen und darüber hinaus) sind gefangenenlager XI D (321) Oerbke eingesetzt war. Die mentationsstelle durch gezielte Angebo- derzeit 5.500 Monografien, außerdem Originalabzüge befinden sich in der Dokumentations- stelle der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten in te und regelmäßigen Austausch mit den Zeitschriften und audiovisuelle Medien Celle. • Fotograf unbekannt

Mitarbeiter_innen an den einzelnen Or- (Video, DVD) katalogisiert – 2015 wurden Grabstätten der acht polnischen Kriegsgefangenen auf ten nachzukommen. Dementsprechend 230 neue Titel aufgenommen. dem Friedhof Hörsten – darunter zwei Ärzte, die im Lazarett des Stalag XI C (311) Bergen-Belsen eingesetzt wurde die seit 2012 durchgeführte Reihe waren, Aufnahme vom November 2014 • Silke Petry von Workshops „Sammlung und Archiv“ Die Sonderausstellung „Kriegsgefangene der Wehr- 2015 fortgesetzt, diesmal mit dem The- macht: Die Mannschafts-Stammlager Oerbke und Fallingbostel“ wurde im Museum der Archäologischen menschwerpunkt „Serviceleistungen Arbeitsgemeinschaft in Bad Fallingbostel vom 29. Mai bis 31. Oktober gezeigt; hier bei der Eröffnung, v.r.: und Entgeltordnung“. Walter Ploch, Dirk Hering, Olga Pfeffer und Monika Vom 23. Februar bis 2. April 2015 ab- Ploch, Mitglieder der Arbeitsgruppe, und Susanne Graschtat, Vorsitzende der Archäologischen Arbeits- solvierte Milan Fabio Spindler, Student gemeinschaft. Silke Petry (links), wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung niedersächsische Gedenk- an der Universität Leipzig (Geschichte stätten, stand der Arbeitsgruppe mit Rat und Tat zur sowie Kommunikations- und Medien- Seite. • Rolf Hillmann, Walsroder Zeitung wissenschaften) ein Vollzeitpraktikum Die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten verfügt am Stiftungssitz in Celle über eine Bibliothek mit Werken bei der Stiftung niedersächsische Ge- zur NS-Geschichte und Folgen (Schwerpunkt Nordwest- denkstätten in Celle. Er war hauptsäch- deutschland), Erinnerungskultur und Pädagogik. Die Einrichtung wird durch die Bibliothekarin Corinna lich in der Abteilung Gedenkstättenför- Rathjen betreut. • Silke Petry

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Friedhöfe und Mahnmale als Gedenk- und Lernorte sowie Forschungsobjekte

Juliane Hummel

130 Auch 2015 setzte die Stiftung nieder- ganztägige Veranstaltung war mit rund inischen Bildhauers Mykola Muchin – sächsische Gedenkstätten – entspre- 60 Teilnehmenden von Initiativen, Verei- ursprünglich zentraler Bestandteil des chend dem anhaltend großen öffentli- nen und öffentlicher Verwaltung sehr früheren sowjetischen Mahnmals auf chen Interesse – ihr Engagement für gut besucht. Wie in den Jahren zuvor dem Kriegsgefangenenfriedhof Oerbke – Friedhöfe und Gräber der Opfer der NS- wurde deutlich, dass der Diskussions- der Öffentlichkeit wieder zugänglich ge- Gewaltherrschaft fort. Eine jährliche nie- bedarf die zur Verfügung stehende Zeit macht werden: im Rathaus Oerbke, auf- dersachsenweite Tagung dient neben weit überstieg. grund eines Leihvertrags mit dem Ge- der Informationsvermittlung dem Aus- Im Februar traf sich der Arbeitskreis meindefreien Bezirk Osterheide. Eine bau des Netzwerks von Akteuren. Die „Gedenkstätten und Friedhöfe“ zu einer Informationstafel ordnet das Relief in Stiftung koordiniert auch den Arbeits- eintägigen Klausursitzung in Hannover. den historischen und erinnerungs- kreis „Gedenkstätten und Friedhöfe“, in Diskutiert wurden aktuelle Tendenzen kulturellen Kontext ein. dem Vertreter_innen von Gedenkstätten und Probleme der Teilnehmenden im in Niedersachsen zusammenfinden, die Umgang mit den Lagerfriedhöfen. Au- sich mit der Problematik der jeweiligen ßerdem wurde über das Selbstverständ- Lagerfriedhöfe befassen. Außerdem un- nis der Gruppe ebenso debattiert wie terstützt die Stiftung beratend Anfragen über künftige gemeinsame Projekte. von Kommunen oder anderen Trägern Auch überregional versucht die Stif- der Friedhöfe sowie von Ehrenamtli- tung, den Fokus auf die niedersächsi- chen, die sich vor Ort engagieren. schen Friedhöfe und Gräber zu lenken. So fand im Januar in Hannover die Sie beteiligt sich an bundesweiten Ver- fünfte Tagung in der Reihe „Opfer des anstaltungen, etwa an der Fachtagung Nationalsozialismus – Friedhöfe und „Historische Friedhöfe“, die der Bund Grabstätten“ statt. Der große Rücklauf Heimat und Umwelt e.V. im Juni in Kas- auf einen offenen Aufruf für Kurzreferate sel ausrichtete. Vortrag von Ronald Sperling (Dokumentations- und Gedenkstätte Sandbostel e.V.) über Gräber sowjetischer dokumentierte das breite thematische 2015 gelang die Rückführung eines Kriegsgefangener in Zeven, Landkreis. Rotenburg/Wümme Spektrum im Spannungsfeld zwischen ganz besonderen Objekts: Anlässlich bei der Tagung „Opfer des Nationalsozialismus – Fried- höfe und Grabstätten“ im Januar • Christian Wolpers historischer Forschung, Bildungsarbeit des 70. Jahrestages der Befreiung der Klaus Falk (Hannover) informierte über Erinnerungsar- und der karitativen Aufgaben von der Lager Fallingbostel und Oerbke konnte beit zum Thema Deserteure bei einer Führung über den Schicksalsklärung bis zur Betreuung der das im Besitz der Stiftung befindliche Fössefeldfriedhof in Hannover-Limmer im Rahmen der Tagung „Opfer des Nationalsozialismus – Friedhöfe und Besuche von Angehörigen der Opfer. Die Marmorrelief „Der Sterbende“ des ukra- Grabstätten“ im Januar • Silke Petry Bildungsarbeit

Christian Wolpers

Die wesentlichen Arbeitsinhalte des der Gedenkstättenförderung Nieder- und Roma, der hessische Landesver- 131 Bildungsreferenten der Abteilung Ge- sachsen in Kooperation mit dem nieder- band Deutscher Sinti und Roma, das denkstättenförderung Niedersachsen sächsischen Kultusministerium und dem Denkmal für die ermordeten Juden Eu- sind die Aus- und Weiterbildung der Be- Gustav-Stresemann-Institut: „Vorurteile ropas, die NS-Dokumentationszentren schäftigten sowie die Evaluierung und mit Tradition. Bildungskonzepte zum München und Köln sowie der der Inter- Optimierung von in der Bildungsarbeit Abbau von Antiziganismus und zur För- nationale Suchdienst (ITS) in Bad Arol- verwendeten Formaten, Methoden und derung gleichberechtigter Teilhabe“. sen. Ziel ist es, Bildungsmaterialien und Materialien. Nachdem in den vergange- Neben Vorträgen zur Geschichte der -konzepte durch Vernetzung besser zu nen Jahren Angebote für die Weiterbil- Verfolgung von Sinti und Roma sowie nutzen und zu verzahnen sowie die Zu- dung und den kollegialen Austausch von heutigen Formen von Antiziganismus sammenarbeit der beteiligten Einrich- Gedenkstättenmitarbeiter_innen im Vor- bot die Tagung den Teilnehmer_innen tungen zu stärken. dergrund standen, lag der Schwerpunkt aus vielfältigen Arbeitsbereichen der 2015 – auch wegen zeitlicher Engpässe Sozialen Arbeit, der öffentlichen Verwal- durch die nicht durchgehende Vollzeit- tung der schulischen und außerschuli- besetzung des Arbeitsbereiches – stär- schen Bildung Raum für Diskussionen, ker auf der thematisch-methodischen Erfahrungsaustausch und Konzeptent- und strukturellen Entwicklung der ge- wicklungen – nicht zuletzt auch mit Ver- denkstättenpädagogischen Arbeit. We- treter_innen von Selbstorganisationen sentliche Themen und Fragestellungen der Sinti und Roma. hierbei waren der Umgang mit dem An- Zum selben Thema, nun aber mit dem spruch inklusiver Bildung, Maßnahmen Fokus der Verfolgungsgeschichte in NS- gegen gruppenbezogene Menschen- Konzentrationslagern, konstituierte sich feindlichkeit sowie die Relevanz von Wi- im August bei einem Treffen in der KZ- derstand, In- und Exklusion in der natio- Gedenkstätte Dachau eine bundesweit nalsozialistischen Gesellschaft sowie die agierende Arbeitsgruppe. Beteiligt sind Thematisierung von Fragen nach Opfern neben der Stiftung niedersächsische Ge- und Tätern. denkstätten die Gedenkstätten Dachau, Vortrag Boris Erchenbrecher (mit Gabriele Wiemeyer, Gruppenbezogene Menschenfeind- Sachsenhausen, Neuengamme, Haus GSI Bad Bevensen) • Christian Wolpers lichkeit war Ende Mai in Bad Bevensen der Wannseekonferenz, das Dokumenta- Teilnehmer_innen an der Tagung in Bad Bevensen Thema einer Fort- und Weiterbildung tions- und Kulturzentrum Deutscher Sinti • Christian Wolpers

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Förderung der Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur durch finanzielle Zuwendungen

Arnold Jürgens

132 Im Rahmen der Förderung der regio- schichte, Pädagogik und Kulturwissen- die „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüne- nalen Gedenkstättenarbeit und Erinne- schaften) sowie Expert_innen aus den burg. Im Rahmen der Planungen für den rungskultur durch Zuwendungen ge- Bereichen Gedenkstättenarbeit, jüdische Aufbau der Gedenkstätte hat die WFK währt die Stiftung niedersächsische Geschichte und Archivwesen. die Förderung einer Projektkoordinato- Gedenkstätten finanzielle Zuschüsse für Entsprechend dem Förderkonzept der renstelle für zunächst zwei Jahre emp- Projekte von Gedenkstätten, Vereinen, Stiftung erhalten die Gedenkstätten Ester- fohlen. Im Zentrum der Projektarbeit Geschichtswerkstätten und Initiativen. wegen (DIZ Emslandlager) und Sand- steht die Entwicklung eines Rahmenkon- Die Fördermittel können unter Angabe bostel eine Schwerpunktförderung, ins- zeptes, das die inhaltlichen und räum- der maßgeblichen Informationen zu In- besondere durch die (anteilige) Finanzie- lichen Zielsetzungen definiert und die tention, Inhalt, Format, Ablauf und Fi- rung der jeweiligen Leiterstellen. Außer- daraus resultierenden Finanzierungsnot- nanzierung des Projektes formlos bei dem werden die Projektleiterstellen der wendigkeiten benennt. Das Rahmenkon- der Stiftung beantragt werden. Die Zu- im Aufbau begriffenen Dokumentations- zept dient u.a. als Grundlage zur Einwer- schüsse werden in der Regel in Form und Gedenkstätten in Ohrbeck (Augusta- bung von Landes- und Bundesmitteln. einer Fehlbedarfsfinanzierung gewährt. schacht) und Liebenau gefördert. Vor- Auf Grundlage einer Empfehlung der Erwartet wird, dass mindestens die Hälf- aussetzungen für die Aufnahme in die WFK erhalten die Gedenkstätten in Salz- te der benötigten Mittel von Geldgebern Schwerpunktförderung sind historische gitter-Drütte und Moringen eine instituti- aus der Region bereitgestellt wird. Bedeutung und Exemplarität des Ortes, onelle Förderung. Das neue Förderinst- Im Vorfeld bietet die Stiftung den An- wissenschaftliche wie pädagogische rument ermöglicht eine nachhaltige tragstellern umfassende Beratung und Qualität der Arbeit der Dokumentations- Verbesserung der Arbeitssituation in den Information in inhaltlichen, organisatori- und Gedenkstätte, eine breite Basis bür- Gedenkstätten. Die gewährten Mittel schen und formalen Fragen an. Die An- gerschaftlichen Engagements und die dienen in erster Linie der Finanzierung träge werden von der „Wissenschaft- Beteiligung weiterer Geldgeber aus der von Personalstellen im Bereich Leitung lichen Fachkommission zur Förderung Region an der Gesamtfinanzierung der und Verwaltung. Neben der Stiftung nie- und Fortentwicklung der Gedenkstätten- Einrichtung. Entwicklungen und Konzep- dersächsische Gedenkstätten tragen arbeit in Niedersachsen“ (WFK) beraten, te der schwerpunktgeförderten Gedenk- v. a. kommunale Förderer der jeweiligen deren Empfehlungen die Grundlage der stätten werden regelmäßig in der WFK Gedenkstätte die Kosten zum Unterhalt Förderentscheidungen der Stiftung bil- vorgestellt, diskutiert und die Einrichtun-

den. Der WFK gehören Professor_innen gen entsprechend beraten. 17. April: Festakt zur Eröffnung der Ausstellung „Auf der von Hochschulen in Niedersachsen und Die Voraussetzungen für eine Schwer- Spur europäischer Zwangsarbeit – Südniedersachsen 1939–1945“ in der BBS II in Göttingen. • Geschichtswerk- Bremen an (aus den Fachbereichen Ge- punktförderung erfüllt nunmehr auch statt Göttingen, Philipp Küchler der Einrichtungen. Die Bereitschaft zur vergeben. Der Großteil der Mittel wurde Generationen. Ein Treffen 70 Jahre 133 dauerhaften Unterstützung der Gedenk- für die Finanzierung der Leiterstellen in nach der Befreiung“ stätten wird in entsprechenden Koope- den Gedenkstätten in Esterwegen (DIZ • Heimatfreunde Neuenkirchen/ rationsvereinbarungen zwischen der Emslandlager), Sandbostel, Augusta- Gedenkstätte „Baracke Wilhelmine“: Stiftung niedersächsische Gedenkstät- schacht und Liebenau sowie für die ins- Pädagogisches Projekt „In Ricordo“ ten, den Kommunen und den Trägerver- titutionelle Förderung der Gedenkstät- (In Erinnerung) einen festgehalten. ten Moringen und Salzgitter-Drütte auf- • Arbeitskreis Stadtgeschichte Ge- Im Bereich der Projektförderung er- gewendet. Ein besonderer Schwerpunkt schichte e.V. Salzgitter/Gedenk- und hielten die Gedenkstätte Sandbostel und im Bereich der Projektförderung waren Dokumentationsstätte KZ Drütte: der VVN/BdA Landesvereinigung Nieder- Gedenkfeierlichkeiten und Veranstaltungs- Sonderausstellung „Überdauert! sachsen e.V. finanzielle Unterstützung programme aus Anlass des 70. Jahresta- Effekten – Objekte – Erinnerungen“ zur systematischen Erfassung ihrer ges der Befreiung bzw. des Kriegsendes. • Gedenkkreis Wehnen e.V./Gedenk- Sammlungen. Während die gesammel- stätte „Alte Pathologie“: Vortragsreihe ten Unterlagen der VVN nach Abschluss Zuwendungen wurden unter anderem aus Anlass des 70. Jahrestages des des Projektes erstmals der Öffentlichkeit für folgende Projekte von Initiativen und Kriegsendes zugänglich gemacht werden können, er- Vereinen gewährt: • Psychosozialer Verein e.V./Bildungs- leichtert und verbessert die formale und • Arbeitskreis Ein Mahnmal für das und Gedenkstätte „Opfer der NS-Psy- inhaltliche Erschließung der Archivmate- Frauen-KZ Limmer (Hannover): Über- chiatrie“ Lüneburg: „Vielfalt achten, rialien der Gedenkstätte Sandbostel de- setzung von Zeitzeugenberichten Teilhabe stärken. Lüneburger Inklu- ren wissenschaftliche und pädagogische • Niedersächsischer Verband Deutscher sionsschulung für Fachkräfte“ Nutzung. Dem Aufbau der Archive misst Sinti e.V.: Betreuung der Wanderaus- • Interessengemeinschaft niedersächsi- die WFK eine besondere Bedeutung bei, stellung „Aus Niedersachsen nach scher Gedenkstätten und Initiativen da sie ein wichtiger Bestandteil der Ge- Auschwitz…“ zur Erinnerung an die NS-Verbrechen: denkstättenarbeit sind, um das histori- • VVN/BdA Landesvereinigung Nieder- Neugestaltung der Website sche Wissen zu diesem Erinnerungsort sachsen e.V.: „Aufbau eines Archivs – zu bewahren. Systematische Erfassung und Ver- 2015 standen 442.000 € zur Förderung zeichnung der Aktenbestände“ (Fort- der Gedenkstättenarbeit in Niedersachsen setzung) Die Sonderausstellung „Überdauert! Effekten – Objekte zur Verfügung. Insgesamt wurden Zu- • Gedenkstätte KZ-Außenlager Braun- – Erinnerungen“ wurde in der Gedenk- und Dokumenta- tionsstätte KZ Drütte vom 11. April bis 31. Juli gezeigt. wendungen für 26 Vorhaben an 15 Träger schweig Schillstraße: „Gespräch der • Jörg Dreyer

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Personalkostenzuschüsse Gedenkstätten Esterwegen (DIZ Emslandlager), Sandbostel, Augustachacht, € 58.100 Dokumentation- und Rechercheprojekte Ohrbeck, Lüneburg, Liebenau € 187.550 € 27.600 Veranstaltungen

€ 18.200 Pädagogische Projekte insgesamt € 409.700

Institutionelle Förderung Gedenkstätten € 118.250 Moringen und Salzgitter-Drütte

Zuwendungen zur Förderung der Gedenkstättenarbeit in Niedersachsen 2015 (in Euro)

134 • Geschichtswerkstatt Göttingen e.V.: Förderung von Fahrten zu Gedenk- und Eröffnungsveranstaltung der Ausstel- Dokumentationsstätten lung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen Der Förderung der historisch-politi- 1939–1945“ schen Bildungsarbeit in Niedersachsen dienen auch die Zuschüsse zu Gedenk- Förderung von Sanierungsmaßnahmen stättenfahrten, die auf Antrag durch die und Neugestaltungsvorhaben Stiftung gewährt werden. Abhängig von der Verfügbarkeit entsprechender Haus- Die landesseitig zusätzlich bereitge- haltsmittel können Gruppen, die im Rah- stellten Investitionsmittel für die nieder- men einer schulischen oder außerschuli- sächsischen Gedenkstätten wurden 2015 schen Bildungsmaßnahme Gedenk- und hauptsächlich für dringende Vorhaben Dokumentationsstätten in Niedersach- in den stiftungseigenen Gedenkstätten sen besuchen, einen Zuschuss in Höhe Bergen-Belsen und Wolfenbüttel ver- von bis zu 50 Prozent der Fahrtkosten er- wendet. Darüber hinaus konnten Bau- halten. Die Förderung soll in erster Linie maßnahmen in der Gedenkstätte Augusta- jungen Menschen den Besuch einer schacht/Ohrbeck (Osnabrück) gefördert Gedenkstätte in Niedersachsen ermögli- werden (vgl. S. 138). Neben der Stiftung chen. Die Erinnerung und das Lernen niedersächsische Gedenkstätten enga- am historischen Ort sind von zentraler Der Wissenschaftsdokumentar Ronald Sperling (Gedenk- stätte Sansbostel) bei der Erschließung und Verzeich- gierte sich die Investitions- und Förder- Bedeutung für die Auseinandersetzung nung von Dokumenten in einer Datenbank • Andreas bank Niedersachsen mit der hälftigen mit der Geschichte von Widerstand und Ehresmann Finanzierung der Kosten des Projektes. Verfolgung im Nationalsozialismus. "Gespräch der Generationen" in Braunschweig: Kathrin Zöller lauscht den Schilderungen von Shalom 2015 stellte das Land Niedersachsen Alon. • Stefanie Waske

der Stiftung Mittel in Höhe von 50.000 € „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg e.V.: Biografien- für die Förderung von Gedenkstätten- forschung im Rahmen einer Inklusionsschulung mit Pflegeschülerinnen und Pflegeschülern fahrten zur Verfügung. Insgesamt konnten • Carola S. Rudnick

199 Fahrten für knapp 12.000 Schüler_in- „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg e.V.: „Wertever- nen bezuschusst werden. steigerung“ im Rahmen einer Inklusionsschulung mit Teilnehmer_innen der Lebenshilfewerke Mölln-Hagenow • Eva Ammermann 135

Gedenkstättenförderung Niedersachsen Gedenkstätte Augustaschacht

Die Gedenkstätte Augustaschacht wird im Rahmen der Schwerpunktförderung der Stiftung niedersächsische Gedenk- stätten in besonderer Weise gefördert.

Gedenkstätte Augustaschacht Zur Hüggelschlucht 4 D – 49205 Hasbergen Tel.: +49 (0) 5405 – 895 92 70 Fax: +49 (0) 5405 – 895 92 71 [email protected] www.gedenkstaetten-augustaschacht- osnabrueck.de

136 Sehr wichtige Fortschritte bei der und verwirklichten die Mitglieder der Die Ausstellung „Abgeurteilt. Gefan- Neugestaltung der Gedenkstätten Ge- bürgerschaftlichen Trägervereine der gene in der Strafanstalt Lingen und den stapokeller und Augustaschacht und Gedenkstätten Gestapokeller und Augusta- Emslandlagern 1935–1945“, die von Stu- drei große Gedenktage prägten das schacht nach langer Vorbereitung die dierenden der Universität Osnabrück in Jahr 2015. Verschmelzung der beiden Vereine zu Kooperation mit den Gedenkstätten Ge- Die zentrale Gedenkfeier von Stadt und einem Trägerverein für beide Gedenk- stapokeller und Esterwegen erarbeitet Landkreis Osnabrück fand am Tag des stätten. Der Verein Gedenkstätten Ge- wurde, war von Januar. bis Juli in der Gedenkens an die Opfer des Nationalso- stapokeller und Augustaschacht verfolgt Gedenkstätte Gestapokeller zu sehen. zialismus in der Gedenkstätte Augusta- auf Basis der baulichen Neugestaltung Die von der Gedenkstätte Augusta- schacht statt. Am 19. April wurde in ei- und der organisatorischen Neuaufstel- schacht zusammen mit dem Verein ner von der deutsch-niederländischen lung nun den letzten Schritt der Neuge- „Judentum begreifen“ entwickelte Aus- Theatergruppe „Rosengarten“ gestalte- staltung, die gemeinsame Dauerausstel- stellung „Einblicke – Die unbekannten ten Veranstaltung im Beisein der nieder- lung für beide Gedenkstätten. Deren Vor- Zeitzeugen von Krieg und Judenvernich- sächsischen Kultusministerin Frauke bereitung wird von der Stiftung nieder- tung“ wurde im Mai in München gezeigt. Heilgenstadt und des niederländischen sächsische Gedenkstätten besonders Der Dokumentarfilm „Untertaucher/ Generalkonsuls Ton Lansink der Opfer unterstützt. Onderduiker“ von Prof. Dr. Peter Marchal des Arbeitserziehungslagers Ohrbeck An den Workcamps in Zusammenar- über das gleichnamige deutsch-nieder- gedacht. Im Mai fand in der Gedenkstät- beit mit „Service Civil International“ und ländische Jugendtheaterprojekt der Ge- te eine Wochenendveranstaltung statt: „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ denkstätte Augustaschacht und des Mu- „AZ Ohrbeck – 70 Jahre Befreiung – Von nahmen im August 24 junge Freiwillige seums Markt 12 in Aalten entstand mit Zwangsarbeit und Faschismus zu Arbeits- aus neun Ländern teil: Belarus, Bulgarien, Unterstützung der Volkshochschule zwängen und Rassismus ...“, in Zusam- Deutschland, Frankreich, Mexiko, den Osnabrück und hatte am 27. September menarbeit mit der CAJ Osnabrück, der Niederlanden, Ungarn, Russland und Premiere in der Gedenkstätte. Kolpingjugend Osnabrück und der jungen Spanien. Angeleitet von einem Mitarbei- Ein Workshop für Multiplikator_innen BAU (Jugend der Industriegewerkschaft ter der archäologischen Denkmalpflege zu Graphic Novels und historische Er- Bauen, Agrar, Umwelt). in Stadt und Landkreis Osnabrück legten zählungen in der Bildungsarbeit zum Na- Eine große Aufgabe war die erfolgrei- sie weitere Grund- und Kellermauern tionalsozialismus wurde in Kooperation che Umsetzung der umfangreichen Bau- des früheren Dampfmaschinen- und mit der Stiftung niedersächsische Ge- maßnahmen in der Gedenkstätte Augus- Wohnhauses neben der Gedenkstätte denkstätten im Juni in Lüneburg taschacht. Zeitgleich dazu beschlossen Augustaschacht frei. veranstaltet. Die Gedenkstätte erreichte mit ihrer Grundstück wurden in dem Sammelband 137 Arbeit insgesamt 6400 Menschen. Wei- „Topographien des Terrors – National- tere rund 1000 Personen besuchten die sozialismus in Osnabrück“ veröffentlicht. Gedenkstätte Gestapokeller. Beim Wo- Beide Gedenkstätten sind in der Osna- chenendseminar im Februar für Förder- brücker Trägergemeinschaft „9. Novem- empfänger_innen des Fonds Soziokultur ber“, im „Initiativkreis Stolpersteine“ in Bonn stellte die Gedenkstätte ihr The- und im Beirat des niederländischen aterprojekt „Rozentuin / Rosengarten“ Museums „Markt 12“ in Aalten aktiv. vor. Die Wachmannschaften im Arbeits- Die Antragstellungen für die neue erziehungslager Ohrbeck waren Thema Dauerausstellung in den Gedenkstätten eines weiteren Vortrages beim Seminar Gestapokeller und Augustaschacht in 29. Oktober: Sechzig Einsatzkräfte der Feuerwehren „Begegnungen mit Tätern und Tatorten“ Verbindung mit der Erschließung der Bil- Hasbergen und Hagen a.T.W. sowie des DRK Hasbergen trainierten ihre Zusammenarbeit für den Ernstfall in der im Februar in Papenburg. dungspotentiale, insbesondere für nie- Gedenkstätte Augustaschacht. • Feuerwehr Hasbergen Mit dem europäischen Freiwilligen- derländische Besucher_innen, stehen im 30. November: Der erste Vorstand des Vereines Gedenk- dienst und „Aktion Sühnezeichen Frie- Zentrum der Gedenkstättenarbeit für stätten Gestapokeller und Augustaschacht nach seiner Wahl bei der Mitgliederversammlung • Marie-Dominique densdienste“ arbeiteten in der Gedenk- 2016. Geplant sind auch weitere archäo- Guyard stätte nacheinander eine Niederländerin logische Freilegungen auf dem Gedenk- Auf der Grabungsfläche der Gedenkstätte Augusta- und ein Mann aus Russland. stättengelände mit Hilfe zweier internati- schacht trafen sich die Teilnehmer_innen des Work- camps mit SCI Herman Post (4.v.r.), dessen Vater, Karel Amerikanische, italienische und nie- onaler Jugendworkcamps. Zudem sollen August Post, im „Arbeitserziehungslager“ Ohrbeck der derländische Nachkommen und Ange- ein Geocaching-Bildungsprojekt abge- Osnabrücker Gestapo im Winter 1945 inhaftiert worden war, nachdem er versucht hatte, der Zwangsarbeit in hörige von Verfolgten des Nationalsozia- schlossen und eine Ausstellung über Deutschland zu entfliehen. Er starb nach seiner Befreiung an den Folgen der Lagerhaft. Erstmals besuchte nun lismus in der Region Osnabrück wurden Gefangene aus den Benelux-Staaten im Herman Post die Gedenkstätte. Eine bewegende Begeg- interviewt oder bei ihren Nachforschun- Zuchthaus Hameln gezeigt werden. nung für alle Beteiligten. • André Schmalkuche gen unterstützt,ebenso eine Abschluss- 10. Mai: Für ein Erinnerungsfoto vor dem Mahnmal Augustaschacht nahmen die Teilnehmer_innen der arbeit über das „Arbeitserziehungslager” Dr. Michael Gander Wochenendveranstaltung „AZ Ohrbeck – 70 Jahre Ohrbeck an der Universität Osnabrück. Geschäftsführer der Gedenkstätte Befreiung“ den ehemaligen Zwangsarbeiter Igor Rudchin nach einem Zeitzeugengespräch und einer gemeinsamen Zwei Aufsätze über Zwangsarbeit in der Augustaschacht Gedenkfeier in ihre Mitte. • Michael Gander

Stadt Osnabrück und die Interessen von Teilansicht der Ausstellung „Abgeurteilt. Gefangene Stadt und Regierungspräsidium Osna- in der Strafanstalt Lingen und den Emslandlagern 1935–1945“ in der Gedenkstätte Gestapokeller • Michael brück am Osnabrücker Synagogen- Gander

Berichte geförderter Gedenkstätten Erweiterung der Gedenkstätte Augustaschacht für Besucher_innen und die Bildungsarbeit

138 Zu Beginn des Jahres, in dem sich die Christian Wagner, hob bei einer Besichti- ihre Förderung spielten der gelungene Befreiung Europas und Deutschlands gung der Umbaumaßnahme die über- Brückenschlag zwischen Notwendigkei- von der nationalsozialistischen Herr- regionale Bedeutung der Gedenkstätte ten des Denkmalschutzes und den An- schaft zum 70. Mal jährte, entschieden Augustaschacht hervor: „Ohrbeck wurde forderungen moderner Gedenkstätten- die Stiftung niedersächsische Gedenk- zum Haft- und Todesort insbesondere pädagogik eine maßgebliche Rolle. stätten und die niedersächsische NBank, für niederländische Zwangsarbeiter. Außer- die Gedenkstätten Augustaschacht und dem verweist dieser Ort exemplarisch Gestapokeller auf ihrem Weg der Neuge- auf die ‚Arbeitserziehungslager’ der Ge- staltung zu nachhaltigen Gedenk- und stapo, denen innerhalb des Zwangsar- Lernorten zu unterstützen. Sie förderten beitssystems im Nationalsozialismus Baumaßnahmen zur zukunftsfähigen eine zentrale Abschreckungs- und Terror- und barrierefreien Nutzung des denk- funktion zukam.“ malgeschützten Gebäudes Augusta- Bereits bei der Gedenkfeier an die Be- schacht als vielseitige Gedenkstätte freiung des „Arbeitserziehungslagers” mit flexiblen Bildungs- und Veranstaltungs- Ohrbeck am 19. April wurden die ver- möglichkeiten. besserten Besuchs- und Veranstaltungs- Für Dr. Michael Gander, Geschäftsführer möglichkeiten sowie die erweiterten der Gedenkstätten Gestapokeller und Bildungsräume der Öffentlichkeit Augustaschacht, beseitigen der neue vorgestellt. Fahrstuhl, der zweite Veranstaltungsraum, Die Kosten der gesamten Baumaßnah- der vergrößerte Parkplatz, die neuen Ar- men in Höhe von rund 372.500 Euro wur- Der neue Bildungs- und Veranstaltungsraum war im chiv- und Arbeitsräume lange bekannte den zur einen Hälfte mit Fördermitteln Februar zwar noch eine Baustelle, aber Dr. Michael Engpässe in der Gedenkstättenarbeit. Be- der Stiftung niedersächsische Gedenk- Gander, Dr. Jens-Christian Wagner, Architekt Til von der Heyde und die beiden Vorstände der Gedenkstätten sonders erfreulich ist, dass seit Mai zwei stätten finanziert. Zur anderen Hälfte Gestapokeller und Augustaschacht, Georg Hörnsche- meyer und Heinrich Trimpe-Rüschemeyer (v.l.), zeigten Schulklassen gleichzeitig betreut werden förderte – bis auf einen geringen Eigen- sich von den bereits erreichten Baufortschritten der und Besucher_innen auch das bislang ver- anteil der Gedenkstätten – die NBank die Gedenkstätte Augustaschacht beeindruckt. • Gedenk- stätte Augustaschacht schlossene Dachgeschoss mit seinen Spu- Erweiterung im Auftrag des Niedersäch- Die Treppen über drei Geschosse stellten bislang für ren aus der Lagerzeit besichtigen können. sischen Ministeriums für Wissenschaft Besucher_innen ein großes Hindernis dar. Rechtzeitig zu Der Geschäftsführer der Stiftung nie- und Kultur mit Mitteln des Europäischen den Gedenkveranstaltungen im April und Mai wurde der Fahrstuhl fertig: barrierefreier Zugang zum Veranstaltungs- dersächsische Gedenkstätten, Dr. Jens- Fonds für regionale Entwicklung. Für raum im zweiten Obergeschoss! • Patricia in ’t Groen Beyond Sight

Das Kunstprojekt „Beyond Sight” ent- modernen Kunstmuseum mit authenti- Heute zeigt er seine Arbeiten in Deutsch- 139 warf der Künstler Grigory Berstein für schen Bildern der nationalsozialistischen land, Russland, Frankreich und den USA. die Gedenkstätte Augustaschacht und Judenverfolgung entwickelte Berstein Die Ausstellung „Beyond Sight” war das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück. seine Installationen im Dialog mit den eine Kooperation zwischen dem Felix- Die Ausstellung fand zeitgleich von Ok- vorhandenen Räumen. Durch diese Be- Nussbaum-Haus und der Gedenkstätte tober 2015 bis Februar 2016 in beiden ziehung von Kunst und Raum können Augustaschacht. Die gemeinsame Eröff- Häusern statt. neue Eindrücke und Einsichten entste- nung fand im Felix-Nussbaum-Haus In den Blick nehmen, was bislang au- hen, die vertraute Wahrnehmungen hin- statt. Im November folgte eine Veran- ßerhalb der eigenen Sicht lag, war vor- terfragen und erweitern. Ihm geht es da- staltung mit dem Künstler in der Gedenk- dergründig die Absicht von Grigory Ber- bei weniger um Verunsicherungen, als stätte. Zur Ausstellung erschien ein stein mit Beyond Sight. Er suchte nach um die Anregung der Phantasie der Be- Katalog. den verlorenen Geschichten, den unbe- trachter_innen, die neue Annäherungen kannten oder vergessenen Opfern, aber an Schicksale von Verfolgten ermögli- auch nach den Aus- und Nachwirkungen chen sollen. von Verbrechen. Die vom Künstler gewollte Empathie In Bersteins Klanginstallationen „Steps” für die Opfer des Nationalsozialismus und „Tears”, deren Sound Design die soll eine Quelle für ein waches Bewusst- Künstler Dmitry Zakharov und Karsten sein für gegenwärtiges Geschehen sein. Lutz entwickelten, erinnerten Geräusche Damals waren Felix Nussbaum und viele tropfenden Wassers und schwerer Schrit- Arbeitserziehungslager-Gefangenen aus te auf der ehemaligen Lagertreppe an zahlreichen Ländern verfolgt und auf das Schicksal der abwesenden Gestapo- der Flucht; ihre Fluchten scheiterten. Gefangenen, von denen oft nur wenig Heute stehen Menschen und Gesell- bekannt ist. Seine weitere Installation schaften wieder vor der Aufgabe, über Die Installation „Tears” erinnert in der Gedenkstätte „Backwards Forwards” in der Gedenk- den Ausgang von Fluchtversuchen zu Augustaschacht in der ehemaligen Waschküche des stätte Augustaschacht hatte Berstein entscheiden. Arbeitserziehungslagers Ohrbeck an das Schicksal der früheren Gefangenen. • Grigory Berstein erstmals im NS-Dokumentationszentrum Grigory Berstein wurde 1948 in Mos- Ein Blick durch die Löcher des vorderen Bildes der der Stadt Köln gezeigt. kau geboren, wo er Buchillustration stu- Installation „Backwards Forwards” in der Gedenkstätte In der Auseinandersetzung mit dem dierte und für Verlage arbeitete. Seit Augustaschacht lässt Fragen zur eigenen Perspektive auf die großen Verbrechen der Vergangenheit und der historischen Verbrechensort und dem 1991 lebt und arbeitet Berstein in Köln. Gegenwart entstehen. • Grigory Berstein

Berichte geförderter Gedenkstätten Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte

Die Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte wird im Rahmen der Schwer- punktförderung der Stiftung niedersäch- sische Gedenkstätten in besonderer Weise gefördert.

Gedenk und Dokumentationsstätte KZ Drütte Wehrstraße 29 D – 38226 Salzgitter Tel.: +49 (0) 5341 – 4 45 81 Fax: +49 (0) 5341 – 17 92 13 [email protected] www.gedenkstaette-salzgitter.de

140 Im Zentrum des Jahres 2015 stand die waltet, nicht aber zurückgegeben Hauptrednerin in ihrem Beitrag das Aus- Sonderausstellung „Überdauert! Effek- wurden. stellungsthema in besonderer Weise auf. ten – Objekte – Erinnerungen“, deren Die Ausstellung wurde im Rahmen der Das Begleitprogramm zur Sonderaus- Thema in den Veranstaltungen und Bil- Gedenkstunde zum 70. Jahrestag des stellung umfasste Projekttage mit Schu- dungsangeboten zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in Salzgitter, am 11. April len, einen einwöchigen Bildungsurlaub Kriegsendes und darüber hinaus aufge- 2015, eröffnet. Einen wesentlichen in- für IG Metall Mitglieder und 22 Termine nommen wurde. haltlichen Part der jährlichen Gedenk- für öffentliche Führungen, davon vier Durch die finanzielle Förderung der veranstaltung übernehmen seit sechs mit thematischem Schwerpunkt. Das Stiftung niedersächsische Gedenkstät- Jahren Auszubildende. Im Februar 2015 große Interesse an der Sonderausstel- ten konnten über mehrere Jahre intensi- beschäftigten sich fünfzehn junge Er- lung stellte hohe Anforderungen an die ve Forschungen im Archiv des Internatio- wachsene aus unterschiedlichen Ausbil- Organisator_innen. Die Lage der Ge- nalen Suchdienstes (ITS) Bad Arolsen dungsbereichen in einem einwöchigen denkstätte auf dem Gelände der Salzgit- erfolgen. Hierbei fanden sich noch die Vorbereitungsseminar mit dem Ausstel- ter AG führt dazu, dass Besuche (außer Effekten von etwa einhundert ehemali- lungsthema. Die Geschäftsführung der am 2. Samstag im Monat und zu Sonder- gen Häftlingen der Konzentrationslager Salzgitter Flachstahl GmbH stellte sie veranstaltungen) nur in Begleitung mög- im Salzgittergebiet. Der ITS war bereit, hierfür von der betrieblichen Arbeit frei. lich sind. Die hauptamtlichen Mitarbeite- die persönlichen Gegenstände, die noch Zur Gedenkstunde konnten etwa 500 rinnen, insgesamt 1,5 Stellen, die ab- nicht an die Eigentümer selbst oder ihre Personen begrüßt werden. Darunter wa- geordneten Lehrkräfte mit jeweils 4,5 Familien zurückerstattet werden konn- ren viele Vertreter_innen der Bundes-, Wochenstunden und die Mitarbeiterin ten, für mehrere Monate nach Salzgitter Landes und Kommunalpolitik, der Kon- im Freiwilligen Sozialen Jahr Politik hät- auszuleihen. In der Ausstellung wurden zernleitungen der Salzgitter AG und an- ten die vielen Terminanfragen nicht einerseits exemplarisch fünfzehn Perso- derer Betriebe, sowie deren Betriebs- ohne die Unterstützung von Ehrenamt- nen vorgestellt, andererseits die Ge- räte. Ehrengäste waren jedoch zwei lichen erfüllen können. Diese waren für schichte der Verwaltung dieser Gegen- Überlebende des KZ Salzgitter-Bad. die Führungen besonders geschult stände. Gerade die Banalität der Joanna Fryczkowska und Stefania Bajer worden. alltäglichen Objekte machte die für die waren aus Polen angereist. Etliche wei- Ausstellung und Begleitprogramm Besucher_innen die deutliche Diskre- tere ehemalige Häftlinge mussten den wurden durch die Unterstützung der panz sichtbar zwischen der emotionalen Besuch aus gesundheitlichen Gründen Stiftung niedersächsische Gedenkstät- Bedeutung der Effekten und der Tatsa- jedoch sehr kurzfristig absagen. Frau ten, der IG Metall Salzgitter-Peine, der che, dass diese bis dahin lediglich ver- Prof. Dr. Dr. Jutta Limbach griff als Salzgitter Flachstahl GmbH, der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft Die Arbeit der Gedenkstätte KZ Drütte 141 sowie vieler Ehrenamtlicher ermöglicht. profitiert von guten Kooperationen und Obwohl die Sonderausstellung von Ja- enger Vernetzung mit anderen Gedenk- nuar bis August erhebliche Arbeitskapa- stätten, Bildungsträgern und Einrichtun- zitäten gebunden hat, wurden Forschun- gen. Forschungsarbeit, interne Weiter- gen weitergeführt, Veröffentlichungen bildungen und der Austausch von erarbeitet, Bildungsangebote realisiert Wissen befördern die Arbeit vor Ort, und die tägliche Arbeit in einer Gedenk- verlangen aber auch finanziellen, zeitli- stätte aufrechterhalten. Gefördert durch chen und personellen Einsatz. Die Leite- die Stiftung niedersächsische Gedenk- rin der Gedenkstätte war mehrfach als stätten recherchierten die hauptamtli- Referentin tätig, ist in unterschiedlichen chen Historikerinnen 20 Forschungstage Facharbeitsgruppen im Land aktiv und im Archiv des Internationalen Such- ist Mitglied im Sprecherrat der Gedenk- dienstes (ITS) Bad Arolsen. Auch 2015 stätten und Initiativen. In dieser Funkti- bekam die Gedenkstätte Akten und Fo- on ist sie auch seit 2004 als Vertreterin tos aus Privatbeständen, die in das Ar- des Vorsitzenden Sam Bloch im Beirat chiv eingearbeitet wurden. der Stiftung niedersächsische Gedenk- Die Anzahl von Besuchen und Anfra- stätten, an dessen Sitzungen sie als gen ehemaliger KZ-Häftlinge und ihrer stimmberechtigtes Mitglied teilnimmt. Angehörigen sowie von in DP-Camps Geborenen nahm im Jahr 2015 noch ein- Elke Zacharias mal erheblich zu. Die regelmäßige Öf- Leiterin der Gedenk- und fentlichkeitsarbeit der Gedenkstätte Dokumentationsstätte KZ Drütte zeigt sich auch in der Region. Die Tourist Nach fast siebzig Jahren erfuhr Rik Gijbels aus Belgien, dass sein im KZ Watenstedt verstorbener Onkel auf dem Information und der Besucherdienst der Friedhof Jammertal beigesetzt ist. Dreißig Nichten und Salzgitter AG beziehen die Gedenkstätte Neffen kamen zum 70. Todestag im April erstmals zum Grab des Onkels. • Elke Zacharias in ihre Angebote ein, etwa in öffentliche 11. April: Ansprache Prof. Dr. Dr. Jutta Limbach • Jörg und nichtöffentliche Werksführungen. Dreyer Im Jahr 2015 ergaben sich an die 30 Zusatz- 11. April: Gedenkstunde auf dem Appellplatz des ehe- termine. maligen KZ Drütte • Jörg Dreyer

Berichte geförderter Gedenkstätten „Wo war wohl Max Oschmann, als die Uhr stehen blieb?“ Ein Seminar mit Auszubildenden zur Vorbereitung der Gedenkstunde

142 Schon Tage vor dem einwöchigen Se- standsmitglieder des Arbeitskreis Stadt- gen Besitzer und der Verwaltungsge- minar bekamen die fünfzehn jungen Er- geschichte e.V. am Seminar teil. In Gene- schichte führten zu einem unerwarteten wachsenen eine etwas irritierende Auf- rationen übergreifenden Kleingruppen Ergebnis. Es entstand eine sachliche, gabe. Sie sollten einen Gegenstand, den beschäftigten sich die Teilnehmer_innen aber doch auch sehr emotionale Präsen- sie gerne bei sich tragen und der eine mit den Effekten. Als Historikerinnen, tation in Form einer Rede und einer wichtige Bedeutung für sie hat, in einen die oft mit Originalen arbeiten, hatten wortlosen Performance. Die Gäste der von uns vorbereiteten Briefumschlag wir unterschätzt, welche Faszination und Gedenkstunde folgten der Präsentation stecken und diesen zum Seminar mit- fast Ehrfurcht die Effekten bei den Be- mit einer unglaublichen Stille und Nach- bringen. Bei der Vorstellungsrunde er- trachter_innen auslösen. In den Arbeits- denklichkeit, einige zutiefst ergriffen. klärten die Teilnehmer_innen, warum gruppen entstanden spannende sachbe- sie sich für dieses Objekt entschieden zogene, aber vor allem sehr emotionale hatten. Es waren überwiegend Fotos, Fragen und Ideen, die intensiv diskutiert Uhren, Freundschafts- oder Verlobungs- wurden. Hierbei war der erhebliche Alters- ringe, Ketten und ein Heiligenbildchen. unterschied in den Arbeitsgruppen ein Sehr überrascht waren die Auszubilden- nicht zu unterschätzender Aspekt. Einig den, als wir ihnen die Effektentüten der waren sich alle, dass besonders die ganz ehemaligen KZ Häftlinge zeigten, sofort persönlichen Effekten, wie Eheringe, Fa- fielen ihnen die Parallelen zu den eige- milienfotos, Uhren mit Gravur oder Ketten nen Briefumschlägen und vor allem zu mit religiösen Symbolen den Wunsch den Gegenständen auf. Motiviert setzten auslösten, diese an die Eigentümer oder die Teilnehmer_innen sich mit den Häft- ihre Angehörigen zurückzugeben. Er- lingsbiografien, aber auch mit der Ge- nüchternd war für die Teilnehmer_innen schichte der Verwaltung der Effekten daher die Erkenntnis, dass besonders auseinander. die Form der Verwaltung der persönli- Höhepunkt des Seminars war für die chen Gegenstände und die nicht erfolgte Auszubildenden, als wir die Effekten mit- bzw. jahrzehntelang verhinderte For- brachten, die wir für die Sonderausstel- schung zu diesem Aspekt die Rücker- 11. April: Generalprobe der Auszubildenden für die lung vom International Tracing Service stattung verhindert hatte. Gedenkstunde • Elke Zacharias (ITS) entliehen hatten. An diesem Tag Die intensive Beschäftigung mit den Gruppenarbeit: Effekten – Beschreibung, Assoziation, nahmen auch fünf ehrenamtliche Vor- Effekten, den Biografien ihrer ehemali- Emotionen • Elke Zacharias „Hier weiß ich sie gut aufgehoben…“ Originale bedeuten Verantwortung

Seitdem es Kontakte zu ehemaligen Probleme. Gerade Originale aus Papier 143 KZ-Häftlingen gibt, aber besonders seit sind inzwischen oft in schlechtem Zu- vor 25 Jahren mit intensiven Zeitzeugen- stand, sie zerfallen oder verblassen. interviews begonnen wurde, hatten ehe- Fachgerechte Restaurierungen sind auf- malige KZ-Häftlinge dem Arbeitskreis wändig und verursachen nicht unerheb- Stadtgeschichte Originale übergeben: liche Kosten. Diese Probleme kennen Briefe und Karten aus dem KZ, Doku- auch andere Gedenkstätten, und so mente, Fotos und andere persönliche Er- konnten wir von den guten Erfahrungen innerungsstücke. Ehemalige Häftlinge der Kollegen der Gedenkstätte Bergen- und deren Angehörige übergeben diese Belsen profitieren, die uns den Kontakt Dinge immer im Vertrauen darauf, dass zum Zentrum für Bucherhaltung in Leip- wir sie bewahren. zig vermittelten. Dort wurden besondere Stefania Bajer, Überlebende des KZ konservatorische Verfahren entwickelt, Salzgitter-Bad, übereignete der Gedenk- die auch die wichtigen Originale in stätte im April eine Lagerpostkarte, die unserem Archiv „retten“ können. siebzig Jahre lang ein Talisman für sie 2015 gaben wir einige besonders ma- war. Oft angeschaut und nicht fachge- rode Briefe, Karten und einen Notizblock recht gelagert, zerfallen in zwei Teile, re- aus dem KZ zur Restaurierung. Aus dem pariert mit Klebefilm, war die Postkarte laufenden Haushalt konnte dies nicht in einem sehr schlechten Zustand. Stefa- komplett finanziert werden, aber im nia Bajer war in den letzten Jahrzehnten Sommer bekamen wir von den Teilneh- oft in Salzgitter zu Besuch, und dass sie mern des „60-jährigen Abiturtreffens zum 70. Jahrestag die Karte mit den des Kranichgymnasiums“ eine Spende Worten „Hier weiß ich sie gut aufgeho- in Höhe von 650,- €, die mit in die Res- ben…“ an die Gedenkstätte übergab, taurierungskosten flossen. So half ein zeugt von großem Vertrauen und Wert- „Erinnerungstreffen“, die unersetzlichen 10. April: Stefania Bajer und Joanna Fryczkowska, Überlebende des KZ Salzgitter-Bad, zu Besuch in der schätzung der Arbeit. Erinnerungsstücke zu bewahren. Die Gedenk- und Dokumentationsstätte KZ Drütte • Kathrin Empacher Wir sind dafür sehr dankbar und uns Idee des Spendens für die Restaurierung der Verantwortung bewusst; dennoch einzelner Originale wird 2016 mit einem Stefania Bajer übergab der Gedenkstätte KZ Drütte am 10. April ihre einzige erhaltene Lagerpostkarte aus dem stellt es uns manchmal auch vor große „Patenschaftsprojekt“ fortgesetzt. KZ Salzgitter-Bad. • Elke Zacharias

Berichte geförderter Gedenkstätten Gedenkstätte Esterwegen

Die Gedenkstätte Esterwegen wird im Rahmen der Schwerpunktförderung der Stiftung niedersächsische Gedenkstät- ten in besonderer Weise gefördert.

Gedenkstätte Esterwegen Hinterm Busch 1 D – 26897 Esterwegen Tel. +49 (0) 5955 – 98 89 50 [email protected] www.gedenkstaette-esterwegen.de

144 Das Veranstaltungsprogramm 2015 in einen gemeinsamen „Tag der Befreiung“ bereits 2011 unter anderem vom Deut- der Gedenkstätte Esterwegen begann gibt, gedachten der Landkreis Emsland schen Historischen Museum erarbeitete mit einem Vortragsnachmittag der und die Stiftung Gedenkstätte Ester- Ausstellung zeigt die Polizei als zentrales Auschwitzüberlebenden Erna de Vries, wegen am 24. April 2015 an „70 Jahre Herrschaftsinstrument der Nationalsozi- die am 25. Januar anlässlich des Ge- Kriegsende im Emsland 1945-2015“. Am alisten. 2012 ergänzte die Polizeiakade- denktags für die Opfer des Nationalsozi- 26. April 1945 war auf dem Gebiet des mie Niedersachsen die Ausstellung um alismus über ihr eigenes Schicksal und heutigen Landkreises Emsland nach letz- regionale Themen. Die Gedenkstätte das ihrer Mutter berichtete. „Du wirst ten Kämpfen der Zweite Weltkrieg vor- Esterwegen erweiterte diese wiederum überleben und erzählen, was man mit bei. Die Strafgefangenenlager im nördli- mit eigenen Inhalten zur Verbindung von uns gemacht hat“, hatte ihr die Mutter chen Emsland waren in den Tagen zuvor Polizei und Emslandlagern. Auf Initiative auf der Lagerstraße in Auschwitz noch bereits geräumt, die Gefangenen auf der Polizei fanden mehrere Führungen zurufen können, bevor sie ermordet wur- Evakuierungsmärsche geschickt und die für Angehörige bzw. Führungskräfte de. Die 92-jährige Erna de Vries sieht es (südlichen) Kriegsgefangenenlager aus dem Bereich der Polizeiinspektion als Vermächtnis der Mutter und ihre schon zwischen Anfang und Mitte April Bentheim/Emsland statt. wichtige Aufgabe an, insbesondere jun- befreit worden. Eine Ausstellung ganz anderer Art war gen Menschen über den Holocaust zu Die Gedenkrede hielt der Vorsitzende „Memorials“ von Hans Dieter Schaal, berichten. Der Veranstaltungsraum war des Stiftungsrates, Prof. Dr. Bernd Faulen- Künstlerarchitekt, Ausstellungs-, Ge- mit mehr als 300 Besuchern überfüllt, bach. Henk Verheyen erlaubte als Zeit- denkstätten- und Landschaftsgestalter, der NDR berichtete im Fernsehen. zeuge einen ergreifenden Blick in die Bühnenbildner und Buchautor aus At- Auch der 90-jährige ehemalige belgi- „innerste Seele eines KL-Häftlings“ und tenweiler. „Ohne Erinnerung kann es sche „Nacht- und Nebel“-Gefangene schloss mit den Worten: „Denn nicht das kein Bewusstsein geben und damit kein Henk Verheyen sprach über sein Schick- Vergessen, aber die Erinnerung macht menschliches Ich“, stellt Schaal seiner sal. Weil es weder für den Gesamtkom- uns wirklich frei!“. Die Reden sind in ei- Ausstellung voran, in der er mit Texten plex aus insgesamt 15 Lagern im Ems- ner Broschüre des Landkreises Emsland ergänzte Fotos und Collagen von Denk- land und der Grafschaft Bentheim, die und im Jahrbuch des Emsländischen malen, Erinnerungsorten und KZ-Ge- von 1933 bis 1945 in wechselnden Zu- Heimatbundes 2016 abgedruckt. denkstätten zeigt. An diesen Orten hat ständigkeiten Konzentrations-, Strafge- Als erste Sonderausstellung 2015 wur- er sich bei seinen Studien und Orts-Be- fangenen- und Kriegsgefangenenlager de vom 1. Februar bis 26. April die Aus- obachtungen in den letzten zehn Jahren waren, noch für das Lager Esterwegen stellung „Ordnung und Vernichtung – mit den Perspektive-Verschiebungen bei als Standort der heutigen Gedenkstätte Polizei im NS-Staat“ präsentiert. Die den Besuchern befasst und sagt: „Jede nachfolgende Generation hat einen an- in Zusammenarbeit mit der Historisch- tierte dabei die Gedenkstätte Ester- 145 deren Blick auf die Geschichts-Ereignis- Ökologischen Bildungsstätte (HÖB) Papen- wegen in einem Vortrag. se“. Die vom 10. Mai bis 26. Juli gezeigte burg ein dreitägiges Seminar zu „Zivil- Ausstellung eröffnete der Architektur- und Militärjustiz im Nationalsozialis- Dr. Andrea Kaltofen historiker Prof. Frank R. Werner, Schöp- mus“ statt. In einem öffentlichen Vor- Geschäftsführerin der Stiftung pingen/Wuppertal. trag referierte PD Dr. Christoph A. Rass, Gedenkstätte Esterwegen Von Oktober bis Dezember waren die Professur für Neueste Geschichte an der Kurt Buck 1933/34 entstandenen großformatigen Universität Osnabrück, über „Zivil- und Leiter des DIZ Emslandlager Kohlegemälde aus dem Bilderzyklus wehrmachtsgerichtlich Verurteilte in den „Die Passion“ des Düsseldorfer Künst- Emslandlagern 1939–1945“. lers Otto Pankok zu sehen. Seine als Unter dem Titel „Archäologie und Ge- Warnung gegen den aufziehenden Nati- dächtnis. NS-Lagerstandorte erfor- onalsozialismus geschaffenen Bilder schen, bewahren und vermitteln“ fand durften ab 1934 nicht mehr gezeigt wer- vom 17. bis 19. September in Branden- den, er selbst war seit 1937 als „entarte- burg eine internationale Tagung zum in- ter Künstler“ gebrandmarkt und fand terdisziplinären Austausch über Zielset- zwischen 1938 und 1941 im emsländi- zungen, Methoden, Perspektiven im schen Bokeloh Zuflucht vor der Gestapo. Umgang mit „authentischen Orten“ 24. April: Hendrik Verheyen, ehemaliger „Nacht und Nebel“-Gefangener aus Wilrijk, Antwerpen (Belgien) in Seit 2014 ist er ein „Gerechter unter den statt. Beteiligt waren die Universität der Gedenkstätte Esterwegen • Elke Wieking, General- Völkern“ der Gedenkstätte Yad Vashem. Wien (Forschungsprojekt „Terror- anzeiger Rhauderfehn Otto Pankok portraitierte in seiner „Pas- space“), die Freie Universität Berlin, die Führungskräfte der Polizeiinspektion Emsland/Graf- schaft Bentheim beim Ausstellungsbesuch. V. r.: Leiten- sion“ Düsseldorfer Sinti und Sintezas, Stiftungen Brandenburgische Gedenk- der Polizeidirektor Karl-Heinz Brüggemann, Lingen, die später in Auschwitz umkommen soll- stätten und Topographie des Terrors Dr. Sebastian Weitkamp, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Esterwegen und Dr. Dirk Götting, ten, aber auch seinen Malerfreund Karl Berlin, das Landesamt für Denkmalpfle- Polizeimuseum Niedersachsen, Nienburg/Weser Schwesig, der 1933/34 im KZ Esterwe- ge Berlin, die Archäologische Gesell- • Polizeiinspektion Emsland/Grafschaft Bentheim gen Häftling war. schaft in Berlin und Brandenburg e.V. Auschwitz, Kamine der Häftlingsbaracken • Hans Dieter Schaal Das Thema Justiz im Nationalsozialis- sowie das Büro für Zeitgeschichte & Erna de Vries, Auschwitzüberlebende in Lathen (Ems- mus war bereits in der Vergangenheit ei- Denkmalpflege, Berlin. Die Geschäfts- land), hier bei der Entgegennahme des Verdienstkreuzes ner der Schwerpunkte der Arbeit gewe- führerin der Stiftung Gedenkstätte Es- am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, am 24. November 2014 • Sven Mechelhoff, sen. 2015 fand vom 27. bis 29. November terwegen, Dr. Andrea Kaltofen, präsen- Ems-Zeitung Papenburg

Berichte geförderter Gedenkstätten „Abgeurteilt!“ – Eine Ausstellung

146 Vom 2. August bis zum 27. September waren ausschließlich Opfer. Einige wa- Landgericht Osnabrück“ wurden im war in der Gedenkstätte Esterwegen die ren zugleich Täter. Aber alle wurden Op- Sommersemester 2015 schwerpunktmä- Ausstellung „Abgeurteilt! Gefangene in fer einer politischen Justiz. Die verhäng- ßig die Emslandlager berücksichtigt, und der Strafanstalt Lingen und den Ems- ten Haftstrafen verbüßten sie in der 15 Studierende nahmen an einer einer landlagern 1935-1945“ zu sehen. Die Re- Strafanstalt Lingen oder den emsländi- Exkursion am 19. Juni teil. cherchen führten Studierende der Uni- schen Strafgefangenenlagern. Nicht alle versität Osnabrück Abteilung Neuste überlebten. Geschichte des Historischen Seminars Die Studierenden lernten bei der Be- im Wintersemester 2013/14 durch, unter schäftigung mit den Biographien nicht Anleitung von Dr. Sebastian Weitkamp, nur wissenschaftliches Arbeiten und Ar- wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ge- chivrecherche, sondern fanden für sich denkstätte Esterwegen. Hierzu wurden selbst einen sehr intensiven Zugang zu Gefangenenpersonenakten aus dem den Lebensschicksalen der Betroffenen Niedersächsischen Landesarchiv ausge- und stellten Bezüge zur Gegenwart und wertet, Biographien verfasst und durch ihren eigenen Lebenswirklichkeit her. Dokumente, Fotos und andere Materiali- Die Ausstellung wurde zunächst in der en ergänzt. Die Ausstellung wurde an- Gedenkstätte Gestapokeller im Schloss schließend in Kooperation der Gedenk- Osnabrück (Sitz der Universität) gezeigt,

stätten Gestapokeller und Esterwegen dann in Esterwegen. Sie ist als Wander- Biographie von Robert Aschkenasi, jüdischer Wehr- und mit finanzieller Unterstützung der ausstellung konzipiert und gebührenfrei machtsangehöriger aus Wien, der als wehrmachtsge- richtlich Verurteilter im Mai 1940 in das Strafgefange- Stiftung niedersächsische Gedenkstät- über die Gedenkstätte Esterwegen ent- nenlager VII Esterwegen kam, 1944 nach Auschwitz verbracht, von dort über das KZ Mauthausen schließlich ten erarbeitet. leihbar. Pädagogisches Zusatzmaterial ins das KZ Dachau verschleppt und dort am 29. April Vorgestellt wird eine Bandbreite von für Schulen und Bildungsträger steht 1945 befreit wurde. • Stiftung Gedenkstätte Esterwegen zwölf Einzelschicksalen: Menschen, die ebenfalls zur Verfügung. Bei der Ausstellungseröffnung stellten zwei aus dem Emsland stammende Studierende der Universität aus unterschiedlichen Gründen und un- Generell konnte die Kooperation mit Osnabrück, Vera Wollschläger aus Sustrum und Maria ter verschiedenen Tatvorwürfen in die der Universität Osnabrück vertieft wer- Bögemann aus Dersum, die von ihnen erarbeiteten Biografien vor. V.l.: Martin Gerenkamp, 1. Kreisrat des Mühlen der NS-Justiz gerieten. So wer- den. Im Rahmen einer Lehrveranstal- Landkreises Emsland, Dr. Andrea Kaltofen, Geschäfts- führerin der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, Vera den individuelle Schicksale sichtbar, die tung von Dr. Sebastian Weitkamp zum Wollschläger und Maria Bögemann, Dr. Sebastian hinter der Rechtsprechung der NS-Ge- Thema „Nationalsozialismus vor Gericht. Weitkamp, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenk- stätte Esterwegen. • Marion Lammers, Ems-Zeitung richte standen. Nicht alle Verurteilten Täter und Taten aus der Region vor dem Papenburg Besuch von Zeitzeuginnen aus Polen

Zum 70. Jahrestag ihrer Befreiung aus nieder. Viele von ihnen waren nach der Am Nachmittag schloss sich der Be- 147 deutscher Kriegsgefangenschaft be- Befreiung im April 1945 für einige Zeit in such des katholischen Friedhofs Meppen suchten mehrere polnische ehemalige den Baracken dieses Lagers unterge- an, auf dem 16 Angehörige der 1. Polni- Soldatinnen der Heimatarmee Armia bracht. Sie gedachten aber auch der schen Panzerdivision bestattet sind. An- Krajowa vom 11. bis 13. April 2015 das mehr als 1600 polnischen Zivilisten, die schließend setzten die Besucherinnen Emsland. Das Besuchsprogramm starte- die Justiz ab 1940 hier inhaftiert hatte. ihr Programm mit einer Fahrt in die nie- te in der Gedenkstätte Esterwegen, wo Sie galten als „Kriegstäter“, deren Haft- derländische Stadt Breda zum dortigen sie nicht nur die Ausstellungen besich- zeit während des Krieges nicht auf die „General Maczek Museum“ und dem tigten, sondern auch den Film von Paul im Gerichtsurteil zuerkannte Strafvoll- Kriegsgräberfriedhof fort, auf dem der Meyer, „Konspirantinnen – Polnische zugszeit angerechnet wurde. General 1994 bestattet wurde. Frauen im Widerstand 1939-1945“, ansa- Anschließend statteten die ehemali- hen. An der Gedenkwand auf dem ehe- gen Soldatinnen der Stadt Haren/Ems maligen Gelände des Konzentrations- einen Besuch ab, die zwischen Mai 1945 und Strafgefangenenlagers Esterwegen und September 1948 eine nach General legten sie Kränze nieder. Maczek benannte polnische Stadt na- Anschließend besuchten sie das ehe- mens „Maczków“ war. Viele der damals malige Emslandlager VI Oberlangen, in jungen Frauen hatten dort die Schule dem 1726 von ihnen am 12. April 1945 besucht, ihr Abitur gemacht oder gehei- 12. April: Ehemalige polnische Soldatinnen der Armia von der unter Britisch/Kanadischem Ober- ratet. Im „Emslanddom“ St. Martinus Krajowa bei der Kranzniederlegung am 70. Jahrestag kommando kämpfenden 1. Polnischen feierten sie eine Messe in polnischer ihrer Befreiung aus der Kriegsgefangenschaft am ehemaligen Emslandlager VI Oberlangen. V.r.: Eugenia Panzerdivision des Generals Stanislaw Sprache. Beim Empfang im Rathaus der Maria Cegielska, Maria Sapińska, Marzenna Schejbal (London) und Hanna Strzelecka-Kociniak • Samtgemeinde Maczek befreit worden waren. Am Ge- Stadt Haren verlieh Maria Cegielska, Vor- Lathen denkstein legten sie Kränze nieder und sitzende der Gruppe „Oberlangen“, Kurt „Im ehemaligen deutschen Kriegsgefangenenlager besichtigten den 2014 eingeweihten Ge- Buck, Mitarbeiter der Gedenkstätte Ester- Oberlangen wurden neun Babys geboren. Drei der Mütter zeigen sich mit ihren Kindern.“ Übersetzung aus denkpavillon, bevor im Heimathaus wegen und langjähriger vertrauter An- dem Englischen, Aufnahme vom 7. Mai 1945; Fotograf: Oberlangen in einer Gedenkfeier an die sprechpartner der polnischen „Oberlan- Alexander M. Stirton • National Archives of Canada, PA 1559556 Ereignisse vor 70 Jahren erinnert wurde. gener Frauen“, die Auszeichnung „Pro 13. April 2015: Maria Cegielska, die Vorsitzende der Am 13. April fuhren die Zeitzeuginnen Memoria“ des Rates zur Erinnerung an Gruppe „Oberlangen“, zeichnet im Rathaus Haren/Ems zum ehemaligen Emslandlager V Neu- Historische Schlachtfelder, Denkmäler Kurt Buck, Mitarbeiter der Gedenkstätte, mit dem Orden „Pro Memoria“ aus. • UdSKiOR, Dorota Galaszewska- sustrum und legten auch dort Kränze und Martyrien (UdSKiOR). Chilczuk

Berichte geförderter Gedenkstätten Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

Die Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau wird im Rahmen der Schwer- punktförderung der Stiftung niedersäch- sische Gedenkstätten in besonderer Weise gefördert.

Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. Königsberger Straße 15 D – 31618 Liebenau Tel. +49 (0) 5023 – 1575 [email protected] www.martinguse.de/pulverfabrik Jugend-AG im Internet: www.japl.de

148 Nachdem auf die Nutzung des histori- lungsarbeit nahmen 830 Personen an ne „Dokumentationsstelle Pulverfabrik schen Gebäudes 114 der ehemaligen zwanzig Führungen auf dem ehemaligen Liebenau“, „Haus der Generationen Stol- Pulverfabrik Liebenau als Dokumenta- Werksgelände der Pulverfabrik teil. 1127 zenau“ und „Arbeitsgemeinschaft Alte tions- und Bildungsstätte verzichtet wer- weitere Personen besuchten die Infor- Synagoge Petershagen“ ihre seit gerau- den musste, gelang 2015 die Neu- und mationsveranstaltungen, Lesungen, mer Zeit bestehende Zusammenarbeit in Umorientierung. Aufgrund des demo- Vorträge und Ausstellungen der Doku- der Bildungs- und Vermittlungsarbeit. grafischen Wandels beschloss der Land- mentationsstelle. Unter Mitarbeit der Vom 24. April bis zum 11. Mai 2015 kreis Nienburg/Weser, die Liebenauer Dokumentationsstelle entstand im empfing die Dokumentationsstelle Gäste Hauptschule schrittweise aufzugeben. Museum Nienburg/Weser außerdem die der Partnerorganisationen aus Polen, Großräumige Teile des Schulstandortes, vom Mai bis Oktober 2015 präsentierte Belarus und der Ukraine zu einem Work- am ehemaligen Standort des „Arbeitser- Ausstellung „In Gefangenschaft… – shop anlässlich des 70. Jahrestages der ziehungslagers“ Liebenau (1940 bis 1943) Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter Befreiung. In der deutsch-belarussi- gelegen, werden den Gedenk- und Lern- am Ende des Zweiten Weltkriegs“. Die schen Begegnungswoche vom 26. Sep- ort künftig beherbergen. Der Verein ent- Zusammenarbeit mit den regionalen tember bis 2. Oktober 2015 standen the- wickelte ein räumlich-inhaltliches Grund- Schulen blieb ein Schwerpunkt der Akti- aterpädagogische Fragestellungen im konzept, das Ausstellungsräume, Mitar- vitäten. Eine Arbeitsgruppe setzte das Mittelpunkt. Auf Einladung der „Stiftung beiterbüros, Archiv, Bibliothek, PC- und Modellbauprojekt für eine Baracke des Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ nahm Gruppenarbeitsräume berücksichtigt. „Ostarbeiterlagers Steyerberg“ fort. Im eine Delegation der Dokumentations- Unterschiedlich große Schlafräume bie- Frühjahr 2015 etablierte sich die Arbeits- stelle im Oktober 2015 zum dritten Mal ten Übernachtungsmöglichkeiten für gruppe der Hauptschule Liebenau, die in Folge an der Internationalen Jugend- Schüler- und Gästegruppen aus dem In- sich unter anderem dem Themenschwer- begegnung „The Sobibor Project. Tragic und Ausland. Die großflächige Aula dient punkt „Arbeitserziehungslager“ widmen History-Shared Memory“ teil. der Dokumentationsstelle als Ort für wird. Mit dem Zentrum für schulprakti- Am 15. Oktober 2015 eröffnete die Wechselausstellungen, Präsentationen sche Lehrerausbildung in Minden (NRW) Stadt Schostka (Gebiet Sumy) die erste und größere Veranstaltungen. Ein Emp- startete am 25. Juni 2015 die langfristig ukrainische Bildungs- und Gedenkstätte, fangsbereich mit Garderobe, Cafeteria, verabredete Kooperation zu jährlichen die gezielt an das Schicksal der NS-Zwangs- kleiner Mensa und Aufenthaltsmöglich- Fortbildungsangeboten für Lehrer_innen arbeiter_innen erinnert. Sie entstand in keiten in Innen- und Außenbereich er- und Lehramtsanwärter_innen. internationaler Kooperation zwischen gänzen die baulichen Planungen. Mit ihrer Kooperationsvereinbarung der Dokumentationsstelle Pulverfabrik Im Rahmen der Bildungs- und Vermitt- vom 21. Juli 2015 besiegelten die Verei- Liebenau, der Internationalen Stiftung „Verständigung und Toleranz“ in Kiew, ‚Verständigung‘ aus Minsk (Belarus) bei 149 dem Institut für Geschichte an der Natio- der Dokumentationsstelle Pulverfabrik nalen Akademie der Wissenschaften der Liebenau. Ukraine in Kiew sowie der Stadt Schost- ka. Um die Nachhaltigkeit der neuen Martin Guse Institution zu sichern, entstanden erste Leiter der Dokumentationsstelle Ideen für die Entwicklung gemeinsamer Pulverfabrik Liebenau e.V. Bildungsmaterialien. Mit Gästen aus fünf Nationen plant die Dokumentationsstelle für das Jahr 2016 eine internationale Jugendbegegnung, in deren Zentrum neben den Lebens- wegen ehemaliger Zwangsarbeiter_in- nen die aktuellen Fragen von Frieden, Freiheitsbegriff sowie Menschen- und 7. Mai: Teilbereich der im Museum Nienburg eröffneten Bürgerrechten stehen werden. Neben Ausstellung „1945 – Kriegsende im Landkreis Nienburg/ ergänzenden Archivrecherchen im In- Weser“, die unter Mitarbeit der Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau entstand. • Dokumentationsstelle und Ausland wird es mehrtägige Arbeits- Pulverfabrik Liebenau e.V. treffen in Belarus (Internationale gesell- 17. April: Start eines neuen Jahresprojektes mit der schaftliche Vereinigung „Verständigung“, Hauptschule Liebenau beim „Friedensplatz“ auf dem Schulhof – dem Standort des ehemaligen „Arbeits­ Minsk) und der Ukraine (Gedenkstätte erziehungslagers“ Liebenau. • Dokumentationsstelle Schostka sowie Nationale Universität Pulverfabrik Liebenau e.V. Nikolaus V. Sukhomlynsky, Mykolaew) 29. September: Besuch der „Alten Synagoge Petershagen“ mit den belarussischen Gästen des Theaterprojektes. geben: Ergänzende historische Quellen • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. sollen erschlossen und ausgetauscht, 25. Juni: Arbeitsunterlagen bei der Fortbildung für zwölf gemeinsame (Jugend-)Bildungsprojekte Lehramtsanwärter_innen des Zentrums für schulprakti- sche Lehrerausbildung Minden • Dokumentationsstelle initiiert werden. Vom 15. Januar bis Pulverfabrik Liebenau e.V. zum 14. Juli 2016 hospitiert Frau Polina 7. August: Maryia Lupeka informiert Studentinnen der Anoshko, Volontärin der Internationalen Mascherow-Universität Witebsk (Belarus) über die Arbeits- schwerpunkte der Jugend-AG. • Dokumentationsstelle gesellschaftlichen Vereinigung Pulverfabrik Liebenau e.V.

Berichte geförderter Gedenkstätten Internationaler Jugendworkshop zum 70. Jahrestag der Befreiung

150 Vom 24. April bis zum 11. Mai führte Annäherung an den Lebens- und Leidens- Absicht, sich mit dem stalinistischen die Dokumentationsstelle den Workshop weg des 89-jährigen Gastes. Repressions- und Verfolgungsapparat „Befreiung – 70 Jahre nach Ende des Dieser eröffnete mit einem Redebei- intensiver auseinandersetzen zu wollen. Zweiten Weltkrieges in Europa“ durch. trag am 7. Mai im Museum Nienburg/ Die Ergebnisse ihrer Nachbereitung wol- Neben jungen Volontär_innen unserer Weser die mit Unterstützung der Doku- len sie bis Ende Mai 2016 dokumentieren, Partnerorganisationen aus Belarus (In- mentationsstelle entstandene Ausstel- wenn Karl Payuk die Dokumentations- ternationale gesellschaftliche Vereini- lung „In Gefangenschaft… - Kriegsge- stelle erneut besucht. gung „Verständigung“), und Polen fangene und Zwangsarbeiter am Ende („Stiftung polnisch-deutsche Aussöh- des Zweiten Weltkriegs“. Die dortigen nung“) nahmen ukrainische Studentin- Präsentationen boten ebenso ergänzen- nen und Schüler_innen der Hauptschule de Hintergrundinformationen zu Aspek- Liebenau, der Förderschule Borstel und ten regionaler NS-Verfolgung, wie die des Gymnasiums Stolzenau teil. Ehren- sich anschließende Spurensuche der gast war Kark Payuk aus der Ukraine, Teilnehmer_innen zur Auslöschung jüdi- ehemaliger Häftling des „Arbeitserzie- schen Lebens und jüdischer Kultur in hungslagers“ Liebenau und der Konzen- den benachbarten Gemeinden Stolzenau trationslager Neuengamme, Drütte und und Petershagen (NRW). Der in Koopera- Bergen-Belsen. tion mit dem Haus der Generationen Die Teilnehmer_innen absolvierten ein Stolzenau e.V und der Arbeitsgemein- umfangreiches Arbeits- und Begegnungs- schaft Alte Synagoge Petershagen e.V. programm, in dessen Verlauf sie an den verwirklichte Workshop bot den osteuro- entsprechenden Feierlichkeiten und Be- päischen Gästen die Möglichkeit, ihre je- gegnungswochen der Gedenkstätten weiligen zivilgesellschaftlichen Projekte Bergen-Belsen und Neuengamme mit- zur Erinnerung an die nationalsozialisti- wirken und die dortigen Informationsan- schen Gewaltverbrechen vorzustellen.

gebote nutzen konnten. Eine ganztägige Die Berichte des Zeitzeugen Karl Payuk, 26. April: Erste Annäherung an die persönlichen Unter- Spurensuche auf dem Gelände der ehe- lagen und Fotografien des ehemaligen Zwangs­arbeiters der als Kind den Tod des Vaters im sow- und KZ-Häftlings Karl Payuk aus der Ukraine. • Dokumen- maligen Pulverfabrik Liebenau und zwei jetischen Gulag zu beklagen hatte, eröff- tationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

gesonderte Zeitzeugengespräche mit neten den jungen Mitwirkenden neue 28. April: Der Zeitzeuge Karl Payuk berichtet bei der Er- Karl Payuk ermöglichten eine intensive kundung der Pulverfabrik Liebenau. • Dokumentations- Fragen. So formulierten manche die stelle Pulverfabrik Liebenau e.V. Theaterworkshop 2015

Vom 26. September bis 2. Oktober 2015 nau) präsentierten die Gäste das von Klischees in der Darstellung des nicht 151 gastierte das fünfzehnköpfige Theater- Regisseurin Anna Sulima erdachte und Darstellbaren aufzubrechen und den Zu- ensemble „TeatralnY Kvadrat“ aus Minsk durch neue Einflüsse und Quellen stetig schauenden assoziative Gedankenbrü- (Belarus) erstmals in Liebenau, um die veränderbare Stück „No title“. Es ent- cken zu bauen. Dokumentationsstelle in einem mehrstu- stand in der Intention, die Erinnerung Die kommenden Kooperationsstufen figen Projekt bei der Entwicklung eines an die Holocaust-Opfer aus Belarus mit des Liebenauer Theaterprojektes ver- Theaterstückes zur Geschichte der NS- künstlerischen Mitteln zu aktivieren und sprechen höchst interessant zu Zwangsarbeit in der Pulverfabrik zu un- wachzuhalten. Deren Geschichte, ihre verlaufen… terstützen. Zunächst informierte sich die untergegangene Kultur, ihre Verfolgung Gruppe um Theaterregisseurin und -pä- und Ermordung blieb bis heute ein weit- dagogin Anna Sulima über die inhaltlichen gehend unbekanntes und schwer zu ver- Hintergründe. Sie erkundete die baulichen mittelndes Kapitel in Belarus. Letztlich Relikte der Pulverfabrik, die ehemaligen überzeugten „TeatralnY Kvadrat“ und Standorte von Stein- und Barackenla- Anna Sulima in Minden und Liebenau gern und studierte historische Doku- mit ihrem überaus beeindruckenden mente unterschiedlichster Herkunft. Vor Requiem vollends: Sie erzählten die allem aber spürte die Gruppe persönli- Geschichte einer Überlebenden der NS- chen Lebenswegen nach, suchte in den Verfolgung (Anna Sulima), die die Bühne Fotografien und Aussagen ehemaliger betrat und sich selbst als jungem Mäd- Zwangsarbeiter_innen und deutscher Zeit- chen (Marina Kovaliowa) ‚wiederbegeg- zeug_innen nach ersten Anregungen zur nete‘. In eindrucksvollen Spielsequenzen visuellen und inhaltlichen Umsetzung in zog das Ensemble das Publikum in die Kulisse und Dramaturgie. Am Ende die- Erinnerungen und Träume der Protago- ses Basisworkshops entwarfen die En- nistin hinein. Auf der Bühne entstanden 1. Oktober: „TeatralnY Kvadrat“: Gruppenfoto nach semblemitglieder erste Skizzen und Metaphern und Bilder – vor allem durch abgeschlossener Arbeit • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. Papiermodelle zu Bühnenbildern und Gesten und Körpersprache, bei einer be- Ausstattungsfragen. 27. September: „TeatralnY Kvadrat“ im Kleinen wusst karg gehaltenen Nutzung von Re- Theater am Weingarten Minden: Impression 1. Am 27. September (Kleines Theater quisiten und Objekten. Collageartig ver- • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. am Weingarten in Minden, NRW) und wendete und sparsam instrumentierte 30. September: Impression vom zweiten Auftritt: am 30. September (Hauptschule Liebe- „TeatralnY Kvadrat“ in der Hauptschule Liebenau Musikmodule halfen, Schablonen und • Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

Berichte geförderter Gedenkstätten KZ-Gedenkstätte Moringen

Die KZ-Gedenkstätte Moringen wird im Rahmen der Schwerpunktförderung der Stiftung niedersächsische Gedenk­ stätten in besonderer Weise gefördert.

KZ-Gedenkstätte Moringen Lange Straße 58 D – 37186 Moringen Postanschrift: Postfach 1131 D – 37182 Moringen Tel.: +49 (0) 5554 – 2520 / 8807 / 2504 [email protected] www.gedenkstaette-moringen.de www.erinnernsuedniedersachsen.de/ www.facebook.com/moringenmemorial

152 Das Jahr 2015 begann mit einem für rung“ wurde 2015 zwölf Mal aufgeführt Gedenkstätte gelauncht. In moderner die Gedenkstätte bedeutenden Ereignis: und erreichte über tausend Besucher_ grafischer Gestaltung informiert die Am 27. Januar unterzeichneten der Erste innen. Seite über die Geschichte der Moringer Kreisrat des Landkreises Northeim, Dr. Am 8. Mai hatte in München das Theater- Konzentrationslager und über die Arbeit Hartmut Heuer, und der Geschäftsführer stück „It don‘t mean a thing“ Premiere. der Gedenkstätte. Im Sinne eines Corpo- der Stiftung niedersächsische Gedenk- Es wurde von dem Münchner Jugend- rate Designs werden künftig die Publika- stätten, Dr. Jens-Christian Wagner, so- theater „compagnie nik“ in Zusammen- tionen und Werbeträger der Gedenkstätte wie der Vorstand der Lagergemeinschaft arbeit mit der KZ-Gedenkstätte Moringen der Formensprache der neuen Website und Gedenkstätte KZ Moringen e.V. die sowie Schüler_innen der KGS Moringen folgen. Den Anfang machte das neue vertragliche Vereinbarung über eine ins- entwickelt. Den historischen Hinter- Halbjahresprogramm. titutionelle Förderung der KZ-Gedenk- grund des Stücks bildet die Verfolgung Höhepunkt des Jahres 2015 waren die stätte Moringen. Damit wurde die lang- der Swing-Jugend in der NS-Zeit, also Gedenkveranstaltungen zum 70. Jahres- jährige Projektfinanzierung des Träger- Jugendlicher, die für ihre musikalische tag der Befreiung des Jugend-KZ im Ap- vereins der Gedenkstätte auf eine ver- Leidenschaft Repression und Verfolgung ril. Nach einer Kranzniederlegung am lässlichere Basis gestellt; die Gedenk- erfuhren. Die Moringer Premiere des Gräberfeld der im Moringer Jugend-KZ stätte erhält langfristige Planungssicher- Stücks fand am 16. Juni statt. zu Tode gekommenen Jugendlichen heit und ist somit für die geplante Erwei- Neben den pädagogischen Angeboten fand in Anwesenheit ehemaliger Häftlin- terung und Neukonzeptionierung gut fanden 19 Veranstaltungen sowie zehn ge eine öffentliche Gedenkveranstaltung aufgestellt. öffentliche Führungen statt, darunter (in statt. In ihrer Ansprache betonte die Nie- 2015 besuchten über 100 Gruppen die Kooperation mit dem Stadtarchiv Hann. dersächsische Kultusministerin Frauke Gedenkstätte und nutzten die unter- Münden und drei Geschichtsvereinen Heiligenstadt, aufgrund seiner besonde- schiedlichen thematischen Angebote der Stadt) die 7. Netzwerkkonferenz ren Geschichte sei Moringen ein Erinne- von zwei- und dreistündigen Führungen. „Topografie der Erinnerung. Gedenken rungsort mit exemplarischem Charakter Insgesamt wurden 28 Projekttage durch- und Erinnern in Südniedersachsen“. und von nationalem Rang. Im Mittelpunkt geführt sowie ein weiterer Projekttag für 2015 gab es in Südniedersachsen 75 der Feier stand eine szenische Lesung hessische FSJ-ler und fünf Veranstaltun- erinnerungskulturelle Veranstaltungen, autobiographischer Texte zur Befreiung gen für Auszubildende der Krankenpfle- die über den Newsletter des Netzwerkes des Jugend-KZs Moringen mit Schüle- geschule des Maßregelvollzugszentrum sowie das Portal www.erinnernsued- rinnen der 12. Jahrgangsstufe der KGS Niedersachsen (MRVZN) durchgeführt. niedersachsen.de beworben wurden. Moringen. Den musikalischen Rahmen Das Klassenzimmerstück „Die Besse- Im Juni wurde die neue Website der bildeten das Bläserensemble und die Bigband der KGS Moringen. In einem Der Leiter der Gedenkstätte ist Mit- 153 Begleitprogramm wurde u.a. in der Neu- glied im Sprecherrat der Interessenge- en Schauburg in Northeim die Zeitzeu- meinschaft niedersächsischer Gedenk- gendokumentation „Von Idar-Oberstein stätten und Initiativen zur Erinnerung an ins KZ Moringen. Helmut Becker – Eine die NS-Verbrechen. In dieser Funktion Kindheit und Jugend in der NS-Zeit“ ge- nimmt er auch einen Sitz im Beirat der zeigt. Den Abschluss der Feierlichkeiten Stiftung niedersächsische Gedenkstätten bildete am 8. Mai eine Aufführung des wahr. Darüber hinaus sind Leitung und Theaterstücks „Die Besserung“ mit mu- Assistenz der Gedenkstätte Mitglied des sikalischer Begleitung in der Göttinger Lokalen Aktionsplans (LAP) des Bundes- Johanniskirche. programms „Demokratie leben! – Aktiv Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit gegen Rechtsextremismus, Gewalt und lag auch 2015 im Bereich der Recherche. Menschenfeindlichkeit“ im Landkreis Im Rahmen eines von der Stiftung nie- Northeim. dersächsische Gedenkstätten geförder- Für 2016 plant die Gedenkstätte die ten Projektes recherchierte Julia Braun Neugestaltung des Eingangs in der ehe- in mehreren bundesdeutschen Archiven maligen Kommandantur des Lagers – Am 23. April besuchten Mitglieder der niedersächsi- zum Jugend-KZ Moringen, etwa im Bun- ein wichtiger Schritt der Erweiterung schen Landtagsfraktion Die Grünen die KZ-Gedenkstätte Moringen. Sie informierten sich über die Geschichte des desarchiv (BA) Berlin, HStA Hannover, und Modernisierung des Lernortes historischen Ortes und die Arbeit der Gedenkstätte. Im StA Chemnitz und StA Hamburg. Moringen. Anschluss daran fand ein Austausch zu erinnerungspoli- tischen Themen statt. • Mattis Binner Neben dem turnusmäßigen Wechsel Gedenktreffen zum 70. Jahrestag der Befreiung. Schüle- auf der FSJ-Politik-Stelle im September Dr. Dietmar Sedlaczek rinnen der KGS Moringen berichten am Gräberfeld des kam es auch zu einem Wechsel bei den Leiter der KZ-Gedenkstätte Moringen Jugend-KZ Moringen den ehemaligen Häftlingen, von ihren Erfahrungen und Erlebnissen mit der Erinnerungs- freigestellten Lehrkräften. Auf Werner arbeit und wie sich die Beschäftigung mit dem Thema auf sie ausgewirkt hat. Musikalisch begleitet wurde die Prang, der 15 Jahre in der Gedenkstätte Feierlichkeit am Gräberfeld von Bläserensemble der KGS tätig war, folgte Cornelia Schmidthals Moringen. • Julia Braun von der KGS Göttingen, die bereits über Das Kinder- und Jugend-Theater „compagnie nik“ aus München erarbeitete in Kooperation mit der KZ-Gedenk- zahlreiche Erfahrungen in der Gedenk- stätte Moringen und Schülern der KGS Moringen das stättenarbeit und im deutsch-polnischen Theaterstück „It don´t mean a thing“. Den historischen Hintergrund für das Stück bildet die Verfolgung der Swing- Jugendaustausch verfügt. Jugend in der NS-Zeit. • Arne Droldner

Berichte geförderter Gedenkstätten Premiere einer Zeitzeugendokumentation Ein Kooperationsprojekt des Adolf-Bender-Zentrums und der KZ-Gedenkstätte Moringen

154 Die Dokumentation „Von Idar-Ober- arbeiten, sagte er voller Stolz zu. Sein kriminalisiert wurden und welche extre- stein ins KZ-Moringen. Helmut Becker – Lehrbetrieb wertete dies jedoch als un- men Folgen das haben konnte. Darüber Kindheit und Jugend in der NS-Zeit“ erlaubtes Entfernen vom Arbeitsplatz; hinaus wird am Beispiel des Jugend-KZ hatte die Filmemacherin Susanne Haake Helmut Becker wurde zur Fahndung aus- Moringen deutlich, mit welch brutalen auf Initiative des Adolf-Bender-Zentrums geschrieben und von der Gestapo ver- Methoden der NS-Staat nonkonformes in St. Wedel und in Kooperation mit der haftet. Im Gefängnis eröffnete man ihm, Verhalten Jugendlicher sanktionierte. KZ-Gedenkstätte Moringen realisiert. Im dass er von nun an als „Volksschädling“ Rahmen der Veranstaltungsreihe „Gegen gelte und dementsprechend als „Asozia- das Vergessen – Zur Erinnerung an die ler“ behandelt werde. Er kam zunächst Opfer des Nationalsozialismus“ fand am ins KZ Sachsenhausen und von dort ins 26. Januar im Kino Lumière in Göttingen Jugend-KZ Moringen. Die katastropha- die Uraufführung statt. Tags darauf, am len Zustände im Lager und der Hunger Internationalen Holocaust-Gedenktag, sind ihm noch ebenso lebhaft in Erinne- folgte eine Schulaufführung in der Ko- rung wie die Zwangsarbeitskommandos, operativen Gesamtschule Moringen, der zu denen er eingeteilt wurde. Aber auch sich eine öffentliche Vorführung in der von der Zeit nach der Haft berichtet er: „Neuen Schauburg“ in Northeim an- Helmut Becker wurde in ein Strafbataillon schloss. Schätzungsweise 400 Gäste be- an der Westfront entlassen. Dort wurde suchten die drei Aufführungen und nutz- er verwundet und geriet in Kriegsgefan- ten die anschließenden Begegnungen, genschaft. 1946 kam er zunächst wieder um mit dem Zeitzeugen Helmut Becker nach Deutschland, emigrierte dann in Am 27. Januar 2015 wurde die Dokumentation über Helmut Becker vor ungefähr 300 Schülern der KGS über seine Erlebnisse zu sprechen und die USA und kehrte erst 1971 nach Moringen aufgeführt. Anschließend sprachen die mit den Produzenten und Initiatoren des Deutschland zurück. Schüler mit Helmut Becker über seine Erfahrungen und den Film. Von Links: Willi Portz (Geschäftsführer des Films zu diskutieren. Die Verfolgungsgeschichte des be- Adolf-Bender-Zentrums), Helmut Becker (Protagonist der Dokumentation), Arne Droldner (KZ-Gedenkstätte Der 1926 in Idar-Oberstein geborene geisterten Hitlerjungen Helmut Becker, Moringen) • Schwekendiek/HNA Helmut Becker war ein begeisterter der aufgrund eines geringen Vergehens Helmut Becker bei den Dreharbeiten zum Dokumentar- Sportler und überzeugtes Mitglied der zum „Volksschädling“ erklärt wurde, ist film auf der Rampe des ehemaligen Bahnhofs in Morin- gen. Er berichtet gerade von seinem Weg und seiner Hitlerjugend. Als ihm im Januar 1943 besonders geeignet, um zu veranschau- Ankunft im Jugend-KZ Moringen. Hinter der Kamera nach einer gewonnenen Skimeister- lichen, wie auch geringfügige Verfehlun- sind Filmemacherin Susanne Haake und der Initiator des Films und Geschäftsführer des Adolf-Bender-Zentrums schaft angeboten wurde, als Trainer zu gen als systemunangepasstes Verhalten Willi Portz. • Julia Braun „Die Besserung 2.0“ auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart

Schüler_innen entwickeln Theater- serung“ wurden die Jugendlichen selbst das Stück „Die Besserung 2.0“ vor der 155 stück zum Jugend-KZ weiter und wer- zu Schauspielern. Stefan Dehler und Schulöffentlichkeit, Eltern wie gelade- den selbst zu Schauspielern. Christoph Huber von „stille hunde theater- nen Gästen uraufgeführt. Mit Energie Auf dem Kirchentag 2015 in Stuttgart produktionen“ führten sie mit Theater- und Ausdauer, Kreativität und Leiden- führten Schüler_innen der Aueschule in übungen an ihre neue Aufgabe heran. schaft meisterten die Jugendlichen ihre Wendeburg „Die Besserung 2.0“ auf – Zurück in der Schule vertieften die Ju- Aufgabe. Neben der Erfahrung, gemein- Höhepunkt eines anspruchsvollen Ko- gendlichen mit zahlreichen von der Ge- sam mit professionellen Schauspielern operationsprojektes ihrer Schule mit denkstätte bereitgestellten Materialien auf der Bühne gestanden zu haben, lob- der KZ-Gedenkstätte Moringen und mit ihr Wissen über die Verfolgung von un- ten die Schüler_innen das im Rahmen „stille hunde theaterproduktionen“. angepasst lebenden Jugendlichen in der des Projektes gewonnene Selbstbewusst- „Die Besserung“ ist ein Klassenzim- NS-Zeit. Mit dem Film „Swing Kids“ er- sein und den erworbenen differenzier- merstück zum Jugend-KZ Moringen. lebten sie einen facettenreichen Einblick ten Blick auf das Leben ihrer Altersge- Ein Schuljahr hindurch beschäftigten in die Welt von Jugendlichen, deren nossen in der NS-Diktatur. sich 13 Schüler_innen einer 8. Klasse Leidenschaft dem Orchester-Jazz der der Oberschule im Rahmen eines Wahl- 1930er und 1940er Jahre galt. Mit Hilfe pflichtkurses Religion mit dem Thema eines Comics, den ein Jugendlicher in Jugend im Nationalsozialismus. Am Be- einer Comic-Werkstatt der Gedenkstätte ginn stand eine Auseinandersetzung mit gezeichnet hatte, lernten sie einen der Werten und Normen, mit Regeln, Geset- jugendlichen Swing-Anhänger kennen. zen, Geboten und mit Freiheit. Im ge- Die Bildergeschichte zeigt dessen Ver- schichtlichen Teil des Projektes lernten haftung, den Weg ins Jugend-KZ und die Jugendlichen an einem Wochenende den von Zwangsarbeit, Brutalität und in der KZ-Gedenkstätte Moringen den Entbehrung geprägten Alltag im Lager. historischen Ort kennen, setzten sich mit Mit dem im Projekt erworbenen Wissen Die „Die Besserung 2.0“ an der Aueschule in Wende- der Geschichte des Jugend-KZ ausein- begannen die Schüler_innen im Rahmen burg. Das mit Schülern der Aueschule weiterentwickelte ander und erfuhren etwas über Ausgren- einer weiteren Projektwoche eigenstän- Theaterstück „Die Besserung“ der stille hunde theater- produktion bei der letzten Generalprobe vor dem Kirchen- zung und Verfolgung Jugendlicher, die dig Texte zu entwickeln, um die das The- tag in Stuttgart. • Arne Droldner nicht dem nationalsozialistischen Jugend- aterstück „Die Besserung“ ergänzt wur- Der Wahlpflichtkurs Religion der Aueschule kurz vor der ideal entsprachen. de. Nach dem letzten Feinschliff durch großen Aufführung in der Pauluskirche beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart. • Peiner Allgemeine Nach einer Aufführung von „Die Bes- die professionellen Theaterleute wurde Zeitung

Berichte geförderter Gedenkstätten Dokumentations- und Gedenkstätte Lager Sandbostel

Die Gedenkstätte Lager Sandbostel wird im Rahmen der Schwerpunktförderung der Stiftung niedersächsische Gedenk- stätten in besonderer Weise gefördert.

Dokumentations- und Gedenkstätte Lager Sandbostel Greftstraße 3 D – 27446 Sandbostel Tel.: +49 (0) 4764 – 22 54 810 [email protected]­ www.stiftung-lager-sandbostel.de

156 2015 bestand ein unverändert großes sche Gedenkstätten finanziert. Besucher_innen reagieren durchweg Interesse an der pädagogischen Arbeit Die Archivalien wurden 2015 neu auf- positiv auf das Angebot, die Ausstellung der Gedenkstätte. Diese wird immer gestellt und geordnet; sie werden jetzt in zur Vertiefung „mit nach Hause nehmen stärker von Einzelbesucher_innen, Grup- einer Datenbank erfasst. Die ersten Find- zu können“. pen und Institutionen als anerkannter bücher lagen bereits zum Jahresende Aufgrund großzügiger Förderungen Bildungsort wahrgenommen. Aufgrund vor, so dass nun in den schon verzeich- durch die Stiftung niedersächsische Ge- des Auslaufens einer Vollzeitstelle für neten Beständen recherchiert werden denkstätten, die Beauftragte der Bundes- die Betreuung von Schulklassen muss- kann (siehe hierzu auch den Projekt- regierung für Kultur und Medien, die ten im vergangenen Jahr allerdings etwa bericht). Stiftung der Sparkasse Rotenburg- 25 Gruppen Absagen erhalten. Dadurch Seit der Eröffnung der Gedenkstätte Bremervörde, den Landschaftsverband reduzierte sich die Besuchszahl im Ver- und der neuen Ausstellungen fragten der ehemaligen Herzogtümer Bremen hältnis zu 2014 um etwa 700 auf ca. Besucher_innen immer wieder nach ei- und Verden sowie den Gedenkstätten- 11 800 Besucher_innen. Wir hoffen, dass nem Ausstellungskatalog. Zum 70. Jahres- verein Sandbostel e.V. kann der umfang- wir Gruppenabsagen durch stärkere Ein- tag der Befreiung des Stalag X B wurde reiche Katalog zu einem moderaten bindung pensionierter Lehrer mittelfris- nun ein mit 400 Seiten sehr umfassender Preis abgegeben werden (Verkauf in tig reduzieren können. Langfristig ist es Katalog publiziert. In dem ca. DIN A4 der Gedenkstätte und im Buchhandel). aber notwendig, dass das abgeordnete großen Band sind alle Texte und Abbil- Zum 1. November 2015 konnte die voll- Lehrerstundenkontingent erhöht wird, dungen der beiden ersten Rezeptions- ständig neu gestaltete Homepage freige- um den steigenden Gruppenbuchungen ebenen beider Ausstellungsteile zur schaltet werden. Unter der bekannten gerecht zu werden. Geschichte und zur Nachgeschichte des Adresse www.stiftung-lager-sandbostel. Auch wenn in der Bildungsarbeit lei- Kriegsgefangenenlagers Stalag X B de ist der deutlich entschlackte und kla- der eine Vollzeitstelle weggefallen ist, Sandbostel wiedergegeben. Darüber rer strukturierte Internetauftritt der Ge- hat die Gedenkstätte anderweitig wichti- hinaus enthalten sind elf vertiefende denkstätte Lager Sandbostel zu finden. ge personelle Unterstützung erhalten. Aufsätze der Ausstellungskurator_innen, Die übersichtlich gestaltete Seite bietet Seit dem 1. Januar 2015 arbeitet der wis- Jens Binner, Andreas Ehresmann, Dörthe unkomplizierten Zugriff auf umfassende senschaftliche Dokumentar Ronald Engels und Andrea Genest, die zu einzel- Informationen zur Stiftung und zum Sperling mit einer 2/3-Stelle an der Re- nen Themenbereichen den aktuellen Besuch der Gedenkstätte, zu unseren organisation des Archivs. Die auf zwei Stand der Forschung aufzeigen. pädagogischen und wissenschaftlichen Jahre befristete Stelle wird dankenswer- Von mehreren Rezensenten wurde der Angeboten, zur Geschichte und Nach- terweise von der Stiftung niedersächsi- Katalog sehr gut besprochen, und die geschichte des Kriegsgefangenenlagers sowie zu Veranstaltungsankündigun- Insbesondere die historischen Unter- 157 gen, Presseberichten und aktuellen kunftsbaracken stellen ein bedeutendes Meldungen. Zeitzeugnis aus der Aufbauphase des Erstmals kann die Homepage nun Stalag X B 1939/40 dar. Die verfallenen auch statistisch ausgewertet werden. In Unterkunftsbaracken werden 2016 ent- den ersten beiden Monaten wurde sie rümpelt, die Überwucherungen und die über 2000 Mal aufgerufen und dabei im abgängige Bausubstanz entfernt und Schnitt sieben Seiten angeschaut. Über- das erhaltene Mauerwerk gesichert. Zu- wiegend sind dies die Unterseiten „Ak- künftig sollen die Baracken als begeh- tuelles“, „Besuchsinformationen“ und bare Ruinenstruktur als Exponat in die „Pädagogische Angebote“. Gedenkstätte einbezogen werden. Richtungsweisend für die weitere Entwicklung der Gedenkstätte war der Andreas Ehresmann, Erwerb eines weiteren Teilgrundstücks Geschäftsführer Stiftung Lager des ehemaligen Lagerareals durch die Sandbostel / Leiter Gedenkstätte

Stiftung Lager Sandbostel noch kurz vor Lager Sandbostel Schrägluftaufnahme der Gedenkstätte Lager Sandbostel Jahresende. Das Grundstück wird 2016 vom 16. April 2014. Gelb umrandet ist das bisherige Gedenkstättengelände, blau das neu erworbene Areal. in die Gedenkstätte integriert. Die Kauf- • Albert Beneke summe wurde dankenswerterweise vom 2. Mai: Der ehemalige Häftling Raymond Gourlin (mit Landkreis Rotenburg (Wümme) zur Ver- beigem Mantel) berichtete bei der Pèlerinage der Amicale Française de Neuengamme über die katastrophale fügung gestellt. Situation im heute als landwirtschaftliche Nutz­fläche genutzten Lagerteil des Stalag X B wo die KZ-Häftlinge Auf dem 1,5 Hektar großen Areal be- untergebracht waren; der Bereich wird heute landwirt- finden sich vier an der ehemaligen Lager- schaftlich genutzt. Links hinter M. Gourlin steht der ehemalige Häftling Pascal Vallicioni. • Andreas straße gelegene Unterkunftsbaracken, Ehresmann eine zum Gebäudeensemble gehörende 7. November: Eine Delegation aus Murat in Frankreich Latrine sowie eine nicht mehr genutzte (Zentralmassiv) hielt am Gedenkstein für die in Sand- bostel verstorbenen Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge katholische Kirche mit Gemeindezent- eine Gedenkfeier. • Katja Hertz-Eichenrode rum aus der Nutzungsphase als Notauf- 17. Februar: Im Rahmen des Projekttags „Erinnerungs- nahmelager für jugendliche Flüchtlinge kultur“ präsentierten Schüler_innen ihren Entwurf eines Denkmals für die in Sandbostel verstorbenen KZ-Häft- aus der DDR. linge. • Andreas Ehresmann

Berichte geförderter Gedenkstätten Reorganisation des Archivs

Ronald Sperling

158 Im Projekt zur Reorganisation des bank Findbücher der einzelnen Bestände den Niederlanden, Belgien und Schwe- Archivs der Gedenkstätte Sandbostel erstellt werden. Die ersten Findbücher den. Auch aus Deutschland kamen An- arbeitet seit dem 1. Januar 2015 der liegen bereits vor, so dass in den ver- fragen nach Angehörigen, die entweder wissenschaftliche Dokumentar Ronald zeichneten Beständen selbstständig im Civil Internment Camp No. 2 der Briti- Sperling. Die bisher weitgehend unge- recherchiert werden kann, ohne auf die schen Armee interniert oder im Notauf- ordneten Archivalien wurden im vergan- Datenbank direkt zuzugreifen. nahmelager für jugendliche Flüchtlinge genen Jahr neu aufgestellt und geord- 2015 nutzten wieder zahlreiche Schüler_ aus der DDR untergebracht waren. Ins- net, sie werden nun in einer professionel- innen das Archiv der Gedenkstätte und gesamt kamen 2015 über 180 Anfragen len Datenbank nach und nach formal recherchierten für Facharbeiten oder und etwa 30 Archivbesucher_innen. und inhaltlich erfasst. Das Archiv ist Referate. Johanna Pape aus Glinstedt er- nach der Provenienz der Dokumente hielt für ihre Arbeit über die Diskriminie- aufgebaut; ausschlaggebend für die Be- rung von sowjetischen Kriegsgefangenen standsbildung ist daher das Geberarchiv im Arbeitskommando der Munitionsfab- wie z.B. das Bundesarchiv in Berlin. Alle rik in Zeven den Förderpreis im Geschichts- Dokumente aus diesem Archiv werden wettbewerb des Bundespräsidenten. in einem Bestand zusammengefast. Dies Neben dieser Gruppe nutzten 2015 hat den Vorteil, dass die Entstehungs- auch wieder viele Angehörige von ehe- kontexte der Dokumente weitgehend re- maligen Kriegsgefangenen oder KZ- konstruiert werden können. Grundlage Häftlingen das Archiv, um erstmals für die dokumentarische Bezugseinheit, Auskunft über das Schicksal ihrer ver- also die Aufnahme als Datensatz in die storbenen Verwandten zu erhalten. Als Datenbank, ist dabei die Herkunftsakte weitere Gruppe sind zunehmend auch aus dem Geberarchiv. Wissenschaftler_innen sowie Regional- Dokumentiert wird mit der professio- forscher und Journalisten an den Archi-

nellen Archivdatenbank Augias Express valien und dem Forschungsstand Schüler_innen und Schüler recherchieren in der Gedenk- 5, mittels derer die digital vorhandenen interessiert. stätte Lager Sandbostel. • Andreas Ehresmann Archivalien als PDF-Dateien, Bilder, Audio- Per E-Mail bekam die Gedenkstätte Holly Aylett aus London recherchierte, unterstützt von Andreas Ehresmann, für ein Buch zur Geschichte ihres dateien oder Filmdateien an die inhaltli- zahlreiche Anfragen aus dem Ausland, Vaters Stanley Aylett, der kurz nach der Befreiung als chen Beschreibungen angehängt werden vor allem aus Russland, der Ukraine, Militärchirurg (RAMC) nach Sandbostel kam und an den umfangreichen Rettungsmaßnahmen beteiligt war. können. Ebenso können mit der Daten- Weißrussland, Frankreich, Italien, Polen, • Peter Chappell Grundschulprojekt zum Thema Nationalsozialismus

Michael Freitag-Parey

Ausgehend vom 8. Mai, dem Jahres- marine aufgegriffen, gefangen genom- lung des Themas „Nationalsozialismus“ 159 tag der Befreiung, entstand 2015 in Zu- men und in das Kriegsgefangenenlager in der Jahrgangsstufe 4 beschäftigen. sammenarbeit der Grundschule Selsingen Stalag X B nach Sandbostel gebracht und der Gedenkstätte Lager Sandbostel wurde. Die Schüler_innen selbst waren eine Unterrichtsreihe (sechs Schulstun- im Rahmen des Unterrichts nicht in der den) zum Thema Nationalsozialismus Gedenkstätte. Ein Ergebnis dieser Arbeit mit ganz unterschiedlichen Zugängen waren Briefe an den heute 94-jährigen und Methoden für Schüler_innen der Harry Callan, der in der Nähe von Dublin vier 4. Klassen (2. Halbjahr). Dazu gehört lebt und alle Briefe beantwortete. Die sowohl der Blick auf den Zweiten Welt- Briefe waren am 8. Mai Gegenstand ei- krieg und das System des Nationalsozia- ner kleinen Ausstellung, die die Ergeb- lismus als auch in die Jahre danach bis nisse der Schüler_innen präsentierte. zur Menschenrechts-Deklaration 1948. Zur Ausstellungseröffnung waren u.a. In der Vorbereitung der Unterrichts- die Eltern der Kinder und auch Vertreter reihe wurde für jede der vier Klassen ein der politischen Gemeinde und der Pres- eigenes Thema ausgearbeitet, wobei die se eingeladen. Unter den Gästen waren Einheiten 1 und 2 für alle Klassen iden- ebenso niederländische Angehörige ei- tisch waren und einen grundsätzlichen nes KZ-Häftlings, der kurz nach der Be- Einblick in das System und die Ideologie freiung verstorben war. Diese Gäste des Nationalsozialismus boten, jedoch waren sehr angetan von der Arbeit der zunächst eine allgemeine Annäherung Schüler_innen wie von der Tatsache ge- unter der Überschrift „Krieg und Frieden“, nerell, dass sich Kinder der 4. Klasse mit in der es etwa darum ging, Definitionen diesem Thema beschäftigt haben, und für beide Begriffe zu erarbeiten und zu lobten die Arbeit und Herangehensweise erörtern. Darauf aufbauend verfolgte an das Thema Nationalsozialismus. jede Klasse ein eigenes Thema innerhalb Aus diesem Projekt ist ein in der Ge- Harry Callan und seine Tochter Michele nahmen an der Unterrichtsreihe. So arbeitete Klasse denkstätte Lager Sandbostel angesie- der Gedenkveranstaltung im April teil. • Lewke-Björn Rudnick 4c biographisch zu Harry Callan, der als delter „Arbeitskreis Grundschule“ ent- 17-jähriger Hilfskoch auf einem irischen standen, in dem sich Grundschullehrer_ 8. Mai: Die Schülerinnen und Schüler stellten ihren Eltern bei der Abschlusspräsentation ihre Arbeiten vor. Handelsschiff von der deutschen Kriegs- innen aus der Region mit der Vermitt- • Andreas Ehresmann

Berichte geförderter Gedenkstätten Impressum

160 Herausgeber Konzept und Redaktion: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Monika Gödecke, Jens-Christian Wagner Im Güldenen Winkel 8 D – 29223 Celle Mitarbeit: Tel.: +49 (0) 5141 – 933 55-11 Bianca Armbrecht, Karen Bähr, Sabine Bergmann, Fax: +49 (0) 5141 – 933 55-33 Pierre-Jérôme Biscarat, Monika Brockhaus, Kurt Buck, www.stiftung-ng.de Peter Chappell, Anett Dremel, Andreas Ehresmann, [email protected] Marc Ellinghaus, Michael Gander, Monika Gödecke, Bernd Grafe-Ulke, Diana Gring, Martin Guse, Simona Häring, Celle 2016 Gerald Hartwig, Arnulf Heinemann, Robert Heldt, Astrid Homann, Bernd Horstmann, Juliane Hummel, Arnold Jürgens, Fotos Cover: vgl. Seite 7, 71, 75, 118, 153 Andrea Kaltofen, Rolf Keller, Thomas Kubetzky, Dagmar Lieske, Tobias Neuburger, Ulrike Pastoor, Ruth Pope, Ulrike Pätzold-Prote, Silke Petry, Thomas Rahe, Corinna Rathjen, Anja Schade, Nicola Schlichting, Cornelia Schmidhals, Dietmar Sedlaczek, Marion Seibel, Daniel Seifert, Katja Seybold, Martina Staats, Klaus Tätzler, Katrin Unger, Jens-Christian Wagner, Stefan Wilbricht, Christian Wolpers, Elke Zacharias

Graphische Gestaltung: ermisch | Büro für Gestaltung

Druck: gutenberg beuys . feindruckerei

Bildrechte: Soweit nicht anders angegeben, liegen die Bildrechte bei der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.

Gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Dokumentations- und Gedenkstätten in Niedersachsen und Bremen

4 1 2 5 6 Oldenburg Bremen 3

7

9 Wolfsburg 15 8 Hannover Osnabrück 16 Braunschweig 12 13 14

11

10

1 „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg 10 KZ-Gedenkstätte Moringen 21339 Lüneburg 37086 Moringen

2 Gedenkstätte „Alte Pathologie“ Wehnen 11 Erinnerungsstätte Lenner Lager für die Opfer der NS-„Euthanasie“ 37627 Lenne 26160 Bad Zwischenahn-Ofen 12 Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße 3 Gedenkstätte Esterwegen 38102 Braunschweig 26897 Esterwegen 13 Gedenk- und Dokumentationsstätte 4 Gedenkstätte Lager Sandbostel KZ Drütte 27446 Sandbostel 38239 Salzgitter

5 Denkort Bunker Valentin 14 Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 28777 Farge-Rekum 38300 Wolfenbüttel

6 Dokumentations- und Lernort 15 Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeiter Baracke Wilhelmine auf dem Gelände des Volkswagenwerkes 28790 Schwanewede-Neuenkirchen 38436 Wolfsburg

7 Gedenkstätte Bergen-Belsen 16 „Gedenkstätten Gestapokeller 29303 Lohheide und Augustaschacht e.V.“ 49076 Osnabrück 8 Mahn- und Gedenkstätte Ahlem 30453 Hannover

9 Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau 31618 Liebenau Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Jahresbericht 2015